C. M. Wielands Sämmtliche Werke: Band 42/43 [Reprint 2021 ed.]
 9783112465189, 9783112465172

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C. M. Wielands

sämmtliche Werke. Zwei und vierzigster Band.

HerauSgegrven

von

3*

G.

Gruber.

Politische Werk« HI. Band. Gesprtch«

unter

»R: Augen.

Leipzig/ bei Georg Joachim Göschen

ißi6.

Gespräche

unter

vier

1 7 9 8»

Augen.

Inhalt. I, Was verlieren oder gewinnen wir dabei, gewisse Vorurtheile unkrästig werden? II. Ueber den

Nepfränkischßn Staatseid:

wem,

»Haß dem

Königthum.«

IIL Nähere Beleuchtung der Vorzüge der repräsentati­ ven Demokratie vor der monarchischen Regierungsform.

IV. Was .ist zu thun? V. Entscheidung des Rechtshänders zwischen Demokrat und Monarchie.

VL Die Universal - Demokratie. VII. Würdigung der NeufrLnkischen Republik.

VIII. Was wird aus dem allen werden? IX. Ueber die öffentliche Meinung.

X. Träume mit offnen Äugen.

XL Blicke in die Zukunft. XII. Fragment eines Gesprächs zwischen Geron nnd einem Unbekannten.

Vorbetichl.

Gespräche unter vier Augen sind ordentlicher Weise nicht bestimmt das Publikum zum Zuhö­ rer zu haben. Ei» paar Freunde, die allein zu seyn glauben, besorgen weder mißverstanden noch unredlich gedeutet zu werden; jeder spricht wie er denkt, und ist versichert, daß sei« Freund, wenn er auch nicht immer seiner Meinung ist, oder den Gegenstand, wovon die Rede ist, in einem andern Licht oder von einer andern Seite betrach­ tet, ihm wenigsten- eben dieselbe Gedankenfteiheit zugesteht, wozu er sich selbst berechtigt hält.

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Dorbericht.

Aber auch ohne diese Rücksicht liegt schon in der Natur eines Gesprächs unter vier Augen eine gewisse Sicherheit, die bei keinem andern Statt findet, ja bei einem bloßen Selbstgespräche kaum größer seyn kann, und man spricht da unfehlbar manches, was in Gegenwart eines Dritten entweder gar nicht, oder doch nicht so freimüthig und unzurückhaltend gesprochen wor­ den wäre. .Wahrscheinlich muß also ein nnvermntheter Lauscher an der Wand, dem die Kunst geschwind pj schreiben oder ein ungewöhnlich glückliches Gedächtniß zu Dienste stand, an den gegen­ wärtigen vertraulichen Unterredungen heimlich Theil genommen, und ein gutes Werk zu thun vermeint haben, wenn er den Gedanken der redenden Personen, an welchen «r den unvw kennbaren Charakter der Wahrheitsliebe, Mäßi« gung und Wohlgesinntheit zu erkennen glaubte, einen dauerhaftern Leib gäbe, als die luftige

Dorbericht.

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Hülle, in welcher bloß gesprochn« Worte, sollte ihrZnhalt auch ewig zu dauern verdienen, eben so schnell als sie gehört werden, in dem Oeean zerfließen, der seit Zahrtausenden so unendlich viel Weisheit und Thorheit unwiederbringlich verschlungen hat, ohne die geringste Spur davon zurück zu lassen. Der unsichtbare Lauscher konnte seinen Ein­ fall um so leichter bewerkstelligen, da alle diese Gespräche auf dem Landsitze eines der Znterlükutoren unter einer dichten Sommerlaube gehal­ ten wurden, welcher man sich aus dem benach­ barten Gebüsche ohne bemerkt zu werden, nähern konnte. Wie es aber auch damit zugegangen seyn mag, so bleibt, auf alle Fälle, der Herausgeber allein für die öffentliche Bekanntmachung ver­ antwortlich, und nimmt die Pflicht, seine an­ spruchlosen und nichts böses besorgenden noch bezweckenden Freunde im Nothfall zu vertreten.

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Doröertckt.

um so williger auf sich, da er sich versichert hält, daß diese Gespräche schwerlich einen einzi­ gen unbefangenen Leser finden werden,

Ernste wünschen könnte,

der im

daß sie weder ausge­

schrieben noch gedruckt seyn möchten. Qnid dulci voveat nulricnla majtis alumno Quain »apere et fari quod senliat ?

J n 1 c s a l.

I. Was verlieren oder gewinnen wir dabei, wenn

gewisse Voruttheile unkräftig werden?

Sinivald. Darf man fragen, Geron, waS deinen inwendigen Menschen so stark beschäftiget, daß ich schon eine gute Weile vor dir stehe, bevor du mich gewahr wirst. Geron. Das solltest du wohl schwerlich erra­ then, Sinibald. Sinibald. Vielleicht doch! Arbeitest du etwa en einer neuen Konstituzion für die Westfranken? Geron. Die wird sich wohl bald genug von selbst machen! Sinibald. Oder an Berichtigung der Bedin­ gungen, unter welchen die monarchische Regierungs­ form der republikanischen oder diese jener vorzuziehen sen? Geron. Eben so gern möcht' ich einen hölzer­ nen Bock melken, oder mit einem Haarsieb Wasser ms Faß der Danaiden schöpfen. Du weißt, wie ich

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Gespräche

über diese Dinge denke. Das ganze Weltall ist, meiner Meinung nach, eine Monarchie, und, mit allen ihren Mangeln und Gebrechen, gewiß die beste, die man je sehen wird. Dieß vorausgesetzt, möch­ ten die Bedingungen, unter welchen auch auf diesem kleinen oder großen Sonnenstäubchen, das uns zu bewohnen und zu bearbeiten ein geräumt ist, die einköpfige Regierungsform vor der vielköp­ figen den Vorzug behauptet und ewig behaupten wird, ziemlich leicht zu finden seyn. Aber für wen und wozu sollte ein Mann von neuem thun, was seit Plato und Aristoteles von so vielen Hunderten vergebens gethan worden? Laß die Filosofen reden oder schweigen, die Welt geht ihren Gang: »die Könige regieren, und die Richter sprechen das Recht.« — S i n i b a l d. Aber wie? Geron. Das ist eine andere Frage. Ich denke, wie sie wollen, oder, so gut sie können. Sinibald. Mit beiden: ist der Welt nicht viel gedient gewesen. Geron. Was willst du? Alles geht wie es kann; und wiewohl es durch so seltsame Krüm­ mungen und Schneckenlinien geht, daß wackre Leute sich dadurch haben verleiten lasten, zu glauben, die ganze Schöpfung, und die arme Menschheit mit ihr, drehe sich, wie ein blinder Gaul in einer Rößmühle, ewig in einem und eben demselben Kreise herum, so

unter vier Augen.

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fallt es doch, daucht mir, von einem Jahrhun­ dert zum andern ziemlich stark in die Augen, daß es vorwärts geht; und so hoffe ich denn zu Gott, es werde sich am Ende finden, daß alle­ gegangen sey, wie es der Monarch und alleinige oberste Direktor der einen und unzertrenn­ baren Republik des Weltalls haben wollte, und der große Iweck — Sinibald. Verzeih, daß ich dir in- Wort falle, Geron! Der große Zweck der Mensch­ heit (denn, was über diese geht, ist über unserm Horizont) kann doch wohl kein andrer seyn, als das Menschengeschlecht, dem dieser Planet zu verwalten und zu benutzen gegeben ist, von Stufe zu Stufe endlich so weit zu bringen, daß alle Men­ schen nur Eine Familie ausmachen, die keinen andern Regenten habe, (und, wenn sie erst so weit gekommen wäre, keines andern bedürfte) als die allgemeine Vernunft, und also zugleich die reinste und vollkommenste Monarchie, und die freieste, wohlgeordnetste und glücklichste Republik wäre, die sich nur immer denken laßt. Geron lächelnd. So weit mit dir vorwärts zu fliegen, guter Sinibald, sind meine Schwungfe­ dern nicht mehr elastisch genug. Ich kenne derma­ len nur eine Republik, die gerade da- ist, wa- sie seyn soll — Sinibald. Und die Ware —?

io

Gespräche

Heron. Die, von welcher du und ich Mitgtre und die. Dank ihrer Unsichtbarkeit! in, mit und unter allen Monarchien, Tetrarchien und Anarchien, Aristokratien, Demokratien, GynakokraLien und Hierokratien, ihren stillen Gang fortgehl, und so lange fortgehen wird, bis entweder die gold ne Zeit, von der du sprachst, gekommen seyn wird, oder der allgemeine Brand, womit die Stoi­ ker unsern Erdball bedrohten, dem ganzen bisheri­ gen Wesen und Unwesen ein Ende machen, und eine neue verglasete Schöpfung hervorbringen wird, über deren vermuthliche Beschaffenheit, und was für eine Konstituzion sich wohl für glasartige Menschen am besten schicken mochte, wir uns die Köpfe nicht -erbrechen wollen.

der sind,

Sinibald. Darüber sind wir einverstanden. Aber auf diesem Seitenwege hatten wir bald ver­ gessen , daß du mir meine Frage noch nicht beant­ wortet hast. Geron. Und was war es denn gleich? — Ja, nun besinne ich mich — du wolltest wissen, womit meine Gedanken beschäftigt waren, als du herein kamst. So rathe denn! Sinibald. Wenn es nicht eine allgemeine Friedensstiftung oder der Stein der Weisen ist, so geh' ichs auf.

Geron.

Nun, so wisse denn, Bruder! — ick

unter vier Augen. arbeite — erschrick nicht! — an einer Apologie -er Vorur 1 heile. Sinibald. Du? an einer Apologie der Vorurtheile? — Das gesteh' ich I da hatt' ich lange rathen können, eh' ich auf eine so seltsame Möglich­ keit gefallen wäre! — Nun ja freilich sind die Ge­ genstände, worüber sich etwas Neues sagen laßt, ziemlich verbraucht, und so kann es sich ja wohl ereignen, daß ein Ehrenmann, der nichts anders -u thun hat, in die Versuchung gerathen mag, sich selbst und die Welt mit Paradoxen zu unterhal­ ten, um zu sehen, wie weit es ihm gelingen könne, einer Ungereimtheit den Schein der Wahrheit zu geben. Geron. Dieß wäre denn doch nicht der Fall, lieber Sinibald. Denn, wofern ich auch nichts best sers zu thun wüßte, hab' ich nicht Kinder um mich, mit denen ich — spielen könnte? Oder, kann ich nicht schlafen? Oder, wenn alles andre fehlt, mir wie Horaz helfen und — Verse machen? Sinibald. Das wäre vielleicht nicht das schlimmste,'was du thun könntest. Geron. Vielleicht, wenn ich Verse machen könnte wie Metasiasio, der das beneidenswerthe Talent besaß, zu jeder Tage- - oder Nachtszeit, bet jedem Wetter, in jeder Gemüthsstimmung, über jeden Gegenstand, und auf jede Veranlassung, sogar auf allerhöchsten Befehl, sehr schone Verse

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Gespräche

zu machen. — Und doch, wenn mich die Feen auch mit dieser seltnen Gabe begabt hatten,, würde ich meine Apologie der Vorurtheile nicht in Versen schreiben; — und gerade deßwegen, weil es mir dabei um nichts weniger zu thun ist, als, wie du meinst, mit der eiteln Kunst, paradoxen Sätzen den Schein neu entdeckter Wahrheiten zu geben, groß zu thun. Die schlichteste Prose, und wenn sie noch prosaischer seyn könnte als X en o so ns, ist, daucht mir, gerade das rechte und einzig schickliche Vehi­ kel, wenn es darum zu thun ist, alte Wahrheiten gegen die Täuschungen des Witzes und die Sofismcn einer falschen oder fälschlich angewandten Frlosofie in den Schutz zu nehmen. Denn daß du ja nicht etwa neue unerhörte Dinge von mir erwartest, über eine Materie, die, ihrer Natut nach, der ausgesogenste aller Gemeinplätze ist — Sin ibald lache, d Um so viel größer wäre die Ehre, auf einem so magern und zerstampften Boden noch irgend ein oder anderes Blümchen oder Kräutchen auszufinden, das den Thieren, die ihn einige Jahrhunderte lang abgefretzt haben, entgan­ gen wäre. Geron. Laß unS ohne Bilder sprechen, Sinibald. Die gemeinnützigsten Wahrheiten sind alt, und eben darum, weil sie alt sind, wirken sie wenig. EL mag wohl einiges Verdienst dabei seyn, wenn man sie unter irgend einer neuen gefälligen Gestatt

unter

vierAugen.

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wieder in Umlauf zu setzen weiß: aber mir daucht, dieser Kunstgriff thut selten eine andere Wirkung, als daß man sich an der neuen Einkleidung ergötzt, wenn sie gefällig ist, ohne daß die alte Wahrheit selbst dadurch in größre Achtung kommt. Sinibald. Ich habe doch wohl eher gesehen,, daß eine neue Perücke einen alten wurmstichigen Herrgott, oder ein neuer Anzug eine in Verfall gekommene Mutter Gottes in einer Dorfkirche wieder zum Gegenstand der eifrigsten Andacht bei unserm guten Landvolke machte. Gerom Das mag bei alten Idolen angehen, Freund; aber ich zweifle sehr, ob es mit alten Wahrheiten eben dieselbe Bewandtniß habe. Wahrheit, mein lieber, ist, wie du weißt, so sehr für den gesunden Menschenverstand, und dieser so ganz für jene gemacht, daß sie für ihn gar keines AuffrischenS und Herausputzens bedarf; je nackter sie ihm dargestellt wird, je gewisser ist sie, ihn ein­ zunehmen. Das Uebel ist nur, daß das reine Gold der Wahrheiten, von welchen hier die Rede ist, durch die Lange der Jett, durch die Veränderungen der, Umstände, und durch die natürlichen Folgen der menschlichen Gebrechlichkeit, nach und nach so sehr mit schlechtem Metall.vermischt und verfälscht wurde, daß es endlich aufhörte Gold zu seyn, und von dem, was es ursprünglich war, nur noch den Na­ men behielt. Und dieser Name ist es denn, wodurch

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Gespräche

der große Haufe betrogen wird,

der in feiner Ein­

falt gewohnt ist,

die Zeichen mit den Sachen zu verwechseln, und unter der Gewahr des Namens sich verfälschte Waare für echt aufhangen zu taffen. Slnibald. Nur'zu wahr! Aber was werden die Vorurtheile, die du in deinen Schutz nehmen willst, durch dieses Gleichniß, und den Satz, den du dadurch erläutern willst, gewinnen? Geron. Das erräthst du nicht, Sinibald? So stelle dir Wahrheiten und Vorurtheile als eine große Menge goldner Münzen von allerlei Schwere, Ge­ halt und Iahrzahl vor, wovon einige echt, andere falsch, die meisten aber mit mehr oder weniger Kup­ ier dergestalt vermischt waren, daß bei vielen sich

nur die Hälfte, bei andern nur der dritte oder vierte Theil reines Gold befände. Laß uns ein Land annehmen, worin diese ungleichartigen Goldmünzen, unter der Gewahr eines gesetzmäßigen Stempels, alle für echt galten, und erlaube mir noch (zum Be­ huf der Anwendbarkeit meines Gleichnisses) zwei Umstande vorauszufttzen: erstens, daß die stufen­ weise Verschlechterung dieser Münzen nach und nach in gewissen Zeitpunkten vorgegangen, und zweitens, daß alles Gold, das sich in diesem Lande befinde, in der besagten Masse gemünzten Goldes stecke. Nun laß uns annehmen, das Volk dieses Landes hatte sich

lange Zeit

mit dieser Münze beholfen,

unter

vier

Auge

15

ohne die Verfälschung gewahr zu werden; e- träte aber endlich eine Zeit ein, da die Ungelegenheitea einer solchen Münzverfassung sich täglich immer stär­ ker verspüren ließen, und also dem Volke viel daran gelegen wäre, daß dem Uebel je eher je lieber abge­ holfen würde: was, meinst du, sollte wohl eine weise Regierung in einem solchen Falle zu thun haben? — Die geringhaltige Münze auf einmal außer Kurs zu setzen, würde eine höchst nachtheilige Stockung m Handel und Wandel verursachen, und einen Theil des Volkes auf einmal um sein ganzet Dermögen bringen. Man dürfte sie also nicht anders als nach und nach, so unmerklich als möglich, audem Umlauf nehmen, um sie in der Münze, nach vorgängiger Sckerdung, zu Goldstücken von echtem Gehalt umzuprägen. Damit aber der Schade, der aus dem fortwährenden Umlauf einer Masse von Goldmünzen, die bisher an Zahlungswerth gleich, und doch so ungleich an reinem Gehalt wären, so viel möglich verhütet würde, wäre wohl kein ander Mittel, als diese Münze scharf probiren zu lassen, dann zu sortiren, und den äußern Preis einer jeden Sorte nach und nach auf den Befund ihres innern Werthe- herabzusetzen; da sie dann immerhin noch so lange zirkulrren möchten, bis man sie ohne son derlichen Nachtheil gänzlich außer Kurs setzen, und gegen vollgültige Stücke auswechseln könnte. Dünkt dich nicht, Sinibald, daß dieß in dem vorausge

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Gespräche

setzten Falle die Derfahruugsweise einer jeden ver­ ständigen Obrigkeit seyn würde? Sinibald. Ich sehe, wo du hinaus willst, Geron, aber nicht, wie du bei der Anwendung dei­ nes Gleichnisses bestehen wirst. Da ich dir so viele Voraussetzungen erlauben mußte, so ist nicht m§hr als bülig, daß du mir eine einzige gestattest. @ e r o n, Von Herzen gern, und mehr als Eine, wenn du ihrer nöthig hast. Sinibald. Ich denke mit dieser einzigen aus­ zureichen. Gesetzt dlfo.f es fände sich glücklicher Weise irgend ein großmüthiger Adept, der sich erböte, deinem mit verfälschter Münze überladenen Volke auf einmal davon zu helfen, indem er ihnen, ohne sich darum zu bekümmern, wie viel Karate fei­ nes Gold mehr oder weniger tn ihren unechten Du­ katen stecken möchten, für jedes geringhaltige Stück ein vollhaltiges von gleichem Zahlungswerth/ ohne allen Aufwechsel oder Abzug geben wollte: würdest du deine Leute nicht für ausgemachte Thoren erklä­ ren müssen, wenn sie sich eines so vortheilhaften Rausches aus dem lächerlichen Grunde weigerten, »ss wäre doch immer ejn Achtel oder Sechstel oder Drittel feines G>ol.d in ihrer Münze, dessen sie sich berauben wurden, wenn sie das Anerbieten des Adepten Statt finden ließen?" Geron. Dacht' ichs nicht, sobald ich dich mit deinem großmüthigen Adepten kommen sah»'

unter

vier Augen.

$?

Ich Ware also deinem weisen Meister noch vielen Dank dafür schu'.drg, daß er mir die Mühe deS Scheidens ersparte, die nun gerade nicht so kurz­ weilig ist, daß man ihrer, wenn eS senn könnte, nicht lieber überh-.brn wäre? Aber laß dir sagen, lieber SinibalÜ, daß mein Volk, glücklicher — oder (in deiner Hypothese) unglücklicher Werse, kernen Glauben an deinen Goldmacher hat; daß es sei­ nem filosofriÄen Golde nicht traut, und auS Furcht, für gittes natürliches Gold, wovon doch immer'noch ein Therl in feinen gewohnten Münze»

steckt, e: e Kvmpofizion von gar keinem W.rrhe zu empfangen, lieber das Gewiflere spielen, und das sewige, wie wenig es auch sey, behalte», als Ge­ fahr laufen will, beim Erwachen aus einem Traum voll goldner Berge nach Ärft zu greifen und nichts zu haben. Sinibald. Desto schlimmer für dein Volk, daß es so mißtrauisch ist, wo es in der That nichts zu fürchten und so viel zu gewinnen hat i Gero». Das würdest du ihm nicht sehr übel nebmen, wenn du b-dackt-st, tote oft es schon ton Schatzgräbern und Sor.n'agskiu')ern betrogen wor­ den ist, die sich ;ür große Adepten «»«'gaben, und am Ende W nur als Meister in der Kunst, ernsül» tigen Seuten »s Geld aus dem Beutel zu locken, befunden wuri t.

A-telands W

12. B->.

2

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Gespräche

Sinibald. Du wirst so billig seyn, lieber Geron, meinem Adepten zuzutrauen, daß es ihm weder an Willen noch an Vermögen fehlt, alle, die nicht aus unverzeihlichem Eigensinn Augen und Ohren vor ihm verschließen, zu überzeugen, daß sein filosofisches Gold wahres Gold von vier und zwanzig Karaten ist. Aber auch ohne das würde dein Volk, wenn ich dich recht verstanden habe, wenig bei nieU nem weisen Meister wagen. Geron. Wie so? Sinibald. Von dem Augenblick an, da es unter derw Volke bekannt worden ist, daß sich unter der zirkulirenden Goldmasse eine Menge falscher und sehr geringhaltiger Stücke finden, wird sich natür­ licher Weise auch ein Mißtrauen verbreiten, das dem ehmaligen blinden Glauben des Volks an seine Mün­ zen um so mehr Abbruch thun wird, da das Gerücht und die Einbildung bei solchen Gelegenheiten das Uebel immer zu vergrößern pflegen, und es überdieß nicht an Leuten fehlen wird, die aus Neugier oder Gewinnsucht, oder aus welchem andern Be­ weggrund es seyn mag, sich die Mühe geben wer­ den, die verdächtigen Münzen zu probiren, und dem Publikum, durch ihre Berichte und Warnungen, auch gegen die Bessern Mißtrauen beizubringen. Laß uns, um eher zum Ziele zu kommen, sogleich die Anwendung dieses Gleichnisses auf den Gegen­ stand unsers Gespräches machen. Du verstehest unter

unter vier Augen.

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den verschiedenen Goldmünzen, die von alten Zeiten her unter deinem Volke herumlaufen, Wahrheit, Irrthum und Vorurtheile: Wahrheit ist das feine Gold, Irrthum die falsche Münze, die Vor­ urtheile die geringhaltigen Stücke, welche mehr oder weniger werth sind, je nachdem mehr oder weniger von jener oder diesem darunter befindlich ist. So lange das Volk die letztern für wahr hält, weil ihm nie eingefallen ist, an ihrer Echtheit und Gül­ tigkeit zu zweifeln, so sollen sie (wie ich dir einst­ weilen unprajudicirlich zugeben will) ungefähr die nämliche Wirkung thun, als ob sie durchaus wahr wären. Aber wie lange wird das dauern? Gewiß nicht länger als die Leute von niemand in diesem ihren Glauben gestört werden. Laß sich einmal eine Anzahl angeblicher Scheidekünstler hervorthun, die sich ein Geschäft daraus machen, die Vorurtheile und Meinungen des Volks auf die Kapelle zu brin­ gen, und ihren wahren reinen Goldgehalt öffentlich anzuzeigen: von dieser Stunde an fängt auch das Gebäude an zu schwanken, das bicher auf einem so lockern Grunde rühre. Diese Wirkung wird zwar nicht sogleich merklich seyn; aber einen aufmerksa­ men Beobachter werden die Zeichen der Veränderung nicht entgehen, die in dem Glauben, den Ge­ sinnungen und den Sltten des Volks vorgeht, wiewohl das Uebel oft ziemlich lange im Stillen um sich greift, und daher, wenn es endlich zum

»o

Gespräche

Ausbruch kommt, Leute, die alles immer nur aus der nächsten Ursache erklären wollen, in mächtiges Erstaunen setzt. Geron. Nur zu wahr! Und gerade diese Er­ fahrungssache ist es, was mich immer gegen die unzertigen und unbehutsamen Volksaufklärer aufge­ bracht hat. Sinibald. Es ist nicht zu läugnen, daß diese Leute Schaden thun: aber ich sehe nicht, wie du das verhüten wrllst; es wäre denn, du gedächtest dich für die Meinung der Königin Semiramis in den Göttergesprächen zu erklären, und darauf anzutragen, daß das Licht, das dem mensch­ lichen Verstände durch die Kultur der Wistenfchaften aufgeht, gleich dem heiligen Feuer der Vesta, ausschließlich in der Verwahrung eines besondern Ordens seyn sollte, der, unter Oberaufsicht der Regierung, dem Volke nur gerade so viel davon zutheilen dürfte, als seine Obern für gut fanden. G er o n.- Nicht, als seine Obern für gut finden, sondern als dem Volke wirklich gut und heil­ sam ist. S»n r 5 A (fo. Und wer soll darüber entscheiden, wie viel Lichr dem Volke gut und heilsam ist? Doch wohl seine Obern? Oder wem wolltest du es sonst austrogen? Wenn du es den Mltlarern überlasten wolltest, so werden sie eines von bnden thun: ent­ weder sich selbst in ihrem Geschäfte keine Grenzen

unter

vier

Augen.

21

setzen, oder sich um die Gebühr mit den Obern ein­ verstehen , das arme Volk in Dummheit und Un-

wisienheit zu erhalten, weil man doch nun einmal in dem Wahne steht, daß ein Unwissendes Volk leichter zu regieren sey als ein aufgeklartes. Geron. Die Erfahrung zeugt in unsern Tagen so laut vom Gegentheil, daß ich gewiß bin, die Zeit ist nahe, da man von diesem armseligen Wahn auf ewig zurück kommen wird. Der erste große Fürst, der Verstand und Kenntniß der menschlichen Natur und der menschlichen Dinge genug haben wird, um überzeugt zu seyn, ,,daß gesunder Verstand allen Menschen, den niedrigsten wie den höchsten, unentbehrlich ist um — Men­ schen zu seyn," und der dieser Grundmarime in allem ohne Ausnahme gemäß handeln wird, wird durch sie allein, ohne die geringste Erschütterung, still nnfc unvermerkt, wie die Natur in ihren wohl­ thätigsten Wirkungen zu verfahren pflegt, eine große, in ihren Folgen unendlich nützliche Verbesserung in seinem Staate bewirken, und dann aus eigener Erfahrung bezeugen können, daß keine Regierung sicherer, fester und weniger Reibungen und Stockungen unterwor­ fen ist, als die Regierung über ein zum gesunden Verstand reif gewordenes Volk. Don der Wahrheit dieser Maxime ist bereits jedermann theoretisch überzeugt; und es bedarf nur noch ein einziges, großes, stark in die Augen leuchtendes Beispiel, so

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Gespräche

wird in weniger als zehn Jahren kaum noch — der Bey von Tripoli über Barbaren und Sklaven herr­ schen wollen. Sinibald. Bravo! So waren wir ja einver­ standen. Aber wo bleibt da die Apologie der Doruriheile? Gero». Die geht ruhig ihren Gang fort, Sinibald. Sinibald. Du scherzest. Was hatte denn gesunder Verstand mit Vorurtheilen zu schaffen? Von dem Augenblick an, da ein Volk zum gesunden Verstand reif geworden ist, wie du eS nennest, hat es keine Vorurtheile mehr, und b e d a r f keiner mehr. Geron. Aber, mein lieber Sinibald, das mußt du doch so gut wissen als ich, daß wir und jedes andere Volk auf diesem Erdenrunde' noch ziemlich weit von diesem glücklichen Zeitpunkt entfernt sind. Wahrlich, bevor wir dieses große Ziel erreichen, werden noch allerlei Anstalten getroffen werden müs­ sen ; und gerade an denen, die uns allein so weit bringen können, fehlt es noch am meisten. Bis dahin, mein Freund, werden wir wohl thun, unsern schreibseligen Weltverbesserern zu empfehlen , daß sie gewisse Vorurtheile unangetastet lassen; und unsre Obern werden bloß ihre Schuldigkeit thun, wenn sie die Herren, die nicht auf guten Rath hören wollen, ein wenig auf die Finger klopfen. Sinibald. Ich sehe wohl, daß ich mir vor allen Dingen eine kleine Erklärung von dir ausbit-

unter vier Augen.

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ten muß, was das für gewisse D orurtheile sind, zu deren Unverletzlichkeit ein so wohldenkender Mann wie du, seine Summe so fest entschieden giebt? Geron. Vor allen Dingen will ich dir eine kleine Geschichte erzählen, wenn du Geduld hast sie anzuhören. Sinibald. Sehr gern. Gero». Es war einmal ein Mann, der sich viele Muhe gegeben hatte, ein guter Arzt zu werden, und dem es so wohl gelungen war, daß der Ruf seiner Geschicklichkeit und seiner glücklichen Kuren in alle Lande ausging. Dieser Ruf kam endlich auch bis zu den Ohren der Herren Bürgermeister und Match des durch den berühmten Jean Paul nicht weni­ ger berühmt gewordenen Reichsdörfchens oder Städt­ chens Kuhschnappel; und da sie eben eines Stadtarztes benöthigt waren, so wurden sie einig, den besagten Arzt unter ziemlich annehmlichen Be­ dingungen an diese Stelle zu berufen. Dieser mochte sich aus der Geschichte des berüchtigten Armen-Ad­ vokaten Siebenkäs eine Vorstellung von der löbli­ chen Reichsstadt Kuhschnappel gemacht haben, die ihm von einigen Jahren Aufenthalt daselbst eine reiche Ernte neuer Beobachtungen zu Beförderung der Menschenkunde und Menschenliebe und zu Ver­ mehrung seiner medlcinischen Kenntnisse versprach. Kurz, er nahm den Ruf an, und fand an seinen

*4

Gespräche

neuen Patenten, besonders denen vom dritten Stande, ein wohlgesinntes Völkchen, ba$ ihn, auf seinen bloßen Ruf und fein ehrliches Gesicht hin, mit einem Enthusiasmus aufnahm, der kaum größer hatte seyn können, wenn er bereits einige Dutzend wichtige Kuren an ihnen verrichtet gehabt hatte. Die guten Leutchen ließen sichs nicht einfallcn, den Grund oder Ungrund dieses Rufs zu untersuchen. Alles was die Natur oder ein glücklicher Zufall zu Gene­ sung der Kranken that, schrieben sie treuherzig ihrem Aeskulap zu; aus jedem von ihm geheilten Schnupfen, Husten, oder Verdauungsfieber wachten sie eine Wunderkur, unterwarfen sich allen seinen Vorschrif­ ten blindlings, verschluckten mir dem gewisier.haftesten Geoorsam alle feine Pillen, Pulver und Trünk­ chen, und behaupteten gegen alle durchreisende Fremde, daß seines gleichen nirgends gefunden werde. Bei diesem auf lauter Vorunyeilen gegrün­ deten Glauben an ihren geschickten und sorgfältigen Stadtarzt hatte üch nun der Senat und das Volt von Kuhschnappel une geraume Zett wohl befunden; als ein naseweiser junger Patricier des Orts, der unter seinen Mitbürgern für einen großen Kopf galt, auf den Einfall kam, eine Art Satyre gegen Aerzte und Arzneikunst herauszugeben, worin er zwar nicht in Abrede styn wollte, daß der Poliater von Kuhschnappel ein sehr großer Arzt sen, aber nur behauptete, an der Arzneikunst selbst sey ganz

unter

vier Augen.

*5

und gar nichts z es gebe entweder gar keine Heil­ kräfte in der Natur, oder wenigstens wüßten die Menschen sie weder zu finden noch anzuwenden-, die Aeskulapische Kunst hatte von ihrer Erfindung an unendlich mehr geschadet als genutzt; kurz, das ganze Medieinalwesen sey eitel Scharlatanerie und Quacksalberen, und nicht um ein Haar besser als die Kunst, aus dem Kaffesatze zu weissagen, Träume zu denren, und auf der Oiengabel nach dem Blocks­ berge zu reiten. Das Schriftchen machte Aufsehen und erregte Anfangs ziemlich allgemeinen Unwillen. Aber der junge Volksanfklarer war aus einem der ersten Hauser in Kuhschnappel, hatte so viele Vater, Oheime, Schwager, Vettern und Gevattern im kleinen und großen Rath, und war ein so fertiger Meister in allen kleinstädtischen freien Künsten, daß er in kurzer gttt einen Anhang bekam, unter dessen Ucbergewicht der Stadtarzt und seine Freunde end­ lich erliegen mußten. Zusehens fiel nun das Anse­ hen des Mannes, den man vor wenig Jahren für einen Wunderrhater auf gerufen hatte; seine Vor­ schriften wurden schlecht befolgt, seine Arzeneien ent­ weder unordentlich oder gar nicht eingenommen: und man gebrauchte heimlich Pfuscher und Quack­ salber, die immer wieder verdarben was er gut machte. Jetzt mißglückte ihm eine Kur nach der andern; aber Er allein mußte die Schuld tragen. Starb ein Kranker, weil er nicht langer leben konnte,

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Gespräche

oder weil er das Opfer seines Eigensinns und deS thörichten Benehmens ber ©einigen wurde, so mußte ihn die Arzneiwiffenschaft und der Stadtarzt getödtet haben. Aus Veranlassung einer epidemischen Krankheit, die in kurzer Zeit den vierten Theil der Einwohner wegraffte, wurde das Uebel endlich so arg, daß ein Hochedler Rath sich nothgedrungen fand, den lange nicht geachteten Beschwerden des Stadt­ arztes Gehör zu geben, und, nach vielen unnöthigen Untersuchungen, Depurazionen, Relazionen und Debatten, endlich ein Dekret ergehen zu lasten, wo­ durch den sämmtlichen Einwohnern der Stadt und Landschaft Kuhschnappel bei hoher Strafe anbefohlen wurde, von nun an wieder an den Stadtarzt zu glauben, und in kranken Tagen sich ganz allein an ihn und seine Vorschriften zu halten. Aber an eben dem Tage, da diese Verordnung publiciert wurde, ließ der witzige Patrizier ein Postenspielchen auf dem Kuhschnapplischen Nazionaltheater aufführen, worin die Aerzte und ihre Kunst durch alle Pradikamente lächerlich gemacht wurden. Diese Poste, der das Rathsdekret zur Folie diente, erhielt nun einen desto lebhafter» Beifall; das Stück mußte einigemal hinter einander gespielt werden, und in wenigen Tagen hörte man den Rundgesang, womit es schloß, auf allen Gaffen singen. Der Stadtarzt wurde des Handels endlich überdrüssig; seine Men­ schenkunde hatte sich in Kuhschnappel, wiewohl auf

unter vier Augen.

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Unkosten der Menschenliebe, ansehnlich vermehrt, und eS war da weiter nicht- mehr zu thun noch zu lernen übrig. Er zog also von dannen, und bekam einen privilegirten Pfuscher zum Nachfolger, der zwar Mittel fand, sich den bisherigen Widersacher seineOrdens durch eine wohl getroffene Eheverbindung mit einer verschimmelten Base günstig zu machen, und dem es daher-an Unterstützung von Seiten einer hohen Obrigkeit nicht fehlte: aber die Kuhschnappler hatten nun einmal den Glauben an die Arzneiwis­ senschaft verloren; und da die obern Klaffen deStaat- dem Volke hierin selbst bei jeder Gelegenheit mit bösem Beispiel vorgingen, so blieb die einmal eingeriffene Unordnung mit allen ihren schädliche» Folgen ein unheilbares Uebel bis auf diesen Tag, und — mein Mahrchen ist zu Ende. Sin ib a td lächelnd. Ich statte dir dafür den gebührenden Dank ab, mein lieber Sokrates; und um dir die Mühe zu ersparen, durch eine lange Reihe kleiner hinterlistiger Fragen, die ich mit mög­ lichster Einfalt zu beantworten hatte, nach Plato­ nischer Art und Kunst, mich am Ende auf den Punkt zu bringen, wo du mich haben willst, will ich lieber den Kern aus deinem Mahrchen sogleich selbst herau- knacken, und gestehe dir also von gan­ zem Herzen zu: daß es mehr als Abderitische und Kuhschnapplische Thorheit ist, wenn unsre Obern, nachdem sie das Fundament der Vorurtheile, worauf

rs

Gespräche

der Glaube des Volks an ihr Ansehen und die Un­ verletzlichkeit ihrer Personen, nebst seinem Glauben an die eingeführte Religion, an eine göttliche Bestä­ tigung des Unterschieds -wischen Recht und Unrecht, und an Verantwortlichkeit in einem künftigen Leben für das Böse, das wir in diesem gethan haoen, beruhet, theils praktisch selbst untergraben, theils ungehindert.von andern theoretisch unter­ graben lassen, — gleickwohl bei Strafe gebieten wollen, daß das Volk glaube, was beinahe niemand mehr glaubt, und es in Ungnaden vermerken, wenn der daher entspringende und sich überall in allen Ständen äußernde Kontrast unsrer Aeit mit den Tagen unsrer g lau ö eurer ch en und in ihren von Kind­ heit an einqesogenen Vorurrherten webenden und lebenden Vorältern endlich seine natürliche Wirkung zu thun anfängt. Ich gestehe ferner, daß, nachdem man der ganzen erstaunten und bestürzten Wett ungescheut das Beispiel gegeben hat, daß man alles, auch das ungerechteste, zu dürfen glaubt, sobald man die Macht dazu hat und es uns so beliebt, es mehr als Thorheit ist, noch von Gerechtigkeit zu schwatzen, und es irgend einem andern übel zu neh­ men, wenn er sich, eben so gut als diese Beispielge­ ber, für ermächtiget halt, alles zu thun was man ihm nicht wehren kann, u. s. w. Noch mehr, lie­ ber Geron! ich gestehe dir, und, wenn ich eine

Stimme hatte, die sich allen Menschen auf Einmal

unter vier Augen.

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hörbar und verständlich machen könnte, so würde ich es über den ganzen Erdkreis ausrufen, „daß die Belspiele, die seit zehn Jahren gegeben worden sind, geradezu auf den Umsturz aller bürgerlichen Gesellschaft und Ordnung, aller Reli­ gion, Moralität und Humanität, tosarbeiren z und daß es also höchste Zeit ist, daß irgend ein verstän­ diger, Gerechtigkeit liebender, das Gute ernstlich wollender und kennender, von lauter recht­ schaffenen Leuten unmittelbar umgebener großer Monarch ein besseres Ben spiel gebe, und mir unerschütterlicher Festigkeit nach Maximen handle, die auf dem ewig nothwendigen Grund alles Rechts beruhen. — Aber, noch emmal, was thut das alles zur Apologie der Vorurtherle? Geron. Ich habe drr also mein Mährchen ver­ gebens erzählt? Cinibald. Du willst vermuthlich damit sagen, es gebe wahre, winrobl dumpfe Gefühle und Vvrurtheile, an welche sich fest zu halten, dem unauf­ geklärten und, vermöge der Natur der Sache, zahl­ reichsten Theil der Menschen nicht nur nützlich, sondern, wofern das Ganze bi stehen soll, sogar n o t h w e n d i g sey; und diese Vorurtheile sollten und müßten also res?ektrrt werden; und das um so mehr, da sie nur subjektiv betrachtet, Vorurttzerte sind, im Grunde aber, sobald man sie zu deutschen Antheilen entwickelt, wahr befunden werden, oder

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Gespräche

auf Wahrheit beruhen. Gut, lieber Geron, auch das geb' ich dir zu. Aber — Geron. Ich bitte dich, kein sofistisches Aber! Sinibald. Bona verba quaeso ! Was könnte mirs helfen, dich und mich selbst sofistisiren zu wol­ len? Wir haben ja einerlei Zweck, und arbeiten beide an einem und demselben Bau. Geron. Eben deßwegen wünschte ich, daß wir auch nach einerlei Plan arbeiteten. Sinibald. Das kann nie fehlen, sobald wir einander recht verstehen. Geron. Also — dein Aber? Sin ibald. Es ist weiter nichts, als daß die Sache der Vorurtheile, durch meine Bereitwilligkeit, dir deine Unterscheidung gelten zu lassen, um nichts gebessert wird. Geron. Das wäre schon zu viel. Erkläre dich näher. Sinibald. Unstreitig hangt der unaufgeklärte Theil der Menschen an Religion, Sittlichkeit und bürgcrlicher Ordnung bloß durch Gefühl undVorur theil. Er hat sich seine Vorstellungen von die­ sen wichtigen Gegenständen, von welchen das Glück oder Unglück ftinks ganzen Daseyns abhangt, nie deutlich gemacht; hat die Gründe, worauf sein Glaube an seinen Gott, seine Obrigkeit und seins Lehrer beruhet, nie unbefangen untersucht und geprüft. Auch könnte er es nicht, wenn er

unter vier Augen.

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gleich wollte: es fehlt ihm zu einem solchen Geschäft an Muße; die Werkzeuge des Denkens sind bei ihm nicht scharf genug dazu geschliffen, und er ist nicht geübt genug, sie bei Gegenständen dieser Art zu gebrauchen. Sein Glaube ist also in der That ein blinder Glaube. Immer gut wenn er ihn hat; denn er ist ihm, in Ermanglung eines bessern, zu seiner Ruhe und zu Erfüllung seiner Pflichten un­ entbehrlich. Er kann ihn nicht verlieren, ohne an seiner Sittlichkeit, der Ergebung in sein Schicksal und der Hoffnung einer bessern Zukunft sehr gekrankt zu werden. Aber das alles ist nur darum so, weil er unaufgeklärt ist. Besser wär' es doch im­ mer, wenn er es nicht wäre; und wie kann er zu diesem Bessern anders gelangen als durch Aufklä­ rung, d. i. wenn sein auf Vorurtheile gegründeter blinder Glaube einer aus freier Untersuchung und deutlicher Erkenntniß entstandenen Ueberzeugung Platz macht 3 Geron. Sollte wohl ein Mann von deiner Welt­ kenntniß hoffen können, daß der unendlich größere Theil der Menschen jemals zu einem solchen Gradvon Kultur gelangen werde's Sinibald. Ich besorge durch meine Antwort nicht wenig von der guten Meinung, die mir dieses Kompliment zugezogen hat, zu verlieren: aber sey es darum! Ich kann nichts anders antworten als — ja! Ich hoff' es, und glaub' es sogar.

Gerori.

Wir leben am Ende daö je gewesen ist. Schau um dich her! Ich verlange nichts weiter, denn ich habe dir alles damit gesagt. Die Hand aufs Herz, Freund! wie kannst du im Ernst eine so sanguinische Hoffnung hegen? Daß eine so un­ geheure große Veränderung der Dinge nicht durch einen Sprung bewrrkt werden könne, hat uns, sollt' ich denken, der neueste Versuch, den einige warme und subtile Köpfe in Frankreich an ihrer eignen Nazion gemacht haben, auf eine Art gelehrt, w/tche (wenn anders die Narrbeit und Blödsinnig­ keit des Menschengeschlechts nicht ganz unheilbar ist) alle Völker auf ewig abschrecken wird, eine ähnliche Gefahr zu laufen. Wahre und gründliche Aufklä­ rung des menschlichen Verstandes kann nur durch ein beinahe unmerkliches Zunehmen des Lichtes, lang­ sam und stufenweise bewirkt werden. Aber eben des­ wegen wird eine allgemeine, oder wenigstenüber den g r ö ß ern Th eil der Menschen verbrei­ tete Erleuchtung nie Statt finden. Die Mittel dazu sind zu beschränkt, liegen in den Händen einer zu kleinen Anzahl, hangen zu sehr vom Zufall, und (was noch schlimmer ist) von der Willkühr der Machthaber ab, deren größerm Theil alles daran gelegen zu seyn scheint, daß es nicht hell um sie her werde. Bedenke, daß gegen Emen, der zu Beför­ derung wahrer Aufklärung thätig ist, hundert sind,

Lieber Sinibald!

des aufgeklärtesten I-ahrhunderts,

unter

vier

Augen.

