Buchmalerei verstehen 3863123751, 9783863123758

Die Schätze der Buchmalerei lagern wohl verwahrt in den Tresoren berühmter Bibliotheken. Ihr Wert geht in die Millionen.

133 17 6MB

German Pages 208 [209] Year 2014

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Table of contents :
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Titel
Impressum
Inhalt
Vorwort
I. Buchmalerei – Faszination und Geschichte
Definition
Gefährdete Schönheit
Das Panorama der Buchmalerei
Die Großregionen
Zeitliche und kunstlandschaftliche Schwerpunkte
II. Mediale Besonderheiten
Rotuli und Codices
Bücher und ihr Dekor
Die Magie sakraler Bücher
Bücher als Repräsentationsobjekte
III. Die Materialien
Tinten
Gold- und Silberschrift
Farben- und Malrezepte
Die Materialität der Buchseiten
Pergament
Papier
Die Malstoffe
Farbpigmente
Gold und Silber
IV. Die Arbeit und ihr Wert
Teamleistung
Der materielle Wert
V. Buchtypen und ihre Bebilderung
Sakrale Werke
Die Bibel
Bibelparaphrasen
Apokalypsen
Evangeliare, Evangelistare und Perikopenbücher
Missale und Brevier
Sakramentar und Antiphonar
Psalter
Gebet- und Stundenbücher
Handschriften mit weltlicher Thematik
Astronomische, pharmakologische und naturkundliche Traktate
Romane, Universalgeschichten, Chroniken und Reiseberichte
„Klassiker“
VI. Kunstsoziologische Aspekte
Die soziale Position der Künstler
Das Privileg der Schreiber
Vom Mönchs- zum Berufsminiator
Hofminiatoren
Auftraggeber, Sammler und Käufer
Aristokratische Bibliophilie
Anonyme Käufer
Die Distribution der illuminierten Handschriften
Bibliotheken: Aspekte ihrer Geschichte
VII. Elemente der Gestaltung
Schriftarten und Bild
Zierseiten
Initialen
„Randphänomene“
Projektive Rahmungen
Bordürensysteme
„Ouvertüren“
Kanontafeln
Kalendarien
Autoren-, Stifter- und Dedikationsbilder
VIII. Zwischen künstlerischer Tradition und Innovation
Die Grisaille
Im Spiel der Themen
Von der repraesentatio zum Porträt
Landschaft
Stilllebenmotive
Erzählstrukturen
Phantastik: Ornamente und Drolerien
IX. Buchmalerei in Zeitendes Buchdrucks
Literatur
Namenregister
Abbildungsnachweis
Informationen zum Autor
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Buchmalerei verstehen
 3863123751, 9783863123758

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Norbert Wolf

Buchmalerei verstehen

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt.  Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, ­Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. Der Primus-Verlag ist ein Imprint der WBG. © 2014 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Redaktion: Susanne Mädger, Stuttgart Umschlagabbildung: Ausschnitt aus einer Notenhandschrift mit figürlicher Initiale „Johannes der Evangelist“ von Fra Angelico (1387 – 1455), Buchmalerei auf Pergament; © akg-images / Orsi Battaglini Umschlaggestaltung: Christian Hahn, Frankfurt a. M. Layout, Satz und Prepress: schreiberVIS, Bickenbach Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-86312-375-8 Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-86312-73730-7 eBook (epub): 978-3-86312-73731-4

Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

I. Buchmalerei – Faszination

und Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11

Definition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11

Gefährdete Schönheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13

Das Panorama der Buchmalerei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Großregionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zeitliche und kunstlandschaftliche Schwerpunkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

16 16 18

II. Mediale Besonderheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . .

31

Rotuli und Codices . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

32

Bücher und ihr Dekor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Magie sakraler Bücher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bücher als Repräsentationsobjekte . . . . . . . . . . . . . .

34 34 37

III. Die Materialien

..........................

41

Tinten ....................................... Gold- und Silberschrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

41 42

Farben- und Malrezepte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

43

Die Materialität der Buchseiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pergament . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Papier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

44 45 48

Die Malstoffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Farbpigmente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gold und Silber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

50 50 51

Inhalt

6

IV. Die Arbeit und ihr Wert

..................

55

Teamleistung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

55

Der materielle Wert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

60

V. Buchtypen und ihre Bebilderung . . . . . . . . . .

65

Sakrale Werke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Bibel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bibelparaphrasen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Apokalypsen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Evangeliare, Evangelistare und Perikopenbücher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Missale und Brevier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sakramentar und Antiphonar . . . . . . . . . . . . . . . . . . Psalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gebet- und Stundenbücher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

66 66 68 71 75 77 78 80 83

Handschriften mit weltlicher Thematik . . . . . . . . . . . . . Astronomische, pharmakologische und naturkundliche Traktate . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Romane, Universalgeschichten, Chroniken und Reiseberichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „Klassiker“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

99 104

VI. Kunstsoziologische Aspekte

.............

107

Die soziale Position der Künstler . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Privileg der Schreiber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vom Mönchs- zum Berufsminiator . . . . . . . . . . . . . . Hofminiatoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

108 108 111 115

Auftraggeber, Sammler und Käufer . . . . . . . . . . . . . . . . Aristokratische Bibliophilie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anonyme Käufer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

121 121 123

Die Distribution der illuminierten Handschriften . . . . . Bibliotheken: Aspekte ihrer Geschichte . . . . . . . . . . .

125 126

88 88

7

Inhalt

VII. Elemente der Gestaltung

...............

135

Schriftarten und Bild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

137

Zierseiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

142

Initialen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

144

„Randphänomene“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Projektive Rahmungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bordürensysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

151 151 152

„Ouvertüren“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kanontafeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kalendarien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Autoren-, Stifter- und Dedikationsbilder . . . . . . . . . .

156 156 159 162

VIII. Zwischen künstlerischer

Tradition und Innovation . . . . . . . . . . . . . .

167

Die Grisaille . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

169

Im Spiel der Themen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Von der repraesentatio zum Porträt . . . . . . . . . . . . . Landschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stilllebenmotive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

172 172 176 179

Erzählstrukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

180

Phantastik: Ornamente und Drolerien . . . . . . . . . . . . . .

186

IX. Buchmalerei in Zeiten

des Buchdrucks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

191

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

199

Namenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

204

Abbildungsnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

208

Vorwort Der Gegenstand Buch blickt auf eine imponierende Geschichte zurück, die heute freilich im Konflikt mit der scheinbar übermächtigen Konkurrenz der elektronischen Medien ihrem Ende entgegenzugehen droht. Bücher werden mittlerweile nicht selten als Fossilien einer überholten, weil limitierten „Informatik“ abqualifiziert, wogegen die gegenwärtigen Kommunikationsstrukturen angeblich imstande seien, Informationen grenzenlos auszutauschen und zu verwalten. 1962 hat Marshall McLuhan in einer aufsehenerregenden Publikation mit dem Titel The Gutenberg-Galaxy eine erste mediale Revolution, die die spätere digitale Umwälzung ermöglicht habe, mit der Erfindung des Buchdrucks und der Herausbildung des „typographischen Menschen“ gleichgesetzt. Und er folgerte: „Der Wechsel der Formen oder Verhältnisse, die die üblichen Muster des Seh- und Hör-Erlebens bestimmen, schafft eine weite Kluft zwischen den geistigen Prozessen des mittelalterlichen und des heutigen Lesers.“ (Dt. Ausgabe 2011, S. 116) Mit dem von Gutenberg Mitte des 15. Jahrhunderts etablierten Buchdruck mit beweglichen Lettern samt den Bildtechniken der Druckgrafik sah schon Walter Benjamin 1935/36 das Kunstwerk ins „Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ eingetreten, was den Verlust seiner Aura, der Faszination seiner „Einmaligkeit“, mit sich gebracht habe. Die mittelalterliche und frühneuzeitliche Buchmalerei, die die überwältigende Schönheit ihrer Bilder, Ornamente und ihres Schrift-Layouts ebenso manuell bewerkstelligte, wie sie ihre Werkstoffe – kostbares Pergament, Gold, Silber, Purpur, leuchtende Farben – von Hand vor- und zubereitete, diese „Glanzzeit“ des illuminierten Buches besaß jene Aura noch im höchsten Maße. Die Magie, die diese Bücher einst ausstrahlten, üben sie noch heute ungebrochen aus, und zwar trotz der gegenwärtigen Medienkonkurrenz und trotz der elektronisch erzeugten Bilderflut, vielleicht sogar gerade wegen dieser „Inflation“. Und die altehrwürdigen Manuskripte dokumentieren, wie ganz anders ihre emotionalen und kognitiven Ziele beschaffen waren, die nicht zuletzt in der Schönheit ihrer Erscheinung und in der Art ihrer Bebilderung zum Tragen kamen. Das vorliegende Buch will auch dem Nichtspezialisten die Begegnung mit dieser „Vor-Gutenberg-Galaxis“ ermöglichen, indem es hilft, die charakteristischen Eigenheiten der Buchmalerei, die wichtigsten Techniken, Gestaltungsmethoden und Aufgaben, somit auch das von der Gattung mitgetragene kulturelle Gedächtnis zu verstehen. Obwohl analog zu den im selben Verlag erschienenen Bänden Malerei verstehen und Architektur verstehen keine chronologisch fortlaufende Stilgeschichte intendiert ist, werden sich dennoch die markantesten Entwicklungslinien ei-

Vorwort

10

ner solchen Historie abzeichnen – ja, aus sachbedingtem Grund ist ihnen dieses Mal sogar ein eigener Abschnitt reserviert. Wie in den beiden genannten Titeln verzichte ich auch in diesem Band auf einen Anmerkungsapparat und eine ausführliche Bibliografie. Das Literaturverzeichnis beschränkt sich somit auf das thematisch Notwendigste (inklusive des Nachweises der wenigen Zitate). Die besprochenen Handschriften sind nur am Ort ihrer ersten Nennung mit der genauen Bibliothekssignatur gekennzeichnet. Die Lebensdaten der im Text erwähnten Personen finden sich im Register.

I. Buchmalerei –

Faszination und Geschichte

D

ante Alighieri vertritt in seiner in den ersten beiden Jahrzehnten des 14. Jahrhunderts verfassten Göttlichen Komödie an vielen Stellen eine geradezu hymnische Ästhetik des Lichtes. Dazu gehört auch jene berühmte Passage im XI. Gesang des Purgatorio (Vers 80 – 81), in der der Dichter auf seiner fiktiven Jenseitsreise inmitten der Schar der Stolzen und Hochmütigen den Buch-, den Miniaturenmaler Oderisio da Gubbio trifft, der historisch zwischen 1268 und 1271 in Bologna nachweisbar ist. Dante begrüßt ihn auf dem Läuterungsberg als Meister „jener Kunst, die in Paris ‚Illuminieren‘ heißt“ („ ... di quell’arte, che ‚alluminar‘ chiamata è in Parisi“). „Ridon le carte“ – „Es strahlen die Buchseiten“, ist weiter zu lesen. Gemeint sind das funkelnde Gold und Silber, ferner die koloristische Pracht von Initialen und Bildern, die in kostbaren Büchern des Mittelalters aufleuchten. Dante verweist auf die Kunst sowie die licht- und farbentrunkene Schönheit des Illuminierens (lat. illuminare bedeutet „erleuchten“). Er charakterisiert die am meisten ins Auge springende Erscheinungsweise der Buchmalerei. Nirgendwo sonst kam die mittelalterliche Farbkultur in derart vielen frisch gebliebenen Zeugnissen auf die Nachwelt wie im Schutz der Buchdeckel. Kein Wissenschaftler scheint je die ungeheure Zahl illuminierter Bücher taxiert zu haben. Doch eines ist sicher: Wenngleich die erhaltenen Miniaturen nur einen verschwindenden Teil des einstigen Bestandes darstellen, bilden sie immer noch quantitativ – und oft auch qualitativ – den größten Teil der künstlerischen Hinterlassenschaft des Mittelalters und der frühen Neuzeit!

Definition Kunstwissenschaftlich formuliert, versteht man unter Buchmalerei eine eigenständige Bildgattung. Ihre Besonderheit entspringt im Unterschied zu den sonstigen bildnerischen Bereichen aus der Notwendigkeit, mit dem Text, dem

I.

Buchmalerei – Faszination und Geschichte

12

Satzspiegel, der Buchstabengestaltung, gegebenenfalls auch mit der Ornamentik jeder Buchseite zu kooperieren und am Gesamtlayout mitzuwirken. Die Gattung operiert mit Deckfarben-Malereien oder Federzeichnungen – seien es partiell kolorierte (lavierte), seien es monochrome – in gebundenen Handschriften (Manuskripten). Mit wenigen Ausnahmen konzentriert sich die Gattung also auf Bücher, die vom Einband über die Schrift bis zur Bebilderung manuelle Unikate und nicht „technisch reproduziert“, also nicht gedruckt sind. Nicht zu vergessen ist auch jene Buchmalerei, der man auf spätantiken und vereinzelt noch auf mittelalterlichen Buchrollen (Rotuli) begegnet. Buchmalerei ist der integrale Bestandteil eines ästhetisch gestalteten und inhaltlich wie formal durchkomponierten Gesamtorganismus. Zu dieser Einheit zählen auch Buchkästen, Buchdeckel mit Elfenbeinschnitzereien beziehungsweise Treibarbeiten und kostbarem Steinbesatz sowie unterschiedlich dekorierte Ledereinbände. Diese Buch-„hüllen“ sind für eine Analyse der Miniaturen wissenschaftlich freilich nur dann heranzuziehen, wenn ikonografische Querverbindungen existieren. Synonym zum Terminus „Buchmalerei“ verwendet man den Begriff „Miniaturmalerei“. Ursprünglich leitet er sich vom Berufsnamen der Miniatoren ab, der „minium“ – seinerseits auf das lateinische Wort ▶ minium, die Bezeichnung für Zinnoberrot, Miniatur rekurriert, einen Farbstoff, den man unter anderem für Federzeichnungen oder für Punktmotive, die die Konturen von Initialen säumen, verwendete. Schon gegen Ende des Mittelalters weitete sich allerdings der Sprachgebrauch – dann an den lateinischen Wortstamm min anknüpfend, der das Moment der Verkleinerung assoziiert – zur Bezeichnung kleinformatiger Bildkunst, eben der Miniaturmalerei in Handschriften aus: Sie umfasst schmückende Marginalien ebenso wie figurative Malereien, die einen Text begleiten, illustrieren, interpretieren. In wenigen Beispielen gewinnen die Bilder (Miniaturen) das Übergewicht über den Text, verdrängen ihn zwar nicht ganz, doch weitgehend, sodass man im Ergebnis von Bilderbüchern sprechen kann. Bemerkenswerterweise greift die moderne Wissenschaftssprache immer dann auf Dantes Schilderung zurück, wenn sie statt von Miniatoren und Miniaturen von Illuminatoren und vom Illuminieren spricht, um die Gesamtheit der figürlichen, dekorativen und ornamentalen Bebilderung einer Handschrift zu benennen. Das Layout eines Manuskripts und damit auch der Charakter der Bebilderung sind selbstverständlich maßgeblich beeinflusst durch die Funktion und den Adressatenkreis des jeweiligen Buches. Mit Bildern ausgestattete Handschriften sind ja in den Spätphasen der hier zur Diskussion stehenden Epochen der Buchmalerei zunehmend eine „Privatangelegenheit“, und deshalb auf die individuelle Lektüre und Rezeption eines einzelnen Lesers und Betrachters abgestimmt. Zuvor waren sie hingegen eher für die kollektive Rezeption konzipiert. Häufig finden sich auch Übergangsbereiche bezüglich der Rezeption.

13

Gefährdete Schönheit

Anders formuliert: Die Bestimmung einer Handschrift für die private Lektüre und Betrachtung respektive für eine mehr oder weniger „öffentliche“ Wirkung ist häufig nicht eindeutig: So dienen liturgische Bücher des Mittelalters beispielsweise nicht nur einem einzelnen Kleriker (oder einer Klerikergruppe), sondern vielmehr auch als „Ausstattungselemente“ des Sakralraums oder als „Akteure“ bei Prozessionen der breitenwirksamen Repräsentation; spätmittelalterliche Andachtsbücher sind gleichermaßen Instrumentarien privater Frömmigkeit und Bedeutungsträger höfischen und aristokratischen Mäzenatentums; wissenschaftliche Bücher können einerseits in den Dienst individuellen Studierens, andererseits vor die Anforderungen überindividueller Bildungsinteressen gestellt sein. All das wirkt sich naturgemäß auf den Inhalt der Bücher aus, ebenso aber auch auf die Ansprüche an ihre Gestaltung: Groß- oder Kleinformat, Opulenz oder Dezenz der Buchhüllen, Reichhaltigkeit der Ausstattung samt der Bebilderung (die bei Gebrauchshandschriften oder gar „Billigausgaben“ völlig fehlen kann) et cetera.

