Civitates, regna und Eliten: Die regna des Frühmittelalters als Teile eines ‚unsichtbaren Römischen Reiches‘ 9783110623178, 9783110623598, 9783110623246, 2020943958

Researchers broadly agree that the European Early Middle Ages can be grasped as emerging from Roman antiquity. The essay

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German Pages 256 Year 2020

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Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Civitates, regna und Eliten. Einführende Bemerkungen zum Konzept eines ‚unsichtbaren Römischen Reiches‘
Vorüberlegungen zum ‚unsichtbaren Römischen Reich‘
Das ‚unsichtbare Römische Reich‘ als Verbund der Kleinstaaten
Civitates und das sichtbare / unsichtbare Römische Reich im spätantiken Nordafrika
Fortbestand im Wandel: Römische Kommunikationsräume bei Salvian von Marseille
Römische Kommunikationsräume und ihr Fortbestehen in Bayern
Romanische Resistenzräume und Zentren der Merowingerzeit (Trier, Metz, Köln, Basel, Reims und Soissons) im Spiegel der Toponymie
Münzen und Münzprägung als Quelle für politische Kommunikation im frühmittelalterlichen Gallien
Das Primat lokaler Identitäten im merowingischen Gallien des 6. Jahrhunderts
Unsichtbares oder sichtbares Imperium Romanum? Die römische Kaiserzeit in der fränkischen Historiographie
Übersicht über die Civitas-Hauptorte Galliens
Abkürzungen
Register zu Personen, Orten und ausgewählten Sachbegriffen
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Civitates, regna und Eliten: Die regna des Frühmittelalters als Teile eines ‚unsichtbaren Römischen Reiches‘
 9783110623178, 9783110623598, 9783110623246, 2020943958

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Civitates, regna und Eliten

Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde

Herausgegeben von Sebastian Brather, Wilhelm Heizmann und Steffen Patzold

Band 124

Civitates, regna und Eliten Die regna des Frühmittelalters als Teile eines ‚unsichtbaren Römischen Reiches‘ Herausgegeben von Jürgen Strothmann

ISBN 978-3-11-062317-8 e-ISBN (PDF) 978-3-11-062359-8 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-062324-6 ISSN 1866-7678 Library of Congress Control Number: 2020943958 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.dnb.de abrufbar © 2021 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Integra Software Services Pvt. Ltd. Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Inhaltsverzeichnis Jürgen Strothmann Civitates, regna und Eliten. Einführende Bemerkungen zum Konzept eines ‚unsichtbaren Römischen Reiches‘ 1 Ulrich Huttner Vorüberlegungen zum ‚unsichtbaren Römischen Reich‘

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Jürgen Strothmann Das ‚unsichtbare Römische Reich‘ als Verbund der Kleinstaaten

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Daniel Syrbe Civitates und das sichtbare / unsichtbare Römische Reich im spätantiken Nordafrika 33 Helga Scholten Fortbestand im Wandel: Römische Kommunikationsräume bei Salvian von Marseille 69 Albrecht Greule Römische Kommunikationsräume und ihr Fortbestehen in Bayern

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Wolfgang Haubrichs Romanische Resistenzräume und Zentren der Merowingerzeit (Trier, Metz, Köln, Basel, Reims und Soissons) im Spiegel der Toponymie 111 Jürgen Strothmann Münzen und Münzprägung als Quelle für politische Kommunikation im frühmittelalterlichen Gallien 155 Christian Stadermann Das Primat lokaler Identitäten im merowingischen Gallien des 6. Jahrhunderts 175 Hans-Werner Goetz Unsichtbares oder sichtbares Imperium Romanum? Die römische Kaiserzeit in der fränkischen Historiographie 201

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Inhaltsverzeichnis

Übersicht über die Civitas-Hauptorte Galliens Abkürzungen

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Register zu Personen, Orten und ausgewählten Sachbegriffen

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Jürgen Strothmann

Civitates, regna und Eliten. Einführende Bemerkungen zum Konzept eines ‚unsichtbaren Römischen Reiches‘ Unsichtbar ist immer das, was in irgendeiner Weise verdeckt ist. Es ist da. Und man kann es sehen, wenn man einen Weg findet, es abzubilden. Aber ja, hinter dem sichtbaren Römischen Reich befindet sich ein unsichtbares insofern, als dass man dieses Reich auch verstehen kann als einen Verbund politischer Räume unterhalb der Ebene der Kaiser und Provinzen. Seiner Genese nach ist dieses Reich nämlich nicht nur ein Imperium, sondern auch ein politisches Geflecht der civitates, der gentes und der Eliten, die über die Kommunikation mit der domus des Kaisers zusammengebunden werden, die selbst aber auch ohne das Imperiale bestehen würden und nach dem Ende imperialer römischer Herrschaft im Westen dies auch tun.1 Das Konzept von einem unsichtbaren Römischen Reich ist vor allem ein methodisches Instrument, das es erlaubt, den Zusammenhang zwischen dem Weströmischen Reich und seinen Nachfolgegesellschaften zu verstehen, die nach allem, was in den letzten Jahren deutlich geworden ist, sich nicht wesenhaft vom Römischen abgrenzen lassen. Es gab kein „End of Antiquity“.2 Und es gab keinen maßgeblichen Kampf der Kulturen zwischen Romanen und Germanen. Das Mittelalter ist nicht germanisch geboren. Antikenrezeption im Mittelalter ist nicht die Auseinandersetzung mit dem überlegenen Fremden, sondern mit der eigenen Identität. Das Konzept entsteht aber eben vor allem aus einer Methodenverschränkung, in der Alte Geschichte und Mittelalterliche Geschichte nicht mehr wechselweise die Fragestellung dominieren. In der Mittelalterlichen Geschichte ist es kein Geheimnis, das mit den methodischen Zugriffen auf das Ottonenreich das Karolingerreich nicht zu fassen ist. Die Annahme, dass das Merowingerreich mit diesen methodischen Werkzeugen verstanden werden kann, hat sich inzwischen auch als zumindest fragwürdig erwiesen.

1 Vgl. dazu grundsätzlich WOLFF, Hartmut: ‚Administrative Einheiten‘ in den Nordprovinzen und ihre Beziehungen zu römischen Funktionsträgern, in: Lokale Autonomie und römische Ordnungsmacht in den kaiserlichen Provinzen vom 1. bis 3. Jahrhundert, hg. v. Werner Eck (Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien 42), München 1999, S. 47–60. – Herrn Prof. Dr. Matthias Springer verdanke ich, dass das Konzept nicht exklusiv auf den Westen des Reiches eingeengt blieb; zunächst sollte es nämlich als „Unsichtbares Weströmisches Reich“ figurieren. 2 Wie WARD-PERKINS, Bryan: The Fall of Rome and the End of Civilization, Oxford 2006 (deutsch 2007) behauptet. – S. zu der kleinen ‚Renaissance‘ solcher Positionen POHL, Walter: Übergänge von der Antike zum Mittelalter – Eine unendliche Debatte, in: Römische Legionslager in den Rhein- und Donauprovinzen – Nuclei spätantik-frühmittelalterlichen Lebens?, hg. v. Michaela Konrad und Christian Witschel (Bayerische Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse, Abhandlungen 138), München 2001, S. 47–61, S. 52 f. https://doi.org/10.1515/9783110623598-001

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Jürgen Strothmann

Zunächst ist das Konzept von einem „unsichtbaren Römischen Reich“ erwachsen aus der Notwendigkeit, das politische Gallien des 7. Jahrhunderts zu verstehen, also in erster Linie im Interesse von Mediävisten. Wenn es aber ein brauchbares Konzept sein sollte, müsste es auch in der Lage sein, das spätantike sichtbare Römische Reich in einer wesentlichen Hinsicht verstehen zu lassen. Das ist eine Aufgabe der Zukunft.3 Neben der Feststellung der Relevanz von politischen Subsystemen im und für das Römische Reich sind die Funktionsweise dieser Subsysteme und damit der Grund für ihre Kontinuitätsbefähigung zu verstehen. Dazu hat im Juni 2019 in Siegen ein Kolloquium über „Politische Organismen in der Antike“ stattgefunden, in dem der Frage nachgegangen wurde, welche Relevanz soziale Realitäten für antike politische Systeme spielen, in der Annahme, dass damit die Kontinuität dieser politischen Subsysteme erklärt werden kann. Außerdem steht die Vermutung im Raum, dass die Verbindung zwischen dem Imperium und seinen Subsystemen auf einer vertraglichen Bindung zwischen der Stadt Rom und den Städten des entstehenden Imperiums beruht.4 Der vorliegende Tagungsband gilt nun wesentlich dem Verständnis der Relevanz der politischen Subsysteme, vor allem der civitates im Westen des inzwischen nicht mehr sichtbaren Römischen Reiches sowie der Beobachtung, dass der Kommunikationsraum des lateinischen Westens auch in der Zeit der Nachfolgereiche als solcher greifbar ist. Neben einer ganzen Reihe von Publikationen, darunter mehrere Sammelbände, die mit mehr oder weniger innovativen Ansätzen und unter verschiedenen Gesichtspunkten, aber durchgehend interdisziplinär, sich dem Epochenwandel zuwenden, entstand der vorliegende Band in dem Versuch, die Epochengrenzen von vorneherein aufzulösen.5 Das ist natürlich riskant, birgt aber in der sich durchsetzenden Erkenntnis von einem Übergang der römischen Welt von der Spätantike zum frühen Mittelalter und einem damit verbundenen Wandel, bei dem exogene Faktoren bestenfalls beschleunigend wirkten und keinesfalls das Mittelalter aus germanischen

3 S. einstweilen STROTHMANN, Jürgen: Burgund und das ‚unsichtbare Römische Reich‘ im Spiegel der sogenannten merowingischen Monetarmünzen. Eine Anmerkung, in: Bulletin du centre d’études médiévales d’Auxerre (BUCEMA) 21.2 (2017), http://journals.openedition.org/cem/14848 (letzter Zugriff 10. Februar 2018); STROTHMANN, Jürgen: The Evidence of Numismatics: „Merovingian“ Coinage and the Place of Frankish Gaul and its Cities in an „Invisible“ Roman Empire, in: Oxford Handbook of the Merovingian World, hg. v. Bonnie Effros und Isabel Moreira, Oxford 2020, S. 797–818; STROTHMANN, Jürgen: Das ‚unsichtbare römische Reich‘. Zum Fortbestehen eines Raumes über seine Todesanzeige hinaus, in: Rechtsräume, hg. v. Caspar Ehlers und Holger Grewe, Frankfurt am Main 2020, S. 217–234. 4 Demnächst STROTHMANN, Jürgen: Römische Staatlichkeit und Kontingenz(bewältigung), in: Gallien zwischen imperium und regna. Die Darstellung von Kontingenz und ihrer Bewältigung, hg. v. Matthias Becher und Hendrik Hess, Göttingen 2020 (im Druck). 5 Vgl. POHL, Walter: Die Anfänge des Mittelalters – Alte Probleme, neue Perspektiven, in: Mediävistik im 21. Jahrhundert. Stand und Perspektiven der internationalen und interdisziplinären Mittelalterforschung, hg. v. Hans-Werner Goetz und Jörg Jarnut (MittelalterStudien 1), München 2003, S. 361–378 S. 368, der von einer „allmählichen Umwandlung“ spricht.

Civitates, regna und Eliten

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Momenten oder gar aus einem Kampf der Kulturen verstanden werden kann,6 zugleich ein gewisses Potential, das in der Perspektivenverschränkung mancher Beiträge selbst liegt. Unter den Sammelbänden besonders zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang der von Theo Kölzer und Rudolf Schieffer herausgegebene Tagungsband „Von der Spätantike zum frühen Mittelalter“ aus dem Jahr 2009, der auf einen ähnlich grundlegenden von Joachim Werner und Eugen Ewig herausgegebenen Tagungsband mit demselben Titel aus dem Jahr 1979 verweist.7 Eine eher auf das vermeintliche Ende der Antike gerichtete Sicht verfolgt der Band „Gallien in Spätantike und Frühmittelalter“, herausgegeben von Steffen Diefenbach und Gernot Michael Müller von 2013. Parallel dazu erschienen und in gewisser Weise auch komplementär, nämlich auf der Basis der Münzprägung, ist der Tagungsband „Die Merowingischen Monetarmünzen als Quelle zum Verständnis des 7. Jahrhunderts in Gallien“, herausgegeben von Jörg Jarnut und Jürgen Strothmann, die den Wandel etwa ein Jahrhundert später sehen, dies aber mit der Tendenz, die Antike nicht enden und so ein Mittelalter nicht eigentlich beginnen zu lassen.8 Dass auch die regionalgeschichtliche Herangehensweise nach wie vor einigen Erkenntnisgewinn ermöglicht, zeigen zwei weitere Tagungsbände, nämlich zu Baiern „Die Anfänge Bayerns“, herausgegeben von Hubert Fehr und Irmtraut Heitmeier von 2012,9 und zum im weitesten Sinne alemannischen Raum: Antike im Mittelalter, herausgegeben von Sebastian Brather, Hans-Ulrich Nuber, Heiko Steuer und Thomas Zotz, von 2014.10 Die Beobachtung und begriffliche Erfassung von Wandel und den damit verbundenen Prozessen, vor allem verschiedener Formen von Akkulturation, hat durchaus Konjunktur, vor allem im Hinblick auf die bisher begrifflich nicht zufriedenstellend gefassten Vorgänge um „Romanisierung“ und „Christianisierung“. Wie im Falle des 6 S. hier grundlegend die Bände der Reihe „The Transformation of the Roman World“. 7 Von der Spätantike zum Frühen Mittelalter. Aktuelle Probleme in historischer und archäologischer Sicht, hg. v. Joachim Werner und Eugen Ewig (Vorträge und Forschungen 25), Sigmaringen 1979 und Von der Spätantike zum Frühen Mittelalter. Kontinuitäten und Brüche, Konzeptionen und Befunde, hg. v. Theo Kölzer und Rudolf Schieffer (Vorträge und Forschungen 70), Ostfildern 2009. 8 Gallien in Spätantike und Frühmittelalter. Kulturgeschichte einer Region, hg. v. Steffen Diefenbach und Gernot Michael Müller (Millennium-Studien 43), Berlin/Boston 2013; Die Merowingischen Monetarmünzen als Quelle zum Verständnis des 7. Jahrhunderts in Gallien, hg. v. Jörg Jarnut und Jürgen Strothmann (MittelalterStudien 27), Paderborn 2013. 9 Die Anfänge Bayerns. Von Raetien und Noricum zur frühmittelalterlichen Baiovaria, hg. v. Hubert Fehr und Irmtraut Heitmeier (Bayerische Landesgeschichte und europäische Regionalgeschichte 1), St. Ottilien 2012. S. nun auch Gründerzeit. Siedlung in Bayern zwischen Spätantike und Frühmittelalter, hg. von Jochen Haberstroh und Irmtraut Heitmeier (Bayerische Landesgeschichte und europäische Regionalgeschichte 3), St. Ottilien 2019. 10 Antike im Mittelalter. Fortleben, Nachwirken, Wahrnehmung. 25 Jahre Forschungsverbund ‚Archäologie und Geschichte des ersten Jahrtausends in Südwestdeutschland‘, hg. v. Sebastian Brather, Hans-Ulrich Nuber, Heiko Steuer und Thomas Zotz (Archäologie und Geschichte 21), Ostfildern 2014.

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Jürgen Strothmann

Epochenwandels wissen wir keine quantitativen Angaben zu machen und tun uns außerordentlich schwer mit der Einschätzung der beobachteten Prozesse. Das soll am Beispiel des „Epochenwandels“ von der Spätantike zum frühen Mittelalter kurz skizziert werden, auch um zu zeigen, dass man diesen Wandel vielleicht besser gar nicht als „Epochenwandel“ bezeichnen sollte, denn bereits die Karriere zahlreicher Mysterienkulte und philosophisch-dogmatischer Welterklärungsreligionen im Römischen Reich, wie letztlich auch das Christentum, verändern wesentliche kulturelle Bedingungen der Mittelmeergesellschaft. Seit dem späten 3. Jahrhundert verschwinden ganze Bereiche inschriftlicher elitärer Selbstdarstellung,11 und seit dem 5. Jahrhundert finden sich fast nur noch christliche Grabinschriften, auf denen die klassische Selbstdarstellung keine Rolle mehr spielt,12 was vielleicht auch als ein Ergebnis der sogenannten „Christianisierung“ zu verstehen ist.13 Damit verschwindet nicht nur eine wesentliche Quellengattung, die dann keine unmittelbare Entsprechung mehr finden wird, sondern auch ihre gesellschaftlichen Voraussetzungen. Obwohl – und vielleicht auch gerade weil – der Römische Staat immer dichter zu werden scheint, zunehmend anstaltsstaatliche Züge entwickelt, lassen sich bereits zunehmende Regionalisierungen beobachten, die den Kaiser, der ja nun als eine Art irdisches Haupt der Christenheit erscheint – auch wegen seiner nachlassenden Bereitschaft, sich einzelnen Orten gegenüber als großzügig und freigiebig zu erweisen –, von den regionalen politischen Systemen und ihren Bürgern entrücken. Mit dem Verschwinden des institutionellen Kaiserkultes, der allgemeinen Anerkennungskultur, der daraus folgenden Reduktion öffentlicher Räume, dem Nachlassen der Bautätigkeit im nichtkirchlichen Rahmen und natürlich dem Verschwinden der Kulte schwindet auch das Interesse an der inschriftlichen Selbstdarstellung. Das sind aber Prozesse, die zum Teil bereits im 2. Jahrhundert n. Chr. greifbar sind, während andere Prozesse des Verschwindens wesentlicher antiker Erscheinungen sich womöglich bis weit in die Karolingerzeit erstrecken, etwa der Infrastruktur für ein Mindestmaß an öffentlicher Verwaltung, mutmaßlich immer noch vorgehalten von den Städten und ihren kirchlichen Einrichtungen. „Civitates, regna und Eliten“ bezeichnen drei wesentliche Momente der Kontinuität, die mutmaßlich – neben den Kirchen – tragend sind für die römische wie für die nachrömische Gesellschaft.

11 Zum Befund LIEBESCHUETZ, J. H. W. G. (John Hugo Wolfgang Gideon): Decline and Fall of the Roman City, Oxford [2001] 2007, S. 11–19; WITSCHEL, Christian: Der epigraphic habit in der Spätantike: Das Beispiel der Provinz Venetia und Histria, in: Die Stadt in der Spätantike – Niedergang oder Wandel?, hg. v. Jens-Uwe Krause und Christian Witschel (Historia Einzelschriften 190), Stuttgart 2006, S. 359–381, S. 370 f. führt das auf einen Mentalitätswandel zurück. 12 WITSCHEL 2006 (wie Anm. 11), S. 377. 13 S. zu dem Begriff und zu den kommunikativen Bedingungen des Befundes LEPPIN, Hartmut: Die frühen Christen von den Anfängen bis Konstantin, München 2018.

Civitates, regna und Eliten

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Civitates sind die Stadtstaaten, die als politische Überformung fortbestehender sozialer Systeme die Region mehr oder weniger zusammenhalten, deren Organisationsweise Jürgen Strothmann in diesem Band dazu veranlasst, sie als die tragenden Strukturen des sichtbaren wie unsichtbaren Römischen Reiches aufzufassen. Sie sind als Einheiten konzipiert und bleiben Stadtstaaten auch im Frankenreich, auch unter der Außenvertretung eines Bischofs.14 Zu ihrem Fortbestand als politische Organismen über das 5. Jahrhundert hinaus, mindestens bis zum Ende des 7. Jahrhunderts, geben die sogenannten „Merowingischen Monetarmünzen“ Auskunft. Einen Abgleich der in der Notitia Galliarum genannten civitates bzw. civitas-Hauptorte mit den auf den Münzen genannten Orten gibt eine Übersicht am Ende des Bandes.15 Ein solches Fortbestehen politischer Systeme setzt das Vorhandensein entsprechender Kommunikationsräume voraus. Die Beiträge von Wolfgang Haubrichs und Albrecht Greule können das sehr anschaulich zeigen. Denn, wenn ein sprachlicher Befund zu Kontinuitäten gallienweit flächendeckend zu konstatieren wäre, würde darin natürlich kein Hinweis auf die Relevanz eigener politischer Räume liegen. Der Befund für den nur zeitweilig zum Römischen Reich gehörenden Vergleichsraum Baiern sieht völlig anders aus, da dieser eben doch nicht über dieselben Kontinuitätsbedingungen verfügte wie Gallien und also keine ausgeprägten Resistenzräume neben Regensburg und wohl Passau erkennen lässt, die ja beide keine klassischen civitas-Hauptorte sind, wohl aber bedeutende Verwaltungszentren. Die Untersuchung einer ganzen Reihe von Ortsnamen und Inschriften aus vornehmlich ost-gallischen civitas-Hauptorten und ihrer jeweiligen Umgebung lässt ein hoch differenziertes Bild erkennen. So gibt es offensichtlich große Unterschiede

14 PRINZ, Friedrich: Die bischöfliche Stadtherrschaft im Frankenreich vom 5. bis zum 7. Jahrhundert, in: Historische Zeitschrift 217 (1974), S. 1–35. – S. nun besonders in doppelter Abgrenzung zu mediävistischen und deutschen Einschätzungen DIEFENBACH, Steffen: „Bischofsherrschaft“. Zur Transformation der politischen Kultur im spätantiken und frühmittelalterlichen Gallien, in: Gallien in Spätantike und Frühmittelalter 2013 (wie Anm. 8), S. 91–149, bes. S. 93–97, etwa mit der Annahme, die Vorstellung von der Bischofsherrschaft rührte von der mediävistischen Kenntnis hochmittelalterlicher Stadtherrschaft der Bischöfe her und sei eine Übertragung von dort. Das ist eher unwahrscheinlich. Ursächlich ist vermutlich eher die alles überlagernde Darstellung bei Gregor von Tours und das Fehlen von mutmaßlich belastbaren Quellen zur inneren Ordnung von Städten. Im Übrigen ist der deutschen Forschung nicht entgangen, dass es bei der Ausprägung solcher Phänomene große Unterschiede gibt, etwa wenn im 8. Jahrhundert Chur und Trier ganz offensichtlich von Bischöfen kontrolliert werden, die zugleich auch die Funktion der weltlichen Herren einnahmen, was augenscheinlich für Gallien nicht die Regel darstellte. Außerdem ist es ja durchaus wahrscheinlich, dass es Entwicklungen gibt, die auf den Bischof als Stadtherrn hinführen, von dem sich die Städte dann seit dem Ende des 11. Jhs. zu emanzipieren beginnen. 15 Vgl. die mit Hauptorten ergänzte Übersicht zur Notitia Galliarum bei KNIGHT, Jeremy K.: The End of Antiquity. Archeology, Society and Religion AD 235–700, Stroud (Gloucestershire) [1999] 2007, S. 182–184; s. zu der Kontinuität von Angaben der Notitia Galliarum um 400 zu den Bischofssitzen LOSEBY, Simon T.: Lost Cities. The End of the Civitas-System in Frankish Gaul, in: Gallien in Spätantike und Frühmittelalter 2013 (wie Anm. 8), S. 223–252, S. 231.

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Jürgen Strothmann

zwischen den jeweiligen Räumen im Hinblick auf die Resistenz romanischer Namen gegenüber einer zunehmend sprachlich germanisierten Umwelt. Denn auch das wird sichtbar, dass es nämlich eine aus der Sicht des civitas-Hauptortes nach außen hin abnehmende sprachliche Resistenz gibt. Die von Wolfgang Haubrichs beobachteten Räume umfassen in etwa die Räume, die man den jeweiligen civitates zurechnen kann, sie folgen in ihrer Gestalt dem Bild, das die Befunde von romanischer Kommunikation geben, nämlich der galloromanischen Ordnung von civitates, und sie zeigen ausgeprägte Kontinuitäten romanischer Sprache bis in das 7. Jahrhundert und in mehreren Fällen deutlich darüber hinaus. Damit scheint nachgewiesen, dass es die kommunikativen Voraussetzungen für den fortgesetzten Bestand politischer Ordnungen in Gallien gab, und es liegt nahe, eben diese Kommunikationsräume auch als Ausdruck eines solchen grundsätzlichen Fortbestehens zu betrachten. Der Vergleich mit Bayern zeigt eben auch die unterschiedliche Dichte und Beharrlichkeit solche Räume in Gallien und außerhalb. Denn während die Resistenzräume in Bayern sich vornehmlich über fortbestehende antik-römische Orts- und Flurnamen nachweisen lassen, gelingt der Nachweis für Gallien über die dauerhafte Fähigkeit zur Bildung romanischer Ortsnamen, auch unter Einbeziehung germanischer Personenamen sowie über den Nachweis fortgesetzten Gebrauchs lateinischer Fachbegriffe, vor allem im Weinbau. Der Beitrag von Daniel Syrbe verbindet die Untersuchung von städtischen Kommunikationsräumen mit regionalen Herrschaftsräumen, die sich aus der Beziehung der städtischen Räume zueinander erkennen lassen, die über die Straßen sichtbar werden. Zudem kann Daniel Syrbe zeigen, dass über mehrere mutmaßliche Kontinuitätsbrüche hinweg in der von ihm untersuchten nordafrikanischen Großregion im Bereich von Recht und Verwaltung sich ein nur geringfügiger gesellschaftlicher Wandel feststellen lässt, was auf eine fortgesetzte politische und kommunikative Grundstruktur schließen lässt. Regna sind die neuen Räume, die nach dem offiziellen Ende weströmischer Administration in gewisser Weise die Provinzen ersetzen. Sie sind aber mehr als die Provinzialordnung, weil sie zugleich auch Loyalitätsbeziehungen umfassen, die zuvor vor allem gegenüber dem kaiserlichen Haus bestanden und nicht nur in Gallien bereits seit einiger Zeit eine immer geringer werdende Rolle spielten, nun aber unter neuen Vorzeichen wesentlich dazu geeignet sind, römische Teilräume als Kommunikations-, Identitäts- und Rechtsräume neu entstehen zu lassen.16 Diese regna unterscheiden sich aber ganz grundsätzlich von modernen Nationalstaaten, auch darin, dass ihre Grenzen zwar rechtliche und politische Bedeutung haben, sie selbst aber eben keine kulturelle Exklusivität gegenüber ihren Bewohnern und

16 S. etwa Daniel SYRBE, Civitates und das sichtbare / unsichtbare Römische Reich im spätantiken Nordafrika, in diesem Band. – S. grundlegend zur Kategorie des Rechtsraumes EHLERS, Caspar: Rechtsräume. Ordnungsmuster im Europa des frühen Mittelalters (methodica 3), Berlin/Boston 2016.

Civitates, regna und Eliten

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schon gar nicht gegenüber den Eliten geltend machen (können). Hier kommt die Frage ins Spiel, inwiefern eine übergeordnete politische Größe von Relevanz ist, etwa das bestehende Kaisertum des Ostens, das nunmehr als eigentlich „griechisch“ wahrgenommen wird, wie Hans Werner Goetz deutlich machen kann. Obwohl sehr wahrscheinlich die jeweils eigene Münzprägung der regna des Westens bis weit in das 6. Jahrhundert auf die Nennung von Königsnamen auf Goldmünzen verzichtete und dann im Falle Theudeberts in der Mitte des Jahrhunderts es offensichtlich noch aus byzantinischer Sicht als Ausdruck der Usurpation kaiserlicher Rechte verstanden wird,17 scheint in der Tat der bestehende politische Raum, der von Byzanz ausgeht, trotz sichtbarer Präsenz sowohl in Italien als auch in Spanien nicht eigentlich das Römische des Westens zu repräsentieren (Hans-Werner Goetz). Will man die Beziehung der regna des Westens zu einem Römischen Reich verstehen, so kommt weder der Osten noch der Westen als aktuelle beziehungsweise vergangene politische Suprastruktur dafür in Frage. Das zeigt uns die Studie zur Geschichtsschreibung der Merowinger- und Karolingerzeit von Hans-Werner Goetz. Ganz ähnlich ist der Befund der Untersuchungen von Christian Stadermann, der den Rombezug spätantiker und frühmittelalterlicher Autoren in Gallien vergleicht und deutlich zeigen kann, dass auf der Vorstellungsebene das mutmaßlich vergangene Römische nicht mehr den Bezugsrahmen bildet, also bei aller kulturellen romanitas die Identität der frühmittelalterlichen Autoren augenscheinlich eher eine fränkische ist und in besonderer Weise auf Kleinräume verweist, auf civitates vornehmlich. Die Beobachtungen von Hans-Werner Goetz und Christian Stadermann lassen einen Wandel erkennen, der vor allem die politische Identität betrifft, die augenscheinlich nicht mehr römisch ist, anders als noch bei Salvian von Marseille (Helga Scholten) und Sidonius Apollinaris.18 Dennoch bestehen nicht nur mit den civitates genuin römische Strukturen, sondern bilden ja auch die regna in ihrer Gesamtheit große Teile des westlichen Imperium Romanum ab. Sie bestehen in einem Raum, in dem die regionalen politischen

17 CARLÁ, Filippo: Wirtschaftliche Fragmentierung? Die spätantike Goldwährung und das Ende des Römischen ‚Monetary System‘ (5.–7. Jh. n. Chr.), in: Politische Fragmentierung und kulturelle Kohärenz in der Spätantike, hg. v. Dietrich Boschung, Marcel Danner und Christine Radtki, Paderborn 2015, S. 137–158, S. 143 unter Verweis auf Prokop. 18 Vgl. zu Sidonius Apollinaris und aber auch zur Entwicklung der Romanitas bis in die fränkische Welt die Dissertation von Hendrik HESS: Das Selbstverständnis der gallo-römischen Oberschicht. Übergang, Hybridität und Latenz im historischen Diskursraum von Sidonius Apollinaris bis Gregor von Tours (RGA Ergänzungsband 111) mit dem sehr treffenden resümierenden Satz: „Die Romanitas der Oberschicht wurde im Angesicht der Umwälzungen in Gallien nicht etwa dauerhaft mit patriotischem Widerstandsgeist aufgeladen oder zum politischen Sehnsuchtsideal stilisiert, sondern sie wurde zu einem amorphen Grundrauschen von Wissen und Praktiken im historischen Diskursraum – das Selbstverständnis der römischen Oberschicht in Gallien wurde erst hybrid und dann latent.“, S. 181. Vgl. den Band Transformation of Romanness. Early Medieval Regions and Identities (Millennium-Studien 71), hg. v. Walter Pohl, Clemens Gantner, Cinzia Grifoni und Marianne Pollheimer-Mohaupt, Berlin/Boston 2018.

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Jürgen Strothmann

Größen des Reiches immer noch bestehen, und von denen die wesentlichen zivilisatorischen und kulturellen Bedingungen ausgehen. Zugleich lässt sich eben beobachten, dass die regna wesentliche Funktionen der Provinzialordnung übernehmen, etwa über die kirchlichen Konzilien, die zwar auch als Provinzialsynoden fassbar sind, die aber in ganz ähnlicher Funktion auch als Reichssynoden abgehalten wurden. Damit bilden die regna überregionale Kultgemeinschaften, ganz ähnlich den römischen Provinziallandtagen. Daneben sind es die Könige, die – wie die Forschung zu den Monetarmünzen zeigt – in Gallien etwa nicht jeweils eigene politische Ordnungen ausbilden, sondern offensichtlich den antiken Großraum jeweils in ihrer „provincia“ vertreten. Dabei kommt es zu Verschiebungen, sodass regnum und römische Provinz genausowenig deckungsgleich werden wie Teilreich und Provinz oder regnum und imperium. Die Münzprägung Galliens zeigt zwar eine politische Integration Galliens als Ganzes, zugleich aber bestehen analoge Münzsysteme im gesamten lateinischen Westen. Es organisieren alte und neue Eliten einen alten Raum in neuer Gliederung mit alten Prinzipien. Das ist Ausdruck von Strukturen, die insofern unsichtbar sind, als sie eben nicht unmittelbar in der Ordnung der regna selbst sichtbar werden. Die Eliten, deren soziale, kulturelle und politische Zusammensetzung einem Wandel unterworfen ist, und die nun nicht mehr prinzipiell auf die Städte bezogen werden können, was aber bereits in römischer Zeit sich schon andeutete, sind in ihrer Mobilität nicht durch die regna begrenzt. Die Grenzen der regna bestehen vor allem – neben Ergebnissen militärischer Ereignisse und Möglichkeiten – aus den Grenzen der ihnen politisch zugeordneten Eliten bzw. den Grenzen der ihnen zugeordneten civitates. Zwar werden diese zunehmend von Bischöfen nach außen vertreten, die selbst aber zu den Eliten der regna gehören und damit auf ihre Weise die civitates als integrale Bestandteile der regna erhalten. Obwohl Teile der neuen Eliten des Westens auch germanische Sprachen sprechen, sich ohne großes Interesse an städtischer Gesellschaft und politischer Teilhabe in den Städten auf dem Land etablieren und obwohl diese Gruppen rechtlich mutmaßlich anders (bzw. ergänzend) gefasst sind als die alten Eliten,19 organisieren sie sich und den beherrschten Raum doch im Rahmen der Möglichkeiten, als unter Berücksichtigung städtischer administrativer Kompetenzen der römischen Welt affine Größen. Die römische Welt besteht unterhalb der kaiserlich-administrativen Ordnung neben den civitates auch aus Einzelakteuren und rechtlich und politisch gefassten Gruppen, wie etwa den inkorporierten Barbaren der Spätantike. Informell haben neben den Städten immer auch Einzelakteure, herausgehobene Personen mit ihren

19 Vgl. zur Komplementarität sowie zum durchaus römischen Ordnungsrahmen des Rechts SIEMS, Harald: Zum Weiterwirken römischen Rechts in der kulturellen Vielfalt des Frühmittelalters, in: Leges – Gentes – Regna. Zur Rolle von germanischen Rechtsgewohnheiten und lateinischer Schrifttradition bei der Ausbildung der frühmittelalterlichen Rechtskultur, hg. v. Gerhard Dilcher und Eva-Marie Distler, Berlin 2006, S. 231–255.

Civitates, regna und Eliten

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Familien, politisch relevante Funktionen besessen. Das ist in den regna des Frühmittelalters nicht anders. Ein letzter Hinweis sollte nach der Schilderung rechtlicher, politischer, administrativer und kultischer Momente der kulturellen Orientierung gelten. Oftmals wird das Christentum als etwas Unrömisches verstanden, als Gegensatz zur römischen Welt, nur weil manche pagane und zahlreiche christliche Autoren eine solche Gegensätzlichkeit postulieren. Indes, sie gibt es nicht. Augustinus etwa kann sich noch so sehr gegen die römische Hochkultur wenden, wie viele andere mit dieser Grundhaltung gehört er ihr selbst an. Ein sehr deutliches Beispiel für die Unentrinnbarkeit lateinischer Hochkultur unter den Eliten am Ende der politischen Größe „Römisches Reich“ ist doch Salvian, wie Helga Scholten nachzeichnet, nur dass Salvian sich dessen bewusst wird, anders als andere Literaten. Christentum ist im Westen lateinisches Christentum, das in besonderem Maße römisch ist und für die civitates, regna und Eliten des Frühmittelalters prägend wird. In gewisser Weise zeigt das auch der Beitrag von Ulrich Huttner, der an Hand der Terminologie einer Bauinschrift aus Hierapolis in Kleinasien aus dem 5./6. Jahrhundert zeigen kann, wie präsent römische Vorstellungen von politischer Ordnung trotz einer weitgehend vollzogenen „Deinstitutionalisierung“ römischer Ordnung noch waren. Die Rolle der kirchlichen Ordnung und kirchlicher Kommunikation für Kontinuitäten, auch für möglicherweise den Erhalt der politischen Grundstrukturen der Städte und der Ordnung der Städte zu- und miteinander, etwa auf Reichsebene, haben wir bewusst ausgeklammert. Das wäre eine Aufgabe späterer Untersuchungen. Eine solche Untersuchung müsste zudem noch mit der frühchristlichen politischen Struktur und ihrem Verhältnis zu den vorchristlichen städtischen politischen Ordnungen einsetzen und könnte dann weit über das frühe Mittelalter hinausweisen. Der vorliegende Band geht auf ein Siegener Kolloquium zurück, finanziert von der Philosophischen Fakultät der Universität Siegen, an dem außer den Beiträgern dieses Bandes noch Prof. Dr. Christian Witschel,20 Prof. Dr. Gerhard Lubich,21 Dr. Hendrik Hess22 und Prof. Dr. Mischa Meier teilnahmen, von deren Beteiligung nicht nur das Kolloquium, sondern natürlich auch der fertige Band profitieren. Mischa Meier hat zum Schluss des Kolloquiums das Konzept und die Ergebnisse der Vorträge und Diskussionen kommentiert und dabei einige zentrale und weiterführende Fragen formuliert. Die Reihenfolge der Beiträge folgt der inhaltlichen Gliederung des Bandes, gleichwohl stehen die Beiträge trotz ihrer sehr unterschiedlichen thematischen Bezüge in vielfältiger Beziehung zu einander. Bei der Redaktion wurde auf die unterschiedlichen Fachkulturen Rücksicht genommen.

20 ‚Zur Entwicklung der civitates zwischen dem 3. und dem 7. Jh. in den Nordwestprovinzen des Imperium Romanum (Germania I und II, Gallia Belgica, Raetia, Noricum)‘. 21 ‚Verwandtschaft als supra-regnale und supra-gentile Kategorie?‘ 22 ‚Eliten in den Briefen des Sidonius Apollinaris‘.

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Der Dank des Herausgebers gilt zuallererst den Teilnehmern des Kolloquiums für eine muntere und fruchtbare Diskussion sowie den Autoren des vorliegenden Bandes für die Beiträge und für ihre Geduld. Dank gebührt den Herausgebern der Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, darunter besonders Prof. Dr. Steffen Patzold, für die Aufnahme in die Reihe, und natürlich dem Verlag, vor allem Laura Burlon, für ihre umsichtige und sehr verständnisvolle Betreuung des Bandes. Der Band sei Prof. Dr. Jörg Jarnut zu den Kalenden des März gewidmet. Er hat die Überlegungen, die zu dem Konzept eines „unsichtbaren Römischen Reiches“ als Verständniskategorie für den inneren Zusammenhang zwischen dem (sichtbaren) Römischen Reich der Antike und den frühmittelalterlichen Nachfolgeordnungen führen, intensiv begleitet. Siegen, 11.05.2020

Jürgen Strothmann

Ulrich Huttner

Vorüberlegungen zum ‚unsichtbaren Römischen Reich‘ Das Konzept des „unsichtbaren Römischen Reiches“ stellt Epochenschwellen auf den Prüfstand und fordert Althistoriker und Mediävisten gleichermaßen heraus, ihm im gegenseitigen Austausch auf die Spur zu kommen. Da das Römische Reich seinerseits vor kontinentalen Grenzen nicht Halt machte,1 mag ein Schlaglicht auf Kleinasien verdeutlichen, dass mit den Symptomen des „unsichtbaren Römischen Reiches“ nicht nur im Westen zu rechnen ist. Der Schauplatz ist Hierapolis in Kleinasien, ein Ort, der bei den Touristen heute vor allem wegen der spektakulären Kalksinterterrassen von Pamukkale eine beliebte Anlaufstation ist.2 Hierapolis ist eine hellenistische Stadt, die immer wieder von Erdbeben schwer in Mitleidenschaft gezogen wurde. Für die Geschichte des frühen Christentums spielte sie deswegen eine bedeutende Rolle, weil sie zum unmittelbaren Einzugsbereich der paulinischen Mission zählte und weil sich bald danach Philippos aus Palästina dort niederließ, dessen Grab zum beliebten Pilgerziel avancierte, da man ihn mit dem gleichnamigen Apostel Jesu identifizierte.3 Schon aus diesem Grund wird es nicht verwundern, dass der Kirchenbau in frühbyzantinischer Zeit kräftig florierte. Zu den archäologisch kaum erforschten Kirchen von Hierapolis zählt die sog. Pfeilerbasilika, obwohl eine Bauinschrift einen vagen Rahmen zeichnet, um das Monument in einen historischen Kontext einzuordnen.4 Die Inschrift lautet folgendermaßen: Unter unserem heiligsten und von Gott innigst geliebten Erzbischof und Patriarchen Gennaios hat der zutiefst fromme Presbyter Kyriakos, Sohn des Eustolios (?), zusammen mit seinen Enkelinnen Johanna und Kyriake, den Bau der heiligsten Kirche Christi finanziert [. . .].5

1 Programmatisch zu den Mechanismen des römischen Reiches vgl. BRUNT, Peter A.: Roman Imperial Themes, Oxford 1990 (Nachdruck 2006), S. 433–480 („Roman Imperial Illusions“); MATTINGLY, David J.: Imperialism, power, and identity. Experiencing the Roman Empire, Princeton/Oxford 2011, S. 3–42 („From Imperium to Imperialism“). 2 Grundlegend zur Bedeutung der Stadt D’ANDRIA, Francesco: Hierapolis in Phrygien (Pamukkale). Ein archäologischer Führer, Istanbul 2003; zu den jüngsten Grabungen D᾽ANDRIA, Francesco u. a.: Cehennem’den cennet’e. Hierapolis (Pamukkale). Ploutonion. Aziz Philippus’un mezarı ve kutsal alanı, Istanbul 2014. 3 Vgl. HUTTNER, Ulrich: Early Christianity in the Lycus Valley, Leiden/Boston 2013, S. 81–211. 4 Ausführlich zu dieser Inschrift HUTTNER, Ulrich: Die Bauinschrift in der Pfeilerkirche von Hierapolis und der Patriarchentitel im frühen Christentum, in: Der Beitrag Kleinasiens zur Kultur- und Geistesgeschichte der griechisch-römischen Antike. Akten des Internationalen Kolloquiums Wien, 3.–5. November 2010, hg. v. Josef Fischer, Wien 2014, S. 211–230. 5 + ἐπὶ τοῦ ἁγιω̣ + τ(άτου) καὶ θεοφ̣(ιλεστάτου) + / ἀρχιεπισκό(που) ἡμῶν κὲ π(ατ)ριάρχο(υ) / Γενναίου ὁ / ε̣[ὐ]λαβ(έστατος) πρεσ[β](ύτερος) / Κυριακὸς Ε̣ὐσ ̣ τ̣ ο ̣ λίου κ[αὶ ..] / ἐκγονί̣[ων Ε]ἰ̣ωά̣ννας κ[αὶ] / https://doi.org/10.1515/9783110623598-002

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Der Text dieser Inschrift ist nicht in allen Details bis ins letzte gesichert, und die Datierung kann nur grob auf das 5. oder eher 6. Jh. eingegrenzt werden. Nichts deutet auf den ersten Blick darauf hin, dass die Kirchenstiftung in einen politischen Raum eingebettet war, dessen Strukturen im Kaiser gipfelten und durch eine lange imperiale Tradition geprägt waren.6 Nur Kleriker und ihre Angehörigen finden Erwähnung, kein Statthalter, kein vicarius, kein comes, auch nicht der Kaiser – als bildete die Kirche einen geschlossenen Raum, in dem die kaiserliche Administration nichts zu suchen hätte. Dabei ist gerade die imperiale Ordnungsstruktur in dem Text höchst präsent, denn der Titel des Gennaios, in dessen Amtszeit die Baumaßnahmen fallen, nimmt implizit darauf Bezug und wird so auf ortsfremde Passanten geradezu provozierend gewirkt haben.7 In den Konzilsakten des 4. und 5. Jhs. wird deutlich, wie sich die Organisation der Kirche in die Provinzialstruktur des Römischen Reiches eingenistet hat.8 Die Bischöfe unterstanden dem Kollegen der jeweiligen Provinzhauptstadt, die in der Regel den Titel einer Metropolis trug – dem Metropoliten also. Dieser war der Spitzenbischof einer Provinz, dem der Titel eines Archiepiskopos (Erzbischof) zukam. Hierapolis gehörte zur Provinz Phrygia Pacatiana, und der Statthalter dieser Provinz (vielleicht sogar der vicarius der asianischen Diözese) hatte seinen Sitz im benachbarten Laodikeia, in unmittelbarer Sichtweite von Hierapolis auf der anderen Seite des Tals.9 Wenn Gennaios den Titel eines Erzbischofs und dazu noch den des Patriarchen führte, proklamierte er dadurch einen provinzweiten Führungsanspruch, und zwar vor allem gegenüber dem Metropoliten von Laodikeia. Das Machtgehabe der Bischöfe fügte sich also in den Rahmen der imperialen Strukturen, konkret in das Gefüge aus Kleinprovinzen, das

Κυριακῆς / ἐκα̣[ρπ]ω̣φόρησ[. Τὸ] / κτίσμα τῆς ἁ̣γ[̣ ιωτ(άτης)] ἐκκλ(ησίας) Χρ[(ιστοῦ)] / [. . .]δ. η. + . Vgl. HUTTNER, Bauinschrift 2014 (wie Anm. 4), S. 212. 6 Vgl. zur Einbettung der kirchlichen Administration in die imperiale HARNACK, Adolf von: Die Mission und Ausbreitung des Christentums in den ersten drei Jahrhunderten, 2 Bde, 4. Aufl., Leipzig 1924, Bd. 1, S. 459–485; MILLAR, Fergus: A Greek Roman Empire. Power and belief under Theodosius II (408–450), Berkely/Los Angeles/London 2006, S. 133–148; DESTEPHEN, Sylvain: Actes conciliaires, listes de souscriptions et notices épiscopales ou du bon usage des sources ecclésiastiques, in: L’Anatolie des peuples, des cités et des cultures (IIe millénaire av. J.-C. – Ve siècle ap. J.-C.). Colloque International de Besançon – 26–27 novembre 2010. Volume I: Autour d’un projet d’atlas historique et archéologique de l’Asie Mineure. Méthodologie et prospective, hg. v. Hadrien Bru und Guy Labarre, Besançon 2013, S. 207–228, hier S. 215–223. 7 HUTTNER, Bauinschrift 2014 (wie Anm. 4), S. 216–225. 8 Grundlegend zu Kleinasien DESTEPHEN, Actes conciliaires 2013 (wie Anm. 6). 9 Laodikeia als Statthaltersitz: ŞIMŞEK, Celal / GUIZZI, Francesco: A dedication of the praeses Dyscolius from Laodikeia on the Lykos. Mediterraneo Antico 15 (2012), S. 511–518, hier S. 517 f.; HUTTNER, Lycus Valley 2013, S. 276–279. Zur Personalunion des vicarius der Asianischen Diözese und des Statthalters der Phrygia Pacatiana FEISSEL, Denis: Vicaires et proconsuls d’Asie du IVe au VIe siècle. Remarques sur l’administration du diocèse asianique au bas-empire, in: Antiquité Tardive 6 (1998), S. 91–104, hier S. 102 f. (v. a. zu Novella Iustiniani edictorum 2,1,1); auch HUTTNER 2013 (wie Anm. 3), S. 293.

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auf die Zeit der Tetrarchie und die konstantinische Dynastie zu Beginn des 4. Jahrhunderts zurückgeht.10 Liest man die Bauinschrift in der Pfeilerbasilika von Hierapolis, so werden diese Strukturen nicht explizit, sondern sie bilden ein unterschwelliges Fundament. Um sie als Teil eines „unsichtbaren Römischen Reiches“ zu beschreiben, sind allerdings noch einige Überlegungen zum Begriff der Unsichtbarkeit nötig. Denn die Identifizierung von „Unterschwelligkeit“ und „Unsichtbarkeit“ liegt keineswegs auf der Hand. Gennaios und die anderen Gemeindemitglieder, die in der Pfeilerbasilika von Hierapolis dokumentiert sind, deuteten „Unsichtbarkeit“ auf der Basis desjenigen Textes, den sie am besten kannten: der Bibel. Vertraut ist der Beginn der Genesis: „Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Und die Erde war wüst und leer, [. . .]“.11 Der griechische Text der Septuaginta lautet hier: ἡ δὲ γῆ ἦν ἀόρατος καὶ ἀκατασκεύατος, [. . .] ‒ „die Erde aber war unsichtbar und ohne Form“.12 Hieronymos störte sich an dieser Formulierung und übersetzte: terra autem erat inanis et vacua, während Augustinus mit der älteren Version terra erat invisibilis et incomposita hantierte.13 Diese Unsichtbarkeit assoziierte Augustinus unmittelbar mit einer nicht erkennbaren und in vollkommener Dunkelheit liegenden Gestaltlosigkeit (informitas). Die Gestaltlosigkeit in Gestalt zu überführen und so sichtbar zu machen, ist die Leistung Gottes. Im Schöpfungsakt liegt begründet, dass die Phase der Unsichtbarkeit der Phase der Gestalt vorausgeht. Es wäre zu überprüfen, ob auch andere Schöpfungsmythen das anfängliche Chaos, das hebräische Tohuwabohu also, mit dem Begriff der Unsichtbarkeit assoziierten.14 Unsichtbarkeit zeichnet allerdings auch das paulinische Gotteskonzept aus, das sich vor allem in den deuteropaulinischen Briefen bemerkbar macht und das sich letztlich herleitet aus philosophischen Überlegungen eines abstrahierenden Monotheismus. Im Ersten Timotheusbrief, der ja nicht aus der Feder des Paulus selbst stammt, wird Gott mit den Attributen: unvergänglich, unsichtbar und einzig beschrieben.15 Im Kolosserbrief, dessen Autor ebenfalls im Umkreis des Paulus zu

10 Vgl. BARNES, Timothy D.: The new Empire of Diocletian and Constantine, Cambridge (Mass.)/ London 1982, S. 195–225. 11 Übersetzung nach Martin Luther. 12 Die Vokabel ἀόρατος („unsichtbar“) ist laut LUST, Johan / EYNIKEL, Erik / HAUSPIE, Katrin: GreekEnglish Lexicon of the Septuagint, 3. Aufl., Stuttgart 2015, S. 58 nur dreimal belegt (neben Gen.1,2 Is.45,3 und 2 Makk.9,5). 13 Augustinus, Confessiones 12,3 f. 14 Fürs erste weiterführend BÖHME, Gernot / BÖHME, Hartmut: Feuer, Wasser, Erde, Luft. Eine Kulturgeschichte der Elemente, 2. Aufl., München 2010, S. 32–41. 15 Vgl. zu 1 Tim.1,17 ([. . .] ἀφθάρτῳ ἀοράτῳ μόνῳ θεῷ [. . .]) ZIMMERMANN, Christiane: Die negativen Gottesbezeichnungen in 1 Tim 1,17 und 6,15 f.: eine sprachliche Grenzüberschreitung und ihre Folgen, in: Kommunikation über Grenzen. Kongressband des XIII. Europäischen Kongresses für Theologie, 21.–25. September 2008 in Wien, hg. v. F. Schweitzer, Gütersloh 2009, S. 390–408, hier S. 397 f.

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suchen ist, wird Christus in einer hymnischen Passage als „das Bild des unsichtbaren Gottes“ gewürdigt.16 Das erinnert an die Ideenlehre Platons. Schon diese knappen Hinweise auf den Unsichtbarkeitsbegriff in der Bibel dürften klarmachen, dass zeitgenössische Kleriker wie Gennaios oder Kyriakos die sich unterschwellig bemerkbar machenden Spuren imperialer Strukturen wohl nicht als etwas „Unsichtbares“ bezeichnet hätten. Denn einerseits ist nach ihrem Verständnis Unsichtbarkeit etwas, was der Sichtbarkeit vorausgeht, andererseits ist es etwas Göttliches. Dieses negative Resultat der Spurensuche bei den zeitgenössischen Christen sollte den Wissenschaftler jedoch nicht abhalten, mit der zum Begriff geronnenen Metapher ein historisches Phänomen plastisch werden zu lassen, dessen Bedeutung zahllosen Befunden abzulesen ist. In der Soziologie unterscheidet man persönliche Erfahrungen in der Alltagswelt nach ihrer Direktheit bzw. Indirektheit.17 Dabei lässt sich von den direkten Erfahrungen zu den indirekten ein kontinuierliches Spektrum aufspannen, aus dem sich die Frage ergibt, ob Erfahrungen so indirekt sein können, dass man sie auch als unsichtbar bezeichnen könnte. Oder wird hier sogar der Erfahrungsbegriff ad absurdum geführt, indem der Erfahrungshorizont schlicht unterlaufen wird? Möglicherweise handelt es sich auch um sedimentierte und damit traditionsbedingte Erfahrungen,18 die durch andere Erfahrungen überlagert wurden. Man könnte es auch mit einem anderen Spektrum versuchen: Institutionen haben bekanntermaßen ihre Geschichte,19 hinter ihrer Genese steht also ein Prozess. Aber, und diese Frage ist hier entscheidend: Haben Institutionen auch ein Ende, und wie sieht dieses Ende aus? Solange sie vorhanden sind, halten sie „menschliches Verhalten unter Kontrolle“.20 Wird die Institution in dem Augenblick unsichtbar, wenn sie von den Zeitgenossen nicht mehr wahrgenommen wird, obwohl sie nach wie vor deren Verhalten steuert – in wie geringem Maße auch immer? Thomas Luckmann hat den Begriff einer „unsichtbaren Religion“ geprägt, und er meinte damit eine Religion, die sich von den Institutionen ins Private zurückzog.21 Die Geschichte des „unsichtbaren römischen Reiches“ könnte auf dieser Basis als die Geschichte seiner Deinstitutionalisierung gedeutet werden. Mit ihrer Erforschung gewinnt man Einblicke in etwas, was gar nicht zu sehen ist.

16 Kol.1,15. Dazu der eingehende Kommentar von BORMANN, Lukas: Der Brief des Paulus an die Kolosser (Theologischer Handkommentar zum Neuen Testament 10/1), Leipzig 2012, S. 88–93. 17 Vgl. BERGER, Peter L. / LUCKMANN, Thomas: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, 17. Aufl., Frankfurt am Main 2000, S. 34 f. 18 Zu den sedimentierten Erfahrungen vgl. BERGER/LUCKMANN, Konstruktion 2000 (wie Anm. 17), S. 72 f. 19 Vgl. BERGER/LUCKMANN, Konstruktion 2000 (wie Anm. 17), S. 58; auch S. 86 (zum Begriff der Entinstitutionalisierung). 20 Ebd. S. 58. 21 Vgl. zu dem Buch „The invisible religion“ (1967) von Luckmann KNOBLAUCH, Hubert: Religionssoziologie, Berlin 1999, S. 123–127.

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Das ‚unsichtbare Römische Reich‘ als Verbund der Kleinstaaten Bedingungen von Kontinuität und Autonomie römischer Kolonien im Westen des Römischen Reiches am Beispiel von Urso in Spanien

1 Vorbemerkung: Das Politische und die antike Stadt Während wir gewohnt sind, das Politische unbedingt vom Sozialen zu trennen und losgelöst vom Sozialen zu denken, gewissermaßen als eine zivilisierende Kraft dem Sozialen entgegentreten zu lassen, und das unsere Bedingung für das Bestehen eines politischen Organismus ist, den wir Staat zu nennen bereit sind, ist das Politische in der Antike und in weiten Teilen des Mittelalters in besonderer Weise als Überformung (und Abwandlung) sozialer Strukturen zu verstehen.1 In der Frage nach dem Politischen selbst, die ja sehr eng mit der Frage nach Staatlichkeit verbunden ist, besteht das oben genannte ‚wir‘ aber vor allem aus Mitteleuropäern. Weiten Kreisen der westlichen Welt ist diese Differenzierung zwischen dem Sozialen und dem Politischen weitgehend fremd. Das zeigt etwa die Debatte über mittelalterliche Staatlichkeit, die in der angelsächsischen Forschung kaum geführt wird, anders als in Deutschland, Italien und auch in Frankreich.2 Zwar wird die Frage nicht reflektiert, sie ist in zahlreichen Realitäten aber sehr wohl auch Teil des angelsächsischen politischen Handelns, etwa in der Trennung von Privat- und Amtspersonen. Gegenüber einer relativ elaborierten politischen Kultur, die notwendigerweise das Soziale und seine immanenten Herrschaftsverhältnisse aus dem politischen Betrieb herauszuhalten sucht, steht das Wahlsystem der USA, das – ganz wie in der späten Römischen Republik – reiche und mächtige Kandidaten bevorzugt.

1 S. zum vormodernen Staat und seinem modernen Verständnis am Beispiel der karolingischen Staatlichkeit STROTHMANN, Jürgen: Karolingische Politische Ordnung als Funktion sozialer Kategorien, in: Der Frühmittelalterliche Staat – Europäische Perspektiven, hg. v. Walter Pohl und Veronika Wieser (Forschungen zur Geschichte des Mittelalters 16), Wien 2009, S. 51–61. 2 S. zum Frühmittelalter exemplarisch den Band: Der Frühmittelalterliche Staat – Europäische Perspektiven, hg. v. Walter Pohl und Veronika Wieser (Forschungen zur Geschichte des Mittelalters 16), Wien 2009, sowie den ersten Band: Staat im Frühen Mittelalter, hg. v. Stuart Airlie, Walter Pohl und Helmut Reimitz (Forschungen zur Geschichte des Mittelalters 11), Wien 2006. https://doi.org/10.1515/9783110623598-003

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In Deutschland hat die saubere theoretische Trennung des Sozialen vom Politischen im hoch entwickelten Anstaltsstaat des 19. Jahrhunderts, vor allem im Staatsrecht, dagegen eine Vorstellungswelt geschaffen, aus der heraus auch vormoderne Ordnungen immer wieder Anstaltsstaatlichkeit zugewiesen bekamen und damit die vormoderne Nähe zwischen dem Sozialen und dem Politischen geradezu unsichtbar wurde. Die Gegenbewegung fand schließlich seit den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts vor allem im Nationalsozialismus statt, der mit der postulierten politischen Unmittelbarkeit der „Volksgenossenschaft“ und eines Volkswillens und der Durchdringung des Staatsapparats durch die Partei gerade diese aus seiner Sicht künstliche Trennung des Politischen vom Sozialen aufzuheben versuchte. Der Staat sollte die unmittelbare Verwirklichung der Gesellschaft sein. Die Katastrophe, die aufs Engste mit der Konsequenz dieses ideologischen Konzeptes und seiner Verwirklichung verbunden ist, hat in der Nachkriegszeit dazu geführt, von einer positiven Darstellung einer engen Aufeinanderbezogenheit des Sozialen und des Politischen auch in der Geschichte abzusehen. Das führte in der Mediävistik dazu, ein eigentlich nationalsozialistisches Konzept des Politischen, nämlich das des Personenverbandsstaates, mitzuführen, diesem jedoch die Staatlichkeit abzusprechen. So umging man das Problem, dass aus der gemutmaßten mittelalterlichen Relevanz des Sozialen erneut ein Idealbild entstehen konnte, etwa von den freien Germanen, deren Wesen den Staat des Mittelalters maßgeblich konstituiert habe, was ja seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert eine weit verbreitete Annahme war, die damit korrespondierte, das deutsche Volk als Fortsetzung und Verwirklichung eines germanischen Volkes zu sehen. Darin steckte natürlich eine gewisse Arroganz des vermeintlichen indocile genus gegenüber der überkomplizierten und von Theorie unnütz überformten romanischen Welt und zugleich ein Affekt gegenüber der eigenen intellektuellen Elite. Wenn wir nun erneut den Blick auf das Politische in Antike und früherem Mittelalter richten, sind wir natürlich nicht traditionsfrei, sollten aber ohne die Gefahr eines Vorschlages an die politische Gegenwart die vormoderne Nähe zwischen dem Sozialen und Politischen erkennen können. Die Mittelmeergesellschaften bestehen spätestens seit der griechischen Kolonisation in aller Regel aus polisbezogenen kleinräumigen sozialen Systemen,3 in denen die soziale Stratifikation meist zu der Ausbildung aristokratischer Formen des Politischen führt, ohne dass damit – wie etwa in Ägypten – die Elite eine absolute und also von den anderen sozialen Gruppen losgelöste Größe darstellt, die unangefochten herrschen könnte. In aller Regel stellen die Poleis des Mittelmeerraumes soziale Räume dar, in denen es unwillkürlich zum Entstehen politischer Ordnungen kommt, was Aristoteles in der Politik theoretisch sehr treffend fasst, wenn er die Polis logisch als einen Zusammen-

3 S. demnächst zur antiken Stadt neben zahlreichen Monographien grundsätzlich HUTTNER, Ulrich: Stadt I (Städtisches Leben), in: Reallexikon für Antike und Christentum, im Druck.

Das ‚unsichtbare Römische Reich‘ als Verbund der Kleinstaaten

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schluss von Dörfern begreift,4 obwohl das – wie er sicher selbst weiß – historischgenetisch nicht korrekt ist.5 Das Entscheidende am Politischen in der antiken Mittelmeerwelt ist aber seine geradezu automatische Entstehung. Sie folgt nämlich der Notwendigkeit, komplexe soziale Systeme handlungsfähig zu machen, militärisch nach außen und rechtlich nach innen. Es bedarf also eines Oberbefehls über die Angehörigen der verschiedenen Familien im Krieg und einer inneren Ordnung zwischen den verschiedenen Verbänden und ihren Angehörigen im Inneren, Normen also und zumindest rudimentäre Mittel zu ihrer Durchsetzung. Das scheint typisch für alle Poleis zu sein, deutlich sichtbar ist dies aber vor allem für Rom, in dem die gentile Grundstruktur des Staates noch sehr lange sichtbar ist und auch sehr deutlich im Zwölftafelgesetz zum Vorschein kommt. Das heißt, dass der römische Staat zunächst eigentlich ein Ausgleichsmechanismus zwischen den gentil-organisierten Gruppen ist. Ob ein solcher Staat, eine polis oder eine civitas, aristokratisch, monarchisch oder demokratisch regiert wird, ist letztlich unerheblich, weil er in der Regel auf sozialen Realitäten basiert, die im Prinzip immer aristokratisch sind;6 ob das gentilen Ordnungen folgt oder auf Freundschaften und wirtschaftlichen Abhängigkeiten beruht, ist für die Struktur der politischen Ordnung gar nicht entscheidend. Die Gründung von Kolonien folgte schon in der griechischen Welt demselben Prinzip, nach dem auch die Mutterstädte geordnet waren; und auch die Römer gründeten Kolonien, die ja oft politische Übergründungen bestehender politischer Gemeinschaften darstellten und damit diese durch eine politische Gemeinschaft römischen Rechts (oder auch latinischen Rechts) ersetzten. Auch diese coloniae wie auch die römischen municipia, weitgehend abhängige Bürgersiedlungen, folgten demselben aristokratischen Prinzip, das ja auch die auf der civitas Rom beruhende res publica Romana weitgehend prägte. Koloniegründungen solcher Art waren also völlig konsequente und weitgehend kohärente Ergänzungen der politischen Landschaft des Mittelmeerraums. Obgleich es durchaus Unterschiede zwischen den beiden spezifischen Gestalten des Stadtstaates in Ost und West gibt, so beruhen doch alle diese Stadtstaaten auf dem Prinzip politischer Selbstorganisation.7 Sie sind politische Organismen, die auf sozialen

4 Aristoteles, Politika I,2 (1252a-b). 5 Darauf weist Winfried SCHMITZ: Nachbarschaft und Dorfgemeinschaft im archaischen und klassischen Griechenland, Berlin 2004, S. 485 hin. 6 WELWEI, Karl-Wilhelm: Die griechische Polis, [1983] Stuttgart, 2. Aufl., 1998, S. 11–14 legt in seiner Begriffsklärung zur ‚polis‘ ausführlich dar, dass der Verfassungsdiskurs, also nach Staatsformen, als sekundär einzuschätzen ist, weil es eine Vielzahl von Erscheinungsformen der polis gegeben habe, die aber sämtlich auf Ungleichheiten beruhten, so ja auch die athenische Demokratie, deren Politen ja nur einen Teil der Bewohner Attikas darstellten. 7 Grundsätzlich zum Prinzip der Selbstorganisation RAAFLAUB, Kurt A.: City-State, Territory, and Empire in Classical Antiquity, in: City-States in Classical Antiquity and Medieval Italy, hg. v. Anthony Molho, Kurt Raaflaub und Julia Emlen, Stuttgart 1991, S. 565–588, S. 566. – LIEBESCHUETZ, J. H. W. G.: Decline

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Voraussetzungen beruhen, die ihrerseits im Politischen ihre Ordnung und zugleich aber auch – jedenfalls in der römischen Gründung – ihre Begrenzung finden. Dabei wahren die Römer das Prinzip der Mittelmeerpolis in ihren civitas-Gründungen, nämlich die aristokratische Grundstruktur. Indem sie die sozialen Realitäten beachten, ermöglichen sie ein Höchstmaß an Kontinuität und innerer Autonomie, was beides dem römischen Suprastaat zu Gute kommt, der bis weit in den sogenannten ‚Dominat‘ hinein zwar immer wieder Zugriff nimmt, aber dennoch weitgehend auf diese Form der Zivilisierung und Romanisierung seines Territoriums angewiesen ist. Mit anderen Worten: Das römische Imperium ist kein typischer Territorialstaat, sondern ein auf der Basis stadtstaatlicher Hegemonie bestehendes Geflecht williger Akteure, unter denen neben herausragenden Einzelpersonen die regionalen Ordnungen die wesentliche Basis darstellen, ohne die auch eine dauerhafte Provinzialorganisation gar nicht möglich wäre. In diesem Geflecht aus Stadtstaaten, die ihre Staatlichkeit auch in der Suprastruktur nicht nur erhalten können, sondern zum Wohl des Ganzen auch tatsächlich bewahren und mit Leben füllen müssen, lässt sich schließlich das System erkennen, dessen relative Unabhängigkeit vom Bestehen eines Reiches gerade dessen Voraussetzung ist.8 Da der Westen wesentlich aus solchen Stadtstaaten besteht, die eben auch Gebietskörperschaften sind und damit über ihre Territorien die territoriale Integrität des Reiches ausmachen,9 darf es als zentrale Frage gelten, wie

and Fall of the Roman City, Oxford [2001] 2007, S. 2; ECK, Werner: Autonomie und Subsidiarität: Die Wasserversorgung im Imperium Romanum, in: Neue Beiträge zur Hydrotechnik in der Antike (Schriften der Deutschen Wasserhistorischen Gesellschaft 25), Siegburg 2015, S. 1–12 zeigt das sehr deutlich am Beispiel der Wasserversorgung, nämlich wie Autonomie und Selbstverwaltung und kaiserliches Handeln ineinandergreifen. – S. auch aus der Sicht der Epigraphik: REVELL, Louise: The Written City: Political Inscriptions from Roman Baetica, in: Written Space in the Latin West, 200 BC to AD 300, hg. v. Gareth Sears, Paul Keegan und Ray Laurence, London 2013, S. 231–245, S. 232. 8 S. aber etwa WITSCHEL, Christian: Krise – Rezession – Stagnation? Der Westen des römischen Reiches im 3. Jahrhundert n. Chr. (Frankfurter Althistorische Beiträge 4), Frankfurt am Main 1999, S. 128 f. zu einem zunehmenden Eingreifen der Zentrale in die Autonomie der Städte. 9 Dass das Reich geradezu als aus der Gesamtheit der Stadtstaaten bestehend verstanden werden kann, zeigt VITTINGHOFF, Friedrich: Zur Entwicklung der städtischen Selbstverwaltung. Einige kritische Anmerkungen, in: Stadt und Herrschaft. Römische Kaiserzeit und Hohes Mittelalter, hg. v. Friedrich Vittinghoff, München 1982, S. 107–146, ND in: Ders.: Civitas Romana. Stadt und politisch-soziale Integration im Imperium Romanum der Kaiserzeit, hg. v. Werner Eck, Stuttgart 1994, S. 218–249, S. 219; vgl. auch WITSCHEL, Krise 1999 (wie Anm. 8), S. 152, der für Gallien in besonderer Weise eine durchgehende Gliederung in Gebietskörperschaften sieht, die die civitates an sich darstellen. – S. im Hinblick auf die Dauerhaftigkeit dieser Struktur LOSEBY, Simon T.: Decline and Change in the Cities of Late Antique Gaul, in: Die Stadt in der Spätantike – Niedergang oder Wandel?, hg. v. Jens-Uwe Krause und Christian Witschel (Historia Einzelschriften 190), Stuttgart 2006, S. 67–104, S. 70.

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diese Staaten, die civitates, geordnet sind und was neben ihrer sozialen Qualität für Funktionsfähigkeit und also für Kontinuität und Autonomie sorgt.10 Zu einer solchen Untersuchung kommen in besonderer Weise die spanischen Stadtrechte in Frage, die den Kolonien und Munizipien bei ihrer Gründung mitgegeben wurden und die mutmaßlich auch außerhalb Spaniens für den Westen eine gewisse Relevanz beanspruchen dürfen, weil wohl ein Basisformular solcher Stadtrechte zumindest im Westen universal verwendet wurde.11 Wir können davon ausgehen, dass, wenn wir ein Stadtrecht auf die Fragen von Kontinuität und Autonomie untersuchen, das mehr oder weniger auch für alle anderen Stadtrechte des Westens gelten wird. Die rechtliche Ordnung zwischen den verschiedenen römischen Stadtrechten ist hochkomplex. Noch komplizierter wird die Frage nach den Rechtsstellungen, wenn man die pauschalen Bürgerrechtsverleihungen an Individuen respektive Familien ebenfalls berücksichtigt.12 Das System lässt sich aber verstehen, wenn man das Recht als die wesentliche Kategorie von Identität begreift. Im Zuge der römischen Expansion, die nicht vornehmlich territorial zu verstehen ist, sondern als die Herstellung von multiplen Beziehungen zu verschiedensten politischen Verbänden, in der Regel aber selbst Stadtstaaten, und Personen, wird es notwendig, die Verschiedenheit der jeweiligen Beziehungen zu Rom abzubilden und handhabbar zu machen. Im Zuge dieser Hegemonieprozesse treffen die Römer auf peregrine Gesellschaften, die dann durch Verträge unterschiedlich eng an Rom selbst gebunden werden. Die Bürger peregriner politischer Verbände bleiben in der Regel – sofern sie nicht als Kriegsgefangene versklavt werden – nach wie vor Bürger ihrer Gemeinde. Je enger das Verhältnis der fremden Gemeinde zu Rom gestaltet wird, desto eher muss auch eine Beziehung zwischen dem fremden Bürger und

10 WOLFF, Hartmut: ‚Administrative Einheiten‘ in den Nordprovinzen und ihre Beziehungen zu römischen Funktionsträgern, in: Lokale Autonomie und römische Ordnungsmacht in den kaiserlichen Provinzen vom 1. bis 3. Jahrhundert, hg. v. Werner Eck (Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien 42), München 1999, S. 47–60, S. 59 betont die Komplementarität von Befehlsordnung und Mitwirkung von unten, um gerade darin einen wesentlichen Grund für die Dauerhaftigkeit des Reiches zu erkennen. 11 S. zur relativen Universalität der Stadtrechtsformulare ECK, Werner: Die Lex municipalis Troesmensium: Ihr rechtlicher und politisch-sozialer Kontext, in: Troesmis – A Changing Landscape. Romans and the Others in the Lower Danube Region in the First Century BC – Third Century AD, hg. v. CristinaGeorgeta Alexandrescu, Cluj-Napoca 2016, S. 33–46, S. 36 ff., der das bekannte spanische Formular, das aus Irni und im Abgleich mit der lex Malacitana bekannt ist, sinnvoll abgewandelt sieht. 12 S. dazu den umfangreichen Abschnitt ‚Die Rechtsstellungen von Personen und Gemeinden‘ bei JACQUES, François / SCHEID, John: Rom und das Reich in der Hohen Kaiserzeit, 44 v. Chr. -260 n. Chr., Bd. 1: Die Struktur des Reiches, übers. von Peter Riedlberger, [1990] Stuttgart/Leipzig 1998, S. 227–316.

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dem römischen Bürger hergestellt werden, vor allem für den Rechtsverkehr. Dafür haben die Römer im Wesentlichen zwei Mechanismen zur Verfügung: Grundsätzlich wird zwischen Gemeinden römischen Rechts und solchen latinischen Rechts unterschieden. Die Verleihung solcher Rechtsstellungen folgt unterschiedlichen Bedingungen, bedeutet aber immer eine Differenzierung nach Nähe zu Rom und seiner politischen Ordnung. Peregrine Gemeinden werden im Zuge einer solchen Annäherung zu Munizipien erhoben, entweder latinischen oder römischen Rechtes.13 Die Kolonien, ebenfalls differenziert nach latinischem und römischem Recht, sind zunächst Siedlern vorbehalten, zeitweilig bevorzugt Veteranen. Obwohl die Unterschiede zwischen colonia und municipium in ihrer jeweiligen Rechtsstellung eher gering zu sein scheinen,14 gibt es in der Kaiserzeit eine Neigung, die Verleihung des Koloniestatus als Erhöhung anzustreben. Die Unterscheidung der Kolonie römischen Rechts von derjenigen latinischen Rechts spielt seit der ausgehenden Republik wohl kaum noch eine Rolle, auch weil Neugründungen nicht mehr mit latinischem, sondern nur noch mit römischem Recht ausgestattet wurden. Seit der Constitutio Antoniniana Caracallas von 212 können wir dann auch davon ausgehen, dass die Unterscheidung zwischen Bürgern und Nichtbürgern sich eben nur noch auf die konkrete Stadt bezieht, jedoch nicht mehr auf römisch bzw. nichtrömisch.15

2 Colonia Iulia Genetiva Ursonensis Am Ende seines Lebens gründete Caesar in Spanien die Kolonie Urso, die er mit römischem Recht ausstattete und die wohl zur Aufnahme und Versorgung von Veteranen eingerichtet wurde. Da Caesar auch zu Beginn des Jahres 44 v. Chr. nichts von seinem baldigen Tod gewusst haben wird, ist gerade die Frage nach der inneren Autonomie der Kolonie von besonderem Interesse. Die Untersuchung des inschriftlich zu guten Teilen erhaltenen Rechtes von Urso,16 einer wirklichen Kleinstadt übrigens, die keine dauerhafte Kontinuität gefunden hat, wie vermutlich zahlreiche spanische Städte, soll aber nicht für sich stehen. Gelegentlich lohnt sich ein Blick auf das Stadtrecht von Irni, eines municipium, das 150 Jahre später von Domitian gegründet wurde

13 JACQUES/SCHEID, Rom und das Reich [1990] 1998 (wie Anm. 12), S. 251. 14 Grundsätzlich zu den Rechtsstellungen der Gemeinden s. JACQUES/SCHEID, Rom und das Reich [1990] 1998 (wie Anm. 12), S. 238 ff. 15 Die rechtlichen Unterschiede der Gemeinden werden mit der Constitutio Antoniniana erledigt, BEAUJARD, Brigitte: Les Cités de la Gaule Méridionale du IIIe au VIIe s., in: Gallia 63 (2006), S. 1–170, S. 11–23. 16 Ediert schon von Theodor MOMMSEN: Lex Coloniae Iuliae Genetivae Urbanorum sive Ursonensis, in: Ephemeris Epigraphica II, S. 108–151 (1874); III (1877), 91–112, ND in: MOMMSEN, Theodor: Gesammelte Schriften I,1, Berlin 1904, S. 194–264.

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(91–96),17 einem Herrscher, der aber deutlich weniger auf die konkrete Loyalität seiner Gründungsstadt angewiesen gewesen sein wird.18 Kontinuität und Autonomie solcher Kleinstaaten zu sichern bedeutet ein hohes Maß an politischer Ordnung zu organisieren und zugleich, dass der Gründer einen tiefen Einblick in die Funktionsweise einer solchen Ordnung, ihre Chancen und Risiken hat und weiß, inwieweit und auf welche Weise der sozialen Realität Rechnung zu tragen ist, damit die gegebene politische Ordnung überhaupt eine Aussicht auf Verwirklichung hat. Die ‚lex Ursonensis‘ (‚lex coloniae Genetivae‘),19 die nach ihrer Selbstbezeichnung von Caesar gegeben wurde und von Antonius und einem Senatsbeschluss legitimiert ist, scheint trotz der uns vorliegenden inschriftlichen Fassung aus der Kaiserzeit eben noch den Willen Caesars zu repräsentieren. Zur Datierung mag auch der Amtseid der scribae dienen, der nicht wie in den kaiserzeitlichen Stadtrechten der der Duovirn etwa Jupiter, den vergöttlichten principes, dem genius des aktuellen princeps und den Penaten gilt, sondern nach republikanischer Manier schlicht Jupiter und den Penaten.20 Anders als man vielleicht erwarten würde, wird die Kolonie eben nicht als loyales Anhängsel einer Partei konzipiert, sondern als eine in sich auf rechtsstaatlicher Basis bestehende Kommunität strukturiert, deren Ziel offensichtlich das dauerhafte Bestehen eines Kleinstaates ist, der sogar in die Lage versetzt wird, unter gewissen Bedingungen sich einen eigenen Patron zu erwählen (97, 130). Die Basis dieses Staates ist – darin unterscheidet sich die ‚lex Ursonensis‘ nicht von der ‚lex Irnitana‘,21 die der nahegelegenen Stadt Irni galt – die curia, deren Mitglieder nach Ausweis der ‚lex Irnitana‘ auf der Basis ihres Vermögens die städtische Elite repräsentieren.22 Um diese Grundkonstruktion herum, die ja selbst auch dem römischen Staat inhärent ist, wird in der ‚lex Ursonensis‘ ein hoch reflektiertes elaboriertes Konzept von ‚checks and balances‘ konzipiert, das wohl seines Gleichen sucht (aber natürlich hier und da auch finden wird). Dabei geht die für die Kolonien vor-

17 S. zum Stadtrecht von Irni, wenige Kilometer entfernt von Urso, die Übersicht von GALSTERER, Hartmut: Municipium Flavium Irnitanum: A Latin Town in Spain, in: The Journal of Roman Studies 78 (1988), S. 78–90. 18 Vgl. zur Einordnung der Stadtrechte auch in ihrer Historizität: SISANI, Simone: Le Istituzioni municipali: Legislazione e prassi tra il I secolo a.c. e l’Età Flavia, in: L’Italia dei Flavi, hg. v. Luigi Capogrosso Colognesi, Elio Lo Cascio und Elena Tassi Scaudone, Roma 2016, S. 9–55. 19 Lex Coloniae Genetivae, ed. Michael H. Crawford, in: Roman Statutes, hg. v. Michael H. Crawford, 2 Bde., London 1996, Bd. 1, S. 393–454; s. auch die Ausgabe von MOMMSEN [1877] 1904 (vgl. Anm. 16), S. 194–205; S. 240–245. 20 Lex Ursonensis, cap. 81. 21 Text und Übersetzung von Joseph Georg WOLF: Die Lex Irnitana. Ein römisches Stadtrecht aus Spanien, Darmstadt 2011. – S. auch die Edition von: GONZÁLEZ, Julián / CRAWFORD, Michael H.: The Lex Irnitana: A New Copy of the Flavian Municipal Law, in: The Journal of Roman Studies 76 (1986), S. 147–243. 22 Lex Irnitana 30–44, in: WOLF, Lex Irnitana 2011 (wie Anm. 21), S. 60–69.

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gesehene Ordnung von der Ordnung der Römischen Republik zwar aus, folgt ihr aber auch in ein paar wesentlichen Punkten nicht, so dass man den Eindruck gewinnen kann, dass hier bewusst eine auf die Erfahrungen der späten Republik rekurrierende ‚verbesserte‘ Republik im Kleinen geschaffen wird.23

3 Magistrate An der Spitze stehen zwei Duovirn, deren Aufgabe neben der Staatsführung die Rechtsprechung ist.24 Ihnen folgen in der Hierarchie zwei Aedile und, zwar wohl nicht in Urso, aber doch im Munizipium von Irni, schließlich zwei Quaestoren, deren Aufgabe nach Ausweis der Irnitana die städtischen Finanzen sind.25 Anders aber als in der klassischen Konzeption der Römischen Republik werden die Staatsgeschäfte nicht den hohen Amtsträgern und ihren privaten Ressourcen ausgeliefert, sondern ist für einen subalternen Beamtenapparat gesorgt.26 Insbesondere der praeco, den die Duovirn wie die Aedile haben (103), scheint von einem gewissen Interesse zu sein, in der Frage nämlich, was er denn ausgerufen haben könnte. Mit ihm könnte neben aktuellen Bekanntmachungen der Stadt auch die reichsweite Veröffentlichung von Nachrichten verbunden gewesen sein, die dann u. a. von der Münzprägung aufgegriffen worden wären, was erklärte, dass ja gerade die Münzprägung wenig erklärt, sondern vielfach Bekanntes voraussetzt.27 Die besoldeten Beamten – ihre Vergütung ist jeweils genau aufgeführt – sind vom Militärdienst freigestellt, sodass niemand von außen die innere Ordnung der

23 S. bes. RODRÍGUEZ NEILA, Juan Francisco: Los comitia municipales y la experiencia institucional romana, in: Le Quotidien municipal dans l’Occident Romain, hg. v. Clara Berrendonner, Mireille Cébeillac-Gervasoni und Laurent Lamoine, Clermont-Ferrand 2008, S. 301–315, der dies an der Einrichtung der Komitien in römischen Gründungen beobachtet. – Vgl. auch zur Lex Irnitana mit zahlreichen Hinweisen auf weitere Fragmente, so auch auf die Lex Ursonensis, hier zur Dreiteilung in ‚monarchisches‘, ‚aristokratisches‘ und ‚demokratisches‘ Element unter den Begriffen Magistrat, Senat und Comitia, LAMBERTI, Francesca: I Magistrati Locali nei Bronzi Giuridici delle Prvince Iberiche, in: Magistrados Locales de Hispania. Aspectos históricos, jurídicos, longüísticos, hg. v. Estíbaliz Ortiz de Urbina Álava, Vitoria Gasteiz 2013, S. 79–99, S. 81. 24 LAMOINE, Laurent: Le Pouvoir local en Gaule Romaine, Clermont-Ferrand 2009, S. 46 verweist darauf, dass in der Gallia Narbonensis bei Erhebung zur Kolonie das Quattuorvirat durch das Duumvirat ersetzt wurde. – S. ausführlich zu den Duovirn RODRÍGUEZ NEILA, Juan Francisco, in: Magistrados Locales de Hispania. Aspectos históricos, jurídicos, longüísticos, hg. v. Estíbaliz Ortiz de Urbina Álava, Vitoria Gasteiz 2013, S. 189–227. 25 S. zu den Quaestoren MACKIE, Nicola: Local Administration in Roman Spain A.D. 14–212, Oxford 1983, S. 166 f. 26 S. zu diesen apparitores municipales und ihrer korporativen Organisation DAVID, Jean-Michel: Les apparitores municipaux, in: Quotidien municipal 2008, S. 391–403. 27 S. zu den praecones auch STROTHMANN, Münzen und Münzprägung als Quelle für politische Kommunikation im frühmittelalterlichen Gallien, in diesem Band.

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Stadt mutwillig durch einen Einberufungsbescheid stören kann (62). Außerdem gilt für städtische Priester und ihre Kinder der Militärdienst als abgeleistet. Die städtischen Oberbeamten werden gewählt (68),28 und zwar von in der Stadt einzurichtenden Kurien, also augenscheinlich nicht unmittelbar nach Vermögenswahlrecht, wie das mit den Zenturiatskomitien in Rom der Fall ist. Offensichtlich um größere Absprachen zu verhindern, soll nach der Abstimmung innerhalb der Kurien eine derer ausgelost werden, deren gewählte Kandidaten genannt werden (‚lex Ursonensis‘, cap. 47, lex Malacitana, cap. 57), wenn dann einer die Stimmenmehrheit aller Kurien erreicht hat, soll er als gewählt gelten. Niemand darf der ‚lex Ursonensis‘ zufolge vor seiner Wahl Gastmähler geben oder Geschenke machen oder annehmen (cap. 132), die Duovirn dürfen in Bezug auf einen öffentlichen Ort weder für den öffentlichen Ort (de loco publico neve pro loco publico) noch von einem Unternehmer Geschenke (donum, munus oder mercedem) annehmen oder vergeben (cap. 93).29 Darin lässt sich unschwer eine Antwort auf wesentliche Strukturprobleme der späten Republik erkennen, die ja gerade auch an dem Problem leidet, dass private Aufwendungen für die Wahl in ein Amt unabdingbar sind und wohl auch grundsätzlich nicht für in irgendeiner Weise anrüchig gelten. Die lex Troesmensium in der Moesia inferior bestimmt darüber hinaus, dass Wahlbeeinflussungen durch die Abgabe „von mehr als einer Stimmtafel“ strafbar sei, und legt die Strafen dafür fest.30 Neben dem Eid der Magistrate, der aus der ‚lex Ursonensis‘ nur für die scribae überliefert ist und der bei bzw. gegenüber Jupiter und den Penaten (des Staates) (81), in der Irnitana auch bei den vergöttlichten principes und dem genius des aktuellen Princeps geleistet wird,31 sind alle Amtsträger den Dekurionen zu Gehorsam verpflichtet (129). In den Dekurionen erscheint eben dieses aristokratische Element der römischen Verfassungsvorstellung, wie es ja bereits Polybios an der römischen Republik gelobt

28 Lex Irnitana, cap. 30 f. und öfter, dazu die Ergänzung aus der lex Malacitana, cap. 54, WOLF, Lex Irniatana 2011 (wie Anm. 21). 29 Lex Ursonensis, cap. 93 (ed. Crawford, wie Anm. 19, S. 406): „is de loco publico neve pro loco publico neve ab redemptor[e] mancipe praed[e]ve donum munus mercedem aliutve quid kapito neve accipito, neve facito [. . .]“. CRAWFORD, Roman Statutes 1996 (vgl. Anm. 19), S. 426 übersetzt: „[. . .] he is not to resceive or accept a gift or present or fee or anything else in connection with a public place or for a public place, or from a contractor or a manceps or a guarantor [. . .]“. 30 ECK, Werner: Akkulturation durch Recht: Die lex municipalis Troesmensium, in: Culti e religiosità nelle province danubiane, hg. v. Livio Zerbini, Bologna 2015, S. 9–18, S. 16 f. – Vgl. mit Edition des Textes ECK, Werner: Die Lex Troesmensium. Ein Stadtgesetz für ein Municipium Civium Romanorum, in: Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik 200 (2016), S. 565–606. 31 S. den Eid der Duovirn in der Lex Irnitata, cap. 59 (aus der Lex Malacitana), ed. Wolf (wie Anm. 21), S. 86 f. („PER IOVEM ET DIVOM AVG ET DIVOM CLAVDIVM ET DIVOM VESP AVG ET DIVOM T AVG ET GENIUM IMP CAESARIS DOMITIANI AVG deOSQUE PENATES“), sowie als Eid der Duovirn, Aedile und Quaestoren in der Lex Irnitana, cap. 26, ed. Wolf, S. 54 f., der Eid der Schreiber cap. 73, ed. Wolf, S. 104 f., der Dekurionen, cap. 79, ed. Wolf, S. 110–113.

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hatte,32 nämlich als eine Versammlung von Akteuren, die über ein gewisses Vermögen verfügen mussten und von zweifelsfreiem Leumund zu sein hatten (68). Eine Klage auf Unwürdigkeit gegen einen Dekurionen ist grundsätzlich zugelassen und steht sowohl jedem Bürger als auch Kollegen zu, die dann den Platz des gegebenenfalls für schuldig Befundenen einnehmen können (105, 124). Damit wird ein Anreiz geschaffen, nach solchen „Unwürdigkeiten“ zu suchen, um das politische System einer gewissen Transparenz zu unterwerfen. Positiv gesehen ist dies eine Art liberales ‚Pressegesetz‘, das aber natürlich auch zur Intrige auffordert. Inwieweit es damit die Möglichkeit von öffentlichen Kampagnen gegen einen Kandidaten fördert, ist schwer zu beurteilen, weil über die Unwürdigkeit letztlich ein Gericht zu befinden hat. Alle gewählten respektive kooptierten Akteure, die nicht dem Prinzip der Annuität unterliegen, haben Residenzpflicht, wohl um der Gefahr entgegenzuwirken, dass diese Aufgaben zu reinen honores werden (91).33

4 Zuständigkeit und Autonomie der Gemeinde Die Gemeinde verfügt über innere Autonomie.34 In der Hoheit der Gemeinde liegt die Rechtsprechung, die in erster Linie von den Duovirn übernommen wird und nach klaren Regeln auch einem bei ihrer Abwesenheit einzusetzenden Präfekten übertragen werden kann und mit der zumindest nach der Irnitana auch iudices betraut werden können. Außerhalb der geregelten Ordnung für die Rechtsprechung darf solche nicht stattfinden (94). Bemerkenswert ist eine Bestimmung, nach der auch die Rechtsprechung, zu der ein Akteur von jemandem mit imperium oder potestas, wohl der römischen Zentrale, veranlasst würde, nicht möglich ist. Eingriffe von außen sind grundsätzlich nicht vorgesehen (94).

32 Polybios, VI,13 und 16 zum Senat als aristokratischem Element der römischen Verfassung. Vgl. zu den Dekurionen und zum ordo decurionum im Westen grundsätzlich VANDEVOORDE, Lindsey: Augustales und Decuriones. Sixteen Inscriptions from Narbonese Gaul, in: Latomus 71 (2012), S. 404–423. 33 Vgl. TEICHNER, Felix: Romanisierung und keltische Resistenz? Die ‚kleinen‘ Städte im Nordwesten Hispaniens, in: Die Selbstdarstellung der römischen Gesellschaft in den Provinzen im Spiegel der Steindenkmäler, Akten des IX. Internationalen Kolloquiums über Probleme des provinzialrömischen Kunstschaffens, hg. v. Elisabeth Walde und Barbara Kainrath (Ikarus 2), Innsbruck 2007, S. 335–349, S. 147 mit dem Hinweis darauf, dass so auch einer De-Urbanisierung entgegengewirkt worden sei. 34 Vgl. MACKIE, Local Administration 1983 (wie Anm. 25), S. 99–117.

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Die colonia verfügt über öffentliches Eigentum, wozu Straßen und die Versorgung mit Wasser,35 die Kloaken (77–79) und auch Grund und Boden gehören, dessen eventueller Verkauf für ungültig erklärt wird und automatisch in einen fünfjährigen Pachtvertrag umgewandelt würde (82). Hier scheint man sichtbar aus den immer wiederkehrenden Problemen mit der Verteilung des römischen ager publicus gelernt zu haben.36 Eigentum der Kolonie ist nicht veräußerlich (82). Die Zuständigkeit der Kolonie betrifft unter anderem Bauten, Begräbnisse, Ziegelfabriken und deren Lage (73–76), Straßen, Frischwasser und Abwasser (77–79), bei privatem Eigentum die Sicherstellung des öffentlichen Zugangs, den Mauerbau, wenn bestimmte Regeln zur Belastung der Bewohner mit munera eingehalten werden (98), den Bau von Aquaedukten (99) und übrigens auch auf Beschluss der Dekurionen die Verteidigung der Stadt (103). Auch ist es Aufgabe der städtischen Institutionen, über die Kulte der Gemeinde zu befinden (64). Damit hat die Colonia ebenfalls eine für eine sich selbst verwaltende Stadt im Römischen Reich grundsätzlich auch konstitutive Funktion. Die Hoheit über große Teile des Kalenders hat die in Spanien gegründete Pflanzstadt ebenso wie die Gemeinden Italiens, aus denen wir frühkaiserzeitliche Kalender kennen, in denen sowohl die Teilnahme an Kulten des römischen Kalenders als auch solche der Gemeinde selbst aufgenommen sind.37 Die Duovirn haben in der Ursonensis das Vorschlagsrecht, die Entscheidung aber liegt bei den Dekurionen, wenn von ihnen mindestens zwei Drittel anwesend sind. Sie entscheiden letztlich, welche Kulte öffentliche Kulte sein sollen, welche Opfer darzubringen sind und wer das zu übernehmen hat (64). Die Kulthoheit darf wohl als ein wesentliches Merkmal von innerer Autonomie gelten.

5 Öffentliche Mittel und Gemeindeeigentum Die Verausgabung von öffentlichen Mitteln ist neben der Einforderung von munera der Bürger und der weiteren Bewohner durchaus vorgesehen, ein Dekurio kann etwa von den Duovirn verlangen, die Dekurionen über die Verausgabung der Mittel zu befragen (96). Untersagt ist die Verfügung über öffentliche Mittel ausdrücklich als Folge eines Versprechens eines Amtsträgers oder auch für die Stiftung oder Errichtung einer Statue (134). Die Duovirn und Aedile, in deren Zuständigkeit die Veranstaltung

35 Zum Wasser als kommunalem Eigentum s. BIUNDO, Raffaella: Aqua publica: Propriété et gestion de l’Eau dans l’Economie des Cités de l’Empire, in: Quotidien municipal 2008, S. 365–377, zur Bestimmung in Urso ebenda S. 368. 36 Zum Problem des 2. Jahrhunderts v. Chr. s. FLACH, Dieter: Römische Agrargeschichte (Handbuch der Altertumswissenschaft III, 9), München 1990, S. 34 ff. 37 RÜPKE, Jörg: Kalender und Öffentlichkeit. Die Geschichte der Repräsentation und religiösen Qualifikation von Zeit in Rom, Berlin/New York 1995, S. 121 f.

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von Spielen liegt, müssen dies auf der Basis eigener privater Mittel unternehmen und können beim Einsatz von nicht weniger als 2000 Sesterzen nicht mehr als 2000 bzw. 1000 Sesterzen aus dem öffentlichen Haushalt erhalten (70, 71). Damit sind diese Ämter zwar immer noch mit hohem privatem Einsatz verbunden, können nun aber nicht mehr so leicht als Basis für die Erlangung besonderer sozialer Stellung reklamiert werden. Zugleich ist die Bekleidung dieser Ämter damit vermutlich einer (etwas) breiteren sozialen Gruppe zugänglich. In solchen Bestimmungen liegt vor allem das oben genannte aristokratische Element, das ja in der Wahl der Amtsträger nicht maßgeblich ist. Es soll eben offensichtlich nicht die Gemeinde ganz den Eliten überlassen werden und dabei ein hohes Maß an politischer Integralität erreicht werden, ohne die Stadt Leuten auszuliefern, die nicht selbst über (auch immobiles) Vermögen an das Wohl der Stadt gebunden sind.

6 Regelsanktion Ein wesentlicher Sicherungsmechanismus liegt in der Bestimmung über öffentliche Strafgelder. Zwar sehen die meisten Bestimmungen der lex als Anreiz für die denuntiatio die Möglichkeit vor, dass der Ankläger im Falle einer Verurteilung des Beklagten die zum Teil erhebliche Buße einstreichen kann (73–76, 93). Dennoch scheinen Strafgelder auch in die öffentliche Kasse geflossen zu sein. Um jeden Anreiz für die Gemeinde, sich über Strafen und damit eine erhöhte Sanktionsdichte selbst zu bereichern – auch die Gemeinde ist ein Akteur – ist vorgesehen, dass solche Strafgelder ausschließlich den Kulten zu Gute kommen müssen (65). Neben dem Anreiz zur Klage wegen Nichteinhaltung der Bestimmungen der lex gibt es für die Abhaltung eines Gerichtsverfahrens zu akzeptierende Entschuldigungsgründe für Angeklagte, sowohl in öffentlichen Angelegenheiten wie auch in privaten, die zur Vertagung des Verfahrens führen müssen. Dazu gehören Familienbegräbnisse, Einweihungsfeierlichkeiten oder Angelegenheiten „propter magistratum potestatemque populi Romani“ (95). So wird verhindert, dass Amtsträger, die aus privaten oder dienstlichen Gründen an einem Verfahren gegen sie selbst nicht teilnehmen können, eventuell automatisch ihr Amt (und mehr) verlieren würden, denn genau das könnte ja durch eine Allianz aus Anklägern und Richtern möglich werden, dass nämlich Gerichtstermine absichtlich auf Tage gelegt werden, an denen der Angeklagte gar nicht anwesend sein kann.

7 Vernetzung der Gemeinde im Reich Bisher ging es um Bestimmungen der lex, die wesentlich auf die städtische Autonomie zielten, auf die Zuständigkeiten und auf die Sanktion von Regelwidrigkeiten,

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also um Regeln, die auch für mögliche Krisen die Funktionsfähigkeit eines im Inneren nahezu autonomen Gebildes aus der eigenen sozialen und politischen Struktur heraus zu gewährleisten erlauben. In der Kaiserzeit kommt dann seit Trajan zunächst in Einzelfällen doch ein curator hinzu, der als Vertreter des Kaisers vor allem zur Ordnung der städtischen Finanzen eingesetzt wird, um die Einhaltung der Regeln aus der kaiserlichen Perspektive heraus zu überwachen.38 Die Curatur ist jedoch erst später zu einem regulären Amt geworden, das aber wohl nicht Teil der städtischen Selbstverwaltung geworden ist.39 Seit dem 4. Jahrhundert erscheint mit dem defensor ein neuer städtischer Beamter, der zunächst die Aufgabe hat, die Plebs vor Übergriffen der regierenden Aristokraten zu schützen und der daher auch – wie zuvor die Curatoren – nicht den städtischen politischen Eliten entstammen sollte, sondern eher der Hierarchie der Provinzverwaltung zuzuordnen ist.40 Das Defensorenamt geriet in der Folge zunehmend in die politische Sphäre der Städte selbst, indem die Defensoren bald aus der Reihe besonderes verdienter Dekurionen stammen sollten und die Defensur zu einem städtischen Wahlamt wurde, das sich in der Rangordnung vor die Duovirn schob und dem zugleich deren zentrale Kompetenzen übertragen wurden.41 Seit dem 5. Jahrhundert erscheinen dann curator, defensor und pater als gewählte und von oben bestätigte städtische principales.42 Die Stadt in der Kaiserzeit ist nicht nur als einzelne politische Größe, als civitas, als Stadtstaat nämlich im Römischen Reich, eine wesentliche Basis eines immer noch sehr schlanken Verwaltungssystems. Sich selbst verwaltende Städte bedeuten auch eine Voraussetzung dafür, dass das Militär vor allem die Außengrenzen schützen muss, und

38 CURCHIN, Leonard A.: The End of Local Magistrates in the Roman Empire, in: Gerión 32 (2014), S. 271–287, S. 281; LANGHAMMER, Walter: Die rechtliche und soziale Stellung der Magistratus municipales und der Decuriones. In der Übergangsphase der Städte von sich selbst verwaltenden Gemeinden zu Vollzugsorganen des spätantiken Zwangsstaates (2.–4. Jahrhundert der römischen Kaiserzeit), Wiesbaden 1973, S. 165 ff. – Vgl. JACQUES/SCHEID 1998 (wie Anm. 12), S. 290–292, die im Curator vor allem eine kaiserliche Fürsorgemaßnahme sehen, die in aller Regel auch nicht von Dauer gewesen sei. S. auch LAMOINE, Pouvoir local 2009 (wie Anm. 24), S. 51 f. – CAMODECA, Giuseppe: I curatores rei publicae in Italia: Note di aggiornamento, in: Quotidien municipal 2008, S. 507–521 datiert diese Funktion in die Zeit von Marcus Aurelius (frühester datierbarer Beleg) bis etwa 300. – LANGHAMMER, Stellung 1973 (wie Anm. 38), S. 165 ff. 39 JONES, Arnold Hugh Martin: The Later Roman Empire 284–602. A social, economic and administrative survey, 2 Bde., Oxford 1964, Bd. 1, S. 726. – Anders CURCHIN, End of Local Magistrates 2014 (wie Anm. 38), S. 281, der den Curator auch Aedile und Quaestoren in ihren Funktionen ersetzen sieht. 40 JONES I 1964 (wie Anm. 39), S. 727. 41 CURCHIN, End of Local Magistrates 2014 (wie Anm. 38), S. 282, der mit einem Gesetz Valentinians von 364 (CTh I,29.1) erst den Defensor zu einem regulären Amt werden sieht, dessen Aufgabe zuvor vor allen in der gerichtlichen Vertretung der Gemeinde bestanden habe. – CURCHIN, Leonard A.: The Role of Civic Leaders in Late Antique Hispania, in: Studia Historica / Historia Antigua 32 (2014), S. 281–304, S. 284 verweist auf eine Bestimmung des Theodosius von 387, nach der die Defensoren in den Städten zu wählen seien. 42 CURCHIN, End of Local Magistrates 2014 (wie Anm. 38), S. 284.

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stellen in der Steuererhebungspraxis auch die wirtschaftliche Basis für die militärischen Möglichkeiten sowie für die kaiserliche Fähigkeit, großzüge Geschenke zu machen, und sind auch aktiver Teil eines – wie Fabrizio Fabbrini das für den augusteischen Prinzipat einmal genannt hat – „ordinamento sovrannazionale“,43 das hier also vor allem als Kommunikationsraum begriffen wird, der die Voraussetzung für eine politische Ordnung ist, die in vielfacher Hinsicht auf sozialen Strukturen beruht, die selbst wiederum immer tatsächliche oder mögliche Kommunikation voraussetzen. Die ‚lex Ursonensis‘ gibt – wie übrigens auch die Irnitana – die Möglichkeit der freien Patronatswahl. Wie weit diese Wahl letztlich dann doch gewissen Zwängen unterliegen mag, sei dahingestellt. Zwar dürfen die Duovirn keinen Patron vorschlagen, wohl aber darf auf Betreiben der Dekurionen jemand zum Patronat gelangen, wenn – so cap. 97 – drei Viertel anwesend sind, bzw. nach cap. 130, wenn drei Viertel dafür stimmen, und zwar unter Gebrauch von Stimmtäfelchen in geheimer Wahl. Mögliche Kandidaten können Senatoren oder ihre Söhne sein, wenn sie sich in Italien aufhalten und ohne Amtsgewalt sind,44 also die Kolonie nicht möglicherweise ihrer Autonomie berauben können und dies eventuell durch politischen Druck erreicht haben würden. Bei Zuwiderhandlung droht eine Buße von 100.000 Sesterzen. Auch finden sich wieder einige Sicherungsmechanismen. An dieser Stelle von Bedeutung ist aber die Funktion des Patrons, der als römischer Senator die Interessen der Kolonie in der römischen Zentrale institutionell und informell geltend machen kann und können soll.45 Die Kolonie ist so reichsweit vernetzt, zunächst mit einem Fürsprecher vertikal mit der römischen Zentrale, über die Konstruktion als solche aber natürlich auch über die verschiedenen Patrone der verschiedenen Kolonien horizontal auf der Ebene des Senates bzw. der Senatselite.46 Außerdem geht die lex davon aus, dass die Kolonie Gesandtschaften aussendet, wobei nicht ganz klar ist, ob diese nur an

43 FABBRINI, Fabrizio: L’Impero di Augusto come Ordinamento Sovrannazionale, Milano 1974. 44 S. zum möglichen Kontext dieser Bestimmung, nämlich konkreten Erfahrungen mit Imperiumsbeamten als Patronen FABRICIUS, Ernst: Zum Stadtrecht von Urso, in: Hermes 35 (1900), S. 205–215, S. 213. 45 Vgl. LANGHAMMER, Stellung 1973 (wie Anm. 38), S. 105. – CHRISTOL, Michel: Les Cités et les ‚Autorités‘ publiques: Curatelle et Patronat. Les cas des sénateurs en Italie, in: Quotidien municipal (2008), S. 523–544, S. 532 versteht Patron und Defensor beide als Mittler zur römischen Zentrale, ‚les autorités‘ und weist darauf hin, dass sie insofern komplementär seien, dass nämlich die Initiative im Falle des Patrons von der Stadt ausgeht, umgekehrt die Initiative im Falle des Curators von der Zentrale. – MELCHOR GIL, Enrique: La peresenza de los patronos en el paisaje epigráfico de las ciudades hispano-romanas, in: Monumenta et Memoria. Estudios de Epigrafía Romana, hg. v. José Manuel Iglesias Gil und Alicia Ruiz-Gutiérrez, Roma 2017, S. 243–261, S. 255 zur Funktion der Patrone und ihrer gesellschaftlichen Stellung. 46 S. allgemein zur Rolle der Honoratioren als Bindeglieder zwischen Stadt und Zentrale WOLFF, Hartmut: ‚Administrative Einheiten 1999 (Anm. 10), S. 54 f. und explizit zur Funktion der Patrone für diese Verbindung ebenda S. 58.

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die Zentrale oder ihre Vertretung auf Provinzebene gerichtet sind. Auch bei ihrer Bestellung wird in der lex wieder penibel darauf geachtet, nach welchen Regeln dies abzulaufen hat und dass es mittelbar Wille der Gesamtheit ist, indem eine Gesandtschaft nämlich von den Dekurionen zu beschließen ist (cap. 92).47 Die reichsweite Vernetzung findet aber vor allem auf der Ebene der Kulte ihren sichtbaren Ausdruck, nämlich indem neben der allgemeinen Kalenderhoheit der Kolonie der Kult für Jupiter, Juno und Minerva gesetzt ist (70–71), womit alle römischen Städte im Reich zeitlich synchronisiert sind und auch in der Sakraltopographie zumindest im Kern Identitäten miteinander und mit der Zentrale aufweisen. Die pontifices und augures der Colonia Genetiva Ursonensis sind übrigens in jeder Kolonie pontifices und augures (67). Das kann natürlich nicht für die politischen Magistrate gelten, zeigt aber in aller Deutlichkeit, dass diese Kolonie wie also vermutlich alle römischen Kolonien, mutmaßlich auch die Munizipien, bei aller inneren Autonomie als integrale Bestandteile des Reiches zu gelten haben und keinesfalls als isolierte nur auf die Zentrale ausgerichtete Befehlsempfänger und Steuerzahler anzusehen sind.

8 Resilienz antiker städtischer Strukturen in Gallien Gegründet wurden römische Kolonien und Munizipien offensichtlich mit der Absicht, Strukturen zu schaffen, auf deren Basis die Verwaltung des Reiches ohne großen weiteren Aufwand möglich werden konnte und die als weitgehend autonome politische Organismen die nötige Kontinuität aufwiesen, um auch in Zeiten politischer Krisen des Reiches und seiner Zentrale das Reich als einen politischen Zusammenhang erhalten zu können. Dies ist nicht nur aktuell im Römischen Reich sehr erfolgreich gewesen, sondern führte letztlich auch zum Fortbestand dieser politischen Organismen als solche über das Ende der Reichsstrukturen hinaus in ihrer fortgesetzten Funktionsfähigkeit als politische Basiseinheiten und als Orte der öffentlichen Verwaltung und lokalen Rechtsprechung, wie Belege aus dem 6. Jahrhundert nahelegen.48

47 Werner ECK, Akkulturation 2015 (wie Anm. 30), S. 13 verweist auf eine weitere Sicherungsbestimmung in der lex Troesmensium, nach der die Gesandten auch in besonderer Weise über ihre Wahl zu benachrichtigen sind. – S. dazu den Text bei ECK, Lex Troesmensium 2016 (wie Anm. 30), S. 579–581, inhaltlich zu den Gesandtschaften ebenda S. 586–588, wobei bei zahlreichen identischen Passagen der Text der Lex Troesmensium erheblich ausführlicher ist. 48 Vgl. neben der folgenden Skizze die Beobachtungen zu Gesetzen der Westgoten, in denen auch am Ende des 6. Jahrhunderts eben noch vom Defensor als städtischem Amtsträger die Rede ist, CURCHIN, Civic Leaders 2014 (wie Anm. 41), S. 288 f. – Vgl. zur Kontinuität dieser Gebilde WITSCHEL, Christian: Die spätantiken Städte Galliens: Transformationen von Stadtbildern als Ausdruck einer gewandelten Identität?, in: Gallien in Spätantike und Frühmittelalter. Kulturgeschichte einer Region, hg. v. Steffen Diefenbach und Gernot Michael Müller (Millennium-Studien 43), Boston/Berlin 2013, S. 153–200, S. 157.