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die ihr aus allen Kräften entgegen arbeiten, und zehen tausend, die seine Dienste weder begehren noch vermissen. Auch bitte ich nicht zu vergessen, daß man unter zehen Aufklärern wenigstens die Hälfte rechnen muß, die ihre Pechfackel so ungeschickt und unvorsichtig handhaben, als ob es ihnen weniger darum zu thun sey uns zu leuchten, als uns die Häuser über dem Kopf anzuzünden; nichts von den kleinen Laternenträgern zu sagen, die uns ein so trübes und täuschendes Licht vertragen, daß wir mit bloßem Tappen im Dunkeln sichrer an Ort und Stelle kamen, als, wenn wir unS von ihnen führen lassen. Sinibald. Das giebt trostlose Aussichten, Bruder! Was bliebe uns da zu thun übrig, als, gleich den trauernden Geniuffen auf alten Sarkofagen, unsre Fackel umzukehren, und mit starren stei­ nernen Augen zuzufthen, wie die Menschheit aus der schönen Morgenröthe, die den nahen Triumf der allerfreuenden Sonne verkündigte, in die Nacht, worin nur die bösen Geister wirken, zurück sinken wird? Geron. Dazu soll es hoffentlich nicht kommen, wenn wir gleich nie so weit gelangen, daß wir der wohlthätigen Vorurtheile, wovon die Rede zwischen uns ist, gänzlich entbehren könnten. Man geht so weit man kann, wenn weiter Zu gehn mcht möglich ist — Wielands W 42. Bd.

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Gespräche

sagt unser Horaz. Man verlange nur nicht allge­ mein zu machen, was, vermöge der unvermeidlichen Unvollkommenheit der menschlichen Dinge, nur weni­ gen zu Theil werden kann. Freilich, wer andere lehren oder regieren soll, kann nie aufgeklärt genug seyn. Aber ein Volk, das von aufgeklärten Menschen gebildet und regiert wird, kann sich sehr gut mit weniger Licht behelfen, und wird sich, in diesem Falle, bei seinen Vorurtbeilen für das Anse­ hen und die Unfehlbarkeit seiner Obern ganz wohl befinden. Sinibald. Du hast wohl gethan, Geron, dich mit der Klausel »in diesem Falle" zu verwah­ ren. Hingegen scheinst du außer Acht zu taffen, wie es gewöhnlich mit der Aufklärung der gebornen Weltregierer und der obersten Klaffen überhaupt beschaffen ist. Die bösen Geschwüre, woran die Menschheit schon so lange leidet und zusehens hin­ schwindet, lassen sich nicht durch Platonische Kühlpfiaster heilen. freilich fei ix respublica, ubi philosophi imperant 1 Aber zeige mir dieses glückliche Gemeinwesen. Oder was hilft es der Wett, wenn fie vom Zufall alle zwei tausend Jahre mit Einem Mark-Aurel beschenkt wird? Wehe uns, wenn die Natur nicht besser für uns gesorgt hätte, als der Zufall; wenn der Mensch die Anlage zu dem, was er seyn muß, um vollständiger Mensch zu seyn, nicht mit auf die Welt brachte; wenn es ihm nicht

unter vier Augen.

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möglich wäre, über alle Hindernisse zu siegen, die seiner Vervollkommnung entgegen stehen! Wie? Es wäre für den einzelnen Menschen ein Zeitpunkt, da er sich selbst zu regieren geschickt wird, und ganze Völker sollten zu einer ewigen Kindheit und Min­ derjährigkeit verdammt seyn? Warum denn sollte alles, was die Geschlechter, die vor uns Lebten, erfahren, gedacht, gethan und gelitten haben, ewig für ihre Nachkommen verloren gehen? Warum jedes neue immer eben so behandelt werden, als ob es aus lauter ersten Menschen bestände? — Laß uns die reine Wahrheit sagen, blende oder schmerze sie auch, wenn sie taut gesagt würde, wen sie wolle! Die Wehklage darüber, daß die Zeiten nicht mehr sind, da das Volk sich bei seinen Vorurtheilen so wohl befunden haben soll — wovon ich (hit Vorbei­ gehen gesagt) keineswegs überzeugt bin — aber, sey es damit wie es war, das Jammern über ihr Nichtmehrseyu kann zu nichts helfen. Sie sind nun ein­ mal vorüber und werden nicht wiederkommen. Andre Zeiten, andre Sorgen! Damals konnte man sich freilich das wichtigste aller Geschäfte sehr bequem machen; aber es ging dann auch —- wie es ging. Es mag wohl manchem sehr ungelegen seyn, daß die Kunst zu regieren die schwerste aller freien Künste geworden ist. Indessen sollte man doch fühlen, wie billig und der Natur der Sache gemäß es sey, daß die Vortheile, die von der Ausübung einer Kunst

zu erwarten sind, mit dem Grade der Virtuo­ sität des Künstlers in gehörigem Verhältniß stehen. Hohe Ehre und große Belohnung gebührt nur dem großen Meister: nur ein solcher kann erwarten, daß wir ihm alles Zutrauen, und geneigt sind, für ihn, der sein möglichstes für uns thut, hinwreder alleS mögliche zu thun. Geron. Kennst du viele Virtuosen dieser Gattung, Sinibald? Sinibald. Desto schlimmer für die, die nicht sind — was sie seyn sollten! Aber, was ich eigent­ lich sagen wollte, ist nur: daß, seitdem die großen Herren uns ihr Geheimniß selbst verrathen haben, (wiewohl sie uns damit eben nichts neues offenbar­ ten) unb. also fürs künftige an keine Täuschung mehr zu denken ist, ihnen nichts anders übrig bleibe, als das angefangene Werk selbst fortzusetzen' und zu vollenden; d. i. der Aufklärung nicht nur ihren Gang zu lasten, sondern sie sogar, in sclösteigner Person und durch ihre Mitarbeiter am Werk, aus allen Kräften zu fördern. Die Völker verlangen keine Hirten mehr, seitdem der Zauber, der sie zu Schafen gemacht hatte, aufgelöst ist. Manche fühlen sich sogar ihren angeblichen Vatern Uber den Kopf gewachsen, und betrachten ihre Regrerer als Drener des Staats, die von der Art, wie sie dem gemeinen Wesen vorstehen, nicht etwa nur Gott und ihrem eigenen Gewissen, sondern den Zeitge-

unter

vier

Augen.

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»offen und der Nachwelt, und vornämlich ihrem zunächst dabei betroffenen Volke verantwortlich sind. Geron. Das ist es eben was ich beklage. Du wirst doch nicht läugnen wollen, daß die politische Freigeisterei, die dem Volke das Recht, seine Regen­ ten zur Verantwortung zu ziehen, beilegt, allent­ halben, wo dieses anmaßliche wirklich ausge­ übt wurde, unendlich viel Unheil angerichtet hat? Sinibald. Wir wollen uns nicht an Wor­ ten irren, lieber Geron. Die Verantwortlichkeit, die ich meine, ist Natur der Sache, und hat also von jeher in jedem Staate, sogar in der ungezügelt­ sten Despotie, Statt gefunden. Die öffentliche Meinung ist ein furchtbares Gericht; ein Gericht, dem sich keine sterbliche Macht, wie groß sie auch sey oder scheine, entziehen kann. Ueber lang oder kurz werden nicht nur die Katigula's, die Neronen, die Domiziane, sondern auch ern Richard II., ein Heinrich IIT., ein Karl I., ein Ludewig XVI.» ich will sagen, unweise und schwachherzige Regenten nicht minder als Tyrannen und gekrönte Teufet, Schlachtopfer der Verachtung oder Vernachlässigung dieses unsichtbaren Vehmgerichtes. Weise und gut­ gesinnte Fürsten, oder wie man die Machthaber im Staate sonst nennen will, sind sich dieser unausweichüchen Art von Verantwortlichkeit immer bewußt; haben sich aber auch so wenig tot* der öffentlichen Meinung zu scheuen, daß diese vielmehr die zuver-

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lässigste Quelle ihrer Macht, und am Tage der Noth ihre stärkste Stütze ist. Uebrigens soll jetzt, mit deiner Genehmigung, die Rede nicht davon seyn, ob cs den Regenten sowohl als den Völkern nicht zuträglich wäre, wenn diese Verantwortlichkeit in jedem Staate gesetzmäßig würde, und auf welche Weise dieß am besten geschehen könnte. Ich erwähnte bleß als einer notorischen Erfahrungssache, daß es mit der Volljährigkeit der meisten Völker in Europa bereits so weit gediehen sey, daß sie sich für berechtigt halten, über die Art und Weise, wie sie regiert und behandelt werden, ziemlich laut zu urtheilen; und daß es also Thorheit wäre, sich län­ ger auf einen blinden Glauben, der nirgends mehr vorhanden ist, blindlings zu verlassen, oder von den alten Dogmen, die der Obrigkeit ein göttliches Recht beilegen und die Untertha­ nen zu leidendem Gehorsam verpflichten, die Wirkung zu erwarten, die sie etwa zu unsrer Vor­ väter Zeiten, und auch damals nicht immer, thaten. Kurz, ich müßte mich sehr irren, oder das neun­ zehnte Jahrhundert, das uns schon entgegen zu dämmern anfängt, wird in R epub liken so gut als in Monarchien den Regenten die Nothwen­ digkeit auftegen, Virtuosen in ihrer Kunst zu seyn, und nicht von den Vorurtheilen, sondern vom Ge­ fühl und der Ueberzeugung ihrer Untergebe­ nen, die Zufriedenheit mit ihrer Regierung und

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vier

Augen.

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jenes allgemeine Wohlwollen und Zutrauen zu erwar­ ten, M zu allen Zeiten die sicherste Grundfeste der Thronen und kurulischen Stühle gewesen ist. G er o n. Wenn ich den Sinn deiner Worte recht gefaßt habe, so erwartest du binnen einem ziemlich kurzen Zeitraume von den Völkern eine Kraftaußerung, von welcher, falls sie Statt haben sollte, mehr zu fürchten als zu hoffen wäre. Denn wie es ohne ein heroisches Mittel zugehen sollte, daß die Machthaber in die Nothwendigkeit, von der du sprichst, gesetzt werden könnten, geht über meinen Begriff. Sinibald. Wenn ich auch ein solches Er­ wachen des Volks, wie du im Sinne zu haben scheinst, gemeint hatte, sollten wir nicht, wenn wir bedenken, was seit zehen Jahren vor unsern Augen und Ohren geschehen ist, mehr als zu viel Ursache haben, dem Genius der Zeit so etwas zuzutrauen's Daß von dergleichen Kraftaußerungen der kopflosen aber desto handfestern Menge mehr zu fürchten als zu hoffen ist, wird dir in diesen unsern Tagen wohl kein Vernünftiger mehr streitig machen; aber eben daraus wird auch jeder Vernünftige die ganz natür­ liche Folgerung ziehen; baß man, anstatt sie durch übel gewählte und falsch berechnete Gegenmittel zu beschleunigen oder gar heraus zu fordern, ihnen vielmehr auf dem einzigen Wege, der einer gerech­

ten und weisen Regierung immer offen ist, zuvor-

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Gespräche

kommen, d. i. sie moralisch unmöglich machen müsse. Wenn jemals Staatsklugheit mit Weisheit, und eigenes Interesse mit dem allgemeinen Besten in Einem Punkte zusammen trafen, so ist es gewiß in diesem. Geron. Und du erwartest, daß die Machtha­ ber jemals aus sich selbst auf eine solche Vor­ stellungsart kommen, oder daß ihre Rathgeber — wenigstens die, denen man folgt — aus eigner Bewegung und Ueberzeugung zu den weisen, gerech­ ten und klugen Maßregeln rathen werden, die du voraussetzcst? Sinibald. Warum nicht, wenn sie auch nur ihren eignen Vortheil kennen, auch nur ihre eigene Sicherheit und Ruhe ernstlich zu Herzen nehmen? Geron. Warum nicht, fragst du? Darauf, lieber Sinibald, laß dir deine Menschenkenntniß und die Geschichte aller Völker und Zeiten, oder nur das schreckliche Kompendium derselben, das, was wir selbst seit 1736 bis auf diesen Tag gesehen und erfahren haben, die Antwort geben. Das sero sapiunt steht mit großen rothen Buchstaben auf allen Blattern desselben geschrieben. Sinibald. Du trauest, wie es scheint, dem gemeinen Menschenverstand auch gar zu wenig Macht über unsre Zeitgenossen zu. Endlich werden uns ja doch die aufgethürmten Beispiele fremder und eigner Thorheiten klüger machen 1

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Geron. Schwerlich! Es wäre seit Adam und Even das erste Mahl. Wie gesagt, es ist nicht in der menschlichen Natur, daß Gewalthaber aus eige­ ner Bewegung auf solche Gedanken kommen, oder, wenn man sie in ihnen zu erwecken suchte, auf Ein­ gebungen dieser Art hören sollten. Nie wird eine noch entfernte Gefahr solcher VolkskraftAeußerungen, wovon wir die Beispiele in Frankreich, in den Niederlanden, in der Lombardei, in Genua, Venedig und Rom, und neuerlich in Helvezien gese­ hen haben, die Wirkung thun, die du dir davon versprichst. Die bloße Erwähnung eines solchen BewegungSgrundes sieht in ihren Augen einer Dro­ hung ähnlich; und mehr braucht es nicht, um ihn nicht nur unkraftig, sondern sogar zum Triebrad einer entgegengesetzten Wirkung zu machen. Eine sehr nahe Gefahr oder ein panischer Schrecken mag vielleicht etwas thun, — ungefähr so viel, als ein fürchterliches Donnerwetter bei einem schwachherzigen Wüstling: aber passato il pcricolo, gabbato il Santo. Eine wahre politische Sinnesänderung wird nie dadurch bewirkt werden; darauf verlaß dich, mein Freund! Sinibald. Ich ehre die Weisheit und —- Anglaubigkeit deines Alters, Geron; die letztere zwar nur, in so fern sie für eine Frucht der ersten gelten kann. Ich für meinen Theil habe noch nicht lange genug gelebt, um an der Menschheit so gänzlich zu

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verzweifeln, daß ich nicht noch immer, wo nicht das Veste, doch viel Gutes sogar von denen hoffen sollte, die zu hoch über uns stehen, um nicht zuweilen zu vergeffen, daß sie Menschen wie wir andern sind. Wenn es aber so wäre, wie du dir, vielleicht nur in düstern Augenblicken, vorstellst: worauf sollten wir die Hoffnung, daß es bester mit uns oder un­ sern Nachkommen werden könne, gründen? Wenn wir die Zeit der Vorurtheile auch zurück wünschen wollten, — es wäre vergebens; sie wird nicht wiederkommen, sie kann nicht rviederkommen. Selbst eine allgemeine Verschwörung aller Machtha­ ber auf Erden könnte sie nicht wiederbringen. Denn dieß wäre nur durch Auslöschung aller Lichter, durch eine permanente Guillotine, die alle den­ kende Köpfe abhackte, und durch die gänzliche Ver­ tilgung der Schreib - und Lesekunst, möglich zu machen. Bevor es dazu kommt, Geron, — erfolgt gewiß das kleinere Wunder, — dasjenige, das ich von der vereinigten Ueberzeugungskraft unsrer Aufklärung und unsrer Erfahrungen er­ warte. Sollte ich mich, wider alles Vermuthen, in dieser Erwartung betrogen finden — Aber nein! ich mag den kleinmüthigen Gedanken nicht ausdenkcn! Es muß, wie du selbst sagtest, vorwärts gehen, alter Gcron, es muß.' Geron. Meine Apologie der Vorurtheile könnte also wohl ungeschrieben bleiben, meinst du?

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Sinibald. Es wäre denn, daß du fie etwa in M a h r ch e n einkleiden wolltest. Geron. Das möchte vielleicht noch immer besser fei?n, als sich darüber zu grämen und Schlaf und Eßlust zu verlieren — Sinib ald. — daß es keinen Papst mehr in Rom giebt, und daß die armen Schwarzwälder künftig nicht mehr zur Mutter Gottes in MarienCinsiedel wallfahrten werden.

IL

Ueber den Neufränkischen Staatseid: „Haß dem Königthum!"

W i l i b a l d. Sie haben es also wirklich über Ihr Herz bringen können, mein lieber Reufranke, dem Königthum Has; zu schwören? Heribert. Mußt' ich nicht? Witibald. Was nennen Sie mü ssen? Kein freier Mensch, oder, was nach meinem Begriff daS nämliche sagt, kein Mensch muß waS er nicht w i l l? Heribert. Sie meinen also, ich hatte mich lieber todt schießen oder dcportiren lassen sollen? Sie sind sehr gütig. Wilibald. So gestehen Sie mir wenigstens, daß die Freiheit, auf welche die große Razion sich so viel zu gute thut, von einer sehr sonderbaren Art ist. Wahrlich, ihr Neufranken send die genüg­ samsten Leute von der Welt, wenn ihr damit zu-

Gespräche unter vier Augen.

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frieden seyd, daß man euch doch wenigstens die Wahl laßt, ob ihr Ueber einen sinnlosen Eid schwö­ ren oder sterben wollt. Heribert. Wir gehorchen dem Gesetz. Was hat ein wahrer Republikaner, das ihm heiliger wäre, als Gehorsam gegen das Gesetz? Erinnern Sie Sich der schönen Grabschrift nicht, welche den dreihun­ dert Spartanern, die sich mit ihrem Könige Leo­ nidas bei Thermopylä für Griechenlands Freiheit aufopferten, gesetzt wurde? „Wandrer, sage den Spartanern, daß wir hier gestorben sind, um ihren Gesetzen zu gehorchen." Witibald. Die Falle scheinen mir nicht die­ selben zu seyn. Leonidas und sein edles Häuf­ chen starb, um dem Gesetze zu gehorchen; Sie und Ihre Mitbürger gehorchen dem Gesetz um zu leben. Aber der große Unterschied liegt in der Beschaffen­ heit des Gesetzes selbst. Jenen muthere ihr Vater­ land nichts zu, als was, im Nothfall, die Pflicht eines jeden guten Bürgers in jedem Staate ist, — für die Rettung deffelben sein eignes Leben in die Schanze zu schlagen. Ihnen hingegen, Freund, muthet — nicht Ihr Vaterland — sondern eine Unter republikanischen Formen despotisirende Regierung zu, entweder etwas ganz vernunftwidriges, d. i. etwas mit den Rechten und Pflichten der Menschheit unverträgliches, zu thun, oder allem zu entsagen, was den Werth des Lebens ausmacht.

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Heribert. Alle Dinge können von mehrer» Seiten angesehen werden; und da es nicht immer von uns abhangt, wo wir stehen wollen, sondern meistens die Nothwendigkeit — eine Gesetz­ geberin, der die Götter selbst Unterthan sind — uns unsern Posten anweist, so kann uns nicht übel ge­ nommen werden, wenn wir jeden Gegenstand so ins Auge fassen, wie er sich uns aus dem Punkte, wo wir stehen, darstellt. Einem echten Republika­ ner erscheint das Königthum in einer hassenswürdi­ gen Gestalt. Belieben Sie wohl zu merken, daß ich das Königthum sage, - n i ch t die Könige. Es hat im Verlauf von einigen Jahrtausenden von Zeit zu Zeit einen liebenswürdigen König gegeben; und ich könnte Ihnen gleich jetzt einen nennen, den ich mir vor allen zum Herren wählen würde, wenn ich einen Herren wählen müßte. Aber Las Königthum ist an sich selbst, und also immer, unter jeder Ansicht, hassenswürdig; und der ^este aller Könige hat einen Fehler, der durch nichts vergütet werden kann, den, daß er — König ist. Wilibald. Ich, lieber Heribert, bin gerade der entgegengesetzten Meinung. Ich gestehe Ihnen ein, daß weise und gute Könige von jeher wenig­ stens eben so selten gewesen sind, als weise und gute Archonten, Konsuln, Direktoren, Bür­ germeister, Schultheißen, u. s. w. Ich gebe Ihnen zu, daß man ohne Mühe zehn hassenswür-

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vier

Augen.

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dige Könige in der Geschichte finden wird, gegen Einen, der sichs wirklich Ernst seyn ließ, die ^iebe und das Zutrauen seiner Unterthanen zu verdie­ nen; aber was an dem Königthum, an sich selbst, haffenwürdiges sey sollte, kann ich nicht sehen. Heribert. Wie doch Vorurtheile, die man von Kindesbeinen an eingesogen hat, auch einen verständi­ gen Mann verblenden können! Wilibald. V-rurtheile? Ich bin mir, über den Gegenstand, wovon wir sprechen, nicht nur keines Dorurtheils bewußt, sondern ich bin vielmehr gewiß, daß meine Urtheile auf Gründen beruhen, die jede Probe aushalten. Heribert. Was verstehen Sie unter Königthun;? Wilibald. Das ist es eben, was ich S i e fra­ gen wollte? Denn es dünkt mich, daß wir nicht einerley Begriffe mit diesem Worte verbinden. Ich wollte wetten, sobald Sie das Wort Königthum hören oder aussprechen, stellt sich Ihnen das Bild eines prachtvollen, üppigen, verschwenderischen Ho­ fes dar, und in deffen Mitte irgend ein stolzer, ehr­ geiziger, willkührlich herrschender Sultan, vor welchem alles kriechen muß, oder ein schwacher, trä­ ger, wollüstiger Schach, den niemand fürchtet, von unzähligen vergoldeten, bebänderten und besternten Sklaven umringt, die im Grunde seine Herren sind,

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Gespräche

und den ohnmächtigen Abgott mit einem vulkanischen Gewebe/ einem ihm selbst unsichtbaren, unzerreißba­ ren Faden, dergestalt umwunden haben, daß er kei­ nen Finger anders als nach ihrem Belieben rühren kann. Alles böse, schändliche, hassenswürdige, wo­ von Sie jemals als von wesentlichen Eigenschaften oder unmittelbaren Folgen einer despotischen, ty­ rannischen und unklugen Regierung gehört und gele­ sen haben; — unzulängliche, zum Theil barbarische Gesetze, schreiendes Unrecht unter den Formen der Gerechtigkeit ausgeübt, die Wahrheit unterdrückt, das Verdienst hintangesetzt, die Tugend verachtet, das Laster belohnt? und aufgemuntert, die Einkünfte und Schätze des Staats verschwendet, verpraßt, un­ würdigen Günstlingen und unersättlichen Buhlerin­ nen preis gegeben; — eine stolze, übermüthige, raub­ gierige K aste, deren grenzenlose Ueppigkeit des Elends eines zu Boden getretnen Volkes spottet; eine Kaste, welche Mittel gefunden hat, alle Ge­ walt des Monarchen, alle Reichthümer des Landes, alle Früchte des Fleißes seiner arbeitenden Einwoh­ ner an sich zu ziehen, und mit diesen letztern so zu theilen, daß sie selbst jeden Genuß für sich behält, jenen hingegen alle Arbeit, Sorgen und Entbehrun­ gen zum Eigenthum überlassen hat; kurz, alle Miß­ bräuche und Gräuel, die sich in einer verdorbenen monarchischen Regierung nur immer denken lassen; alle Laster und Uebelthaten unwürdiger Könige und

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ihrer Lieblinge, und der übrigen, welche, naher oder entfernter vom Thron, an der Ausübung-der höch­ sten Gewalt Antheil haben; mit der ganzen Litanei von Uebeln, die aus einer langen Reihe heilloser Regierungen hervorgehen, und mit deren Aufzahlung ich in einem ganzen Tage nicht fertig werden würde: — das alles stellt sich Ihnen mit dem Worte KöniK4h um auf einmal in einem verworrenen, Helldun­ keln, riesenmaßigcn Bilde vor die Seele z und Sie haben Sich so angewöhnt, dieses Wort mi.t die­ sem Bilde zu verknüpfen, daß es Ihnen unmög­ lich fällt, selbst wenn Sie Sichs vorsetzren, den rei­ nen Begriff dessen, was das Königthum an sich selbst und vermöge seines Wesens ist, fest zu halten. Hab' ichs getroffen, Freund? Oder können Sie sagen, daß es anders ist? Heribert, Ich laugne nichts ; eS ist ungefähr wie Sie sagen. Auch ist das Königthum, dem ich meinen Haß geschworen habe, und zu schwören verpflichtet wurde, kein anderes, als eben dieses Ungeheuer, wovon Sie mit wenigen Zügen ein so gräßliches Bild entworfen haben. Und können Sie läugnen, daß es gerade dieses Bild ist, was im Gemüth eines unbefangenen Lesers zurück bleibt, wenn er die beinahe übermenschliche Geduld gehabt hat, ich will nicht sagen, das ganze Korpus der Geschichte vom Herodot an, sondern nur die Ge­ schichte der Europäischen Königreiche und ihrer Wielands W. 42. '250. 4

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Selbstherrscher, feit den vier letzten Jahrhunderten, mit einiger Aufmerksamkeit zu durchgehen? Will bald. Es würde mich zu weit führen, *"enn ich es Ihnen laugnen wollte; denn ich müßte Ihnen meine Gründe angeben; und da sich immer wieder vieles dagegen einwenden ließe, so würden wir uns unvermerkt in einen Prozeß ohne Ende ver­ wickelt sehen. Ich will Ihnen also lieber für dicßmal, der Wahrheit übrigens unprajudizirlich, einge­ stehen, die Geschichte der Könige gebe, im Durch­ schnitt genommen, kein besseres Resultat; aber.» was beweiset das gegen das Königthum an sich selbst? Oder, wie können Sie einen Vorwurf gegen dasselbe so ausschließlich geltend machen, der alle menschliche Einrichtungen und Anordnungen gleich stark trifft? Nach Ihrer Art zu rasonniren müßten Sie, z. B. auch dem Gold und Silber einen ewig unver­ söhnlichen Haß schwören; denn wer weiß nicht, daß von allen den Uebeln, die von jeher das Unglück der Menschen in den policirten Staaten gemacht haben, keines issr, wovon jene Metalle nicht entweder die Veranlassung, oder die Mittel, oder der Zweck ge­ wesen waren? Aus dem nämlichen Grunde müßten Sie auch, mit dem Paradoxe liebenden Sofisten Mercier, den bildenden Kün sten Haß schwö­ ren; denn es ist nicht zu laugnen, daß diese von jeher, als sehr wirksame Beförderungsmittel des Aberglaubens, der Priesterherrschaft und derUeppig-

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Auge n.

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feit/ dem menschlichen Geschlecht unendlichen Scha­ den zugefügt haben. Aber, wozu hatte ich nöthig, Sie so weit aus unserm Wege zu führen? Wollen Sie Sich überzeugen, das; Sie, aus eben denselben Gründen und nach eben derselben Art zu schließen, der Demokratie selbst den herzlichsten Haß zu­ zuschwören schuldig sind? Heribert. Das würde schwer halten. Wilibald. Nicht halb so schwer als Sie jetzt glauben mögen. Da Sie so gütig gewesen sind, mich so eben vom Lesen des ganzen ungeheuern Kor­ pus der Geschichte des Königthums zu dispensiren, so war' es unartig von mir, wenn ich Ihnen zumuthen wollte, die Geschichten aller alten und neuern Republiken zu durchlesen, um sich von der Richtig­ keit meiner Behauptung zu versichern. Ich verlange n-chts als eine Lektüre, womit Sie in einem paar Tagen ganz gemächlich fertig werden können. Lesen Sie nur mit Aufmerksamkeit und Geduld die Ge­ schichte des Peloponnesis chen Krieges von Thucydides (etwa in der Übersetzung von Ihrem Mitbürger Levesque); und wenn Cie, noch ehe Sie damit zu Ende gekommen sind, die Demo­ kratie nicht wenigstens eben so hassens würdig finden als das Königthum, und im Verfolg dieser kaum ein und zwanzig Jahre umfafienden Geschichte eines Krieges, der gegen die Feldzüge Ihres und meines Helden Buonaparte eine gar jämmerliche

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Gespräche

Figur macht; wenn Cie, sage ich, die Athener und ihre Demagogen und ihren Senat und ihre Votksversammlungpn und ihre ganze Demokratie nicht zwanzigmal für einmal — mit den Griechen zu reden — vor die Raben wünschen: so will ich—Doch nein! Da müßten Sie von einer so monströsen und uncrklarbaren Vorliebe für die Demokratie be­ sessen seyn, daß es nicht billig wäre, wenn ich Un* schuld iger dafür büßen sollte. Heribert. Ich verspreche Ihnen, den LeveSquischen Thucydides zu lesen, und, was noch mehr ist, ich bekenne, schon bevor ich ihn gelesen habe, daß ich von der Liebenswürdigkeit und den derben populären Reizen der Demokratie mcht so mäch­ tig bezaubert bin, daß ich eines so stark wirkenden Gegenmittels schlechterdings benöthigt wäre.

W i t i b a td. Ihre Republik und ihr fünfköpfiges Direktorium laßt es in der That daran nicht fehlen. Heribert. Gleichwohl, wenn ich auch — wie wir Menschen sind! — zuweilen einige Lauigkeit in der Liebe, die ich meiner politischen Venus Volgivaga nun einmal geschworen habe, zu verspüren glaube, brauche ich nur einen Blick auf dasKönigthum, oder (weil Sie es so wollen) auf das häß­ liche Zerrbild desselben, das sich ein für alle­ mal in meiner Einbildungskraft festgesetzt hat, zu werfen, um das sinkende Flämmchen durch den Haß

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Augen.

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des letztem wieder zur lodernden Flamme angefacht zu fühlen. Wilibald (lächelnd). Billig sollt' ich Sie, zur Strafe, in Ihrem verstockten Sinne dahin gehen lassen. Aber, da wir doch bereits so atre Freunde sind, kann ich Sie unmöglrch m einer so ungerechten Leidenschaft befangen seyen, ohne zu versuchen, ob ich Sie nur wenigstens so weit bringen könne, das Königthum und die Republk mit einerlei Wag und.Gewicht zu wägen, wenn ich auch nicht ver­ hindern kann, daß Ihre Vorliebe für die letztere sich unvermerkt in die Sache mischen, und das Uebergewicht derselben, dadurch, daß sie sich ganz leise auf ihre Schale legt, entscheiden wird. Heribert. Sie sollen mich so billig finden, als man von einem Amoro so nur immer verlangen kann. Wilibald. Um also ehrlich und aufrichtig, wie Leute, die sonst nichts bei der Sache gewinnen wol­ len alö Wahrheit, zu Werke zu gehen, so lassen Sie uns auf eine Weile vergessen, was Königthum und Demokratie gewöhnlich von jeher in der wirkli­ chen Welt (oder, wie man in der Schule spricht, in concreto) gewesen sind; lassen Sie uns von beiden alles Zufällige abfondern, um — nicht etwa ein schönes Ideal und Hirngespenst vcn einem Utopischen Königreich oder einer Schkaraffenländischen Demokratie, an die Wol-

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Gespräche

fen hinzumalen, — sondern nur bloß den Begriff, was das Königthum ist um Königth u m, und was Demokratie ist um Demokratie zu seyn, fest zu halten. Lassen Sie uns dann beide gegen einander stel­ len, und sehen, worin sie einander gleich, und worin sie verschieden sind, und — es wird sich zeigen, was heraus kommt; denn ich will nichts vorher sehen. — Sagen Sie mir also, wenn wir bethe Begriffe von allem Zufälligen entkleiden, was bleibt uns bei dem Worte Königthum zu denken übrig, als ein Staat, worin die höchste Gewalt in den Han­ den eines Einzigen, und bei dem Worte Demo­ kratie, ein Staat, worin die höchste Gewalt in den Handen des ganzen Volkes ist? Heribert. Gut — Und was wollen wir nun mit diesen bis auf die Knochen abgeschalten Begriffen machen *? Wilibald. Eine kleine Geduld! Sie sehen, daß ich, ehe wir weiter gehen können, verschiedene Postulate voraussetzen muß, über welche wir beide vermuthlich einig sind. Heribert. Wie meinen Sie das? Wilibald. Z. B. was ein Staat, und was die höchste Gewalt im Staat ist. Heribert. Setzen Sie immer getrost voraus, daß wir von diesen und andern ersten Elementen der Staatswiffenschaft einerlei Begriffe haben. Wilibald. Ferner: was der letzte Zweck

unter

vier

A u g e n
gthum, dem ich Haß geschworen habe, von dem, dessen We­ senheit Sie aus einemBegnffe, den ich nirgends realisirt sehe, abgeleitet haben, mächtig verschie­ den ist: denn es ist kein anderes, als das Königthum Ludwigs des XHL, XIV., XV. und XVI. und aller, die diesen Königen gleichen oder gern rhre Nachfol­ ger wären; und hoffentlich werden Ste mir einge­ stehen, daß an diesem Königthum mehr zu hassen als zu lieben ist. Wilibald. Was den Einwurf betrifft, daß Sie meinen Begriff von Königthum nirgends realisirt sehen, so hoffe ich, wir werden ihn, wofern uns der Himmel gesunde Augen erhält, bin­ nen wenig Jahren in einem der ansehnlichsten Euro­ päischen Reiche auf eine Art realisirt sehen, die auch die hartnäckigsten Gegner der Monarchie mit dersel­ ben aussöhnen, und vielleicht den Neid der großen

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Ges prache

R azion selbst erregen wird, die aas eint so bei­ spiellose Art, erst durch rhetorische und sofistische Gaukelkünste, dann durch Sanskülottism, Eisgruben, Guillotinen, Noyaden und Füssilladen ungefähr auf eben die Art republikaniflrt worden ist, wie MolierenS Sganarel -um Arzt wider seinen Willen kreirt wird.— Doch, verzeihen Sie mir diese kleine^ von Ihnen selbst veranlaßte Abschweifung. Ich wollte sagen, wenn ich auch Ihnen, aus alterFreundschaft, den heimlichen Vorbehalt- »daß Ihr beschworner Haß nur dem Mißbrauch der königlichen Gewalt und der ehmatigen Französischen n oyautc, wie sie ungefähr seit des dreizehnten Ludewigs Zei­ ten war, gelte,” wenn ich Ihnen auch diesen Vor­ behalt, als da- einzige Mittel aus der Verlegenheit zu kommen, übersehe: so bleibt es doch immer von der dermaligen Französischen Regierung sehr unge­ recht, unpolitisch und unnütz, einen solchen Eid­ schwur in einer unbestimmten Formel, die dem Kö­ nigthum überhaupt und an sich selbst gilt, folglich beleidigend für alle Monarchen ist, zur unumgäng­ lichen Bedingung des Französischen Bürgerrechts und der Fähigkeit zu irgend einem öffentlichen Amte zu machen. Dem Königthum an und für sich Haß zu schwören, hat nicht mehr Sinn, als der bürgerlichen Gesellschaft, der Religion, den Wissenschaften und Künsten, der Schiffahrt und dem Seehandel, und

unter vrer

Augen.

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zehen lausend ander» Dingen, deren Mißbrauch und Derderbniß der Menschheit ,großen Schaden thut, Haß zu schwören. Ob es klug sey, zu einer Zelt, da man mit den Königen entweder bereits im Frie­ den lebt, oder im Begriff ist Frieden zu machen, ihnen einen so infuttanten Beweis von Verachtung und bösem Willen zu geben, laß' ich Sie selbst urtheilen. Und zu welchem Ende bestehen Ihre Fünfmanner so eisenfest auf einem so unklugen, so ungereimten, so nvnsensikalischen Eide? Was soll er beweisen? Was für Sicherheit giebt er den regierenden Demagogen, daß der Schwörende ein aufrichtiger Anhänger ihrer Grundsätze und ihrer Regierung sey? Um wie viel ist er kräftiger, als wenn ein Wucherer bey seiner Ehre, oder ein Jude bei Jesus, Marie und Josef schwört? Gegen Ei­ nen, der fich ein Bedenken macht, giebt es zehen tausend, die den Eid ablegen, ohne das geringste dabei zu denken, oder mit der Ausflucht des Euripidischen Hippolytusr »mein Mund hat nur geschworen, nicht mein Herz / ihr Ge­ wissen hinlänglich gesichert zu haben glauben. Die Franzosen sind, seit der Revoluzion, so oft in den Fall gesetzt worden, falsche Staatseide zu schwören, haben so oft, was sie vor kurzem bei hoher Strafe schwören mußten, wieder bei noch höherer Strafe abschwören müssen, daß eS kein Wunder wäre, wenn sie die Maxime des Epartani-

Aieltmds W. 4^ Bv.

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Gespräche

schen Generals Lysanderr „Männer spielen mit Eiden, wie Knaben mV Würfelknochen," langst zur ihrigen gemacht hatten.- Ich sage nichts von der tyrannischen Absurdität, freien Menschen durch ein Zwanggesetz Lttzumuthen, daß fle auf eine Mei­ nung schwören sollen, die entweder jetzt nicht die ihrige ist, oder es vielleicht morgen nicht mehr seyn wird. Ein ehrlicher Mann kann, indem er der Nothwendigkeit nachgiebt, der Republik Treu e und Gehorsam schwören, ob er gleich, wenn es von ihm abhinge, beides lieber einem Könige zuschwören möchte; aber feine Meinungen von Republik und Königthum hangen nicht von seiner Willkühr ab r er kann nicht schwören, daß er glaube, was er nicht glaubt; er kann beschwören, daß er sich der jetzt bestehenden Regierung unterwerfen, und nichts gegen sie unternehmen wolle; und mehr kann man mit Recht nicht von ihm fordern. Wozu also, ich frage Sie nochmals, der gehässige Eid, das König­ thum zu hassen? Heribert. Soll ich Ihnen, weit wir doch hiev unter vier Augen sprechen, meine Meinung von der Sache hier unverhohlen sagen? Unsre Bürger-Di­ rektoren sind von dem alten, was sich gegen den Eid, der Ihnen und der ganzen ehrbaren Welt so anstö­ ßig ist, sagen läßt, so völlig überzeugt, als Sie und — ich. Aber von der Höhe der Revolurikn herab setzen sie alle Dinge in einem ganz

unter

vier

Äugen,

andern Lichte als wir andern Erdenkinder. Ob etwas, das sie wollen und verordnen, recht, billig, anstän­ dig, oder mit den bisher in der ganzen Wett ange­ nommenen Begriffen und Grundsätzen übereinstimmig sev, kümmert sie wenig oder nichts. Die Aufrecht­ haltung ihrer Republik, an welcher nicht nur ihre dermalige Allgewalt, sondern ihre Existenz hängt, ist das Einzige, das ihnen Noth ist, für das sie Alles thun. Alles wagen, Alles aufopfern. Diese Haine h la ruviuiv, die wir schwören müssen, ist eine alberne und dem Anschein nach ganz zwecklose unnütze Ceremonie; der Schwur hat an sich selbst nicht mehr Sinn alSAbrakadabra, Plektron, Aski, Kataski, und andere dergleichen Zauberwörter. Aber hat nicht, unsre ganze Revoluzion ihren Erfolg solchen Wör­ tern, wobei sich niemand was bestimmtes dachte, zu danken? Das erste, was man zu thun hat, wenn man dem großen Haufen einen Ring durch die Nase ziehen will, ist, daß man dem Dinge, das er sehen soll und nicht fleht, einen Namen schöpft, und ihm dann mit der unverschämtesten Dreistigkeit st> lange versichert, er sehe das Ding, bis er es zuletzt wirklich zu sehen glaubt. Auf eben dieselbe Weise kann man einem einfältigen Menschen weiß machen, er liebe oder hasse etwas, indem man ihm so lange und oft wiederholt, er liebe oder hasse es, und müsse es hassen, bis er endlich zu glauben anfangt, es müsse dem wohl so seyn, weil kluge Leute ihn dessen

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Gespräche

so positiv versicherten; und das sonderbarste ist, daß das Abrakadabra zuletzt seine Wirkung thut, und der Mensch wirklich in ganzem Ernst etwas liebt oder verabscheut, das ihm Anfangs völlig gleichgül­ tig war. Glauben Sie mir, das ist der Schlüssel zu diesem Räthsel. Unsre Gewalthaber merkten, daß der Haß gegen die vormalige königliche Regie­ rung in den Herzen des Französischen Volkes erkal­ tet war, und daß im Gegentheil eine geheime Sehnfu t nach der alten Ordnung der Dinge sich wieder ui eben dem Maße äußerte, wie die guten Leute gewahr wurden, daß d ese Freiheit und Gleich­ heit, womit die Herren bisher so große Wunder gethan hatten, nur leere Gespenster waren, die man ihnen in einem magischen Rauch hatte erscheinen lassen. Es war die höchste Zeit, wieder ein Zauberwort oder eine Taschenspieler-Formel zu erfinden, womit man den Folgen der Lauigkeit, die seit einiger Zeit unter unserm Volke überhand nimmt, entgegen wirken könnte. Man laßt uns also bei jeder Gelegenheit, einzeln und in Masse, dem armen Königthum Haß schwören. Das Volk schwört, und fühlt entweder gar nichts dabei, oder weiß doch selbst nicht recht was: aber der Schwur wird so oft erneuert, wir hören ihn so oft, und beinahe täglich, von andern schwören, unser Ohr und unsere Lippen werden seiner so gewohnt, daß es unö zuletzt seyn wird, alS fühlten wir wirklich etwas widerliches und

unter vier Augen.

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schauderhaftes bei diesem Worte, — und das Mittel Hilst doch wenigstens eine Zeit lang, was eS helfen kann. Wilibald. Ihre Erklärung laßt sich hören; wiewohl ich sehr zweifle, daß Ihre politischen Zau­ berer, wenn sie so etwas abzweckten, eine sonder­ liche Wirkung davon verspüren werden. Wenigstens wird es nicht auf lange helfen; und bei einem Volke, tvte das Ihrige, das so leicht von einem Aeußersten zum andern überspringt, könnte sich der erkünstelte und erzwungene Haß des Königthums am Ende wohl gar wieder in eine Liebe verwan­ deln, deren plötzlicher Ausbruch der Republik und ihren Stiftern, und allen, die ihre Knie vor diesem Baal gebeugt haben, eben so gefährlich werden könnte, alS es der vierzehnte August dem König­ thum war. Heribert. Davor behüte uns der gute Genius von Frankreich! — und davor wird er uns hoffent­ lich durch den herzlichen Abscheu vor neuen Revoluzionen bewahren, der jefct, wenn mich nicht alle Anscheinungen tauschen, an die Stelle aller ihrer vorigen Ausschweifungen in den Gemüthern unser8 Volkes getreten ist. Wilibald. Hoffen Sie nicht zu sanguinisch, mein Freund! Die vielgestaltigen und niemals ruhen­ den Fakzionsgeister arbeiten dem guten Dämon der Nazion zu eifrig entgegen, als daß Sie auf

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Gespräche

das Bedürfniß der Ruhe, wie stark es auch von dem Volke gefühlt wird, so sicher rechnen dürfen. Aber lch wüßte Ihnen einen Rath, und, ick müßte mich sehr irren, oder es ist das einzige Mittel, Ihr Gemeinwesen, mitten unter seinen Siegen, Lriumfen und Eroberungen, vor dem immer näher rückenden Untergänge zu retten. Heribert. Wie Sie sprechen! Sie könnten einem, der leichter als ich zu schrecken wäre, angst und bange machen. Aber — weil doch auch der Rath eines Feindes nicht immer zu verachten ist, — Ihr einziges Rettungsmkttel, wenn ich bitten darf? Wilibald. Es ist — entsetzen Sie Sich nicht gar zu sehr! — es ist — weil Sie doch keinen K önig mehr wollen, und in der That auch, so lang' es noch Bourbons giebt, keinen haben können Ihre Konstituzion vom Jahr 1795, die nach dem ungeheuren Riß, den sie am achtzehnten Fruktidor bekommen hat, ohnehin nicht lange mehr halten kann, je eher je lieber selbst ins Feuer zu werfen, und — einen Diktator zu erwählen. Heribert. Einen Diktator? Wilibald. Oder Lord Protektor, oder Protarchon, oder wie ihr ihn sonst nennen wollt. Der Name thut wenig zur Sache; wenn es nur ein Mann ist, dem ihr die unumschränkte Gewalt, welche das alte Rom, wenn es um Rettung der Republik zu thun war, einem ad imuc actum ernannt

unter

vier

A u z

en.