Gefährdete Schönheit „Und wie der Schreiber, der sein Buch gemacht hat, es mit Gold und Silber illuminiert, so illuminierte der besagte König sein Reich mit schönen Abteien […] und mit der großen Anzahl der Hospitäler.“ Mit diesen Worten verglich ▶ Jean Sire de Joinville in seiner 1309 verfassten Vie de Saint Louis im Rückblick auf die Leistungen des kanonisierten französischen Königs Ludwig IX. den herrlichen Schmuck seinerzeitiger Luxusmanuskripte mit dem Dekor, den kirchliche und soziale Einrichtungen ins Leben riefen. Zur Zeit Joinvilles stellten die Juwelierskunst und das illuminierte Buch die höchste Leidenschaft der Fürsten dar, jener Auftraggeber, die mit solchen Stücken prunken und gleichzeitig ihre Frömmigkeit demonstrieren konnten. Das exzellent ausgestattete Buch war als Sammlungsobjekt mehr geschätzt als etwa die Gemälde, und mit seinen Illuminationen unendlich viel kostbarer als diese. Um 1400, zur Zeit der Internationalen Gotik, zeigten viele Miniaturen in fürstlichen Prunkhandschriften hinreißende optische Wirkungen (um von den künstlerischen ganz zu schweigen), indem sie dem gewöhnlichen Farbstoff Goldemulsion und rot oder grün lasierte Gold- oder Silberauflagen hinzufügten. Neben die faszinierende Pracht der Bilder traten nicht minder beeindruckend die Kalligrafie der Schrift und die Eleganz des Bordürenschmucks. Zudem dienten der Gliederung des Textes bunt akzentuierte „Signale“, an erster Stelle die mit roter Tinte geschriebenen Rubriken, welche die einzelnen Textabschnitte ankündigen und benennen. Unter künstlerischem Aspekt wesentlich wichtiger als die Rubriken sind die

Jean de Joinville

I.

„arts de luxe“

Faksimile

Buchmalerei – Faszination und Geschichte

14

Initialbuchstaben, mit deren Hilfe eine Feingliederung des Textes erfolgte. Auch die Größe und Dekoration solcher Zierinitialen unterlagen einer subtilen hierarchischen Ordnung. Gewiss, zu allen Zeiten existierten Bücher einfacheren und wesentlich billigeren Zuschnitts, die auf Illustrationen verzichteten oder sie lediglich sparsam und mit geringem Materialaufwand einsetzten. Doch die Überlieferungsgeschichte der Bücher und folglich auch die kunstwissenschaftliche Beschäftigung mit der Buchmalerei hat es in erster Linie mit Prachtausgaben, zumindest mit künstlerisch ambitionierten Handschriften zu tun. Die wichtigsten Überlieferungen der Buchmalerei dokumentieren von der Spätantike bis ins ausgehende Mittelalter und in die beginnende Neuzeit hinein ein Segment aus den epochenspezifischen ▶ arts de luxe. Im Laufe eines guten Jahrtausends repräsentierte diese Gattung eine Abfolge künstlerischer Glanzleistungen, die lediglich in der unruhigen Zeit der Völkerwanderung stagnierte (ohne völlig zu erlöschen), sich ansonsten jedoch ungebrochen fortsetzte, wenn auch unter der von Epoche zu Epoche wechselnden Regie verschiedener Kunstzentren. „Es leuchten die Seiten …“: Die mit dieser Metapher ausgedrückte Schönheit und Kostbarkeit der illuminierten Handschriften, die nicht zuletzt aus dem Materialluxus und der Zusammensetzung der Farbpigmente resultieren, bewirkten einerseits, dass zumindest ein Bruchteil dieser bibliophilen Kostbarkeiten in Sammlungen und Bibliotheken erhalten blieb, sie trugen aber andererseits auch zu ihrer Fragilität bei, auf die aktuelle konservatorische Überlegungen Rücksicht nehmen müssen. Deshalb sind die Preziosen der Buchkunst kaum noch in Ausstellungen zu sehen, auf ausgedehnte Ausstellungstourneen können und dürfen sie schon gar nicht mehr geschickt werden. Auch an ihren ständigen Aufbewahrungsorten, das heißt in den großen Bibliotheken, sind die illuminierten Bücher der Allgemeinheit nicht zugänglich, nur wenige Spezialisten dürfen sie in die – behandschuhte – Hand nehmen. Und selbst das ist nicht immer möglich, denn in besonders prekären Fällen hat man, um ihr Überleben zu garantieren, die gefährdeten Bücher zerlegt und Blatt um Blatt zwischen Acrylplatten montiert. Das breite Publikum ist also, will es sich mit dem Phänomen Buchmalerei auseinandersetzen, auf die Abbildungen in der Sekundärliteratur und anderweitige Reproduktionen angewiesen. Die sogenannten ▶ Faksimiles (lat. fac simile bedeutet „mache es ähnlich“) suchen die bestmögliche Nachahmung der Originalvorlage. Die jeweiligen Ausgaben wenden das mimetische Prinzip nicht nur auf die Bildbearbeitung samt der besonders schwierigen Wiedergabe der Goldpartien (Blattgold und Pinselgold in ihrer unterschiedlichen Erscheinungsweise) an, sondern auch auf den Druck und die Bindung der Bücher, ja gelegentlich sogar auf die Replik des mehr oder weniger aufwendigen Einban-

15

Gefährdete Schönheit

des. Dementsprechend teuer sind diese Editionen, die längst einen eigenen Sammlermarkt bedienen und – selbst in der Version von Teilfaksimiles – nur eine begrenzte Klientel erreichen. Der Wissenschaft sind Faksimiles als Ergänzung zu den authentischen Handschriften insofern willkommen, als sie ein zeitintensives Studium der Miniaturen erlauben, das aus konservatorischen Gründen am Original nur eingeschränkt möglich wäre. Außerdem werden solche Faksimile-Ausgaben in der Regel von Begleit- und Kommentarbänden sekundiert, die von ausgewiesenen Kennern verfasst sind und den aktuellen Forschungsstand zu den faksimilierten Handschriften ausbreiten. Der interessierte Laie hat es also keineswegs leicht, in die Materie der Buchmalerei einzudringen. Zumal ihn die erwähnten Kommentarbände allein auf-

Abkürzungen und Signaturen

W

issenschaftliche Literatur zur Buchmalerei verwendet zahlreiche Abkürzungen. Hier einige der wichtigsten: fol. (folio) = Blatt fol. …r (recto) = Blatt …, Vorderseite (d. h. bei aufgeschlagenem Codex die rechte Seite) fol. …v (verso) = Blatt …, Rückseite (also die linke Seite) p. (pagina) = Seite (mittelalterliche Codices sind nur selten durchpaginiert) Die korrekte Titulatur einer Handschrift besteht aus Angabe der Stadt und Bibliothek, in der sie sich befindet, gefolgt von Cod. (= Codex) oder Ms (= Manuskript) und einer Zahl, hinzu kommt oft eine sog. Fondangabe: z. B. germ. = germanicus, gr. = graecus, lat. = latinus. Viele große Bibliotheken führen Hinweise auf mit neuer Zählung beginnende Sammlungsbestände, z. B. Add. (= Additional) in der British Library London,

nouv. acq. (= nouvelle acquisition) in der Pariser Bibliothèque nationale de France. Auch geänderte Signaturen sind gelegentlich angegeben, z. B.: Dublin, Trinity College 58 (ol. A. 1. 6) für das Book of Kells, einst (= olim) A. 1. 6. Weitere Siglen: etwa Clm/Cgm = Codex latinus/Codex germanicus, oder Vat. lat./gr. = Vaticanus latinus/graecus. Die British Library verzeichnet auch die einzelnen Bibliotheken, aus denen sich die Gründungsbestände 1753 zusammensetzten: Cotton (Sir Robert Cotton pflegte im 17. Jahrhundert seine Bücherschränke nach römischen Kaisern und Kaiserinnen zu benennen, gefolgt von Regal- und Buchnummern, also: Cotton Nero D IV = Book of Lindisfarne), Harley, Sloane – seit 1973 kam eine Reihe weiterer solcher Bezeichnungen hinzu. (Zusätzliche Hinweise bei Christine Jakobi-Mirwald: Buchmalerei, Berlin 1997, S. 175ff.)

I.

Buchmalerei – Faszination und Geschichte

16

grund ihrer oft kryptischen Fachterminologie auf eine harte Probe stellen. Da ist beispielsweise die Rede von „Ms lat. …“ in der Biblioteca Laurenziana, da liest man „fol. 1v“ oder „fol. 100r“, man erfährt etwas über „Lagen“, „Rubriken“, „Muschelgold“ et cetera. Auch das vorliegende Buch kommt um solche Termini und Kürzel nicht herum. Eine grundsätzlichere Schwierigkeit für das Verständnis liegt in der Tatsache, dass sowohl die Texte als auch die Miniaturen den heutigen Leser und Betrachter mit weit zurückliegenden Sachverhalten und Weltanschauungen konfrontieren. Fragen der Liturgie in religiösen Manuskripten und die historische Bildersprache der zugehörigen Illustrationen sind heute nur den Wenigsten vertraut, auch widersprechen die wissenschaftlichen und historischen Inhalte mittelalterlicher Bücher häufig heutigen Denkgewohnheiten. Doch all diese Wissens- und Glaubensstoffe sowie die symbolisch verschlüsselten wie auch die alltäglichen „Weltbilder“ machen, so fremd sie auf den ersten Blick erscheinen, einen wichtigen Teil unseres kulturellen Erbes aus. Entschlüsselt man sie und die zugehörigen Illustrationen, dann wird die Buchmalerei auch auf diesem Wege zu einem Faszinosum.

Das Panorama der Buchmalerei Die Großregionen Die Kunst des Illuminierens war in allen Kulturkreisen gebräuchlich, die das Buch oder funktionell vergleichbare Medien als Kommunikationsmittel kannten. Eines der ältesten erhaltenen Denkmäler der ▶ Miniaturenkunst entstand ägyptische Buchmalerei im Ägypten des frühen 2. Jahrtausends v. Chr.: ein Zeremonienspiel anlässlich der Inthronisation des Pharaos – einfache bildliche Darstellungen, mit schwarzer Tusche auf Papyrus gezeichnet und zwischen Hieroglyphen angeordnet. Das Hauptkontingent der altägyptischen Buchmalerei stellen die Totenbuchrollen, die besonders zahlreich aus dem Neuen Reich (ca. 1550 – 1080 v. Chr.) überliefert sind. Wie die altägyptische verwendete auch die fernöstliche Kultur das Buch nicht in Gestalt des Codex. Die einzelnen Seiten der heiligen Schriften des Buddhismus – auf Palmblatt geschrieben und sparsam illustriert – wurden in Tibet zwischen zwei Deckeln, in feine Tücher eingeschlagen, aufbewahrt. In China begegnet seit dem 9. Jahrhundert der Holzschnitt als Illustrationsmittel, ansonsten aber überwiegt zunächst, wie auch in Japan, die Tuschzeichnung, die

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Das Panorama der Buchmalerei

bei der Gestaltung von Quer- und Hängerollen sowie von Albumblättern oft die Grenze zwischen dem reinen Bild und der Kalligrafie aufhebt. Sehr viel enger kommen dem europäischen Buchverständnis die Bilderhandschriften der ▶ Maya-Kultur in Mittelamerika entgegen. Spanischen Quel- Buchmalerei der Maya len zufolge besaßen die Mayas unzählige religiöse und wissenschaftliche Bücher, ferner Kalender mit Verzeichnissen der Feste und Tempelzeremonien. Von den wenigen erhaltenen Exemplaren aus der Zeit vor der spanischen Eroberung bildet der in Faltbuchanordnung, also wie ein Leporello, gestaltete Codex Borgia aus dem 13. Jahrhundert (Rom, Biblioteca Apostolica Vaticana, Vat. mess. 1) das schönste Beispiel. Eine „Universalgeschichte“ der Buchkunst und Buchmalerei hätte sich mit immensen Zeiträumen und Geografien auseinanderzusetzen. Eine prominente Rolle nähme dabei die Buchmalerei der muslimischen Kulturkreise mit zahlreichen wunderbaren Zeugnissen ein. Ein Großteil der fraglichen Handschriften überlebte jedoch nur stark fragmentiert oder in Einzelblättern. Dieser Umstand resultiert häufig aus einer in der islamischen Welt seit Jahrhunderten praktizierten Gewohnheit, Manuskripte zu zerlegen und Einzelblätter unterschiedlichster Provenienz und Zeit in Alben zu sammeln. Der islamischen Religion galt und gilt vielfach noch heute die ▶ Darstel- Miniaturen in der lung der sinnlichen Welt als Götzendienst. Daher empfand man die Wiedergaislamischen be menschlicher Gestalten als Idolatrie und unterwarf sie spätestens seit dem Welt 9. Jahrhundert einem kategorischen Bilderverbot. Andererseits hielten intellektuelle und höfische Kreise an jener strikten Bildabstinenz nicht immer fest. Deshalb entfalteten sich seit dem islamischen Hochmittelalter märchenhafte Bilderwelten voll unerschöpflicher Phantasie. Vor allem die persische Buchmalerei und die Miniaturen des islamischen Moghulreiches in Indien legten im 16. und 17. Jahrhundert beredtes Zeugnis davon ab. Einen Bereich sui generis stellt ferner die byzantinische Buchmalerei dar. Zu Beginn ist sie geprägt vom Zusammentreffen klassisch-antiker Formen und Inhalte mit christlichem Geist. Die frühbyzantinischen Miniatoren griffen auf jene hellenistischen Traditionen zurück, die die drei bedeutendsten Zentren des griechischen Ostens, Konstantinopel, Antiochia und Alexandria, tradierten. Erst ab dem 9. Jahrhundert, nach dem Ende des Bilderstreits, wird ein eigenständiger ▶ byzantinischer Stil greifbar. Gegen Ende des 14. Jahrhunderts byzantinischer Stil verloren freilich die Buchminiaturen an Attraktivität gegenüber der Ikonenmalerei. Überall dort, wo die byzantinische Kunst auf die politisch oder kulturell von Konstantinopel abhängigen Regionen einwirkte – vor allem auf dem Balkan und in dem während des 11. Jahrhunderts von Byzanz her christianisierten Russland – musste sich die Miniaturenmalerei mit der übermächtigen Konkurrenz der Ikonen- beziehungsweise Wandmalerei im sakralen Raum abfinden.

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Diese historischen Entwicklungen nachzuzeichnen, würde den Rahmen des vorliegenden Buches sprengen. Das Gleiche gilt für eine Diskussion der jüdischen Buchmalerei. Denn eine solche existierte: Das im Alten Testament formulierte Bilderverbot hielt die jüdischen Illuminatoren keineswegs davon ab, neben ornamentalen auch figürlich-szenischen Schmuck unterzubringen. Die Juden der Diaspora richteten den Buchdekor nach den Traditionen des jeweiligen Gastlandes. In muslimischer Umgebung, in Persien, Ägypten oder im maurischen Spanien herrschten ornamentale Zierseiten vor, während jüdische Bücher in christlichen Ländern figürliche Miniaturen kennen, die dem Stil der jeweiligen Epoche folgen, gelegentlich sogar von christlichen Künstlern ausgeführt zu sein scheinen. Einige Großregionen wären zusätzlich zu nennen, etwa die Miniaturenkunst der Kopten oder der Hindus. Doch das vorliegende Buch behandelt ausschließlich die abendländische Buchmalerei: von der Spätantike und dem frühen Christentum, als sich mit dem Codex, wie wir hören werden, die zukunftsweisende Buchform durchsetzte, über das frühe und hohe Mittelalter bis in die beginnende Neuzeit, als der Siegeszug des gedruckten Buches begann.

Zeitliche und kunstlandschaftliche Schwerpunkte

ItalaFragmente

Die Buchproduktion der Antike erlebte mit dem Untergang des weströmischen Reiches im 5. Jahrhundert einen dramatischen Verfall. Nur langsam übernahm das Christentum dieses Erbe. Es waren zunächst die Klöster, die die Buchkultur mühsam am Leben hielten und Schritt um Schritt zu neuer Blüte führten. Für den Zeitraum vom 4. bis zum 7. Jahrhundert lässt allerdings die enorme Verlustrate der Bücher kaum eine Rekonstruktion der Entwicklungsschritte zu. Sicher ist, dass der antike Formen- und Typenschatz zunächst die Grundlage blieb, ehe das Frühmittelalter den spätantiken Naturalismus und Illusionismus zugunsten einer stilisierten Bildsprache aufgab. Ungefähr gleichzeitig mit der kopierenden Fortsetzung antiker Texte – berühmte Beispiele sind der um 400 entstandene Vergilius Vaticanus und der rund hundert Jahre jüngere Vergilius Romanus (beide in der Vatikanischen Bibliothek, Vat. lat. 3225 und Vat. lat. 3867) – setzten auch die ersten Bibeleditionen ein, wie die im späten 4. oder frühen 5. Jahrhundert entstandenen Quedlinburger ▶ Itala-Fragmente (Berlin, Staatsbibliothek, Ms theol. lat. fol. 485) zeigen. Mit der Christianisierung der Britischen Inseln entwickelte sich die dortige insulare Buchmalerei zu einem ersten Höhepunkt der Gattung in nachantiker Zeit. Nach der Missionierung Irlands durch den heiligen Patrick im 6. Jahrhundert gingen irische Mönche nach Iona und bekehrten von dort aus Schottland. Im Norden Englands, in Northumbrien trafen sie auf Glaubensgemeinschaften, die von Europa aus begründet worden waren und Bücher aus

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▲ Abb. 1  Book of Kells: XPI-Liga-

Italien mitgebracht hatten. In meist engster Anlehnung tur (= Chi Rho Jota) als Initiale zum an die gleichfalls oft in Klöstern gepflegte Goldschmie- Beginn des Matthäus-Evangeliums, um 800; Dublin, Trinity College dekunst ergingen sich jene anglo-irischen Miniatoren in Library, Ms A.I.6 (58), fol. 34r. ornamentalen Phantasien und verbanden Buchschmuck und kalligrafisch meisterlich gehandhabte Schrift, gipfelnd in den Organismen der Initialkörper. Die bedeutendsten Beispiele sind das Book of Durrow (um 675; Dublin, Trinity College Library, Ms A.IV.5 [57]), das Book of Lindisfarne (Ende 7. Jh.; London, British Library, Cotton Ms Nero D.iv) und das Book of