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Jürgen Strothmann

Die Formulae Andecavenses, die auf reale Dokumente des 6. Jahrhunderts zurückgehen, also in eine Zeit gehören, da die Autoritäten längst die fränkischen Könige und ihre Eliten sind, berichten von städtischen Amtsträgern und einer curia publica, die etwa dem König einen Eid zu leisten hat (1a).49 Im städtischen Zusammenhang in Angers im 6. Jahrhundert begegnen uns dann vor allem die neueren Ämter, zuerst der curator. Neben ihm, aber auch im städtischen Zusammenhang wird auch der defensor genannt, der aber erst im Jahr 364 den Städten verordnet wurde und dann neben dem curator bestehen blieb.50 Neben defensor und curator wird ein königlicher prosecutor sichtbar, etwa in der in foro an die Gemeinde gestellten Frage: „Rogo te, vir laudabilis illi defensor, illi curator, illi magister militum, vel reliquam curia publica, utique coticis puplici patere iobeatis.“ In diesem Text, der allerdings vom Anfang des 6. Jahrhunderts stammt, wird zum Schluss die curia angewiesen, „[…] sua scripta quem prosequio (prosecutor) gestis municipalibus, ut abuit karetas vestra, alegassetis“. Und in einem anderen, wohl späteren Formular, ist zum Schluss zu lesen (52): „Iuratum mandatum, tamquam gestibus oblecatus.“ Hier greifen wir durchaus handlungsfähige Reste städtischer Selbstverwaltung. Wir wissen nicht, ob überhaupt noch reguläre Wahlen stattfanden (sie sind noch in der Kaiserzeit wohl aus der Übung gekommen),51 auch wissen wir nicht, welche Kompetenzen die städtische Verwaltung im 6. Jahrhunderts im Einzelnen hatte.52 Wir müssen aber dieser Quelle nach noch für das erste fränkische Jahrhundert mit Städten rechnen, die rechtlich und politisch als Größen im Herrschaftsgefüge ihren Platz haben,53 auch wenn – wie ja bereits in der Spätantike nicht unüblich, ihre Vertretung nach außen vom Bischof wahrgenommen werden konnte. Das bildet sich auch im civitas-Begriff der formulae Andecavenses ab, wenn an mehreren Stellen die Rede von der civitas Andecavis die Rede ist.

49 Formulae Andecavenses, ed. Karl Zeumer, MGH Formulae, S. 1–31, S. 4. Die Kurialen verlieren zwar im Laufe der späten Kaiserzeit an Bedeutung, sie sinken zu einer ‚gehobenen Mittelschicht‘ ab, verloren aber dennoch nicht unbedingt ihren Elitencharakter, nur dass sie nun eher weiter nach oben, in den Reichsdienst strebten, WITSCHEL, Krise 1999 (wie Anm. 8), S. 140 f. Das zeitweilige regelrechte Verschwinden einer attraktiven Zentrale nach dem Ende des westlichen Kaisertums muss sie zwangsläufig auf die Stadt als Anerkennungsraum zurückgeworfen haben. 50 LANGHAMMER, Stellung 1973 (wie Anm. 38), S. 174. 51 LANGHAMMER, Stellung 1973 (wie Anm. 38), S. 281. 52 Vgl. die Einschätzungen von CECCONI, Giovanni A.: Crisi e trasformazioni del governo municipale in Occidente fra IV e VI secolo, in: Stadt in der Spätantike 2006 (wie Anm. 9), S. 285–318, S. 399 ff. zu einer Art postrepublikanischer Phase in den Städten des Westens, in der die klassischen institutionellen Strukturen von einem „interscambio elastico di funzioni farmalizzate“ abgelöst wurden, was sich eben auch in den Befunden zu Gallien im 6. und 7. Jahrhundert zeigt. 53 Zu einer ähnlichen Einschätzung kommt für Spanien auch KULIKOWSKI, Michael: The Late Roman City in Spain, in: Die Stadt in der Spätantike 2006 (wie Anm. 9), S. 129–149, S. 143. – Übrigens deckt sich dies mit den Einschätzungen von TIETZ, Werner: Die lykischen Städte in der Spätantike, in: Die Stadt in der Spätantike 2006 (wie Anm. 9), S. 257–281, S. 267 zu lykischen Städten.

Das ‚unsichtbare Römische Reich‘ als Verbund der Kleinstaaten

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Es gibt keinen Grund, wie selbstverständlich von einem völligen Verschwinden städtischer Selbstverwaltung im Reich der Merowinger auszugehen, solange nicht auch die Bedingungen für die Existenz sich selbst verwaltender Städte verloren gingen. Dabei ist zwar von den kunstvollen Einrichtungen der römischen Kaiserzeit zur Erhaltung lokaler Autonomie und politischer Integrität nicht mehr viel zu sehen; rudimentär aber bestehen stark gewandelte Formen des Politischen immer noch.54 Und das liegt mutmaßlich an der aristokratischen Grundstruktur dieser politischen Organismen, die zugleich soziale Räume darstellen.

54 S. auch LIEBESCHUETZ, City [2001] 2007 (wie Anm. 7), S. 130–134, der unter der Perspektive ordentlicher politischer Institutionen aber eher von Niedergang spricht.

Daniel Syrbe

Civitates und das sichtbare / unsichtbare Römische Reich im spätantiken Nordafrika Im Vergleich zu jenen Regionen im Nordwesten des spätantiken Imperium Romanum, die in den meisten Beiträgen der Siegener Tagung im Mittelpunkt standen, mag Nordafrika auf den ersten Blick recht abseits gelegen erscheinen. Vor dem Hintergrund der die Tagung durchziehenden Leitfrage nach den Bestandteilen eines ‚unsichtbaren römischen Reiches‘, die den Zerfall des Imperiums im Westen überdauerten und auf die politischen Strukturen der entstehenden frühmittelalterlichen regna einwirkten, lohnt aber ein Blick gerade in diese Region aus zwei Gründen: Erstens gehörten die spätantiken Provinzen Africa Proconsularis, Numidia und Mauretania Sitifensis zu den vergleichsweise dicht urbanisierten und ökonomisch wichtigen Kernregionen des spätantiken römischen Reiches. Kontinuität und Transformation der spätrömischen Welt sind hier in verschiedenen Facetten – politisch, wirtschaftlich oder kulturell – als langfristiger Prozess gut fassbar.1 Die Besiedlungs- und Sozialstrukturen der nordafrikanischen Provinzen hatten ihre Wurzeln dabei in vorrömischen Kontexten, wurden aber durch die politische Herrschaft und den kulturellen Einfluss Roms überprägt. Strukturell gesehen stellt Nordafrika damit grundsätzlich ein interessantes Fallbeispiel politischer und kultureller Transformation dar, das an verschiedenen Punkten (und nicht nur für die Spätantike) die Frage aufwirft, ob und wie Bausteine älterer Ordnungen in neu entstehende Strukturen übernommen und integriert wurden. Zweitens ist

1 Überblick zum römischen Nordafrika LE BOHEC, Yann: Histoire de l’Afrique Romaine (146 avant J.-C. – 439 après J.-C.), (Antiquité/Synthèses 9), Paris 2005. Zur langfristigen kulturellen Entwicklung der nordafrikanischen Provinzen in der römischen Antike s. BRÜGGEMANN, Thomas: Römer, Nomaden, Christen – Staat und Gesellschaft im spätantiken Nordafrika. Untersuchungen zur sozialen und politischen Entwicklung der nordafrikanischen Provinzen des Römischen Reiches im Kontext ihrer Christianisierung von der Tetrarchie bis zur Niederlage gegen die Vandalen. Dissertation Friedrich Schiller Universität Jena, Jena 2003; WITSCHEL, Christian: Krise – Rezession – Stagnation? Der Westen des römischen Reiches im 3. Jahrhundert n. Chr., (Frankfurter Althistorische Beiträge 4), Frankfurt 1999, S. 285–306 richtet den Fokus auf das 3. Jh., bindet diese Phase aber in die langfristigen Entwicklungen des 2. bis 5. Jhs. ein. Zur wirtschaftlichen Entwicklung besonders der Africa Proconsularis infolge der Integration in das Imperium Romanum HOFFMANN-SALZ, Julia: Die wirtschaftlichen Auswirkungen der römischen Eroberung. Vergleichende Untersuchungen der Provinzen Hispania Tarraconensis, Africa Proconsularis und Syria, (Historia Einzelschriften 218), Stuttgart 2011, S. 154–293 und WITSCHEL, Christian: Neue Forschungen zur römischen Landwirtschaft, in: Klio 83/1 (2001), S. 113–133, hier S. 119–124. Vgl. auch die Überlegungen von DOSSEY, Leslie: Peasant and Empire in Christian North Africa, (The Transformation of the Classical Heritage 47), Berkeley/Los Angeles/London 2010, bes. S. 31–97 zur wirtschaftlichen Integration des ländlichen Nordafrika und SYRBE, Daniel: Nomaden und Sesshafte im spätantiken Nordafrika (3. – 6. Jh.). Kulturgeschichtliche Kontinuitätslinien im Spannungsfeld der Herrschaft von Rom bis Byzanz, (Millennium-Studien 74), Berlin/Boston, erscheint 2021. https://doi.org/10.1515/9783110623598-004

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Nordafrika für Fragen nach der Kontinuität und Transformation römischer Strukturen auch aus einer chronologischen Perspektive interessant, weil sich der Übergang von der römischen Spätantike zum Frühmittelalter hier – anders als im Nordwesten des Römischen Reiches – in einem komplexen, mehrphasigen und regional nicht gleichzeitig verlaufenden Prozess vollzog.2 Während des 3. und 4. Jahrhunderts durchliefen Roms nordafrikanische Provinzen aufgrund ihrer geographischen Lage abseits der politischen Brennpunkte der Zeit zunächst nämlich eine sozial und wirtschaftlich gesehen weitgehend stabile und kontinuierliche Entwicklung.3 Eine Zäsur bedeutete erst die Migration der Vandalen von der iberischen Halbinsel nach Nordafrika.4 Die Errichtung des vandalischen regnum5 – das den gentilen regna im Nordwesten grundsätzlich vergleichbar ist – löste vor

2 Dass generalisierte, auf Jahreszahlen fixierte Epochenübergänge lediglich Periodisierungsversuche der Forschung der Moderne darstellen, historische Prozesse aber in der Regel nur begrenzt widerspiegeln, darf mittlerweile als Allgemeinplatz gelten; wie sich solche Übergänge strukturell beschreiben lassen zeigt MEIER, Mischa: Ostrom – Byzanz, Spätantike – Mittelalter. Überlegungen zum „Ende“ der Antike im Osten des Römischen Reiches, in: Millennium 9 (2012), S. 187–254. 3 LE BOHEC, Histoire 2005 (wie Anm. 1), S. 207–247; BRÜGGEMANN, Römer, Nomaden, Christen 2003 (wie Anm. 1), bes. S. 27–147 und S. 278–323 und WITSCHEL, Krise 1999 (wie Anm. 1), S. 190–204 zur römischen Grenzpolitik in Nordafrika und S. 285–306 zu Wirtschaft und Gesellschaft. Die Stabilität der Wirtschaft und lässt sich v. a. in den in Nordafrika durchgeführten Survey-Projekten ablesen, die weitgehend kontinuierliche Raumnutzungen bis mindestens in vandalische, oft auch bis in byzantinische Zeit zeigen, s. dazu den Überblick von LEONE, Anna / MATTINGLY, David: Vandal, Byzantine and Arab Rural Landscapes in North Africa, in: Landscapes of Change. Rural Evolutions in Late Antiquity and the Early Middle Ages, hg. v. Neil Christie, Aldershot 2004, S. 135–162; eine Ausnahme stellt Tripolitanien mit dem Hinterland der Kleinen Syrte dar, wo die Besiedlung zwischen dem 3./4. und dem 5. Jh. stark zurückgeht und zudem nachhaltigen strukturellen Veränderungen unterlag. Zu den Transformationsprozessen im Imperium Romanum während des 3. Jhs. s. auch KÖRNER, Christian: Transformationsprozesse im Römischen Reich des 3. Jahrhunderts n.Chr. in: Millennium 8 (2011), S. 87–124 sowie im Einzelnen die Beiträge in: Die Zeit der Soldatenkaiser. Krise und Transformation des Römischen Reiches im 3. Jahrhundert n. Chr. (235–284), hg. v. Klaus-Peter Johne, 2 Bde, Berlin 2008. 4 Zu den Migrationen der Vandalen, die mit der Ansiedlung in Nordafrika gewissermaßen ihren Abschluss fanden, sei hier lediglich in Auswahl auf die neueren Forschungsbeiträge von MERRILLS, Andy / MILES, Richard: The Vandals, (The Peoples of Europe), Chichester 2010, bes. S. 1–55; BERNDT, Guido M.: Konflikt und Anpassung. Studien zu Migration und Ethnogenese der Vandalen, (Historische Studien 489), Husum 2007, bes. S. 52–141; BERNDT, Guido M.: Gallia – Hispania – Africa. Zu den Migrationen der Vandalen auf ihrem Weg nach Nordafrika, in: Das Reich der Vandalen und seine (Vor-)Geschichten, (Österreichische Akademie der Wissenschaften, philosophisch-historische Klasse, Denkschriften 366; Forschungen zur Geschichte des Mittelalters 13), hg. v. Guido M. Berndt und Roland Steinacher, Wien 2008, S. 131–147; BERNDT, Guido M.: Hidden Tracks: On the Vandal’s Paths to an African Kingdom, in: Neglected Barbarians, (Studies in the Early Middle Ages 32), hg. v. Florin Curta, Turnhout 2010, S. 537–569; CASTRITIUS, Helmut, Die Vandalen. Etappen einer Spurensuche, Stuttgart 2007, bes. S. 15–95 verwiesen; s. auch Anm. 17 mit weiterer Literatur zur Vandalenforschung. 5 Zum nordafrikanischen regnum der Vandalen sei ebenfalls aus der neueren Forschung stellvertretend verwiesen auf MERRILLS/MILES, Vandals 2010 (wie Anm. 4), bes. S. 56–108 und zu den politischen

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allem die wirtschaftlichen Kernräume Nordafrikas aus der politischen Herrschaft Roms, ohne jedoch die kulturelle Anbindung der Region an die Mittelmeerwelt zu kappen.6 Ein zweiter Einschnitt resultierte aus den beiden militärischen Niederlagen, die die Vandalen im Herbst 533 und im Frühjahr 534 gegen ein vom byzantinischen Kaiser Justinian entsandtes Expeditionsheer erlitten und die zum Zusammenbruch ihres regnum führten.7 In der Folge wurde Nordafrika in das oströmisch-byzantinische Reich eingegliedert, das im Selbstverständnis der konstantinopolitanischen Eliten zwar in unmittelbarer Kontinuität zum römischen Reich stand, dessen politische und kulturelle Mentalitäten aber während des 5. Jahrhunderts nachhaltige Transformationsprozesse durchlaufen hatten und das daher, nebenbei bemerkt, selbst ein aufschlussreiches – wenn auch sehr spezifisches und in vielen Punkten von den gentilen regna des Westens abweichendes – Beispiel für die Frage nach der langfristigen Wirkung römischer Strukturen darstellt.8 Die teils massiven Verwerfungen, die die Einbindung Nordafrikas in den byzantinischen Herrschaftsraum auslöste,9 lassen sich beispielsweise an den Positionen ablesen, die nordafrikanische

Beziehungen des vandalischen regnum im Mittelmeerraum S. 109–140; BERNDT, Konflikt und Anpassung 2007 (wie Anm. 4), S. 128–224; CASTRITIUS, Vandalen 2007 (wie Anm. 4), S. 96–158. 6 Dazu jetzt v. a. CONANT, Jonathan: Staying Roman. Conquest and Identity in Africa and the Mediterranean, 439–700, (Cambridge Studies in Medieval Life and Thought, Fourth Series), Cambridge 2012, S. 19–195. 7 Den Krieg Konstantinopels gegen die Vandalen schildert ausführlich Prok., BV I [III] 10 – II [IV] 9 (Prokop, Werke, Band 4: Vandalenkriege. Griechisch-deutsch herausgegeben von Otto Veh, München 1971); vgl. auch MERRILLS/MILES, Vandals 2010 (wie Anm. 4), S. 228–233; EVANS, James A. S.: The Age of Justinian. The Circumstances of Imperial Power, London/New York 1996, S. 126–136; CASTRITIUS, Vandalen 2007 (wie Anm. 4), S. 159–162. Zur Frage, ob die Eroberung Nordafrikas der erste Schritt in einem von Kaiser Justinian von Beginn seiner Herrschaft an verfolgten Plan zur Wiedergewinnung des ehemaligen Westens des Römischen Reiches sei, s. MEIER, Mischa: Das andere Zeitalter Justinians. Kontingenzerfahrung und Kontingenzbewältigung im 6. Jahrhundert n. Chr., (Hypomnemata 147), Göttingen 2. unveränderte Auflage 2004 (1. Auflage 2003), S. 165–180, der dies im Gegensatz zur bisherigen communis opinio der Forschung mit guten Argumenten verneint und zeigt, dass solche restaurativen Gedanken in den Quellen erst seit 535 zu erkennen seien. 8 Zur Transformation des oströmischen Reichs im 6. Jh. MEIER, Zeitalter 2004 (wie Anm. 7) und auch MEIER, Mischa: Anastasios I. Die Entstehung des Byzantinischen Reiches, Stuttgart 2009. Vgl. dazu auch HEINRICH-TAMÁSKA, Orsolya / SYRBE, Daniel, „GrenzÜbergänge“ zwischen 300 und 800 n. Chr. Einführende Betrachtungen zu den globalen und lokalen Verflechtungen des Mitteldonauraumes, in: „GrenzÜbergänge“. Spätrömisch, frühchristlich, frühbyzantinisch als Kategorien der historisch-archäologischen Forschung an der mittleren Donau, (Forschungen zu Spätantike und Mittelalter 4), hg. v. Ivan Bugarski, Orsolya Heinrich-Tamáska, Vujadin Ivanišević und Daniel Syrbe, Remshalden 2016, S. 11–39. 9 Zu Auswirkungen der Eingliederung Nordafrikas in den oströmisch-byzantinischen Herrschaftsraum CONANT, Staying Roman 2012 (wie Anm. 6), S. 196–251 und MERRILLS/MILES, Vandals 2010 (wie Anm. 4), bes. S. 234–255; zur Problematik der komplexen Identitäten und Interessen im byzantinischen Nordafrika KAEGI, Walter E.: Seventh-Century Identities: The Case of North Africa, in: Visions of Community in the Post-Roman World. The West, Byzantium and the Islamic World, 300–1100, hg. v. Walter Pohl, Clemens Ganter und Richard Payne, Wien 2012, S. 165–179.

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Kleriker in den theologischen Kontroversen des 6. Jahrhunderts einnahmen.10 Jenseits solcher kultureller Differenzen lag Jonathan Conant zufolge ein grundsätzliches strukturelles Problem der byzantinischen Herrschaft in Nordafrika darin, dass die politische Macht der kaiserlichen Zentrale in Konstantinopel die ‚wiedergewonnenen‘ nordafrikanischen Provinzen nur begrenzt durchdrungen zu haben scheint.11 Einen dritten politischen Umbruch leiteten die in den 40er Jahren des 7. Jahrhunderts einsetzenden Vorstöße muslimischer Heere in das westliche Nordafrika ein. Nach der Eroberung Ägyptens und der Kyrenaika erreichten die Muslime 642/643 Tripolis und kontrollierten damit nicht nur das bisherige administrative Zentrum der Provinz Tripolitania, sondern auch die im Hinterland der Küste verlaufende Landverbindung zwischen dem byzantinischen Territorium im Nordwesten und Ägypten im Osten.12 Im Jahr 647 erlitt der nordafrikanische Exarch Gregorios13 bei Sufetula in der Byzacena (dem heutigen Sbeïtla, Tunesien) eine vernichtende Niederlage, die – auch wenn sie aus der Rückschau einen Einschnitt zu markieren scheint – noch nicht zu einer direkten muslimischen Herrschaftsübernahme führte. In den 50er und 60er Jahren gelang es Konstantinopel, seine Position in Nordafrika noch einmal zu stabilisieren,14 bevor sich die muslimische Kontrolle über die Region in den 70er Jahren des 7. Jahrhunderts verfestigte und dauerhafte Formen annahm.15 Die Eroberung Karthagos im Jahr 698 stellt insofern eher den Endpunkt eines langfristigen Machtwechsels dar, in dem der Zerfall des byzantinischen Nordafrika und das Entstehen des islamischen Ifrīqiya ineinander übergingen.16 Dieser politisch gesehen mehrfach gebrochene Übergang zwischen Antike und Mittelalter, der vom römischen über das vandalische und das oströmisch-byzantinische zum islamischen Nordafrika führte, wirft die Frage auf, ob und in welcher

10 Vgl. dazu BRUNS, Peter: Zwischen Rom und Byzanz. Die Haltung des Facundus von Hermiane und der nordafrikanischen Kirche während des Drei-Kapitel-Streits (553), in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 106 (1995), S. 151–178 und MARSCHALL, Werner: Karthago und Rom. Die Stellung der nordafrikanischen Kirche zum apostolischen Stuhl in Rom, (Päpste und Papsttum 1), Stuttgart 1971, S. 211–218 (mit Einschränkungen, was die historische Interpretation betrifft). 11 CONANT, Staying Roman 2012 (wie Anm. 6), S. 239–251. 12 Zur muslimischen Eroberung Ägyptens und Tripolitaniens KAEGI, Walter E.: Muslim Expansion and Byzantine Collapse in North Africa, Cambridge 2010, S. 116–122; CHRISTIDES, Vassilios: Byzantine Libya and the March of the Arabs towards the West of North Africa, (BAR International Series 851), Oxford 2000; SIJPESTEIJN, Petra M.: The Arab Conquest of Egypt and the Beginning of Muslim Rule, in: Egypt in the Byzantine World, 300–700, hg. v. Roger S. Bagnall, Cambridge 2007 [paperback 2010], S. 437–459; RAVEN, Susan, Rome in Africa, London/New York, 3. Aufl., 1993, S. 224–230. Zur Islamisierung und Arabisierung Nordafrikas seit dem 7. Jh. BRETT, Michael / FENTRESS, Elisabeth: The Berbers, (The Peoples of Africa), Malden (Massachusetts) u. a. 1996, S. 81–153; BRETT, Michael: The Arab Conquest and the Rise of Islam in North Africa, in: The Cambridge History of Africa, Volume 2: From c. 500 BC to AD 1050, hg von J. D. Fage, Cambridge 1979, S. 490–555. 13 PmbZ I 2, Nr. 2345; PLRE III A, S. 554 (Fl. Gregorius 19). 14 KAEGI, Expansion 2010 (wie Anm. 12), S. 116–144. 15 KAEGI, Expansion 2010 (wie Anm. 12), S. 145–219. 16 KAEGI, Expansion 2010 (wie Anm. 12), S. 247–265.

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Form römische Strukturen über die politischen Brüche und Zäsuren hinweg fortbestanden und inwiefern sie als Bausteine in nach-römische Ordnungen eingefügt wurden. Diese Frage ist bisher in der Forschung so oder so ähnlich vor allem mit Blick auf das regnum der Vandalen diskutiert worden, das in der Frühmittelalterforschung als geradezu musterhaftes Fallbeispiel der ‚Transformation of the Roman World‘ gilt. In den Geschichtswissenschaften und der Archäologie wurde diesem seit Beginn der 2000er Jahre vergleichsweise große Aufmerksamkeit zuteil, so dass es mittlerweile als das vielleicht am besten erforschte gentile regnum der Spätantike und des Frühmittelalters gelten kann.17 Im Zentrum des Interesses standen dabei vor allem Fragen nach der kulturellen Orientierung und der Integration der Vandalen in die spätrömische Welt.18 Ein zweiter Schwerpunkt der Forschung liegt auf der Frage nach der Kontinuität der nordafrikanischen Städte, wobei aus archäologischer und historischer Perspektive mitunter recht unterschiedliche Prämissen gesetzt werden.19 Weniger im Blickpunkt standen dagegen die Peripherien der ehemals römisch-provinzialen Räume. In archäologischen Survey-Projekten wurde zwar nach der Entwicklung von Besiedlungs- und Wirtschaftsstrukturen gefragt, die Kontinuität und Transformation rechtlicher und administrativer Institutionen, die letztlich das Leben der Menschen in diesen Räumen maßgeblich strukturierten, war dagegen meist eher am Rand von Interesse. Im Folgenden soll die Frage nach dem ‚sichtbaren / unsichtbaren Römischen Reich‘ im nach-römischen Nordafrika in einem thematisch und chronologisch breiter angelegten Panorama verfolgt und an drei Themenfeldern exemplarisch

17 Neben den Arbeiten von BERNDT, Konflikt und Anpassung 2007 (wie Anm. 4); MERRILLS/MILES, Vandals 2010 (wie Anm. 4); CONANT, Staying Roman 2012 (wie Anm. 6); CASTRITIUS, Vandalen 2007 (wie Anm. 4) sei hier v. a. noch auf STEINACHER, Roland: Die Vandalen. Aufstieg und Fall eines Barbarenreichs, Stuttgart 2016 sowie die einzelnen Beiträge in: Das Reich der Vandalen 2008 (Anm. 4) und Vandals, Romans and Berbers: New Perspectives on Late Antique North Africa, hg. v. Andrew H. Merrills, Aldershot/Burlington 2004 verwiesen. Die Zeitschrift Antiquité Tardive publizierte in den Bänden 10 (2002) und 11 (2003) die Beiträge zweier überwiegend archäologischer Tagungen, die im Jahr 2000 in Tunis und 2001 in Paris zum vandalischen und byzantinischen Nordafrika stattfanden. Als Ausdruck des großen Interesses an den Vandalen darf auch die baden-württembergische Landesausstellung „Erben des Imperiums in Nordafrika: Das Königreich der Vandalen“, Karlsruhe, 24. Oktober 2009–21. Februar 2010 gelten, s. den Katalog zur Ausstellung: Erben des Imperiums in Nordafrika. Das Königreich der Vandalen. Ausstellungskatalog Große Landesausstellung Baden-Württemberg 2009 im Badischen Landesmuseum Karlsruhe, 24. Oktober 2009 bis 21. Februar 2010, hg. v. Badischen Landesmuseum Karlsruhe (Redaktion Claus Hattler), Mainz 2009. 18 STEINACHER, Roland: Gruppen und Identitäten. Gedanken zur Bezeichnung „vandalisch“, in: Das Reich der Vandalen 2008 (Anm. 4), S. 243–260; MERRILLS/MILES, Vandals 2010 (wie Anm. 4), bes. S. 204–227; CONANT, Staying Roman 2012 (wie Anm. 6), S. 19–66; s. auch HALSALL, Guy: Barbarian Migrations and the Roman West, 376–568, (Cambridge Medieval Textbooks), Cambridge 2007, S. 321– 327 zu Gesellschaft und Wirtschaft im Nordafrika des 5. Jhs.; HEN, Yitzhak: Roman Barbarians. The Royal Court and Culture in the Early Medieval West, (Medieval Culture and Society), Basingstoke/ New York 2007, S. 59–93 speziell zu Königshof und Hofkultur im vandalischen regnum. 19 S. unten.

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diskutiert werden, inwiefern römische Strukturen in nach-römischen Kontexten weiterwirkten und das Zusammenleben sozialer Gemeinschaften (mit)bestimmten. Diese drei Themenfelder lassen sich unter den Schlagworten ‚Raum‘, ‚Recht‘ und ‚Institutionen‘ zusammenfassen, wobei jedes einzelne Feld wiederum zu einem gewissen Grad stellvertretend für einen der genannten politischen Übergänge steht. Vieles von dem, was sich zum Fortdauern römischer Strukturen sagen ließe, wird dabei eher angetippt, als im Detail behandelt, aber grundsätzlich lassen sich einige markante Linien nachzeichnen. Zwei Bemerkungen zur Begriffsklärung seien vorausgeschickt. Erstens werden, wie bereits geschehen, unter dem Begriff ‚römisches Nordafrika‘ zwei nach ökozonalen Kriterien grundverschiedene Naturräume zusammengefasst,20 nämlich zum einen der durch das Atlas-Gebirge und seine östlichen Ausläufer geprägte Raum im Norden der heutigen Staaten Marokko, Algerien und Tunesien; in antiker Terminologie handelt es sich um die römischen Provinzen (von Westen nach Osten) Mauretania Tingitana, Mauretania Caesariensis, Mauretania Sitifensis, Numidia und Africa Proconsularis.21 Zum anderen gehörte zum römischen Nordafrika das im Relief deutlich weniger profilierte, aride Hinterland der kleinen Syrte im Südosten Tunesiens und im Nordwesten des heutigen Libyen, in der Spätantike die Provinzen Byzacena und Tripolitania.22 Außen vor bleiben dagegen Ägypten und die Kyrenaika. Zweitens werden die Begriffe civitas / civitates im Folgenden nicht in ihrem engen Sinne als ‚Stadt‘, sondern in der weiteren Bedeutung als ‚Gemeinschaft‘ von Menschen verstanden.

1 Raum Ein Charakteristikum der nordafrikanischen Provinzen des Imperium Romanum war ihre im Vergleich zu anderen provinzialen Räumen dichte Urbanisierung.23 Die

20 Zum Konzept der ökozonalen Gliederung s. SCHULTZ, Jürgen: Handbuch der Ökozonen, (UTB für Wissenschaft: Uni-Taschenbücher Nr. 8200), Stuttgart 2000, bes. S. 19–30. Als Ökozonen definiert Schultz „Großräume der Erde, die sich durch jeweils eigenständige Klimagenese, Morphodynamik, Bodenbildungsprozesse, Lebensweisen von Pflanzen und Tieren sowie Ertragsleistungen in der Agrar- und Forstwirtschaft auszeichnen. Entsprechend unterscheiden sie sich in auffälliger Weise nach dem jährlichen und täglichen Klimagang, den exogenen Landformen, den Bodentypen, den Pflanzenformationen und Biomen sowie den agraren und forstlichen Nutzungssystemen“ (S. 19). 21 S. hierzu SCHULTZ, Ökozonen 2000 (wie Anm. 20), S. 313–348 und FUSHÖLLER, Dieter: Tunesien und Ostalgerien in der Römerzeit. Zur historischen Geographie des östlichen Atlasafrika vom Fall Karthagos bis auf Hadrians Limesbau, (Geographica Historica 2), Bonn 1979, S. 68–113. 22 SCHULTZ, Ökozonen 2000 (wie Anm. 20), S. 364–421; FUSHÖLLER, Tunesien und Ostalgerien (wie Anm. 21), a. a. o. 23 Zur Entwicklung des Städtewesens in Nordafrika im 3. Jh. und in der Spätantike vgl. WITSCHEL, Krise 1999 (wie Anm. 1), S. 298–306; WITSCHEL, Christian: Zur Situation im römischen Africa während des 3. Jahrhunderts, in: Deleto paene imperio Romano. Transformationsprozesse des Römischen

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nordafrikanische Städtelandschaft ist aber kein auf die Zeit römischer Herrschaft beschränktes Phänomen, sondern geht auf eine vorrömische Siedlungslandschaft zurück, die infolge der Integration Nordafrikas in das Imperium Romanum nachhaltig überformt wurde. Erste Versuche, speziell die nordafrikanischen Städte in römische Ordnungsstrukturen einzubeziehen, reichen bis in das späte 2. Jahrhundert v. Chr. zurück, als Gaius Gracchus im Rahmen seiner Ackerpolitik versuchte, in Karthago eine colonia römischer Bürger zu gründen, letztlich aber am Widerstand des Senats scheiterte. Erst die gezielten Ansiedlungen römischer Veteranen im 1. Jahrhundert v. Chr. – zuerst durch Caesar, im großen Stil dann durch Augustus – veränderten die Zusammensetzung der Bevölkerung in der Region und führten zur Ausbreitung römischer Stadtrechtsformen in Nordafrika, woraus wiederum eine Transformation der städtischen Selbstverwaltungen resultierte, die sich nun an römische Rechtsformen anlehnten.24 Während der Kaiserzeit erweiterte sich das nordafrikanische Städtenetz sukzessive in das Binnenland der römischen Provinzen; neue Städte entstanden jetzt auch als Folgeerscheinung der militärischen Präsenz Roms. Hinsichtlich ihres Rechtsstatus konnte die Entwicklung dieser Städte aber teils recht unterschiedlichen Mustern folgen. In Lambaesis beispielsweise entstand im Umfeld des Standlagers der Legio III Augusta im frühen 2. Jahrhundert eine zivile Siedlung, die noch in der Regierungszeit des Antoninus Pius als vicus firmierte, unter Marcus Aurelius dann den Stadtrechtsstatus eines Munizipium erhielt und erst vergleichsweise spät – wahrscheinlich erst Mitte des 3. Jahrhunderts – in den Rang einer colonia erhoben wurde.25 Im Unterschied zu dieser sukzessiven Entwicklung hatte das ca. 20 km östlich von Lambaesis gelegene, im Jahr 100 zur Ansiedlung von Veteranen gegründete Thamugadi von Anfang an den Rechtsstatus einer römischen colonia erhalten.26 Auf der anderen Seite des Spektrums sind aber auch Städte zu finden, die offenbar nie

Reiches im 3. Jahrhundert und ihre Rezeption in der Neuzeit, hg. v. Klaus-Peter Johne, Thomas Gerhardt und Udo Hartmann, Stuttgart 2006, S. 145–221, hier S. 153–162; besonders zur Spätantike LEPELLEY, Claude: Les cités de l’Afrique Romaine au Bas-Empire, Tome I: La permanence d’une civilisation municipale, Paris 1979 und LEPELLEY, Claude: Les cités de l’Afrique Romaine au Bas-Empire, Tome II: Notice d’histoire municipale, Paris 1981; LEPELLEY, Claude: La cité africaine tardive, de l’apogée du IVe siècle à l’effondrement du VIIe siècle, in: Die Stadt in der Spätantike – Niedergang oder Wandel? (Historia Einzelschriften 190), hg. v. Jens-Uwe Krause und Christian Witschel, Stuttgart 2006, S. 13–31; als kurzen Überblick zur Entwicklung der nordafrikanischen Städte s. auch RAVEN, Rome in Africa 1993 (wie Anm. 12), S. 100–121. 24 Zum Reformprogramm des Caius Gracchus CHRIST, Karl: Krise und Untergang der römischen Republik, Darmstadt 31993, S. 134–146. Zu Nordafrika in spätrepublikanischer und augusteischer Zeit LE BOHEC, Histoire 2005 (wie Anm. 1), S. 21–57; RAVEN, Rome in Africa 1993 (wie Anm. 12), S. 49–63; zu den Koloniegründungen unter Caesar und Augustus LEPELLEY, Claude: Rom und das Reich, 44 v. Chr.–260 n. Chr. Die Regionen des Reiches, Hamburg 2006 (ND der Ausgabe München/Leipzig 2001), S. 82–84. Zum nordafrikanischen Städtewesen spätrepublikanischer Zeit TEUTSCH, Leo: Das Städtewesen in Nordafrika in der Zeit von C. Gracchus bis zum Tode des Kaisers Augustus, Berlin 1962. 25 LEPELLEY, Cités 1981 (wie Anm. 23), S. 416–425. 26 LEPELLEY, Cités 1981 (wie Anm. 23), S. 444–476.

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einen römischen Stadtrechtsstatus erlangten, wie beispielsweise Altava oder auch Regiae in der westlichen Mauretania Caesariensis.27 Wie auch immer sich die Einbindung der Städte in das römische Ordnungssystem im Einzelfall gestaltete, unter den politischen Bedingungen der Kaiserzeit hatte dies nachhaltige Auswirkungen auf die Stratifizierung der Gesellschaft und auf die administrative Organisation der Städte. Darüber hinaus kann das (im Unterschied zu anderen Regionen des Imperium Romanum) noch unter den gewandelten rechtlichen Bedingungen des 3. Jahrhunderts fortbestehende Streben der nordafrikanischen Städte nach dem Erwerb von Stadtrechten und Titeln aber auch als „ein Indiz für die besonders konservative Mentalität der munizipalen Eliten“ der Region gelten.28 Die Frage nach einer vom römischen in das nach-römische Nordafrika reichenden Kontinuität der Städte spielte in der Forschungsdiskussion der letzten Jahre eine zentrale Rolle, wird aber je nach methodischem Ansatz aus unterschiedlichen Blickwinkeln angegangen.29 Aus der Perspektive der schriftquellenbasierten Geschichtswissenschaft wird die römische Stadt in erster Linie als rechtliche Einheit aus einem Zentralort und zugehörigem Umland definiert, die grundsätzlich nach innen politisch autonom agierte und ihre administrativen Angelegenheiten selbst regelte;30 bauliche Ausgestaltung – beispielsweise mit öffentlichen Gebäuden – und Infrastruktur verliehen dem Zentralort eine urbane Prägung.31 Die Frage der Kontinuität römischer Städte wird daher nicht zuletzt als Frage der Kontinuität der Institutionen städtischer Selbstverwaltung gesehen, wobei die Sichtbarkeit städtischer Institutionen und munizipaler Eliten wiederum von weitreichenden Veränderungen in der epigraphischen Kultur der römischen Welt seit Mitte des 3. Jahrhunderts abhängt.32 Aus der Perspektive der Archäologie wird die

27 Zu Altava LEPELLEY, Cités 1981 (wie Anm. 23), S. 522–534; WITSCHEL, Situation 2006 (wie Anm. 23), S. 192 und zu Regiae LEPELLEY, Cités 1981 (wie Anm. 23), S. 542. Als methodisches Problem erweist sich, dass der epigraphische Befund mitunter nur begrenzte oder nicht eindeutige Informationen über die administrative Struktur der Städte hergibt. 28 WITSCHEL, Situation 2006 (wie Anm. 23), S. 153; ähnlich auch WITSCHEL, Krise 1999 (wie Anm. 1), S. 300 f. 29 Zur Forschung zum nordafrikanischen Städtewesen s. oben, Anm. 23. 30 LINTOTT, Andrew: Imperium Romanum. Politics and Administration, London 1993, S. 129–153; EDMONDSON, Jonathan: Cities and Urban Life in the Western Provinces of the Roman Empire, 30 BCE–250 CE, in: A Companion to the Roman Empire, hg. v. David S. Potter, Malden u. a. 2006, S. 250–280, hier S. 253–260; S. 272–279. 31 EDMONDSON, Cities and Urban Life 2006 (wie Anm. 30), S. 260–272. 32 Zum Wandel des „epigraphic habit“ WITSCHEL, Krise 1999 (wie Anm. 1), S. 60–84; BORG, Barbara / WITSCHEL, Christian: Veränderungen im Repräsentationsverhalten der römischen Eliten während des 3. Jhs. n. Chr., in: Inschriftliche Denkmäler als Medien der Selbstdarstellung in der römischen Welt, (HABES 36), hg. v. Geza Alföldy und Silvio Panciera, Stuttgart 2001, S. 47–120; wie deutlich sich die Entwicklung der Inschriftenkultur regional unterscheiden konnte, wird auch sichtbar bei MEYER, Elisabeth A.: Explaining the Epigraphic Habit in the Roman Empire: The Evidence of Epitaphs, in: Journal of Roman Studies 80 (1980), S. 74–96; speziell zur Entwicklung in den nordafrikanischen Provinzen WITSCHEL, Situation 2006 (wie Anm. 23), bes. S. 155–157 und S. 159 f.

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Stadt dagegen als verdichtete, bestimmte strukturierende Elemente aufweisende Siedlungsagglomeration aufgefasst, so dass die Frage nach Kontinuität oder Diskontinuität der Stadt zu einer Frage nach der Kontinuität oder Diskontinuität der Besiedlung eines Ortes unter Berücksichtigung von Veränderungen in der Nutzung des städtischen Raumes wird.33 Beiden Ansätzen gemeinsam ist, dass sie sich stark auf lokale Entwicklungen konzentrieren. Auf der Suche nach Elementen eines ‚unsichtbaren Römischen Reiches‘, die zu Bausteinen nach-römischer Ordnungen wurden, bietet sich aber noch ein anderer Zugang an, der statt auf einzelne Orte zu fokussieren den Blick auf die räumlichen Beziehungen zwischen den Städten des spät- und nach-römischen Nordafrika lenkt. Durch Verkehrswege direkt oder indirekt verbundene Städte eines geographischen Raumes lassen sich als zueinander in Beziehung stehende, miteinander interagierende Knotenpunkte eines Netzwerkes beschreiben. Ein solches Interaktionsnetz ist über den geographischen Raum gelegt, so dass ein Interaktionsraum entsteht, in dem sich historische Prozesse abspielten. Ein solcher Interaktionsraum ist wiederum ein dynamisches System, in dem bestimmte Knotenpunkte und die sie verbindenden Interaktionslinien stärker oder schwächer frequentiert sein können als andere. Infolge politischer oder militärischer Ereignisse, aber auch langfristiger, beispielsweise ökonomischer Entwicklungen kann sich die Ausrichtung eines solchen Kommunikationsraumes verschieben. Veränderungen an einzelnen Punkten müssen sich nicht zwangsläufig auf die Konfiguration des Gesamtsystems auswirken, können aber im Zusammenspiel mit Entwicklungen an weiteren Knotenpunkten langfristige Prozesse beeinflussen und zu einer allmählichen Verschiebung in der Ausrichtung des gesamten Interaktionsraumes führen. Im Gegenzug können Veränderungen in der Dimension des gesamten Interaktionsraumes – wie z. B. militärische Eroberung und die daraus folgende Errichtung oder aber auch der Zusammenbruch politischer Herrschaft – wiederum Rückwirkungen auf einzelne Knotenpunkte haben, weil diese infolge einer sich insgesamt verschiebenden Ausrichtung des Interaktionsraumes an Bedeutung gewinnen oder verlieren. Aus einer solchen interaktionsräumlichen Perspektive heraus betrachtet bietet der Übergang vom byzantinischen zum islamischen Nordafrika ein interessantes Fallbeispiel für die Frage nach römischen Elementen als Bausteinen nach-römischer Strukturen, denn für Nordafrika bedeutete dieser politische Machtwechsel auch die Einbindungen in einen neuen imperialen Raum mit einer veränderten Ausrichtung überregionaler Machtstrukturen. Die Auswirkungen dieses sich über gut fünf Jahrzehnte erstreckenden politischen Prozesses auf die nordafrikanische Städtelandschaft wurden bisher vor allem archäologisch zu erfassen versucht, ohne dass sich derzeit

33 Zu den nordafrikanischen Städten s. die zusammenfassenden, Einzeluntersuchungen bündelnden Arbeiten von SEARS, Gareth: Late Roman African Urbanism. Continuity and Transformation in the City, (BAR International Series 1693), Oxford 2007 und LEONE, Anna: Changing Townscapes in North Africa from Late Antiquity to the Arab Conquest, Bari 2007.

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ein klares Bild abzeichnen würde.34 Lenkt man den Blick aber weg von einzelnen Orten auf die strukturelle Ausrichtung des Interaktionsraumes, den die durch Straßen miteinander verbundenen nordafrikanischen Städte bildeten, erweist sich dieser über die politischen Umbrüche der zweiten Hälfte des 7. Jahrhunderts hinweg als bemerkenswert stabil. Anhand spätantik-römischer, byzantinischer und arabischer historiographischer und geographischer Texte lässt sich ein langfristiger Prozess des Wandels erkennen, der sich letztlich bis ins 11. Jahrhundert erstreckte. Charakteristisch für den Interaktionsraum des römischen Nordafrika ist seine primäre Orientierung in Ost-West-Richtung. Diese ist zum Teil eine Folge der topographischen Rahmenbedingungen, die durch das Großrelief des Atlasgebirges bestimmt werden. Dessen Bergketten machen Passagen in Ost-West-Richtung, parallel zu den Höhenzügen relativ leicht möglich, während Querungen von Nord nach Süd schwierig und nur an geeigneten Stellen, wie Depressionen und Pässen möglich sind.35 Die Ausrichtung des nordafrikanischen Interaktionsraumes ist aber auch eine Folgeerscheinung des historischen Verlaufs der Erschließung Nordafrikas durch die römische Herrschaft, die im 1. Jahrhundert v. Chr. im Nordosten des heutigen Tunesien einsetzte und durch den Bau von überregionalen Straßen flankiert wurde, die das administrative Zentrum Karthago mit der Peripherie des von Rom kontrollierten Territoriums verbanden.36 Insgesamt sind im römischen Nordafrika fünf Hauptrouten zu

34 ROSKAMS, Steve: Urban Transition in North Africa. Roman and Medieval Towns of the Maghreb, in: Towns in Transition. Urban Evolution in Late Antiquity and the Early Middle Ages, hg. v. Neil Christie und Simon T. Loseby, Aldershot 1996, bes. S. 166 f. war in dieser Hinsicht skeptisch und betonte für Chercel, Sétif und Karthago den Abbruch der urbanen Besiedlung in frühislamischer Zeit. In letzter Zeit wird in der Forschung dagegen mit archäologischen Argumenten eher die Kontinuität der Städte zwischen spätantik-byzantinischem und islamischem Nordafrika betont: Nach WICKHAM, Chris: Framing the Early Middle Ages. Europe and the Mediterranean, 400–800, Oxford 2005, S. 635–644 weist der archäologische Befund zumindest in einigen Städten auf Besiedlungskontinuitäten hin. FENWICK, Corisande: From Africa to Ifrīqiya. Settlement and Society in Early Medieval North Africa (650–800), in: Al-Masāq 25 (2013), S. 9–33 und DIES., Early medieval Urbanism in Ifrīqiya and the Emergence of the Islamic City, in: Entre civitas y madīna. El mundo de las ciudades en la Península Ibérica y en el norte de África (siglos iv–ix), (Collection de la Casa de Velázquez 167), hg. v. Sabine Panzram und Laurent Callegarin, Madrid 2018, S. 203–220 sieht eher langfristige Kontinuitäten, betont aber auch enorme Unterschiede zwischen einzelnen Städten. Nach LEONE, Townscapes 2007 (wie Anm. 33), S. 167–279 und im Fazit S. 281–287 habe dagegen v. a. die Phase der byzantinischen Herrschaft zu massiven Veränderungen in Organisation und Erscheinungsbild der nordafrikanischen Städte geführt; Leone sieht eine Reihe von urbanistischen Merkmalen, die als charakteristisch für die Städte des islamischen Nordafrika gelten, bereits in den spätbyzantinischen Städten des 7. Jh. angelegt. 35 Vgl. Afrika-Kartenwerk, hg. im Auftrage der Deutschen Forschungsgemeinschaft von K. Kayser, W. Manshard, H. Mensching, J. H. Schultze u. a.; Blatt N1: Topographie (Autor: G. Stuckmann; Obmann: H. Mensching), Berlin/Stuttgart 1977. 36 Zur Raumerschließung durch Straßen FUSHÖLLER, Tunesien und Ostalgerien 1979 (wie Anm. 21), S. 330–334; KATH, Roxana: Die Straße als provincia: Die römische Raumerfassung und der Konflikt mit den Musulamii (1. Jh. n. Chr.), in: Raum – Landschaft – Territorium. Zur Konstruktion physischer

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erkennen.37 Die erste verlief von Karthago aus zuerst Richtung Südwesten ins Landesinnere über Musti nach Sicca Veneria und von dort aus weiter nach Westen bis Thagaste in Numidien. Hier zweigte eine Route ab, die zuerst nach Norden bis Hippo Regius führte und von dort aus dem Küstenverlauf bis in die westliche Mauretania Caesariensis folgte. Eine weitere Verzweigung führte von Thagaste zur ehemaligen numidischen Königsstadt Cirta und weiter auf die Hochebene von Sitifis, wo sich die gleichnamige Stadt im 3. Jahrhundert zu einem urbanen Zentrum entwickelte, das Ende des 3. Jahrhunderts im Rahmen der diokletianisch-konstantinischen Provinzialreformen zum Hauptort der neu eingerichteten Provinz Mauretania Sitifensis erhoben wurde. Von Sitifis verlief diese Route zuerst auf kleineren Straßenverbindungen weiter Richtung Westen, schloss aber bei Auzia wieder an eine Hauptroute an, die auf einer Höhenstufe des Tell-Atlas verlaufend eine Reihe von Militärstandorten in der Mauretania Caesariensis verband und bei Siga wieder auf die nördliche Küstenstraße traf. Die dritte Hauptroute war vor allem aus militärischen Gründen für die Entwicklung der nordafrikanischen Provinzen wichtig. Diese hatte ihren Ausgangspunkt ebenfalls in Karthago und folgte der Südwestroute bis Musti, wo sie sich in eine westliche Route über Sicca Veneria und eine östliche Route über Lares teilte, die beide wieder in Ammaedara, dem Hauptquartier der Legio III Augusta in der ersten Hälfte des 1. Jahrhunderts, zusammentrafen. Infolge der Verlegungen der Legion, zuerst in flavischer Zeit nach Theveste, später, wohl im frühen 2. Jahrhundert, nach Lambaesis,38 wurde diese Route sukzessive bis an den Nordrand des Aurès-Gebirges verlängert und zu der zentralen militärischen Achse, die das politische Zentrum Karthago mit der militärisch zu sichernden Peripherie verband. Von Lambaesis aus verlief diese Route dann zunächst auch wieder über Straßen zweiter Ordnung bis Zabi (das im 6. Jahrhundert den Ehrennamen Iustiniana erhielt) und schloss hier an die auf einer zweiten Höhenstufe des Tell-Atlas verlaufende Hauptroute an, die wiederum eine Reihe militärischer Standorte im Süden der westlichen Mauretania Caesariensis miteinander verband, bevor sie in Siga die Mittelmeerküste erreichte. Die vierte und

Räume als nomadischer und sesshafter Lebensraum, (Nomaden und Sesshafte 11), hg. v. Roxana Kath und Anna-Katharina Rieger, Wiesbaden 2009, S. 149–172; KOLB, Anne: Raumwahrnehmung und Raumerschließung durch römische Straßen, in: Wahrnehmung und Erfassung geographischer Räume in der Antike, hg. v. Michael Rathmann, Mainz 2007, S. 169–180; KOLB, Anne: Die Erfassung und Vermessung der Welt bei den Römern, in: Vermessung der Oikumene, (TOPOI Berlin Studies of the Ancient World 14), hg. v. Klaus Geus und Michael Rathmann, Berlin/Boston 2013, S. 107–118, hier S. 111–118. 37 Zum Verlauf der im Folgenden skizzierten Hauptrouten vgl. Barrington Atlas of the Greek and Roman World, hg. v. Richard Talbert, Princeton/Oxford 2000, Karten 29–34 und FUSHÖLLER, Tunesien und Ostalgerien 1979 (wie Anm. 21), S. 334–341. 38 Zur Legio III Augusta, die im 1. und 2. Jh. zur Absicherung der römischen Expansion in Nordafrika immer wieder in die neue Peripheriegebiete im Süden des römischen Provinzialgebietes vorgeschoben wurde, LE BOHEC, Yann: La Troisième Légion Auguste, (Études d’Antiquités Africaines), Paris 1989, S. 335–450.

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fünfte Route verbanden Karthago mit dem Süden der kaiserzeitlichen Africa Proconsularis bzw. der spätantiken Provinz Byzacena. Eine Route folgte zuerst der Südweststraße von Karthago bis Musti, zweigte dort nach Süden ab und führte nach Sufetula, das einen Knotenpunkt von zentraler strategischer Bedeutung im Interaktionsnetz der nordafrikanischen Städte darstellte. Von hier aus gelangte man zum einen in das ca. 60 km südwestlich der Stadt gelegene Thelepte, von wo aus man entweder nach Nordwesten in Richtung Theveste kommen und wieder die wichtige Militärstraße nach Lambaesis erreichen oder in südlicher Richtung über Capsa in den tripolitanischen Raum nach Tacape gelangen konnte. Zum anderen führten von Sufetula aus zwei Routen nach Nordosten und Südosten an die Mittelmeerküste, wo sie auf jene Straße trafen, die in Karthago begann, zuerst mehr oder weniger direkt nach Süden führte, bis sie bei Pupput, im Südosten des Kap Bon, die Küste erreichte, der sie anschließend immer weiter nach Süden bis nach Tripolitanien folgte, wo sie bei Tacape mit der aus dem Binnenland kommenden Route zu der Küstenstraße zusammenlief, die den tripolitanischen Raum mit der Cyrenaica und Ägypten im Osten verband.39 Die aus der geographischen Lage resultierende strategische Bedeutung von Sufetula wird beispielsweise an den politischen und militärischen Ereignissen der Mitte des 7. Jahrhunderts deutlich, als der Exarch Gregorios sein Hauptquartier hierhin verlegte. Weil Gregorios sich von Kaiser Konstans II. losgesagt hatte, bot die Stadt wegen ihrer Lage im Binnenland zum einen eine gewisse Sicherheit vor einem eventuellen Überraschungsangriff aus Konstantinopel. Gleichzeitig konnte Gregorios aber von Sufetula aus vergleichsweise flexibel auf einen Angriff der Muslime aus Tripolitanien regieren und die wichtigsten Verbindungswege in das nordafrikanische Binnenland sperren.40 Die in römischer Zeit gewachsene Infrastruktur bestand über das byzantinische Nordafrika hinaus noch weit bis in das islamische Ifrīqiya.41 Nachdem sich die Muslime nach ihrem Sieg über die Byzantiner im Jahr 647 zunächst aufgrund innenpolitischer Spannungen im Kalifat wieder zurückgezogen hatten, setzte in den 680er Jahren eine neue Expansionsphase ein. Mit der Gründung von Kairouan 663/4 an der wichtigen Verbindungsstraße von Hadrumetum an der Mittelmeerküste nach Sufetula erhielt das nordafrikanische Städtenetz zwar schon früh einen Knotenpunkt hinzugefügt, der sich zu einem wichtigen Zentrum entwickeln sollte, die militärischen Aktivitäten der muslimischen Heerführer des ausgehenden 7. Jahrhunderts konzentrierten sich aber auf den Raum des Aurès-Gebirges und das westlich anschließende Mauretanien, wo

39 Zum Routenverlauf vgl. Barrington Atlas 2000 (wie Anm. 37), Karten 35, 37–38 und 73–74. 40 KAEGI, Expansion 2010 (wie Anm. 12), S. 128–130. 41 Zum Wegenetz im islamischen Nordafrika vgl. im Folgenden FORSTNER, Martin: Das Wegenetz des zentralen Maghreb in islamischer Zeit: Ein Vergleich mit dem antiken Wegenetz, Wiesbaden 1979; VANACKER, Claudette: Géographie économique de l’Afrique du Nord selon les auteurs arabes du IXe siècle au milieu du XIIe siècle, in: Annales. Économies, Sociétés, Civilisations 28/3 (1973), S. 659–680, hier bes. S. 663–671.

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sich unter den indigenen maurischen gentes der Region mittlerweile ein wirkungsvoller Widerstand gegen die muslimische Expansion formiert hatte.42 Dabei waren vor allem die römischen Routen von hoher strategischer Bedeutung, die nördlich des AurèsGebirges über Theveste und Lambaesis sowie südlich über Capsa, Thabudeos und Thubunae nach dem mauretanischen Zabi und dann weiter nach Westen, in die Region des heutigen Tiaret – die offenbar bereits in der Spätantike eine gewisse, wenn auch im Detail nicht genau eruierbare Rolle als regionales Zentrum erlangt hatte43 – führten.44 Im 8. und 9. Jahrhundert erfolgte eine Ausdifferenzierung verschiedener politischer Herrschaften in Ifrīqyia, unter denen die der Aġlabiden – die in etwa den Raum der ehemaligen spätantik-römischen Provinzen Africa Proconsularis, Byzacena, Numidia und Mauretania Sitifensis umfasste – eine dominierende Stellung einnahm und sich wesentlich auf eine auf römische Städte und Straßen zurückgehende Infrastruktur stützte.45 Vor allem die Hochebenen von Constantine und Sétif, die in der Spätantike noch einmal einen deutlichen wirtschaftlichen Aufschwung und eine damit einhergehende Besiedlungsverdichtung erlebt hatten, wurden zu Kernräumen des aġlabidischen Territoriums. Zur militärischen Sicherung der aġlabidischen Herrschaft waren wiederum die Straßen nördlich des Aurès-Gebirges wichtig.46 Als die Aġlabiden im ersten Viertel des 10. Jahrhunderts von den Fāṭimiden verdrängt wurden,47 änderte dieser politische Machtwechsel nur wenig an der Bedeutung der auf spätantik-römische Strukturen zurückgehenden Infrastruktur für die Sicherung politischer Herrschaft. Mit der Gründung des an der Mittelmeerküste, in der Nähe des antiken Hadrumetum gelegenen Mahdia im Jahr 920 erhielt das nordafrikanische Städtenetz einen neuen Knotenpunkt, zumal die Stadt zur neuen fāṭimidischen Residenz werden

42 KAEGI, Expansion 2010 (wie Anm. 12), S. 220–265. 43 FORSTNER, Wegenetz 1979 (wie Anm. 41), S. 42–48. 44 Darauf deuten die monumentalen Grabanlagen der sog. Djedars von Tiaret hin, s. dazu MERRILLS, Andrew H.: Kingdoms of North Africa, in: The Cambridge Companion to the Age of Attila, hg. v. Michael Maas, Cambridge 2015, S. 264–281, hier S. 278–281; RUSHWORTH, Alan, From Arzuges to Rustamids: State Formation and Regional Identity in the Pre-Saharan Zone, in: Vandals, Romans and Berbers. New Perspectives on Late Roman Africa, hg. v. Andrew H. Merrills, Aldershot 2004, S. 77–98, hier S. 79–86; KADRA, Fatima: Der Djedar A von Djebel Lakhdar, ein spätes Berbermonument, in: Die Numider. Reiter und Könige nördlich der Sahara. Ausstellungskatalog Rheinisches Landesmuseum Bonn, 29.11.1979–29.2.1980, (Kunst und Altertum am Rhein 96), hg. v. Heinz Günter Horn und Christoph B. Rüger, Köln/Bonn 1979, S. 263–284; BRETT/FENTRESS, Berbers 1996 (wie Anm. 12), S. 78 f. 45 BRETT/FENTRESS, Berbers 1996 (wie Anm. 12), S. 81–94. Zu dem Aġlabiden s. ANDERSON, Glaire D. / FENWICK, Corisande / ROSSER-OWEN, Mariam (Hg.), The Aghlabids and their Neigbours. Art and Material Culture in 9th-century North Africa, (Handbuch der Orientalistik/Handbook of Oriental Studies, Section One: The Near and Middle East 122), Leiden/Boston 2018. 46 FORSTNER, Wegenetz 1979 (wie Anm. 41), S. 56–64; VANACKER, Géographie économique 1973 (wie Anm. 41), S. 664 f. 47 BRETT/FENTRESS, Berbers 1996 (wie Anm. 12), S. 95–98.

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sollte.48 Der Aufstand der vom charismatischen charidschitischen Prediger Abu Yazīd angeführten Berber des Aurès-Gebirges gegen die Fāṭimidenherrschaft, der zwischen 944 und 948 weite Teile des heutigen Nordtunesien erfasste,49 spielte sich aber in einer Städtelandschaft ab, die im Kern nach wie vor auf römischen Strukturen basierte. Auch diesmal war die Kontrolle der Verkehrswege, vor allem der nördlich des Aurès verlaufenden Ost-West-Route, von entscheidender strategischer Relevanz.50 Die ersten Angriffe der Berber51 richteten sich gegen Bāġāya, das antike Bagai, an der nördlich des Gebirges verlaufenden Ost-West-Verbindung, etwa auf halbem Weg zwischen Theveste und Thamugadi gelegen, jedoch scheiterten sie bei mehreren Versuchen die strategisch wichtige und daher stark befestigte Stadt einzunehmen. Diese hatte schon im Verteidigungssystem des byzantinischen Nordafrika eine wichtige Rolle gespielt, weil sich von hier aus der Übergang vom notorisch unsicheren AurèsGebirge in das Provinzterritorium kontrollieren ließ.52 Erfolgreicher verlief der Vorstoß der Berber nach Osten, gegen Tebessa, das antike Theveste, das von den Stadtbewohnern übergeben wurde; danach wandten sich Abu Yazīd und seine Anhänger der vormals römischen Militärstraße folgend zuerst nach Nordosten und später nach Osten, in Richtung Mittelmeerküste und brachten Städte wie al-Urbus (das antike Lares), Dougga (Thugga) und später auch Bāğa (Vaga) im Binnenland sowie Sousse (Hadrumentum) an der Küste unter ihre Kontrolle; umkämpft waren aber auch Kairouan, das Zentrum des frühislamischen Ifrīqiya, und Tunis, das die antike nordafrikanische Metropole Karthago abgelöst hatte. Die schwere und langwierige Belagerung der fāṭimidischen Residenzstadt Mahdia – die die Berber jedoch nicht einzunehmen vermochten – nahm der Aufstandsbewegung um Abu Yazīd letzten Endes so viel von ihrer Dynamik, dass diese nach einer Reihe militärischer Rückschläge in sich zusammenzufiel. Auch das Bild, das die arabische geographische Literatur des 10. Jahrhunderts entstehen lässt, zeigt einen primär in Ost-West-Richtung orientierten überregionalen Kommunikations- und Interaktionsraum.53 Erst am Ende des 10. und im 11. Jahrhundert zeichnet sich zuerst eine Verlagerung und letzten Endes

48 FORSTNER, Wegenetz 1979 (wie Anm. 41), S. 64–66. 49 Zum Aufstand der Berber des Aurès vgl. HALM, Heinz: Der Mann auf dem Esel: Der Aufstand des Abū Yazīd gegen die Fatimiden nach einem Augenzeugenbericht, in: Die Welt des Orients 15 (1984), S. 144–204 und FORSTNER, Wegenetz 1979 (wie Anm. 41), S. 66–67. 50 FORSTNER, Wegenetz 1979 (wie Anm. 41), S. 65–66. 51 Zum topographischen Verlauf des Aufstandes vgl. im Folgenden HALM, Mann auf dem Esel 1984 (wie Anm. 49), S. 150–201. 52 Zu Bagai, das aufgrund seiner strategischen Bedeutung schon im byzantinischen Nordafrika des 6. Jhs. stark befestigt worden war, PRINGLE, Denys: The Defence of Byzantine Africa from Justinian to the Arab Conquest. An Account of the Military History and Archaeology of the African Provinces in the Sixth and Seventh Centuries, Part I & II, (BAR international series 99 i + ii), Oxford 1981, S. 183–185; DURILAT, Jean: Les dédicaces d’ouvrages de défense dans l’Afrique byzantine, (Collection de l’École Française de Rome 49), Rom 1981, S. 42–44. 53 FORSTNER, Wegenetz 1979 (wie Anm. 41), S. 68–73.

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eine nachhaltige Neuausrichtung des gesamten nordafrikanischen Interaktionsraumes ab, die auch durch politische Spannungen zwischen den Dynastien der Ziriden, die ursprünglich von den Fāṭimiden als Statthalter eingesetzt worden waren, sich aber in der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts faktisch verselbständigt hatten, und der Hammadiden, die wiederum auf eine politische Abspaltung von den Ziriden zurückgingen, begünstigt wurde.54 Zwar blieb eine funktionierende OstWest-Verbindung weiterhin verkehrsgeographisch wichtig, jedoch gewannen nun Nord-Süd-Verbindungen an Bedeutung.55 Dieser Prozess wurde durch die von den Fāṭimiden mit dem Ziel der militärischen Unterwerfung der Ziriden initialisierte Migration der Banū Hilāl und die damit einhergehenden Kampfhandlungen und Zerstörungen beschleunigt.56 Im zeitlichen Längsschnitt wird deutlich, dass der in der römischen Antike gewachsene, durch Städte und die sie verbindenden Straßen definierte nordafrikanische Interaktionsraum über politische Zäsuren hinweg weitgehend kontinuierlich funktionierte und sich zwischen dem 4. und 10. Jahrhundert insgesamt eher langsam wandelte.

2 Recht Auf der Suche nach Bausteinen eines ‚unsichtbaren Römischen Reiches‘ lohnt ein Blick auf die Praxis der Rechtssetzung und Rechtsanwendung, denn Recht als „ein System von ordnung- und beziehungschaffenden Normen“ strukturiert „das Verhältnis der Mitglieder eines Gemeinwesens zueinander, das Verhältnis der Mitglieder zu den öffentlichen Institutionen und den übrigen Trägern hoheitlicher Gewalt und das Verhältnis zwischen den Trägern öffentlicher Gewalt“.57 Das Fortbestehen bzw. gezielte Aufgreifen römischer Rechtstraditionen im nach-römischen Nordafrika ist in der Forschung der letzten Jahre vor allem am Beispiel des vandalischen regnum thematisiert worden, wobei im Unterschied zu den anderen im 5. Jahrhundert im Westen des Imperium Romanum entstandenen regna aus dem vandalischen Nordafrika zwar keine gentilen leges bekannt sind, die spezifischen Überlieferungsbedingungen der Region aber Einblicke in die alltägliche Rechtskultur und damit in den Umgang sozialer Gemeinschaften mit Recht erlauben.

54 Zur politischen Situation im Nordafrika des 10. und frühen 11. Jhs. SCHUSTER, Gerald: Die Beduinen in der Vorgeschichte Tunesiens: Die Invasion der Banū Hilāl und ihre Folgen, (Islamkundliche Untersuchungen 269), Tübingen 2006, S. 18–49. 55 FORSTNER, Wegenetz 1979 (wie Anm. 41), S. 73–81; VANACKER, Géographie économique 1973 (wie Anm. 41), S. 668–670. 56 Zur Migration der Banū Hilāl SCHUSTER, Beduinen 2006 (wie Anm. 54), S. 50–175. 57 SCHMIDT, Wörterbuch zur Politik, 3. Aufl., 2010, S. 664 (Art. „Recht“). Ähnlich SCHUBERT/KLEIN, Politiklexikon 2011, S. 244 (Art. „Recht“).

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Auf der Ebene der Rezeption römischen Rechts angesiedelt ist das rechtsetzende Handeln vandalischer Könige. Als Hunerich (477–484)58 beispielsweise im Rahmen seiner das arianische Christentum59 der Vandalen fördernden Religionspolitik zunehmend Druck auf die katholische Kirche Nordafrikas ausübte und nach dem Religionsgespräch von Karthago – das in den Augen des Königs zugunsten der arianischen Seite ausgegangen war – per Edikt vom 24. Februar 484 für das gesamte vandalische Herrschaftsgebiet die Schließung der katholischen Kirchen und die Konfiszierung ihres Besitzes anordnete sowie jegliche katholische Versammlung verbot, begründete er diese Repressionen explizit mit dem Vorbild jener Gesetze, die frühere römische Kaiser gegen christliche Häretiker erlassen hatten.60 Ob diese älteren gesetzlichen Regeln dabei vom Vandalenkönig verfälscht worden waren – wie der katholische Kleriker Victor von Vita behauptet, der das Edikt in seinem Bericht über die vandalische Christenverfolgung in Nordafrika überliefert61 –, ist letzten Endes nebensächlich, entscheidend ist, dass Hunerich zur Durchsetzung seiner pro-arianischen Politik beanspruchte, in der Tradition römischen Rechts zu stehen. Diese Vereinnahmung der römischen Rechtstradition bestritt auch Victor von Vita nicht grundsätzlich, sondern er warf dem Vandalenkönig lediglich vor, die von christlichen Kaisern „zur Ehre der katholischen Kirche“ (pro honorificentia ecclesiae catholicae) erlassenen Gesetze gegen die – aus Victors Sicht – rechtmäßige Kirche

58 PLRE II, S. 572 f. 59 Die Begriffe ‚arianisches Christentum‘ bzw. ‚Arianismus‘ sind nicht unproblematisch im Gebrauch, da sie zum einen theologische Entwicklungen vereinfachen, die sich über einen längeren Zeitraum abspielten, und zum anderen ‚Kampfbegriffe‘ der Gegenseite sind; vgl. dazu RITTER, Adolf Martin: Art. „Arianismus“, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 3, Berlin/New York 1978, S. 692– 719 und zu historischen Fallstudien auch die Beiträge in Arianism. Roman Heresy and Barbarian Creed, hg. v. Guido M. Berndt und Roland Steinacher, Farnham 2014. Zur Religionspolitik der vandalischen reges HETTINGER, Anette: Migration und Integration: Zu den Beziehungen von Vandalen und Romanen im Norden Afrikas, in: Frühmittelalterliche Studien 35 (2001), S. 121–143; SPIELVOGEL, Jörg: Arianische Vandalen, katholische Römer: die reichspolitische und kulturelle Dimension des christlichen Glaubenskonflikts im spätantiken Nordafrika, in: Klio 87/1 (2005), S. 201–222. 60 Vict. Vit. III,7 (Victor de Vita, Histoire de la persécution Vandale en Afrique, La passion des sept martyrs, Registre des provinces et des cités d’Afrique. Textes établis, traduits et commentés par Serge Lancel, (Collection des Universités de France), Paris 2002; Victor von Vita, Historia persecutionis Africanae provinciae temporum Geiserici et Hunerici regum Wandalorum. Kirchenkampf und Verfolgung unter den Vandalen in Africa. Lateinisch und deutsch, herausgegeben, eingeleitet und übersetzt von Konrad Vössing, (Texte zur Forschung 96), Darmstadt 2011); vgl. dazu HOWE, Tankred: Vandalen, Barbaren und Arianer bei Victor von Vita, (Studien zur Alten Geschichte 7), Frankfurt am Main 2007, S. 262 f.; CONANT, Staying Roman 2012 (wie Anm. 6), S. 45; HETTINGER, Migration und Integration 2001 (wie Anm. 59), S. 138; CASTRITIUS, Vandalen 2007 (wie Anm. 4), S. 127 f. 61 Zur Historia persecutionis des Victor von Vita SCHWARCZ, Andreas: Bedeutung und Textüberlieferung der Historia persecutionis Africanae provinciae des Victor von Vita, in: Historiographie im frühen Mittelalter, (Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 32), hg. v. Anton Scharer und Georg Scheibelreiter, Wien 1994, S. 115–140 sowie die detailreiche Untersuchung von HOWE, Vandalen, Barbaren und Arianer 2007 (wie Anm. 60).

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anzuwenden.62 Die ungerechte Anwendung des grundsätzlich gerechten Rechts beweise, so der bei Victor zugrundeliegende Gedankengang, die tyrannica potestas des Vandalenkönigs.63 Das Fortbestehen römischer Rechtstraditionen lässt sich im vandalischen Nordafrika aber auch unterhalb der Ebene königlicher Macht fassen. In peripheren ländlichen Regionen wurde das Zusammenleben sozialer Gemeinschaften noch am Ende des 5. Jahrhunderts wesentlich durch römisches Recht geregelt, wie die nach ihrem ersten wissenschaftlichen Bearbeiter Émile Albertini benannten ‚Tablettes Albertini‘ verdeutlichen.64 Bei diesen handelt es sich um eine Serie von Schreibtäfelchen aus Zedernholz, die 1928 im Antikenhandel erworben wurden.65 Ihr genauer Fundort ist unbekannt, lässt sich aber in der Region des Djebel Mrata, im heutigen tunesisch-algerischen Grenzgebiet und damit weit im Süden des römischen und vandalischen Nordafrika verorten.66 Die insgesamt 45 erhaltenen Täfelchen weisen durchgehend eine langrechteckige Form mit Längen von 111 bis 260 mm und Breiten von 44 bis 104 mm auf und können 34 Dokumenten zugeordnet werden, wobei in der Regel zwei oder drei Tafeln zu einem Diptychon bzw. Tripdichon verbunden waren. In 29 dieser 34 Dokumente wurden zwischen September 493 und April 496 getätigte Käufe bzw. Verkäufe von Nutzungsrechten an landwirtschaftlichen Anbauflächen vertraglich fixiert, die in den meisten Fällen zu einem Landgut namens fundus Tuletianus gehörten. Als „Herr“ (dominus) des fundus wird ein gewisser Fl. Geminius Catullinus genannt. Als Verkäufer traten Kolonen auf, die in der Regel zu den Bewohnern des fundus gehörten und als Erbpächter über die von ihnen veräußerten Grundstücke verfügten. Auf der Käuferseite traten bei ca. 90% aller Transaktionen die Brüder Geminius Felix und Geminius Cresconianus als Käufer von Grundstücken in Erscheinung,67 was in der Forschung zur nicht vollends überzeugenden Annahme führt, dass die Schreibtafeln Teil ihres Archivs gewesen seien.68 Zur Datierung der einzelnen Kaufverträge wurde neben Tag und

62 Vict. Vit. (wie Anm. 60), III,2. 63 Vict. Vit. (wie Anm. 60), III,2. 64 Edition der Schrifttafeln Tablettes Albertini. Actes privés de l’époque Vandale (Fin du Ve siècle), (Gouvernement Générale de l’Algérie, Direction de l’Intérieur et des Beaux-Arts, Service des Antiquités – Missions Archéologiques), hg. v. Christian Courtois, Louis Leschi, Charles Perrat und Charles Saumagne, Paris 1952. 65 Einen Überblick über ‚technische Daten‘ und Inhalt der Tafeln bieten WEßEL, Hendrik: Das Recht der Tablettes Albertini, (Freiburger Rechtsgeschichtliche Abhandlungen, Neue Folge 40), Berlin 2003, bes. S. 21–88 und Tablettes Albertini hg. v. Courtois, Leschi, Perrat, Saumagne 1952 (wie Anm. 64), S. 3–80; zur Forschungsgeschichte vgl. WEßEL, Recht 2003, bes. S. 15–20. 66 Tablettes Albertini, hg. v. Courtois, Leschi, Perrat, Saumagne, 1952 (wie Anm. 64), S. 189–195. 67 WEßEL, Recht 2003 (wie Anm. 65), S. 25–43. 68 So u. a. WEßEL, Recht 2003 (wie Anm. 65), S. 46–48; wenn man mit Weßel annähme, es habe sich um das gemeinsame Geschäftsarchiv der Geminius-Brüder gehandelt habe, bliebe zu erklären, wie die Kaufverträge von (mindestens) zwei weiteren Grundstückskäufern in das Archiv gelangten. WEßEL, Recht 2003 (wie Anm. 65), S. 48 wischt diesen Punkt mit der wenig überzeugenden Bemerkung beiseite, diese „fallen [. . .] nicht ins Gewicht“, weil es sich nur um Käufe geringen Umfangs

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Monat jeweils das Regierungsjahr des amtierenden vandalischen rex Gunthamund (484–496)69 angegeben.70 Diese Praxis der Datierung nach Herrscherjahren dürfte zwar nicht zuletzt auch pragmatische Gründe haben, kann aber auch als eine Selbstzuordnung zur und grundsätzliche Akzeptanz der politischen Herrschaft des vandalischen Königs seitens der Bewohner des fundus Tuletianus interpretiert werden: als politischen Rahmen ihres (Geschäfts)Lebens sahen und akzeptierten die fundusBewohner die Herrschaft der vandalischen Könige in Karthago; zugleich ist die Angabe des Regierungsjahres zum Zweck der Datierung der einzige in den Tablettes Albertini sichtbare Bezug auf die politische Herrschaft der Vandalen. Im Gegensatz zu dieser politischen Bezugnahme erscheint die in den Verträgen entgegentretende Rechtspraxis als durch und durch römisch geprägt. Rechtshistorische Fragen spielten in der wissenschaftlichen Auswertung der Tablettes Albertini von Beginn an eine zentrale Rolle; zuletzt und bis jetzt am ausführlichsten hat sich Hendrik Weßel mit dem Recht der Tablettes Albertini beschäftigt und eine Reihe von Thesen der älteren Forschung in Frage gestellt.71 Ein zentrales Ergebnis seiner Untersuchung ist, dass die in den Tablettes Albertini entgegentretende Rechts- und Vertragspraxis nahezu ausschließlich in Kontinuität zum römischen Recht stehe.72 Dies beginne beim formalen Aufbau der Kaufverträge, der einem sehr einheitlichen und regelhaft angewandten Formular folge, das „auf nur wenig abgewandelten klassischen Mustern“ beruhe73 und sich strukturell und inhaltlich nur wenig von anderen spätantiken Kaufverträgen, wie den Ravennater Kaufpapyri unterscheide.74 Alles in allem werde Weßel zufolge deutlich, dass die Verträge der Tablettes Albertini

handle. Dagegen könne es sich CONANT, Jonathan: Public administration, private individuals and the written word in Late Antique North Africa, c. 284–700, in: Documentary Culture and the Laity in the Early Middle Ages, hg. v. Warren Brown, Marios Costambeys, Matthew Innes und Adam Kosto, Cambridge 2013, S. 36–62, hier S. 52 zufolge um die „remains either of an estate archive or of the private dossier of Geminius Felix and his family“ gehandelt haben; ähnlich CONANT, Jonathan: Literacy and Private Documentation in Vandal North Africa: The Case of the Albertini Tablets, in: Vandals, Romans and Berbers: New Perspectives on Late Antique North Africa, hg. v. Andrew H. Merrills, Aldershot/Burlington 2004, S. 199–224, hier S. 202. 69 PLRE II, S. 525 f. 70 Zur Datierungsformel der Verträge WEßEL, Recht 2003 (wie Anm. 65), S. 76–88. Zu Datierungssystemen im vandalischen Nordafrika CONANT, Staying Roman 2012 (wie Anm. 6), S. 150–156; CLOVER, Frank M.: Felix Karthago, in: Dumbarton Oaks Papers 40 (1986), S. 1–16. 71 WEßEL, Recht 2003 (wie Anm. 65), der sich u. a. kritisch mit der rechtsgeschichtlichen Auswertung der Tablettes Albertini auseinandersetzt, die bereits bei der Edition der Tafel eine zentrale Rolle spielte, vgl. Tablettes Albertini hg. v. Courtois, Leschi, Perrat, Saumagne, 1952 (wie Anm. 64), S. 81–187. 72 So im Wesentlichen das Fazit von WEßEL, Recht 2003 (wie Anm. 65), bes. S. 279–282. 73 WEßEL, Recht 2003 (wie Anm. 65), S. 67. 74 WEßEL, Recht 2003 (wie Anm. 65), S. 60–73; ähnlich auch KOSSARZ, Elisabeth: Zur Vertragspraxis der Kaufpreiszahlung in den Tablettes Albertini und in den Ravennater Kaufpapyri, in: Revue Internationale des droits de l’Antiquité 52 (2005), S. 207–220, hier S. 210.

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„unbestreitbar einem römischen Formulartyp“ folgen.75 Vor allem aber lasse sich die den Vertragsbestimmungen in den Tablettes Albertini zugrundeliegende Rechtspraxis ebenfalls aus der römischen Rechtstradition herleiten, wie beispielsweise in den Passagen zur Beschreibung und Abgrenzung der verkauften Grundstücke (auch wenn die Nennung der Anrainer nach Himmelsrichtungen Parallelen nicht im römischen Westen sondern in Ägypten findet),76 zur Übergabe und Übereignung der Kaufsache77 oder zur Eviktionsstipulation deutlich werde.78 Dass die in den Tablettes Albertini dokumentierten Landverkäufe grundsätzlich nach den Regeln des römischen Rechts abgewickelt wurden, schließt natürlich nicht aus, dass in einzelnen Vertragsbestandteilen von der klassischen, kaiserzeitlichen Rechtspraxis abweichende Regelungen zu beobachten sind. Dabei handelt sich um zeittypische, für die spätantike Rechtspraxis charakteristische Entwicklungen, nicht aber um eine generelle Abkehr von der römischen Rechtstradition. Dies gilt z. B. für jene Passagen der Verträge, die Käufer von Grundstücken vor späteren Nachforderungen schützen sollten, indem detailliert festgestellt wurde, dass der Verkäufer den vollen Kaufpreis erhalten hat und keine Zahlungen mehr offen stehen.79 Eine ähnliche spätantike Entwicklung dürfte auch hinter den in den Verträgen zu findenden dolus-malus-Klauseln80 und den Schadensersatzregelungen stehen.81 Umstritten ist in der Forschung dagegen die Frage, ob sich das den Verträgen der Tablettes Albertini zugrundeliegende Prinzip der Übereignung des Kaufgegenstandes vom klassischen römischen Recht unterscheidet. Während Weßel die Position vertrat, dass in den Tablettes Albertini eine charakteristische spätantike Rechtspraxis zu erkennen sei, nach der die Zahlung des Kaufpreises Voraussetzung des Eigentumserwerbs war,82 bestritt Elisabeth Kossarz, dass sich eine solche Veränderung der Eigentumsübertragung aus den Tablettes Albertini ablesen lasse.83 Einflüsse nicht-römischer Rechtsvorstellungen lassen sich dagegen in den Tablettes Albertini an keiner Stelle mit Sicherheit ausmachen. Abweichungen von der üblichen römischen Rechtspraxis sind Weßel zufolge allenfalls im Bereich des Familienrechts zu erkennen. Auffällig ist hier, dass die in den Kaufverträgen auftretenden Ehepaare eine

75 WEßEL, Recht 2003 (wie Anm. 65), S. 71. Nebenbei bemerkt verdeutliche WEßEL, Recht 2003 (wie Anm. 65), S. 24 zufolge die weitgehend korrekte sprachliche Umsetzung der Verträge auch, dass Latein nach wie vor die gängige Sprache an der Peripherie des vandalischen Herrschaftsraumes war; zur lateinischen Sprache im spätantiken Nordafrika s. auch ADAMS, James N.: The Regional Diversification of Latin, 200 BC – AD 600, Cambridge 2007, S. 516–576, S. 642–651. 76 WEßEL, Recht 2003 (wie Anm. 65), S. 136–141. 77 WEßEL, Recht 2003 (wie Anm. 65), S. 146–154. 78 WEßEL, Recht 2003 (wie Anm. 65), S. 176–222. 79 WEßEL, Recht 2003 (wie Anm. 65), S. 143; KOSSARZ, Vertragspraxis 2005 (wie Anm. 74), S. 219. 80 WEßEL, Recht 2003 (wie Anm. 65), S. 201–204. 81 WEßEL, Recht 2003 (wie Anm. 65), S. 204–209. 82 WEßEL, Recht 2003 (wie Anm. 65), bes. S. 145 und S. 146–154. 83 KOSSARZ, Vertragspraxis 2005 (wie Anm. 74).

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umfassende und offenbar gleichberechtigte Gütergemeinschaft bildeten. Frauen haben daher im Verhältnis zu ihren Ehegatten eine im Vergleich zur sonst üblichen römischen Rechtslage besonders starke eigentumsrechtliche Stellung.84 Weßel möchte als Ursprung dieser ungewöhnlichen güterrechtlichen Konstellation „berberische Rechtsvorstellungen“ in Betracht ziehen,85 sieht aber an anderer Stelle seiner Untersuchung schon selbst das Dilemma, dass das Recht der indigenen, „berberischen“ Bevölkerung Nordafrikas für die Zeit der römischen Antike in jeder Hinsicht unbekannt ist und – was zusätzlich zu betonen ist – auch von Weßel nur aus ethnologischen Fallbeispielen in die Spätantike zurückprojiziert wird, so dass man leicht darauf verfallen könne, jede nicht unmittelbar erklärbare Abweichung von der römischen Rechtspraxis einer berberischen Tradition zuzuschreiben.86 Festzuhalten bleibt, dass die güterrechtliche Position verheirateter Frauen von der üblichen römischen Praxis abwich; ob es sich dabei um eine nordafrikanische oder eine rein chronologische Sonderentwicklung handelte und worauf diese zurückzuführen wäre, sei an dieser Stelle offen gelassen. Ein mit Blick auf die Frage, wie römisches Recht das Leben nach-römischer Gemeinschaften strukturierte, besonders interessanter Aspekt ist die in den Tablettes Albertini mehrfach auftauchende Bezeichnung verkaufter Grundstücke als culturae Mancianae, die darauf verweist, dass sich die Bewirtschaftung der verkauften Parzellen an den Regeln der lex Manciana orientierte.87 Bei der lex Manciana handelt es sich um eine auf nordafrikanischen Landgütern weit verbreitete Pachtordnung, die die Abgaben- und Dienstpflichten von Pächtern regelte.88 Der genaue Wortlaut

84 WEßEL, Recht 2003 (wie Anm. 65), S. 265–278. 85 WEßEL, Recht 2003 (wie Anm. 65), S. 25. 86 WEßEL, Recht 2003 (wie Anm. 65), S. 24 f. 87 TA IV 4; IX 4; X 2; XI 3; XII 5; XIII 3; XIV 2; XVII 3; XIX 3 f.; XXIII 3. TA XXIV 3 f. (Tablettes Albertini. Actes privés de l’époque Vandale (Fin du Ve siècle), (Gouvernement Générale de l’Algérie, Direction de l’Intérieur et des Beaux-Arts, Service des Antiquités – Missions Archéologiques), hg. v. Christian Courtois, Louis Leschi, Charles Perrat und Charles Saumagne, Paris 1952) hat eine Verschreibung der üblichen Passage zu „ex culturis suis mantianis“; die Spezifizierung als „[ex culturis] suis manicianis“ ist zudem in TA XX 2 f. offenkundig und in XXII 2 (wie Anm. 876) plausibel zu ergänzen. 88 Zur lex Manciana vgl. im Folgenden FLACH, Dieter: Inschriftenuntersuchungen zum römischen Kolonat in Nordafrika, in: Chiron 8 (1978), S. 441–492; FLACH, Dieter: Die Pachtbedingungen der Kolonen und die Verwaltung der kaiserlichen Güter in Nordafrika, in: Aufstieg und Niedergang der Römischen Welt. Geschichte und Kultur Roms im Spiegel der neueren Forschung II 10, 2: Principat. Politische Geschichte (Provinzen und Randvölker: Afrika mit Ägypten [Forts.]), hg. v. Hildegard Temporini, Berlin/New York 1982, S. 427–473; KEHOE, Dennis: Lease Regulations for Imperial Estates in North Africa. Part I, in: Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik 56 (1984), S. 193–219; KEHOE, Dennis: Lease Regulations for Imperial Estates in North Africa. Part II, in: Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik 59 (1985), S. 151–172; KEHOE, The Economics of Agriculture on Roman Imperial Estates in North Africa, (Hypomnemata. Untersuchungen zur Antike und ihrem Nachleben 89), Göttingen 1988; SCHUBERT, Charlotte: Die kaiserliche Ackergesetzgebung in Nordafrika von Trajan bis Justinian, in: Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik 167 (2008), S. 251–275.

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der lex Manciana ist nicht überliefert, ihr Inhalt lässt sich aber aus mehreren Inschriften erschließen, die während des 2. Jahrhunderts und Anfang des 3. Jahrhunderts auf verschiedenen kaiserlichen Landgütern im Tal des Bagrades (der heutigen Medjerda), im Norden des heutigen Tunesien, aufgestellt worden waren.89 Der Ursprung der lex Manciana ist wohl im privatrechtlichen Bereich zu suchen: es wird üblicherweise angenommen, dass die lex Manciana auf ein Regelwerk zurückgeht, das in Nordafrika zuerst auf den Gütern eines privaten Besitzers eingeführt und später auf den Landgütern in kaiserlichem Besitz übernommen wurde.90 Die lex Manciana wurde damit zur Grundlage der pachtrechtlichen Beziehungen zwischen den als Kleinpächter das Land bewirtschaftenden coloni und den faktisch als Agrarunternehmer agierenden conductores, die als Großpächter ganze Landgüter aus kaiserlichem Besitz gepachtet hatten. Letztere hatten damit eine Art Mittlerstellung zwischen den coloni und der kaiserlichen Verwaltung inne.91 Eine Besonderheit ist, dass in Pachtregularien außerhalb Nordafrikas keine Hinweise auf die lex Manciana auftauchen, so dass anzunehmen ist, dass es sich um eine spezifisch nordafrikanische Pachtordnung handelte.92 In der Forschung besteht über die zentralen Punkte der pachtrechtlichen Bestimmungen der lex Manciana grundsätzlich Konsens, auch wenn mit Blick auf Details nicht zuletzt wegen des teils stark fragmentarischen Zustands der Inschriften durchaus unterschiedliche Positionen vertreten werden.93 Erstens legte die lex Manciana die Höhe der von den coloni zu erbringenden Abgaben auf ein Drittel des Ernteertrages fest und regelte das Verfahren, nach dem der Gesamtertrag und der davon abzuführende Pachtbetrag ermittelt werden sollten. Zweitens definierte die lex Manciana die Art der Dienstpflichten und die Anzahl der Arbeitstage, die die coloni auf den Feldern des dominus des Landgutes zu leisten hatten. Drittens sicherte die lex Manciana

89 Hauptquelle ist die Inschrift CIL VIII 25902 aus Henchir Mettich, die die Pachtbedingungen auf einem Landgut namens „Villa Magna Variana sive Mappalia Siga“ regelte; zudem die Inschriften CIL VIII 25943 aus Aïn el-Djemala, CIL VIII 26416 aus Aïn Wassel und CIL VIII 10570 aus Suk elKhmis. 90 FLACH, Pachtbedingungen 1982 (wie Anm. 88), S. 443–456; KEHOE, Lease Regulations I 1984 (wie Anm. 88), S. 201–207; KEHOE, Economics of Agriculture 1988 (wie Anm. 88), S. 48–55. 91 KEHOE, Economics of Agriculture 1988 (wie Anm. 88), bes. S. 47 f. 92 Dazu und zu den Unterschieden zwischen lex Manciana von der späteren lex Hadriana des rudibus agris SCHOLL, Reinhold / SCHUBERT, Charlotte: Lex Hadriana de agris rudibus und Lex Manciana, in: Archiv für Papyrusforschung 50 (2004), S. 79–84 und SCHUBERT, Agrargesetzgebung 2008 (wie Anm. 88), S. 260–266, S. 267; s. auch FLACH, Pachtbedingungen 1982 (wie Anm. 88), S. 443–456; KEHOE, Lease Regulations II 1985 (wie Anm. 88), S. 158, S. 166–170. Kritisch zu sehen ist WEßEL, Recht 2003 (wie Anm. 65), S. 106 f. der die lex Hadriana als Verallgemeinerung spezifisch nordafrikanischer Bestimmungen der lex Manciana bewertet. 93 Zum folgenden vgl. FLACH, Pachtbedingungen 1982 (wie Anm. 88), S. 430–443; KEHOE, Lease Regulations II 1985 (wie Anm. 88), S. 156–158; KEHOE, Economics of Agriculture 1988 (wie Anm. 88), S. 39–47; WEßEL, Recht 2003 (wie Anm. 65), S. 89–107.

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den coloni ein dauerhaftes Nutzungsrecht an ihren Grundstücken einschließlich aller durch die Bewirtschaftung erzielten Wertsteigerungen zu. Bedingung hierfür war, dass Grundstücke kontinuierlich bewirtschaftet wurden; aufgegebene Anbauflächen konnten vom conductor bzw. seinem Verwalter (vilicus) nach einem festgelegten Verfahren eingezogen und neu vergeben werden. Darüber hinaus – und dieser Aspekt wird später noch relevant sein – sicherte die lex Manciana den coloni das Recht zu, ihre Grundstücke zu vererben;94 für den Fall, dass ein Grundstück als Sicherheit beliehen worden sein sollte, sicherte die lex Manciana darüber hinaus die rechtlichen Ansprüche der Erben.95 Besonders an diesen nutzungs- und besitzrechtlichen Bestimmungen wird deutlich, dass die lex Manciana darauf abzielte, die Bewirtschaftung landwirtschaftlicher Nutzflächen auf nordafrikanischen Landgütern zu verstetigen. Langfristig bewirkten die den coloni durch die lex Manciana eingeräumten Nutzungsrechte, dass sich „die Rechtsstellung der Kolonen, sieht man von der Pflicht zu Pachtzinszahlungen und Arbeitsdiensten ab, derjenigen von Eigentümern weitgehend angenähert“ hatte.96 Die Tablettes Albertini wiederum zeigen den ‚Endpunkt‘ der Verdauerung der Nutzungsrechte: Die Vertragstexte enthalten keinen Hinweis, dass die coloni des fundus Tuletianus bei Grundstücksgeschäften in irgendeiner Weise die Zustimmung des dominus Flavius Geminius Catullinus einholten, sie agierten faktisch wie Eigentümer.97 Dass die lex Manciana auch noch im späten 5. Jahrhundert die Rechtsgrundlage für die Bewirtschaftung jener in den Tablettes Albertini als culturae Mancianae bezeichneten Anbaufläche bildete, wird in der Forschung als Ausdruck des Erfolgs dieser Pachtordnung bewertet; die Pächter, die ihr Land nach den Regeln der lex Manciana bewirtschaften konnten, entwickelten sich zu einer Art eigenem Stand innerhalb der nordafrikanischen agrarischen Gesellschaft.98 Zwar lässt sich nicht mit Sicherheit entscheiden, ob die lex Manciana am Ende des 5. Jahrhunderts noch immer in ihrer in den Inschriften des 2. Jahrhunderts greifbaren Form angewandt

94 Im Detail werden die erbrechtlichen Bestimmungen aber unterschiedlich bewertet: während FLACH, Inschriftenuntersuchungen 1978 (wie Anm. 88), S. 456 annahm, dass nur leibliche Kinder aus einer rechtmäßigen Ehe erbberechtigt waren, meint WEßEL, Recht 2003 (wie Anm. 65), S. 95 f., dass sowohl leibliche Kinder als auch andere, testamentarisch bedachte Personen erbberechtigt gewesen seien; ähnlich KEHOE, Lease Regulations II 1985 (wie Anm. 88), S. 156 f. 95 FLACH, Inschriftenuntersuchungen 1978 (wie Anm. 88), S. 456 f.; FLACH, Pachtbedingungen 1982 (wie Anm. 88), S. 439 f.; WEßEL, Recht 2003 (wie Anm. 65), S. 96 f. 96 WEßEL, Recht 2003 (wie Anm. 65), S. 114. 97 WEßEL, Recht 2003 (wie Anm. 65), S. 113–116, S. 119–121. 98 FLACH, Pachtbedingungen 1982 (wie Anm. 88), S. 447–449; KEHOE, Lease Regulations II 1985 (wie Anm. 88), S. 158; VON RUMMEL, Philipp: Settlement and Taxes: The Vandals in North Africa, in: Between Taxation and Rent. Fiscal Problems from Late Antiquity to Early Middle Ages – Entre el Impuesto y la Renta. Problemas de la fiscalidad tardoantigua y altomedieval, hg. v. Pablo C. Díaz und Iñaki Martín Viso, Bari 2011, S. 23–37, hier S. 35; vgl. auch KEHOE, Lease Regulations II 1985 (wie Anm. 88), S. 158; SCHUBERT, Agrargesetzgebung 2005 (wie Anm. 88), S. 264 f.

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wurde oder ob es in der Praxis im Verlauf eines letztlich fast 400jährigen Rezeptionsprozesses – der auch Zeiten nachhaltiger fiskalrechtlicher und politischer Umbrüche überspannte – zu Modifizierungen der Pachtbedingungen kam. Vor dem Hintergrund der in den Tablettes Albertini aufscheinenden Besitzstrukturen auf dem fundus Tulentianus dürfte der durch die lex Manciana definierte Rechtsstatus der Grundstücke aber vor allem in zwei Punkten wesentlichen Einfluss auf die soziale Gemeinschaft der fundus-Bewohner gehabt haben und für diese von Interesse gewesen sein. Der erste betrifft die mit dem Land verbundenen Abgaben- und Dienstpflichten und damit ein Kernthema der lex Manciana. Auch wenn der Historiograph Prokop, der in den 530er Jahren die byzantinische Eroberung Nordafrikas zeitweise selbst miterlebte, aus der Rückschau des 6. Jahrhunderts behauptete, die Vandalen hätten nach der Einnahme Karthagos alle Steuerunterlagen vernichtet,99 lässt sich zeigen, dass die Steuer- und Abgabenerhebung auch im vandalischen regnum weiter funktionierte und sich an römischen Strukturen orientierte.100 Der schon zu Wort gekommene Victor von Vita beklagt an einer anderen Stelle seiner Schrift, dass infolge der verschärften Kirchenpolitik des Vandalenkönigs Geiserich101 selbst die katholischen Priester Opfer von Verleumdung und Nachstellung geworden seien, die sich „in den Regionen aufhielten, die dem Königspalast Abgaben zahlten“ („in his regionibus versabantur, quae regis palatio tributa pendebant“).102 Bevor sich Fulgentius, der spätere Bischof der in der Byzacena gelegenen Stadt Ruspe,103 mit asketischer Lebensweise und stramm katholischer (d. h. nizänischer) Haltung den Ruf eines Heiligen erarbeitete, diente er als procurator des vandalischen Fiskus.104 Dass gerade in den ländlichen Regionen Nordafrikas die auf die römische Finanzverwaltung zurückgehenden Abgabensysteme unter der politischen Herrschaft der Vandalen nach wie vor funktionierten, verdeutlichen besonders Ostrakafunde. Die Ostraka von Bir Trouch beispielsweise, die in der Region des

99 Prok., BV (wie Anm. 7), II [IV],8,25. 100 MERRILLS/MILES, Vandals 2010 (wie Anm. 4), S. 162–168; vgl. auch VON RUMMEL, Settlement and Taxes 2011 (wie Anm. 98); MAIER, Gideon: Amtsträger und Herrscher in der Romania Gothica. Vergleichende Untersuchungen zu den Institutionen der ostgermanischen Völkerwanderungsreiche, (Historia Einzelschriften 181), Stuttgart 2005, S. 306 f. Auch Prokop spricht an anderer Stelle, nämlich in der Vorgeschichte seinen Vandalenkrieges, von den Abgaben, die die Vandalen in Nordafrika erhoben: Prok., BV (wie Anm. 7), I [III],5,11–17. 101 PLRE II, S. 496–499. 102 Vict. Vit. (wie Anm. 60), I,22; Victor bezieht sich damit auf jene römischen Kleriker, die nicht in den direkt von den Vandalen in Besitz genommenen und damit steuerbefreiten Gebieten – den sogenannten „sortes Vandalorum“ – lebten (in denen die katholische, nicht-arianische Kirche durch die vandalischen Könige massiven Restriktionen unterworfen war); zu den sortes Vandalorum s. MERRILLS/MILES, Vandals 2010 (wie Anm. 4), S. 66–70; VON RUMMEL, Settlement and Taxes 2011 (wie Anm. 98), S. 24–28. 103 PLRE II, S. 487 f. 104 Vita Fulg., c. 1 und 2 (Vie de Saint Fulgence de Ruspe. Texte etabli et traduit par G.-C. Lapeyre, Paris 1929).

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Wadi Mitta, in den östlichen Ausläufern des Aurès-Gebirges im heutigen Ostalgerien gefunden wurden, stammen wie die Tablettes Albertini aus der Regierungszeit des vandalischen rex Gunthamund und quittieren in formularhafter Weise die Ablieferung von Getreide an einem Abgabeort.105 In den acht Ostraka von Maknassy, die aus der Bergregion im Südwesten des heutigen Tunesien und damit ungefähr aus derselben Gegend wie die Tablettes Albertini stammen, wurden Lieferungen von Fleisch und Wein aufgelistet; in zumindest einem Ostrakon ist noch die Datierung nach Regierungsjahren eines nicht mehr identifizierbaren Königs zu lesen (Kal(endae) Mai (ae) ano (sic!) – b – - regis), so dass mindestens dieses, aller Wahrscheinlichkeit nach aber auch die anderen, inhaltlich sehr ähnlichen Ostraka in vandalische Zeit zu datieren sind.106 Auch bei den vier nicht genau datierbaren Ostraka von Henchir el Abiod scheint es sich ebenfalls um Quittungen mit Bezug zur Landwirtschaft zu handeln.107 Diese im Rahmen einer auch noch im vandalischen regnum des 5. Jahrhunderts verbreiteten Verwaltungsschriftkultur entstandenen Dokumente belegen ein geregeltes und funktionierendes Abgabensystem selbst in von Karthago aus gesehen peripheren Regionen.108 Mit Blick auf die Tablettes Albertini lag es vor diesem Hintergrund nahe, beim Kauf landwirtschaftlicher Anbauflächen mit diesen verbundene Abgabenpflichten zu dokumentieren, erst recht, wenn es sich um solche vergleichsweise günstigen Verpflichtungen handelte, wie sie die lex Manciana einräumte. Dass Abgaben- und Dienstpflichten leicht zum Ausgangspunkt von Konflikten werden konnten, wird schon im späten 2. Jahrhundert deutlich, wenn Konduktoren von Landgütern versuchten, höhere Leistungen der Kolonen zu erzwingen.109 Bei den in den Tablettes Albertini dokumentierten Geschäften dürfte es demzufolge im Interesse des Käufers gelegen haben, den mancianischen Rechtsstatus der erworbenen Nutzungsrechte festzuhalten, um seine fiskalischen Interessen zu schützen.

105 BONNAL, J.-P. / FEVRIER, P.-A.: Ostraka de la Région de Bir Trouch, in: Bulletin d’Archéologie Algérienne 2 (1966–1967), S. 239–249; MODÉRAN, Yves: Documents vandales: Les Tablettes Albertini et les Ostraka de Bir Trouch, in: Algérie Antique. Catalogue de l’exposition 26 avril au 17 août 2003, Musée de l’Arles et de la Provence antiques, hg. v. Claudes Sintes und Ymouna Rebahi, Arles 2003, S. 248–257, hier S. 252 f., S. 256 f.; HATTLER, Claus: Kat. 167 – „Beschriftete Scherben“, in: Erben des Imperiums in Nordafrika. Das Königreich der Vandalen. Ausstellungskatalog Große Landesausstellung Baden-Württemberg 2009 im Badischen Landesmuseum Karlsruhe, 24. Oktober 2009 bis 21. Februar 2010, hg. v. Claus Hattler (Redaktion), Mainz 2009, S. 253–254; MERRILLS/MILES, Vandals 2010 (wie Anm. 4), S. 161–162. 106 BCTH 1912, S. cclviii–cclx. 107 BCTH 1908, S. ccxlviii–ccxlix. 108 Zur administrativen Schriftlichkeit im vandalischen Nordafrika CONANT, Written Word 2013 (wie Anm. 68); zur Fiskalverwaltung im vandalischen regnum s. oben, Anm. 100. 109 Dokumentiert in der Inschrift aus Suk el-Khmis (CIL VIII 10570), s. dazu FLACH, Inschriftenuntersuchungen 1978 (wie Anm. 88), S. 470–477; KEHOE, Lease Regulations I 1984 (wie Anm. 88), S. 196 f.

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Der zweite Punkt, in dem der mancianische Rechtsstatus von Bedeutung war, betrifft die Rechtsbeziehungen zwischen Käufern und Verkäufern. Dazu ist es sinnvoll, sich die in den Tablettes Albertini erkennbaren Besitzstrukturen kurz zu vergegenwärtigen: Als Verkäufer traten coloni des fundus Tuletianus auf. Diese agierten zwar wie Eigentümer des Landes, waren dies de iure aber nicht, denn der dominus des fundus Tuletianus war ein gewisser Flavius Geminius Catullianus, auf den in den Kaufverträgen regelhaft verwiesen wurde. Ob Catullianus im juristischen Sinne Eigentümer des fundus war oder über diesen als emphyteuticarius verfügte, ist nicht mehr mit Sicherheit zu entscheiden, für die Grundstücksgeschäfte auf dem fundus letztlich aber auch zweitrangig;110 im ersten Szenario hätten die coloni des fundus in einer direkten pachtrechtlichen Beziehung zu Catullianus gestanden, im zweiten wären sie diesem untergeordnete Kleinpächter gewesen. Wie auch immer, diese eigentumsrechtliche Konstellation bedeutete letzten Endes, dass die coloni – auch wenn sie sich im Lauf der Zeit quasi zu Erbpächtern mit einem eigentümerähnlichen Besitzanspruch an den von ihnen bewirtschafteten Grundstücken gewandelt hatten – nicht Land des fundus Tuletianus veräußerten, sondern Nutzungsrechte an zum fundus gehörenden Grundstücken. Die Rechtsgrundlage für diese Geschäfte stellte die lex Manciana dar, durch die die coloni im Lauf der Zeit weitgehende Verfügungsrechte an den von ihnen bewirtschafteten Grundstücken erlangt hatten.111 Der ausdrückliche Verweis auf den mancianischen Rechtsstatus eines Grundstücks war auch in diesem Punkt wieder in erster Linie für den Käufer relevant, der damit Rechtssicherheit erlangte.112 Indem vertraglich fixiert wurde, dass es sich bei einem Grundstück um eine cultura Manciana handelte, war sichergestellt, dass der Verkäufer auch tatsächlich berechtigt war, die Nutzungsrechte am Grundstück zu verkaufen. Warum nur Geminius Felix als Käufer den mancianischen Status der von ihm erworbenen Grundstücke dokumentieren ließ, bleibt aber letzten Endes ebenso offen, wie die Frage, ob nicht explizit als cultura Manciana gekennzeichnete Grundstücke ebenfalls unter die lex Manciana fielen oder einen anderen Rechtsstatus hatten.113 Denkbar wäre, dass Geminius Felix ein vorsichtiger Käufer und daher bestrebt war, sich möglichst umfassend abzusichern.

110 WEßEL, Recht 2003 (wie Anm. 65), S. 109–113. 111 WEßEL, Recht 2003 (wie Anm. 65), S. 119–121; beispielsweise gibt es in den Kaufverträgen keine Hinweise, dass der dominus Catullianus bei einem Verkauf zustimmen musste. 112 Dazu passt die Struktur der Verträge, die WEßEL, Recht 2003 (wie Anm. 65), S. 61–64 zufolge weniger Kaufverträge im eigentlichen Sinn, als vielmehr „Quittungen“ darstellten, die für den Käufer die ordnungsgemäße Abwicklung des Geschäftes belegten. 113 WEßEL, Recht 2003 (wie Anm. 65), S. 108 f. ist der Ansicht, dass alle Grundstücke von gleicher rechtlicher Qualität gewesen seien.

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3 Institutionen Die Tablettes Albertini geben nicht nur Einblicke in die Rechtskultur im vandalischen regnum des ausgehenden 5. Jahrhunderts, sondern auch in soziale und administrative Strukturen der hinter den Vertragsabschlüssen stehenden Gemeinschaft.114 So wird beispielsweise Flavius Geminius Catullianus, der dominus des fundus Tuletianus, in den Vertragstexten durchgehend als flamen perpetuus apostrophiert. Diese ursprünglich im Kontext des römischen Kaiserkultes zu verortende Funktion ist im vandalischen Nordafrika auch in zwei Grabinschriften aus der Basilica IV von Ammaedara belegt. In der ersten tritt ein gewisser Astius Vindicianus, v(ir) c(larissimus) et flamen p(er)p(etuus) entgegen,115 aufschlussreich ist aber vor allem die zweite Inschrift, nicht nur wegen der taggenauen, auf die Regierungsjahre des vandalischen rex Hilderich bezugnehmenden Datumsangabe (VIII / Id(us) Decem/bres anno / IIII d(omini) n(ostri) regis / Ildirix = 6. Dezember 526), sondern auch, weil der Verstorbene Astius Muste{te}lus als flamen p(er)p(etuus) C(h)risti/anus bezeichnet wird.116 Die Inschrift spiegelt damit die in konstantinischer Zeit infolge des Bedeutungsgewinns des Christentums einsetzende Neubestimmung des Kaiserkultes wider, bei der, vereinfacht gesagt, die Ehrerweisung und Loyalitätsbezeugung gegenüber dem römischen Kaiser in den Vordergrund rückte, die im paganen Kontext obligatorischen kultischen Handlungen dagegen obsolet wurden. Zugespitzt formuliert: Indem der Kult seine kultische Dimension verlor, konnten seine Priesterämter zu profanen, öffentlichen Funktionen und damit in das christliche Imperium integriert werden.117 Diese Neuinterpretation wurde zur Basis einer bis ins 6. Jahrhundert reichenden Kontinuität des säkularisierten Kaiserkultes, der sich gerade in

114 Zur Entwicklung der ländlichen Gesellschaften im spätantiken Nordafrika s. jetzt DOSSEY, Peasant and Empire 2010 (wie Anm. 1); im weiter gesteckten Rahmen des Imperium Romanum (auch mit nordafrikanischen Fallbeispielen) GREY, Cam: Constructing Communities in the Late Roman Countryside, Cambridge 2011. 115 CIL VIII 450 und CIL VIII 11528: „Astius Vindicianus / v(ir) c(larissimus) et fl(amen) p(er)p(etuus)“. 116 CIL VIII 10516: „Astius Muste/{te}lus fl(amen) p(er)p(etuus) C(h)risti/anus vixit an/nis LXXII quievit VIII / Id(us) Decem/bres anno / IIII d(omini) n(ostri) regis / Ildirix“. 117 Zum spätantiken Kaiserkult TROMBLEY, Frank M.: The Imperial Cult in Late Roman Religion (ca. A.D. 244–395): Observations on Epigraphy, in: Spätantiker Staat und religiöser Konflikt. Imperiale und lokale Verwaltung und die Gewalt gegen Heiligtümer (Millennium-Studien 34), hg. v. Johannes Hahn, Berlin/New York 2011, S. 19–54; FILIPPINI, Alister: Fossili e contraddizioni dell’ „èra costantiniana“: I dignitari del culto imperiale nella Tarda Antichità e il loro ruolo nelle „riforme religiose“ di Massimino Daia e Giuliano, in: Kaiserkult in den Provinzen des Römischen Reiches. Organisation, Kommunikation und Repräsentation, hg. v. Anne Kolb und Marco Vitale, Berlin/Boston 2016, S. 409–475; RASCHLE, Christian R.: Bis wann bleibt der Kaiser „Kult“? Die Verehrung des Kaiserbildes als Akt der Zivilreligion in der Spätantike, in: Kaiserkult in den Provinzen 2016 (wie Anm. 117), S. 477–496. Ähnlich grundsätzlich auch schon KORNEMANN, Ernst: Zur Geschichte der antiken Herrscherkulte, in: Klio 1 (1901), S. 51–146, hier S. 136–142, der mit seiner pessimistischen Sicht auf das christliche Imperium der Spätantike den spätantiken Kaiserkult aber in erster Linie als „Volksbelustigung“ betrachtete (S. 138).