7i

tcn Diktatoren beilegte, mit Sicherheit anvertrauen könnt. Ich räsonniere so. Wenn ibr dem König­ thum nicht einen so unauslöschlichen Haß geschworen hattet, und wieder einen König haben wolltet und könntet, so müßte es ein liebenswürdiger junger Mann, von großem hohem Geist, von den größten Talenten im Krieg und Frieden, von unermüdlicher Thätigkeit, von eben so viel Klugheit als Muth, von dem festesten Charakter, von reinen Sitten, einfach und prunklos in seiner Lebensart, immer Meister von sich selbst, ohne irgend eine Schwach­ heit wobei ein andrer ihn fassen könnte, zugleich offen und verschlossen, sanft und heftig, geschmeidig und hart, mild und unerbittlich, jedes zu seiner Feit, kurz, ein Mann, seyn, wie es in jedem Jahr­ hundert kaum Emen giebt, und dessen Genius alle andre in Respekt zu halten und zu überwältigen wüßte. Ein anderer als ein solcher könnte euch, in der außerordentlichen Lage, in welche die Revoluzion euch geworfen hat, nichts helfen. Da ihr nun keinen solchen König haben könnt, so müßt ihr einen Diktator suchen, der alle diese Eigenschaf­ ten in sich vereinige. Er darf aber, aus vielerlei Rücksichten, kein eigentlicher Franzose, wenigstens von keiner alten und bekannten Familie seyn; und wenn er sogar einen ausländischen Namen hatte, so wäre es nur desto besser. Auch muß er eine Menge Proben abgelegt haben, daß er alle die Ei-

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Gespräche

genschaften, die ich. zu eurem Diktator nöthig finde, und von denen ich ihm keine Nachlassen kann, wirk­ lich besitze; und wenn er sich bereits einen großen Namen in der Welt gemacht hatte, und im Besitz der allgemeinen Achtung stände, so sehe ich nicht, was ihm noch abginge, um euer und der ganzen Welt Retter zu werden. Das Außerordentlichste bei der Sache ist, daß ihr diesen Mann nicht erst zu suchen braucht; denn, durch einen Glücksfall, den man wohl in seiner Art einzig nennen kann, ist er schon gefunden. Heribert. Buonaparte also! Wilibald. Wer anders? Heribert. Und auf wie lange? Wilibald. So lange als er es ausdauert. Ich besorge, ihr werdet ihn nur zu bald verlieren. Also je langer je besser. Heribert mit ko.nifts^m Ernst. Bu onaparte, Diktator der großen Nazion Der Vor­ schlag hat etwas Einleuchtendes. Wir werden ihn in Ueberlegung nehmen. Wilibald. Ich fordre alle eure Köpfe in bei­ den Senaten heraus, einen bessern, zu thun. Heribert. Fast sollt' ich es selbst glauben. Wilibald. Die Sache mag einige Schrvierigkeiten haben. Aber der Hauptpunkt ist doch, euch recht von den großen Vortheilen zu überzeugen, welche die Al le in herrsch« ft, zumal eines solchen

unter vier Augen.

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Manne- wie mein Diktator ist, vor einer jungen, unerfahrnen, launenvollen und zwischen so vielen Parteien und Fakzionen hin und her schwankenden Demokratie hat, wenn es darauf ankommt, einen zu Grunde gerichteten und bereits in moralische Verwesung gehenden Staatskörper von dreißig Millio­ nen Gliedern wieder zu beleben und aufblühen zu machen. — Ich bin Ihnen ohnehin noch die Ver­ gleichung des Königthums mit der Demokratie schul­ dig, und wenn es Ihnen recht ist, so entledige ich mich dieser Schuld bei der ersten Gelegenheit.

in. Nähere Beleuchtung der angeblichen Vorzüge der repräsentativen Demokratie vor der monarr

chischen Negierungsform.

Wilibald. Darf man so frei seyn, einige etwas einfältige Fragen an Sie zu thun, Heribert? Heribert. Dem Schein von Einfatt möchte wohl nicht viel **i trauen seyn. Aber fragen Sie immerhin, was Sie wollen. Will bald. Nicht wahr, die Französische Na-ion ist feit dem 14. August 1792 im Besitz der uneingefchrankLcsten Freiheit? Heribert. Dem Rech Le'nach hätte sie eö von jeher seyn sotten. Wilibald. Und der völligsten Gleichheit? H e r r b e r r. Allerdings. Wrlibald. Ich sage der völligsten Gleichheit; denn der Unterschied, den Talente und Reichthum

Gespräche unter vier Augen

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machen, hat wenig zu bedeuten. Den Mangel an Talenten ersetzt Unverschämtheit, Verwegenheit und eine brüllende Stimme; und dem Reichthum hält die Unsicherheit des Besitzers, und der Anspruch deS Habenichts an die ganze Welt, die Wage. Heribert.

Spötter!

Wilibald. Hauptsächlich aber ist die Suveränität, in der höchsten Bedeutung des Worts, ein ausschließliches Recht der Nazion, nnd gleichsam der große Diamant an eurer Freiheitskappe? Nicht wahr? Heribert lackend Ohne Iweifel. Wilibald. Das heißt: Der Wille der Nazion ist Gesetz, und niemand ist berechtigt, ihr ein an­ deres wider ihren Willen aufzudringen?

Heribert. Hatten Sie einen Augenblick! Da­ hinter möchte wohl eine verborgene Schlange stecken! — Doch ich fürchte sie nicht. Also, ja! es ist wie Sie sagen. Wilibald. Verzeihen Sie, daß ich noch ein paar Fragen hinzu füge. Die neue republikanische Metafosik ist so subtil, daß unser einer immer besor­ gen muß, sie nicht recht gefaßt zu haben. Heribert. Ich für meinen Theil besorge eher, daß sie nicht subtil genug ist. Aber fragen Sie, fragen Sie.immerzu! Wilibald. Ist die Nazion fuverän, weil sie

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Gespräche

die Macht hat, alles zu thun was sie will? odev vermöge ihrer Menschenrechte? Heribert. Was Sie aber auch für Fragen thun! Ich könnte sagen, aus beiderlei Grunde; denn wer alles thun kann was er will, ist unfehlbar suveran. Indessen da sich auf die bloße Macht kein Recht gründen läßt, so erwarten Sie wohl kein» andre Antwort, als daß ich sage, vermöge der allgemeinen Rechte des Menschen. Wilibald. Aber diese sind unverlierbar? Heribert. Ist es etwa die Suveranitat der Nazion nicht auch? Sie ist ja das unverlierbarste aller ihrer Rechte. Wilibald. Das soll mir lieb seyn! Denn so haben wir den breitesten und gebahntesten Weg vor uns, und eine Menge problematischer Knoten lösen sich von selbst auf. Heribert. In der That giebt es keine einfa­ chere Wissenschaft als die Politik. Diejenigen, die eine so schwere, verwickelte, mit so vielen Kautelen umschanzte, in ein so geheimnißvolles Dunkel eingehüllte, so viel Schlauheit und taschenspieleri­ sche Behendigkeit erfordernde Kunst aus ihr machten, haben von jeher nichts Gutes im Schilde geführt. Wilibald. Bravo! Darüber waren wir also im klaren. — Nun, mit Ihrer Erlaubniß, meine letzte Frage: Glauben Sie wohl, daß die Fünf­ männer, denen Ihre Nazion die Vollziehung--

unter vier Augen.

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macht, als einen Theil der ihr selbst zuständige» höchsten Gewalt/ anvertraut hat/ sich entschließe» könnten, bei der nächsten Zusammenberufung der Urve^sammlungen, es in die freie Willkühr des suveranen Volks zu stellen, ob es die zeitherige von der Majorität des Direktoriums am 13. Fruktidor mit eignen Händen so jämmerlich durchlöcherte Konstituzion wieder zusammen flicken, und, etwa nach B. Röderers Vorschlägen, frisch auskalfatern und neu betakeln lassen, oder lieber eine andre Verfas­ sung, z. B. das verhaßte Königthum, etwa auf den Fuß der Konstituzion von 1791, allenfalls auch mit den nöthigen Verbesserungen wieder Herstellen wolle? — Was meinen Sie, Heribert?

Heribert. Dazu werden sich unsre Bürger Fkrnfmänner nimmermehr entschließen. Lieber noch zwanzig achtzehnte Fruktidors hinter einander! Lieber wieder, wofern wir uns nicht anders zu hel­ fen wissen, Robespierre's allmächtiges Schretkensystem und die permanente Guillotine in allen Kommunen der Republik wieder aufgestellt! Wo den­ ken Sie hin? Wahrlich, die Republik würde übel dabei fahren, wenn man das Volk in der Stimmung, worin es gerade jetzt ist, auf eine so gefährliche Probe stellen wollte. Ne nos inducae in tentaüonem!

Witibald. Besorgen Sie etwa einen Bürger­ krieg ? Darüber können Sie • ohne Kummer seyn.

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Gespräche

Neun Zehentel der Nazion wünschen ja nichts sehnlicher als Ruhe und Ordnung. Das wissen Sie. Heribert. Aber wenn nun, wie es allerdings nicht unmöglich wäre, eben diese neun, oder auch nur acht Jehentel der versammelten Nazion sich für einen König erklärten? Wilibald. So wüßten wir den Willen des Suveräns, und ein Knecht, der seines Herren Willen weiß und — Heribert, ihm in die Rede fallend. Des Suveräns, sagen Sie? Wilibald. Nun ja freilich! Oder wäre die Nazion etwa schon nicht mehr, was sie noch vor -wei oder drei Minuten war? Heribert. Aber sie kann nur Suverän seyn, in so fern sie Republik ist, und die Republik ist bloß in den entschiedenen Republikanern vorhanden, deren Wahlspruch, la republique o u 1 a m o r t! tfr. Diese erkennen keine andre § ranzösischeNazion als sich selbst. Alle übrigen, und wenn sie auch neun und zwanzig Dreißigtel der Einwohner Frankreichs ausmachten, sind Roya­ listen, Orleanisten, Müskadins, Wendeisten, Emigrirte, Sonnenbrüder, Koblen­ zer, Clichiens, kurz alles m der Welt, nur keine Franzosen — Wilibald. Das ist freilich ein anderes! Heribert. Es ist sehr möglich, und kommt

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vier

Augen.

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mir selbst mehr alS wahrscheinlich vor, daß die eigentlichen Kern-Republikaner bei weitem den kleinsten Theil des ganzen Volks ausmachen: aber dafür sind sie auch der streitbarste und ent­ schlossenste. Nimmermehr würden sie sich, so lange sie noch einen Tropfen Blut zu vergießen haben, nach dem Willen einer royalistischen Majori­ tät fügen, und der Bürgerkrieg wäre unver­ meidlich. Wilibald. Aber, noch einmal, was für ein Recht hatten diese Republikaner, dem Willen einer Majorität, die beinahe die ganze Nazion ausmacht, mit Gewalt zu widerstehen? Denn Sie werden mir erlauben, daS, was Sie vorhin von der republika­ nischen Art, die Nazion zu definiren, sag­ ten, für bloßen Scherz aufzunehmen. Heribert. Was ich Sie versichern kann, ist, daß es unsern Republikanern sehr Ernst damit ist. Recht oder unrecht, genug sie wollen die Re­ publik; und was sie ernstlich wollten, haben sie noch immer, wenn sonst nichts mehr half, mit den kräftigsten aller Argumente, mit Bajonetten und Kanonen, durchgesetzt. Aber da sie für eine von der größten Majorität des Volkes feierlich angenom­ mene und beschworne Konstituzion fechten wür­ den, hätten sie auch das Recht auf ihrer Seite. Wilibald. Wie können Sie, nachdem das Direktorium selbst die zwei wesentlichsten Grund-

So

Gespräche

Pfeiler dieser Konstiluzion umgeworfen hat, und sich dessen, was von ihr noch übrig ist, bloß zu Maskirung und Deckung seines immer weiter um sich greifenden Despotism bedient, wie können Eie ver­ langen, daß die Nazion noch Achtung für eine solche Konstituzion trage, oder sich unter ihr sicher glaube? Heribert. Ich verlange nichts; das Direbt ort um v erlangt es: und, was auch seine Ab­ sichten seyn möchten, genug daß es, so lange die Konstituzion noch in ihren Hauptmauern steht, wenigsten- den Anschein des Rechts für sich ha^ und (was am Ende doch allein entscheidet) Macht genug besitzt, seinem Willen Kraft zu geben. Wilibald. Und wie sieht es nun bei dieser Bewandiniß der Sachen um die Suveränitat der Nazion aus? Heribert. Herrlich! glanzend! besser als jemals! Da lesen Sie. Hier steht ein Beweis, der alle andern überflüssig macht. Lesen Sie in diesem öffentlichen Blatte, daß unter andern klugen Maßre­ geln, »den Bürg er sinn auf die bevorstehenden Urversammlungen wieder aufzufrischen auch diese genommen worden ist, daß die Suveränitat des Volks durch ein eigenes Fest, am 3o. Ventose dieses Jahres, in der ganzen Republik gefeiert wer­ den soll. Können Sie einen einleuchtendern Beweis verlangen alS diesen?

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Augen.

8t

Witibald. Wirklich? — So gestehe ich Ihnen, die Erfindung dieser neuen Maschine,, dem sterben­ den Glauben des Französischen V.olks an seine eigne Suveranitat etwas Lebenslust zu-uwehen, ist uv meinen Augen eine äußerst merkwürdige ErscheinungSie beweiset mir eines von beiden: entweder, daß die dermaligen Gewalthaber von dem Verstände des Französischen Volks eine außerordentlich geringe Mei­ nung haben; oder daß ihre Furcht vor dem, was auf den nächsten allgemeinen Volksversammlungen geschehen könnte, sehr groß senn muß, da sie ihnen die möglichen und sogar wahrscheinlichen Folgen eines solchen Festes zu verbergen sa-eint. Heribert. Wieso? Witibald. Es wäre doch sehr möglich, daß Ihr Volk, wie leichtsinnig es auch immer feint mag, durch eine so laute Aufforderung zum Nachden­ ken beinahe gezwungen, auf den Einfall käme, sicv selbst zu fragen: Ist es denn auch wahr, daß wir der Suverän von Frankreich sind? Heribert. Diese Frage löäre nicht schwer zu beantworten. Wrlibald. Sie wissen aber, wie das Volk ist. Sich in weitläufige und tiefsinnige Untersuchun­ gen, Abstrakzionen und Distinkzionen einzulassen, ist seine Sache nicht. Es giebt einen kürzern Weg, ins klare zu kommen. Diogenes führte gegen den Sofisten, der seinen Zuhörern die Unmöglichkeit der Wieland- W. 42. Bd. €

sa

Gespräche

Bewegung durch eine Menge, spitzfindiger Argumente vordeinonstrirt hatte, keinen andern Gegenbeweis, als daß er davon ging. Wie, wenn das Fran­ zösische Volk, um sich selbst von seiner.Suveränirät zu überzeugen, plötzlich den Entschluß nähme, sie auözukben- dieKonstituzion von 1795 vollends zu kassiren, seine zeitherigen Vertreter und Agenten nach Cayenne zu deportiren, und'das Königthum zurück zu rufen? Gestehen Sie, Freund Heribert, wofern das Französische -Volk wirklich so gestimmt ist, wie man mit vieler Wahrscheinlichkeit vermuthet, so könnte kein Lag zu einem solchen Schritte beque­ mer und schicklicher seyn, als das Fest seiner Suveränkrät. Heribert. Da wäre das Direktorium freilich mit seinem vermeinten Präservativ garstig angeführt! — Aber e§ hat keine Gefahr. Unsre'Dreimänner, auf welche doch am Ende, alles ankoinmt, haben zu viele und große Proben ihrer Vorsichtigkeit abgelegt, als daß zu besorgen wäre, sie möchten bei einer so wichtigen Gelegenheit in eine Grube stürzen, die sie sich selbst gegraben hätte». Von den entschiednen Royalisten gilt gerade das Gegentheil. Wenn Hier eine Grube gegraben wird, so däuchr mich, sie werde denRoyalisten gegraben; und die unkluge Voreiligkeit, woiuit sie bisher noch -immer ihre eigenen Plane und Anstalten selbst vereitelt haben, könnte ihneck leicht bei dieser Der-

unter hier

Augen.

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suchung, in welche sie(vielleichtabsichtlich)geführt werden, abermals einen schlimmen Streich spielen. Auf alle Fälle werden Sie sehen, daß die Republik, Dank sey den eben so kräftigen als klugen Maß­ regeln ihrer Vorsteher, triumfirend aus der Gefahr, wofern hier eine ist, hervorgehen wird. W i l i b a l d. Ich wünsche allen Menschen, und gewiß auch Ihrer Nazion, wiewohl sie der meini­ gen viel Böses gethan hat, zu aufrichtig Gutes, als daß es mich nicht freuen sollte, wenn der30.Ben­ to se in ganz Frankreich ruhig und fröhlich abläuft. — Aber wenn dieß auch, durch die Maßregeln des Direktoriums, auf welche Sie so eben deuteten, der Fall seyn dürfte, das heißt, wenn jede zweckmäßige Anstalt getroffen wird, daß das Volk seine Suveränität nicht ausüben könne, wie große Lust es auch dazu haben möchte, —=• kehrt da nicht die alte Frage wieder: Was für ein seltsames Ding ist es um ein Recht, das ich zwar besitze und nie verlie­ ren noch veräußern kann, aber nur nicht ausüben darf? Wenn der Wille der eminenten Mehrheit für den allgemeinen Willen gilt; wenn dieser das höchste Gesetz im Staat, und die Suveränität das heiligste unverletzlichste Recht des Volkes ist: mit welcher Befugniß dürfen bloße Staatsbeamte sich unterfangen, den Willen ihres obersten Gebieters in Fesseln zu legen?

Heribert» Glauben Sie ja nicht, die unfrigen

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Gespräche

mit dieser Frage in Verlegenheit zu setzen. Wie appeliren von dem Volke an die Nazion. Das Volk ist veränderlich, leicht zu bewegen, leicht zu tauschen und irre zu führen, leicht von einem Ton in einen andern zu stimmen. Es handelt immer nackfremden Antrieb und momentanen Eindrücken, ist immer in der Gewalt eines jeden, der sich seiner Leidenschaften zu bemächtigen, oder ihm feine eige­ nen mirzutheilen weiß, und Muth genug hat-, sich an seine Spitze zu stellen. Nichts ist daher noth­ wendiger, als feine Aufwallungen und Launen von seinem festen, unwandelbaren und allgemeinen Willen zu unterscheiden. Dieser ist da, wo die allgemeine V ernunft ist; nicht in den einzel­ nen Departementern, Kommunen und Volksversamm­ lungen, sondern in der ganzen Nazion, in so fern sie über ihre eignen Rechte und Vortheile -aufgeklart ist, oder (was auf das nämliche hinaus läuft) in so fern sie durch den aufgeklärtesten und von echtem Gemeingeist beseelten Theil des Volks repräsentirt wird. Diesem kommt es alsdann zu, die Bewegungen des Volks zu leiten, es in Uebereinstimmung mit sich selbst zu erhalten, es vor den hinterlistigen Künsten seiner verkappten Feinde zu verwahren, und zu Beobachtung der Gesetze, die es einmal als Aussprüche der Vernunft erkannt hat, anzuhalten, kurz, einer Wanketmüthigkeit Ein­ halt zu thun, dre den Staat in eine ewige Anarchie

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vier

Augen.

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stürzen würde, wenn der Despoti sm des Ge­ setzes (den man den Vollziehern desselben mit Un­ recht zur Last legt) ihm nicht einen Damm entgegen thürmte, den sie nicht ungestraft übersprungen darf. Wilibald lü-helnd. Ich danke Ihnen, lieber Heribert, daß Sie meinen Begriff von der Volkssuveränitat so schön rektificirt haben. Denn ich gestehe, daß ich mir immer keine rechte Vorstellung davon machen konnte, was ihr Republikaner euch dabei denkt. Sie ist also nicht unverlierbar, wie wir vorhin annahmen? Heribert. Dem Rechte nach, allerdings; dem Gebrauch nach, nicht. Denn das Volk ist ja um seines eignen Bestens willen genöthiget, die Ausübung derselben einem kleinen Ausschuß' aus sei­ nem Mittel aufzutragen. Wilibald. DasVolk kann sich also nichtselbst regieren, wiewohl es das vollkommenste Recht dazu hat? Kann nicht sein eigner Gesetzgeber noch Rich­ ter seyn? feine Finanzen nicht selbst verwalten? seine Krkegsheere nicht in eigner höchster Person an­ führen? — wie sehr es auch zu allem dem berech­ tigt ist? Heribert. Sie scherzen, Wilibald. Wilibald. Um Verzeihung! Ich rede in gan­ zem Ernst. Das Volk befindet sich also mit seiner Suveranität völlig in dem Fall eines unumschränk­ ten Erb-Monarchen, der noch in der Wiege liegt:

Gespräche es bedarf einer Vormundschaft, die alles, was es als sein eigner Suveran zu thun hat, in seinem Namen beobachtet, — kurz, an seiner Statt seine Rechte wahrnimmt und seine Pflichten erfüllt? Heribert. Die Natur der Sache laßt es nicht anders zu. Nur belieben Sie den Unterschied zu be­ merken, daß der unmündige Monarch sich seine Stell­ vertreter nicht selbst auslesen kann, das Volk hinge­ gen bereits in dem Alter ist, die seinigen zu wählen. Wilibald. Nehmen Sie Sich in Acht, Heri­ bert! Machten Sie mir nicht eben selbst eine Ab­ schilderung von dem Charakter des Volks, aus wel­ cher ganz geradezu folgt, daß es, .ungeachtet der Volljährigkeit der einzelnen Menschen, woraus seine ganze Maste besteht, eben so wenig zu einer solchen Auswahl taugt, als ein unmündiger Monarch ? Das Volk ist ein vielköpfiges, vielsinniges, vielzüngiges Thier, voller Leidenschaften und Vorurtheile; hitzig und brausend, wo es kalt und gelassen seyn, eigen­ willig und starrsinnig, wo es auf Vernunft hören, wankelhaft, wo es unbeweglich stehen, unentschlos­ sen, wo es schnellbesonnen und muthvoll seyn sollte. Seine Berathschlagungen sind gewöhnlich tumultuarisch; und je größer die Anzahl derjenigen ist, die entweder in ihrer eigenen Einbildung, oder, in der Meinung andrer, für vorzügliche Köpfe gelten, in desto mehr kleine Fakzionen wird es sich spalten, desto schwerer wird es seyn, fo viele Köpfe unter

unter

vier Augen.

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Einen Hut zu bringen, und desto weniger ist zu erwarten, daß sie sich in ihren Wahlen, ich will nicht sagen immer, sondern nur meistens, auf die taug­ lichsten und würdigsten Subjekte vereinigen werden. Lassen Sie es in irgend einem kleinen Kuhschnappet nur um die Wahl eines Thorschreibers oder Nachtwächters zu thun seyn, überlassen Sie solche dem Volke, und sehen wie es dabei zugehen winet In einem größern Abdera ists nur desto schlimmer. Doch das müssen Sie selbst bereits aus Erfahrung am besten wissen. Heribert. Nur allzu wahr! Und dennoch— W i l i b a l d Ibm in die Rede fallend Die große Ur­ quelle aller Täuschung euerer republikanischen Dogmgtiker ist, daß sie überall, wo es das Interesse ihres Systems erfordert, sich das Volk nicht so den­ ken , wie es wirklich ist, sondern wie es seyn müßte, wenn es sich der Rechte, die sie ihm einräumen, weislich sollte bedienen können. Dieß gilt von euerer ganzen Konstituzion. Sie ist in einer Art von profetischem Leiste, für ein anderes Jahrhundert, für ein Volk, das erst noch dazu gebildet-werden soll, gemacht, und wird nach aller Wahrscheinlich­ keit eine noch so weit entfernte Zukunft nicht erle­ ben. — Doch, dieß nur im Vorbeigehen, und ich bitte um Verzeihung, daß ich Sie unterbrochen habe. Ich erinnere mich Ihres »und dennoch!« sehr wohl, und will Ihnen die Mühe ersparen, Sich

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Gespräche

näher zu erklären, weil ich Ihre Meinung zu erra­ then glaube. Da wir gemeinschaftlich Wahrheit suchen, so ist nöthig, daß wir immer so nahe bei­ sammen bleiben, als mögllch seyn will. Ich räume Ihnen also zu diesem Behuf ein, daß ein Volk — es sey nun, daß es sich bisher noch in einer Art von Naturstand befunden, und nun entschlossen sey, künftig eine bürg erliche Gesellschaft auszu­ machen, oder daß es, wie die Französische Nazwn, durch irgend eine Revoluzion, in jenen anarchischen Stand zurück geworfen worden — daß dieses Volk nicht nur berechtigt, sondern (wofern es anders der Würde vernünftiger Wesen nicht entsagen w,ll) verbunden ist, sich einer gesetzmäßigen Re­ gierung zu unterwerfen. Ein Volt, es bestehe nun aus dreißig lausend oder aus dreißig Millionen Menschen, kann vernünftiger Weise seine Suveranität nur zu einem einzigen Att gebrauchen, nämlich zu demjenigen, wodurch es sich derselben wieder begiebt, indem es sie entweder mehrern Personen oder einer einzigen zur Verwaltung überträgt. Heribert. Mit ihrer Erlaubniß, das Volk Legiebt sich seiner Suveränität keineswegeß, indem es bloß die Last der Verwaltung auf andre wälzt. Wilibald. Was wollen Sie damit sagend Sie wollen doch nicht aus dem millionenköpftgen Suveran eine Art von morgenländischem Schach machen, der die Reaieruna bloß darum auf fremde

unter

vier

Augen.

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Schultern legt, um sich desto gemächlicher und unge­ störter einer wollüstigen Unthätigkeit überlassen zu können? Das Volk begiebt sich der Ausübung seiner höchsten Gewalt, weil es sie nicht selbst verwalten kann; weil kein anderes Mittel ist, zu dem Zu­ stand' von Ordnung und Ruhe zu gelangen, ohne welchen es sich den Genuß der Vortheile des bürger­ lichen Lebens nicht verschaffen könnte. Der wahre Suverän im Staat ist derjenige, der das Recht hat, die höchste Gewalt auszuüben; und von dem Augenblick an, da das Volk sich der Ausübung dieses Rechrs begeben hat, tritt es, wie groß auch seine gesetzmäßige Freiheit immer seyn mag, in das Ver­ hältniß eines Unterthans, und ist seiner sich selbst gegebnen Obrigkeit Gehorsam schuldig. Gegen die Evidenz dieser Grundwahrheit helfen keine Distinkzionen. Auch sehen Sie, daß Ihre dermaligen Ge­ walthaber es nicht anders verstehen, Und ihren vor­ geblichen Suverän sehr gut in der Zucht zu halten wissen; nicht selten mit einer Strenge, die kein Mini­ ster Ihrer letzten Könige zu wagen sich getrauet hätte. — Aber, um nicht wieder aus unserm Wege zu kommen, will ich mich über diesen Punkt, was .die Theorie betrifft, in keinen Streit mit Ihnen ein­ lassen ; zumal, da ich nicht zu läugnen begehre, daß es, in dem bestimmten Falle, den wir vorausgesetzt haben, von der Willkühr des Volkes abhangr, unter welchen Bedingungen und Modifikazion en es

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Gespräche

seine höchste Gewalt in die Hande seiner Stellver­ treter legen will. Bekanntlich bilden diese Modifikazionen die verschiedenen Formen der Staatsverfassung, deren weit mehrere sind, als man gewöhn­ lich annimmt. Aber unter allen diesen Formen bleibt das Wesen der Regierung sich selbst gleich; die Be­ dingungen , unter welchen es möglich ist, ein von Natur freies Volk zu regieren, sind in all^n eben dieselben, die Rechte dessen oder derjenigen, welchem oder welchen die höchste Gewalt anver­ traut ist, und die Pflichten des Volks, welches zu gehorchen schuldig ist, sind in allen eben diesel­ ben, und umgekehrt. — Heribert. So daß es also, Ihrer Meinung nach, einem Volke ganz gleichgültig seyn kann, ob es von einem Monarchen oder von einer demokrati­ schen Obrigkeit regiert werdet Wilibal . Doch nicht ganz gleichgültig. Jede dieser Formen hat ihre eigenen Vorzüge und Nach­ theile : und wenn sie genau gegen einander abgewo­ gen werden, so dürfte wohl, wie ich mir zu behaup­ ten getraue, der Vorzug auf Seiten der Monarchie seyn. Heribert. Da kommen wir auf einmal so weit aus einander, daß es schwer halten wird, uns wie­ der zusammen zu finden. Wilibald. Wir wollen also, mit Ihrer Er­

laubniß, diesen letztem Punkt, wenigstens vor der

unter vier Augen.

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Hand, unentschieden, oder, wenn Sie wollen, nach Ihrem eigenen Gutdünken entschieden seyn lassen, und bloß bei dem verweilen, was allen Regierungs­ formen gemein ist. Um desto eher aus der Sache zu kommen, wollen wir nur die uneingeschränkte Monarchie und die vollkommene Demokratie mit re­ präsentativer Negierung und getheilten Gewalten, als die beiden Aeußersten, zwischen welchen alle an­ dern liegen, gegen einander stellen, um zu sehen, was sie mit einander gemein haben.

Heribert. Ich bins zufrieden. Nur verbitte ich alle kleine optische Kunstgriffchen bei der Zu­ sammenstellung.

Wilibald. Besorgen Sie nichts dergleichen; ich werde nicht nöthig haben, der Wahrheit durch Kunst nachzuhelfen. Fürs erste also: In der besag­ ten Demokratie, wie in der uneingeschränktesten Mo­ narchie, hat sich das Volk des Gebrauchs der höch­ sten Gewalt begeben. Denn wiewohl es in jener den Namen des Suveräns beibehält, und in Frank­ reich künftig sogar ein Fest seiner Suveränität mit allem gebührenden Pompe begehen wird, so wollte ich doch Sr. Populären Majestät nicht rathen, sich den Verordnungen der Bürger-Direktoren, oder den Bajonetten und Kanonen der unter den Befeh­ len derselben stehenden Bürger-Soldaten und Leib­ gardisten zu widersetzen. Oder glauben Sie etwa —

9*

Gespräche

Heribert. Nein, nein! Ueber diesen Punkt bin ich völlig Ihres Glaubens. Nur weiter! Wilibald. Zweitens: In beiden ist dem Volke das vor einigen Jahren so h^ch gepriesene Maratische Recht der heiligen Insurrekzion nie­ dergelegt. Heribert. Ohne alle Bedingung's Wilibald. Ohne alle Bedingung. Heribert. Das ist hart! Wilibald. Es giebt wirklich Falle, wo eß sehr hart ist. Heribert. In der unumschränkten Monarchie mag das wohl so seyn, wo das Volk in politischem Sinne für Nichts gerechnet ist — Wilibald. Das ist nun auch so einer von euern auf gut Glück angenommenen Sätzen, gegen den ich sehr viel einzuwcnden hätte. Doch davon ein an­ dermal! — In der Demokrat'e also, meinen Sie, wäre es ein andres mit dem Recht der heiligen Insurrekzion 's Heribert. Unläugbar ist das Volk in mehr als Einem Falle dazu berechtigt. Wilibald. Berechtigt? Wenigstens in der De­ mokratie nicht mehr als in der Monarchie. Heribert. Zum Beispiel, wenn die obersten Vollzieher der höchsten Gewalt sich einen wesentlichen Eingriff in die Konstituzion erlauben wollten. Wilibald. Wie, Heribert? Haben Sie ver-

unter vier Augen.

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g essen, daß am iß. Fruktidor der Casus in tcrminis schon da gewesen ist? Kann die Konstituzion wohl gröblicher verletzt werden, als wenn das Direktorium sich einer ihm ausdrücklich untersagten Tisposizion über die bewaffnete Macht anmaßt, um einen ge­ waltsamen Eingriff in die Freiheit des gesetzgebenden Körpers und seiner eigenen Mitglieder zu thun? Das Mißfallen aller guten Bürger über diesen un­ geheuren Akt von Sultanism war so allgemein als ihr Erstaunen; und doch rührte sich das Volk nicht! lind warum rührte es sich nicht? Heribert. Die Überraschung, der Schrekken — Will bald. Wird vermuthlich in jedem ähnli­ chen Falle dieselbe Wirkung thun. Aber, was Sie als etwas ganz ausgemachtes annehmen können, ist, daß das Direktorium, zum Beweise, daß es dem Volk kein Recht zum Aufstand zugesteht, in jedem Falle, wo es für nöthig halten wird, „die Republik durch einen Bruch in die Konstituzion zu retten," auch die nöthigen Maßre­ geln nehmen wird, dem Volke die Ausübung eines solchen Rechts, durch eben dieselben Mittel, deren sich der entschiedenste Despot gegen unruhige Unter­ thanen bedient, unmöglich zu machen. Auch versteht sich von selbst, daß es das entscheidende Ur­ theil über die Falle, wo diese Nothwendigkeit eintre-

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Gespräche

len möchte, jedesmal sich selbst ausschließlich Vorbe­ halten wird. Wo bliebe denn also, was diesen Punkt betrifft, der Unterschied zwischen den Fünf­ männern in der Demokratie und dem Einzigen Mann in der unumschränktesten aller Monarchien? Heribert die Achseln zuckend. Also weiter. Wilibald. Drittens: In beiden ist dem Volke, dem suveränen so gut als dem allerunterthänigsten, alle Macht benommen', die Staats­ verfassung zu ändern, wie groß auch immer seine Lust dazu seyn möchte. Herrbert. Wie wäre das? Wilibald. Zum Beispiel: Setzen wir den möglichen Fall, das Volk wäre der quinquem^iralisch en Regierung müde und überdrüssig; cs finge an zu bemerken, daß die Vortheile, die es von seinem einzigen Prärogative, dem Wahlrecht in den Primarversammlungen, zieht, gegen den damit ver­ knüpften Zeitverlust, die Unterbrechung seiner ge­ wöhnlichen Geschäfte, und alle die heillosen Folgen des ewigen Jntriguirens, Kabalirens, Aufhetzens, Ver­ führens und Bestechens, das von einer solchen alle Jahre wiederkommenden Wühlerei unzertrennlich ist, in gar keiner Proporzion stehen; kurz, gesetzt das Volk überzeugte sich, bei Vergleichung seines gegen­ wärtigen Zustandes mit den goldnen Zeiten, wozu man ihm Anfangs so große und nahe Hoffnung machte, daß es ihm besser wäre, die dermalige Hrd-

unter vier Augen.

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nung der Dinge mit einem leidlich eingerichteten Königthum -u vertauschen, und es wollte bei den nächsten Urversammlungen seinen suveränen Willen über diesen Punkt kund werden lassen — Heribert. Das könnte doch wohl nicht ohne Berathschlagung und Debatten geschehen, und diese sind dem Volk bekannter Maßen durch die Konstituzion untersagt. Witibald. Das ist es eben, was ich meine. Das Direktorium, dem mit einer solchen Entschlie­ ßung seines Suveräns nicht gedient wäre, wird es nicht an sich fehlen lassen, unter der Aegide der Konstituzion, bei jedem Anschein, daß das Volk sich eines so sträflichen Gebrauchs seiner Suveranitat un­ terfangen möchte, so kräftige Maßregeln dagegen zu nehmen, daß es den heutigen Griechen zehnmal leich­ ter seyn wird, das Joch der Türken abzuschütteln, als den Franzosen, ihrer Suveranitat wieder los zu werden, wie überlästig sie ihnen auch immer seyn möchte. Heribert. Das glaub' ich selbst. Witibald. Also viertens: In beiden ist das wesentlichste Interesse des Volks in fremden Hän­ den; in der Monarchie in den Handen des Mo­ narchen und seiner Räthe und Vertrauten; in der Französischen Demokratie in den Handen der bei­ den gesetzgebenden Räthe und des Direktoriums, welches auch ferne Vertrauten, Günstlinge, Helfers­ helfer und Kreaturen hat, und in ungleich größerer

-6

G e f'p r ü ch e

Anzahl als irgend ein Monarch. DaS fuverane Volk hat hierin im Grunde vor dem allerunterthanigsten nrchts voraus. Es muß z. B. so gut wie dieses, alles, was es hat, hergeben, um die wirklichen und vorgeblichen Staatsausgaben zu bestreiten, ohne daß weder dem einen noch dem andern darüber Rechnung abgelegt wird; es muß, so gut wie dieses, feine Söhne an die Schlachtbank führen lasten, so bald es den Wenigen beliebt, in deren Wittkühr cs den Ge­ brauch seiner wichtigsten -Oberherrlichkeits - Rechte ge­ stellt hat; es muß der Wohlthaten des Friedens so lar^e entbehren, als cs das Jntercsse der herrschen­ den Fakzion ist, Krieg zu haben; und man sieht aus dem ganzen Benehmen dieser Fakzion, wie gestiffenrlich sie es darauf anlegt, den Janustempel, von dessen Schließung sie sich wenig Gutes zu versprechen scheint, ewig offen zu erhalten. Heribert. Sehen Sie nicht, mit welchem Enthusiasmus sich die ganzeNazion für die große Unternehmung gegen Karthago interessirt i W i l L b a l d. Die ganze Nazion? Daran zweifle ich sehr. Wenn es aber auch wäre, so weiß man ja, wie gewaltig'und unablässig sie seit einiger Zeit wie­ der elektrisirt und fanatisirt wird. Aber vergessen Sie nicht, daß keine Nazion in der Welt leichter in Feuer zu setzen, leichter zu verführen und zu miß­ brauchen, leichter von einem Aeußersten zum andern hinzurerßen ist, als die Ihrige. Schon lange ließ

unter vier Augen.

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sie es deutlich genug merken, daß sie den Frieden für ein Gut halte, das die Aufopferungen, die man ihm machen müßte, überschwenglich bezahlen würde. Freilich findet zwischen den unterthänigen Völkern und dem suveranen auch d ieseAehnlichkeit Statt, daß bei solchen Gelegenheiten beiden ungefähr die nämli­ chen Komplimente gemacht, beiden dieselben Trostlie­ der vorgesungen, beide durch dieselben Vorspiegelun­ gen zur Geduld und zur Anstrengung ihrer letzten Kräfte angefeuert werden: es ist aber auch dießmat bloß von den Aehnlichkeiten die Rede. Heribert läßt den Kopf ein wenig auf dte Seite hän, gen t zählt seine Finger und nimmt Tabak.

Wilibald. Ich sehe, daß ich zu lange auf einer so widerlich schnarrenden Saite verweile. Also nichts weiter als d^eß einzige. Je genauer wir die Sache von allen Seiten betrachten, desto einleuchten­ der, dancht mir, muß es uns werden, daß nirgends ein rechtmäßiger Grund vorhanden ist, warum ein re­ publikanischer Christ dem Königthum, wie dem Teu­ fel und allen seinen Werken und Wesen in seinem Taufbund, entsagen, oder ein atheistischer Repu­ blikaner ihm alle Augenblicke eine so häßliche Leiden­ schaft, als unversöhnlicher Haß ist, zuschwören soll. Es lebt sich ganz leidlich in der Republik, wie in der Monarchie, vorausgesetzt, daß beide mit Gerechtig­ keit und Weisheit regiert werden. Wenn der Mo­ narch die Tugenden Mark Aurels mit derKtugWtelands W. 42. Bd. 7

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Gespräche

beit Augusts und der Tapferkeit und Mäßigung Trajans in sich vereiniget; wenn in der Repu­ blik das Direktorium und seine Ministerialen, die gesetzgebenden Kollegien, die Gerichtshöfe und die Heerführerstellen mir lauter Mannern, wie Aristi­ des, Perikles, Epaminondas, Focion, Timoleon, Paul - Aemil, Regulus, Kato u. s. w. besetzt sind: so werden gute und verständige Menschen (die nicht mehr verlangen als was billig jst) sich unter beiderlei Regierungsformen wohl genug befinden/ um keine Aenderung zu wünschen. Heribert. Eine bescheidene Forderung, das gesteh' ich! Ungefähr wie wenn Plato die Republik von lauter Filosofen regiert haben will. Wilibald. Kann ich wenigerfordern? Da­ mit eine Republik, zumal eine so große wie die Ih­ rige , gedeihe, ist Tugend, als herrschendes Princip der Regenten sowohl als der Regier« ten, eine unnachlaffige Bedingung: das ist so er­ weislich als irgend ein Lehrsatz im Euklid. Die Monarchie kann sich, zur Norh, mit weniger behel­ fen. Wenn der Fürst nur fein Kalligula oder Klaudius, seine Minister feine Tigelline, feine Gemahlin feine Messalina oder Brünehild, seine Mätreffe keine Theodora, seine Günstlinge keine Pallasse und Nar­ cissen sind, so können die Unterthanen immer zufrie­ den seyn, und alles mag, durch den bloßen Mecha­ nist der gewöhnlichen Polizei, Justiz - und Finanz-

unter vier Augen.

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Verwaltung, in einem einmal in sich selbst bestehen­ den Staate noch ganz erträglich gehen. In der Re­ publik hingegen — Heribert qälmend. Was geben unS die Schau­ spieler diesen Abend? Will bald. Die Zauberflöte. Heribert. Desto bester. Ich gestehe Ihnen, unser Gespräch hat mich übellaunig gemacht; es braucht nichts geringers als einen Dichter wie Schikane­ der und einen Tonkünstler wie Mozart, um mir wieder zu einer leidlichen Stimmung zu verhelfen. Lasten Sie uns aufbrechen.

xoo

IV.

Was

i st

zu

thun?

® e r o n> S° werd' ich denn doch den fatalen Augenblick se­

hen, da mein armes Vaterland, — dieses einst so mächtige, so ehrwürdige Germanien, das im Stande seiner rohen Freiheit von dem allgewaltigen Rom selbst nicht bezwungen werden konnte, sich von euern noch allgewaltigern Demagogen wie eine Masse Thon behandeln, und nach ihrer Willkühr, weiß der Himmel in welche abenteuerliche Form oder Unform umgestalten lassen muß! So weit war' es nun auch mit uns gekommen! Und dieß wäre alles, was wir mit einem Kriege gewonnen hätten, der entweder nie angefangen, oder — Heribert ihm fa die Rede fallend. —- sich nie erle­ digen, oder nur mit Deutschlands gänzlichem Umsturz endigen sollte? Das letzte wollen Sie doch nicht?

Gespräche unter vier Augen.

ioi

und das erste ist nicht mehr zu ändern. Was ist also zu thun? Geron. Wenn wir noch waren, was unsere Vorvater in jenen Zeiten waren, da alle übrige Völ­ ker Europens, sogar die auf ihre damaligen Vorzüge in Kultur und Aufklärung stolzen Italiener, noch mit Achtung von den Deutschen sprachen, — so wäre diese Frage bald beantwortet. Wenn wir noch Ener­ gie, noch alten Brudersinn, noch Stolz und Vertrauen auf uns selbst, noch Vaterlandsliebe und Nazionalgeist hatten —

Heribert. Vaterlandsliebe? Nazionalgeist? — Lieber Geron! wozu dieser Eifer? Und wenn Sie ihn sogar in jedem einzelnen Deutschen entzünden könnten, wozu? Was würde, da die Sachen nun einmal so weit gekommen sind, damit ausgerichtet? Soll die Deutsche Nazion in Masse aufstehen?