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Kells (um 800; Dublin, Trinity College Library, Ms 58 [ol. A. 1. 6]) (Abb. 1). Die vorgeschichtliche, keltische und germanische Interpretation des Ornamentes als Träger magischer Kräfte vereinte sich darin bruchlos mit dem christlichen Verständnis vom sakramentalen Sinn des Wortes in seiner künstlerischen Umformung. Hinzu kamen mediterrane Anregungen, die zur allmählichen Herausbildung figürlicher Darstellungen führten. Der Dekor aus unentwirrbar verschlungenen Tierleibern, aus hieroglyphischem Flechtwerk, aus labyrinthischen Ornamentmustern entspricht einer mystischen Glaubenshaltung, die das frühbenediktinische Leitmotiv Ora et labora („Bete und arbeite“) auf die künstlerische Tätigkeit überträgt. Dabei bedienten sich die Künstler-Mönche einer Bildersprache, deren Grammatik und Syntax dem heutigen Betrachter freilich enorme Verständnisprobleme bereitet. Der von den angelsächsischen Missionaren aufs Festland verpflanzte Stil der insularen Miniatoren sollte dort in gewissem Maße zu jenem neuen Höhepunkt beitragen, den die Buchmalerei zur Zeit Karls des Großen und seiner unmittelbaren Nachfolger um und nach 800 erreichte. Im intellektuellen Klima an Karls Hof entwickelten sich ein wegweisender Schrifttypus, die sogenannte karolingische Minuskel, und eine aristokratische Buchmalerei, die neben einigen wenigen insularen Motiven vornehmlich auf antike sowie byzantinische Traditionen zurückgriff. Als Zeichen des Verlangens nach sakralisierter kaiserlicher Repräsentation entstanden Evangelienmanuskripte, die mit Goldtinte auf Purpurpergament geschrieben waren. Die erste erhaltene Bilderhandschrift, die im Auftrag des nachmaligen KaiGodescalc- sers geschaffen wurde, ist das kurz nach 780 vollendete ▶ Godescalc-EvangelisEvangelistar tar (Paris, Bibliothèque nationale de France, Ms nouv. acq. lat. 1203) (Abb. 2). Mit ihr heben die zu den Höhepunkten mittelalterlicher Buchkunst zählenden Prachtcodices der Hofschule an. Das gleiche Prädikat dürfen die Arbeiten der Palastschule beanspruchen, unter ihnen das kurz vor 800 vollendete ▶ Wiener Wiener KrönungsKrönungsevangeliar (Wien, Schatzkammer, SCHK, XIII) (Abb. 3). evangeliar Um die in Aachen entwickelten Zeugnisse der Gelehrsamkeit und Frömmigkeit zu verbreiten, entsandte Karl „Emissäre“ in die klösterlichen Zentren seines Riesenreiches: Bald florierte die früh- und hochkarolingische Buchmalerei von Tours bis Italien, von Reims bis Würzburg, von Corbie bis Kremsmünster. Auch Fulda, Lorsch, St. Gallen oder Trier installierten markante Schulen damaliger Buchkunst. Im späten 9. Jahrhundert nähert sich die karolingische Buchmalerei mit der westfränkischen Hofschule Karls des Kahlen ihrem Ende. Ein illustres Ausrufe▶ Abb. 2  Godescalc-Evangelistar: Heilsquell (Lebensbrunnen), 781; Paris, Bibliothèque natio-

nale de France, Ms nouv. acq. lat. 1203, fol. 3v.

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▲ Abb. 3  Wiener Krönungsevangeliar: Evangelist Johannes, kurz vor 800; Wien, Kunsthistorisches Museum, Schatzkammer, SCHK, XIII, fol. 178v.

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▲ Abb. 4  Codex Aureus aus St. Emmeram: Karl der Kahle, begleitet von Waffenträgern und

den Personifikationen Francia und Gotia, 870; München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 14000, fol. 5v.

zeichen setzte nochmals das ins Kloster St. Emmeram zu Regensburg gelangte Prunkstück des ▶ Codex Aureus (870 in einem nordfranzösischen Atelier entCodex standen und als Geschenk an Kaiser Arnulf gelangt, der in Regensburg resi- Aureus aus St. Emmeram dierte; München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 14000) (Abb. 4). „Ottonik“ hat sich als Stilbezeichnung in der deutschen Kunstgeschichte eingebürgert und umfasst im Kern die Zeitspanne vom mittleren 10. bis zum frühen 11. Jahrhundert. Ottonische Kunst ist höfisch-aristokratische und

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reichsklösterliche Kunst. Auftraggeber waren Angehörige des Kaiserhauses, Reichsbischöfe, Äbte und Äbtissinnen aus den vornehmsten Familien. Neben dem hochrepräsentativen Anspruch prägt eine neue Suche nach seelischem Ausdruck und nach ekstatischer Gebärdensprache die Buchmalerei, mit der das Gebiet der deutschen Königsherrschaft unbestritten die künstlerische Führung im europäischen Kontext innehatte. Die Hauptskriptorien (Schreib‑ und Illuminationswerkstätten) knüpften nahtlos an karolingische Traditionen an. Als besonders brillant erwies sich die Miniaturenkunst des Bodensee-Klosters Reichenau, das die einzigartigen Anregungen des Meisters des ▶ Registrum Gregorii aufgriff und weiterentGregorMeister wickelte (Abb. 5). Seinen Notnamen erhielt dieser Anonymus nach dem zwischen 983 und 990 entstandenen Einzelbild des thronenden Papstes Gregor des Großen (Trier, Staatsbibliothek), ein Fragment von einem Manuskript mit der als Registrum Gregorii bekannten Briefsammlung des Papstes. Möglicherweise lebte der Gregor-Meister als Mönch in der größten Benediktinerabtei Triers, St. Maximin, oder als Kanoniker in einem der Trierer Stifte. Vielleicht war er aber auch ein aus Italien gekommener Laie im Dienste des Trierer Erzbischofs Egbert. Jener geniale Künstler entwickelte eine stilistische Richtung, die, wie gesagt, Reichenauer sogleich von der ▶ Reichenauer Schule aufgegriffen, modifiziert und zwischen Schule etwa 990 und 1020 zu unerhört expressiver Kraft gesteigert wurde: mit einem Evangeliar im Aachener Domschatz aus den Jahren um 990 (möglicherweise aber auch in Trier entstanden), dem Evangeliar Ottos III. (bald nach 997; München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 4453), dem Perikopenbuch Heinrichs II. (1007/12; München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 4452) (Abb. 6) und der Bamberger Apokalypse (um 1000 – vor 1020; Bamberg, Staatsbibliothek, Msc. Bibl. 140). In der altbayerischen Residenzhauptstadt Regensburg wuchs das Benediktinerkloster St. Emmeram zu einem der Reichenau ebenbürtigen Zentrum der Bildung und der Buchkunst heran, wobei der erwähnte spätkarolingische Codex Aureus als unerschöpfliche Inspirationsquelle wirkte. Neben Regensburg sind weitere Schulen der Buchmalerei in St. Gallen, Trier, Salzburg, Fulda, Köln, Corvey und Hildesheim hervorzuheben. Fast alle der in diesen Skriptorien geschaffenen Miniaturen verraten, so unterschiedlich sie stilistisch sind, nachhaltige Anregungen seitens der byzantinischen Buchmalerei. Die mit der Ottonik ungefähr zeitgleiche Stilentwicklung außerhalb der Grenzen der deutschen Königsherrschaft tituliert die Forschung als Vor- oder Frühromanik. Die Hochblüte der Romanik fällt zeitlich mit der Konsolidierung jener politischen Keimzellen, aus denen sich die Nationalstaaten Frankreich und England herauskristallisierten, zusammen. Dementsprechend vermehrten

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▲ Abb. 5  Gregor-Meister: Registrum

sich die wichtigen Zentren der Kunst und somit auch Gregorii, Einzelblatt mit thronendem der Buchmalerei, und es zeichneten sich zunehmend Herrscher (Otto II. oder Otto III.), mit den huldigenden Provinzen seines kunstlandschaftliche „Sonderwege“ ab (wenn im Fol- Reiches, um 985; Chantilly, Musée genden von Spanien, Italien oder Deutschland die Rede Condé, Divers 340. ist, dann nicht deckungsgleich mit den heutigen Staatsgebilden). Außerdem machten sich im 12. Jahrhundert erste Anzeichen einer Säkularisierung der europäischen Gesellschaft und eine damit einhergehende Umgewichtung von Inhalten und Produktionsbedingungen auch auf dem

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▲ Abb. 6  Perikopenbuch Heinrichs II.: Verkündigung an die Hirten, 1007, spätestens 1012; München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 4452, fol. 8v.

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Buchsektor geltend. Verwiesen sei nur auf die wachsende Illustration wissenschaftlicher oder (pseudo-) wissenschaftlicher Werke wie der Bestiarien – Sammlungen moralisierender Tiergeschichten, die als Lehrbücher der Zoologie galten. Die klösterliche Schreib- und Illuminiertätigkeit behielt dennoch weiterhin ihr Gewicht, ja sie wurde durch die neuen Orden der Zisterzienser, Prämonstratenser und Kartäuser um zusätzliche Kräfte bereichert.

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Die spanische Buchmalerei verblieb weitgehend bei jenem extrem farbenfrohen und flächigen, dem sogenannten mozarabischen Stil, der eine Reihe von Anregungen aus den dekorativen Künsten der islamischen Reiche auf dem Boden der Iberischen Halbinsel aufgenommen hatte (vgl. Abb. 10). Die Buchmalerei Italiens teilte sich während der fraglichen Zeitspanne in einen extrem von Byzanz beeinflussten und in einen Teil, der – zumal über das Kloster Montecassino – Anschluss an die westliche, vor allem französische Buchkunst herstellte. Gegen 1000 zeichnen sich in Frankreich die Konturen einer innovativen Illuminationsleistung ab. Der im Südwesten angesiedelte aquitanische Stil weist enge Berührungen mit Spanien auf. Nicht umsonst entstand hier um die Mitte des 11. Jahrhunderts mit der berühmten ▶ Apokalypse von Saint-Sever (Pa- Apokalypse ris, Bibliothèque nationale de France, Ms lat. 8878) die einzige nicht in Spanien von SaintSever hergestellte Handschrift aus der Reihe der Beatus-Apokalypsen, von denen später erneut die Rede sein wird. In den großen Klöstern des Nordens – Saint-Bertin, Saint-Vaast und Saint-Amand –, die seit jeher enge Kontakte zu England hatten, pflegte man dagegen den angelsächsischen Stil, der eine florierende Ornamentik bevorzugte. In England wurden seit 1100 die großen kirchlichen Zentren – Canterbury, Salisbury, Exeter, Durham, Worcester, St. Albans und Bury St. Edmunds –, ferner die benediktinischen Klöster von einiger Bedeutung seit circa 1120–1150 systematisch mit Bücherbeständen ausgestattet. Darunter fanden sich zusätzlich zu liturgischen und anderweitig religiösen Werken juristische Codices, lateinische Grammatiken, klassisch-antike Autoren, der jüdische Historiker Flavius Josephus und eine Reihe von Chronisten, ferner astrologische, medizinische und botanische Traktate. Als Inkunabel der romanischen Buchmalerei in England gilt der herrliche Albani-Psalter, der zwischen circa 1130 und 1145 (nach 1155 noch Nachträge im Kalendar) verfertigt wurde (Hildesheim, Dombibliothek, Ms St. Godehard 1). Der Stil der Miniaturen knüpft partiell an die flächenbetonte ottonische Buchmalerei des 11. Jahrhunderts an. Konträr dazu favorisierte die Schule von Winchester einen nervös knittrigen Zeichenstil von ungeheurer Expressivität sowie eine hochkultivierte Ornamentik. Die romanische Buchmalerei Deutschlands war trotz eines solch exorbitanten Werkes wie dem um 1175 – 1188 realisierten ▶ Evangeliar Heinrichs des Evangeliar Heinrichs Löwen (Wolfenbüttel, Herzog-August-Bibliothek, Cod. Guelf. 105 Noviss. 2o des Löwen und München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 30055) in der Breite qualitativ nicht mehr mit der der vorangehenden ottonischen und salischen Phase zu vergleichen. Die Gotik setzte in der Buchmalerei später als in den anderen Kunstgattungen ein, und zwar um 1195 in Nordfrankreich, mit dem herrlichen, für die Kö-

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IngeborgPsalter

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nigin von Frankreich bebilderten und auch in der Entwicklung der gotischen Minuskel-Schrift bahnbrechenden ▶ Ingeborg-Psalter in Chantilly (Musée Condé, Ms 9). Die europäische Vorrangstellung der französischen Buchmalerei, die damals in einen intensiven Dialog mit der Glas- und der Tafelmalerei eintrat, verfestigte sich im 13. Jahrhundert und sollte rund zweihundert Jahre andauern. Im 14. Jahrhundert belegt die führende Werkstatt der Zeit, nämlich die des von 1320 bis 1334 in Paris nachzuweisenden Jean Pucelle (vgl. Abb. 25), dass die italienische Trecentomalerei die Miniatoren nördlich der Alpen zu Experimenten mit Perspektive und Raumdarstellung sowie zur Grisaille-Technik (Grau-in-Grau-Malerei) anregte. Seit Pucelle fungierten Pariser BuchmalereiWerkstätten als Drehkreuze künstlerischer Strömungen, als Orte der Harmonisierung heimischer und fremder Stilrichtungen. Die Synthese scheinbar kontroverser Elemente gedieh zum Hauptmotor der Internationalen Gotik. Zug um Zug lüftete sich damals der Schleier der Anonymität, immer mehr Illuminatoren werden als Persönlichkeit konkreter fassbar. Gleichzeitig antworteten die Handschriften hier und anderswo auf die wachsende Säkularisierung der Gesellschaft und ihrer Kultur. Mit den Universitäten entstanden neue intellektuelle Brennpunkte, die auch einen mit der Antike untergegangenen Berufsstand wiederaufleben ließen: den der Buchhändler. Der Wunsch eines gebildeten, städtischen Publikums nach wissenschaftlicher Literatur trat neben die beeindruckend luxuriöse Produktion für aristokratische Auftraggeber, die Andachtsliteratur, Epen und höfische beziehungsweise Ritterromane favorisierten. Um 1220 drang der Stil der französischen Gotik in die englische Buchmalerei ein und erfüllte die insulare Tradition der im Kolorit sparsam akzentuierten Federzeichnung mit neuem Leben. Der Höhepunkt dieser Entwicklung findet sich in den Illustrationen des Geistlichen Matthew Paris, des Leiters des Skriptoriums von St. Albans. An den nach wie vor mehr linearen denn malerischen Stil von St. Albans lehnte sich das Skriptorium von Salisbury an. In der Universitätsstadt Oxford etablierten sich im zweiten Drittel des 13. Jahrhunderts Malateliers nach Pariser Vorbild. Die engsten Berührungen mit der französischen Gotik zeigen die Werkstätten im Umkreis des englischen Hofes. Auch Deutschland orientierte sich am international gewordenen Idiom eines delikaten gotischen Stils. Im Übergang von der Spätromanik zur Gotik waren es vor allem die Bildprägungen des sogenannten Zackenstils, die in der Verschmelzung heimischer Traditionen mit französischen Neuerungen herausragende Ergebnisse zeitigten. Eines der schönsten Werke in dieser Hinsicht und der vielleicht bedeutendste Codex der deutschen frühgotischen Buchmalerei ist das um 1250 entstandene Goldene Mainzer Evangeliar mit seinem virtuosen Bilderzyklus (Aschaffenburger Hofbibliothek, Ms 13).