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den nordafrikanischen Provinzen des 4. Jahrhunderts als lebendige Institution erwies,118 deren Amtsträger – zu denen neben den flamines auch noch die sacerdotales provinciae gehörten119 – aus den lokalen sozialen Eliten stammten und über ihre Funktion ein hohes Maß an öffentlicher Präsenz generierten.120 Welche Aufgaben die flamines aber im Kontext des vandalischen regnum übernahmen, wird in der Forschung unterschiedlich eingeschätzt.121 Clover hält es für möglich, dass die Funktion in einer Zeit relativ entspannter Beziehungen zwischen Imperium Romanum und regnum Vandalorum sich weiterhin auf den römischen Kaiser bezog; denkbar sei, dass „RomanoAfrican aristocrats saluted the emperor instead of the Vandal kings at the last meetings of the provincial council at Carthage“; die Familie der Astii in Ammaedara und Catullinus, der dominus des fundus Tuletianus seien demzufolge, so Clover, „the final carriers of an old tradition“ gewesen.122 In eine ähnliche Richtung gehen Merrills und Miles, die den spätantiken Kaiserkult als „manifestation of civic pride“ sehen, die von den vandalischen Königen toleriert worden sei „as a way of creating a link between themselves and the Romano-African elite“.123 Dagegen nimmt Conant an, dass die vandalischen reges den Herrscherkult vereinnahmten und auf ihre Person projizierten; „the Vandal kings probably [. . .] redirected towards themselves the (now secularized) cultic veneration that had traditionally been directed to the Roman emperor“.124 Folgt man Conant, ließe sich die Übernahme der Funktion eines flamen perpetuus durch den zumindest dem Namen nach Römer Flavius Geminius Catullianus als Ausdruck seiner Loyalität zur vandalischen Herrschaft bzw. zum vandalischen Herrscherhaus lesen. In jedem der beiden Szenarien aber funktionierte die Ansprache als flamen perpetuus als ein soziales Distinktionsmerkmal, mit dem unter Rückgriff auf Strukturen römischen öffentlichen Lebens die gesellschaftliche Stellung des Catullinus umrissen und dieser aus der Gemeinschaft der Bewohner des fundus Tuletianus herausgehoben wurde.

118 TROMBLEY, Imperial Cult 2011 (wie Anm. 117), S. 38–39. 119 Nach AE 1972, 691 hatte in Ammaedara mit Astius Dinamius bezeichnenderweise ein weiteres Familienmitglied der Astii die Funktion eines [sacer]/dotalis provi[nciae] / Afric(a)e inne. 120 Vgl. dazu HALSALL, Barbarian Migrations 2007 (wie Anm. 18), S. 326 f. 121 Dazu CLOVER, Frank M.: Emperor Worship in Vandal Africa, in: Romanitas – Christianitas. Untersuchungen zur Geschichte und Literatur der römischen Kaiserzeit. Johannes Straub zum 70. Geburtstag am 18. Oktober 1982 gewidmet, hg. v. Gerhardt Wirth unter Mitwirkung von Karl-Heinz Schwarte und Johannes Heinrichs, Berlin/New York 1982, S. 661–674; Clover, Frank M.: The Symbiosis of Romans and Vandals in Africa, in: Das Reich und die Barbaren, (Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 29), hg. v. Evangelos K. Chrysos und Andreas Schwarcz, Wien/ Köln 1989, S. 57–73, hier S. 60 f.; MERRILLS/MILES, Vandals 2010 (wie Anm. 4), S. 212–213. 122 CLOVER, Emperor Worship 1982 (wie Anm. 121), S. 673–674; ähnlich KOTULA, Tadeusz: Zur Frage des Verfalls der römischen Ordnung in Nordafrika, in: Klio 60/2 (1978), S. 511–515, der im sacerdotalis provinciae Africae Astius Dinamius (s. oben, Anm. 119) ein „eindrucksvolles Relikt der Verehrung der göttlichen Herrscher des Imperiums“ sah. 123 MERRILLS/MILES, Vandals 2010 (wie Anm. 4), S. 213. 124 CONANT, Staying Roman 2012 (wie Anm. 6), S. 46 (ähnlich auch S. 156).

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Eine zweite in den Tablettes Albertini entgegentretende Funktionsbezeichnung ist die eines magister.125 Was genau mit dem Begriff gemeint ist, lässt sich aus den Texten nicht sicher erschließen und wird in der Forschung unterschiedlich gesehen. In der Regel wird darunter ein Amt verstanden, dass den in den kaiserzeitlichen Inschriften gut belegten magistri vici oder den aus den Domäneninschriften des Bagradestals bekannten magistri fundi entsprochen habe.126 Letztere vertraten als Repräsentanten der Kolonen eines fundus deren Interessen vor allem gegenüber den Konduktoren oder auch den Besitzern eines Landgutes.127 Dagegen wies Jonathan Conant zuletzt darauf hin, dass der Begriff magister im spätantiken Sprachgebrauch vielmehr einen „schoolmaster“ bezeichne.128 Letzten Endes lässt sich nicht entscheiden, welche der beiden Interpretationen zutrifft, weil die Tablettes Albertini außer der Ansprache einer Person als magister keine Hinweise zu deren Funktion bieten. Zwar taucht diese Bezeichnung vor allem im Zusammenhang mit der Bezeugung und Verschriftlichung der Urkunden auf, dies ist aber letzten Endes weder für die eine noch für die andere Interpretation ein schlagendes Argument. Diese beiden Beispiele verdeutlichen ein grundsätzliches methodisches Problem bei der Frage nach der Kontinuität römischer administrativer Strukturen in nach-römischen Kontexten: Oft sind in der epigraphischen und literarischen Überlieferung lediglich Funktionsbezeichnungen zu fassen, die sich aber kaum mit Substanz füllen lassen; die hinter den Titeln stehenden Aufgaben und Kompetenzen bleiben insofern weitgehend unklar. Nichtsdestotrotz lassen sich römische Verwaltungsstrukturen, die in nach-römischen Kontexten zu einer geregelten Administration und damit zur Stabilisierung von Herrschaft beitrugen, in verschiedenen Kontexten auch in Nordafrika feststellen. Innerhalb des vandalischen regnum gilt dies nicht nur auf lokaler Ebene, sondern vielmehr ging die administrative Erfassung und herrschaftliche Durchdringung des von den Vandalen kontrollierten Territoriums wesentlich auf römische Verwaltungsstrukturen zurück. Dass Fulgentius von Ruspe in der Finanzverwaltung des vandalischen regnum tätig war, ist bereits erwähnt worden; abgesehen vom Fortbestehen römischer fiskal-administrativer Strukturen129 zeigt dieses Beispiel auch, dass es

125 Als „magister“ werden zwei Personen bezeichnet: Lucianus in TA V 40 und 52 f.; VI 27 und 32; IX 31; XXV 18 f. und 25 sowie Quadratinus in TA X 18 (wie Anm. 87). 126 So beispielsweise WEßEL, Recht 2003 (wie Anm. 65), S. 33 f. 127 Zur Organisation der coloni auf den fundi der römischen Kaiserzeit KEHOE, Economics 1988 (wie Anm. 88), S. 188–201. 128 CONANT, Literacy 2004 (wie Anm. 68), S. 223–224. 129 Zur vandalischen Finanzverwaltung MERRILLS/MILES, Vandals 2010 (wie Anm. 4), S. 161–168; VON RUMMEL, Settlement and Taxes 2011 (wie Anm. 98), S. 28–29, S. 31 und MAIER, Amtsträger und Herrscher 2005 (wie Anm. 100), S. 306–308; Maiers Interpretationen sind aber in Details kritisch und mit Vorsicht zu sehen. Dass Fulgentius „einen großen Mitarbeiterstab zu beaufsichtigen [. . .] hatte“ (S. 307) geht meines Erachtens aus der Vita Fulgentii nicht hervor. Zum spätantiken Fiskalsystem und seinen Auswirkungen auf ländliche Gemeinschaften GREY, Constructing Communities 2011 (wie Anm. 114), S. 178–225.

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gerade Angehörige der römischen sozialen Eliten waren, die unter den geänderten politischen Vorzeichen den neuen vandalischen Machthabern in der Zivilverwaltung als Spezialisten dienten.130 Die weitreichendsten Veränderungen in der administrativen Ordnung gab es – ähnlich wie in den regna des Nordwestens – wohl auch im vandalischen Nordafrika im Bereich der Provinzialverwaltung. Zwar ist zu berücksichtigen, dass aus dem vandalischen Nordafrika – anders als aus dem ostgotischen Italien – kaum einmal Schriftquellen überliefert sind, die Informationen über administrative Strukturen transportieren könnten, es scheint jedoch, dass die Einteilung Nordafrikas in Provinzen offenbar vollständig entfiel. Die Namen der ehemaligen römischen Provinzen tauchen im vandalischen Kontext nur noch als Bezeichnungen geographischer Räume auf. Mit der Provinzialeinteilung verschwanden dann auch die Provinzstatthalter; lediglich das Amt des bis ins frühe 5. Jahrhundert in Karthago amtierenden Proconsul Africae scheint unter vandalischer Herrschaft eine Fortführung gefunden zu haben, wenn auch in stark gewandelter Form. Victor von Vita erwähnt einen Proconsul Carthaginis, der für die Rechtsprechung in Bezug auf die romanische Bevölkerung zuständig war.131 Infolge des Wegfallens der Provinzialverwaltung verlor auch die im 4. Jahrhundert als administrative Mittelinstanz eingerichtete und vom vicarius Africae geleitete Diözese (diocesis Africae) ihre Funktion.132 Römische administrative Strukturen spielten aber auch im Kontext jener maurischen Herrschaftsbildungen eine wichtige Rolle, die im Laufe des 5. und frühen 6. Jahrhunderts an der Peripherie des vandalischen regnum entstanden waren.133 In der historischen Forschung wird dabei in der Regel noch immer das Bild rezipiert, das Christian Courtois in seiner 1955 erschienenen Arbeit „Les Vandales et l’Afrique“ entworfen hat und in dem das vandalische regnum quasi von einem Kranz maurischer Reiche – Courtois bezeichnet diese als „royaumes berbères“ – umgeben gewesen sei.134 In der englischsprachigen Forschung werden diese maurischen Herrschaftsbildungen mitunter als „desert kingdoms“ bezeichnet.135 Ohne an dieser Stelle in eine Detaildiskussion einzusteigen, sei hier lediglich festgehalten, dass dieses auf Courtois zurückgehende Szenario in mehrfacher Hinsicht schief liegt. Bei diesen maurischen

130 Dazu CONANT, Staying Roman 2012 (wie Anm. 6), S. 143–146; HEN, Roman Barbarians 2007 (wie Anm. 18), S. 64. 131 Vict. Vit. (wie Anm. 60), III,27; zum Proconsul Africae / Proconsul Carthaginis in vandalischer Zeit vgl. MAIER, Amtsträger und Herrscher 2005 (wie Anm. 100), S. 267–269. 132 Zum Wegfall der Provinzen im vandalischen regnum MAIER, Amtsträger und Herrscher 2005 (wie Anm. 100), S. 266–270 und S. 273 zu den Diözesen und vicarii, die als Institution offenbar in keinem der gentilen regna des Westens (vielleicht mit Ausnahme des ostgotischen Italien) überlebten. 133 Zu den maurischen gentes im spätantiken bis byzantinischen Nordafrika MODÉRAN, Yves: Les Maures et l’Afrique Romaine (IVe – VIIe siècle) (Bibliothèque des Écoles françaises d’Athènes et de Rome 314), Rom 2003; SYRBE, Nomaden und Sesshafte 2021 (wie Anm. 1). 134 COURTOIS, Christian: Les Vandales et l’Afrique, Paris 1955, S. 325–352. 135 BRETT/FENTRESS, Berbers 1996 (wie Anm. 12), S. 77–79.

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Herrschaftsbildungen handelt es sich ausnahmslos um ephemere Gebilde, die in den Schriftquellen zu sehr unterschiedlichen Zeitpunkten und jeweils aus spezifischen Gründen punktuell sichtbar werden. Weder existierten diese ‚Berberreiche‘ gleichzeitig, noch kann ohne weiteres davon ausgegangen werden, dass diese Herrschaftsbildungen über längere Zeiträume bestanden. Zudem lässt sich vor allem aus der literarischen Überlieferung ablesen, dass es sich strukturell gesehen um ausgesprochen heterogene Formationen handelte, in denen Macht und Herrschaft in sehr unterschiedlichen Graden verdichtet waren.136 Bei allen Unterschieden im Detail wird aber auch immer wieder sichtbar, dass diese maurischen Herrschaftsbildungen in Räumen entstanden, die stark von römischen administrativen Strukturen geprägt waren, und dass einzelne maurische Machthaber auf diese römische Strukturen zur Stabilisierung ihrer Position zurückgriffen. Der Machtbereich des Mauren Antalas137 lässt sich beispielsweise in der südlichen Byzacena, in der Dorsale-Region verorten, reichte zeitweise aber im Osten bis an die Küste der Kleinen Syrte. Antalas erlangte in spätvandalischer Zeit eine unabhängige Machtposition; in den 520er Jahren fügte er den Vandalen eine militärische Niederlage zu, die zu innenpolitischen Verwerfungen im vandalischen regnum und letzten Endes zur Absetzung des rex Hilderich138 führte.139 In den 530er und 540er Jahren gehörte er zu den maßgeblichen Protagonisten der Umbruchszeit vom vandalischen zum byzantinischen Nordafrika. Im von Antalas kontrollierten Raum zeigen archäologische Surveys seit dem 2. Jahrhundert eine zunehmende Siedlungsverdichtung als Folge der Ausweitung des Olivenanbaus in der tunesischen Hochsteppe. Die daraus resultierende wirtschaftliche Prosperität scheint bis in die Zeit um 500 weitgehend kontinuierlich angehalten und den Herrschaftsraum des Antalas geprägt zu haben. Wie stark dieser Raum durch Bausteine einer römischen Ordnung strukturiert wurde, verdeutlichen noch einmal die Tablettes Albertini und die Ostraka von Bir Trouch, deren Fundorte im oder zumindest an der Peripherie des von Antalas politisch dominierten Raumes lagen.140 Auf der anderen Seite sind in der Zeit um 500, kurz bevor Antalas in den römischen und byzantinischen Schriftquellen als regionaler maurischer Machthaber sichtbar wird, auch Anzeichen einer ökonomischen und wirtschaftlichen

136 S. dazu SYRBE, Nomaden und Sesshafte 2021 (wie Anm. 1), Kap. 5. 1. 137 PLRE IIIA, S. 86 f. 138 PLRE II, S. 564 f. 139 Militärische Niederlage und Sturz Hilderichs Prok., BV (wie Anm. 7), I [III],9,1–3, 8 f.; Coripp., Ioh. III, 198–264 (Flavii Cresconii Corippi Iohannidos libri VIII, edited by J. Diggle and F.R.D. Goodyear, Cambridge 1970; The Iohannis or De bellis Libycis of Flavius Cresconius Corippus. Introduction and Translation by George W. Shea (Studies in Classics 7), Lewiston u. a. 1998); s. dazu auch CASTRITIUS, Vandalen 2007 (wie Anm. 4), S. 133–135; BERNDT, Konflikt und Anpassung 2007 (wie Anm. 4), S. 151 f.; MERRILLS/MILES, Vandals 2010 (wie Anm. 4), S. 76 f., S. 128 f. 140 Zum von Antalas beherrschten Raum vgl. VON RUMMEL, Philipp, The Frexes: Late Roman Barbarians in the Shadow of the Vandal Kingdom, in: Neglected Barbarians, (Studies in the Early Middle Ages 32), hg. v. Florin Curta, Turnhout 2010, S. 571–603; MODÉRAN, Maures 2003 (wie Anm. 133), S. 315–334.

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Krise gerade im Raum der Byzacena zu erkennen. Die relativ geringe politische Präsenz der Vandalen an der südlichen Peripherie ihres regnum scheint gegen Endes des 5. Jahrhunderts zu einer strukturellen Schwäche geworden zu sein, die, wie Philipp von Rummel mit guten Gründen argumentiert, den maurischen Machthabern Chancen eröffnete, politische Kontrolle über von römischen Strukturen geprägte Räume zu erlangen.141 Römische Strukturen wurden in den maurischen Herrschaftsbildungen aber auch rezipiert, wenn es darum ging, politische und soziale Hierarchien abzubilden. Einer Inschrift aus dem in der östlichen Mauretania Caesariensis (heute Berrouaghia, Algerien) gelegenen Thanaramusa zufolge hatte beispielsweise der praefectus Iugmena,142 der seinem Namen nach aus einem maurischen Kontext stammen dürfte, den Bau einer Kirche initialisiert.143 Die Datierung der Inschrift in das Jahr 474 – gut 40 Jahre nachdem die Vandalen die Kontrolle über weite Teile Nordafrikas übernommen hatten und zwei Jahre vor der Entmachtung des letzten weströmischen Kaisers Romulus Augustulus – legt nahe, dass es sich bei Iugmena nicht mehr um einen römischen Funktionsträger im eigentlichen Sinn handelte; die Bezeichnung als praefectus knüpfte aber an römische Strukturen an und dürfte darüber hinaus auch darauf abgezielt haben, in einem Kontext, in dem sich Roms politische Herrschaft über die Mauretania Caesariensis aufgelöst hatte, die soziale Stellung des Initiators des Kirchenbaus hervorzuheben. Wie der Rückgriff auf römische administrative Strukturen im Rahmen einer maurischen Herrschaftsbildung aussehen konnte, verdeutlicht vor allem das Beispiel des Masuna von Altava.144 Dieser hatte im Jahr 508 in der Umgebung der in der westlichen Mauretania Caesariensis gelegenen Stadt Altava eine Festung (castrum) errichten lassen und wurde dafür – in bester römischer Tradition – mit einer Inschrift geehrt, in der er als „König der Stämme der Mauren und Römer“, als rex gent(ium) Maur(orum) et Romanor(um) tituliert wurde.145 Der in der Inschrift formulierte Anspruch, Herrschaft über Mauren und Römer auszuüben, dürfte der Situation in der

141 S. VON RUMMEL, Frexes 2010 (wie Anm. 140), S. 596–603. 142 PLRE II, S. 634. 143 AE 1926, 60: Ego pr(a)efectus Iugmena / inc(h)oa(v)i ec(c)lesia et Deus / complevit in nomini (sic!) s/piriti (sic!) san(c)ti in an(n)i (sic!) / provi(n)c{c}i(a)e CCCXXXV / nos Zabenses / conpelvimus (sic!). 144 PLRE II, S. 734 f. 145 CIL VIII 9835 = ILS 859 = AE 1998, 1595 = IdAltava Nr. 194 (Les Inscriptions d’Altava, hg. v. Jean Marcillet-Jaubert (Publications des Annales de la Faculté des Lettres Aix-en-Provence 65), Aix-en-Provance 1968): Pro sal(ute) et incol(umitate) reg(is) Masunae gent(ium) / Maur(orum) et Romanor(um) castrum (a)edific(atum) a Mas/givini pr(ae)f(ecto) de Safer Iider proc(uratore) cast/ ra Severiana(a) quem Masuna Altava posuit / et Maxim(us) proc(urator) Alt(avae) perfec(it)p(rovinciae) CCCCLXVIIII.

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westlichen Mauretania Caesariensis durchaus entsprochen haben.146 In der am Übergang von der Ebene von Oran zu den Hochlagen des Atlasgebirges und damit am Rand der einzigen größeren Siedlungskammer im Westen der ehemaligen römischen Provinz Mauretania Caesariensis gelegenen Region von Altava trafen seit der Annexion dieser Region durch das Imperium römische Einflüsse und indigene Traditionen zusammen. Dies spiegeln auch die Namen der in der Inschrift genannten Funktionsträger wider, von denen der praefectus namens Masgivini(s?) und der procurator castra Severiana, dessen Name entweder als Safer oder Saferi Ider zu lesen ist,147 indigene maurische Namen tragen, der procurator Altavae namens Maximus dagegen einen typisch römischen.148 Aber auch weitere, in den Inschriften aus der Stadt Altava149 überlieferte Personennamen spiegeln indigene, maurische Einflüsse,150 belegen darüber hinaus aber auch einen dualen Namensgebrauch, bei dem neben einem römischen noch ein indigen-maurischer Name angegeben wurde; letztgenannte Praxis lässt sich als Hinweis auf alternative, je nach Umfeld alternierend gebrauchte Identitäten interpretieren.151 Stadt und Umland von Altava lagen schon in der römischen Kaiserzeit im Schnittpunkt überregionaler Verkehrswege, was der Stadt strategische Bedeutung verlieh.152 Der epigraphische Befund zeigt, dass ein römisch geprägtes städtisches Leben hier durch die gesamte Spätantike hindurch bis ins frühe 7. Jahrhundert kontinuierlich verlief, ohne dass markante Zäsuren sichtbar wären.153 Inschriften zu Ehren des

146 Vgl. zum Folgenden SYRBE, Nomaden und Sesshafte 2021 (wie Anm. 1), Kap. 5. 1. 1. 4.; RUSHState Formation 2004 (wie Anm. 44). 147 S. die ausführliche Diskussion der möglichen Lesung von Marcillet-Jaubert in IdAltava S. 127 zu Nr. 194 (wie Anm. 145). 148 Zu den Namen der mit dem castrum verbundenen Funktionsträger ähnlich auch schon CAMPS, Gabriel: Nouvelles Observations sur l’Inscription du Roi Masuna à Altava, in: Bulletin Archéologique du comité des traveaux historique et scientifiques, N.S., Fascicule B: Afrique du Nord. 18 (1982), S. 153–157, hier S. 156 f. 149 Marcillet-Jaubert, Jean: Les Inscriptions d’Altava, (Publications des Annales de la Faculté des Lettres Aix-en-Provence 65), Aix-en-Provance 1968. 150 Auch wenn bei der Interpretation nordafrikanischer Personennamen wegen des schwachen Forschungsstandes Vorsicht geboten ist, lassen sich wohl v. a. in den Cognomina indigene Einflüsse greifen, beispielsweise in IdAltava 96 (Iulius Maccal, datiert auf 387); IdAltava 128 (Cecilia Maccal, datiert auf 412); IdAltava 44 (Aurelia Boroc, datiert auf 334); IdAltava 54 (Sulpicia Munassa, datiert in 343); IdAltava 82 (Aurelius Sammac, datiert auf 361); IdAltava 179 (Flavius Mazic, datiert auf 480); IdAltava 166 (Aurelia Tifzalis, datiert auf 450) (wie Anm. 145). 151 In IdAltava 30 für Ulpius Serenus (aus dem Jahr 327) und IdAltava 99 für Iunius Titurius (aus dem Jahr 390) wurden die Namen der Verstorbenen jeweils mit der Ergänzung „qui et Maccal“ versehen. Zu vergleichbaren Phänomenen aus Tripolitanien MATTINGLY, David J.: Tripolitania, London 1995, S. 166 f. (wie Anm. 145). 152 Zur Stadtentwicklung von Altava GEBBIA, Clara: Ancora Altava, in: LʼAfrica romana XVI/ 1 (2004), S. 495–505; Lepelley, Cités 1981 (wie Anm. 23), S. 522–534. 153 Zu den administrativen Institutionen in Altava vgl. WITSCHEL, Situation 2006 (wie Anm. 23), S. 192.

WORTH,

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Kaiserhauses wurden bis in die gemeinsame Regierungszeit der Kaiser Honorius und Theodosius II. gesetzt und spiegeln eine Bezugnahme der lokalen Bevölkerung zum Imperium.154 Die Stadt Altava erlangte aber offenbar nie einen römischen Rechtsstatus und behielt ihre traditionelle, auf vorrömische Strukturen zurückgehende Administration bis mindestens ins 4. Jahrhundert bei. In Inschriften treten als politische Führungsschicht der Stadt primores155 und priores entgegen;156 unklar bleibt dagegen die genaue Funktion der ebenfalls inschriftlich belegten dispunctores.157 Mit den „Pächtern von Altava“ (possessores Altavenses)158 und den secundiones159 – bei denen es sich wahrscheinlich um Pächter mit niedrigerem Status handelte160 – werden zwei weitere soziale Gruppen im epigraphischen Befund greifbar. Auch kirchliche Strukturen lassen sich in Altava fassen; für das Jahr 309 ist die Errichtung einer mensa für den Märtyrer Ianuarius und die Stiftung einer basilica dokumentiert.161 Eine Grabinschrift aus dem Jahr 495 belegt einen p(res)b(yter) namens Iulius Capsar,162 eine weitere Grabinschrift aus dem Jahr 529 einen episc(o)pus namens Ulpius Maximus.163 Mit Blick auf die Frage nach Strukturen eines ‚unsichtbaren römischen Reichs‘ ist aber nicht nur die in spät- und nach-römischer Zeit weiter bestehende städtische Administration interessant, sondern vor allem die in der Ehreninschrift für den rex Masuna erkennbaren Strukturen, auf denen dessen Macht- und Herrschaftsausübung basierten. Erstens spricht die von Masuna veranlasste Errichtung eines castrum dafür, dass dieser sich zur Ausübung und Durchsetzung seiner Herrschaft auf eine militärische Infrastruktur stützte, für deren Erhalt oder Ausbau er sorgte.164 Der Bau des castrum legt darüber hinaus nahe, dass Masunas Machtanspruch auf die Kon-

154 IdAltava 122 aus der Zeit der gemeinsamen Regierung des Honorius und Theodosius II. zwischen 408 und 423 (wie Anm. 145). 155 IdAltava 46 und 67 (wie Anm. 145). Zu Amtsbezeichnungen und Funktionsträgern in Altava s. auch GEBBIA, Altava 2004, S. 498 f. 156 Es sind drei priores belegt, die jeweils durch nicht abschließend erklärbare Zusatzangaben spezifiziert werden. In IdAltava 317 (um 220/ 230 gesetzt) wird Q. Sittius Maximus als rex sacrorum und prior principis civitatis bezeichnet. Zwei weitere priores stammen aus der Familie der Titier, die damit WITSCHEL, Situation 2006 (wie Anm. 23), S. 192 zufolge im 3. und 4. Jh. zur städtischen Führungsschicht gehörten: in IdAltava 273 (3. Jh.) (wie Anm. 145) wird Titius Faussanus als prior civitatis suae ex decemprimis und in AE 1969/1970, 736 (datiert in das Jahr 329) wird Titius Donatus als princ < e > p(s) / vir prior ordinis bezeichnet. 157 IdAltava 67 (wie Anm. 145). 158 AE 1985, 976 (die Inschrift datiert aber noch ins 3. Jh., in das Jahr 221). 159 IdAltava 29 und 83 (wie Anm. 145). 160 Zu den secundiones, vergleichbar zu den possessores minores, s. CTh XIII,11,15. 161 IdAltava 19 (wie Anm. 145). 162 IdAltava 190 (wie Anm. 145). 163 IdAltava 197 (wie Anm. 145). 164 Das castrum ist nicht lokalisiert; Überlegungen hierzu bei CAMPS, Nouvelles Observations 1982 (wie Anm. 148), S. 155–157.

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trolle eines geographischen Raumes abzielte. Zweitens tritt in der Inschrift nicht nur der Machthaber selbst auf, sondern es wird eine administrative Hierarchie sichtbar, die wieder auf römische Strukturen zurückgeht.165 Genannt werden ein pr(a)efectus und proc(urator), letzterer wird durch den Zusatz cast/ra severian(a) näher charakterisiert und damit vom dritten in der Inschrift genannten Amtsträger, einem proc(urator) Alt(avae), unterschieden. Dass die in der Inschrift genannten Funktionsbezeichnungen auf römische administrative Strukturen zurückgehen, ist zwar auf der einen Seite leicht zu erkennen, auf der anderen Seite ist es umso schwieriger, diese mit konkreten administrativen Aufgabenbereichen zu verbinden, denn die Inschrift selbst bietet keinen sicheren Ansatz, um die genannten Funktionsbezeichnungen mit den ursprünglichen römischen Ämtern gleichzusetzen. Zumindest liegt es aber nahe, dass neben einer rein sozialen Ausdifferenzierung auch eine funktionale Unterscheidung intendiert war, denn während der pr(a)ef(ectus) und der procurator castra Severiana offenbar für den Bau des castrum verantwortlich waren, war der Aufgabenbereich des zweiten in der Inschrift genannten procurator explizit mit der Stadt Altava verknüpft. Die beiden procuratores verweisen darauf, dass man im Umfeld des rex Masuna auf eine Differenzierung von Kompetenzbereichen achtete, die mittels einer römischen administrativen Terminologie vorgenommen wurde. Die Inschrift für Masuna bietet damit ein anschauliches Beispiel dafür, dass auch in kleinräumigen, regional begrenzten Herrschaftsbildungen – die selbst in römischer Zeit eher an der politischen Peripherie lagen – der, wie es Walter Pohl formulierte, Diskurs der Macht in der römischen Staatssprache geführt wurde.166

4 Fazit Zusammenfassend zeigt sich, dass – zumindest mit Blick auf das Fallbeispiel Nordafrika – Antworten auf die große Frage nach römischen Strukturen, die zu Bausteinen nach-römischer Ordnungen wurden, eher kleinteilig ausfallen müssen. In römischer Zeit gewachsene Strukturen bestanden auf unterschiedlichen Ebenen und in verschiedenen Facetten sozialen Zusammenlebens über die Zeit der direkten Präsenz Roms in Nordafrika hinaus und prägten langfristig Entwicklungen in nachrömischen Kontexten. Besonders interessant macht das Fallbeispiel Nordafrika dabei, dass strukturelle Kontinuitäten teils über mehrere Phasen politischen Umbruchs hinwegreichen, denn zwischen antikem und mittelalterlichem Nordafrika liegt nicht die eine politische Zäsur, sondern das römische und das muslimische Nordafrika markieren

165 Ähnlich RUSHWORTH, State Formation 2004 (wie Anm. 44), S. 86–88. 166 POHL, Walter: Staat und Herrschaft im Frühmittelalter: Überlegungen zum Forschungsstand, in: Staat im frühen Mittelalter, (Forschungen zur Geschichte des Mittelalters 11), hg. v. Stuart Airlie, Walter Pohl und Helmut Reimitz, Wien 2006, S. 9–38.

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lediglich Anfangs- und Endpunkte in einem langfristigen, phasenweise höchst dynamischen Prozess politischen Wandels. Deutlich wird dies oft in Bereichen, die das konkrete Zusammenleben von Menschen in ihren sozialen Gemeinschaften, ihren civitates betrafen. Der nordafrikanische Kommunikationsraum wurde beispielsweise bis weit in das Mittelalter durch die in der römischen Antike gewachsene Städtelandschaft geprägt (die selbst wiederum an vor-römische Strukturen anknüpfte). Die politischen Zäsuren der Spätantike haben im Kommunikationsnetz aus Städten und Straßen insgesamt kaum tiefere Einschnitte bewirkt, so dass sich – bei allen ohne Zweifel auch zu erkennenden Veränderungen und Transformationen, die die nordafrikanischen Städte als urbane Formationen durchliefen – insgesamt das Bild einer langen, kontinuierlichen Entwicklung abzeichnet, in die überregionale politische Prozesse auf regionaler Ebene eingebettet wurden. Auch auf der Ebene alltäglicher Rechtsbeziehungen scheinen die politischen Veränderungen, die beispielsweise aus der Errichtung des vandalischen regnum resultierten, besonders in ländlichen Regionen keine signifikanten Auswirkungen gehabt zu haben, wie die in den Tablettes Albertini dokumentierten Geschäfte nahelegen. Politische Zäsuren können aber durchaus auch zu Brüchen langfristiger struktureller Linien geführt haben; dies betraf etwa Bereiche administrativen Handelns, weil die dafür eingerichteten Strukturen infolge des politischen Wandels ihre Funktion verloren, wie sich gut am regnum der Vandalen verfolgen lässt: Während die ertragbringend anzuwendenden Strukturen der römischen Finanzverwaltung auch unter vandalischer Herrschaft beibehalten wurden, entfiel der administrative Apparat der funktionslos gewordenen Provinzialverwaltung. Nebenbei ließe sich ergänzen, dass auch die byzantinische Eroberung Nordafrikas mit erheblichen Umstrukturierungen im administrativen System einherging. Eine wesentliche Schwierigkeit, mit der der Versuch, das ‚unsichtbare Römische Reich‘ ein wenig sichtbarer zu machen, immer wieder konfrontiert ist, liegt darin, dass den Möglichkeiten des Erkennens von Kontinuitäten nicht selten enge Grenzen gesteckt sind. Zum Teil liegt dies am schlichten Zufall der Überlieferung; ohne die aus Holz gefertigten Tablettes Albertini, die zu einer in der römischen Antike vermutlich sehr häufig verwendeten, aufgrund der schwierigen Erhaltungsbedingungen aber nur selten überlieferten Gruppe von Schriftträgern gehören,167 wäre die Rechtskultur des vandalischen Nordafrika nahezu unbekannt. Ähnliches gilt für die Überlieferung von Informationen durch Inschriften, die neben der konkreten materiellen

167 Vgl. dazu ECK, Werner: Inschriften auf Holz. Ein unterschätztes Phänomen der epigraphischen Kultur Roms, in: Imperium Romanum. Studien zu Geschichte und Rezeption, Festschrift für Karl Christ zum 75. Geburtstag, hg. v. Peter Kneissl und Volker Losemann, Stuttgart 1998, S. 203–217; ECK, Werner: Zur Einleitung: Römische Provinzialadministration und die Erkenntnismöglichkeiten der epigraphischen Überlieferung, in: Lokale Autonomie und römische Ordnungsmacht in den kaiserzeitlichen Provinzen vom 1. bis 3. Jahrhundert, (Schriften des Historischen Kollegs: Kolloquien 42), München 1999, S. 1–15.

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Überlieferung auch ganz wesentlich von kulturellen Transformationsprozessen abhängt. Mit Blick auf administrative Strukturen zeigt sich auch, dass eine Annäherung an das ‚unsichtbare römische Reich‘ nicht nur davon abhängt, dass Schriftquellen Informationen überliefern, sondern auch wie: so treten Ämter oft nur als reine Funktionsbezeichnungen in Erscheinung, ohne dass diese sich mit konkreten Aufgaben, Kompetenzbereichen oder Handlungsweisen verbinden ließen. In diesen Fällen sind aus dem Imperium Romanum übernommene Bausteine zwar teilweise sichtbar, bleiben aber zugleich auch unsichtbar, vermutlich auch, weil sie sich gut und schlüssig in neue Ordnungen einfügen ließen.

Helga Scholten

Fortbestand im Wandel: Römische Kommunikationsräume bei Salvian von Marseille Für den römischen Staat besteht aus Sicht Salvians keine Hoffnung mehr: „Alle sind sich bewusst, dass der Staat keine Kräfte mehr besitzt; und doch erkennen wir nicht einmal, wessen Wohltaten wir es verdanken, dass wir überhaupt noch leben.“1 Als der Presbyter von Marseille diese Zeilen um 440 n. Chr. in ‚De gubernatione Dei‘ schrieb, leitete unter der Regentschaft des Kaisers Valentinian III. der patriusque et magister utriusque militiae Aëtius die Geschicke des weströmischen Kaiserreiches.2 Erst nach dem Tod Valentinians III. im Jahr 455 n. Chr. brach die weströmische Herrschaft zusammen.3 Bereits ein Jahrzehnt zuvor beklagt Salvian einen allseits zu beobachtenden Wandel: „Den Frieden und den Reichtum der früheren Zeiten besitzen wir nicht mehr; alles, was wir hatten, wurde uns genommen oder es wurde verändert; nur unsere Laster wuchsen.“4

1 Salvian, De Gubernatione Dei, VII,9,34 f.: „Nullas esse iam rei publicae vires omnium conscientia est, et ne sic quidem agnoscimus, cuius hoc beneficiis, quod adhuc vivimus, debeamus.“ Der lateinische Salviantext folgt der MGH-Ausgabe, die deutschen Übersetzungen sind der folgenden Edition entnommen: Des Presbyters Salvianus von Massilia erhaltene Schriften. Von der Weltregierung Gottes, Vier Bücher an die Kirche, Briefe, aus dem lateinischen übersetzt und mit Einleitung versehen von Dr. Anton Mayer (Bibliothek der Kirchenväter II,11), München 1935. 2 Zu Aëtius insgesamt: STICKLER, Timo: Untersuchungen zur Politik des Heermeisters Aëtius, München 2002. 3 BLECKMANN, Bruno: Honorius und das Ende der römischen Herrschaft in Westeuropa, in: Historische Zeitschrift 265 (1997), S. 561–596, S. 594; DETTENHOFER, Maria H.: Romulus Augustulus, in: Die römischen Kaiser. 55 historische Portraits von Caesar bis Iustinian, hg. v. Manfred Clauss, München 1997, S. 415–418. 4 Salvian, De Gubernatione Dei, VI,18,98: „[. . .] pacem et divitias priorum temporum non habemus, omnia, quae fuerunt, aut ablata aut immutata sunt: sola tantum vitia creverunt.“ Ich möchte bewusst auf den Begriff „Niedergang“ verzichten, der eine auf den ersten Blick allzu einsichtige Sicht auf einen vielschichtigen Prozess vermittelt. Einen Überblick über die aktuelle Diskussion der Problematik von Kontinuität und Diskontinuität zwischen Spätantike und Frühmittelalter bietet KAISER, Reinhold: Spätantike und Frühmittelalter – das Problem der Periodenbildung, Kontinuitäten und Brüche, Konzeptionen und Befunde. Versuch einer Zusammenfassung, in: Von der Spätantike zum frühen Mittelalter: Kontinuitäten und Brüche, Konzeptionen und Befunde, hg. v. Theo Kölzer und Rudolf Schieffer, Stuttgart 2009, S. 319–338. Zu den Begriffen „Niedergang“ oder „Transformation“ in der Spätantike-Forschung siehe Steffen DIEFENBACH und Gernot MÜLLER in der Einleitung zu: Gallien in Spätantike und Frühmittelalter. Kulturgeschichte einer Region, hg. v. Steffen Diefenbach und Gernot Michael Müller (Millennium Studien 43), Berlin/Boston 2013, S. 1 mit Anm. 1. https://doi.org/10.1515/9783110623598-005

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Nach dem Fortbestand all dessen zu fragen, was das Römische Reich ausmachte, was sich als römische Identität kennzeichnen lässt, scheint im Widerspruch zu dieser düsteren Gegenwartsbilanz Salvians zu stehen; und dennoch, wenn er das mangelnde Realitätsbewusstsein seiner Mitmenschen konstatiert, die nicht allein auf Gott vertrauten, sondern immer noch auf die Mobilisierung staatlicher Kräfte hofften,5 bestätigt er doch im Gegenzug die feste Verbundenheit der Bewohner des südlichen Gallien mit dem Imperium Romanum und ihr Vertrauen auf die Restauration der politischen Herrschaft Roms. Dieses „Zusammenrücken“ und Hoffen in einer extremen Notlage war nicht ungewöhnlich. Wenn sich das Blatt wider Erwarten (zeitweise) zum Guten wandte, dankten die Menschen nicht Gott, wie Salvian empört feststellt, sondern: „so schreibt der eine es dem Schicksal (fortunae) zu, der andere dem Zufall (eventui), der andere der Anordnung der Führer (ordinationi ducum), ein anderer der Klugheit (consilio), ein anderer der Behörde (magistro), wieder ein anderer der Schutzherrschaft (patrocinio), [. . .].“6 Die Wahrnehmung der Krise des weströmischen Reiches konzentrierte sich im Gros der Bevölkerung somit auf die realen Veränderungen in gesellschaftlichen Teilbereichen. Aus heutiger Betrachtung, auf der Sachebene, lässt sich der Auslöser benennen, der langfristig alle weiteren politischen und militärischen Ereignisse auf einen Zerfall der römischen Herrschaft über den Westen zusteuern ließ: Die Invasion von Vandalen, Burgundern, Sueben und Alanen in der Silvesternacht 406 in Gallien.7 Die sozialen und politischen Rahmenbedingungen, d. h. der Handlungsrahmen, unterlag daraufhin einem Wandlungsprozess, der in seiner Geschwindigkeit und Wirkung deutlich über den jedem historischen Geschehen innewohnenden Wandel hinausging.8 An dieser Stelle ist es notwendig, die im Folgenden zugrunde gelegten Begriffe zu definieren: Das theoretisch-methodische Konzept dient dazu, das Konstante im Wandel präziser zu erfassen. Unter „Handlungsrahmen“ wird die Konkretisierung von Ordnungen verstanden, „die den Zeitgenossen als übergeordnete, komplexe Gewebe, in denen sie sich bewegen, gar nicht oder allenfalls partiell präsent sind.“9 Akteure schaffen durch ihr Handeln Muster, die sich mit der Zeit etablieren und als

5 Salvian, De Gubernatione Dei, VII,9,34 f. 6 Salvian, De Gubernatione Dei, VII,9,34 f.: „Si quando enim nobis prosperi aliquid praeter spem nostram et meritum deus tribuit, alius hoc adscribit fortunae, alius eventui, alius ordinationi ducum, alius consilio, alius magistro, alius patrocinio, nullus deo.“ 7 Hieronymos, Epistel 123,15,2–4; Orosius, Historiae adversus paganos, VII,40,3; Zosimos, Historia Nea, VI. BLECKMANN, Honorius und das Ende der römischen Herrschaft 1997 (wie Anm. 3), S. 561 mit Anm. 2. 8 Reinhold Kaiser weist darauf hin, dass bei der Frage nach Kontinuitäten und Diskontinuitäten die Brüche kaum thematisiert werden, da sie an Tod und Katastrophen erinnern. KAISER, Spätantike und Frühmittelalter 2009 (wie Anm. 4), S. 319–338. 9 MEIER, Mischa: Caesar und das Problem der Monarchie in Rom (Philosophisch-Historische Klasse der Heidelberger Akademie der Wissenschaften 52), Heidelberg 2014, S. 10.

Fortbestand im Wandel: Römische Kommunikationsräume bei Salvian von Marseille

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institutionalisiert gelten. Wird eine Gefährdung dieses institutionalisierten Handlungsmusters wahrgenommen, befindet sich die Gesellschaft in einer Krise, in deren Verlauf eine Diskussion über die Legitimation bestehender Ordnungsstrukturen einsetzt.10 Zur Disposition stehen dabei meist grundlegende Wertvorstellungen. Nehmen die vom Wandel betroffenen Zeitgenossen Krisenphänomene wahr, entsteht somit ein gesellschaftlicher Diskurs, der in der „Öffentlichkeit“, in einem „Kommunikationsraum“ stattfindet. Dabei ist der „Raum“ nicht allein topographisch, als ein Ort handelnder, miteinander kommunizierender Individuen zu verstehen. Es handelt sich ebenso um eine Kommunikationsstruktur, die einen unpersönlichen und prozessualen Charakter aufweisen kann. Ziel des Diskurses ist es, am Ende eine Einigung unter den Kommunikationspartnern über die Gültigkeit grundlegender Werte zu erlangen.11 Salvians Gesamtwerk spiegelt den gesellschaftlichen Diskurs über die Phänomene der Krise des weströmischen Reiches, über die Legitimation von Handlungsmustern und deren zugrunde liegende Normen und Werte wider. Ein wesentlicher Gegenstand der Diskussion ist die Frage nach dem Fortbestand des „Römischen“. Fassen lassen sich diese Diskussionen in einem ‚öffentlichen‘, ‚römischen Kommunikationsraum‘, den ich in einer exemplarischen Analyse aus der Perspektive Salvians erörtern möchte. Darüber hinaus finden sich römische Traditionen, die – von Salvian nicht explizit hervorgehoben – bewusst oder auch unbewusst als Teil des alltäglichen Lebens weiter gepflegt werden. Vorab gilt es in aller gebotenen Kürze Zeit und Ort der Kommunikation zu bestimmen, den Autor und sein Werk vorzustellen (1), sowie einige, für Gallien zentrale Ereignisse festzuhalten und nach deren Wahrnehmung bei Salvian zu fragen (2). Im Zentrum des Beitrags steht die Interpretation ausgewählter Beispiele aus dem Werk Salvians mit dem Ziel, das beständig „Römische“ im Denken, im Habitus des Autors und seiner Zeitgenossen, und somit den römischen Kommunikationsraum zu ermitteln (3). Besondere Aufmerksamkeit erfährt dabei die Frage, inwiefern der klassischen antiken Bildung und einem traditionell römischen Lebensstil in einer christlichen Gesellschaft noch eine Existenzberechtigung zugesprochen wurde. Den Abschluss bildet der Versuch einer Rekonstruktion möglicher Zukunftsperspektiven

10 FRIEDRICHS, Jürgen: Gesellschaftliche Krisen. Eine soziologische Analyse, in: Die Wahrnehmung von Krisenphänomenen. Fallbeispiele von der Antike bis in die Neuzeit, hg. v. Helga Scholten, Köln/Weimar/Wien 2007, S. 14. 11 Ich folge darin den Ausführungen Mareike Gebhardts, die sich mit den theoretischen Modellen Hannah Arendts zur Topographie des öffentlichen Raumes und Jürgen Habermas´ zum prozessualen Charakter des Raumes beschäftigt und zu dem Schluss gelangt, dass der räumliche und der prozessuale Charakter der „Öffentlichkeit“ einander nicht ausschließen. GEBHARDT, Mareike: Politisches Handeln in der postmodernen Konstellation. Kritische Demokratietheorie nach Hannah Arendt und Jürgen Habermas, Baden-Baden 2014, S. 69, bes. S. 25, 56 f., 59, 60.

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Salvians (4). Welche Bedeutung kam dem traditionell „Römischen“ in einem „verblassenden“ weströmischen Reich zu?

1 Zeit und Ort, Autor und Werk Nach 406 brach in Teilen Galliens und Spaniens die römische Herrschaft zusammen. Der Süden Galliens, die Provence und das südliche Rhone-Tal, die Region zwischen Lyon, Arles und Marseille blieb jedoch längerfristig eine römische Enklave in einer sich wandelnden, „germanisch“ werdenden Welt.12 Die Region wurde zu einem Rückzugsort für Menschen aus dem weniger sicheren Norden Galliens, vor allem für Angehörige der gallischen Oberschicht; zu ihnen gehörte auch Salvian.13 Marseille und das Kloster Lerinum, das sich auf einer kleinen Insel vor der Küste von Cannes befand, avancierten zu Zentren christlicher Intellektueller und zu einer „Pflanzstätte“ des aristokratisch geprägten Episkopats in Gallien.14 Den Grundstein dafür hatten der aus gallischen Adelskreisen stammende Honoratus 405 n. Chr. mit dem Kloster von Lerinum und Cassianus mit seiner Mönchsgemeinschaft in Marseille gelegt.15 Sie standen im Austausch mit weiteren christlichen Autoren wie Paulinus von Nola, Sulpicius Severus, Augustinus sowie mit Bischöfen und nobiles der Region. Erhalten sind zahlreiche Briefe, Heiligenviten, Pamphlete und Texte zur Schriftauslegung. Ihre Werke thematisieren unter anderen Fragen des Umgangs mit der klassischen Bildung und der Gestaltung eines authentisch christlich geführten Lebens.16 In diesen Kreis der Leriner Asketen gelangte Salvian ca. 426 n. Chr.; später wurde er Presbyter in Marseille.17

12 Es wird auch eine frühere Datierung 405/06 in Betracht gezogen. BROWN, Peter: Through the Eye of a Needle. Wealth, the Fall of Rome, and the Making of Christianity in the West, 350–550 AB, Princeton/Oxford 2012, S. 411. 13 Salvian, De Gubernatione Dei, VI,72. In Köln lebte später noch eine mittellose Verwandte. Dazu mehr in Absatz 3.1a. Salvian, Epistolae I. Vgl. auch GRESCHAT, Katharina: Spätantike Bildungstraditionen im Umkreis des Klosters von Lerinum. Die Kompendienwerke des Eucherius von Lyon, in: Zeitschrift für antikes Christentum 10 (2007), S. 320. 14 PRINZ, Friedrich: Frühes Mönchtum im Frankenreich. Kultur und Gesellschaft in Gallien, den Rheinlanden und Bayern am Beispiel der monastischen Entwicklung (4.–8. Jh.), [München/Wien 1965] Darmstadt, 2. Aufl., 1988, S. 47, S. 49–58. 15 GRESCHAT, Spätantike Bildungstraditionen 2007 (wie Anm. 13), S. 320. 16 OPELT, Ilona: Antikes Bildungsgut bei Salvian von Marseille, in: Vigiliae Christianae 28 (1974), S. 54–61; GRESCHAT, Spätantike Bildungstraditionen 2007 (wie Anm. 13). 17 Hilarius bezeichnet ihn in einer um 430 datierten Rede über das Leben seines Vorgängers Honoratus als Presbyter. Hilarius, Hilarius von Arles, Sermo de vita Honorati 19.2 (Hilaire d’Arles, Vie de Saint Honorat. Introduction, traduction, texte critique et notes par Marie-Denise Valentin (SC 235), Paris 1977, S. 124). Vgl. BADEWIEN, Jan: Geschichtstheologie und Sozialkritik im Werk Salvians von Marseille, Göttingen 1980, S. 14–18.

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Der um 400 n. Chr. in Trier oder Köln geborene Salvian heiratete Palladia, eine Tochter heidnischer Eltern;18 und obwohl sie eine gemeinsame Tochter namens Auspiciola hatten, lösten sie um 425 n. Chr. offenbar einvernehmlich ihre Ehe auf. Ihre Entscheidung für ein Leben in Askese stieß bei den Schwiegereltern Salvians auf kein Verständnis. Noch sieben Jahre später bemühte sich Salvian in einem Brief eindringlich um eine Versöhnung.19 Salvians Entschluss zur conversio gehört in die Zeit seiner Umsiedlung in den Süden Galliens. Vermutlich hatte er schon in Lerinum die Priesterweihe erfahren. Wann er Presbyter in Marseille wurde, bleibt ungewiss; um 480 nennt ihn Gennadius noch in dieser Position.20 Offenbar gehörte der Klostergründer Honoratus zu seinen Freunden.21 Neun Briefe Salvians sind erhalten, die von der Pflege seiner Beziehungen zu der Klostergemeinschaft von Lerinum, zu geistlichen und weltlichen Würdenträgern zeugen. Adressaten waren unter anderen Eucherius, Abt von Lerinum und später (ca. 434) Bischof von Lyon, und dessen Sohn Salonius. Eucherius hatte ihm in Lerinum die Erziehung seiner beiden Söhne Salonius und Veranus anvertraut, die später zu Bischöfen von Genf, bzw. Vence berufen wurden.22 Ähnlich wie Hieronymus, Augustinus oder Paulinus von Nola dürfte Salvian die Briefe, dem spätantiken Literaturbetrieb entsprechend, auch für eine breitere Öffentlichkeit geschrieben haben.23 Sein erstes Werk ‚Ad ecclesiam‘ verfasste er zwischen 435 und 43924 noch im Umfeld der Leriner Gemeinschaft; sein bekanntestes, ‚De gubernatione Dei‘, datiert etwas später zwischen 439 und 45125 und ist seinem ehemaligen Schüler Salonius gewidmet.

18 Salvian, Epistolae IV. 19 Salvian, Epistolae IV. 20 Gennadius, de viris illustribus, 68. BADEWIEN, Geschichtstheologie und Sozialkritik 1980 (wie Anm. 17), S. 17 f. 21 Hilarius, Sermo de vita S. Honorati, 19 (wie Anm. 17). 22 Salvian, Epistolae VIII; Eucherius, praef. Instructiones. Jan Badewien geht davon aus, dass Salvian kein direktes Mitglied der Klostergemeinschaft war, denn er lebte auch nach seiner conversio mit seiner Familie zusammen. BADEWIEN, Geschichtstheologie und Sozialkritik 1980 (wie Anm. 17), S. 16 mit Anm. 24–27. 23 OPELT, Ilona: Briefe des Salvian von Marseille: zwischen Christen und Barbaren, in: Romanobarbarica 4 (1979), S. 166. 24 BADEWIEN, Geschichtstheologie und Sozialkritik 1980 (wie Anm. 17), S. 17. Zum Text insgesamt: FISCHER, Hubert: Die Schrift des Salvian von Marseille „An die Kirche“. Eine historisch-theologische Untersuchung, Frankfurt am Main 1976. 25 Terminus post quem ist die Niederlage des Litorius gegen den Gotenkönig Theoderich 439 n. Chr., terminus ante quem die Hunnenschlacht von 451 n. Chr., die er nicht erwähnt. BADEWIEN, Geschichtstheologie und Sozialkritik 1980 (wie Anm. 17), S. 18. Peter Brown geht von einer Abfassungszeit Ende 430, Anfang 440 aus. BROWN, Through the Eye of a Needle 2012 (wie Anm. 12), S. 434.

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Fragen nach der historischen Glaubwürdigkeit seiner Ausführungen über die gallo-römische Gesellschaft und Geschichte, über das Patrozinium, die Bagauden und die „Barbaren“, nach der sprachlichen Gestaltung, den literarischen Topoi und rhetorischen Elementen sowie nach den theologischen Grundgedanken finden in einer Reihe von Einzelstudien ihre Berücksichtigung.26 Dem Gesamtkonzept von ‚De gubernatione Dei‘ widmet sich Jan Badewien in einer für das Verständnis dieser „eigentümlichen Verbindung von Geschichtsinterpretation, Sozialkritik und theologischen Grundstrukturen“ grundlegenden Studie.27 Salvians Geschichtstheologie beruht auf dem „Verständnis allen Geschehens in der Welt, von der Schöpfung bis hin zur Gegenwart, als eine Manifestation eines gegenwärtigen göttlichen Gerichts.“, wie es Jan Badewien treffend formuliert.28 Gott richtet über die Menschheit nicht irgendwann in ferner Zukunft beim Jüngsten Gericht, der Vollzug seiner Strafen ist allgegenwärtig, im Hier und Jetzt.29 Darin finden auch die „Barbaren“ ihren Platz, die nicht allein aufgrund ihrer militärischen Überlegenheit erfolgreich sind, sondern Gottes Lohn für ihre Sittenreinheit erhalten, bzw. als exekutiver Part seines Strafgerichts gegen dekadente und sündige Römer agieren.30 Dabei erfährt der angeblich bessere Lebensstil der ins römische Reich einfallenden „Barbaren“ im Vergleich mit dem der Römer erstmals sogar eine positive Beurteilung.31 Charakteristisch für das Werk Salvians ist die Unmittelbarkeit, mit der er die Missstände in der zeitgenössischen Gesellschaft, im Staat und in der Kirche anprangert und seinen Lesern, christlichen Zeitgenossen, Gemeindemitgliedern, Bischöfen und nobiles vor Augen führt, wobei er einen im Dienste seiner Argumentation und Intention verzerrten, rhetorisch überzeichneten und keineswegs sehr realitätsnahen Lagebricht bietet.

26 Des Weiteren bietet sich ein Vergleich mit den bekannten Entwürfen ‚De civitate Dei‘ des Augustinus und Orosius’ ‚Historiae adversus paganos‘ zur Frage nach der Weltregierung Gottes an. Dazu: BADEWIEN, Geschichtstheologie und Sozialkritik 1980 (wie Anm. 17); LAMBERT, David: The Uses of Decay: History in Salvian’s De gubernatione dei, in: Augustinian Studies 30 (1999), S. 115–130; BROWN, Through the Eye of a Needle 2012 (wie Anm. 12), Kap. 26, S. 433–453; LAMBERT, David: Salvian and the Bacaudae, in: Gallien in Spätantike und Frühmittelalter 2013 (wie Anm. 4), S. 263–266. 27 BADEWIEN, Geschichtstheologie und Sozialkritik 1980 (wie Anm. 17), S. 16; vgl. auch LAMBERT, The Uses of Decay 1999 (wie Anm. 26), S. 115–130; BROWN, Through the Eye of a Needle 2012 (wie Anm. 12), Kap. 26, S. 433–453. 28 BADEWIEN, Geschichtstheologie und Sozialkritik 1980 (wie Anm. 17), S. 31. 29 Darin unterscheidet er sich beispielsweise von Augustinus, der zwar ebenfalls Vorstellungen von einem gegenwärtigen göttlichen Gericht vertritt, die eigentliche Offenbarung aber erst im Endgericht sieht. Augustinus, De civitate Dei, 19,15. Dazu ausführlich und mit weiteren Beispielen: BADEWIEN, Geschichtstheologie und Sozialkritik 1980 (wie Anm. 17), S. 41–50. 30 Die Nähe seiner Lehre zu der des Pelagius ist deutlich. Auch bei ihm steht im Hintergrund seiner kritischen Weltsicht das Ideal einer Kirche der Vollkommenen. 31 Vgl. dazu BADEWIEN, Geschichtstheologie und Sozialkritik 1980 (wie Anm. 17), S. 122–138; BROWN, Through the Eye of a Needle 2012 (wie Anm. 12), S. 444 f.

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„Gott, wird von manchem behauptet, kümmere sich nicht um die Handlungen der Menschen, ja er vernachlässige sie gewissermaßen.“32 ‚De gubernatione Dei‘ sollte eine Antwort auf die drängende Frage nach der Theodizee bieten. Salvian reagiert in apologetischer Weise auf die Zweifel, Unsicherheiten und Ängste seiner Leser.33 Auslöser dafür war eine Reihe von Ereignissen, die die Geschichte des 5. Jahrhunderts prägten und für Gallien den Zerfall der römischen Herrschaft bedeuten sollten.

2 Der Handlungsrahmen 2.1 Zentrale Ereignisse zu Beginn des 5. Jahrhunderts in Gallien Als am 24. August 410 die Goten unter Alarich Rom einnahmen und drei Tage lang plünderten, mit großer Beute und Geiseln, darunter Galla Placidia, die Schwester des Kaisers Honorius, abzogen, war der Schock über den Fall der urbs aeterna groß. Das Ereignis fand einen großen literarischen Nachklang.34 Für die Geschichte des spätantiken Galliens sollte sich der Rheinübergang vandalischer, burgundischer, suebischer und alanischer Verbände in der Silvesternacht 406 n. Chr. letztlich schwerwiegender auswirken. Die Plünderungszüge trafen die Bevölkerung überraschend; zusammen mit dem im Jahr zuvor erfolgten Einfall von greutungischen Goten unter Radagais nach Italien, von Vandalen, Alanen, Burgundern und Quaden (Sueben) über die Donau nach Pannonien, spitzte sich die Situation in den betroffenen Gebieten allmählich gefährlich zu: Zur Gegenwehr hatte Honorius bzw. der römische Heermeister Stilicho selbst Sklaven ins Heer gerufen sowie hunnische und alanische Reiter angeworben. Diesem bunt gemischten weströmischen Aufgebot gelang es, die Goten bei Florenz zu besiegen.35 In Gallien trug erst das Eingreifen des

32 Salvian, De Gubernatione Dei, I,1,1: „Incuriosus a quibusdam et quasi neglegens humanorum actuum deus dicitur.“ 33 Ich folge darin den Ausführungen Jan BADEWIENS, der den apologetischen Charakter betont, aber auch auf den Predigtstil hinweist. BADEWIEN, Geschichtstheologie und Sozialkritik 1980 (wie Anm. 17), S. 29. Armin Eich bemerkt, Salvians Werk lasse sich als „apokalyptisch untermalte Bußpredigt“ und damit als besondere Form des eschatologischen Genus einstufen. EICH, Armin: Der Untergang des Imperium Romanum in der antiken Literatur, in: Von Zeitenwenden und Zeitenenden. Reflexion und Konstruktion von Endzeiten und Epochenwenden im Spannungsfeld von Antike und Christentum, hg. v. Stefan Freund, Meike Rühl, Christoph Schubert (Palingenesia 103), Stuttgart 2015, S. 45–72, bes. S. 66. 34 Vgl. unter vielen anderen MEIER, Mischa / PATZOLD, Steffen: August 410 – Ein Kampf um Rom, Stuttgart 2010; EICH, Der Untergang des Imperium Romanum 2015 (wie Anm. 33), S. 63 f. 35 Orosius‚ Historiae adversus paganos, VII,37,13; Zosimos, Historia Nea, V,26,5; CASTRITIUS, Helmut: Die Vandalen. Etappen einer Spurensuche, Stuttgart 2007, S. 48. Zur Anordnung des Honorius: Codex Theodosianus VII,13,16.

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407 in Britannien zum Kaiser ausgerufenen Constantinus III. (407–411) zu einer zeitweiligen Stabilisierung der Situation bei.36 Doch schon 408 zogen Hunnen unter ihrem Anführer Uldin über die Donau; zwei Jahre später gelangten Burgunder in die Gegend um Mainz und Koblenz.37 Dem römischen Heermeister und späteren Kaiser Constantius III. sollte noch einmal die Sicherung der Rheingrenze gelingen. Westgoten wurden 418 im Gebiet zwischen Toulouse und Bordeaux angesiedelt, womit der Grundstein für das Tolosanische Westgotenreich gelegt war. Die unter der Führung Goars stehenden Alanen schlossen sich nach dem Rheinübergang bald wieder den Römern an. Vandalen, Sueben und die übrigen Alanen zogen wohl in zwei großen Verbänden über die Pyrenäen.38 Die zwischenzeitlich abermals von Franken eingenommenen Gebiete am Rhein gewann dann der Heermeister Aëtius im Jahr 428 ein weiteres Mal zurück. Eine dauerhafte Sicherung der Region für Westrom sollte jedoch nicht mehr gelingen.39 429 n. Chr. brachen die hasdingischen Vandalen in Richtung Nordafrika auf, wobei der von den Westgoten ausgeübte militärische Druck und Versorgungsengpässe

36 Die härtesten Vorwürfe, für diese Misere verantwortlich zu sein, trafen Stilicho. „Inzwischen suchte der comes Stilicho, ein Angehöriger des feigen, habgierigen, treulosen und verräterischen Volkes der Vandalen, indem er es gering schätzte, dass er (bereits kaiserlich) unter einem Kaiser herrschte, seinen Sohn Eucherius, der, wie von vielen überliefert wird, bereits von Kindheit an und als „Privatmann“ eine Christenverfolgung erwog, mit allen Mitteln in die Kaiserherrschaft einzusetzen.“, so Orosius (Orosius, Historiae adversus paganos, VII,38. deutsche Übersetzung: Paulus Orosius. Die antike Weltgeschichte in christlicher Sicht, Buch V–VII, übersetzt und erläutert von Adolf Lippold, Zürich/München 1986.). 37 Zu den Ereignissen zwischen 405 und 410 n. Chr.: Sozomenos, Historia Ecclesiastica, IX,6–9; Philostorgios, Historia Ecclesiastica, 12; Olympiodor, frg. 11, 12 (Blockley); Zosimos, Historia Nea, V,29,48–50. Dazu BLECKMANN, Bruno: Krisen und Krisenbewältigung. Die Eroberung Roms durch Alarich in der Darstellung Philostorgs, in: Die Wahrnehmung von Krisenphänomenen 2007 (wie Anm. 10), S. 97–109; HEATHER, Peter: Der Untergang des römischen Reiches, [London 2005] Stuttgart 2007, S. 230–240. 38 Zur Frage der Ansiedlung von Goten und Burgundern und der administrativen Maßnahmen: GOFFART, Walter: Administrative Methods of Barbarian Settlement in the Fifth Century: The Definitive Account, in: Gallien in Spätantike und Frühmittelalter 2013 (wie Anm. 4), S. 45–56. Die vandalisch dominierte Gruppe stand unter der Führung des Godegesil (Hasdingen), die Alanen unter Respendial. Zosimos berichtet, der von dem Usurpator Constantin III. entlassene Heermeister Gerontius habe sie zum Einfall nach Spanien aufgewiegelt. Zosimos, Historia Nea, VI,5,2–3. Dieser Vorwurf findet sich jedoch häufiger, weshalb es sich eher um einen literarischen Topos handeln dürfte. Folgende Beispiele legen den Verdacht nahe: Angeblich stachelte Antonius Primus im Auftrag Vespasians die Bataver zum Aufstand an, um Vitellius zu schaden (Tacitus, Historiae, 13,2). Ammian berichtet, Constantius II. habe die Alamannen zum Einfall ins Reich bewegt, um Julian zu schwächen (Ammianus Marcellinus, Res Gestae, 21,3,4). Vgl. auch Orosius‚ Historiae adversus paganos, VII,38,8 zu Stilicho. 39 Der Brief (I) Salvians bietet dazu einige Hinweise. ECK, Werner: Köln in römischer Zeit. Geschichte einer Stadt im Rahmen des Imperium Romanum. Mit einer Einführung in das Gesamtwerk von Hugo Stehkämper, Köln 2004, S. 689 f.

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sie wohl zum Weiterziehen bewegt hatten.40 In dem nahen, durch Bürgerkriege geschwächten Nordafrika, genauer in der Mauretania Tingitana (Marokko) sahen sie ein attraktives Migrationsziel. Ein kurzer Blick auf den weiteren Verlauf der Invasionszüge zeigt, wie schwer es dem weströmischen Staat fiel, die Situation in den Griff zu bekommen. Nach für beide Seiten verlustreichen Kämpfen kam es zu einer Einigung zwischen dem weströmischen Reich und den Vandalen unter Geiserich. 435 wurde ein Vertrag abgeschlossen, der den Aufenthalt der Vandalen in Nordafrika rechtlich sanktionierte.41 Wahrscheinlich nahmen sie in den ihnen zugewiesenen Gebieten einen Föderatenstatus ein. Im Oktober 439 gelang Geiserich schließlich die Eroberung Karthagos. Der 442 ausgehandelte Vertrag kann als Beginn eines völkerrechtlich anerkannten Vandalenreichs in Nordafrika angesehen werden.42 Die neuen Herrscher Africas erwiesen sich in ihrem politischen Handeln als umsichtig. Sie vertrauten auf bewährte regionale Strukturen, ließen sie bestehen und setzten auch auf den Dienst erfahrener römischer Amtsträger, vorausgesetzt, diese verhielten sich loyal. Möglicherweise orientierten sie sich dabei am römischen Vorbild, behielten die Römer doch in der Regel in eroberten Gebieten funktionierende regionale Strukturen bei und bemühten sich um eine Bindung der Führungskräfte an das Imperium. So findet sich auch im Vandalenreich gewissermaßen ein Weiterleben des römischen Reiches.43 Einen weiteren Einschnitt in die Geschichte des weströmischen Reiches markierte schließlich das Ende der valentinianischen Dynastie nach der Ermordung

40 BERNDT, Guido M.: Konflikt und Anpassung. Studie zu Migration und Ethnogenese der Vandalen (Historische Studien 489), Husum 2007, S. 118 f.; CASTRITIUS, Die Vandalen 2007 (wie Anm. 35), S. 76 f. 41 Prosper Tiro, Epitoma chronicorum, 1321: „Pax facta cum Vandalis data eis ad habitandum Africae portione.“ 42 „Carthagine magna fraude decepta die XIIII kl. Novembris omnem Africam rex Gaisericus invadit.“, so der spanische Chronist Hydatius (Hydatius, Chronik, 115). Der Vertrag von 442 regelte die Aufteilung der nordafrikanischen Provinzen, wobei Ravenna auch weiterhin einen Rechtsanspruch auf die vandalischen Territorien erhob. Die vandalischen Könige sahen sich jedoch als souveräne Herrscher ihres regnum. BERNDT, Konflikt und Anpassung 2007 (wie Anm. 40), S. 184 ff.; CASTRITIUS, Die Vandalen 2007 (wie Anm. 35), S. 98 ff. 43 Ausführlich dazu: STEINACHER, Roland: Rex oder Räuberhauptmann? Ethnische und politische Identitäten im 5. und 6. Jh. am Beispiel von Vandalen und Herulern, in: Grenzen und Entgrenzungen. Historische und kulturwissenschaftliche Überlegung am Beispiel des Mittelmeerraumes, hg. v. Beate Burtscher-Bechter, Peter W. Haiser, Birgit Mertz-Baumgartner, Robert Rollinger (Saarbrücker Beiträge zur Vergleichenden Literatur- und Kulturwissenschaft 36), Würzburg 2006, S. 313–317. Umfassend zur Geschichte der Vandalen: BERNDT, Konflikt und Anpassung 2007 (wie Anm. 40); CASTRITIUS, Die Vandalen 2007 (wie Anm. 35); Ausstellungsband: Erben des Imperiums in Nordafrika. Das Königreich der Vandalen, hg. v. Badisches Landesmuseum Karlsruhe, Mainz 2009; VÖSSING, Konrad: Das Königreich der Vandalen, Darmstadt 2014; STEINACHER, Roland: Die Vandalen. Aufstieg und Fall eines Barbarenreichs, Stuttgart 2016.

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Kaiser Valentinians III. im Jahr 455.44 Es gelang nicht mehr, eine neue, mit dem Kaiserhof im Osten verbundene, Dynastie zu gründen. Der endgültige Wegfall der politischen Institution des ursprünglich aufs Engste mit Rom verbundenen Kaiserhauses beansprucht zu Recht eine hohe politische Relevanz. Die Zeitgenossen dürften es kaum noch als große Zäsur empfunden haben, als Romulus Augustulus 476 gezwungen wurde, die Kaiserwürde abzulegen, denn der Zerfallsprozess der politischen Herrschaft, der hier nur am Beispiel einer kleinen Auswahl von Ereignissen vorgestellt wurde, war längst dramatisch vorangeschritten.45

2.2 Das Versagen des römischen Staates in der Darstellung Salvians Salvian nimmt einen deutlichen Wandel des Handlungsrahmens wahr: Die alte Macht der Römer, ihre Würde sei verschwunden. Salvian wertet die Invasion der „Barbaren“ als eine ihnen von Gott übertragene Aufgabe46 und bietet damit eine für christliche Autoren seiner Zeit typische Geschichtsdeutung. Das Versagen des weströmischen Staates äußert sich für ihn jedoch nicht nur in der außenpolitisch-militärischen Schwäche gegenüber den Migrationen seiner Zeit, sondern auch in moralischer und innenpolitischer Hinsicht. „Daher können wir sagen: Damals regierten jene Amtsträger, da sie arm waren, einen wohlhabenden Staat, jetzt hingegen lassen reiche Machthaber den Staat verarmen.“47 Wachsendes soziales Elend, das dazu führe, dass Bauern, Kolonen, Sklaven, ganze Dörfer bei Großgrundbesitzern Schutz gegen den wachsenden Steuerdruck und andere Belastungen suchten, sei die Folge. Bei den genannten patrones handelte es sich um Militärs, Beamte, Senatoren, Geistliche, Kirchen und Klöster. Sie erlangten über die Ausübung ihres patrocinium zu Herrschaftsrechten, übten die Patrimonialgerichtsbarkeit aus, bestimmten die Wehrpflichtigen und entzogen auf

44 Unter den Regierungen der Kaiser Honorius (395–423) und Valentinian III. (425–455) wurden weite Teile Spaniens, Galliens und Africas der römischen Kontrolle entzogen. Als einen der Gründe dafür bezeichnet Bruno Bleckmann das allzu lange Festhalten am konventionellen universalen Herrschaftsanspruch, der zu untauglichen Mitteln und unrealistischen Aktionen zwang und eine bewegliche, an den realen Erfordernissen orientierte Politik verhinderte. BLECKMANN, Honorius und das Ende der römischen Herrschaft 1997 (wie Anm. 3), S. 590. 45 So betrachteten etwa die Westgoten die ihnen 418 zugewiesenen Gebiete längst als eigenen Besitz, BLECKMANN, Honorius und das Ende der römischen Herrschaft 1997 (wie Anm. 3), S. 594 f. 46 Salvian, De Gubernatione Dei, VII,7,8. 47 Salvian, De Gubernatione Dei, I,2,11: „Itaque tunc illi pauperes magistratus opulentam rempublicam habebant, nunc autem dives potestas pauperem facit esse rempublicam.“ Proskriptionen, Ausbeutung, Raub, Verbrechen seitens der Repräsentanten des römischen Staates werden angeprangert (De Gubernatione Dei, V,7,8 (S. 163 ff.).

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diesem Weg einen Teil der Reichsbevölkerung dem unmittelbaren Zugriff staatlicher Organe.48 Andere vom Elend Betroffene, so fährt der Presbyter fort, schlossen sich den Bagauden oder den Gallien durchstreifenden fremden Völkerschaften an.49 Selbst Angehörige der römischen Oberschicht wandten sich verzweifelt vom Imperium Romanum ab: „Ja es ist so weit gekommen, dass viele von ihnen, und zwar nicht solche aus niedrigem Geschlecht, sondern mit guter Bildung, zu den Feinden fliehen, um nicht unter dem Druck der staatlichen Verfolgung zu stehen. Sie suchen bei den Barbaren die Menschlichkeit der Römer, weil sie bei den Römern die barbarische Unmenschlichkeit nicht ertragen können. [. . .] Deshalb wandern sie scharenweise entweder zu den Goten oder zu den Bagauden oder zu anderen Barbaren, die ja allenthalben herrschen; und es reut sie nicht, hinübergewandert zu sein.“50 Ob Salvian die tieferen Ursachen des politischen und militärischen Niedergangs durchschaute, die Interdependenz militärischer Notwendigkeiten, innenpolitischer, insbesondere steuerpolitischer Maßnahmen und allgemein der Überforderung angesichts von Invasionen und Gebietsverlusten, bleibt ungewiss.51 Salvian sieht darin lediglich Symptome der gegenwärtigen Krankheit der weströmischen Gesellschaft, die er im Dienste seiner Sache, „zum Aufrütteln“ seiner scheinbar in Lethargie verfallenen Zeitgenossen besonders plastisch darstellen musste.52 Es spiele keine Rolle, ob ein Römer von Römern oder von Barbaren unterdrückt werde.53 „Deswegen wird der Name

48 Jens Uwe Krause nimmt der Darstellung Salvians ihre Dramatik und bezeichnet sie als das übliche Auf und Ab kleiner Bauern in der Spätantike. KRAUSE, Jens Uwe: Spätantike Patronatsformen im Westen des römischen Reiches, München 1987, S. 233–283. Vgl. GREY, Cam: Salvian, the ideal Christian community and the face of the poor in fifth-century Gaul, in: Poverty in the Roman World, hg. v. Margaret Atkins und Robin Osborne, Cambridge 2006, S. 168; BROWN, Through the Eye of a Needle 2012 (wie Anm. 12), S. 449. 49 Die Aufstandsbewegung der Bagauden war am Ende des 3. Jhs. im Nordwesten Galliens entstanden. Aurelius Victor bezeichnet sie als einen „in Gallien aufgewiegelten Haufen von Bauern und Räubern, welche die Bewohner Bagauden nennen, weithin das Ackerland verwüsteten und zahlreiche Städte angriffen, [. . .]“ Aurelius Victor, Liber de Caesaribus, XXXIX,17. Vgl. auch LAMBERT, Salvian and the Bacaudae 2013 (wie Anm. 26), S. 255–276. Salvian, De Gubernatione Dei, V,21. 50 Salvian, De Gubernatione Dei, V,5,21: „[. . .] in tantum ut multi eorum, et non obscuris natalibus editi et liberaliter instituti, ad hostes fugiant, ne persecutionis publicae adflictione moriantur, quaerentes scilicet apud barbaros Romanam humanitatem, quia apud Romanos barbaram inhumanitatem ferre non possunt. [. . .] Itaque passim vel ad Gothos vel ad Bacaudas vel ad alios ubique dominantes barbaros migrant, et commigrasse non paenitet; [. . .]“ 51 Einen Überblick über die Frage nach der Wahrnehmung des Untergangs des Imperium Romanum in der zeitgenössischen Literatur bietet: EICH, Der Untergang des Imperium Romanum 2015 (wie Anm. 33), S. 45–75. Zur Darstellung des Steuersystems bei Salvian: LAMBERT, Salvian and the Bacaudae 2013 (wie Anm. 26), S. 263–266. 52 Peter Brown bemerkt, dass einige Studien zu Salvian sich nur mit den Symptomen beschäftigen, die Salvian schildert, und damit den Intentionen und dem Gesamtwerk des Autors nicht gerecht werden. BROWN, Through the Eye of a Needle 2012 (wie Anm. 12), S. 434. 53 Zum Patroziniumswesen: BROWN, Through the Eye of a Needle 2012 (wie Anm. 12), S. 450.

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des römischen Bürgers, der einst nicht nur hoch geschätzt, sondern auch um viel Geld gekauft wurde, jetzt aus freien Stücken verschmäht und gemieden; und er gilt nicht bloß als geringwertig, sondern sogar fast als verabscheuungswürdig.“54 In weiten Teilen Galliens und Spaniens würden aber auch Menschen dazu gezwungen, Barbaren zu sein, erklärt er weiter. John Drinkwater sieht darin trotz aller rhetorischer Überzeichnung den Nachweis, dass aus Sicht Salvians keiner „römisch“ bleiben konnte, der außerhalb des Imperium Romanum lebte.55 Doch streift ein Römer unter barbarischer Herrschaft mit seinem Namen und das heißt mit der Möglichkeit der Ausübung, der Geltendmachung seiner römischen Bürgerrechte auch gleichzeitig seine römische Identität ab? Ob sich ein Römer freiwillig oder durch Zwang unter die Fremdherrschaft begab, so ging es ihm doch in erster Linie um sein Überleben. Das bedeutete kaum, dass er sich nicht mehr mit der römischen Kultur verbunden fühlte und sich fortan als Franke, Gote, etc. bezeichnete. Auch Salvian hätte sicher nicht seiner in Brief I genannten Verwandten ihr „Römertum“ abgesprochen, nur weil sie im von Franken eingenommenen Köln lebte und dort eine weit unter ihrem Stand liegende Arbeit verrichten musste. Sie und ihre Familie waren zuvor in große Not geraten, weshalb ihr nichts anderes übrig blieb, als gegen Lohn ihre Dienste im Hause einer fränkischen Familie zu versehen: „Und mag sie allerdings durch Gottes Barmherzigkeit frei sein von den Fesseln der Kriegsgefangenschaft – sie ist doch Sklavin: zwar nicht ihrem Stande nach, aber doch Sklavin infolge ihrer Armut.“56 Lediglich für ihren Sohn konnte sie offensichtlich die Reisekosten aufbringen, um ihn in die Obhut Salvians zu geben. Aus den wenigen Hinweisen wird deutlich, dass es in Köln auch unter den Franken Möglichkeiten gab, über Besitz zu verfügen und ein „standesgemäßes“ Leben zu führen. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass alteingesessene gallo-römische Familien Kölns weiterhin in wichtigen sozialen und administrativen Positionen verblieben und

54 Salvian, De Gubernatione Dei, V,5,22: „Itaque nomen civium Romanorum, aliquando non solum magno aestimatum, sed magno emptum, nunc ultro repudiatur ac fugitur, nec vile tantum, sed etiam abominabile paene habetur.“ 55 DRINKWATER, John F.: Un-becoming Roman. The End of Provincial Civilisation in Gaul, in: Gallien in Spätantike und Frühmittelalter 2013 (wie Anm. 4), S. 73. 56 Salvian, Epistulae, I,6: „Ita, licet per dei misericordiam vinculis captivitatis exempta sit, cum iam non serviat condicione, servit paupertate.“ Es ist nicht sicher, wann er den Brief geschrieben hat. Denkbar wäre eine Datierung vor der Rückgewinnung der Rheingrenze durch Aëtius im Jahre 428, oder aber nach der vierten Eroberung Triers, die er im gleichen Zusammenhang erwähnt. Damit wäre ein späteres Datum zwischen 435 und 440 wahrscheinlicher. Das würde außerdem bedeuten, dass das Gebiet schon bald wieder von Franken eingenommen war. Vielleicht kam es auch zu einer vertraglichen Vereinbarung zwischen Aëtius und den fränkischen Königen. STICKLER, Aëtius 2002 (wie Anm. 2), S. 143 f.; ECK, Köln 2004 (wie Anm. 39), S. 690.

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sich die Franken ähnlich den Vandalen Africas an römischen Herrschaftsstrategien orientierten.57 Offiziell lebten weder die in Köln in Not geratene Familie Salvians noch die den Bagauden und „Barbaren“ folgenden Römer unter einer fremden Herrschaft. Dazu hätte der römische Staat diese Gebiete Galliens, Spaniens und Africas preisgeben müssen, was entschieden der römischen Herrschaftsauffassung widersprochen hätte. Ein Festhalten an der römischen Reichsidee ließ sich selbst noch unter der Regierung Theoderichs ausmachen, in einer Zeit, in der sie keinen Realitätsgehalt mehr hatte.58 So ist es kaum verwunderlich, dass einige Zeitgenossen Salvians um 440 n. Chr. nach wie vor ihre Hoffnung auf den römischen Staat setzten.59 Salvian klagt, dass seine Zeitgenossen ihre Augen vor der Realität verschlossen hielten. Trotz drohender Gefahren sei die römische Welt armselig und ausschweifend. „Rom stirbt und lacht“ – moritur et ridet.60, so lautet sein bitterer Kommentar.

3 Römische Kommunikationsräume bei Salvian Grundlegende gesellschaftliche Werte standen in Kreisen christlicher Intellektueller des südlichen Gallien zur Diskussion. Einige gehörten dem gallo-römischen Adel an, waren in die Glaubensgemeinschaft des Klosters von Lerinum eingetreten und dort ausgebildet worden, um später zu Bischöfen in der Region aufzusteigen. Sie pflegten weiterhin ihre sozialen Kontakte untereinander und zu den führenden Persönlichkeiten ihrer Zeit. Davon zeugt vor allem die zu Recht häufig erörterte Briefkorrespondenz des 4. und 5. Jahrhunderts n. Chr.61

57 Werner Eck bemerkt, dass die Angleichung an die fränkische Kultur zum Ende des 5. Jhs. zunahm. Dazu ECK, Köln 2004 (wie Anm. 39), S. 694 ff. 58 Dazu Anm. 44. 59 Salvian, De Gubernatione Dei, VII,9,35. Text in Anm. 6. 60 Salvian, De Gubernatione Dei, VII,1,6. 61 Zu den Kontakten des Eucherius: MATHISEN, Ralph W.: Epistolography, Literary Circles, and Family Ties in Late Roman Gaul, in: Transactions of the American Philological Association 111 (1981), S. 104–108. Vgl. aber auch die Arbeiten von Sabine Mratschek (u. a.: MRATSCHEK, Sabine: Der Briefwechsel des Paulinus von Nola. Kommunikation und soziale Kontakte zwischen christlichen Intellektuellen (Hypomnemata 134), Göttingen 2002) und Zwischen Alltagskommunikation und literarischer Identitätsbildung. Studien zur lateinischen Epistolographie in Spätantike und Frühmittelalter, hg. v. Gernot Michael Müller (Roma Aeterna 7), Stuttgart 2018.

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3.1 Die klassische Bildung 3.1.1 Briefliteratur Salvian gehörte, wie oben bemerkt, ebenfalls in diesen Kreis und nahm rege an der Debatte über die (Neu-)Definition von Werten teil, die das wahrhaft christliche Leben, den Geltungsanspruch klassischer Bildung, die Weltregierung und Gerechtigkeit Gottes zum Gegenstand hatte. Seine Briefe, die in den Zeitraum zwischen ca. 430 und 472 datieren, dokumentieren seine Kontaktpflege zur Klostergemeinschaft von Lerinum, zu Eucherius und Salonius; weitere Briefe richten sich an den Bischof von Sens, Agroecius, an eine Nonne mit dem schönen, vermutlich keltischen Namen Cattura, „die Katze“, an einen nicht näher bekannten Limenius, der offenbar noch kein Christ war, an seine Schwiegereltern Hypatius und Quieta und an die Brüder Aper und Verus, Mitglieder des gallo-römischen Adels. Dass letztere nicht dem Klerus angehörten, lässt sich laut Ilona Opelt dem Sprachgebrauch entnehmen. Aper gehörte wahrscheinlich auch zu den Briefpartnern des Sidonius. Demzufolge stammten Aper und Verus aus einer vornehmen gallischen Familie aus Arverni.62 In der Spätantike folgten Briefe festen rhetorischen Vorgaben, weshalb ihre Verfasser wussten, welches Anliegen welche Stilformen erforderte. Es handelte sich um eine anerkannte Literaturform. Seit Jahrhunderten war beispielsweise die „Anwesenheit“ des Absenders beim Empfänger ein wesentliches Motiv, ein Stilmittel, das Salvian in Brief IV gleich dreifach nutzt, indem er selbst, seine Frau Palladia und indirekt seine Tochter Auspiciola flehende Worte an Hypatius und Quieta richten.63 In dem literarisch stilisierten Schreiben bemüht sich Salvian um eine Versöhnung mit seinen Schwiegereltern, wobei er auf die Erzählung des Livius von der Versöhnung zwischen Römern und Sabinern in Anbetracht gemeinsamer Nachkommen zurückgreift.64 Briefe zu schreiben, um Freundschaft zu pflegen, Ideen und Vorstellungen mitzuteilen, um etwas zu bitten, in eigener Sache oder im Interesse von Verwandten oder Freunden, hatte eine lange antike Tradition. Es gehörte ebenso zur Praxis, selbst private Briefe laut vorzulesen, den Inhalt auf diese Weise mit anderen zu teilen oder sie zu veröffentlichen.65 Oft übermittelte der Bote die eigentliche Nachricht,

62 Vgl. dazu insgesamt: OPELT, Briefe des Salvian von Marseille 1979 (wie Anm. 23), S. 161–182. 63 DIHLE, Albrecht: Die griechische und lateinische Literatur der Kaiserzeit. Von Augustus bis Justinian, München 1989, S. 575 ff. 64 Livius I,13. 65 Dass auch die christlichen Briefautoren des 4. und 5. Jhs. n. Chr. in der Tradition der vorchristlichen Kommunikationskultur stehen, bemerkt u. a. MÜLLER, Gernot Michael: Freundschaften wider den Verfall. Gemeinschaftsbildung und kulturelle Selbstverortung im Briefwechsel des Ruricius von Limoges, in: Gallien in Spätantike und Frühmittelalter 2013 (wie Anm. 4), S. 443. Auf den Wandel des

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weshalb der Inhalt nicht immer viel hergab.66 So dienten Briefe häufig in erster Linie der Bekundung der Zugehörigkeit zu einer Gruppe, die sich auf diesem Weg ihrer Freundschaft versicherte.67 Unmittelbar damit verknüpft war ein als traditionelles Verhaltensmuster eines Mitglieds der römischen Oberschicht einzustufendes Bemühen, als Förderer in Erscheinung zu treten. Das gilt auch für Salvian, der in dem an die Klostergemeinschaft von Lerinum gerichteten Brief I der Gemeinschaft seinen jungen Verwandten aus Köln empfiehlt.68 Auch anderenorts, bei weltlichen Würdenträgern, habe er sich für den jungen Mann eingesetzt, doch natürlich gab Salvian der Ausbildung in Lerinum vor jeder weltlichen „Ausbildungsstätte“ den Vorzug, auch wenn der Brief Andeutungen enthält, dass sein Verhältnis zumindest zu einigen Leriner Mönchen zwischenzeitlich getrübt war. Das galt sicherlich für Eucherius, dem Salvian in Brief II Hochmut vorwarf, da er ihm, einmal zum Bischof berufen, nur noch über Dritte hatte Grüße ausrichten lassen. Salvian fürchtete um den Erhalt der Freundschaft. Sein Festhalten an dieser römischen Kommunikationstradition weist ihn als Mitglied des Kreises spätrömischer gallischer Aristokraten aus. In diesen Kreisen gewann die Briefkommunikation den Charakter eines Mediums zur Behauptung und gleichermaßen neuen Ausprägung einer durch traditionell römische und christliche Werte verbundenen Identität. So betont ca. eine Generation später Sidonius, dass, sobald die Rangbezeichnungen hoher Amtsträger wegfielen, die beste Möglichkeit zur Differenzierung zwischen nobiles und inferiores der geschulte Umgang mit der Briefliteratur bleibe.69 Gernot Müller resümiert: „Über ihre Freundschaftsbriefe bezeugt die Korrespondenz des Ruricus (zwischen 440 und ca. 507 n. Chr., Briefpartner des Sidonius) somit die Persistenz antiker Briefkultur als identitätsstiftendes Ritual der römisch sozialisierten Elite im spätantiken Gallien über den traditionsbewussten Literaten Sidonius hinaus. Ihr spätes Ende wird sie erst bei Desiderius von Cahors im frühen 7. Jh. finden,

amicitia-Konzepts zu Beginn des 6. Jhs. verweist Diefenbach. Durch die Einbeziehung verstorbener Bischöfe in die amicitia-Beziehung werde die Tendenz einer Sakralisierung des Kreises bemerkbar. DIEFENBACH, Steffen: „Bischofsherrschaft“. Zur Transformation der politischen Kultur im spätantiken und frühmittelalterlichen Gallien, in: Gallien in Spätantike und Frühmittelalter 2013 (wie Anm. 4), S. 91–152, S. 133 ff. 66 PATZOLD, Steffen: Eliten um 630 und um 700. Beobachtungen zur politischen Desintegration des Merowingerreichs im 7. Jahrhundert, in: Die Merowingischen Monetarmünzen als Quelle zum Verständnis des 7. Jahrhunderts in Gallien (MittelalterStudien 27), hg. v. Jörg Jarnut und Jürgen Strothmann, Paderborn 2013, S. 551–561, S. 553. 67 Dazu MÜLLER, Freundschaften wider den Verfall 2013 (wie Anm. 65), S. 440 mit Anm. 53. 68 Salvian, Epistolae, I.: „Diese Frau nun vermutete nicht mit Unrecht, ich besäße hier die Gunst einiger ehrwürdiger Personen.“ 69 Sidonius Iohannis pro salutem (Sidonius Apollinaris, Epistulae, Buch VIII.): „[. . .] nam iam remotis gradibus dignitatum, per quas solebat ultimo a quoque summus quisque discerni, solum erit posthac nobilitatis indicium litteras nosse.“

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bevor sie in der Karolingerzeit unter veränderten kulturellen Vorzeichen, aber in vergleichbarer Verwendung wieder zu neuer Blüte erwachen wird.“70 Briefliche Korrespondenz erreichte durchaus eine breitere Öffentlichkeit, ging über die direkte Kommunikation zwischen Absender und Adressat hinaus und bildete somit einen Kommunikationsraum. Auch ein Austausch größerer literarischer Werke fand statt, was in Brief VIII an Eucherius und Brief IX an Salonius zum Ausdruck kommt.

3.1.2 Rezeption antiker Literatur Als eines der zentralen Themen spätrömischer christlicher Intellektueller ist die Frage des Umgangs mit der paganen antiken Bildungstradition zu bezeichnen.71 Klassisch gebildete Christen machten den Adressatenkreis von ‚De gubernatione Dei‘ aus. So bemerkt Salvian gleich zu Beginn: „Nun sollte eigentlich, da wir es doch mit Christen zu tun haben, zur Widerlegung dieser Einwände Gottes Wort genügen. Aber viele haben noch etwas vom heidnischen Unglauben in sich stecken; und sie mögen sich vielleicht durch die Aussprüche besonders auserwählter heidnischer Weiser angezogen fühlen.“72 Wenn Salvian fortfährt, dass bereits jene, die keine Kenntnis von Gott haben konnten, keine Zweifel am sorgsamen göttlichen Wirken in der Welt hegten, spricht er sich nicht gegen das Studium der klassischpaganen Literatur aus. Im Kern hegten nämlich seiner Auffassung zufolge die „heidnischen Weisen“ durchaus zutreffende Vorstellungen, sei es der von Pythagoras beschriebene Weltengeist, der Schöpfer allen Lebens,73 seien es die Auffassungen, die Salvian Platon und seinen Schulen, oder auch den Stoikern zuschrieb, der Gedanke an einen Gott als Lenker aller Dinge, als Steuermann.74 Achtung und Respekt verdiente für Salvian die an ethischen Maßstäben orientierte stoische Geschichtsauffassung.75 Ausgenommen aus der Gruppe der „heidnischen Weisen“

70 MÜLLER, Freundschaften wider den Verfall 2013 (wie Anm. 65), S. 449; MATHISEN, Ralph W.: Desiderius of Cahors: Last oft he Romans, in: Gallien in Spätantike und Frühmittelalter 2013 (wie Anm. 4), S. 455, S. 464; PATZOLD, Steffen, Eliten 2013 (wie Anm. 66), S. 551–561. 71 So auch MÜLLER, Freundschaften wider den Verfall 2013 (wie Anm. 65), S. 448; GRESCHAT, Spätantike Bildungstraditionen 2007 (wie Anm. 13) für den Leriner Kreis. 72 Salvian, De Gubernatione Dei, I,1: „Sufficere quidem ad refellenda haec, quia cum Christianis agimus, solus deberet sermo divinus. Sed quia multi incredulitatis paganicae aliquid in se habent, etiam paganorum forsitan electorum atque sapientium testimoniis delectentur.“ 73 Salvian zitiert nach Laktanz, Lactantius, Epitome divinarum institutionum, I,5,17. Vielleicht hatte er nie Griechisch gelernt. 74 Salvian, De Gubernatione Dei, I,1,3. 75 Er verweist auch auf Vergil und Cicero. Salvian, De Gubernatione Dei, I,4. Vergil, Georgica, IV,221 f.; vgl. Lactantius, Epitome divinarum institutionum, I,5,12; Cicero, Tusculanae disputationes, I,27,66; vgl. Lactantius, Epitome divinarum institutionum, I,5,25. Dass Salvian die Texte Ciceros

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seien jedoch die Epikureer mit ihren „wahnsinnigen“ Ideen, „die Lust mit dem Tugendbegriff, so auch den Gottesbegriff mit der trägen, schläfrigen Ruhe“ verbinden.76 Antithetisch vergleicht Salvian die idealisierten Verhältnisse des alten Rom mit den Zuständen seiner Zeit.77 Dazu nutzt er rhetorische Topoi des einfachen Landlebens und des Vorbildcharakters altrepublikanischer Helden: „Oder sollen wir etwa annehmen, dass es jenen Männern des Altertums mit ihrer erprobten Tüchtigkeit, einem Fabius, einem Fabricius, einem Cincinnatus, schwer aufs Herz gefallen ist, dass sie arm waren, sie, die nicht reich sein wollten, [. . .]?“78 Bei der Auswahl altrömischer exempla konnte Salvian auf die ‚Facta et dicta memorabilia‘ des Valerius Maximus zurückgreifen.79 Die darin hervorgehobenen „Personifikationen“ römischer Tugenden einer idealisierten römischen Frühgeschichte lebten freiwillig in bäuerlicher Armut, lehnten persönlichen Reichtum ab und trugen auf diese Weise zum stetigen Wachstum staatlicher Macht bei. Ausschließlich dem Gemeinwohl (ad communia emolumenta) galten ihre hehren Interessen. Und selbst bei den Griechen, so Salvian, habe es einige gegeben, die kein persönliches Vermögen, sondern nur Weisheit und Tugend angestrebt hätten. Auch in seinen Briefen setzt Salvian geschickt Beispiele römischer Tugenden für seine Argumentation ein.80 Er steht damit ganz in der Tradition gebildeter Gallier, die diese exempla maiorum zur Erklärung ihrer Welt des Imperium Romanum und zur Rechtfertigung ihrer privilegierten Position heranzogen.81 Salvian bleibt aber in gewisser Weise seinem antithetischen Stil treu, indem er den positiven

und Ovids gut kannte, da sich Übereinstimmungen in den Formulierungen, aber auch inhaltlicher Art finden, darauf verweist OPELT, Antikes Bildungsgut 1974 (wie Anm. 16), S. 54–61. 76 Salvian, De Gubernatione Dei, I,5. 77 Als Gegenbilder fungieren auch die Germanen und die frühen Christen Israels. „Tunc“ – „nunc“ leiten die Gegenüberstellungen ein. Dazu BADEWIEN, Geschichtstheologie und Sozialkritik 1980 (wie Anm. 17), S. 117 f. 78 Salvian, De Gubernatione Dei, I,2,10: „Nisi forte antiquis illis priscae virtutis viris, Fabiis, Fabriciis, Cincinnatis, grave fuisse existimamus, quod pauperes erant qui divites esse nolebant [. . .]“ 79 Bei dem Kaiser Tiberius gewidmeten Werk handelt es sich um eine systematisch geordnete Sammlung für Rhetoriker. Valerius Maximus, Facta et dicta memorabilia, (Fabius) 3,8,2; 4,8,1; 5,2,4; 7,3. (Fabricius) 1,8,6; 2,9,4, 4,3,6; (Cincinnatus) 4,4,7. Q. Fabius Maximus Verrucosus Cunctator (gest. 203 v. Chr.), fünfmal Konsul zwischen 233 und 209 v. Chr., rettet M. Minucius Rufus (Mitdiktator) aus einem Hinterhalt Hannibals. Fabricius: C. Fabricius Luscinus, Konsul von 282 und 278 v. Chr., triumphiert über Samniten, Lukaner, Bruttier, Tarentiner; er erhält von den Bewohnern Thuriois zum Dank eine Ehrenstatue in Rom. Cincinnatus: Er wurde von der Arbeit auf dem Feld zum Diktator erhoben. Fabricius und Cincinnatus blieben selbst nach ihren Siegen über die Feinde weiterhin arm. Angaben im Kommentar der Textausgabe: Valerius Maximus. Facta et dicta memorabilia. Denkwürdige Taten und Worte. Lateinisch/Deutsch, übersetzt und herausgegeben von Ursula Blank-Sangmeister, Stuttgart 1991, S. 311 f. Auch Augustinus nennt diese Beispiele: Augustinus, De civitate Dei, V,18. Vgl. BADEWIEN, Geschichtstheologie und Sozialkritik 1980 (wie Anm. 17), S. 118 mit Anm. 9. 80 Salvian, Epistolae, IV,37; Livius I,13. 81 DRINKWATER, Un-becoming Roman 2013 (wie Anm. 55), S. 70.

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auch negative exempla gegenüberstellt, wenn auch an einer späteren Stelle in seinem Werk: Einige aufgrund ihrer Ideen oder Lebensweise anerkannte Vorbilder der griechisch-römischen Antike finden keineswegs seine Zustimmung.82 In seiner Vorstellung von einem besseren, christlichen Leben konnte ein theoretisches Modell, wie es beispielsweise Platon in seiner ‚Politeia‘ entworfen hatte, nicht als Vorbild herhalten. Das Beispiel der Frauen- und Kindergemeinschaft, das den Intellektuellen seiner Zeit sicher bestens vertraut war, schreibt er dabei anders als etwa Laktanz gänzlich Sokrates zu.83 Das Modell widersprach allen moralischen und christlichen Ansprüchen des Presbyters. Die Athener hätten daher Sokrates völlig zu Recht verurteilt. Gleich im Anschluss widmet er sich einem weiteren, nun römischen Vorbild, dem alten Cato. Dieser „römische Sokrates“ habe seine Frau einem anderen Mann überlassen.84 Der vielleicht bekanntesten Verkörperung eines einfachen bäuerlich-republikanischen Lebens spricht er somit jegliche Anerkennung ab. Nicht alle als berühmt und lobenswert angesehenen Männer der klassischen griechisch-römischen Antike verdienten aus Sicht des Presbyters den ihnen gemeinhin zuerkannten Vorbildcharakter. Nicht jede philosophische Idee sollte weiter diskutiert werden. Salvian nutzt exempla, um seinen Lesern die Augen für die im Wandel befindliche Welt zu öffnen.85 Darüber hinaus fordert er, dass sie nicht ihre Not, nicht die rein äußeren Symptome der Krise beklagen, sondern nach deren Ursachen forschen sollten. Das bedeutet aber auch Folgendes: Wären die Ursachen erst einmal als Verlust zu Recht anerkannter traditioneller vorchristlicher und frühchristlicher Werte erkannt, dann müsste sich den zeitgenössischen Lesern auch ein Ausweg aus ihrer Misere eröffnen. Auch wenn Salvian dies nicht explizit formuliert, ist es zu kurz gedacht, ihn lediglich als Verfasser eines Krisenszenarios ohne Hoffnung auf eine Lösung zu sehen. Der Ausweg für seine christlichen Leser bestand doch indirekt in der Erkenntnis einer Rückbesinnung auf traditionelle Werte, wobei diese zuvor einer eingehenden, bewussten Prüfung unterzogen werden müssten, bevor sie eine

82 Salvian, De Gubernatione Dei, VII,23. Auch dazu dienen ihm Valerius Maximus und Laktanz als Vorlage. Laktanz argumentierte ganz in der Manier apologetischer Schriften des frühen 4. Jhs. Die geistige Überlegenheit gegenüber christlichen Texten, die pagane Intellektuelle insbesondere in den philosophischen Texten eines Platons erkannten, galt es zu widerlegen. 83 Platon, Politeia, 449aff. Anders als Laktanz: Lactantius, Epitome divinarum institutionum III,21. 84 Auch Valerius Maximus nennt zunächst Sokrates, dann Cato, wobei beide ihren Vorbildcharakter behalten. Valerius Maximus 3,4,6; vgl. auch 4,3,11, 6,4,2. 85 Salvian, De Gubernatione Dei, V,9,48. Vgl. auch die Ausführungen Hans-Joachim Diesners, der den Zweck der exempla im Wachrütteln der Römer aus ihrer Lethargie sieht. Sie sollten sich einem besseren Lebenswandel zuwenden. DIESNER, Hans-Joachim: Zwischen Antike und Mittelalter: Salvian von Massilia als Historiker und Geschichtsdenker, in: Kirche und Staat im spätantiken Reich, hg. v. Hans-Joachim Diesner, Berlin 1964, S. 149–154, S. 153.

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Symbiose mit ur-christlichen Vorstellungen eingehen könnten. Eine neue, zukunftsfähige christliche Gesellschaft müsste schließlich bei der Formulierung der virtus Christiana ihre Wurzeln in einer „geprüften“ griechisch-römischen Tradition, in der virtus Romana erkennen.86 Salvian bezieht Stellung in einer zeitgenössischen Debatte über den Wert der klassischen Bildung für einen wahrhaften Christen in einem römischen Kommunikationsraum, wobei er eine gänzlich andere Haltung als beispielsweise der in der Region von Marseille wirkende Mönch Cassianus einnimmt. Dieser lehnte das Studium klassischer Autoren rigoros ab und vertrat einen strengen, von seinem Aufenthalt in der ägyptischen Wüste geprägten, asketischen Lebensstil, für dessen Verbreitung er im Süden Galliens sorgte. In seinen ‚Conlationes‘ warnt Cassianus vor der klassischen Bildung, die einen wahren Zugang zur Heiligen Schrift verstelle. Entgegen dieser Auffassung bemüht sich dagegen Eucherius, der Leriner Mönch und spätere Bischof von Lyon in seinen Ausführungen um das Verbindende zwischen der klassischen Kultur und dem Christentum.87 Anregungen dazu fand er unter anderem in den Werken des Augustinus. Lerinum bezeichnet er in den für seinen Sohn Salonius zusammengestellten ‚Instructiones‘ als einen Ort umfassender Bildung. In einem zwischen 434 und 440 zu datierenden Dankesschreiben an den Bischof von Lyon für die Übersendung der ‚Instructiones‘ und ‚Formulae spiritualis intelligentiae‘88 bekundet Salvian seine Bewunderung für die beiden Werke, die Eucherius seinen Söhnen Salonius und Veranus in ihrer Tätigkeit als „Lehrer in ihren Kirchen“ an die Hand gegeben habe, und seine Zustimmung zu dessen Vorstellungen. Die christlichen Intellektuellen der Zeit unterschieden sich in ihrer Haltung zum Umgang mit dem traditionellen Erbe der klassischen Antike durchaus voneinander. Während beispielsweise Augustinus und Orosius in ihrer Stellungnahme zur Debatte über die Frage, wer für die Einnahme Roms im August 410 verantwortlich sei, adversus paganos wettern und die eigene, christliche Zeit als einen Fortschritt bezeichnen, betonen Salvian und Eucherius den allseits zu beobachtenden Niedergang. Die größte Schuld laste laut Salvian auf den Schultern all derer, die trotz besseren Wissens keine Umkehr in ihrem Verhalten erwogen.

86 Zur Zeit Salvians kamen dem bestenfalls Mönche nahe, die jedem Besitz konsequent entsagten. BADEWIEN, Geschichtstheologie und Sozialkritik 1980 (wie Anm. 17), S. 119; GREY, Salvian, the ideal Christian community 2006 (wie Anm. 48), S. 170 f. 87 Dass Eucherius ganz bewusst, um die Aufmerksamkeit seiner Leser zu wecken, in seinen Märtyrerberichten auf klassische Autoren wie Sallust, Livius, Cicero und Tacitus zurückgreift, arbeitet Philipp Bruggisser heraus, BRUGGISSER, Philipp: Un remodelage identitaire. Enquête sur les concepts de vitae exordium et d‘ innocentia dans la Passion des martyrs d‘Agaune d‘Eucher de Lyon, in: Gallien in Spätantike und Frühmittelalter 2013 (wie Anm. 4), S. 379–396, bes. S. 382 f. 88 OPELT, Briefe des Salvian von Marseille 1979 (wie Anm. 23), S. 165.

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Am Ende des hier nur kurz skizzierten Diskurses über den Fortbestand antiken literarischen Erbes in einem sich wandelnden Handlungsrahmen sollte schließlich die Wahrung der klassischen Bildung durch christliche Eliten stehen.89

3.2 Der römische Lebensstil Für Salvian galt nur ein Leben nach streng ethisch-moralischen Regeln als erstrebenswert, was für ihn ein Leben in Armut und Bescheidenheit bedeutete. Auch pagane Überlieferungen enthielten dazu einige Beispiele. Dass sich die einst vorbildlichen Sitten gelockert hatten und schließlich nahezu verloren gegangen seien, erklärt Salvian mit einem Zuwachs des römischen Reiches an Größe und Macht und dem damit einhergehenden steigenden Wohlstand. Theater, Zirkusspiele, opulente Gastmähler, kurz Luxus und Dekadenz hielten Einzug in das römische Leben. Angesichts des allgemeinen Überflusses sei dies noch verständlich gewesen – ein Gedanke, der zunächst überrascht, lehnte Salvians ein solches Leben doch grundsätzlich ab.90 Es stellt jedoch keine Schwäche seiner Argumentation dar, denn auf diese Weise gelingt es ihm, die Größe der Schuld all derer hervorzuheben, die unverdrossen an diesem Teil römischer Kultur festhielten, ungeachtet der allseits zu beklagenden Zerstörung, der Armut und des Elends. In seine Kritik an der beharrlichen Pflege eines doch typisch römischen Lebensstils bezieht er nicht nur die Mitglieder der Oberschicht, sondern die Masse des Volkes, Heiden wie Christen, mit ein. Mit seinen Hinweisen auf die im Schauspiel, Zirkus und Amphitheater präsentierte Unsittlichkeit, auf die verderbliche Wirkung steht er in einer langen Tradition christlicher Autoren.91 Die Sitte, Spiele etwa anlässlich eines Sieges über Feinde zu veranstalten, bedeute, Gott, dem man doch einzig diese Wohltat zu verdanken habe, mit einem „Götzendienst“ zu beleidigen. „Beides wird in den öffentlichen Spielen getan: denn durch die sündhaften Schändlichkeiten wird dort das ewige Heil des christlichen Volkes vernichtet, und durch den gottesräuberischen Aberglauben wird die göttliche Majestät verletzt.“92 Einen eigenen Abschnitt widmet er dazu den Vorgängen in Trier. Dort hätten die nobiles trotz mehrfacher Eroberung und Verwüstung ihrer Stadt zwischen 410 und 435 die Kaiser um circenses, 89 Dazu MÜLLER, Freundschaften wider den Verfall 2013 (wie Anm. 65), S. 421–454. 90 Anders sieht dies Jan Badewien, der bemerkt, Salvian sei hier nicht stringent in seiner Argumentation. BADEWIEN, Geschichtstheologie und Sozialkritik 1980 (wie Anm. 17), S. 120. 91 Dazu beispielsweise: WIEDEMANN, Thomas E. J.: Kaiser und Gladiatoren, Darmstadt 2001; Alexander PUK, Das römische Spielewesen in der Spätantike (Millennium-Studien 48), Berlin/Boston 2014, S. 21 ff. 92 Salvian, De Gubernatione Dei, VI,11: „hoc utrumque in ludis publicis agitur; nam per turpitudines criminosas aeterna illic salus Christianae plebis extinguitur et per sacrilegas superstitiones maiestas divina violatur.“ (S. 197). Nur in von Barbaren eroberten Gebieten kam diese Sitte zum Erliegen.