Geron tiefürseufzcnd. Sie haben Recht! Ich ver­ gaß, daß wir das nicht können, — nicht d ü r fen, wenn wirs auch könnten; ich vergaß, daß wir keine Nazion sind; daß wir das ungeheure Bild sind, das König Nebukadnezar einst im Traume sah, — »dessen Haupt war von feinem Gold, seine Brust und Arme von feinem Silber, sein Bauch von Erz, seine Schenkel von Eisen, seine Füße halb von Eisen und halb von Thon/' Heribert. Und Sie wundern Sich noch, daß

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Gespräche

diese Füße von dem gewaltigen Stein, der auf fie herab fiel, zerschmettert wurden? Geron. Da Sie Sich doch diese- Umstandes so gut erinnern, so wissen Sie wohl auch wa- wei­ ter erfolgte? — »Da wurden mit einander zermal­ met Eisen, Thon, Erz, Silber und Gold, und wurden wie Spreu auf der Sommertenne, und der Wind verwehte sie, daß man sie nirgends mehr fin­ den konnte." Heribert. Und Sie, mein Freund, erinnern Sich auch noch, daß »der Stein, der das Bild schlug, zu einem großen Berge ward, und die ganze Welt erfüllte?" Geron. Ich bitte Sie, lassen wir den Seher Daniel und den Träumer Nebukadnezar an ihrem Orte. Mir schaudert vor allen diesen Aehnlichkeiten! O der Berg, der Berg! der dreimal ver­ wünschte Berg! — Es ist schwer, lieber Heribert, den Gedanken zu ertragen, daß ein Staat, dessen majestätischer Bau, selbst in seinem Verfall, der Welt noch Ehrfurcht gebot, ein Reich, das sowohl durch seine geografische Lage, Größe, Fruchtbarkeit und Bevölkerung, als durch das, was seine Be­ wohner schon sind, und unter günstigen Umständen noch werden könnten, zur Grundfeste des policirten und aufgeklärten Europa bestimmt ist, daß ein solches Reich dem Neufränkischen Koloß, der sich auf einmal über die ganze Welt erhebt, zu einem

unter

vier

Augen.

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bloßen Fvßgestell dienen soll! Es ist schwer, den Gedanken zu ertragen, daß drei oder vier Französi­ sche Advokaten das Schicksal von vierzig bis fünfzig Millionen Menschen entscheiden, und, weil auch wir— wie die Schweizer — die gute Zeit, wo wir uns selbst hatten helfen können, verschlummert haben, sich nun ermächtiget finden sollen, uns in unsrer gewohnten Lebensordnung zu stören, und uns, wie jener alte Räuber, mit Gewalt in ihr eisernes Bette zu legen, um so lange an uns zu stümmeln und zu recken, bis wir so kurz oder lang sind als sie uns haben wollen. Heribert. Hoffentlich ist es so arg nicht, wie Sie Sich- in diesem düstern Augenblick vorstellen. Gesetzt aber, es wäre, wie ist zu helfen? Gero«. Daß dieß noch die Frage ist, das ist es eben, was mich und alle biedere Deutsche so mißmüthig macht. Heribert. Aber wie war' es anders möglich? Ihr Deutschen seyd nun einmal, im strengen Sinn des Worts, keine Nazion, sondern ein Aggregat von mehr als zwei hundert größer«, kleinern, noch klei­ nern, und unendlich kleinen Völkern und Völkchen. Das gestehen Sie selbst, und dagegen hilft kein Nazionalstolz, keine Selbsttäuschung. Daß dieses Aggreqat sich nun auf einmal einbilden sott, eineNazion zu seyn; daß es mit gestimmter Kraft, wie Ein Mann, aufstehen, und Vermögen, Leib und Leben

X04

Gespräche

aufopfern soll, um die Dauer einer unhaltbar gewordnen Verfassung zu verlängern, und die hohen Vorrechte der Römischkatholischen Rit­ terschaft aufrecht zu erhalten, — wer kann das erwarten? Was geht alle diese Menschen die Inte­ grität des Reichs an, und um was wird der Tiroler, der Halberstadter, der Meklenburger, der Wirtemberget* u. s. w. unglücklicher seyn, wenn den Ab­ kömmlingen der Altdeutschen Ritter die Gelegenheit benommen wird, Fürsten zu werden? Geron. Wenn diese Art zu vernünfteln gälte, wer bliebe bei dem Seinigen? Niemanden kann und darf genommen werden, was er rechtmäßig hat. Aber Sie berühren da gerade die rechte Saite. Ich will Ihnen zugeben, daß unserm Volke, wie jedem andern in der Welt, eben nicht sehr viel daran gele­ gen ist, ob es mit einem krummen oder geraden Stabe geweidet wird. Aber wem ist an der Inte­ grität des Reichs, in so fern sie dermalen in Gefahr ist, mehr gelegen, als eben dieser so zahlreichen Klasse von Rittern, die, genau zu reden, die eigent­ lichen Staatsbürger des Deutschen Reichs sind, und, wenn sie für Einen Mann ständen, und der Helden­ geist ihrer Vorfahren noch in ihrem Busen loderte, so viel zu Vertheidigung ihres Vaterlandes und ihrer Vorzüge vor dem Adel aller andern Völker des Erdboden- thun könnten?

unter

vier

Augen.

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Heribert leise vor sich. Da mußten sie auch bat Mark ihrer Vorfahren in den Knochen haben. Geron, ohne darauf zu achten / sortierend. ®sau« ben Sie, daß ein Franz von Sikkingen, ein Ulrich von Hutten, ein Schärtlin von Burtenbach, den Ereignissen unsrer Lage so gelassen und unthätig zugesehen hätte? Heribert. Ich bitte Sie, lieber (Seron, sehen Sie selbst die Dinge mit etwa- mehr Gelassenheit an, und reden Sie nicht, als ob Sie im sechzehnten Jahrhundert lebten! Ich bin überzeugt, daß es den Abkömmlingen jener Altdeutschen Helden weder an Muth noch gutem Willen fehlt; sie sind zu beklagen, nicht zu tadeln, wenn sie einer alles mit sich fort­ reißenden Gewalt weichen müssen. Was würde Franz Sickingen und Ulrich Hutten selbst, wenn sie in die­ sem Augenblicke mit ihrer ganzen Kraft aus ihren Gräbern hervor gingen, mehr thun können, alunmuthig ihre zottellockigen Heldenköpfe schütteln, und — in ihre Gräber zurück sinken? Geron. Leider ist es, wie Sie sagen. Und so wäre denn die Reihe an mir, Sie zu fragen: was ist zu thun? Heribert. Sehen Sie Sich nach allen Seiten um, drehen und wenden Sie Sich wie Sie wollen und können, strengen Sie alle Nerven und Sennen Ihrer Erfindungskraft und Ueberlegung bis zum Reißen an, Sie werden kein andere- Resultat heraus

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Gespräche

bringen, als die gvldne Maxime, die so lange gegol­ ten hat und gelten wird, als die Welt in ihren alten Angeln geht, »der Nothwendigkeit nach geb en." Geron. Darf man fragen, Bürger Heribert, wie viel Sie damit genau sagen wollen? Heribert. Ich will mich erklären. Setzen Sie den Fall, eine alte Familie hatte von ihren Vorältern eine uralte, ehrwürdige, Gothische Burg mit allen Zubehören, Thürmen und Thürmchen, Zinnen und Schießscharten, steilen Wendeltreppen, kleinen Zimmern, großen Sälen voll Hirschgeweihen und geharnischter Ahnen, Rüstkammern, Gewölben, Kel­ lern, Wassergraben und Zugbrücken, geerbt, und diese edle Familie hätte sich, mit ihren zahlreichen Dienern und Knechten, seit Jahrhunderten, trotz allen Veränderungen die inzwischen in der Welt vor­ gegangen, in und mit dieser unbequemen, finstern, winklichten, kalten und muffichten alten Burg behol­ fen so gut sie gekonnt und gewußt; hier und da wäre auch wohl eine Scheidewand durchbrochen, ein altes Zimmer nach modernem Geschmack umgestaltet und verziert, oder eine dunkle Winterstube mit etwamehr Licht versehen, die beraucherten Decken neu getüncht und bemahlt, Kreuzgange und Vorsäle in eine Menge kleiner Zimmerchen und Degagemens ver­ wandelt, kurz, von Zeit zu Zeit so viel in dem alten Wesen verändert und modernisirt worden, da?

unter vier Augen.

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das Ganze zuletzt das Ansehen eines seltsamen und in seiner Art einzigen Mitteldings von einem Altgothischen Ritter- und Zauberschloß, und einem, in verschiedenen Epoken nach verschiedenen Planen, stückweise zusammengeflickten Italiänisch - Französi­ schen Pallast, gewonnen hatte; alle diese Verände­ rungen aber hätten der Festigkeit und dem Zusam­ menhang dieses weitläufigen Gebäudes unvermerkt großen Abbruch gethan, so daß es sich hier und da stark gesenkt, fürchterliche Risse bekommen, mit Ei­ nem Wort, so baufällig geworden, daß endlich den edeln Bewohnern selbst, (von rhren Dienern und Knechten nichts zu sagen) ungeachtet ihrer frommen Anhänglichkeit an die uralte Familienburg ihrer Vor­ fahren, nicht sonderlich wohl darin zu Muth gewe­ sen wäre.— Sie hätten zwar ihr möglichstes gethan, dem Uebel zu steuern, hätten hier und da frische Balken durchgezogen, Strebpfeiler aufgeführt, Löcher und Risse ausgestopft und zugemauert, im klebrigen die Sache Gott befohlen, sich gute Tage gemacht, und was künftig zu thun seyn möchte, der Zeit und ihrer Nachkommenschaft überlassen; es wäre aber freilich weder mit jener Flickerei, noch mit dieser Resignazion, der Sache geholfen gewesen. Inzwi­ schen wäre in einem benachbarten Land ein schreck­ liches Erdbeben ausgebrochen, dessen Bewegungen sich weit umher verbreitet, und auch die besagte alte Gvthenburg so kräftig erschüttert hatten, daß einige

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Lhürmchen und Angebäude wirklich eingestürzt, und das Hauptgebäude in einen so schadhaften Stand gekommen wäre, daß die Familie es mit Sicherheit nicht länger bewohnen könnte. Gesetzt nun, in die­ ser Lage der Sachen meldete sich ein fremder Bau­ meister — Geron. O ja, bei Theut und Wodan! ein feiner Baumeister! Heribert. Und wenn es der leibhafte Satan wäre — man sieht ja mehr als Eine Probe, daß er kein alltäglicher Baumeister ist — wenn er einen Vorschlag zu thun hat, so muß er gehört werden. (Seron. Aber ich bitte Sie, welch ein Vorschlag! Heribert. Nun, nun! der Vorschlag ließe sich doch immer hören, dächt' ich; oder wissen Sie einen bessern 3 Geron. Freund Heribert, Ihr Gleichniß ist nicht viel tröstlicher als Nebukadnezars Traum. Ich will nicht laugnen, was nur ein Wahnsinniger läugnen könnte: es steht um das bewußte Gebäude freilich so so! Es hatte schon in der ersten Anlage wesentliche Fehler, ist schon so oft, immer nach einem andern Plan, verändert worden, hängt so schwach zusammen, hat so wenig Ebenmaß in den Verhältnissen seiner Theile; — überdieß wohnen manche Zweige der hohen Familie ziemlich ungemäch­ lich, — mehrere wissen kaum unterzukommen. — ES wäre viel davon zu sagen, wenn die Sache nicht

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vier

Augen.

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zu notorisch wäre. — Und doch, ohne da- ver­ wünschte Erdbeben hätten wir, und sogar unsre Nachkommen, nach Gottes Willen, uns vielleicht noch lange darin behelfen können, bis es uns über den Köpfen zusammen gefallen wäre.

Heribert laut auflachend. Wirklich? Was Sie für ein gutmüthiger Mann sind, Geron! Sie sind wirklich zu bedauern, daß Ihnen das neidische Schicksal die Glückseligkeit nicht gönnen will, Sich noch länger in einer Wohnung zu behelfen, die Ih­ nen eine so tröstliche Aussicht giebt. Ich muß geste­ hen, Sie haben Sich über großes Unr-cht zu beklagen.

Geron. Aber was geht unsre Burg euere Bau­ meister an? Wir können und werden uns schon sel­ ber helfen, wenn wirs nöthig finden.

Heribert. Seyn Sie so billig zu bedenken, daß der fremde Baumeister einer Ihrer nächsten Nachbarn ist, und verlangen Sie nicht, daß es ihm gleichgültig sey, in was für Umständen ein Gebäude sich befindet, dessen Einsturz seine eigne Wohnung beschädigen könnte. Aber lassen wir alle diese Ne­ benbetrachtungen ! Sie kommen zu spät. Das Erd­ beben hat nun einmal seine fatale Wirkung gethan, es muß für das Unterkommen der dadurch beschädig­ ten gesorgt werden; die Frage ist nur, wie und woher?

HO

Gespräche

Geron. Was wäre Ihr Rath, Heribert, wenn Sie zu rathen hatten? Heribert. Die ganze Familie ist natürlich in großer Bewegung. Daß etwas gethan werden muffe, ist augenscheinlich. Darin stimmen alle über­ ein. Aber was? Da sitzt der Knoten, ein sehr verwickelter, den entweder weise Klugheit auflösen muß, oder Alexanders Schwert zerhauen wird. Geron. Jum letztern soll es hoffentlich nicht kommen, wofern nicht alle über - und unterirdische Machte sich verschworen haben, uns Sinn und Muth zu rauben Aber lassen wir, ich bitte Sie, die Alle­ gorie fahren, mit der wir nur zu lange gespielt haben, und die, wie paffend sie auch in einigen Punkten ist, doch in andern unS nur zu Trugschlüs­ sen verführen würde. So ist es z. B. mit dem Erd­ beben, das einige Nebengebäude unsrer alten Go­ thischen Burg einstürzen machte. Wenn wir die Allegorie aufgeben, und die Thatsachen, wovon die Rede ist, an sich selbst erwägen, so ist klar, daß es nur auf den freien Willen des Französischen Direk­ toriums ankäme, gemäßigter in seinen Forderungen zu seyn, und von einer so offenbar ungerechten An­ maßung, als die Vereinigung des linken Rheinufers mit dem Französischen Gebiet ist, abzustehen: so wie es unsrerseits nur Mangel an Energie, Nazionalstolz, Patriotism und Gemeingeist ist, wenn wir uns jemals bequemen, durch eine so demüthigende

unter

vierAugen.

Nachgiebigkeit unsre Schwache ganzen Welt aufzudecken.

XII

und Blöße vor der

Heribert. Ich kann hierin nicht Ihrer Mei­ nung seyn; denn ich glaube, auch der tapferste und biederste Mann könne ohne Schamröthe nachgeben, wo Beharrlichkeit auf dem Gegentheil das ungleich größere Uebel wäre. Auf die Frage: „ob die Fran, zösische Republik so unrecht daran thue, das eroberte Linke Rheinufer, zur Entschädigung fürs Vergangene und Sicherstellung für die Zukunft, zurück zu behal­ ten," wollen wir uns, mit Ihrer Erlaubniß, nicht einlaffen. Sie gehört ungefähr unter eben dieselbe Rubrik, wie die Fragen: mit welchem Recht die Republiken Pohlen und Venedig ihrer politi­ schen Existenz beraubt, und unter auswärtige Mächte ausgetheilt worden, die, unter andern Umständen, nie daran gedacht hätten, sich ein Recht an die Be­ herrschung dieser Staaten zuzueignen. Aber, wie gesagt, wir wollen jetzt, mit Beseitigung der Rechtsfrage, bloß als Thatsache zum Grunde legen, daß die Französische Republik das linke Rheinufer nun einmal im Besitz hat, und gutwillig nicht wieder hergeben wird.

Geron. Die erste Frage wäre also: ob dem Deutschen Reiche zugemuthet werden könne, einem so wichtigen integranten Theil seines Staats­ körpers gutwillig zu entsagen?

IIS

Gespräche

Heribert. Lasten Sie uns die Frage lieber so stellen: Ware es wohlgethan, wenn das Deutsche Reich, so wie die Sachen nun einmal stehen, sich selbst zumuthen wollte, die Lander des linken Rheinufers durch Gewalt der Waffen wieder zu erobern? Gerou macht eine Grimasse, scheint etwa- sagen zu woLen, und schweigt mit halb offnem Munde.

Heribert. Ich sagte ausdrücklich: so wie die Sachen nun einmal stehen.' Ich bitte Sie also, versetzen Sie Sich nicht wieder mit Ihrer Einbil­ dungskraft in die alten Zeiten, die nicht mehr sind und nicht wieder kommen können; lasten Sie die Ritter und Helden des 16. und 17. Jahrhunderts in ihren Gräbern ruhen, und sagen mir nur: Wenn es auf Ihre Meinung ankame, könnten Sie mit ruhiger Vernunft und gutem Gewissen zu Fortsetzung des Krieges rathend Geron die Achseln zuckend. Da dieß nicht die Meinung der beiden mächtigsten Fürsten zu seyn scheint, und ein hinlänglicher Beistand einer großen, aber zu weit entfernten Nordischen Macht weder gewiß, noch, aus sehr wesentlichen Rücksichten, von den Deutschen selbst zu wünschen ist, so bleibt frei­ lich wenig Hoffnung übrig — Heribert. Ich sage Ihnen, auch wenn die beiden mächtigsten Reichsfürsten sich entschließen konn­ ten, Antheil an einem solchen, dem ersten Ansehen

unter vier Augen.

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nach, sehr patriotischen Kriegs, den thätigsten An­ theil zu nehmen, so ist doch höchst wahrscheinlich, (um nicht gewiß zu sagen) daß Deutschlands gänz­ licher Untergang die Folge eines solchen Krieges seyn würde. — Es wäre denn, daß Sie ein Mittel wüß­ ten, etliche hundert tausend Mann und einige tau­ send Kanonen mit allem Zubehör auf Feenwagen und Luftschiffen in möglichster Geschwindigkeit an den Rhein zu Iransportiren, und (was ich nicht zu vergessen bitte) daß Sie noch uberdieß ein Arka­ num hatten, diese- ungeheure Kriegsheer wenigstenein paar Monate lang von bloßer Luft leben zu lasten. Geron. Wir reden von einer sehr ernsthaften Sache, Heribert! Heribert. Auch spreche ich im höchsten Ernst. Deutschland kann und will keinen Krieg mehr auöhalten. Oder meinen Sie, daß es an dem unsäg­ lichen Elend, da- die letzten drei Jahre über eine Halste dieses Reichs gebracht haben, nicht schon.mehr als genug hatte? Soll die andere Hälfte auch noch zu Grunde gerichtet werben, um etwas zu erhalten, was wahrscheinlich am Eüde doch nicht erhallen würde, und woran, die reine Wahrheit zu sagen, dem größten Theile des Deutschen Menschen-Aggre­ gats wenig oder nichts gelegen ist? Geron. An der Erhaltung des Ganzen ist al­ len gelegen, oder sie verkennen ihr wahres Interesse. Wielands W. 42. Bd. 8

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Gespräche

Heribert. Da treffen Sie den rechten Fleck, Geron! Die Rede kann jetzt nicht davon seyn, was das bisherige Deutsche Staatsrecht zulaßt oder nicht; noch davon, was gute Patrioten wohl wün­ schen möchten und lieber sehen würden. Ueber alles besondere Interesse geht das allgemeine; über allen konvenzionellen Gesetzen steht ein höchstes, allein heiliges und ferne Ausnahme gestattendes Grundge­ setz, das Heil, die Erhaltung, die Rettung des Ganzen. Um sein Leben zu retten, opfert man ein Glied auf: warum sollte das Deutsche Reich nicht einen zwar beträchtlichen, aber verhältnißmäßig doch nicht unentbehrlichen Theil seines Kör­ pers — seiner Existenz aufopfernd Geron. Sie setzen aber auch immer den ärgsten Fall auf unsrer Seite voraus. Das Kriegsglück ist veränderlich; es kann sich wenden, und endlich ein­ mal auch wohl die gerechte Sache begünstigen. Heribert. Victrix causa Diis p 1 a c u i t. Verlassen Sie Sich nicht zu viel, weder auf die Gerechtigkeit Ihrer Sache, noch auf die Veränder­ lichkeit des Glücks. Aber gesetzt auch, was doch so ganz und gar nicht wahrscheinlich ist, nach einem neuen, vieljährigen, blutigen und zerstörenden Kriege, der gewiß von beiden Seiten mit kannibalischer Wuth und Grausamkeit geführt würde, der dem Deutschen Reiche das Leben von Myriaden seiner blühenden Jünglinge und zu nöthigern und bessern Geschäften

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vier

Augen.

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als zum Rauben und Morden brauchbaren Männer kosten, eure Fürsten und Herren ihrer Lander und Besitzungen berauben, eure Städte verwüsten, eure Dörfer und Landschaften in Brand stecken und in Einöden verwandeln, eure Weiber und Kinder den schändlichsten Mißhandlungen, und einem Elend, wovon die bloße Vorstellung unerträglich ist, preis geben würde, — gesetzt auch, die Wiedereroberung des verwüsteten Bodens der ehemals so blühenden Länder des linken Rheinufers wäre am Ende der Gewinn dieses Krieges: könnten Sie, als ein redli­ cher Deutscher Patriot, und als ein Mensch — zum Kriege rathen? G e r 0 N seufzt, hält die Hand vor die Stirn und schweigt. Heribert. Ich sehe, daß ich Sie ängstige. Lassen Sie uns die Augen von dieser Seite wegwen­ den. Die Sache hat mehr als Eine Seite, und alles könnte sehr leicht eine ganz andere Wendung nehmen. Was neuerlich in Italien und in der Schweiz ge­ schehen ist, sollte den Deutschen billig zur Warnung dienen. Der Geist der Freiheit und Gleichheit, den unsre Revoluzion über alles Fleisch ausgegossen zu haben scheint, und der bereits sogar im Reiche der Ottomanen zu gahren beginnt, hat auch in Deutsch­ land eine weit größere Anzahl von Köpfen- als man sich vielleicht vorstellt, schwindeln gemacht; und glauben Sie mir, unser Direktorium weiß es, rech­ net darauf, und wird, wenn es zur Fortsetzung des

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Gespräche

Kriegs käme, seine Maßregeln darnach nehmen. Sie sehen, wie schnell und leicht es die Demokratisirung des ganzen aristokratischen Theils von Helvezien bewerkstelligt hat; eine Revoluzion, von der, nur noch vor drei Monaten, keine einzige Schwei­ zerseele sich träumen ließ, weder daß sie so nahe sey, noch daß sie so leicht, wie man eine Hand umkehrt, zu Stande kommen könnte. Sie dürfen es für ge­ wiß nehmen, daß unsre Gewalthaber diese Erfah­ rung nicht angestellt haben, ohne bei Gelegenheit fernern Gebrauch von ihr zu machen. Auch bitte ich Sie, den Umstand nicht zu übersehen, daß das Helvetische Landvolk größtentheils keine, oder verhältnißmaßig nur sehr unbedeutende Beschwer­ den über seine bisherigen Obern zu führen hatte. Ich fürchte, dieß möchte in Deutschland nicht allent­ halben der Fall seyn. — Dem Verständigen ist ein Wink genug; und Sie können Sich nun alles weitere selbst sagen. Geron. Ich gestehe, dieß verdient von unsern Obern, und vornämlich von unsrer edeln Ritter­ schaft, deren Interesse jetzt hauptsächlich auf dem Spiele steht, wohl beherziget zu werden. In der That ist die Geschichte der Berner Revoluzion, mit allen ihren kleinsten Umstanden, in Absicht der praktischen Folgerungen, die sich dem Staatsmann, der seine Kunst auf Menschenkenntniß baut, darbietet, von der höchsten Wichtigkeit; und wenn

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vier

Augen.

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sie auch sonst nichts lehrte, als wie wenig man sich sogar auf ein treu gesinntes Volk, und wie gar wenig auf sich selbst verlassen darf, so wäre sie wahrlich lehrreich genug für jeden, dem noch zu rathen ist. Heribert. Setzen Sie auch den Fall, das Deutsche Bürger- und Landvolk sey mit seiner dermaligen Verfassung und Regierung noch so wohl zufrieden — (Seron. Daß können wir auch, glaube ich, von einem ansehnlichen Theile der Deutschen Pro­ vinzen sicher voraussetzen. Heribert. Ich will sogar den gerechten Haß, der noch immer in den Gemüthern der Einwohner des im Jahre 1796 so übel von uns gemißhandelten Schwaben- und Frankenlandes gegen die Franzosen kochen muß, mit in den Anschlag bringen, und gleich­ wohl behaupte ich, daß die bloße Verzweiflung, bei Vorstellung alles Jammers, den die Fortsetzung des Krieges von Feinden und so genannten Freun­ den über sie bringen würde, hinlänglich seyn müßte, im Fall die Unfngen mit Feuer und Schwert in der einen Hand, und mit Freiheit und Gleichheit in der andern, vor ihre Grenzen rückten, eben dieselbe Wirkung auf diese Menschen zu thun, die in Helvezien der bloße Gedanke, „es noch besser zu haben," hervorgebracht hat. — Die Folgen einer solchen Revoluzion, — es sey nun , daß sie gelange,

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Gespräche

oder daß sie allen Jammer eines Lödtlichen Kampfes zwischen den größer« Machten und unsrer Republik noch mit den Gräueln eines nMhenden Burger- und Bauernkrieges in den Eingeweiden Deutschlands vert mehrte, überlaste ich Ihnen selbst zu erwägen, oder vielmehr Sich darin zu verlieren; denn sie sind un­ ermeßlich. Geron. Ich gestehe Ihnen, Heribert, Sie ha­ ben mich aus meinem ganzen Widerstandsplan, und sogar aus meinen eifrigsten Wünschen heraus ge­ schreckt; und ehe ich mein Vaterland der Gefahr, demokratisirt zu werden, aussetzen will, trete ich Ihnen lieber das ganze linke Rheinufer, mit allem seinem Zubebör, auf immer und ewig ab. Heribert. Ich danke Ihnen herzlich dafür, daß Sie mich der Nothwendigkeit überheben, zu so scharfen Maßregeln gegen Sie zu schreiten. Da wir uns nun über diesen Präliminarpunkt in Güte ver­ glichen haben, so wollen wir, wenn es Ihnen gefallt, zum zweiten übergehen, und die Frage in Erwägung nehmen, wie und woher die Fürsten, die durch die Einverleibung ihrer Länder und Besitzungen in die Französische Republik, verlieren, entschädi­ get werden sollen? Geron. Wenn ich, was Gott verhüte? ein Republikaner wäre, so würde ich sagen: Müssen denn diese Fürsten entschädigt werden? lind wie kommen die Neufränkischen Demokraten und Dema-

u fr t t r

vier

Augen.

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gegen, die vor wenig Jahren noch alle Könige und Fürsten vom ganzen Erdboden wegtilgen wollten, nun auf einmal zu einer so zärtlichen Theilname an dem Interesse der durch sie selbst beschädigten Fürsten? Heribert. Vermuthlich, weil unsre Machtha­ ber es, vor der Hand, ihren Absichten gemäß finden, einige große Häuser in Deutschland aufrecht zu er­ halten. Sie müssen wissen, wenn wir gleich ein wenig Jakobiner sind, so sind wir doch, seit einiger Zeit, gar schlaue und weit sehende Po li­ ker geworden. (Seron. So scheint es. Aber da ich kein Re­ publikaner, sondern — ein ehrlicher alter Deutscher bin, so hatte ich wohl große Lust darauf zu beste­ hen, daß Ihre Bürger-Direktoren sich um ihre eige­ nen Angelegenheiten bekümmern, und uns selbst über­ lassen möchten, wie wir mit den unsrigen fertig werden wollten. Heribert. Darauf habe ich Ihnen keine andere Antwort zu geben, als die, welche der Bürger Mengaud den Berner Deputirten gegeben haben soll: „©o ist der Wille des Direktoriums/ Geron. Gestehen Sie, Bürger Heribert, daß man über eine so arrogante Sprache toll werden könnte. Heribert. Das wäre nur desto schlimmer für Sie, lieber Geronl denn das Direktorium will

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Gespräche

nun einmal was eS will, und hat, wie man sagt, nicht nur die Entschädigung der spoliirten Fürsten, sondern sogar seine Antwort auf die Frage woher? zu einer absoluten Bedingung deS Friedens gemacht. Geron. Bei Gott, das ist hart! Das nenn' ich Gewalthaber! Und den übrigen Erdenbe­ wohnern bleibt also nicht- übrig, als zu allem, was diese Mächtigen auf Erden wollen, ein demüthiges I a zu nicken? Heribert. Das möchte dermalen wohl der beste Rath seyn. Aber gedulden Sie Sich! Vermuthlich wird es nicht immer so biulten. Die Reihe zu wol­ len wird auch wieder an andere kommen, und gebe der Himmel, daß sie dann die Macht, die in ihren Händen seyn wird, bescheidener gebrauchen als wir! Geron. Es sind schon anderthalb Jahre, daß ich von Sakularisazivn unsrer geistlichen Fürsienthümer und Reichs-Gotteshauser, und von Vertheilung der Reichsstädte unter die Übrig bleibenden weltlichen Fürsten als von einer beschlossenen Sache hörte. Aber damals hing die Ausführung yoch von dem ungewissen Ausgang des Krieges ab; und so wie dieser beinahe täglich einen andern An­ schein gewann, so sanken und stiegen wechselsweise die Schalen der Furcht und der Hoffnung. Jetzt, da dre Stunde der Entscheidung gekommen ist, scheint das Uebergewicht der ersten so groß zu seyn, daß in der andern beinahe nichts übrig bleibt, als die feder-

unter vier Augen.

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leichte Hoffnung, die Grobmuth euerer All­ gewaltigen zu rühren. Heribert. Das erinnert mich an die Mutter, die den Krokodill durch Bitten und Thränen zu be­ wegen hoffte, ihr ihren schon in seinem Rachen stekkenden Sohn wiederzugeben. Aber, wie gesagt, wir wollen nicht nur, was wir wollen, mit eiserner Festigkeit, wir gedenken auch unsern atten Ruf, Mei­ ster in der feinsten Poliuk zu seyn, wieder herzu­ stellen; und, da die reichen Stiftungen der Karo­ lingischen Kaiser und Könige nun einmal für Nazionatgüter erklärt werden sollen, und wir fo großmüthig sind, die Ansprüche, die wir in Kari­ des Großen und Ludwigs des Frommen Namen geltend machen sonnten, aus eigner Bewe­ gung fahren zu lasten, so wollen wir wenigsten- ein entscheidendes Wort zu ihrer Vertheilung zu reden haben. (Seron. Die Sache scheint noch in weitem Felde und großen Schwierigkeiten unterworfen zu seyn; zumal, da niemand Lust bezeigt, sich auf Kosten der Kirche und der Reichsverfassung zu vergrö­ ßern, oder vergrößern zu lasten. Heribert. Wenn es jefct das erste Mal wäre, da den Fürsten des Kaiserreichs eine solche Maßregel zu Entschädigung derer, welche Anspruch an Ent­ schädigung zu machen haben, zugemuthet würde, so möchte man sich diese Abgeneigtheit, wenn es anders

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Gespräche

Ernst damit ist, nicht wundern lassen. Aber -a der Fall im Westfalischen Frieden schon vorge­ kommen ist, und Kaiser und Reich sich damals er­ mächtiget hielten, zwei ansehnliche Erzbisthümer und mehrere Bisthümer in weltliche Erbfürstenthümer zu verwandeln, als das eiserne Gesetz der Noth und das dringende Bedürfniß des Friedens dieses Aus­ kunftsmittel unvermeidlich machten: so ist nicht ein­ zusehen, warum ähnliche Umstände und gleiche Be­ weggründe nicht auch zu gleichen Maßnehmungen berechtigen sollten; es wäre denn, daß man in der Meinung stände, ein so.verzwe.ifeltes Hülfsmittel könnte nur durch einen dreiß igjäh rigen Krieg einiger Maßen gerechtfertigt werden. G eron. In der That kann ich es niemanden übel nehmen, der in einem solchen Falle keine andre Wahl, als zwischen Siegen und Sterben, gel­ len lassen wollte. Heribert. Um Vergebung, Geron! das möchte doch wohl nur dann angehen, wenn ein Fürst der Kirche, der diesen Spruch zu seinem Wahlspruch machen wollte, wie Julius Ii. oder der berüchtigte Bischof von Münster, Christofvon Galen, in eigner Person für die unverletzlichen Rechte seiner Kirche zu Felde ziehen wollte; und auch das dürfte, dem strengen Rechte nach, nur in den alten Rit­ terz eiten, mittelst eines Zweikampfs, wobei der infulirte Kämpfer doch nur sein eigne- Leben

unter

vier

Augen.

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in die Schanze geschlagen hatte. Statt gefunden haben. Geron. Ich bin versichert, wenn das Franzö­ sische Direktorium (wie ich nicht hoffen will) mit diesem fatalen Bruch in die Reichsverfaffung am Ende noch durchdringen sollte, so werden die Bischö­ fe, die der Rettung des Ganzen ein so großes Opfer zu bringen berufen waren, es auf eine edle und verdienstliche Art thun, und sich dadurch eine auf Ehrfurcht und Liebe gegründete Art von Herrschaft über die Herzen aller guten Menschen er­ werben, die sich im Grunde für Diener und Vor­ steher der Kirche besser schickt, und zu dem großen moralischen Zweck ihres ehrwürdigen Amtes besser paßt, als irdische Hoheit und weltliche Regierungs­ sorgen. Heribert. Und dieses Opfer wird ihnen um so leichter werden, da das Haupt der Kirche, Papst Pius VI. selbst, seinen geliebten Söhnen mit dem rühmlichsten Beispiele vorleuchtet, und der täglich naher kommenden Demokratisirung der Stadt Rom und dessen, was vom Kirchenstaat noch übrig ist, mit einer Gleichmüthigkeit und Ergebung entgegen sieht, die dem heiligsten und demüthigsten aller seiner Vorfahren auf der Cathedra Petri Ehre gemacht hatte. Sie wissen, lieber Geron, wiewohl mich mein Schicksal zu einem Bürger der Fränkischen Republik gemacht hat, so bin ich doch keiner von denen, die

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Gespräche

daS Mahlzeichen deS apokalyptischen Thiers an der Stirne tragen: ich bin weder ein Jakobiner, noch ein Antichrist; und ich gestehe Ihnen, daß ich es unsern Gewalthabern nicht verzeihen kann, daß sie dem ehrwürdigen Greis, den selbst ein Mahomedaner, ein Hindu, ein Anhänger des Dalay-Lama, aus so vielfacher Rücksicht, oder doch wenigsten­ feines hohen Alter- wegen, mit schonender Ehrfurcht behandeln würde, noch die letzten Tage seines Lebenso unbarmherzig -u verbittern fähig sind. Geron. Was sollten Menschen von ihren Ge­ sinnungen und Grundsätzen nicht fähig seyn? Seit dem i8. Fruktidor befremdet mich von ihnen nicht­ mehr. Bald, ich sag' es mit bittrer Wehmuth, bald wird mich auch kein -Unrecht, kein Frevel, keine Abscheulichkeit von den letzten Generazionen dieses so düster und schauderlich zu Ende gehenden Jahr­ hunderts mehr befremden. Die immer zunehmende Erschlaffung aller Bande, womit die Natur und die bürgerliche Gesellschaft die Menschen zusammen knüpft und einander unentbehrlich macht; die armseligen Wahnbegriffe, die sich, besonder- in diesen letzten zehn Jahren, so vieler Köpfe bemächtigt haben, und die Verdorbenheit der Herzen vollständig und un­ heilbar machen; ein gefühlloser Egoism, der alles nur auf sein individuelles Selbst bezieht, andre Men­ schen nur als Mittet und Werkzeuge seiner eignen Zwecke behandelt, und, beim Anblick der Unglück-

unter vier Augen.

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lichen Opfer seiner selbstsüchtigen Leidenschaften und Plane, das schwache, sich noch entgegen sträubende Menschheitsgefühl durch willkürliche Begriffe und sofistische Vernünfteleien zu betäuben weiß; die im­ mer allgemeiner werdende Geringschätzung alles des­ sen, was den Menschen, wenn sie nicht von Stufe zu Stufe 618 zur haffenswürdigen und ekelhaften Unnatur der S w iftisch en Ja h 0 os herab sinken sollen, immer heilig und ehrwürdig bleiben muß; die wilden Leidenschaften und der wüthende, sich alles erlaubende Haß, die kalte Mordlust und die barba­ rische Zerstörungswuth, womit die kulcivirtesten Nazionen in Europa einander den Untergang geschwo­ ren haben und mit blind rasender Selbstaufopferung zubereiten: alle diese karakteristischen Zeichen unsrer Zeit, was für einen traurigen Anblick geben sie dem, der einst bessere Zeiten sah, und nun, beinahe mit völliger Gewißheit, daß seine Enkel noch schlimmere sehen werden, aus der Welt geht! Heribert. Beruhigen Sie Sich, lieber Gero« ! Alle diese Uebel, an welchen unser seinem Grabe zueilendes Jahrhundert tödtlich krank liegt, und aus deren Zusammenstellung Ihre unvermerkt überspannte Einbildungskraft ein so melankolisches Bild unserer Zeit entworfen hat, sind im Grunde doch nur Eine Seite des wirklichen Zustandes der Menschheit in der wichtigen Epoke, worin wir leben. Wenn wir beide jetzt dazu, gestimmt wären, so würde wohl

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Gespräche

Ihnen oder mir nichts leichter seyn, alS ein sehr schönes Gegenbild von der andern Seite zu entwerfen, das in allen seinen Zügen gleich wahr und treffend wäre, und dessen Anblick nicht fehle» könnte, die düstern Ahnungen einer noch schlimmern Zukunft aus Ihrem Gemüthe zu verbannen, und es vielmehr mit wohl gegründeten Hoffnungen und hei­ tern Aussichten auf einen schönen Tag, der nach dem gegenwärtigen Sturme der Wett aufgehen wird, zu erfüllen. Gewiß ist die Krisis, worin Europa sich in dem Augenblick mit so gräßlichen Zuckungen hin und her wirft, eine der heftigsten, die sich jemals ereignet haben. Ich betrachte sie als einen ^furcht­ baren Kampf auf Tod und Leben zwischen dem g uten und bösen Genius der Menschheit, in welchen wir alle verflochten sind, weil beide Gegen­ kampfer in jedem Menschen einen offenbaren oder heimlichen Anhang haben. Daß der Orkan, den ein solcher Kampf erregen muß, die Grundpfeiler der menschlichen Gesellschaft erschüttert, hier und da grauliche Verwüstungen anrichtet, alte morsche Thro­ nen und nicht langer haltbare Verfassungen umstürzt; daß die auS ihrem Schlaf geschreckten, betäubten, alles für ihre Existenz fürchtenden Menschen die Be­ sonnenheit verlieren, und, indem jeder nur sich selbst retten will, in der allgemeinen Verwirrung wild und sinnlos gegen einander anrennen, und sich selbst nüt andern ins Verderben stürzen; daß in einem solchen

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vier

Augen.

127

Sturm alles fallen mußte, was nur noch auf schwa­ chen Stützen stand; daß unter so vielen über einan­ der stürzenden Ruinen unvermeidlicher Weise Schul­ dige und Unschuldige begraben wurden, und, dem Anschein nach, Gutes und Böses, Unbrauchbares und Erhaltungswürdige- zugleich zertrümmert wird; — das alles sind die natürlichen und nothwendigen Folgen einer sa heftigen, tiefen und weit verbreite­ ten Erschütterung. Aber nichts wirklich Gutes, nichts in sich selbst Bestehendes, kann zertrümmert werden. Während das Böse sich selbst zerstört, wird das Gute sich durch eigne Kraft aus den Trüm­ mern empor arbeiten, und der gute Genius der Menschheit, von allen Redlichen, denen das allge­ meine Beste wirklich am Herzen liegt, kräftig unter­ stützt, wird eher als wir glauben den Sieg davon tragen, wenn nur wir nicht den Kopf verlieren, uns nicht selbst verlassen, sondern uns fest an ein­ ander schließen, und mit gutem Willen und ruhiger Besonnenheit uns um alle noch stehende Pfei­ ler der bürgerlichen und sittlichen Ordnung versam­ meln und vereinigen. Nur der wahre W e l t b ü rger kann ein guter Staatsbürger seyn, — gleich viel unter welcher Form und Verfassung! — Nur die weise Thätigkeit und Beharrlichkeit aller, die dieses edeln Namens würdig sind, kann und wird die Wunden und Gebrechen der Menschheit heilen, alles Zerstörte, ungleich besser als es war,

128

G esprache unter vier Augen,

wieder herstellen, dem Bestehenden Dauer verschaf­ fen, und so stufenweise, nicht durch unnatürliche Sprünge, das große Werk, wozu wir Berufen sind, die Kultur, Aufklärung und Veredlung des Menschen­ geschlechts, bewirken, deren Frucht die öffentliche und allgemeine Glückseligkeit ist. G er o n. Hier, Freund, ist meine Hand! — Ein einzelner, im Verborgnen lebender Mann vermag wenig; aber alles, was ich vermag, sey diesem Iwecke gewidmet! — Lasten Sie unS, ohne Rück­ sicht auf Verschiedenheit unsrer Lage, oder der Art, wie wir über besondere, nie ganz rein auflösbare politische Probleme denken, Sie als Republikaner, Ich als Freund der Monarchie, mit allen Kräften unsers Geiste- und Willens, das Wahre, das ewig wahr bleibt, das Gute, da- Allen gut ist, be­ fördern helfen. Dieß ist es, waswirzuthun haben: für alles übrige wird der Himmel sorgen.

I2p

V.

Entscheidung des Rechkshandels zwischen Demokratie und Monarchie. G i § m u n d.

Sie

find,

wie

ich

höre,

ein ganz entschiedner

Royalist? Otrobert. Wenn Sie es nicht übel nehmen wollen; zwar mit einigen Bedingungen, wie billig, und übrigens jeder andern ehrsamen Verfassung unbeschadet. Gis mund. Ich gestehe Ihnen, daß ich nicht begrerfe, wie man, in unsern Tagen, wenigstens den Gesinnungen und Wünschen nach, etwas andres als Republrkaner seyn kann. Ottobert. Und mir fällt es eben so schwer, -u begreifen, wie jemand, wenn er sich auch im Jahre 1791 oder 92 von diesen trügerischen Sirenen, Freiheit und Gleichheit, hätte locken taffen,

Hvtelands W. 42» Bd.

9

130

Gespräche

in unsern gegenwärtigen Tagen noch im Ernst von ihnen eingenommen seyn könnte. Gismund. Ist s möglich, daß Freiheit und Gleichheit keinen höher» Werth in Ihren Augen haben? Otto-bert. Keinen so hohen als Sicherheit und Ordnung. G i s m u n d. Ob wir einander auch wohl recht verstehen? Ottobert» Ich zweifle selbst. Gis mund. Es wäre mit eine Erklärung zu thun. Ihrer Meinung nach ist die monarchische Ver­ fassung die beste? Ottobert. Für den wesentlichsten Zweck der bürgerlichen Gesellschaft/ Sicherheit und Ordnung. Und nach Ihrer Meinung — Gismun d. — ist die demokratische die" beste unter allen, wenn anders Freiheit und Gleichheit zum Glücke der Menschen wesentlich find. Ottobert. Wenn nun gerade jetzig da wir von diesen Dingen sprechen, jemand käme, der fich anheischig machen wollte . Ihnen zu beweisen, oder (was noch arger ist) Sie zu ü b er w ei sen, daß die demokratische Regierungsform mit dem letzten Zweck der bürgerlichen Gesellschaft in geradem Wi­ derspruch steht; daß sie ferner, weit entfernt, die einzige zu seyn, worin ein Volk von einiger Größe und Kultur zum Genuß der Freiheit und

unter

vier Augen.