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In Frankreich erreichte die Buchkunst im ausgehenden 15. Jahrhundert einen weiteren Höhepunkt, wobei ausländische Künstler, in erster Linie Niederländer und Italiener, nach Paris kamen und die Ausdrucksweise der Miniaturen vermehrt an naturalistischen Gesichtspunkten orientierten. Daraus entwickelte sich eine faszinierende Synthese aus internationaler, höfisch verfeinerter Gotik, italienischer Trecento-Modernität und realistischer Wirklichkeitsschilderung. Künstler wie die ▶ Gebrüder Limburg (vgl. Abb. 23, 26, 27), der Boucicaut-Meister oder der Bedford-Meister (vgl. Abb. 11) schufen an den Höfen König Karls V. und seiner Brüder – Ludwig von Anjou, Jean Duc de Berry und Philipp der Kühne von Burgund – die schönsten Stundenbücher, die die Kunstgeschichte kennt; genannt seien die alles überragenden Très Riches Heures, mit deren Illumination der Herzog Jean de Berry die Gebrüder Paul, Jean und Herman von Limburg beauftragte (1410 – 1416; spätere Ergänzungen; Chantilly, Musée Condé). Von Italien und von Frankreich war auch die wunderbare Kunst der Buchillustration in Prag ausgegangen, die unter dem teilweise in Paris erzogenen Kaiser Karl IV. und besonders um 1400 unter seinem Sohn Wenzel gepflegt wurde, ohne dabei jedoch heimische Quellen ganz zu vergessen. Im Verlauf des 15. Jahrhunderts ermöglichte das Mäzenatentum der Herzöge von Burgund, die von 1384 bis 1477 regierten, ehe ein großer Teil ihres Staatsgebietes durch Erbschaft an das Haus Habsburg fiel, eine unvergleichliche Prachtentfaltung. Damals gelang der burgundisch beeinflussten altniederländischen Malerei der Durchbruch zu innovativen Schöpfungen, die mit Namen wie Jan van Eyck und Barthélemy d’Eyck (vgl. Abb. 20, 29) verbunden sind und mit genialer Lichtbehandlung und detailgenauer Naturbeobachtung der weiteren flämischen Buchmalerei den Weg vorzeichneten. Im Zeitraum zwischen 1470 und 1520 lieferten flämische Ateliers in Brüssel, Gent, Brügge und zahlreichen anderen Städten dann nicht mehr nur Luxusprodukte, vornehmlich Stundenbücher, sie fertigten zusätzlich in hoher Stückzahl Bücher für einen breiten bürgerlichen Markt. Dennoch, die Gent-Brügger Schule, vertreten durch den sogenannten Meister der Maria von Burgund, Gerard Horenbout oder Simon Bening, malten weiterhin Miniaturen, die zu den herausragenden Zeugnissen dieses Mediums gehören. Sie fanden, wie vorher die französischen Werke eines Simon Marmion, Jean Fouquet (vgl. Abb. 28) und vieler anderer, Nachahmer und Liebhaber in ganz Europa. Simon Bening lieferte beispielsweise 1530 – 1534 einige der Bilder für die Genealogie des Infanten Dom Ferdinand von Portugal (London, The British Library, Add. Ms 12531). Und an der Bebilderung des ▶ Breviarium Grimani, der wichtigsten aller flämischen Handschriften des 16. Jahr-

Gebrüder Limburg

Breviarium Grimani

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Buchmalerei – Faszination und Geschichte

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hunderts, war ebenfalls Simon Bening beteiligt; 1520 ging das Buch in den Besitz des Kardinals Grimani in Venedig über (Venedig, Biblioteca Nazionale Marciana, Ms lat. XI167 [7531]). Die italienische Buchmalerei erhob sich seit der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts zu eigenständigem Rang. Ihre Zentren waren zunächst Florenz und Siena mit der Giotto-Schule und mit Simone Martini. Um die Mitte des Jahrhunderts wurde dann die Bologneser Buchmalerei federführend. Die künstlerische Modernität des in Mailand tätigen Giovannino de’ Grassi (vgl. Abb. 14) brachte nicht nur den Übergang von der Illustration zur autonomen Zeichnung mit sich, sie wirkte sich auch prägend auf die burgundische Buchkunst und auf die in Mailand folgende Produktion aus. Mit der Renaissance stieg im 15. Jahrhundert die Nachfrage nach weltlichen Handschriften und Ausgaben antiker Klassiker sprunghaft. Parallel dazu nahmen die weltlichen Bibliotheken an Zahl und Kapazität zu. Eine Eigenheit der italienischen Buchmalerei des Quattrocento liegt darin, dass mehr als anderswo in Europa Künstler, die Fresken oder Tafelbilder malten, auch Miniaturen ausführten. Als Beispiel sei Andrea Mantegna erwähnt, der, wie die Forschung fast übereinstimmend glaubt, jenes kostbare kleine Manuskript illuminierte (Paris, Bibliothèque de l’Arsenal, Ms 940), das ein venezianischer General am 1. Juni 1453 an den Seneschall der Provence gesandt hat. Anatomisch studierte, nach Maß- und Proportionsregeln aufgebaute Körper, exakte Raumdarstellung und die Demonstration perspektivischer Kunststücke erfüllten die damaligen Bildarrangements. Sei es in Frankreich oder Flandern, sei es in Italien oder Polen, in Augsburg oder in Nürnberg – die Lage war überall identisch: Nach einer letzten intensiven Hochblüte von 1480 bis 1520 läuft die Produktion illuminierter Handschriften in ganz Europa allmählich aus und endet, von wenigen Ausnahmen abgesehen, um 1540. Gerade die Universalität des Prozesses spricht gegen die oft geäußerte Behauptung, die Reformation habe der Buchmalerei den Todesstoß versetzt. Dass diese Gattung damals auch in Ländern zum Erlöschen kommt, die von der Reformation nicht oder nur unwesentlich betroffen waren, ist ein schlagendes Gegenargument. Außer Zweifel steht, dass die Anfertigung illuminierter Handschriften zeitgleich zur Reformation dramatisch zurückging. Von einem sofortigen und vollständigen Verschwinden zu sprechen, ist jedoch unzutreffend. Inwieweit die Konkurrenz des gedruckten Buches eine ausschlaggebende Rolle gespielt hat, soll in einem späteren Kapitel diskutiert werden.

II. Mediale

Besonderheiten

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ie die Tafel-, die Wandmalerei und die Zeichnung erzeugt auch die Buchmalerei Bilder auf der Oberfläche eines materiellen Bildträgers. Die Farbigkeit des Bildes (inklusive des Sonderfalls der Grisaille, der Grau-in-Grau-Malerei) hat sie mit den übrigen Untergattungen der Malerei gemeinsam; die Monochromie einer auf linearen Bildstrukturen beschränkten Bildanlage teilt sie hingegen mit der Feder- oder Tuschezeichnung. Was aber unterscheidet sie dann von diesen anderen Medien? Zur Beantwortung dieser Frage sei das in die Jahre um 1235 datierte, in der nordfranzösischen Kunstlandschaft entstandene Skizzenbuch (Bauhüttenbuch) des ▶ Villard de Honnecourt (Paris, Bibliothèque nationale de France, Ms fr. Villard de 19093) herangezogen. Von dessen ursprünglich 65 dicken Pergamentblättern Honnecourt blieben 33 erhalten. Sie zeigen in 325 Federzeichnungen architektonische Konstruktionselemente und Schmuckformen, geometrisch-mathematische Schemata sowie eine Reihe figürlicher, ornamentalisierter Darstellungen: Dabei handelt es sich um stellenweise mit Bister und Pinsel lavierte Vorlagen, die in einer gotischen Bauhütte gebraucht und an den Nachwuchs weitergegeben wurden. Zu den einzelnen Zeichnungen finden sich bald längere, bald kürzere Beischriften. Dieses Werk des 13. Jahrhunderts ist das bekannteste Beispiel eines Manuskripttypus, der ursprünglich für den Gebrauch in mittelalterlichen Bauhütten entstand und dann seit dem 15. Jahrhundert in die gedruckte Version überwechselte: das ▶ Musterbuch. Villards Bauhüttenbuch gehört zu diesem ManuskriptMusterbücher typus, den auch beispielsweise Maler und Goldschmiede in ihrem Werkstattbetrieb als Mustervorrat und als Anleitung für Gehilfen und Schüler verwendeten. Dass man diese Blätter samt ihren Illustrationen nicht direkt zur Gattung der Buchmalerei zählt, liegt an ihrer ureigenen Zuordnung von Bild und Schrift. Denn bei ihnen ist das Bildmaterial der Primärfaktor, dem die Schrift, sofern überhaupt vorhanden, nur als knappe Erläuterung beigegeben ist (bei den späteren, gedruckten Traktaten kann das Verhältnis ausgewogener sein, doch die-

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Mediale Besonderheiten

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se haben uns nicht zu beschäftigen). Im Kontext der Buchmalerei hingegen begleitet das Bild – samt dem ganzen Apparat dekorativer Elemente – den Text funktional und formal, wenngleich es immer wieder versucht, auch hier seinen Eigenwert auszuspielen. Zunehmend ging die Tendenz zur Bestätigung der Schrift durch das Bild, bis hin zu deren partnerschaftlicher Allianz! Gerade dies machte illuminierte Bücher zu einer geistigen Waffe sondergleichen. Aus diesem Grund sind die jeweiligen Illuminationen ohne ihr spezifisches Arrangement im Text und im Gesamtlayout nicht zu verstehen ist. Bevor man sich als Leser und Betrachter also den Illuminationen zuwendet, muss man sich deshalb mit der Gesamtheit des Buches, seiner einschlägigen Bedeutungsdimension ebenso wie seinen bildkompositorischen Vorgaben, auseinandersetzen.

Rotuli und Codices Lateinische Ausdrücke wie „Volumen“ für einen einzelnen Buchband (eingegangen ins Englische, Französische und Italienische als jeweils volume) und „Explizit“ für das Ende eines Werkes (zu übersetzen mit „es ist ausgerollt“) erinnern noch an das Monopol der Buchrolle im antiken Buchwesen, an den im Durchschnitt neun bis zehn Meter langen Rotulus. Noch im 3. nachchristlichen Jahrhundert galt er gegenüber dem „billigen“, deshalb oft für den Schulgebrauch bestimmten Codex als die vornehmere Buchform. Seit dem 4. nachchristlichen Jahrhundert verdrängte aber dann der Codex die Rotuli, die im Mittelalter nur noch als sporadische Phänomene begegnen. Josua-Rolle Die 10,64 Meter lange ▶ Josua-Rolle ist das einzige erhaltene Beispiel eines in ganzer Breite mit Miniaturen in ununterbrochener Reihung geschmückten Rotulus. Sie kam 1623 aus der Heidelberger Palatina-Bibliothek in die Biblioteca Apostolica Vaticana (Pal. gr. 431). Der in griechischer Sprache beschriebene Rotulus besitzt 36 Illustrationen und Texte zum alttestamentlichen Buch Josua, in einer Überarbeitung der Septuaginta. Die in den Zeitraum zwischen 913 und 959 zu datierende Buchrolle gilt als das buchkünstlerische Hauptwerk der nach dem byzantinischen Herrscherhaus des 9. und 10. Jahrhunderts benannten „Makedonischen Renaissance“, die sich nachdrücklich an antiken und frühbyzantinischen Vorbildern orientierte. Die sich „entrollenden“ Bildszenen, die die jüdische Eroberung des Gelobten Landes darstellen, erinnern strukturell an die Bildfriese antiker Triumphsäulen, mögen aber den modernen Betrachter auch an das serielle Prinzip eines Comicstrip oder an Filmsequenzen denken lassen.

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Rotuli und Codices

Die Diskussion, ob der Rotulus nicht nur in die Geschichte der byzantinischen, sondern auch in die der abendländischen Buchmalerei gehört, ist in der Forschung noch nicht entschieden. Einerseits wird die Meinung vertreten, er sei die Kopie einer frühchristlichen Bilderrolle und erlaube damit Aufschlüsse auf die Frühzeit der Bibelillustration, andererseits wird angenommen, es handle sich bei ihm um eine archaisierende, auf den Stil um 700 rückbezogene, kompilierende (das heißt, verschiedene Einflüsse verarbeitende und vereinigende) Erfindung des Mittelalters. Die antikisierenden Bilder der Josua-Rolle sind in transparenter Ton-in-Ton-Malerei vorgetragen, wobei ein späterer Miniator vor allem an den Figuren mit Blau und Purpurviolett Ausmalungen vornahm. Archaisierend gemeint und damit als kirchliches Statussymbol eingesetzt waren die in Süditalien, nicht zuletzt im Kloster Montecassino, zwischen dem 10. und dem 13. Jahrhundert verbreiteten ▶ Exultet-Rollen, auf denen der Hymnus der Osterkerze geschrieben ist. Das früheste erhaltene Exemplar (mit fünf Miniaturen) entstand 985 – 987 in Benevent und befindet sich unter der Signatur Vat. lat. 9820 in der Vatikanischen Bibliothek. Wenn der Priester auf der Kanzel aus einer solchen Exultet-Rolle vorlas, hatte die Gemeinde die in Bezug auf den Text auf dem Kopf stehend gemalten Bilder auf der über die Brüstung hängenden Rolle richtig erkennbar vor Augen. Im Gegensatz zum kontinuierlichen Schrift-Bild-Verlauf des Rotulus besteht der ▶ Codex aus gefalteten und zusammengehefteten Blättern, die zum Schutz einen mehr oder weniger stabilen Einband erhielten; außerdem dienten schwerere Buchdeckel dazu, ein zu starkes Sich-Wellen der Pergamentblätter zu verhindern. Dieser uns heute so selbstverständliche Buchtypus hatte antike Vorläufer in den Diptychen, zwei mit Scharnieren zusammengehaltenen Holztäfelchen: Auf deren mit Wachs belegten Innenseiten konnte man mithilfe eines Griffels kurze Notizen schreiben. Da der Corpus dieser Diptychen vorwiegend aus Buchenholz bestand, entwickelte sich daraus das deutsche Wort ▶ „Buch“. Vom lateinischen caudex, der Bezeichnung für einen Holzblock, leitet sich dagegen der Terminus „Codex“ her. Ein Codex war bei weitem praktikabler als ein Rotulus, den man beim Nachschlagen bestimmter Passagen umständlich zur Gänze aufrollen musste. In den großen Bibliotheken waren Codices einfacher und platzsparender aufzubewahren als die Rotuli, die man übereinander stapeln und durch heraushängende Zettel inhaltlich klassifizieren musste. Kein Wunder also, dass sich seit spätantik-frühchristlicher Zeit der Codex durchsetzte und dass die Miniaturmaler konsequent die künstlerischen Vorteile wahrnahmen, die er gegenüber der Rolle ins Spiel brachte. Sie konnten entsprechend dem in sich geschlossenen Format jeder Seite nunmehr ihre Inspirationen vom Tafelbild, vom Fresko oder Mosaik beziehen und mussten auf dem flachen Buchblatt nicht mehr die Brü-

ExultetRollen

Codex

„Buch“

II.

Mediale Besonderheiten

34

chigkeit der Farbe befürchten, eine Gefahr, die die aufgewickelte Rolle unausweichlich mit sich gebracht hatte. So besaß der Codex neben seinen lesetechnischen auch konservatorische Vorteile. Und er präsentierte sich samt seiner Buchhülle als durchgestalteter Organismus, der sich für verschiedene Optionen der Auratisierung stärker oder auf andere Weise anbot als der Rotulus. Noch im 13. Jahrhundert wertete deshalb der Liturgiker Guglielmus Durandus den Unterschied von Schriftrolle und Codex in seinem Rationale divinorum officiorum symbolisch aus. Erstere erklärte er zum charakteristischen Attribut von Patriarchen und Propheten, wohingegen er das Buch in Form des Codex den Evangelisten zuwies und auf diese Weise den Gegensatz zwischen dem Alten Testament mit seiner noch halbverhüllten heilsgeschichtlichen Wahrheit und dem Neuen Testament mit seiner dauerhaften kanonischen Lehre herausstellte.

Bücher und ihr Dekor Die Magie sakraler Bücher

Hugo von St. Victor

Das Christentum ist eine Buchreligion – und verleiht, zumindest in früheren Epochen, dem Buch Zeichen- beziehungsweise Symbolcharakter. Die Vierzahl der Evangelien etwa korrespondiert nach (früh-)mittelalterlicher Überzeugung mit den vier Hauptwinden, den vier Elementen, den vier Himmelsrichtungen, den vier Seiten des mundus tetragonus, der irdischen Welt: Vier Evangelien, vier Bücher – und ein einziges Wort, aber welches? Das Wort Gottes beziehungsweise Gott als Wort, als Logos! Gott hält das Buch im Bildtypus der Majestas Domini demonstrativ als Ausweis seiner Herrscherkraft. Zwei Bücher hat er „geschrieben“, das Buch der Natur, das – zwischen den Zeilen gelesen – wiederum von ihm, dem Schöpfer, handelt, und das Buch der Bücher. Der Wortoffenbarung in der Heiligen Schrift entspricht die Schöpfungsmanifestation in der Natur, die, wie der Theologe und Philosoph ▶ Hugo von St. Victor im 12. Jahrhundert sagte, wie ein Buch aus Gottes Hand hervorgeht: scriptus digito Dei – „geschrieben mit dem Finger Gottes“. Zahlreiche Miniaturen präsentieren die Hand Gottes mit Spruchband, als Schreibhand also. Die wechselweise Stellvertretung von Wortverkündigung und handschriftlich fixiertem heiligem Text erweist sich in den Manuskripten besonders sinnfällig, wenn die Initialen zu Bildern werden, wenn sich Buchstaben zu „Ikonen“ transformieren, deren Lautbedeutung weitgehend zurücktritt hinter der Vergegenwärtigungsfunktion des Zeichens. Christus ist zugleich wahrer Mensch und das Wort, das Fleisch geworden ist. Dementsprechend zeigt die Miniatur einer berühmten Bible moralisée um 1230 (Wien, Österrei-

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Bücher und ihr Dekor

chische Nationalbibliothek, Cod. 2554, fol. 16r) das Christuskind nicht in einer Krippe liegend, sondern zwischen den Pergamentseiten eines Buches. Bereits aus dem 4. Jahrhundert ist im Rahmen bedeutender Kirchenversammlungen der Ritus bezeugt, das Evangelium auf den Bischofsstuhl zu legen, um so die präsidiale Rolle Christi zu symbolisieren, dessen unsichtbare Gegenwart das Buch sichtbar macht. An hohen kirchlichen Feiertagen wurden mit den Ostensorien und Monstranzen, mit Kreuzen und Reliquien auch die kostbaren Evangeliare ins Freie getragen und den Gläubigen vorgeführt – Bücher zum Sehen, nicht zum Lesen und Hören. Der zumeist kostbare ▶ Bucheinband umhüllt das Wort, insbesondere die Bucheinbände Evangelienbotschaft. Bereits für die Zeit um 400 belegen Quellen die Existenz edelsteinbesetzter Evangeliare, und Abbildungen beweisen, dass im 5. und 6. Jahrhundert in Ost und West der Edelsteinschmuck auf Buchdeckeln kreuzförmig angeordnet war, wie es auch spätere Epochen beibehielten. Im 30. Kapitel von Cassiodors Institutiones divinarum et saecularium litterarum, einer Enzyklopädie der theologischen und profanen Literatur aus dem 6. Jahrhundert, ist zu lesen, dass den Schreibern gelehrte Künstler zur Seite treten sollen, um den heiligen Schriften ein zum Inhalt passendes schönes Antlitz zu geben. Das heißt nicht, dass der Deckeldekor der liturgischen Bücher ikonografisch strikt auf den jeweiligen Schriftinhalt abgestimmt sein musste. Der Schmuck des Einbands hatte jedoch in ästhetischem und materiellem Aufwand dem verehrungswürdigen Text angemessen zu sein. In diesem Sinne bildete jeder Buchdeckel „gleichsam das Tor zum Worte Gottes wie zur Liturgie der Kirche und kündete von Christus als Weg, Wahrheit und Ewigem Leben“ (Frauke Steenbock). Der sowohl in künstlerischer wie in materieller Hinsicht kostbarste mittelalterliche Prachteinband ist der um 870 für den ▶ Codex Aureus von St. EmCodex Aureus von meram entstanden – ein Evangeliar, von dem wir noch hören werden. St. Emmeram Nicht selten verwendete man im frühen Mittelalter als Schmuck- und Schutzhülle insbesondere für liturgische Bücher, vor allem Evangeliare und Sakramentare, schreinförmige Kästen, von denen in Irland einige erhalten blieben. Zumeist aber waren es herrlich dekorierte Buchdeckel, Einbände mit Applikationen aus getriebenem Edelmetall, figürlichen Treibarbeiten, aufgesetzten Metallleisten, mit wiederverwendeten antiken oder neu angefertigten Elfenbeinreliefs, mit Perlen und Edelsteinen in dekorativer Anordnung, die eine solche Aufgabe übernahmen. Zu den ältesten erhaltenen Exemplaren zählen die im Domschatz des oberitalienischen Monza, Meisterwerke langobardischer Goldschmiedekunst des frühen 7. Jahrhunderts.