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um die Ausrichtung von Pferderennen gebeten.93 Die dritte Eroberung hatte Salvian als Augenzeuge miterlebt. Viele, so erklärt er, seien an ihren schweren Verwundungen gestorben, andere verhungert. Überall habe er Leichen gesehen, der Geruch sei unerträglich gewesen. „Und was nach diesem, so frage ich, was nach diesem allem? Wer kann die Größe dieses Wahnsinns ermessen? Wenige Adelige, die das Verderben überlebt hatten, forderten von den Kaisern Zirkusspiele, sozusagen als höchstes Trostmittel für die Stadt. [. . .] Zirkusspiele also, ihr Trierer, wünscht ihr, und zwar trotz der Verwüstungen, trotz der Einnahme, nach der Niederlage, nach dem Blutvergießen, nach Qualen, nach Gefangenschaft, nach all den Katastrophen eurer zerstörten Stadt. Was ist beweinenswerter als diese Torheit, was beklagenswerter als dieser Wahnsinn? [. . .] Du verlangst also öffentliche Spiele, Trierer? Wo, ich frage dich, sollen die abgehalten werden? Etwa über dem Grab und der Asche? Etwa über den Gebeinen und dem Blut der Erschlagenen? [. . .] ich wundere mich nicht, dass diese Leiden über dich gekommen sind, die daraus folgten. Denn weil dich drei Katastrophen nicht gebessert haben, verdienst du, durch die vierte unterzugehen. Dies alles habe ich ein wenig ausführlicher dargelegt, um zu beweisen, dass wir alle unser Unglück nicht wegen der fehlenden Fürsorge und wegen der Nachlässigkeit Gottes erlitten, sondern nach Recht und Gerechtigkeit, nach seinem Richterspruch.“94 Die erbetenen circenses und theatra fanden am Ende nicht statt, denn Salvian hätte sich nicht entgehen lassen, diese Steigerung der von ihm in so eindringlichen Bildern geschilderten Sündhaftigkeit anzuprangern.95 Die nobiles der Stadt konnten aufgrund ihrer prekären Situation kaum selbst Spiele ausrichten, daher wandten sie sich an die Kaiser. Ein konkreter Anlass könnte der erfolgreiche Feldzug gegen die Franken unter Castinus 421 oder aber die Erhebung des Heermeisters Constantius zum Augustus am 8. Februar 421 gewesen sein. Vielleicht führte der baldige Tod des Constantius III. noch im September des Jahres 421 oder aber die Finanzlage des römischen Staates

93 Salvian, De Gubernatione Dei, VI,85. Heinz Heinen geht von der Datierung der Eroberungen nach Anton aus. Ihm zufolge fand die erste Eroberung 410, die zweite 413, die dritte 419/20 statt, bevor die Stadt 428 oder 435 in einer vierten Zerstörung am Ende war. Bei den Kaisern muss es sich um Constantius III. (421) und Honorius (395–423) gehandelt haben. Dazu insgesamt: HEINEN, Heinz: Reichstreue Nobiles im zerstörten Trier. Überlegungen zu Salvian, De Gubernatione Dei, VI,72–89, in: Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik 131 (2000), S. 271–278. 94 Salvian, De Gubernatione Dei, VI,15,85, 89: „Et quid post haec, inquam, quid post haec omnia? Quis aestimare hoc amentiae genus possit? Pauci nobiles, qui excidio superfuerant, quasi pro summo deletae urbis remedio circenses ab imperatoribus postulabant. [. . .] Circenses ergo, Treveri, desideratis, et hoc vastati, hoc expugnati, post cladem, post sanguinem, post supplicia, post captivitatem, post tot eversae urbis excidia? Quid lacrimabilius hac stultitia, quid luctuosius hac amentia? Ludicra ergo publica, Trever, petis? Ubi quaeso exercenda? An super bustum et cineres, super ossa et sanguinem peremptorum? [. . .] Non miror plane, non miror evenisse mala tibi, quae consecuta sunt; nam quia te tria excidia non correxerant, quarto perire meruisti. Haec autem omnia idea copiosius paulo prolata sunt, ut probaremus scilicet omnia quae pertulimus non inprovidentia nos dei atque neglectu, sed iustita, sed iudicio, sed aequissima despensatione et dignissima retributione tolerasse.“ 95 HEINEN, Reichstreue Nobiles im zerstörten Trier 2000 (wie Anm. 93), S. 272.

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dazu, dass die Veranstaltung ausblieb.96 Die Trierer bemühten sich, trotz Zerstörungen und Eroberung um eine Verbindung zum Kaiserhof von Ravenna. Die moralische Wertung Salvians einmal außer Acht lassend bleibt festzuhalten, dass sich die Bevölkerung Triers um die Wahrung ihrer römischen Kultur bemühte. Spiele jeder Art machten einen wesentlichen Teil ihrer Identität als Römer aus. Kaiserliche Geburtstage, Regierungsjubiläen und militärische Erfolge wurden üblicherweise mit Spielen gefeiert.97 Selbst Salvian wusste, dass daher in keiner römischen Stadt entsprechende Spielstätten fehlen durften.98 Sie weiter zu betreiben, hatte somit neben der politischen und wirtschaftlichen auch eine psychologische Wirkung.99 Doch nicht nur die von Salvian als „Götzendienst“ eingestuften Spiele finden seine Verachtung. Als „Befleckung“ aller Christen wertet er die anscheinend immer noch praktizierte, aber schon „von den alten Heiden“ für lächerlich gehaltene Sitte, dass die consules bei Amtsantritt Weissagungen aus der Vogelschau suchten und dazu eigens Hühner hielten.100 Als besonders unsittlich und frevlerisch charakterisiert er schließlich das Leben in Africa. Karthago, ein Abbild Roms, zeichne sich durch ein so unmoralisches Leben aus, dass die Vandalen nach der Eroberung des Gebietes hart dagegen eingeschritten seien. Wie wenig das „Barbaren“-, bzw. hier „Vandalen“-Bild, in der Darstellung Salvians mit den zeitgenössischen Völkerschaften zu tun hatte, muss an dieser Stelle nicht weiter verfolgt werden.101 Zu den Unsitten in Africa gehöre außerdem neben der offen gelebten „Unmoral“ auch die Verehrung paganer Gottheiten, insbesondere der Astarte. Selbst Christen, unter ihnen Mitglieder der Oberschicht, seien ihr heimlich treu geblieben.102 Es handelt sich um einen wesentlichen Bestandteil seiner antithetischen Argumentation, „Barbaren“ moralisch höher als Römer dastehen zu lassen. Auf diese Weise wirkt sein Fazit, dass den zeitgenössischen Römern, insbesondere den Christen die größte Schuld an der Misere zukomme, schlüssiger. Weniger frevlerisch als dekadent stuft Salvian schließlich den von der reichen Bevölkerung anscheinend nach wie vor ungeniert zur Schau gestellten üppigen Lebensstil ein. Als Beispiele dienen ihm die Verhältnisse in Trier und Köln, wo die „Häupter der Stadt nicht einmal von den Gastmählern aufstanden, als schon der 96 Die Spielstätten dürften zumindest noch in großen Teilen in Takt gewesen sein, ebenso darf ein entsprechend großes Publikum vorausgesetzt werden. HEINEN, Reichstreue Nobiles im zerstörten Trier 2000 (wie Anm. 93), S. 274 f. 97 HEINEN, Reichstreue Nobiles im zerstörten Trier 2000 (wie Anm. 93), S. 274 f. 98 Laster wie diese finden sich überall dort, wo Römer sind. Salvian, De Gubernatione Dei, VI,8,9. 99 CINKE, Vladimir: Salvian von Marseille und die Zerstörung der Stadt Trier, in: Byzantinoslavica 33 (1972), S. 1–5. 100 Salvian, De Gubernatione Dei, VI,12. 101 Dazu BADEWIEN, Geschichtstheologie und Sozialkritik 1980 (wie Anm. 17), S. 91. 102 Salvian, De Gubernatione Dei, VIII,2.

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Feind in die Stadt eindrang.“103 Dass diese Gastmähler nicht nur der Völlerei und Trunksucht dienten, sondern der Pflege sozialer und politischer Kontakte, wusste der Presbyter natürlich. Doch auch dieser Bereich des traditionell römischen Lebens hat in seiner von Askese geprägten Denkweise und in seinem Bild von einer christlicheren Gesellschaft keinen Platz. Für den gallo-römischen Adel bedeuteten Gastmähler dagegen sicherlich ein wenig Normalität im Chaos. Vermutlich waren sie sich der Diskrepanz zwischen ihrem Verhalten und dem sich wandelnden Handlungsrahmen kaum bewusst. Möglicherweise wurden sie den neuen Zeiten aber dadurch gerecht, dass sie neue Kontakte knüpften und dazu „barbarische“ Machthaber und Würdenträger neben alten Vertrauten, Freunden und Geschäftspartnern zu Tisch luden. Die Pflege direkter persönlicher Beziehungen – ebenfalls ein Bestandteil des Kommunikationsraumes – spielte für die (provinziale) römische Oberschicht stets eine zentrale soziale und politische Rolle.

4 Zukunftsperspektiven Salvians und die zentrale Aufgabe der Christen Bestand das Ziel der Kommunikation in einer Einigung über gültige Normen und Werte, bleibt zu überlegen, ob und inwiefern Salvians Werk seinen Zeitgenossen mögliche Zukunftsperspektiven bot. Welche Aufgaben kämen Christen, christlichen Gemeinden, der Kirche zu? Inwiefern könnte das römische Reich (unsichtbar) weiterleben? Dabei spielt es für die Intention seiner Texte keine Rolle, wie groß die historische Authentizität der altrömischen Idealbilder oder der Lebensweise der frühen Christen war. Die von ihm idealisierte frühchristliche Gemeinde Jerusalems des 1. Jahrhunderts n. Chr. entsprach mehr dem gegenwärtigen Lerinum, so Peter Brown.104 Ebenso wenig beabsichtigte er eine wirklichkeitsgetreue Abbildung von Gesellschaft, Staat und Kirche des beginnenden 5. Jahrhunderts n. Chr. zu bieten.105 Kontrastierende Bilder, rhetorische Wendungen, literarische Topoi, sittlich moralische und religiöse Normen und Werte bestimmen seine Darstellungsweise und stehen ganz im Dienste seiner theologischen Deutungen, seiner apologetischen und seelsorgerischen Absichten. Für den Presbyter geht es in erster Linie darum, die tiefer liegenden Ursachen für die gegenwärtige Misere aufzudecken, die er in einem Sinken moralisch-ethischer, bzw. religiöser Grundsätze in Staat und Kirche erkennt. „Sehr viele erdulden 103 Salvian, De Gubernatione Dei, VI,13,77: „. . . principes urbis ipsius ne tunc quidem de conviviis surgerent, cum iam urbem hostis intraret.“ 104 BROWN, Through the Eye of a Needle 2012 (wie Anm. 12), S. 437. 105 Hans Joachim Diesner hebt auf den Gegenwartsbezug Salvians im Gegensatz zur zeitlosen Gültigkeit der Gedanken Augustins ab, DIESNER, Zwischen Antike und Mittelalter 1964 (wie Anm. 85), S. 150.

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die Strafe für ihre Sünden, und niemand lässt sich herbei, die Gründe für die Strafe zu erkennen.“106 Salvian sieht sich als „Römer“, wobei er durch den oben erläuterten abgewandelten Diskurs über traditionell römische Werte seinen eigenen Beitrag zum Transformationsprozess leistet: Nicht alle Traditionen und philosophischen Konzepte der griechisch-römischen Antike verdienten es seiner Auffassung nach aufrechterhalten zu werden. In dem gewandelten Handlungsrahmen gilt es laut Salvian, sein Handeln von seinem Verstand und nicht von einem von Begierden gesteuerten Willen leiten zu lassen.107 Das gegenwärtige Leid müsse ertragen werden, da es auf Gottes Urteil beruhe.108 In ‚De gubernatione Dei‘ fungieren die „Barbaren“ als „Vollstrecker“ des göttlichen Gerichts. Salvian spricht sich jedoch nicht für eine Unterwerfung unter eine barbarische Herrschaft aus. Indem er erläutert, wie es den Reichen gelang, die Armen auszuplündern, und indem er die Missstände aufzeigt, gibt er eine indirekte Antwort auf die Frage, was denn alternativ zu tun sei: Für die weltliche, die staatliche Ebene bedeute dies, bei Zahlungsforderungen beispielsweise von Steuern, eine gerechte Verteilung zu gewährleisten. Der Praxis der Reichen, höhere Steuerforderungen auf ihre armen Pächter umzulegen, müsse ein Riegel vorgeschoben werden. Des Weiteren sei offen zu legen, für welche konkreten Zwecke Zahlungen geleistet würden. Schließlich gehöre es zu den Aufgaben des Staates Sorge dafür zu tragen, dass Pflichten gerecht verteilt würden und Hilfsleistungen tatsächlich bei den Betroffenen ankämen.109 Ob Salvian auf den Tag hoffte, an dem dieses Konzept zum Tragen käme, bleibt ungewiss. Mehrfach spricht er vom Ende des römischen Staates. Die eigentliche Ursache für dessen Scheitern aber liegt für ihn im Versagen der Kirche.110 Seiner Argumentation entsprechend trugen diejenigen, die den besten Zugang zum Wissen und Glauben hatten, die größte Schuld an allem Unheil, und damit laste auf ihnen auch

106 Salvian, De Gubernatione Dei, V,9,48: „Plurimi poenas peccatorum suorum perferunt, et intellegere causas poenarum nemo dignatur.“ 107 Salvian, De Gubernatione Dei, VII,23,101: „sed ratione rerum agendum est, non libidine voluntatum.“ 108 Salvian, De Gubernatione Dei, VIII,1,6. 109 Salvian, De Gubernatione Dei, V,7,31 und 32: „Gravant nos novis debitis decreta vestra: facite saltim debitum ipsum vobis nobiscum esse commune. Quid enim iniquius esse aut quid indignius potest, quam ut soli sitis immunes a debito, qui cunctos facitis debitores? Et quidem miserrimi pauperes sic totum hoc, quod diximus, solvunt, quod qua re vel qua ratione solvant, penitus ignorant.“ Zu den Hilfsleistungen siehe Salvian, De Gubernatione Dei, V,8. 110 So auch BROWN, Through the Eye of a Needle 2012 (wie Anm. 12), S. 434: „For Salvian the church and not the empire was the Sick Man of Europe.“ Es würde zu weit führen, die zahlreichen kritischen Anmerkungen Salvians aufzuführen. Vgl. Salvian, De Gubernatione Dei, V,10 u. a.; sowie seine Schrift „Ad ecclesiam“.

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die Verantwortung; das traf in höchstem Maße auf die Kirche und ihre hohen Würdenträger zu.111 Mit schonungslosen Worten erklärt Salvian das Scheitern der christlichen Kirche. Mit der wirtschaftlichen Blüte und mit dem gewaltigen Zuwachs an Mitgliedern seien die traditionellen frühchristlichen Werte zusehends verloren gegangen. „Je stärker sich deine Anhänger mehrten, desto mehr wuchsen auch die Laster; je mehr deine Macht zunahm, desto mehr nahm die Zucht ab, und deine wirtschaftliche Blüte kam in Begleitung innerer Verluste. Denn als sich die Masse der Gläubigen vervielfachte, ward der Glaube selbst verringert und mit dem Wachstum ihrer Kinder wird die Mutter krank; und so bist du, o Kirche, durch deine gesteigerte Fruchtbarkeit schwächer geworden, bist durch die Mehrung zurückgesunken und hast an Kräften abgenommen.“112 Je größer und mächtiger die Kirche geworden sei, umso schwächer erscheine sie in ihrem Glauben und ihrer geistigen Kraft. In ‚Ad ecclesiam‘ klagt Salvian diejenigen an, die sich als Christen bezeichneten oder sogar zu den Klerikern gehörten, es aber an Barmherzigkeit – misericordia – vermissen ließen.113 Mit nahezu identischen Worten erläutert er das Versagen des römischen Staates. ‚Ad ecclesiam‘ verfasste er im Umfeld von Lerinum unter dem Pseudonym Timotheus. Warum er nicht seinen eigenen Namen verwandte, erläutert er seinem früheren Schüler und inzwischen zum Bischof von Genf berufenen Salonius in einem Brief (IX). Als namentlicher „Verehrer Gottes“ könne er die höheren Kreise, die Bischöfe und die Kirche als Gemeinschaft aller Christen kritisieren und dabei sicher gehen, dass seine Kritik auch wahrgenommen werde. Wüssten die Bischöfe, dass sie ein „Geringerer“ maßregele,114 würden sie seine Botschaft wohl schlicht ignorieren. Der Name Timotheus dürfte die Leser außerdem an den berühmten Empfänger des 1. Paulusbriefes erinnert haben, der vermutlich nicht aus der Feder des Apostels selbst stammte. Für Salvians Intention hatte dies keine Bedeutung. Wie Paulus seinem Timotheus eine Reihe von Instruktionen zur Leitung einer christlichen Gemeinde übermittelt hatte, so gemahnt Salvian nun als Timotheus und damit gleichsam aus erster Hand seine Kirche an die Werte ihrer Frühzeit. Selbst Gerechtigkeit, Demut und Barmherzigkeit zu üben und nicht an der Gerechtigkeit Gottes zu zweifeln, so lässt sich seine in ‚Ad ecclesiam‘ formulierte Kernaussage zusammenfassen. 111 Auf den Gedanken, dass das Handeln des Individuums das Leben der Gemeinschaft beeinflusste, ihm daher eine Verantwortung zukomme, verweist auch GREY, Salvian, the ideal Christian community 2006 (wie Anm. 48), S. 168. 112 Salvian, Ad ecclesiam, I,3,4: „[. . .] quantum tibi auctum est populorum, tantum paene vitiorum, quantum tibi copiae accessit, tantum disciplinae recessit, et prosperitas venit quaestuum cum magno faenore detrimentorum. Multiplicatis enim fidei populis fides imminuta est et crescentibus filiis suis mater aegrotat, factaque es, ecclesia, profectu tuae fecunditatis infirmior atque accessu relabens et quasi viribus minus valida.“ 113 Salvian, Ad ecclesiam, III,1,2. Vgl. FISCHER, „An die Kirche“ 1976 (wie Anm. 24), S. 116 f. 114 Salvian spielt hier vermutlich auf seine Nichtberufung zum Bischof an.

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Zur Umsetzung dieses Ideals bietet Salvian einen konkreten Vorschlag, der radikaler ausfällt als bei seinen Zeitgenossen: Weltliche und geistliche Würdenträger sollten ihr Vermögen spätestens auf dem Sterbebett der Kirche zukommen lassen. Dieser Gedanke beruht im Grunde auf dem altrömischen Usus, auch Freunde testamentarisch zu berücksichtigen. Die Realität sah anders aus: Viele Familien der spätrömischen Oberschicht des 5. Jahrhunderts bemühten sich angesichts der ökonomischen Depression ihren Besitz zusammenzuhalten, indem sie Töchter oder Söhne ins Kloster schickten und auf diese Weise die Mitgift, bzw. einen Erbteil einsparten.115 Salvian sieht dagegen einen Ausweg aus der Misere der Zeit in einer Umverteilung des vorhandenen Besitzes der Reichen, der weltlichen und der geistlichen Würdenträger, sowie in Spendenleistungen aller, deren Höhe je nach „Sündenlast“ einzustufen sei. Da nun keiner ohne Schuld sei, müsse folglich jeder Mensch schon zu Lebzeiten zum Gemeinwohl beitragen. Für die Kirche bedeute die Rückbesinnung auf frühchristliche Ideale natürlich keinen Verzicht auf einen Zuwachs an Mitgliedern oder die Aufgabe jeden Besitzes; letzterer sei jedoch humanitären Zwecken zuzuführen.116

5 Zusammenfassung Salvian wollte gehört werden, sei es mit seinem größeren Werk ‚De gubernatione Dei‘, sei es mit ‚Ad ecclesiam‘; darauf weist er ausdrücklich in seinem Brief an Salonius hin. Sicher ließe sich noch vieles zu den inhaltlichen Berührungspunkten seiner Werke zu den im Umfeld von Lerinum und Marseille diskutierten Auffassungen etwa des Cassianus, des Eucherius oder auch zu den Schriften des Pelagius sagen.117 Peter Brown zufolge nimmt Cassianus eine optimistischere Haltung ein, da aus Sicht des Marseiller Mönches der Geist des frühchristlichen Jerusalems in der ägyptischen Wüste überlebt habe und nun in die gallischen Klöster getragen werden müsse.118 Salvian hält dem entgegen: „Verschwunden und längst vorbei ist ja jene herrliche, alles überragende, beseligende Kraft der Frühzeit deines Volkes, da alle, die sich zu Christus bekannten, den vergänglichen Besitz an irdischem Vermögen verwandelten in die ewigen Werte himmlischer Güter. [. . .] Und jetzt? Jetzt

115 BROWN, Through the Eye of a Needle 2012 (wie Anm. 12), S. 438 f.; Salvian, Ad ecclesiam, I,10,1. 116 Salvian, Ad ecclesiam, I,12,61: „Cumque omnium supputaveris numerum, expende pretia singulorum. Et post haec non quaero, ut pro peccatis tuis totum deo tradas quod habes: hoc solum redde quod debes.“ Vgl. auch Salvian, Ad ecclesiam, II,11; BROWN, Through the Eye of a Needle 2012 (wie Anm. 12), S. 440 f. 117 BADEWIEN, Geschichtstheologie und Sozialkritik 1980 (wie Anm. 17), u. a. S. 176–201; BROWN, Through the Eye of a Needle 2012 (wie Anm. 12), S. 441 ff. 118 BROWN, Through the Eye of a Needle 2012 (wie Anm. 12), S. 437.

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ist auf all dies gefolgt Habsucht, Begehrlichkeit, Raubgier [. . .] Neid und Hass und Grausamkeit, Verschwendung und Schamlosigkeit und Verworfenheit.“119 Seine Verweise auf das vorbildliche Leben der frühen Christen oder zuvor auf die Tugenden alter Römer intendieren keinen Appell zu einer simplen Restauration. Kein theoretisches Modell idealer Lebensformen, wie es antike Philosophen entwickelt hatten – wobei er gegen Sokrates und Epikur polemisiert, kein heilsgeschichtliches Konzept, wie es Orosius oder Augustinus vertreten, entspricht seinem Geschichtsund Weltverständnis. Ebenso wenig benötigt er für seine Argumentation ein theoretisches Modell wie das der Abfolge von Weltzeitaltern, das zum Beispiel Augustinus, Eucherius und Vincenz von Lerinum verwenden.120 Die exempla maiorum dienen ihm dazu, das Wirken Gottes im irdischen Dasein zu erläutern. Salvian nimmt keine defätistische Haltung ein. Damit hebt er explizit hervor, dass die klassische Bildung für ihn durchaus einen berechtigten Raum beansprucht. Er ermahnt gleichsam von der Kanzel herab alle Christen, einschließlich der höchsten kirchlichen Würdenträger, zum Umdenken und zur Umkehr.121 Nicht im Einklang mit seiner Vorstellung eines authentisch christlichen Lebens steht für ihn das beharrliche Festhalten an einem die römische Identität ausmachenden, auch in Gallien und Nordafrika gepflegten Lebensstil, der sich in der Ausrichtung von Spielen, dem Veranstalten von Gastmählern, dem Einholen von Haruspizien oder der Pflege paganer Kulte äußert. Salvian zeichnet ein Bild einer nur oberflächlich christlichen, in mancherlei Hinsicht sehr profanen, klassisch-römischen Gesellschaft, die sich weigert, den Verfall ihres Imperiums zur Kenntnis zu nehmen.122 Indem er die „üblen“ Seiten des römischen Lebens auf gesellschaftlicher wie politischer Ebene hervorhebt, bietet er, sich dessen vermutlich gar nicht bewusst, einen Beleg für das Weiterbestehen römischer Traditionen, unabhängig vom Bestehen der römischen Herrschaftsstrukturen. Salvian entwickelt ein eigenes, an der Gegenwart orientiertes Modell einer christlichen Gemeinschaft, das ein radikales Umdenken erforderlich

119 Salvian, Ad ecclesiam, I,1,2 und 3: „Abiit quippe illa egregia ac supereminens dudum primitivae plebis tuae beatitudo, qua omnes Christum agnoscentes caducas rerum mundialium facultates in sempiternas caelestium possessionum opes conferebant, [. . .] At nunc pro his omnibus avaritia, cupiditas, rapina, [. . .] invidiae, inimicitiae, crudelitates, luxuriae, inpudicitiae, perditiones, [. . .]“ 120 Die Vorstellungen waren ihm durchaus vertraut. Salvian, De Gubernatione Dei, VII,14. Eucherius, De contemptu mundi, PL 50, 722C; Vincenz, Commonitorium I (ed. Jülicher S. 1, 15 f); dazu BADEWIEN, Geschichtstheologie und Sozialkritik 1980 (wie Anm. 17), S. 163 f., S. 170 f. 121 BADEWIEN zum paränetisch-persuativen Charakter: BADEWIEN Geschichtstheologie und Sozialkritik 1980 (wie Anm. 17), S. 29. 122 Peter Brown führt überzeugend aus, dass sich die christliche Kirche erst im 6. Jh. in ihren Besitztümern mit dem Landadel messen konnte und ein entscheidender Wandel vollzogen war. Erst dann kann von einem „post-Roman Age“ die Rede sein. BROWN, Through the Eye of a Needle 2012 (wie Anm. 12), S. 453. Auf den „konsequent durchgehaltenen Habitus, den die politisch-militärischen Eliten angesichts der Dekomposition ihres Imperiums entwickelten“, verweist EICH, Der Untergang des Imperium Romanum 2015 (wie Anm. 33), S. 45–72, bes. S. 49 f.

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macht. Den Willen Gottes zu erkennen, sich auf ein asketisch-religiöses Leben einzustellen, geht für ihn mit einer Reform von Kirche und Staat einher. Wie die Umsetzung aussehen sollte, verrät er nicht. Der Erhalt der politischen Strukturen des römischen Reiches scheint ihm dabei nicht zwingend erforderlich zu sein. Die politischen und sozialen Rahmenbedingungen bilden lediglich den Handlungsrahmen. Nicht der Wandel oder gar das Ende des römischen Staates gelten Salvian als wirklich beklagenswert, nicht einmal das Scheitern der Kirche als Institution, sondern vielmehr der Verlust grundlegender Werte und des wahrhaft christlichen Glaubens. Berechtigten Anspruch auf Bestand haben für ihn lediglich die klassischen virtutes und die diesen nicht unähnlichen mutmaßlich frühchristlichen Ideale. Auch die Pflege von Briefkontakten und damit die Aufrechterhaltung der Kommunikation zwischen den führenden Persönlichkeiten und Familien der Zeit liegen ihm am Herzen. Vermutlich war ihm ebenfalls nicht bewusst, dass er damit selbst zum Fortbestand einer traditionell römischen und für die Intellektuellen der Zeit identitätsstiftenden Kommunikationsstruktur beitrug. Das Ergebnis des Diskurses innerhalb seines römischen Kommunikationsraumes lässt sich als eine Einigung auf die bewusste Tradierung für wert befundener altrömischer Tugenden und frühchristlicher Werte verstehen, welche die Basis einer zukunftsträchtigen christlichen Gemeinschaft bilden sollten. Salvian gewährt einen differenzierten Einblick in den öffentlichen Diskurs über die für das Weiterleben essentiellen traditionellen Normen und Werte und damit in den Fortbestand des „Römischen“ in einer im Wandel befindlichen Welt, selbst unter „barbarischer“ Herrschaft.

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Römische Kommunikationsräume und ihr Fortbestehen in Bayern 1 Einleitung Die Thematik „Römische Kommunikationsräume und ihr Fortbestehen in Bayern“ gehört in den Zusammenhang einer seit geraumer Zeit heftig geführten Diskussion um die sogenannte „Bayrische Romanität“. 2004 hat zuerst der Archäologe Arno Rettner einen Katalog von 230 Ortsnamen zusammengestellt, die für Südbayern die Existenz einer „Bavaria romana“ beweisen sollen. Da der Begriff „romanisch“ bei Archäologen und Linguisten nicht eben derselbe ist, waren der Katalog bzw. nicht wenige der in ihn aufgenommenen Namen immer wieder Gegenstand der Diskussion. Ein Versuch, „romanisch“ in Bezug auf eventuelle Sprachrelikte der Römer in Bayern zu definieren, lautet wie folgt: Als „romanisch“ werden alle jene kulturellen Relikte bezeichnet, die wir auf die römische Herrschaft über ein Land und die unterschiedlich intensive Romanisierung dieses Landes zurückführen können. Das sprachliche Kommunikationsmittel war dabei das großräumig differenzierte Vulgärlatein, das wir nicht nur aus Namen und Reliktwörtern, sondern auch aus Inschriften und römerzeitlichen Texten bruchstückhaft zu rekonstruieren versuchen. Diese Sprache war historisch geschichtet; das heißt: sie bestand nicht nur aus lateinischer Lexik, sondern besonders im Namenschatz sind auch Elemente einer Substratsprache zu finden. Im Falle der Romania submersa in Deutschland war die Substratssprache vorwiegend keltisch.1 Für die späten Phasen des Vulgärlateins in den an die Germania libera angrenzenden römischen Provinzen sollte man auch sprachliche Einflüsse aus dem germanischen Superstrat in Betracht ziehen. Das Gebiet des heutigen Freistaats Bayern hat „Anteil an dem ehemaligen Territorium von drei römischen Provinzen [. . .] Das bei weitem größte Areal in Schwaben, Ober- und Niederbayern sowie in Mittelfranken zählte zur einstigen Provinz Rätien (Raetia). Eine kleine Region in Nieder- und Oberbayern bildete den Westen von Noricum, und im unterfränkischen Maingebiet zählte ein kleines Stück des Limes mit den Kastellen Stockstadt, Miltenberg und Wörth zur obergermanischen Provinz“.2 Der uns hier interessierende Teil des Römischen Reiches gehörte sprachlich zu der so genannten „Westromania“.

1 Vgl. GREULE, Albrecht: Romanische Sprachrelikte in Bayern, in. Historische Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft, hg. v. Michael Bernsen, Elmar Eggert und Angela Schrott, Bonn 2015, S. 283. 2 CZYSZ, Wolfgang / DIETZ, Karlheinz / FISCHER, Thomas / KELLNER, Hans-Jörg: Die Römer in Bayern. Stuttgart 1995, S. 11. https://doi.org/10.1515/9783110623598-006

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2 Theorie, Zielsetzung, Methode Etymologische Fragestellungen sollen im Folgenden nur am Rand eine Rolle spielen. Vielmehr steht im Fokus der Versuch auf Grund der Verdichtung romanischer Ortsnamen im römischen Bayern „römische Kommunikationsräume“ auszumachen. Weiter vermute ich, dass eine Verdichtung von ins Frühmittelalter tradierten Namen auf ein Fortbestehen von spätrömischen Kommunikationszonen hindeutet. Dass Ortsnamen – oder besser: geographische Namen – Zeugnisse der Kommunikation sowohl im Raum der Provinz selbst als auch außerhalb über deren Raum hinaus sind, bedarf kaum einer Erklärung: Wie sonst sollte die militärische, verwaltungsmäßige, finanzpolitische und wirtschaftliche Kommunikation im Raum ohne Namen funktionieren? Es ist interessant, dass das große Standlager der 3. Italischen Legion, soweit wir sehen können, mit dem Gattungswort castra – und damit funktional – bezeichnet wurde, seine Lage aber doch geographisch spezifiziert wurde durch den Flussnamen als Regino „am Regen gelegen“, genauer: „an der Mündung des Regens in die Donau/Danuvius gelegen“. Wenn wir römische Kommunikationsräume in Bayern auf diese Weise erfassen wollen, müssen wir zunächst auf die in römerzeitlichen Quellen (Inschriften, Geographien, Karten, Itinerarien) erwähnten Ortsnamen zugreifen. Dabei spielt es zunächst keine Rolle, ob die Namen Kontinuität in der germanischen Zeit aufweisen oder nicht. Der primär römischen Überlieferung steht gleichsam eine sekundäre gegenüber, nämlich bei Namen, die römerzeitlich nicht bezeugt sind, aber durch etymologische Schlussverfahren auf vorgermanische, meist romanische Ursprünge zurückprojiziert werden können. Um nur ein Beispiel zu nennen: Der heutige Ortsname Pähl im Lkr. Weilheim-Schongau ist unzweifelhaft auf romanisch bovile ‚Ochsenstall‘ zurückzuführen. Was das Fortbestehen römischer Kommunikationsräume in baiwarischer Zeit anbelangt, bilden die „Mischnamen“ noch eine dritte wichtige Kategorie. Es handelt sich insbesondere um solche Ortsnamen, die mit dem germanischen Suffix -ing von romanischen Personennamen abgeleitet sind, z. B. Beispiel Prüfening (Stadt Regensburg). An letzter Stelle in der Skala romanischer Kontinuität können Ortsnamen wie Weißen-burg stehen, in denen zwar kein romanisches Sprachelement vorhanden ist, wohl aber durch ein germanisches Gattungswort wie burg auf römische Mauerreste Bezug genommen wurde.

3 Genese römischer Kommunikationsräume in Bayern Aus der historischen und archäologischen Beschreibung der Römerzeit in Bayern3 können im Verlauf der Besetzung des Landes zwischen Alpen und Donau sechs

3 Ich folge der umfassenden Abhandlung „Die Römer in Bayern“ von 1995 (CZYSZ/DIETZ/FISCHER/KELLNER, Römer in Bayern 1995, wie Anm. 2).

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Phasen der Ausbildung römischer Kommunikationsräume unterschieden werden. Konstitutiv für die Bildung der Kommunikationsräume sind die römischen Straßen und die Limes-Linien. 1. Phase: Nach dem Jahr 15 v. Chr. wurden die (transalpinen) Alpenvorlande durch Augustus besetzt, was für die Römer die Errichtung einer territorial nicht notwendig geschlossenen neuen Zone bedeutete. Bald nach der Okkupation begannen sie das eroberte Gebiet mit Straßen und mit Straßenstationen zu erschließen.4 In Verbindung mit der Via Claudia Augusta, die – als Süd-Nord-Achse – von Oberitalien durch die Alpen über Augsburg bis zur Donau führte (a flumine Pado at flumen Danuvium)5, entstand auch eine West-Ost-Achse. Diese Straße führte von Bregenz über Kempten, Epfach, Gauting, Andechs und Seebruck (Chiemsee) nach Salzburg. Die 2. Phase ist gekennzeichnet durch den Ausbau der Donaugrenze unter Kaiser Claudius; sie reichte von Nersingen im Lkr. Neu-Ulm bis Passau. Daran entstanden neue Kastelle. In den ländlichen Bezirken entwickelte sich ein Netz von villae rusticae, besonders um Augsburg, München und im Ries. Ab dem 2. Jahrhundert spielte vermutlich Augsburg die Rolle eines Vororts der Provinz Raetia. 3. Phase: Errichtung des obergermanisch-raetischen Limes in mehreren Etappen um die Wende vom 1. zum 2. Jahrhundert n. Chr. Der raetische Teil des Limes reichte von Eining/Abusina (Neustadt a. d. Donau, Lkr. Kelheim) bis Theilenhofen (Lkr. Weißenburg-Gunzenhausen). Um die Kastelle am Limes entstanden aus Lagerdörfern kleinstädtische Siedlungen. Zwischen dem raetischen, neuen Limes und dem „alten“ Donaulimes kann man sich gut die Entstehung eines neuen Kommunikationsraumes vorstellen. 4. Phase: Ab dem Jahr 175 ist Regensburg – als Folge der Markomannenkriege – der Standort der 3. Italischen Legion. Um das von ihr dort gegenüber der RegenMündung errichtete imposante Castrum Regino lagerten sich die canabae legionis, quasi-städtische Zentren mit Händlerbezirken und zivile Siedlungen, die vici, so dass man vom Raum um Regino als von einem spezifischen kleineren Kommunikationsraum reden kann. 5. Phase: Nachdem um die Mitte des 3. Jahrhunderts. der raetische Limes aufgegeben worden war, erfolgte zur Zeit Valentinians I. (364–375) mit dem Donau-IllerRhein-Limes ein letzter massiver Limes-Ausbau, der von Passau über Künzing, Straubing, Regensburg, Eining, Manching, Burgheim usw. bis Kempten und Bregenz reichte, d. h. der Limes schützte jetzt römisches Gebiet gegen die nördlich der Donau und westlich der Iller operierenden Alemannen. An wichtigen Straßen und Flussübergängen entstanden im Hinterland Binnengarnisonen.

4 CZYSZ/DIETZ/FISCHER/KELLNER, Römer in Bayern 1995 (wie Anm. 2), S. 49 f. 5 CZYSZ/DIETZ/FISCHER/KELLNER, Römer in Bayern 1995 (wie Anm. 2), S. 528–532.

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6. Phase: Die Annahme dieser letzten Phase ist bedingt durch das Ende der Herrschaft der Römer, die zu Anfang des 5. Jahrhunderts den Schutz der Provinz Raetia secunda germanischen Föderaten übertragen hatten.6 Es wird damit gerechnet, dass wie im Osten Raetiens und in Ufernoricum die römische Herrschaft in Bayern aber inselartig über das Jahr 476 hinaus andauerte.

4 Die romanische Namenlandschaft in Bayern Der diesem Kapitel zugrunde gelegte Katalog (im Anhang) erfasst die in römerzeitlichen Quellen belegten Ortsnamen in Bayern (nach Regierungsbezirken), nicht die auf Grund sprachhistorischer Rekonstruktion als wahrscheinlich auf die Römer und Kelten zurückgehenden Ortsnamen.7 In den Katalog im Anhang sind nur die geographischen Namen aufgenommen worden, die in römerzeitlichen Quellen direkt überliefert sind. Sie geben uns bruchstückhaft und vage sowie durch die mittelalterliche Überlieferung gebrochen einen Einblick in die Beschaffenheit der vulgärlateinischen, romanischen Sprache, die in Bayern vom 1. bis zum 5. Jahrhundert verwendet wurde. Für die Qualifizierung der römischen Kommunikationsräume sind die diachronische Perspektive auf die Namen, die Art ihrer Überlieferung, Erkenntnisse zu ihrer Lautentwicklung und zur Wortbildung ebenso wichtig und interessant wie die Frage ihrer Übernahme in die Sprache und Kommunikation der germanischen Nachfolger. Ptolemäus (2. Jahrhundert) überliefert in seiner „Geographia“ die ältesten, etymologisch fast ausschließlich keltischen Namen von teils als „polis“ kategorisierten Orten in Bayern: Alkimoennís, Bédakon, Boióduron, Abudiakón (Epfach), Ainos (Inn), Karródunon (Manching?), Likían (Akkusativ) (Lech), Augústa Vindelikón (Augsburg), Kambódunon, Kantiobis? (Gunzenhausen). Die Hauptmasse der Ortsnamen stammt aber aus dem ‚Itinerarium Antonini‘, einem im 3. Jahrhundert verfassten Verzeichnis römischer Straßen, und/oder aus der kartographischen Darstellung des römischen Straßennetzes, der ‚Tabula Peutingeriana‘ (Original ca. 375). Nicht wenige Namen können wir der ‚Notitia dignitatum‘ entnehmen, einem Verzeichnis der zivilen und militärischen Ämter in den westlichen Reichsteilen, deren Aufzeichnungen für die Zeit um 400 Gültigkeit haben sollen.8 Darin findet sich auch die erste Erwähnung von Passau, nämlich Batavis, weil hier die neunte Bataverkohorte stationiert war. In der spätesten römischen Quelle, in der a. 511 im Kloster Lucullanum bei Neapel verfassten Vita Severini des Eugippius9 wird

6 CZYSZ/DIETZ/FISCHER/KELLNER, Römer in Bayern 1995 (wie Anm. 2), S. 401. 7 Siehe dazu meine Online-Publikation: GREULE, Albrecht: Die romanischen Ortsnamen in Bayern 26.2 (2015) https://epub.uni-regensburg.de/31392/ (letzter Zugriff 21. Juni 2020). 8 CZYSZ/DIETZ/FISCHER/KELLNER, Römer in Bayern 1995 (wie Anm. 2), S. 362. 9 CZYSZ/DIETZ/FISCHER/KELLNER, Römer in Bayern 1995 (wie Anm. 2), S. 401–403.

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Batavis/Passau mehrfach als oppidum bezeichnet. In ihr beschreibt Eugippius das Wirken des heiligen Severin, der vor 467 nach Ufernorikum kam, und gibt so eine „faszinierende Darstellung des Untergangs der römischen Welt im raetisch-norischen Grenzbereich“10 und damit auch eine Darstellung der kommunikativen Möglichkeiten in der von Passau bis Quintanis/Künzing reichenden Kommunikationsinsel.11 In diesem Zusammenhang ist ein Blick auf die Specifica der Namen-Kontinuität bzw. Namen-Diskontinuität hilfreich. Daraus können wir auf das Fortbestehen bzw. den Untergang spätrömischer Kommunikationsräume in Bayern schließen.

5 Fortbestehen spätrömischer Kommunikationszentren/-inseln Theoretisch können wir bei den romanischen Ortsnamen unter dem Aspekt ihres Fortbestehens in nachrömischer Zeit folgende Typen unterscheiden: 1) Nahtlose Integration ins Bairische, was als Beweis für eine Fortführung der römischen Kommunikationsinseln durch Germanen und für die – wenigstens vorübergehende – Existenz interlingualer Kommunikation mit einem germanischen Superstrat und einem romanischen Substrat gelten kann. Beispiel: roman. (castra) Batava > altbair. Bazzauua, Pazzaua mit deutlichen Anzeichen der althochdeutschen Lautverschiebung. 2) Indirekt kann man hierher die Fälle von Übertragung stellen, wenn z. B. wie bei Altmühl < *Alkmonia der als Polis-Name (Alkimoennis) überlieferte Name nur noch als Fluss- und nicht mehr als Ortsname verwendet wird. 3) Zwar kann die Integration ins Bairische bei den so genannten Mischnamen nicht als „nahtlos“ bezeichnet werden, dennoch sind sie Zeugen sowohl des Fortlebens des Kommunikationsraumes in baiwarischer Zeit als auch ganz besonders einer interlingualen Kommunikation. Beispiel roman. Augusta > ahd. Augusburuc. Die Bildung eines Kompositums mit dem Grundwort ahd. burg (buruc) ‚befestigter Ort, mit Mauern umgebene Ansiedelung‘ bringt deutlich zum Ausdruck, dass Sprecher des Germanischen die befestigten römischen Siedlungen weiterhin benutzten und in ihnen und über sie kommunizierten. Im Falle des Namens von Regensburg wird dies besonders deutlich, auch wenn hier keine nahtlose Integration ins Bairische (aber ins Slawische, vgl. tschechisch Řezno) erfolgt ist (s. u.). Hierher gehören nicht nur die komponierten Mischnamen, sondern auch die derivierten wie Prüfening oder Traubling mit dem Suffix -ing.

10 CZYSZ/DIETZ/FISCHER/KELLNER, Römer in Bayern 1995 (wie Anm. 2), S. 402. 11 Den wenigen auf Inschriften genannten Namen haftet das Manko der nicht genauen Datierbarkeit an.

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4) Ohne Kontinuität bleiben nicht wenige romanische Ortsnamen wie: Bedakon/ Bedaio, Iovisura usw. 5) Manche Romanische geographische Namen sind – wie *Bovile > Pähl – aus der Römerzeit nicht überliefert, können aber aus der mittelalterlichen Überlieferung rekonstruiert werden. Spätrömische „Kommunikationsinseln“, die in baiwarischer Zeit weiter funktionierten, können wir nun aus folgender Kombination erschließen. Wenn sich im Umkreis einer Siedlung mit aus der Römerzeit tradiertem Namen Siedlungen häufen, die einen rekonstruierten romanischen oder Mischnamen tragen, dann gehen wir von einem Fortleben des römischen Kommunikationsraumes unter germanisch-bairischem Vorzeichen aus. Recht gut erforscht sind zwei solcher Kommunikationsinseln entlang der Donau, und zwar die um Regensburg (a) und die mit Passau/Boiotro (b) im Zentrum. (1) Fortbestehen des römischen Kommunikationsraums um das castrum Regino/ Reginesburg aufgrund folgender Namenkonstellation und -häufung: Flussname Reginus/Regen, im Ortsnamen Regino castra; Flussname *Noba, germanisiert Naba/Napa, jetzt Naab; Flussname *Labara/Laaber; jenseits der Donau; Ortsname *Karrīna (via), jetzt Kareth, als Lehnübersetzung heute Steinweg. Der Name des weit nördlich von Regensburg am Zusammenfluss von Vils und Naab liegenden Ortes Kallmünz ( *Salna) fort.12

12 GREULE, Albrecht: Deutsches Gewässernamenbuch. Etymologie der Gewässernamen und der zugehörigen Gebiets-, Siedlungs- und Flurnamen, Berlin/Boston 2014, S. 459.

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(2) Die Existenz eines spätrömischen Kommunikationsraums, der von Passau bis Künzing reichte, muss nicht erst aus den Namen rekonstruiert werden; er wird vielmehr, wie bereits ausgeführt, in der Vita Severini beschrieben. Zu den nahtlos tradierten Namen Batava > Passau, Quintanis > Künzing und Boiodurum/ Boiotro > Beider(-wies), kommen im Umkreis hinzu Mittich (< *Medika), Pocking (< kelt. PN*Bukkos + -ing-), Kasten (< *Kassianum) und die vermutlich keltischen Namen der jenseits der Donau im Bayerischen Wald liegenden Berge Arber, Lusen und Osser. Der genaueren Erforschung harren folgende aufgrund der Namenkonstellation vermutete Kommunikationsräume: – die Zone zwischen Abusina, jetzt Eining, und Manching/Paar, (später hauptsächlich ing-Namen, auch links der Donau) mit dem Flussnamen Abens und den Ortsnamen Kasing, Pfünz, mit Celeuso, jetzt Pförring, Germanico, jetzt Kösching. – der Raum zwischen Donau und raetischem Limes mit dem Landschaftsnamen Raetia > Ries, den Flussnamen Wörnitz, Altmühl und Rezat, während es keine onomastischen Spuren von Biricianis/Weißenburg, Iciniaco/Theilenhofen, Kantiobis/Gunzenhausen, Mediana/Gnotzheim und Sablonteum/Ellingen gibt. – Ein spätrömischer Kommunikationsraum, der in der germanisch-alemannischen Zeit fortbestand, zeichnet sich im Ost-Allgäu ab: lacus Brigantinus, jetzt Bodensee, Isny < *Isin-īna, Kempten, Füssen, Pfronten, Argen-Iller-WertachLech, Escone, jetzt Biessenhofen, Vemania, jetzt Gestratz (< Castris), Hoyren (< Horreum), Irsee ( */bédajo/. !Beiderwies, Mischname →Boiodurum +Boioduron, jetzt Beiderwies (Passau-Innstadt), und Boiterbach, r.z. Inn. Boióduron (Ptolemaeus), Boiodoro (Intinerarium Antonini, Notitia dignitatum), Boiotro (Vita Severini), 1067 (Kopie 13. Jh.) in ripa . . . Peutra, um 1342 in der Pewter, 1733 Auff der Beide Wiessen. Die vorbairische Form des Namens *Boidra (> bair. Poitra/Peutra) weist Spuren romanischer Lautentwicklung auf. Kompositum mit dem kelt. PN Boios und kelt. *duro- ‚Tal-, Flussenge’.

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+Bratananio (Tabula Peutingeriana) am Übergang der Straße Augusta Vindelicum – Iuvavum über die Würm, jetzt Gauting (Ldk. Starnberg). Praedienname mit roman. Suffix -aniu- abgeleitet von PN *Bratano- ? (kelt. *brātu- ‚judgement’)? +Businca (Eugippius, Vita Severini) „ein kleiner Fluss“, links zur Donau bei Künzing (Lkr. Deggendorf), keltisch (?) *busenkā/*būsenkā ‚durch Wasserschwall entstehendes Überschwemmungsgebiet’? +Celeuso (Tabula Peutingeriana), Reiterkastell nördlich von Pförring (Lkr. Eichstätt); der Name ist vielleicht verwandt mit gallisch celicnon ‚Turm’, lebt vermutlich weiter in Kelsgau, 844 Chelsgaue, und in Kelsbach (l.z. Donau). +Coveliacas (Tabula Peutingeriana), Höhensiedlung auf dem ehemaligen Hügel im Murnauer Moos und spätrömische Befestigung in der Nähe der Römerstraße Augusta Vindelicum – Parthanum (Markt Murnau, Lkr. Garmisch-Partenkirchen). Roman. coveliacas (< vulgärlat. *cubiliacae Plural), mit Suffix -aca abgeleitet von lat. cubile (Plural cubilia) ‚Lager, Schlafstätte’. Donau, Fluss, bei römerzeitlichen Autoren Dānuvius/Dānubius, < keltisch *Dānowjos. Epfach, Gem. Denklingen (Lkr. Landsberg am Lech), frühkaiserzeitliche Militärstation auf dem Lorenzberg in einer Lech-Schleife, Vicus und spätantike Befestigung, Abudiakón (Ptolemaeus), lat. Lokativ *Abudiaco. Die Belegreihe (Abodiaco, Abuzaco, lies /abudjako/, locus Ephtaticus, lies /eptach/?, Epphach usw.) gibt mehrere romanische Lautwandlungen (Hebung /u/ > /o/, Synkope) zu erkennen. Die bairische Form des Namens geht von romanisch *Abdjak- (> *Eptach > *Eppach > Epfach) aus. Praedienname mit Suffix -ako- abgeleitet vom keltischen PN Abudius. +Germanico (Tabula Peutingeriana), Kastell und Vicus, jetzt →Kösching (Lkr. Eichstätt). Inn Fluss links zur Donau in Passau, < keltisch *Enios, mittellateinisch Enus. +Iovisura (Itinerarium Antonini), Straßenstation bei Landshut (Niederbayern), vermutlich an der Stelle, wo die Römerstraße Regensburg-Pfaffenhofen am Inn die Isar quert. Haplologisch gekürzt aus *Iovis Isura ‚Isarübergang des Juppiter’. +Isinisco/+Isunisco (Itinerarium Antonini, Tabula Peutingeriana), Groß-/Kleinhelfendorf (Gem. Aying, Lkr. München). +Karródunon bei Ptolemaeus überlieferter Namen des spätkeltischen Oppidums von Manching (Lkr. Pfaffenhofen a.d. Ilm), vermutlich Hauptort der Vindeliker. Kompositum mit kelt. *karro- ‚Wagen’? und kelt. *dūno- ‚Festung’. Lech, Fluss rechts zur Donau, Likíu (Genitiv), Likían (Akkusativ) (Ptolemaeus) (vgl. Stammesname Licates ‚Lech-Anwohner), 8. Jh. (Kopie 10. Jh.) Lech, < roman. Licus (*Likius, Licca) über kelt. *wlikos < (idg.) *wlikwós ‚Befeuchter’ zu idg. *wleikw- ‚befeuchten’.

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Partano (Itinerarium Antonini), jetzt (Garmisch-)Partenkirchen, Lkr. GarmischPartenkirchen. Passau, 425–430 (Kopie 15./16. Jh.) Batavis (Notitia dignitatum), 511 zum 5. Jh. (Kopie 10./11. Jh.) Batavis oppidum (Vita Severini), nach der in spätrömischer Zeit hier stationierten Bataverkohorte. +ad pontes Tessenios (Tabula Peutingeriana) Station in der Gegend von Murnau an der Straße von Augsburg nach Partenkirchen. Tessenius < *Tissenius, Adjektiv zu ON Tissē, Stadt in Sizilien am Ätna, jetzt Randazo. +a ponte Aeni, (Itinerarium Antonini), römische Siedlung am Übergang der Straße Augusta Vindelicum–Iuvavum, jetzt Pfaffenhofen am Inn (Gem. Schechen, Lkr. Rosenheim). Quintianis (Itinerarium Antonini), Quintanis (Notitia dignitatum, Vita Severini), jetzt Künzing (Lkr. Deggendorf), Landschaftsname 890 Quinzingouue, < Praedienname *Quintianu- mit dem Suffix -anu- abgeleitet von roman. PN Quintius. !Regensburg (Mischname), bairische Lehnübersetzung von roman. Regino (castra) ‚Lager am Regen’ (Itinerarium Antonini, Tabula Peutingeriana, Notitia Galliarum), (Notitia dignitatum, fälschlich Castra Regina) → Regen, Fluss links zur Donau, als Regino belegt im roman. Lagernamen Regino (castra) ‘Legionslager am Regen’, abair. Regan, < kelt. *Reginos. vik[ani] Scutt[arenses], vicus und Kastell Nassenfels (Lkr. Eichstätt), inschriftlich 2. Jh. n.Chr., < Flussname 918 Scutara, jetzt Schutter, l.z. Donau. .+Sorvioduro (Tabula Peutingeriana), Kastell und Vicus, jetzt Straubing (Niederbayern). Kompositum mit kelt. *duro- ‚Tal-, Flussenge’ und einem Gewässernamen *Surw-jo- (mit romanischem Lautwandel /u/ > /o/). ?+Urusa (Tabula Peutingeriana: Station zwischen →Brataniano und Abodiaco/→Epfach. Lokalisierung und Etymologie unklar. +Vallato (Notitia dignitatum), jetzt Manching., lat. vallatus ‚durch Wall und Pfähle geschützt, umwallt’. +Venaxamodurum (Notitia dignitatum), spätrömisches Kastell auf dem Stadtberg von Neuburg an der Donau (Lkr. Neuburg-Schrobenhausen). Kompositum mit dem Grundwort kelt. *duro- *duro- ‚Tal-, Flussenge’, im Bestimmungswort Venaxamo- liegt der kelt. Superlativ *aks-amo- ‚sehr spitz’ vor. +Vetonianis (Tabula Peutingeriana: Station zwischen Biricianis und Germanico), Kohortenkastell auf dem Kirchberg bei →Pfünz an der Altmühl. Mit dem Suffix -ano- von (kelt.) PN Vetonius abgeleitet. Außerhalb des römischen Reichs, aber in „Sichtweite“ des Donau-Limes: +Gabreta silva = Bayerischer Wald(?)

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BAYERISCH SCHWABEN !Augsburg (Mischname), frühkaiserzeitlicher Militärstützpunkt, Kastell und Provinzhauptstadt inschriftlich 2. Jh. n. Chr. (civitas) Augusta (Vindelicum), 826 Augusburuc (= ahd. *Ougust-burg). +Cassiliacum (Notitia dignitatum), Garnisonsort in der Nähe von Memmingen (Bayerisch Schwaben). +Escone (Tabula Peutingeriana), römische Straßenstation, jetzt Altdorf (Gem. Biessenhofen, Lkr. Ostallgäu), abgeleitet von gallo-lat. esox (Stamm kelt. *esok-) ‚Lachs’, ON *Esocone mit Synkope > Escone. Füssen (Lkr. Ostallgäu), spätrömisches Kastell, inschriftlich 4. Jh. praepositus militum Fotensium, 5. Jh. Foetibus (Notitia dignitatum) < roman. *fota (castra/ taberna). Günz, Fluss rechts zur Donau, mit Mischname !Günzburg (Lkr. Günzburg), Kastell und Vicus, Guntia (Itinerarium Antonini), Gontia, castellum Guntiae (Notitia dignitatum), Name eine Göttin (inschriftlich 2./3. Jh.) Contae sacr(um) (lies Gontiae), 4. Jh. (Handschrift 16. Jh.) transitum Contiensam (lies Guntiensem), < roman. Guntia, älter *Gunatia? Kellmünz a. d. Iller, Lkr. Neu-Ulm, Spätrömisches Kohortenkastell auf einem Höhenrücken über der Iller, Celio Monte (Itinerarium Antonini), Caelio (Notitia dignitatum), 1110 (Kopie 14. Jh.) Chelminzo, latinisiert < (kelt.) *Kalmantia, vgl. *Kalmontia > Kallmünz (Lkr. Regensburg). Kempten (Allgäu), Stadt, Kambódunon (Ptolemäus), Camboduno (Itinerarium Antonini), Cambidano (Notitia dignitatum), 815 Cambidona; kelt. Kambó-dūnon > roman. Cambidona. Lech, Fluss rechts zur Donau, mündet bei Donauwörth (Lkr. Donau-Ries) →Lech (Oberbayern) +Losodica (Tabula Peutingeriana), Kastell und Straßenstation, jetzt Munningen (Lkr. Donau-Ries). Etymologie unklar, vielleicht roman. Losodica (taberna) < *Luso-t-, abgeleitet von (idg.) *luso- ‚zur Verschmutzung neigend’. +Phoebianis (Inschrift a. 212), Febianis (Notitia dignitatum), Kastell und Vicus, jetzt Faimingen (Stadt Lauingen, Lkr. Dillingen). Mit dem Suffix -anu- abgeleitet von röm. PN *Phoebius, *Febius. +Pinianis (Notitia dignitatum), Kastell, jetzt Bürgle (Gem. Gundremmingen, Lkr. Günzburg)? Praedienname mit dem Suffix -anu- abgeleitet von PN *Pinius? +Rapis (Tabula Peutingeriana), römerzeitliches Töpferdorf und Sigillata-Manufaktur, jetzt Schwabmünchen (Lkr. Augsburg). Ries (Nördlinger -), Landschaft im Landkreis Donau-Ries, über ahd. Rieza < roman. *Rētia = Name der römischen Provinz Raetia. +Rostro Nemaviae (Itinerarium Antonini), spätrömische Befestigung auf der Hochterrasse über der Römerstraße Kempten-Augsburg, jetzt Goldberg-Türkheim (Lkr. Un-

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terallgäu), lat. rostrum ‚(Schiffs)schnabel’, metaphorisch für eine Geländeformation (?); Nemavia als PN abgeleitet von kelt. *nēmā (air. níam) ‚beauty, brilliance’? +Submuntorium (Itinerarium Antonini, Notitia dignitatum), Castell und Vicus am Endpunkt der Via Claudia Augusta, jetzt Burghöfe (Gem. Mertingen, Lkr. DonauRies). +Vemania (Itinerarium Antonini, Tabula Peutingeriana), Vimania (Notitia dignitatum), Station an der Straße Kempten-Bregenz. Unklare Etymologie. +Via Claudia Augusta, römische Staatsstraße (Lkr. Ostallgäu, Augsburg, DonauRies, Landsberg am Lech), entlang des Lechs bis →Submuntorium. Bodensee: +Venetus et Acronus lacus, lacus Brigantinus.

FRANKEN +Biricianis (Tabula Peutingerana), Kastell und Vicus, jetzt Weißenburg (Lkr. Weißenburg-Gunzenhausen). Praedienname im Dativ Plural (zu *castra Biriciana) mit dem Suffix lat. -anu- abgeleitet vom PN lat. Biricius. +Iciniaco (Tabula Peutingeriana), Kastelle und Vicus, jetzt Theilenhofen (Lkr. Weißenburg-Gunzenhausen). Mit dem Suffix -ako- abgeleitet von PN *Icinius (zum Ethnonym Iceni, keltischer Volksstamm in Britannien)? +Kantiobis? (Ptolemaeus: Kantioibís Polis Germaniens), Kastell und Vicus am nördlichsten Punkt des rätischen Limes, jetzt Kastell Gunzenhausen (Lkr. Weißenburg-Gunzenhausen). Kantio[i]bis ist möglicherweise ein Dativ-Lokativ Plural ‚bei den Hügeln’(?) zu einem Namen kelt. *Kantio- ‚corner land, land on the edge’, abgeleitet von kelt. *kanto- ‚Ecke, Biegung’. +Medianis (Tabula Peutingeriana), Kohortenkastell, jetzt Gnotzheim (Lkr. Weißenburg-Gunzenhausen). Mit dem Suffix -anu- abgeleitet vom römischen PN Medius. +Sablonetum, (inschriftlich a. 182) kastel(li) Sablonet(i), römerzeitliches Kastell, jetzt Ellingen (Ldk. Weißenburg-Gunzenhausen), mit dem Suffix -etum (für Geländebezeichnungen) von vulgärlat. *sabl-on- ‚grobkörniger Sand’ (vgl. Station Sablonibus, Itinerarium Antonini 375,4 bei Geldern?) abgeleitet. +Triput- römische Inschriften, aus denen geschlossen wird, dass Amorbach (Lkr. Miltenberg) Standort der Abteilung der Brittones Triputienses war, lat. *triputium ‚Dreiborn, dreifache Quelle’. Nachtrag (2020): Inzwischen ist noch ein einschlägiger Band „zum Verhältnis der frühmittelalterlichen Ethnien aus der Sicht der Namenforschung“ zu Baiern erschienen.15

15 GREULE, Albrecht / WIESINGER, Peter: Baiern und Romanen. Zum Verhältnis der frühmittelalterlichen Ethnien aus der Sicht der Namenforschung, Tübingen 2019.

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Romanische Resistenzräume und Zentren der Merowingerzeit (Trier, Metz, Köln, Basel, Reims und Soissons) im Spiegel der Toponymie Die archäologische und die historische Forschung haben in den letzten Jahrzehnten gezeigt, dass auch nach dem formalen Ende des weströmischen Kaisertums a. 476 in den östlichen Randgebieten der Gallia in civitates und castella zu einem erheblichen Teil mit der Fortexistenz römischer Strukturen und Institutionen, römischer, sich allmählich zu romanischer Bevölkerung wandelnder Einwohner und ihrer Sprache(n), dem „latin parlé“ (M. Banniard),1 in regionalen Schattierungen zu rechnen ist.2 Hier soll es aus dem Blickwinkel der Onomastik, genauer der Toponomastik (Ortsnamenkunde) als sprachwissenschaftlicher Disziplin um zwei Ziele gehen: 1. Wo ist auf dem Boden der östlichen Gallia, vornehmlich der beiden Belgicae, der beiden Germaniae und z. T. der Maxima Sequanorum nach dem Ende Westroms

1 Vgl. BANNIARD, Michel: Viva voce. Communication écrite et communication orale du IVe au IXe siècle en Occident Latin (Collection des études augustiniennes, Série Moyen-Âge et Temps Modernes 25), Paris 1992; DERS.: Délimitation temporelle entre le latin et les langues romanes, in: Romanische Sprachgeschichte – Histoire linguistique de la Romania, hg. v. Gerhard Ernst, Martin Glessgen u. a., Berlin/New York 2003, Bd. 1, S. 544–555; DERS.: Le latin mérovingien entre langue des monnaies et langue des chartes: la question d’une Hochsprache, in: Die merowingischen Monetarmünzen als Quelle zum Verständnis des 7. Jahrhunderts in Gallien (Mittelalter-Studien 27), hg. v. Jörg Jarnut und Jürgen Strothmann, Paderborn 2013, S. 169–187. 2 Vgl. zur spätantiken civitas als „multifunktionalem Zentralort“ KAISER, Reinhold: Das römische Erbe des Merowingerreichs (Enzyklopädie deutscher Geschichte 26), München 1993, S. 12; SCHMAUDER, Michael: Transformation oder Bruch? Überlegungen zum Übergang von der Antike zum Frühen Mittelalter im Rheinland, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 76 (2012), S. 34–52, hier S. 34. Zu den archäologischen Aspekten des Weiterlebens spätantiker städtischer Siedlungen WITSCHEL, Christian: Trier und das spätantike Städtewesen im Westen des römischen Reiches, in: Trierer Zeitschrift 67/68 (2004/05), S. 223–272; Die Stadt in der Spätantike – Niedergang oder Wandel ?, hg. v. Jens-Uwe Krause und Christian Witschel, Stuttgart 2006; WITSCHEL, Christian: Sterbende Städte? Betrachtungen zum römischen Städtewesen in der Spätantike, in: Schrumpfende Städte? Ein Phänomen zwischen Antike und Moderne, hg. v. Angelika Lampen und Armin Owzar, Köln/Weimar/Wien 2008, S. 17–78; Römische Legionslager in den Rhein- und Donauprovinzen – Nuclei spätantik-frühmittelalterlichen Lebens? (Abhandlungen der Phil.-Hist. Klasse der Bayerischen Akademie der Wissenschaften NF 138), hg. v. Michaela Konrad und Christian Witschel, München 2011; WITSCHEL, Christian: Die spätantiken Städte Galliens: Transformationen von Stadtbildern als Ausdruck einer gewandelten Identität?, in: Gallien in Spätantike und Frühmittelalter. Kulturgeschichte einer Region, hg. v. Steffen Diefenbach und Gernot Michael Müller, Berlin/Boston 2013, S. 153–200. https://doi.org/10.1515/9783110623598-007

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(a. 476) und den letzten Resten römischer Herrschaft in Gallien (Reich des rex Romanorum Syagrius um Soissons bis 486,3 Herrschaftsgebiet des comes Arbogast in Trier und Belgica Prima bis um 4754) noch mit sprachlichen und kulturellen Kontinuitätszentren zu rechnen? Wie sind solche Kontinuitäts- und Resistenzräume mit Methoden der onomastischen Analyse und der Interferenzlinguistik,5 hier durch die Untersuchung römerzeitlicher toponomastischer Relikte und merowingerzeitlicher sowohl romanischer als auch germanisch-fränkischer Innovationen, zu ermitteln?

Diese Kontinuitäts- und Resistenzräume lassen sich z. T. auch mit anderen Methoden ermitteln, z. B. durch die Analyse der Inschriften (vorwiegend Grabinschriften).6 So ist Trier (und mit ihm der mosellanische und teilweise der rheinische Raum) ein bis ins 8. Jahrhundert reichender Hort der römisch-lateinischen

3 Vgl. STROHEKER, Karl E.: Der senatorische Adel im spätantiken Gallien, Darmstadt 1948, S. 1, 370; DEMANDT, Alexander: Die Spätantike. Römische Geschichte von Diocletian bis Justinian 284–565 n. Chr., München 1989, S. 180; KLEIN, R.: Syagrius, in: Lexikon des Mittelalters 8 (1996), Sp. 350; PLRE II, 11–13, 1041 f.; HEINZELMANN, Martin: Gallische Prosopographie 260–527, in: Francia 10 (1982), S. 532–718, hier S. 544, 699. 4 Vgl. EWIG, Eugen: Trier im Merowingereich, Trier 1954, S. 56–60; ZOTZ, Thomas: Arbogast, in: Lexikon des Mittelalters 1 (1980), Sp. 888 f.; PLRE II, S. 128 f.; HEINZELMANN, Gallische Prosopographie 1982 (wie Anm. 3), S. 558; ANTON, Hans-Hubert: Trier im frühen Mittelalter, Paderborn 1987, S. 50– 59; DERS.: Trier von der Spätantike bis zur ausgehenden Karolingerzeit, in: 2000 Jahre Trier II: Trier im Mittelalter, Trier 1996, S. 1–118, hier S. 5 f., 18 f. 5 Vgl. Interferenz-Onomastik. Namen in Grenz- und Begegnungsräumen in Geschichte und Gegenwart (Veröffentlichungen der Kommission für Saarländische Landesgeschichte 43), hg. v. Wolfgang Haubrichs und Heinrich Tiefenbach, Saarbrücken 2011. 6 HANDLEY, Mark A.: Death, Society and Culture: Inscriptions and Epitaphs in Gaul and Spain AD 300–750, Oxford 2003; HAUBRICHS, Wolfgang: VITALIS, REMICO, AUDULPIA – Romanische, germanische und romanisierte Personennamen in frühen Inschriften der Rhein- und Mosellande, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 78 (2014), S. 3–37. 7 Vgl. SCHMITZ, Winfried: Zur Akkulturation von Romanen und Germanen im Rheinland. Eine Auswertung des inschriftlichen Materials, in: Das Altertum 43 (1997), S. 177–202; DERS.: Spätantike und frühmittelalterliche Grabinschriften als Zeugnisse der Besiedlungs- und Sprachkontinuität in den germanischen und gallischen Provinzen, in: Germania Inferior. Besiedlung, Gesellschaft und Wirtschaft an der Grenze der römisch-germanischen Welt, hg. v. Thomas Grünewald, Berlin/New York 2001, S. 261–305; DERS.: Quiescit in pace. Die Abkehr des Toten von der Welt der Lebenden. Epigraphische Zeugnisse der Spätantike als Quellen der historischen Familienforschung, in: Kontinuität und Diskontinuität. Germania Inferior am Beginn und am Ende der römischen Herkunft, hg. v. Thomas Grünewald und Sandra Seibel, Berlin/New York 2003, S. 374–413; DERS.: Der neidische Tod und die Hoffnung auf das Paradies. Die frühchristlichen Inschriften als Zeugnisse der Christianisierung des Rhein-Mosel-Raums, in: Neue Forschungen zu den Anfängen des Christentums im Rheinland, hg. v. Sebastian Ristow, Münster 2004, S. 51–70.

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Inschriftenkultur,7 in dem sich auch die fortwirkenden anthroponymischen Traditionen lateinischer, romanischer und die Innovationen germanisch-fränkischer Namengebung erkennen lassen.8 Doch haben die Toponyme, die Siedlungsnamen (und z. T. auch die Flurnamen) den Vorteil, am Boden zu haften und damit eine primäre Kontinuität, zunächst der sprachlichen Bezeichnungen, dann aber auch ihrer Träger zu skizzieren. Es handelt sich nicht wie bei verwandten Phänomenen der Rechtsprechung, der Institutionen, der Theologie oder der Literatur um Kontinuität der Hochkultur. Nun gibt es keine Sprach- oder Ortsnamenrelikte ohne sprachliche Träger,9 die sie den Nachlebenden übermittelten. Mit Hilfe lautchronologischer Analyse lassen sich sogar in manchen Fällen Aussagen darüber treffen, wie lange solche ,Sprachinseln‘ und Resistenzräume bestanden. Dies soll jetzt an einem bekannten und gut untersuchten Beispiel, nämlich Trier und dem zugehörigen Moseltal demonstriert werden.

1 Treveris / Tréves / Trier Die Trierer Moselromania (,Mosella Romana‘) darf als die am längsten existierende Kontinuitätszone, die am längsten bestehende romanische Sprachinsel des späteren

8 Vgl. HAUBRICHS, Wolfgang: Romanen an Rhein und Mosel. Onomastische Reflexionen, in: Deutsche Sprache in Raum und Zeit. FS Peter Wiesinger, hg. v. Peter Ernst und Franz Patocka, Wien 1998, S. 379–413. 9 Vgl. zu Sprach-, Namen- und Lehnwort-Kontinuität SONDEREGGER, STEFAN: Sprachgrenzen und Sprachgrenzlandschaften in der Schweiz, in: Onoma 20 (1976), S. 277–292; DERS.: Die Ortsnamen, in: Ur- und frühgeschichtliche Archäologie der Schweiz, Bd. 6: Das Frühmittelalter, Basel 1979, S. 75–96; POST, Rudolf : Romanische Entlehnungen in den westmitteldeutschen Mundarten. Diatopische, diachrone und diastratische Untersuchungen zur sprachlichen Interferenz am Beispiel des landwirtschaftlichen Sachwortschatzes, Wiesbaden 1982; KLEIBER, Wolfgang / PFISTER, Max: Aspekte und Probleme der römisch-germanischen Kontinuität. Sprachkontinuität an Mosel, Mittel- und Oberrhein sowie im Schwarzwald, Stuttgart 1992; HAUBRICHS, Wolfgang: Die verlorene Romanität im deutschen Sprachraum, in: Romanische Sprachgeschichte. Ein internationales Handbuch zur Geschichte der romanischen Sprachen, hg. v. Gerhard Ernst und Martin-Dietrich Glessgen, Bd. 1, Berlin/New York 2003, S. 695–709; DERS. / PFISTER, Max: Fränkisch (Frankish), in: Wieser Enzyklopädie – Sprachen des europäischen Westens, hg. v. Ulrich Ammon und Harald Haarmann, Klagenfurt 2008, S. 249–274, hier S. 260–270; DERS. / PFISTER, Max: La Romania submersa dans les pays de langue allemande, in: Manuel des langues romanes, hg. v. André Klump, Johannes Kramer und Aline Willems, Berlin/Boston 2014, S. 224–244; WIESINGER, Peter: Die Zweite Lautverschiebung im Bairischen anhand der Ortsnamenintegrate. Eine lautchronologische Studie zur Sprach- und Siedlungsgeschichte in Bayern, Österreich und Südtirol, in: Interferenz-Onomastik 2011 (wie Anm. 5), S. 163–246.

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deutschen Sprachraums gelten,10 noch vor Salzburg11 und Basel12. Über ihre gewaltige Erstreckung kann man sich am besten durch eine von Wolfgang Kleiber 1992 gefertigte Karte der nichtgermanischen, letztendlich ein lateinisches und ein romanisches Stadium durchlaufenhabenden Toponymie (SN) der ‚Mosella Romana‘ (Karte 1) unterrichten.13 Sie reicht vom luxemburgischen Remich über Trier, Noviomagus / Neumagen, Bernkastel, Traben-Trabach, Contrua / Gondorf, Carodunum / Karden bis Confluentes / Koblenz und von dort ins Rheinengtal bei Baudobriga / Boppard. Besondere Dichtezentren entstanden um die Saarmündung und die untere Saar sowie die Augusta Treverorum als imperialer Residenz selbst, von wo aus sie sich aber auch die Sauer und andere Nebenflüsse der Mosel hinaufgehend bis ins Luxemburger Gutland finden. In die Eifel hinein erstreckten sich die romanischen Relikte die Kyll hinauf über das Kastell Bitburg bis zur Prümer Siedlungsinsel des eine antike Einheit fortsetzenden Karosgaus.14 An der Südabdachung des Hunsrücks, im sog. 'Hochwald', findet sich in den waldigen Tälern von Ruwer, Wadrill, Losema (Losheimer Bach) und Prims eine auch von der Erhaltung der Namen

10 BUCHMÜLLER, Monika / HAUBRICHS, Wolfgang / SPANG, Rolf: Namenkontinuität im frühen Mittelalter. Die nichtgermanischen Siedlungs- und Gewässernamen des Landes an der Saar, in: Zeitschrift für die Geschichte der Saargegend 34/35 (1986/87), S. 24–163; HAUBRICHS, Wolfgang: Galloromanische Kontinuität zwischen unterer Saar und Mosel. Problematik und Chancen einer Auswertung der Namenzeugnisse, in: Italica et Romanica. FS Max Pfister, hg. v. Günter Holtus, Johannes Kramer und Wolfgang Schweickard, Tübingen 1997, Bd. 3, S. 211–237; KLEIBER/PFISTER, Aspekte und Probleme 1992 (wie Anm. 9), S. 11–18, 71–97; HAUBRICHS, Wolfgang: Le processus d'élaboration des frontières linguistiques: le cas des zones de contact romano-germaniques, in: Nouvelle Revue d'Onomastique 35/36 (2000), S. 41–68; DERS.: L'espace physique, l'histoire, la langue: l'élaboration des zones de contact et des frontières linguistiques entre Romania et Germania, entre la Suisse et le Luxembourg, in: Construction de l'espace au Moyen Âge: pratiques et représentations, hg. v. Odile Kammerer u. a., Paris 2007, S. 167–191; DERS.: La structuration linguistique de l'espace: Du bilinguisme à l'émergence des frontières, in: De la mer du Nord à la Méditerranée. Francia Media, une région au cœur de l'Europe, Luxembourg 2011, S. 41–68; DERS./PFISTER, La Romania submersa 2014 (wie Anm. 9), S. 227–229. 11 Vgl. REIFFENSTEIN, Ingo: Namen im Sprachaustausch. Romanische Relikte im Salzburger Becken, in: Namenforschung. Ein Handbuch zur Onomastik, hg. v. Ernst Eichler, Gerold Hilty u. a., Bd. 2, Berlin/New York 1996, S. 997–1006; HAUBRICHS, Die verlorene Romanität 2003 (wie Anm. 9), S. 702– 704; WIESINGER, Die Zweite Lautverschiebung im Bairischen 2011 (wie Anm. 9), passim; HAUBRICHS/ PFISTER, La Romania submersa 2014 (wie Anm. 9), S. 238–240. 12 Vgl. HAUBRICHS, Die verlorene Romanität 2003 (wie Anm. 9), S. 699–700; DERS./PFISTER, La Romania submersa 2014 (wie Anm. 9), S. 231; Die Regio Basiliensis von der Antike zum Mittelalter – Land am Rheinknie im Spiegel der Namen, hg. v. Albrecht Greule und Max Kully, Stuttgart 2013. 13 KLEIBER/PFISTER, Aspekte und Probleme 1992 (wie Anm. 9), S. 46. 14 PUHL, Roland W.L.: Die Gaue und Grafschaften des frühen Mittelalters im Saar-Mosel-Raum, Saarbrücken 1999, S. 150–155; HAUBRICHS, Wolfgang / PFISTER, Max: Die Prümer Romania, in: Sprachgeschichte – Dialektologie – Onomastik – Volkskunde. FS Wolfgang Kleiber, hg. v. Rudolf Bentzinger u. a., Stuttgart 2001, S. 171–195.

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kleinsträumiger Gewässer geprägte Reliktzone.15 Ein zweites Dichtezentrum findet sich im östlichen Eifelraum zwischen Rhein und Mosel, im Mayengau, dem a. 772 genannten Magninsis pagus (mit seiner die Römerzeit überdauernden Basalt-Produktion bei *Magina / Mayen), um Confluentes / Koblenz und Antonniacum / Andernach (erneut wie bei Baudobriga / Boppard mit einer reichen Inschriftenkultur)16 und dann mit geringerer Dichte auf der rechten Moselseite im osthunsrückischen Trechirgau (mit keltischem Namen: Tricorium, wozu der Name der gallischen Tricores 'drei Heere' im Tal des Drac in Südfrankreich zu vergleichen ist) um Kastelláun. Im eigentlichen Moseltal und im unteren Saartal wird man kaum einen einzigen deutschen Ortsnamen finden, dafür aber zahlreiche vorgermanische Gewässernamen (GwN kleinster Bäche) und in den Gemarkungen gehäuft lateinisch-romanische Flurnamen.17 Die Dichte der Relikte lässt sich für die Region von Sierck, Remich bis Trier und für die untere Saar gut auf einer Karte (Karte 2 von 1997 mit 148 SN) erkennen, in der auch die Typen der Reliktnamen nach vorromanischen SN und GwN, nach romanisch-lateinischen SN, vor allem mit dem Suffix -(i)acum komponierten SN, dann auch nach romanischen Flur- und Gewässernamen und aus romanischen Lehnwörtern entstandenen SN aufgeschlüsselt sind.18

15 BUCHMÜLLER/HAUBRICHS/SPANG, Namenkontinuität im frühen Mittelalter 1986/87 (wie Anm. 10), S. 131–139; POST, Rudolf: Galloromanische Reliktwortareale und Grenzentlehnungen im Pfälzischen, in: Sprache – Literatur – Kultur. Studien zu ihrer Geschichte im deutschen Süden und Westen. FS Wolfgang Kleiber, hg. v. Albrecht Greule und Uwe Ruberg, Stuttgart 1989, S. 163–176. 16 BOPPERT, Walburg: Die frühchristlichen Inschriften von Andernach, in: Andernach im Frühmittelalter, hg. v. Klaus Schäfer, Andernach 1988, S. 121–135; MEIER, Mischa / SCHMITZ, Winfried: Zu einigen spätantiken und frühmittelalterlichen Inschriften aus dem Rheinland, in: Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik 124 (1999), S. 293–299; NIKITSCH, Eberhard: Die Inschriften des RheinHunsrück-Kreises I (Boppard, Oberwesel, St. Goar) (Die Deutschen Inschriften 60), Wiesbaden 2004; DERS.: Neue, nicht nur epigraphische Überlegungen zu den frühchristlichen Inschriften aus Boppard, in: Neue Forschungen zu den Anfängen des Christentums im Rheinland, hg. v. Sebastian Ristow, Münster 2004, S. 209–223; VOGEL, Andreas: Die merowingischen Funde aus Andernach (Kr. Mayen-Koblenz), Bonn 2006, S. 33–53; MATIJEVIC, Kresimir: Römische und frühchristliche Zeugnisse im Norden Obergermaniens, Rahden 2010. Vgl. dazu die in Anm. 7 angezeigten Arbeiten von Winfried SCHMITZ; ferner HAUBRICHS, VITALIS, REMICO, WALDULPIA 2014 (wie Anm. 6), S. 2 f., 11 f. 17 KLEIBER, Wolfgang: Waber/Feber – Naf/Nef. Zwei moselländische Flurnamen gallischer Herkunft, in: Mosel, Eifel, Hunsrück. Der Landkreis Cochem-Zell, Cochem 1979, S. 117–122; DERS.: Das moselromanische Substrat im Lichte der Toponymie und Dialektologie. Ein Bericht über neuere Forschungen, in: Zwischen den Sprachen. Siedlungs- und Flurnamen in germanisch-romanischen Grenzgebieten, hg. v. Wolfgang Haubrichs und Hans Ramge, Saarbrücken 1983, S. 153–192, hier S. 174–179; DERS., Probleme romanisch-germanischen Sprachkontakts an der Mosel vornehmlich im Bereich der Prosodie von Toponymen, in: Gießener Flurnamen-Kolloquium 1984, hg. v. Rudolf Schützeichel, Heidelberg 1985, S. 528–545. 18 HAUBRICHS, Galloromanische Kontinuität 1997 (wie Anm. 10), S. 237. Dort auch die Angaben für die Nr. 1–7 der ausgewählten Toponyme. Vgl. weiter JUNGANDREAS, Wolfgang: Historisches Lexikon der Siedlungs- und Flurnamen des Mosellandes, Trier 1962; KLEIBER, Das moselromanische Substrat 1983 (wie Anm. 17), S. 179–186; BUCHMÜLLER/HAUBRICHS/SPANG, Namenkontinuität im frühen

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Beispielhaft seien im Folgenden einige wenige Fälle verschiedener Typen etymologisch analysiert: (1) Naumen, Kirsch-, Ober- (F, Moselle, bei Sierck) : a. 1131/52 K. Nunmagon < kelt. *novjo- 'neu' + *magos 'unbefestigter Ort, Markt'. (2) Usme, heute Freudenburg (Saarburg) : a. 1052 Ossima < kelt. *Ouxsma 'hochliegende Siedlung' zu idg. *upo- 'von unten hinauf' (vgl. Ossimo, I, Marche etc.). (3) Garsch (F, Moselle, bei Cattenom) : 4. Jh. Caranusca, a. 1128 Garnische < idg. GwN *Karanâ (zu idg. *kar- 'hart, steinig') + Suffix *-usca. (4) Temmels (Saarburg) : a. 634 K. in villa . . . Tamaltio, 12. Jh. Temelza < GwN *Tamalā (zu idg. *ta(m)- 'schmelzen, fließen') + kelt. Suffix -etio. (5) Palzem (TR) : a. 924 in Palatiolo, a. 1147 Palzela < lat. palati-olum 'kleiner Palast'. (6) † Musil (Stadt TR) : a. 1084 in Musileo < rom. *mūsuleum < lat. mausoleum 'Grabstatt'. (7) Saarburg (TR) : a. 948 monticulum qui antea nuncupatur Churbelun, nunc autem Sareburch < rom. *curvellōne 'große Krümmung, Kurve'.

Nr. 1 Naumen < *Novjo-Magos 'Neu-Markt' (vgl. Neumagen a.d. Mosel, bei Ausonius 4. Jh. Noiomagum, Itinerarium Antonini und Tabula Peutingeriana Noviomago)19 vertritt die häufigen keltischen Bildungen auf *magos 'unbefestigter Ort, Markt'; Nr. 2 Usme < *Ouxsma 'hochgelegene Siedlung' steht für andere über das ganze ehemals keltische Europa verbreitete Bildungen. In Nr. 3 Garsch < antikem Caranusca und Nr. 4 Temmels < Tamaltio < *Tamal-etio liegen aus noch älteren Hydronymen (GwN) suffigal abgeleitete, frühbelegte SN vor. Mit Nr. 5 und 6 greifen wir genuin lateinisch-römische Prägungen: Palzem < *Palati-olo 'kleiner Palast' mit DiminutivSuffix am Ort einer römischen Großvilla (vgl. direkt bei Trier Pfalzel, mda. Palzel, 7. Jh. Münzort PALACIOLO, a. 732/33 monasterium in villa que dicitur Palaciolum aus gleichem Etymon bei einer kaiserlichen, konstantinischen Kastell- und Residenzanlage)20 und das als Straßen-Name überlebende †Musil < lat. mausoleum 'Grabanlage' mit moselromanischer Lautentwicklung [au] > [ō] > [ū]. In Nr. 7 Saarburg können wir den Sprachwechsel des 10. Jahrhunderts beobachten, wenn urkundlich a. 948 bezeugt wird, dass monticulum qui antea nuncupatur Churbelun, nunc autem Sareburch (nach der neuerrichteten Befestigung am Ort) heißt, wobei sich die romanisch namengebende *curvell-ōne 'große Krümmung, Kurve' des Flusses Saar topographisch deutlich fassen lässt. Hier wie anderswo greifen wir aber auch den massenhaft in der Gallia verbreiteten Typus der ursprünglich keltischen, dann aber auch römischen (galloromanischen)

Mittelalter 1986/87 (wie Anm. 10), S. 42–105; KLEIBER/PFISTER, Aspekte und Probleme 1992 (wie Anm. 9), S. 11–18, 71–97; KLEIBER, Wolfgang: Mosella Romana. Hydronymie, Toponymie und Reliktwortdistribution, in: Die Franken und die Alemannen bis zur „Schlacht bei Zülpich“ (496/97), hg. v. Dieter Geuenich, Berlin/New York 1998, S. 130–155. Eine Gesamtanalyse der Sprach- und Namenrelikte der Mosella Romana fehlt gleichwohl. 19 RASCH, Gerhard: Antike geographische Namen nördlich der Alpen, Berlin/New York 2005, S. 77. 20 JUNGANDREAS, Historisches Lexikon 1962 (wie Anm. 18), S. 798 f. Vgl. ANTON, Trier im frühen Mittelalter 1987 (wie Anm. 4), S. 64, S. 112 f., S. 148 f.

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SN auf -(i)acum,21 hier im schmalen Ausschnitt der um die Saar-Mündung konzentrierten Karte (Karte 2) gleich 54 Mal. Einige Beispiele:22 (8) Besch (Merzig) : a. 893 Bessiaco < Bessi-acum (PN kelt. Bessus). (9) Fellerich (Saarburg) : a. 949 K. Ualericaum (PN lat. Valerius). (10) Merzig : a. 802 F. 10. Jh. Marciacum, a. 1052 Merceche < Marci-acum (PN lat. Marcius). (11) Montenach (F, bei Sierck) : a. 1252 Montenach, a. 1354 Montenaken < *Montan-acum (PN lat. Montanus).

Die Struktur der -(i)acum-Namen ist folgende: Sie sind von einem Personennamen mittels des genannten Suffixes abgeleitet, also Nr. 10 Merzig < a. 802 belegtem Marciacum vom lateinischen PN Marcius, Nr. 9 Fellerich bei Saarburg < a. 949 belegtem Valeriacum vom lateinischen PN Valerius, Nr. 11 Montenach < *Montanacum vom lateinischen PN Montanus. Wenn man einen Namen wie Marciacum oder Valeriacum mit einem auf -ius endenden lateinischen PN falsch segmentierte, entstand die Suffix-Variante -iacum, die bald wucherte, wie etwa bei Besch < a. 893 belegtem Bessiacum zum keltischen, später galloromanischen PN Bessus. Man nimmt wohl zu Recht an, dass sich in den PN dieser Siedlungsnamen Besitzer abbilden und man mit einer solchen Bildungsweise eine vorzügliche, einfache Methode gefunden hatte, um einen fundus oder ein praedium zu bezeichnen. Sie entsprechen damit den in Italien und in den nach Italien ausgerichteten rätischen und norischen Provinzen ebenso massenhaft vertretenen Siedlungsnamen, die mit dem lateinischen Suffix -(i)anum von einem PN abgeleitet wurden, wie etwa in Südtirol Eppan, mit deutschem Umlaut < Appiano (zum PN Appius)23 oder Emiliano bei Bologna (zum PN Aemilius) oder Antognano (Parma) < *Antonianum (zum PN Antonius)24. In der beispielhaften Sammlung und Analyse der -(i)acum-SN der Belgica Prima durch Monika Buchmüller-Pfaff (1990),25 die auch die Wüstungen berücksichtigt, finden sich für diese römische Provinz allein 858 Namen dieses Typus. Mit Hilfe der

21 Die Variante -iacum des Suffixes ist durch falsche Abtrennung aus SN wie Iuli-acum (zum PN Iulius) entstanden. 22 Die Beispiele entstammen dem grundlegenden Werk von BUCHMÜLLER-PFAFF, Monika: Siedlungsnamen zwischen Spätantike und frühem Mittelalter. Die -(i)acum-Namen der römischen Provinz Belgica Prima (Beihefte zur Zeitschrift für romanische Philologie 225), Tübingen 1990. Zum Typus der -(i)acum-Namen vgl. besonders ebd., S. 743–834. 23 Vgl. WIESINGER, Peter: Die Ortsnamen in Österreich, in: Namenforschung. Ein internationales Handbuch zur Onomastik, hg. v. Ernst Eichler und Gerold Hilty u. a., Bd. 2, Berlin/New York 1996, S. 1081–1090; HAUBRICHS, Wolfgang: Baiovarii, Romani and others. Language, names and groups south of the River Danube and in the Eastern Alps during the early Middle Ages, in: The Baiuvarii and Thuringi. An Ethnographic Perspective, hg. v. Janine Fries-Knoblach und Heiko Steuer, Woodbridge 2014, S. 23–81, hier S. 54 f. 24 Vgl. PELLEGRINI, Giovan Battista: Toponomastica Italiana, Milano 1990, S. 305–324. 25 S. o. Anm. 22.

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freilich recht unvollkommenen und Wüstungen nur sporadisch berücksichtigenden Standardwerke der französischen und belgischen Toponomastik26 kann man ca. 6500 -(i)acum-SN ermitteln; hochgerechnet kommt man für die gesamte Gallia auf mindestens ca. 10.000 bis 12.000 entsprechende Namen. Wir haben in diesem Namentyp ein einzigartiges, aber kaum ausgewertetes Register antiker Praedien-Kultur vor uns und vor allem ein ‚Leit-Fossil‘ oder besser ,Leit-Relikt‘, um die toponomastische Kontinuität einzelner Regionen Galliens quantitativ und geographisch ausmessen zu können. Ein weiterer Indikator für die Intensität der Resistenz bestimmter Regionen im später deutschsprachigen Raum gegen germanisch-fränkische Neuerungen ist die Bewahrung des lateinisch-romanischen Akzents in Relikt-Ortsnamen.27 In den meisten Fällen, vor allem in den früh germanisierten Regionen ist der Wortakzent auf germanische Weise auf die als Stammsilbe empfundene erste Silbe übertragen worden (mit der Konsequenz der Entfaltung weiterer phonetischer Prozesse wie Endsilbenabschwächung und Synkopen), z. B. – *Bautiánum, 8. Jh. Bauzanum, a. 785 ad Pauzana, a. 996/1000 lingua teudisca Pozana > Bózen (I, Südtirol) – Appiánum, 8. Jh. Appianum > Éppan (I, Südtirol) – Colónia > Köln, ndl. Kéulen (aber frz. Cológne) – Palatiólum > Pálzem (bei Trier) Doch haben im Basler, Salzburger, Tiroler und Südtiroler Raum manche romanische Ortsnamen ihren Paenultima-Akzent als Endakzent bewahrt,28 z. B. – a. 1353 Cultura, a. 1390 Cultüra > Galtür, mda. galtír (bei Landeck) – *Torilánum, a. 923 Torilan > Terlán neben Térlan (bei Bozen) Das ist in ganz hohem Ausmaße auch an der Mosel geschehen, wie man an der 1983 von Wolfgang Kleiber gezeichneten Karte 3 ablesen kann, die sowohl Ortsnamen als auch Flurnamen berücksichtigt.29 Der erhaltene romanische Akzent erstreckt sich dicht über fast die gesamte Mosella Romana ‒ mit Abschwächung an

26 VINCENT, Auguste: Les noms de lieux de la Belgique, Bruxelles 1927; DERS.: Toponymie de la France, Bruxelles 1937; HAMLIN, Frank R.: Le suffixe -acum dans la toponymie de l'Hérault. Contribution à l'étude des noms de lieux du Languedoc, Paris 1961; MORLET, Marie-Thérèse: Les noms de personne sur le territoire de l'ancienne Gaule, Bd. 3: Les noms de personne dans les noms de lieux, Paris 1985; NÈGRE, Ernest: Toponymie générale de la France (TGF), Bd. 1–3, Genève 1990–1991. 27 Vgl. KLEIBER, Das moselromanische Substrat 1983 (wie Anm. 17), S. 174–177; DERS.: Probleme romanisch-germanischen Sprachkontakts 1985 (wie Anm. 17), S. 528–545; KLEIBER/PFISTER, Aspekte und Probleme 1992 (wie Anm. 9), S. 16, S. 49. 28 Vgl. HAUBRICHS, Baiovarii, Romani and others 2014 (wie Anm. 23), S. 51. 29 KLEIBER, Das moselromanische Substrat 1983 (wie Anm. 17), S. 176, Karte Nr. 8; KLEIBER/PFISTER, Aspekte und Probleme 1992 (wie Anm. 9), S. 49.

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den Rändern beim luxemburgischen Remich und bei Koblenz (einschließlich Mayengau). Besondere Zentren finden sich im Raum Saarburg-Trier, um Bernkastel und an der unteren Mosel um Contrua/Gondorf und Carodunum/Karden (wo auch ein Schwerpunkt der mosellanischen Inschriftenkultur liegt). Einige Beispiele: (12) Wadríll (Merzig) : a. 981 in loco Waderóla < idg. GwN *Wadrā + lat. Suffix -óla. (13) Schaláun (TR, bei Schweich) < lat. scala 'Treppe' + Suffix -óne , -úne. (14) Kastelláun (Hunsrück) : ± 1100 loco Castellúno < *castellu 'Kastell' + Suffix -óne, -úne (mit frühneuhochdeutscher Diphthongierung û > au).

Die Beispiele sind bewusst für gegensätzliche Regionen der Gesamt-Moselromania ausgewählt worden: Wadríll < GwN *Wader-óla liegt im südlichen Randbereich (Saarland, Kreis Merzig) der Hunsrücker Hochwaldromania. Schaláun bei Schweich < *Scal-ṓne liegt im Trierer Dichtezentrum. Kastelláun < Castell-úno liegt im nordöstlichen Randbereich des Hunsrücker Trechirgaus. Eine weitere Methode, die Ausdehnung und auch Dauer der Moselromania abzuschätzen, ergibt sich aus einem nichtonomastischen Bereich, nämlich aus den lateinisch-romanischen Lehnwörtern, die regional in die Nachfolgedialekte des Moselfränkischen eingegangen sind. Der von Rudolf Post 1982 erarbeitete Katalog agrarischer (also mit der Bodennutzung verbundener) romanischer Lehnwörter und die damit verbundene Frequenzkarte bietet erneut die Möglichkeit, nun aber aus der Perspektive der Wortgeographie, die Resistenzzone der Moselromania um Trier zu vermessen. Rudolf Posts Karte der „Arealdistribution romanischer Reliktwörter“ (Karte 4)30 zeigt die höchste Dichtezone um Trier und moselaufwärts bis Remich, moselabwärts bis Bernkastel. In der zweiten Dichtezone kommen die untere Saar und das südöstliche Luxemburg hinzu. In der dritten Zone erweitert sich der Raum auf ganz Luxemburg mit den sprachgrenznahen Gebieten (die auch später noch viel aus dem Französischen entlehnten) und die untere Mosel, erneut im Bereich von Contrua/ Gondorf und Carodunum/Karden, wo auch in den Inschriften moselromanische Formen festgestellt wurden.31 Beispiele solcher Lehnwörter sind: (15) Hūmes n. 'nasser Graben, nasses Tal, Wasserriss': ON, FlN an Nahe, Saar, in Hunsrück, Taunus, an unterer Lahn, Mittelrhein, Mosel; Appellativ in den Kreisen St. Wendel, Neunkirchen < vlat. *humōsus 'feucht, nass'32

30 POST, Romanische Entlehnungen 1982 (wie Anm. 9), S. 303, Karte 57. 31 KRAMER, Johannes: Zwischen Latein und Moselromanisch. Die Gondorfer Grabschrift für Mauricius, in: Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik 118 (1997), S. 281–286. Vgl. für den Andernacher Umkreis (6./7. Jh.) ALFÖLDY, Géza: Zur Grabschrift des Giboaldus aus Leutesdorf, Kreis Neuwied, in: Bonner Jahrbücher 166 (1966), S. 444–445; für Prüm HAUBRICHS/PFISTER, Die Prümer Romania 2001 (wie Anm. 14), S. 173 f. 32 POST, Romanische Entlehnungen 1982 (wie Anm. 9), Nr. 110.

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(16) Leie f. 'Schiefer, Schieferfels': im gesamten Rhein- und Moselland, Pfalz und Lothringen < kelt. *laia- 'Fels, Stein' (vgl. z. B. Lore-ley am Rhein)33 (17) Sabel m. 'Sandboden': an Saar und Mosel, in Westeifel, Luxemburg und Lothringen < lat. *sabellum 'Sand'34 (18) Olk f. 'eingehegtes Ackerland': Trier, Eifel, Luxemburg, untere Saar < gallorom. olca (frz. ouche)35 (19) Macher, Mecher: Moselland, Luxemburg, Lothringen, untere Saar, auch in ON und FlN: z. B. a. 777 Auricas machera (Auersmacher, D, Stadtverband Saarbrücken), a. 816 Machara (Grevenmacher) < lat. maceria 'Mauerwerk'36

Eine hohe Anzahl der bei Rudolf Post aufgelisteten Lehnwörter entstammen dem Bereich der Winzerkultur, so dass wir mit Fug und Recht davon ausgehen können, dass das perdurierende Bevölkerungselement, die Träger der resistenten Romanität der Region die vinitores, die Winzer waren. Doch hat sich die Moselromania ja auch auf Gebiete erstreckt, in denen kein oder kaum Wein angebaut wurde. So wurden die oben analysierten Beispiele bewusst aus einem weiteren agrarischen Wortfeld genommen, um zu zeigen, dass die Kontinuität der Moselromania sich auch auf die allgemeine Bodenbewirtschaftung bezog. Es sind darunter Wörter wie Leie 'Schiefer' < *laia (Nr. 16) und Olk 'eingehegtes Ackerland, Weinberg' < kelt. gallorom. olca (zuerst bei Gregor von Tours im 6. Jahrhundert für die Reimser Gegend),37 die bis in die vorrömische Zeit zurückweisen, dann aber auch lateinische Wörter, die in spezieller agrarischer Bedeutung weiterlebten ‒ wie Nr. 15 Hūmes 'nasser Graben, Wasserriss' < *humōsus 'feucht, nass', wie Nr. 17 Sabel 'Sandboden' (frz. le sable, sablon) < *sabellum 'Sand'. Das regional weit verbreitete Wort Macher, Mecher 'Mauer, Weinbergmauer' < maceria 'Mauerwerk' (erhalten in zahlreichen ostfranzösischen Orts- und Flurnamen als maizière) ist deshalb besonders interessant, weil es wie die Lehnwörter Kirkel < lat.

33 POST, Romanische Entlehnungen 1982 (wie Anm. 9), Nr. 113; SCHORR, Andreas: Gibt es eine Südgrenze der Moselromania? Namengeografische Beobachtungen zum Verhältnis von Romania submersa und Romania continua im Saar-Mosel-Raum, in: Onoma 36 (2001), S. 301–320, hier S. 313 f. 34 POST, Romanische Entlehnungen 1982 (wie Anm. 9), Nr. 116; HAUBRICHS, Wolfgang: Appellativ und Ortsname in älterer Zeit. Drei Fallstudien, in: Deutsche Wortforschung als Kulturgeschichte, hg. v. Isolde Hausner und Peter Wiesinger, Wien 2005, S. 397–419, hier S. 404 f., S. 415 f. 35 DITTMAIER, Heinrich: Rheinische Flurnamen, Bonn 1963, S. 218; POST, Romanische Entlehnungen 1982 (wie Anm. 9), Nr. 120; SCHORR, Gibt es eine Südgrenze? 2001 (wie Anm. 33), S. 307 f. 36 DITTMAIER, Rheinische Flurnamen 1963 (wie Anm. 35), S. 194; BUCHMÜLLER/HAUBRICHS/SPANG, Namenkontinuität im frühen Mittelalter 1986/87 (wie Anm. 10), Nr. 107–109; HAUBRICHS, Wolfgang: Lexik und Onomastik, in: Morphologie und Syntax deutscher Dialekte und Historische Dialektologie des Deutschen, hg. v. Franz Patocka und Peter Wiesinger, Wien 2004, S. 297–326, hier S. 297– 301. 37 KEUNE, Johann Baptist: Die Flurbezeichnung Olca, Olke, Olk, in: Trierer Zeitschrift 3 (1928), S. 55.

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circulus38 und Kermeter < vlat. cemeterium 'Friedhof'39 zeigt, dass in der Moselromania im 6./7. Jahrhundert ein konservatives Galloromanisch gesprochen wurde, das etwa die romanische Palatalisierung von [ke, ki] > [tse, tsi] noch nicht vollzogen hatte. Die Lehnwörter bewahren deshalb [k], auch bei der hochdeutschen Verschiebung von [-k-] > [ch] des 7. Jahrhunderts ‒ etwa in Nr. 19 ‒ wird der Erhalt des Verschlusslauts vorausgesetzt.40 Damit sind wir schon bei der wichtigen Frage, wie lange denn die Sprach- und Kulturinsel der Moselromania bestanden hat. Es gibt durchaus ein Instrument, das beim Interferieren zweier Sprachen, die einander ablösen, die Beantwortung solcher Fragen erlaubt. Dieses Instrument ist die Lautchronologie, die z. B. auf zwei Fragen zu antworten hat:41 1)

Wurde ein datierbarer Lautwandel der Nachfolgesprache ‒ hier Fränkisch, speziell Moselfränkisch ‒ aufgenommen oder nicht?

Dass damit ein Terminus ante quem für die Existenz der romanischen Sprache gewonnen werden kann, sei an der als erster Akt der sog. Zweiten (hochdeutschen) Lautverschiebung42 zu betrachtenden t-Verschiebung des Deutschen zu Frikativen und Affrikaten demonstriert, wie sie an germ. *etan (engl. to eat > ahd. ezzan, dt. essen bzw. am Lehnwort Ziegel < lat. tēgula zu sehen ist.43 (20) Taben (Saarburg) : a. 634 K. villa ad tautinna [< *adtauanna], a. 853 Attavanum, a. 940 Tabena < GwN idg. *Tavanā (zu idg. *tau 'schmelzen') (21) Mettlach (Merzig) : a.774/91 Medolago, a. 884 Medelacha < *Mettel-acum (PN Met(t)ellus) (22) Tawérn (Saarburg) : a. 1000 Taberna < lat. tabérna 'Gasthaus' (23) Tarforst (Stadt Trier) : a. 1135 de Centarbers, 15. Jh. Tarvurst, a. 1484 Tarbrost < moselrom. *Cent arbors < lat. *centum arbores 'hundert Bäume, Wald'

Nr. 20 Taben < GwN *Tavanā und Nr. 22 Tawérn (mit romanischem Endakzent) < Tabérna 'Gasthaus' zeigen, dass hier [t] im Anlaut nicht verschoben wurde, im 38 BUCHMÜLLER/HAUBRICHS/SPANG, Namenkontinuität im frühen Mittelalter 1986/87 (wie Anm. 10), Nr. 105; KLEIBER, Wolfgang: Ausblick, in: Otfrid von Weißenburg, Evangelienbuch, Bd. I,2, hg. v. Wolfgang Kleiber, Tübingen 2004, S. 155–162, hier Karte 4, S. 162. 39 JUNGANDREAS, Historisches Lexikon 1962 (wie Anm. 18), S. 190. 40 Vgl. HAUBRICHS, Wolfgang: Lautverschiebung in Lothringen. Zur althochdeutschen Integration vorgermanischer Toponyme der historischen Sprachlandschaft zwischen Saar und Mosel, in: Althochdeutsch, hg. v. Rolf Bergmann, Heinrich Tiefenbach und Lothar Voetz, Heidelberg 1987, S. 1350–1391, hier S. 1373–1376. Zur Verspätung der Palatalisierung von ke-, ki- in Ostfrankreich und der Moselromania PFISTER, Max: Zur Chronologie von Palatalisierungserscheinungen in der östlichen Galloromania, in: Romania Ingeniosa. FS Gerold Hilty, hg. v. Georges Lüdi, Hans Stricker und Jakob Wüest, Bern u. a. 1987, S. 179–190. 41 Vgl. HAUBRICHS, Die verlorene Romanität 2003 (wie Anm. 9), S. 695. 42 BRAUNE, Wilhelm / REIFFENSTEIN, Ingo: Althochdeutsche Grammatik I: Laut- und Formenlehre, 15. Aufl., Tübingen 2004, § 83–90. 43 HAUBRICHS, Lautverschiebung in Lothringen 1987 (wie Anm. 40), S. 1373–1376.