131

Gleichheit, der Ihnen so sehr am Herzen liegt, gelangen kann, vielmehr diejenige ist, worin die wenigste Freiheit und Gleichheit Statt findet; daß sie also, anstatt die vollkomnrenste Staatsverfaffung zu seyn, die schlechteste und verwerflichste von allen, und die Idee eines großen demokratischen Reich-,

als Resultat einer politischen Theorie betrachtet, eines der hohlsten Hirngespenster ist, die der Miß­ brauch der Vernunft jemals au-gedacht hatt — was würden Sie dazu sagen? Giömund. — Ich? Ich würde sagen, daß er — mich eben so leicht überzeugen könnte, daß der Schnee schwarz, die Sonne ein Jiegelofen, und der Mond eine pap ferne Laterne sey. Ottobert. Nehmen Sie Sich in Acht! Er könnte Sie beim Worte nehmen. Er ist Ihnen naher als Sie denken. Denn, um Sie nicht langer auf­ zuziehen, der Mann, der sich dessen, wenn Sie wollen, unterfangen wird, — bin ich selbst. Gis mund. Sie? — Nun gut! — So bin ich es jetzt, der Sie beim Worte nimmt! — Und was soll es gelten, wenn Sie mich nicht überzeugen? Was wollen Sie verloren haben? Ottobert. Sie werden mir erlauben vorauszusetzen, daß Sie weder ein Schwärmer,

Den alle Niesewurz von drei A n t i c y r e n Nlcht heilen könnte —

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Gespräche

noch et« Familiäre des großen T r L u m v i r a 1 s sind/ dessen sich täglich mehr enthüllender Plan nichts geringeres zu seyn scheint, als nach und nach, von Volk zu Volk, in möglichst kürzester Zeit, den gan­ zen Erdboden zu demokratisiren. Waren Sie das erste, so würden vernünftige Gründe wenig über Sie vermögen; waren Sie das andere, so könnten Sie in Ihrer innersten Seele überzeugt seyn, daß ich Recht habe, und würden Sich dennoch keinen Augenblick bedenken, so zu reden und zu handeln als ob ich Unrecht hatte. Aber, diese beiden hier nicht zu besorgenden Falle ausgenommen, unter­ werfe ich mich, wofern ich Sie nicht überweise, jeder Bedingung, die Sie mir auferlegen wollen. Gis mund. A. B. auf der Stelle Demokrat zu werden? Ottobert. §u werden? Das ist viel begehrt! Wenn Sie noch sagten, »es zu schei­ nen," es wäre noch immer hart genug. — Aber, wenn ich Weib und Kinder durch kein ander Mittel vom Schicksal des Ugotino retten könnte, als durch eine solche Heuchelei, so müßt' ich ja wohl wider Willen mit den Wölfen heulen. Denn so weit hab' ich es in der Tugend nicht gebracht, daß ich der Wahrheit ein solches Opfer zu bringen ver­ mögend wäre. G i s m u n d. Ohne Zweifel würden auch die allge­ waltigen Koryfaen der großenNazion, auf dem

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vier Augen.

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Gipfel, von dessen Spitze herab sie der Welt Gesetze geben, zu großmüthig seyn, Ihre Tugend auf eine solche Probe zu setzen. Hoffentlich kamen Sie mit der Deportazicn nach Cayenne davon. Lttobert. Wenn Sie, etwa in der Meinung meine Strafe dadurch zu scharfen, mich zu Barthelemy und Pich eg ru in Eine Hurte sperrten, so wollte ich Ihrer Großmuth wirklich noch eine' schöne Lobrede halten. — Aber unser Geschäft ist ernsthaft, und wir müssen uns in einen andern Ton stimmen, wenn Sie wirklich Lust haben, das gefähr­ liche Abenteuer zu wagen. Gis mund. Das beste ist, daß ich weder ein Neufrantlscher, noch Batavischer, noch Crsalpinischer, noch Helvetischer Republikaner bin, und also nichts weiter dabei wage, als entweder in meinem Glauben bestärkt, oder von einem Wahn geheilt zu werden, der, wofern er als solcher befunden werden sollte, gewiß keiner der unbedeutenden wäre. Ottobert. Das Einzige, was ich nur vorläu­ fig ausbedingen müßte, wenn es sich nicht unter Männern wie wir, von selbst verstände, ist, daß wir uns beide des gemeinen Disputantenrechts begeben, unsern Schulsack gegen einander auszuleeren, und einander mit luftigen Abstrakzionen, idealischen Me­ teoren und gehörnten Syllogismen auf den Leib zu rücken. Wir gehen von Begriffen und Grund­ sätzen aus, die von jeher bei allen gesunden Men-

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Gespräche

schen gegolten haben, stützen uns auf Thatsachen, die kein Vernünftiger läugnen kann, und erschrecken vor keinem Resultat, das uns auf diesem Weg entgegen kommt. G i s m u n d. Nehmen Sie kühnlich an, daß wir über diese Präliminarien einverstanden sind. Ottobert. Darf ich, ehe wir vorwärts gehen, fragen, ob Sie die Nachrichten von Neuseeland kennen, die wir den Entdeckungsreisen des berühm­ ten Kapitän Cook zu danken haben? Gismund. Ich kenne sie aus der H aw kesworthischen Sammlung und Forsters Be­ schreibung seiner Reise um die Welt. Otto bert. Sie wissen also, daß die Einwoh­ ner dieser großen Südseeinsel sich noch auf einer so niedern Stufe der Kultur befinden, daß wir ihren Zustand, ohne Gefahr zu irren, für den rohen Natursiand des Menschen annehmen können. Gewiß ist wenigstens, daß sie zwar in einer Art von kleinern oder größern Horden leben, aber das Bedürfniß in eine bürgerliche Gesellschaft zusammen zu treten, noch so wenig fühlen, daß sie nicht einmal einen Begriff von ihr zu haben scheinen. Gis mund. Ich ahne den Gebrauch, den Sie von diesen Wilden machen wollen. Wir würden vielleicht in dem nordwestlichen und südlichen Theil jener Hälfte der Erdkugel noch andere Halbmenschen finden, die uns eben dieselben Dienste thun könnten;

unter

vier

aber, wenn Sie wollen, ländern bleiben.

Augen.

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wag es bei den Neusee­

Ottob ert. Ich wählte sie bloß darum zu Re­ präsentanten des rohen N a t u r st a n d e s, weil mich dünkt, daß sie nur wenig Schritte zu thun hatten, um zur bürgerlichen Verfassung zu gelangen, welche (wie Sie nut mir überzeugt sind)' der eigentliche wahre Naturstand des Men­ schen ist.

Gis mund. ich bitten darf.

Unstreitig.

Ottobert. Wenn sich der einmal einfallen ließen, die sie noch zu thun haben, der bürgerlichen Gesellschaft zu thun, wie müßten sie es

Aber zur Sache, wenn nun unsere Neuseelän­ die wenigen Schritte, um zu den Vortheilen zu gelangen, wirklich anfangen?

Gis mund. Das ist bald gesagt. Das ganze Volk, falls es zu zahlreich ist um sich auf einem einzigen Platze zu versammeln, erwählt vor allen Dingen eine Anzahl Repräsentanten, und bekleidet sie mit der Vollmacht, in seinem Namen eine auf Freiheit und Gleichheit gegründete Konstiluzion zu entwerfen, um sie dem ganzen Volke, als dem ein­ zigen rechtmäßigen Suverän des neuen Staats, zur Annahme oder Verwerfung vorzulegen.

Ottobert. Wozu wäre denn eine solche Konstituzion nöthig?

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G i sm und. Welche Frage! Wie könnten die neuen Verhältnisse, die durch Einführung der Agri­ kultur und des Landeigenthums unter ihnen entste­ hen würden, ohne positive Gesetze Sratt findend Und sollten etwa die vielen gemeinsamen Geschäfte, die eine Verbindung dieser Art nothwendig macht, sich von selbst abthun? Wenn unsre neuen Bürger Gesetze haben sollen, müssen sie doch wohl eine ge­ setzgebende Gewalt, wenn die Gesetze ange­ wandt werden sollen, eine richterliche, und wenn beide gegen einheimische und auswärtige Kolli­ sionen, Anmaßungen und Eingriffe geschützt, und die Geschäfte der Republik besorgt werden sollen, eine vollziehende Gewalt haben, und die Rechte, Pflichten und Grenzen dieser Gewalten müssen genau bestimmt und geschickt in einander gefügt seyn. Ottobert. Da hätten unsere Neuseeländer ein hübsches Stück Arbeit vor sich. Gismund. Warum nehmen Sie aber auch eine noch so rohe und von der vollkommensten Art der Civilisirung noch so weit entfernte Nazion dazu's Ott ob er t. Der bloßen Bequemlichkeit wegen. Gis mund. Wie viele Stufen der Kultur hat sie noch erst zu ersteigen, bis es nöthig oder der Mühe werth ist, ihr eine so künstlich organisirte Verfassung zu geben! Ottobert. Eine so k ü n st li ch e Verfassung? Ich dächte, Ihren Grundsätzen nach, gäbe es keine

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vier

Augen.

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einfachere, der Natur nähere und gemäßere, als die, worin das Volk der Suverän, und Freiheit und Gleichheit die Grundlage des allgemeinen Zu­ standes desselben ist? Gis mund. Da ist sie auch bei einem noch kleinen, armen, unwissenden, auf die bloßen unent­ behrlichen Bedürfnisse des thierischen LebenS einge­ schränkten Volke. Aber kein Volk, das in der Kul­ tur bereits einige Fortschritte gethan und Raum sich auszubreiten hat, wird lange innerhalb so enger Grenzen stehen bleiben. Es wird nach und nach zu einer großen Menge anwachsen, durch Betriebsam­ keit und Kunstfleiß sich ausbilden, bereichern, ver­ feinern, kurz, in einen Zustand übergehen, wo ihm eine künstlicher organisirte Konsiiluzion nöthig ist. Ottobert. Das ist keine Frage! Der Fehler lag also, mit Ihrer Erlaubniß, darin, daß Sie unsre rohen Neuseeländer, die weder schreiben noch Lesen, noch räsoniren können, zusammen treten ließen, um sich eine Konstituzion zu geben. Denn ich setze tausend gegen eins, daß sie das nicht thun würden. Sie kämen zusammen, wählten den statt­ lichsten und tapfersten Mann aus ihrem Mittel, ohne an eine Kapitutazion mit ihn: zu denken, zum König, gäben ihm die erfahrensten und verständig­ sten unter den Alten, als Räthe und Richter über die verfallenden Streitigkeiten zu, und das Volk behielte sich das Recht vor, in allen die ganze

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Gemeinheit betreffenden Sachen die entscheidende Stimme zu haben. Das ginge so eine Zeit lang fort, bis die Könige, denen es weder an Versuchun­ gen noch an Mitteln, ihre willkührliche Gewalt zu mißbrauchen, fehlen könnte, es endlich so arg mach­ ten, daß das Volk sich empörte, das Königthum abschaffte, und, weil es nun einmal gewohnt wäre, von Leuten aus gewiffen um den Staat verdienten Familien regiert zu werden, diesen die Führung der öffentlichen Geschäfte überließe. Die neue Arist okratie ginge nun wieder eine Zeit lang wie sie gehen könnte, bis sie sich aus ähnlicher Veranlasiung wie oben, je nachdem die Umstände es mit sich bräch­ ten , aber immer mehr auf eine t u m u l t u a r i s ch e Art als mit kaltblütiger Besonnenheit, bald in eine mehr oder weniger mit Aristokratie vermischte Demokratie, bald in usurpirte oder aufgetragene Herrschaft eines Einzigen, endlich in eine regelmäßige Monarchie verwandelte, und, wenn auch diese zuletzt, aus welcher Ursache und Veranlassung es sey, zusammen stürzte, sich wieder in die Anarchie der u r sp r ü n gl i ch e n Frei­ heit und Gleichheit zurück geworfen fände. Alle diese Abhäutunqen und Umwandlungen wollen wir also unsere Neuseeländer auf einmal überspringen lassen, und sie, in dem eben besagten Zustande von Anarchie, jedoch auf der Stufe von Kultur nehmen, welche, wie Sie sagten, zu einer künstlich organi-

unter vier Augen.

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sirten reprä sentativen Demokratie voraus­ gesetzt werden muß. Aber meine vorige Frage kommt auch hier wieder. Was wäre denn die eigentliche Ursache, warum eine solche Organisazion unentbehr­ lich wäre? Sie erwähnten vorhin neue Verhält­ nisse. Worin könnten diese unter freien und gleichen Menschen bestehen? Gis mund. Schon die bloße Ungleichheit des Vermögens, die, unter jeder Verfassung, eine natürliche Folge der fortschreitenden Kultur und vie­ ler zufälliger Ursachen ist, muß endlich Verhält­ nisse und Mißverhältnisse hervorbringen, die denjenigen, für welche sie drückend sind, desto unleidlicher vorkommen müssen, je häufiger sie in einer populären Verfassung daran erinnert werden, daß Freiheit und Gleichheit unverlierbare Menschen­ rechte sind. Aber so ist nun einmal dre Unvollkom­ menheit der menschlichen Dinge. In einem polizirten Staate kann, vermöge der Natur der Cache, nur der kleinste Theil des Volks sich in einem großen Wohlstände befinden, und zu einem vorzüglichen Grade von Einfluß und Ansehen gelangen. Aber die Gesetze der Demokratie leisten doch allen übrigen die Gewahr für so viel Gleichheit und Freiheit, als vermöge der menschlichen Natur und der Natur eines Staats überhaupt nur immer denkbar ist. Ottobert. Freilich, die Natur! die Natur! die böse menschliche Natur, und ihre widerspenstigen

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Bedürfnisse, Leidenschaften, Unarten und Laster wer­ den den guten Gesetzen, wiewohl sie (wie Sofokles sagt) des Himmels leibliche Töchter sind, immer große Schwierigkeiten und Hindernisse entgegen setzen! Und die bloß moralischen Mittel, dem Uebel abzuhelfen oder wenigstens Einhalt zu thun, wollen leider! immer nicht zureichen! — Aber, da hier gerade der Knoten sitzt, so werden Cie mir erlauben, ein wemg genauer nachzufragen, was es mit der besagten Gewährleistung der Ge­ setze für eine Bewandtniß hat. Das Volk ist doch der wahre und einzige S u v e r a n im Staate, nicht so? G i s m u n d. Allerdings. Ottobert. Und giebt sich selbst Gesetze? Gis mund. Durch seine Repräsentanten. Ottobert. Und wählt seine Repräsentanten selbst? G i s m u n d. Es ernennet wenigstens die Wäh­ ler derselben aus seinem Mittel. Ottobert. Und die Repräsentanten erhalten ihre Vollmachten vom Volke? Gismund. Wenigstens die allgemeinen, kein Gesetz zu geben, das nicht dem höchsten über alle, der Wohlfahrt des Volks, gemäß sey. Ottobert. Und sind für die Art und Weise, wie sie ein so wichtiges Amt geführt haben, ihrem Suverän, dem Volke, verantwortlich?

unter

vier Augen.

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Gismund. Eigentlich nicht. Wie sollte daS möglich seyn? Bedenken Sie selbst, wer würde mit der Last einer solchen Verantwortlichkeit Gesetzgeber seyn wollen?

Otto bert. Also, um Sie nicht mit langern Fragen zu ermüden, das Volk giebt sich, theils mittelbar, theils unmittelbar seine Gesetze und alle seine obrigkeitlichen Personen selbst, und darin besteht die Gewahr für seine Rechte? Gis mund.

Wie meinen Sie das?

Ottobert. Das Volk hat keinen Gewährs­ mann seiner Suveranitat, Freiheit und Gleichheit, als das Gesetz und die Geber, Handhaber und Voll­ zieher desselben. Oder kennen Sie noch einen anderen? Gis mund nachdenkend und etwas verlegen. Ich weiß keinen.

Ottobert. Es müßte nur die heilige Jnsurrekzion seyn; ein Vorrecht, dessen Ausübung so schwer zu bestimmen und von so mißbeliebrgen Folgen ist, daß dis Bürger, in deren Handen die höchste vollziehende Gewalt liegt, nicht zu verdenken waren, wenn sie alles in der Welt versuchten, um ihrem launischen Suverän den Gebrauch eines so gefährlichen Vorrechts unmöglich zu machen. G i s m u n d. Wenn Direktoren, Gesetzgeber und Richter ihre Schuldigkeit thun, so bedarf es dessen

Gespräche

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nicht, und die Gesetze sind hinlänglich, Recht zu verschaffen.

jedem sein

Ottobert. Sie wissen aber, lieber Gismund, wie es leider! mit der menschlichen Natur beschaffen ist, und in welchem ewigen Kriege das Privatintereffe, der Durst nach Gewalt und Gold, der Ehr­ geiz, der Neid, die Rachsucht, die Eitelkeit, Träg­ heit und Wollust, kurz, alle Leidenschaften und Un­ arten des menschlichen Herzens mit unsern Pflichten zu Felde liegen. Nun haben aber alle unsre Gesetz­ macher, Direktoren, Minister, Kommissäre, Depar­ tements- und Municipalitätsverwalter, und Magistratspersonen aller Gattung den großen Fehler, daß sie Menschen sind. Sie werden also ihre Schul­ digkeit nicht thun —

Gismund. Dafür werden Sie doch die De­ mokratie nicht verantwortlich machen wollen, Otto­ bort?

Oltobert.

Nicht dafüv, sondern daß sie alle

diese Menschen so behandelt, als ob sie mehr als Menschen waren; daß sie ein Vertrauen in sie setzt, dessen nur die wenigsten würdig sind; eine Macht in ihre Hande legt, deren sie sich, so oft es ihnen beliebt, zur Entkräftung oder Ausweichung deö Gesetzes, und zum Vortheil ihrer Privatabflchten und Leidenschaften, so willkührlich als möglich bedienen werden.

unter

vier

Augen.

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Gi § mund. Giebt es denn unter so vielen nicht auch weife und tugendhafte Manner? und wo könn­ ten wir sie zu finden hoffen, wenn sie nicht in einer frei und gleich konstiruirten Republik zu finden waren? Ottobert. Nur machen sie allenthalben eine gar winzige Minorität aus, und euere große Demo­ kratie braucht eine so ungeheure Menge Staats-iener! — Gesetzt aber, es- waren der verständigen, tauglichen und guten Menschen grade so viel, als zu Besetzung alter, oder doch der wichtigern Staats­ bedienungen vonnöthen wären r werden die Wähler stchs auch immer Ernst seyn lassen sie zu suchen? Werden sie auch das bescheidene wahre Verdienst vom Scheinverdienst, das oft weit besser in die Au­ gen fällt, und den rechtschaffnen Mann, der sich eher verbirgt als anbwtet, von dem zudringlichen verschmitzten Heuchler, der alle Rollen mit Gewandt­ heit und Anstand zu spielen gelernt hat, immer zu unterscheiden wissen? — Haben Sie wohl, lieber Grsmund, jemals genauer erwogen, was es auf sich hat, dem Volk die Wahl seiner Gesetzgeber und Regenten zu überlassen? Der weise Mann wird nicht leicht von einem andern erkannt als von einem weisen, der redliche von einem andern als einem redlichen Manne. Wenn das Volk über die Fähig­ keiten, Talente und sittlichen Eigenschaften andrer Menschen, zumal solcher, die durch Glücksumstände,

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Gespräche

Erziehung und andere Verhältnisse zu einer ihm fremden Klasse gehören, richtig fällte urtheilen kön­ nen , müßte es dazu nicht nur einen Maßstab haben, den es weder hat noch haben kann; es müßte auch von Vorurteilen, Leidenschaften, persönlichem In­ teresse und fremdem Einfluß frei seyn. Können Sie aber glauben, daß die eigentlichen Gewalthaber in der Republik, die Männer, die über den Nazionalschatz und die Armeen schalten, und einen großen und wichtigen Theil der öffentlichen und einträglich­ sten Bedienungen nach WUlkühr zu vergeben haben, es jemals bei den Volkswahlen darauf ankommen lasse« werden, was für Manner das Volk zu seinen Repräsentanten und obrigkeitlichen Personen ernen­ nen möchte? Rechnen Sie darauf, daß diese Her­ ren ihr eigenes Interesse zu gut verstehen, um nicht alle dienlichen (erlaubten und unerlaubten) Maßre­ geln zu nehmen, daß wenigstens die Mehrheit der Erwählten aus Männern nach ihrem Herzen bestehe. Oder, wofern es auch, wie in Frankreich beider Wahl des neuen Drittels der gesetzgebenden Räthe von i797, anders ausgefallen wäre, so werden sie bald genug Vorwände zu einem achtzehnten Fruktidor finden, und dann für die Zukunft sich besser vorzusehen wissen. — Die Republikaner brei­ ten sich so gern über den alten Gemeinplatz, wie schädlich dem Staat schwache Fürsten sind, auS. Ich kenne keinen schwächern und untauglichern

unter vier Augen.

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Suverün, keinen, der mit weniger Kenntniß der Sachen urtheilt und mit weniger Besonnenheit han­ delt, keinen, der mehr in den Handen seiner Diener ist, und durch Schmeichelei und verstellte Wärme für sein Interesse Leichter gewonnen, durch Furcht oder Hoffnung leichter an der Nase geführt werden kann, als das Volk. — Aber wie könnte auch ein demokratisches Volk sich selbst lange verbergen, daß die lächerliche Tutularsuveränität, womit man sei­ ner unter verstellten Kniebeugungen spottet, eine bloße Schaukel ist, vermittelst deren Leute, die in einer andern Ordnung der Dinge nicht einmal be­ merkt worden wären, sich zu den höchsten Stellen empor schwingen, und daß es sich in seinen Reprä­ sentanten und den Depositarien seiner höchsten Ge­ walt Ober Herren gegeben hat, von deren Mei­ nungen, Willkühr und p er sö n li ch e m I nt er esse sein ganzes Schicksal abhängt? Wie blind das Volk auch gewöhnlich -u seyn pflegt, wo ihm gesunde Augen am nöthigsten waren, s v einfaltig ist es nicht, sich durch die lächerliche Affektazion des Vürgertitels täuschen zu lasien, und nicht zu sehen, was die Herren Bürger unter dieser durch­ sichtigen Hütte zu verbergen glauben. Wenn Ihr demokratisches Volk sich auch in allem andern irrte, darin allein wird es bald ins klare kommen; denn die Thatsachen, die ihm die Augen öffnen müs­ sen, werden bald genug handgreiflich seyn. ^Oder Wielands W 42. Do io

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rote lange wird eS wohl von dem Tage an, da drei oder fünf Obergewalthaber (gleich viel unter welcher Benennung) den ersten Zug aus dem Aauberbecher der Hoheit und Gewalt gethan haben, wie lange, meinen Sie, wird es wahren, bis sie entschlossen sind, ihn, wo möglich, nie wieder aus den Handen zu geben? Und, wofern ihnen hierin ein Ziel gesetzt ist, werden sie, die so viele Mittel dazu in den Handen haben, sich nicht in Zeiten im gesetzge­ benden Senat, unter den Armeen, unter dem Volk, unter allen, die sie durch Interesse oder Hoffnung an sich zu fesseln wissen, einen so starken Anhang machen, daß sie entweder (unter dem gewöhnlichen Vorwand) eine Abänderung des Gesetzes zu ihrem Vortheil bewirken können, oder, wenn sie auch von ihrem Posten abtreten müssen, noch immer im Besitz eines Ansehens und Einflusses bleiben, der sie ihren Nachfolgern furchtbar machen wird? G i § m u n d. Vergessen Sie nicht, Freund Otto­ bert, daß die Gewalten in der repräsentativen De­ mokratie so genau von einander geschieden, und durch eine lange Stufenfolge von Subordinazion so gut gegen einander abgewogen sind, daß es unmög­ lich ist, die Rechte des Volks — die unter der Herr­ schaft. eines Einzigen keine andere Sicherheit haben als den Charakter und guten Willen dieses Einzi­ gen — mit größerer Behutsamkeit und Weisheit sicher zu stellen.

unter

vier

Augen.

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Ottobert. Und ich bitte Sie dagegen, nicht zu vergessen, daß, da die Gesetze zum Besten des Volks, und vornämlich zu seiner Sicherheit gegen jene lange Hierarchie von hohen und niedern Staats­ beamten, da sind, das persönliche Interesse dieser letztem nothwendig erfordern muß, dre Porzion von Gewalt, die jeder in den Handen hat, auf alle mög­ liche Werse in ihren eignen Nutzen zu verwenden, und, indem sie das Gesetz gegen alle, die ihnen nichts zu dieser Absicht helfen können oder wollen, mit Strenge geltend machen, sich selbst und ihre Freunde so viel und oft davon zu dispensiren, als nur immer möglich ist. Weil dieß aber nur alsdann mit Sicherheit geschehen kann, wenn sie sich zu Werkzeugen ihrer Obern und der herrschenden Fakzion gebrauchen lassen: so wird das letzte Resultat hier­ von seyn, daß das vorgebliche Gleichgewicht, worin die Gewalten einander halten, nichts als ein tau­ schendes Blendwerk ist; daß, anstatt einander ein­ zuschranken , vielmehr eine Art von stilischweigender Zu­ sammenverschwörung zwischen ihnen Statt sinder, und daß am Ende die oberste Gewalt, welche alle Zü­ gel und Strange in den Handen halt und nach Be­ lieben anziehen oder nachlassen kann, kein andres Gesetz befolgt als ihren Willen, so wie sie keinen fester» Willen hat, als in jedem Kvllisionsfall ihrem persönlichen Interesse alles aufzuopfern. Sollten Sie, mein Freund, etwa noch zweifeln können, daß dieß

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der natürliche Gang der Sachen in der repräsenta­ tiven Demokratie sey, so erinnern Sie Sich an alles, was seit zwei Jahren, besonders seit dem iß. Fruk­ tidor, in Frank; eich vargegangen ist, und Sie werden eine Uebereinstimmung zwischen meiner Theorie und der republikanischen Praxis finden, die, wie mich daucht, für die zuverlässigste Probe gelten kann, daß ich recht gerechnet habe.

G i s m u n d etwas mißmüthiq In einem so düstern Achte hab' ich die Sachen freilich nie gesehen.

Ottobert. Wenn der Anblick nicht sehr fröh­ lich ist, so kann das Licht nichts dafür. Ich habe die Sache in das hellste Sonnenlicht gestellt. Gis mund. Aber was kann die demokratische Verfassung für den Mißbrauch, den. verkehrte Men­ schen von ihr machen? Oder geht es in der monar­ chischen etwa anders her? Ottobert. Sehen Sie nicht, wie viel ich schon über Sie gewonnen habe, wenn es in der demokra­ tischen nicht um sehr viel b e sser geht? Aber lassen wir jetzt die Monarchie an ihrem Ort, um nicht zu weit aus unserm Wege zu kommen. Ich sage also, die demokratische Verfassung kann sehr viel für den Mißbrauch, der von ihr gemacht wird. Denn darin liegt eben ihr wesentlichster Fehler, daß fie nicht auf die wirkliche Beschaffenheit der Men-

unter vier Augen.

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schen, und auf das, was diese in der bürgerlichen Gesellschaft suchen und von ihr erwarten, be­ rechnet ist. Oder, noch richtiger zu reden, der größte und gröbste Mißbrauch, der von der demokratischen Form gemacht werden kann, ist, wenn man einen einer andern Form gewohnten Staat, zumal ein großes Reich, mit Gewalt in sie hinein zwangt. Als Uebergang aus dem rohen Naturstand, als eine der untersten Stufen der Civilisirung, mag sie eine Zeit lang gelten, und dann einer den Fort­ schritten in der Kultur angemeßnern Einrichtung Platz machen. Eine gute Art von einem Hirtenvolke von wenigen Tausenden, ein Völkchen, das, von der übrigen Welt abgeschieden, in unzugangbaren Bergen lebt, und sich von der ursprünglichen Ein­ falt der Natur nur wenig entfernt, könnte sich Jahr­ tausende lang ganz gut mit ihr behelfen. Aber in einem großen Reiche, das mehrere Jahrhunderte lang einen hohen Rang unter den ersten Machten des Erdbodens behauptet hat, eine repräsentative Volks­ regierung an die Stelle der Monarchie zu setzen, würde, sogar in dem unmöglichen Falle, daß die Umgestaltung ohne die geringste Erschütterung, wah­ rend eines magischen Schlafs der ganzen Nazion, hatte bewerkstelligt werden können, ein thörichtes und frevelhaftes Unternehmen gewesen seyn: thöricht, wenn die Leute nicht wußten was sie thaten, frevel­ haft, wenn sie es wußten. Denn es ist nun einmal

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Natur der Sache, daß dieß Unternehmen'sich über lang oder kurz entweder in einer ungeheuren Anarchie, oder in einer militärischen Despotie hinter einer re­ publikanischen Maske, endigen muß: in jener, so­ bald das Volk sich seiner ihm vorgespiegelten Suveranitat in Ernst bedienen, die Oberaufsicht über seine Diener selbst führen, und, wenn sie die ihnen anvertraute Gewalt überschreiten, sich selbst Recht gegen sic schaffen will; in dieser, wenn es, im Vertrauen auf die Konstituzion, seinen Repräsen­ tanten und Staatsdienern eine so ungemeßne Macht überlaßt, daß die Versuchung und 'die Leich­ tigkeit sie zu mißbrauchen zu groß ist, als daß ehrgeizige und habsüchtige Menschen der Gelegen­ heit widerstehen sollten. Je ferner in diesem letzten Falle das Gewebe des Gesetzes ist, wodurch man ihnen die Hande gebunden zu haben glaubt, je leich­ ter werden sie sich, so oft es ihre Absichten erfor­ dern, davon los zu wickeln wissen'; je künstlicher die Maschine ist, die den Staat im Gang erhalten soll, je eher wird man Mittel finden, sie zu vereinfachen, und an die Stelle eines verwickelten, schwer gehen­ den, alle Augenblicke stockenden Druckwerks, das rasche und mächtige Triebrad der willkührlichen Ge­ walt zu setzen. — Und was hatten nun unsre Neu­ seeländer, die, nach unsrer Voraussetzung, aus ihrem rohen Naturstande, wo sie sich im wirklichen Besitz der unbeschränktesten Freiheit und vollkommen-

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fiert Gleichheit befanden, heraus gegangen, und nach Jahrhunderten von Kultur end.'ich so weit gekom­ men waren, für eines der volizirtesten, ausgebildetsten und aufgeklärtesten Völker der Erde zu gel­ ten, und in allem, was zur Verfeinerung des Ge­ schmacks, der Sitten und der Lebensweise gehört, dw Gesetzgeber aller übrigen zu seyn, — was hatten sie damit gewonnen, sich mit plötzlicher Begebung aller Vortheile der Polizirung, die sie in so langer Zett errungen hatten, auf einmal wieder in den nämlichen Stand der Freiheit und Gleichheit zurück schleudern zu lassen, aus welchem sie, um sich besser zu befinden, vor ein paar tausend Jahren heraus getreten waren? Gismund. Sehr wenig, wenn dieß wirklich der Fall wäre. Aber wie können Cie nur einen Augenblick vergessen, welch ein unendlicher Unter­ schied zwischen einem solchen Rückfall in den Neusee­ ländischen Narurstand, und zwischen dem Unterneh­ men ist, einer sehr gebildeten Nazion, mir der Be­ freiung von einer unwürdigen und nicht langer er­ träglichen Unterdrückung, den Genuß aller Vortheile ihrer Lage, ihrer Kultur und ihres Kunstfleißes mit dem freien Gebrauch aller ihrer Kräfte zu ihrer mög­ lichsten Vervollkommnung, durch eine auf die ersten und wesentlichsten Menschheitsrechte gegründete Konsticuzion auf ewig zu versichern? Ottobert. Sie haben wohl gethan, sich des

Gespräche Wortes Unternehmen zu bedienen. Ob nicht, indem man einen so großen Zweck durch ein so wi­ dersinniges Mittel bewirken wollte, etwas unter­ nommen wurde, daß aus dem ganz einfältigen Grun­ de, weil es unmöglich ist, nie zu Stande kommen wird, — das war eben die Frage, die ich durch alles bisher gesagte beantwortet zu haben glaubte. Die Freiheit und Gleichheit des rohen Naturstandes mit den Vortheilen der Polizirung und Kultur zu vereinigen, ist eine Aufgabe, deren Bestandtheile und Bedingungen einander offenbar vernichten. Gis mund. Nach Ihrer Theorie müßten wir unsern wesentlichsten Menschenrechten entsagen, um der zweideutigen Vortheile der Kultur habhaft zu werden. Wahrlich, eines solchen Opfers sind diese nicht werth! Lieber mit Hans Jakob Rousseau auf allen Vieren in die Walder zurück; Ottobert. Wer fordert denn aber ein solches Opfer, als — eben der demokratisch e Despo­ ti sm, der einen verworrnen, unbestimmten, viel­ deutigen Begriff von Freiheit und Gleichheit, und ein ganzes Wörterbuch voll neuer, hoch tönender, halb Griechischer und von niemand, außer ihm selbst, recht verstandner Wörter zu eben so vielen mit vul­ kanischer Kunst geschmiedeten Fesseln zu machen weiß, womit er euch an Handen und Füßen verstrickt, und zu allem zwingt was ihm beliebt'? Wer fordert dieß Opfer, als der demokratische Despotism,

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vier

Augen.

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der die Gesetze selbst, die euch euere Freiheit gewah­ ren sollen, in Werkzeuge der unlerdl'chsten Unter­ drückung verwandelt, und unter dem Vorwand, »daß die Rettung der Republik das höchste Gesetz sen," so oft es sein persönliches Interesse erfordert, alle Schranken durchbricht, hinter welchen ihr euere Per­ sonen und euer Eigenthum in Sicherheit gebracht zu haben glaubtet; und dem es an diesem Vorwande, vor welchem alle Gesetze schweigen müssen, nie feh­ len kann, da es bloß von ihm abhangt, das Heil der Republik, so oft und so lange es ihm beliebt, in Gefahr zu setzen? — Die bürgerliche Gesell­ schaft verlangt von dem rohen Naturmenschen, der sich in ihren Schutz begebm tmll, nichts, als wavermöge der Natur der Sache nothwendige Bedin­ gung des Zwecks der Gesellschaft ist. »Du willst, spricht sie zu ihm, deiner Person, deiner Familie, dem Eigenthum, das du bereits besitzest oder durch den Gebrauch deiner Kräfte zu erwerben gedenkst, eine Sicherheit verschaffen, die dir dein bisheri­ ger Stand nicht geben konnte. Ich verspreche sie dir. Ich gewähre dir Schutz gegen jede Beleidi­ gung: aber du begreifst, daß ich auch vor dir, vor den Aufwallungen deiner Leidenschaften, vor jeder von Beeinträchtigung, die ich von dir zu besorgen haben könnte, sicher seyn will. Du entsagst also deinem natürlichen Recht an Unabhängigkeit, aber nur so weit es zu diesem Zweck unumgänglich nöthig

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ist; du hörst auf, dein eigner unumschränkter Herr, Gesetzgeber und Richter zu seyn, und unterwirfst dich allen Gesetzen, die ich zu Bewirkung der allge­ meinen Sicherheit gegeben habe, weil sie allein dir für deine Sicherheit Gewähr leisten. Du wünschest aber auch an den Vortheilen und Genüssen Antheil zu haben, die uns Polizirung und Kultur verschaf­ fen. Dieß ist unmöglich, wofern du dich nicht in eine dir ungewohnte Ordnung einschranken lässest, und dich allen den Gesetzen unterwirfst, ohne welche die mannigfaltigen Verhältnisse, in die du zu Errei­ chung jener Absicht verflochten werden wirst, alle Augenblicke zu Kollisionen Anlaß geben würden, die deine eigne Sicherheit in Gefahr setzen und die öffent­ liche Ruhe stören würden. Laß dich die neuen Wör­ ter, »Gesetz, Pflicht, Einschränkung, — unterwerfen, gehorchen, sollen, müssen,” an die dein Ohr sich nun gewöhnen muß, nicht er­ schrecken. Sie bezeichnen lauter unnachläßliche Be­ dingungen deiner Sicherheit, des freien, aber der Gesellschaft unschädlichen Gebrauchs deiner Kräfte, und des Wohlstandes, der die Frucht desselben seyn wird. Du unterwirfst dich bloß den Gesetzen der Vernunft; du gehorchst bloß denen, die zu Hand, habung dieser Gesetze bestimrnt flnd; du erfüllst keine Pflicht, die dir nicht mittelbar oder geradezu nütz­ lich ist, mußt nichts, als was du sollst, und sollst nichts, als was die Gesellschaft, deren Mitglied du

unter vier Augen.

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wirst, rechtmäßig an dich zu fordern hat. Noch bist du dein eigner Herr; es hängt von dir ab, ob du dich mit mir auf diese Bedingungen einlassen willst oder nicht: ist aber der Vertrag einmal zwischen uns geschlossen, so steht er fest, und ich bin berechtigt, dich zu Erfüllung aller Bedingungen, die du einge­ gangen bist, zu zwingen, wiewohl du mich nicht zur Erfüllung der meinigen zwingen kannst." Gismund. Das alles, sollt' ich denken, spricht die demokratische Republik von Wort zu Wort zu jedem ihrer Mitglieder — Ottobert. Wie könnte sie anders? Das Uebel ist nur, daß sie auch sonst noch etwas spricht, das mit dieser Grundsprache aller bürgerlichen Gesell­ schaften in geradem Widerspruch sieht, und daß ge­ rade dieser Widerspruch das ist, was sie zur Demo­ kratie macht. Indem sie die Suveränität des Volks proklamirt, giebt sie dem Staat eine unsichre betrügliche Grundlage, und vergißt absichtlich, daß unab­ hängige Naturmenschen eben dazu in bürgerliche Gesellschaft treten, um ihrer bisherigen persönlichen Suveränität zu ihrem eignen Besten zu entsagen. Indem sie unbestimmt^ Freiheit und Gleichheit proklamirt, sie überall als Schild und Wahrzeichen aus­ hängt, und zum ewigen -Losungswort ihrer Bürger macht, erweckt sie in dem unverständigen großen Haufen Erwartungen, die sie weder zu erfüllen ge­ denkt, noch erfüllen könnte, wenn sie auch wollte.

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Gespräche

Ginge sie ehrlich und redlich zu Werke, so sagte sie den Leuten gerade heraus, weffen sie sich zu ihr zu versehen hatten. — Soll ich Ihnen sagen, Gis­ mund , wie Ihre geliebte Demokratie in diesem Falle sprechen müßte? Gismund. Lasten Sie hören. Ottobert. So stellen Sie Sich denn den Ge­ nius der Demokratie mit seinen gewöhnlichen Attri­ buten vor, einen Eichenkranz um die Stirn, die Konstituzion in der-einen Hand, und eine Pike, so groß wie ein Larchenbaum, mit dem Frei­ heitshut-auf ihrer Spitze; in der andern, wie er auf dein höchsten Gipfel des zum Altar der Freiheit und Gleichheit geweihten Montblank stehend, den ringsum versammelten, mit gespitzten Ohren und gaffenden Mäulern aufhorchenden Völkern Europens zuruft: Ihr Völker Europens, höret meine Rede und nehmet den Sinn meiner Worte wohl zu Her­ zen! Eine neue Ordnung der Dinge ist tut Werk, eine lange Reihe goldner Jahrhunderte rückt heran. Hand in Hand steigt die strenge Nemesis mit der heilbringenden Astraa vom Himmel herab, die Ketten der Völker zu zerbrechen, alle Gebrechen der Menschheit zu heilen, und allen ihren Beschwerden abzuhelfen. Alle selbstsüchtigen und menschrnftindlichen Leidenschaften, alle verderblichen Ausgeburten der falschen Staatskunst, alle schwarzen Erfindun­ gen des fanatischen Aberglaubens, alle Gesetze, wo-

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vier Augen.

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mit eine betrügerische und bestochene Rechtsgelehr­ samkeit dem tyrannischen Mißbrauch der Gewalt einen Anstrich von Recht und Gemeinnützigkeit zu geben suchte, mit allen andern Ungeheuern der Hölle, die seit Jahrtausenden den Erdboden verwüsten, und die wohlthätigen Verhältnisse des bürgerlichen LebenS zu Mitteln der Erniedrigung und Unterdrückung des Menschengeschlechts und zu Quellen seines bittersten Elends gemacht haben, werden in den Abgrund zu­ rück stürzen. Allgemeines Wohlwollen wird ein un­ auflösliches Bruderband um alle Kinder der Erde schlingen, ewiger Friede die Völker aller Zonen zu einer einzigen Familie umchen. Das lieblichste, schönste und erhabenste, was begeisterte Profeten und Dichter in herzerhebenden Gesängen von einer Zukunft, welche niemand zu sehen hoffte, gcweissagt haben, wird vor euern Augen in Erfüllung gehen. Denn ich biete euch allen in dieser Hand Frei­ heit und Gleichheit an, die einzigen Mächte, die alle diese Wunderdinge, diese neue Schöpfung glücklicher Menschen und goldner Zeiten, diesen Him­ mel auf Erden, wirklich machen können. — Aber höret auch die unnachläßlichen einzigen Bedin­ gungen, unter welchen euch diese Glückseligkeit angeboten wird. Von der Stunde an, da ihr von Freiheit und Gleichheit Besitz nehmet, erkennet ihr alle die Vernunft für euere oberste Regertin, und schwöret ihr für jeden Augenblick euers

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Gespräche

Lebens unbedingten Gehorsam und unverbrüchliche Treue. Von dieser Stunde an entsagt ihr jedem eigennützigen Triebe, der mit der allgemeinen Wohl­ fahrt streitet. Alle euere Leidenschaften und Wün­ sche schweigen vor dem heiligen Gesetze des gemei­ nen Besten, und ihr suchet'euern höchsten Ruhm, euer höchstes Glück in der pünktlichsten. Erfüllung aller euerer Pflichten. Ihr seyd alle frey und gleich, aber keinen Augenblick langer als ihr der Vernunft gehorcht. Sie, und die mit ihr gleich ewige Noth­ wendigkeit, sind nun euere einzigen Gebieterinnen, und der bloße Gedanke, euch von ihrer Herrschaft los zu machen, würde Freiheit und Gleichheit in eine Quelle des bittersten Elends verwandeln. Da nichts ohne Form bestehen kann, so bringe ich euch diejenige, unter welcher diese Töchter des Himmels das Glück euersLeben machen sollen, in dieser Kon­ st i tu z io n. Aber vergesset keinen Augenblick, daß sie kein magischer Talisman ist; daß die Be­ dingungen, unter welchen allein sie em Gut für euch ist, immer in euern eignen Händen bleiben. Ihr zu Folge werdet ihr künftig euere Obrigkeiten selbst erwählen. Hütet euch in der Ausübung dieses großen, aber gefährlichen Vorrechts, unbedachtsam

und nachlässig, oder unlauter und parteyisch zu ver­ führen. Jeder gebe seine Stimme, nut der gewis­ senhaftesten Redlichkeit gegen das Vaterland und sich selbst, dem Manne, den er unter allen seinen

unter vier Au gen.