II.

Book of Durrow

Mediale Besonderheiten

36

Im 14. und 15. Jahrhundert traten an die Stelle des Goldes, sofern man sich nicht auf Leder- oder Stoffeinbände beschränkte, Silbertreibarbeiten beziehungsweise durchbrochen gearbeitete Kupfertafeln. Eine letzte Renaissance erlebten wertvolle Metalleinbände in der sogenannten Silberbibliothek des Herzogs Albrecht von Preußen aus dem 16. Jahrhundert, deren sündhaft teure Einbände weitgehend von Königsberger Goldschmieden angefertigt wurden. An nicht wenige der liturgischen Bücher knüpften sich magische Vorstellungen und Handlungen. In erster Linie war dies bei Evangelienhandschriften der Fall. Sie waren es vor allem, auf die die thaumaturgischen, das heißt Wunder bewirkenden Kräfte jenes Heiligen übergingen, den die Legende als ihren Schöpfer oder Erstbesitzer auswies. Von irischen Hagiografen wird einem derart nobilitierten Codex topisch, das heißt in formelhafter Wortwahl, nachgesagt, dass es ein Eintauchen in Wasser ohne Schaden überstand. Im 17. Jahrhundert richtete indes das Wasser, in das man das ▶ Book of Durrow tauchte,

Insulare Ornamentmagie

D

as Book of Kells ist zweifellos einer der größten Kunstschätze der Welt. Es inspirierte James Joyce zu Finnegans Wake (1922 – 1939), einem Stück Literatur, das Bild und Sinnbild der Welt sein wollte. Und vorher, im Zusammenhang mit dem großen Roman Ulysses (1922) behauptete Joyce, dass viele Initialen des Book of Kells die substanzielle Eigenart seiner Kapitel besäßen. Die XPI (= Chi Rho Jota-)-Ligatur zu Beginn des Matthäus-Evangeliums (vgl. Abb. 1) gilt als buchmalerischer Höhepunkt des insularen Stils. Inmitten einer verwirrenden Vielfalt von Verzie-

rungen, von kinästhetischen Wirbeln, Entrelacs und Passformen tauchen, zusätzlich zu geflügelten Gestalten, wohl Engeln, minutiös ausgearbeitete Tiergestalten auf: Ein Otter, Katzen, Mäuse nagen an Fisch und Hostie, hinzu kommt ein Paar Nachtfalter – sie alle sind wohl als eucharistische Symbole oder als Zeichen der kosmologischen Einheit von Erde, Wasser und Luft zu deuten. Die geschwungenen Balken des X erfüllen die Zierseite mit einer Dynamik, die noch weiter gesteigert wird durch das An- und Abschwellen des Buchstabenkörpers. Die Enden der Buchstabenschäfte laufen in herrliche Spiral- und Trompetenmuster aus. Die Antwort auf die Frage, was sich an diesem rätselhaften und doch so beherrscht gemalten Labyrinth auf heidnische Magie, auf Schnur- und Knotenzauber, besinnt, bleibt spekulativ.

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Bücher und ihr Dekor

um kranke Rinder zu heilen, sehr wohl großen Schaden an. Offenbar hat man zu dieser für den materiellen Zustand des Codex fatalen Zeremonie aber nur bestimmte Lagen benutzt, nämlich die Folia 208 bis 221 mit Auszügen des Johannes-Evangeliums. Ein Loch im oberen rechten Eck legt die Vermutung nahe, dass dort ein Strick die Blätter zusammenhielt. Kein Wunder, dass sie nach dieser wiederholten Prozedur Wasserschäden aufweisen. Subtiler war die Buchmagie, die das frühkarolingische Godescalc‑Evangelistar dokumentiert (vgl. Abb. 2): Wenn es im Widmungsgedicht heißt: „Aurea purpureis pinguntur grammata scedis/ Regna poli roseo pate-sanguine-facta tonantis/ Fulgida stelligeri promunt et gaudia caeli …“ („Goldene Buchstaben sind gemalt auf purpurne Blätter. Sie offenbaren das durch das rosenfarbene Blut des Donnerers geöffnete Himmelreich und die glänzenden Freuden des gestirnten Himmels …“) – setzt dies das Wissen um Materalikonografie im Rahmen antikisierender Symbolik voraus. Die Ausdeutung der für das Buch aufgewendeten Werkstoffe wird in den anschließenden Versen weiter verfolgt, nun aber in christlicher Ausrichtung; Rot steht für die Taten der Märtyrer, Gold für Jungfräulichkeit, Silber für den Ehestand. Schließlich ist von der „mit kostbaren Metallen geschriebenen göttlichen Lehre“ gesagt, sie führe diejenigen, die dem Licht des Evangeliums folgen, ins Himmelreich. Seit dem 14. Jahrhundert bürgerte es sich ein, in die Segensformeln gegen Blitzschlag und Unwetter alle vier Evangelienanfänge aufzunehmen. Doch nicht nur das Mittelalter kannte entsprechende Handlungen. Die Pfarrkirche Mariä Himmelfahrt in Pürten bei Kraiburg am Inn besaß bis zur Säkularisation ein im 10. Jahrhundert aus der Buchmalereischule von Reims hervorgegangenes Evangeliar (heute München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 5250), das man zu Heilungszwecken verwendete: Man schlug es, nachweislich bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts, jeweils bei einem Evangelistenbild auf und legte es über Nacht einem Geistesgestörten, Epileptiker oder einem angeblich vom Teufel Besessenen unter den Kopf. Als Bücher zunehmend zu intellektuellen Kommunikationsmedien wurden, ist im Gegenzug ihre magische Aura zweifellos schwächer geworden. Aber sie ist darüber nicht einfach verschwunden, sondern erlebte einen Transfer eigener Art.

Bücher als Repräsentationsobjekte In dem Stundenbuch, das der Herzog Jean de Berry 1404 in Auftrag gab, dessen Miniaturen die Brüder Limburg kurz vor 1410 fertig stellten und das unter der Bezeichnung ▶ Belles Heures (New York, Metropolitan Museum of Art, The Cloisters 1954, acc. no. 54.1.1) in die Kunstgeschichte einging, finden sich fünf

die Belles Heures

II.

Mediale Besonderheiten

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Seiten mit Darstellungen des herzoglichen Wappens, zwei Porträts des Auftraggebers und das Bildnis seiner zweiten Frau. Die tiefe Verehrung Jeans für seinen Namenspatron Johannes den Täufer spiegelt sich in vier Miniaturen wider. Ferner förderte der Herzog den Kartäuserorden und ließ dessen Gründung in einem der Zyklen schildern. Jean besaß unter seinen Schätzen einen Splitter vom Kreuz Christi. Das war der Grund, die Legende von der Eroberung und Rückführung des heiligen Kreuzes durch Kaiser Heraklius in die Belles Heures aufzunehmen. Diese über Einzelmotive und ganze Bildsysteme hergestellte Personalisierung verrät, wie auch in zahlreichen anderen Zyklen der spätmittelalterlichen Buchmalerei, dass Prachthandschriften damals zusätzlich zu ihrer religiösen Funktion als individuelle Statussymbole fungierten. Die des Öfteren unfertig gebliebene Ausmalung von Andachtsbüchern des späteren 15. und frühen 16. Jahrhunderts, ihr meist ausgezeichneter Erhaltungszustand, ferner überraschend viele Textpassagen, die sinnentstellende Fehler aufweisen, all diese Merkmale verraten, dass die meisten aufwendig illuminierten Andachtsbücher keineswegs täglich zur Hand genommen wurden. Inhaltliche Fehler im Einzelnen konnten vernachlässigt werden, solange die Bücher in ihrem aufwendigen Gesamterscheinungsbild als bibliophile, gehegte und gepflegte Sammlerstücke mit dem Nebeneffekt einer soliden Geldanlage den Status des Besitzers unterstrichen. Selbst Bücher nichtreligiösen Inhalts in repräsentativen Kollektionen dienten nicht unbedingt der Wissensakkumulation und -vermittlung; sicher, eine solche konnte mitspielen, aber der dominante Impuls war ein anderer. Parallel zu Sammlungsbeständen wie Juwelen, Reliquiaren und Ähnlichem dienten auch Luxushandschriften der „Eigenwerbung“. Die fürstlichen Bücherkontingente und ihre illustren Miniaturen besetzten im ausgehenden Mittelalter und in der beginnenden Neuzeit eine hohe Position in der Symbolhierarchie der Macht. Sie demonstrieren den künstlerischen Geschmack der Auftraggeber und kombinierten diesen Exklusivitätsanspruch mit sei es frommen, sei es chronistischen, wissenschaftlichen oder literarischen Interessen. Kurz: Sie dienten als Insignien kultureller Überlegenheit. Man durchschaut, warum zahlreiche Fürsten in die kostspielige Bibliophilie ihrer Vorgänger wie in ein bindendes Erbe eintraten: Manifestierte sich doch darin der Glanz eines Herrschaftskontinuums! Der Repräsentationsgewinn resultierte einerseits aus der Ästhetik, mindestens ebenso aber aus dem materiellen Wert und der von den Künstlern investierten Arbeitsleistung: Das ▶ Stundenbuch der Sforza, dessen Bebilderung SforzaStundenbuch in zwei Etappen – um 1490 und um 1517–1521 – erfolgte, ist zweifellos eine der faszinierendsten Bilder- und Prunkhandschriften, die die Geschichte der

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Bücher und ihr Dekor

▲ Abb. 7  Giovanni Pietro Birago: Evangelist Matthäus, in: Sforza-Stundenbuch, um 1490;

London, British Library, Add. Ms 34294, fol. 7r.

II.

Mediale Besonderheiten

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abendländischen Buchmalerei kennt. Von ihrem Wert war schon der anfängliche Hauptminiator Giovanni Pietro da Birago überzeugt (Abb. 7), der sein Teilwerk (!) mit 500 Dukaten um ein Fünffaches höher einschätzte als etwa ein zeitgleiches Gemälde von Leonardo da Vinci. Nicht von ungefähr zählt man noch heute das (in vier Teilen aufbewahrte) Werk zu den sechs wertvollsten Codices der an Kunstschätzen wahrlich nicht armen British Library in London (Add. Ms 34294).

III. Die Materialien

D

ie von Dante gefeierten „leuchtenden Seiten“ wären nie zustande gekommen, wenn die Miniatoren aller Epochen nicht so viel Wert auf ihre Arbeitstechnik und somit auch auf ein umfangreiches „Insiderwissen“ hinsichtlich der von ihnen verwendeten Farbsubstanzen und des Metallgebrauchs (Gold, Silber) gelegt hätten. Obwohl in einem Überblick zur Buchmalerei naturgemäß Farben- und Malrezepte im Vordergrund stehen müssen, sei dennoch kurz auch auf die Tinten der Schreiber eingegangen, trägt doch das Erscheinungsbild der Schriftblöcke ebenso zum ästhetischen, selbst zum koloristischen Gesamtcharakter einer illuminierten Handschrift bei wie die Miniaturen, Initialen und Bordüren.

Tinten Jean Miélot war ein renommierter Übersetzer, Schriftsteller und Schreiber des 15. Jahrhunderts. Unter dem Burgunderherzog Philipp dem Guten und dessen Nachfolger Karl dem Kühnen arbeitete er als Sekretär. Die einfarbige Miniatur in den Miracles de Notre-Dame (Paris, Bibliothèque nationale de France, Ms fr. 9198, fol. 19r), entstanden um 1465 von der Hand des ▶ Jean Tavernier, zeigt Miélot bei der Arbeit im Atelier. Auf einem Regal des Schreibpults stehen Fläschchen, an Halterungen der Atelierwand sind präparierte Hörner zur Aufbewahrung von Tinten zu sehen. Miélot hat also stets zur Hand, was er braucht: Tinten, Farben, vielleicht Pinselgold – pulverisiertes, meist mit einer PflanzenGummi-Lösung gebundenes Blattgold, das man mit dem Pinsel auftrug; auf dieselbe Art und Weise stellte man übrigens auch Pinselsilber her. In der Geschichte der Buchmalerei waren neben rötlichen und äußerst haltbaren bräunlichen Tinten tiefschwarze Tinten in Gebrauch, aus Kienholz, mit Ruß versetzt – lichtecht, wasserlöslich, somit in Korrekurfällen mit einem Schwamm abwischbar. Die Eisen-Gallus-Tinte dagegen ist wasserfest, kann da-

Jean Tavernier

III.

Die Materialien

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für ausbleichen und verursacht aufgrund aggressiver chemischer Wirkung oft den die Seiten zerstörenden Tintenfraß. Rote Tinte, eigentlich rote Farbe (Mennige), gebunden in einer Mischung aus Eiweiß und Gummi arabicum, wurde für Anfangs- und Schlusszeilen eines Textes und für die nach der Farbe Rot (ruber) benannten Rubriken verwendet, also etwa für Überschriften, Initialbuchstaben, Bilduntertitel, zur Hervorhebung der Nomina Sacra (heilige Namen), von Feiertagen in den Kalendarien (daher noch die heutige Bezeichnung: etwas rot im Kalender anstreichen). Welche Materialien der Schreiber auch immer verwendete, die Tätigkeit des Schreibens setzte ein enormes Maß an Konzentration voraus, Fehler ließen sich nur aufwendig durch „Rasuren“, also durch Abkratzen des falschen Buchstabens oder Zeichens, korrigieren.

Gold- und Silberschrift Die Prunkmanuskripte der karolingischen Hofschule waren (mit einer einzigen Ausnahme) in Goldschrift geschrieben. Nicht zuletzt dadurch wurde die sakramentale Kraft der „kodifizierten“ Heilsvermittlung veranschaulicht. Gold- und ▶ Gold- und Silberschrift auf purpurfarbenem Pergament kannte bereits die Silberschrift Spätantike für ihre Luxushandschriften. Die ältesten erhaltenen Beispiele datieren ins 5. nachchristliche Jahrhundert: ausnahmslos biblische Texte, meistens griechische, lateinische oder auch gotische Ausgaben der Evangelien. Ein berühmtes Beispiel für die zuletzt genannte Version findet sich mit dem Codex Argenteus Upsaliensis in der Universitätsbibliothek des mittelschwedischen Uppsala (DG. 1): Die Handschrift beinhaltet die gotische Bibelübersetzung des Ulfila. Sie wurde kurz nach 500 in Ravenna für König Theoderich in silberner und teilweise auch goldener Unziale, einer griechischen und römischen Buchschrift aus gerundeten Großbuchstaben, auf purpurgefärbtes Pergament geschrieben. Zu Schriften aus Gold und Silber, die sich auch am byzantinischen Hof größter Beliebtheit erfreuten, griffen dann erneut angelsächsische Skriptorien ab der zweiten Hälfte des 7. Jahrhunderts. Ein bekannter Fall ist der Codex Aureus (Stockholm, Königliche Bibliothek, Ms A. 135), der um 750 in Canterbury entstand: Auf abwechselnd naturbelassene und purpurfarbene Pergamentblätter wurden mit roter und schwarzer beziehungsweise goldener, silberner und weißer Tinte Unzialbuchstaben gesetzt. Die Wertschätzung der Gold- und Silberschriften spiegelt sich generell in den Traktaten und Werkstattbüchern wider: So sind im Leidener Papyrus X, der Ende des 3. oder Anfang des 4. nachchristlichen Jahrhunderts im Kreis griechischer, jedoch in Ägypten ansässiger Handwerker entstanden sein dürfte, allein vierzehn Rezepte für die Herstellung von Gold- und Goldersatztinten aufgenommen. Einige tauchen wieder in der um 800 in Italien verfassten Handschrift Lucca auf. Unter den 109 Anweisungen zum Färben, Vergolden, zur Herstellung

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Farben- und Malrezepte

von Farben und zur Metallverarbeitung finden sich in diesem Traktat auch zehn Rezepte für Gold- und Silbertinten und deren Ersatztinten sowie Verfahren zur Gewinnung von Blattgold und -silber sowie von Zinnfolie. Bemerkenswert viele, nämlich 37 Rezepturen zur Herstellung von Metalltinten und von Gold- und Silberersatztinten sind in den verschiedenen Überlieferungen der Mappae Clavicula erhalten, die dem 9., 10. und 12. Jahrhundert entstammen. Bis auf wenige Nachklänge verschwand die Goldschrift dann im 13. Jahrhundert. Zu jenen späten Zeugnissen zählt beispielsweise das früher erwähnte Goldene Mainzer Evangeliar aus den Jahren um 1250, das ursprünglich dem Mainzer Domschatz (nicht der Dombibliothek) einverleibt war und nur zu Hochfesten liturgisch gebraucht wurde. Hundert Blatt dieses opulenten Codex sind – in symbolischer Anknüpfung an die großen Vorbilder ottonischer und salischer Zeit, wie das Goldene Evangelienbuch Heinrichs III. (1045/46; Escorial, Biblioteca Real, cod. vitr. 17) – durchgehend in Goldtinte geschrieben. Ein noch späterer Ausnahmefall ist das durchgehend in Gold geschriebene Prachtevangeliar des Johann von Troppau von 1368 (Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. Vind. 1182), das als Krönungsevangeliar für Herzog Albrecht III. von Österreich fungierte.