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Gegensatz etwa zu Rhein-Zabern in der Pfalz (Kr. Germersheim), 4. Jh. Tabernis, a. 1268 Zabern,44 und Zabern/Saverne im Elsass (F, Bas-Rhin), 4. Jh. Tabernas, 8. Jh. Ziaberna.45 Nr. 21 Mettlach und die sonorisierten romanischen (bzw. teilromanischen) Formen Medol-ago, Medel-acha aus < *Met(t)el-acum bezeugen die Nichtverschiebung von [t] in zwischenvokalischer Stellung (ebenso wie das Fortleben romanischer Formen bis ins 8./9. Jahrhundert). Nr. 23 Tarforst bedarf eines Kommentars: Die seit dem 15. Jahrhundert belegte heutige (mit dem Wald-Wort forst remotivierte) Ortsnamenform erklärt sich aus einer Zwischenform *cen tarvórs < *Cent arbors, wobei das falsch abgetrennte cen als mittelhochdeutsch zen 'zu den' interpretiert wurde. Der Ortsname belegt die Nichtverschiebung von [t] nach Konsonant. Die Karte 5 zeigt das erstaunliche Phänomen der Erhaltung von vorgerm. [t] für den gesamten lothringischen und rheinischen Saar-Mosel-Raum, wobei die höhere Dichte in der Moselromania auf die höhere Anzahl der dort erhaltenen vorgermanischen SN zurückgeht.46 Dagegen ist in der Rheinebene von Rheinhessen (mit der nicht zufälligen, sondern an die römische Wasserleitung geknüpfte Ausnahme von Finthen bei Mainz, a. 1108 Fundened < *Funtanēta 'Quellenort')47 bis zum Breisgau die t-Verschiebung durchgeführt, wobei der Raum überhaupt nur wenige Reliktnamen enthält. Da man die t-Verschiebung auf Grund direkter und indirekter Zeugnisse ins 6. Jahrhundert datieren kann,48 ist damit zu rechnen, dass im Saar-MoselRaum romanische Sprache im 6. Jahrhundert noch gesprochen wurde. Dagegen ist die nachfolgende Stufe der 2. Lautverschiebung, die k-Verschiebung [k] > [ch], die ins 7. Jahrhundert zu datieren ist, im größten Teil der Moselromania zu belegen:49 Vgl. die acum-Orte Fellerich (Nr. 9), dann Merzig, 11. Jh. Merceche (Nr. 10), Montenach (Nr. 11) und Mettlach (Nr. 21).50 Viele, freilich nicht alle vorgermanischen Namen des Moselgebiets zeigen den althochdeutschen, ins spätere 8. Jahrhundert zu setzenden Umlaut von [a] > [e] vor den Palatalen [i, j].51 Das heißt, dass die fränkisch-deutschen Namenformen, die

44 DOLCH, Martin / GREULE, Albrecht: Historisches Siedlungsnamenbuch der Pfalz, Speyer 1991, S. 388. 45 HAUBRICHS, Lautverschiebung in Lothringen 1987 (wie Anm. 40), S. 1368. 46 KLEIBER, Das moselromanische Substrat 1983 (wie Anm. 17), S. 169, Karte 4; HAUBRICHS, Lautverschiebung in Lothringen 1987 (wie Anm. 40), S. 1372, Karte 5. Neue und hier benutzte Auflage der Karte: HAUBRICHS, Wolfgang: Etymologie und Onomastik in romanisch-germanischen Interferenzgebieten. Wege zu einer Kulturarchäologie sprachlicher Kontakte, in: Étymologie romane: objets, méthodes et perspectives, hg. v. Martin Glessgen und Wolfgang Schweickard, Strasbourg 2014, S. 195–222, hier S. 200. 47 KLEIBER/PFISTER, Aspekte und Probleme 1992 (wie Anm. 9), S. 38–42. 48 HAUBRICHS, Lautverschiebung in Lothringen 1987 (wie Anm. 40), S. 1364–1367, 1373–1379; BRAUNE/REIFFENSTEIN, Ahd. Grammatik 2004 (wie Anm. 42), § 87. 49 HAUBRICHS, Lautverschiebung in Lothringen 1987 (wie Anm. 40), S. 1364–1367, 1381–1389. 50 Vgl. o. Anm. 22. 51 KLEIBER/PFISTER, Aspekte und Probleme 1992 (wie Anm. 9), S. 86 f.

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sich später in der Zeit der Einsprachigkeit als einzige Formen durchsetzten, sich im 7. Jahrhundert zu entwickeln begannen. Das heißt aber nicht (wie etwa auch die romanischen Formen von Nr. 21 Mettlach zeigen), dass zu diesem Zeitpunkt die romanische Sprache erloschen war. 2) Zur Beantwortung der Frage nach dem Endpunkt der Moselromania muss eine zweite lautchronologische Frage gestellt werden: Wie lange zeigen sich in diesem Raum romanisch-altfranzösische Lauterscheinungen? Zu Anfang der Erforschung der Moselromania hatte man höchst optimistisch für die Lebendigkeit dieser Sprache Zeitpunkte bis ins 12./13. Jahrhundert ins Auge gefasst,52 später das 11. Jahrhundert,53 vor allem wegen der Akzenterhaltung, die sich aber so präzise bis jetzt nicht datieren lässt. Heute denkt man, auch das nicht ganz unbestritten, an das 10. Jahrhundert, in dem das Moselromanische noch Lautwandel des Ostfranzösischen aufnimmt.54 Auf jeden Fall muss man, wie Wolfgang Kleiber an Hand von spezifischen Lehnwortarealen mit Schwerpunkten um Trier und Bernkastel gezeigt hat,55 mit der allmählichen Auflösung der Moselromania in kleinere Inseln, mit dem Abgleiten des Moselromanischen zu einer Berufs- und Haussprache der agrarischen Bevölkerung vor dem endgültigen Erlöschen rechnen.

2 Mettis / Metz Wer die Karte 6 der -(i)acum-SN, des vorgermanischen toponymischen Leitrelikts, mit seinen Varianten betrachtet, die Monika Buchmüller-Pfaff für die Belgica Prima genau analysiert hat, wird mehrere Verdichtungszonen feststellen:56

52 JUNGANDREAS, Wolfgang: Zur Geschichte des Moselromanischen. Studien zur Lautchronologie und zur Winzerlexik (Mainzer Studien zur Sprach- und Volksforschung 3), Wiesbaden 1979, S. 12. 53 KLEIBER, Das moselromanische Substrat 1983 (wie Anm. 17), S. 157. 54 Vgl. WOLF, Heinz-Jürgen: Le phonétisme du dialecte roman de la Moselle, in: International Congress of Onomastic Sciences XVII,1 (1992), S. 32–54; PFISTER, Max: Die sprachliche Situation zwischen Maas und Rhein im Frühmittelalter, in: Beiträge zum Sprachkontakt und zu den Urkundensprachen zwischen Maas und Rhein, Trier 1995, S. 91–96. Kritisch, aber nicht überzeugend: SCHMITT, Christian: La romanisation de la Vallée de la Moselle: le témoignage des noms de lieux, in: Studia ex hilaritate. Mélanges de linguistique et d'onomastique sardes et romanes offerts à Heinz-Jürgen Wolf, hg. v. Dieter Kremer und Alf Monjour, Strasbourg/Nancy 1996, S. 496–482. Vgl. auch SCHORR, Gibt es eine Südgrenze? 2001 (wie Anm. 33), S. 310 f. (bis 9. Jh. mindestens im Hunsrücker ,Hochwald‘). 55 KLEIBER, Das moselromanische Substrat 1983 (wie Anm. 17), S. 179–186; KLEIBER/PFISTER, Aspekte und Probleme (wie Anm. 9), S. 16–18 mit Karte 7 und 8. 56 BUCHMÜLLER-PFAFF, Siedlungsnamen zwischen Spätantike und frühem Mittelalter 1990 (wie Anm. 22), Karte 1 und 2.

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die Trierer Moselromania von Remich bis Bernkastel, wo aber die -(i)acumNamen angesichts einer Fülle von noch älteren SN nicht so stark hervortreten; 2. eine Region nördlich von Verdun (in der Trierer ‚Terra Gallica‘ an Chiers, Ohain und Loison); 3. eine kleinere Konzentration um die Bischofsstadt der Leuker, das ist Toul, zwischen Mosel und Meurthe; 4. eine stärkere Konzentration zwischen oberer Mosel und Madon nordwestlich von Épinal (Dép. Vosges). Dagegen sind im Osten der Belgica Prima die Landschaften an mittlerer und oberer Saar, an Nied und Blies um Saarbrücken und beim lothringischen Sarrebourg zwar weitestgehend leer von -(i)acum-SN, dagegen als fruchtbare Gaulandschaften angefüllt mit germanisch-fränkischen Namen auf -heim, -ingen, -dorf und -villare (-weiler).57 Die stärkste Anhäufung von -(i)acum-Namen in der Belgica Prima findet sich jedoch im Umland des Zentrums der civitas Mediomatricorum, der Stadt Metz. Eine genauere Analyse dieser -(i)acum-Landschaft hat wiederum M. Buchmüller-Pfaff (1990) gegeben.58 Hier nur einige Beispiele: (24) Borny (Stadt Metz, F, Moselle) : a. 960 Or.? . . . villam Burneium, a. 1203 Or. de Bornei < *Burniacum (PN lat. Burnus) (25) Fleury (F, Moselle) : a. 962 Or. ville Floreiaci < *Floriacum (PN lat. Flor(i)us) (26) Vigy (F, Moselle) : a. 715 K. Vigiacum (PN lat. Vigius)

Diese -(i)acum-Namen enthalten alle lateinische (oder keltische) Personennamen wie Burnus, Flor(i)us, Vigius und gehören damit zur älteren Schicht dieses Namentyps wie die überwältigende Mehrheit dieser Toponyme um Metz überhaupt. Andere, wenn auch wenige -(i)acum-Namen enthalten germanische (wohl fränkische) PN und zeigen, dass in der Belgica Prima dieser Typus noch in merowingischer Zeit zur Kreation neuer Toponyme, zur Bezeichnung von Siedlungen gebraucht wurde, was im Übrigen auch für andere Gebiete der Belgica Prima, etwa in den Vosges bei Remiremont oder um Decempagi/Tarquimpol im Seillegau und im oberen Saargau 57 HAUBRICHS, Wolfgang: Siedlungsnamen und frühe Raumorganisation im oberen Saargau, in: Zwischen den Sprachen. Siedlungs- und Flurnamen in germanisch-romanischen Grenzgebieten, hg. v. Wolfgang Haubrichs und Hans Ramge, Saarbrücken 1983, S. 221–287, hier S. 244 f., 257–272; PITZ, Martina: Siedlungsnamen auf -villare (-weiler, -villers) zwischen Mosel, Hunsrück und Vogesen. Untersuchungen zu einem germanisch-romanischen Mischtypus der jüngeren Merowingerund der Karolingerzeit, 2 Bde., Saarbrücken 1997; HAUBRICHS, Wolfgang / STEIN, Frauke: Frühmittelalterliche Siedlung im Saarbrücker Raum, in: Geschichte der Stadt Saarbrücken, hg. v. Rolf Wittenbrock, Saarbrücken 1999, Bd. 1, S. 111–158. 58 BUCHMÜLLER-PFAFF, Siedlungsnamen zwischen Spätantike und frühem Mittelalter 1990 (wie Anm. 22), Nr. 117, 290, 817.

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am westlichen Vogesenrande, gut belegt durch frühe Weißenburger Urkunden (Hildibodiaga zum PN Hildi-bodo; Gebolciacum zum PN Geb-oald),59 gilt, ebenso für den belgischen Maasraum wie auch in begrenztem Umfang für die Champagne und Nordfrankreich, wie man noch sehen wird.60 Auch hier drei Beispiele:61 (27) Ennery (F, Moselle) : a. 896/97 in villa Huneriaca, a. 1067 Umrich (deutsches Exonym) < *Un[h]ariacum (PN germ. *Un-harja-) (28) Scy (F, Moselle) : a. 745 K. in Sigeio ; a. 987 K. Sigiaco < *Sigiacum (PN germ. Sigo) (29) Woippy (F, Moselle) : a. 1153 Or. Vuapeio < *Wapiacum (PN germ. Wāpo)

Diese Ortsnamen enthalten die germanischen PN Wāpo, belegt bereits a. 667 (Pd. Nr. 358)62 in der Suffigalbildung Vāp-inga fem. (wohl zum verkürzten Stamm frk. *wāp- < germ. *waepna- 'Waffe'), dann Sigo (zum verbreiteten Stamm frk. *sigu- < germ. segu- 'Sieg')63 und *Unn-harja- 'Gunst-Krieger' (zu germ. unnan 'gönnen')64 + *harja- 'Heerkrieger'65. Wie sind diese mit germanischen PN zusammengesetzten -(i)acum-SN zu datieren? Trognée (B, arr. Waremme) < *Trudon-iacum (ndl. Truielingen, deutsche Doppelform Truidelingen, a. 1138 Trudenlengen, mit -ingen-Suffix zur Koseform Trudilo)66 ist als Besitz und wohl auch Gründung des Trudo (um 628/30 – um 690/93) aus der civitas von Tongern, später Metzer Kleriker, Gründer (um 660/62) einer Abtei auf seinem Erbgut Sarchinium (Zerkingen, Vorort von St. Trond)67 aufzufassen: nach der Vita S. Trudonis . . . „uillam ex nomine sancti patris Trudonecas

59 Vgl. HAUBRICHS, Siedlungsnamen und frühe Raumorganisation 1983 (wie Anm. 57), S. 235 ff.; BUCHMÜLLER-PFAFF, Siedlungsnamen zwischen Spätantike und frühem Mittelalter 1990 (wie Anm. 22), Nr. 352, 384. 60 Vgl. o. Anm. 26 die Arbeiten von Auguste VINCENT, Marie-Thérèse MORLET; ferner GYSSELING, Maurits: Toponymisch Woordenboek van België, Nederland, Luxemburg, Noord-Frankrijk en WestDuitsland (vóór 1226), 2 Bde., Tongern 1960. Eine zusammenfassende Analyse der mit germ. PN zusammengesetzten Namen bei BUCHMÜLLER-PFAFF, Siedlungsnamen zwischen Spätantike und frühem Mittelalter 1990 (wie Anm. 22), S. 9–11, S. 753–755. 61 BUCHMÜLLER-PFAFF, Siedlungsnamen zwischen Spätantike und frühem Mittelalter 1990 (wie Anm. 22), Nr. 264, 700, 846. 62 PARDESSUS, Jean-Marie: Diplomata, chartae, epistolae, leges, aliaque instrumenta ad res gallofrancicas spectantia, Bd. 1, Paris 1844, Nr. 358. 63 KAUFMANN, Henning: Ergänzungsband zu Ernst Förstemann, Personennamen, München/Hildesheim 1968, S. 311–313. 64 KLUGE, Friedrich / SEEBOLD, Elmar: Etymologisches Wörterbuch der Deutschen Sprache, 25. Aufl., Berlin/Boston 2011, S. 367 (Stichwort 'gönnen'). 65 KAUFMANN, Ergänzungsband 1968 (wie Anm. 63), S. 368. Germ. *hûni- 'junger Bär, junger Bursche' (ebd. S. 207 f.) kann trotz a. 896/97 Huneriaca wegen des dann beim PN *Hûn(i)-harja- entstehenden, aber nicht regelkonformen Stabreims der Namenelemente nicht angesetzt werden. 66 GYSSELING, Toponymisch Woordenboek 1960 (wie Anm. 60), S. 979. 67 UYTFANGHE, M. van: St. Trond, in: Lexikon des Mittelalters 8 (1996), Sp. 1070.

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appellavit“. Auch Weißenburger lothringische SN wie die schon erwähnten a. 713/ 14 Cilbociaga, a. 763 Hildibodiaga (Hilbesheim, F, Moselle, cant. Fénétrange/Finstingen), a. 712 Gebolciacum (Guéblange/Geblingen, F, Bas-Rhin, cant. Sarrealbe), die PN der Weißenburger Gründerfamilien enthalten,68 weisen ihrer Zeitstellung nach ins 7. Jahrhundert. Das Testament des Verduner Diakons Adalgisil gibt uns a. 634 ein frühes Zeugnis für lothringische SN auf -(i)acum mit einem germanischen PN: in der Nähe von Longuyon und Verdun Belulfiaga zum PN Bel-ulf < *Bili-wulfaund kopial Wichimonhiaga < *Wichimond-iaga zum PN *Wīhi-munda-.69 Ennery bei Metz besitzt dabei ein merowingisches Gräberfeld (6./7. Jh.).70 Man kann also diesen mit germanischen PN komponierten lateinisch-romanischen Ortsnamentyp ins siebte Jahrhundert datieren. Zugleich zeigen diese Toponyme, dass die SN auf -(i) acum noch in der Merowingerzeit als Siedlungsbezeichnungen gebraucht wurden. zumindest in Lothringen, Belgien und Nordostfrankreich (nicht aber mehr in der Mosella Romana bzw. im Kölner Raum).71 Natürlich sind im bilingualen Interferenzraum fränkische und romanische Doppelformen (Namenpaare) von SN entstanden. Erhalten sind sie nur in frühen Weißenburger Urkunden72 (Beispiele a. 713 in uilla Hagenbah que nuncupatur Disciacu, a. 718 ad Monte quod dicitur Bergus, a. 737 in uilla Diluquifiaga vel . . . [fränkischer Name ?] super fluvio Aquela [die Eichel]) und in einem schmalen Streifen um die ca. 20/30 km östlich von Metz fest werdende Sprachgrenze.73 Nach deren Erstarren überlebten von den Namenpaaren im inneren romanisch-ostfranzösischen Sprachgebiet natürlicherweise die romanischen Formen.

68 HAUBRICHS, Siedlungsnamen und frühe Raumorganisation 1983 (wie Anm. 57), S. 235–237. 69 HERRMANN, Hans-Walter: Das Testament des Adalgisel-Grimo, in: 22. Bericht der Staatlichen Denkmalpflege im Saarland, Abt. Bodendenkmalpflege, 1975, S. 67–89, hier S. 68 u. 81. Vgl. HAUBRICHS, Wolfgang: Die Tholeyer Abtslisten des Mittelalters. Philologische, onomastische und chronologische Untersuchungen (Veröffentlichungen der Kommission für Saarländische Landesgeschichte 15), Saarbrücken 1986, S. 81, mit Hinweis auf die Ausnahmestellung dieser beiden Toponyme in der sonst noch ganz romanisch geprägten Ortsnamenwelt des Grundherrn Adalgisel Grimo; ferner BuchmüllerPfaff: Siedlungsnamen zwischen Spätantike und frühem Mittelalter 1990 (wie Anm. 22), Nr. 93, 839. 70 STEIN, Frauke: Die Bevölkerung des Saar-Moselraumes am Übergang von der Antike zum Mittelalter, in: Archeologia Mosellana 1 (1989), S. 89–195, hier S. 167 f. 71 HAUBRICHS, Romanen an Rhein und Mosel 1998 (wie Anm. 8), S. 397–406. 72 Vgl. HAUBRICHS, Siedlungsnamen und frühe Raumorganisation 1983 (wie Anm. 57), S. 250 f.; weitere Fälle S. 235–242. 73 HAUBRICHS, Wolfgang: Warndtkorridor und Metzer Romanenring. Überlegungen zur siedlungsgeschichtlichen und sprachgeschichtlichen Bedeutung der Doppelnamen und des Namenwechsels in Lothringen, in: Ortsnamenwechsel, hg. v. Rudolf Schützeichel, Heidelberg 1986, S. 264–300. Vgl. allgemein zum Phänomen: BESSE, Maria: Namenpaare an der Sprachgrenze. Eine lautchronologische Untersuchung zu zweisprachigen Ortsnamen im Norden und Süden der deutsch-französischen Sprachgrenze, Tübingen 1997.

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Einige Beispiele für erhaltene Doppelformen:74 (30) Boulay / dt. Bolchen (F, Moselle) : a. 1184 Or. de Bollei; a. ± 1187 Or. de Bolche < *Boll(i)acum (PN kelt. Boll(i)us) (31) Guinglange, dt. Gänglingen (F, Moselle) : a. 848 Or. Gangoniaga (PN germ. Gango); a. 1377 Gengelingen < *Gangil-ingas (PN germ. hypokoristisch Gang-ilo) (32) Fouligny, dt. Füllingen (F, Moselle) : a. 1121 K. Fullinga; a. 1305 Fulligney < *Full-ingas bzw. rom. *Fullon-iacum (PN germ. Fullo)

Der einfachste Fall der Entstehung fränkischer Doppelformen liegt in Nr. 30 vor: Bei Boulay < *Boll(i)acum (zum kelt. PN Boll(i)us) hat sich schon auf galloromanischer Stufe (6./7. Jh.) ein fränkisches *Bolliche entwickelt, das sich nach Konzentration des germanischen Sprachakzents auf der 1. Silbe und nachfolgender Synkope von nebentonigem [i] zu a. 1187 belegtem Bolche entwickelte, während die romanische Sprachentwicklung Bollei ergab. Umgekehrt konnte, wie in Nr. 32 sichtbar, neben einer fränkischen Bildung mit germanischen PN wie *Full-ingas eine vor dem 8. Jahrhundert (vor Umlaut) gebildete romanische Doppelform *Fullonicaum (beide zum germ. PN Fullo) entstehen. In anderen Fällen wie Nr. 31 ist zu einem romanischen SN *Gangon-iacum, a. 848 mit rom. Sonorisierung Gangon-iaga (zum germ. PN Gango) eine genuin gebildete fränkische Doppelform *Gangil-ingas (zum hypokoristischen germ. PN Gang-ilo) entstanden, die sich schließlich durchsetzte. Nach dem onomastischen Befund existierte um Metz im 6./7. Jahrhundert (und im Kern wohl schon früher) ein dichter toponymischer ‚Romanenring‘, geprägt vor allem von -(i)acum-Namen galloromanischer Prägung.75 Deren Lebendigkeit erweist sich auch daran, dass sie auf praedia von neuen Grundherren mit germanischfränkischen Namen angewandt wurden. Der britische Archäologe Guy Halsall hat 1995 die (inzwischen aufgebrochene) Fundleere des 6. Jahrhunderts in Metz und in Siedlungen um Metz als Ausdruck eines dramatischen Rückgangs der Einwohnerzahl von Metz und Umgebung in früher nachrömischer Zeit bewertet und von einer Art „ghost town“ gesprochen.76 Der klar galloromanische Horizont des toponymischen Befunds und genauere Analysen des archäologischen Befunde legen eher nahe, dass wir es bei Metz ganz im Gegenteil mit einem bedeutenden Resistenzraum zu tun haben, dessen Konsistenz und Prosperität vermutlich dazu beigetragen hat, dass Metz, das im 8. Jahrhundert bereits mindestens 35 Kirchen (gerechnet

74 BUCHMÜLLER-PFAFF, Monika: Siedlungsnamen zwischen Spätantike und frühem Mittelalter 1990 (wie Anm. 22), Nr. 120, 358, 306. 75 Vgl. Anm. 73. Zum komplexen Fall von Guinglange/Gänglingen/Gangoniacum vgl. HAUBRICHS, Wolfgang: Ortsnamenprobleme in Urkunden des Metzer Klosters St. Arnulf, in: Jahrbuch für Westdeutsche Landesgeschichte 3 (1983), S. 1–49, hier S. 2–42. 76 HALSALL, Guy: Settlement and social organization. The Merovingian region of Metz, Cambridge 1995, S. 10–12, S. 249–261. Diese auch auf eine ungenügende Kenntnis der Toponymie gestützten Hypothesen können nicht überzeugen.

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ohne Klöster und vorstädtische Kirchen) besaß,77 mit König Sigibert (561–575) am Ende des 6. Jahrhunderts 'Kapitale' des Teilreichs Austrasien wurde.78 Die archäologische Fundleere um Metz dürfte sich dagegen anderen Begräbnissitten der dortigen romanischen Bevölkerung verdanken, die zu schwer zu beobachtender Beigabenlosigkeit oder Beigabenarmut in Gräbern führte.79 Eine detailliertere Ansicht der toponymischen Situation zeigt, wie jenseits des galloromanischen Rings um Metz, und nur selten in diesen eindringend, im Osten SN auf fränkisch -heim, -ingen, -dorf, im Westen aber merowingisch-romanische SN-Typen auf -curtis und -villa sich ausbreiten, ja dominieren.80 Hierzu einige Beispiele, bei denen man z. T. über die Eponymen (und damit wohl die ursprünglichen Grundherren) einige begründete Vermutungen anstellen kann: (33) Bazoncourt (F, Moselle) : a. 960 Or. Bazonis curtis, a. 977 Or. in Basonis curte < rom. *Badsone-curte81 (34) Plappecourt, dt. Peblingen (Gde. Vaudoncourt, F, Moselle), a. 1430 Or. Plappecourt, Peblingen < rom. *Pappole-curte bzw. germ., *Papp(o)l-ingas (PN rom. Pappolus; vgl. kurz vor a. 614 Bischof Pappolus v. Metz; 6. Jh. auch ein comes P. ebd.). Vgl. auch Plappe-ville bei Metz a. 1141 K. Plapevilla, wohl geschenkt an die Metzer Kirche Saint Symphorien von Bischof P.82

77 KLAUSER, Theodor / BOUR, René: Un document du IXe siècle. Notes sur l'ancienne liturgie de Metz et sur les églises antérieures à l'an mil, in: Annuaire de la Société Historique et Archéologique de Lorraine 38 (1929), S. 497–639; GAUTHIER, Nancy: L'évangélisation des pays de la Moselle. La province romaine de première Belgique entre Antiquité et Moyen Âge (IIIe-VIIIe siècles), Paris 1980, S. 373–405, S. 399 f.; GAUTHIER, Nancy: Topographie chrétienne des cités de la Gaule I: Province ecclésiastique de Trèves (Belgica Secunda), Paris 1986, S. 42–53; LEBECQ, Stéphane: Les origines franques, Paris 1990, S. 83. 78 Vgl. zu Metz in nachrömischer und merowingischer Zeit WEIDEMANN, Konrad: Zur Topographie von Metz in der Römerzeit und im frühen Mittelalter, in: Jahrbuch des Römisch-Germanischen Zentralmuseums Mainz 17 (1979), S. 147–171; GAUTHIER, L'évangélisation 1980 (wie Anm. 77); GAUTHIER, Topographie chrétienne I 1986 (wie Anm. 77), S. 33–53; DIERKENS, Alain / PÉRIN, Patrick: Les 'sedes regiae' mérovingiens entre Seine et Rhin, in: Sedes regiae (ann. 400–800), hg. v. Gisela Ripoll und José Maria Gurt, Barcelona 2000, S. 267–304. hier S. 289–292; AMENT, Herbert: Metz, in: RGA 20 (2002), S. 4–5. 79 Vgl. STEIN, Die Bevölkerung des Saar-Moselraumes 1989 (wie Anm. 70), S. 167–170. 80 Vgl. die Karte Nr. 2 in: HAUBRICHS, Warndtkorridor und Metzer Romanenring (wie Anm. 73), S. 299; vgl. die Liste der SN S. 268–290. 81 Archiv der Siedlungs- und Flurnamen des Saarlandes und des germanophonen Lothringens (Universität des Saarlandes). Vgl. HIEGEL, Henri: Dictionnaire étymologique des noms de lieux du département de la Moselle, Sarreguemines 1986, S. 52 f. 82 HAUBRICHS, Wolfgang: Zur ethnischen Relevanz von romanischen und germanischen Personennamen in frühmittelalterlichen Siedlungsnamen des Raumes zwischen Maas und Rhein, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 65 (2001), S. 159–183, hier S. 175; DERS.: Das 'palatium' von Thionville/ Diedenhofen und sein Umland im Spiegel frühmittelalterlicher Siedlungsnamen und Siedlungsgeschichte. Eine toponomastische und interferenzlinguistische Studie, in: Septuaginta quinque. FS Heinz Mettke, Heidelberg 2000, S. 171–189, hier S. 173 Nr. 3.

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(35) Arnaville (F, Meurthe-et-Moselle) : a. 851 villa Arnoldi, a. 858 Ernaldo villa < *Arn(u)aldovilla (PN germ. *Arn-wald)83 (36) Thionville / dt. Diedenhofen (F, Moselle) : a. 753 K. Theudone villa; a. 930 Thiotenhof, a. 997 Or. Thiedenhovon < ahd. *Theuden-hofum 'bei den Höfen des Theudo' (mit der Lautentwicklung [eu] > [eo] > [ie] des 8. Jhs.)84 (37) Pépinville bei Hayange (F, Moselle) : a. 1004 Or. villa Pipinesdorf, a. 1314 K. Pipendorf ; a. 1245 Or. Pepinvile < ahd. Pipīnes-dorf bzw. rom. *Pippīno villa zum PN Pip(p)īn85 (38) Kerling bei Sierck (F, Moselle) : a. 1084 Cherlingen; a. 1123 K. Karlingis < ahd. *Kerlingun mit Umlaut < frühahd. *Karl-ingas zum PN Karl (Ausgangsbasis der rom.-frz. Form von a. 1123)86 (39) Clouange bei Moyeuvre (F, Moselle) : a. 1269 Or. Cloenges, a. 1279 Or. Clowanges, a. 1333 Or. Clowenges < ahd. *Clodj-ingas zum romanisierten PN *Clodjo, Cloio (so bei Sidonius Apollinaris und Gregor von Tours) < germ. *Hlodio87

Die Namen mit den Grundwörtern (Zweitelement) -villa und -curtis werden romanisch mit Personennamen im Obliquus (dem späteren Einheitskasus der galloromanischen Flexion) gebildet, der aus dem lat. Akkusativ mit Schwund des Endkonsonanten entstand, also in der konsonantischen (dritten lat.) Deklination, der auch die n-stämmigen germanischen Kurznamen folgen: Audo > Audone(m), Boso > Bosone(m), Theodo > Theudone(m) etc. So erklären sich Nr. 36 a. 753 Theudone villa zum PN Theudo, Nr. 33 Ausgangsform *Basone- < *Badsone-curte. In karolingischer und ottonischer Zeit stehen in den Urkunden daneben öfter gelehrte relatinisierte Formen wie in Nr. 33 Bazonis curtis, aus denen die späteren romanisch-altfranzösischen Formen aber nicht hergeleitet werden können. Gehören die stark (mit vokalischem Stamm) gebildeten latinisierten germanischen oder romanischen Personennamen zur o-Deklination, etwa germ. *Arn-wald > Arnualdus, so wird der zugehörige Obliquus Arnualdo < *Arn-waldu(m) eingesetzt. Also Nr. 35 a. 858 Ernaldo villa < *Arn(u)aldo-villa (mit einer karolingisch relatinisierten Form a. 851 villa Arnoldi), aber auch Nr. 34 Plappecourt < *Pappolo-curte, Nr. 37 Pepinvile < *Pippīno villa.

83 HAUBRICHS, Wolfgang: Die Urkunde Pippins des Mittleren und Plectruds für St. Vanne in Verdun (702). Toponomastische und besitzgeschichtliche Überlegungen zum frühen Besitz der PippinidenArnulfinger und zum Königsgut im Verdunois, in: Francia 13 (1985), S. 1–46, hier S. 32. 84 HAUBRICHS, Das 'palatium' von Thionville 2000 (wie Anm. 82), S. 176 Nr. 12. 85 HAUBRICHS, Das 'palatium' von Thionville 2000 (wie Anm. 82), S. 173 Nr. 1. 86 HAUBRICHS, Das 'palatium' von Thionville 2000 (wie Anm. 82), S. 173 Nr. 2. 87 HAUBRICHS, Das 'palatium' von Thionville 2000 (wie Anm. 82), S. 182 Nr. 31; DERS., Zur ethnischen Relevanz 2001 (wie Anm. 82), S. 176; HAUBRICHS, Wolfgang: Fränkische Lehnwörter, Ortsnamen und Personennamen im Nordosten der Gallia. Die 'Germania submersa' als Quelle der Sprachund Siedlungsgeschichte, in: Die Franken und Alemannen bis zur 'Schlacht bei Zülpich' (496/97), hg. v. Dieter Geuenich, Berlin/New York 1998, S. 102–129, hier S. 114 f.

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Bei den fränkisch gebildeten merowinger- und karolingerzeitlichen Siedlungsnamentypen auf -heim (in Lothringen kaum vertreten), -dorf, -hofen steht der Personenname des Erstelements im Genetiv, der bei den schwachen (konsonantischen) n-Stämmen auf -in, -en lautet, bei den stark deklinierten Stämmen aber auf -is, -es. Also Nr. 36 a. 997 Thieden-hovon < *Theuden-hofum 'bei den Höfen (Dat. Plural) des Theudo', aber Nr. 37 a. 1004 Pipines-dorf 'Siedlung des Pip(p)īn'. Die mit dem Zugehörigkeit anzeigenden germanischen -ing(as)-Suffix zu einem PN gebildeten Namen werden direkt vom Stamm abgeleitet: Also Nr. 38 a. 1084 Cherlingen (mit Umlaut), a. 1123 Karlingis < *Karl-ingas 'bei den zu Karl gehörigen Leuten', bzw. Nr. 34 a. 1430 Peblingen (deutsche Doppelform zu Plappecourt) mit Umlaut < *Papp(o)l-ingas 'bei den Leuten des Pappolus', oder Nr. 39 a. 1279 Clowanges < *Clodj-ingas. Diese Toponyme zeichnen sich nun zu einem beachtlichen Teil dadurch aus, dass sie mit Funktionären und Großen des moselländischen Raumes in Beziehung gesetzt werden können: Nr. 34 Plappecourt und Plappeville (unmittelbar bei Metz auf der anderen Moselseite) mit dem a. 614 bezeugten Bischof Pappolus von Metz (Gründer seiner Grabkirche S. Symphorien) und einem gleichnamigen, bereits a. 566/69 in Metz wirkenden comes;88 Nr. 35 Arnaville mit dem um a. 600 bis nach a. 612 als Nachfolger seines Onkels Agiulf genannten und auch in der civitas von Le Mans, im Soissonais, in Aquitanien und am Saarübergang der großen von Metz an den Rhein führenden Straße, gegenüber einem römischen Kastell, am Platz des sein Patrozinium tragenden Stiftes St. Arnual (Stadtteil von Saarbrücken) begüterten Bischof Arnuald von Metz;89 Nr. 37 Pépinville mit dem äußerst seltenen Namen der austrasischen Hausmeier Pippīn (zuerst a. 613); Nr. 38 Kerling, wie der vorgenannte Ort in den Bereich der Pfalz und des Fiskus von Thionville gehörig,90 zu dem freilich erst mit Karl Martell (geboren ca. 688/89), einsetzenden, der neuen Dynastie die Benennung ,Karolinger‘ spendenden Namen Karl; Nr. 35 Thionville/Diedenhofen enthält den Namen Theudo, der Kurzname etwa des dithematischen PN Theudoald

88 GAUTHIER, L'évangélisation 1980 (wie Anm. 77), S. 215–217; HEINZELMANN, Gallische Prosopographie 1982 (wie Anm. 3), S. 662 f. 89 WEIDEMANN, Margarete: Das Testament des Bischofs Berthramn von Le Mans vom 27. März 616. Untersuchungen zu Besitz und Geschichte einer fränkischen Familie im 6. und 7. Jahrhundert, Mainz 1986, S. 36, 40; GAUTHIER, L'évangélisation 1980 (wie Anm. 77), S. 214 f.; JARNUT, Jörg: Agilolfingerstudien. Untersuchungen zur Geschichte einer adligen Familie im 6. und 7. Jahrhundert (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 32), Stuttgart 1986, S. 12 ff., 98 ff., 122 f.; HAUBRICHS/ STEIN, Frühmittelalterliche Siedlung 1999 (wie Anm. 57), S. 127 u. 627 Anm. 51–52 (Lit.). Nach der Anfang des 9. Jahrhunderts in Metz entstandenen 'Commemoratio de genealogia domni Arnulfi episcopi' (MGH SS II, S. 308 ff.), die hier wohl glaubwürdigen Überlieferungen folgt, erhielt Arnoalds Onkel, Bischof Agiulf, südfranzösischen Besitz von König Theudebert II., der Arnoald selbst von dessen Nachfolger Chlothar II. bestätigt wurde. 90 Vgl. Anm. 85–86.

Romanische Resistenzräume und Zentren der Merowingerzeit

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< *Theudo-wald ('Herrscher des Volks'), Enkel Pippins II. († 714), sein könnte; Nr. 39 PN Clodjo in Clouange mutet merowingisch an.91 Diese Beispiele zeigen (was auch durch einen Vergleich mit archäologischen Befunden zu belegen ist),92 dass in weiterem Abstand vom römerzeitlichen civitasZentrum und der merowingischen Residenz Metz in diesen neuen SN-Typen romanischer und germanischer Provenienz grundherrliche Siedlung vorwiegend des 7./8. Jahrhunderts zu fassen ist.93 Dies wird noch deutlicher im Osten am Vogesenrand im (Oberen) Saargau bei Sarrebourg, wo wir durch die Überlieferungsgunst der frühen Weißenburger Urkunden Ortsnamen dieses Typus und die sie gründenden und benennenden Familien unmittelbar greifen.94 Einige Beispiele: (40) Görlingen (F, Bas-Rhin, cant. Drulingen), a. 661 Gairoaldo villa, a. 763 in villa Gerboldingen zum PN Gerbald/Gairoald, wie ein Sohn des mit den Weißenburger Gründern verwandten austrasischen Hausmeiers Wulfoald († nach 679) hieß. (41) † Baltzweiler, Gde. Weyer (F, Bas-Rhin, cant. Drulingen), 10. Jh. Baldinovillare zum PN Baldwin/Baldoin, wobei eine homonyme Person a. 737 (?) im nahen Weyer (Ueuiris marco) Besitz hat. (42) a. 699 (?) Gunduinovilla, a. 699 villa Gunduino super fluvio Bibaracha (bei Biberkirch, F, Moselle, cant. Sarrebourg), identisch mit a. 715 Ermenberto villare, eine villa, die Ermenbert von seinem Vater Gundoin geerbt hatte. (43) Ottweiler (F, Bas-Rhin, cant. Drulingen), a. 705/06 in fine Audoninse (in der Gemarkung des Audo), a. 706/07 villa Auduninse, a. 705/06 Audone villare, a. 721 Audouine vel (W) Erialdo villeri, a. 847 Odonovilare: Besitz der Wolfgunda filia Uuolfoaldo quondam, Gemahlin des Gundoin, Mutter des verstorbenen comes Audoin/Audo/Odo und ihres Enkels und Mönchs Weroald, der vielleicht a. 721 im (verstümmelten) SN auftaucht. (44) Einville am Sanon unweit Nancy (F, Meurthe-et-Moselle), a. 699 villa Audouuino, a. 715 Audoinouilla, a. 717 villa Audoinda, a. 715 Odouuino villa; a. 699 im Besitz von Ermbertus nec non et Otto germani filii Gundoino quondam.95 (45) Zum eben genannten seltenen PN Weroald gehört auch die nicht sicher identifizierte Wüstung a. 797 Uueroldesuuilari im Saargau. (46) † Wolfweiler am Biberbach (Gde. Plaine-de-Valsch, F, Moselle, cant. Sarrebourg), a. 830 Uuolfgunda uuilari, a. 1349 Wolfwilre uf der Bybern zu den seit a. 689 belegbaren Lang- und Kurznamen Wolf-gunda und Wolfa der Gemahlin Gundoins.

91 Vgl. Anm. 87. 92 Dies ist das Ergebnis der zusammen mit Frauke Stein und anderen seit 1980 an der Universität des Saarlandes veranstalteten interdisziplinären Kolloquien zu Siedlungsnamen und zur frühen Siedlungsgeschichte in Gauen und Regionen des Saar-Mosel-Raumes. 93 Dabei ist zu berücksichtigen, dass sowohl mit -ville, -dorf und dem Suffix -ingen komponierte Toponyme noch bis in die Karolingerzeit entstanden. 94 Vgl. LANGENBECK, Friedrich: Probleme der elsässischen Geschichte in fränkischer Zeit, in: Alemannisches Jahrbuch 1957, S. 1–132, hier S. 27 ff.; HAUBRICHS, Siedlungsnamen und frühe Raumorganisation 1983 (wie Anm. 57), S. 252–275, besonders S. 252 Anm. 101. 95 GLÖCKNER, Karl / DOLL, Anton: Traditiones Wizenburgenses. Die Urkunden des Klosters Weissenburg 661–864, Darmstadt 1979, Nr. 205, 223, 252, 226, 239, 218, 261. Vgl. HAUBRICHS, Wolfgang: Überlieferungs- und Identifizierungsprobleme in den lothringischen Urkunden des Klosters Weißenburg/ Wissembourg (Bas-Rhin), in: Nouvelle Revue d’Onomastique 19/20 (1992), S. 53–76, hier S. 57–64.

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Es bleibt also für Metz und seine civitas festzuhalten die Dualität eines Kontinuitätskerns rund um das Zentrum und einer im 7./8. Jahrhundert von regem grundherrlichem Ausbau geprägte Landschaft im weiteren Umkreis.

3 Colonia / Köln, Bonna / Bonn und Zülpich mit Jülich Die Karte 7, welche die -(i)acum-Namen des rheinisch-moselländischen Raumes in der Kartierung von Joachim Wirtz aufführt,96 zeigt deutlich, dass sich wie bei Metz, Trier und Mayen Höfe dieser Reliktnamen auch im ripuarischen Raum der Germania Secunda um das civitas-Zentrum der Colonia Agrippinensium97 und die Kastelle bzw. oppida Bonn (Legionslager),98 Zülpich < Tolbiaco (merowingische Pfalz und pagusVorort, a. 531 als civitas bezeichnet)99 und Jülich < Iuliaco (pagus-Vorort)100 finden lassen, wobei sich auch weitere römische Reliktnamen (z. B. Zons < Tonatio)101 greifen lassen.

96 WIRTZ, Joachim: Die Verschiebung der germanischen p,t und k in den vor dem Jahre 1200 überlieferten Ortsnamen der Rheinlande, Heidelberg 1972, S. 45–47, S. 104–126, S. 196, Karte Nr. 10. Vgl. die Rezension von HAUBRICHS, Wolfgang in: Zeitschrift für die Geschichte der Saargegend 22 (1974), S. 416–421. 97 Vgl. NOELKE, Peter / GROTEN, Manfred: Köln – Stadt, in: Lexikon des Mittelalters 5 (1991), Sp. 1254–1261; ECK, Werner / MÜLLER, Heribert / HELLENKEMPER, Hansgerd: Köln, in: RGA 17 (2001), S. 88–102; ECK, Werner: Köln im Übergang von der Antike zum Mittelalter, in: Geschichte in Köln 54 (2007), S. 7–26. 98 BÖHNER, Kurt: Bonn im frühen Mittelalter, in: Bonner Jahrbuch 178 (1978), S. 395–426 (mit Hinweis auf frühchristliche Inschriften mit den Namen Ast[. . .] und [M]arinu[s]); DAHLHEIM, Werner / RÜGER, Christoph B. / ENNEN, Edith: Bonn, in: RGA 3 (1978), S. 224–232; BAKKER, Lothar / KAISER, Reinhold: Bonn, in: Lexikon des Mittelalters 2 (1983), Sp. 426–428. 99 HERBORN, Wolfgang: Zülpich, in: Lexikon des Mittelalters 9 (1998), Sp. 685–686; DODT, Michael: Frühfränkische Funde aus Zülpich, in: Die Franken und die Alemannen bis zur „Schlacht bei Zülpich“ (496/97), hg. v. Dieter Geuenich, Berlin/New York 1998, S. 193–199; TIEFENBACH, Heinrich: Zülpich, sprachlich, in: RGA 34 (2007), S. 582–585 (den Versuch einer germ. Ableitung des Namens auf -(i)acum kann ich nicht teilen); LIEVEN, Jens / WAGNER, P.: Zülpich, in: RGA 35 (2007), S. 937–946. 100 Vgl. BERS, Günter: Jülich. Geschichte einer rheinischen Stadt, Jülich 1989; AOUNI, Heike: Von der Spätantike in die Merowingerzeit – ein Gräberfeld in Jülich, in: Archäologie im Rheinland, 6 (1992), S. 87–89; DIES.: Männergräber in Jülich 13–14, in: Die Franken – Wegbereiter Europas, hg. v. Alfried Wieczorek u. a., Mainz 1996, S. 838; PERSE, Marcell: Juliacum, in: RGA 16 (2000), S. 106–113 (mit abwegigen Vermutungen zur Etymologie des Ortsnamens); PÖPPELMANN, Heike: Das spätantikfrühmittelalterliche Gräberfeld von Jülich, Kr. Düren, Bonn 2010. 101 SCHÜTZEICHEL, Rudolf: Zons in Dormagen, in: Wortes anst. Donum natalicium Gilbert A. R. de Smet, hg. v. Heinrich L. Cox u. a., Leuven 1986, S. 439–448.

Romanische Resistenzräume und Zentren der Merowingerzeit

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Nicht kartiert wurden hier die Massen von fränkischen SN auf -heim, -ingen, -dorf rund um die acum-Zentren. Einige Beispiele von -(i)acum-Namen:102 (47) Zülpich w. Bonn:103 Ende 1. Jh. Tolbiaci in finibus Agrippinensium; 3. Jh. Tolbiaco vicus Sopenorum; 6. Jh. Ende apud Tulbiacensim oppidum (Gregor von Tours, HF II, 37); civitatis Tulbiacensis (ebd. III, 8); a. 658/60 Tholbeaco, Tolbiaco (Fredegar IV, 38); a. 727 Tulbiecum castrum (LHF 38); a. 642 ad Tulbiacensem castrum (Vita Columbani I 28); apud Tulbiacum (ebd.); merowingischer Münzort TVLBIACO; a. 760 F. 12. Jh. Tulpiaco; a. 975 in comitatu Zulpiche; a. 981 Zulpihgoue; a. 1075 Or. Zulpiaco; vor a. 1083 Or. Zulpicha < Tulbiacum (PN kelt. Tulbius ?). Vgl. als Gau-Hauptort aus antikem Kastell oder oppidum auch Jülich,104 3. Jh. Iuliaco, 4. Jh. Iuliacum oppidum (Ammianus Marcellinus); a. 898 Iulih geuue; a. 927 castellum Iulicham. (48) Gürzenich sw. Düren : a. 1168/74 Or. Gürzenich < *Curtini-acum (PN lat. Curtinius); mit romanischer Anlautsonorisation. (49) Merzenich nö. Aachen : a. 1140 Mercinich < *Martini-acum (PN lat. Martinius) (50) Endenich (Stadt Bonn) : a. 804 K. Antiniche, a. 814/15 Antinico < *Antini-acum (PN lat. Antinius) (51) Kendenich (sw. Bonn) : a. 941 Or. Cantinich < *Cantini-acum (PN lat. Cantinius) (52) Stetternich ö. Jülich : a. 1171 Or. Steterich < *Stertini-acum (PN lat. Stertinius) (53) Türnich sö. Bergheim : a. 893 K. Tivernihc < *Tiberni-acum (PN lat. Tibernius) (54) Widdig n. Bonn : a. 772/23 K. Witeich < *Vetti-acum (PN gallorom. Vettius)

In der schon im Abschnitt über Trier und die Mosella Romana behandelten lautchronologischen Stellung der acum-SN bemerkt man eine Zweiteilung, die sich im Raum freilich nur diffus abbildet: 1) Einige der -(i)acum-Namen weisen die t-Verschiebung des 6. Jahrhunderts auf ‒ wie in initialer Stellung Nr. 47 Zülpich < Tolbiaco, in postkonsonantischer Stellung Nr. 48 Gürzenich bei Düren < *Curtini-acum oder Nr. 49 Merzenich (mit Umlaut) bei Aachen < *Martiniacum. 2)

Einige -(i)acum-Namen haben das alte [t] bewahrt oder romanisch zu [d] sonorisiert: in initialer Stellung Nr. 53 Türnich bei Bergheim < *Tiberni-acum, in postkonsonantischer Stellung (bzw. als Doppelkonsonant) Nr. 52 Stetternich bei Jülich < *Stertini-acum und Nr. 54 Widdig bei Bonn < *Vetti-acum, mit romanischer Sonorisierung nach Nasal Nr. 50 Endenich (Stadt Bonn) < *Antini-acum und Nr. 51 Kendenich bei Bonn < *Cantini-acum. Dem reihen sich noch andere Namen an, z. B. Königswinter und Oberwinter am Rhein bei Bonn, a. 886 Uuinitorio < *Vinitorium 'Winzerbetrieb'.105

102 Für die Belege s. WIRTZ, Die Verschiebung 1972 (wie Anm. 96), passim. 103 RASCH, Antike geographische Namen 2005 (wie Anm. 19), S. 98. 104 RASCH, Antike geographische Namen 2005 (wie Anm. 19), S. 60. 105 GYSSELING, Toponymisch Woordenboek 1960 (wie Anm. 60), S. 571, 754; HAUBRICHS, Die verlorene Romanität 2003 (wie Anm. 9), S. 695–696.

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Im Kölner Raum gab es also im 6. Jahrhundert, obwohl die Germanisierung bereits begonnen hatte, noch romanische Sprachformen, und damit auch romanische Sprecher in einer komplexen, wohl plurilingualen Situation. Danach gibt es keine toponomastischen Anzeichen romanischer Kontinuität mehr in Ripuarien. Dies lässt sich durchaus mit der laikalen Inschriftenkultur in Köln vergleichen. Im 5./6. Jahrhundert dominieren dort lateinische Namen wie Artemia, Veresemus < *Verissimus (mit rom. Degemination), Ursula, Concordia, Leontius, Tornatus, Catulus, Leo, Valentiniano, Rusu(f)ula; daneben nur zwei germanische Namen, die ostgermanische Fugilo106 und die romanisierte Rignedrudis aus Vochem (Kr. Köln)107. Im 6./7. und im 7. Jahrhundert kommen noch zwei germanische Frauennamen hinzu: die fragmentarische Reco[. . .] und die domna Cheldofrida (mit westfrk. Graphie < ch > für germ. [h] aus *Hildo-frīda) in Pier bei Düren, von der es heißt: nomen eius refulsit et proles clara. Es handelt sich also um den Grabstein einer (wohl westfränkisch romanisierten) Dame aus vornehmen Geschlecht.108 Danach endet im Kölner Raum die laikale Inschriftenkultur.

4 Augusta Rauracorum / Augst und Basilia / Basel Da zur Baselromania erst kürzlich ein Bündel von speziellen Studien erschienen ist,109 darf das Doppelzentrum der älteren Augusta Rauracorum und der neueren Basilia am Rheinknie hier pauschal behandelt werden. Auch hier fehlt wie im lothringisch-moselländischen Raum im inneren Kern die t- und sogar die p-Verschiebung (6./7. Jh.):110 (55) Pratteln (CH, BL) : a. 1101/03 Bratello < *pratellum 'kleine Wiese' (56) Funtelen, Gde. Arboldswil (CH, BL) : a. 1447 Pfunttenen < *Fontānas (57) Gempen (CH, SO) < *Campu 'Feld' (58) Altenach (F, Haut-Rhin) < *Altān-acu (59) Dornach (F, Haut-Rhin), a. 1216 Turnache < *Turn-acum (PN lat. Turnus) (60) Freisnecht, Gde. Bretzwil (CH, BL) < *Fraxin-ētu 'Eschenwald' (61) Muttenz (CH, BL), a. 1277 Muttenza < GwN *Mutt-entia

106 HAUBRICHS, VITALIS, REMICO, AUDULPIA 2014 (wie Anm. 6), S. 13, 17. Vgl. HAUBRICHS, Wolfgang: Sprachliche Integration, Sprachinseln und Sprachgrenzbildung im Bereich der östlichen Gallia. Das Beispiel der Burgunden und der Franken, in: Von der Spätantike zum frühen Mittelalter. Kontinuitäten und Brüche, Konzeptionen und Befunde (Vorträge und Forschungen 70), hg. v. Theo Kölzer und Rudolf Schieffer, Ostfildern 2009, S. 61–100, hier S. 70. 107 HAUBRICHS, VITALIS, REMICO, AUDULPIA 2014 (wie Anm. 6), S. 13. 108 EGGER, Rudolf: Rheinische Grabsteine der Merowingerzeit, in: Bonner Jahrbücher 154 (1954), S. 146–158, hier Nr. 23; HAUBRICHS, VITALIS, REMICO, AUDULPIA 2014 (wie Anm. 6), S. 13. 109 Die Regio Basiliensis 2013 (wie Anm. 12); vgl. HAUBRICHS, Die verlorene Romanität 2003 (wie Anm. 9), S. 699 f. 110 HAUBRICHS, Wolfgang: Vorgermanische Toponymie am Oberrhein und im Basler Raum. Eine lautchronologische Auswertung, in: Die Regio Basiliensis 2013 (wie Anm. 12), S. 143–147.

Romanische Resistenzräume und Zentren der Merowingerzeit

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Die t-Verschiebung fehlt in initialer Stellung bei Nr. 59 Dornach < *Turn-acum; in postkonsonantischer Stellung und bei Doppelkonsonanz in Nr. 56 Funtelen > *Fontānas, Nr. 58 Altenach < *Altān-acu, Nr. 61 Muttenz < *Mutt-entia; in intervokalischer Stellung in Nr. 55 Pratteln < *pratellum und Nr. 60 Freisnecht < *Fraxin-ētu. Die p-Verschiebung fehlt bei Nr. 55 Pratteln und Nr. 57 Gempen < *campu. Bei beiden dürfte, wie angesichts der Form von a. 1101/03 Bratello (mit initialem [b]) anzunehmen, die romanische Sonorisierung vorausgegangen sein. Die postvokalische k-Verschiebung des 7./8. Jahrhunderts ist dagegen, wie Nr. 58 und 59 zeigen, vollzogen. Die Landschaft am Rheinknie um Basel war im 6. und frühen 7. Jahrhundert noch nicht völlig ‚germanisiert’. Dazu passen die (im ostgallischen Raum verspäteten) romanischen Lautwandelprozesse des 6. Jahrhunderts: (62) Nuglar (CH, SO) : a. 1147 Nugerole < *(ad) Nucāriolos 'bei den Nussbäumen' (63) Ziefen (CH, BL) : a. 1226 Civienne < kelt. *Cebenna (64) Metzerlen (CH, SO) : a. 1194 Mezherlon < *Māceri-ola 'Mäuerlein' (65) Munzach, Gde. Liestal (CH, BL) : a. 825 Munciacum < *Monti-acum (66) Grenzach (D, Lörrach) : a. 1275 Grenzach < *Carenti-acum (PN lat. Carentius)

Die Palatalisierung von romanisch [ke, ki] > [tse, tsi] findet sich in Nr. 63 Ziefen < *Cebenna, Nr. 64 Metzerlen < *Māceri-ola; die Palatalisierung von [-tia] > [-tsia] in Nr. 61 Muttenz < *Mutt-entia, Nr. 65 Munzach < *Monti-acu und sogar rechtsrheinisch Nr. 66 Grenzach < *Carenti-acu. Die Karte 8 demonstriert, dass sich auch in der Baselromania um Augst und Basel als Zentren die ‒ hier allerdings stärker gestreuten und in das südliche JuraBergland ausgreifenden ‒ charakteristischen Höfe von -(i)acum-Namen und weiteren galloromanischen SN und Gewässernamen (*Viola, Ergolz, Birs, Wiese, Kander) erhalten haben, wobei die Dominanz von Augst durchaus ins Auge fällt.

5 Remis / Reims Zu fragen ist, ob sich das aufgewiesene onomastische Kontinuitätsphänomen auch weiter westlich in der Galloromania wiederfindet. Dazu sollen exemplarisch zwei civitates der Belgica Secunda, die von Reims und die von Soissons, untersucht werden. Reims war die Metropole der Provinz und im 6. Jahrhundert erste ‚Kapitale‘ Austrasiens.111

111 Vgl. LONGNON, Auguste: Études sur les pagi de la Gaule, Bd. 2: Les pagi du diocèse de Reims, Paris 1872; DERS.: Géographie de la Gaule au sixième siècle, Paris 1878, S. 390–392; VERCAUTEREN, Fernand, Études sur les civitates de la Belgique Seconde, Bruxelles 1934, S. 35–105; BUR, Michel:

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Die Karte 9 zeigt auch hier dichte Kreise von -(i)acum-Namen und vorromanisch-keltischen SN rund um das Zentrum der civitates:112 (67) Aubilly (Marne) : Mitte 9. Jh. Albiliacus (PN Albilius) (68) Bétheny (Marne) : Anf. 11. Jh. Beteneium < *Bet(t)in-iacum (PN germ. Bettīn) (69) Billy-le-Grand (Marne) : a. 1107 Billeium, a. 1259 Biliacum (PN Billius) (70) Bligny (Marne) : a. 1197 Blaingneium, a. 1198 Blenniacum < *Blanni-acum (PN Blannius) (71) Bouilly (Marne) : a. 1211 Bouilleyum < *Bulli-acum (PN Bullius) (72) Chambrecy (Marne) : a. ± 948 Camarciacum . . . in pago Remense < *Camarici-acum (PN Camaricius) (73) Chamery (Marne) : a. ± 1067 Camerui, a. 1074 Cameriacum (PN Camarius) (74) Champigny (Marne) : a. ± 940 villa quae dicitur Campaniaca super fluvium Vidulam [Vesle] < *Campani-acum (PN Campanius) (75) Chaumuzy (Marne) : 9. Jh. mit Bezug auf Ende 6. Jh. Vicus cui vocabulus est Calmitiacus113 < *Calmici-acum (PN Calmicius) (76) Chenay (Marne) : 7. Jh. Camacum (PN Camus) (77) Chigny-les-Roses (Marne) : a. 1181 Chigniacum, a. 1223 Chagneium < *Cani-acum (PN Canius) (78) Cormicy (Marne) : a. ± 948 Culmissiacum < *Culmici-acum (PN Culmicius) (79) Courcy (Marne) : a. ± 1067 Curceium < *Cūrti-acum (PN Cūrtius) (80) Cuchery (Marne) : Anfang 11. Jh. Corcheracum < *Corcari-acum (PN Corcarius) (81) Germigny (Marne) : a. ± 940 Germaniacum (PN German(i)us) (82) Janvry (Marne) : a. 987/96 Genvereium < *Januari-acum (PN Januarius) (83) Jonchéry-sur-Vesle (Marne) : a. 849/57 Juncaracum (PN kelt. Juncarus ?) (84) Jonquéry (Marne) : a. 1146 Jonqueriacum. Vgl. o. Nr. 83. (85) Jouy (Marne) : a. ±948 Gaugiacus [. . .] in pago Remensi (PN Gaudius) (86) Luthernay, Gde. Bouvancourt (Marne) : Anfang 11. Jh. Noiternacum, a. 1126 Nocturnacum (PN Nocturnus) (87) Mailly (Marne) : a. ± 948 Malliacum super fluvium Vidulam [Vesle] (PN Mallius) (88) Marzilly, Gde. Hermonville (Marne) : a. 1225 Marzelli juxta Hermundi villam, a. 1225 Marzilliacum (PN Marcilius) (89) Méry, Gde. Méry-Prémecy (Marne) : a. 1126 villa Mairiacum < *Mat(e)ri-acum (PN Mat(e)rius)

Reims, in: Lexikon des Mittelalters 7 (1994), Sp. 657–663; DIERKENS/PÉRIN, Les 'sedes regiae' 2000 (wie Anm. 78), S. 278–282, 289–292; WOOD, Ian N., The North-Western Provinces, in: The Cambridge Ancient History, Bd. 14: Late Antiquity – Empire and Successors A.D. 425–600, hg. v. Averil Cameron, Bryan Ward-Perkins und Michael Whitby, Cambridge 2000, S. 497–524, hier S. 510 f.; PIETRI, Luce: Topographie chrétienne des cités de la Gaule XIV: Province ecclésiastique de Reims (Belgica Secunda), Paris 2006, S. 21–45; MÉRIAUX, Charles: La province de Reims à l'époque mérovingienne, in: La Province ecclésiastique de Reims. Quelles réalités? Du Moyen Âge au XIXe siècle (Travaux de l'Académie Nationale de Reims 178), hg. v. Véronique Beaulande-Barraud, Reims 2008, S. 267–284; LÜTKENHAUS, Werner: Die Verwaltung der beiden gallischen Diözesen zu Beginn des 5. Jahrhunderts, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 76 (2012), S. 1–33, hier S. 32 f. 112 Für die Belege des folgenden Namenkatalogs vgl. die in Anm. 26 angegebenen Werke von Auguste VINCENT, Marie-Thérèse MORLET und Ernest NÈGRE. 113 Hinkmar von Reims, Vita Remigii episcopi Remensis, c. 6, MGH SRM 3, S. 271.

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(90) Montigny-sur-Vesle (Marne) : a. 1154/59 Monteigneium, a. 1190 Montiniacum (PN Montinius) (91) Murigny, Stadt Reims (Marne) : a. ± 850 Moriniagum, Muriniacum < *Maurini-acum (PN Maurin(i)us) (92) Olizy (Marne) : a. 1146 Oliziacum < *Oliti-acum (PN Olitius) (93) Onrézy, Gde. Bouilly (Marne) : Anf. 11. Jh. Hunrezeium, a. 1211 Orisiacum < *Hunrad-iacum (PN frk. *Huni-rad) (94) Pargny-lès-Reims (Marne) : a. ± 1260 Paterniacum < *Patrini-acum (PN Patrinius) (95) Pévy (Marne) : a. 1226 Paveium < *Pavi-acum (PN *Pav(i)us) (96) Prémecy, Gde. Méry (Marne) : a. 1100 Primiceium < *Primici-acum (PN Primicius) (97) Prouilly (Marne) : a. ± 818 Proviliacus < *Probili-acum (PN Probilius) (98) Rilly-la-Montagne (Marne) : a. ± 850 Risleius, a. 1171 Risliacum < *Risili-acum (PN germ. *Risilo ?)114 (99) Romigny (Marne) : a. 840/77 Rominiacus, a. 1202 Ruminiacum < *Romini-acum (PN Romin (i)us)115 (100) Rosnay (Marne) : Anf. 11. Jh. Rodenaium < *Ruten-acum (PN Rutenus) (101) Roucy (Aisne) : a. 846 Rauciacus, a. 851 Rauziacus < Rauci-acum (PN Raucius) (102) Sacy (Marne) : a. ± 850 Saciacus, Saceius < *Sat(t)i-acum (PN Sat(t)ius) (103) Savigny-sur-Ardres (Marne) : Anf. 11. Jh. Saviniacum (PN Sabinius) (104) Sarcy (Marne) : a. 877 villa Sarciacum (PN Sar(i)cius) (105) Sillery (Marne) : a. 1123 Seleriacum, a. 1183 Silliriacum < *Sigilhar-iacum (PN germ. Sigilharja-)116 (106) Taissy (Marne) : a. ± 850 Tasiacus, Mitte 9. Jh. Tessiacum, 10. Jh. (falsches Testament des hl. Remigius) Tassiaco117, a. 987/96 Tasciacum < *Tat(t)i-acum (PN Tat(t)ius) (107) Traméry (Marne) : a. 1066 Tramerium, a. 1100 Tramereium < *Thrasmar-iacum (PN frk. *Thrasa-mārja-) (108) Trigny (Marne) : a. 1100 Triniacum (PN Trinius) (109) Ventelay (Marne) : a. ± 877 Ventilais, Anf. 11. Jh. Ventelaium, a. 1123 Ventiliacum (PN Ventil(i)us) (110) Verzy (Marne) : a. ± 948 Virisiacus (PN lat. Virisius) (111) Verzenay (Marne) : a. 849/57 Virdunacus (PN gallorom. Virdunus) (112) Vrigny (Marne) : a. ± 850 Viriniacus (PN Virinius) (113) Witry-lès-Reims (Marne) : a. ± 948 Victuriacum (PN Victorius)

Es gab also (die nicht erschlossenen Wüstungsnamen nicht mitgerechnet) im unmittelbaren Umkreis von Reims ca. 47 erhaltene -(i)acum-SN, damit erhaltene praediumNamen. Die meisten von ihnen enthalten keltische, lateinische und galloromanische PN, nur vier ‒ nämlich Nr. 68 Bétheny zum PN Bettīn, Nr. 93 Onrézy zum PN Hunirad, Nr. 105 Sillery zum PN Sigilhari und Nr. 107 Traméry zum PN Thrasamar ‒ haben

114 Eine Ableitung vom germ. PN Richelus, wie von Ernest NÈGRE, Toponymie générale 1990/91 (wie Anm. 26) Nr. 13047 vorgeschlagen, ist philologisch unmöglich. 115 Eine Ableitung vom germ. PN Rumo, wie vorgeschlagen von Marie-Thérèse MORLET, Les noms III 1985 (wie Anm. 26), Sp. 437a, hätte *Rum-iacum ergeben. 116 Eine Ableitung vom germ. PN *Silihar-, wie vorgeschlagen von Marie-Thérèse MORLET, Les noms III 1985 (wie Anm. 26), Sp. 455b, ist nicht möglich, da ein germ. Element *sili- nicht existiert. 117 MGH SRM 3, S. 343.

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germanisch-fränkische Personennamen. Das sind 8,5 Prozent. Immerhin beweisen diese Fälle, dass im Reimser Raum noch im 6./7. Jahrhundert das galloromanische Benennungssystem genau wie in Metz intakt war und gebraucht wurde. Es kommen dazu noch drei hybride Kompositionen, in denen an ursprüngliche -(i)acum-Namen (wiederum wie im ‚pays Messin‘) die generischen Siedlungsbezeichnungen -curtis und -villa traten: (114) Bétheniville (Marne) : a. 842 Betiniaca villa < *Bet(t)in-iacum (PN germ. Bet(t)īn) + -villa (115) Berméricourt (Marne) : a. 854 Bromereicurtis < *Brodmar-iacum (PN germ. Brodmār) + -curtis (116) Heutrégiville (Marne) : 6. Jh. K. Huldriciaca [< *Hild-] villa, 11. Jh. in. Hildrizei villa < *Hildric-iacum (PN germ. Hild-rīk) + -villa

Die Hybridnamen enthalten die germanischen PN Bettīn (erneut), Brodmār und Hildrīk (was dem merowingischen Königsnamen Childerich entspricht).118 Mit diesen hybriden Bildungen erreicht man bei den Toponymen auf -(i)acum einen Anteil von 14 % für die PN etymologisch germanischer Provenienz.119 Die Karte 9 zeigt, dass die eigentlichen merowingischen Ausbaunamen, komponiert mit einem PN und dem Grundwort -curtis bzw. -villa, erst in weiterem Abstand vom Zentrum der civitas und am Rande des Reimser ‚Romanenrings‘ erscheinen. Einige Beispiele: (117) Vaudesincourt (Marne) : a. 1348 Wadesaincourt < *Waldisīne-curtis (PN germ. *Wald-is-īn) (118) Warmeriville (Marne) : 11. Jh. in. Warmerii villa < *Warimari-villa (PN germ. *Wari-mār-)

Eine Besonderheit der austrasischen sedes regia Reims, die in dieser Quantität sonst nirgends in der Gallia erscheint, ist die Existenz von acht ethnonymen SN, welche Namen von sog. ‚barbarischen‘ gentes enthalten, wie bereits Auguste Longnon erkannte:120 (119) Gueux (Marne) : a. ± 850 Gothi < *Gotis (120) Sermiers s. Reims (Marne) : 8. Jh. Sarmedus < (ad) *Sarmatos

118 Man kann an den Vater Chlodwigs, Childerich I. (460–480), oder an Childerich II. (657–673/75) denken. 119 Vgl. für die Region von Reims LUSSE, Jackie: Les toponymes latino-germaniques en -acum et en -court en Champagne septentrionale: essai d'interprétation historique, in: Onomastique et histoire – onomastique littéraire, hg. v. Pierre-Henri Billy und Jacques Chaurand, Aix-en-Provence 1998, S. 141– 153, hier S. 144–158. 120 LONGNON, Études sur les pagi 1872 (wie Anm. 111), S. 165–179; LONGNON, Auguste: Les noms de lieu de la France. Leur origine, leur signification, leurs transformations, Paris 1920–1929, S. 127– 137. Vgl. HAUBRICHS, Wolfgang: Warasken, Chamaven, Skudingen, Sarmaten, Taifalen und andere. Von der Bedeutung ethnischer Bezeichnungen in der Galloromania, in: Germanische Altertumskunde: Quellen, Methoden, Ergebnisse, hg. v. Hermann Reichert und Corinna Scheungraber, Wien 2015, S. 95–123, hier S. 100 f.

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(121) Germaine (Marne) : a. 1086 Germanium, a. 1121 Germania < *German-ja 'GermanenSiedlung' (122) Bourgogne (Marne) : a. 877 Burgundia < *Burgund-ja 'Burgunden-Siedlung' (123) Romain (Marne) < *(ad) Romanos (124) Villers Franqueux (Marne) : a. 1108 Villam Francorum (125) Aumenancourt (Marne) : 9. Jh. curtis Alamannorum

Es sind vertreten Germani (mit einer generischen Bezeichnung, was immer man unter ihr konkret zu verstehen hat), dann Sarmaten, Goten, zweimal Burgunder (dazu wohl kontrastiv Romani) und ‒ in SN eines späteren Typs ‒ Franken und Alamannen. Diese ethnonymen SN müssen keineswegs einer gleichen Zeitschicht angehören. So machen die Burgunden-Orte, der ad Romanos-Ort, und die mit -villa und -curtis zusammengesetzten SN der Franken und Alamannen nördlich von Reims einen eher jüngeren, merowingischen Eindruck, während sich in Gotis, Sarmatia und Germania südlich der Stadt ältere, vielleicht sogar noch römerzeitliche Militär-Ansiedlungen verbergen könnten, wie vermutet wurde. Dafür spricht, dass auch eine Straßenbezeichnung in der ‚Montagne de Reims‘, in zwei Quellen des 9. Jahrhunderts überliefert, die Erinnerung an eine Anwesenheit von Barbaren bezeugt: Es handelt sich um die via Barbarica, die zunächst in der um 850 von Erzbischof Hinkmar von Reims verfassten Vita S. Remigii angesprochen wird als die Straße, auf der die Franken Chlodwigs gekommen wären:121 „viam, quae usque hodie propter Barbarorum per eam iter Barbarica nuncupatur [. . .]“ Die gleiche Straße wird aber, mit Ortsangaben versehen, auch in einem Brief des Bischofs Pardulus von Laon an Hinkmar von Reims von ca. 849/57 erwähnt:122 „per viam iuxta montes Remorum quae vocatur Barbara ire et per Joncaracum [Jonchéry] sive Broilum [Breuil] transire [. . .]“ Sie führt auch durch die Orte Gueux und Sermiers.

6 Suessionis / Soissons Soissons war das Herrschaftszentrum des rex Romanorum Siagrius, Sohn des Aegidius, magister militum per Gallias († 464),123 der im späten 5. Jahrhundert Reste des

121 Hinkmar von Reims, Vita Remigii episcopi Remensis, c. 11, MGH SRM 3, S. 292. 122 Vgl. PIETTE, A.: Chemin de la Barbarie, in: Bulletin de la Société Académique de Laon 11 (1861), S. 271–291; LUSSE, Jackie: Naissance d'une cité. Laon et le Laonnais du Ve au Xe siècle, Nancy 1992, S. 59–60; VALETTE, Jean-Jacques: Les voies de communication antiques dans la Marne, in: Carte archéologique de la Gaule, Bd. 51/1: La Marne, hg. v. Raphaelle Chossenot, Paris 2004, S. 130, 135, 138; HAUBRICHS, Warasken 2015 (wie Anm. 120), S. 100 f. 123 Für die Datierung der Namen auf -curtis und -villare vgl. grundlegend PITZ, Siedlungsnamen auf -villare 1997, Bd. 2, S. 557–661, 662–678, 917–925; HAUBRICHS, Wolfgang: Zur Datierung eines Ortsnamentypus. Die Chronologie der Siedlungsnamen auf -weiler im mittelrheinisch-moselländischen Raum, in: Reader zur Namenkunde, Bd. III/1: Toponymie, hg. v. Friedhelm Debus und Wil-

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römischen Imperiums in Gallien organisierte, bis auch Soissons a. 486 von Chlodwig erobert und zu einer Residenz des regnum Francorum gemacht wurde. Sein Sohn Chlothar I. († 561) stiftete dort im Jahr 557 das Kloster St. Médard, das seine Grablege und die seines Sohnes Sigibert († 575) wurde.124 Soissons als ,Kapitale‘ muss über beträchtliche Ressourcen verfügt haben, zu denen sicherlich kontinuierende praedia gehörten, wie sie von dem dichten Ring von vorromanischen, galloromanischen SN und darunter vor allem -(i)acum-Namen um den Vorort der civitas bezeugt werden (wobei sich die iacum-Namen natürlich ausgedünnt auch ins weitere Umland fortsetzten):125 (126) Acy (Aisne) : a. 898 Aciacum (PN At(t)ius) (127) Aizy (Aisne) : a. 858 Aziacus (PN Accius) (128) Ambleny (Aisne) : a. 1184 Potestas Ambliniaci, a. 1189 Amblonacus < *Amalīn-iacum / *Amalon-iacum (PN germ. Amalīn / Amalo) (129) Anizy-le-Château (Aisne) : 7. Jh. villa quae dicitur Anisiacus, a. 1139 Anisiacum (PN Anicius) (130) Arcy-Ste.-Restitue (Aisne) : a. 1110 Arceius, a. 1125 Arciacus (PN Arcius) (131) Attichy (Oise) : a. 858 Aptiacus, 13. Jh. Attipiacum < *Attepi-acum (PN kelt. *Attepios) (132) Augy (Aisne) : a. 1109 Algeyum < *Albi-acum (PN Albius) (133) Berny-Rivière (Aisne) : Ende 6. Jh. Brennacus, Brinnacus (Gregor von Tours), 8. Jh. Bernacum . . . villa publica (Continuatio Fredegarii ad a. 754), 9. Jh. zu a. 841 villa quae Bernacha dicitur (Nachtrag eines Mönchs von S. Médard zu Nithard) < *Brenni-acum (PN gallorom. Brennius)126 (134) Berry-au-Bac (Aisne) : a. 877 Bairiacus , 9. Jh. Baireius, a. 1081 Berriacum < *Bar(r)i-acum (PN Bar(r)ius) (135) Berzy-le-Sec (Aisne) : a. 877 Bersiacus in comitatu Suessonico, a. 893 Berziacus < *Bericiacum (PN germ. Beriko) (136) Billy-sur-Aisne (Aisne) : a. 858 Billiacus (PN kelt. Billius) (137) Bitry (Oise) : a. 870 Bitreium, a. 1227 Bitriacum < *Bittiri-acum (PN *Bittirius) (138) Blanzy, Gde. S. Rémy-Blanzy (Aisne) : a. 1219 Blanziacum < *Blandi-acum (PN Blandius)

fried Seibicke, Hildesheim 1996, S. 232–249; LUSSE, Les toponymes latino-germaniques 1998 (wie Anm. 119), S. 142–144. 124 Vgl. zu Soissons LONGNON, Géographie 1878 (wie Anm. 111), S. 392–404; VERCAUTEREN, Études sur les civitates 1934 (wie Anm. 111), S. 106–134; KAISER, Reinhold: Untersuchungen zur Geschichte der Civitas und Diözese Soissons in römischer und merowingischer Zeit, Bonn 1973; MATTEJIET, U.: Soissons, in: Lexikon des Mittelalters 7 (1995), Sp. 2025–2026; DIERKENS/PÉRIN, Les 'sedes regiae' 2000 (wie Anm. 78), S. 281–283, 289; WOOD, The North-Western Provinces 2000 (wie Anm. 111), S. 497; PIETRI, Topographie chrétienne 2006 (wie Anm. 111), S. 47–57; LÜTKENHAUS, Die Verwaltung der beiden gallischen Diözesen 2012 (wie Anm. 111), S. 26. 125 Vgl. Anm. 112. 126 Gregor von Tours, Decem libri Historiarum IV, 22, 46; V 25, 34, 39, 49 f., MGH SRM 1, S. 154, 182, 231, 240, 245, 260; Continuatio Fredegarii c. 36, MGH SRM 2, S. 183; Nithard, Historiarum libri quattuor III,3, editio tertia, hg. v. Ernst MÜLLER, Hannover 1907, S. 31. Vgl. zu diesem wichtigen Königshof LONGNON, Géographie 1878 (wie Anm. 111), S. 395–401.

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(139) Bucy-le-Long (Aisne) : a. 1132 Buci, a. 1137 Buciacus super ripam Asone < *Bucci-acum (PN Buccius) (140) Buzancy (Aisne) : a. 1384 Busency < *Busenti-acum (PN Busentius, abgeleitet von Busius)127 (141) Chavigny (Aisne) : 9. Jh. mit Bezug auf den Beginn des 6. Jhs. ad villam nomine Caviniacum128; a. 1161 Caviniacus (PN Cavinius) (142) Ciry-Salsogne (Aisne) : a. 1222 Ciriacum (PN Cirius) (143) Clamecy (Aisne) : a. 1124 Clamici < *Clamici-acum (PN lat. Clamicius) (144) Corey (Aisne) : a. 1157 Corci < *Curti-acum (PN Curtius) (145) Couloisy (Aisne) : a. 858 Colosiacum (PN *Colosius) (146) Crécy-au-Mont : a. 1107 villa que dicitur Creci, a. 1145 Creciaco < *Crixsi-acum (PN kelt. Crixsos) (147) Crouy-sur-Ourcq (Seine-et-Marne) : a. 1226 Croyacum < *Crodiacum < *Cordi-acum (PN kelt. Cordios) (148) Cuiry-lès-Chaudardes (Aisne) : a. 1150 Curi < *Cūri-acum (PN Cūrius) (149) Cuisy-en-Almont (Aisne) : a. 893 Cusiacum (PN Cusius) (150) Cutry (Aisne) : a. 1143 Cutri, a. 1225 Cutrei < *Cutiri-acum (PN *Cuttirius) (151) Dhuizy, Gde. Serches (Aisne) : 12. Jh. Dusi < *Dusi-acum (PN Dusius) (152) Droizy (Aisne) : a. 1138 Droisiacus < *Drausi-acum (PN kelt. Draus(i)us) (153) Ecuivy, Gde. Rozières (Aisne) : a. 1219 Escuri < *Scurri-acum (mit rom. Vokalvorschlag) (PN Scurrius) (154) Épagny (Aisne) : a. 1131 Espagni, a. 1209 Espagneium < *Hispani-acum (PN Hispanius) (155) Fleury (Aisne) : a. 1147 altare de Flori, a. 1197 Floriacum (PN Flor(i)us) (156) Guny (Aisne) : a. 858 Guniacus (PN Gunius?)129 (157) Jaulzy (Oise) : a. 1143 Jusiacum, a. 1172 Jausiacum < *Gauti-acum (PN Gautius) (158) Jouy (Aisne) : a. 1147 Joi, a. 1184 Joiacum < *Gaudi-acum (PN Gaudius) (159) Juvigny (Aisne) : a. 1110 Juviniacum . . . in pago Suessionico, a. 1110 de Joviniaco (PN Juvinus) (160) Largny-sur-Automne (Aisne) : a. 1123 de Lerniaco < *Lerini-acum (PN Lerinius) (161) Leuilly-sous-Coucy (Aisne) : 9. Jh. mit Bezug auf den Beginn des 6. Jhs. Luliacus, Luliaco, 9. Jh. ad a. 843 villam Luliacum130, a. 1141 Lulliacus (PN Lullius) (162) Leury (Aisne) : a. 1383 Loiry < *Lori-acum (PN Lorius) (163) Missy-aux-Bois (Aisne) : a. 1132 Missiacum < *Micci-acum (PN Miccius) (164) Montigny-Lengrain (Aisne) : a. 938 Montiniacum (PN *Montinius) (165) Ouilly, Gde. Morsain (Aisne) : a. 1193 Oillies < *Ol(l)i-acum (PN Ol(l)ius) (166) Parcy, Gde. Parcy-et-Tigny (Aisne) : a. 1132 Parrechi, a. 1241 Parreciacum < *Patrici-acum (PN Patricius) (167) Pargny, Gde. Pargny-Folain (Aisne) : a. 858 Patriniacum, a. 1135 Parigniacum (PN Patrinius) (168) Ploisy (Aisne) : a. 1200 Ploisi < *Plauti-acum, *Ploti-acum (PN Plautius)

127 Die Ableitung vom germ. PN Boso, wie vorgeschlagen von MORLET, Les noms de personne, Bd. 3 1985 (wie Anm. 26), S. 272a, hätte eine Form *Bos-iacum ergeben. 128 Hinkmar von Reims, Vita Remigii episcopi Remensis, c. 17, MGH SRM 3, S. 307. 129 Der Name Guni-, wie von MORLET, Les noms III 1985 (wie Anm. 26), S. 387, vorgeschlagen, kann nicht germ. Ursprungs sein. 130 Hinkmar von Reims, Vita Remigii episcopi Remensis, c. 17, 25, 28, MGH SRM 3, S. 256, S. 307, S. 322, S. 324.

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(169) Pouy (Aisne) : Vgl. Pouy (Aube), a. 1143/68 Poiseium < *Poti-acum (PN Potius) (170) Quincy-sous-le-Mont (Aisne) : a. 1147 Quinci < *Quinti-acum (PN Quintius) (171) Sacy (Aisne) : Vgl. Sacy-le-Grand (Oise) : a. 750 Saciacum (PN Sacius, Satius) (172) Sancy (Aisne) : a. 1340 Sanci < *Sancti-acum (PN Sanctius) (173) Soucy (Aisne) : a. 1110 de Susciaco, a. 1142 Suciacum (PN Sucius) (174) Terny, Gde. Terny-et-Sorny (Aisne) : a. 1160 Terni, a. 1271 de Tremiaco, a. 1335 Tergniacus < *Tarini-acum (PN *Tarinius) (175) Tigny, Gde. Parcy-et-Tigny (Aisne) : a. 1222 Tigni < *Tini-acum (PN Tinius) (176) Tracy-le-Val (Oise) : a. 814 Trapiacus (PN *Trapius) (177) Trosly-Loire (Aisne) : a. 858 Trosliacus < *Trossuli-acum (PN Trossulius) (178) Vailly (Aisne) : a. 857 Vasliacus . . . in pago Suessonico, a. 864 Vaeslei < *Vasili-acum (PN: *Vassilius, Ableitung zu Vassius)131 (179) Vasseny (Aisne) : a. 898 Vaisniacum < *Vaccini-acum (PN lat. Vaccinius) (180) Vierzy (Aisne) : a. 1212 de Virzi, a. 1264 de Virziaco < *Virisi-acum (PN Virisius) (181) Vrégny (Aisne) : a. 11332 Virniaco, a. 1145 Verniaco < *Verini-acum (PN lat. Verinius) (182) Vuillery (Aisne) : a. 1047 Villeresium [< *Villereium], a. 1251 Villery < *Villari-acum (PN *Villarius zu lat. villa wie Villanius in Villeny, Loire-et-Cher, a. 1369/70 Villaniacum)132

An -(i)acum-Namen kommen um Soissons wohl noch dazu Bleuxy, Chassemy, Charentigny (zu *Carentinius?), Gorgny (zu Gorgonius?), Sorny (zu Sornius ?) und – klarer bestimmbar – a. 589 Sauriciacus, Ort einer Synode, zu lokalisieren beim „ruisseau de Sorcy“ (Longueval, Aisne, cant. Braine); ferner noch der Fiscus von Crouy, nach der zweiten Vita des hl. Medardus (11. Jh.) der Platz der Kirche des Heiligen bei Soissons.133 Im Umkreis von Soissons gibt es etwa 64 solcher erhaltener -(i)acum-Namen, das ist um einiges mehr, als im Umfeld von Reims auszumachen ist. Nur zwei darin enthaltene germanische PN (3,1 %), bedeutend weniger als in der Region um Reims, lassen sich sichern: Nr. 128 Ambleny zum PN Amalo und Nr. 135 Berzy-le-Sec zum PN Beriko. Dazu kommt noch ein hybrider SN mit Zusammenrückung von -(i)acum-SN und der Siedlungsbezeichnung -curtis: (183) Audignicourt (Aisne) : a. 1199 Audignecourt < *Aldin-iacum + -curtis (PN germ. Aldīn). Vgl. u. a. Audigny (Aisne), a. 1065 Aldiniacum.

Mit dieser hybriden Bildung hat man ca. 4,6 % PN germanischer Provenienz in den -(i)acum-Namen in der Region von Soissons.

131 Die Ableitung vom germ. PN Wazilo, wie vorgeschlagen von MORLET, Les noms III 1985 (wie Anm. 26), S. 458a, ist unwahrscheinlich. 132 Vgl. Villery (Aube), 7. Jh. zu a. 493 Villariaco, in qua Chlodoveus resedebat, in territorio Trecassino (Troyes) (Fredegar, Chronicon, MGH SRM 3, S. 19; vgl. LONGNON, Géographie 1878 (wie Anm. 111), S. 75; NÈGRE, Toponymie générale 1990/91 (wie Anm. 26), Nr. 13113) < PN Villarius. Die Ableitung vom germ. PN Willi-hari, wie vorgeschlagen von MORLET, Les noms III 1985 (wie Anm. 26), S. 474a, ist unwahrscheinlich. 133 Gregor von Tours, Decem libri historiarum IX, c. 37, MGH SRM 1, S. 458. Vgl. LONGNON, Géographie 1878 (wie Anm. 111), S. 402 ff.; AA SS Juni II 87–99.

Romanische Resistenzräume und Zentren der Merowingerzeit

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Schließlich finden sich noch nördlich und östlich von Soissons ‒ wiederum bedeutend weniger zahlreich als bei Reims ‒ zwei ethnogene SN, die vielleicht auf Militärsiedlungen oder Deportationen zurückgehen:134 (184) Allemant (Aisne) : a. ± 980 Allemans in pago Suessonico, a. 1132 curtis de Alemannis < *(ad) Alemannos. Vgl. Allemant (Marne), a. 813 Alemannus (185) Sermoise (Aisne) : a. 1223 Sarmasia < *Sarmacia < *Sarmat-ja 'Sarmaten-Siedlung'

Es handelte sich also um Siedlungen von Sarmaten und Alemannen. Die Karte 10 zeigt aber auch, dass die merowingisch-romanischen SN erst zaghaft (mit 6 Exemplaren) in einer Entfernung von ca. 15–20 km vom Vorort der civitas beginnen. Die Bedeutung von Soissons in merowingischer Zeit hat also wohl nicht zuletzt mit dem Ring erhaltener galloromanischer Siedlungen und praedia rund um die Stadt zu tun.

7 Fazit Am Ende möge ein sehr kurzes Resümee stehen: Die vorstehenden Überlegungen haben gezeigt, dass ein beträchtlicher Teil der einst römischen und dann merowingischen Machtzentren im Osten der Gallia – wie Trier, Metz, Basel, Reims, Soissons und auch Köln (mit seinen Satelliten Bonn, Zülpich, Jülich) – mit charakteristischen Konzentrationen überlebender römischer praedia und fundi korreliert sind. Diese Verdichtungszonen sind weitgehend (aber nicht nur) geprägt durch die antiken und teilweise noch subantiken Toponyme auf -(i)acum. Freilich nicht alle Zentren: Nach heutigem Forschungsstand waren Zentren wie Maastricht, Utrecht, Tongern, Mainz, Worms, Speyer, Straßburg und Verdun von dieser konservativen Entwicklung ihrer Umgebung ausgeschlossen. Sie besaßen – in einigen Fällen – vielleicht eine punktuelle Kontinuität in den städtischen Zentren selbst, nicht aber eine radiale Kontinuität, die auch die nähere Entourage der civitates (und castra) miteinbezog.

134 HAUBRICHS, Warasken 2015 (wie Anm. 120), S. 103 Nr. 17; S. 110 Nr. 12.

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Karte 1: Die Mosella Romana im Spiegel der nichtgermanischen, romanisch-fränkischen Toponymie. Bearbeitet nach KLEIBER, Wolfgang / PFISTER, Max: Aspekte und Probleme der römischgermanischen Kontinuität. Sprachkontinuität an Mosel, Mittel- und Oberrhein sowie im Schwarzwald, Stuttgart 1992, S. 46.

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Karte 2: Vorgermanische Gewässernamen und Siedlungsnamen zwischen Mosel und unterer Saar. Entwurf: Wolfgang Haubrichs. Bearbeitet nach HAUBRICHS, Wolfgang: Galloromanische Kontinuität zwischen unterer Saar und Mosel. Problematik und Chancen einer Auswertung der Namenzeugnisse, in: Italica et Romanica. FS Max Pfister, hg. v. Günter Holtus, Johannes Kramer und Wolfgang Schweickard, Tübingen 1997, Bd. 3, S. 211–237, hier S. 237.

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Karte 3: Mosella Romania: Romanische Endbetonung in Orts- und Flurnamen der Mosella Romana. Neuzeichnung nach KLEIBER, Wolfgang: Das moselromanische Substrat im Lichte der Toponymie und Dialektologie. Ein Bericht über neuere Forschungen, in: Zwischen den Sprachen. Siedlungsund Flurnamen in germanisch-romanischen Grenzgebieten, hg. v. Wolfgang Haubrichs und Hans Ramge, Saarbrücken 1983, S. 153–192, hier S. 174–179, S. 176, Karte Nr. 8.

Romanische Resistenzräume und Zentren der Merowingerzeit

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Karte 4: Arealdistribution romanischer Reliktwörter. Bearbeitet nach POST, Rudolf: Romanische Entlehnungen in den westmitteldeutschen Mundarten. Diatopische, diachrone und diastratische Untersuchungen zur sprachlichen Interferenz am Beispiel des landwirtschaftlichen Sachwortschatzes, Wiesbaden 1982, S. 303, Karte 57.

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Karte 5: Vorgerm. [t] im Raum zwischen Mosel und Rhein. Entwurf: Wolfgang Haubrichs und Roland Puhl. Bearbeitet nach HAUBRICHS, Wolfgang: Etymologie und Onomastik in romanisch-germanischen Interferenzgebieten. Wege zu einer Kulturarchäologie sprachlicher Kontakte, in: Étymologie romane: objets, méthodes et perspectives, hg. v. Martin Glessgen und Wolfgang Schweickard, Strasbourg 2014, S. 195–222, hier S. 200.

Romanische Resistenzräume und Zentren der Merowingerzeit

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Karte 6: Die -(i)acum-Namen der römischen Provinz Belgica Prima. Bearbeitet nach BUCHMÜLLERPFAFF, Monika: Siedlungsnamen zwischen Spätantike und frühem Mittelalter. Die -(i)acum-Namen der römischen Provinz Belgica Prima (Beihefte zur Zeitschrift für romanische Philologie 225), Tübingen 1990, Karte 1.

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Karte 7: Die -(i)acum-Namen im rheinisch-moselländischen Raum. Bearbeitet nach WIRTZ, Joachim: Die Verschiebung der germanischen p, t und k in den vor dem Jahre 1200 überlieferten Ortsnamen der Rheinlande, Heidelberg 1972, S. 196, Karte Nr. 10.

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Karte 8: Die frühen Siedlungs- und Gewässernamen im Bereich der Baselromania. Entwurf: Wolfgang Haubrichs. Zeichnung: Peter Gluting.

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Karte 9: Vorromanische, romanische und merowingische Siedlungsnamen im Umkreis von Reims. Entwurf: Wolfgang Haubrichs. Zeichnung: Peter Gluting.

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Karte 10: Vorromanische, romanische und merowingische Siedlungsnamen im Umkreis von Soissons. Entwurf: Wolfgang Haubrichs. Zeichnung: Peter Gluting.

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Münzen und Münzprägung als Quelle für politische Kommunikation im frühmittelalterlichen Gallien Das frühmittelalterliche Gallien ist ein erstaunlich stabiler politischer Raum. Er übersteht als Ganzes zahlreiche Reichsteilungen mit immer neuen Grenzen. Auch bei der Neukonstitution eines politischen Systems durch die Karolinger, die ja nicht erst 751 mit dem Königtum Pippins stattfand, bleibt der Raum als Ganzes als politischer Raum erhalten. Das lässt sich nicht aus der Herrschaft starker Könige heraus erklären, zumal es solche seit dem Ende des 7. Jahrhunderts gar nicht mehr gab und die Karolinger als Hausmeier sicher noch keine dazu ausreichende politische Macht etabliert haben konnten. Bemerkenswert ist zudem, dass aber dennoch eine erstaunliche Kohärenz der Reiche des Westens zu beobachten ist, was kaum auf das Handeln des Papstes zurückzuführen sein dürfte. Allein die familiären Verbindungen auf der Ebene der Herrscher sowohl der Merowinger- als auch der Karolingerzeit, wohl aber auch auf der Ebene der Großen, sprechen dafür, dass es parallel zu den stabilen politischen Systemen einen vor allem sozial durch das Handeln der Eliten definierten Raum gibt, der die Reste des ehemaligen römischen Westreiches umfasst und der dann im Kaisertum Karls des Großen zu großen Teilen erneut auch politisch zusammengeführt werden kann. Es gibt also im frühmittelalterlichen Gallien ein politisches System, dass nur zu verstehen ist als politischer Zusammenhang, der durchaus von den regionalen Akteuren herzuleiten ist, die miteinander handeln und – Handeln und Reden gehören hier zusammen –, ein System bilden, das seine soziale Qualität aus gemeinsamen Themen und Interessen bezieht, in dem kommuniziert wird, und zwar sowohl auf regionaler Ebene als auch in einem reichsweiten Verbund der regionalen Akteure. Das ist auf den ersten Blick sichtbar im kirchlichen Handeln (auch hier ist Handeln Teil der Kommunikation), sichtbar mit zahlreichen Konzilien, die von Bischöfen aus den verschiedenen Regionen in verschiedenen Konstellationen besucht wurden. Zentrales Thema dieser Gruppe ist die Organisation der kirchlichen Ordnung, zugleich aber auch des Politischen, schon weil diese Gruppe von Akteuren auch als politische Akteure und zugleich durchaus auch als Amtsträger der Könige bzw. des Staates verstanden werden können. Politische Kommunikation im frühmittelalterlichen Gallien ist zwar zunächst die Kommunikation über das Politische, die wir unmittelbar zeitgenössischen Texten entnehmen können und solche, deren Anwesenheit wir grundsätzlich postulieren, weil es politische Akteure gibt. Politisches Handeln führt also zu politischer Kommunikation. In einem weiteren Sinne aber besteht auch im politischen Handeln selbst Kom-

https://doi.org/10.1515/9783110623598-008

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munikation.1 Eine Trennung von Handlung und Kommunikation ist nur bedingt sinnvoll, wenn man die Frage nach der Relevanz des Geschehens stellt. Sozial und politisch relevant ist schließlich das, was geschehen ist; und das ist umfassend zu verstehen, in einem Begriff nämlich. Vorstellungen und Realitäten gehören unter dem Gesichtspunkt relevanten Geschehens zusammen.2 Der klassische Kommunikationsbegriff als Bezeichnung für das Geschehen zwischen Absender und Adressaten übersieht leicht die Bedeutung von Publikum, das auch ohne eine konkrete Adresse die Kommunikation eines Absenders moduliert. Während dieses Problem zwar erkannt wird und zunehmend auch theoretisch zu fassen ist, ist es ungleich schwieriger, Zusammenhänge zwischen parallelen Kommunikationen solcher Art herzustellen, die aber oftmals von erheblicher Bedeutung für die Gemeinsamkeit von Vorstellungen sind. Da lohnt es sich, mit der Theorie selbstreferentieller Systeme nicht die Akteure in das Zentrum der Frage zu stellen (obwohl sie am Ende für uns natürlich von besonderem Interesse sind), sondern die Themen der Kommunikation, die letztlich die entscheidende Größe für die Entstehung sozialer Systeme sein dürften, nicht die personalen Akteure selbst.3 Wenn zwei gleichartige selbstreferentielle Systeme auf den gleichen Themen beruhen, dann werden sie im Falle ihrer Begegnung nicht mehr nur parallel bestehen, sondern sich gegenseitig verstärken und gegebenenfalls ein Suprasystem bilden. Solche Effekte, die soziale Realitäten und die tatsächliche Kommunikation zusammenführen, müssen als Ausdruck von Kommunikation verstehbar sein. Das erlaubt und verlangt den Begriff des Kommunikationsraumes, der ja nicht voraussetzt, dass es ein Thema der Kommunikation zwischen miteinander notwendigerweise direkt kommunizierenden Akteuren gibt, sondern Räume erkennt, die sich aus gemeinsamen Themen und der bloßen Option auf unmittelbare Kommunikation ergeben. Ein solcher Kommunikationsraum ist gewährleistet und vorauszusetzen, wenn etwa eine Gesellschaft über gleichartige miteinander verbundene Strukturen integriert ist und somit permanente Anschlussfähigkeit besteht. Gerade für das Römische Reich scheint diese Frage von eminenter Bedeutung zu sein, nachdem ja zunehmend erkannt worden ist, dass dieses Reich eben keine reine Befehlsordnung ist.4 Und gerade unter unserem hier gewählten Gesichtspunkt müssen wir uns fragen, wie die Basiseinheiten dieses Reiches, also civitates, poleis, Verbände und herausragende Personen, miteinander vernetzt sind. Wir wissen doch, dass gerade im Prinzipat die Kommunikation mit Rom zu großen Teilen über

1 KISS, Gábor: Grundzüge und Entwicklung der Luhmannschen Systemtheorie, Stuttgart 1986, S. 16 f. 2 LUHMANN, Niklas: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt am Main [1984] 1987, S. 226 f.; S. 240. 3 Vgl. etwa LUHMANN, Niklas: Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt am Main 1997, S. 868 ff. 4 SCHMIDT-HOFNER, Sebastian: Reagieren und Gestalten. Der Regierungsstil des spätrömischen Kaisers am Beispiel der Gesetzgebung Valentinians I. (Vestigia 58), München 2008 bes. S. 344 ff.

Münzen und Münzprägung als Quelle für politische Kommunikation

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die domus Augusta läuft,5 wir wissen aber auch, dass Kommunikation im Reich auch regional gefördert wird, etwa über die Provinziallandtage und den dazugehörenden Kult.6 Die Provinzialorganisation ist ja nicht bloß eine top-down-Struktur. In ihrem Rahmen werden auch die Basiseinheiten des Reiches in der Weise gebündelt, dass sie von oben erreicht werden können.7 Und ein Weiteres: Kommunikation muss nicht als solche unmittelbar sichtbar sein, wie das über Inschriften weitgehend nachvollzogen werden kann. Findet sie statt, lässt sie sich auch über die Ergebnisse ihrer Tatsächlichkeit greifen, also im Fall der Münzprägung über die Kommunitäten und Akteure, die Anteil an diesem System haben, aber – für das Römische Reich im Westen wichtiger – auch über den Geldumlauf, Fragen der Akzeptanz, der Variationen im Münzprogramm und über die Frage, wer eigentlich welche Münze regelmäßig in der Hand hat. Aber natürlich ist die Münzprägung, wie angedeutet, nicht die Kommunikation des Reiches in Gänze selbst. Die finden wir viel intensiver mit den Inschriften, die erkennen lassen, wer mit wem und über was zusammenhängt, ja in besonderer Weise etwa in der Kommunikation mit und über die Götter, die ja immer in entsprechenden Kontexten stehen. So können wir über Weiheinschriften zu Ehren des Iupiter Dolichenus einen kommunikativen Rahmen sehen, der zwar nicht zweifelsfrei erkennen lässt, dass es sich um einen militärischen Kontext handelt und schon gar nicht sicher darauf schließen lässt, dass die Akteure aus Dolichae kommen, aber dennoch einen Zusammenhang zwischen denen zeigt, die den Kult dieses Gottes pflegen.8 Auch lässt sich fragen, ob nicht ein wichtiger Teil der politischen Kommunikation, aber in erster Linie natürlich von oben nach unten, über die praecones läuft, die in der Regel als ‚Herolde‘ aufgefasst werden,9 was wegen der mittelalteraffinen Begrifflichkeit sicher nicht ganz unproblematisch ist. Auch das wäre in diesem Zusammenhang einmal

5 WINTERLING, Aloys: Aula Caesaris. Studien zur Institutionalisierung des römischen Kaiserhofes in der Zeit von Augustus bis Commodus (31. v. Chr. – 192 n. Chr.), München 1999 zeichnet die Entwicklung von einer informellen domus Augusta zur aula Casaris nach. – S. zur Kommunikation zwischen Kaiser und den lokalen Kommunitäten als Strukturmerkmal des Reiches EDMONDSON, Jonathan: The Roman emperor and the local comunities of the Roman Empire, in: Il princeps romano: autocrate o magistrato? Fattori giuridici e fattori sociali del potere imperiale da Augusto a Commodo, hg. v. Jean-Louis Ferray und John Scheid, Pavia 2015, S. 701–729, S. 720–729. 6 S. dazu DEININGER, Jürgen, Die Provinziallandtage der römischen Kaiserzeit von Augustus bis zum Ende des dritten Jahrhunderts n. Chr., München/Berlin 1965. – S. zu Spanien MACKIE, Nicola: Local Administration in Roman Spain A.D. 14–212, Oxford 1983, S. 136–151. 7 S. STROTHMANN, Das ‚unsichtbare Römische Reich‘ als Verbund der Kleinstaaten (in diesem Band). 8 S. zu Iupiter Dolichenus SCHWERTHEIM, Elmar: Iupiter Dolichenus. Seine Denkmäler und seine Verehrung, in: Die orientalischen Religionen im Römerreich, hg. v. Maarten J. Vermaseren, Leiden 1981, S 193–212. 9 S. zu den praecones ohne genauere Betrachtung ihrer Funktion, aber mit Hinweis auf einen Beleg, der ein collegium praeconum aus Brescia kennt, DAVID, Jean-Michel: Les apparitores munipaux, in: Le Quotidien municipal dans l’Occident Roman, hg. v. Clara Berrendonner, Mireille Cébeillac-Gervasoni und Laurent Lamoine, Paris 2008, S. 391–403, S. 396.

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genauer zu untersuchen, in wieweit durch diese praecones das Wissen über das gemeinsame Thema von der römischen Zentrale an die Teilnehmer städtischer Versammlungen vermittelt wird, das dann von der Münzprägung vorausgesetzt werden kann. ‚Kommunikation‘ steht für jede sinnstiftende Verbindung von Akteuren in einem System, das grundsätzlich seinerseits auf gemeinsamen Themen basiert. Es geht also nicht bloß um das klassische Gespräch, die verbale, mündliche bzw. schriftliche ausdrückliche Auseinandersetzung über ein Thema mit Absender und Adressaten, sondern um jede Verbindung von Akteuren, die auf gemeinsame Themen verweist.10 Die Gestalt solcher Kommunikation kann also auch kontaktlos sein, also etwa darin bestehen, dass an zwei voneinander entfernten Orten über dasselbe Konzept gesprochen oder auch nur nachgedacht wird, etwa wenn der Kult derselben Gottheit an verschiedenen Orten des Reiches gepflegt wird, ohne dass die Akteure irgendeine persönliche Beziehung verbindet, oder aber darin, dass politische Systeme nach demselben Muster organisiert sind, wie das bei den römischen Munizipien und Kolonien der Fall ist.11 Nachdem wir es uns seit dem 19. Jahrhundert erheblich erschwert haben, politische Geschichte zu erforschen, indem wir nun nicht mehr nur das Handeln und seine Reflexion untersuchen, sondern auch die Kultur, mit der dieses Handeln zusammenhängt, etwa im Bereich der Religion, der Kunst, der Philosophie und neuerdings der Rituale und Konsensphänomene, bleibt uns nichts anderes übrig, als diesen Gesamtzusammenhang auch theoretisch zu fassen. Dazu eignet sich der Begriff der Kommunikation, weil er wenig Konkretes bereits voraussetzt und offen ist für die Analyse dessen, was sich also konkret dahinter verbirgt. Wir sind so in der Lage, ohne die Themen des Denkens und Handelns präzise beschreiben zu müssen, ihr Wirken zu untersuchen. Es ist also auch keine Frage, dass für den römischen Westen mit dem weitgehenden Fehlen kommunaler Münzprägung die Münzen nicht in erster Linie als Ausdruck stattgefundener Kommunikation in Frage kommen. Dort – es klang schon an – müsste eine solche Untersuchung bei den Inschriften ansetzen. Für das Frühe Mittelalter bietet sich aber sehr wohl die Untersuchung der Münzprägungen an, etwa der fränkischen Goldprägungen in Gallien. Nach unserer Annahme ist die sogenannte ‚merowingische‘ Monetarmünzprägung, deren Namen meines Erachtens irreführend ist, weil nicht die Merowinger maßgeblich sind, sondern ein politischer Zusammenhang Galliens, der weit über die

10 Die theoretische Konzeption des Beitrages verdankt einiges der ursprünglichen Theorie selbstreferentieller Systeme, etwa bei Niklas Luhmann, Soziale Systeme [1984] 1987, intensiven Gesprächen mit dem Dortmunder Soziologen Gábor Kiss, und ist vor allem an geschichtswissenschaftlichen Problemen entwickelt. Vgl. zur Theorie auch den Beitrag von Helga SCHOLTEN, Fortbestand im Wandel: Römische Kommunikationsräume bei Salvian von Marseille, in diesem Band. 11 Vgl. dazu STROTHMANN, Das ‚unsichtbare Römische Reich‘ als Verbund der Kleinstaaten, in diesem Band.

Münzen und Münzprägung als Quelle für politische Kommunikation

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herrschende Familie hinausweist, Ausdruck noch antiker politischer Kommunikation.12 Man sollte diese Münzprägung gallofränkisch nennen. Während im Römischen Reich zwar an zahlreichen Orten Steuergold eingesammelt wurde, es aber nur an wenigen Stellen zu Münzen weiterverarbeitet wurde, scheint gegen Ende des 6. Jahrhunderts in Gallien dieser Schritt aus dem Münzund Steuersystem herausgenommen worden zu sein. Das Gold wurde offensichtlich von den Steuererhebungsorten an nahegelegene Hauptorte versandt und dort gereinigt und vermutlich zu Münzen geschlagen, die sodann den Herkunftsort des Goldes, respektive der zugrundeliegenden Steuer mitteilten und darüber hinaus den Namen des im Rahmen der Steuererhebung zuständigen Monetars verzeichneten.13 Das System – um ein solches handelt es sich – besteht aus einer großen Zahl von Emissionen aus der Zeit von etwa 585 bis 670, die in den allermeisten Fällen die folgenden Merkmale teilen:14 Diese Münzen sind Trienten, Drittelsolidi, die also grundsätzlich mit dem spätantik-byzantinischen Münzsystem, das auf dem Solidus beruht, kompatibel und anfangs wohl auch konvertibel sind. Die Münzen tragen auf der Vorderseite ein unspezifisches Herrscherbild im Profil, das eigentlich kaiserliche Insignien, wie das Diadem, zeigt, in der Gestaltung zugleich durchaus ‚mittelalterlich‘ erscheint, was sicher dazu beigetragen hat, diese Münzen in aller Regel als mittelalterliche Münzen zu verstehen. Hinzu kommt auf der Vorderseite eine Umschrift mit Ortsnamen. Auf der Rückseite befindet sich in Umschrift ein Personenname. Im Feld tragen die Münzen ein Kreuz. Manche Emissionen teilen einen Königsnamen mit, was aber nur in der Kombination mit wenigen Ortsnamen der Fall ist, etwa den Namen für Paris, Marseille, Banassac (Dep. Lozère).15 Häufiger werden den Ortsnamen Qualifikationen hinzugefügt, wie etwa civitas, vicus, ecclesia, basilica,

12 Das interdisziplinäre Projekt ‚Merowingische Monetarmünzen‘, das Historiker, Sprachwissenschaftler und Numismatiker zusammenband, wurde von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert. S. als erstes Ergebnis: STROTHMANN, Jürgen: Königsherrschaft oder nachantike Staatlichkeit? Merowingische Monetarmünzen als Quelle für die politische Ordnung des Frankenreiches, in: Millennium 5 (2008), S. 353–381. 13 STROTHMANN, Jürgen: Das 7. Jahrhundert in neuem Licht. Merowingische Monetarmünzen als Quelle für eine nachantike Gesellschaftsordnung Galliens, in: Nouvelle Revue d’Onomastique 54 (2012), S. 89–110. 14 S. zu den sogenannten ‚Merowingischen Monetarmünzen‘ zahlreiche Aufsätze von Jean Lafaurie, etwa LAFAURIE, Jean: Eligius Monetarius, in: Revue Numismatique 1977, S. 111–151. – GRIERSON, Philip / BLACKBURN, Mark: Medieval European Coinage. With a Catalogue of the Coins in the Fitzwilliam Museum Cambridge, Bd. 1: The Early Middle Ages, 5th–10th centuries, Cambridge 1986, S. 117–138. 15 STROTHMANN, Jürgen: Merowingische Monetarmünzen und die Gallia im 7. Jahrhundert, in: Die merowingischen Monetarmünzen als interdisziplinär-mediaevistische Herausforderung. Historische, numismatische und philologische Untersuchungen auf Grundlage des Bestandes im Münzkabinett der Staatlichen Museen zu Berlin, hg. v. Albrecht Greule, Jörg Jarnut, Bernd Kluge und Maria Selig (MittelalterStudien 30), Paderborn 2017, S. 11–69, S. 36.