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Mitbürgern für den tauglichsten und rechtschaffensten halt, ohne auch nur ein Wort mit andern deßwegen abgeredet zu haben, oder den geringsten Einfluß von außen auf sich wirken zu lasten. — Diejenigen, die ihr durch diese freie Wahl bevollmächtigt habt, in der Versammlung der Gesetzgeber, in den Gerichts­ höfen und im obersten Vollziehungsrath eucrn a l U gemeinen Willen, der niemals etwas andres als der Ausspruch der Vernunft selbst seyn kann, auSzusprechen, anzuwenden und zur Vollziehung zu bringen, betrachten sich von Stunde an als Menschen, die, mit den schwersten Pflichten belastet, dem Volke, dem sie angehören, der Nachwelt und der ganzen Menschheit von jedem ihrer Schritte Rechenschaft schuldig sind. Sie vergesten sich selbst, und kennen kein anderes Intereste als das allge­ meine. Keine Leidenschaft trübt jemals die.Heiter­ keit ihres Verstandes oder die reine Lauterkeit ihres Willens. Ehrgeiz, Eifersucht, Parteilichkeit, Ränke, Kabalen, Fakzionen sind etwas unerhörtes unter ihnen; sie würden das Licht der Sonne durch ihren Anblick zu beflecken und die Luft mit ihrem Athem zu verpesten glauben, wenn sie jemals fähig wären, das besetz zu verdrehen, das Recht zu beugen, nach GukTst oder Ungunst zu sprechen, sich auf Unkosten ihrer Mitbürger zu bereichern, vom gemeinen Gut, das ihrer Verwaltung anvertraut ist, das geringste in ihren Privatnutzen zu verwenden, und überhaupt

ido

Ges p räche

in ihrem öffentlichen Charakter leichtsinnig/ launisck, leidenschaftlich und selbstsüchtig zu verfahren. Ker­ ner/ wie hoch sein Posten, wie groß seine Gewalt uyd die durch seine Hande gehenden Summen deS Razionatschatzes waren, verlaßt seine Stelle reicher als er sie an getreten ; und de jenige, der mehrere Jahre lang nut. der höchsten Würde in der Republik bekleidet war, setzt^ seinen, größten Ruhm darein, arm in seinen vorigen Privatstand zurück zu treten» Jeder, der vermöge seines Amtes um eine ober mehrere Stufen höher als andere steht, erkennt es für seine Pflicht, in Edelmuth, Mäßigung, Nüch­ ternheit, Genügsamkeit, Bescheidenheit und jeder andern häuslichen, bürgerlichen und politischen Tu­ gend den übrigen zum Beispiel und Dorbild zu die­ nen, und erfüllt diese Pflicht mit desto größrer Strenge, weil er weiß, daß der Staat nur so lange glücklich seyn und bestehen kann, als diese Tugenden den allgememen Volkscharakter ausmachen. Das Volk ehrt feine Vorsteher durch Vertrauen und Ges horsam, und beweiset ihnen beides, auch wenn es tHe Weisheit ihrer Maßregeln und Verordnungen nicht sogleich einzusehen vermag. Die Vorsteher hin­ gegen ehren die Würde der menschlichen Natur in jedem ihrer Mitbürger; dyr fleißige und redliche Ta­ gelöhner dünkt sie ihrer aufmciifamften Vorsorge eben so werth als der reichste Eigenthümer, und der Bürger, dem ihre Hülfe am nöthigsten ist, -ist. der

unter Her Augen.

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erste, der Gehör erhalt. Ein allgemeiner Geist der Ordnung, der Billigkeit, der Mäßigung, der Vater­ landsliebe und der Humanität athmet durch alle Glieder des Staats, giebt ihm wahre und ewige Einheit und Untheilbarkeit, und indem jeder Ein­ zelne mit allen andern wetteifert, der beste Bürger zu seyn, glaubt er in jedem andern einen bessern und würdigern zu sehen als er selbst ist. — Dieß, ihr Völker, sind die Bedingungen, unter welchen Freiheit und Gleichheit euch glückuch machen wer­ den.' Dünken sie euch schwer? — vielleicht wohl -ar unmöglich zu erfüllen? — desto schlimmer für euch! Denn ich habe euch keine andere zu geben, und kann von diesen keine Sylbe nachlassen. Aber höret nun auch, was die Folgen seyn werden, wenn ihr da- gefährliche Geschenk aus meinen Handen annähmet, ohne weder Willen noch Vermögen zu haben, diese Bedingungen zu erfüllen — G i s m u n d. Ich bitte Sie, Ottobert, lassen Sie Ihren demokratischen Genius kein Wort weiter sagen ! Rach der indirekten Satire, die er von der Spitze des Montblank auf die armen Demokratien herab deklamirt hat, indem er ihnen sagte, was sie seyn sollten und nicht sind, wäre es zu grau­ sam, die Unglücklichen noch zu nöthigen, in einem Spiegel, dessen wenig schmeichelhafte Wahrhcrt rhr zartes Auge zu sehr beleidigen würde, auch noch sehen zu müssen, was sie sind. Lassen Sie ihn immerhin SldtlenN W 42. Dd. H

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wieder verschwinden; ich werde ihn nicht zurückrufen; denn durch ihn sind auch meine schönen wonniglichen Träume von Freiheit und Gleichheit, auf Ordnung und Sittlichkeit gegründet, mit Unschuld und Güte gepaart, von Musen und Grazien verschönert, — wie leichte Wolkengebilde und Luftschlösser der Fee Morgana in Nichts dahin geschwunden. Ottobert. Es wäre doch wirklich sonderbar, wenn Sie jemals an die Möglichkeit geglaubt batten, solche Ideale — an Menschen, — durch Menschen realisirt zu sehen. Gis mund. Gutmüthige Herzen haben Augen­ blicke, wo sie so leicht glauben, was sie wünschen! Und das; es nie besser mit dem Menschengeschlechte werden, daß es sogar immer sinken und sinken, und ein verderbtes Geschlecht immer ein noch verderbteres zeugen soll, ist ein so niederschlagender trostloser Gedanke, daß ich ihn nicht ertragen kann. — Ich gestehe Ihnen unverhohlen, daß die verschiedenen Ansichten, unter welchen die Französische Republik seit den fünf bis sechs Jahren, die sie zahlt, sich der Welt darstellt, mich öfters in meinem Glauben irre gemacht haben. Aber, wie ost auch mein Herz und meine Vernunft sich gegen sie aufiehnten, immer kam ich doch auf den Gedanken zurück: die Französi­ sche Republick kann wenigstens nicht mehr gegen die Demokratie überhaupt bewerfen, als die Regierung eines Kaligula oder Nero, eines Königs

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Heinrichs VIIL von England oder Karl- IX. von Frankreich gegen die Monarchie; und noch in die­ sem Augenbl«ck, nachdem Sie mich mit Gründen, die ich nur durch Sofistereien und Schikanen anfech­ ten könnte, überwiesen haben, daß die Demokratie, die ich zu sehen wünsche, nur in Utopien zu su­ chen sey, kann ich eine Stimme nicht zum Sctrwergen bringen, die in meiner innersten Seele für sie spricht; und ob ich schon Ihren Einwürfen keine, auch nur mir selbst genügende, Vernunftschtüffe entgegen setzen kann, so nöthigt mich doch ein nicht übertäubliches Gefühl, an meinem alten Glauben fest zu hal­ ten, »daß ohne Freiheit und Gleichheit der Rechte kein Heil für die Menschheit sey." Ottobert. Mr sind dem Punkte, der uns vereinigen wird, unvermerkt ganz nahe gekommen. Die stolzen herrischen Anmaßungen der Französischen Gewalthaber, die zu unsrer heutigen Unterredung Gelegenheit gaben, werden mich allemal, so oft die Rede von Staatsformen ist, reizen, jeder andern, selbst dem wenig anlockenden Despotism der hohen Pforte zu Stambut, den Verzug vor der Demokratre einzuräumen. Daß sie diese Anmaßungen bis zur p 0 litischen Intoleranz treiben, und die Form ihrer noch immer in sich selbst zwischen Seyn und Nichtstun schwankenden Republik, als das voll­ kommenste Modell aller möglichen Verfassungen, der ganzen Welt, wie es scheint, aufzwingen wollen,

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das ist es eben, was jeden gesunden Kopf gegen sie aufbrinqen, und Untersuchungen veranlassen muß, die, je scharfer und kaltblütiger dabei verfahren wird, desto weniger zu ihrem Dorrheil ausfallen können. Wahrlich, eine Republik, die schon, da sie gepflanzt wurde, nur durch Ausrottung einer unend­ lichen Menge schöner und nützlicher Gewächse Wur­ zel fassen konnte; die schon in ihrem ersten Keim und in ihrer frühesten Entfaltung mit dem Blut eines schuldlosen und guten Königs und einer unge­ heuern Anzahl der vorzüglichsten Menschen genährt werden mußte, um unter den düstern verpesteten Einflüssen der Atheisterei und Ruchlosigkeit, und unter allen Gräueln der Anarchie und Barbarei des schmählichsten Sanskülorism und der unmensch­ lichsten Fakzionswuth, durch eine -war wunderähnLLche, aber nur zu sehr begreifliche Kombinazion von innern und äußern Ursachen, mit fürchterlicher Ge­ schwindigkeit zu einem Baum heran zu wachsen, dessen schwarzer Todesschatten die halbe Erde bedeckt, und alles, waS unter und neben ihm steht, schmach­ ten, hinwelken und verdorren macht, — eine solche Republik hat wahrlich kein Recht zu verlangen, daß alle Volker der Erde sich freiwillig nach ihrem Bilde umgestalten, und ihre Grundsätze zu den ihrigen machen sollen; und es ist die unerträglichste Tyran­ nei, Millionen friedfertiger und bei ihrer bisherigen Verfassung sich wohl befindender Menschen mit Ge-

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walt zu einer Veränderung zu zwingen, von welcher sich vermuthen, und -um Theil mit Gewißheit vor­ aus sehen laßt, daß sie eine Quelle von unzähligen Uebeln und unabsehlichem Elend für sie werden wird. — Und gleichwohl, so groß ist der Hang der Men­ schen zur Veränderung, so mächtig wirkt in den einen der Gedanke, daß sie bei einer allgemeinen Umwälzung wenig oder nrchts verlieren und vielleicht sehr viel gewinnen könnten, in andern ein dunk­ les Vorgefühl, vielleicht auch eine Rolle dabei zu spielen, — und so verblendend ist der Glanz, den eine Reihe glücklicher Erfolge auf diese politischen in einem selbstgemachten Chaos arbeitenden Demiurgen wirft, daß in den noch stehenden Staaten die Zahl der Menschen nicht unbedeutend ist, die den Fortschritten des Jakobinischen Revolu-ionszeistenicht bloß mit der größten Gleichgültigkeit, sondern -um Theil mit Freude und üocl verhehlter Sehn­ sucht enracgen sehen, bereitwillig alles mögliche zu ihrer Beschleunigung bei-utragen, und inzwischen, brs es in ihrer Gewalt seyn wird, ein Mehreres zu thun, wenigstens die Neufränkischen RevotuzionsMaximen -u verbreiten, und den zerstörenden Pla­ nen jener neuen Leveller dadurch den Weg zu bahnen, daß sie den bestehenden Staatsformen und Regierungen alles Vertrauen und alle Achtung zu entziehen suchen, ihre Mängel und Mißbräuche in das gehässigste Licht stellen, das Gute an ihnen ver-

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kennen, un- dagegen die Neufrankische Demokratie für das höchste Meisterstück des menschlichen Ver­ standes und die einzige Staatsverfassung, die sich mit den Rechten der Menschen vertrage, ausgeben. Diese Lage der Dinge, und dieser böse Genius unsrer Zeit, drang mich in diesen letzten Jahren, genauer nachzuforschen, wie die verschiedenen Staats­ formen sich gegen den Zweck der bürgerlichen Ge­ sellschaft und das allgemeine Beste der Menschheit verhalten. Wie einleuchtend auch die Behauptung des Englischen Dichters Pope, For forma of Government let Pools contest, Whate'er is best administert, is best.

heim ersten Anblick scheinen mag, so kann sie doch vor einer scharfen Prüfung nicht bestehen. Denn die beste Staatsverwaltung kann -war die einer fehler­ haften Verfassung beiwohnenden Radikalgebrecherr mildern und uberpflastern, aber niemals aus dem Grunde heilen; und die schlechteste kann das wesent­ liche Gute einer weisen und wohl berechneten Konstituzion nicht anders als durch ihre völlige Vernich­ tung gänzlich unwirksam machen. Das Resultat, das, wie ich glaube, eine unbefangene Untersuchung jedem Wahrheitsforscher, so gut wie mir, geben wird, ist dieses: die monarchische Regierungsform ist mehr auf Sicherheit und Ordnung, die demokra­ tische mehr auf Freiheit und Gleichheit berechnet;

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jene ist dem Menschen, der erst noch gebildet werden soll, diese dem bereits gebildeten natürlicher und angemeßner. Indessen waltet der große Unterschied vor, daß, sobald beide Formen auf wirkliche Staaten und Menschen, wie sie nun einmal sind, angewandt werden, die Monarchie den Hauptzweck, für den sie berechnet ist, Sicherheit und -Ordnung, wirklich erreicht, die Demokratie hingegen immer weit hin­ ter dem ihrigen zurück bleibt, weil Freiheit und Gleichheit in ihr immer mit Ordnung, und Sicher­ heit im Streit liegt, und die Regierung jene nur auf Kosten dieser, vder diese auf Kosten jeuer gewahren kann. Uebrigens tragen beide ein sehr wirksames Prinzip der Verderbniß in sich, nur mit dem Unterschiede, daß, wenn jene Jahrhunderte dauern sann, bis sie in einen unterdrückenden Derpotism ausartet, diese kaum so vieleIahrzehnde dauert, bis sie, um derAnarchie zuvvrzukommen, die immer wie an einem dünnen Faden über ihrer Scheitel schwebt, sich in eine noch harter drückende, Oligarchie verwandeln musi. Iu jener erhalt schun allein der festgesetzte Unterschied der Stände, Klaffen und Unterabtheilungen, bei der offen gelaßnen Möglichkeit sich durch Glück oder Verdienste höher hinauf schwingen zu können, durch bloßen, aus Gewohnheit beinahe unbemerkten Druck und Gegendruck das Ganze in Ordnung; in dieser unterhalten die rastlosesten aller Leidenschaften, Arn-

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iosr hatte, eine Menge andrer Ritter anzutrcffen, die ihre Freiheit wie er verspielt harten; und wo er sich so (anne gedulden mußte, bi§ sein Bruder Galwin so glücklich war, die Dame durch den Ecliec du berger auf den vierten Zug matt zu machen, und, nach verschiedenen «andern Abenteuern, den )ungen Gall er et endlich in den Besitz Verschö­ nen Floribelle und ihres Schachspiels zu setzen." Wenn die Ritterbücher und Fabliaux des zwölften und dreizehnten Jahrhunderts historischen Glauben in irgend einem Punkte verdienen könnten, so wäre das Alter des Schachspiels in Europa um vie/e Jahrhunderte früher hinaus zu setzen, alS ich es nach Frerets Meinung angegeben habe. Aber die gröbsten Verstoße wider die Chronologie, Geo­ grafie und Geschichte sind diesen Rsmandichtern so

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gewöhnlich, daß es ihnen nicht mehr Mühe kostete, die Ritter an des Königs Artus Hofe Schach spie­ len zu lassen, als Babylon nach Aegypten zu verfdvn, die Emirn der Araber in Admirale zu ver­ wandeln , und Karln dem Großen eine Kreuzfahrt nach Palästina anzudicktten. Daß das Schachspiel zu ihren Zetten an den Höfen der großen Herren in Frankreich gespielt, und die Geschicklichkeit in dem­ selben für eine Anständigkeit eines wohl erzogenen Ritters angesehen wurde, war ihnen schon genug um sich versichert zu halten, daß es den Rittern der Tafelrunde, als den wahren und vollkommensten Modellen aller ritterlichen Eigenschaften und Tugen­ den, auch an dieser nicht habe fehlen können. Einen starkern Beweis gegen Frerets Meinung würde das Schachspiel mit großen elfen­ beinernen Figuren und Arabischen Cha­ rakteren abgeb^n, welches in dem Schatze der Abtey St. Denys gezeigt wurde, wofern das Vorgeben gegründet wäre, daß es Karln dem Großen zugedört, der es aus dem Orient (vwmuthlich unter den Geschenken des Kalifen Harun Alreschid) erhalten habe. Allein die Arabischen Charaktere geben dieser Tradition um so weniger Gewicht, weil die Figuren nicht morgen landisch, sondern nach Europäischer Art gebildet sind. Dieser letzte Umstand, und der Name des Künstlers Josef Nr ko las, könnte eher die Vermuthung erwecken,

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daß es das Werk eine- spätern Griechischen Mei­ sters gewesen. Wenn Karl das Schachbret gekannt oder geliebt hatte, so würde sich doch wohl im Eginhard, der so sehr ins Besondere seines häus­ lichen Lebens geht, eine Spur davon finden. Noch weniger Aufmerksamkeit vrrdient die Anek­ dote, die in des berühmten Gustavus Selenus, oder Herzog Augusts von Lüneburg, aus­ führliche Beschreibung des Schach - oder Königsspiels, pag. 14, aus zwei ungedruckren Bayerischen Chroni­ ken angeführt ist, B von dem Sohn eine- Herzogs Okar in Bayern, der an dem Hofe König P ip ins von Frankreich gelebt baten, und von dem Sobne des Königs erschlagen worden seyn soll, weil dieser nicht habe leiden können, daß ihm jener im Schach­ spiel immer überlegen gewesen/* — Eine andre hand­ schriftliche Chronik, auf welche sich Herzog August beruft, erzählt die Sache folgender Maßen: B Dw beiden Fürsten; Herzog Albrecht und Herzog Okar, hatten nit mehr denn einen Sun, (haben sle ihn mit einander gehabt?) der ward erschlagen in seinen jungen Tagen mit einem Schachzabelbret an König' Pipmus Hofe von Frankreich von einem andern jungen Fürsten.u — Der Sohn des Königs Pipinus, den der Sohn dieser beiden an­ geblichen Herzoge von Bauern mit einem Schachbret erschlagen haben soll, müßte einer von den vielen natürlichen Söhnen gewesen seyn, die ihm von eini-

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gen Ttrrealogisten zugeschrieben werden, wiewohl die gleichzeirizen Geschichtsschreiber ihrer keiner Meldung lhun. Denn von den drei Söhnen, die er von sei­ ner G-'rnahlin Bertha hatte, wurde ferner nut einem Schachzabrlbret erschlagen. Die beiden älte­ sten , Karl und Karl mann, regierten nach ihrem Vater, und der jüngste, Prpin, starb, eh' er wußte was Schachspiel war, in seinem dritten Jahre. Die erste Chronik spricht aber so, als ob Pipin nur Einen Sohn gehakt hatte; die andre hingegen sagt gar nichts von einem Sehne desselben. Ueberdieß kom­ men in der Geschichte dreser Zeit wohl ein paar edle Bayrische Herren, Namens Adelbert und Ott* ker, vor, welche mit dem Bayrischen Hause ver­ wandt, aber darum weder Herzoge von Bayern wa­ ren, noch so genannt wurden. Die ganze Anekdete sieht also einem Mahrchen sehr ähnlich, und scheint für das Alterthum des Schachspiels nrcht viel mehr z.u bewerfen, als ^ie Geschichte der vier Hay­ mo ;i 8 Kinder; wo Kaiser Karls Neffe Reinholden: on Montauban, ebenfalls wegen eines,überm Schachspiel entstandenen Haders, das Cchachzabelbret an den Kopf wrrft; dieser aber den Spaß unrecht ver­ steht, und mit dem nämlichen Schachbret dem Prinzen einen solchen Schlag vor die Strrne giebt, daß er gahlings todt zu Boden fallt. Etwas Wahres ist an dergleichrn alten Dolksromanen. und Sagen immer; aber

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da es selten möglich ist, es von dem Erdichteten zu unterscheiden, so konnten die daraus hergenommcnen Zeugnisse in zweifelhaften historischen Fallen von keinem Gewichte seyn. Gesetzt also, daß eine wirk­ liche Begebenheit an König Pipins Hofe zu jener Anekdo-e den Anlaß gegeben hatte: könnte das Spiel, worüber die jungen Fürstensöhne sich entzweiten, nicht das alte Römische Soldatenspiel (Indus latrnnculormn) gewesen seyn — welches von den Römern zu den Galliern, und von den Galliern zu den Franken übergegangen, bei diesen aber nach und nach aus der Gewohnheit gekommen, und endlich, da das Schachspiel den Weg nach Europa gefunden, von diesem nicht nur gänzlich verdrängt, sondern auch in der Folge von den unwiffenden Schrift­ stellern dieser Zeiten mit demselben verwechselt worden? Da beide Spiele, so wesentlich auch ihre Ver­ schiedenheit ist, doch in verschiedenen Stücken und hauptsächlich darin Übereinkommen, daß beiden der Name von Kriegs- oder Soldatenspielen ganz eigentlich zukommt: so war diese Verwechslung Lei Romanschreibern, die wenig oder gar keine Kenntniß des Alterthums hatten, um so leichter mög­ lich, als von jenem Römischen Spiele sich immer noch einige Erinnerung und Tradizion erhalten haben mochte. Aber wie beinahe alle neuere Filologerr sich

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so fest haben in den Kopf setzen können, die dem Palamedes (wiewohl ohne Grund) zugeschriebne Petteia der Griechen (das oben beschriebene Kegel­ spiel der Homerischen Freyer) und den ludum latmnculorum der Römer mit dem Morgenlandischen Schachspiele zu vermengen, würde unbegreiflich seyn, wenn man nicht wüßte, daß ein einziger Mann wie Saumaise Ansehen genug hatte, hundert andre auf sein bloßes Wort irre zu führen. Das Wenige, was man aus Zusammentragnng und Vergleichung aller Stellen, worin die alten Rö­ mischen Schrrftsteller des Patronen» oder La 1 runk elnspiels beiläufige Erwähnung thun, heraubringen kann, ist zwar nicht hinreichend, uns einen kunsimaßigen Begriff davon zu geben: aber doch mehr als vonnörhen ist, um einen jeden, der bloß sehen will was da ist, zu überzeugen, daß zwischen diesem Römischen und dem Schachspiel nicht mehr Aehnlichkeit war, als zwischen dem Schach- und dem Damenspiele. Da ich einmal über diese Materie gerathen h'nv so werden Leser, die für alles Menschliche — und also auch für die Spiele der Menschen einige Anmuthung haben, fich vielleicht nicht verdrie­ ßen lassen, bei dem Spiele, das einst so viel Reitz für die Herren der Welt hatte, noch ein wenig zu verweilen.

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Und warum sollten denn die Spiele der Menschen unsrer Aufmerksamkeit unwürdig fetm ? Spielen ist die erste und einzige Beschäftigung unsrer Kind­ heit, und bleibt uns die angenehmste unser ganzes Leben durch. — Arbeiten wie ein Lastvieh ist das traurige Loos der niedrigsten, un­ glücklichsten und zahlreichsten Klasse der Sterblichen; aber es ist den Absichten und Wünschen der Natur zuwider. Der Mensch ist nur dann an Leib und Seele gesund, frisch, munter und kräftig, fühlt sich nur dann glücklich im Genuß seines Daseyns, wenn ihm alle seine Verrichtungen/ geistige und kör­ perliche, zum Spiele werden. Die schönsten Künste der Musen sind Spiele, und ohne die keuschen Grazien stellen auch die Götter (wie Pin dar singt) weder Tanze noch Feste an. Nehmer vom Leben weg, was erzwungner Dienst der eisernen N 0 thwendig kerr ist, was ist in allem übrigen nicht Spiel? Die Künstler spielen, intt der Natur, die Dichter mit ihrer Einbitdunakkeafr, dieF'losofen mit Ideen und Hypothesen, die Schi neu mit unsern Her­ zen , und die Könige -r- leider! —, mit unsern Köpfen. Wo ist je ein Fest, ein Tag öffentlicher geselliger Freude, .ohne'Spiele gewesen? Und wie oft ist nicht (wie das Sprichwort sagt) aus Spiel Ernst, und das, wqs schuldloser Scherz unb Nepenthe der Sorgen des Lebens seyn sollte, zur Quelle des

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bitterste« Kummers geworden? Wre oft haben »ganz» Volker ihre Freiheit, ihren Ruhm, ihr Glück, im eigentlichsten Verstände verspielt? < Bloß in der Beschaffenheit der Spiele und in der Hrt zu spielen liegt der Unterschied, der ihren guten oder bösen Einfluß, ihre heilsamen oder verderbten Folgen bestimmt: aber eben dieß ists, was sie in der Charakteristik der Völker und Zeiten bedeutend und merkwürdig macht.

Ei« aufgeklärter Geist verachtet nichts. Nichts was den Menschen angeht, nichts was ihn bszcichnet, nichts was die 'verborgenen Federn und Rader seincs Herzens aufdeckt, ist dem wahren Filofofen rrnerhebljch. — Und wo ist der Mensch weniger auf seiner Hut als wenn er spielt? Worin spiegelt sich der Cha­ rakter einer Nazion aufrichtiger ab, als in ihren herrschenden Ergötzungen? Was Plato von der' Musik eines jeden Volkes sagte, gilt buch von sei­ nen Sptetenr keine Veränderung irt diesen, (wie in jener) die nicht entweder die Vorbereitung oder die Folge einer Veränderung in seinem sitt­ lichen oder politischen Zustande wäre! Ich würde eS daher alS eine selbst des scharf­ sinnigsten Menschenforschers keineswegs unwürdige Beschäftigung ansehen, wenn ein solcher sich ent­ schlösse, die Geschichte d,er Spiele, mit filyse-

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fischem Auge betrachtet, zum Gegenstand einer ge­ nauen und vollständigen Untersuchung zu machen. Doch, wieder zu dem Lieblingsspiele der Römer! Zu Plautus und Ennius Zeiten — wo die Römische Sprache von der Sprache des Augustisch en Jahrhundert- eben so verschieden war, als es die Deutsche unter Friedrich dem Zweiten von der unter Iosef dem Zweiten ist — hieß Latro ein Soldat und Für ein Knecht. Schon in Ci­ cero' s Zeit hatten beide Wörter (vermuthlich auö Schuld der Soldaten und Knechte) ihre erste Bedeu­ tung im gemeinen Leben verloren, und jenes war in Räuber, dieses in Spitzbube ausgeartet. Aber als der ludus latronum oder latrunculorum bei den Römern aufkam, und das gewöhnlichste Spiel wurde, womit flch Officiere und Soldaten im Lager die Zeit vertrieben, stand das Wort latro noch in gutem Ruf; und da- Spiel behielt feinen alten Na­ men, auch nachdem das Wort seine alte Würde überlebt hatte. Es wurde auf einer Art von Da­ men br et, welches bei Seneka tabula latrtincularia heißt, mit Steinen (calculi) gespielt, welche latrunculi oder S o ld atchen genannt wurden. Der Name Soldatenspiel, unter welchem ich seiner schon einige Mal erwähnt habe, ist also eine wörtliche Übersetzung seines Römischen Namens, und bezeich­ net zugleich einen wesentlichen Charakter des Spieles WirlanLS W 43« Db. 20

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selbst. Denn es sollte seiner Natur und Absicht nach ein m rlitairi sch es Spiel seyn; und in der Art, tote beide Spieler (denn es wurde unter zweien gespielt) nach den Gesetzen desselben ziehen und schlagen mußten, bot es eine Menge Gelegenheiten dar, seinen Gegner in die Enge ja treiben, zu über­ listen, zu überfallen, oder sich selbst aus einer schlim­ men Lage heraus zu ziehen, einen begangnen Fehler wieder gut, oder einen Fehler des Gegners sich zu Mutze zu machen u. s. w. Kurz, es kam dabei, wie mr Kriege, auf Angriff und Vertheidigung an, und war also in so ferne dem Schachspiel ahntichr aber sonst sowohl in der Beschaffenheit der Steine, als in der Art, wie es gespielt wurde, von demselben ganz verschieden. Die Steine waren zwar such von zweierlei Farbe, nämlich weiß und schwarz, (und mußten es seyn, damit jeder von den Spielen­ den die seimgen bequemer erkennen und übersehen konnte) aber sie waren weder an Figur noch Gang von einander unterschieden. Sie rückten in gerader Linie vor, und eS wurden immer zwei erfordert, um dem Feind. Einen nehmen zu können. Daher mußte jeder vorrückende oder sich zurückziehende Stein von einem hinter ihm stehenden bedeckt seyn. Die ange­ führten Stetten sind nicht hinlänglich, um daraus zu sehen, unter welchen Umständen ein Stein genomwerr wurde oder sich noch Lurückziehen konnte : aber

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Liess ist gewiß, daß der Erfolg des ganzen Spiels darauf beruhte, dem Feinde so viele Steins zu neh­ men als möglich, oder seine Steine so einzuschließen, daß er nicht mehr ziehen tonnte, welches sie anbinden (alligare) nannten; daß hingegen wieder aller­ lei Mittel waren, einen angebundenen Stein wieder in Freiheit zu setzen, und daß in der Bemühung, die­ ses auf der einen Seite zu bewirken und auf der andernSeite zu verhindern, die hauptsächlichste Feinheit des Spieles lag. Auf dieß deutet die Stelle im Seneka (Ep. 117), wo er sagt: »Wem in dem Au­ genblick, da er einem Latrunkelspiele zusieht, ange­ sagt wird, sein Haus brenne, der halt sich nicht auf, vorher das Spiel zu übersehen, und bekümmert sich nun wenig mehr darum, wie der angebundene Stein sich wieder heraus wickeln werde." Die oberr schon aus eben diesem Schriftsteller angezogne Stelle (de Tranquil. An. c. XIV ) beweist, daß, wer einen Stein mehr hatte als sein Gegner, sich schon größere Hoffnung machen konnte, die Partie zu gewinnen. Aus einer andern Stelle in des V 0p-iskus Nachrichten vom Leben des Gallischen Ge­ genkaisers Prokulus zeigt sich, daß der Sieger Imperator hieß; und daß also, wie es im Schachspiele darauf ankommt, wer den andern matt macht, cs in diesem darauf ankam, wer von beiden Imperator würde? (quis Imperator exteet?) Pro-

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kulus, der sich, durch einen unternehmenden Geist und eine körperliche Starke von der seltensten Art, von einem geb ornen Räuber (denn seine Vor­ fahren hatten dieß Handwerk schon von langem her getrieben) zum Anführer einiger Römischen Legionen in Gallien, in den verworrenen Zeiten des Kaisers Aurelianus, geschwungen hatte, wurde (wenn Vopiskus und sein Gewährsmann Onesimus Glauben verdienen) von den Lug dunen fern bei einer solchen Gelegenheit zum Kaiser ausgerufen. Er spielte nämlich bei einem großen Gastmale ad lamm? cnlos, und war bereits zehnmal hinter einander Imperator in diesem Spiele geworden: als einer von den Gästen den Einfall hatte, ihn deßwegen scherzweise mit einem Ave Auguste! zu komplimentiren. Um den Spaß rund zu machen, brachte der scherzhafte Gallier ein Purpurkleid herbei, warf es dem Sieger um die Schultern, und verehrte den neuen August mit der gewöhnlichen Kni mahlte sich auf dem Gesichte der beiden Luftfahrer, wahrend ein­ düstre Unruhe und eine- Art von dumpfem Staune« die sämmtlichen Zuschauer ergriffen zu haben und für die Schönheit deS Schauspiels gefühllos zu machen schien. In der vorbesagten Höhe schien ein Südostwind die Maschine zu treiben, und sie befand sich in kurzem über dem Meere. Jetzt wurde sie 3 Minuten lang von verschiedenen Lustströmen hin und her be­ wegt, bis endlich der Südostwind die Oberhand bu hielt, und die Montgokfiere nach der Französischen Küste zurück trieb. Was die Zuschauer nunmehr von dem unglücklichen Ausgang wahrnehmen konnten, wird in einem Briefe ausBoulogne von einem Augen­ zeugen folgender Maßen erzählt. »Nachdem der Bal­ lon sehr hoch gestiegen war, sank er wieder langsam und nach und nach 3 bis 4 Minuten lang, ungefähr bis zum vierten Theil seiner Höhe herab; darauf sah man ein wenig Rauch, und fast im nämlichen Augenblick eine sehr helle Flamme am obersten Theile der Calotte des Ballons, der die Gestalt eines sich öffnenden Fächers bekam. Dieses Feuer dauerte höch­ stens 15 Sekunden, und nun fiel die Montgolfiere und die Gallerie Anfangs ziemlich langsam, aber in wenig Augenblicken mit der größten Schnelligkeit. Die beiden Unglücklichen stürzten mit der Gallerie

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aus einer Höhe von mehr als 1600 Fuß zur Erde, und wurden aufs gräßlichste zerschmettert gefunden. Pilatre de Rozier blieb auf der Stelle tobt, Romain gab noch einige schwache Lebenszeichen, aber ohne reden zu können, und verschied nach 10 Minuten." Daß diese melankolische Katastrofe von verschiede­ nen Zuschauern auf eine ziemlich verschiedene Art er­ zählt wurde, kann bei einem Falle, wo eine genaue und von alten Arten der Täuschung gänzlich freie Beobachtung kaum möglich ist, niemanden befremden. Indessen scheint sich doch auch hier der Parteigeist ein Wenig eingemischt zu haben, und mehrere Umstände wurden von verschiedenen Personen, je nachdem sie entweder der Montgolfierischen oder Robertischen Verfahrungsart günstiger waren, auf diese oder jene Art angegeben. Der Umstand aber, worin die meisten Augenzeugen übereinstimmten, war die Flamme, die den obern Theil des Ballons ergriff und in einem Augenblick verzehrte, welche doch schwerlich eine an­ dere Ursache haben konnte, als daß die aus einem Riffe, den der Ballon zufällig bekommen hatte, mit Gewalt heraus strömende brennbare Luft von dem in der Montgolfiere unterhaltenen Feuer entzündet wor­ den seyn mußte. Uebrigens kann man dem Mar­ quis de la Maisonfort, der das ganze Unglück auf den delabrirten Zustand des Luftballons schiebt, 'WlelandS W. 43. Äd. 27

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gern so viel zugestehen, daß es wahrscheinlich nicht geschehen wäre, wenn der letztere nicht durch die mehrere Monate lang ausgehaltenen Strapazen so übel zugerichtet gewesen wäre, daß es immer unbe­ greiflich bleiben wird, wie Pfllatre de Rozier sein und seines Freundes Leben einer so unzuvcrläßigen Maschine anvertrauen konnte.

Wenn man die Augen von diesem traurigen Falle wegwendet, um fie wieder auf die verschiedenen neuen Luftreisen zu heften, welche Herr Blanchard, nach seinem ersten Flug über den Kanal, theils vor, theils nach dem Unglück des armen Pilatre, immer mit dem glücklichsten Erfolg anstellte: so kann man nicht umhin sich selbst zu gestehen, daß er seine vielfälti­ gen Triumfe weder dem blinden Glücke, noch allein seinem sonderbaren Talent und einer seltnen Uner­ schrockenheit und Geistesgegenwart, sondern unstrei­ tig auch seiner Art zu verfahren, und verschiedenen Vorrichtungen und mechanischen Hülfsmitteln von seiner Erfindung zu danken hat; und daß sein un­ glücklicher Nebenbuhler wahrscheinlich noch leben wür­ de, wenn er, anstatt mit eigensinniger Beharrlichkeit seiner einmal erwählten Verfahrungsart getreu zu bleiben, diejenige angenommen hätte, welcher Erfah­ rung und Theorie den unläugbaren Vorzug einer un­ gleich grökern Sicherheit gab.

Die Aeronauten. VII. DaS Unglück des allgemein geschätzten und be­ dauerten Pilatre de Rozier machte einen Ein­ druck auf das Publikum, der den Fortgang der neu erfundenen Kunst auf einmal zu hemmen, und sie bei einem Volke, das so leicht von einem Aeuffersten zum andern überspringt, um allen Kredit zu bringen drohte, wenn nicht einige Naturforscher und Mecha­ niker sich Geeifert hatten, die natürlichen Folgen jenes Eindrucks noch eine Zeit lang aufzuhalten. Der große Haufen wird immer bloß vom Strome des Augenblicks fortgerrffen : und wie oft ein einziger glücklicher Erfolg sein Herz so mächtig schwellt, daß ihm nun nichts mehr unmöglich, das Schwerste feder­ leicht und das Gefährlichste Kinderspiel scheint; so braucht es hingegen auch nur einen einzigen nicht vermutheten Unfall, um seinen Muth auf einmal zu Boden zu werfen, und ihm unübersteigliche Berge zu zeigen, wo er kurz zuvor nur Maulwurfshügel sah. »Man erinnere sich (sagt ein Ungenannter im rüsten Blatte des Journal de Paris von 1735) des Augen­ blicks, wo man den ersten Luftballon sich mitten im Marsfeld erheben und in den Wolken verlieren sah, wahrend ganz Paris das neue Experiment als ein die Naturgesetze unterbrechendes Wunderwerk anstaun­ te. Die Einbildungskraft selbst wagte es nicht, sich

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einen mit diesem Ballon aufsteigenden Menschen zu denken. — In diesem Augenblick stellt sich ein junger Mann mit einer einnehmenden, den glücklichsten Cha­ rakter ankündenden Bildung dar, der von allen, die ihn kannten, geliebt wurde, und allem Ansehen nach nichts als Ursachen sein Leben zu lieben, haben konnte, und erbietet sich einen Versuch zu machen, welchen kein Mensch nut in Gedanken zu wagen das Herz hatte. Man konnte sich kaum erwehren, ihn für wahnsinnig zu halten; aber als er von der Höhe des Himmels wo man ihn über Paris hinschweben sah, wieder zur Erde herabgestiegen war, fehlte we­ nig daß man ihn nicht für ein Wesen einer höhern Gattung ansah. Kaum war "das Wunder'vier - oder fünfmal wiederholt worden, so fing man schon an, sich nichts mehr daraus zu machen. Man sprach da­ von wie von einem Kinderspiele, wozu man nicht einmal Herz zu haben brauchte. Nun, da daö schreck­ liche Ende des Unglücklichen, der den ersten Versuch mit einem so glanzenden Erfolge gemacht hatte, die ersten Bangigkeiten wieder erneuerte, hört man über­ all sagen, es wäre am besten, diese Versuche, die für den ersten, der sie gewagt, so übel ausgefallen, gänzlich aufzugeben; und man ist nicht weit davon entfernt, eben den Mann wieder als einen Unsinnigen zu verdammen, den man kurz vorher als einen Hel­ den bewunderte. Indessen sollte man doch nichtüber-

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sehen , -aß unter mehr al- hundert ähnlichen Versu» chen nur dieser einzige (und, was am wenigsten zu vergeffen ist, aus Schuld des Unternehmers selbst) einen unglücklichen Ausgang genommen hat. Die Gefahr muß so groß nicht seyn, da die widrigen Zu­ fälle schon in den ersten Versuchen so selten gewesen sind. Wie viele tausend Opfer kostet die Schifffahrt noch immer der Menschheit! und doch ist die Schiff­ fahrt eine nützliche Kunst. Freilich wird die Montgolfierische Erfindung diese Benennung nicht eher ver­ dienen, bis die Kunst, die arostatische Maschine zu -irigiren, gefunden seyn wird. Aber wenn auch diese Kunst noch ein Problem ist, wer kann sagen, es sey unauflöslich, oder die Unmöglichkeit sey bereit- aus­ gemacht? Selbst das Ansehen der gelehrtesten Man­ ner entscheidet hier nichts. Die Wissenschaft vergleicht und verbindet nur bekannte Kräfte, und ihre Re­ sultate können nicht weiter gehen; der Genie und ^er Zufall entdecken neue Kräfte und erweitern die Grenzen des Möglichen. Eine einzige Bemerkung des Genies, eine einzige Entdeckung, die der Zufall herbei führt, können mehr als lausend Erfahrungen werth seyn, um uns auf den rechten Weg zu bringen, den wir beim Lampenschein der Wissenschaft in den finstern und krummen Jrrgangen der Natur lange vergebens gesucht hatten.* Während einige filosofische Köpfe durch Dorstellun-

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gen dieser Art die Hoffnung zu nähren suchten, daß die Aeronautik mit der Zeit noch zum Rang einer ge­ meinnützigen und auf zuverlaßigen Principien fest stehenden Wissenschaft erhoben werden könne, beeiferten sich die Herren Alban und Valt'et nebst eini­ gen andern, durch neue ärostatische Versuche und Schauspiele die öffentliche Meinung wieder zu gewin­ nen. Vor allen blieb Herr Blanchard geschäftig, die Proben seiner Kunst außerhalb Frankreich zu ver­ vielfältigen : aber die Art, wie er die Sache behan­ delte, und der Ton, worin er seine Thaten dem Publikum verkündigte, näherte sich immer mehr der Manier gewisser andrer Künstler, die ihr Wesen zur Belustigung der Zuschauer ebenfalls in der Luft trei­ ben wie er. Indessen fehlte wenig, daß er bei einer seiner luftigen Promenaden (wie er sie nennt) am Listen November 1735 das Schicksal des Pilatre de Rozier gehabt hatte; und wiewohlerderSache eine für seine Eitelkeit schmeichelhaftere Wendung zu geben sucht, so scheint doch dießmal ein bloßer glück­ licher Zufall sein Retter gewesen zu seyn. Er hatte sich (sagt er in einem Briefe an die Herausgeber des Journal de Paris) 32,000 Fuß hoch in die Luft erho­ ben, und, was er selbst beinahe unglaublich findet, drei Minuten lang in einer Temperatur ausgehalten, worin nach der bisherigen Meinung der Naturforscher keines Menschen Lunge auch nur eine einzige Minute

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ausdauern könnte. »Ensuite, (fahrt er fort) ayant ni i s m o n ballon en p i e c e 8 par le pole inse­ riern, je suis descendu en parach yte du haut des Nuees, et mon ballon est alle se precipiter dans la in er, Mon seul bnt dans cette experience etoit d' echapper aux dangers qui me menaqoient sur la terre par la tempete, et sur la nier qui nV environnoit de toutes parts. II ne nT est arrive d1 autre accident que celui de renvetser le toit d’une chaumiere, de deracb ner de petits arbres, d1 e n casser de grands, et d'arracher des b 11 i s s o n B. Mon ballon et rna nacelle sont aussi en pieces : je suis rei.te seid entier de mon equippage; et semblable au capitaine qui perd son vaisseau, je suis tout prct d1 en remonter un autre, que je fais construire dans ce moment ii Lille.“ — 5$ gestehe, daß ich nichrOedipus genug bin, um mir aus die­ ser rathselhaften Darstellung einen deutlichen Begriff von dem halsbrechenden Abenteuer zu machen, welches Herr Blanchard in einem so jorialischen Ton erzählt. Was darüber in den Flandrischen öffentlichen Blat­ tern gesagt wurde, giebt zwar etwas mehr Licht, scheint aber nur die Unbegreiflichkeit der Sache zu vermehren. Herr Blanchard versicherte nämlich zu Gent öffentlich: »Er wäre in der größten Gefahr gewesen. Sein Ballon, der -ei seinem Aufsteigen

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Die Aeronauten.

nicht ganz voll gewesen, sey (vermuthlich in ter Höhe von 32,000 Fuß) so außerordentlich aufgeschwollen, daß er den Augenblick vor sich gesehen habe, wo er zerplatzen müßte. Wiewohl er das Ventil aufge­ macht, habe sich doch dqs Volumen der Luft nicht vermindert; er hatte also keinen andern Ausweg gehabt, als mit der Spitze seiner Fahne Riffe in den untern Theil des Ballons zu machen. Aber da habe sich eine andere Gefahr gezeigt; er sey nämlich mit iner solchen Rapiditat herab gestiegen, daß er sich in einem Augenblick ganz nahe an der Erd­ gesehen habe. Nun sey ^sein letztes Hülfsmittel ge­ wesen, nachdem er allen seinen Ballast über Bord geworfen, dre Stricke seines Nachens abzuhauen, sich an sie anzuhangen, und sich somit seines Ballon­ statt eines Parachyte zu bedienen. So sey er denn n der Nahe von Delft glücklich auf die Erde gefal­ len, ohne die geringste Beschädigung an seiner Peron erlitten zu haben." — Man muß gestehen, daß Herr Blanchard unter einem ungewöhnlichen glückli­ chen Zeichen geboren seyn mußte: aber noch unend­ liche Mal erstaunlicher ist die unbegreifliche Behen­ digkeit, womit er, ohne von einer so großen und nahen Gefahr betäubt oder aus der Fassung gesetzt zu werden, in einem Augenblick (und mehr Zeit konnte er auch in der That nicht haben) alle diese Operazionen, die zu seiner Rettung nöthig

Die Aeronauten.