Farben- und Malrezepte Der erwähnte Mappae-Clavicula-Traktat mit seinen 294 Vorschriften zur Metallkunde, Alchemie und Kunsttechnik zählt im ersten Abschnitt De diversis coloribus die für Malerei in pergameno (für Buchmalerei auf Pergament) üblichen deckenden und durchscheinenden Farben auf. Es folgen zwei Abschnitte, die die Kombination meist dreier Farbschichten – eines flächigen Substrats und zweier modellierender Lagen – beschreiben. Vieles, was dieser Traktat thematisiert, findet sich früher in der ebenfalls bereits erwähnten Handschrift in Lucca mit dem Titel Compositiones ad tingenda musiva. Neben dem nach einem ansonsten unbekannten Autor benannten Heraklius-Traktat (erhalten in einer Fassung des 13. Jahrhunderts, aber ins 11. Jahrhundert zurückreichend) ist es insbesondere die um 1100 von ▶ Theophilus Presbyter (wahrscheinlich identisch mit dem niedersächsischen Bronzekünstler Roger von Helmarshausen) niedergeschriebene Abhandlung De diversis artibus (Schedula diversarum artium), die sich als ausnehmend wertvolle Quelle für die unterschiedlichsten Kunstbereiche und somit eben auch für die Buchmalerei erweist.

Theophilus Presbyter

III.

Die Materialien

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Völlig anders angelegt als diese frühen Abhandlungen sind die Musterbücher des ausgehenden Mittelalters, etwa das mittelrheinische (vielleicht in Mainz entstandene) Exemplar in der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen (8o Cod. Ms. Uff. 51 Clm) aus der Mitte des 15. JahrMusterbuch hunderts, oder, vom Ende desselben Jahrhunderts, das ▶ Musterbuch des Stedes Stephan phan Schriber in München (Bayerische Staatsbibliothek, Cod. icon. 420). Beide Schriber bedienen sich nicht mehr des Lateinischen, sondern der deutschen Sprache, richten sich also an die Werkstattpraxis weltlicher Künstler und enthalten Muster zum Nachmalen, etwa von Ranken oder strukturierten Hintergründen, welche in verschiedenen Arbeitsstadien präsentiert werden. Die prächtige Gesamterscheinung eines mittelalterlichen Buches, in dem Schrift und Bild, das Braun oder Schwarz der Tinte mit dem Rot der Rubriken, dem funkelnden Kolorit der Initialen und Miniaturen und endlich mit dem Glanz des Goldes und – seltener – des Silbers symphonisch zusammenstimmen, beruht also auf einer ausgefeilten Technik, ja mehr noch, auf einem technologischen Wissen. Dieses gehörte keineswegs zu einem alltäglichen Rüstzeug, sondern streifte vielmehr oft die Grenzen der Geheim-, der Arkanwissenschaften wie der Alchemie oder spezieller Zweige der Medizin. Der Arzt Matthäus Platearius beispielsweise hatte im 12. Jahrhundert in Salerno ein bahnbrechendes Werk über Botanik (Circa instans) geschrieben. Hier und in einer Reihe anderer seiner Schriften führt er zu Heilzwecken benötigte Pflanzen, aber auch Mineralien auf, die teilweise ebenso im Laboratorium der Farbenherstellung und -zubereitung begegnen. Bis ins Hochmittelalter geht also die technische Überlieferung der Farbstoffe mit dem Magischen und Naturkundlichen konform. Um 1500, als eine schön illustrierte französische Platearius-Ausgabe ediert wurde (St. Petersburg, Russische Nationalbibliothek, Fr. F. v. VI, 1), war ein solcher Konnex freilich überholt. Bereits seit Längerem beschritten spätmittelalterliche Malerbücher sowie chemisches, botanisches und medizinisches Schrifttum getrennte Wege.

Die Materialität der Buchseiten

Papyrus

Die ästhetische Erscheinungs- und Wirkweise der Tinten, Farben und Metalle, derer sich die Schreib- und Miniatoren-Ateliers bedienten, ist auch von der qualitativen Beschaffenheit, also der präparierten Oberflächenstruktur der Buchblätter abhängig. Das historisch älteste zu diesem Zweck eingesetzte Material, ▶ Papyrus, spielte in der abendländischen Buchmalerei so gut wie keine Rolle mehr. Papyrus ist erstmals im Ägypten des 4. Jahrtausends v. Chr. nachweisbar. Für rund 3000 Jahre behielt das Nilland das Monopol seiner Erzeugung. Die einzelnen Blätter wurden aus dem Mark der Papyrusstaude zuberei-

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Die Materialität der Buchseiten

tet und zu einem Rotulus zusammengeklebt, um dann mit dem Schilfrohr und mit Rußtinte beschrieben zu werden. Zwar überlebte Papyrus als altehrwürdiger Beschreibstoff noch im Urkundenwesen des Mittelalters – für diffizile Malereien war er kaum geeignet –, musste aber seit dem 2. Jahrhundert n. Chr. dem Pergament und später gelegentlich auch dem Papier weichen.

Pergament Zur Herstellung von Pergament wurden Tierhäute in einer Lösung aus Kalkwasser von allen groben fleischlichen Rückständen befreit. In große Rahmen gespannt, erfolgte anschließend ihre Feinbearbeitung durch Glätten und Abreiben mit Bimsstein. Die Pergamentherstellung ist alt. Seine lateinische Bezeichnung charta pergamena erhielt der Beschreibstoff nach der wichtigsten Produktionsstätte der Antike, dem kleinasiatischen Pergamon. Der römische Schriftsteller Plinius der Ältere berichtet in seiner 77 n. Chr. beendeten Naturalis historia von der berühmten pergamenischen Bibliothek, die im Ruf stand, nach Alexandria die zweitgrößte zu sein. Und er überliefert, dass die Ptolemäer die Ausfuhr des ägyptischen Papyrus verboten, um mit diesem Embargo den Vorrang der heimischen Bibliothek zu sichern. Daraufhin habe man in Pergamon unter König Eumenes II., also in der ersten Hälfte des zweiten vorchristlichen Jahrhunderts, die Pergamentbereitung perfektioniert. Ihre Erzeugnisse besaßen einen unschätzbaren Vorteil: Pergament war zwar keineswegs billiger, aber wesentlich haltbarer als Papyrus, war geschmeidiger und weniger brüchig. Während die Lebensdauer einer Papyrusrolle im Durchschnitt nur ein oder zwei Jahrhunderte umfasste, kannte Pergament in der Regel kein vergleichbares materialbedingtes Handicap. Im Mittelalter war die Pergamenterei oft ein klösterlicher Betrieb und unterstand den sogenannten fratres pergamentarii. Es existierten jedoch auch gewerbsmäßige Unternehmen, deren Produkte von Händlern vertrieben wurden. Fast immer war die Pergamenterei in abgelegenen Gegenden angesiedelt, verbreitete sie doch einen fürchterlichen Gestank. In einer Ambrosius-Handschrift des 12. Jahrhunderts aus dem Kloster Michelsberg in Bamberg (Bamberg, Staatsbibliothek, Msc. Patr. 5) schildert die Federzeichnung fol. 1v einzelne Etappen der Buchherstellung. Der als Pergamentierer tätige Mönch bearbeitet gerade eine aufgespannte Tierhaut mit dem Schabeisen. Ihm gegenüber schneidet ein Mitbruder die Pergamentblätter zurecht. Im 13. Jahrhundert beschrieb Conrad von Mura die Pergamentproduktion und schloss mit der Parabel, der gläubige Christ solle seine Existenz von Pergamentallen fleischlichen Gelüsten befreien, so wie der ▶ Pergamenthersteller die Tier- herstellung haut vom Fleisch abzieht und von dessen Resten reinigt.

III.

Purpurpergament

Die Materialien

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Muras ansonsten sachgemäße Schilderung konzentriert sich auf die Haut, die man Kälbern abzog. Doch man verarbeitete auch Felle ausgewachsener Rinder sowie vornehmlich in Südeuropa, in Spanien, Italien, Südfrankreich, Schaf- und Ziegenhäute. Da Letztere kleiner waren als Rinderhäute, bedurfte man etwa, wie sich errechnen ließ, für den Codex Amiatinus (vollendet vor 716; Florenz, Biblioteca Medicea-Laurenziana, Ms Amiatinus I) über fünfhundert Schafhäute! Ein Sonderfall war vor allem in Frankreich anzutreffen. Obwohl man dort für die vom 13. bis zum 15. Jahrhundert beliebten kleinformatigen Andachtsbücher fast durchweg hochwertiges Pergament benutzte, reservierte man doch die dünnsten und geschmeidigsten Häute in der Regel für Kleinstbibeln, in denen der Schreiber einen gewaltigen Text unterzubringen hatte. Diesen sehr feinen, fast durchsichtigen Beschreibstoff hat die Fachliteratur gerne als „Gebärmutter-Pergament“ tituliert, in der Annahme, er stamme von früh- oder totgeborenen Kälbern. Doch ist kaum vorstellbar, dass eine ausreichende Menge von Häuten von früh- oder totgeborenen Tieren den Werkstätten das ganze Jahr über zur Verfügung stand. Wahrscheinlich hat man für die meisten dieser ungewöhnlich dünnen Pergamente extrem junge Tiere geschlachtet, die noch keinen Monat alt waren, aber eben nicht dem Mutterleib entnommen. Ein berühmtes Beispiel für dieses feine Material ist das 1325 – 1328 entstandene, nur 9,4 × 6,4 Zentimeter messende Stundenbuch der Jeanne d’Evreux (die Miniaturen stammen nach fast einhelligem Forschungsurteil von Jean Pucelle; New York, The Metropolitan Museum of Art, The Cloisters, Acc. 54 [1.2]) (vgl. Abb. 25). Der große Bedarf an Tierhäuten trug selbstverständlich zu den immensen Kosten solcher Bücher bei. Für das Book of Kells (vgl. Abb. 1) war in den Jahren kurz vor 800 eine Herde von mehr als 150 Kälbern zu schlachten, für eine monumentale Vollbibel, gleich welcher Epoche, mussten circa 500 Tiere ihr Leben lassen. Beim fertigen Pergament unterscheidet man zwischen der leicht gelblichen und porösen Haar- und der weißen bis weißlichgrauen Fleischseite. Die Rezepturen für das letzte „finish“ des Materials wurden als Geheimnis gehütet. Um beim Beschreiben das Auslaufen der Tinten zu verhindern, überzog man jedenfalls die Haut mit einem feinen Kreidegrund. Man zerschnitt sie dann in große Bögen, die zu Heften (Lagen) gefalzt und zwischen Holzdeckeln zum Buch gebunden wurden. Der mit Abstand kostbarste Schreib- und Malgrund spätantiker, byzantinischer, karolingischer und frühmittelalterlicher Handschriften war vollständig oder teilweise mit ▶ Purpur eingefärbtes Pergament. Außerordentlich sel-

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Die Materialität der Buchseiten

ten blieb das schwarz gefärbte Pergament, über das lediglich fünf (zwei davon nur fragmentiert erhaltene) Prunkcodices (Gebet-, Stundenbücher) verfügen: Sie sind alle in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts in den südlichen Niederlanden hergestellt. Das Drüsensekret der vor allem im Mittelmeerraum, aber auch an den Küsten der Britischen Inseln vorkommenden Purpurschnecke ist zunächst wasserklar und verändert sich dann unter Lichteinwirkung von Hellgelb über Grün und Braun zu herrlichem Rotviolett, Blauviolett oder Schwarzviolett. An etwas weniger wichtigen Stellen einschlägiger Manuskripte wurden nur einzelne Pergamentpartien mit Purpur ausgemalt (zumal sich Purpur besser zum Färben als zum großflächigen Malen eignet). Diese Felder rahmte man, wie etwa beim Gebetbuch Ottos III. aus dem späten 10. Jahrhundert (München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 30111), gerne mit Goldleisten. Obwohl die Christen den Purpur zunächst als heidnischen Luxus und als paganes Teufelszeug abgelehnt hatten, konnten sie sich seiner Schönheit auf Dauer nicht verschließen. Er wurde als Zeichen numinoser Macht gewertet, galt gemeinsam mit Gold als Farbe der göttlichen Majestät, als visuelles Äquivalent himmlischer Größe und Gerechtigkeit. Keine angemessenere Verwendung schien frühen christlichen Auftraggebern und Künstlern denkbar als eben die, ihm Gottes Wort anzuvertrauen: Es entstanden sakrale Texte, mit Goldtinte auf purpurgefärbtes Pergament geschrieben. Berühmte Beispiele sind unter anderem der aus dem 6. Jahrhundert stammende Codex Rossanensis (Rossano in Kalabrien, Erzbischöfliche Bibliothek), die ebenfalls ins 6. Jahrhundert datierte Wiener Genesis (Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. theol. gr. 31), das nach seinem Schreiber benannte frühkarolingische Godescalc-Evangelistar in Paris und das kurz vor 800 fertig gestellte karolingische Krönungsevangeliar, heute in der Wiener Schatzkammer. Seit dem 12. Jahrhundert gab man die Purpurfärbung des Pergaments so gut wie ganz auf. Lediglich im 15./16. Jahrhundert griffen Werkstätten in Brügge ausnahmsweise wieder auf das Purpurpergament zurück. Gelegentlich fand dieser Usus auch in Italien Nachahmung (etwa im Missale des Florentiner Baptisteriums, um 1494 – 1510 illuminiert, Biblioteca Apostolica Vaticana, Barb. lat. 610: Gold und Deckfarben auf stellenweise purpurgetränktem Pergament). Noch seltener waren, wie erwähnt, die ▶ schwarz eingefärbten Pergamenthandschriften. Die Herstellungskosten schwarzer Handschriften, die zumeist mit Gold- und Silbertinten beschrieben wurden, lagen weit über denen der sonstigen Prunkcodices. Die Kombination des Schwarz mit den edlen Metallen der Schrift und den Illuminationen ruft den Eindruck exquisiter Kostbarkeit hervor, der sich schwerlich mit der von der älteren Forschung postulierten Symbolisierung von Buße und Tod in Einklang bringen lässt. Stattdessen verweist der Akkord

schwarzes Pergament

III.

SforzaGebetbuch

Die Materialien

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von Schwarz, Gold und Silber auf eine speziell am burgundischen Hof entwickelte, auch in der höfischen Mode und von anderweitigen Luxusgütern angestrebte exklusive Ästhetik. Es ist bezeichnend, dass nach dem Fall des Burgunderreiches 1477 keine schwarzen Handschriften mehr nachweisbar sind. Die schwarze Einfärbung, zu der sich seltsamerweise kein einziger technologischer Traktat des Spätmittelalters äußert, wurde auf chemischem Wege erzeugt, indem das Pergament in ein Bad aus Kupfer-Eisen-Lösung getaucht und anschließend aufgeweicht wurde. Diese Lösung greift das Pergament jedoch im Laufe der Jahrhunderte derart an, dass es bei leisester Berührung splittert oder bricht. Deshalb mussten zwei der drei komplett erhaltenen Exemplare aus konservatorischen Gründen auseinandergenommen und Blatt für Blatt zwischen Acrylplatten montiert werden – so auch das zwischen 1466 und 1476 in Brügge vollendete ▶ Schwarze Gebetbuch des Galeazzo Maria Sforza (Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 1856): Reich von Gold durchsetzt, erstrahlen hier 14 ganzseitige Miniaturen auf den schwarz tingierten Seiten, zusätzlich 136 vierseitige Bordüren, die in brillantem Blau grundiert und durchgehend mit goldenen Ornamenten gemustert sind. 14 große und zahlreiche kleine Initialen, alle in glänzendem Blattgold ausgeführt und von leuchtendem Smaragdgrün hinterlegt, komplettieren den Ausstattungsluxus dieser Handschrift.