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aber auch solche wie portus und pons.16 Dazu kommen in manchen Fällen Kürzel, die für Hauptorte stehen, wie etwa LEMO für Lemovecas, Limoges.17 Die Personennamen auf der Rückseite werden oft erläutert mit der Bezeichnung monetarius. Ortsnamen wie Personennamen finden sich meist im Ablativ, gelegentlich sogar als kurze Sätze, wie etwa Treveris civetate fit (P904) oder Baudulfus fecit (P506).18 Es gibt also eine Vielzahl von vergleichbaren Informationen auf den Münzen, inzwischen erlauben auch zahlreiche Fundmünzen, Rückschlüsse auf den Geldumlauf zu ziehen. Michael Metcalf hat auf der Basis des Fundmünzenkatalogs von Jean Lafaurie und Jacqueline Pilet-Lemière den Geldumlauf untersucht.19 Etwas pauschal – es gibt da durchaus signifikante Unterschiede – betrachtet bleibt ein Drittel der Münzen in einem Umkreis von etwa 50 Kilometern, der Rest verteilt sich auf Distanzen bis zu 500 Kilometern und in manchen Fällen auch mehr.20 Grundsätzlich lässt sich daraus aber ablesen, dass erstens der Münzumlauf nicht auf kleine Räume beschränkt blieb und zweitens es sich aber auch nicht vorrangig um für den Fernhandel geprägtes Geld handelte. Michael Metcalf neigt dazu, den Befund ausschließlich als Ausdruck von Handel zu fassen. Die Annahme, dass diese Münzprägung vor allem der Steuerbzw. Abgabenerhebung gedient habe, lehnt er selbst ab.21 Dabei ist der von ihm erhobene Befund aber durchaus auch als Ausdruck eines Systems zu erklären, das auf Abgabenerhebung beruhte. Dazu ist entscheidend, zu verstehen, wie das Geld überhaupt in die Taschen der Abgabenpflichtigen kam. Wir wissen aus der ‚Vita Eligii‘,

16 Eine Liste der Ortsqualifikationen findet sich bei BERGHAUS, Peter: Wirtschaft, Handel und Verkehr der Merowingerzeit im Licht numismatischer Quellen, in: Untersuchungen zu Handel und Verkehr der vor- und frühgeschichtlichen Zeit in Mittel- und Nordeuropa, Teil III: Der Handel des frühen Mittelalters, hg. v. Klaus Düwel, Herbert Jankuhn, Harald Siems und Dieter Timpe, Göttingen 1985, S. 193–213, S. 197–200. 17 STROTHMANN, Merowingische Monetarmünzen und die Gallia 2017 (wie Anm. 15), S. 40 f. 18 Grundlegende Schlüsse daraus zog bereits STAHL, A. M.: The Merovingian coinage of the region of Metz, Louvain-la-Neuve 1982. – Die Zitation der Münzen des Pariser Bestandes folgt der durch FELDER, Egon: Die Personennamen auf den merowingischen Münzen der Bibliothèque nationale de France (Bayerische Akademie der Wissenschaften, phil.-hist. Klasse, Abhandlungen, Neue Folge, Heft 122), München 2003 aktualisierten Nummer des Katalogs von PROU, Marcel: Les Monnaies Mérovingiennes. Catalogue des Monnaies Françaises de la Bibliotheque Nationale, Paris 1892 (P). 19 LAFAURIE, Jean / PILET-LEMIÈRE, Jacqueline: Monnaies du haut moyen age decouvertes en France (Ve-VIIIe siecle) (Cahiers Ernest-Babelon, Bd. 8), Paris [2003] 2005. – METCALF, D. M. (David Michael): Monetary circulation in Merovingian Gaul, 561–674. A propos Cahiers Ernest Babelon, 8, in: Revue Numismatique 6/162 (2006), S. 337–393. 20 S. die Übersicht bei METCALF, Monetary circulation 2006 (wie Anm. 19), S. 353. 21 METCALF, Monetary circulation 2006 (wie Anm. 19), S. 343 und Michael (David Michael) METCALF: The moneyers of Paris and Reims compared. Strategies for exploring the work of individual moneyers, in: Die Merowingischen Monetarmünzen als Quelle zum Verständnis des 7. Jahrhunderts in Gallien, hg. v. Jörg Jarnut and Jürgen Strothmann (MittelalterStudien 27), Paderborn 2013, S. 455–465, S. 456 zu den Monetaren als „local businessmen“.

Münzen und Münzprägung als Quelle für politische Kommunikation

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dass das gemünzte Gold für den König vorbereitet wurde, also von dem Ort der Prägung (der nicht auch der Ort sein muss, der auf den Münzen angegeben ist) in die Gewalt des Königs überführt wurde.22 Der König lässt sicher einen Teil in seinem Schatz verschwinden, vielleicht werden davon auch internationale Kosten bestritten. Wahrscheinlich ist eine Aufteilung des Geldes nach Ausgabennotwendigkeit, einmal vor Ort und dann zentral, dort nämlich, wo der König sich befindet. Der König, respektive der Staat, kauft ein, Güter und Zustimmung. Und erst dann zirkuliert das Geld und kann zur Begleichung von Abgabenpflichten gebraucht werden.23 Wenn es denn noch gesagt werden müsste, so wäre darauf hinzuweisen, dass es offensichtlich einen gallienweiten Gebrauch dieser Prägungen gibt und ebenso offensichtlich keine geschlossenen Kommunikationsräume in Gallien sichtbar werden, was immerhin nachweist, dass es einen signifikanten Handel über Kleinräume hinaus gab. Der andere bemerkenswerte Punkt ist die Tatsache, dass offensichtlich auch ein intensiver Münzverkehr innerhalb der Kleinräume zu beobachten ist. Damit ist sehr formal ein Ausdruck auch von bestehender Kommunikation in diesen Räumen gegeben, der immerhin nahelegt, dass also im Zuge wirtschaftlicher Kommunikation eben auch eine politische stattfinden konnte. Interessant in diesem Kontext sind dann vor allem die Detailfragen, also nach dem Verhalten einzelner Prägungen, die, wie etwa die verhältnismäßig wenigen Königsmünzen, fraglos eine konkrete politische Botschaft enthalten, in diesem Fall nämlich einen Königsnamen. Inwieweit solche Gesetzmäßigkeit für die zahlreichen Prägungen mit den Namen von civitates gilt, hängt von den weiteren Beobachtungen ab. Unter den über 600 Ortsnamen befinden sich nahezu alle Namen von civitasHauptorten bzw. civitates, die auch über die ‚Notitia Galliarum‘ feststellbar sind und über die Bischofssitze, wie sie in den Unterfertigungen von Konzilsteilnehmern erscheinen (vgl. die Übersicht am Ende des Bandes). Da die Namen der civitates häufig mit der Qualifikation CIVITATE gekennzeichnet sind, ist davon auszugehen, dass diese Prägungen in einem engen Zusammenhang mit den immer noch bestehenden politisch-rechtlichen Größen der civitates stehen. Wir können hier wohl von der Nennung der civitates selbst sprechen, also der in einem antiken Sinne als Gebietskörperschaften aufzufassenden politischen Gebilde, die über eine gewisse zumindest innere Autonomie verfügen.24

22 Vita Eligii Episcopi Noviomagensis, ed. B. Krusch, in: Passiones Vitaeque Sanctorum aevi Merovingici, Bd, 2, hg. v. Bruno Krusch (MGH SRM 4), Hannover/Leipzig 1902, S. 634–761, I,15, dazu mit Text und Übersetzung STROTHMANN, Merowingische Monetarmünzen und die Gallia 2017 (wie Anm. 15), S. 58 f. 23 Vgl. auch LAFAURIE/PILET-LEMIÈRE, Monnaies [2003] 2005 (wie Anm. 19), Cartes 4–18, S. 366–380, die die Unterschiedlichkeit der Umlaufräume der verschiedenen Münzorte und Münzräume zeigen. 24 STROTHMANN, Jürgen: Civitas-Hauptorte und ihre Benennungen als Quelle für den Wandel der politischen Struktur Galliens bis zum 8. Jahrhundert, in: Merowingische Monetarmünzen 2013 (wie Anm. 21), S. 613–28, S. 614 f.

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Die Nennung zahlreicher kleinerer Orte auf den Münzen, die aber ebenfalls zu einem großen Teil den Charakter von Hauptorten, mutmaßlich von pagi haben, deutet zudem darauf hin, dass in einer Liste aller dieser Münzorte nur solche Orte erscheinen würden, die als rechtlich beschreibbare Größen verstanden werden, mit einem modernen Begriff also als Rechtspersonen gelten dürfen, die im Rahmen ihrer rechtlichen Stellung in Gallien zugleich auch über einen eigenen Haushalt verfügen dürften und hier als abgabepflichtige Orte erscheinen. Das hieße aber, dass zwar der Einzelne und sein Land bzw. Vermögen geschätzt wird – dafür gibt es Nachrichten vor allem bei Gregor von Tours –, die Steuerpflicht aber an der Kommunität hängt.25 Wenn aber all diese über 600 Orte solche sind, die aus Sicht der Zentrale als Steuererhebungsorte relevant sind, müssen sie nicht notwendigerweise auch die Prägeorte sein. Für diese Annahme spricht etwa die übliche Verwendung des Ablativs bei der Nennung der Orte und ihrer Qualifikationen.26 Für die grundsätzliche Frage nach der politischen Kommunikation mag diese Feinheit nicht wesentlich sein, zeigt aber doch, dass es Zusammenhänge von Orten in ihren Regionen gibt, die dann mit dem entsprechenden Kürzel bezeichnet werden, übrigens typischerweise mit Kürzeln, die auf civitates verweisen, wie eben LEMO für Limoges oder CA für Chalon-sur-Saône. An diesen zentralen Orten wären dann die Münzen geschlagen worden, wofür es übrigens einen recht glaubwürdigen Hinweis in der Vita des heiligen Bischofs Eligius gibt,27 der selbst vor Erlangung des Bischofsamtes Monetar war.28 So zeigen uns die Ortsnamen auf den gallofränkischen Monetarmünzen über ihren jeweiligen wirtschaftlichen Zusammenhang und ihre rechtliche Erfassung durch die Zentrale nicht nur das Fortbestehen antiker Verwaltungstechnik, sondern auch ihrer Basis, nämlich der politischen Einheiten der civitates und auch einiger mutmaßlich bedingt selbständiger pagi in Gallien.29 Wenn wir das Verhältnis von merowingischem Staat und den Kommunitäten richtig deuten, dann obliegt also dem Staat, den ich hier ausdrücklich als solchen benennen

25 Gregor von Tours: Decem libri historiarum, hg. v. Bruno Krusch und Wilhelm Levison (MGH SRM 1,1), Hannover 1951, IX,30, S. 448 f. – S. grundsätzlich zur Steuererhebung in den Nachfolgereichen GOFFART: Walter: Old and New in Merovingian Taxation, in: Past & Present 96 (1982), S. 3–21. – Zur Kontinuität des römischen Steuersystems zum merowingischen Frankenreich s. KAISER, Reinhold: Steuer und Zoll in der Merowingerzeit, in: Francia 7 (1979), S. 1–17, S. 9. 26 S. zur Deutung schon STAHL 1982 (wie Anm. 18), S. 29. 27 Vita Eligii, ed. Krusch (wie Anm. 22), I,15. 28 Vgl. die umfassende Untersuchung zu Eligius und seiner Rolle als Monetar LAFAURIE, Eligius 1977. S. zu Eligius auch SCHEIBELREITER, Georg: Ein Gallorömer in Flandern: Eligius von Noyon, in: Die Suche nach den Ursprüngen. Von der Bedeutung des frühen Mittelalters (Forschungen zur Geschichte des Mittelalters 8), hg. v. Walter Pohl, Wien 2004, S. 117–128. – S. bes. HEINZELMANN, Martin: Eligius monetarius: Norm oder Sonderfall?, in: Merowingische Monetarmunzen 2013 (wie Anm. 21), S. 243–291. 29 STROTHMANN, Merowingische Monetarmünzen und die Gallia 2017 (wie Anm. 15), S. 21–23.

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will, weil wir augenscheinlich nach dem Befund der Münzen nicht von „Königsherrschaft ohne Staat“ sprechen können,30 die Steuererhebung insofern, als dass in der Regel von einem Grafen die Steuerschätzung vorgenommen wird, was wir aus Angaben von Gregor von Tours entnehmen können;31 von einem domesticus, also einem im weitesten Sinne königlichen Vertrauten, wurde der Prozess begleitet, während von einem monetarius, der eventuell sogar identisch mit diesem domesticus war, der Prozess der Einschmelzung des eingesammelten Goldes bis zur Ausmünzung verantwortet wurde.32 Die abgabenleistende Kommunität selbst scheint intern bei der Organisation der Besteuerung der Individuen ausführendes Organ gewesen zu sein, ganz wie in der Antike, was aus Nachrichten Gregors von Tours zur Besteuerung von Poitiers entnehmbar ist, da dort der Bischof Maroveus die Deskriptoren einlädt, so wie Gregor, der Bischof von Tours, für seine Gemeinschaft handelt, indem er dies von sich weist, was zum Ergebnis hat, dass zwar der König verzichtet, die Erhebung der Steuer selbst aber stattfindet, nun zu Gunsten des Klosters St. Martin, das in der Kontrolle des Bischofs steht.33 Aus einer zentralen Passage der – inzwischen von dem Verdacht maßgeblich karolingischen Zustandes befreiten – ‚Vita Eligii‘,34 in der von dem Lehrer des Eligius, des Goldschmiedes und Leiters der Münze in Limoges die Rede ist, geht in spätantiken Termini hervor, dass dieser Abbo als Monetar im Hauptort der civitas Limoges (in Urbe Lemovicina) ein staatlicher Amtsträger war, der die staatliche Behörde (publica officina) der fiscalis moneta leitete, also der dem fiscus zugehörenden Münze.35

30 Gerd Althoff gebraucht diese Begrifflichkeit für die ottonische Ordnung, ALTHOFF, Gerd: Die Ottonen. Königsherrschaft ohne Staat, Stuttgart 2000. 31 Gregor von Tours, Historiae (wie Anm. 25), IX,30; im Fall von Poitiers und Tours maior domus und comes palatii. 32 S. die Deutung und Diskussion der Funktion des domesticus bei STROTHMANN, Merowingische Monetarmünzen und die Gallia 2017 (wie Anm. 15), S. 45 f. 33 Gregor von Tours, Historiae (wie Anm. 25), IX,30. – S. auch GARIPZANOV, I. H.: The Coinage of Tours in the Merovingian period and the Pirenne thesis, in: Revue Belge de Numismatique et Sigillographie 147 (2001), S. 79–118. Vgl. zu den Steuererhebungsversuchen Childeberts 589 in Poitiers und Tours HENDY, Michael F.: From Public to Private: The western barbarian coinages as a mirror of the disintegration of Late Roman state structures, in: Viator 19 (1988), S. 19–78, S. 60. – S. zu den Zusammenhängen und Abläufen auch HARDT, Matthias: Gold und Herrschaft. Die Schätze europäischer Könige und Fürsten im ersten Jahrtausend, Berlin 2004, S. 146–148. 34 BAYER, Clemens M.: Vita Eligii, in: RGA, Bd. 35 (2/2007), S. 461–524; HEINZELMANN, Eligius monetarius 2013 (wie Anm. 28), S. 249–254. 35 Vita Eligii, ed. Krusch (wie Anm. 22), I,3, S. 671. S. dazu STROTHMANN, Königsherrschaft 2008, S. 361 f.; STROTHMANN, Merowingische Monetarmünzen und die Gallia 2017 (wie Anm. 15), S. 46 f. – Vgl. BOYER, Jean Francois: À propos des Triens Mérovingiens: Approche du système de collecte et de traitement de la recette fiscale en Limousin aux VIe-VIIe siècles, in: Annales du Midi 119 (2007), S. 141–157, S. 151 f.

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Wir können also davon ausgehen, dass die Münze, die sich im Ort Lemovecas befand, zugleich Ausdruck politischer Kommunikation zwischen civitas und Zentrale war, die in den Berichten Gregors von Tours auch eine unfreundliche Seite entwickeln konnte. Nun kommt hinzu, dass in einer anderen Stelle der ‚Vita Eligii‘, in der nämlich, die vom Prozess des Reinigens des Goldes erzählt, ebenfalls deutlich wird, dass an einem zentralen Ort, vermutlich am Ort der Münze von Limoges – darauf deutet auch das Kürzel LEMO für eine erhaltene Münze mit dem Ortsnamen SOLEMNIACO hin36 – die Abgaben der villa Solemniacus, Solignac (Dep. Haute-Vienne) verarbeitet wurden, und dies offensichtlich als eine Art Charge, denn bei Eintreffen des Boten des Eligius, der vom König die villa gerade zur Klostergründung erhalten hatte, diesem das Gold von Solignac ausgehändigt werden konnte, bevor es gereinigt und gegebenenfalls zu Münzen geprägt war.37 Wenn also die civitates (und pagi) Galliens nach wie vor als rechtlich-politische Einheiten gelten können, die auch von Bischöfen nach außen vertreten werden konnten, woran auch vor dem Hintergrund der formulae Andecavenses wohl kaum zu zweifeln sein dürfte,38 dann ist die Münzprägung als Teil der fiskalischen Ordnung Galliens mit ihren Nennungen der Kommunitäten Ausdruck politischer Kommunikation, auch wenn die civitates mutmaßlich nicht als solche Einfluss auf das Handeln der Könige nahmen. Indes, für die innere Verwaltung sind sie weiterhin zuständig gewesen. Wir können über die Münzprägung, also über die auf den Münzen genannten Orte, sehr genau die Grenzen dieses solchermaßen begründeten politischen Systems Galliens zeichnen. Auf diese multipolare Weise ist ganz Gallien erfasst, bis auf die Provence, die wesentlich über den hohen Münzausstoß von Marseille repräsentiert zu sein scheint, die Bretagne, die nicht über einen Ort inbegriffen zu sein scheint, und bis auf den Raum rechts des Rheins.39 Es gibt zwar zahlreiche Münzorte am Rhein, dies aber ausschließlich auf der linken Seite des Flusses. Obwohl rechtsrheinische Gebiete der Merowingerherrschaft zugerechnet werden, lässt sich dort eine politische Kommunikation von und mit Basiseinheiten nicht erkennen. Die Organisationsweise der Herrschaft rechts des Rheins folgt anderen Regeln, jedenfalls nicht über ein politisch integriertes Abgabensystem wie in Gallien.40 Auch lässt sich bei einem Abgleich der Münzorte mit den Orten, die auf der ‚Tabula Peutingeriana‘ und im ‚Itinerarium Antonini‘ erwähnt werden, also mit Hauptorten

36 P 2014/1 (Nummerierung auf der Basis des Katalogs der Bibliothèque Nationale von PROU, Monnaies Mérovingiennes 1892 (wie Anm. 18) nach FELDER, Personennamen 2003 (wie Anm. 18), S. 547). 37 S. die Stelle der Vita Eligii, ed. Krusch (wie Anm. 22), I,15. 38 Vgl. STROTHMANN, Das ‚unsichtbare Römische Reich‘ als Verbund der Kleinstaaten, in diesem Band. 39 STROTHMANN, Merowingische Monetarmünzen und die Gallia 2017 (wie Anm. 15), S. 38 f. 40 Zu Tributen als Einnahmequelle frühmittelalterlicher Reiche s. HARDT, Gold und Herrschaft 2004 (wie Anm. 33), S. 187–196.

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und Stationen, feststellen, dass es zumindest zu dem Befund des vierten Jahrhunderts, wie die ‚Tabula Peutingeriana‘ ihn größtenteils abbildet, eine deutliche Kontinuität zumindest der Hauptorte gibt. Das gilt für nahezu alle civitates, auch sichtbar über die Bischofsunterfertigungen,41 das gilt aber auch für zahlreiche kleinere Orte, dies in besonderem Maße den Rhein entlang. Die Ortsnamen, die sich auf den Münzen befinden, sind nicht nur zum weitaus größten Teil Hauptorte, sondern außerdem auch in ihrem sprachlichen Befund von Interesse. Es gibt unter ihnen nur sehr wenige der in Gallien eigentlich recht häufigen Namen, die aus einem germanischen Personennamen und einem Suffix, wie etwa –iacus gebildet sind.42 Diese mutmaßlich für das 7. Jahrhundert typische Namenbildung wird eben in der sogenannten ‚merowingischen‘ Monetarmünzprägung nahezu gar nicht abgebildet. Auch dies spricht für eine große Kontinuität in der politischen Kommunikation Galliens. Aber nicht nur die Ortsnamen auf den Münzen können als Quelle für die politische Kommunikation Galliens gelten. Auf ganz andere Weise lassen sich die Personennamen auswerten, nämlich die der Monetare. Die bis zu zweitausend Personen, die auf den Münzen erscheinen, in aller Regel Monetare, sind aus der literarischen Überlieferung nur in seltensten Einzelfällen bekannt und in der Breite als Gruppe politischer Akteure des Staates bzw. der Könige gar nicht. Zwei Monetare kennen wir namentlich aus der literarischen Überlieferung, nämlich Eligius und Abbo in Limoges. Dass es diese breite Gruppe von Verwaltungsakteuren im Gallien dieser Zeit gibt, wissen wir eben nur von den Münzumschriften. Gregor von Tours erwähnt sie nicht. Gregor erwähnt aber auch keine städtische Kurie. Bei ihm sind die Handelnden im Falle von civitates im positiven Sinne immer die Bischöfe und im negativen Sinne, bei kriegerischen Konflikten und Aufständen und Erhebungen, immer die Personen, die den Namen der civitas tragen, also die Pictavenses, die Andecavenses, die Lemovicini.43 Aus der Perspektive eines Mediävisten sind das – ich glaube auch für das Mittelalter irrtümlich – bloße Einzelpersonen ohne eine sie umfassende politische Ordnung, also keine Bürger in einem rechtlich-politischen Sinn. Das wird aber nicht für das Ende des 6. Jahrhunderts gelten. Wenn Gregor von Tours von diesen so benannten Akteuren spricht, darf man getrost den antiken

41 S. die Aufstellung über die Civitas-Hauptorte im Anhang. 42 S. grundlegend BUCHMÜLLER-PFAFF, Monika: Siedlungsnamen zwischen Spätantike und frühem Mittelalter. Die -(i)acum-Namen der römischen Provinz Belgica Prima, Tübingen 1990. – Vgl. auch HAUBRICHS, Romanische Resistenzräume, in diesem Band. 43 Gregor von Tours, Historiae (wie Anm. 25), VII, 13: „Sicharius [. . .] exercitum contra Pectavos commovit, ut scilicet ab una parte Toronici, ab alia Biturigi commoti cuncta vastaret.“; ebenda VII,2: “„Defuncto igitur Chilperico . . . Aurilianensis cum Blesensibus iuncti super Dunenses inruunt [. . .]“; ebenda IX,31, S. 450 als militärische Einheiten (wiedergegeben in der Schreibung der Ausgabe, aber im Nominativ-Plural): Sanctonices, Petrocorices, Burdegalenses, Agenennses und Tolosanes, wobei der Gruppenname jeweils von Hauptortnamen abgeleitet ist. Vgl. zu diesem Phänomen STROTHMANN, Civitas-Hauptorte 2013 (wie Anm. 24), S. 623.

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Begriffsgebrauch zugrundelegen. Danach wären die Andecavenses in aller Regel die Bürgergemeinde selbst, nämlich als rechtlich-politische Größe. Das hat mit dem civitas-Namen zu tun, der in der Antike regelmäßig ein Pluraletantum ist, der die civitas, also die Gemeinde der Bürger benennt. Daneben gibt es in größerer Zahl gebräuchlich vor allem seit dem 7. Jahrhundert, also auf den Münzen, den Namen für den Hauptort, der wiederum seit dieser Zeit vom civitas-Namen abgeleitet ist,44 wie Andecavis, Mettis, Pictavis. Es gibt aber in Gallien eigentliche Benennungen für den civitas-Hauptort in einer Zeit, in der dieser offensichtlich aus keltischer Zeit herrührend eine eigene Identität besaß, wie im Falle von Lugdunum, Noviomagus, Augustodunum.45 In diesen Namenbildungen steckt aber in aller Regel eine konkrete Angabe zur Siedlung selbst, dies oft über keltische Suffixe in Verbindung mit Kaisernamen, Caesar, Augustus, und mit Hilfslemmata, wie etwa novium, neu. So sind gerade auch vor diesem Hintergrund die im 7. Jahrhundert rechtlich weitgehend homogenen Bewohner der civitates als deren ‚Bürger‘ in einem Pluralbegriff auch rechtlich erfassbar. Während wir nun also in diesen städtischen Zusammenhängen unter den Eliten, die wir kennen, nach wie vor vor allem romanische Namenbildungen finden – nachvollziehbar noch in der zunehmend germanisierten Namengebung der Bischöfe mit ihren Unterfertigungen der Konzilsakten dieser Zeit46 – tragen etwa 75% der Monetare Namen, die auf germanische Weise gebildet wurden,47 meist gänzlich aus germanischen Lemmata bestehend, zu einem kleineren Teil aber auch auf hybride Weise gebildet, nämlich zusammengesetzt aus einem germanischen und einem lateinischen Lemma.48 Wir stellen zunächst einmal fest, dass allein die Tatsache einer reichsweiten Funktionselite, die in einem relativ einheitlichen System von Münzprägung und Steuererhebung agiert, selbst schon Ausdruck reichsweiter politischer Kommunikation ist. Welche Rolle spielen nun aber die Eliten mit den romanischen Namen, die häufig aus den städtischen Zusammenhängen kommen, und welche Rolle spielen die Eliten mit den germanischen Namen, und in welchem Verhältnis stehen beide zueinander? Als inzwischen überholt darf die Sicht gelten, die Träger germanischer Namen seien gewissermaßen ‚naturgemäß‘ ‚Germanen‘ gewesen.49 Lange Zeit galt ja das

44 STROTHMANN, Civitas-Hauptorte 2013 (wie Anm. 24), S. 623. 45 STROTHMANN, Civitas-Hauptorte 2013 (wie Anm. 24), S. 621. 46 STROTHMANN, Merowingische Monetarmünzen und die Gallia 2017 (wie Anm. 15), S. 48 f. 47 FELDER, Personennamen 2003 (wie Anm. 18), S. 26. 48 Vgl. HAUBRICHS, Wolfgang: Romano-germanische Hybridnamen des frühen Mittelalters nördlich der Alpen, in: Akkulturation. Probleme einer germanisch-romanischen Kultursynthese in Spätantike und frühem Mittelalter, hg. v. Dieter Hägermann, Wolfgang Haubrichs und Jörg Jarnut (RGA Ergänzungsband 41), Berlin/New York 2004, S. 179–203. 49 GOETZ, Hans-Werner: Gentes in der Wahrnehmung frühmittelalterlicher Autoren und moderner Ethnogeneseforschung: Zur Problematik einer gentilen Zuordnung von Personennamen, in: Person und Name. Methodische Probleme bei der Erstellung eines Personennamenbuches des Frühmittel-

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‚Germanentum‘ als eine frühere Gestalt der deutschen ‚Nation‘, also konsequenterweise auch als Ausdruck einer politischen Gemeinschaft. Im Germanenbild des 19. Jahrhunderts treffen sich mehrere aus unserer Sicht unerlaubte Rückprojektionen bzw. Deutungen aus der Gegenwart heraus. So hat das 19. Jahrhundert bereits einen biologischen Begriff von Volk, das also nicht nur in der Fiktion, sondern auch realiter eine Abstammungsgemeinschaft sei, vom Wesen her über die Zeiten biologisch identisch, oder aber im Wesen verdorben. Sprache und Kultur werden nun mit dieser biologischen Konstruktion identifiziert.50 Also muss ein solches Volk, das der Franken, das der Alemannen, Goten oder Langobarden zugleich als eine politische Größe konstruiert werden. Daraus resultiert die Annahme von einem Ringen nicht nur der Kulturen, sondern ganzer Völker, so der germanischen Stämme mit dem ‚Romanentum‘. Das hat sich zumindest in der Frühmittelalterforschung weitgehend aufgelöst, auch dank der Forschergruppe ‚Nomen et Gens‘.51 Wir wissen inzwischen, dass die germanischen Völker in ihrer zum Teil langen Beziehung zum Römischen Reich und zu romanischen Akteuren akkulturiert wurden, dass sie mit der Übernahme des Christentums, ob arianisch oder katholisch, kulturell weitgehend zu Mittelmeerbewohnern wurden und also die Gegensätzlichkeiten der Eliten im Frühmittelalter neben kulturellen Überresten auf germanischer Seite vor allem auf unterschiedlichen sozialen Bedingungen beruht haben dürften. Das heißt doch, dass historische Genetik keine ernsthafte Hilfe zum Verständnis frühmittelalterlicher politischer Kommunikation sein dürfte. Die Frage ist nicht, wo meine Vorfahren herkommen, sondern was ich bin. Wenn der Franke mit Romanen in einem politischen Raum aller Wahrscheinlichkeit auch große Bereiche des Rechts teilt, ihre Sprache spricht und gelegentlich auch schreibt, die gleiche Religion, oft auch dieselbe Konfession pflegt, schlussendlich auch denselben Erinnerungskulturen zugehört, ist er kein ‚Germane‘, sondern wie die Romanen Teil einer Größe, die man das ‚unsichtbare Römische Reich‘ nennen kann. Ob also die 75% Träger germanischer Namen unter den Monetaren in ihrer Herkunft Germanen sind, wissen wir nicht, müssen wir aber auch nicht wissen. Entscheidend ist doch ob sie aus den neuen Eliten stammen oder aus den alten, nämlich städtischen. Da wir die Münzen innerhalb des Zeitraumes der Monetarmünzen, also zwischen 585 und 670, nicht sicher durchgehend feindatieren

alters, hg. v. Dieter Geuenich, Wolfgang Haubrichs und Jörg Jarnut (RGA Ergänzungsband 32), Berlin/New York 2002, S. 204–220, 210; dazu STROTHMANN, Merowingische Monetarmünzen und die Gallia 2017 (wie Anm. 15), S. 28. 50 Vgl. POHL, Walter: Vom Nutzen des Germanenbegriffes zwischen Antike und Mittelalter: eine forschungsgeschichtliche Perspektive, in: Akkulturation 2004 (wie Anm. 48), S. 18–34, bes. S. 18–21. 51 S. dazu die Tübinger Seite mit Zugang zur umfassenden Datenbank zu Personennamen: [http:// www.neg.uni-tuebingen.de/?q=de].

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können,52 ist es bisher auch nicht möglich, eine Entwicklung in der sprachlichen Zuordnung der Namen zu erkennen,53 ob also zunächst der Anteil germanischer Namen noch höher war als die genannten 75%, was auf eine Besetzung der Posten durch die neuen Eliten deutete, oder aber ob umgekehrt nicht die Personen egal welcher kultureller Herkunft zunehmend germanische Namen trugen, was andere Kontexte durchaus nahelegen.54 Es scheint in allen sozialen Schichten grundsätzlich einen Zug zur Germanisierung von Namen gegeben zu haben, der vielleicht etwas mit den Namen der neuen Eliten zu tun hatte,55 vielleicht aber auch nur einen pragmatischen Umgang mit der Vielfalt germanischer Namen und ihrer Ausdrucksmöglichkeiten zur Ursache hatte. Während wir zum Ende des 6. Jahrhunderts noch davon ausgehen dürfen, dass die familiäre Herkunft über die Sprache des Namens entschied, können wir ab dem 7. Jahrhundert wohl nicht mehr damit rechnen. So tragen unter den Bischöfen, die zunächst jedenfalls den alten Eliten zugehörten, den Konzilsunterfertigungen zu Folge nahezu bei jedem Konzil mehr Personen einen germanischen Namen.56 Das mag zum Teil tatsächlich darauf zurückgehen, dass zunehmend mehr Angehörige der neuen Eliten Zugriff auf dieses Amt erhalten. Das aber ist jedenfalls seit dem 7. Jahrhundert mehr den sozialen Realitäten geschuldet als irgendwelchen kulturellen oder gar biologischen Bedingungen. Das Handeln der Bischöfe auf Konzilien und als Vertreter ihrer jeweiligen civitas unterscheidet sich nicht erkennbar von früheren Zeiten. Zur relativen Irrelevanz der Herkunft für die Namengebung sei auf das Güterverzeichnis von Tours verwiesen, das unter wohl vornehmlich indigenen Kolonen eine mit etwa 90% erstaunlich hohe Zahl von

52 An Versuchen der Feindatierung mangelt es nicht. Vgl. die hochanspruchsvolle Herangehensweise von Martina PITZ und Frauke STEIN: Überlegungen zur Feindatierung merowingischer Monetarmünzen und ihrer Relevanz für Onomastik und historische Kontaktlinguistik, in: Merowingische Monetarmünzen 2013 (wie Anm. 21), S. 377–454. 53 Das Unternehmen von Rembert EUFE und Maria SELIG: Die Namen auf den Berliner Merowingermünzen und die sprachliche Situation im Merowingerreich, in: Die Merowingischen Monetarmünzen 2013 (wie Anm. 21), S. 93–154 basiert auf einer noch immer unsicheren Datenlage und auf numismatischen Annahmen einer im Wesentlichen reichsweiten kontinuierlichen Verringerung des Feingehaltes der Goldmünzen. – Vgl. zur regional und chronologisch differenzierenden Bewertung des Feingehaltes in der Numismatik Karsten DAHMEN: Zum Münzwesen des Merowingerreiches, in: Merowingische Monetarmünzen 2017 (wie Anm. 15), S. 71–124, 106 f. 54 Vgl. STROTHMANN, Merowingische Monetarmünzen und die Gallia 2017 (wie Anm. 15), S. 47. 55 JARNUT, Jörg: Selbstverständnis von Personen und Personengruppen im Lichte frühmittelalterlicher Personennamen, in: Personennamen und Identität. Namengebung und Namengebrauch als Anzeiger individueller Bestimmung und gruppenbezogener Zuordnung, hg. v. Reinhard Härtel (Grazer Grundwissenschaftliche Forschungen 3), Graz 1997, S. 47–65, S. 53. 56 STROTHMANN, Merowingische Monetarmünzen und die Gallia 2017 (wie Anm. 15), S. 50; detailliert EUFE/SELIG, Namen 2013 (wie Anm. 53), S. 105 f.

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Personen mit germanischem Namen aufweist,57 was nur sozial oder sprachpragmatisch zu erklären ist. Wir können in einem Abgleich von nur grob datierten Belegen von Monetarnamen und den über Konzilien datierbaren Belegen von Bischofsnamen im Vergleich mit anderen politischen Gruppen, sowohl der duces als auch der Grafen eine signifikante Größe von gleichen Namen erkennen, wohl gemerkt, zu großen Teilen germanischer Namen, was dazu berechtigt, das Bischofsamt als ein Amt zu betrachten, dessen Inhaber aus grundsätzlich demselben Personenkreis stammen wie die Monetare. Personelle Identitäten sind damit über das bekannte Beispiel des Eligius, des späteren Bischofs von Noyon, hinaus wahrscheinlich. Auch damit wird deutlich, dass wir es bei den Namen der Monetare mit einer Quelle für politische Kommunikation zu tun haben, weil die Monetare eben nicht nur einer reichsweiten Funktionselite zugehören, sondern aus ihrem Kreis mutmaßlich auch die im Merowingerreich politisch so eminent wichtigen Bischöfe stammen können,58 die ihrerseits ihre civitates bei Konzilien und vor dem König vertreten, wie ja vor allem Gregor von Tours durch die Schilderung seines Handelns belegt.59 Wir können zwar die Monetare bis auf Abbo aus Limoges und den königsnahen Eligius nicht prosopographisch erfassen,60 wir können sie aber immer einem Ortsnamen zuordnen. Die sichere Identifikation von Ortsname und Ort ist bisher in den meisten Fällen kleinerer Orte nicht möglich, für die civitas-Hauptorte aber nahezu immer. Wir könnten dann in absehbarer Zukunft auch die Münzikonographie in einen Zusammenhang mit Orten – und Monetaren bringen und statistisch jedenfalls Zusammenhänge kommunikativer Art herleiten. Was wir, eigentlich eher die Numismatiker, bisher schon können, ist der Abgleich konkreter Münzstempel, die teilweise Identitäten zwischen unterschiedlichen Münzorten erkennen lassen.61 Es findet Kommunikation statt, im Sinne von Berührungen und auch im Sinne des Gesprächs und der Koordination im Rahmen des Münzsystems und wohl auch des politischen Systems. Wir können über die Münzen, ihre Umschriften, ihre Ikonographie

57 EUFE/SELIG, Namen 2013 (wie Anm. 53), S. 106 f. Das Güterverzeichnis von Tours in: Chartae Latinae Antiquiores 18 (France 6), hg. v. H. Atsma, R. Marichal, P. Gasnault und J. Vezin, Zürich 1985, Nr. 659. 58 STROTHMANN, Merowingische Monetarmünzen und die Gallia 2017 (wie Anm. 15), S. 52. 59 Gregor von Tours als Vertreter seiner civitas. 60 Vgl. die Zweifel zu Abbo von DAHMEN, Zum Münzwesen des Merowingerreiches 2017 (wie Anm. 53), S. 71–124, S. 111. – S. zu den Belegen Martin HEINZELMANN: Eligius monetarius 2013 (wie Anm. 28), S. 243–291, S. 278–291. 61 Vgl. mit soliden numismatischen Erkenntnissen solcher Art und einer höchst professionellen Methodik POL, Arent: Text mit Bild. Eine Betrachtung über die gegenseitige Abhängigkeit von Sprache und Typ/Stil bei dem Studium von Monetarmünzen der Merowingerzeit, in: Merowingische Monetarmünzen 2013 (wie Anm. 21), S. 533–549, der dort auch von der von ihm selbst entwickelten umfangreichen Datenbank berichtet, die die Arbeit mit diesen Münzen in absehbarer Zeit revolutionieren könnte.

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und ihren Umlauf in Gallien erkennen, dass wir es mit einem politischen System zu tun haben, weil wir ja gut begründet annehmen, dass die Herstellung von Geld nicht in erster Linie dem Handel dient, sondern der Abgabenerhebung.62 Dieses politische System hängt nicht am einzelnen König allein, sondern an dem Raum, in dem die einzelnen Merowingerkönige nahezu unabhängig von ihrer persönlichen Identität regieren, was wir aus der reichsweiten Gültigkeit des Prinzips der Monetarmünzen erschließen können sowie aus dem üblichen Fehlen von Königsnamen. Das System der Monetarmünzen erfasst alle politischen Basiseinheiten Galliens, die zu Abgaben veranlagt werden, und zeigt damit ihr Bestehen im politischen System und ihre Funktion für das System. Es zeigt aber auch ihre Gestalt, nämlich mit dem Zugriff der politischen Zentrale auf politische Einheiten unterhalb der Ebene der civitates, also auf pagi, die oft schon seit der römischen Kaiserzeit aus den civitates herausgeschnitten wurden.63 Was das System der Monetarmünzen nicht zeigt, ist die Rolle der militärisch und bald auch wirtschaftlich bedeutendsten Elite des Reiches. Vom Wirken dieser Ebene zeugt die Münzprägung, die auf die Monetarmünzprägung folgt, etwa mit Münzen Ebroins und der patricii von Marseille.64 Für die Zeit der gallofränkischen Monetarmünzen können wir den Primat der spätantik-römischen Verwaltungsweise postulieren, in der die civitates immer noch eine politische Hauptrolle spielen.65 Wenngleich sie nicht die wesentlichen Entscheidungsträger für das Handeln des Frankenreiches darstellen, so sind zumindest die Bischöfe für die Kirchen immer noch an diesen maßgeblich beteiligt. Welche Rolle städtische Eliten in Gallien im 7. Jahrhundert noch spielen, wird wohl nicht ganz geklärt werden können, weil bis zum letzten Drittel des 7. Jahrhunderts die politischen Akteure nicht unbedingt im Besitz eines Amtes gewesen sein müssen. Daraus folgt, dass wir es bei den Monetaren und bei den Bischöfen, mutmaßlich aber auch bei den Grafen, mit Funktionsträgern zu tun haben, deren Identität maßgeblich von ihrer Funktion her definiert ist, nämlich von ihrer Rolle als Mittler zwischen Gesamtheit bzw. König und den Größen, zu deren Kontrolle sie abgestellt sind. Damit tragen sie große Teile der Staatlichkeit des Frankenreiches und sind also als Teil der politischen Kommunikation durchaus relevant. Monetare und Bischöfe sind Mittler der vertikalen Kommunikation, die vor allem eine Richtung kennt. Wie weit beide Gruppen auch Mittler der horizontalen 62 STROTHMANN, Einleitung, in Merowingische Monetarmünzen 2013 (wie Anm. 21), S. 17. 63 WITSCHEL, Christian: Krise – Rezession – Stagnation? Der Westen des römischen Reiches im 3. Jahrhundert n. Chr., Frankfurt am Main 1999, S. 128. 64 S. zu Silberprägung seit 670 s. GRIERSON/BLACKBURN, Medieval European Coinage 1986 (wie Anm. 14), S. 138–154. 65 Der Befund der gallo-fränkischen Monetarmünzen erlaubt so, das u. a. von LOSEBY, Simon T.: Lost Cities. The End of the Civitas-System in Frankish Gaul, in: Gallien in Spätantike und Frühmittelalter. Kulturgeschichte einer Region, hg. v. Steffen Diefenbach und Gernot Michael Müller (Millennium-Studien 43), Boston/Berlin 2013, S. 223–252, S. 234 für das Ende des 6. Jhs. angenommene Verschwinden der Städte als relevante politische Gemeinschaften um ein Jahrhundert zu verschieben.

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Kommunikation sind, ist meines Erachtens die wichtigere Frage. Für die Bischöfe dürfte klar sein, dass bis zur angeblich konzilslosen Zeit von etwa 80 Jahren, die ja besonders Bonifatius beklagte,66 die Teilnahme an Konzilien ebenso wie die für die Kirchen sehr ähnlichen Fragen und Probleme, etwa der Sicherung von Kirchengut und der Sicherung einer halbwegs einwandfreien Bischofswahl eine intensive Kommunikation über das Politische und als Teil des Politischen zu konstatieren ist. Für die Monetare müssen wir fragen, inwieweit ihre Bestellung der Einsetzung bzw. Wahl von Bischöfen vergleichbar ist. Denn auch die Bischöfe bedürfen nicht nur der Zustimmung des Königs, sondern werden zum Teil jedenfalls regulär faktisch von ihm eingesetzt, sind dann aber auch und besonders der Gemeinde verpflichtet. Vermutlich werden die Monetare häufiger als die Bischöfe vorrangig dort eingesetzt, wo sie auch herkommen. Dafür scheint zumindest eine relative Häufung von romanischen Monetarnamen im Süden und von germanischen Namen im Norden zu sprechen.67 Die Stellung Abbos aus Limoges in der Schilderung der ‚Vita Eligii‘ scheint eine gewisse Zugehörigkeit zur civitas Lemovicina vorauszusetzen.68 Monetare sind aber wohl horizontal insofern verbunden, als dass mutmaßlich die Stempelschneider mehrere Prägeorte betreuen konnten. Inwieweit die Monetare die Stempelgestaltung verantworteten, ist jedoch nicht klar.69 In der Tatsache, dass es sich bei den Monetaren um eine mittlere Funktionselite handelt, also um eine Elite, die unterhalb des Bischofsamtes angesiedelt war, aber durchaus hoheitliche Aufgaben wahrnahm, was zugleich mit einer gewissen Selbständigkeit verbunden war, können wir zugleich eine das Frankenreich umspannende soziale Gruppe erkennen, in der grundsätzlich auch von Kontakten und Verbindungen untereinander auszugehen ist, wie das für die führenden Eliten über den königlichen Hof gut zu greifen ist.70 Monetarius et domesticus, die versuchten,71 die Steuer von Solignac zu reinigen, bevor sie sie dann doch dem Boten des Eligius übergaben, hatten die Aufgabe, die Reinigung für die Übergabe an den König vorzunehmen, sie scheinen – wenn man das in dieser Weise verstehen will, in gewisser Weise in ihrer Funktion

66 HARTMANN, Wilfried: Die Synoden der Karolingerzeit im Frankenreich und in Italien, Paderborn u. a. 1989, S. 47. 67 EUFE/SELIG, Namen 2013 (wie Anm. 53), S. 102 ff. 68 Vita Eligii, ed. Krusch (wie Anm. 22), I,3; vgl. die Textstelle mit Übersetzung bei STROTHMANN, Monetarmünzen und die Gallia 2017 (wie Anm. 15), S. 58 und die Deutung ebenda S. 46. 69 Immerhin können wir sie mit Karsten DAHMEN, Zum Münzwesen des Merowingerreiches 2017 (wie Anm. 53), S. 110 als „Prägeverantwortliche“ verstehen, die den Prozess der Münzprägung wohl mindestens beaufsichtigten. 70 Vgl. PATZOLD, Steffen: Eliten um 630 und um 700. Beobachtungen zur politischen Desintegration des Merowingerreichs im 7. Jahrhundert, in Merowingische Monetarmünzen 2013 (wie Anm. 21). 71 S. zu der Frage, ob es sich bei ihnen wirklich um zwei Personen handelte oder doch um einen Monetar, der auch domesticus war, STROTHMANN, Merowingische Monetarmünzen und die Gallia 2017 (wie Anm, 15), S. 46 und 52.

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königsunmittelbar gewesen zu sein. Bei einer Gruppe von vielleicht zwei bis dreitausend Personen über eine Zeitspanne von 85 Jahren können wir annehmen, dass etwa 400 Monetare gleichzeitig agierten. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Steuer nicht jährlich erhoben wurde, sondern in unregelmäßigen Intervallen von deutlich über 10 Jahren, was sich aus den Berichten Gregors von Tours ergibt, der von der Kenntnis bzw. Unkenntnis der Veranlagung der civitas Tours durch königliche Akteure im Zuge der Steuererhebung zeugt.72

Ausblick Die gallofränkischen Monetarmünzen zeigen eine über das formale Ende des weströmischen Reiches fortbestehende politische Kommunikation auf der Ebene der Kommunitäten, die eben nicht den einzelnen König in das absolute Zentrum des Verwaltungssystems stellt, obwohl dieser doch unbestritten der in seinem Teilreich handelnde politische Hauptakteur ist, von dem die gesamte Verwaltung personell besetzt wird und der die Steuerhoheit hat – und nicht zuletzt der auch die Gewinne einstreicht. Verstehbar wird dieses Spannungsverhältnis zwischen dem König als Herrscher und demselben als Nutzer eines in seiner Gestalt von ihm unabhängigen Verwaltungssystems nur im Kontext eines unsichtbaren Römischen Reiches, denn ähnliche Abgabenerhebungssysteme scheinen bei den Westgoten und auch bei den Langobarden bestanden zu haben, was die Gestaltung der Münzen beider Reiche nahelegt. Dort fehlt zwar die Nennung einer Funktionselite, die Münzen tragen aber die Namen der civitates in diesen Reichen, im westgotischen Spanien an die Hundert,73 im langobardischen Italien zeichnet sich eine Entsprechung zwischen den Hauptorten der Herzogtümer und den Münzorten ab, bei einer ähnlichen Einheitlichkeit der Münzgestaltung. In beiden Nachbarreichen beruht die Basiseinheit auf Gold, konkret auf dem byzantinischen solidus. So müssten wir, nehmen wir die Münzprägung als Quelle für politische Kommunikation, den Westen eigentlich als Ganzes und im Zusammenhang mit Byzanz betrachten.74 So zeigt die Münzprägung des fränkischen Galliens wie mutmaßlich auch diejenige des Westgotenreiches und auch noch des Langobardenreiches die Relevanz stadtstaatlicher Ordnungen für die jeweiligen Reiche, ganz ähnlich ihrer Relevanz

72 Gregor von Tours, Historiae (wie Anm. 25), IX,30, S. 448 f. 73 S. nun STEINBACH, Sebastian: Imitation, Innovation und Imperialisierung. Geldwesen und Münzprägung als wirtschaftshistorische Quellen zur ethnischen Identität und Herrschaftsorganisation des spanischen Westgotenreiches (ca. 572–714) (Geschichte und Kultur der Iberischen Welt 11), Berlin u. a. 2018. 74 Vgl. den Ansatz von HENDY, From Public to Private 1988 (wie Anm. 33), der eben alle westlichen Münzsysteme in ihrer Ähnlichkeit behandelt.

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für das (sichtbare) Römische Reich, das aber in dieser Hinsicht bisher wohl weitgehend ebenfalls unsichtbar geblieben ist. Diese stadtstaatlichen Ordnungen sind in Gallien wesentliche Voraussetzung der Münzprägung und stellen wohl auch ihre Akteure, die Monetare, die diese Ordnungen, die civitates, an die politische Zentrale binden. Die Münzprägung steht so für horizontale und vertikale Kommunikation. Die Münzumschriften bilden das Reich in seinen Basiseinheiten ab, und zeigen so – und mit der Funktionselite der Monetare – einen Zusammenhang aus den politischsozialen Ordnungen und einzelnen zwischen den Hierarchien handelnden Personen mit dem Gesamtreich und den Königen – in Gestalt von Kommunikation. Hier hat sich eigentlich nicht viel geändert, mit dem Ende römischer administrativer Ordnung. Gallien als politischer Raum basiert auf der Anwesenheit städtischer territorialer Ordnung und ist in dieser Hinsicht vorher und nachher fast unsichtbar.

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Das Primat lokaler Identitäten im merowingischen Gallien des 6. Jahrhunderts Die Frage nach der Existenz eines „unsichtbaren“ Römischen Reiches in nachantikfrühmittelalterlicher Zeit auch nach dem Ende der politischen Zentrale im Westen berührt zweierlei: neben dem Problem von Kontinuität und Diskontinuität spätantikrömischer Strukturen1 auch jenes des Fortbestehens eines Gemeinschaftsbewusstseins der provinzialrömischen Bevölkerung in den frühmittelalterlichen gentilen regna, insbesondere von deren Eliten,2 basierend auf einem gemeinsamen überregionalen Interaktions- und Kommunikationsraum. In seiner Abhandlung über „Barbarian Migrations and the Roman West“ resümierte Guy Halsall diesbezüglich, dass „[i]n 350 most of the inhabitants (and all the politically important ones) of the territories governed by the Empire saw themselves in some way as Roman. The later Empire’s cohesion had been based largely upon the absolute dominance of a particular idea of Roman identity, the adoption of which allowed participation in politics at various le-

1 Zu dieser Frage vgl. Von der Spätantike zum frühen Mittelalter. Aktuelle Probleme in historischer und archäologischer Sicht (Vorträge und Forschungen 25), hg. v. Eugen Ewig und Joachim Werner, Sigmaringen 1979; Von der Spätantike zum frühen Mittelalter. Kontinuitäten und Brüche, Konzeptionen und Befunde (Vorträge und Forschungen 70), hg. v. Theo Kölzer und Rudolf Schieffer, Ostfildern 2009. Insbesondere mit Blick auf Gallien siehe die Beiträge des Sammelbandes Gallien in Spätantike und Frühmittelalter. Kulturgeschichte einer Region (Millennium-Studien 43), hg. v. Steffen Diefenbach und Gernot Michael Müller, Berlin/Boston 2013; sowie EWIG, Eugen: Das Fortleben römischer Institutionen in Gallien und Germanien, in: Spätantikes und fränkisches Gallien. Gesammelte Schriften (1952–1973), Bd. 1 (Beihefte der Francia 3/1), hg. v. Hartmut Atsma, München 1976, S. 409–434. Auch sei auf das in den 1990er Jahren laufende internationale Forschungsprojekt ‚The Transformation of the Roman World‘ verwiesen, dessen Ergebnisse in vierzehn Bänden in der gleichnamigen Reihe zwischen 1997 und 2004 veröffentlicht wurden. Zur Forschungsgeschichte bezüglich der Frage von Kontinuitäten und Diskontinuitäten am Übergang von der Spätantike zum Frühmittelalter vgl. den Überblick bei HALSALL, Guy: Barbarian Migrations and the Roman West 376–568 (Cambridge Medieval Textbooks), Cambridge/New York [u. a.] 2007, S. 19–22; zur gallorömischen Gesellschaft im 5. Jahrhundert vgl. ebd., S. 346–357. Zu Kontinuitäten und Diskontinuitäten aus vorstellungsgeschichtlicher Perspektive siehe GOETZ, Hans-Werner: Antike Tradition, römische Kontinuität und Wandel in den frühmittelalterlichen Reichen in der Wahrnehmung der frühmittelalterlichen Geschichtsschreibung: Gregor von Tours und Paulus Diaconus im Vergleich, in: Völker, Reiche und Namen im frühen Mittelalter (MittelalterStudien 22), hg. v. Matthias Becher und Stefanie Dick, München/Paderborn 2010, S. 255–277. 2 Zu den provinzialrömischen Eliten in den gentilen regna, insbesondere in Gallien vgl. STROHEKER, Karl-Friedrich: Der senatorische Adel im spätantiken Gallien, Tübingen 1948; MATHISEN, Ralph W.: Roman Aristocrats in Barbarian Gaul. Strategies for Survival in an Age of Transition, Austin 1993; DERS.: Romans, Barbarians, and the Transformation of the Roman World. Cultural Interaction and the Creation of Identity in Late Antique Gaul, Farnham 2011; HALSALL, Barbarian Migrations 2007 (wie Anm. 1), S. 353–357. https://doi.org/10.1515/9783110623598-009

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vels. Whoever controlled the political centre, furthermore, could validate claims to this identity. By 476 [. . .] the western Empire had ceased to exist. It had fragmented into regional polities, in some areas quite small and based upon cities [. . .]. In the absence of the Empire and of any claim to control the legitimacy of power or the political identities based upon it [. . .].“3 Der vorliegende Beitrag will sich diesem Entwicklungsprozess auf dem Wege eines mentalitäts- bzw. vorstellungsgeschichtlichen Ansatzes nähern.4 Ausgehend von der bereits seit Längerem in der Forschung raumgreifenden Erkenntnis, dass im Verlaufe des 5. und beginnenden 6. Jahrhunderts die alten vertikalen politischen Strukturen des Weströmischen Reiches wegbrachen und sich die Menschen auf kommunaler Ebene in kleinräumigen Einheiten wie den civitates, urbes oder vici zusammenschlossen, organisierten und dort römisches Erbe kultivierten,5 wird im Folgenden der Frage nachgegangen, ob sich die Bewohner des merowingischen Frankenreiches des 6. Jahrhunderts noch als Teil eines übergeordneten, römisch definierten Ganzen, also eines Imperium Romanum, betrachteten. Kurzum: Galt das Römische Reich für sie noch als ein identitätsstiftender Bezugspunkt oder Ordnungsrahmen, in dem oder mit dem gedacht wurde?6 Identität ist als ein soziales Konstrukt zu verstehen, das situativ in Kommunikations- und Interaktionsprozessen jeweils neu ausgehandelt und insbesondere in Situationen von Unsicherheit, von vermeintlicher oder wirklicher Bedrohung und Konkurrenz bedeutsam wird.7 Identifikation lässt sich daher vor allem in Zeiten po3 HALSALL, Barbarian Migrations 2007 (wie Anm. 1), S. 457. 4 Zum Ansatz der Vorstellungsgeschichte vgl. GOETZ, Hans-Werner: „Vorstellungsgeschichte“. Menschliche Vorstellungen und Meinungen als Dimension der Vergangenheit. Bemerkungen zu einem jüngeren Arbeitsfeld der Geschichtswissenschaft als Beitrag zu einer Methodik der Quellenauswertung, in: Archiv für Kulturgeschichte 61/2 (1979), S. 253–271. 5 Vgl. JUSSEN, Bernhard: Über,Bischofsherrschaften‘ und die Prozeduren politisch-sozialer Umordnung in Gallien zwischen,Antike‘ und,Mittelalter‘, in: Historische Zeitschrift 260 (1995), S. 673–718, insbesondere S. 680 f.; EWIG, Eugen: Volkstum und Volksbewusstsein im Frankenreich des 7. Jahrhunderts, in: Spätantikes und fränkisches Gallien. Gesammelte Schriften (1952–1973), Bd. 1 (Beihefte der Francia 3/1), hg. v. Hartmut Atsma, München 1976, S. 231–273, hier S. 231 f.; DRINKWATER, John F.: Un-becoming Roman. The End of Provincial Civilisation in Gaul, in: Gallien in Spätantike und Frühmittelalter. Kulturgeschichte einer Region (Millennium-Studien 43), hg. v. Steffen Diefenbach und Gernot Michael Müller, Berlin/Boston 2013, S. 59–77. 6 Identität bedarf einer Selbstreflexion, d. h. einer Verortung in einem soziokulturellen Rahmen, der Orientierung bietet, Identität stiftet und stabilisiert. Siehe dazu STRAUB, Jürgen: Personale und kollektive Identität. Zur Analyse eines theoretischen Begriffs, in: Identitäten (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 1404), hg. v. Aleida Assmann und Heidrun Friese, Frankfurt am Main 1999, S. 73–104, hier S. 86. 7 Zum situativen Charakter von Identität siehe GEARY, Patrick J.: Ethnic Identity as a Situational Construct in the Early Middle Ages, in: Mitteilungen der Anthropologischen Gesellschaft in Wien 113 (1983), S. 15–26. Zu Identität in Situationen von Gefährdung und Konkurrenz vgl. HEINZ, Marco: Ethnizität und ethnische Identität. Eine Begriffsgeschichte (Mundus-Reihe Ethnologie 72), Bonn 1993, S. 300 f.; COHEN, Abner: Variables in Ethnicity, in: Ethnic Change (Publications on Ethnicity and Na-

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litischer, gesellschaftlicher und ökonomischer Umbrüche beobachten. Nichts unterstreicht dies eindrucksvoller als unsere eigene Gegenwart, in der Flüchtlingsströme aus Afrika und dem Nahen Osten überall in Europa nationalistischen Strömungen Auftrieb geben, die Ängste vor Überfremdung schüren und zu einer Betonung der eigenen, mit westlich-christlichen Werten und Normen assoziierten Identität führen. In krisenhaften Zeiten suchen Menschen Halt in der Gruppe, ergreifen für die eine oder die andere Seite Partei, grenzen sich ab, indem sie aufgrund kontextabhängig aktivierter Distinktionsmerkmale Selbst- und Fremdzuschreibungen vornehmen. Identität, sowohl die des Individuums als auch die eines Kollektivs,8 speist sich nicht zuletzt aus dem Glauben an eine gemeinsame Vergangenheit.9 Menschen identifizieren sich mit der Geschichte ihrer Gruppe, wodurch sie sich „gleichsam in der Historie identitätsrelevanter Bezugskollektive verorte[n].“10 Aufgrund dessen erscheint es lohnenswert, sich der Frage nach dem Römischen Reich als Ordnungsrahmen und Bezugspunkt noch im merowingischen Gallien des 6. Jahrhunderts über eine solche Krisenzeit zu nähern: nämlich am Beispiel der Verarbeitung und des Memorierens der Wirren der sogenannten ‚Völkerwanderungszeit‘ durch merowingische Historio- und Hagiographen jenes Jahrhunderts. Aus der Vielzahl der Ereignisse jener Tage seien im Folgenden fünf exemplarisch ausgewählt, die zum einen für die römische Ökumene, zum anderen insbesondere für die provinzial-

tionality of the School of International Studies, University of Washington 2), hg. v. Charles F. Keyes, [1981] Seattle 1982, S. 306–331, insbesondere S. 308; GOFFMAN, Erving: Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 140), [1975] Frankfurt am Main 1979; EMRICH, Hinderk M.: Identität, Überwertigkeit und vergegenwärtigendes Vergessen, in: Die dunkle Spur der Vergangenheit. Psychoanalytische Zugänge zum Geschichtsbewußtsein (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 1403), hg. v. Jörn Rüsen und Jürgen Straub, Frankfurt am Main 1998, S. 211–241. 8 Zur Interdependenz von personaler und kollektiver Identität siehe STRAUB, Identität 1999 (wie Anm. 6), S. 73–104. 9 Vgl. dazu HECKMANN, Friedrich: Volk, Nation, ethnische Gruppe und ethnische Minderheiten. Zu einigen Grundkategorien von Ethnizität, in: Österreichische Zeitschrift für Soziologie 13 (1988), S. 16–31, kondensiert S. 21; GIRTLER, Roland: „Ethnos“, „Volk“ und soziale Gruppe. Zum Problem eines zentralen Themas in den anthropologischen Wissenschaften, in: Mitteilungen der Anthropologischen Gesellschaft in Wien 112 (1982), S. 42–57; DAIM, Falko: Gedanken zum Ethnosbegriff, in: ebd., S. 58–71; JOHNSON, Lesley: Imagining Communities: Medieval and Modern, in: Concepts of National Identity in the Middle Ages (Leeds Texts and Monographs. N. S. 14), hg. v. Simon Forde, Lesley Johnson und Alan V. Murray, Leeds 1995, S. 1–15, kondensiert S. 6. 10 STRAUB, Identität 1999 (wie Anm. 6), S. 91 f. Zur Rolle der Geschichtsschreibung für die Genese, Reproduktion und Repräsentation von Identität siehe STRAUB, Jürgen: Geschichte erzählen, Geschichte bilden. Grundzüge einer narrativen Psychologie historischer Sinnbildung, in: Erzählung, Identität und historisches Bewußtsein. Die psychologische Konstruktion von Zeit und Geschichte (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 1402), hg. v. Jürgen Straub., Frankfurt am Main 1998, S. 81–169, hier insbesondere S. 126f. Zu Geschichtsschreibung im Spannungsfeld aus Vergangenem, Gegenwart und Zukunftserwartungen vgl. GOETZ, Hans-Werner: Die Gegenwart und die Vergangenheit im frühund hochmittelalterlichen Geschichtsbewußtsein, in: Historische Zeitschrift 255 (1992), S. 61–97.

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römische Bevölkerung Galliens von Bedeutung waren: erstens die Schlacht bei Adrianopel im August 378, zweitens der Fall Roms im August 410, drittens die westgotische Expansion in Gallien im 5. Jahrhundert, viertens der Hunneneinfall in Gallien im Jahre 451 und schließlich fünftens die sogenannten ‚Gotenkriege‘ des Kaisers Justinian in der ersten Hälfte des 6. Jahrhunderts. Diese Ereignisse bzw. Entwicklungen sollen in ihrer zeitgenössischen Wahrnehmung und Deutung11 mit jener im merowingischen Gallien des 6. Jahrhunderts verglichen werden. Zunächst zur Schlacht bei Adrianopel im August des Jahres 378:12 Der aus Antiochia stammende, damals aber in Italien weilende ehemalige römische Offizier Ammianus Marcellinus schreibt,13 dass es zuvor in den nördlich der unteren Donau gelegenen Gebieten zu Bevölkerungsverschiebungen gekommen sei, die zwar seit Längerem registriert worden seien, denen man zunächst aber keine Beachtung geschenkt habe.14 Im Nachgang dieser Entwicklung sei eine unüberschaubare Bevölkerungsmasse an den nördlichen Ufern der unteren Donau erschienen, die, von den Hunnen getrieben, wie Ammianus Marcellinus anfügt, um Aufnahme in das Territorium des römischen Staates baten.15 Der frühere Militär betreibt den heraufziehenden Konflikt und die römische Niederlage vor Adrianopel betreffend eine nüchterne Ursachenanalyse: Die feindselige Haltung der barbari, die zunächst friedlich um Aufnahme gebeten hätten, sei das Resultat des Fehlverhaltens korrupter römischer Amtsträger, die Niederlage das Ergebnis des Versagens eitler, unfähiger römischer Offiziere.16 Beides stellt Ammianus in einen größeren, gesamtrömischen Bedeutungszusammenhang. Er wertet beides als Symptome einer im Verfall begriffenen römischen Gesellschaft, insbesondere deren Oberschicht, die sich lieber in Ausschweifungen ergehe, anstatt die Tugenden der Vorväter zu kultivieren.17 Dennoch bleibt Ammianus optimistisch. Er sieht in der römischen Nie-

11 Zu den Begriffen „Wahrnehmung“ und „Deutung“ siehe BLEUMER, Hartmut / PATZOLD, Steffen: Wahrnehmungs- und Deutungsmuster in der Kultur des europäischen Mittelalters, in: Das Mittelalter 8/2 (2003), S. 4–20, hier S. 6 f. 12 Zur Schlacht von Adrianopel vgl. WANKE, Ulrich: Die Gotenkriege des Valens. Studien zu Topographie und Chronologie im unteren Donauraum von 366 bis 378 n. Chr. (Europäische Hochschulschriften 412), Bern u. a. 1990, S. 175–219; BRODKA, Dariusz: Einige Bemerkungen zum Verlauf der Schlacht bei Adrianopel (9. August 378), in: Millennium 6 (2009), S. 265–279. 13 Zu Biographie und Werk des Ammianus Marcellinus siehe ROSEN, Klaus: Ammianus Marcellinus (Erträge der Forschung 183), Darmstadt 1982; BRODKA, Dariusz: Ammianus Marcellinus. Studien zum Geschichtsdenken im vierten Jahrhundert n. Chr. (Electrum 17), Krakau 2009. 14 Vgl. Ammianus Marcellinus, Res gestae, ed. Wolfgang Seyfarth, 2 Bände (Bibliotheca scriptorum Graecorum et Romanorum Teubneriana), Leipzig 1978, hier XXXI,4,3, S. 240. 15 Vgl. ebd., XXXI,2,1, S. 232, XXXI,4,2, S. 239 f. 16 Vgl. ebd., XXXI,4,6–11, S. 240–242; ebd., XXXI,12,1–17, S. 261–264. Siehe hierzu auch HALSALL, Barbarian Migrations 2007 (wie Anm. 1), S. 177–180. 17 Vgl. DEMANDT, Alexander: Zeitkritik und Geschichtsbild im Werk Ammians (Habelts Dissertationsdrucke. Reihe Alte Geschichte 5), Bonn 1965, S. 13–98; PASCHOUD, Franҫois: Roma aeterna. Études sur le patriotisme romain dans l’occident latin à lʼépoque des grandes invasions (Bibliotheca Helvetica Romana 7), Rom 1967, S. 59–67.

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derlage bei Adrianopel nur eine weitere, wie sie es in früheren Tagen auch gegeben hätte, von denen sich das Imperium stets erholt habe und aus denen es gestärkt hervorgegangen sei.18 Hinsichtlich der Überlebensfähigkeit des Römischen Reiches ist der hispanische Bischof Hydatius von Aquae Flaviae gut einhundert Jahre später bereits etwas pessimistischer, indem er von dem drohenden Untergang des Imperiums kündet.19 Ein etwas düstereres Bild als Ammianus Marcellinus zeichnet dessen Zeitgenosse Ambrosius, Bischof von Mailand. In seiner zwischen 377 und 381 verfassten Abhandlung über den Glauben,20 die er an den römischen Kaiser Gratian richtete,21 hebt er die Auseinandersetzung des Imperiums mit den über die untere Donau strömenden gentes, die er mit Gog aus der Offenbarung des Johannes und der Prophetie des Ezechiel gleichsetzt,22 in apokalyptische Sphären. Das Sich-Ergießen verschiedenster Völker über die Donauprovinzen und deren Verheerung wertet Ambrosius zum einen als göttliches Strafgericht für die insbesondere in jenen Gebieten des Römischen Rei-

18 Vgl. Ammianus Marcellinus, Res gestae (wie Anm. 14), XXXI,5,11–12, S. 244 f. Das Römische Reich werde bestehen, solange es Menschen gibt. Vgl. XIV,6,3, S. 17: „Tempore quo primis auspiciis in mundanum fulgorem surgeret victura dum erunt homines, Roma, ut augeretur sublimibus incrementis, foedere pacis aeternae Virtus convenit atque Fortuna plerumque dissidentes, quarum si altera defuisset, ad perfectam non venerat summitatem.“ Zur Vorstellung einer Roma aeterna bei Ammianus Marcellinus vgl. MATTHEWS, John: Ammianus and the Eternity of Rome, in: The Inheritance of Historiography 350–900 (Exeter Studies in History 12), hg. v. Christopher J. Holdsworth und Timothy P. Wiseman, Exeter 1986, S. 17–29. 19 Vgl. Hydatius, Chronica, ed. Richard W. Burgess, in: The Chronicle of Hydatius and the Consularia Constantinopolitana. Two Contemporary Accounts of the Final Years of the Roman Empire (Oxford Classical Monographs), Oxford 1993, S. 70–123, hier Prologus, 6, S. 74: „Exim inmerito adlectus ad episcopatus officium, non ignarus omnium miserabilis temporis erumnarum, et conclusi in angustias imperii Romani metas subdidimus ruituras et, quod est luctuosius, intra extremam universi orbis Galleciam [. . .].“ 20 Zur Datierung vgl. MARKSCHIES, Christoph: Ambrosius von Mailand und die Trinitätstheologie. Kirchen- und theologiegeschichtliche Studien zu Antiarianismus und Neunizänismus bei Ambrosius und im lateinischen Westen (364–381 n. Chr.) (Beiträge zur historischen Theologie 90), Tübingen 1995, S. 169 ff., S. 174 ff. 21 Zu den Zielen, die Ambrosius mit seinem Werk verfolgte, siehe ebd., S. 176–197. 22 Ambrosius von Mailand, De fide ad Gratianum, ed. Otto Faller (CSEL 78), Wien 1962, hier II,16, 137, S. 104 f.: „Namque et futuram nostri depopulationem et bella Gothorum Ezechiel illo iam tempore profetavit. Sic enim habes: ,Propter hoc profetiza, fili hominis, et dic Gog: Haec dicit dominus: Non in die illa, cum constituetur habitare populus meus Istrahel in pace surges? Et venies de loco tuo ab extremo aquilone, et gentes tecum multae, sessores equorum omnes, congregatio multa et magna et virtus copiosa. Et ascendes ad populum meum Istrahel et nubes operire terram in novissimis diebus‘, et cetera.“ Ebd., II,16,138, S. 105 f.: „Gog iste Gothus est, quem iam videmus exisse, de quo promittitur nobis futura victoria dicente domino: ‘Et praedabunt eos, qui depraedati eos fuerant, et despoliabunt eos, qui sibi spolia detraxerant, dicit dominus. Eritque in die illa, dabo Gog‘ – hoc est Gotis – ‘locum nominatum, monumentum in Istrahel, multorum virorum congestum, qui supervenerunt ad mare; et per circuitum saepit os vallis et obruit illic Gog et totam multitudinem eius, vocabitur Ge poliandrium Gog, et obruit eos domus Istrahel, ut purgetur terra in septem mensibus.‘“

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ches grassierenden häretischen Lehren,23 seien die Donauprovinzen doch voll von sacrilegae voces.24 Zum anderen deutet er dies als eine Bedrohung für den gesamten orbis Romanus,25 die Kaiser Gratian – anders als der arianische Kaiser Valens, der schwankenden Geistes vom rechten Glauben abgefallen26 und so in der Schlacht bei Adrianopel mit einem Großteil seines Heeres untergegangen war27 –, „scuto fidei saeptus et gladium spiritus habens“,28 überwinden könne. Nicht die Stärke des Heeres, sondern der rechte Glaube verheiße den Sieg, so der Mailänder Bischof.29 Das Überschreiten der Donau durch verschiedene gentes, das Verheeren der Provinzen an der unteren Donau und die römische Niederlage bei Adrianopel bezeichnet er als „nostri depopulationem“.30 Somit identifiziert sich der im fernen Italien weilende Ambrosius mit den Nöten der Bevölkerung jener Donauprovinzen und begreift sich als Teil einer größeren, einer römisch-christlichen Gemeinschaft, die er bedroht sieht. Die christliche Geschichtsschreibung des ausgehenden 4. und anbrechenden 5. Jahrhunderts sieht in der Niederlage Kaiser Valensʼ vor Adrianopel wenn schon nicht die heraufziehende Apokalypse,31 dann doch zumindest ein Gottesurteil.32

23 Vgl. ebd., II,16,139–140, S. 106. 24 Vgl. ebd., II,16,140, S. 106: „Non libet confessorum neces, tormenta, exilia recordari, impiorum sacerdotia, munera proditorum. Nonne de Thraciae partibus per ripensem Daciam et Mysiam omnemque Valeriam Pannoniorum totum illum limitem sacrilegis pariter vocibus et barbaricis motibus audivimus inhorrentem? Quid poterat nobis vicinia tam feralis invehere, aut quemadmodum res Romana tali tuta poterat esse custodia?“ 25 Vgl. ebd., II,16,139, S. 106. 26 Vgl. ebd., II,16,142, S. 107: „non hic in imperatore mens lubrica, sed fides fixa.“ Damit dürfte Ambrosius auf das arianisch-homöische Bekenntnis des Valens anspielen. 27 Ammianus Marcellinus, Res gestae (wie Anm. 14), XXXI,6,5–8, S. 265–271, berichtet, dass etwa ein Drittel des Heeres des Valens bei Adrianopel untergegangen sei. 28 Ambrosius von Mailand, De fide ad Gratianum (wie Anm. 22), II,16,136, S. 104. 29 Ebd., I, Prologus, 3, S. 5: „Nosti enim fide magis imperatoris quam virtute militum quaeri solere victoriam.“ 30 Vgl. ebd., II,16,137, S. 104. 31 Eine Identifikation der Goten mit den Endzeitvölkern Gog und Magog – und damit auch eine apokalyptische Deutung – lehnen ab: Augustinus, De civitate Dei, ed. Bernhard Dombart und Alfons Kalb, 2 Bände (CCSL 47), Turnhout 1955, hier XX,11, S. 720: „Gentes quippe istae, quas appellat Gog et Magog, non sic sunt accipiendae, tamquam sint aliqui in aliqua parte terrarum barbari constituti, siue quos quidam suspicantur Getas et Massagetas propter litteras horum nominum primas, siue aliquos alios alienigenas et a Romano iure seiunctos. Toto namque orbe terrarum significati sunt isti esse, cum dictum est nationes quae sunt in quattuor angulis terrae, easque subiecit esse Gog et Magog.“ Hieronymus, Hebraicae quaestiones in libro Geneseos, ed. Paul Antin, in: CCSL 72, Turnhout 1959, S. 1–56, hier 10,2, S. 11: „Scio quendam Gog et Magog tam de praesenti loco quam de Ezechiel ad Gothorum nuper in terra nostra vagantium historiam retulisse: quod utrum verum sit, proelii ipsius fine monstratur. Et certe Gothos omnes retro eruditi magis Getas quam Gog et Magog appellare consueverant.“ 32 So Orosius, Historiarum adversum paganos libri septem, ed. Carl Zangemeister (CSEL 5), Wien 1882, hier VII,33, S. 515–521.

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Der Kirchenvater Hieronymus schreibt, Valens habe Mönche zum Kriegsdienst zwingen und diejenigen, die sich dem verweigerten, exilieren oder gar erschlagen lassen. Angesichts der drohenden Gefahr durch die Barbaren habe er seine Verfehlung erkannt und rückgängig machen wollen, indem er die Exilierten, mit denen sich Hieronymus als seinen Glaubensbrüdern (nostri) in Abgrenzung von dem arianisch-homöischen Bekenntnis des Valens identifiziert,33 zurückholen ließ. Seiner gerechten Strafe konnte der Kaiser dennoch nicht entgehen. Den Untergang des Valens und seines Heeres bei Adrianopel beweint Hieronymus trotz aller Ablehnung des Kaisers, wenn er die Ereignisse als ein lacrimabile bellum beklagt.34 Gleich ob Ambrosius, Ammianus oder Hieronymus: Sie alle bezeugen eine emotionale Nähe zu dem Geschehen, ein Mitleiden mit der Bevölkerung der betroffenen Donauprovinzen und des untergegangenen römischen Heeres. Es ist eine Identifikation der zeitgenössischen Autoren mit den Geschicken des Römischen Reiches zu spüren. Zugleich stellen sie die römische Niederlage bei Adrianopel in einen größeren Bedeutungszusammenhang: mal als Ausfluss einer dekadenten römischen Elite, mal als Strafe für eine verfehlte kaiserliche Religionspolitik, mal als Zeichen der anbrechenden Endzeit. Wie erinnerte man jene Kalamität im Merowingerreich des 6. Jahrhunderts? Einzig in den Historien des Bischofs Gregor von Tours findet sich das Geschehen um Adrianopel thematisiert, dessen Darstellung aber ein helles Licht auf die Erinnerung jenes Ereignisses in Gallien im 6. Jahrhundert wirft. Zwar übernimmt Gregor die christliche Deutung einer ultio divina, eine Bedrohungserfahrung oder eine Identifikation mit dem Geschehen ist aber nicht länger erkennbar. Dies vermag durchaus zu überraschen, denn andere Autoren wie Prosper von Aquitanien,35 Orosius36 oder Hydatius,37 die dem Geschehen ebenfalls räumlich und zeitlich fernstanden – wenn auch nicht ganz so weit wie Gregor – und die gleichfalls Hieronymus’ Chronik benutzten, übernahmen dessen Bericht nahezu wörtlich, Gregor von Tours dagegen nicht. Er passt den Bericht der Hieronymuschronik seiner auktorialen Gegenwart an. Nicht länger identifiziert sich Gregor mit denjenigen, die Kaiser Valens in das Exil relegiert hatte, nicht länger ist von den „unseren“ (nostri) die Rede, nicht länger ist die

33 Vgl. Hieronymus, Chronicon, ed. Rudolf Helm (Die griechischen christlichen Schriftsteller der ersten Jahrhunderte: Eusebius Werke 7), Berlin 1956, hier a. 375, S. 248: „Ualens lege data, ut monachi militarent, nolentes fustibus iussit interfici.“ Ebd., a. 378, S. 249: „Ualens de Antiochia exire conpulsus sera paenitentia nostros de exiliis reuocat.“ 34 Ebd., a. 379, S. 249: „Lacrimabile bellum in Thracia. In quo deserente equitum praesidio Romanae legiones a Gothis cinctae usque ad internecionem caesae sunt.“ 35 Vgl. Prosper von Aquitanien, Chronica, ed. Theodor Mommsen, in: MGH AA IX, Berlin 1892, S. 341–499, hier 1165, S. 460: „Lacrimabile bellum in Thracia, in quo deserente equitum praesidio Romanae legiones usque ad internicionem caesae sunt a Gothis.“ 36 Vgl. Orosius, Historia adversum paganos (wie Anm. 32), VII,33, S. 519: „Itaque quinto decimo imperii sui anno lacrimabile illud bellum in Thracia cum Gothis.“ 37 Vgl. Hydatius, Chronica (wie Anm. 19), 249c, S. 70: „Lacrimabile bellum in Trachia; in quo deserente aequitum praesidio Romanae legiones a Gothis cinctae usque ad internecionem caesae sunt.“

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römische Niederlage ein „beweinenswerter Krieg“ (lacrimabile bellum), sondern ohne emotionale Bindung ein „höchst grausamer Krieg“ (bellum saevissimum).38 Gregors Distanz gegenüber den Geschicken des einstigen Weltreiches erweist sich als umso aussagekräftiger, wenn wir vergleichend seinen Bericht über die Niederlage eines fränkischen Heeres gegen die Langobarden in Oberitalien im Jahre 588 heranziehen. Darin zeigt sich der Bischof von Tours geradezu bestürzt ob der militärischen Katastrophe, die so verheerend gewesen sei, dass man sich seit alter Zeit keiner ähnlichen erinnern könne, und identifiziert sich ausdrücklich mit den Gefallenen als nostri.39 Mithin scheint für Gregor von Tours das Imperium Romanum durch das regnum Francorum als identitätsstiftender Bezugspunkt und Ordnungsrahmen abgelöst. Mehr noch als das Geschehen um Adrianopel hatte der Fall der Stadt Rom im August des Jahres 410 bei den Zeitgenossen tiefen Eindruck hinterlassen und sich in das Gedächtnis der Menschen eingeschrieben. Das bezeugen nicht zuletzt die Reaktionen des Augustinus und des Orosius auf die Befürchtungen ihrer Zeitgenossen. Angelegentlich dessen verfasste Augustinus, Bischof des nordafrikanischen Hippo Regius, zwischen 412 und 427 sein Hauptwerk ‚De civitate Dei’, denn Nordafrika war das Ziel zahlloser Flüchtlinge vor den Kämpfen in Italien. Den Christen unter ihnen verlangte es nach plausiblen Erklärungen, wie es Gott habe zulassen können, dass die Stadt der Apostelfürsten gefallen war. Die Anhänger der alten römischen Kulte unter den Flüchtlingen polemisierten, dass diese Katastrophe die notwendige Folge der Abkehr von eben diesen alten Kulten sei. Anders als für Augustinus war für viele seiner Zeitgenossen nicht klar, dass die Plünderung Roms nicht gleichbedeutend mit dem Sturz des Imperiums war.40 Daher versuchte er, diese Ängste zu zerstreuen, auf die drängenden Fragen seiner christlichen Glaubensbrüder befriedigende Antworten zu geben und zugleich die Anschuldigungen der Altgläubigen zu entkräften.41 Hierfür bediente er sich zudem der Hilfe des Orosius, dem er auftrug, den historischen Beweis anzutreten, dass die heidnische Vergangenheit

38 Vgl. Gregor von Tours, Decem libri Historiarum, ed. Bruno Krusch und Wilhelm Levison (MGH SRM I/1) Hannover 1937–1951, hier I,41, S. 28: „Valens [. . .] monachus ad militiam cogi iubet, nolentes fustibus praecipit verberari. Post haec bellum saevissimum in Thracias Romani gessire, in quo tanta stragis fuit, ut Romani, amisso equorum praesidio, pedebus fugirent. Cumque a Gotis internitione maxima caederentur et Valens sagitta fugiret sauciatus, parvum tugurium adgressus, inminentibus hostibus, super se incensam casulam, optatam caruit sepulturam. Sicque ultio divina ob sanctorum effuso sanguinem tandem emissa processit.“ 39 Vgl. ebd., IX,25, S. 445: „Sed nostris valde caesis, multi prostrati, nonnulli capti, plurimi etiam per fugam lapsi, vix patriae redierunt. Tantaque ibi fuit stragis de Francorum exercitu, ut olim simile non recolatur.“ 40 Vgl. PASCHOUD, Roma Aeterna 1967 (wie Anm. 17), S. 273: „Plus froidement que ses contemporains, il a compris que Rome n’était pas l’Empire, que la prise de cette ville ne bouleverserait pas la situation politique.“ 41 Zu Augustinusʼ Verarbeitung des Falles Roms siehe MEIER, Mischa / PATZOLD, Steffen: August 410 – Ein Kampf um Rom, Stuttgart 2010, S. 40–58, insbesondere S. 47 ff.

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Roms im Vergleich mit der christlichen Gegenwart keineswegs glückseliger gewesen sei, im Gegenteil sich die Zeiten gebessert hätten.42 Daher sei die Plünderung Roms durch die Krieger Alarichs, die Christen waren, weniger verheerend ausgefallen, als jene durch die Gallier des Brennus Jahrhunderte zuvor, so Orosius.43 Für den im Osten, im fernen Betlehem lebenden Hieronymus44 wiederum war die Einnahme Roms durch die Krieger Alarichs der traurige Höhepunkt eines dreißig Jahre währenden Krieges mit den Goten. In einem seiner Briefe klagt er: „Haeret uox et singultus intercipiunt uerba dictantis. Capitur urbs, quae totum cepit orbis, immo fame perit ante quam gladio et uix pauci, qui caperentur, inuenti sunt.“45 In dem Prolog seines Ezechiel-Kommentars spricht Hieronymus von Rom als dem „clarrissimum terrarum omnium lumen“,46 das ausgelöscht worden sei. Voll der Bestürzung resümiert er: Indem des Imperiums Haupt abgeschlagen worden ist, sei in einer Stadt der gesamte Erdkreis zugrunde gegangen.47 Wie ist es um die Erinnerung an diese Erschütterung des orbis Romanus in der merowingischen Geschichtsschreibung des 6. Jahrhunderts bestellt? Wiederum kommt darauf lediglich Gregor von Tours zu sprechen. Aber auch in diesem Fall ist seine Reaktion aufschlussreich, denn nur beiläufig, in einem Nebensatz, streift er das für die Zeitgenossen so unerhörte Ereignis, als er den Rheinübergang verschiedener gentes und die daran anschließenden Wirren in Gallien referiert: „Renatus Profuturus Frigiretus, cui iam supra meminimus, cum Romam refert a Gothis captam atque subversam, ait [. . .].“48 Die Erwähnung der Eroberung Roms dient ihm lediglich der chronologischen Orientierung innerhalb seiner Vorlage. Für Gregor zählt der Fall Roms nicht länger zu den gesta memorabilia. Hätte der Bericht über den Rheinübergang bei Renatus Profuturus Frigiredus an anderer Stelle gestanden, wäre Gregor auf den Fall Roms wohl nicht zu sprechen gekommen. Rom ist zwar im Verständnis Gregors, wie er an anderer Stelle betont, noch immer capud mundi und urbs urbium,49 aber nicht länger im Sinne des politischen Zentrums oder des kulturell-zivilisatorischen Mittelpunktes der bekannten Welt, wie einst noch für Sidonius Apollinaris, der von Rom als vertex mundi, gymnasium

42 Zu Orosiusʼ Verarbeitung vgl. ebd., S. 58–68. 43 Vgl. Orosius, Historia adversum paganos (wie Anm. 32), II,19, S. 129–130. 44 Zu Hieronymus siehe MEIER/PATZOLD, August 2010 (wie Anm. 41), S. 31–39. 45 Hieronymus, Epistulae, ed. Isidor Hilberg und Margit Kamptner, 4 Bände (CSEL 54–56), Wien 1996, hier ep. 127,12, S. 154. 46 Vgl. Hieronymus, Commentarii in Hiezechielem, ed. François Glorie (CCSL 75), Turnhout 1964, hier Prologus, S. 3: „[. . .] clarissimum terrarum omnium lumen exstinctum est [. . .].“ 47 Vgl. ebd., Prologus, S. 3: „[. . .] romani imperii truncatum caput et [. . .] in una urbe totus orbis interiit [. . .].“ 48 Gregor von Tours, Decem libri Historiarum (wie Anm. 38), II,9, S. 55. 49 Vgl. ebd., V, Prologus, S. 193.

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litterarum und domicilium legum spricht.50 Als sedes apostolica,51 als Sitz des Papstes, den Gregor als rector der katholischen Kirche anspricht,52 als Ruhestatt der Apostelfürsten sowie als Grablege zahlloser Heiliger und Märtyrer53 ist Rom für Gregor das kultische Gravitationszentrum der Christenheit und somit ein religiöser, aber kein politischer Bezugspunkt. Dies lässt sich durch zwei weitere Beobachtungen untermauern: Zum einen definiert Gregor das (Ost-)Römische Reich seiner Gegenwart nicht länger als „römisch“, sondern als „griechisch“,54 wodurch eine ungebrochene Kontinuität des einstigen Imperium Romanum bis in seine Gegenwart in den Augen Gregors unwahrscheinlich erscheint. Zum anderen erteilt er einer heilsgeschichtlichen Funktion Roms eine Absage, indem er sich anstatt Orosius’ Lehre von den vier Weltreichen Augustinusʼ Konzept der sechs Weltzeitalter für seine Periodisierung der Geschichte bedient.55 Betrachten wir nun die westgotische Expansion in Gallien im 5. Jahrhundert, was exemplarisch und schlaglichtartig anhand von vier Ereignissen geschehen soll: der Belagerung von Bazas im Jahre 414, einer in die erste Hälfte des 5. Jahrhunderts fallenden Belagerung von Bordeaux, der Niederlage des römischen Feldherrn Litorius vor Toulouse im Jahre 439 sowie der Kämpfe um die Auvergne in den 470er Jahren. Über die Belagerung von Bazas56 liegt uns ein Augenzeugenbericht vor. Es handelt sich um die autobiographische Lebensbeschreibung des römischen Aristokraten Paulinus von Pella,57 der sich zum Zeitpunkt der Belagerung in Bazas aufhielt. Dem zufolge wurde Bazas durch von Paulinus als „gotisch“ und „alanisch“ angesprochene Gruppen eingeschlossen. Paulinus und anderen Angehörigen der Muni-

50 Vgl. Sidonius Apollinaris, Epistulae et carmina, ed. Christian Lütjohann (MGH AA VIII), Berlin 1887, hier ep. I,6, S. 8 f. 51 Vgl. Gregor von Tours, Decem libri Historiarum (wie Anm. 38), IV,26, S. 158: „,Salvae, rex gloriosae. Sedis enim apostolica eminentiae tuae salutem mittit uberrimam‘. Cui ille: ,Numquid‘, ait, ,tu Romanam adisti urbem, ut papae illius nobis salutem deferas?‘“ 52 Vgl. ebd., X,1, S. 477. 53 Vgl. ebd., VI,6, S. 274. 54 Gregor von Tours gebraucht für die Oströmer den Terminus Graeci. Vgl. ebd., V,38, S. 245; VI,40, S. 310; VI,43, S. 316. 55 Zu Gregors Periodisierung der Geschichte siehe die Berechnung der Weltjahre in IV,51, S. 189 f. Zu Orosiusʼ Lehre der vier Weltreiche siehe GOETZ, Hans-Werner: Die Geschichtstheologie des Orosius (Impulse der Forschung 32), Darmstadt 1980, S. 71–79, siehe dort auch weitere Literaturangaben. Zu Augustinusʼ Konzept der sechs Weltzeitalter vgl. LÖWITH, Karl: Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie, [1953] Stuttgart 2004, S. 180–187. 56 Zur Belagerung von Bazas siehe CASTRITIUS, Helmut: Barbaren ante portas: Die gentes zwischen Beutemachen und Ansiedlung am Beispiel von Bazas, in: Millennium 6 (2009), S. 281–294. 57 Zur Biographie des Paulinus von Pella siehe VOGT, Joseph: Der Lebensbericht des Paulinus von Pella, in: Studien zur antiken Sozialgeschichte. Festschrift Friedrich Vittinghoff (Kölner historische Abhandlungen 28), hg. v. Werner Eck, Hartmut Galsterer und Hartmut Wolff, Köln 1980, S. 527–572.

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zipalaristokratie (primatibus urbis) gelang es in Verhandlungen, die Koalition der Belagerer aufzubrechen und ein foedus pacis zwischen den Alani und den Romani, letztere von Paulinus auch als populus noster bezeichnet,58 zu vermitteln.59 Aus dem Kontext seines Lebensberichtes heraus wird deutlich, dass Paulinus die Kämpfe um Bazas im Zusammenhang mit dem Zerfall des römischen Staates deutet, spricht er doch von der res publica nostra, die sich in einer „condicio instabilis semper generaliter aevi“60 befinde. Die Erinnerung an die Belagerung von Bazas fand in verderbter Form Eingang in das Werk Gregors von Tours.61 In seinem Narrativ ist es allerdings keine Gesandtschaft der städtischen Einwohner unter Leitung der Aristokratie, die durch den Abschluss eines foedus pacis den Abzug der Belagerer erwirkt, sondern göttliche Intervention auf Fürbitten des örtlichen Bischofs, denn eine über den Nachthimmel rasende Feuerkugel versetzt die arianischen Belagerer in Furcht und vertreibt sie.62 Gregor bezog seine Informationen aus Bazas, wo die Belagerung im Gedächtnis der dortigen Bevölkerung noch im ausgehenden 6. Jahrhundert, wenn auch deformiert – ob durch Gregor oder bereits in Bazas selbst bleibt unklar –, fortlebte.63 Nach dieser Tradition seien nach Aufhebung der Belagerung drei Tropfen (Kondens-)Wassers von der Decke der städtischen Kirche auf den Altar gefallen, wo sie zusammengeflossen seien und sich zu einer Gemme transformiert hätten. Auf diese Weise, so Gregor, sei der Bevölkerung der Sieg der Orthodoxie über die arianische Häresie der Belagerer offenbar geworden, symbolisierten die zu einer Gemme verschmolzenen drei Wassertropfen doch die unteilbare Trinität.64 Der damalige Ortsbischof habe die Gemme in ein Kreuzreliquiar

58 Vgl. Paulinus von Pella, Eucharisticos, ed. Wilhelm Brandes, in: CSEL 16, Wien 1888, S. 263– 334, hier v. 352, S. 304. 59 Zu den Geschehnissen in Bazas vgl. ebd., v. 330–405, S. 304–306. 60 Ebd., v. 540, S. 312. 61 Vgl. Gregor von Tours, Liber in Gloria martyrum, ed. Bruno Krusch, in: MGH SRM I/2, Hannover 1885, hier 12, S. 46. In Gregors Bericht ist einiges verwirrt: So wird Bazas von Hunnen (Chuni) unter deren König (rex barbarorum) Geiserich (Gausericus) belagert. Gregor betont das arianische Bekenntnis der Belagerer: „contra iniquam et Deo odibilem Arrianam heresim, quae eo tempore pullabat, haec acta.“ Vermutlich sind in der Erinnerung teleskopisch verschiedene Zeithorizonte miteinander verschmolzen. Zur Identifikation mit der Belagerung von 414 vgl. COURCELLE, Pierre: Histoire littéraire des grandes invasions germaniques, [1948] Paris 1964, S. 93–95. 62 Vgl. Gregor von Tours, Liber in Gloria martyrum (wie Anm. 61), 12, S. 46: „Alia vero nocte vidit quasi globum magnum ignis super urbem discendere.“ 63 Gregor von Tours, Liber in Gloria martyrum (wie Anm. 61), 12, S. 46, deutet an, dass die Gemme noch zu seiner Zeit in Bazas verehrt wurde und Wunder wirkte. 64 Vgl. ebd., 12, S. 46: „Dum autem haec ageret, respiciens sursum, vidit super altare quasi de camera templi cadere tres guttas aequales magnitudine, claritate, candorem cristalli vincentes. [. . .] Quae dum per altare vago cursu rotantur, defluentes in ipsam patenam statim in se coniunctae, quasi unam gemmam pulcherrimam effecerunt, patuitque evidenti ratione, contra iniquam et Deo odibilem Arrianam heresim, quae eo tempore pullulabat, haec acta.“

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einfassen lassen.65 Da das Reliquiar in Prozessionen Verwendung gefunden haben dürfte, war es für die Gemeinde und deren Vergangenheit – und damit auch für deren kollektive Identität – von einiger Bedeutung, evozierte die Reliquie doch zweifelsohne als Erinnerungsobjekt die Vergegenwärtigung der Errettung von Bazas aus höchster Not. Ob die Belagerung im ausgehenden 6. Jahrhundert allerdings von der städtischen Bevölkerung noch in dem größeren Bedeutungszusammenhang eines in Auflösung befindlichen Imperium Romanum memoriert wurde, wie es Paulinus von Pella tat, darf bezweifelt werden. Gregor von Tours jedenfalls sah sie bereits nicht mehr in einem solchen Kontext. Im Gegenteil: In Gregors Bericht spiegelt sich seine auktoriale Gegenwart. Im Vergleich zu Paulinusʼ Darstellung ist ein Wandel der Autoritätsformen zu erkennen, wie er sich im Laufe des 5. und frühen 6. Jahrhunderts vollzogen hat. Die Menschen wandten sich in den Zeiten der Not zunehmend religiösen Autoritäten zu. Der jeweilige Bischof wurde zum Vertreter der Stadt auch nach außen.66 In Gregors Narrativ ist es daher auch nicht länger die städtische Aristokratie, die durch das Aushandeln eines foedus pacis den Abzug der Belagerer erwirkt, sondern es ist das Eintreten des von Gregor nicht namentlich genannten Bischofs von Bazas.67 Betrachten wir die Belagerung von Bordeaux durch Goten, die in die erste Hälfte des 5. Jahrhunderts datiert.68 Um 580 trat der Klerus der Kirche zu Bordeaux an den Dichter Venantius Fortunatus mit der Bitte heran, eine Vita über den Lokalheiligen und früheren Bischof von Bordeaux, Severinus, zu verfassen.69 Unter Rückgriff auf lokale Traditionen berichtet Venantius davon, wie einst die Bewohner von Bordeaux Hilfe und Schutz suchend am Grabe des Heiligen, dessen Festtag im Übrigen gerade begangen wurde, zusammenströmten, während sich der hostis Gotho-

65 Vgl. ebd., 12, S. 46: „Tunc pontifex intellegens, non esse consortium caelestibus cum terrenis, fabricatam crucem ex auro purissimo, eam gemmam media intercapidine locat et populo adorandam praebet. Nec mora, fugato, ut diximus, hoste, civitas liberata est. Iam ex hoc multi infirmi, hausto vino vel aqua, in qua gemma abluitur, protinus sanitati redduntur. Denique cum adorata fuerit, si a peccato est homo inmunis, et ipsa apparet clara; ceterum si, ut plerumque adsolet, humanae fragilitati aliquid detulerit criminis, tota ei videtur obscura; miramque praebens discretionem inter innocentem et noxium, cum uni atra, alteri monstretur splendida.“ 66 Vgl. HEINZELMANN, Martin: Bischof und Herrschaft vom spätantiken Gallien bis zu den karolingischen Hausmeiern. Die institutionellen Grundlagen, in: Herrschaft und Kirche. Beiträge zur Entstehung und Wirkungsweise episkopaler und monastischer Organisationsformen (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 33), hg. v. Friedrich Prinz, Stuttgart 1988, S. 23–82, hier S. 57. 67 Vgl. Gregor von Tours, Liber in Gloria martyrum (wie Anm. 61), 12, S. 46: „Quoniam Vastinsis urbis meminimus, operae praetium puto miraculum, quod in ea Dominus largitus est, memorare. [. . .] omni nocte sacerdos, qui praeerat, circuibat psallendo et orabat nec ab ullo auxilium nisi Domini misericordiam requirebat.“ 68 Vgl. WOLFRAM, Herwig: Die Goten. Von den Anfängen bis zur Mitte des sechsten Jahrhunderts. Entwurf einer historischen Ethnographie, [1979] München 2009, S. 169. 69 Zur Autorschaft des Venantius Fortunatus vgl. zuletzt BERSCHIN, Walter: Biographie und Epochenstil im lateinischen Mittelalter, Bd. 1 (Quellen und Untersuchungen zur lateinischen Philologie des Mittelalters 8), Stuttgart 1986, S. 278 ff.

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rum anschickte, in die Stadt einzudringen. Das Flehen und Beten der Einwohner wurde erhört: Eine dem Wirken Severins zugeschriebene Sonnenfinsternis vertrieb die Belagerer.70 Wie auch immer man zum Wahrheitsgehalt dieser Information stehen mag,71 so ist unverkennbar, dass die Auseinandersetzung mit den gotischen Belagerern noch im ausgehenden 6. Jahrhundert in Bordeaux lebendig, für deren Kirche und Gemeinde bedeutsam war – allerdings nicht im Sinne marodierender foederati, die versuchten, innerhalb der bestehenden Strukturen gegenüber der Reichsregierung ihre Position zu verbessern, ihre Forderungen durchzusetzen und dabei der res publica schadeten,72 sondern als Bedrohung für die eigene civitas. Wie sich in Bazas die Erinnerung an die Belagerung an eine als Reliquie verehrte Gemme geheftet hatte, verband sich für die Bewohner von Bordeaux die Erinnerung an die Gefahr mit dem Grab und dem Festtag des heiligen Severinus, an dem gewiss seine kurze, von Venantius Fortunatus wohl zu diesem Zweck bewusst in einfachem Stil gehaltene Vita verlesen wurde.73 Galt in Bazas die Reliquie als Erinnerungsobjekt, so avancierte in Bordeaux das Grab des Severinus zu einem für die städtische Vergangenheit und damit für die kollektive Identität der Bevölkerung wichtigen Erinnerungsort, an dem noch im ausgehenden 6. Jahrhundert die Erinnerung an die Rettung der Stadtbewohner haftete und wohin gewiss Prozessionen am Gedenktag Severins stattfanden. Diese Entwicklung lässt sich überall in Gallien beobachten. Im Zusammenhang mit der Veränderung des Stadtbildes im Verlaufe des 5. und 6. Jahrhunderts ist eine Monumentalisierung von suburbanen Märtyrergräbern erkennbar, die oftmals durch Prozessionen mit dem jeweiligen städtischen Zentrum verbunden waren. Diese Gräber entwickelten sich zu „Kristallisationspunkt[en] für eine Neuausrichtung der städtischen Identität [. . .], die sich nun gerade an den dort verehrten Heiligen als Schutzpatronen und Trägern einer städtischen Tradition festmachte“.74 Derlei Prozessionen besaßen identitätsbildende Kraft, denn „über Rituale,

70 Vgl. Venantius Fortunatus, Vita sancti Severini episcopi Burdegalensis, ed. Bruno Krusch, in: MGH SRM VII, Hannover 1920, S. 205–224, hier 6, S. 222 f. 71 Womöglich handelt es sich um jene des Jahres 418, von der Hydatius, Chronica (wie Anm. 19), 56, S. 84, berichtet: „Solis facta defectio die XIIII kl. Aug., qui fuit quinta feria.“ 72 Vgl. HALSALL, Barbarian Migrations 2007 (wie Anm. 1), S. 282 f.: „All the decisive acts in bringing down the Empire were carried out by people attempting to create a better position for themselves within the sorts of imperial structures that had existed in the fourth century.“ 73 Zur Verlesung von Heiligenviten an den Festtagen der betreffenden Heiligen vgl. VAN UYTFANGHE, Marc: L’hagiographie et son public à l’époque mérovingienne, in: Studia patristica 16 (1985), S. 54–62. 74 Vgl. WITSCHEL, Christian: Die spätantiken Städte Galliens: Transformation von Stadtbildern als Ausdruck einer gewandelten Identität?, in: Gallien in Spätantike und Frühmittelalter. Kulturgeschichte einer Region (Millennium-Studien 43), hg. v. Steffen Diefenbach und Gernot Michael Müller, Berlin/Boston 2013, S. 153–200, Zitat siehe S. 183.

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Gedenktage und die permanente Konstitution einer ‚erinnerten‘ Vergangenheit [werden] eine Gegenwart erst ermöglicht und kollektive Identitäten her[ge]stellt.“75 Die Beispiele von Bazas und Bordeaux mögen zeigen, dass im Merowingerreich des 6. Jahrhunderts den Wirren der westgotischen Expansion in Gallien in eher kleinräumigen Einheiten wie den civitates gedacht wurde. Lokale bzw. regionale Zentren sind Bezugspunkte, welche für die Identität der Menschen ausschlaggebend waren. Im 5. Jahrhundert nahm sich dies noch anders aus, wie die Deutung der gotischen Expansion in Gallien durch Salvianus von Marseille zeigt. Im Jahre 439 belagerte der römische Feldherr Litorius mit hunnischen Hilfstruppen Toulouse, wo er den Gotenkönig Theoderid eingeschlossen hatte. Während eines Ausfalles gelang es den Belagerten, Litorius gefangen zu nehmen, den man im Anschluss hinrichtete, weswegen die Belagerung abgebrochen wurde.76 Ausführlich handelt der im Umkreis des Klosters Lérins lebende Salvianus in seinem um 440 verfassten Werk ‚De gubernatione Dei‘ von dieser Auseinandersetzung. Im Rahmen seiner Kritik an der römischen Gesellschaft seiner Zeit, der er einen sittlich-moralischen Verfall attestiert,77 betreibt Salvian Ursachenanalyse, weshalb die Truppen des Litorius einem doch bereits geschlagenen Gegner unterlegen waren. Er gelangt zu der Einsicht, dass Litoriusʼ Untergang als Strafe Gottes an den sündigen Römern, die Gottes Gebote nicht achten, zu deuten sei, denn „totus Romanus orbis et miser est et luxuriosus“78, und sieht die Niederlage in einer Reihe militärischer Katastrophen jener Tage, wie die Eroberung Nordafrikas durch die Vandalen und den Fall Karthagos.79 Dabei identifiziert sich Salvianus mit der römischen Sache, indem er Litorius den „dux nostrae partis“80 nennt, und bezeugt eine emotionale Nähe zu dem Geschehen, denn er leidet mit, wenn er den Untergang des Litorius als „unser Unglück“ bezeichnet: „denique probavit hoc bello proximo infelicitas nostra.“81

75 MARTSCHUKAT, Jürgen / PATZOLD, Steffen: Geschichtswissenschaft und „performative turn“. Eine Einführung in Fragestellungen, Konzepte und Literatur, in: Geschichtswissenschaft und „performative turn“. Ritual, Inszenierung und Performanz vom Mittelalter bis zur Neuzeit (Norm und Struktur. Studien zum sozialen Wandel in Mittelalter und Früher Neuzeit 19), hg. v. dens., Köln, Weimar und Wien 2003, S. 1–31, Zitat S. 25. 76 Vgl. Hydatius, Chronica (wie Anm. 19), 108, S. 94: „Bello Gothico sub Theodorico rege apud Tolosam Litorius Romanus dux inconsultius cum auxiliari Vunorum manu inruens caesis his ipse uulneratus capitur et post dies paucos occiditur.“ 77 Zu Autor, Werk und Werkausrichtung vgl. BADEWIEN, Jan: Geschichtstheologie und Sozialkritik im Werk Salvians von Marseille (Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte 32), Göttingen 1980. 78 Salvianus von Marseille, De gubernatione Dei, ed. Karl Halm (MGH AA. I/1), Berlin 1877, Zitat: VII,1, S. 85. 79 Ebd., VII,9, S. 90 f. 80 Ebd., VII,10, S. 91. 81 Ebd., VII,9, S. 90.