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waren, machen konnte. Indessen ist nicht zu laugnen, daß auch der Umstand, daß er mit seinem zerrißnen Ballon und seinem Nachen so stark auffiel, daß er das Dach einer Strohhütte einwarf, große Baume zerbrach, kleine entwurzelte und Büsche aus­ riß, und doch trotz allem diesem entsetzlichen Fracas an seinem eignen Leibe nicht einmal eine Beule da­ von trug — eine Sache ist, die man nicht alle Tage sieht, und die ihm selbst bei einer Wiederholung dieses sonderbaren Experiments, schwerlich wieder so gut gelingen würde.

Zusatz.

Im Februar 1797.

Die Luftballons und die Luftschifferei kamen bereitim Jahre 1736 unvermerkt aus der Mode; die Pa­ riser hatten sich lange genug damit amüfirt; andre Zeitvertreibe, die Folie Journee, die Fo­ lie par amout und eine Menge anderer Fo liet traten an ihren Platz; im Jahre 1737 und 88 auch

426

Die Aeronauten.

andere Sörgen. Die Folgen einer unklugen, übel zusammen Hangenden und verschwenderischen Staatsverwaltung, und die Beschwerden über alte Mißbrauche, welche, gleich unheilbaren Schäden, am Leben des Staats nagten, konnten durch alle bisher versuchte Palliative und empirische Kuren nicht lan­ ger weder verborgen noch aufgehalten werden. Das leichtsinnigste aller Völker in der Welt fuhr endlich aus seinem langen Taumel auf, und wurde durch die Maßregeln selbst, die der gefürchteten Katastrofe vorbeugen sollten, in die Revoluzion, die endlich im Sommer de- Jahres 1789 wie ein schnell um sich freffendes Feuer ausbrach, mit Gewalt hinein gesto­ ßen. Die nothwendigen und zufälligen Folgen der allgemeinen Umwälzung der Dinge verschlangen allegeringere Interesse: und so war nichts natürlicher, als daß in den ersten fünf Jahren der Revoluzion von der Aeronautik im Publikum eben so wenig mehr die Rede war, als von der Kunst aufdem Was­ ser zu gehen, wovon einige Jahre zuvor ein ge­ wisser Flammander, Namens van Rudder, vor den Augen von ganz Paris, gegen Billets zu drei Livres und zu einem Livre zehn Sous, die Probe zu machen versprach, und sie auch am 4ten December 1785, wiewohl auf eine so mühsame und plumpe Art, bewerkstelligte, daß niemand Lust hatte, eine Wiederholung dieses Kunststücks 4» sehen.

Die Aeronauten.

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Wiewohl nun über jenen groken Vazional * An­ gelegenheiten die Luftschifferkunst in gänzliche Ver­ gessenheit gerathen war, so scheint sie doch selbst in dieser stürmischen Zeit noch immer einen oder meh­ rere geschickte Manner in der Sülle beschäftigt zu haben, und auf einen höhern Grad'von Brauchbar­ keit gebracht worden zu seyn: als Europa auf ein­ mal durch den nützlichen und in mehr als Einem Fall entscheidenden Gebrauch überrascht wurde, den die Vorsteher der neuen Französischen Republik in den Feldzügen der Jahre 1794/ 95 und 96 von der arostatischen Maschine zu machen die Klugheit hat­ ten. »Die Französische Republik (sagt Herr Doktor Poffelt im 8ten Stück seiner P0 liti schen Anna­ len vom Jahrgange 1796) hat jetzt eine zwei­ fache Marine: eine, die gewöhnliche für daS Meer, die andere, bisher von ihr allein genützte, für die L u ft. Jeder Armee folgen zwei Luftschiffe, (deren Bestimmung ist, die Lage und Bewegungen der Feinde von oben herab auszukundschasten.) Die bei der Sambre-und Maasarmee sind, le Celeste, und l'Entreprenant, mit welchem der Divisions­ general Morlot und der Generaladjutand Etien­ ne in der Schlacht bei Fleurus in die Höhe ge­ stiegen. Die bei der Rhein - und Moselarmee sind der Herkules, ein ganz kugelförmiger Aerostat von 30 Schuh im Durchmeffer, der größte unter den

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Die Aeronauten.

v erten, der in dem Feldzüge von 1796 zum ersten Male gebraucht wurde, und der Jntrepide, der schon bei Mannheim gedient hatte. Iu jedem dieser Luftschiffe gehört eine Anzahl so genannter Aerostier-, die unter den Befehlen eines Ofstciers auf der Erde die Signale aufnehmen und be­ folgen, welche der in die Höhe gegangene Officier mittelst der verschiedenen Flaggen giebt, die er in der Gondel, worin er und gewöhnlich noch ein In­ genieur - Officier fitzt, aufsteckt. Beide Officier-, der in der Luft, und der, welcher dem Manövre auf der Erde vorsteht, haben ein übereinstimmen­ des S i g n a l b u ch bet fich, worin die verschie­ denen Flaggen mit ihren Bedeutungen bemerkt find. Um aber zu verhindern, daß der Feind diese aronautische Chiffre nicht so leicht errathen kön­ ne, wird fie öfters abg ändert. Die größte Höhe, zu welcher ein solcher Luftball fich erhebt, ist zu 400 bis 500 Klaftern, die zum Beobachten bequem­ ste aber zu 130 bis 150. Die Vorzüge dieser republika­ nischen Luftballe liegen theils in einem eigens dazu erfundenen Seidenstoffe zum Ueberzug, welcher Leich­ tigkeit und Fettigkeit im höchsten Grade in fich ver­ einiget, theils in dem Geheimniß einer Füllung, die eben so wohlfeil als lange dauernd ist. Nach der Derficherung des Hauptmanns Delaunoy, der den Herkules kommandirt, würde es, um diesen

Dir Aeronauten.

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BE nach Blanchards Art (mit brennbarer Lust) zu füllen, mehrere hundert tausend Livres in barem Gelde gekostet haben, da er (Delaunoy) hingegen nicht mehr als sieben lausend Livres in Mandaten dazu erhielt, die er nicht einmal ganz aufzuwenden brauchte. Ueberdieß hat diese Art von Füllung noch den Vorzug, daß sie sich meh­ rere Monate lang in dem Ballon erhält, ohne sich aufzuzehren oder dem Ueberzug Schaden zu thun. “ Ob man (wie der angeführte Annalist hinzu fetzt) in Frankreich wirklich schon mit dem Ge­ danken von Luftschiffen umgehe, die nicht nur ein paar Manner, zu Beobachtungen, sondern eine weit stärkere Zahl, zu Unternehmungen, tragen, und dadurch die vorerwähnten Vorschläge des Herrn Carnus wenigstens bis auf einen ge­ wissen Punkt zur Ausführung bringen sollen? was der Erfolg davon seyn werde? und ob die mit so vielem Geräusch angekündigte Landung in Irland oder Großbriranien, welche der gegen En­ de des vorigen Jahre- in dieser Absicht von Brest ausgelaufenen Seeflotte so übet mißlang, einer Luftflotte vielleicht besser gelingen dürfte? — wird die Zeit lehren. Gewiß ist, daß der ausschließ­ liche Besitze einer solchen Lu ft marine die Fran-

43o

Die Aeronauten.

zöflsche Republik bem ganzen Erdboden so gefährlich machen würde, daß dieser einzige Grund die sämmt­ lichen übrigen Mächte in die unumgängliche Noth­ wendigkeit setzen müßte, alle ihre Kräfte zu gänzli­ cher Zerstörung derselben zu vereinigen.

Anmerkungen.

D i e Pythago ri schen stauen»

2. S. 7. Pythagoras wurde, nach der wahr­ scheinlichsten Annahme, auf der Insel Samos geboren um die 4yste Olympiade (583 v. .Chr.), lehrte zu Kroton um die 6ofle Ol. (540 v. Chr.), und starb um die 6yste Ol. (um 506 v. Chr.). — Die berühm­ ten Gesetzgebungen des Zaleukuö von Lokri und des Charondas vonKatana fallen in die 2ysteOl. (664 v. Chr.>, und der weise König Ruma Pompilius, der Gesetzgeber Roms, fallt in die i6leOl. (715 I. V. Chr.), in das 39fre Jahr nach Erbauung Roms. — Cicero's Bemerkung s. Tu*c. Qu. 4, ».

3. S. 7. Kroton, oder Kroto, (jetzt Ko leo­ ne, eine kleine Stadt in Kalabria Ultra) war damals Wielands *2L. 43.

28

434

Anmerkungen.

eine der größten, schönsten und volkreichsten Städte in ganz Italien. Vorzüglich rühmte man die Ge­ sundheit ihrer Lage und Lust (die zu dem Sprich­ wort, Gesunder als Kroton, Anlaß gab) und die Vorzüge ihrer Einwohner an körperlicher Stärke und Geschicklichkeit in den gymnastischen Uebungen. Wenig Städte konnten eine so große Menge Sieger in den öffentlichen Kampfspielen zu Olympia u. s. w. aufweisen; und man pflegte daher zu sagen, (dvch vermuthlich nur zu Kroton selbst) der letzte unter den Krotonern ist noch immer der erste unter den übrigen Griechen. W. S. 7. Justinus — Im vierten Kapitel dezwanzigsten Buchs seiner Auszüge aus einem großen historischen Werke des Trogus Pompejus, der zu Ca­ sar Augustus Zeiten lebte. Porfyrius in seinem Roman v 0 n P yt h ag 0 k a s "beruft sich, dieser fast unglaublichen Sittenverbefferung derKrotoner wegen, auf das Zeugniß des Dikäarchus von Messina, eines berühmten Schriftstellers aus der Aristotelischen Schule, welchen Cicero seinen Lieblingsautor (Delicias suas) nennt. A). 4.

S. 9. Herolden — Heldinnen, wurden die Schülerinnen des Pythagoras genannt.

Anmerkungen.

435

ir. Eine Bohne auch nuranjurühren — Vergl. Bd. 12. S. 348. Der wahre Grund dieses Verbots des Pythagoras lag wohl in der ein­ geführten Aegyptischen Diätetik dieses, einem Aegyptischen Hierofanten, so ähnlichen Filosofen. Die Schüler könnten, nach Art der Schüler, die Sache wohl übertrieben haben. S. i5. Hermesianax — Der Elegiendichter, aus Kolophon gebürtig, lebte um die Zeit Philipps von Mazedonien und Alexanders des Großen. Das Lier erwähnte Bruchstück, welches Athenäus im izteu Buch seines Philosophen - Gastmals aufbcwahrt hat, ist kritisch bearbeitet und ausführlich erläutert von Ilgen, s. dessen Opuscüla varia plrilologica Bd. i. S. 247 — 33i. Die Stelle, worauf sich Wieland beruft, ist Vers 85: Gleicher Wahnsinn ergriff den Samier auch um Theano, Pythagoras.

6. Die Briefe dieser Pythagorischen Frauen in der Urschrift findet man bei Gale: Opuscula mythologica, physica et ethica S. 740. fgg. — Besonders erschienen sie von 5?ein. Adolf. Grimm: die Briefe und Sittensprüche der Theano, griechisch mit Wielands Übersetzung, Duisb. u. Leipz, 1791.

436

Anmerkungen.

S. 2i. Alaunwasser für Zeuge u. s. w. — Die Schicklichkeit dieses Gleichnißbildes im Munde der Theano fallt desto mehr in die Augen, wenn man weiß, daß das Farben bei den Griechen unter die weiblichen häuslichen Geschäfte gehörte. W.

S. 2i. Hetäre — Ich bin genöthiget, diesegewisser Maßen unübersetzbaren Wortes wegen, mich auf meine erste Anmerkung zu den Hetarengesprächen im dritten Theile Lucians zu beziehen. Zwar .hatte ich hier statt Hetäre das Wort Mä­ tresse gebrauchen können: aber ist das eine nicht eben sowenig Deutsch als das andres Die Hetären sind eigentlich so gut aufGriechischem Boden gewach­ sen wie die F'lisofen: warum soll man also jenen ihren ursprünglichen und eigenen Namen nicht eben so wohl lassen als diesen? W: S. 22. Das Feuer, das man ruhig bren­ nen lasse, erlösche von sich selbst — Die Griechen in den Asiatischen Städten waren von die­ sem Axiom so überzeugt, daß sie gar keine Feueran­ stalten hatten, sondern ganz gelassen zusaben, wenn ihre Häuser und ihre vornehmsten Gebäude gelegent­ lich abbrannten. Roche,rclies Phil, sur les Orees,

Part. III. p. 58-

W.

S. 2Z. Dein Leben ledig zuz »bringen — Es ist nicht zu läugnen, daß der Gedanke, ohne Mann zu leben, für Griechische Frauen etwas

Anmerku ngen.

erschreckliches war. ihre Wertung thun.

Diese Vorstellung W.

437 also

mußte

S. 26. Die Verbrechen einer Medea — Diese Beziehung auf die Medea der Tragödie würde mir dre Aechtbeit dieses schönen und einer Theano so würdigen Briefes verdächtig gemacht haben, wenn ick mich nicht erinnert hatte, daß Aeschvlus, ein Zeitgenosse des Pythagoras, eine Medea geschrieben haben sott; nichts von Thespis und Frynichus zu sagen, die schon eine geraume Zeit vor Aeschylus den Stoff zu ihren monologischen Dramen aus der alten Heldengeschichte nahmen. W.

7S.30. Briefe der Theano------ aus einer weit größern Anzahl — So beruft sich z. B. Pollux eines Wortes wegen auf einen Brief der Theano an Timarete, dcr nicht mehr vorhanden ist. W. S. 30. Von deren Aechtheit ich ü ber­ zeugt bin — Der gelehrte Lukas Holsten ins hat aus einer Handschrift der Vatikanischen Biblioth.'k vier andere kleine Brrefe, oder Fragmente von Briefen bekannt gemacht, die den Namen der wei­ sesten Theano an der Stirne führen, aber von den achten auf den ersten Blick so leicht als Kupfer vwi Gold zu unterscheiden sind. W.

438

A n ra e r k u « s e n.

S. zr. Ungenarrnte Biografie des Py­ thagoras — Die wir bloß aus den Auszügen kennen, die sich davon in der Bibliothek des Fotiuö No. 260. befinden. W. S. 3i. Mit dem Homerischen Verse — Ilias I, 31. Agamemnon sagt dem alten Priester Chryses, daß dieß zu Argos daS Loos seiner Tochter seyn sollte: Theano wandte den Vers, durch blo­ ßes Weglassen zweier n auf fich selbst an. W. S. 32. Thesmoforien — Ein mit vorzügli­ cher Feierlichkeit von den Athenern gefeiertes, zur Er­ innerung an die Wohlthat der Gesetze sinnvoll ange­ ordnetes Fest. Es war der Demeter oder CereS gewecht, denn mit dem Ackerbau begann Gesetz und Recht. Demeter selbst hieß darum Thesmoforos, die Gesetzgeberin, und dieses ihr geweihte Fest'be­ deutet ein Fest der Gesetzgebung. Weil auf jene Ge­ setzgebung, die zu nächst auf die Einführung des Ackerbaus sich gründete, alle eigentliche Civilisazion folgte, zu dieser aber im Ehestand, häuslichem Leben und in den Familienbanden der Grund gelegt wird, so wurde die Feier dieses Festes von Frauen begangen. Vermahlte, tadellose Frauen trugen am Tage deS Schaugepranges im feierlichen Umgänge Gesetztafeln guf dem Haupte, die heiligen Ueberlieferungen des Stifters dieses Festes. Als Sinnbild der innereu un­ befleckten Reinheit trugen die Krauen weiße Gewändes

Anmerkungen.

439

und waren die 5 Tage über, welche das Fest dauerte, zu strenger Keuschheit verpflichtet. S. 33. Von einem Moralisten —Prin­ zessin — Plutarch, Klemens von Alexandrien, TheodoretuS, und Anna Komnena. W.

8S. 38« Johannes von Stobä, lebte in der andern Hälfte des vierten Jahrhunderts nach Christus. S. 4r. Durchsichtige------- Kleider — Dergleichen Zeuge wurden vorzüglich zu Tarent fabrizirt. Anfangs wurden sie wohl nur von Hetären getragen; aber nach und nach gefielen sich auch die ehrlichen Frauen darin, und zuletzt war (wie auch heut zu Tage in großen Städten) zwischen einer ehr­ lichen Frau und einer Hetäre kein äußerliches Un­ terscheidungszeichen mehr—bei vielen auch kein innere liches. W.

Ehrenrettung der Aspasia. S. 49. In diesen lustigen Ebenen u. s. w. — TristramShandy, im letzten Buche des siebenten und im ersten des achtew Theils. W.

440

Anmerkungen.

S. Zo. Isabelle von Baiern — Gemalin des unglücklichen Königs Karls des Sechsten von Frankreich. W. S. 53. Belohnung, welche die Liebes­ göttin u. s. w. — In dem entlaufenen Amor, des Moschus sechstem Idyll, ruft Venus: Wenn dem Wandrer vielleicht auf den Straßen Amor begegnet: Mein ist der Flüchtling. Es harrt des Glückli­ chen , der rhn erspähet, Süße Belohnung, ein Kuß von Cytheren, und bringt er ihn wieder, Dann kein nichtiger Kuß. M a n s o.

S. 54. D e r R e d n e r H y p e r i d e S — Euthias, ein Athenischer Redner, hatte sich um die Gunst der Fryne beworben, glaubte sich von ihr beleidigt, und klagte sie vor dem Gericht der Heliaa der Gottlosig­ keit oder des Atheismus an. Hyperides übernahm ihre Vertheidigung. Er gestand in seiner Rede, daß er die Fryne geliebt habe und ihre Fesseln noch jetzt trage. Als er aber bemerkte, daß seine Beredsamkeit ohne Erfolg blieb und das Urtheil der Richter sich -egen die Beklagte neigte, ergrrff er sie bei der Hand, zerriß ihren Schleier und enthüllte ihren reitzenden Busen. Dieser Kunstgriff vertrat die Stelle des Epi­ logs. Die Richter vergaßen daS Gesetz derUnbestech-

Anmerkungen.

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lichkeit; eine religiöse Furcht ergriff ihre Herzen, und sie scheuten sich, die Priesterin Afrodüens und die Dertündiqenn ihrer Macht unter den Menschen zu todten. Sie ward freigesprochen, und Euthias, voll Verdruß über seine fehtgeschlagene Rache, ent­ sagte von diesem Augenbück an den Gerichtshö­ fen. Die Athener fühlten, daß diese Art das Recht zu handhaben, den Vorschriften der Vernunft nicht sonderlich gemäß fei?, und es ward ein Gesetz ge­ geben, daß künftig kein Redner das Mitlerden der Richter zu erregen suchen, und kein Beklagter vor den Augen des stimmenden Tribunals erscheinen sollte. (Fr. Jacobs Beitr. z. Gefch. d. weibl. Geschlechts im Attischen Museum Bd. z. S.i-. fgg.) ©. 60. Konnus in der Musik — Die Mu­ sik war gerade das, worin Sokrates am wenigsten gethan hatte, und dieß macht hier eben die Ironie auffallender. W. S. 61. D i e vorgebliche Rede der Aspasia — Düse Rede ist, wenige Züge ausgenommen, gänzlich von derjenigen verschieden, die vorn Perikles wirklich gehalten, und vom Toucydides dem zweiten Buche seiner Geschichte des Pcloponnesischen Krieges einverleibt worden ist, und dre den Athenern so wohl gefiel, daß sie alle Jahre an dem Gedachtnihtage der in besagtem Kriege umgekommenen Bürger öffentlich recitirt wurde. W.

44*

Anmerkunge tb

S. 66. Ein PerikleS sollte, in einem schon ziemlich vorgerückten Altern, s. w. -Dieses Beweises bedient sich Wieland doch wohl nur — als Advokat, denn ein solches Ereigniß gehört eben nicht zu den unglaublichen Dingen, die es schwer fällt, sich als möglich vorzustellen, zumal wenn Perikles wirklich der Mann war, wie ihn Jacobs schildert, dessen Schwachheit gegen das weibliche Ge­ schlecht in Verbindung mit seinem brennenden Ehrgeitze eine merkwürdige Erscheinung war. S. 68. So konnte Aristofane.s seinen D i k a o p o l i s u. s, w. — Aristofanes in den A ch a rnern, Akt. 2. Scene Z. W. S. 75. Minerva ihren weißen Stein —• Wenn eine vor dem Areopagus angeklagte Per­ son eben so viel weiße als schwarze Steine bekam, so wurde sie los gesprochen, weil, wo die Wage der Gerechtigkeit in völligem Gleichgewicht steht, die Billigkeit sich auf die Seite der Humanität neigt. Damit aber doch dem Gesetze, Kraft dessen die mehrern Stimmen entscheiden, kein Abbruch geschehe, so wurde, wenn dieser Fall eintrat, im Namen der Minerva, ein weißer Stein hinzuqelegt, und da­ durch die Majorität zu Gunsten des Beklagten herge­ stellt. W.

Anmerkungen.

443

Julia.

S. 76. B0cacci0 in einem Buche — vo claris muüeribus (von berühmten Frauen) betitelt. Cs fangt mit unsrer allgemeinen Mutter Eva an, und hört mit der Königin Johanna der Zweiten von Neapel auf. W. S. 77. DonGeschicht- und Romanschreib er n — Ich stelle unter diesen den Herrn von Serviez mit seiner Histoire des Imperatrices Romaines und den Verfasser der Memoires de la Cour d’Auguste billig oben an, da sie — um hier nur bei dem Artikel Julie stehen zu bleiben —- in ihrer Er­ zählung der kritisch-historischen Wahrheit nichts we­ niger als treu geblieben sind. W. S. 8r. Mit den unbesonnenen Lebhaf­ tigkeiten ihres Alters u. s. w. — Was ich hier sage, vergiftet der Verfasser der Memoires de la Cour d1 Auguste folgender Maßen: Agrippa ne tarda pas a s'appercevoir de ces dereglemens secrets, (dachte man nicht, dieser Autor wäre sein und ihr Vertrauter gewesen?) u «inia mieuxsouifrir en silence, que de publier sou infamie par un coup d'eclat, qui ne V eut peutetre pas corrigee. Man vergesse aber nicht, daß dieß alles bloße Dermu-

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Anmerkungen.

thungen des Herrn Blackmore sind. Meines Wissens ist es nur dann erlaubt, das schlimmste von einer Person zu vermuthen, wenn es, unter den gegebenen Umstanden, absurd wäre etwas anders als mög lich anzunehmen; und dieß ist hier schwer­ lich der Fall. W. S. LL. Julia, sagt Makrobiuö — Ma­ kro b. Saturnal. Gespräche, Bd. 2. Kap. 5. W.

(B. 83. Er betrachtete das, was an der Aufführung seiner Tochter u. s. w. — M akrob. am anqef. Orte. »August pflegte zu sagen: er habe zwei Töchter, die mit vieler Schonung behan­ delt seyn wollten, die Republik und seine Julia." W.

S. 86. Julia erschien in einem etwa­ freien Anzuge — Makrobius, aus welchem diese Anektode genommen ist, bedient sich in seiner Sprache des Ausdrucks: licentiorc h a b 11 n , den ich wörtlich übersetzt habe. Der Verfasser ber Memoiree de la Cour d'Auguste t der sich gegen Julien alles für erlaubt halt, übersetzt diese Worte: vetue d'une robe d’etölFe des Indes si transparente, qu' Auguste en fut choque. Wer wird glauben, daß Julia in einem durchsichtigen Ostindischen Habit vor ihrem Vater erschienen sey? Fünfzig Jahre spater wirft zwar Seneka eine so ausschweifende Unverschämtheit den Römischen Damen vor: aber zn Augusts Zeiten

Anmerkungen.

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waren die Gitten noch anständiger. Doch dieser romanhafte Geschichtschreiber, der aus der armen Iulra einen »Schandfleck ihres Geschlechtes" machen wollte, konnte ja wohl nicht weniger thun als fle im Kostüm einer — ihrem Vater unter die Augen treten zu lasten! — wie viel kommt doch in allen Dingen auf ein Bißchen mehr oder weni­ ger an! Man kann es nicht zu oft erinnern. W. S. yi. Auf eine Stelle im Sueten — Diese Stelle un Leben des Tiberius K. 7. man im Zusammenhänge lesen. Es heißt: Tiberius ver­ mählte sich mit Agrippina. — Diese hatte ihm einen Sohn geboren, und war eben wieder schwanger, als er von ihr, mit der er doch in völliger Einigkeit lebte, sich zu trennen, und sogleich mit Julia, des Augustus Tochter, zu vermählen gezwungen wurde; was nicht ohne großen Kummer seines Herzens ge­ schah, da ihn Agrippina eben so anzog, als der Ju­ lia Betragen abstieß, denn er hatte wohl gemerkt, daß fle seiner noch beim Leben des vorigen Gemals begehrt habe, was denn auch die allgemeine Mei­ nung war. Aber auch nach der Scheidung blreb in Tiberius der Schmerz, sich von Agripprnen getrennt zu haben, und da sie ihm einmal zufällig zu Gesicht kam, verfolgte er sie mit so unverwandten und thranenvollem Blicke, daß man alle Vorkehrungen traf, damit fle ihm niemals wieder zu Gesicht kommen möchte. Mit Julien lebte er anfangs Ein Herz und

446

Anmerkungen.

Eine Seele (concorditeO in gegenseitiger Liebe r bald aber entstand Uneinigkeit, und die ward immer größer, so daß er auch, nachdem der Sohn, das Pfand ihrer gegenseitigen Liebe, zu Agvikeja als Kind war umgebracht worden, für immer von ihr schied.— Man urtheile nun selbst, ob Wieland Recht hatte, diese Stelle eine nichts beweisende zu nennen.

S. io2. Solche Abscheu lichkeiten, wie ihr von ihren: Vater Schuld gegeben wurden — Sie sind so, daß sie sich nur aufLateinisch sagen lasten: >, Admissos gregatim adul­ ter os, pererratain nocrurnis commessatiohibus civitatem , forum ipsum ac rostig in stupra pla* cuisse , quotidianum ad Ma r s y am concursum, cum ex adulteris in quacstuariam versa, jus oninis licentiae s u b ignoto adultero pe•teret, Seneca de Benesic. VI. Z2. W.

S. 106. Einen Theil davon auf die er» habene Livia zu walzen — Man vergleiche hiezu von Wielands Göttergesprachen das zweite. S. 107. Die Korinna des OvidiuS ge­ wesen wäre — Unter den vielen Muthmaßungen über die Gründe, aus denen August diesen Dichter des Landes verwies, findet sich allerdings auch diese. Da aber Ovidius selbst andeutet, sein Verderben sey, daß er Augen gehabt habe (anderwärtsspricht er freilich von Gedichten, Irrthum und

Anmerkungen.

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Schuld); so hat man nicht ermangelt, auch hiebei ein Verbrechen der armen Julia zu argwöhnen. Orid soll nämlich nichts Geringeres gesehen haben, als daß Julia ihren Vater zur Blutschande verführt habe!!

F a u st L n a. S. ho. Ein bloßes: es ging dieRede — Sermo < rat sagt Kapitolinus im Leben des Kai­ sers Luc. Verus, Kap. io. W. S. 112, In seinem berühmten Denk­ buche — Marc. Aurel. L. zu Ende. W. S. 114. Die Ehrenbezeugungen, die ihr der Röm. Senat — Dion Kassius, B. II. Kap. 31. W.

Auf die Danksagung einer Dame für diese Recht­ fertigung, schrieb Wieland im Marz 1790 Folgendes: «Was meine Rechtfertigung der jungem Faustina betrifft, so erwartete ich nichts andres, als daß alle Damen, die ihre eigne Unschuld und Gutherzigkeit geneigt macht auch von andern das Beste zu denken,

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Anmerkungen.

entweder bereits auf meiner Seite seyn, oder durch meinen Aufsatz gewonnen werden würden. Noch mehr, es ist kein Gerichtshof in der Welt, vor wel­ chem Fausiina (zumal wenn sie jeden Richter mit ihrör Büste bestäche) ihren Prozeß nicht einhellig gewinnen müßte, wofern ihr Ankläger oder ber Advocatus Diaboli kerne andern und bündigern Beweis se, als die bisher bekannten, berzubringen hatte. »Aber mit allem dem istFaustinensUnschuld noch nicht so ganz ausgemacht als es meine Korre­ spondentin zu glauben scheint; und eine gewisse schalkhafte Zweifelsucht — von einem gewiffen Un­ glauben an dw Weisheit sehr reitzender Dan,en, zumal wenn diese Damen Kaiserinnen sind, unter­ stützt—hat noch immer Spielraum genug, die Gründe ihres Sachwalters durch mehr oder weniger schein­ bare Einwendungen zu entkräften: so lange nicht auf eine begreifliche Art gezeigt wird, wie und woher die häßliche Nachrede, welche Kapitolinus (alS Et­ was, das ziemlich laut gesagt.wurde) auf die Nachwelt gebracht hat, habe entstehen und haften können, wenn Fausiina so ganz unschuldig war, als wir es, aus Achtung für ihr Geschlecht, aus Respeckt vor dem weisesten aller Kaiser, und — aus Liebe zu ihrerBüste, gern glauben möchten. Irgend eine Veranlassung muß sie immer dazu gegeben haben, wofern es sich auch nur als mögltch denken lasten soll, daß selbst der Dämon derVerläumdung von der

Anmerkungen.

44;

Tochter des so allgemein geliebten Antoninus Pius, derGemalin des so allgemein verehrten M a rkus Aurelius, eine solche Abscheulichkeit habe ausbrüten dürfen oder ihr einigen Glauben verschaffen können. »Eine Dame hat nicht nur eine leichtere Hand, um Fragen von solcher Zartheit aufzulosen, als wir Manner, sondern ist auch vielleicht, da es eine Sache ihres Geschlechts betrifft, geschickter, uns Aufschlüsse über Probleme dieser Art zu geben. Darf ich es also ohne Unbescheidenheit wagen, die li e b e n s w ü r d ige Frau (g"wiß verdient sie dieses Beiwort, da sie so viel Antheil an der schönen Faustina nimmt) auf* zufordern, uns ihre Gedanken über diesen Punkt mitzutheilen, der, meines BedünkenS, nicht unbe­ rührt bleiben darf, wenn das Publikum den Prozeß der angeklagten Kaiserin für geendigk, und ihre Un­ schuld für entschieden halten soll? * Die liebenswürdige Unbekannte schwieg indeß zu dieser Aufforderung; Wieland setlst aber sonnte dem Reitze nicht widerstehen, das Problem zu lösen. Wie er es gelößt hat, das sehe man in seinem zweiten Göttergesprach nach (Bd. 27. C, 216. fgg.), und vergleiche mit diesem das neunte Buch seines Peregrinus Proteus (Bd. 34.)

Wielands W. 43. Dd.

450

Anmerkungen.

Nikolas

§ lamel.

S» 119. Nikolas Flamel ist wahrscheinlich um das Jahr 134° L» Pontoise geboren. Die erste Halste seines Lebens ist sehr unbekannt. Man ver­ gleiche mit diesem Aufsatz einen andern über ihn: Nikolas F l a m e l, kein Goldmacher in (Adelungs) Geschichte der menschlichen Narrheit B. 3. S. 242. Am Ende dieses Aufsatzes findet sich auch ein Verzeichnis der dem Flamet zugeschriebenen Schriften, die auch in Deutschland mehr als einmal zusammengedruckt erschienen sind.

S. i2i. Schreiber zu Paris — Dreß war vor Erfindung der Buchdruckerkunst ein eben so wich­ tiges als einträgliches Gewerbe. Die Sicherung und Verbreitung nicht nur aller bürgerlichen GerichtSund Staats-Documente, sondern auch aller Litera­ tur beruhte auf ihnen. Aum Abschreibcn der Bücher hatte der, welcher Bürger und Meister war, Gehül­ fen sitzen, und gab übrigens in seiner Kunst auch Unterricht, der sehr gut bezahlt wurde. Flamet war zuletzt geschworner Abschreiber der Universität zu Paris. S. 121. Alle Bücher der Filosofen------verstehen gelernt — Unter seinen vermeinten

Anmerkungerr.

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Schriften sindet sich auch ein Sommaire plnlosophiqurr m Versen, sonst bekannt unter dem Namen des Roman de Flamel. Das große Geheimniß, welches

darin enthüllt wird, betrifft den Stein der Weisen, d.i.die Goldmacher- und Lebensverlangerungs-Kunst.

S. 133. Karneades — berühmter Filosof der jüngern Platonischen Schule (Akademiker), die sich von den Skeptikern kaum unterscheiden läßt. Des Karneades Hauptsatz war r es gebe zwar Wahrheit, allein es fehle uns an einem sichern Kriterium, um sie von dem Falschen zu unterscheiden. Weil unS im Leben aber doch emr solche Unterscheidung nöthig sen, so ließ er durch Wahrscheinlichkeit den Aus­ schlag geben, von welcher er mehrere Grade aufstellte. S. 136. Die sicherste und dem Geiste seiner Zeit angemessenste Antwort — Einer Zeit nämlich, da die ganze Welt an Alchnnna glaubte, und für alle vermeinte Adepten, rncht nur als besondere Günstlinge des Himmels, sondern hauptsächlich wegen ihrer vorgeblichen Machtgewait über Körper und Geister, große Ehrfurcht trug.

W. S.rZ8. Gabriel Naude — »Naud 6 (sagt Herr G —e in einer Note) der es eher für möglich halt, daß Flamel ein Schurke als ein Goldmacher gewesen sey, behauptet: er sey durch Beraubung der Juden, die um diese Zeit aus Frankreich verjagt

452

Anmerkungen.

wurden, reich geworden, indem er Schuldverschrei, bunden von ihnen angenommen, aber die Gelder, anstatt ste für ihre Rechnung einzuziehen, für sich selbst behalten habe. Aber der bekannte kritische Geschichtschreiber Lenglet du Fresnoy beweißt in

feiner Histon e de la Philosophie Herrn etique. Vol. 1. p. 217, daß Naud 6 sich geirrt habe. Die Juden, sagt er, wurden im Jahre ngi durch König F ilipp August aus Frankreich vertrieben, also zwei hundert Jahre ehe Flamel geboren war. Zum zwei­ ten Male wurden sie verjagt im Jahre i;o6. Das Archiv der Kirche de St. Jaques de Li bouche)ie be­ weißt aber, daß Flamel diese Kirche lange vor besag­ ter Zeit habe erbauen lassen. Er kann also seine Reichthümer unmöglich durch Beraubung der Juden ersten haben, indem er bei der eisten Verjagung derselben noch nicht lebte, und lange vor der zwei­ ten seine großen Schatze schon besaß Uebrigens, sagt dieser große Kritiker, ist Flamels eigene Erzäh­ lung so naiv, einfach und umständlich, daß man beinahe nicht an der Wahrheit derselben zwei­ feln sann.® W. S. 139. Juden — getödtet — Siehe Meu­ sels Geschichte von Frankreich, Zweiter Theil, S. 459- und die daselbst angezogenen Ge­ währsmänner. W. G. 143. Papst Johann XXII. — .Papst Johann der Iweiundzwanzigste (sagen die Alchy-

Anmerkungen.

453

misten) brachte es unter der Führung des großen Adepten Arnold von Villanova so weit in der Kunst, daß er bei seinem im Jahre 1334 erfolgten Tode bereits zwei hundert Zentner Goldes mit eignen Handen gemacht hatte: ja er hielt es sogar für Pflicht eines wahren allgemeinen Vaters der chnstlichen Welt, ein so wohlthätiges Geheimniß nicht mit sich rns Grab zu nehmen , sondern es, der ganzen werthen Christenheit zum Besten, in einem Latemischon Traktat, de arte transniutaiidi metalla , von der Kunst die Äetalle zu verwandeln) öffentlich be­ kannt zu machen." - Daher kam es vermuthlich, daß Gold und Silber in diesen glücklichen Tagen so ge­ mein wurden, trü die Gastenstem?; daß die Schatz­ kammern der Könige und Fürsten darvn voll waren; daß man in der ganzen Christenheit nicht mehr nöthig hatte Steuern und Gaben von den Unterthanen zu verlangen; kurz, daß die von Luctan gepriesenen Saturnischen Zeiten sich überall wieder ein­ stellten, wie die Geschichtschreiber des vierzehnten und fünfzehnten Jahrhunderts auf allen Blattern be­ urkunden ! — Ohne Ironie zu reden, Johann der Zwei und zwanzigste verstand sich allerdings aufs Gold­ machen so gut und besser als irgend einer seiner Dorund Nachfahrcr. Besonders trug ihm seine Sün­ dentaxe große Summ-n ein; vielleicht eine nicht geringere als lhn die paupeies Alchymistae aus dem Schmelztiegel ziehen lasten. Und, wenn es wahr ist,

454

Anmerkungen.

daß er achtzehn Millionen Goldgulden bares Geld Hinterlassen, wie Diltani als Augenzeuge versichert: so hatte Se. Heiligkeit einen schönen Traktat, „ton der Kunst die Sünden und Thorheiten der Wett fn Gold zu verwandeln," schreiben können. W.

S. 143* Spondent quas non etc.— Reich­ thümer, die sie nicht liefern, versprechen die armen Alchymisten. S. 143. Fluch des Ernulfus — bekannt aus Tristram Shandy.

S. 144. Als eineberühmten Poeten — Die Lexikografen, die ihn mit diesem Namen beehren, gründen vermuthlich sein Recht an denselben darauf, daß das unverständliche alchymistische Traktatlein, Sommaire philosophique genannt, (welches unter Flamets Namen geht) in elenden Reimen ge­ schrieben ist. W. S. 155. In der Absicht immer vollkommner zu werden — Die Absicht laßt sich hören: aber das Mittel dazu möchte nicht das sicherste seyn. W.

S. 159. Der Derwisch-------hielt anfeinmal wieder an sich — Warum das? Vermuth­ lich weil er nicht zu viel Licht auf einmal in Lukasiens Verstand fallen lassen wollte. Es war schon genug, daß er sich ihm'als einen Wundermann, als einen wahren Weisen und Adepten gezeigt hatte:

Anmerkungen.

455

alle- übrige mußte noch unter einem geheimnißvollen Schleier verborgen gehalten werden; denn es gehö­ ren ja Vorbereitungen, vermuthlich auch Prü­ fungen dazu, bis Paul Lukas zum Anschauen deö vollen Lichtes zugelassen werden konnte. W. S. 160. Zu Flamels Zeit — in seinen jüngern Jahren — d. i. in den ersten Jahr­ hunderten seines Lebens. W. @5» 160. Brachte ihn dahin, daß er sich von uns trennte — Unser Usbeckrscher Derwisch war also auch dabei? Wie sorgfältig er ist, das, was er nicht geradezu heraus sagen will, doch so handgreiflich zu verstehen zu geben, daß man ihm eine deutlichere Erklärung gern erläßt! W. S. 160. Wir thaten unser Möglichstes, ihn abzuhalt?n — Auch dieß ist nicht ohne Ab­ ficht. Da diese Reise (wie die Folge ausweist) übet für den Jüdischen Adepten ablief, so giebt das so ernstliche Abrathen seiner Ordensbrüder zu erken­ nen, daß ein gewisser hoher Grad der Divinazionskraft mit zu den Vorrechten ihrer erha­ benen Gesellschaft gehörte. W. S. 166» König Geber — Dieser sogenannte König Geber (Dschafar), ein Araber, geb. 702, gest. 765, wird von den Alchymisten für den Erfinder der Universalmedizin ausgegeben. Boerhave versichert, in seinen Schriften vielmals, nachmals für neu aus-

456

Anmerkungen,

gegebene, Erfahrungen und Versuche gefunden zu

haben. S. 166. Morien, aus Rom gebürtig, ging nach Jerusalem und lebte dort als Einsiedler. SÖtan zahlt ihn unter tue besten Schriftsteller, die über die Verwandlung der Metalle geschrieben Haven.

S i66. Artefius — Es existirt ein gehei­ mes Buch von diesem Adepten, worin er sagt, er habe es in einem Alter von tausend Jahren ge­ schrieben. W.

S. 166. Raym u n d Lullus, geb. auf der Jn^ scl Majorka 1236 und gest. iziZ, erst Seneschall am Hofe zu Majorka, wo er ein ausschweifendes Leben führte, dann Franziskaner und Bekehrer der Mahumedaner, am meisten durch seine logische Topik be­ kannt, die nicht eben zu großer Aufhellung der Köpfe diente, strebte ebenfalls durch die Chemie nach dem Stein der Weisen. S. 166. Basilius Valentin (ein wahr­ scheinlich nur angenommener Name), ein deutscher Alchymist aus dem isten Jahrhundert, dem es er­ ging, wie manchs seiner Genossenschaft, daß er zwar das nicht, was er suchte, aber manches andere Schä­ tzens - und Dankenswenhe fand, wird hier vorzüg­ lich angeführt wegen seircs Traktats vom Stein der Weisen mit den zwölf Schlüsseln, von Ttzöldrr

Anmerkungen.

457

herausgegeben, EiSl. 1599, und eim-er ähnlicher Schriften. S. 168* Mo ro so sie — Narren * Weisheit.

Ueber Dow's Nachrichten.

S. i82. Alexander Dow, ein Schottländer, der eine Reihe von Jahren als Obristlieutenant in Diensten der Ostindischen Kompagnie gestanden hatte, fügte jedem Bande seiner History of Hindostan, translated from the Persian of Muh. Cus. Terishta, London 1763, eigne Abhandlungen bei. Diese erschie­ nen sowohl in Frankreich als in Deutschland abgeson­ dert übersetzt, und auf diese: Abhandlungen zur Er­ läuterung der Geschichte, Religion und Staatsverfassung von Hindostan Leipz. 1773, beziehen sich Wie­ lands Bemerkungen. Je mehr Dow fast auf allen Seiten mit Holwell u. A. im Widerspruch gerieth, desto begieriger mußte man auf die Entscheidung wer­ den, auf welcher Seite sich die reinere Wahrheit be­ finde. Dow ist fast allgemein für unkritisch aner­ kannt worden, und selbst Sonnerat, der von allen Büchern über Indische Mythologie das von Dow am meisten empfahl, fand hierin wenig Bestimmung. Die Fakirn, von denen er hier redet, sind eigent­ lich die Sanyassi, Brahmanen, die in den Stand

458

Anmerkungen.

der Einsiedler, und -war von der strengsten Obser­ vanz übergetreten sind, worin man dmch vielerlei, -um Theil höchst raffinirte, körperliche Selbstpeim'gungen auf die Vereinigung mit der Gottheit vorzu­ bereiten meint. Wie weit hierin die Schwärmerei gehen könne, lehrt uns ja auch unsre Religionsgeschichte.