Papier Papier (der Name leitet sich missverständlicherweise vom „Papyros“ ab) aus Pflanzenfasern und gerissenen Lumpen („Hadern“) ist eine Art Filz aus pflanzlichen Fasern. Diese werden, nachdem man sie aus ihrem organischen Verband herausgelöst und fein zerteilt hat, in Wasser aufgeschwemmt und durch Entwässern auf einem Sieb zum Papierblatt verdichtet. Man schöpft also das Papier auf bestimmte siebartige Formen, die Größe eines Blattes entspricht der benutzten Form (daraus entstand der Begriff „Format“; der Bogen ist ein in der Mitte umgebogenes Blatt). Was sich so einfach anhört, basiert auf einer anspruchsvollen Technologie, auch wenn der Produktionsvorgang bei weitem nicht mit der aufwendigen Pergamentherstellung zu vergleichen ist. Die Technik der ▶ Papierherstellung war in China entwickelt worden, und Papier – eine chinesische zwar im 2. bis 1. Jahrhundert v. Chr. während der Regentschaft der westlichen Erfindung Han-Dynastie. Als Ausgangsmaterial dienten Hanffasern, später Bastfasern, die durch das Gießen des Rohstoffs auf schwimmende, gewebte Siebe, dann durch Schöpfen mit flexiblen Bambusmatten zum Blatt verfilzt wurden. Von China her setzte sich die Papiermacherei in Korea und Japan durch. Über chinesische Kriegsgefangene in Samarkand wanderte das Wissen um die Papierfabrikation schließlich in den arabischen Kulturkreis, wo der Kalif Harun al Raschid um 800 seine Kanzleien in Bagdad veranlasste, von Papyrus beziehungsweise

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Die Materialität der Buchseiten

Pergament auf Papier überzugehen. Im weiteren Verlauf ihrer Geschichte bevorzugte dann die Buchmalerei der islamischen Welt, anders als die abendländische, das Papier. Im Abendland finden sich – angeregt durch die Araber – Papierurkunden des 10. Jahrhunderts im maurischen Spanien und im Sizilien des 11. Jahrhunderts. Doch das blieben zunächst Ausnahmen. Denn neben der „unappetitlichen“ Abfallverwertung aus Lumpen trug das Papier im Westen noch lange und schwer an seiner muslimischen Provenienz: Dem Glaubensfeind, der seine Schriftkultur mehr und mehr dem Papier anvertraute, taten es die Christen nur ungern gleich. Freilich, aufzuhalten war der Prozess nicht mehr, wenngleich er im Früh- und Hochmittelalter nur schleppend verlief. Zug um Zug gewann die Papierherstellung ökonomisch und technisch ein höheres Niveau. Man benutzte in Europa bald nur noch zerrissene Leinenhadern, die man in von Wasserkraft angetriebenen Stampfwerken aufbereitete. Um die Saugfähigkeit des Papiers einzuschränken und damit das spätere Verfließen der Beschreibtinte zu verhindern, führte man eine tierische Leimung ein. Eine weitere Neuerung war eine starre Schöpfform aus Draht, mit der man aus der Bütte schöpfte: Resultat war das ▶ Büttenpapier. Ausgangspunkt dieser die Arbeitsteilung zwischen Schöpfer, Gautscher und Leger voraussetzenden Innovationen war ab 1256 die norditalienische Stadt Fabriano. Ab circa 1427 spezialisierte sich im elsässischen Hagenau eine Gruppe bürgerlicher Schreiber und Illustratoren auf die schnelle und kostengünstige Verbreitung von Papier-Handschriften, mit gleichartiger Bebilderung aus kolorierten Federzeichnungen und mit gut lesbaren Schrifttypen. Es handelte sich um die Werkstatt des Schreibmeisters Diebold Lauber, die bis etwa 1471 nachweisbar ist – in der Endphase scheint man ihre „seriell“ anmutenden Produkte als zu konform mit Druckausgaben empfunden und deshalb gleich auf Letztere zurückgegriffen zu haben. Wie auch immer, mit dem Ende des 15. Jahrhunderts begann Papier das Pergament zu verdrängen. Die Ausbreitung des Schrift- und Kanzleiwesens und die Geschäfts-, aber auch die Lesebedürfnisse des aufstrebenden Großbürgertums hatten einen enormen Aufschwung des Gewerbes zur Folge. Dennoch hielt man für Bibelausgaben, liturgische Bücher und besonders schöne Bilderhandschriften weiterhin an dem „edleren“ Pergament fest. Selbst nach ▶ Johannes Gutenbergs Experimenten mit dem Buchdruck seit 1436, die rund zwanzig Jahre später zu seinem berühmten Bibeldruck führten, wurde das Pergament dort beibehalten, wo man hochrepräsentative Bücher herstellen wollte, sogar dann, wenn sie gedruckt waren (auch von der Gutenberg-Bibel wurden circa dreißig auf Pergament gedruckte Exemplare ediert).

Büttenpapier

Gutenberg

III.

Die Materialien

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Die Malstoffe Farbpigmente Die von den Miniatoren verwendeten Farbsubstanzen werfen in einzelnen Fällen bis heute offene Fragen auf. Besonders umstritten ist etwa der Nachweis, ob ein bestimmtes leuchtendes Blau mithilfe von Lapislazuli entstand, einem im Mittelalter immens teuren Halbedelstein, dessen kostbarste Variante aus Lagerstätten im afghanischen Himalajavorgebirge stammte und über die Seidenstraße auf die Märkte Europas gelangte. Die Forschung hat über dreißig Farbmittel identifiziert, die in der Geschichte der Buchmalerei zum Einsatz kamen. Zu den elementarsten zählen die anorganischen Pigmente. Es handelt sich um die Erdfarben oder Erdpigmente. Anorganische Farben wurden indes auch in chemischen Verbindungen hergestellt, in der Regel Metallverbindungen. Zusätzlich stand den Buchkünstlern ein umfangreiches Spektrum organischer – tierischer wie pflanzlicher – Farbmittel zur Verfügung. Zur Gruppe der roten Farbmittel zählen als wichtigste der rote Ocker, der durch Brennen des gelben Ockers erzeugt wird; dann der natürliche, in Spanien geförderte beziehungsweise der künstliche, aus Quecksilber und Schwefel hergestellte Zinnober; ferner Mennige, das durch Brennen von Bleiweiß entsteht; weiterhin der tief purpurrote Farbstoff Karmin, der aus der Kermesschildlaus gewonnen wurde; nicht zu vergessen der aus einer Wurzel herrührende Krapplack oder die aus Brasilholz (Rotholz) extrahierte Substanz, die seit dem 10. Jahrhundert (vor der Entdeckung der riesigen Wälder in Brasilien) aus Hinterindien, Ceylon und China nach Europa kam. Die wichtigsten gelben Farbpigmente gewann man aus Ocker. Weiter gehören dazu das helle oder dunkle Schwefelgelb, das Bleigelb, der teure, aus den getrockneten Blütennarben des Safran gewonnene Farbstoff, ferner das warme satte Gelb aus dem Saft der Reseda, das hochgiftige Arsensulfid (im Altertum auripigmentum – „Goldfarbe“, im Mittelalter opperment genannt, dessen Oberfläche glimmerartige glitzernde Pünktchen enthält), schließlich noch gelbes Bleioxyd. Die Grüntöne erzeugte man mittels Grüner Erde (terra verde), seltener mit dem leicht blaustichigen, hochpreisigen Malachit (durch Pulverisierung des gleichnamigen Edelsteins gewonnen), mit dem aus der Reaktion von Essig und Kupfer resultierenden Grünspan und einer Reihe entsprechender Pflanzensäfte. Das am häufigsten verwendete weiße Pigment ist Bleiweiß. Schwarze Pigmente gewann man beim Verrußen und Verkohlen von Pflanzen oder von Elfenbein.

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Die Malstoffe

Von besonderer Kostbarkeit waren die blauen Farbmittel, darunter das Azurit-Pigment aus einem zu Pulver vermahlenen Kupferlasurstein, der im Mittelalter in Italien, Spanien, Deutschland und England gefördert wurde; weiterhin die aus der orientalischen Indigopflanze oder aus dem nordeuropäischen Färberwaid extrahierten, relativ transparenten Blausubstanzen. Als Königin der Farben aber fungierte das natürliche ▶ Ultramarin, das man aus fein gemah- Ultramarin, lenem, gereinigtem Lapislazuli herstellte. Dieser, wie gesagt, wertvollste Stein Königin der Farben kam aus den Bergwerken Afghanistans und begegnet eventuell schon in der insularen Buchmalerei um 800 und in den Jahrzehnten danach; allerdings ist die Forschungslage hier sehr prekär, denn das, was man lange Zeit für gemahlenen Lapislazuli gehalten hat, erweist sich neuerdings als die vermutlich durch ein Bindemittel verursachte kristalline Erscheinungsform eines organischen blauen Farbstoffs, Indigo oder Waid. Später ist Ultramarin häufiger nachzuweisen, mit dem an Wertschätzung und Symbolkraft einzig der Purpur konkurrierte. Als Bindemittel aller gebräuchlichen Farbsubstanzen dienten Fischleim, Eikläre und Gummi, der zumeist aus dem Harz von Kirsch- oder Pflaumenbäumen durch Aufquellen gewonnen wurde. Seit dem späteren Mittelalter wurden häufiger zwei oder sogar mehrere Farbzonen lasierend übereinander gelegt, eine Technik, aus der subtile koloristische und ästhetische Effekte resultierten. Abschließend sei noch auf einen, künstlerisch allerdings bemerkenswerten, Sonderfall hingewiesen: Im späten italienischen Trecento verwendete Giovannino de’ Grassi eine Öllasur sowohl für Bordüren als auch für Miniaturen; insbesondere sein stets anders leuchtendes Rotgold war und blieb in der Geschichte der abendländischen Buchkunst singulär.

Gold und Silber Über Gold in der Buchmalerei unterrichtet ausführlich der bedeutendste mittelalterliche Malereitraktat, die erwähnte, um 1100 geschriebene Schedula des Theophilus Presbyter. In Kapitel XXII beschreibt der Autor die Herstellung von ▶ Blattgold durch das Hämmern von Goldblech zu hauchdünnen Blättchen. Mit einer Schere schnitt der Vergolder dann die der gewünschten Form entsprechenden Stücke aus, um, wie Theophilus schreibt, „die Kronen um die heiligen Häupter, die Stolen und Säume der Kleider und das Übrige“ zu schmücken. Um die Leuchtkraft des Goldes zu erhöhen, präparierte man das Pergament mit Kalk und „Gesso“ (in Wasser gelöster Gips), auf den man den „Bolus“ (rote Tonfarbe) auftrug. Dieser dichte Untergrund verleiht dem Blattgold, nachdem man es mithilfe eines Bindemittels wie Eiklar aufgelegt und

Blattgold

III.

Die Materialien

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mit einem Tierzahn oder einem Achat auf Hochglanz poliert hat, einen tiefen Schimmer. Bei besonders wertvollen Bilderhandschriften wurde ein gewölbter Kreidegrund angelegt, der das mit einem Vergoldermesser aufgetragene kostbare Metall plastisch hervortreten lässt (Kissen- oder Polimentvergoldung). Goldtinte stellte man im Mörser her: Honig wurde mit Blattgold zerrieben und anschließend mit Eiklar oder Gummi angerieben und nach dem Trocknen poliert. Das gleiche Verfahren wurde auch für Silbertinte angewandt. Das sogenannte Pinselgold ist eine Goldfarbe: pulverisiertes Blattgold, meist mithilfe einer Pflanzengummilösung gebunden. Ab dem 13. und 14. Jahrhundert diente das Musivgold, ein Zinnsulfidpulver, als Ersatz. Der Künstler konnte durch den Einsatz des Musivgoldes einen weiteren, dunkelgoldenen Metallton erzielen. Da Pinselgold gerne in Muschelschalen aufbewahrt wurde oder auf die Innenseite von Muschelschalen gestrichen in den Handel kam, hieß Muschelgold und heißt es im Fachjargon auch ▶ „Muschelgold“. Früh schon hat man die Goldgründe in sich strukturiert. Auf höchst elegante Weise taten dies beispielsweise die Künstler der um die Mitte des 13. Jahrhunderts in Nordfrankreich oder England entstandenen Trinity-Apokalypse (Cambridge, Trinity College Library, Ms R. 16.2). Die im ersten Drittel des 15. Jahrhunderts tätigen Illuminatoren der spätgotischen deutschen Ottheinrich-Bibel (München, Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 8010/1 und Heidelberg, Kurpfälzisches Museum, Hs. 28) belegen noch ausgeprägter, in welchem Umfang man sich nunmehr für die Musterung goldener Hintergründe zahlreicher Modeln, Punzen, Schablonen und Pressbrokate bediente, die als Markenzeichen einer Werkstatt und ihrer von Generation zu Generation weitergegebenen Gepflogenheiten fungierten. Und im herrlichen Codex Gaston Phoebus – Das Buch der Jagd (Paris, Bibliothèque nationale de France, Ms fr. 616) dekorierten die Illuminatoren um 1405 – 1410 die Goldgründe mithilfe ausgefeiltester Techniken, um deren Schmuckwirkung zu intensivieren. Diese Entwicklung verlief parallel auch in der Tafelmalerei und in der als Fassmalerei bezeichneten goldenen Fassung der Rahmen von Schnitzretabeln. Schon Goldschmiede vorgeschichtlicher Zeit gingen daran, Gold nicht nur gleichmäßig zu treiben, sondern auch mit Hammer und Meißel zu verzieren, also zu ziselieren. Ebenso wie der Terminus „punzieren“ ist im Mittelalter der Begriff „ziselieren“ aus dem Sprachgebrauch der Goldschmiede in den der Maltechniken übernommen worden, ohne die auffallenden instrumentellen Abweichungen zu berücksichtigen.

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Die Malstoffe

Während nämlich der Goldschmied beim Ziselieren Silber- und Goldblech mithilfe stählerner Punzenstempel reliefartig vorwölbte oder mit Mustern strukturierte, arbeitete der Tafel- beziehungsweise Buchmaler ausschließlich mit dem Einpressen von Musterpunzen. Zusätzlich ergänzte er die vorgenommenen Punzierungen gerne mit feinen Linien oder Riffelungen, die er mithilfe der abgerundeten Spitze eines Silber- oder Messingstiftes in den noch nicht ganz erhärteten, polierten Goldgrund eindrückte (eine stumpfe Spitze deshalb, um das Blattmetall nicht aufzureißen). Diese Maßnahme als Gravierung zu bezeichnen, ist irreführend. Auch der Ausdruck „Ziselierung“ trifft die Sache strenggenommen nicht, da in der Malerei kein Span abhebendes Ziseliereisen (durch Hammerschläge vorwärts bewegt) verwendet wird. Das Eindrücken von Linien, anstelle des Linien ziehenden Spanabhebens, wird in der Goldschmiedekunst „trassieren“ genannt, was angesichts der entsprechenden Goldverzierung in der Buchmalerei treffender wäre als die gebräuchliche Bezeichnung der „Ziselierung“. Das dekorative Hauptziel jeder durch Stempel oder anderweitige Muster hergestellten Punzierung respektive Trassierung (Ziselierung) besteht darin, die gleichmäßige Lichtreflexion der Metalloberfläche zu brechen; entweder stehen dann die Motive dunkel in glänzenden Gold- oder Silbergründen, oder aber sie glitzern hell aus nicht reflektierenden dunklen Metallflächen heraus. Die Tiefe der Stempeleindrücke vermag zusätzlich die Illusion zu steigern, die Goldgründe bestünden aus massivem Metall und nicht nur aus hauchdünnen Blättchen. Im Medium der Buchmalerei sind die Effekte dieser Bearbeitungsmethoden besonders häufig in ungebrochener Reinheit und Schönheit erhalten geblieben. Der unergründliche, wie von innen kommende Glanz des Goldes trug von jeher zur Aura dieses Edelmetalls bei, erhob es über allen ökonomischen Wert hinaus (welcher dem Gold auch seinen negativen, verführerischen Aspekt verleihen konnte) zum Bedeutungsträger irdischen Glücks wie transzendenter Vollkommenheit, zum namengebenden Stoff eines jeden „Goldenen Zeitalters“. Das Mittelalter hing, wie auch zahlreiche Quellentexte belegen, der Vorstellung vom Gold als materialisiertem Licht sowie als Träger spiritueller Kraft an. Illuminare bedeutet „mit Licht tränken“, „Glanz verleihen“. Das Wort charakterisierte somit Gold und Silber als die vornehmste Auszeichnung einer Handschrift. Auch Silber fungierte als Lichtreflektor. Das verdeutlichen zum Beispiel die entsprechende Effekte zeitigenden Zierbuchstaben der ottonischen und der auf sie folgenden salischen Epoche in Deutschland oder auch die Heiligenscheine in dem Bild mit der Hochzeit zu Kana, fol. 17r in dem wunderbaren ▶ Salzburger Perikopenbuch aus den Jahren um 1020 (München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 15713). Dennoch beanspruchte die Ästhetik des

Salzburger Perikopenbuch

III.