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Begreift Salvianus das zeitgenössische Geschehen in einem größeren, die gesamte römische Gesellschaft betreffenden Zusammenhang, liegt dem anonymen Autor der Vita des Bischofs Orientius von Auch eine solche Kontextualisierung fern. Dieser Text entstand in den ersten Dekaden des 6. Jahrhunderts82 und bindet das Geschehen im Vergleich mit Salvianus niedriger an. Niederlage und Tod des Litorius sind nicht das Resultat eines göttlichen Strafgerichtes an einer sündigen römischen Gesellschaft, sondern allein an dem hochmütigen Feldherrn. Der hatte die Bitte des Orientius um Schonung der Belagerten, die der Autor unter Vernachlässigung jedweder ethnischer Zugehörigkeit kollektiv als Tolosani bezeichnet,83 abschlägig behandelt.84 Der Anonymus personifiziert und reduziert den Konflikt zwischen dem Imperium und den Föderaten auf eine Auseinandersetzung zwischen Litorius und Orientius. Im Fokus steht nicht länger das Schicksal der res publica, sondern davon gelöst schlicht die liberatio patriae,85 womit der Verfasser wohl auf seine südgallisch-tolosanische Heimat rekurriert. Im Gegensatz zu Salvianus identifiziert sich der anonyme Autor nicht mit der römischen Seite. Vielmehr sieht er in Litoriusʼ Heer eine Bedrohung für seine patria. Das Ringen um den Bestand des Imperium Romanum und dessen Auseinandersetzung mit den barbari befinden sich jenseits seines Erfahrungshorizontes. Einen Konflikt zwischen dem Reich und den nach einer Verbesserung ihrer Stellung strebenden foederati vermag er nicht mehr zu erkennen. Im Fokus des Autors steht dagegen die notleidende Bevölkerung von Toulouse, mit deren Geschick sich der Autor identifiziert. Ähnlich verhält es sich mit Gregor von Tours, der die westgotische Expansion in Gallien im 5. Jahrhundert ebenfalls nur aus der Warte seiner auvergnatischen Heimat betrachtet. In Clermont, der patria des Gregor, waren noch im ausgehenden 6. Jahrhundert die Waffentaten des Ecdicius gegen die gotischen Belagerer in Erinnerung.86 Das Geschehen wurde aber, wie Gregor zeigt, nicht mehr im Kontext eines in Auflö-

82 Zur Datierung der Orientiusvita siehe HEINZELMANN, Martin: L’hagiographie mérovingienne: panorama des documents potentiels, in: L’hagiographie mérovingienne à travers ses réécritures (Beihefte der Francia 71), hg. v. Monique Goullet, Martin Heinzelmann und Christiane Veyrard-Cosme, Ostfildern 2010, S. 27–82, hier S. 61: „composées au début ou dans la première moitié du VIe siècle“. 83 Vgl. Vita sancti Orientii episcopi Ausciorum, ed. Godefroid Henschen, in: AA SS Maii I, Antwerpen 1680 (ND Brüssel 1968), S. 60–64, hier 3, S. 61: „[. . .] captusque a Tolosanis qui beati Orientii patrocinia postulaverant.“ 84 Vgl. ebd., 3, S. 61: „Littorius vero ei occurrere dedignatur, et legationem sancti hominis huiusmodi despiciens, nihil de pace respondit: sed in urbem Tolosam, exitium daturus, se introire promittit.“ 85 Vgl. ebd., 4, S. 62: „Beatus iste et Deo dignus pontifex Orientius, non solum in praedicatione, nec non et patriae liberatione necessarius multum fuit, sed etiam multorum hominum obsessa a daemonibus corpora liberavit.“ 86 Vgl. Gregor von Tours, Decem libri Historiarum (wie Anm. 38), II,24, S. 70: „Quem Ecdicium mirae velocitatis fuisse, multi commemorant. Nam quadam vice multitudine Gothorum cum decim viris fugasse perscribitur.“ Gregor rekurriert hier auf eine Belagerung von Clermont in den 470er Jahren durch die Truppen des Gotenkönigs Eurich, die auch Sidonius Apollinaris (wie Anm. 50), ep. III,3, S. 41–43, erwähnt: „Cum interiectis aequoribus in adversum perambulatis et vix duodevi-

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sung befindlichen Römischen Reiches begriffen. Anders verhielt sich dies noch im 5. Jahrhundert. Im Auftrag des weströmischen Kaisers Julius Nepos verhandelten die Bischöfe Graecus von Marseille, Leontius von Arles, Faustus von Riez und Basilius von Aix mit dem Gotenkönig Eurich, was im Jahre 475 in einen Frieden mündete.87 Eine der Vertragsbedingungen war das Abtreten der Auvergne an Eurich. Angesichts dieser Vereinbarung klagt Sidonius Apollinaris, Bischof von Clermont in der Auvergne, gegenüber seinem Amtsbruder Graecus von Marseille, dass alle militärischen Mühen und Opfer der letzten Jahre vergeblich gewesen seien, da nun das Gebiet Eurich überlassen werde. Die kaiserlichen Unterhändler hätten, so der Vorwurf des Sidonius, nicht zum Wohle aller – also der gesamten res publica –, sondern nur zu ihrem eigenen Vorteil gehandelt.88 Latium – gemeint ist Italien – habe seine Brüder – die Bewohner der Auvergne – im Stich gelassen.89 Sidonius unterstellt den Gesandten offensichtlich, dass diese ihre eigenen südgallischen Gebiete durch die Preisgabe der Auvergne vor den Goten zu retten bestrebt gewesen seien. Dies, so deren Hoffnung, würde den Expansionsdrang Eurichs stillen. Unverkennbar ist, dass Sidonius Apollinaris sich und seine auvergnatische Heimat als Teil eines größeren Ganzen, als Teil des Imperium Romanum begreift. Sidonius wie auch Salvianus von Marseille gilt das Imperium Romanum als politischer Ordnungsrahmen, der Orientierung bietet. Damit heben sich beide in ihrer Betrachtung der Entwicklungen ihrer Zeit freilich von jener späterer Generationen ab, die diese Prozesse aus einer vornehmlich lokal-regionalen Warte aus memorierten. Wenden wir den Blick auf den Hunneneinfall in Gallien im Jahre 451.90 Aus dem Gallien des 5. bzw. des 6. Jahrhunderts stehen uns hierzu vier literarische Quellen zur

ginti equitum sodalitate comitatus aliquot milia Gothorum non minus die quam campo medio, quod difficile sit posteritas creditura, transisti.“ 87 Zu den Verhandlungen vgl. KAMPERS, Gerd: Geschichte der Westgoten, Paderborn u. a. 2008, S. 134; HALSALL, Barbarian Migrations 2007 (wie Anm. 1), S. 280. 88 Vgl. Sidonius Apollinaris (wie Anm. 50), ep. VII,7,3, S. 111: „Hoccine meruerunt inopia flamma, ferrum pestilentia, pingues caedibus gladii et macri ieiuniis proeliatores? Propter huius tam inclitae pacis expectationem avulsas muralibus rimis herbas in cibum traximus, crebro per ignorantiam venenatis graminibus infecti, quae indiscretis foliis sucisque viridantia saepe manus fame concolor legit? Pro his tot tantisque devotionis experimentis nostri, quantum audio, facta iactura est? Pudeat vos, precamur, huius foederis, nec utilis nec decori. Per vos legationes meant; vobis primum pax quamquam principe absente non solum tractata reseratur, verum etiam tractanda committitur. Veniabilis sit, quaesumus, apud aures vestras veritatis asperitas, cui convicii invidiam dolor eripit. Parum in commune consulitis; et, cum in concilium convenitis, non tam curae est publicis mederi periculis quam privatis studere fortunis; quod utique saepe diuque facientes iam non primi comprovincialium coepistis esse, sed ultimi.“ 89 Vgl. ebd., ep. VII,7,2, S. 110: „Arvernorum, pro dolor, servitus, qui, si prisca replicarentur, audebant se quondam fratres Latio dicere et sanguine ab Iliaco populos computare.“ 90 Vgl. HALSALL, Barbarian Migrations 2007 (wie Anm. 1), S. 252–254.

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Verfügung:91 ein Schreiben des bereits erwähnten Sidonius Apollinaris, die Lebensbeschreibungen des Bischofs Anianus von Orléans und der heiligen Genovefa von Paris sowie wiederum die Historien des Gregor von Tours, der für seinen Bericht die Anianusvita benutzt hat.92 Sidonius Apollinaris kann vernachlässigt werden, da er für unsere Zusammenhänge keine relevanten Informationen bietet. Bischof Prosper von Orléans bat ihn um die Abfassung einer Vita seines Vorgängers Anianus, ein Ansinnen, das Sidonius allerdings ablehnte.93 Sein Brief ist zumindest dahingehend aufschlussreich, dass in den 470er Jahren offensichtlich noch keine Anianusvita vorgelegen hat. Die heute noch erhaltene ‚Vita s. Aniani‘ stammt aus dem frühen 6. Jahrhundert und ist vermutlich bald nach 500 von einem Kleriker in Orléans verfasst worden.94 Mit Blick auf den Hunneneinfall des Jahres 451 heißt es, dass omni provinciae95 die Verwüstung drohte, als die Hunnen adversus Galliam losschlugen.96 Der Fokus des Autors geht hier über Orléans hinaus, indem er die Hunnengefahr, wenn schon nicht für das Römische Reich insgesamt, dann wenigstens als Bedrohung für Gallien (per Attila rege persecutio Galliarum) wertet.97 Ähnlich nahm dies der Verfasser der um 520 entstandenen Vita der Genovefa wahr,98 denn dort heißt es, Attila sei gekommen, um Gallien zu verwüsten.99 Sowohl in der Lebensbeschreibung der Genovefa als auch in der des Anianus verengt sich der Fokus schnell auf die jeweilige civitas. In der ‚Vita s. Aniani‘ wird des Hunneneinfalls nicht nur als Bedrohung für die Galliarum provincias gedacht, sondern vor allem in seiner Bedeutung für kleinräumige Lebenskreise: namentlich 91 Für einen Quellenüberblick siehe BARNISH, Samuel J. B.: Old Kaspars: Attila’s Invasion of Gaul in the Literary Sources, in: Fifth-Century Gaul. A Crisis of Identity?, hg. v. John F. Drinkwater und Hugh Elton, [1992] Cambridge 1999, S. 38–47; LOYEN, André: Le rôle de saint Aignan dans la défense d’Orléans, in: Comptes-rendus des séances de l’Académie des Inscriptions et Belles-Lettres 113 (1969), S. 64–74. 92 Vgl. Gregor von Tours, Decem libri Historiarum (wie Anm. 38), II,7, S. 48: „Erat autem eo tempore beatissimus Annianus in supradicta urbe episcopus, vir eximiae prudentiae ac laudabilis sanctitatis, cuius virtutum gesta nobiscum fideliter retenentur.“ 93 Vgl. Sidonius Apollinaris (wie Anm. 50), ep. VIII,15, S. 147. 94 Zur Datierung vgl. HEINZELMANN, L’hagiographie mérovingienne 2010 (wie Anm. 82), S. 61. 95 Vgl. Vita sancti Aniani episcopi Aurelianensis, ed. Bruno Krusch, in: MGH SRM III, Hannover 1896, S. 104–117, hier 7, S. 113: „Innumerabilem Chunorum exercitum omnem provinciam a partibus Orientis crudeli caede vastatam et multas excellentes urbes eorum virtute conperimus conlisas.“ 96 Vgl. ebd., 1, S. 108: „In tempore illo cum Chunorum exercitus a partibus Orientis a populandam omnem provintiam exisset, et cum exceleris eorum adversus Galliam dire procella detonaret.“ 97 Vgl. ebd., 4, S. 110. 98 Zur Datierung vgl. HEINZELMANN, Martin / POULIN, Joseph-Claude: Les Vies anciennes de sainte Geneviève de Paris. Études critiques. Préface de Michel Fleury, Président de la Section (Bibliothèque de l’École des hautes études, IVe section, sciences historiques et philologiques 329), Paris 1986, S. 178. 99 Vgl. Vita sanctae Genovefae virginis Parisiensis, ed. Bruno Krusch, in: MGH SRM III, Hannover 1896, S. 204–238, hier 12, S. 219: „Attela Chunorum regem sevitia superatum Gallia provintia coepisse vastare.“

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für Orléans. Die Vita überliefert, dass die Hunnen an einem vierzehnten Juni plündernd in die Stadt eingedrungen waren, bevor sie „cum patribus nostris“,100 wie der Autor in seiner Identifikation mit den Bewohnern von Orléans betont, befreit werden konnte.101 Das Datum hatte sich als Fixpunkt in der Vergangenheit in das kollektive Gedächtnis der Bevölkerung von Orléans eingegraben, so dass es noch Generationen später abrufbar war. Wie bewertete man im 5. Jahrhundert das Erscheinen der Hunnen in Gallien? Hierzu sei auf die Chronik des in Rom wirkenden Prosper von Aquitanien verwiesen.102 Dieser sieht die Kämpfe in Gallien in einem gesamtrömischen Kontext. Prosper schreibt, dass sich Attila als custos Romanae amicitiae geriert habe, als er den Rhein überschritt und in Gallien einfiel, ihm dort aber von den „Unsrigen“ (nostri), womit er auf die Truppen des römischen Heermeisters Aëtius anspielt, und den Goten (Gothi) erfolgreich Widerstand geleistet wurde.103 Selbst der in der fernen Gallaecia lebende Hydatius zeigt ein „interest in the Roman defence of Gaul with the defeat of the Huns in 451“.104 Man mag einwenden, dass die Fokussierung auf die lokale Ebene der civitas im Genos der Heiligenvita begründet liegt, die das Leben und Wirken einer lokalen Persönlichkeit zum Gegenstand hat und sich an die Gemeinde richtete, die den jeweiligen Heiligen verehrte, wozu die Vita an dessen Festtag verlesen wurde. Ein solcher Einwand soll keineswegs ignoriert werden. Er greift aber zu kurz, denn die knapp gehaltenen hagiographischen Texte des 5. und 6. Jahrhunderts zeugen durchaus von dem Bedürfnis und der Möglichkeit, Geschehnisse über den Horizont der jeweilige civitas hinaus zu kontextualisieren. Betrachten wir beispielsweise die um 480 von Constantius von Lyon verfasste Lebensbeschreibung des Bischofs Germanus von Auxerre.105 Für ihren Autor ist der römische Staat durchaus Legitimations- und Bezugsrahmen. Constantius schildert zum einen Germanusʼ Aufstieg im Staatsdienst, zum anderen beschreibt er ihn als vorbildlichen Bischof, der sich angesichts des von sozialen und wirtschaftlichen Umbrüchen zerrütteten Römischen Reiches für die Notleidenden einsetzt. Germanus habe sich dabei nicht nur für die eigene Gemeinde von

100 Vgl. Vita s. Aniani (wie Anm. 95), 10, S. 116. 101 Vgl. ebd., 7, S. 113: „[. . .] octavo decimo Kal. Iulias [. . .].“ 102 Zu Prosper von Aquitanien und dessen Chronik siehe MUHLBERGER, Steven: The Fifth-Century Chroniclers. Prosper, Hydatius, and the Gallic Chronicler of 452 (Arca 27), Leeds 1990, S. 48 ff. 103 Vgl. Prosper von Aquitanien, Chronica (wie Anm. 35), 1364, S. 481: „Attila post necem fratris auctus opibus interempti multa vicinarum sibi gentium milia cogit in bellum, quod Gothis tantum se inferre tamquam custos Romanae amicitiae denuntiabat. Sed cum transito Rheno saevissimos eius impetus multae Gallicanae urbes experirentur, cito et nostris et Gothis placuit, ut furori superborum hostium consociatus exercitibus repugnaretur.“ 104 BURGESS, Richard W.: From Gallia Romana to Gallia Gothica: the View from Spain, in: FifthCentury Gaul. A Crisis of Identity?, hg. v. John F. Drinkwater und Hugh Elton, [1992] Cambridge 1999, S. 19–27, hier S. 21. 105 Zur Datierung siehe HEINZELMANN, L’hagiographie mérovingienne 2010 (wie Anm. 82), S. 59.

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Auxerre verwendet, deren Bitte um Steuererleichterung er dem praefectus praetorio Galliarum in Arles vortrug,106 sondern auch für die Menschen in der fernen Aremorica, wo Unruhen ausgebrochen waren.107 Der Heermeister Aëtius, „qui tum rem publicam gubernabat“108, hatte ob dieser eine Strafexpedition angeordnet, weshalb sich Germanus an den Kaiserhof nach Ravenna begab, um – wenn auch letztlich erfolglos – eine Schonung der Bevölkerung zu erwirken.109 Constantiusʼ Germanus bewegt sich ganz in den Strukturen der römischen res publica des 5. Jahrhunderts, die für ihn offensichtlich einen Ordnungsrahmen bereitstellt. Auf der Folie eines erodierenden römischen Staats- und Gemeinwesens schildert ein anonymer Verfasser, der im Burgunderreich kurz nach 500 wirkte,110 Leben und Wirken des Abtes Lupicinus von Saint Maurice d’Agaune. Dem Abt ist folgende Klage in den Mund gelegt: „Nonne cernis, degener et infelix, ius fasque confusum, ob tuis tuorumque crebra in innocentum pervasione peccatis nutare muriceos pellito sub iudice fasces? Tandem resipisce paulisper et vide, utrum rura ac iugera tua novus hospes inexpectata iuris dispectione sibi non vindicet hac praesumat.“111 Der Anonymus lässt seinen Protagonisten den Verlust von Recht und Gerechtigkeit beweinen, seien doch die Purpurträger (muriceos), mithin die Kaiser, einem Richter im Fellkleid (pellito iudice) gewichen, womit er auf den Burgunderkönig anspielt. Dieser versuche seit nunmehr zehn Jahren, die Macht der römischen Herrschaft zu verdrängen und Land und Leute in den Untergang zu führen.112 Anders als in den Lebensbeschreibungen des Anianus von Orléans oder der Genovefa von Paris sind die Einfälle der Barbaren in Gallien für den Verfasser der ‚Vita s. Lupicini‘ keine Bedrohung allein nur für die Gallia, sondern für das Römische Reich insgesamt. Der Anonymus berichtet diesbezüglich, dass in Rom das Gerücht die Runde gemacht hatte, der comes Galliae Agrippinus habe in seiner Auseinandersetzung mit dem Heermeister Aegidius Barbaren dazu animiert, in die res pulica ein-

106 Vgl. Constantius von Lyon, Vita sancti Germani episcopi Autissiodorensis, ed. Wilhelm Levison, in: MGH SRM VII, Hannover 1920, S. 225–283, hier 19–24, S. 265–269. 107 Zu den Bagauden vgl. VAN DAM, Raymond: Leadership and Community in Late Antique Gaul (The Transformation of the Classical Heritage 8), London u. a. 1985, S. 25–56. 108 Constantius von Lyon, Vita s. Germani (wie Anm. 106), 28, S. 271. 109 Vgl. ebd., 28–40, S. 271–280. 110 Zur Datierung siehe DUCHESNE, Louis: La vie des Pères du Jura, in: Mélanges dʼArchéologie et dʼHistoire de lʼÉcole française de Rome 18 (1898), S. 3–16. Zur Diskussion um die Echtheit der Vita vgl. PRINZ, Friedrich: Das frühe Mönchtum im Frankenreich. Kultur und Gesellschaft in Gallien, den Rheinlanden und Bayern am Beispiel der monastischen Entwicklung (4. bis 8. Jahrhundert), München/Wien 1965, S. 67, Anm. 124. 111 Vitae patrum Iurensium Romani, Lupicini, Eugendi, ed. Bruno Krusch, in: MGH SRM III, Hannover 1896, S. 125–166, hier 10, S. 149. 112 Ebd., 10, S. 149: „qui ante hos decem circiter annos, cum civilitatem Romani apicis arrogans derogares, regioni huic ac patribus iam iamque imminere interitum testabaris.“

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zufallen.113 Da hier offenkundig die Gallia gemeint ist, wird man schließen dürfen, dass der Autor diese Provinz als Teil des Römischen Reiches betrachtete. Das Genos hagiographischer Texte bedingt offensichtlich keineswegs einen allein lokalen Fokus. Im Gegenteil bestand vor und um 500 durchaus noch die Möglichkeit, die Handlungen der Protagonisten vor dem Hintergrund eines auseinanderfallenden römischen Staates als politischen Ordnungsrahmen darzustellen. Für die merowingischen Geschichtsschreiber des 6. Jahrhunderts hat das Imperium Romanum dagegen seine Rolle als ordnungspolitischer Bezugspunkt ausgespielt. Die Erosion des Weströmischen Reiches im Verlauf des 5. Jahrhunderts, das von vielen zeitgenössischen Beobachtern noch auf einer panrömischen Ebene als miserabile tempus empfunden worden war,114 wurde im Gallien des 6. Jahrhunderts nur noch in seiner Bedeutung für kleinräumige Lebenskreise erinnert: für die eigene urbs oder die eigene civitas. Roms Verlust der Rolle eines ordnungspolitischen Bezugsrahmens spiegelt sich auch in der Wahrnehmung der Restaurationsbemühungen Kaiser Justinians in der ersten Hälfte des 6. Jahrhunderts115 durch die merowingischen Geschichtsschreiber wider. Gregor von Tours lehnte diese Bemühungen ab. Mit Blick auf die Iberische Halbinsel schreibt er: „Qui multa bella contra ipsum exercitum postea egit et eos plerumque devicit, civitatisque, quas male pervaserant, ex parte auferens de potestate eorum.“116 Einen historisch fundierten Anspruch Ostroms auf hispanische Gebiete erkennt Gregor offensichtlich nicht an: Der kaiserliche exercitus hatte einige civitates der Iberischen Halbinsel in „böser“ (male) Absicht verheert. Mit Blick auf das Gallien seiner Zeit überliefert uns Gregor, dass seinem Amtskollegen, Bischof Theodorus von Marseille, der Prozess gemacht wurde, da ihm der dux Gunthramn vorwarf, er habe das regnum Francorum dem Kaiser in die Hände spielen wollen,117 wobei Gregor keinerlei Sympathien für seinen Amtsbruder erkennen lässt. Die Beweggründe des Theodorus hierfür mögen dahingestellt bleiben.118 Aufgrund seiner

113 Vgl. ebd., 14, S. 152: „Agripinus namque iste, qui effugit a carcere, procul dubio gravi coactus iniuria, ad inruptionem rei publice inmissurus est barbaros.“ Zum Fall des Agrippinus vgl. MARTINDALE, John R. / JONES, Arnold, H. M. / MORRIS, John: The Prosopography of the Later Roman Empire, Bd. 2, Cambridge 1980, S. 37 f. 114 Vgl. Paulinus von Pella, Eucharisticos (wie Anm. 58), v. 540, S. 312; Hydatius, Chronica (wie Anm. 19), Prologus, 6, S. 74; Sidonius Apollinaris (wie Anm. 50), ep. III,4,2, S. 43; Chronica Gallica a. 452, ed. Richard W. Burgess, in: Society and Culture in Late Antique Gaul, hg. v. Ralph W. Mathisen und Danuta Shanzer, Aldershot 2001, S. 52–84, hier 138, S. 81. 115 Zur Restaurationspolitik Kaiser Justinians im Westen vgl. HALSALL, Barbarian Migrations 2007 (wie Anm. 1), S. 499–507. 116 Gregor von Tours, Decem libri Historiarum (wie Anm. 38), IV,8, S. 140. 117 Vgl. ebd., VI,24, S. 291: „Gunthchramnus vero dux adpraehensum Theodorum episcopum in custodia pro hac causa detrusit, repotans, cur hominem extraneum intromisisset in Galliis voluissetque Francorum regnum imperialibus per haec subdere ditionibus.“ 118 Möglicherweise war Theodorus in die Affäre um den Thronprätendenten Gundowald verstrickt, der mit kaiserlicher Unterstützung Anspruch auf Teilhabe an der Herrschaft im Merowingerreich

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emotionslosen bis ablehnenden Haltung gegenüber Versuchen, die kaiserliche Autorität auf dem Boden des einstigen westlichen Reichsteiles wiederherzustellen, kann es kaum mehr verwundern, dass Gregor den ‚Gotenkriegen‘ Justinians in Italien wenig Beachtung schenkt. Er streift die Kämpfe in Italien lediglich, indem er die Rolle der darin verwickelten Merowinger thematisiert.119 Nach den gescheiterten Bemühungen König Theudeberts I., in Oberitalien Fuß zu fassen, klagt Gregor gar, dass seitdem keiner [der Frankenkönige] mehr versucht habe, das Gebiet zurückzugewinnen.120 Offensichtlich hatte in den Augen des Touroner Bischofs das merowingische Frankenreich das Imperium Romanum als politischen Rahmen abgelöst; nicht nur dass sich Gregor mit den merowingischen Königen als reges nostri identifiziert,121 für seine Historien wählt er ferner die Regierungsjahre der Merowinger – und nicht die der (ost-)römischen Kaiser – als chronologisches Gerüst. Wenn sich Marius von Avenches, ein Zeitgenosse und Amtsbruder Gregors von Tours, der Konsulatsjahre und Indiktionen bedient, um sie seiner Chronik als chronologisches Gerüst zugrunde zu legen, dann ist dies weniger Ausdruck einer Identifikation mit der römischen Vergangenheit als vielmehr seinen Vorlagen, nämlich Konsularfasten aus Ravenna, geschuldet, deren Datierungssystematik Marius beibehält und für seine Zeit aus Zweckmäßigkeit adaptiert.122 Vielmehr beschreibt Marius mit der gleichen Distanz wie Gregor die Auseinandersetzungen in Oberitalien. Bezeichneten Ambrosius von Mailand im ausgehenden 4. und Hydatius im 5. Jahrhundert die Kriege des Imperiums mit den Goten aus römischer Sicht als „Goten-

erhob. Siehe dazu GOFFART, Walter: The Frankish Pretender Gundovald, 582–585. A Crisis of Merovingian Blood, in: Francia 39 (2012), S. 1–27. 119 Zur „Italienpolitik“ der Merowinger siehe BÜTTNER, Heinrich: Die Alpenpolitik der Franken im 6. und 7. Jahrhundert, in: Historisches Jahrbuch 79 (1960), S. 62–88; LÖHLEIN, Georg: Die Alpen- und Italienpolitik der Merowinger im VI. Jahrhundert (Erlanger Abhandlungen zur mittleren und neueren Geschichte 17), Erlangen 1932; HOLTZMANN, Robert: Die Italienpolitik der Merowinger und des Königs Pippin (Libelli 77), [1940] Darmstadt 1982; BEISEL, Fritz: Studien zu den fränkisch-römischen Beziehungen. Von ihren Anfängen bis zum Ausgang des 6. Jahrhunderts (Geschichtswissenschaftliche Beiträge 105), Idstein 1987; EWIG, Eugen: Die Merowinger und das Imperium (Rheinisch-Westfälische Akademie der Wissenschaften. Geisteswissenschaften. Vorträge G 261), Opladen 1983; SCHNEIDER, Reinhard: Fränkische Alpenpolitik, in: Die transalpinen Verbindungen der Bayern, Alemannen und Franken bis zum 10. Jahrhundert (Nationes 6), hg. v. Helmut Beumann und Werner Schröder, Sigmaringen 1987, S. 23–49. 120 Vgl. Gregor von Tours, Decem libri Historiarum (wie Anm. 38), IV,9, S. 140 f.: „Sub eo enim et Buccelenus, cum totam Italiam in Francorum regno redigisset, a Narsitae interfectus est, Italiam ad partem imperatoris captam, nec fuit qui eam ultra reciperet.“ 121 Vgl. Kapitelüberschrift zu ebd., IX,16, S. 413: „De legatione ipsius ad reges nostros.“ 122 Zu den Datierungssystemen der Chronik des Marius vgl. FAVROD, Justin: La Chronique de Marius dʼAvenches (455–581). Texte, traduction et commentaire (Cahiers Lausannois d’Histoire Médiévale 4), Lausanne 1991, S. 35–41, hier S. 37: „Pour comprendre la chronologie de Marius, il ne faut pas perdre de vue que Marius a fait une compilation de sources diverses.“

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kriege“, als bella Gothica,123 verkehrt sich bei Marius die Perspektive. Aus seiner Warte ist das Eingreifen der Frankenkönige in die italischen Kämpfe ein bellum Romanum, ein „Krieg mit den Römern“.124 Um zu der eingangs gestellten Frage zurückzukehren: Soweit die schmale Quellenlage ein Urteil erlaubt, war das Römische Reich für die merowingischen Historiound Hagiographen des 6. Jahrhunderts mehrheitlich kaum mehr ein identitätsstiftender bzw. -stabilisierender Bezugsrahmen, an dem sich zu orientieren man noch bereit war. Für die Iberische Halbinsel oder auch das römische Britannien hat die Forschung für das 5./6. Jahrhundert bereits seit Längerem ein Wegbrechen des Römischen Reiches als eines politischen Bezugspunktes konstatiert.125 Gleiches hat auch für Gallien zu gelten. Das Imperium Romanum wurde für die provinzialrömische Bevölkerung Galliens im ausgehenden 5. und 6. Jahrhundert als Bezugsrahmen immer weniger bedeutsam. Zahlreiche Ereignisse, die im 5. Jahrhundert noch als Erschütterung des orbis Romanus wahrgenommen wurden, sind für die merowingischen Geschichtsschreiber nur noch bedingt gesta memorabilia, zumal losgelöst von der Vorstellung eines ewigen, die damals bekannte Welt umspannenden, politisch definierten Imperiums.126 Eine Identifikation mit dem Römischen Reich als politischem Ordnungsrahmen ist in der merowingischen Historio- und Hagiographie des 6. Jahrhunderts kaum mehr – und eine mit dem Frankenreich noch nicht bzw. erst in Ansätzen – greifbar.127 Die Betonung einer vornehmlich civitas-basierten Identität im Gallien des 6. Jahrhunderts soll freilich keineswegs ausschließen, dass nicht bereits in römischer Zeit civitates und urbes, ja gar in keltisch-vorrömischer Zeit die oppida bedeutsam für die Selbstdefinition der Bewohner Galliens waren.128 Eine lokal begründete und eine rö-

123 Vgl. Ambrosius von Mailand, De fide ad Gratianum (wie Anm. 22), II,16,137, S. 104; Hydatius, Chronica (wie Anm. 19), 108, S. 94. 124 Vgl. Marius von Avenches, Chronica (wie Anm. 122), a. 548, a. 555, S. 236. 125 Vgl. DREWS, Wolfram: Goten und Römer als Gegenstand der Historiographie bei Isidor von Sevilla, in: Saeculum 53 (2002), S. 1–20, hier S. 6: „Wer aber tritt an die Stelle der entwerteten, gewissermaßen enterbten Römer? Für Isidor sind dies die Goten, denen [. . .] eine besondere heilsgeschichtliche Funktion zugewiesen wird.“ HALSALL, Barbarian Migrations 2007 (wie Anm. 1), S. 457: „[The western Empire] had fragmented into regional polities, in some areas quite small and based upon cities, as in Spain“. JONES, Michael E.: The End of Roman Britain, London 1996, S. 108–143, zusammengefasst S. 139: „My examination of the insular British literary sources reveals a substantially negative attitude toward the Roman past.“ Mit Blick auf die Schriften des heiligen Patrick konstatiert JONES, S. 120: „the negation of secular Rome that is symptomatic of its decline. [. . .] This Romano-Briton’s attitudes are a world apart from Roma Aeterna and the glory of the empire.“ 126 Zur Idee der Roma aeterna siehe PASCHOUD, Roma aeterna 1967 (wie Anm. 17). 127 Vgl. STADERMANN, Christian: Capud victuriarum vestrarum . . . Die Rezeption der Schlacht von Vouille im Jahre 507 in Quellen des 6. Jahrhunderts, in: Osten und Westen 400–600 n. Chr. Kommunikation, Kooperation und Konflikt (Roma Aeterna 4), hg. v. Carola Föller und Fabian Schulz, Stuttgart 2016, S. 99–116. 128 Vgl. LEWIS, Catrin: Gallic Identity and the Gallic civitas from Caesar to Gregory of Tours, in: Ethnicity and Culture in Late Antiquity, hg. v. Geoffrey Greatrex und Stephen Mitchell, London

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mische Identität schlossen einander nicht aus, d. h. die Menschen konnten sich sowohl über ihre Zugehörigkeit zu einer civitas als auch als Teil eines römischen Gemeinwesens definieren.129 Letzteres war offensichtlich ab dem ausgehenden 5. Jahrhundert immer seltener der Fall. John F. Drinkwater konstatierte kürzlich in einem Aufsatz, dass „authentic Roman ’provincial civilisation in Gaulʼ ended relatively early, in the late fifth and early sixth century, as the last generation of imperial subjects died off.“130 Im Prozess der Auflösung des Römischen Reiches und den damit einhergehenden Wirren wirkten zunehmend kleinere soziale Gruppen und kleinräumige Lebenskreise wie die civitates identitätsstiftend: „Gauls still clearly identified themselves by their civitas, native or adopted.“131 Bereits in den 1970er Jahren mutmaßte Eugen Ewig, dass sich die Menschen „[i]n den Stürmen des 5. und 6. Jahrhunderts [. . .] vielleicht noch enger als früher in den kleinen Lebenskreisen zusammen[schlossen]. Als mit dem Hisperium Regnum die kaiserlichen Diözesen und Provinzen versanken, bot die Civitas nicht nur äusseren Schutz, sondern auch einen Bezirk umhegten Lebens. Die Ortsheiligen vertraten die Stelle der alten Schutzgötter der Stadt, der Bischof die der Magistrate.“132 Der von Ewig beschriebene Entwicklungsprozess lässt sich in der merowingischen Geschichtsschreibung des 6. Jahrhunderts nachweisen. Deuteten Ambrosius, Ammianus, Paulinus, Salvianus oder Sidonius Apollinaris die Wirren ihrer Zeit als miserabile tempus auf einer Ebene, die das gesamte römische Staats- und Gemeinwesen einschloss, wurden jene Umbrüche im 6. Jahrhundert nur noch in ihren lokalen Auswirkungen für die eigene, eng umgrenzte Gemeinschaft erinnert. Die civitates boten Halt und Schutz in Krisenzeiten; an ihnen haftete die Suche nach Identifikation; sie lösten das Imperium Romanum als Bezugspunkt ab. Die eigene Vergangenheit wurde nicht mehr länger auf der Folie des Römischen Reiches memoriert: In politischer Hinsicht war die Einheit des einstigen Weltreiches verloren. Dies bedeutet mitnichten, dass nicht in anderen Lebensbereichen das römische Erbe die Vorstellungen der Menschen weiterhin leitete und somit das Imperium Romanum im Westen, wenn schon nicht als politische Einheit in den Vorstellungen der Menschen greifbar, weiterhin existierte. Ein Fortbestehen des Imperium Romanum ist

2000, S. 69–82. Zur Urbanisierung des römischen Galliens vgl. WOOLF, Greg: Becoming Roman. The Origins of Provincial Civilization in Gaul, Cambridge 1998, S. 106–141. 129 Vgl. GREATREX, Geoffrey: Roman Identity in the Sixth Century, in: Ethnicity and Culture in Late Antiquity, hg. v. Geoffrey Greatrex und Stephen Mitchell, London 2000, S. 267–289, hier insbesondere S. 268 f.; JOHNSTON, Andrew C.: The Sons of Remus. Identity in Roman Gaul and Spain, London u. a. 2017. 130 DRINKWATER, Un-becoming Roman 2013 (wie Anm. 5), S. 75. 131 Ebd., S. 62. 132 EWIG, Volkstum 1976 (wie Anm. 5), S. 231.

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auf verschiedenen Ebenen denkbar. Greg Woolf konstatierte, dass sich römische Identität im 5. Jahrhundert zwar „from any particular political membership“133 löste, aber weiterhin Möglichkeiten bestanden, sich „römisch“ zu definieren, beispielsweise kulturell oder religiös-christlich in einer paganen bzw. arianisch-homöischen Umwelt in den gentilen Nachfolgereichen. Als Romanus konnte man sich in multipler Weise mit dem Imperium Romanum identifizieren: politisch, indem man sich als Untertan eines römischen Kaisers und der von ihm bestellten Magistrate betrachtete, rechtlich als civis Romanus, der das römische Bürgerrecht besaß, ökonomisch als Teil eines mehr oder minder einheitlichen Wirtschaftsraumes, in dem die pax Romana einen weitgehend ungehinderten Warenverkehr garantierte und der sich durch eine das Imperium umspannende Währung auszeichnete,134 religiös, indem man Imperium Romanum und Christianitas gleichsetzte und so die Reichsgrenzen als Scheide zwischen heidnischer und christlicher Welt wahrnahm,135 oder kulturell, indem man die literarischen und architektonischen Leistungen der römischen Welt betonte, wobei jenseits von Rhein und Donau kulturund schriftlose Barbaren zu hausen schienen.136 Zwei Bereiche seien abschließend in gebotener Kürze noch angerissen: die Raum- und Kulturwahrnehmung im merowingischen Gallien des 6. Jahrhunderts. Noch über weite Strecken jenes Jahrhunderts blieben die Bezeichnungen für die römischen Verwaltungseinheiten in Gebrauch. In der bereits erwähnten Lebensbeschreibung der Genovefa von Paris ist von der tertia Lugdunensis die Rede.137 Das Wissen um die alten römischen Provinzbezeichnungen war noch immer lebendig. Dies unterstreicht die Zähigkeit dieser Bezeichnungen im Bewusstsein der Menschen noch im 6. Jahrhundert und besaß Auswirkungen auf deren Identität und Handlungen. Der in Chalon-sur-Saône geborene Caesarius erfuhr in seiner Bischofsstadt Arles Ablehnung, da man ihn wegen seiner „gallischen Herkunft“ (de Galliis) als fremd betrachtete.138 Dies impliziert ein Raumverständnis, das Arles als nicht zur Gallia zugehörig begreift. Dies ergibt nur dann Sinn, wenn man voraussetzt, dass dem die spätrömische Diözesenverfassung zugrunde lag, die Gallien in die

133 WOOLF, Becoming Roman 1998 (wie Anm. 128), S. 249. 134 Vgl. KLOFT, Hans: Die Wirtschaft der griechisch-römischen Welt, Darmstadt 1992, S. 236, zur ökonomischen Kontinuität zwischen antiker und mittelalterlicher Welt siehe ebd., S. 259 f. 135 Zur Gleichsetzung der Christianitas in ihrer Ausdehnung mit den Grenzen des Römischen Reiches siehe zum Beispiel Ambrosius von Mailand, De fide ad Gratianum (wie Anm. 22), II,16,139, S. 106. 136 Zum Prozess der Romanisierung in Gallien, der sowohl in materieller als auch in immaterieller Kultur Ausdruck fand, siehe WOOLF, Becoming Roman 1998 (wie Anm. 128), S. 206, S. 239–249. 137 Vgl. Vita s. Genovefae (wie Anm. 99), 45, S. 234. 138 Vgl. Vita sancti Caesarii episcopi Arelatensis libri duo, ed. Bruno Krusch, in: MGH SRM III, Hannover 1896, S. 433–501, hier I,3, S. 458; I,21, S. 465.

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dioecesis septem provinciarum, in der Arles lag, und die dioecesis Galliarum, der Chalon-sur-Saône zugehörte, gliederte.139 In der Wahrnehmung gentiler Gruppen wie Franken, Sachsen oder Goten wirkten in der merowingischen Geschichtsschreibung des 6. Jahrhunderts Traditionen der römischen Ethnographie nach, insofern Stereotype der klassisch-antiken Barbarentopik bemüht wurden.140 Der Autor der Lebensbeschreibung des Bischofs Orientius von Auch bezeichnet die fleischigen Tischsitten der Goten als mos barbarorum.141 In der Vita des Bischofs Bibianus von Saintes, verfasst in den 530er Jahren,142 werden die Westgoten als räuberisch, von der facula cupiditatis getrieben, charakterisiert. König Theoderid hatte den Bewohnern von Saintes Abgaben auferlegt, die diese zu leisten nicht willens oder nicht im Stande waren, woraufhin ihnen ihre Güter genommen und sie, in Ketten gelegt, verschleppt wurden.143 Die Topoi barbarischer rapacitas und aviditas behält der Autor nicht exklusiv den Goten vor, sondern wendet sie auch auf hostes Saxonum barbarorum an, welche das Gebiet von Saintes in ihrem amor depraedationis und ihrem furor vastationis geplündert hatten.144 Die Autoren der Mitte des 6. Jahrhunderts entstandenen Vita des Caesarius von Arles attestieren den Franken angelegentlich ihrer Belagerung von Arles eine ferocitas barbarorum.145 Caesarius selbst bemühte in einer Predigt, die er in Erinnerung an die Belagerung hielt, Passagen aus Quodvultdeusʼ von Karthago ‚De tempore barbarico.‘146

139 Zur Diözesanverfassung siehe NOETHLICHS, Karl Leo: Zur Entstehung der Diözese als Mittelinstanz des spätrömischen Verwaltungssystems, in: Historia 31 (1982), S. 70–81. 140 Zur Barbarentopik vgl. DAUGE, Yves Albert: Le barbare. Recherches sur la conception romaine de la barbarie et de la civilisation (Collection Latomus 176), Brüssel 1981; mit Blick auf Germanen siehe LUND, Allan A.: Zum Germanenbild der Römer. Eine Einführung in die antike Ethnographie, Heidelberg 1990. 141 Vgl. Vita s. Orientii (wie Anm. 83), 5, S. 62: „[. . .] more solito barbarorum, mensa magnis fuisset carnium ferculis onerata.“ 142 Vgl. LOT, Ferdinand: La Vita Viviani et la domination visigothique en Aquitaine, in: Mélanges Paul Fournier, hg. v. der Société d’histoire du droit, Paris 1929, S. 467–477. 143 Vgl. Vita sancti Bibiani vel Viviani episcopi Santonensis, ed. Bruno Krusch, in: MGH SRM III, Hannover 1896, S. 92–100, hier 4, S. 96: „Gothorum tempore, rege Theodoro dominante, Sanctonis civibus intolerabilis statueretur iniunctio, ita ut, amissis facultatibus, subderentur maxime statum perdere libertatis. Cumque ablatis opibus non solum mediocrium personarum, sed etiam cunctorum nobilium praesidium inhiantes, facula cupiditatis accensi, statuerunt, ut ad Tolosanam urbem cunctos in vinculis inmoderata praesumptione pertraherent, ut cum extorsissent vitam, ambitum rapinae suae intolerabili praesumptione complerent et, cessantibus incolis, quicquid inhiaverant, barbari possiderent.“ 144 Vgl. ebd., 7, S. 98. 145 Vgl. Vita s. Caesarii (wie Anm. 138), I,28, S. 467: „In hac obsidione monasterium, quod sorori seu reliquis virginibus inchoaverat fabricari, multa ex parte destruitur, tabulis ac cenaculis barbarorum ferocitate direptis pariter et eversis.“ 146 Vgl. Caesarius von Arles, Sermones, ed. Germain Morin (CCSL 103), Turnhout 1953, hier serm. 70, S. 295–299; vergleichend dazu Quodvultdeus von Karthago, De tempore barbarico II, ed. René Braun, in: CCSL 60, Turnhout 1976, S. 471–486, insb. II,5,7–11, S. 477.

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Am eindrücklichsten zeigt sich das Fortleben antik-römischer Vorstellungen von der Kulturlosigkeit der Barbaren in den Werken des aus Oberitalien stammenden, aber im Merowingerreich wirkenden Dichters Venantius Fortunatus. Wie einst Sidonius Apollinaris in seiner berühmten Invektive über burgundische Föderaten, die in seinem Haus einquartiert worden waren und ihm die Muse raubten,147 klagt Venantius Fortunatus ob der Kulturlosigkeit seiner barbarischen Begleiter auf einer Reise in die Pyrenäen, dass diese an seiner Dichtkunst weder Interesse zeigten, noch ihr Beifall spendeten, verstanden sie sich doch nur auf raues Krächzen. Das Schnattern der Gänse bedeutete ihnen ebenso viel wie der Gesang eines Schwanes, beschwert sich Venantius. Seine Begleiter, die er als stumpfsinnig und träge verschmäht, tranken, tobten und zechten. Nur der würde von ihnen akzeptiert, der es ihnen gleichtue.148 Venantius Fortunatus und all die namenlosen Vitenschreiber des 6. Jahrhunderts zeigen: Wenn das Imperium Romanum auch auf politischer Ebene seine Funktion als ordnungspolitischer Bezugsrahmen im 6. Jahrhundert eingebüßt hatte, lebte es doch „virtuell“ fort. Ein Ort dieses Fortlebens ist die von ihm gestiftete Raum- und Kulturwahrnehmung.

147 Vgl. Sidonius Apollinaris (wie Anm. 50), carm. 12, v. 1–19, S. 230 f.: „Quid me, etsi valeam, parare carmen / Fescenninicolae iubes Diones / inter crinigeras situm catervas / et Germanica verba sustinentem, / laudantem tetrico subinde vultu / quod Burgundio cantat esculentus, / infundens acido comam butyro? / Vis dicam tibi, quid poema frangat? / Ex hic barbaricis abacta plectris / spernit senipedem stilum Thalia / ex quo septipedes videt patronos. / Felices oculos tuos et aures / felicemque libet vocare nasum / cui non allia sordidaeque caepae / ructant mane novo dec apparatus, / quem non ut vetulum patris parentem / nutricisque virum die nec orto / tot tantique petunt simul gigantes, / quot vix Alcinoi culina ferret.“ 148 Vgl. Venantius Fortunatus, Carminum epistolarum expositionum libri undecim, ed. Friedrich Leo (MGH AA IV/1), Berlin 1881, hier Praefatio, 5, S. 2: „Quid inter haec extensa viatica consulte dici potuerit, censor ipse mensura, ubi me non urguebat vel metus ex iudice vel probabat usus ex lege nec invitabat favor ex comite nec emandabat lector ex arte, ubi mihi tantundem valebat raucum gemere quod cantare apud quos nihil disparat aut stridor anseris aut canor oloris, sola saepe bombicans barbaros leudos arpa relidens; ut inter illos egomet non musicus poeta, sed muricus deroso flore carminis poema non canerem, sed garrirem, quo residentes auditores inter acernea pocula salute bibentes insana Baccho iudice debaccharent. Quid ibi fabre dictum sit ubi quis sanus vix creditur, nisi secum pariter insanitur, quo gratulari magis est si vivere licet post bibere, de quo convivam thyrsicum non fatidicum licet exire, sed fatuum? Cum quantum ad mei sensus intellegentiam pertinet, quia se pigra non explicat, brutae animae ipsa ieiuna sunt ebria.“

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Unsichtbares oder sichtbares Imperium Romanum? Die römische Kaiserzeit in der fränkischen Historiographie Der Frage nach dem ‚unsichtbaren Imperium Romanum‘1 im Frühmittelalter, die, da Unsichtbares sich nur schwerlich enthüllen lässt, zugleich natürlich die Frage nach einer fortdauernden Sichtbarkeit des Imperiums in den Nachfolgereichen einschließt, soll hier nicht (mehr) im Sinne von Kontinuität und Transformation antik-römischer Strukturen verfolgt werden, die – offen oder verdeckt – bei gleichzeitigen, beträchtlichen Wandlungen weiterwirken und denen sich das ESF-Projekt „The Transformation of the Roman World“ gewidmet hatte.2 Sie zielt, auf das Frankenreich beschränkt, vielmehr auf deren Niederschlag in der Wahrnehmung der fränkischen Geschichtsschreiber ab: Ist das Imperium Romanum ganz aus den Vorstellungen frühmittelalterlicher Chronisten verschwunden oder hat man noch eine irgendwie sichtbare Vorstellung davon?3 Es geht mit anderen Worten also nicht um das Fortwirken des Imperiums, sondern um das fränkische Bewusstsein (oder aber eine ‚Bewusstlosigkeit‘) eines solchen Fortwirkens, und zwar vor dem Hintergrund der Überzeugung, dass letztlich nur das aktiv wirksam werden kann, was den Menschen auch bewusst ist. Um hier eine gewisse Breite zu gewährleisten und gegebenenfalls eine Entwicklung – man möchte annehmen: im Sinne eines weiter schwindenden Rombezugs – feststellen zu können, sollen verschiedene Autoren der Merowinger- und Karolinger-

1 Diese Studie ist einer ständigen, aktuellen Überarbeitung unterlegen gewesen. War eine Woche vor dem Vortrag ein Zeitschriftenheft zum Thema „Romanness“ erschienen (vgl. Anm. 6), so wurden während der Überarbeitung für den Druck bis zuletzt gleich mehrere einschlägige Arbeiten publiziert (vgl. den Ergebnisband eines HERA-Projekts in Anm. 7) und jüngst die Studie von Helmut Reimitz (wie Anm. 13). Die zwischen Abgabe und Drucklegung erschienene Literatur konnte nur noch sporadisch einbezogen werden. 2 Hier sei lediglich auf die Ergebnisbände des Projekts in der gleichnamigen Reihe verwiesen. Ich halte daran fest, dass es sich um Transformationen von unterschiedlicher Schnelligkeit (oder Langsamkeit) und weder um ungebrochene Kontinuitäten noch gar um einen krassen, klar feststellbaren Bruch handelt, wie es in jüngerer Zeit wieder WARD-PERKINS, Bryan: The Fall of Rome and the End of Civilization, Oxford 2005 (deutsche Fassung: Der Untergang des Römischen Reiches und das Ende der Zivilisation, Darmstadt 2007), und HEATHER, Peter: The Fall of the Roman Empire, London 2005 (deutsche Fassung: Der Untergang des Römischen Weltreichs, Reinbek bei Hamburg 2010), postuliert haben. 3 Dass der Fall Roms keineswegs einen sofortigen Verlust des Rombewusstseins nach sich zog, betonen jetzt die das 5. Jh. betreffenden Beiträge in: Der Fall Roms und seine Wiederauferstehungen in Antike und Mittelalter, hg. v. Henriette Harich-Schwarzbauer und Karla Pollmann (MillenniumStudien 40), Berlin/Boston 2013. – Vgl. auch SCHOLTEN, Helga: Römische Kommunikationsräume bei Salvian von Marseille und Christian STADERMANN, Der Primat lokaler Identitäten im merowingischen Gallien des 6. Jahrhunderts, in diesem Band. https://doi.org/10.1515/9783110623598-010

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zeit betrachtet werden. Dennoch bleibt vorab zu betonen, dass die Historiographie nur einen möglichen, auf ein Geschichtsbewusstsein abhebenden Zugang zur Antikenrezeption bietet. Welche Rolle Rom und die römische Kultur und Literatur im Rahmen der so genannten Karolingischen Renaissance gespielt haben,4 ist, bei aller Problematik des Begriffs und des Charakters dieses Phänomens, bekannt.5 Auch wenn das Ziel dieses Kulturschubs sicherlich nicht eine Wiederbelebung der römischen Kultur, sondern eine allgemeine, christliche, kulturelle Erneuerung und eine correctio des Verbesserungswerten gewesen ist, spielen die römischen Grundlagen darin eine kaum zu bezweifelnde Rolle. Das Interesse an altrömischen Autoren war immerhin so groß, dass uns deren Werke bekanntlich in aller Regel überhaupt nur durch die frühmittelalterlichen Abschriften erhalten geblieben sind. In jüngster Zeit ist man – von anderer Seite her – in einem thematisch ausgerichteten Zeitschriftenheft ausführlich unmittelbar der Frage einer „Romanness“ der nachrömischen Jahrhunderte, vor allem als Identitätskriterium, nachgegangen.6 Dabei betonen sämtliche Autoren noch einmal die Bedeutung Roms.7 4 Von den zahlreichen Arbeiten zur ‚Karolingischen Renaissance‘ seien exemplarisch genannt: FLEJosef: Die Bildungsreform Karls des Großen als Verwirklichung der norma rectitudinis, Bigge 1953; CONTRENI, John J.: The Carolingian Renaissance, in: Renaissances Before the Renaissance. Cultural Revivals of Late Antiquity and the Middle Ages, hg. v. Warren Treadgold, Stanford 1984, S. 59–74; BROWN, Giles: Introduction: the Carolingian Renaissance, in: Carolingian Culture: Emulation and Innovation, hg. v. Rosamond McKitterick, Cambridge 1994, S. 1–51; STROTHMANN, Jürgen / JAKOBIMIRWALD, Christine / SCHUPP, Volker: Karolingische Renaissance, in: Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike. Rezeptions- und Wissenschaftsgeschichte Bd. 14, Stuttgart/Weimar 2000, S. 816–835. 5 Zur Problematik des Begriffs vgl. etwa TROMPF, Garry W.: The Concept of the Carolingian Renaissance, in: Journal for the History of Ideas 34 (1973), S. 3–26; NELSON, Janet L.: On the Limits of the Carolingian Renaissance, in: DIES.: Politics and Ritual in Early Medieval Europe, LondonRonceverte 1986, S. 49–67 (Erstdruck: Studies in Church History 14 [1977], S. 51–67); DEPREUX, Philippe: Ambitions et limites des réformes culturelles à l’époque carolingienne, in: Revue historique 623 (2002), S. 721–753. Wenn ‚Renaissance‘ heute allerdings zunehmend durch correctio oder ‚Erneuerung‘ ersetzt wird, dann ist damit letztlich nur ein Teil des gesamten Phänomens erfasst, der auch die hier betrachtete Problematik unangemessen ausklammert. 6 Being Roman After Rome, in: Early Medieval Europe 22/4 (2014), S. 387–505, mit Artikeln von MCKITTERICK, Rosamond: The Pleasures of the Past: History and Identity in the Early Middle Ages (S. 388–405); POHL, Walter: Romanness: a Multiple Identity and its Changes (S. 406–418); POLLHEIMER, Marianne: Preaching Romanness in the Early Middle Ages: the Sermon De litaniis from the Eusebius Gallicanus Collection (S. 419–432); FISCHER, Andreas: Reflecting Romanness in the Fredegar Chronicle (S. 433–445); GANTNER, Clemens: Romana urbs: Levels of Roman and Imperial Identity in the City of Rome (S. 461–475); WARD, Graeme: All Roads Lead to Rome? Frechulf of Lisieux, Augustine and Orosius (S. 492–505). Der Band Transformations of Romanness. Early Medieval Regions and Identities, hg. v. Walter Pohl, Clemens Gantner, Cinzia Grifoni und Marianne Pollheimer-Mohaupt (Millennium-Studien 71), Berlin/Boston 2018 war mir bei der letzten inhaltlichen Durchsicht noch nicht zugänglich. 7 Ähnlich auch POHL, Walter: Creating Cultural Resources for Carolingian Rule: Historians of the Christian Empire, in: The Resources of the Past in Early Medieval Europe, hg. v. Clemens Gantner, Rosamond McKitterick und Sven Meeder, Cambridge 2015, S. 15–33, der auf Reminiszenzen an das Imperium CKENSTEIN,

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Diesem Befund entspricht nach den bisherigen, wenngleich überwiegend älteren, weithin übereinstimmenden Forschungen jedoch offenbar kein sich in der fränkischen Chronistik niederschlagendes Wissen über die römische Geschichte: Das Interesse der Christen an der römischen Vergangenheit, so lautet bislang das fast einhellige Urteil, war recht gering8 (und an diesem Forschungsstand wird auch dieser Beitrag nicht prinzipiell rütteln). Zu einer anderen Einschätzung ist in jüngerer Zeit, wenn auch nur als Nebenaspekt ihrer Untersuchung, allein Rosamond McKitterick gelangt, die nicht nur auf die karolingischen Handschriften römischer Autoren verweist,9 sondern auch Rom und der römischen Geschichte mehr Bedeutung zuweist: „Rome is present to a considerable degree“.10 Die Frage bedarf also einer erneuten Prüfung. Dabei ist den fränkischen Autoren ein Geschichtsbewusstsein

Romanum in Gesetzbüchern, Briefen und Exegese (S. 16 f.), auf die Abschriften römischer Geschichtsschreiber und die Abfassung „römischer Geschichten“ (in Italien: Jordanes und Paulus Diaconus) verweist (S. 21 ff.) und die römische Geschichte als Leitfaden für karolingische Herrscher betrachtet. 8 Zum mittelalterlichen Bild der alten Geschichte vgl. etwa REHM, Walther: Der Untergang Roms im abendländischen Denken. Ein Beitrag zur Geschichtsschreibung und zum Dekadenzproblem (Das Erbe der Alten. Schriften über Wesen und Wirkung der Antike, Reihe 2, Heft 18), Leipzig 1930 (der das frühe Mittelalter aber ganz überspringt); LANDSBERG, Fritz: Das Bild der alten Geschichte in mittelalterlichen Weltchroniken, Diss. Basel, Berlin 1934; ADAMEK, Josef: Vom römischen Endreich der mittelalterlichen Bibelerklärung, Diss. München, Würzburg 1938; FICHTENAU, Heinrich: Vom Verständnis der römischen Geschichte bei deutschen Chronisten des Mittelalters, in: Festschrift Percy Ernst Schramm, zu seinem siebzigsten Geburtstag von Schülern und Freunden zugeeignet, Bd. 1, Wiesbaden 1964, S. 401–419. Zu Assoziationen an das antike Rom im frühmittelalterlichen England vgl. jetzt ausführlich COZ, Yann: Rome en Angleterre. L’image de la Rome antique dans l’Angleterre anglosaxonne du VIIe siècle à 1066 (Bibliothèque d’histoire médiévale 5), Paris 2011. Der jüngst erschienene Sammelband L’imperium Romanum en perspective. Les savoirs d’empire dans la République romaine et leur héritage dans l’Europe médiévale et moderne, hg. von Julien Dubouloz, Sylvie Pittie und Gaetano Sabatini, Toulouse 2014, blickt nicht auf die römische Kaiserzeit, sondern auf die Republik und spart (entgegen dem Titel) die Rezeption im abendländischen Mittelalter aus. Der Frage nach der Wahrnehmung des Endes des Römischen Reiches bzw. des Fehlens römischer Herrschaft ist in der Zwischenzeit nicht anhand der Historiographie, sondern der merowingerzeitlichen Briefe aus Gallien SARTI, Laury: Die langsame Scheidung vom Imperium. Wahrnehmung und Bewältigung im Zeugnis gallo-fränkischer Briefe (476 bis 800), in: Die Darstellung von Kontingenz und ihre Bewältigung, hg. v. Matthias Becher und Hendrik Hess (im Druck), nachgegangen. Ich danke Laury Sarti herzlich für die mir gewährte Vorabeinsicht in diesen Beitrag. 9 MCKITTERICK, Rosamond: History and Memory in the Carolingian World, Cambridge 2004, die Liste auf S. 40 sowie S. 196 ff. zum Kloster Lorsch. Ansonsten geht es McKitterick in ihrem Buch eher um die eigene (fränkische) Vergangenheit, ein fränkisch-karolingisches Bewusstsein und eine „collective memory“. 10 MCKITTERICK, Rosamond: The Franks and Rome, in: DIES.: Perceptions of the Past in the Early Middle Ages, Notre Dame 2006, S. 35–61, das Zitat S. 38, bezieht sich auf die sogenannte Universalchronik von 741, schließt aber auch Ado von Vienne und Regino von Prüm ein. Vgl. ebd. S. 41: „Ado of Vienne and Regino of Prüm provide a distinctive and well-developed Roman theme in their narratives.“ Manche Abschnitte beziehen sich allerdings auf die Stadt Rom und den ‚Liber pontificalis‘. Vgl. auch ebd. S. 51–56 zu Martyrologien und Reliquien.

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und ein Interesse an der Vergangenheit kaum abzusprechen:11 „The Franks defined themselves in terms of their history.“12 Das hat jüngst auch Helmut Reimitz in seiner gründlichen Untersuchung der fränkischen Historiographie bestätigt,13 dem es jedoch ebenfalls um die Ausbildung einer „fränkischen Identität“ geht und der folglich eher umgekehrt nach der Abgrenzung von Rom fragen muss.14 Dennoch, so scheint es (auch bei McKitterick), ist das „Römische“ nicht mehr Angelpunkt fränkischer Identität: Weder ist das Reich (mit seinen Grenzen) mehr das römische Imperium, noch ist das politische Bewusstsein auf das antike Rom ausgerichtet. Ein römisches Element ist daher allenfalls unterschwellig zu vermuten, und da die widerspenstigen Chronisten nirgends unmittelbar von einem imperium Romanum invisibile künden, ist hier ein indirekter Zugang zu wählen. Höchst exemplarisch geht der folgende Beitrag deshalb drei Fragen nach: In einem ersten Abschnitt soll untersucht werden, was denn in wichtigen fränkischen Chroniken überhaupt noch von der römischen Kaisergeschichte als erwähnenswert angesehen wird und somit als ‚memorabel‘ gilt (denn das wäre bekanntlich ein wesentliches Auswahlkriterium im Selbstverständnis mittelalterlicher Historiographen). Deshalb sollen hier nur solche Chroniken ausgewertet werden, die, anders als beispielsweise die großen karolingischen Annalen, Abschnitte über die römische Geschichte enthalten. In einem zweiten Abschnitt ist dann für die Folgezeit (einschließlich der Abfassungszeit der Autoren) zu fragen, ob Byzanz, das sich selbst zweifellos noch in der Nachfolge des Imperium Romanum gesehen hat, von den fränkischen Autoren ebenfalls in dieser Rolle wahrgenommen wird. In einem dritten Abschnitt soll zusammengestellt werden, welche Reminiszenzen an das römische Imperium es denn in der nachrömischen bzw. eigenen Zeit noch gibt, sei es, dass von Römern oder vom Imperium die Rede ist (und was das noch bedeutet), sei es, dass historische oder figurale Vergleiche zur eigenen Zeit gezogen werden. Entsprechend sind im Folgenden nur solche Quellen berücksichtigt, die, anders als etwa Frechulf von Lisieux, ihren Bericht bis in die Gegenwart fortführen. Bei solcher

11 Vgl. dazu GOETZ, Hans-Werner: Vergangenheitswahrnehmung, Vergangenheitsgebrauch und Geschichtssymbolismus in der Geschichtsschreibung der Karolingerzeit, in: Ideologie e pratiche del reimpiego nell’alto medioevo (Settimane di studio del centro italiano di studi sull’alto medioevo 46), Spoleto 1999, S. 177–225. 12 So der resümierende Schlusssatz bei MCKITTERICK, History and Memory 2004 (wie Anm. 9), S. 283. Diese Geschichte war in der Karolingerzeit jedoch vor allem die fränkische Geschichte; vgl. ebd. S. 84–119 („The Carolingians on their Past“). 13 REIMITZ, Helmut: History, Frankish Identity and the Framing of Western Ethnicity, 550–850 (Cambridge Studies in Medieval Life and Thought. Fourth Series), Cambridge 2015, zu den merowingischen und frühkarolingischen Autoren (Ado und Regino behandelt Reimitz nicht mehr). 14 Nach der Darstellung der eigenen („barbarischen“) Geschichte fragt auch die jüngst erschienene kanadische Dissertation von GHOSH, Shami: Writing the Barbarian Past. Studies in Early Medieval Historical Narrative (Brill’s Series on the Early Middle Ages 24), Leiden/Boston 2016, die das Bild der römischen Geschichte daher ebenfalls nur streift.

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Auswahl beschränkt sich die Quellenbasis auf nur vier Chronisten, nämlich: Gregor von Tours am Ende des 6. und den sogenannten Fredegar aus der Mitte des 7. Jahrhunderts, Ado von Vienne aus dem 9. und Regino von Prüm vom Beginn des 10. Jahrhunderts. Mit den genannten Ansätzen hoffe ich zu erschließen, ob das Imperium Romanum Vergangenheit (oder gar ganz vergessen) ist oder ob es in der Gegenwart noch irgendeine (und gegebenenfalls welche) Bedeutung hat.

1 Die römische Kaisergeschichte in der fränkischen Geschichtsschreibung Schon dem am Ende des 6. Jahrhunderts schreibenden Gregor von Tours15 wird man kaum mehr ein gesteigertes Interesse an der römischen Geschichte bescheinigen können. Dem sechsten König der Römer, Servius, lässt er im nächsten Kapitel gleich Iulius Caesar als imperator primus folgen, „qui tutius imperii obtenuit monarchiam“.16 Gregor registriert also immerhin noch die Begründung des Kaisertums (bereits durch Caesar), bietet im Anschluss jedoch keine Folge der Kaiser (die er leicht seinen Vorlagen Hieronymus oder Orosius hätte entnehmen können), sondern erwähnt sie nahezu ausschließlich im Zusammenhang mit dem eigentlichen Thema seines ersten Buchs: den Christenverfolgungen und der Christianisierung. In die Herrschaft des Augustus fiel die Geburt Christi,17 in die Zeit des Tiberius Christi Tod18 usw. Dem folgen (ausschließlich und doch unvollständig) die Christenverfolgungen unter Nero, Domitian, Trajan, Valerian und Gallienus sowie Diocletian,19 aber auch hier geht es Gregor vor allem

15 Von den zahlreichen Forschungen zu Gregor von Tours seien hier nur genannt: GOFFART, Walter: The Narrators of Barbarian History (A.D. 550–800). Jordanes, Gregory of Tours, Bede, and Paul the Deacon, Princeton, New Jersey 1988; HEINZELMANN, Martin: Gregor von Tours (538–594). „Zehn Bücher Geschichte“. Historiographie und Gesellschaftskonzept im 6. Jahrhundert, Darmstadt 1994; sowie jüngst zur Frage des Zusammenhangs von Geschichtsschreibung und (fränkischer) Identität REIMITZ, History 2015 (wie Anm. 13), S. 27–123. Zum Hintergrund jetzt: A Companion to Gregory of Tours, hg. v. Alexander C. Murray (Brill’s Companions to the Christian Tradition 63), Leiden/Boston 2016. 16 Gregor von Tours: Historiae I,17 f., ed. Bruno KRUSCH und Wilhelm LEVISON, MGH SRM 1, Hannover 1951, S. 16. Gregors Vorlage, die Chronik des Hieronymus, ed. Rudolf HELM, Eusebius Werke 7. Die Chronik des Hieronymus (Die griechischen christlichen Schriftsteller der ersten Jahrhunderte 47 / Eusebius 7), S. 156, spricht von „imperium“ statt „monarchiam“. „Monarchia“ ist der Chronik des Orosius entnommen; vgl. unten Anm. 59. 17 Gregor von Tours, Historiae I,19 (wie Anm. 16), S. 17 (im 43. anstatt, wie bei Hieronymus, Orosius und weithin üblich, im 42. Herrschaftsjahr des Augustus). Die Diskrepanz rührt vermutlich daher, dass der Eintrag bei Hieronymus nicht eindeutig einem der beiden Jahre zuzuordnen ist. 18 Ebd. I,24, S. 19. 19 Ebd. I,25, S. 20 (Nero); I,26, S. 20 (Domitian); I,27, S. 21 (Trajan) – Hadrian stellte Jerusalem wieder her (ebd. I,28, S. 21) –; I,30, S. 22 (Decius); I,32, S. 24 (Valerian und Gallienus); I,35, S. 26 (Diocletian). Alle Angaben folgen der Chronik des Hieronymus (wie Anm. 16, S. 185, 192, 194, 218, 220 und 227),

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um die Märtyrer. Erst Konstantin gab den Kirchen (mit Orosius) den Frieden zurück;20 Theodosius setzte seine ganze Hoffnung auf Gott.21 Man darf daher schließen, dass Gregor trotz seiner senatsaristokratischen Herkunft die Geschichte des Imperiums herzlich wenig interessiert, auch wenn er die Kaiser, soweit er sie nennt, durchnummeriert (also eine vollständige Kaiserliste verfügbar haben musste).22 Das Imperium Romanum ist ihm lediglich historische Folie für seine Christengeschichte und chronologischer Anhaltspunkt zur Datierung der Ereignisse,23 aber auch bei der Zählung der seit der Schöpfung abgelaufenen Zeit bildet das Imperium keinen Einschnitt. Nach der Passion Christi springt Gregor bei der Zählung der Etappen gleich nach Gallien (Martin von Tours) und ins Frankenreich (zum Tod Chlodwigs).24 Helmut Reimitz spricht jetzt sogar zutreffend gar von einer „deconstruction of the Romans“.25 Ein Ende des Römischen Reichs vermerkt Gregor jedoch nicht.26 Ein gutes halbes Jahrhundert später gewinnt das bei dem sogenannten Fredegar etwas andere Konturen.27 Fredegar, der die synoptischen Reichsspalten bei Eusebius-Hieronymus wieder zugunsten von ‚Jahresberichten‘ auflöst,28 berücksichtigt

der Gregor seinerseits eine Christenverfolgung in Gallien hinzufügt (Historiae I,29, S. 21 f.), während er vier römische Christenverfolgungen übergeht. 20 Ebd. I,36, S. 26 (nach Orosius, Historiae adversum paganos VII,28,15, ed. Carl Zangemeister (CSEL 5), Wien 1882 [Nachdruck Hildesheim 1967], S. 502; neu ed. Marie-Pierre Arnaud-Lindet, 3 Bde. (Collection des Universités de France), Paris 1990/1991, Bd. 3, S. 76). 21 Gregor von Tours, Historiae I,42 (wie Anm. 16), S. 28: „qui omnem spem suam et fidutiam in Dei misericordia ponit“. Dazwischen zwang Kaiser Valens die Mönche zum Kriegsdienst und wurde zur Strafe von den Goten getötet; ebd. I,41, S. 28. 22 So ist Valerian der 27., Diocletian der 33., Konstantin der 34. Kaiser. 23 Zum Beispiel Gregor von Tours, Historiae I,48 (wie Anm. 16), S. 32, zum Tod des heiligen Martin im 2. Jahr der Kaiser Arcadius und Honorius. Auch die Erhebung der frühen Bischöfe von Tours (ebd. X,31, S. 526 ff.) wird in Gregors Aufstellung mehrfach nach dem Regierungsjahr der Kaiser datiert. 24 Ebd. II,43, S. 93. 25 REIMITZ, History 2015 (wie Anm. 13), S. 70 f. 26 Vgl. auch ebd. S. 13, der zugleich aber die „Diskontinuität“ betont (ebd. S. 119). 27 Fredegar: Chronicon, ed. Bruno Krusch, MGH SRM 2, Hannover 1888. Zu Fredegar und zur schwierigen Quellenkritik, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann, vgl. vor allem COLLINS, Roger: Fredegar (Authors of the Middle Ages. Historical and Religious Writers of the Latin West IV,13), Aldershot/Brookfield 1996, S. 73–138, und DERS., Die Fredegar-Chroniken (MGH Studien und Texte 44), Hannover 2007. Zu Fredegars Verständnis des Römertums vgl. jüngst FISCHER, Reflecting Romanness (wie Anm. 6), der die Wertschätzung der römischen Kultur seitens Fredegars hervorhebt, zugleich aber betont, dass „Romanness“ für Fredegar auch ohne Rom möglich war und tatsächlich im Frankenreich weiterlebte. Zur Identität und zu seiner Haltung zur Ethnizität vgl. REIMITZ, History 2015 (wie Anm. 13), S. 166–239, der von einem längeren Entstehungsprozess der Chronik ausgeht und zu Recht die Unterschiede zu Gregor betont. 28 Wie REIMITZ, History 2015 (wie Anm. 13), S. 212 ff., nachweist, ist das allerdings nicht in allen Handschriften der Fall.

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mit seiner Quelle, dem ‚Liber generationis‘ Hippolyts,29 schon die mit Aeneas beginnende Frühgeschichte der Latini qui et Romani30 (als Nachkommen Japhets) – mit Ascanius’ Sohn Iulius wird für Fredegar das Geschlecht der Iulier begründet und damit eine Kontinuitätslinie zur Kaiserzeit gezogen31 –; er behandelt die altrömischen Könige nach der Gründung der Stadt durch Romulus und Remus32 und fügt dem ersten Chronikbuch eine Liste der imperatores Romani von Augustus bis Severus Alexander mit ihren Regierungszeiten nach Jahren, Monaten und Tagen an.33 Eine zweite Liste reicht von Augustus („Regnabat illo in tempore nomen emperiae Octavianus Agustus“) bis Diocletian, setzt sich fort mit den christlichen Kaisern in Konstantinopel (Constantinopole emperati christiani) von Konstantin bis Herakleios und berücksichtigt hier nach der Reichsteilung unter die Söhne des Theodosius nur die oströmischen Kaiser,34 die folglich zwar in Kontinuität zu den römisch-christlichen Kaisern gesehen, aber durch die neue Überschrift und die Verlegung der Hauptstadt nach Konstantinopel dennoch als Zäsur empfunden werden. Auch die Zeitberechnungen (Epochen) orientieren sich jetzt teilweise an den Kaisern.35 Im Chronikbericht selbst lässt Fredegar, offenbar in Gleichsetzung des imperium als militärischem Oberbefehl mit dem Kaisertum Letzteres zum einen bereits mit Lukullus („Lucullus primus imperator appellatus est“),36 zum andern, als Alleinherrschaft, mit Caesar beginnen („Gaius Iulius Caesar primus Romanis singulare obtenuit imperium“),37 der als erster auch schon den Titel princeps annahm,38 während sich seit Octavian, „qui primum Agustus Caesar appellatus est“ und angeblich 56 ½ Jahre geherrscht hat,39 alle „Könige der Römer“ Augustus

29 Kapitel I,1–24 sind nahezu wörtlich dem ‚Liber generationis‘entnommen. 30 Vgl. Fredegar, Chronicon I,5 (wie Anm. 27), S. 21, sowie ebd. II,8 f., S. 47: „Latini, qui postea Romani nuncupati sunt.“ 31 Ebd. II,9, S. 47, und noch einmal II,14, S. 49. 32 Ebd. II,16 ff., S. 49 ff. 33 Ebd. I,24, S. 32 f. 34 Ebd. I,26, S. 41 f. 35 Ebd. I,26, S. 40: Von Adam bis zur Geburt Christi unter Octavianus Augustus vergingen 5500 Jahre, von der Passion Christi im 15. Jahr des Tiberius bis zu den Konsuln Konstantin und Rufus vergingen 430 Jahre (ebd. I,24, S. 34), von Adam bis Konstantin 5806 und bis Heraklius – mit ganz offensichtlich falscher, demgegenüber viel zu kleiner Zahl – 5149 Jahre (ebd. I,26, S. 42). Zum Tod des Valens zählt Fredegar erneut die (römische und biblische) Zeit (ebd. II,49, S. 69): 240 Jahre unter Königen, 464 Jahre unter Konsuln, 427 Jahre unter Kaisern („sub augustis et cesaribus“). Später übergeht Fredegar die Kaiser und zählt, wie Gregor, mit den Merowingerkönigen (Chlodwig, Theudebert, Sigebert) weiter. 36 Ebd. II,31, S. 54 (wörtlich der Chronik des Hieronymus, wie Anm. 16, S. 152 entnommen). Der zweite Imperator war Pompeius. 37 Ebd. II,32, S. 55. 38 Ebd.: „Romanorum princeps appellatus primus Gaius Iulius Caesar“. 39 Seine Herrschaft hätte demnach bald nach Caesars Tod im Jahre 43/42 v. Chr. und nicht erst im Jahre 31 (Beginn des Dauerkonsulats) oder 29 v. Chr. (Prinzipat) begonnen.

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nennen.40 Gestützt auf Hieronymus, zählt Fredegar im Folgenden nicht nur alle römischen Kaiser seit Augustus auf, sondern er nummeriert sie auch durch (Trajan ist der 11., Konstantin der 34., Theodosius der 39. Kaiser usw.). Im Gegensatz zu Gregor bietet er eine ziemlich lückenlose Kaiserreihe.41 Die Nachrichten sind im Einzelnen zwar nicht üppig, beschränken sich, anders als bei Gregor, aber keineswegs auf das Christliche (wenngleich auch Fredegar die Christenverfolgungen aufführt); nicht zuletzt die Bautätigkeit der Kaiser scheint ihm wichtig zu sein, wie die Errichtung Konstantinopels durch Konstantin, des ersten christlichen Kaisers („effectusque est christianus ab Helena“). Die Kreuzauffindung wird ihm mit Helena zusammen, die Erfolge werden seinem Christentum zugeschrieben („per signum crucis omnes gentes superat“).42 Fredegar erwähnt aber auch die Häresie (impietas Arriana) seiner Söhne Constantius und Constans,43 das Heidentum des Apostaten Julian44 und (natürlich) die Unterwerfung der Franken. Nach der Reichsteilung unter die Söhne des Theodosius nummeriert Fredegar nach Ost- und Westkaisern gemeinsam (sofern sie nicht nur caesares waren) – Arcadius und Honorius waren gemeinsam der 40., Theodosius II. der 41.,45 Markian der 42. Kaiser46 –, datiert aber nach den „Monarchen“ im Osten.47 Als letzter Kaiser wird Anthemius (als 46. seit Augustus) verzeichnet. Fredegar verfolgt die römische Geschichte und die seiner Imperatoren demnach weit intensiver als Gregor, und er endet auch keineswegs wie jener in einer ausführlichen Zeitgeschichtsschreibung, sondern schreibt ‚Weltgeschichte‘, in der das Imperium allerdings nur ein Reich von mehreren ist. Ein Ende des weströmischen Kaisertums oder gar den „Fall Roms“ vermerkt auch Fredegar nicht, sondern berichtet ohne Bezug darauf einfach über die neuen Herrschaften in Italien, der Franken, Burgunder, Westgoten und Vandalen48 und erweckt dadurch den Eindruck eines geradezu fließenden Übergangs. 40 Ebd. II,33, S. 55: „Romanorum secundus post Iulium singulare Octavianus adsumpsit imperium, qui primum Agustus Caesar appellatus est; [. . .] per quem Augusti appellati sunt reg. Romanorum.“ Nur der letzte Satz entstammt der Chronik des Hieronymus (wie Anm. 16, S. 157). 41 Ebd. II,33, S. 55, bis II,56, S. 77. Diocletian ließ sich erstmals als Gott verehren (ebd. 41, S. 65). 42 Ebd. II,42, S. 66. 43 Vgl. ebd. II,44, S. 67: „Omnes paene tunc totus urbis aeclesiae sub nomine pacis et legis Arrianorum consortio polluuntur.“ 44 Ebd. II,44, S. 67; zur „Christenverfolgung“ des Valens vgl. ebd. II,45, S. 68. Da Konstantin die Verchristlichung des Reichs zugeschrieben wird, bildet Theodosius (ebd. 50, S. 70) für Fredegar keinen Einschnitt mehr, auch die Rückkehr zum Katholizismus wird nicht erwähnt. 45 Ebd. II,50, S. 70/72. Die Regierungszeit Theodosius’ II. lässt er dabei mit dem Tod des (Westkaisers) Honorius beginnen. 46 Ebd. II,52, S. 73, und noch einmal, fälschlich als 43. Kaiser, ebd. II,54, S. 75. Ebd. II,53, S. 75, aber wird schon Maximian als 43. Kaiser eingeführt. 47 Der 45. Kaiser Severus trat seine Herrschaft im 5., der 46. Kaiser Anthemius im 8. Jahr Kaiser Leos an (ebd. II,56, S. 77). 48 Ebd. II,57–59, S. 78–83.

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Erzbischof Ado von Vienne (Erzbischof 860–875), der seine Weltchronik um 869 verfasst hat,49 hat von der älteren Forschung eine nicht gerade günstige Beurteilung erfahren. Er sei kein „Profanhistoriker“, sondern „Historiograph des Heilsgeschehens“, der sich über Rom, die Weltreiche und das Kaisertum keinerlei Gedanken gemacht habe,50 ein „geschulter und guter Theologe, aber im Grund ein ziemlich hilfloser Historiker“,51 der „heilsgeschichtliche[n] Blickrichtungen bis zur Aufhebung geschichtlichen Verständnisses verschärft“.52 Selbst Heinz Löwe hält die geringe Verbreitung für „nicht weiter erstaunlich“53 (und legt dabei folglich unangemessen moderne Kriterien an). Gewiss messen solche Urteile mehr an den eigenen Erwartungen als an Ados Intentionen. In Nachfolge des Aphrikanos will Ado selbst in seiner nach den sechs aetates gegliederten Chronik „breves temporum per generationes et regna“ darlegen,54 und in diesem Rahmen findet die römische Geschichte durchaus sein Interesse. In der vierten aetas führt er – durchnummeriert – die Könige der Latiner von Silvius (dem 5. König)55 bis zur Gründung Roms durch Remus und Romulus an,56 danach – ebenso durchnummeriert – die altrömischen Könige, und er berichtet über die Punischen, Makedonischen und Gallischen Kriege. Julius Caesar begründet auch hier den Prinzipat (als Alleinherrschaft), seine Nachfolger nennen sich sämtlich Caesares;57 nach dem

49 Ado von Vienne: Chronicon, Migne, PL 123, Sp. 23–138. Zu Ado vgl. LÖWE, Heinz: in WATTENWilhelm / LEVISON, Wilhelm / LÖWE, Heinz: Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter. Vorzeit und Karolinger, Heft 5: Die Karolinger vom Vertrag von Verdun bis zum Herrschaftsantritt aus dem sächsischen Hause. Das westfränkische Reich, bearb. von Heinz LÖWE, Weimar 1973, S. 622 ff.; VON DEN BRINCKEN, Anna-Dorothee: Studien zur lateinischen Weltchronistik bis in das Zeitalter Ottos von Freising, Düsseldorf 1957, S. 126–128; zum Bild der Antike LANDSBERG, Bild der alten Geschichte 1934 (wie Anm. 8), S. 33–36. Die Pionierarbeit von KREMERS, Wilhelm: Ado von Vienne. Sein Leben und seine Schriften, 1. Teil, Diss. Bonn 1911, geht neben seiner Biographie (S. 1–59) vor allem Ados Quellen nach (S. 75–106), berührt die hier behandelte Problematik jedoch nicht. 50 So VON DEN BRINCKEN, Studien 1957 (wie Anm. 49), S. 128. 51 So LANDSBERG, Bild der alten Geschichte 1934 (wie Anm. 8), S. 35, weil er etwa die jüdische Geschichte ganz exegetisch als Symbol auf die Ankunft Christi interpretiert und die römische Kaiserzeit als Epoche der Kirchengeschichte und der Märtyrer betrachtet. 52 So ebd. S. 36. BÜDINGER, Max: Die Universalhistorie im Mittelalter (Denkschriften der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Wien. Philosophisch-historische Classe 46, Teil 1 und 2), Wien 1898, Teil 2, S. 17, attestiert Ado Schwächen, aber immerhin auch den Neubeginn einer wissenschaftlichen Universalhistorie. 53 LÖWE, in: WATTENBACH/LEVISON/LÖWE, Deutschlands Geschichtsquellen 1973 (wie Anm. 49), S. 624. Ado kompiliert sein Werk, wie auch die folgenden Anmerkungen zeigen, aus einer ganzen Reihe von Vorlagen und fügt ihnen Ergänzungen an. 54 Ado, Chronicon (wie Anm. 49), Sp. 23 A. 55 Ebd. [a. 3125], Sp. 43 A. 56 Ebd. [a. 4103], Sp. 45 C. 57 Ebd. [a. 4784], Sp. 72 C: „Caesar Iulius primus Romanorum singularem obtinuit principatum. A quo etiam Caesares appellati sunt.“ Ado folgt hier Fredegar, der aber mit Hieronymus vom „imperium“ statt vom „principatum“ spricht.

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zweiten Herrscher Octavian aber werden (wie bei Fredegar) alle reges Romanorum fortan Augusti genannt.58 Ado nimmt die Begründung des römischen Kaisertums also sehr wohl zur Kenntnis, charakterisiert es mit Orosius als Alleinherrschaft („Monarchie“),59 füllt damit die sechste aetas – das Imperium tritt nun ganz ins Zentrum des Berichts60 – und zählt in der Folge, wie Fredegar, alle römischen Kaiser jeweils mit ihren Regierungszeiten auf. Dabei wechselt er, offenbar ohne große Bedeutungsunterschiede, zwischen verschiedenen Wendungen (wie regnum oder imperium tenuit/obtinuit, regnavit oder imperavit oder auch gubernavit, imperator creatus, principatum oder imperium adeptus, pejorativ invasit imperium und anderes mehr). Natürlich erwähnt auch Ado die Verchristlichung des Imperiums: Konstantin gestattete den Christen überall Versammlungsfreiheit und Kirchenbau,61 Theodosius schloss die heidnischen Tempel und ließ stattdessen überall christliche Kirchen errichten.62 Nach seinen Söhnen Arcadius und Honorius fährt Ado (wie Fredegar) mit den oströmischen Kaisern (Theodosius II.) fort, berichtet über die Völker und Reiche (Franken, Burgunder, Goten, Briten), auch über die Bekehrung Chlodwigs, die er gleich zweimal erwähnt,63 nicht aber über ein Ende des westlichen Kaisertums. Die Chronik Reginos von Prüm schließlich bedeutet hinsichtlich der Berücksichtigung Roms gegenüber Ado wieder einen Rückschritt.64 Die mit Christi Geburt

58 Ebd. Sp. 72 C: „Octavianus Caesar Augustus Romanorum secundus, regnavit annos quinquaginta sex et menses VI, a quo Augusti appellati sunt reges Romanorum.“ Ado folgt den Chroniken des Hieronymus (wie Anm. 16), S. 157 und Fredegars. 59 Ado, Chronicon (wie Anm. 49), Sp. 74 AB: „atque ex eadem die summa rerum ac potestas penes unum esse coepit et mansit, quod Graeci monarchiam vocant.“ Dieser Tag ist ausgerechnet der spätere christliche Feiertag Epiphanias. Der Eintrag folgt wörtlich Orosius, Historia adversum paganos VI,20,2 (wie Anm. 20), ed. Zangemeister (CSEL 4) Wien 1882, S. 418; ed. Arnaud-Lindet, Bd. 2, S. 227. 60 MCKITTERICK, The Franks and Rome 2006 (wie Anm. 10), S. 38, spricht von einem „systematic survey of the Roman Emperors“ in der 6. „aetas“ bei Ado. 61 Ado, Chronicon (wie Anm. 49) [a. 306], Sp. 91 C: „Constantinus imperator de persecutore Christianus factus, licentiam dedit Christianis libere congregari et in honorem Christi ubique ecclesias construi.“ Der erste Teil des Zitats folgt Beda Venerabilis: De ratione temporum 66, ed. Charles W. Jones (CCL 123 B), Turnhout 1977, S. 509, der ganze zweite Teil Sedulius Scotus: Collectaneum miscellaneum 25,23,2, ed. Dean Simpson (CCM 67), Turnhout 1988, S. 182. 62 Ado, Chronicon (wie Anm. 49) [a. 385], Sp. 97 A: „Gentium templa per totum orbem, iubente Theodosio subvertuntur ac pro eis Christi templa ubique micant.“ Der erste Teil des Zitats (bis „subvertuntur“) folgt der Chronik Isidors von Sevilla a. 361, ed. J. C. Martin (CCL 112) Turnhout 2003, S. 173, für den Rest kann ich keine Vorlage ausmachen. 63 Ado, Chronicon (wie Anm. 49) [a. 425], Sp. 101 A sowie, mit der Alamannenschlacht, ebd. Sp. 102 C. 64 Zu Reginos Chronik vgl. die Einleitung der englischen Übersetzung von MACLEAN, Simon: History and Politics in Late Carolingian and Ottonian Europe. The Chronicle of Regino of Prüm and Adalbert of Magdeburg, Manchester/New York 2009, S. 1–53. Die neuere Literatur zu Regino von Prüm betrifft ansonsten fast durchgängig Einzelprobleme außerhalb der hier behandelten Fragestellung. Nach wie vor bleibt das erste Chronikbuch (und damit Reginos Bild der römischen

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„im 42. Jahr der Herrschaft des Caesar Octavian“65 einsetzende Chronik begnügt sich im Folgenden in der ansonsten (erstmals durchgängig) nach Inkarnationsjahren datierenden Schrift mit dem Vermerk aller Herrscherwechsel unter Angabe der Regierungszeiten (mit Jahren, Monaten und Tagen) und einer gelegentlichen Datierung nach Kaiserjahren.66 Die Regierungszeiten der Kaiser aber dienen Regino, über Fredegar und Ado hinaus und in Inkarnationsjahre umgesetzt, jetzt als bestimmender chronologischer Leitfaden und werden zu jedem Herrschaftswechsel, sozusagen als Überschrift, angegeben (1–15 für Augustus, 16–38 für Tiberius etc.). Damit bilden die römischen Kaiser immerhin ein chronologisches Gerüst, während zu ihrem Kaisertum kaum weitere Nachrichten eingefügt werden.67 Stattdessen steht wie bei Gregor die christliche Geschichte wieder ganz im Vordergrund,68 werden unter jedem Kaiser die (manchmal sehr zahlreichen) Märtyrer notiert (und nach der Christianisierung des Reichs die Namen derjenigen, die jeweils unter einem Herrscher „glänzten“, claruerunt). Regino nutzt für seine christliche Geschichte also eindeutig die römischen Kaiser als Datierungssystem, während ihn deren Geschichte nicht weiter interessiert. Der Fall Westroms spielt auch bei ihm wiederum keinerlei Rolle.

2 Byzanz als Fortsetzung des Imperium Romanum? Als Nächstes ist nun zu prüfen, ob das Kaisertum in Byzanz in Kontinuität zum Römischen Reich gesehen wird. Gregor von Tours kennt „Römer“ (Romani) nur noch

Geschichte) meist unbeachtet, so dass man Regino sogar eine ganz weltliche Geschichtskonzeption unterstellt hat. Dezidiert in dieser Richtung: KORTÜM, Hans-Henning: Weltgeschichte am Ausgang der Karolingerzeit: Regino von Prüm, in: Historiographie im frühen Mittelalter, hg. v. Anton Scharer und Georg Scheibelreiter (Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 32), Wien/München 1994, S. 499–513. Anders LÖWE, Heinz: Regino von Prüm und das historische Weltbild der Karolingerzeit, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 17 (1952), S. 151–179. Interessante Aspekte zu Regino als Geschichtsschreiber (abseits der hier behandelten Problematik) bieten AIRLIE, Stuart: ‚Sad Stories of the Death of Kings‘: Narrative Patterns and Structures of Authority in Regino of Prüm’s Chronicle, in: Narrative and History in the Early Medieval West, hg. v. Elizabeth M. Tyler und Ross Balzaretti (Studies in the Early Middle Ages Series 16), Turnhout 2006, S. 105–131, und MEENS, Rob: Opkomst en ondergang van de Karolingers. De kroniek van Regino van Prüm, in: Millennium. Tijdschrift voor middeleeuwse studies 24 (2010), S. 3–18. Ziel der Chronik ist danach eine Darstellung des Aufstiegs und Niedergangs (Airlie) bzw. überhaupt des Niedergangs der Karolinger (Meens). 65 Regino von Prüm: Chronik a. 1–15 (1), ed. Friedrich KURZE, MGH SRG 50, Hannover 1890, S. 2. 66 Etwa a. 33, S. 3, zur Passion Christi im 18. Herrschaftsjahr des Tiberius. 67 Die vielen chronologischen Unstimmigkeiten – am Ende fehlen Regino 62 Jahre – tun in unserem Zusammenhang jetzt nichts zur Sache. 68 Vgl. auch MCKITTERICK, The Franks and Rome 2006 (wie Anm. 10), S. 39.

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in der Vergangenheit und im römischen Restreich des rex Romanorum Aegidius und seines Sohnes Syagrius bis zu dessen Untergang;69 danach taucht der Begriff nicht mehr auf, weil es keine römische Herrschaft mehr gab.70 Die Byzantiner sind für ihn (und seine Zeitgenossen) nicht mehr Römer, sondern Griechen71 (und somit eher von der Sprache her charakterisiert). Der byzantinische Basileus bleibt für Gregor dennoch der (einzige) imperator,72 und mit der Unterscheidung von Imperator und Caesar (als Mitkaiser und präsumtivem Nachfolger) in Byzanz73 setzt Gregor – vielleicht unbewusst – spätrömische Verhältnisse fort. Welch hohe Wertschätzung darin noch steckt, mag sich zeigen, wenn König Chilperich dem Bischof von Tours stolz die Goldmünzen präsentierte, die er von dem byzantinischen Kaiser Tiberius erhalten hatte und welche die Umschrift „Tiberii Constantini perpetui augusti“ trugen.74 Dass der Papst vom Kaiser ernannt wurde, ist Gregor ebenfalls selbstverständlich: Der demütige Gregor der Große schickte nach seiner Wahl (vergeblich) einen Brief an Kaiser Maurikios mit der Bitte, er möge die Wahl verwerfen.75 Der Befund erscheint zwiespältig: Das Imperium Romanum existiert für Gregor nicht mehr, auch wenn der Kaiser in Byzanz weiterhin Rechte in Italien ausübte und Ansehen genoss. Hatte Fredegar, wie oben festgestellt, die römische Geschichte nahtlos in die Geschichte der Nachfolgereiche überleiten können, so ist von einer „römischen“ Geschichte nur einmal im Hinblick auf die Gotenherrschaft in Italien (die zum Imperium Romanum gehörte)76 – die Rede, und das würde zu seinem gleich noch zu 69 Gregor von Tours, Historiae II,9 (wie Anm. 16), S. 58: „habitabant Romani usque Ligerim fluvium“; II,12, S. 61 f.; II,27, S. 71. Auf dieses Restreich ist wohl auch der Krieg „zwischen Sachsen und Römern“, ebd. II,19, S. 65, bezogen. 70 Vgl. dazu GOETZ, Hans-Werner: Die germanisch-romanische (Kultur-)Synthese in der Wahrnehmung der merowingischen Geschichtsschreibung, in: Akkulturation. Probleme einer germanischromanischen Kultursynthese in Spätantike und frühem Mittelalter, hg. v. Dieter Hägermann, Wolfgang Haubrichs und Jörg Jarnut (RGA Ergänzungsband 41), Berlin/New York 2004, S. 547–570, hier S. 552. Das Fehlen des Romanus-Begriffs stellte bereits GOFFART, Walter: Foreigners in the Histories of Gregory of Tours, in: Florilegium 4 (1982), S. 80–99, hier S. 86, heraus. 71 Beispielsweise Gregor von Tours, Historiae V,38 (wie Anm. 16), S. 245; VI,43, S. 316. Vgl. HAENSSLER, Fred: Byzanz und Byzantiner. Ihr Bild im Spiegel der Überlieferung der germanischen Reiche im früheren Mittelalter, Diss. Bern 1954, S. 56, demzufolge die Byzantiner als den Franken ebenbürtig angesehen werden (ebd. S. 57 f.). 72 Vgl. Gregor von Tours, Historiae IV,44 (wie Anm. 16), S. 180 (der Statthalter Sisinnius in Susa ist „magister militum a parte imperatoris“); ebd. X,1, S. 478, und X,2, S. 482, zum Kaiser Maurikios. Ähnlich HAENSSLER, Byzanz 1954 (wie Anm. 71), S. 67 f., der daraus allerdings vorschnell auf eine Erbschaft des Römischen Reichs schließt. 73 Vgl. Gregor von Tours, Historiae V,19 (wie Anm. 16), S. 225, zur Unterscheidung des „imperator“ Iustinus von seinem „caesar“ Tiberius, sowie ebd. V,30, S. 235: „Tiberius Caesar arripuit iam olim adgressum imperium.“ 74 Ebd. VI,2, S. 266 f. 75 Ebd. X,1, S. 477–479. 76 Ebd. II,56, S. 77: „In his vero qui in Aetaliam consedentes Romano pertinebant imperio.“

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behandelnden Verständnis vom „Römischen“ in nachrömischer Geschichte passen –, während der durchweg als imperator (ohne Zusatz) bezeichnete Kaiser weiterhin in Byzanz herrschte, ohne für Fredegar noch „römischer“ Kaiser zu sein.77 Die Kaiser in Byzanz erkennt Fredegar jedenfalls ohne weiteres an (wie auch eine gewisse Oberherrschaft über Italien).78 Der Unterschied wird deutlich, wenn er in aufeinanderfolgenden Kapiteln berichtet, dass Leuva das regnum in Spanien und Iustin (II.) das imperium in Konstantinopel übernommen hätten.79 Das Imperium in Byzanz besitzt auch für Fredegar also weiterhin eine gewisse Autorität, weil die anderen, auch fränkische Herrscher sich immer wieder an den Kaiser wenden.80 Byzanz ist keineswegs aus Fredegars Blickfeld geschwunden und nimmt in anekdotischen Erzählungen, weit über Gregor hinaus, sogar eine Vorbildfunktion, nicht zuletzt im Hinblick auf die Christianisierung, ein;81 es ist kein verborgenes, sondern ein sehr sichtbares Imperium. Doch lässt Fredegar, trotz der Kontinuität der Kaiserliste, ebenso wenig wie Gregor erkennen, ob oder dass er das Reich der Griechen immer noch als ein römisches begreift (während Andreas Kusternig in der Freiherr-vom-Stein-Gedächtnisausgabe imperium irreführend fast durchweg mit „Römisches Reich“ übersetzt);82 explizit spricht Fredegar jedenfalls nirgends mehr von einem Imperium Romanum. Außerdem ist der Basileus nicht mehr der einzige imperator: Auch die Perserkönige sind imperatores, wenngleich stets mit dem definierenden Zusatz imperator Persarum.83 Fredegar nummeriert die byzantinischen

77 Vgl. ebd. II,62, S. 85, zu Justinian; III,92, S. 118, zu Maurikios; IV,62, S. 151, und IV,65, S. 153, zu Herakleios. Dass Fredegar die Byzantiner als Römer begreift, wie HAENSSLER, Byzanz 1954 (wie Anm. 71), S. 56 f. – ohne Beleg – konstatiert, lässt sich der Chronik nicht entnehmen. Haenssler selbst betont zwar an anderer Stelle (ebd. S. 66 f.), dass das römische Erbe bei Fredegar weniger deutlich hervortritt, schließt aber dennoch auf eine Erbschaft des Imperium Romanum (ebd. S. 68). 78 Theoderich unterstellte sich freiwillig („espontaniae“) der „dicio“ des Kaisers (ebd. II,57, S. 79), bis er wegen der Nachstellungen Kaiser Leons dem Imperium den Gehorsam verweigerte („rennuens dicione imperie“) und nur eine bescheidene Abgabe zahlte (ebd. S. 81). Noch die Langobarden schickten aber eine Gesandtschaft zu Kaiser Maurikios, „pacem et patriocinium imperiae petentes“ (ebd. IV,45, S. 143). 79 Ebd. III,63 f., S. 110. 80 Wenn Herakleios von Dagobert allerdings erwartete, dass er die Juden in seinem Reich zur Taufe zwingen möge, dann geschah das in Form einer Bitte („petens“: ebd. IV,65, S. 153), der Dagobert (jedenfalls laut Fredegar) freilich nachkam. 81 Zu Fredegars Byzanzbild vgl. GOETZ, Hans-Werner: Byzanz in der Wahrnehmung fränkischer Geschichtsschreiber des 6. und 7. Jahrhunderts, in: Osten und Westen 400–600 n. Chr. Kommunikation, Kooperation und Konflikt, hg. v. Carola Föller und Fabian Schulz (Roma Aeterna 4), Stuttgart 2016, S. 77–98. 82 Vgl. beispielsweise Fredegar, Chronicon IV,63, ed. Andreas Kusternig (FSGA 4a), Darmstadt 1982, S. 229; IV,64, ebd. S. 229 – wenn Fredegar an dieser Stelle von den Provinzen „rei publicae“ spricht, wird man das nicht zwingend als Reminiszenz an Rom deuten müssen –, ebd. IV,65, S. 231; IV,71, S. 243. 83 Vgl. Fredegar, Chronicon IV,9 (wie Anm. 82), S. 125 („Anaulf“, ein historisch nicht bekannter Herrscher); IV,64, S. 152. Hingegen wird man den „imperator“-Titel der Perser nicht mit HAENSSLER,

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Kaiser auch nicht mehr weiter seit Augustus durch (und unterbricht so die durch die Kaiserliste suggerierte Kontinuität): Sie gelten ihm offenbar nicht mehr als Nachfolger des Augustus, obwohl er ihre Abfolge in der Kaiserliste lückenlos aufführt und auch in der Chronik selbst einigermaßen vollständig verfolgt.84 Nicht Byzanz ist römisch, sondern die Romana provincia, nämlich Italien, ist ein Teil davon (und zwar neben Konstantinopel und Thrakien der einzige, der nach den Eroberungen der Sarazenen noch emperiae dicione untersteht).85 Damit beginnt eine Einengung „Roms“ auf Italien: Rom und das Imperium haben sich anscheinend getrennt. Ado von Vienne setzt wie Fredegar die Liste der Kaiser lückenlos fort: Von Leon (Leo maior) bis Konstantin VI. (457–797) und seiner Mutter Eirene, die ihren Sohn 799 blenden ließ und acht Jahre als imperatrix herrschte, werden alle Kaiser mit ihren Regierungszeiten genannt (einschließlich der verschiedenen Usurpatoren zur Zeit Justinians II.), obwohl Ado dafür nach dem Ende Fredegars keine (uns bekannte) fränkische Quelle mehr vorlag. Die Reihe der Kaiser, die immer wieder auch mit dem imperator-Titel versehen werden, scheint damit in Byzanz bis zur Erhebung Karls (und darüber hinaus) fortgesetzt, auch wenn der Bericht selbst sich zunehmend auf die fränkische Geschichte konzentriert. Der Basileus bleibt für Ado, wie im nächsten Abschnitt noch näher auszuführen ist, auch nach Karls Kaiserkrönung (ebenfalls) „Kaiser“ (imperator).86 „Kaiser der Römer“ ist er jedoch nicht. Regino von Prüm führt sein an die römischen Kaiser angelehntes chronologisches System von Theodosius II. bis zum Ende des ersten Chronikbuches, dem Tod Leons III. im Jahr 741 – bei Regino ist das schon das Jahr 71887 –, lückenlos für die oströmischen Kaiser fort. Es endet also nicht erst mit der Kaisererhebung Karls, sondern bereits mit dem Tod Karl Martells, mit dem das zweite Buch, der ‚Liber de gestis regum Francorum‘ über die dezidiert fränkische Geschichte, beginnt,88 das dieses System aber aufgibt und fortan (mit den Fränkischen Reichsannalen) ausschließlich

Byzanz 1954 (wie Anm. 71), S. 68, damit weginterpretieren können, dass „imperium“ hier etwas anderes als Kaisertum meint. 84 Lediglich Zenon und Anastasios werden nicht erwähnt. 85 Fredegar, Chronicon IV,81 (wie Anm. 82), S. 162. 86 „Irene imperatrix“ (Ado von Vienne, Chronicon (wie Anm. 49), Sp. 130 D); „Nicephoros imperator“ (Sp. 133 B); „in eius locum Michael gener eius imperator creatur“ (Sp. 133 D). 87 Vgl. die ausdrückliche Datierung am Ende des ersten Buches (Regino von Prüm, Chronicon, wie Anm. 65, S. 37) zum 26. Jahr Leons III.: „Fiunt igitur, ni fallor, anni ab incarnatione Domini computati a quadragesimo secundo anno imperii Octaviani usque ad ultimum Leonis Augusti annum, qui temporibus Caroli principis regnasse cognoscitur, DCCXVIII, menses III. dies II.“ (und selbst dabei hat er sich gegenüber seinen eigenen Einzelangaben verrechnet). Die Papstliste übertrifft die Kaiserjahre nach Reginos eigener Feststellung um 29 Jahre und beide stimmen nicht mit dem „ciclus Dionysii“ von 532 Jahren überein, ohne dass Regino das Problem lösen kann (ebd. S. 40). Er verweist lediglich auf mögliche Fehler der früheren Geschichtsschreiber. 88 Ebd. S. 40.

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nach Inkarnationsjahren datiert.89 Byzanz wird jetzt bis zur Zeit Karls des Großen gar nicht mehr erwähnt und ganz durch die fränkische Geschichte abgelöst.90 Das römisch-byzantinische Kaisertum, so lässt sich schließen, bestimmt politisch und chronologisch die Zeit bis zum Aufstieg der Karolinger, zumal es für Regino (anders als für Fredegar) daneben keine weiteren Kaiser (Perser) mehr gibt. Danach gerät es aus dem Blickfeld. Regino setzt gewissermaßen den Schlussstrich unter eine Entwicklung, die sich bei den anderen Autoren längst angedeutet hat: Deutlicher noch als bei Fredegar und Ado nimmt Byzanz bei Regino nur noch eine Zeitlang eine durch Titel, chronologisches Leitsystem und Mittelpunkt des Geschichtsberichts herausgehobene Stellung und eine zumindest gewisse Kontinuitätsfunktion gegenüber dem römischen Imperium wahr. Die ‚römische‘ Geschichte ist tatsächlich für alle Autoren längst beendet. Hat sie jedoch vielleicht noch Rückwirkungen auf die Gegenwart, indem daran vielleicht noch bei der Darstellung der eigenen Zeit erinnert wird?

3 Reminiszenzen an das Imperium in fränkischer Zeit Wenn Gregor von Tours (fast modern anmutend) die Kulturdekadenz seiner Zeit beklagt („Wehe unserer Zeit, dass die Pflege der Wissenschaften bei uns untergegangen ist“),91 dann scheint er sie unweigerlich an der römischen (oder jedenfalls der antiken) Kultur zu messen, auch wenn er jetzt keine „Römer“ mehr kennt.92 Eine Berufung auf Rom wäre, von daher gesehen, nicht verwunderlich, korrespondierte allerdings kaum mit seinen eher dürftigen Nachrichten über die römische Geschichte. Anklänge an das antike Imperium sind bei Gregor erstens tatsächlich sehr ‚versteckt‘ und sie stehen zweitens erneut ausschließlich im Zusammenhang mit der Christianisierung des Reichs. Den deutlichsten Hinweis bietet der Bericht über die Taufe Chlodwigs, der von Gregor bekanntlich als „neuer Konstantin“ gefeiert, während der Bischof Remigius von Reims mit Papst Silvester I. verglichen wird.93

89 Ebd.: „quia sequens libellus a nostra parvitate editus per eiusdem incarnationis dominicae annos tempora principum et gesta declarat.“ Schon unter Leon III. hat Regino die Ereignisse nicht nach dessen Herrschaftsjahren, sondern nach denen Karl Martells zugeordnet. 90 Ebd. a. 802, S. 63, vermerkt Regino die Gesandtschaft der Kaiserin Eirene, a. 812, S. 71, den Tod des Kaisers Nikephoros und die Nachfolge Michaels, a. 813, S. 72, Karls Gesandtschaft an Michael. 91 Gregor von Tours, Historiae, praefatio (wie Anm. 16), S. 1: „Vae diebus nostris, quia periit studium litterarum a nobis nec reperitur rethor in populis, qui gesta praesentia promulgare possit in paginis.“ 92 Ganz sicher zählt Gregor sich nicht selbst zu den Römern, wie HAENSSLER, Byzanz 1954 (wie Anm. 71), S. 63, meint. 93 Ebd. II,31, S. 77.

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Wieder geht es Gregor nicht um Rom, sondern um die Bekehrung des Königs, die zur Christianisierung des Frankenreichs führt. Zumindest aber ist Rom (wohlgemerkt erneut: das christliche Rom) dem Autor präsent und dient hier als Folie zum Lob Chlodwigs. Wenn der Vergleich den Frankenkönig aber herausheben soll, dann steckt darin zwangsläufig und unausgesprochen vorausgesetzt Gregors Vorstellung von der Größe (wenn auch nicht zwingend des Imperiums, so doch zumindest) des (aus seiner Sicht) christlichen römischen Kaisers Konstantin. Eine analoge Negativparallele erfährt diese Einschätzung im Vergleich des verhassten Frankenkönigs Chilperich mit dem römischen Kaiser Nero (weil Chilperich Vergnügen daran fand, das Land zu verwüsten).94 Die Bewertung richtet sich demnach nach der jeweiligen Person des Kaisers, nicht nach dem römischen Imperium an sich, setzt aber auch ein Wissen um die (angebliche) Taufe Konstantins und die Tyrannei Neros voraus. Gregors Kenntnis der römischen Kaiserzeit ist damit größer als sein eigener, dürftiger Geschichtsbericht über diese Epoche vermuten lässt. Fredegar, der die römische Geschichte, wie wir gesehen haben, viel ausführlicher behandelt, mit Byzanz nicht weniger unbefangen umgeht als Gregor und mit der römischen Kultur gut vertraut ist,95 kommt in nachrömischer Zeit hingegen ganz ohne Reminiszenzen an die römische Geschichte aus (und übergeht auch Gregors Vergleich Chlodwigs mit Konstantin). Seine „Roman Fables“96 betreffen tatsächlich die altrömische Geschichte, die Ursprungssagen oder Romanen wie Aridius; seine zahlreichen Parabeln hingegen greifen nicht auf die römische Geschichte, sondern auf Byzanz zurück97 und sind im Grunde ‚zeitlose‘ Modellgeschichten. „Römisch“ ist auch Fredegar zuletzt lediglich das provinziale Restreich des Aegidius und Syagrius,98 sind aber auch, von der Herkunft her und über Gregor hinaus, bestimmte Bewohner Burgunds und Südgalliens, offenbar in Abhebung von den Burgundern und Franken,99 also das, was wir ebenso einfallsreich wie unquellengemäß als ‚Romanen‘ zu bezeichnen pflegen. Auch bei den späteren, mitten in das dritte Buch eingefügten (biblisch-fränkischen) Datierungen zum Ablauf der Zeit100 spielt Rom keine

94 Ebd. VI,46, S. 319 f. 95 Das betont jetzt FISCHER, Reflecting Romanness 2014 (wie Anm. 6). 96 So REIMITZ, History 2015 (wie Anm. 13), S. 199 ff. Das „interplay between Roman and Frankish culture“ (ebd. p. 210) betrifft nicht die römische, sondern die zeitgenössische romanische Kultur. 97 Vgl. GOETZ, Wahrnehmung von Byzanz 2016 (wie Anm. 81). 98 Fredegar, Chronicon III,15 (wie Anm. 27), S. 98 (Syagrius als „patricius Romanorum“). Vgl. ebd. III,12, S. 98, zum Krieg zwischen Römern und Sachsen. 99 Ein „Römer“ aus dem Burgunderreich, Aurelianus, wirbt für Chlodwig um die burgundische Prinzessin Chrodechilde (ebd. III,18, S. 99); Brunichild ernennt Protadius, „genere Romanus“, zum „patricius [. . .] in pago Ultraiurano“ (ebd. IV,24, S. 130); wenig später wird Claudius, „genere Romanus“, hochgelehrt und tugendsam, Hausmeier („maior domus“) (ebd. IV,28, S. 132). 100 Zu den Zeitsystemen vgl. oben Anm. 35.