Dow von der Religion der Draminen.

Als Wieland im I. 1775 diese Warnung schrieb, konnte er noch nicht ahnen, daß im darauf folgenden Iahrzehend durch eine zu Kalkutta gestiftete gelehrte Gesellschaft so viele Entdeckungen würden gemacht, und von Indischer Literatur so viel würde verbreitet werden, daß wir nicht nur ganz neue Ansichten, son­ dern daß auch die Resultate der angestellten Unter­ suchungen einen so außerordentlichen Einfluß auf die gesammte Literatur - und Kulturgeschichte erhalte» würden, als sie jetzt nach beinah einem halben Jahr­ hundert erhalten hat, und nach aller Wahrscheinlich­ keit immer mehr erhalten wird. Es konnte daher nicht ganz billig scheinen, Wielanden nach den gegen­ wärtigen Ansichten zu richten und zu verurthejlen. Gleichwohl ist dieß geschehen, und zwar von einem Manne, der mit durch seine Schrift eine reine Ach-

Anmerkungen.

459

tüng für sich eingeflößt hat, von Niklas Mülket in seinem Werke: Glauben, Wissen und Kunst der alten Hindus in ursprünglich^ Gestalt und im Ge­ wände der Symbolik (Bd. i. Mainz 1322.). Ich theile die Wieland betreffende Stelle (S. 57. fg ) mit, und werde sie mit einigen Anmerkungen begleiten, v Unser, mit rechtlicher Anerkennung seiner wissenschaftlichen vielseitigen Ausbildung und seines Dichtergeistes, hochgewürdigte Wieland hat an der, die moderne Geschmackslehre beleidigenden Indischen Symbolik, und an der feinen Grazien und Danaephryne-laidionschen genußreichen Freudengeistern an­ ekelnden, einen ernsten Büßergeist athmenden prakti­ schen Lebensweisheit der Jünger Brahma's einen lebendigen Abscheu emgesogen, (den, wie auch gesagt wird, Göthe mit ihm theilt).- In diesem Gefühle befeindet er auf seine satirische Weise — die er seinem Horaz und Luzian abgelernt hat — das Reli­ gionssystem, den Kultus des Brahmanismus und die Prahmanen selbst; ohne sich indessen über die Indi­ sche Literatur naher einzulassen, die ihm bisaufeinige fragmentarische Ucbersetzungsversuche fremde blieb. (Sehr natürlich l) Er geht, mit seiner Art, die Klin­ ge zu führen, gegen Alex. Dow's Nachrichten von "der Religion der Brahmanen los. Der gewandte griechisch-gallische Fechtmeister giebt Tauschungsstöße und sucht unverwehrte Stellen auf. Aber eine von ümerer Pietät vermiedene frivole Fitosofie hat nie

46o

Anmerkungen.

eindringliche Spitze und Schneide; und das Falls staffische ecce signum! kann kein Vertrauen erwecken. Was der gelehrte Man^ von der geheimen Theo­ logie der Priesterkaste spricht, das mögen ihm die sachkundigen Paolino Creuzer, Heeren und Andere ( — die aber alle erst iZ 30 Jahre später schrieben! —) widerlegen, indem in Hindostan nur das Lehramt Privilegium ist, die Lehre selbst aber auch der niedrigsten Kaste, als das heiligste Gemeingut, ertheilt wird, und zwar die reine Symbolik, wie sie aus der Dedalehre erkannt werden kann, wel­ che aber unser großer geistreicher Dichter und Gelehr­ ter „ einen metafysisch - allegorisch - fantastischen Plun­ der" zu nennen beliebt; indem es ihm gefallt (lreß: indem er nicht umhin konnte), an die einseitigen, von politischer Egoistentendenz diktirten Berichte der Ma­ labarischen Missionare — gegen Herders (spätere) Warnung — sich gläubig anzuschl-eßen; weil es ihm eine innere Behaglichkeit gewährt (?), den äußeren, zum Theil grobmaterial herabg-sunkenen Kultus der Ostindier einen höchst abgeschmack­ ten Götzendienst zu nennen. Was hie ur.fc da eine unrechtliche oder unbeholfene Duldung der Braymanen, aber tih Grunde nur ein Werk des zum Aber­ glauben hinneigenden Hindupöbels ist, das darf noch lange nicht mit den äußeren Kultformen vermengt werden, welche der spirituellen Spekulazion jener urmütterlichen Weltweisheit plastisch - analog und ver-

Anmerkungen.

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mmftgemaß konvenzionel!, seit Jahrhunderten, entsprecben. Freilich steht das hcchantike Hinduistrsche ®e(tanfd)auung6fvin— das sich im innigen Vereine mit frommem Glauben wohl befindet — in scharf kontrasurendem Gegensatze mit jener Aristipp - EpikurZeno'schen Weltweisheit, welche unser weiser Dichter in succuni et sanguinem ausgenommen hat. Mit demselben und mit noch größerem Rechte dürfte Herr Wieland das C-rrstenthum schmähen, wenn er sem Urtheil auf Schein und Außenseite gründet, weil auch hier der lichte, reine Geist im leidigen Ritual­ wesen bie und da obskurirt und trivialisirt wird. Mißdeutung einer guten Sache ist relativ, Cntadelung derselben ist positiv schädlich; und bei den Hin­ dus ist diese Mißdeutung nicht so allgemein als bei uns, weil unser Pricsterthum unter stärkeren Ver­ suchen gelitten hat, als das Brahmanische, welches Mindestens den Aberglauben nicht so meisterhaft als Milchkuh LU behandeln versteht. Will aber Wieland uvt den Französischen Zeloten, welche in ihren Iettres «difiantes — wie schon Jones und vor ihm ihr eigener Landsmann leGentil klar dargethan hat — ein Heer von Entstellungen und Unwahrheiten avfstelkn ; absichtlich die reineHöhe vermeiden und in dem Pöbelkehricht rühren, um Gestank zu machen; so mag in Hinsicht auf den von ihm so schnöde behan­ delten Dow sein eigenes Sprüchelchen auf ihn bezo­ gen werden: Er hangt dem Autor die Kratze

46*

Anmerkungen.

an, um sich an ihm reiben zu können. Das so fromme als sinnreiche bekannte Symbolbild, Brah­ ma auf dem LotuSblatte, stellt unser lieblicher Mährchendichter neben seine Mahrchen der Mut­ ter Gans. Dürfte er nicht, auf solcher Oberfläche Mit Witz spielend, mit gleichem Rechte das christliche Mystenbild der Dreifaltigkeit, oder jenes der unbe­ fleckten Cmpfangniß neben seinen Prinzen Biribinker setzen." Der Herausgeber gehört zu denen - die an allem, was von Indischer Literatur bekannt wird', ein sehr großes Interesse haben, und die recht viel davon er­ warten. Er theilt z. B. mit Herrn Müller die m feiner Vorrede S. XX. ausgesprochene Ueberzeugung, » daß die Geschichte der Philosophie durch die Beleuch­ tung des Brahmanismus eine merkwürdige Bereiche­ rung, und im Grunde die wesentlich wichtige Ein­ leitung in ihrem ganzen Besang erhalte," so ganz, daß er bereits feit zwölf Jahren, wie mancher auch den Kopf darüber schüttelte, dieser Geschichte in sei­ nen Vorträgen gerade diese Einleitung gegeben hat. Um so unverdächtiger, hofft er, werden seine Bemer­ kungen seyn. Ich fürchte sehr, daß der treffliche Müller gegen einen bloßen Schatten streitet; denn offenbar hat er den Gesichtspunkt Wielands gar nicht bemerkt. Weit entfernt, den uralten Brahmanismus anzutasten — dem er so viel Gerechtigkeit wiederfahren laßt, als

nach dem, was er damals davon wissen konnte, mög­ lich war — richtet er sein Augenmerk lediglich auf die Religion der Hindu, wie sie unter den Brah­ manen gegenwärtig beschaffen ist, und — Jahr­ tausende lang beschaffen war. Davon, sollte ich mei­ nen, wäre nun doch nicht sonderlich viel zu rühmen, und wenn Wieland sich dagegen erklärt, so ver­ dient er, gesetzt auch, er hätte geirrt, doch Achtung, denn er führte die Sache der Menschheit, und nicht mit solchen Waffen, wie Müller ihm vorwirft: denn ich sehe zwar wohl, daß er für die Sache der Mensch­ heit ziemlich warm wird, und in dieser Warme viel­ leicht auch hie und da ein Wert mehr und stärker sagt, als er bei kaltem Blute gesagt haben würde, allein ich sehe nichts von allem dem, was Hr. Müller bemerkt haben will. Ich kann aber auch nicht zuge­ ben, daß Wieland in dem, was er wahrhaft gesagt hat, nicht was er gesagt haben soll, geirrt habe, und um sich davon zu überzeugen, lese man das, was Niemeyer in dem Anhänge seiner Beob­ achtungen auf Reisen Bd. 2. S. 453. fgg. aus Englandischen Missionsblatlern mitgetheilt bat, und ver­ gleiche damit eine in diesem Monat (Oktober 1322) in der Berliner Zeitung bei Haude und Spener eben über diesen Gegenstand eingegangene Nachricht, wenn es anders noch einer andern Erinnerung bedarf als der, daß die Wittwen mit ihren Mannern sich entwe-

464

Anmerkungen

der verbrennen oder lebendig begraben lassen müssen, und das Mütter ihre Kinder opfern. Den Untersch ed, den Wieland -wischen geheimer Theologie und Volks-Religion macht, werdenH-eren und Creuzer schwerlich wegbringen, und wegbringen — wollen. Woher aber hat es Mütter, daß in Hin­ dostan nur das Lehramt Privilegium sey, die Lehre selbst aber Gemeinguts Die alten Verordnungen darüber muß er doch wohl gekannt haben. Vermuthlrch hat er sie fich also anders ausaelegt als andre Leute. So setze ich ihm aber eine Mittheilung des Obrisien Polier entgegen. Dieser schreibt unterm 22. Mai J789« an Sir Joseph Banks: »Ob man gleich mehr Offenherzigkeit bei den gelehrten Hinduantrifft, als man gewöhnlich glaubt; so ist auf der andern Seite doch auch wahr, daß nach ihren Reli­ gionsgesetzen das Lesen der Vedas außer den Braminen jedirmann verboten ist, und daß außer den Kürrris (der Kriegerkaste, -u der auch die Könige gehören) keine andre Dolksklasse dem Borlesen und Erklären derselben beiwohnen darf. Man muß sich daher um so mehr wundern, daß die Brammen diese Bücher, die ihren Landsleuten und Glaubensgenos­ sen verweigert werden, ungläubigen Fremden mitzutheilen kein Bedenken tragen. Sie wissen zwar diefen anscheinenden Wiederspruch zu heben, indem ste sagen, wir waren jetzt in dem Kal-Jog, oder in dem vierten Weltalter, in welchem die Religion in

Anmerkungen.

465

die tiefste Verachtung sinken werde; in diescn Tagen des Verderbens sey es also sehr gleichgültig, die hei­ ligen Bücher von jedermann lesen zu lassen, da es nach dem Rathschluß des höchsten Wesens nun ein­ mal so bestimmt sey. — Co sagen sie; doch habe ich nicht bemerkt, daß sie es auch in Ansehung ihrer Landsleute für gleichgültig hielten, oder daß sie die beiden niedrigsten Volksklaffen der Erklärung dieser heiligen Bücher zuhören ließen." Womit will Herr Müller dieses Zeugniß entkräften, das Zeugniß eineMannes, der viele Jahre in Ostindien lebte, und der sich angelegentlich uni diese Angelegenheit bekümmer­ te ? Kann aber dieses Zeugniß nicht entkräftet wer­ den, so stehen auch alle Folgerungen, welche Wie­ land aus dem, was dasselbe betrifft, zog, fest, und ich kann Herrn Müller nur beklagen, daß er sich hier zum Vertheidiger einer schlimmen Sache aufgeworfen, an Wieland aber offenbar versündigt hat.

Ueber Anekdote

aus

eine

Rousseau's Leben, i.

©. 109. Herr B., der Erzähler derAnek­ dote— Wilhelm Gottlieb Becker, welcher nachmalS WielcmbS W. 43» Bv. 30

466

Anmerkungen.

durch sein Augusteum, seine Erzählungen, die Her­ ausgabe der Erholungen und des Taschenbuchs für geselliges Vergnügen, dem Publikum hinlänglich be­ kannt worden ist. S. 2i2. Entschuldigungen und Ver­ sicherungen ihrer Unschuld — Sin rührendes Gemählde! Aber auch alles dieß ist bei Kreaturen dieser Art oft eben so gut die Wirkung der überraschlen Schuld als der verschüchterten Unschuld. M

r. S. 219. Dieselbe Kraft, die dieses Laster hervorgebracht — Fysion. Fragmente, 11. B. S. 38. W. S. 246. Airthropomorfa Wesen mit menschlicher Gestalt.

Nachtrag. S. 262. In einer — — Entschuldigung — Sie kam nur ein wenig zu spat, und entschuldigte nichts; wie im August deS Deutschen Merkurs i78o. S. »46. u. f. deutlich dargethan wurde. Sie war offenbar (wiewohl ssch der Verfasser nicht das

Anmerkungen«

4S7

geringste davon merken ließ) durch die im April und Mai des Deutschen Merkurs 1750 erschienene und mit allgemeiner Aufmerksamkeit und Beistimmung vom Publikum aufgenommene Apologie für Rousseau ver­ anlaßt, aber mit einer Verlegenheit geschrieben, ivelche sich em Mann ersparen kann, deffcn Herz /ich mit seiner Eigenliebe ein - für allemal abgefunden hat, und der aufrichtig und geradezu gestehen darf, daß ihm was menschliches begegnet sey, ohne ängst­ liche Furcht,, daß er dadurch in den Augen edler und guter Menschen verlieren werde. W.

G. 264. Zuletzt alle- was ihn rentierte — Geld und Sachen von Werth ausgenommen. — Je ne bornai pas longtems ma friponnerie an comestible; je Fe Len dis bientot k tont c e q u i me tentoit; et si je ne devins pas un voleur en forriie, c1 eit que je i? ai jamais etc beaucoup tente d’argen t, etc. etc. Confess. de J. J. R. L. L p. seqq. Edit. de Geneve de 1732. W. S. 26Z. Gegen den gleichwohl mein barbarisches Herz auShiett — Man vergesse nicht, daß Rousseau hier sein eigner Ankläger ist; daß eine Fantasie wie die seinige bei einer solchen Gelegenheit sich stark ausdrückt, und daß der bered­ teste Sachwalter des armen Mariechens nichts starkerS hätte sagen können. Wir, als die Richter in der Sache, müssen uns durch niemands Beredsamkeit,

46g

Anmerkungen,

am allerwenigsten durch die seinige, bestechen las­ sen. W. S. 266. Diese Mäßigung------ that ihr Schaden — Aber was für Richter mußten das seyn, die so urtheilen konnten? Also gerade das, was der stärkste Zug, der unzweideutigste Charakter der Unfifu(b und Herzensgute ist, war das, was einem Mädchen, die immer im besten Rufe gestanden hatte, gegen den enrschloßnen Ton ihres Anklägers (das zweideutigste unter allen äußerlichen Zeichen der Unschuld) Schaden that! — Und doch, besorge ich, ist diese Art in dergleichen Fällen zu urtheilen die gewöhnlichste. Die Ursache liegt nicht tief. Die mei­ sten Leute gerathen, wenn ihnen Unrecht geschieht, in große Hitze; man hat sich also mechanisch ange­ wöhnt, die Hitze in solchen Fällen für Natursprache der gekränkten Unschuld zu halten; unvermerkt ist eine allgemeine Erfahrungsrcgcl daraus geworden, womit man sich in vorkommenden Füllen behilft, und sich dadurch bte Mühe erspart, auf das, worin ähn­ liche Fälle verschieden sind, Acht zu geben, um diese Differenz, auf welche oft so viel ankommt, mit in Rechnung zu bringen. In Sachen, wo es nur um anderer, zumal geringer Leute Wohl oder Weh zu thun ist, bemüht man sich nicht gern mit so genauen Berechnungen, und macht Ueber kurze Arbeit.

W.

Anmerkungen.

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S. 269. Der allen Mädchen so gut war ------- ohne dabei Arges zu denken — Er be­ kennt ja aufrichtig: daß auch damals die Ruthe, die er als Knabe von sieben oder acht Jahren von der ältlichen Mademoiselle Lambercier und von der kleinen Mademoiselle G 0 t 0 n (Gretchen) bekom­ men hatte, die einzige große derniere faveur war, wovon seine Jmaginazion eine Vorstellung hat­ te; und daß z. B. alles, was, feinern Wahne nach, Armide ihrem Rinaldo zu Liebe thun konnte, weder mehr noch weniger war, als ihm recht oft und tüchtig die Ruthe zu geben. W. Ich weiß nicht, ob di« Pädagogik hierauf Rück­ sicht genommen; wenn sie es aber noch nicht gethan hat, so sollte sie es thun. S. 270. Je mehr ich mein Verbrechen erschwerte — Nämlich durch das halsstarrige Be­ harren auf der falschen Anklage. W.

S. 272. Traurige Nachrichten----- wenn er si ch genau nach ihr erkundigt hatte. — Rousieau sagt nicht, daß er dieses jemals gethan ha­ be. Unmittelbar nach der That ließ es ihm die mäch­ tigste der Furien, die Scham, nicht zu; und nach­ dem er einmal wieder über die Gebirge war, hatte er keine Gelegenheit mehr dazu. Auch kann man einem Menschen von seiner Gemüthsart mit morali­ scher Gewißheit zutrauen, daß in der Folge die bloße

47°

Arrmerturr-en.

Furcht, traurige Rachrichten zu hören, hinlänglich gewesen wäre, ihn von genauen Nachfragen abzu­ halten, wofern er auch in die Lage gekommen wäre, den Aufenthalt und die Umstände einer in der Welt so wenig bedeutenden Person auszukundschaften. W.

Gegen diese Aufsätze Wielands erschien in L i chlenbergö und Forsters Göttingischem Magazin der Wissenschaften und Literatur vom Jahr 1781 (zweiten Jahrgang- drittem Stücke) ein Schreiben: An Herrn Hofrath Wieland über die Anekdote von Rousseau in den Ephemeriden der Menschheit, von W. G. Becker, welches Wielanden vielleicht nicht zu Gesicht gekommen tfl7 denn sonst würde er diese in einem würdigen Tone abgefaßte Erklärung eines Man­ nes, dem es an Talent psychologischer Entwickelung nicht gebrach, schwerlich ganz mit Stillschweigen übergangen haben. Wem solche Entwickelungen über problematische Punkte nicht gleichgültig sind, der wird auch jetzt noch BeckerS Erklärung nicht ohne Interesse lesen.

Anmevkun-err.

471

Ueber

die ältesten Zeltkürzu ngsspiele. S. 277. Sehr alte Art mit den Fingern zu rechnen — Beda Venerabilis, ein Brittischer Mönch, der im siebenten Jahrhundert lebte und für den gelehrtesten Mann seiner ungelehrten Zeit galt, hat einen Traktat- über diese Art zu rech­ nen geschrieben, nach dessen Anweisung ein gewisser Johann Bogard die sämmtlichen Figuren dersel­ ben von i bis ic00000 in Kupfer gestochen im I. 1544 zu Paris heraus gegeben hat; aus welchem Werke sie in der Folge in verschiedene andere, die Don geheimen Künsten handeln, gekommen sind. W.

G. 273. Gerad oder Ungerad —Man kann darüber noch vergleichen die Abhandlung von den Fingern, deren Verrichtungen und symbolische Bedeu­ tung, aus aller Art Alterthümer erwogen. Leipz. u. Lisenach 1756. S. 74. fgg. S» 28o. Dürftigkeit zur Mutter der Liebe — Dieses Gleichniß hinkt ein wenig zu sehr, denn in dem Sinne, wie Platon die Dürftigkeit und die Liebe nahm, ist es nichts weniger als unnatür­ lich, jene zur Mutter von dieser zu machen.

472

Anmerkungen.

S. 28o. Herodoi erzählt des Atys sinnreiche Erfindung Buch i. Kap. 94« S.28o. Aus H0mers Odyssee, 1, 106.fgg. S. 280. Athen au-. Buch i, Kap. 14. S. 2Zi. Der nun die Penelope verstell­ te — So verstehe ich wenigstens den Text des Athe­ naus, und begreife nicht wie er ander- verstanden werden könne: wiewohl Herr Jakob Datescham p, der Lateinische Uebersetzer, Mittel gefunden hat, aus der ganz klaren Erzählung des Textes etwas zu machen das gar keinen Sinn hat. Ich weiß nichtzu seiner Entschuldigung zu sagen, als daß dieß so ziemlich gewöhnlich bei ihm ist. W. S. 28i. S 0rtilegium — d. i. eine Art von Anfrage bei demSchicksal durch gewisse Hand­ lungen, deren Erfolg für eine Antwort dessel­ ben ausgenommen wurde. W.

S. 283. Perser — — nicht die Erfin­ der — S. Hyde de Ludis orientalium und F reret de r origine du jcu des Ecliecs, im Vol. 111. de l1 Histoire de P Acad. des Inscript, de 1731.

S. 283. Na ssir, Dahers Sohn — Die Araber nennen ihn Sissa. W. S. 236. Sagte Behram zu ihm — So erzählt Hy de aus dem Munde eines ungenannten R a b b i n e n. W.

Anmerkungen.

473

S. 287. A lle- Korn im Reiche nicht hin­ länglich — Man hat ausgerechnet, daß die ganze Summe nicht weniger erfordern würde als sechzehn tausend drei hundert vier und achtzig Städte, in deren jeder ein tausend vier und zwanzig Kornyauser, in jedem Kornhause hundert vier und siebzig tausend sieben hundert zwei und sechzig Maß Weitzen; und in jedem Maß zwei und dreißig tausend sieben hundert acht und sechzig Körner waren; welches mehr Weitzen wäre, als alle Kornböden des ganzen Erdbodens seit Erschaffung der Welt enthalten haben mögen. S. 288. Saumaise — ohne den Schat­ ten eines Beweises — Wenigstens hat er einen Beweis gegeben, wie sehr gelehrte Leute zuweilen beweisen. Hier ist die Stelle. Notavi aliquando eal» cnlonim judum Graecisrecentioiibus SaTpiraov appcllari, eamque dictionem origine Graecam esse demonstravimus. Quid esset expLcavimus, Id non placuit viris quibusdam eruditis , qni a Persico vocem illam deducere in a hiermit. quibus Xatreng vel Xatrang hodie appellatnr latrimculoium In­ dus. Adeo inquam liaec observatio cuidam bella visa, ut palniariam censeat. Mihi contra videtur. Potius credidci im Persicum illud Xatreng ex Graeco 2«rpiKiov Actum fuisse, quam Graecum ex Persico. Zarpixiov diciionem esse mere Graecam------ Lexi­ con vetus regiae bibliothecae mihi confirmavit. —

474

Anmerkungen.

—• Postremo quie neecit hujtis ludi inventionem Graecis deberi 3 A Graecis igitur ad Persas res if)6a cum nomine transiit. S. 2B9« Bei den Assyrern — So nannten die Griechen damals die Araber, die im Besitz des alten Assyrischen und Persischen Reichs waren. W. S. 290. Churfürst von Sachsen Johann Lriedrich — Robertsons Geschichte Karls V. Th. 3. S. 184» Diese Anekdote bringt mir eine andre ins Gedächtniß, welche Seneka von Kanu § Julius erzählt, einem edeln Römer, bcn der blut­ dürstige Tollhäusler Ka ligu la, ohne eine andre Ursache, als weil Kanus noch eine alt Römische Seele hatte, ermorden ließ. Kaligula hatte cs ihm zehen Tage vorher gesagt, daß sein Name auf der Todes­ liste stehe, und er war der Mann, dem man so was glauben konnte. AlS nach, zehen Tagen der Haupt­ mann, der den Kanus nebst einigen andern zum Tode führen sollte, in sein Haus kam, fand er ihn ganz ruhig beim Soldatenspiele. Folge mir, rief ihm der Hauptmann zu, und wies seinen Befehl. Kanus steht auf, zahlt seine Steine, und — daß du mir nicht, sagt er zu seinem Kameraden, nach meinem Tode sagst, du habest gewonnen! — Hier, spricht er zum Hauptmann, sey D u Zeuge, daß ich einen Stein mehr habe als er. SenekaEpist.XlV. Die Anekdote ist! eben so herrlich, als die mora-

Anmerkungen.

475

lische Brühe abscheulich ist, welche Deneka darüber gießt. W. S. 293. Dinar — Goldmünze/ die unsern Du­ katen am nächsten kommt. S. 29z. Beschreibung eine- SchachLret-, die in einem romantischen Gedich­ te u. s. w. — Don Juan diAustria (Filrpp des vierten Sohn) soll einen Schachsaal von der nämlichen Einrichtung gehabt, und sich zum Spielen patt der Steine lebendiger hierzu abgerichteter Per­ sonen bedient haben. War dieß Nachmachung des Schachspielö der Fee F lor ibelle? Es ist kaum zu vermuthen, daß Don Juan biefe$Fabliau, welcheSainte - Palaye erst kürzlich aus einer Hand­ schrift an- Licht gezogen, gekannt haben sollte. W. ®. 29L. So geschickt wie Homers Dv^ lan, der, nach Ilias iß, 375, sich selbst bewegende Dreifüße verfertigte. S. 299. August, Herzog von BraunschweigLüneburg, geb. J579, gest. 1666, zeichnete sich aus durch seine 'Liehe zu den Wissenschaften. Er war wirklicher Rektor der Universitäten Rostock und Tübin­ gen gewesen, bei welchen Gelegenheiten er mehrere Reden hielt. Unter seinen Schriften befindet sich auch eijl Twtatus de ludo latroneim seuSchaphiae, wtl-

Anmerkungen.

476

ches zu Leipzig 1616 unttr dem verdeckten Namen Gustarus Selenus und dem Titel vom Schach­ oder Königsspiel erschien. S. Herrmann Conring de bibliotheca Augusta p. iZi. fgg.

S. 305. Latrunculi — Man hatte deren von Glas, Elfenbein, Gold und Srlber. Ramler über­ setzte dieses Wort sehr treffend durch Buben.

S. 306. Bot Gelegenheiten dar, seinen Gegner in die Enge 511 treiben u. s. tn» — Man sehe des Martialis Epigramme 14, 20. S. 306. Es wurden zwei erfordert, um Einen zu nehmen — S.Ovrd Ars amandi Z, 357.

S. 306. seyn —

Jeder vorrückende------- bedeckt

Nee tutö firgrens incoinitatus eat.

Id. Trist. II. v. 430. S. 307.

Was sie anbinden nannten —

Ut niveus nigros, nunc ut niger alliget albos.

Ec 1 o g a ad Pison em, in Ca ta 16 c ti s V e t. Poetar.

Anmerkungen.

477

S. 309» Sive latr o cinii etc. — Die ganze Stelle bei Ovid de arte amandi 2, 203 — 2O8 (nicht 307) hertzt: Spielt ^sie, und wirst mit der Hand die elfenbeinernen Zahlen, so wirf du schlecht, und zahle für deinen schlechten Wurf; beim Knöcheln (Würfel­ spiele) nimm von der Besiegten nicht die Strafe, und mache, daß du öfters den schädlichen Hund wirfst (der schlechteste Wurf hieß der Hund,, und daher die Redensart: auf den Hund kommen): marschiren aber die,Steine als Buben auf, so mache, daß dein Bube vom gläsernen Feinde (der Figur der Gegenspielerin) genommen werde.

S.309. Aus Stellen des Seneka — Persequi singulos longum est, quorum aut latrunculi, aut pila, aut exoquendi in spie corporis cura, consumpsere vitani. Sen. de Brev. Vitae e. XIII. W.

D ie Aeropetoni ante. C. 315. A cad em seien de Marseille — Mr. Gudin de la Brenellerie , in einem Ge­ dichte sur le globe ascendant. W. AttelakibS W

43. Dd.

478

Anmerkungen.

S. 3iS» Noriks Parisischer Haarkräus­ ler — Aber ich fürchte, mein Freund, sagt' ich, diese Locke wird nicht stehn. — »Sie können sie, versetzte er, in den Ocean tauchen, und sie muß doch stehn.« — Wie doch in dieser Stadt alles in die Höhe ge­ schraubt ist! dacht' ich. Der höchste Schwung der Ideen eines Englandischen Perückenmachers hatte nicht weiter reichen -sonnen, als: »Stecken Sie sie in einen Eimer Wasser." — Welch ein Unterschieds Er verhalt sich wle die Zeit zur Ewigkeit. Joriks Reisen.

S. 319. Elastische Harz — Es wird aus einem Baume gezogen, der in verschiedenen Gegen­ den von Südamerika, um den Amazonenfluß und in Cayenne, häufig anzutreff-; ist. Die Indier nen­ nen dieses Harz Kautschuk, und bereiten daraus eine Art von Wasserstiefeln, weil es so zah und dehnbar als Leder ist, und kein. Wasser eindringen laßt. Die Indierinnen machen einen andern Ge­ brauch davon, dessen, wer Lust hat, sich aus den Rccherches Philosoph, sur les Americains» Tom, I. p. 66. belehren kann. W. S. 32i. Ju einer beträchtlichen Hohe gestiegen — Diese Höhe wurde in der Folge durch die Berechnungen eines Mathematikers auf zwei tau­ send sieben hundert und zehn Fuß abgegeben.

Anmerkungen.

479

S. 327. Der sich erkühnen würde ihr zu nahen — Dieß war vermuthlich auf Herrn Charles gemünzt. W. S. 328. 1 1 a de la pötanteur etc. — Er brach endlich die Kette der Schwere. — Aus dem oben angezogenen Gedichte des Herrn Gudin de l a B r e n e l l e r i e. W.

S. 337- Moli nisten und Jansen ist en — Zwei theologische Parteien, deren erste Jesuitische den Namen von dem Spanier Mvlina, die zweite jener entgegenwirkende von dem Bischof Iansenius hatte. Sie begannen im iöten Jahrhundert. S. 337. Gluck: st en und Piccinisten — Zwei musikalische Parteien, Anhänger von Gluck und Pwcini.

S. 339- D' u n nouvel Oceap etc. — Ihr neuen Argonauten eines neuen Oceans, übertrefft die Thaten eines Kolumbus und Kook! Folgt die­ sem Montgolsier, der mit sichrer Hand die Kette der Schwere endlich gebrochen. Geht, fliegt und sucht in den azurnen Gefilden eine minder wechselreiche Luft, einen reineren Horizont. Mit leichtem Fluge eilt zu jenem südlichen £tfe und erfreut such in hen

nördlichen. Gluten.

48o

Anmerkungen.

S. 342. Von nützlicher Anwendung ihrer Maschine — Der Duc de CrillonMahon, in besten Imaginazion die glühenden Kugeln von Gibraltar noch immer zu spielen scheinen, hat bei Gelegenheit des prächtigen Feste-, das er am ersten Oktober wegen der Geburt der beiden Infanten von Spanien im Boulogncr - Holze gab, noch einen andern Gebrauch der ärostatischen Kugeln gezeigt, an welchen die ersten Erfinder nicht gedacht zu haben scheinen; indem -er seinen Gasten nach dem Souper einen ärostatischen Ballon von 6 Fuß 4 Zoll zum Besten gab, an welchem ein Transparent hing, auf dessen beiden Seiten em Quatrain, das sich mit v i v e Charles’ vive Louise! an fangt, deutlich zu lesen war. Nachdem der Ingenieur, der den Globus verfertigt, ihn einige Minuten lang in einer Höhe von 2 bis 3 Klaftern erhalten, und verschiedene beliebige Bewegurgen hatte machen lasten, ließ man ihm endlich seine Freihe»t. Der Globus erhob sich unter dem Schall einer prächtigen Musik, majestätisch, beinahe in ge­ rader Linie in die Luft; welches (wie man dem Geschichtschreiber dieser Fete im Journal deParis gern glauben wird) eine unbeschreiblich schöne Wrrkung that. — Woraus also zu.sehen war, daß man, Dank sey dem Herrn Montgolfier, oder vielmehr dem Herrn Charles und dem Baron Don Beauma-

Anmerkungen.

481

rsoir, künftig ein sehr prächtiges Feuerwerk mit sehr mäßigen Kosten geben könne. — Von den C o e f f u» res und übrigen Siebensachen' a 1 a Montgolfier sagen wir nichts, weil sich das von selbst versteht. Natürlicher Weise muß jetzt in Frankreich alles a la Montgolfier seyn, wie noch vor kurzem alles a la Marlboi ' ngh war. Glückliches Volk, das alles semes Elendes so leicht über jedem neuen Spiel­ zeuge vergessen kann I

D ie Aeronauten.

I, S. 350. Erfolge, welche sie für unmög­ lich erk lart hatten — Es ist gleichwohl einiger Trost für diese Herren, daß sie diese residirenden Glieder der königlichen Gesellschaft der Wrffenschaften in London selbst, öffentlichen und nicht widersprochnen Nachrichten zu Folge, dem Könige durch ihren Präsidenten eben so frühzeitig ihr Wort gcgcben haben sollen, daß dieMontgolfterische Erfindung

4S2

Anmerkungen.

nicht den geringsten Nutzen haben könne. Aber daß sich auch noch jetzt, da dem.Unglauben kein Ausweg mehr übrig gelassen scheint, Gelehrte mit­ ten unter uns finden, welche steif und fest dabei be­ harren, die ganze Sache mit der arostatischen Kugel,

die Versuche im Marsfeld, zu Versailles und La Muette, die Spazierfc-'rt der Herren Rozier und d'Arlandes, und die Luftreise der Herren Charles und Robert, seyen ein bloßes zur Lust erfund enes Mahrch en, wo­ mit eine Gesellschaft müßiger Spaßvögel zu Paris ganz Europa zum besten haben wolle, das ist ein so unglaubliches Beispiel von skeptischem Starrsinn und vorsetzlicher Blindheit des Vorurtheils, daß wir zur Ehre der Nazion wünschten, es möchte nicht von Deutschen gegeben worden seyn. Die Englän­ der sind b'ei aller Nazionaleifersucht über die Fran­ zosen gelehriger gewesen; wenn anders die Palinodie, welche Sir Josef Banks in einem Briefe an einen seiner Korrespondenten in Paris angesiimmt hat, so authentisch ist, als ihre Einrückung in das Journal de Paris vermuthen läßt. W.

S. 352. Werk genau — Nämlich so genau als Denn man hat alle Ursache ärostatische Kugel selbst zu

berechneter Natur damals möglich war. zu erwarten, daß die neuen Beobachtungen,

Anmerku n g e w wovon

die Vervollkommnung der Aeronautik Resultat seyn wird, Gelegenheit geben werde; sie zum Theil schon gethan hat, W.

483

das wie

II. S. 356. Der Nazion kostbarere — Ex­ perimente v^rzu weisen — Dieß sind die eige­ nen Worte der Herren Robert, in ihrem Schreiben an die Herausgeber des Journal de Paris vom 24sterl September. W.

S. 367. Zum Tempel des Ruhms mit empor geschleppt zu werden — Auch sogar der wackere Herr Giroud de la Villette, der (als Adjunkt bey königlichen Fabrik, deren Vorste­ her Herr Revel llon ist) auch einmal »die Ehre hatte,“ dem Herrn von Rozier das Gegenge­ wicht zu halten, konnte sich das Vergnügen nicht versagen, der Welt im Journal von Paris von dem, was er, bei d ies'er Erhöhung, aus einer Oeff-

nung seines Korbes mit einem Paar gesunder frischer Augen gesehen hatte, und von seinen dabei angestellten Reflexionen über den Nutzen,

den diese Maschine bei einer Armee oder Flotte

484

Anmerkungen.

schaffen könne, Rechenschaft zu geben. Sein Btief ist wirklich lustig zu lesen, W.

Ilt. S. 376. Dem Pinbar- Grazien hold sind — Die Grazien, ohne welche kein Virtuoso (jso^os-) kein Edler noch hervor glänzender Manw wird. Olymp. XlV. 9. W. v

V. S. 391. Vorgebirge der Nasen — S.Tristram Shandy im vierten Bändchen. S. 394. Ovazion — Der kleinere Triumph,' der den Römischen Feldherrn bei minder wichtiges Kriegen und Siegen zuerkannt wuröe.

S. 395. Di ^Maschine, welche------ sehr fatiguirt war —- Tres fatiguce — Welch ein erwünschter glücklicher Ausdruck! Die gute Maschine hatte auch von Stahl und Eisen ftyn müssen, um von so vielen auf sie einstürmenden Feinden nicht faligirt zu werden. — Die beste Charakteristik eines Volkes ist seine Sprache. Die Französische ist beneidenswürdig reich an dergleichen versüßenden

Anmerkungen.

485

und einwickelnden Redensarten, die der leiden­ den Eitelkeit zu Hülfe kommen, und einen sanft be­ deckenden Schatten auf Theile legen, denen ein vol­ les Licht nicht günstig wäre. Der Styl des ganzen Briefes ist in dieser Hinsicht ein Meisterstück. W. VI.

S. 404. Ikaromenippus — S. LuzianS Werke übersetzt von Wieland Bd. 1. S. 198. S. 405. Ein junger Mensch mit bloßem Degen in die Gondel — Napoleon Bonaparte, der damals noch in der Kriegsschule zuBrienne war. VII.

S. 422. 32,000 Fuß hoch in die Luft erho­ ben — Der. berühmte Mathematiker de la Lande vermuthete in dieser Angabe einen merklichen Schreib­ fehler, weil die höchste Höhe, welche bisher von irgend einem Sterblichen erstiegen worden, nicht über 2434 Klafter betrage, und in einer Höhe von 5333 Klaftern, wo der Barometer auf 8 Zoll fallen wür­ de, die Ausdehnung der Luft so groß seyn müßte, daß wahrscheinlich ein Blutsturz und der Tod die

486

Anmerkungen.

unmittelVdre Wirkung davon wäre. Herr Blanchard erklärte sich hierüber kurz und gut; »ES bleibe bei den angegebnen 32,000 Fuß; was andere Leute erfahren hätten, könnte ihm nichts präjudiciren; er wolle, -war nicht jetzt, aber künftig in einem Journal seiner aronautischen Reisen hinlängliche Auskunft über die Sache geben, würde sich aber inzwischen ein Vergnügen daraus machenden Herrn de la Lande, wofern er ihm die Ehre erweisen wollte, ihn bei seinem nächsten.Aussigen zu begleiten, durch die Erfahrung zu überzeugen, daß die gründlichsten Räsonements gegen die Gewiß­ heit einer Thatsache nichts bedeuteten." W.

S. 424. Parachyte — Fallschirm, der die Gestalt eines sehr großen halbgeöffneten Regenschirms hat, wurde von Blanchard 1735 erfunden, um sich im Fall einer Gefahr aus dem Luftschiff herablassen zu können.

Anmerkungen

487

Zusatz. S. 425. Die Luftballons---------aus der Mode — Zu Anfang dieses Jahres erschien gleich­ wohl eine Abhandlung von Herrn Carnus, Profes­ sor der Filosoffe zu Rhodez, worin der Verfasser, ungeachtet des wenigen Nutzens den die Erfindung

der Aerostaten bisher geschafft, die um diese Zeit beinahe allgemein gewordene Meinung, daß es am besten wäre die Aeronautik gänzlich aufzugeöen, ernst­ lich bestreitet. ' Er behauptet, sie könnte vielmehr in wenig Jahren so weit gebracht werden, daß sie viel sicherer, bequemer, angenehmer und weniger kostbar wäre als die Schifffahrt zu Wasser. Nur müßte vor allen Dingen den Luftballons mehr Soli­ dität gegeben werden, als bei ihrer bisherigen Zu­ bereitung zu erhalten sey. Er schlägt zu diesem Ende das Blech vor, und behauptet, ein Globus aus Blech von 15 bis 20 Klaftern im Durchmesser würde zwölf Personen mit dem nöthige:-: Gerathe und Lebensmitteln auf sechs Monate tragen können. Ja er geht so weit, zu zeigen, wie man eine Ma­ schine von ico Klaftern im Durchmesser luftleer

488

Anmerkungen.

machen könnte, welche im Stande wäre, eine Armee' von zwanzig lausend Mann durch die Lust zu führen. Da die Ausführbarkeit der Sache (wie es scheint) bei diesem Theoretiker nicht in Anschlag kommt, warum sollte man auf diesem Wege nicht so weit gehen können, einen Aerosiaten von'Blech zu fabriciren, der groß genug wäre, um das Wunder der goldnen Kette des Homerischen Jupiters zu realisiren, und die ganze Erdkugel aus ihren Angeln em< por zu ziehen? Nur Blech genug und Raum genug für die Maschine; das wäre die einzige Schwierig­ keit! W. S. 429. Mehrere hundert lausend Liv­ res gekostet — Diese Angabe scheint sehr über­ trieben zu seyn. W.

Nach 1797 haben noch manche Luftschifffahrten statt gefunden, Unter den Franzosen haben sich da­ durch Garnerin, unter den Engländern Barly und Devigne, die im I. igoz auch zu Konstan­ tinopel eine Lustreise machten, Bal-dwin und Ro­ bertson, unter den Italienern der Graf A a m b eccar ibe sonders bekannt gemacht. Unter den Deutschen machte der Professor Jungius in Berlin i8°5 und I806 die ersten Versuche; nachher hat der Profeffor

Anmerkungen.

48-

Reichard und seine Gattin mit Garnerin gewett­ eifert. Neues ist dabei bloß von dem Grafen Iambeccari versucht worden, der sich zur Bewegung der Maschine des LampenfeuerS bediente, aber über dem Adrratischen Meere seinen Versuch so unglücklich machte, daß er dem Schickjal des Prlatre de Rozier

kaum entging. Noch, fehlt es an der Kunst, das Luftschiff in der horizontalen Bewegung nach Wrllkühr zu lenken. Dre Haude - und k^enersche Berliner Zei­ tung vom I.dr 1322. enthalt indeß unterm 17. Ok­ tober No. 125. folgende Nachricht. „Der Pbvüker Jperr Skaramuzz i zu Florenz will die Aufgabe, den Luftschiffen eine bestimmte Richtung zu gebe», gelöset haben, und um den von der Königl. Societät zu London auf die horizontale R'chtung des Luftbal­ lons gesetzten Preis von 5 Franken zu erhalten, den Großbrit^ urschen Mm-strr mit fernem Plan be­ kannt machen. Seiner Versicherung nach.laßt er sein Luftschiff nach Belieben steigen oder sinken, horizontal

stehen oder stille.stehcn, obr.c Dmd und Sturm zu deachrrn; er verspricht, mit Lebensmitteln wohl ver­ sehen, mehrere Monate zwischen Himmel und Erde herumzufahren, ohne ein einziges Mal stch herablassey zu wollen; von Gefahr bei dieser Reise sey gar keine Rede. Er nennt sein Schiff Aerodrom (LustwagenZ r es .soll fürs erste jedoch nicht mehr als 20

490

Anmerkungen.

Personen fassen. Die Erbauungskosten betragen ioO'Oco Franken.' Wofern er nun, das Versprochene leistet, wäre noch Hoffnung vorhanden, dereinst auch den RlesenLuftball zu erblicken, welchen Robertson projektirie, um über die ganze. Oberfläche der Erde hinzu­ schweben.