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Rolle mehr.101 Die römischen Kaiser werden hier, anders als noch in Kapitel I,26, schlicht übergangen. Das mag mit den Vorlagen zusammenhängen, deutet aber wohl auch an, dass die römischen Kaiser in nachrömischer Zeit an Bedeutung verloren haben. Die beiden vielbehandelten Origines Francorum102 greifen dann bekanntlich weit hinter Rom auf Troja zurück und machen das Frankenreich zum gleichwertigen ‚Bruder‘ Roms.103 Aktuelle Reminiszenzen an die römische Geschichte gibt es auch bei Ado von Vienne nicht. Hier hängt letztlich alles an der Kaiserkrönung Karls des Großen, die Ado dem Bericht der Fränkischen Reichsannalen entnimmt und nach dem „das ganze Volk der Römer“ dem neuen Kaiser immerhin als imperator Romanorum akklamiert.104 Während dieser Titel Anklänge an das alte Imperium wecken mag, ist mit dem Volk der Römer offenbar nur noch die stadtrömische Bevölkerung gemeint, die hier einzig anwesend war. Tatsächlich bezeichnet Ado, über die Vorlage hinaus, Karl zugleich aber als „ersten Kaiser aus dem Volk der Franken“ (imperator primus ex gente Francorum) und grenzt ihn damit wieder von Rom ab.105 Dem entspricht es, dass er Karl wenig später sogar als imperator Francorum tituliert,106 vermutlich, um ihn von dem an dieser Stelle gleichfalls genannten imperator Constantinopolitanus Nikephoros abzuheben. Weder der Basileus noch der Kaiser der Franken sind Ado noch römische Kaiser. Von den Begriffen her zu urteilen, geht es ihm weder in Aachen noch in Konstantinopel um die römische Kontinuität, ja, die byzantinischen Gesandten nach Aachen nennen Karl „nach ihrer Sitte“ sogar „Kaiser und Basilius“ und gleichen damit ihrerseits beide Titel einander an.107 Die Spannungen mit Byzanz hat Ado jedoch offenbar erkannt, wenn er von einer fränkischen Gesandtschaft „pro pace inter Francos et Graecos firmanda“ berichtet (und das noch einmal

101 Fredegar, Chronicon III,73 (wie Anm. 27), S. 112 f. Die Zäsuren der Zeitzählung bilden hier die Sintflut, Abraham, der Auszug aus Ägypten, der Tempelbau Salomos, dessen Zerstörung und der Beginn der Babylonischen Gefangenschaft, die Passion Christi, dann der Tod des heiligen Martin und der Tod der Frankenkönige Chlodwig, Theudebert und Sigibert. 102 Vgl. zuletzt umfassend PLASSMANN, Alheydis: Origo gentis. Identitäts- und Legitimationsstiftung in früh- und hochmittelalterlichen Herkunftserzählungen (Orbis mediaevalis. Vorstellungswelten des Mittelalters 7), Berlin 2006, zu Fredegar S. 147–174; COUMERT, Magali: Origines des peuples. Les récits du Haut Moyen Âge occidental (550–850) (Collection des études augustiniennes. Série Moyen Âge et temps modernes 42), Paris 2007, S. 267–380. 103 Auch GHOSH, Writing the Barbarian Past 2016 (wie Anm. 14), S. 110 ff., stellt zu Recht fest, dass die fränkischen Herkunftssagen (Troja-Mythos) eine Abhebung von den Römern beinhalten und dennoch nicht an die „barbarische“, sondern an die „römische“ (oder besser: antike) Vergangenheit anknüpfen. 104 Ado von Vienne, Chronicon (wie Anm. 49), Sp. 130 AB. 105 Ebd. Sp. 130 B. 106 Ebd. Sp. 133 B. 107 Ebd. Sp. 133 D: „imperatorem et Basilium illum appellantes“.

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wiederholt).108 Dass das Imperium mit Karls Kaisererhebung im Jahre 800 in einer Art translatio imperii von Byzanz auf Karl und die Franken übergegangen sei, wird zumindest nirgends explizit betont, sondern ergibt sich allenfalls indirekt aus der Tatsache, dass fortan nicht mehr die byzantinischen, sondern die karolingischen Kaiser (Ludwig der Fromme und Lothar) mit ihren Regierungszeiten genannt werden und als chronologisches Gerüst dienen,109 ja die Aachener Gesandtschaft ist darüber hinaus die letzte Erwähnung byzantinischer Herrscher überhaupt, deren Abfolge Ado, möglicherweise einfach mangels Kenntnissen, nicht mehr weiter verfolgt. Karls Kaisertum ist für Ado dennoch weder eine klare Weiterführung noch eine Neubegründung des Imperium Romanum, sondern schlicht eine andere Gegenwart. Bei der Darstellung der Karolinger und ihrer Frauen und Kinder geht Ado rückblickend noch einmal auf die Reichsteilung von Verdun ein: Wenn Lothar dabei „regnum Romanorum et totam Italiam et partem Franciae orientalis totamque Provinciam“ erhält,110 dann wird aus dieser Aufzählung vollends deutlich, dass mit dem „Reich der Römer“ nicht mehr das Imperium Romanum, sondern nur noch ein Teil Italiens gemeint sein kann. Entsprechend ist Lothars Sohn Ludwig II. für Ado „imperator in Italia“.111 Auch bei Ado fehlen folglich entsprechende Reminiszenzen an das antike Imperium. Verallgemeinern lässt sich seine Position allerdings nicht. Es ist ja hinreichend bekannt, dass rund 20 Jahre später Notker der Stammler die auf den Danielkommentar zurückgehende Lehre von den vier Weltreichen aufgreift, bezeichnenderweise in Karl (als caput aureum) aber eine neue Statue im Fränkischen Reich errichtet sieht und damit ebenfalls eher den Bruch als die Kontinuität zum Imperium Romanum betont. Doch ist Karl hier immerhin Erbe der vergangenen Weltreiche (und wird demgegenüber zugleich erhöht).112 Sehr schnell lässt sich schließlich Regino von Prüm abhandeln, da im zeitgenössischen Teil jede Reminiszenz an Rom und das Imperium fehlt, es sei denn, man würde die Verurteilung des Adalgis von Benevent a senatu Romanorum als Tyrann

108 Ado, Chronicon (wie Anm. 49), Sp. 130 D: „Irene imperatrix ad imperatorem Carolum iterum misit pro pace inter Francos et Graecos firmanda.“ Später schließt Karl mit Nikephoros Frieden (ebd. Sp. 133 B). 109 Ado, Chronicon (wie Anm. 49), Sp. 134 C und 135 D. 110 Ebd. Sp. 138 B. Ludwig der Deutsche erhält „praeter Noricam, quam habebat, tenuit regna, quae pater suus illi dederat, id est Alamanniam, Thoringiam, Austrasiam, Saxoniam et Avarorum, id est Hunnorum, regnum“, Karl „medietatem Franciae ab occidente et totam Neustriam“, „Britanniam et maximam partem Burgundiae; Gotiam, Vasconiam, Aquitaniam“ werden davon abgetrennt zugunsten Pippins. 111 Ebd. Sp. 136 D. 112 Notker Balbulus: Gesta Karoli Magni imperatoris I,1, ed. Hans F. Haefele, MGH SRG n.s. 12, 2. Aufl., München 1980, S. 1. Vgl. dazu GOETZ, Hans-Werner: Strukturen der spätkarolingischen Epoche im Spiegel der Vorstellungen eines zeitgenössischen Mönchs. Eine Interpretation der „Gesta Karoli“ Notkers von Sankt Gallen, Bonn 1981, S. 69–85.

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und hostis reipublicae als solche verstehen,113 die mit dem Senat aber gerade nicht auf das Kaisertum, sondern auf die Stadt rekurriert. Wie oben dargelegt, gibt Regino im zweiten Buch mit der Herrschaft Karl Martells die Datierung nach den römisch-byzantinischen Kaisern zugunsten der einzelnen Inkarnationsjahre auf. Karls Kaisertum führt hier zu keinerlei Änderung. Rom, schon vorher kaum über die Chronologie herausragend, spielt fortan keine Rolle mehr. Karl der Große wird mit den Annales regni Francorum wie bei Ado zwar ebenfalls als imperator Romanorum akklamiert und more antiquorum principum gefeiert.114 Die Kaisertitel und -krönungen seiner Nachfolger bleiben hingegen erneut ohne jeden erkennbaren Bezug auf das römische Kaisertum. Zum Kaiser (imperator) Ludwig II. heißt es ähnlich Ado, dass er Italiae regnum regebat.115 Karl der Kahle habe sich den Kaisertitel von Papst Johannes erkauft;116 Karl III. wurde „vom Bischof des päpstlichen Stuhls Johannes und vom Senat der Römer freundlich empfangen und mit großem Ruhm zum Kaiser gewählt“.117 Bei aller phraseologischen Anknüpfung an die römische Terminologie ist dieser Bezug auf (die Stadt) Rom kein erkennbares Anknüpfen an das römische Imperium. Das Großreich Karls III. entspricht folgerichtig nicht dem Imperium Romanum, sondern setzt sich aus den regna Francorum zusammen.118 Die römische Geschichte scheint für Regino nicht einmal mehr ‚Vorgeschichte‘ der eigenen Zeit zu sein, denn der Chronist will nicht an die römische Vergangenheit anknüpfen, sondern nach eigenen Worten den Historien der Hebräer, Griechen und Römer vielmehr die Geschichte der eigenen Zeit gleichwertig an die Seite stellen.119 Das Imperium Romanum ist für Regino schlichtweg Vergangenheit. Ob versteckt oder offen: Reminiszenzen an das römische Kaisertum bleiben in der karolingischen Historiographie offenbar höchst selten. Man wird bei intensiver Suche in anderen Quellen möglicherweise noch Belege finden können. Historische (nicht nur römische) Bezüge der karolingischen Geschichtsschreibung beziehen sich zumeist allerdings auf biblische Ereignisse und Personen, teils auch auf das Mönchtum oder aber auf die jüngere fränkische Vergangenheit,120 wie im Übrigen

113 Regino von Prüm, Chronicon a. 872 (wie Anm. 65), S. 104. 114 Ebd. a. 801, S. 62, folgt Regino wörtlich den Annales regni Francorum. 115 Ebd. a. 874, S. 107. 116 Ebd. a. 877, S. 112 f. 117 Ebd. a. 881, S. 117: „Carolus de Alamannia egressus [. . .] Romam pervieniens a presule apostolicae sedis Iohanne et senatu Romanorum favorabiliter exceptus cum magna gloria imperator creatus est.“ 118 Ebd. a. 888, S. 128 f. 119 Ebd. prol. S. 1. 120 Vgl. dazu GOETZ, Vergangenheitswahrnehmung 1999 (wie Anm. 11). Zu den Franken als „Gottesvolk“ vgl., allerdings mit der Warnung, das nicht überzubewerten, GARRISON, Mary: The Franks as the New Israel? Education for an Identity from Pippin to Charlemagne, in: The Uses of the Past in the Early Middle Ages, hg. von Yitzhak Hen und Matthew Innes, Cambridge 2000, S. 114–161.

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auch bei Notker.121 Das Interesse richtet sich auf die jüdisch-antike Geschichte insgesamt,122 nicht speziell bzw. nur in diesem Rahmen auf die römische Kaiserzeit. Vielleicht gerät das Imperium daher nicht nur in den hier behandelten Quellen aus dem Blick.

4 Fazit: Wie (un-)sichtbar ist das Imperium Romanum im Frankenreich? Als vorläufiges Ergebnis lässt sich zunächst, allerdings mit Modifikationen, bestätigen, was längst schon andere erkannt haben:123 Das fränkische Interesse an der antiken Geschichte und am römischen Imperium ist – mit der älteren Forschung und ganz im Gegensatz zu einem erheblichen Interesse an den antiken Autoren – insgesamt vielleicht nicht zu hoch zu veranschlagen, aber, so bleibt zu ergänzen, durchaus vorhanden: Die römische Kaiserzeit ist jedenfalls bei allen Autoren, wenngleich sehr unterschiedlich ausführlich, durchaus präsent und darüber hinaus in ihrer Epoche der bestimmende Faktor. Will man die vier behandelten Chronisten als jeweils repräsentativ für ihre Zeit ansehen, dann ergäbe sich sogar eine Art Wellenbewegung: kein nennenswertes Interesse an der römischen Geschichte bei Gregor – es mag allerdings sein, dass Gregor sich kurz fassen konnte, weil entsprechende Quellen (wie EusebiusHieronymus, Orosius oder Prosper) vorhanden waren – und erneut nur als Zeitgerüst bei Regino, die beide das Christliche dieser Zeit („the sacred past of Rome“124) in den Vordergrund rücken bzw., wie Regino, überhaupt nur die – gleichzeitig mit dem römischen Kaisertum beginnenden – christlichen Zeiten (seit Christi Geburt) behandeln wollen, dazwischen hingegen ein beachtliches Interesse bei Fredegar und Ado, die auch den Beginn des römischen Kaisertums vermerken und aus ihren Vorlagen eine ganze Reihe von Nachrichten zusammentragen und weitervermitteln. Fredegar und Regino bieten nahezu vollständige Kaiserlisten mit den Regierungszeiten und führen im Text, wie auch Ado, alle Kaiser mit ihren Herrschaftszeiten auf. Im Sinne einer historischen Betrachtung ist das römische Imperium also durchaus deutlich „sichtbar“. Es wird allerdings nicht um seiner selbst willen behandelt, sondern ordnet sich (bei Fredegar und Ado) in die Weltgeschichte ein: Das Interesse gegenüber dem römischen

121 Notker Balbulus: Gesta Karoli Magni imperatoris II,15 (wie Anm. 112), S. 80, vergleicht Pippin mit David und Alexander; ebd. II,19, S. 89, Karl den Großen mit David und Ludwig den Frommen mit Salomon; ebd. II,10, S. 66, Ludwig den Deutschen mit Ambrosius. 122 Vgl. MCKITTERICK, History and Memory 2004 (wie Anm. 9), S. 276, mit Blick auf die karolingischen Handschriften antiker Geschichtsschreiber. 123 Vgl. oben Anm. 8. 124 So MCKITTERICK, The Franks and Rome 2006 (wie Anm. 10), S. 56 ff.

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Imperium ist nicht größer als gegenüber anderen früheren Epochen, als „an integral element in their understanding of the past as a whole“.125 Ganz anders verhält es sich hingegen bei Reminiszenzen an das antike Imperium in nachrömischer Zeit, sei es, dass man sich darauf beruft oder die Gegenwart damit vergleicht, wie sich das im Rückblick bei Gregor von Tours zumindest noch gelegentlich, danach jedoch nicht mehr findet: Nach Gregor fehlt jeder Rückgriff auf das Imperium für aktuelle Probleme, und schon bei Gregor beschränkt sich das auf das christliche Rom. Rom gerät den Chronisten für ihre eigene Zeit anscheinend ganz aus dem Blick, während Notker mit der neuen Statue in Karl bei aller symbolischen Kontinuität sogar einen klaren Bruch mit Rom zieht. Die Bedeutung des Imperium Romanum ist gewissermaßen eine ‚historische‘, mit klarem Anfang, aber fließendem Ausgang, doch jedenfalls vorüber. Die fränkischen Autoren nehmen fast durchweg den Beginn – eher mit Caesar als mit Augustus –, jedoch, anders als im langobardischen Italien Paulus Diaconus, für den das Imperium Romanum mit Augustus begann und mit Augustulus endete,126 weder ein Ende des Imperium Romanum oder wenigstens ein Ende des westlichen Kaisertums zum Jahr 476 (oder zu einem anderen Zeitpunkt) wahr noch vermitteln sie schlagkräftige Indizien für dessen Kontinuität, zumindest nicht im Westen. Man knüpfte offenbar einerseits chronologisch an die römische Geschichte an und grenzte sich andererseits nicht explizit davon ab. Eine etwaige Kontinuität verbindet sich jedoch nicht mit dem Frankenreich (auch nicht – erneut – im Kaisertum Karls des Großen), sondern allenfalls mit Byzanz. Die byzantinischen Herrscher gelten durchweg als Kaiser und setzen bei Fredegar, Ado und Regino sogar die römische Kaiserliste kontinuierlich fort, bei Fredegar bis zu seiner Gegenwart, bei Ado bis Eirene und Michael (812), bei Regino hingegen nur bis 741, erstaunlicherweise also nirgends bis zu Karls Kaiserkrönung. Bei Regino lösten die Franken mit dem Aufstieg der Karolinger seit Karl Martell Byzanz sowohl in der Chronologie als auch nach den Inhalten des Geschichtsberichts ab, bei beiden karolingischen Autoren bestimmten sie fortan das Weltgeschehen. Sämtliche Chronisten zählen die byzantinischen Kaiser jedoch nicht mehr seit Caesar und Augustus durch und durchbrechen damit gleichsam die in den Kaiserlisten angelegte Kontinuitätslinie. Entsprechend gelten auch die byzantinischen Kaiser, entgegen ihrem Selbstverständnis, nirgends mehr explizit als „römische“ Kaiser, sondern bereits seit der Merowingerzeit als Griechen. Man könnte daher – als Ergebnis – von einer ‚schleichenden Entrömi-

125 So ebd. S. 42. 126 Paulus Diaconus: Historia Romana XV,10, ed. Hans DROYSEN (MGH SRG 49), Berlin 1879, S. 122; ed. Amedeo Crivellucci (Fonti per la storia d’Italia 51), Rom 1914, S. 215: „ita Romanorum apud Romam imperium toto terrarum orbe venerabile et Augustalis illa sublimitas, quae ab Augusto quondam Octaviano coepta [Droysen: coeptum] est, cum hoc Augustulo periit anno ab urbis conditione millesimo ducentesimo nono [. . .], ab incarnatione autem Domini anno quadringentesimo septuagesimo quinto.“ Vgl. POHL, Creating Cultural Resources 2015 (wie Anm. 7), S. 31.

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Hans-Werner Goetz

sierung‘ sprechen, die in der jeweils eigenen Zeit längst vollzogen ist: In der Wahrnehmung der fränkischen Chronisten gibt es weder einen „Fall Roms“ noch eine klare Kontinuität noch einen so gedeuteten Neubeginn durch Karl den Großen. Ein Imperium existiert weiter: in Byzanz und ab 800 auch im Abendland. Das Imperium Romanum ist hingegen mehr oder weniger „Geschichte“ und hat im Selbstverständnis für die Gegenwart offenbar kaum mehr Bedeutung. „Römisch“ bezieht sich bei Ado (wie schon bei Fredegar) vielmehr auf Rom und Italien, und das entspricht, wie Eckhard Müller-Mertens127 und kürzlich Laury Sarti128 aufgezeigt haben, ganz dem zeitgenössischen Sprachgebrauch. Dieser Befund widerspricht, wie es scheint, den jüngsten, eingangs erwähnten und durchaus plausiblen Darlegungen zum Thema „Romanness“ („Being Roman after Rome“) in „Early Medieval Europe“,129 deren Autoren sämtlich die Bedeutung Roms betonen.130 Das bedarf einer Erklärung und wirft die Frage auf, ob die hier behandelten Chroniken des Frankenreichs, die, wie noch einmal betont sei, die Vorstellungen der Historiographen und nicht zwingend auch der fränkischen Könige oder anderer Autoren widerspiegeln, mit ihrer Zurückhaltung gegenüber dem Imperium Romanum und, mehr noch, seiner Nachwirkung, in krassem Gegensatz zu dem anderweitig verbreiteten Rückgriff auf die Errungenschaften der römischen Kultur stehen. Dabei ist zunächst allerdings festzustellen, dass die Autoren des Zeitschriftenheftes durchweg entweder von anderen Aspekten oder von anderen Räumen ausgehen als dieser Beitrag.131 Dennoch: Will man beides

127 MÜLLER-MERTENS, Eckhard: Römisches Reich im Frühmittelalter: kaiserlich-päpstliches Kondominat, salischer Herrschaftsverband, in: Historische Zeitschrift 288 (2009), S. 51–92, zusammenfassend S. 60. 128 SARTI, Laury: Frankish Romanness and Charlemagne’s Empire, in: Speculum 91,4 (2016), S. 1040–1058. Seit dem 6. Jh. hörten die Bewohner des Frankenreichs auf, sich als Römer zu fühlen, während sich Romanus im späteren 8. und 9. Jh. zunehmend auf Italien, Rom und das Papsttum einengte, zugleich aber eine christliche Komponente annahm. 129 Vgl. oben Anm. 6. 130 MCKITTERICK, Pleasures 2014 (wie Anm. 6), S. 390, folgert “that the perception of Rome is a significantly striking aspect of the engagement with the past in the early Middle Ages”; POHL, Romanness 2014 (wie Anm. 6), S. 418, verweist am Schluss auf die römische Kirche, die lateinische Sprache und die römische Kultur, die auch von FISCHER, Reflecting Romanness 2014 (wie Anm. 6) betont wird. 131 MCKITTERICK, Pleasures 2014 (wie Anm. 6), und GANTNER, Romana urbs 2014 (wie Anm. 6) betrachten mit dem ‚Liber pontificalis‘ zwar auch eine historiographische, aber römische Quelle, stellen damit aber einen von vornherein anderen, nämlich den päpstlichen Blickwinkel in den Mittelpunkt; POHL, Romanness 2014 (wie Anm. 6) diskutiert die Vielfalt der Möglichkeiten ‚römischer‘ Identitäten auf eher theoretischer Ebene und auf der Ebene römischer Traditionen; POLLHEIMER, Preaching Romanness (wie Anm. 6) untersucht das Romverständnis im Westgotenreich in einer Predigt der Eusebius Gallicanus-Sammlung vom Ende des 5. Jhs.; FISCHER, Reflecting Romanness 2014 (wie Anm. 6), geht es um das Fortwirken römischer Kultur bei Fredegar, GANTNER, Ro-

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vereinbaren,132 dann entspräche der unbestreitbaren Wertschätzung römischer Kultur (und des christlichen Rom) zwar ein durchaus vorhandenes Interesse auch an der Geschichte des Imperium Romanum, aber keine unmittelbare Verknüpfung des Imperiums mit der Gegenwart mehr, die weder als Fortsetzung des Römischen Reichs begriffen noch damit historisch oder typologisch verglichen wird: Offenbar fehlt den Chronisten ein Bewusstsein für ein politisches Weiterwirken des Imperiums bis in die eigene Gegenwart. Der kulturelle Rückgriff auf römische Autoren spiegelt demnach nicht zugleich ein historisch-politisches Kontinuitätsbewusstsein wider. Nicht einmal Karls Kaisertum wird als neues Anknüpfen verstanden, und Anspielungen auf eine Kontinuität des byzantinischen Reichs deuten sich allenfalls in den Kaiserlisten an, werden ansonsten aber sorgsam vermieden. Das Imperium Romanum als historische Größe gehört vielmehr der Vergangenheit an. Man müsste folglich aber auch die kulturellen Rückgriffe noch einmal daraufhin überprüfen, ob sie tatsächlich auch eine historische Anknüpfung beinhalten (wollen). Zur Absicherung dieses Befundes bedürfte es ohnehin noch einer weit breiteren Quellenbasis, als sie hier zugrunde gelegt werden konnte. Zumindest Frechulf von Lisieux mit seiner mit dem Ende der Römerherrschaft abbrechenden Chronik133 und Paulus Diaconus mit seiner ‚Historia Romana‘ betrachten die römische Antike offenbar als Vorgeschichte der Gegenwart,134 und Kaiser Ludwig II. bezeichnet die

mana urbs 2014 (wie Anm. 6), um die Verlagerung des päpstlichen Romverständnisses auf die Stadt; WARD, All Roads Lead to Rome 2014 (wie Anm. 6), will aufzeigen, dass Frechulf bei der Parallelisierung der Geburt Christi mit der Aufrichtung des Romanum Imperium augustinische und orosianische Traditionen zu verknüpfen weiß. 132 Wenn POHL, Romanness 2014 (wie Anm. 6), S. 416, von den römischen Traditionen beim Zerfall des Weströmischen Reichs her zwei Anknüpfungspunkte römischer Identität sieht, nämlich die Stadt Rom und das Byzantinische Reich, dann hätten die fränkischen Geschichtsschreiber an beides gerade nicht angeknüpft. Umgekehrt kann GANTNER, Romana urbs 2014 (wie Anm. 6), aber die bei Fredegar und Ado erkennbare geographische Einengung des „Romanus“-Begriffs auf Italien sogar für die papstnahen Quellen aufzeigen und damit eine wichtige Parallele zu unseren Beobachtungen bieten. Zwar stellt Gantner in Rom am Ende des 8. Jhs. noch eine imperiale Komponente der „Romanitas“ fest, doch überwiegt auch hier schon bald der Bezug auf die Stadt und das päpstliche Territorium und nicht auf das Reich. Das entspräche auch dem fränkischen Verständnis; vgl. dazu die oben in Anm. 127 und 128 genannten Arbeiten. 133 Zu Frechulfs Bild von Konstantin und Theodosius vgl. WARD, Graeme: Lessons in Leadership: Constantine and Theodosius in Frechulf of Lisieux’s Histories, in: Resources of the Past 2015 (wie Anm. 7), S. 68–83. 134 Vgl. POHL, Creating Cultural Resources 2015 (wie Anm. 7), S. 22 ff. Wie sehr sich aber auch in der ‚Historia Romana‘ der Rombegriff des Paulus gegenüber Eutrop hin zur Regionalisierung und zur Christianisierung des Reichs verschiebt und Byzanz in der ‚Historia Langobardorum‘ zu einer Regionalmacht der Griechen wird, arbeitet MASKARINEC, Maya: Who Were the Romans? Shifting Scripts of Romanness in Early Medieval Italy, in: Post-Roman Transitions. Christian and Barbarian Identities in the Early Medieval West, hg. v. Walter Pohl und Gerda Heydemann (Cultural Encounters in Late Antiquity and the Middle Ages 14), Turnhout 2013, S. 297–363, heraus.

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Frankenherrscher in seinem berühmten Brief an den griechischen Kaiser Basilios I., sicherlich in einer bestimmten, apologetisch geprägten, politischen Situation, explizit sogar als „Nachfolger des römischen Reiches“, während die Griechen aufgehört hätten, Römer zu sein, die Stadt Rom verlassen und die ‚römische‘ Sprache aufgegeben hätten und zu einem davon verschiedenen Volk mit anderer Sprache geworden seien.135 Seit dem 11. Jahrhundert sollte sich dieses Bild ohnehin wandeln. Jetzt wird das mittelalterliche Imperium nicht mehr nur als Nachfolger, sondern immer noch, oft mit der erneuten Durchnummerierung der Kaiser seit Augustus, als Imperium Romanum angesehen.136

5 Exkurs: Versteckte Kaiser? Franken als Träger römischer Kaisernamen Über das engere, hier behandelte Thema hinaus sei noch eine Beobachtung angefügt, die ich bei der Vorbereitung eines Tübinger Vortrags über die Namen des Polyptychons von Saint-Germain-des-Prés gemacht habe,137 dass nämlich einige der hörigen Bauern (und nicht etwa Hochadlige) römische Kaisernamen tragen. Im gesamten Polyptychon finden sich zehn Kaisernamen, die sich allerdings auf nur drei Kaiser verteilen, nämlich einmal Adrianus,138 einmal die weibliche Form Constancia139 und

135 Ludovici II. imperatoris epistola ad Basilium I, imperatorem Constantinopolitanum missum, ed. W. Henze (MGH Epp. 7), S. 385–394, hier S. 390: „et sicut nos per fidem Christi Habrahae semen existimus Iudaeique propter perfidiam Abrahae filii esse desierunt, ita quoque nobis propter bonam opinionem, orthodosiam, regimen imperii Romani suscepimus; Graeci propter kacodosiam, id est malam opinionem, Romanorum imperatores existere cessaverunt, deserentes videlicet non solum urbem et sedes imperii, set et gentem Romanam et ipsam quoque linguam penitus amittentes atque ad aliam urbem, sedem, gentem et linguam per omnia transmigrantes.“ Vgl. MÜLLERMERTENS, Römisches Reich 2009 (wie Anm. 127), S. 56 f. 136 Vgl. dazu SCHRAMM, Percy Ernst: Kaiser, Rom und Renovatio. Studien und Texte zur Geschichte des Römischen Erneuerungsgedankens vom Ende des Karolingischen Reiches bis zum Investiturstreit (Studien der Bibliothek Warburg 17), 2 Bde., Leipzig/Berlin 1929; ERDMANN, Carl: Das ottonische Reich als Imperium Romanum, in: Deutsches Archiv 6 (1943), S. 412–441, mit frühen Belegen für die spätottonische Zeit, sowie jetzt MÜLLER-MERTENS, Römisches Reich 2009 (wie Anm. 127). 137 HAUBRICHS, Wolfgang / GOETZ, Hans-Werner: Namenentwicklung und Namengebung in Oberund Unterschichten des frühen 9. Jahrhunderts in der Île-de-France, in: Namenkundliche Informationen (Journal of Onomastics) 103/104 (2014), S. 110–204. 138 Das Polyptychon von Saint-Germain-des-Prés. Studienausgabe, unter Mitwirkung von Konrad Elmshäuser und Andreas Hedwig ed. Dieter Hägermann, Köln/Weimar/Wien 1993, Palaiseau (II) 34, S. 8. 139 Verrières (V) 54, ebd. S. 33. Der Constancius von Verrières 109 ist ein jüngerer Eintrag.

Unsichtbares oder sichtbares Imperium Romanum?

225

achtmal Constantinus,140 davon vier allein im Fiskus Palaiseau, dreimal in der Elternund fünfmal in der Kindergeneration, und zwar in allen Hörigenschichten und nicht nur unter den Freien (sieben Konstantine sind coloni, einer ist servus). Hinzu kommt noch der frühbyzantinische Kaisername Leo.141 Da (H)adrian zwar Kaisername, doch zugleich einfach ein römischer Name ist, wie sie gerade in Saint-Germain noch vergleichsweise häufig vorkommen, und Leo natürlich auch als theriophorer Löwenname gedeutet werden kann, sippen sich die Bauern letztlich nicht an die römischen Kaiser, sondern nur an einen Kaiser an, und zwar bezeichnenderweise gerade den (wie man glaubte) ersten christlichen Kaiser Konstantin, und selbst hier bleibt zu bedenken, dass Konstantin gleichfalls nicht nur Kaisername, sondern ein römischchristlicher, ‚sprechender‘ Name und Standhaftigkeit (constantia) eine der wichtigsten Tugenden (wenn auch nicht eine der Kardinaltugenden) ist. Die Motivation der Namengebung kann sich hier also grundsätzlich auf beides beziehen (oder sogar eine doppelte sein) und spiegelt potentiell, aber nicht zwingend, einen onomastischen ‚Rückgriff‘ auf die römische Kaiserzeit wider.142 Um diesen Befund noch weiter an Oberschichten zu überprüfen, habe ich die einschlägigen Prosopographien des Frankenreichs143 mit folgendem Befund konsultiert: Bei Heinzelmann gibt es zwar einige frühe, aber nur noch wenige Belege aus

140 Palaiseau (II) 10, ebd. S. 6; 29, S. 8; 79, S. 13; 83, S. 13; Celle-les-Bordes (III) 47, S. 22; Epinay (VI) 44, S. 44; Morsang (XVII) 33, S. 149; Maule (XXI) 66, S. 173 („servus“). Bei der Auflistung der „servi“ Maule 89 handelt es sich wohl um dieselbe Person. 141 Secqueval (XXII) 69, S. 184. Daneben finden sich gotische Königsnamen, nämlich siebenmal der Name Alaricus (Palaiseau [II] 21, S. 7, und 31, S. 8; Gagny [IV] 26, S. 27; Villemeux [IX] 19, S. 59; Villeneuve [XV] 71, S. 135; 89, S. 137; Secqueval [XXII] 92, S. 187) und dreimal Euthari(us), alle in Villemeux (Villemeux [IX] 26, S. 60; 46, S. 62, mit einer Tochter Eutharia; 57, S. 64), in dieser nördlichen Gegend, die nie westgotisch war. Einmal (Celles-les-Bordes (III) 57, S. 23) findet sich der antikmakedonische Herrschername Alexander („Alaxander“). 142 Unter den etwa gleichzeitigen Mönchsnamen des Klosters Saint-Germain gibt es keine Kaisernamen, wohl aber finden sich zwei Konstantine unter den Pariser Klerikern dieser Zeit (der Zeit des Bischofs Askericus) und einer unter den Kanonikern von Langres zur Zeit des Bischofs Albericus I (vor 830); vgl. OEXLE, Otto Gerhard: Forschungen zu monastischen und geistlichen Gemeinschaften im westfränkischen Bereich (Münstersche Mittelalter-Schriften 31), München 1978, S. 63 f. (SaintGermain); ebd. S. 64 (Saint-Denis II). In Saint-Denis, Liste I, ebd. S. 25, gibt es einen „Chludouuicus“. 143 HEINZELMANN, Martin: Gallische Prosopographie 260–527, in: Francia 10, (1982), S. 531–718; SELLE-HOSBACH, Karin: Prosopographie merowingischer Amtsträger in der Zeit von 511 bis 613, Diss. Bonn 1974; EBLING, Horst: Prosopographie der Amtsträger des Merowingerreichs. Von Chlothar II. (613) bis Karl Martell (741) (Beihefte der Francia 2), München 1974; DEPREUX, Philippe: Prosopographie de l’entourage de Louis le Pieux (781–840) (Deutsches Historisches Institut Paris, Instrumenta 1), Sigmaringen 1997; GLANSDORFF, Sophie: Comites in regno Hludouici constituti. Prosopographie des détenteurs d’offices séculiers en Francie orientale, de Louis le Germanique à Charles le Gros 826–887 (Deutsches Historisches Institut Paris, Instrumenta 20), Ostfildern 2011; BORGOLTE, Michael: Die Grafen Alemanniens in merowingischer und karolingischer Zeit. Eine Prosopographie (Archäologie und Geschichte. Freiburger Forschungen zum ersten Jahrtausend in Südwestdeutschland 2), Sigmaringen 1986. Ferner wurde herangezogen: DUFOUR, Jean: Les

226

Hans-Werner Goetz

dem 6. Jahrhundert.144 Ebling vermerkt einen einzigen patricius Phylippus (in der Provence oder Burgund),145 Selle-Hosbach ausgerechnet einen Iulianus, also den Namen des Apostatenkaisers, für einen Priester in Clermont,146 sowie einen Grafen Iustinus (um 567).147 Für die nachfolgende Zeit aber weisen Depreux, Glansdorff und Borgolte bei den Personen in der Umgebung Ludwigs des Frommen und unter den Grafen des ostfränkischen Reichs und Alemanniens keinen einzigen römischen Kaisernamen mehr auf (es sei denn, man will den altdeutschen, von *auda-/Autabgeleiteten Namen Otto148 mit dem unbedeutenden römischen Kaiser Otho in Verbindung bringen). Das gleiche Ergebnis spiegeln die Bischofslisten wider. In den Bistümern des Fränkischen Reiches finden sich im „Gams“149 zwischen 500 und 900 insgesamt nur sechs Belege für Kaisernamen, davon allein drei ausgerechnet für den Tyrannenkaiser Domitian,150 neben einem Claudius151 und nur einem einzigen Konstantin,152 und in Rodez gab es einen Bischof Theodosius.153 Sämtliche Belege stammen jedoch erneut aus dem 6. Jahrhundert. Nach 560 brechen sie ab.154 Seither fehlt also eine Anknüpfung an das Imperium Romanum mittels der Namengebung. Die Frage, ob bei den Bauern des Klosters Saint-Germain mit der Benennung ihrer Kinder demgegenüber zumindest in Einzelfällen eine bewusste Anknüpfung an das römische Imperium vorlag und weshalb dann gerade (und ausschließlich) Bauern ihre Kinder noch im 9. Jahrhundert nach Imperatoren (oder einem Imperator) benannt haben (falls das überhaupt ihre Motivation war), lässt sich nicht beantworten, doch halten die Hörigen von Saint-Germain von ihrem Namenbestand her bekanntlich wohl stärker an der römisch-romanischen Tradition fest als die Oberschichten.

évêques d’Albi, de Cahors et de Rodez des origines à la fin du XIIe siècle (Mémoires et documents d’histoire médiévale et de philologie 3), Paris 1989. 144 Ein „vir inlustrissimus“ Aurelian 501/506 (HEINZELMANN, Gallische Prosopographie 1982, wie Anm. 143, S. 564) und zwei Bischöfe dieses Namens (ebd. S. 564 f.), Bischof Caesarius von Arles 502–542 (ebd. S. 573) und ein Abt Maximinus in Verdun (ebd. S. 649). Alle anderen Belege liegen früher. 145 EBLING, Prosopographie 1974 (wie Anm. 143), Nr. 252 (wie Anm. 143), S. 198 f. 146 SELLE-HOSBACH, Prosopographie 1974 (wie Anm. 143), Nr. 128, S. 119, für die Zeit zwischen 525 und 551. 147 Ebd. Nr. 129, S. 119 f. 148 GLANSDORFF, Comites 2011 (wie Anm. 143), Nr. 144, S. 201 ff. 149 Pius Bonifatius GAMS: Series episcoporum ecclesiae catholicae quotquot innotuerunt a beato Petro Apostolo, Regensburg 1873–1886 (Nachdruck Graz 1957). 150 Domitianus: Lüttich 535/549 (GAMS S. 248); Köln 535/566 (ebd. S. 269); Angers 555–568 (ebd. S. 488). 151 In Glandève um 541 (ebd. S. 553). 152 In Beauvais 555–561 (ebd. S. 511). 153 DUFOUR, Évêques 1989 (wie Anm. 143), S. 76 (Bischof ca. 580–583/584). Vgl. GAMS 1873–1886 (wie Anm. 149), S. 612. 154 Mit Ausnahme des frühbyzantinischen Kaisernamens Anastasius gegen Ende des 7. Jhs. in Carpentras (el. 686).

Übersicht über die Civitas-Hauptorte Galliens Modern (sortiert nach der Ordnung der Notitia Galliarum)

Münzorte (v. a. nach Felder, Endung ohne Beachtung des Kasus, unsichere Zuordnungen kursiv)

Bischofssitze (nach Concilia Galliae)

Notitia Galliarum (ed. Seeck)

Gregor von Tours

Lyon

LVGDVNO

Lugdunensis

Metropolis ciuitas Lugdunensium

x

Autun

AVGVSTEDVNO

Augustodunensis Ciuitas Aeduorum

x

Langres

LINGONAS

Ligonensis

Ciuitas Lingonum

x 

Chalon-sur-Saône

CABILONNO

Cabilonensis

Castrum Cabillonense

Mâcon

MATISCONE

Matisconensis

Castrum Matisconense x

Rouen

ROTOMO

Rothomagensis

Metropolis ciuitas Rotomagensium

x

Bayeux

BAIOCAS

Baiocensis

Ciuitas Baiocassium

x

Avranches

ABRINKTAS

Abrincatensis

Ciuitas Abrincatum

x

Évreux

EBROCECA

Ebroicensis

Ciuitas Ebroicorum



x

1 WEIDEMANN, Margarete: Kulturgeschichte der Merowingerzeit nach den Werken Gregors von Tours, 2 Bde. (Römisch-Germanisches Zentralmuseum. Forschungsinstitut für Vor- und Frühgeschichte, Monographien 3), Mainz 1982, Bd. 2, S. 44, Anm. 244 diskutiert die Editionen, jedoch ohne diejenige von Seeck (Notitia Galliarum, in: Notitia Dignitatum, hg. v. Otto Seeck, Berlin 1876, S. 262–274) zu thematisieren; sie gibt gegenüber der Edition von Mommsen (MGH AA IX, 552–612) der Transskription von LONGNON, Auguste: Atlas Historique de la France depuis César jusque à nos jours, Paris [1885] 1907, S. 14–15 den Vorzug. Daher wird hier gegebenenfalls auf die Lesarten bei Longnon hingewiesen. 2 Nach WEIDEMANN, Kulturgeschichte II 1982 (wie Anm. 1), S. 44–45. 3 LONGNON, Atlas [1885] 1906 (wie Anm. 1): „Castrum Cabilonense“. 4 Bei PROU, Marcel: Les Monnaies Mérovingiennes, Paris 1892 nicht lokalisiert, vgl. aber die Namensähnlichkeit. Vgl. HOLDER, Alfred: Alt-Celtischer Sprachschatz, 3 Bde., Stuttgart [1896] 1961, [1904] 1962, [1907] 1962, I, S. 1402 f. „Eburovices“, deren Hauptort bei Evreux zu lokalisieren ist. https://doi.org/10.1515/9783110623598-011

228

Übersicht über die Civitas-Hauptorte Galliens

(fortgesetzt) Modern

Münzorte

Bischofssitze

Notitia Galliarum

Gregor von Tours

Séez

SAIVS CIVITA

Sagensis

Ciuitas Saiorum





Lisieux

LISIGIDICVM

Lixouiensis

Ciuitas Lexouiorum

x

Coutances

CVSTANTIA

Constantiensis

Ciuitas Constantia

x

Tours

TVRONVS

Turonensis

Metropolis ciuitas Turonorum

x

Le Mans

CENOMANNIS

Cennomannensis

Ciuitas Cenomannorum

x

Rennes

REDONIS

Redonensis

Ciuitas Redonum

x

Angers

ANDECAVIS

Andegauensis

Ciuitas Andecauorum

x

Nantes

NAMNETIS

Namnetensis

Ciuitas Namnetum

x

(um) Quimper

Vannes

VENETVS

St.-Pol-de-Léon Déols (Indre)



DOLVS VICO





Corisopitensis dioecesis

Ciuitas Coriosolitum

Veneticensis

Ciuitas Uenetum

x

Oxomensis

Ciuitas Ossismorum



Dolensis



5 Nach BARTHÉLÉMY, Anatole: Numismatique mérovingienne. Étude sur le Monnayers, les noms de lieus et la frabrication de la monnaie, in: Revue Archeologique 1865, Nr. 550. 6 LONGNON, Atlas [1885] 1906 (wie Anm. 1): „Civitas Sagiorum“. 7 Nach DEPEYROT, Georges: Le Numéraire Mérovingien. L’Âge de l’Or, 4 Bde., Wetteren 1998, II, S. 171. Ob der Ortsname tatsächlich auf Lisieux verweist, wäre zu prüfen. Vgl. HOLDER, Alt-Celtischer Sprachschatz II [1904] 1962 (wie Anm. 4), S. 275 f. „Lixovii, Lexovii“, kein Beleg bis in das 7. Jahrhundert für „Lisigidicum“ oder Ähnliches. Der Ortsname selbst erscheint kaum. Sollte also Depeyrot richtig lokalisiert haben, wäre das eine bemerkenswerte Abweichung im ON. Möglicherweise verweist Lisigidicus auf den Raum (pagus?). 8 Vgl. FELDER, Egon: Die Personennamen auf den merowingischen Münzen der Bibliothèque nationale de France (Bayerische Akademie der Wissenschaften, phil.-hist. Klasse, Abhandlungen, Neue Folge, Heft 122), München 2003, S. 637. 9 LONGNON, Atlas [1885] 1906 (wie Anm. 1): „Civitas Cenomanorum“. 10 LONGNON, Atlas [1885] 1906 (wie Anm. 1): „Civitas Coriosopitum“. 11 511: „Ex civitate Uxoma“; 614: Ex civitate Sammo“. – Vgl. HOLDER, Alt-Celtischer Sprachschatz II [1904] 1962 (wie Anm. 4), S. 895 “Oximensis, pagus” = l’Hiémois, Séez; dazu HOLDER, Alt-Celtischer Sprachschatz II [1904] 1962 (wie Anm. 4), S. 885–887 „Ossimi, Osimi“; der Hauptort der Civitas Ossismorum wäre mit St.-Pol zu identifizieren. 12 LONGNON, Atlas [1885] 1906 (wie Anm. 1): „Civitas Osismorum“. 13 Die Lokalisierung folgt HOLDER, Alt-Celtischer Sprachschatz I [1896] 1961 (wie Anm. 4), 1302.

229

Übersicht über die Civitas-Hauptorte Galliens nach der Notitia Galliarum

(fortgesetzt ) Gregor von Tours

Civitas Diablintum



Münzorte

Jublains (Mayenne)

DIABOLENTIS

Sens

SENONAS

Senonensis

Metropolis Ciuitas Senorum

Chartres

CARNOTAS

Carnotensis

Ciuitas Carnotum

x

Auxerre

AVTIZIODERO

Autissiodorensis

Ciuitas Autisioderum

x

Troyes (Aube)

TRECAS

Trecensis

Ciuitas Tricassium

x

Orléans

AVRELIANIS

Aurelianensis

Ciuitas Aurelianorum

x

Paris

PARISIVS

Parisiensis

Ciuitas Parisiorum

x

Meaux

MELDVS

Meldensis

Ciuitas Melduorum

x

Trier

TREVERVS

Treuiensis

Metropolis ciuitas Treuerorum

x

Metz

METTIS

Mettensis

Ciuitas Mediomatricum, x Mettis

Toul

TVLLO

Tullensis

Ciuitas Leucorum, Tullo



Verdun

VEREDVNO

Viredunensis

Ciuitas Uerodunensium

x

Reims

REMVS

Remensis

Metropolis ciuitas Remorum

x

Soissons

SVESSIONIS

Suessionensis

Ciuitas Suessionum

x

Châlons-surMarne

CATALAVNIS

Catalaunensis

Ciuitas Catalaunorum

x

St.-Quentin

VIROMANDIS

Veromandensis

Ciuitas Ueromandorum

x

Arras

ATRAVETES

Ciuitas Atrabatum



Cambrai

CAMARACO

Cameracensis

Ciuitas Camaracensium

x

Tournai

TVRNACO

Tornacensis

Ciuitas Turnacensium

x

14 15 16 17 18 19

Bischofssitze

Notitia Galliarum

Modern

LONGNON, Atlas [1885] 1906 (wie Anm. 1): „Metropolis civitas Senonum“. Irrtümlich als „Ciuitas Autricum“ nochmals aufgeführt, Seeck S. 264 f. LONGNON, Atlas [1885] 1906 (wie Anm. 1): „Civitas Autissiodorum“. LONGNON, Atlas [1885] 1906 (wie Anm. 1): „Civitas Mediomatricorum“. LONGNON, Atlas [1885] 1906 (wie Anm. 1): „Civitas Catuellaunorum“. LONGNON, Atlas [1885] 1906 (wie Anm. 1): „Civitas Veromanduorum“.

230

Übersicht über die Civitas-Hauptorte Galliens

(fortgesetzt ) Modern

Münzorte

Bischofssitze

Notitia Galliarum

Gregor von Tours

Senlis

SILVANECTIS

Siluanectensis

Ciuitas Siluanectum

x

Beauvais

LOCI VELACOR(V)M

Dioeceses Bellouacensis

Ciuitas Bellouacorum



Amiens

AMBIANIS

Ambianensis

Ciuitas Ambianensium

x

Therouanne (Pasde-Calais)

TAROANNA

Ciuitas Morinum

x

Boulogne-sur-Mer

BONONIA

Ciuitas Bononiensium



Mainz

MOGVNCIACO

Metropolis ciuitas Magontiacensium

x

Straßburg

STRATEBVRGO / ARGENTORATO

Stratoburgensis

Ciuitas Argentoratensium

x

Speyer

SPIRA

Spirensis

Ciuitas Nemetum



Worms

VVARMACIA

Vuormiacensis

Ciuitas Uangionum



Köln

COLONIA

Coloniensis, Agripinensis

Metropolis ciuitas Agripinensium

x

Tungrensis

Ciuitas Tungrorum

X s. a. Maastricht

Vesuntionensis

Metropolis ciuitas Uesontiensium

X

Ciuitas Equestrium, Noidonus



Tongern (Tongres)

Besancon

VESONCIONE

Nyon (Vaude) Avenches

AVENTECO

Auenticensis

Ciuitas Eluitiorum, Auenticus

x

Basel

BASILIA

Basileensis dioecesis

Ciuitas Basiliensium



Windisch

VINDONVISE

Vindonensis

Castrum Uindonissense –

20 LONGNON, Atlas [1885] 1906 (wie Anm. 1): „Civitas Morinorum“. 21 LONGNON, Atlas [1885] 1906 (wie Anm. 1): Metropolis civitas Agrippinensium”. 22 LONGNON, Atlas [1885] 1906 (wie Anm. 1): „Civitas Helvetiorum“. 23 Die Lokalisierung beruht nur auf Namensähnlichkeit und der Wahrscheinlichkeit, mit der Windisch als Prägeort gelten kann. Keine Lokalisierung bei HOLDER, Alt-Celtischer Sprachschatz III [1907] 1962 (wie Anm. 4), Sp. 349, wohl aber Zuordnung von „VINDONISSE“ zu Windisch bei HOLDER, AltCeltischer Sprachschatz III [1907] 1962 (wie Anm. 4), Sp. 347–349.

231

Übersicht über die Civitas-Hauptorte Galliens nach der Notitia Galliarum

(fortgesetzt ) Modern

Münzorte

Bischofssitze

Notitia Galliarum

Gregor von Tours

Castrum Ebrodunense –

Yverdon

Castrum Argentariense Augst

Castrum Rauracense



Port-sur-Saône (Haute-Saône)

Portus Abucini



Tarentaise

DARANTASIA

Tarantasiensis

Metropolis ciuitas Centronium, Darantasia



(zunächst Martigny) Sion

SEDVNVM

Octodurensis

Ciuitas Ualensium, Octodorum



Vienne (Isère)

VIENNA

Viennensis

Metropolis ciuitas Uinnensium

x

Genève

GENAVA

Genauensis

Ciuitas Genauensium

x

Grenoble

GRACINOBLE

Gratianopolitana

Ciuitas Gratianopolitana

x

Aps, Viviers (Ardèche)

VIVARIOS

Albensis, Viuarensis

Ciuitas Albensium, nunc Uiuarium

x

Die

DEAS (VICO)

Diensis (ex Civitate Dea, )

Ciuitas Deensium

x

Valence

VALENTIA

Valencianensis

Ciuitas Ualentinorum

x

St.-Paul-TroisChâteaux

Trecastinensis

Ciuitas Tricastinorum

x

Vaison

Vasuiopnensis, Vasinsium

Ciuitas Uasiensium



Arausicana

Ciuitas Arausicorum



Orange

ARAV[

24 LONGNON, Atlas [1885] 1906 (wie Anm. 1): „Civitas Ebredunense“. 25 LONGNON, Atlas [1885] 1906 (wie Anm. 1): Metropolis civitas Ceutronum“. 26 LONGNON, Atlas [1885] 1906 (wie Anm. 1): „Civitas Vallensium“. 27 Bei FELDER, Personennamen 2003 (wie Anm. 8), S. 623 (Nr. 2313/1): Saint Philibert – de – Grandlieu – (Loire-Atlantique). 28 Vgl. HOLDER, Alt-Celtischer Sprachschatz I [1896] 1961 (wie Anm. 4), Sp. 1245 f. 29 Keine Lokalisierung bei FELDER, Personennamen 2003 (wie Anm. 8), eine von wenigen Möglichkeiten mit dem Wortstamm „Arau“, keine weiteren Argumente dafür oder dagegen.

232

Übersicht über die Civitas-Hauptorte Galliens

(fortgesetzt ) Modern

Münzorte

Carpentras

Cavaillon 

Bischofssitze

Notitia Galliarum

Gregor von Tours

Carpentoratensis

Ciuitas Carpentoratensium, Uindausca



Cavellicensis

Ciuitas Cabellicorum

x

Auennicensis

Ciuitas Auennicorum

x

Avignon

AVINIO

Arles

ARELATO

Arelatensis

Ciuitas Arelatensium

x

Marseille

MASILIA

Massiliensis

Ciuitas Massiliensium

x

Bourges

BETOREGAS

Bituricensis

Metropolis ciuitas Biturgium

x

Clermont (-Ferrand)

ARVERNVS

Claremontana, Aruernica

Ciuitas Aruernorum

x

Rodez

RVTENVS

Rutensis

Ciuitas Rutenorum

x

Albi

ALBIGIINSE

Albigensis

Ciuitas Albigensium

x

Cahors

CADVRCA

Cadurcensis

Ciuitas Cadurcorum

x

Limoges

LEMOVECAS

Lemouicensis

Ciuitas Lemouicum

x

Javols

GAVALETANO

Gabalitana

Ciuitas Gabalum

x

Saint-Paulien (Haute-Loire)/ Velay

VELLAOS

Ciuitas Uellauorum

X (Vellavus)

Bordeaux

BVRDEGALA

Burdigalensis

Metropolis ciuitas Burdegalensium

x

Agen

AGENNO

Agennensis

Ciuitas Agennensium

x

Angoulême

ICOLISMA

Engolismensis

Ciuitas Ecolisnensium

x

Saintes

SANTONAS

Santonensis

Ciuitas Santonum

x

Poitiers

PECTAVIS

Pictauiensis

Ciuitas Pictaurum

x

Périgueux

PETROCORIS

Petrogorensis

Ciuitas Petrocoriorum

x

30 Vermutung von LAFAURIE, Jean / PILET-LEMIÈRE, Jacqueline: Monnaies du haut moyen age decouvertes en France (Ve-VIIIe siecle) (Cahiers Ernest-Babelon, Bd. 8), Paris [2003] 2005, S. 138 (3D.202.1.). Vgl. HOLDER, Alt-Celtischer Sprachschatz I [1896] 1961 (wie Anm. 4), Sp. 308–310 „Avennio“ mit dem Münzort „AVIONIONI“.

233

Übersicht über die Civitas-Hauptorte Galliens nach der Notitia Galliarum

(fortgesetzt ) Modern

Münzorte

Bischofssitze

Notitia Galliarum

Gregor von Tours

Auch

AVSCNS

Ausciensis

Metropolis ciuitas Ausciorum

x

Dax

Aquensis

Ciuitas Aquensium

x

Lectoure

Lactorensis

Ciuitas Lactoratium



CONBENAS

Conuenicensis

Ciuitas Conuenarum

x

CONSERANNIS

Consorannensis

Ciuitas Consorannorum

x

Ciuitas Boatium



Bernarnensis

Ciuitas Benarnensium

x

Comminges Couserans

 

Teste de Buch Béarn Aire

ATVRA

Aturensis / Vicoiuliensis

Ciuitas Aturensium

x

Bazas (Gironde)

VASATIS

Vasatensis

Ciuitas Uasatica

x

Tarbes (HautesPyrénées)

BEGORRA

Begoritana

Ciuitas Turba, castrum Bogorra

X (BegorraCieutat)

Oloron

HELORO(NE)

Eloronensis

Ciuitas Illoronensium



Elosinsis

Ciuitas Elosatium



Eauze Narbonne

NARBO

Narbonensis

Metropolis ciuitas Narbonensium

x

Toulouse

THOLOSA

Tolosana

Ciuitas Tolosatium

x

31 Nach FELDER, Personennamen 2003 (wie Anm. 8), S. 640: Saint-Bertrand-de-Comminges (HauteGaronne). 32 Lokalisierung des Münzortes bei FELDER, Personennamen 2003 (wie Anm. 8): Saint-Lizier (Ariege). – S. auch DEPEYROT IV 1998 (wie Anm. 7), S. 43. 33 Lokalisierung nach HOLDER, Alt-Celtischer Sprachschatz I [1896) 1961 (wie Anm. 4), Sp. 462 und KNIGHT, Jeremy K.: The End of Antiquity. Archeology, Society and Religion AD 235–700, Stroud (Gloucestershire) [1999] 2007, S. 184; die exakte Lokalisierung des Ortes ist das jedoch möglicherweise nicht. 34 Bis zum 4. Jh. Bigorra = Cieuetat (Hautes-Pyrénées), nach HOLDER, Alt-Celtischer Sprachschatz I, [1896] 1961 (wie Anm. 4), S. 417 f. „Bigerriones“. Der Münzort ist bei FELDER, Personennamen 2003 (wie Anm. 8), S. 640 mit Saint-Lézer (Hautes-Pyrénées) lokalisiert. Unmittelbar neben Saint-Lézer befindet sich der größere Ort „Vic-en-Bigorre“, Cieuetat ist auf der Karte nicht zu entdecken. – S. aber DEPEYROT IV 1998 (wie Am. 7), S. 58 und BEGERIITA (Tarbes), ebenda. 35 Nach KNIGHT, End of Antiquity [1999] 2007 (wie Anm. 33), S. 184 „Elloronensium“. 36 „Civitas Elusatium“, nach KNIGHT, End of Antiquity [1999] 2007 (wie Anm. 33), S. 184.

234

Übersicht über die Civitas-Hauptorte Galliens

(fortgesetzt ) Bischofssitze

Notitia Galliarum

Gregor von Tours

Béziers

Biterrensis

Ciuitas Beterrensium

x

Agde

Agathensis

Ciuitas Agatensium

X (Agathae)

Maguelonne

Magalonsis

Ciuitas Magalonensium

x

Nîmes

Nemausensis

Ciuitas Nemausensium

x

Lodève

Loteuensis

Ciuitas Luteuensium



Vticensis

Ciuitas Uceciense

x

Aix-en-Province

Aquensis

Metropolis ciuitas Aquensium

x

Apt

Aptensis

Ciuitas Aptensium



Riez

Reiensis

Ciuitas Reiensium

x

Fréjus

Foroiuliensis

Ciuitas Foroiuliensium



Vappicensis

Ciuitas Uappencensium x

Sisteron

Segistericensis

Ciuitas Segestericorum



Antibes

Antipolitana

Ciuitas Antipolitana



Ebredunensis

Metropolis ciuitas Ebrodunensium

x

Diniensis

Ciuitas Diniensium



Modern

Uzès

Gap

Embrun

Münzorte

VCECE

VAPINCO

EBVRODVNVM

Digne Barcelonette

Ciuitas Rigomagensium –

Castellane

Ciuitas Soliniensium



Saniensis

Ciuitas Sanisiensium



Glannatensis

Ciuitas Glannatena



Cimiez

Cemelensis

Ciuitas Cemelensium



Vence

Vintiensis

Ciuitas Uintiensium

x

Sénez Glandève

Le Puy Toulon

GIANSIEVETATE

ANICIO



Aniciensis



Telonensis



37 Nach KNIGHT, End of Antiquity [1999] 2007 (wie Anm. 33), S. 184 „Salinensium“. 38 Also: GIANO CIVETATE.

235

Übersicht über die Civitas-Hauptorte Galliens nach der Notitia Galliarum

(fortgesetzt ) Notitia Galliarum

Gregor von Tours

Modern

Münzorte

Bischofssitze

Nevers

NEVIRNVM

Nevernensis

x

Laon

LAVDVNO

Laudunensis

x

Noyon

NOVIOMO

Veromandensis / Noviomagensis



Maastricht

TRIECTO

Traiectensis

x (s. a. Tongern)

Belley

BELIS

Belisensis

x

Saint-Jean- deMaurienne

MAVRIENNA

Mauriennensis

x

Carcassonne

Carcassonensis

x

Elne

Elnensis



39 Belley (Ain). Noch bei PROU 1892, Nr. 1338, 1339 unidentifiziert. Vgl. zu Belley LONGNON, Auguste: Géographie de la Gaule au VIe siècle, Paris 1878, S. 231 („Belisio“ = Belleay, Civitas). Belley ist erstmals auf dem Konzil von Paris (551/52) als Bischofsort belegt (auch noch 614). Noch nach CIL XIII 2500 ist Belley vicus (vicus Bellicensis). S. dazu KAISER, Reinhold: Bistumsgründungen im Merowingerreich im 6. Jahrhundert, in: Beiträge zur Geschichte des Regnum Francorum. Referate beim Wissenschaftlichen Colloquium zum 75. Geburtstag von Eugen Ewig am 28. Mai 1988, hg. v. Rudolf Schieffer, Sigmaringen 1990, S. 9–39.

Abkürzungen AE a. AA SS a. d. ahd. BAR BCTH Bd. BL cant. carm. CCL / CCSL CCM CH CIL CSEL CTh Coripp., Ioh. D Dep. dt. engl. ep. ESF F f. / fem. Fln. frk. frz. FS FSGA gallorom. Gde. / Gem. germ. Gregor von Tours, HF GwN HERA I IdAltava idg. in. kelt. LHF Lkr.

L’année épigraphique anno (im Jahr) Analecta Sanctorum an der althochdeutsch British Archeological Reports Bulletin archéologique du Comité des travaux historiques Band Basel Land canton carmen Corpus Christianorum Series Latina Corpus Christianorum (Continuatio) Medievalis Schweiz Corpus Inscriptionum Latinarum Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum Latinorum Codex Theodosianus Corippos, Iohannis Deutschland Departement deutsch englisch epistula / epistola European Science Foundation Frankreich femininum Flurname fränkisch französisch Festschrift Freiherr vom Stein Gedächtnisausgabe ralloromanisch Gemeinde germanisch Gregor von Tours, Historia Francorum = Gregor von Tours, Decem libri Historiarum Gewässername Humanities in the European Research Area Italien Les Inscriptions d’Altava, hg. v. Jean Marcillet–Jaubert (Publications des Annales de la Faculté des Lettres Aix-en-Provence 65), Aix-en-Provance 1968 indogermanisch initium keltisch Liber Historiae Francorum Landkreis

https://doi.org/10.1515/9783110623598-012

238

lat. l. z. m. MGH AA MGH SRG MGH SRM MGH SS Migne, PL ND ndl. NF nö. n.s. / N.S. o. ö. ON P PLRE PmbZ PN Prok., BV RGA röm. rom. r. z. s. S. SC SN SO sö. TA TGF Vict. Vit. Vita Fulg. vlat. vorgerm. westfrk.

Abkürzungen

lateinisch links zur masculinum Monumenta Germaniae Historica, Auctores Antiquissimi Monumenta Germaniae Historica, Scriptores rerum Germanicarum Monumenta Germaniae Historica, Scriptores rerum Merowingicarum Monumenta Germaniae Historica, Scriptores Migne, Jean Paul: Patrologia Latina Nachdruck niederländisch Neue Folge nordöstlich nova series / new series / Neue Serie oben östlich Ortsname Prou, Monnaies Mérowingiennes 1892 The Prosopography of the Later Roman Empire Die Prosopographie der mittelbyzantinischen Zeit Personenname Prokopios, Bella Vandalorum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde römisch romanisch rechts zur siehe / südlich Seite / Saint, sancta / sanctus Collection Sources Chrétiennes Siedlungsname Solothurn südöstlich Tablettes Albertini Toponomie générale de la France (NÈGRE, Ernest: Toponymie générale de la France, Bd. 1–3, Genève 1990–1991) Victor von Vita Vita Fulgentii vulgärlateinisch vorgermanisch westfränkisch

Register zu Personen, Orten und ausgewählten Sachbegriffen Erläuterungen sind auf ein Minimum reduziert. In den Beiträgen enthaltene Listen von Ortsnamen und Orten sind nicht in das Register aufgenommen, s. zu Baiern den Beitrag von Albrecht Greule und zu Soissons, Augusta Raurica/Basel, Metz, Reims, Trier und Köln und Umgebungen den Beitrag von Wolfgang Haubrichs, zu den civitasHauptorten in Gallien den Anhang. Akteure und Autoren Abbo, Monetar in Limoges 163, 165, 169, 171 Abu Yazid 46 Adalgis von Benevent 218 Adalgisil, Diakon in Verdun 126 Ado von Vienne, Erzbischof 203 Anm. 10, 204 Anm. 13, 205, 209–211, 214f, 217–222, 223 Anm. 132 Aegidius, römischer Heermeister 139, 193, 212, 216 Aeneas 207 Aëtius 69, 76, 80 Anm. 56, 192f Agrippinus, comes Galliae 193, 194 Anm. 113 Agroecius, Bischof von Sens 82 Alarich 75, 76 Anm. 37, 183 Ambrosius von Mailand 179–181, 195, 196 Anm. 123, 197, 198 Anm. 135, 220 Anm. 121 Ammianus Marcellinus 76 Anm. 38, 133, 178–181, 197 Anianus von Orléans, Bischof 191, 193 Antalas, maurischer Herrscher 62 Anthemius, Kaiser 208 Antoninus Pius 39 Marcus Antonius 21 Antonius Primus 76 Anm. 38 Aper, Briefpartner Salvians 82 Arbogast, comes 112 Arcadius, Kaiser 206 Anm. 23, 208, 210 Aridius, Romane bei Fredegar 216 Aristoteles 16f Arnuald von Metz, Bischof 130 Ascanius 207 Astius Dinamius 59 Astius Mustellus 58 Astius Vindicianus 58 Attila, Hunne 191f Augustinus 9, 13, 72–74, 85 Anm. 79, 87, 95, 180 Anm. 31, 182, 184 https://doi.org/10.1515/9783110623598-013

Augustus (Octavian) 39, 99, 166, 205, 207f, 210f, 214, 221, 224 Auspiciola, Tochter von Salvian 73, 82 Basilius von Aix 190 Baudulfus, Monetar 160 Bonifatius 171 Brennus 183 Caesar 20f, 39, 166, 205, 207, 209, 221 Caesarius von Arles 198f, 226 Anm. 144 Caracalla – s. auch Constitutio Antoniniana 20 Cassianus, Mönch 72, 87, 94 Castinus 89 Cato 86 Cattura, Nonne 82 Chilperich, König 212, 216 Chlodwig, König 138 Anm. 118, 139f, 206, 207 Anm. 35, 210, 215f, 217 Anm. 1 Chlothar I., König 140 Cincinnatus (Lucius Quinctius Cincinnatus) 85 Constans – s. auch Konstans 208 Constantinus – s. Konstantin Constantius II., Kaiser 208 Constantius III., Kaiser 76, 89 Constantius von Lyon 192f Desiderius von Cahors 83f Diokletian / Diocletian, Kaiser 205, 206 Anm. 22, 207, 208 Anm. 41 Domitian, Kaiser 20, 23 Anm. 31, 205, 226 Ebroin 170 Ecdicius 189 Eirene, byz. Kaiserin 214, 215 Anm. 90, 221 Epikur 95 Eucherius, Bischof von Lyon 72 Anm. 13, 73, 76 Anm. 36, 81 Anm. 61, 82–84, 87, 94f Eurich 189 Anm. 86, 190 Q. Fabius Maximus Verrucosus 85 Anm. 79 C. Fabricius Luscinus 85 Faustus von Riez 190

240

Register zu Personen, Orten und ausgewählten Sachbegriffen

Frechulf von Lisieux 204, 223 Fredegar 205–217, 220–223 Fulgentius von Ruspe 55, 60 Gaius Gracchus 39 Galienus, Kaiser 205 Galla Placidia 75 Geiserich, Vandalenkönig 55, 77, 185 Anm. 61 Flavius Geminius Catullinus 49, 54, 57–59 Geminius Cresconianus 49 Geminius Felix 49, 50 Anm. 68, 57 Gennadius 73 Gennaios, Patriarch 11–14 Genovefa von Paris, Heilige 191, 193, 198 Germanus von Auxerre, Bischof 192f Goar, alanischer Anführer 76 Graecus von Marseille, Bischof 190 Gratian, Kaiser 179f Gregor der Große, Papst 212 Gregor von Tours 5 Anm. 14, 120, 162–165, 169, 172, 181–186, 189, 191, 194–196, 205–208, 211–213, 215f, 220, 227–235 Gregorios, Exarch 36, 44 Gundowald, Thronprätendent im Frankenreich 194 Anm. 118 Gunthamund (484–496), vandalischer König 50, 56 Gunthramn, dux 194 Helena, Mutter Konstantins 208 Herakleios, Kaiser 207, 213 Anm. 77, 213 Anm. 80 Hieronymus / Hieronymos 13, 73, 181, 183, 205f, 208, 209 Anm. 57, 210 Anm. 58, 220 Hilderich, vandalischer König 58, 62 Honoratus, Gründer von Lerins 72f Honorius, Kaiser 65, 75, 78 Anm. 44, 89 Anm. 93, 208, 210 Hunerich (477–484), vandalischer König 48 Hydatius von Aquae Flaviae 77, 179, 181, 188 Anm. 76, 192, 195 Hypatius, Schwiegervater von Salvian 82 Ianuarius, Märtyrer 65 Johannes, Papst 219 Julian Apostata 76 Anm. 38, 208 Gaius Iulius Caesar – s. Caesar Iugmena 63 Iulianus, Priester in Clermont 226 Iulius Capsar, Presbyter 65 Julius Nepos 190 Justin II., Kaiser 212 Anm. 73, 213

Justinian, Kaiser 35, 178, 194f, 213 Anm. 77 Justinian II., Kaiser 214 Iustinus, Graf 226 Karl III. 219 Karl der Große 155, 202 Anm. 4, 214f, 217–219, 221–223 Karl der Kahle 219 Karl Martell 130, 214, 219, 221 Konstans II. 44 Konstantin der Große, Kaiser 206–208, 210, 214–216, 223 Anm. 133, 225f Konstantin III. 76 Konstantin VI. 214 Kyriakos, Presbyter Hierapolis 11, 14 Laktanz 84 Anm. 73, 86 Leon, Kaiser 208, 213 Anm. 78, 214 Leon III., Kaiser 214, 215 Anm. 89 Leontius von Arles, Bischof 134, 190 Leuva 213 Limenius 82 Litorius, römischer Feldherr 73 Anm. 25, 184, 188f Lothar, Kaiser 218 Ludwig der Fromme 218, 220 Anm. 121, 226 Ludwig II. (von Italien) 218f, 223 Lukullus / Lucullus 207 Lupicinus von Saint Maurice d’Agaune, Abt 193 Marius von Avenches, Bischof 195f Markian, Kaiser 208 Maroveus von Portiers, Bischof 163 Martin von Tours, Bischof 206, 217 Anm. 101 Masgivini, praefectus 64 Masuna, rex, procurator Altavae 63, 65f Maurikios, Kaiser 212, 213 Anm. 77, 213 Anm. 78 Maximus, procurator Altavae 64 Ulpius Maximus, episcopus 65 Michael, Kaiser (812) 214 Anm. 86, 215 Anm. 90, 221 Nero, Kaiser 205, 216 Nikephoros, Kaiser 215 Anm. 90, 217, 218 Anm. 108 Notker der Stammler 218 Orientius von Auch, Bischof 189, 199 Orosius 76 Anm. 36, 76 Anm. 38, 87, 95, 180–184, 205f, 210, 220 Otho, Kaiser 226 Palladia, Ehefrau von Salvian 73, 82 Pappolus von Metz, Bischof 128, 130 Paulinus von Nola 72f, 81 Anm. 61

Register zu Personen, Orten und ausgewählten Sachbegriffen

Paulinus von Pella 184–186, 194 Anm. 114, 197 Paulus / paulinisch 11, 13, 93 Paulus Diaconus 175 Anm. 1, 203 Anm. 7, 221, 223 Pelagius 74 Anm. 30, 94 Phylippus, patricius 226 Pippin der Jüngere 155, 218 Anm. 110, 220 Anm. 121 Plato 14, 84, 86 Polybios 23, 24 Anm. 32 Prokop 7 Anm. 17, 55 Prosper von Aquitanien 181, 192 Prosper von Orléans, Bischof 191 Ptolemäus 105f, 108f Pythagoras 84 Quieta, Schwiegermutter von Salvian 82 Radagais, Gote 75 Regino von Prüm 203 Anm. 10, 204 Anm. 13, 205, 210f, 214f, 218–221 Remigius von Reims 215 Remus 207, 209 Romulus 207, 209 Romulus Augustulus, Kaiser 63, 78 Ruricus, Briefpartner des Sidonius Apollinaris 83 Safer Ider, procurator castra severiana 63 Anm. 145, 64 Salonius, Sohn des Eucherius 73, 82, 84, 87 Salvian(us) von Marseille 7, 9, 69ff, 188–190, 197 Servius Tullius, römischer König 205 Severinus von Bordeaux 186f Severus Alexander, Kaiser 207 Sidonius Apollinaris 7, 9 Anm. 22, 129, 183, 189–191, 197, 200 Sigibert I., König 128, 140, 217 Anm. 101 Silvester I., Papst 215 Silvius, König der Latiner 209 Sokrates 86, 95 Stilicho, römischer Heermeister 75, 76 Anm. 36, 76 Anm. 38 Sulpicius Severus 72 Syagrius, römischer Heermeister 112, 212, 216 Theoderich, König der Ostgoten 73 Anm. 25, 81, 213 Anm. 78 Theoderid, König der Goten 188, 199 Theodorus von Marseille, Bischof 194 Theodosius I., Kaiser 27 Anm. 41, 206–208, 210, 223 Anm. 133

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Theodosius II., Kaiser 65, 208, 210, 214 Theodosius von Rodez, Bischof 226 Theudebert I., Merowingerkönig 7, 195, 207 Anm. 35, 217 Anm. 101 Theudowald 131 Tiberius, Kaiser 85 Anm. 79, 205, 207 Anm. 35, 211 Tiberius, byz. Kaiser 212 Trajan, Kaiser 27, 205, 208 Trudo, Metzer Kleriker 125 Uldin, hunnischer Anführer 76 Valens, Kaiser 180f, 182 Anm. 38, 206 Anm. 20, 207 Anm. 35, 208 Anm. 44 Valentinian I., Kaiser 27, 99 Valentinian III., Kaiser 69, 78 Valerian, Kaiser 205, 206 Anm. 22 Venantius Fortunatus 186f, 200 Veranus, Sohn des Eucherius 73, 87 Verus, Briefpartner des Salvian 82 Victor von Vita 48, 55, 61 Vincenz von Lérins 95 Orte und Räume Aachen 133, 217 (Bad) Abbach 102 Adrianopel 178–182 Ägypten 16, 36, 38, 44, 51, 217 Anm. 101 Africa / Afrika – s. auch Ifrīqiya 33ff, 76f, 78 Anm. 44, 81, 90, 95, 177, 182, 188 Africa proconsularis 33, 38, 44f Algerien 38, 56, 63 Alpen, Alpenvorland 98f, 166 Anm. 48 Altava 40, 63–66 Altmühl 101, 103, 105, 107 al Urbus (Lares) 46 Ammaedara 43, 58f Andechs 99, 103 Andernach 115, 119 Anm. 31 Angers / Andecavis 30, 166, 226 Anm. 150, 228 Aremorica 193 Arles 72, 193, 198f, 232 Arvernum / Arverni 82, 232 Atlas-Gebirge 38, 42f, 64 Augsburg 99f, 103f, 107–109 Augusta Raurica / Augusta Rauracorum / Augst 134f, 231 Aures-Gebirge 43–46, 56 Austrasien 128, 135 Auvergne s. auch Arvernum 184, 190

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Auxerre 192f, 229 Bad Abbach s. Abbach Bāğa (Vaga) 46 Bāġāya (Bagai) 46 Bagrades, Medjerda 53, 60 Baiern 3, 5, 109 Banassac 159 Basel / Basilia 111, 114, 118, 134f, 143, 230 Bayern 6, 97–109 – Niederbayern 97, 105–107 – Oberbayern 97, 108 Bazas 184–188, 233 Belgica 9 Belgica prima 111f, 117, 123f, 149 Belgica secunda 111, 135 Bernkastel 114, 119, 123f Berrouaghia, Algerien 63 Bethlehem 183 Bir Trouch 55, 62 Bitburg 105, 114 Böhmen 105 Bonn 132f, 143 Boppard 114f Bordeaux 76, 184, 186–188, 232 Bozen 104, 118 Bregenz 99, 109 Breisgau 122 Bretagne 164 Britannien 76, 109, 196, 218 Anm. 110 Burgheim 99 Byzacena 36, 38, 44f, 55, 62f Byzanz s. auch byzantinisch (Sachen und Begriffe) 7, 172, 204, 211–218, 221f, 223 Anm. 134 Cannes 72 Capsa 44f Chalon-sur-Saône 162, 198f, 227 Chur 5 Anm. 14 Clermont – s. Avernum Constantine 45 Cyrenaica – s. Kyrenaika Djebel Mrata 49 Dolichae 157 Donau 75f, 98f, 102–109, 178–180, 198 Donauprovinzen 179–181 Dorsali 62 Dougga (Thugga) 46 Eifel 114f, 120 Eining 99, 103

Epfach 99f, 104, 106f Florenz 75 Füssen 103, 108 Gallaecia 192 Gallia / Gallien – s. auch Frankenreich (Sachen und Begriffe) passim Gauting 99, 104, 106 Genf 73, 93 Germania 97, 111 Germania secunda 111, 132 Gondorf 114, 119 Gunzenhausen 100, 103 Hadrumentum – s. auch Sousse 46 Henchir el Abiod 56 Hierapolis 9, 11–13 Hippo Regius 43, 182 Hunsrück 114f, 119, 123 Anm. 54, 124 Anm. 57 Iberische Halbinsel 34, 194, 196 Ifrīqiya 36, 44–46 Iller 99, 103, 108 Inn, Fluss 100, 104–107 Irni 19 Anm. 11, 20–24 Italien 7, 15, 25, 28, 61, 75, 117, 172, 178, 180, 182, 190, 195, 208, 212–214, 218, 221–223 – Oberitalien 99, 182, 195, 200 Jerusalem 91, 94, 205 Anm. 19 Jülich / Iuliacum 132f, 143 Kairouan 44, 46 Kallmünz 102, 108 Kap Bon 44 Karden 114, 119 Karthago 36, 39, 42–44, 46, 48, 50, 55f, 61, 77, 90, 188 Kastelláun 115, 119 Kempten 99, 103, 108f Kleinasien 9, 11f Kleine Syrte 34 Anm. 3, 38, 62 Koblenz 76, 114f, 119 Köln / Colonia Agrippinensium 72 Anm. 13, 73, 80f, 83, 90, 111, 118, 126, 132–134, 143, 230 Konstantinopel 35f, 44, 207f, 213f, 217 Kyll 114 Kyrenaika 36, 38 Laaber, Fluss 102 Lambaesis 39, 43–45 Landshut 103, 106 Laodikeia 12 Lech, Fluss 100, 103, 106, 108f

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Lerinum / Lérins 72f, 81–83, 87, 91, 93–95, 188 Libyen 38 Limoges / Lemovecas 160, 162–165, 169, 171, 232 Linz 104 Lugdunensis tertia 198 Luxemburg 114, 119f Lyon / Lugdunum 72, 166, 227 Maastricht 143, 235 Mahdia 45f Mainz 76, 122, 143, 230 Maknassy 56 Manching 99f, 103, 106f Marokko 38, 77 Marseille 7, 69, 72f, 87, 94, 159, 164, 170, 232 Mauretania Ceasariensis 38, 40, 43, 63f Mauretania Sitifensis 33, 38, 43, 45 Mauretania Tingitana 38, 77 Mauretanien 44f Mayen 115, 132 Mayengau 115, 119 Maxima Sequanorum 111 Merzig 117, 122 Mettlach 121–123 Metz / Mettis 111, 123–128, 130–132, 138, 143, 166, 229 – S. Symphorien 128, 130 Meurthe, Fluss 124 Miltenberg 97 Mittelfranken 97 Mittelmeer (und Komposita) 4, 16–18, 35, 43–46, 167 Mosel / mosellanisch 112–116, 118–124, 130–134, 144–146, 148, 150 Moselromania / Mosella Romana 113f, 116 Anm. 18, 118–124, 126, 133, 144, 146 München 99 Nersingen, Lkr. Neu-Ulm 99, 103 Neumagen 114, 116 Noricum / norisch 97, 101, 105, 117 Numidia 33, 38, 45 Oran, Ebene 64 Orléans 191–193, 229 Pähl, Lkr. Weilheim-Schongau 98, 102f Palaiseau, fiscus 225 Pannonien 75, 180 Anm. 24 Paris 159f, 225 Anm. 142, 229 Passau 5, 99–103, 105–107 Pfalzel 116

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Phrygia Pacatiana 12 Poitiers 163, 232 Prims 114 Provence 72, 164, 226 Prüfening, Stadt Regensburg 98, 101f Prüm 114 Pupput 44 Pyrenäen 76, 200 Raetia (auch Rätien) 97, 99, 103f, 108 Raetia prima 105 Raetia secunda 100 Ravenna 77 Anm. 42, 90, 193, 195 Regen, Fluss 98f, 102, 105, 107 Regensburg 5, 99, 101f, 104, 106f Regiae 40 Remich 114f, 119, 124 Rhein (und Komposita) 75f, 80 Anm. 56, 99, 114f, 119f, 122, 130, 133–135, 144, 148, 150, 164f, 183, 192, 198 Rheinhessen 122 Rhein-Zabern 122 Rhône-Tal / Rhone-Tal 72 Ries 99, 103, 108 Ripuarien 134 Römisches Reich – s. Imperium Romanum (Sachen und Begriffe) Rom, Stadt 2, 17, 19f, 23, 75, 78, 81, 85 Anm. 79, 156, 182–184, 192f, 203 Anm. 10, 214, 217–219, 222–224 Ruwer, Fluss 114 Saal, an der Donau 102 Saar 114–117, 119–122, 124, 145 Saarburg 116f, 119, 121 Salzburg 99, 114, 118 Sarrebourg 124, 131 Sauer 114 Schwaben 97, 108 Seebruck 99, 103, 105 Sétif 42 Anm. 34, 45 Sierck 115 Soissons 112, 135, 139f, 142f, 153, 229 – S. Medard 140 Solignac, Dep. Haute-Vienne 164, 171 Sousse (Hadrumentum) 46 Spanien – s. auch Iberische Halbinsel 7, 19f, 25, 30 Anm. 53, 72, 76 Anm. 38, 78 Anm. 48, 80f, 157 Anm. 6, 172, 213 Speyer 143, 230 Stockstadt 97

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Straßburg 143, 230 Straubing 99, 103, 107 Südfrankreich 115 Südtirol 117f Sufetula 36, 44 Tacape 44 Tarquimpol (Decempagi) 124 Thabudeos 45 Thamugadi 39, 46 Thanaramusa 63 Theilenhofen 99, 103, 109 Thelepte 44 Theveste 43–46 Thubunae 45 Tiaret 45 Tirol 118 Tongern 125, 143, 230, 235 Toul 124, 229 Toulouse 76, 184, 188f, 233 Tours 163 Anm. 31, 163 Anm. 33, 168f, 172, 228 – St. Martin 163 Traben-Trabach 114 Trechirgau 115, 119 Trier / Treveris / Augusta Treverorum 5 Anm. 14, 73, 80 Anm. 56, 88–90, 111–115, 118–121, 123, 132f, 143, 160, 229 Tripolitana / Tripolitanien 34 Anm. 3, 36, 38, 44, 64 Anm. 151 Troja 217 Tunesien 36, 38, 42, 46, 53, 56 Ufernoricum 100f Urso 15, 20–22, 25 Anm. 35 Utrecht 143 Vence 73, 234 Verdun 143, 218, 229 Via Claudia Augusta 99, 109 Vosges / Vogesen 124f, 131 Wadi Mitta 56 Wadrill 114 Weißenburg 99, 103, 109, 125f, 131 Westromania 97 Wörth 97 Worms 143, 230 Zabi 43, 45 Zons 132 Zülpich 132f, 143

Quellen (im Text genannt) Ado von Vienne – s. Personen Bibel – Ezechiel 179, 180 Anm. 31, 183 – Offenbarung des Johannes 179 – Timotheus 13, 93 Cassianus, Conlationes 87 Constantius von Lyon, Vita S. Germani 193 Eucherius von Lyon, Formulae spiritualis intelligentiae 87 Eucherius von Lyon, Instructiones 87 Eugippius, Vita severini 100f, 106 Formulae Andecavenses 30, 164–166 Fredegar – s. Personen Gregor von Tours, Historiae 120, 129, 162–165, 169, 172, 181–186, 189, 191, 194f, 205f, 208, 211–213, 215f, 220f, 227, 229–235 Hinkmar von Reims, Vita S. Remigii 139 Hippolyt, Liber generationis 207 Itinerarium Antonini 100, 105–109, 116, 164 Livius, ab Urbe condita 82 Notitia dignitatum 100, 105, 107–109 Notitia Galliarum 5, 107, 161, 227ff Notker der Stammler – s. Personen Pardulus von Laon an Hinkmar von Reims 139 Polyptychon von Saint-Germain-des-Prés 224 Quodvultdeus von Karthago, De tempore barbarico 199 Regino von Prüm – s. Personen Reichsannalen / Annales regni Francorum 214, 217, 219 Salvian, Ad Ecclesiam 73, 93f Salvian, De gubernatione Dei 69, 73–75, 84, 92, 94, 188 Tablettes Albertini – s. Sachen und Begriffe Tabula Peutingeriana 100, 105–109, 116, 164f Vita S. Aniani 191 Vita des Bibianus von Saintes 199 Vita Eligii 160, 163f, 171 Vita Genovefae 191, 193, 198 Vita Lupicini 193 Vita Severini 100, 103, 105–107 Vita S. Trudonis 125 Weißenburger Urkunden 125f, 131 Zwölftafelgesetz 17

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Gruppen Agilolfinger 104 Aglabiden 45 Alamannen / Alemannen 99, 139, 143, 167 Alanen 70, 75, 76 Anm. 38 Andecavenses – s. auch Angers 165f Bagauden / bacaudae 74, 79, 81, 193 Anm. 107 Baiwaren / Baiern 3, 5, 104f, 109 Berber, s. auch berberisch 46, 62 Briten 210 Burgunder 70, 75f, 139, 208, 210, 216 Fatimiden 45–47 Franken 76, 80f, 89, 139, 167, 199, 208, 210, 212 Anm. 71, 216–218, 219 Anm. 120, 221, 224 Germanen 1, 16, 85, 101, 139, 166f, 199 Anm. 140 Goten 75, 76 Anm. 38, 79, 139, 167, 180 Anm. 31, 183, 186, 190, 192, 195, 196 Anm. 125, 199, 206 Anm. 21, 210 Griechen 85, 212f, 219, 221, 223 Anm. 134, 224 Hebräer 219 Hunnen, hunnisch 73 Anm. 25, 75f, 178, 185 Anm. 61, 188, 190–192 Karolinger 130, 155, 211 Anm. 64, 215, 218, 221 Kelten 100 Langobarden 167, 172, 182, 213 Anm. 78 Lemovicini 165 Mauren 63 Merowinger 31, 158, 164, 195 Muslime 36, 44 Ostrogoten / Ostgoten – s. ostgotisch Pictavenses 165 Römer 17–20, 63, 74, 76–82, 86 Anm. 85, 90, 95, 97, 99f, 188, 196, 204f, 207, 211f, 213 Anm. 77, 214f, 216 Anm. 98, 217–219, 222 Anm. 128, 224 Romanen 1, 167, 216 Sachsen 199, 212 Anm. 69, 216 Anm. 98 Sarmaten 139, 143 Sueben 70, 75f Vandalen – s. auch vandalisch (Sachregister) 33 Anm. 1, 34f, 37, 48, 50, 55, 60, 62f, 67, 70, 75–77, 81, 90, 188, 208 Visigoten / Westgoten 29 Anm. 48, 76, 78 Anm. 45, 172, 199, 208

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Sachen und Begriffe 7. Jahrhundert 2, 3, 5, 6, 30 Anm. 52, 36, 42, 44, 64, 121–123, 126f, 134f, 138, 155, 165f, 168, 170, 205, 228 Anm. 7 19. Jahrhundert 16, 158, 167 Abgaben – s. auch Steuern 52f, 55f, 160, 163f, 170, 172, 199 Abstammungsgemeinschaft 167 Adel – s. Eliten ager publicus 25 Aedil 22, 23 Anm. 31, 25, 27 Anm. 39 Akkulturation 3 amicitia – s. auch Freundschaft 83 Anm. 65, 192 Anstaltsstaat 4, 16 anthroponymisch 113 Archäologie / Archäologen 11, 37, 40–42, 62, 97f, 111, 127f, 131 arianisch (auch homöisch) 48, 55 Anm. 102, 167, 180f, 185, 198 Armut 80, 85, 88 Askese 73, 91 Astarte 90 Autonomie 15, 18–21, 24–26, 28f, 31, 161 bairisch / baiwarisch 98, 101f, 104–107, 113 Anm. 9 Barbaren / barbari 8, 74, 78, 81, 88 Anm. 92, 90–92, 106, 138f, 175, 178, 180 Anm. 24, 180 Anm. 31, 181, 185 Anm. 61, 189, 193, 194 Anm. 113, 198–200, 217 Anm. 103 Basileus 212–214, 217 Basilica (auch Münzumschrift) 58, 65, 159 Berberisch – s. auch Berber (Gruppen) 52 „Berberreiche“ 62 Bischof / episcopus (ohne Amtsbezeichnungen von Personen) 5, 8, 12, 30, 72, 74, 81, 83, 93, 155, 161–166, 168–171, 185f, 192, 197, 226–235 Bischofswahl 171 Briefe / Briefliteratur / Briefkommunikation 13, 72f, 81–85, 96, 203 Anm. 8 Bürger 4, 17, 19f 24f, 80, 165f Bürgergemeinde 166 Bürgerkriege 77 Bürgerrecht 19, 80, 198 byzantinisch (s. auch Byzanz) 7, 11, 35f, 37 Anm. 17, 41f, 44, 46, 55, 61 Anm. 132, 62, 67, 159, 172, 212f, 215, 217–219, 221, 223, 225

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caesar (Titel) – s. auch Caesar (Personen) 23 Anm. 31, 207–212 canabae legionis 99 Capitolinische Trias (Iupiter, Iuno, Minerva) – s. auch Jupiter 29 castra – s. auch Kastell 98, 101f, 107–109, 143 Christen 14, 84, 87f, 90f, 93, 95, 182f, 203, 210 Christentum / Christenheit 4, 9, 11, 12 Anm. 6, 48, 58, 87, 167, 184, 208 Christenverfolgung 48, 76 Anm. 36, 205f, 208 Christianisierung 3f, 205, 211, 213, 215f, 223 Anm. 134 civitas / civitates (nicht als Bezeichnung für einzelne Städte) 1f, 4–9, 17f, 18 Anm. 9, 19, 27, 30, 33, 38, 67, 104, 111, 132, 143, 156, 159, 161f, 164–166, 168–170, 172f, 176, 186 Anm. 65, 187f, 191f, 194, 196f, 227 civitas-Hauptort / civitas-Zentrum / Vorort 5f, 131f, 138, 140, 143, 159, 163, 169 coloni – s. Kolonen colonia / Kolonie (ohne einzelne Kolonien) 15, 17, 19–21, 22 Anm. 24, 25, 28f, 39, 158 comes / Graf (ohne einzelne Grafen) 12, 128, 163 Anm. 31, 163, 169f, 200 Anm. 148, 226 conductores – s. Konduktoren Constitutio Antoniniana – (s. auch Caracalla) 20 consules 90 curator / Curatur 27, 28 Anm.45, 30 curia 21, 30 curtis 128f, 138f, 142f defensor 27, 28 Anm. 45, 29 Anm. 48, 30 Dekurionen 23–25, 27–29 Descriptoren 163 Diadem 159 diocesis Africae 61 dispunctores 65 domesticus 163, 171 Dominat 18 dominus 49, 53f, 57–59 domus Augusta – s. Kaiserliches Haus duoviri / Duovirn 21–25, 27f Eid (der Magsutrate) 23, 30 Eliten / Oberschicht / Aristokraten 1, 4, 7–9, 26f, 30, 35, 40, 59, 61, 72, 79, 83, 88, 90f, 94, 95 Anm. 122, 104, 155, 166–168, 170f, 175, 178, 184, 225f – Adel 72, 81f, 89, 91, 95 Anm. 122 – Städtische Eliten 21, 40

Emphyteuticarius 57 Epochen (-wandel, -schwellen, -wenden) 2, 4, 11, 34 Anm. 2, 75 Anm. 33, 207, 221 Erinnerung 139, 167, 183, 185–187, 189, 199 Erneuerung – s. auch Reform 43, 98, 202 Erzbischof / archiepiscopus 11f, 139 Ethnonym 109, 138f Etymologie / etymologisch 98, 100, 102, 107–109, 116, 138 Eviktionsstipulation 51 Fernhandel – s. auch Handel 160 Finanzen – s. Öffentliche Mittel fiscus – s. auch Öffentliche Mittel und Finanzen 142, 163 fiskalisch / fiskalrechtlich 55f, 60, 164 flamen perpetuus 58f foederati / Föderaten 77, 100, 105, 187, 189, 200 fränkisch 7, 30, 80, 81 Anm. 57, 112f, 118, 122, 124, 126–128, 130, 133f, 138, 144, 158, 172, 182, 201, 203–205, 213–223, 226 Frankenreich – s. auch Gallien (Orte und Räume) 5, 170f, 176, 195f, 201, 206, 216f, 220–222, 225 französisch (auch Komposita) 118–120, 123, 126, 129 Frauen (nur Plural) 52, 86, 134, 218 Freundschaft – s. auch amicitia 17, 82f Fundmünzen 160 fundus 49f, 54f, 57, 60 fundus Tuletianus 49f, 54f, 57–59 gallo-fränkisch 159, 162, 170, 172 gallo-romanisch 6, 116f, 121, 127–129, 135, 137f, 140, 143, 145 gallo-römisch 74, 80–82, 91, 175 Anm. 1 Geldumlauf 157, 160 genius 21, 23 gentes 7, 45, 61 Anm. 133, 138, 179f, 183, 208 Gerechtigkeit 82, 89, 93, 193 Gericht / Gerichtsverfahren 24, 26, 27 Anm. 41, 74, 78 (Patrimonialgerichtsbarkeit) Germanisch – s. auch Germanen (Gruppen), ohne sprachwissenschaftliche Qualifikation von einzelnen Namen 1f, 6, 8, 16, 72, 97f, 100–102, 105, 112–114, 118, 124, 127, 130f, 138, 144, 150, 165–169, 171 „Germanentum“ 167 Germanisierung 134, 168 Geschichtsbewusstsein 202f

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Geschichtsschreibung, Geschichtsschreiber / Historiographie 7, 42, 55, 177 Anm. 10, 180, 183, 194, 196f, 199, 201–205, 208f, 211 Anm. 64, 219f, 222, 223 Anm. 132 Gold (und Komposita) 7, 158f, 161, 163f, 168 Anm. 53, 172, 212 Grenzen (auch Reichsgrenzen) 6, 8, 11, 27, 97, 104, 155, 164, 198, 204 Gotenkriege 178, 195 Gott 11, 13f, 70, 74f, 78, 80, 82, 84f, 88–90, 92f, 95f, 157, 182, 185, 188, 206 Gräberfeld 126 Graf – s. comes griechisch (für Byzanz) 7, 184 Große – s. auch Eliten 130, 155 Gütergemeinschaft 52 Hagiographie 196 Handel – s. auch Fernhandel 160f, 170 Häretiker 48 Hausmeier 130f, 155, 216 Anm. 99 heidnisch / Heiden – s. auch pagan 73, 84, 88, 90, 182, 198, 210 Heilsgeschichte, heilsgeschichtlich 95, 184, 209 honores 24 Hydronyme 116 iacus / -iacum (Suffix, ohne einzelne Ortsnamennennungen) 117, 165 Identität 1, 6f, 19, 29, 35 Anm. 9, 64, 70, 80, 83, 90, 95f, 166, 169f, 175–177, 182, 186–188, 196–198, 202, 204, 205 Anm. 15, 206 Anm. 27, 222 Anm. 131, 223 Anm. 132 Ikonographie 169 Imperator – s. auch Kaiser 89 Anm. 94, 180 Anm. 26, 180 Anm. 29, 195 Anm. 120, 205, 207f, 210, 212–214, 217–220, 225 Anm. 135, 226 Imperatrix 214, 218 Anm. 108 imperium 1f, 7f, 18, 24, 33, 58, 64f, 77, 95, 140, 179, 182f, 189, 195–198, 201, 204–208, 209 Anm. 57, 210, 213–224, 226 Imperium Romanum 33, 34 Anm. 3, 38–40, 47, 58 Anm. 114, 59, 68, 70, 75 Anm. 33, 79f, 85, 176, 182, 184, 186, 189f, 194–198, 201, 204–206, 211–213, 218–224, 226 Inschriften 4f, 11f, 20f, 40 Anm. 32, 53f, 56 Anm. 109, 58, 60, 63–67, 98, 101 Anm. 11, 105, 107–109, 112f, 115, 119, 132 Anm. 98, 134, 157f – Bauinschriften 9, 13

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– Ehreninschriften 65 – Grabinschriften 4, 58, 65, 112 – Weiheinschriften 157 Institutionen / institutionalisieren 4, 9, 14, 25, 28, 30 Anm. 52, 31 Anm. 54, 37f, 40, 47, 58f, 61 Anm. 132, 64 Anm. 153, 71, 78, 96, 111, 113 Interaktionsraum 41f, 46f Interferenzlinguistik 112 Itinerarien 98 Iupiter / Jupiter 21, 23, 29 – Iupiter dolichenus 157 Jüngstes (und göttliches) Gericht 74, 92, 179, 189 Kaiser – s. auch Imperator, princeps passim Kaiserhaus / kaiserliches Haus / domus Augusta 6, 65, 78, 157 Kaiserkult 4, 58f kaiserlicher Besitz 53 Kaisertum 7, 30 Anm. 49, 111, 155, 205, 207–211, 214 Anm. 83, 215, 218–221, 223 Kaiserzeit 20f, 25, 27, 30f, 39f, 44, 51, 60, 64, 106, 108, 170, 201, 203 Anm. 8, 207, 209 Anm. 51, 216, 220, 225 Kalender 25, 29 karolingisch – s. auch Karolinger (Gruppen) 15 Anm. 1, 129, 163, 186 Anm. 66, 203f, 218–221 Karolingische Renaissance 202 Kastell 97, 99, 102, 106–109, 114, 116, 119, 130, 132f Katastrophen 70 Anm. 8, 89, 188 katholisch 48, 55, 167, 184 kaufen (und Komposita) 25, 49–52, 56f, 80, 161, 219 Kirche (auch Kirchenbau) 4, 11f, 48, 55, 63, 74, 78, 87, 91–95, 127f, 130, 142, 170f, 184–187, 206, 210, 222 Anm. 130 Kirchengut 171 Kolonen / coloni 49, 53f, 56f, 60, 78, 168, 225 Kommunikation passim – kontaktlose Kommunikation 158 Kommunikationsbegriff 156 Kommunikationsraum – s. auch Interaktionsraum 2, 5f, 28, 41, 67, 69, 71, 81, 84, 87, 91, 96–104, 156, 161, 175 Kommunikationszonen 98 Kommunität 21, 157, 162–164, 172 Konduktoren / conductores 53f, 56, 60 Konfession 167

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Kontinuität 2–6, 9, 15, 18–21, 29, 33–35, 37, 40–42, 50, 58, 60, 66f, 69f, 98, 101f, 112f, 118, 120, 132, 134f, 143–145, 165, 175, 184, 201, 207, 211, 213–215, 217f, 221–223 Kontinuitätsbewusstsein 223 Konzilien 8, 12, 155, 168f, 171 Konzilsunterfertigungen 161, 166, 168f, 227ff Krise 27, 29, 63, 70f, 86, 177, 197 Kult / Kult - s. auch Kaiserkult 4, 8f, 25f, 29, 58, 95, 157f, 182 Kultgemeinschaft 8 Landwirtschaft 49, 54, 56, 113 Anm. 9, 147 Lautchronologie 113, 121, 123, 133 Lautverschiebung 101, 121f Lautwandel 106f, 121, 123, 135 lex Irnitana 21–24, 28 lex Manciana 52–57 lex Troesmensium 23, 29 Anm. 47 lex Ursonensis 20ff Limes 97, 99, 103f, 107, 109 Märtyrer 65, 87 Anm. 87, 184, 187, 203 Anm. 10, 206, 209 Anm. 51, 211 magister 60, 69 – magister fundi 60 – magister militum 30, 69 (utriusque militae) 139, 212 Anm. 72 – magister vici 60 magos (keltisch Markt, Ort) 116 Markomannenkriege 99 maurisch – s. auch Mauren (Gruppen) 45, 61–64 merowingisch – s. auch Merowinger (Gruppen) 124, 126, 128, 131–133, 138f, 140 Anm. 124, 143, 152f, 175–178, 183, 194–199 „Merowingische“ Monetarmünzen 3, 5, 158, 162, 165 Metropolit 12 Migration 34, 47, 77f Mililtärdienst 22f misericordia 80 Anm. 56, 93, 186 Anm. 67, 206 Anm. 21 Monarchie 210 monetarius / Monetar 160, 162f, 165f, 169–173 mos barbarorum 199 moselfränkisch 119, 121 municipium / Munizipium 19f, 22, 29, 39, 158 Münzprägung 3, 7f, 22, 155ff

Namen passim – Flur 6, 113, 115, 118, 120, 146 – Gewässer 107, 115, 135, 145, 151 – Hybridnamen 102, 138 – Kaisername 166, 224–226 – Mischnamen 98, 101f – Orte 5f, 97ff, 111ff, 159–162, 164f, 169 – Personen 64, 98, 102, 112, 117, 124, 129, 138, 160, 165 Namengebung 113, 166, 168, 225f Nation (und Komposita) 6, 167, 177 (nationalistisch) nizänisch 55 nobiles – s. auch Eliten 72, 74, 83, 88f Nomen et Gens 167 Öffentliche Mittel – s. auch fiscus 25f Öffentlichkeit 71, 73, 84 Onomastik 111 oppidum 101, 106f, 133 Orthodoxie 185 ostgotisch 61 Ostrakon / Ostraka 55f, 62 Pacht / Pächter (und Komposita) 25, 49, 52–57, 65, 92 pagan / Pagane – s. auch heidnisch 9, 58, 84, 86 Anm. 82, 87f, 90, 95, 198 pagus 115, 132, 162, 164, 170, 228 Anm. 7, 228 Anm. 11 Palatalisierung 121, 135 Papst 155, 184, 212, 214 Anm. 87, 219, 222 Anm. 131, 223 Anm. 132 patria 182 Anm. 39, 189 patricii von Marseille 170 patrocinium / Patronat / Patron 21, 28, 74, 78, 130, 200 Anm. 147 Penaten 21, 23 Personenverbandsstaat 16 (das) Politische 15f, 31, 155, 171 Politische Organismen 2, 5, 17, 29 Politische Ordnung – s. auch Staat / Staatlichkeit 8f, 17, 20f, 28, 165 Politisches System – s. auch Staat 4, 24, 155, 164, 169f pons (Münzumschrift) 160 portus (Münzumschrift) 160 potestas 24, 26, 49, 78 Anm. 47, 140, 194, 210 Anm. 59 praeco 22, 157f

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praedium 117, 137 praefectus 63f, 66, 193 Prägeorte 162, 171, 230 Anm. 23 Priester (auch augures, pontifices) – s. auch flamen perpetuus 23, 29, 55, 58, 73, 226 primores (civitatis) 65 princeps – s. auch Kaiser 21, 23, 27, 65 Anm. 156, 91 Anm. 103, 190 Anm. 88, 207, 214 Anm. 87, 219 Prinzipat / principatus 28, 156, 207, 209f priores (civitatis) 65 proconsul Africae 61 proconsul Carthaginis 61 procurator 55, 64, 66 Provinz passim Provinzial- 37f, 43, 61, 91, 175, 196, 216 Provinziallandtag 8, 157 Provinzialordnung / Provinzialstruktur / Provinzialorganisation 6, 8, 12, 18, 157 Provinzialsynoden 8 Provinzialverwaltung 61 publicus (ohne res publica) 23, 25, 30, 88 Anm. 92, 89 Anm. 94, 140, 163, 190 Anm. 8 Punische Kriege 209 Quaestor 22, 23 Anm. 31, 27 Anm. 39 Raum – s. auch Kommunikationsraum und Interaktionsraum passim – Herrschaftsraum 6, 35, 51 Anm. 75, 62 – politischer Raum 1, 7, 12, 155, 173 – Rechtsraum 6 – Resistenzraum 5f, 111–113, 127 Raumverständnis 198 Ravennater Kaufpapyri 50 Recht - s. auch Bürgerrecht und Vertrag passim – Eigentumsrecht 52, 57 – Familienrecht 51 – Kaufrecht s. kaufen – Nutzungsrecht 49, 54, 56f – Pachtrecht 53, 57 – Rechtspraxis 50–52 – Rechtstradition 47–49, 51 – Römisches Recht 17, 20, 48f, 51f, 65 – Stadtrecht 19–21, 39f – Völkerrecht 77 Rechtsperson 162 Reform – s. auch Erneuerung 43, 96 Region / regional 3–8, 18, 33–36, 39–42, 45–47, 49, 55f, 62, 64, 66f, 72, 76f, 81, 87,

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97, 111, 115, 118–120, 124, 142, 155, 157, 162, 168 Anm. 53, 175f, 188, 190, 193 Anm. 112, 223 Anm. 134 regnum / regna 1, 4, 6–9, 33–35, 37, 47, 55–63, 67, 77 Anm. 42, 104f, 140, 175, 182, 194, 195 Anm. 120, 197, 209f, 213, 218f, 225 Anm. 143 Religion 4, 14, 48, 158, 167, 181 Reliktnamen 115, 122, 132 Resistenzraum / -zone / resistent 5f, 111–113, 118–120, 127 res publica (auch respublica) – s. auch Staat 17, 69 Anm. 1, 185, 187, 189f, 193, 213 Anm. 82, 219 Römische Republik 15, 20–23, 30 Anm. 52, 39 Anm. 24, 85f, 203 Anm. 8 Römisches Reich – s. Imperium Romanum passim Rom / römisch passim Romani 139, 182 Anm. 38, 183 Anm. 47, 185, 193 Anm. 112, 207 Anm. 30, 211, 212 Anm. 69 Romania submersa 97, 120 Anm. 33 Romanisierung 3, 18, 97 Romanitas / Römertum / Romanness 7, 80, 201 Anm. 1, 202, 206 Anm. 27, 222, 223 Anm. 132 sacerdotales provinciae 59 Schatz (königlich) 161 scriba 21, 23 Selbstverwaltung / Selbstorganisation 17, 18 Anm. 7, 27, 30f, 39f Senat 21, 22 Anm. 23, 24 Anm. 32, 28, 39, 78, 206, 219 Septuaginta 13 Silvesternacht 406, 70, 75 Solidus 159, 172 Souveränität 104 sozial passim soziale Stratifikation 16 soziale Systeme 17 Spiele (auch circenses) – s. auch Theater 26, 88–90, 95 Sprachinseln 113 Staatlichkeit - s. auch Anstaltsstaat, Personenverbandsstaat, Territorialstaat sowie politisches System, stadtstaatlich 15f, 18, 170 Stadt passim

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Register zu Personen, Orten und ausgewählten Sachbegriffen

Stempelschneider 171 Steuer, Steuererhebung – s. auch Abgaben 28f, 55, 78f, 92, 159f, 162f, 166, 171f, 193 Steuerschätzung 163 Stoiker 84 Straßen 6, 25, 42f, 45, 47, 67, 99f, 105f, 108, 116, 139 Substratsprache 97, 101, 146 Sünde 92, 94 Superstrat (-sprache) 97, 101 Tablettes Albertini 49–52, 54–58, 60, 62, 67 territorial 18f, 99 Testament / testamentarisch 54 Anm. 94, 94, 126, 137 Theater – s. auch Spiele 88 Theorie selbstreferentieller Systeme 156, 158 Anm. 10 Toponomastik 111, 118 Toponyme 113, 115 Anm. 17f, 121 Anm. 40, 124, 126, 130, 131 Anm. 93, 138, 143 Transformation – s. auch Wandel 5 Anm. 14, 33–35, 37, 39, 67f, 69 Anm. 4, 83 Anm. 65, 92, 201 Triens / Drittelsolidus 159 Unsichtbarkeit 1f, 5f, 10f, 13–16, 33, 37, 41, 47, 65, 67f, 91, 104, 167, 172f, 175, 201 Urbanisierung 24 Anm. 33, 38, 197 vandalisch – s. auch Vandalen (Gruppen) 34–37, 47–51, 55f, 58–62, 67, 75f, 77 Anm. 42

Verkehr 41, 46f, 64 Vertrag 2, 19, 25, 49–51, 54, 57f, 77, 80 Anm. 56, 190 Verwalter – s. auch vilicus 54 Verwaltung 4–6, 18 Anm. 7, 27, 29–31, 39f, 52 Anm. 88, 53, 55f, 58 Anm. 117, 60f, 67, 98, 162, 164f, 170, 172, 198 vicarius Africae 61 vicarius Asiae 12 vicus 39, 105–109, 133, 136, 159, 235 vilicus – s. auch Verwalter 54 villa 138 virtus - s. auch Werte 87, 179 Anm. 18 und 22 Volk (ohne Bevölkerung) 16, 76, 79, 88, 90, 94, 104, 109, 131, 167, 179, 210, 217, 219 Anm. 120, 224 Wahl 15, 21, 23f, 26–30, 171, 212, 219 Wandel (und einige Komposita) – s. auch Transformation 2–4, 6–8, 31, 40, 42, 47, 57, 61, 67, 69–72, 78, 82 Anm. 65, 86, 88, 91f, 95 Anm. 122, 96, 111, 186, 224 Wasserversorgung 18 Anm. 7, 25 Weltgeschichte 208, 220 Weltzeitalter / Weltreiche (nach Daniel) 95, 184, 209, 218 Werte – s. auch virtus 71, 81–83, 86, 91–94, 96, 177 weströmisch / Weströmisches Reich 1, 6, 63, 69–72, 75, 77–79, 111, 172, 176, 190, 194, 208, 223 Anm. 132 Zirkusspiele -s. Spiele