Die Materialien

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Goldes unangefochten den Vorrang. Deshalb schmückten zwischen dem 10. und dem 14. Jahrhundert die Buchkünstler aus Byzanz und Europa den Hintergrund ausgezeichneter Miniaturen und Initialen mit glänzendem Gold, das durch seine Lichtwirkung die Erscheinung eines überirdischen, göttlichen Ortes signalisieren sollte. In der westlichen Buchmalerei ist der Goldgrund erstmals konsequent um 990, im ▶ Aachener Schatzkammerinventar (Evangeliar Ottos III.) (Aachen, Aachener Schatzkam- Domschatzkammer), eingesetzt, das heißt in Miniaturen, die wahrscheinlich, merinventar wie die neuere Forschung annimmt, in der Klosterschule der Insel Reichenau entstanden. Der Überlieferung zufolge wurde der Codex von Kaiser Otto III. dem Aachener Krönungsstift geschenkt. Jahrhundertelang diente er als Schwurevangeliar für die deutschen Könige in ihrer Eigenschaft als Kanoniker eben dieses Stiftes. Ein kräftiger Purpurrahmen umzieht den Goldgrund der zu dem einleitenden Widmungs-„Diptychon“ gehörenden Apotheose Ottos III. Der Kaiser sitzt, umfangen von einer ansonsten Christusbildern vorbehaltenen Mandorla (einem mandelförmigen Glorienschein), in antikisierender Kleidung auf einer Thronbank. Sie scheint zu schweben, obwohl sie von der weiblichen Personifikation der Erde getragen ist. Vom Himmel herab senkt sich die Hand Gottes und berührt das Diadem auf dem Haupt des jugendlichen Kaisers. Die Aureolen (Glorienscheine) um die Gotteshand und die Kaiserfigur überschneiden sich, und präzise in dem dadurch abgegrenzten Segment ist das kaiserliche Antlitz platziert. Oben erscheinen die vier Evangelistensymbole. Links und rechts vom Thronschemel, außerhalb der Mandorla und nicht wie der Kaiser in die Himmelssphäre hineinragend, stehen zwei Könige in ehrerbietiger Haltung, vermutlich als Vertreter der Vasallenreiche. In der unteren Zone sind vier hohe weltliche und geistliche Würdenträger des Reiches platziert. Der Kaiser wird in dieser Miniatur auf einzigartige Weise verklärt, anders als die übrigen irdischen Mächte ist er Gott nahe: Er erscheint als Stellvertreter Christi. Deshalb umfängt ihn die Mandorla, deshalb umringen ihn die Tiersymbole der Evangelisten, die eigentlich nur der Majestas Domini, dem thronenden Christus, zukommen. Und all das ist vor schimmerndem Goldgrund inszeniert, der das Bild ins Transzendente hebt. Nach dem 14. Jahrhundert, als die Buchmalerei sich mehr und mehr an mimetischen (auf Naturnachahmung ausgerichteten) Darstellungszielen orientierte, verschwand das Gold zwar keineswegs aus den Codices, aber es wurde, meist als Pinselgold, vornehmlich für Glanzlichter eingesetzt. Auf diese Weise „naturalisiert“ diente es nur noch der modellierenden zeichnerischen „Höhung“ eines Motivs, nicht mehr dessen Auratisierung.

Teamleistung

IV. Die Arbeit

und ihr Wert

Teamleistung

K

ein Kunsthandwerk des Mittelalters ermöglicht so detaillierte Einblicke in Arbeitsvorgänge wie die Buchherstellung und deren Layoutgestaltung. Zahlreiche Bild- und Textquellen dokumentieren die einzelnen Arbeitsschritte. Die Tintenzeichnungen auf dem Titelbild (fol. 1v) der im 3. Viertel des 12. Jahrhunderts vollendeten, in der Bamberger Staatsbibliothek (Msc. Patr. 5) aufbewahrten Ambrosius-Handschrift zeigen beispielsweise in zehn Randmedaillons je einen Mönch bei einer speziellen, in unseren Zusammenhang gehörenden Tätigkeit. Der eine hat den Federkiel gespitzt und überprüft kritisch die hauchfeine Spitze. Ein zweiter beschreibt mit dem Griffel ein Wachs-Diptychon, dessen Text dann als Vorlage für die Reinschrift auf Pergament dienen wird. Der dritte bearbeitet mit dem Schabeisen die in den Holzrahmen eingespannte Tierhaut – bereitet also, wie weiter oben schon skizziert, das Pergament vor. Ein anderer Mönch schrägt mit dem Flachbeil die Kanten des für den Einband dienenden Holzdeckels ab. Ein Kollege legt die Pergamentbögen ineinander und benutzt zum Falzen das Messer, während sich der sechste Spezialist in der klösterlichen Buchbinderwerkstatt an den sogenannten Lagen zu schaffen macht. Im Bild darunter werden Doppelblätter zugerichtet und liniert. In der nächsten Szene richtet ein Mönch mit dem Hammer die Buchschließe; der neunte zeigt das fertige Buch vor, der zehnte erklärt es den anwesenden Schülern. Im mittleren Rechteckfeld der Miniatur sind weitere Mitglieder des Konvents dargestellt. Einer von ihnen, der dem Schutzpatron, dem heiligen Michael, besonders nahe ist, ist der Buchmaler mit Pinsel und Farbschale. Klosterwerkstätten, sogenannte Skriptorien, gehörten zur festen Institution aller mittelalterlichen Konvente, die in der Regel gezwungen waren, ihre für die Liturgie benötigten und für die Klosterbibliothek erwünschten Bücher durch geduldiges Kopieren von Vorlagentexten selbst anzufertigen und dann je nach Ambition auszuschmücken. Von Anfang an waren die großzügig illuminierten Bücher nicht nur Meisterleistungen der Kunst, sondern auch Produkte handwerklicher Perfekti-

IV.

Lagen

Die Arbeit und ihr Wert

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on und Teamleistung. Die Herstellungspraxis mittelalterlicher Handschriften entwickelte selbst in den unterschiedlichsten Kunstlandschaften und über viele Epochen hinweg bestimmte Regularien. Der Trend ging zur Arbeitsteilung, die insbesondere seit dem Hochmittelalter, vor allem aber im 15. und frühen 16. Jahrhundert, immer komplexere Formen annahm. Die Werke der Buchkunst sind im Unterschied zu anderen Bildkünsten fast immer das Resultat einer „Phasenzerlegung“ (Johann Konrad Eberlein). So wurde die Arbeit zwischen einem oder mehreren Skriptoren und den für die Miniaturen beziehungsweise dekorativen Komponenten einer Handschrift zuständigen Illuminatoren aufgeteilt, obwohl zwischen den beiden Tätigkeiten bezüglich der Arbeitsökonomie und der Technologie auch zahlreiche Übereinstimmungen bestanden. Vom Früh- bis zum Hochmittelalter war es keine Seltenheit, dass das Schreiben und Malen von ein und derselben Hand praktiziert wurde. Doch je mehr sich die Herstellung und Verbreitung der Bücher aus den Klöstern in die Werkstätten städtischer Handwerker verlagerte, desto mehr verselbständigte sich der spezialisierte Buchmaler: 1193 ist erstmals das Wort „Miniator“ für diesen klar umrissenen Berufszweig nachweisbar. Anhand des Book of Lindisfarne (vgl. Abb. 22), einem in lateinischer Sprache verfassten Evangeliar aus dem ausgehenden 7. Jahrhundert, das 259 Pergamentblätter beinhaltet (einschließlich eines Pergamentvorsatzblattes, fol. 1, aus dem frühen 17. Jahrhundert), lässt sich der Arbeitsprozess in seinen Phasen beschreiben. Als Beschreibstoff dienten etwa 150 Blatt sorgfältig zugerichteter Kalbshäute, wahrscheinlich von einjährigen Tieren. Die Seitenoberflächen des Buches sind folglich beinahe makellos. Überdies band man die Pergamentblätter so, dass die Rückgratlinie der Tiere horizontal etwa in der Mitte des aufgeschlagenen Bandes zu liegen kam, um eine spätere Aufwellung der Seiten möglichst auszuschließen und eine bessere Farbhaftung zu erreichen – und tatsächlich war der Farbauftrag im Vergleich zu anderen Büchern jener Zeit dicker und dichter. Der Buchtypus „Codex“ verwendet, anders als die Buchrolle, Einzelblätter (lat. folia), die gefaltet, ineinandergelegt und zu sogenannten Lagen vereinigt werden. Mehrere ▶ Lagen werden dann geheftet und unter den Buchdeckeln zusammengebunden, nachdem man sie vorher mit einem „Custoden“, einer Markierung versehen hatte, um die richtige Reihenfolge der Lagen zu sichern. Im Fall des Book of Lindisfarne bestehen die Lagen aus Quaternionen (vier Doppelbogen, die durch Faltung acht Blätter ergeben), wobei Haarseite auf Fleischseite folgt und die Haarseiten nach insularem Brauch (der britischen Inseln) zu Beginn und am Ende der Lage nach außen zeigen. Lediglich einige der großen Schmuckseiten wurden als Einzelfolia eingebunden. Sobald das Pergament bereitlag, grundiert war und das Text- und Bildprogramm festlag, wurden die formatgerecht zugeschnittenen, zu Doppelblättern

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Teamleistung

▲ Abb. 8  Eadwine-Psalter: Der

gefalzten Pergamentbögen, von denen man meist je vier Schreiber Eadwine, um 1150; Camzu einer Lage zusammenlegte, Seite für Seite in der Form bridge, Trinity College Library, Ms R. 17.I, fol. 283v. des vorgesehenen Schriftspiegels liniiert. Dabei hatten die ▶ Schreiber (Abb. 8), die in der Regel Kopisten waren, da sie bereits exis- Anteil des tente Textvorlagen abschrieben, Platz für die Bilder freizulassen – extrem selten Schreibers sind Autographe, also Handschriften, die vom Autor selbst aufs Pergament ge-

IV.

Bleigriffel

Rubrikator

Die Arbeit und ihr Wert

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bracht wurden. Nur in Ausnahmefällen waren die Illuminationen bereits vorhanden, sodass die Platzierung des Textes Rücksicht auf sie zu nehmen hatte; ein Beispiel bietet ein zwischen 1012 und 1021 im Kloster Seeon entstandenes Regelbuch (Bamberg, Staatsbibliothek, Msc. Lit. 143). Im wesentlich häufigeren umgekehrten Fall verwiesen oft schriftliche Stenogramme auf das jeweilige Bildmotiv; Grobskizzen konnten bereits die ungefähre Komposition umreißen. Mehr oder weniger frei folgten ihr dann die sorgfältigen Vorzeichnungen. Das Book of Lindisfarne ist die älteste erhaltene Handschrift des Abendlandes mit ▶ Bleigriffelzeichnungen (einer Vorform der heutigen Bleistiftzeichnung). Blei zum Liniieren kennt man ansonsten erst aus dem späten 11. Jahrhundert (vermutlich über Iberien und Südfrankreich nach Nordeuropa gekommen). Der Schöpfer des Book of Lindisfarne benutzte Bleigriffelzeichnungen bei jedem Schmuckelement (ausgenommen die Kanontafeln) – selbst bei Kleininitialen. Er pauste dabei die Entwürfe, die er auf der Rückseite eines Blattes anlegte, mithilfe feiner Nadelperforation oder unter Nutzung der Transparenz des Pergaments durch. Im weiteren Verlauf der Buchmalereigeschichte wandelten sich die Mittel, mit denen solche Vorzeichnungen angelegt waren. Sofern man es nicht bei rein gezeichneten Illustrationen beließ, folgte der eigentliche Malvorgang, wobei man Pinsel verschiedener Feinheitsgrade, die feinsten wohl aus Marderfell, verwendete. Die Vorzeichnung wurde mit den Grundtönen des Kolorits und, sofern vorgesehen, mit Gold ausgefüllt. Abschließend erfolgte die Feinarbeit, also die Farbmodellierung und gegebenenfalls Weißhöhung. Diese summarische Vorgangsbeschreibung muss natürlich differenziert werden: Sowohl die Seiten für die großformatigen Miniaturen als auch die Räume innerhalb der Textspalten (Kolumnen) für die dort vorgesehenen kleinen Bilder wurden, wie gesagt, vorab definiert und frei gelassen. Jetzt erst konnte der „Formschreiber“, der Kalligraf, beginnen. Mit dunkler, einfarbiger Tinte und mithilfe eines Griffels aus Schilfrohr oder eines Federkiels trug er den Text ein, wobei er den Platz für jede Vers- und Kapitelinitiale am Zeilenanfang auszusparen hatte und gleichermaßen den Raum für die zahlreichen Rubriken. Dem Schreiber folgte unmittelbar der ▶ Rubrikator, der mit roter Tinte die Bezeichnungen für einzelne Textanfänge und ähnlich herausgehobene inhaltliche, aber auch dekorative Akzente in den Textkörper einfügte. Dabei konnte er sich zumeist an entsprechenden Hinweisen orientieren, die der Hauptschreiber dezent am Blattrand vorgegeben hatte. Anschließend wurden die Zeichner und Maler der einzeiligen Initialen und der Zeilenfüllstreifen tätig. Die Hauptminiatoren fanden also, bevor sie mit ihrer Arbeit an den großen und kleinen Bildwerken begannen, eine im Textbestand bereits fertige Lage vor. Letzte Hand an das Manuskript legten dann wohl diejenigen Künstler, denen das Dekor der zwei- und

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Teamleistung

mehrzeiligen Kapitelinitialen anvertraut war. Aus diesen erwuchs ein Rankenwerk von Blättern, Blüten und Früchten, in dem sich gelegentlich auch Tiere, Menschen und phantastische Wesen tummeln. Ebenso wurden die Buchstabenkörper mit Darstellungen aller Art ausgefüllt. Hinsichtlich der Spezialisierung auf diverse Teilbereiche der Buchausstattung unterschieden schriftliche Nachrichten im hochmittelalterlichen Frankreich zwischen der Arbeit der illumineurs und der historieurs. Erstere waren verantwortlich für die dekorativen Schmuckelemente (Initialen, Bordüren, Zeilenschlussleisten u. Ä.), die historieurs für die szenischen Darstellungen („Historien“), also die Miniaturen im engeren Wortsinn. Beschränkte sich der Buchauftrag auf wenige Miniaturen, machte ein arbeitstechnisches „Splitten“ auf viele Hände wenig oder gar keinen Sinn. Doch bei einem Großauftrag empfahl sich der Einsatz möglichst vieler Kräfte, was nicht selten zu extrem komplizierten Werkprozessen führte: Einer der hauptverantwortlichen Meister entwarf die ▶ Vorzeichnungen (sei es nach eigener Erfindung, sei es nach Vorgabe eines bewunderten älteren Künstlers) und versah sie dann eigenhändig mit dem Kolorit, konnte mit dem Ausmalen aber auch Gehilfen beauftragen, die sich gelegentlich diese Aufgabe sogar an ein und derselben Partie eines Bildes teilten. Dem Werkstattleiter kam es in der Regel zu, die ikonografisch wichtigsten Bilder auszuführen. Das mussten freilich nicht immer die aufsehenerregendsten werden, denn oft war besagter Leiter schon älter und deshalb einem traditionellen Stilempfinden verpflichtet, wohingegen jüngere Mitarbeiter gerne innovative Wege einschlugen. Um eine derartig komplexe Arbeitsteilung überhaupt effizient werden zu lassen, war natürlich eine solide Schulung aller beteiligten Hilfskräfte nötig. Eine weitere Grundvoraussetzung war die vom Hauptmeister vorgenommene Typisierung des Motivschatzes (etwa mithilfe eines Musterbuches), die auch künstlerisch weniger begabten Beteiligten vertrautes und damit gut kopierbares Vorlagenmaterial an die Hand gab. Den Abschluss des Herstellungsprozesses bildete die ▶ Arbeit des Buchbinders. Bis zum Hochmittelalter schlossen bei inhaltlich besonders geschätzten Codices wertvollste Buchhüllen die Pergamentseiten ein. Die Einbandkunst trug seit dem 15. Jahrhundert – seit Spätmittelalter, Humanismus und Renaissance – dem damals erwachenden Individualismus der Auftraggeber und Büchersammler und einer Art Säkularisierung des Mediums Buch Rechnung. Damals setzten sich die schon lange vorher für Bücher des täglichen Bedarfs bekannten lederbezogenen Einbanddeckel durch: Im Frühmittelalter verwendete man dazu Wildleder oder rot, gelegentlich auch blau eingefärbtes Schafsleder, seit dem 14. Jahrhundert zumeist Kalbs- beziehungsweise Rindsleder; Südeuropa bevorzugte gleichzeitig für bibliophile Ausgaben das kostbare Zie-

Vorzeichnungen

Arbeit des Buchbinders

IV.

Die Arbeit und ihr Wert

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genleder, das als „Saffian“ bekannt ist oder auch als leuchtend rot gefärbtes „Maroquin“ – der Name weist auf das Hauptursprungsland Marokko und auf die seinerzeit bewunderte arabische Tradition der Lederbearbeitung hin; vor allem im Italien des 16. Jahrhunderts diente auch Samt als Bezugsstoff. Gerne verzierte und nobilitierte man die Einbände mit Stempeldrucken und vergoldeten Pressmustern und brachte auf Vorderseite und Buchrücken Besitzervermerke und Buchtitel an. Es wurde zur Aufgabe besonders geschätzter und gut bezahlter Buchbinder, solcherart die Codices begüterter Sammler aus der Durchschnittsproduktion herauszuheben und als Teile ihrer berühmten Bibliotheken zu kennzeichnen. Die Bestände Pfalzgraf Ottheinrichs in Heidelberg oder des Ungarnkönigs Matthias Corvinus sind prominente Beispiele.

Der materielle Wert

der Deckel des Codex Aureus

Die Prunkhandschriften des frühen und hohen Mittelalters sowie die Luxusausgaben des Spätmittelalters und der Renaissance, mit denen sich ja die Fachwissenschaft aus künstlerischen Gründen vornehmlich beschäftigt, hatten und haben auch weiterhin neben ihrem ästhetischen einen ungeheuren materiellen Wert. Vor allem im kirchlich-liturgischen Kontext verlangte die Heiligkeit des Buches mit dem geoffenbarten Wort Gottes nach opulentem Dekor. Dieser setzte sogleich am Äußeren an, an den Einbänden, die gar nicht selten mit kostbarsten Materialien, wie beispielsweise Gold, Silber, Emails, Elfenbein, Perlen, Edelsteinen und mit Treibarbeiten verziert wurden. Mag sich in der Frühzeit der Buchkunst daran auch noch der Glaube geknüpft haben, dass diese materielle Hülle heilbringende oder im Gegenteil Unheil abwehrende Kräfte besaß, so sah die Ästhetik des hohen Mittelalters in ihr einen Spiegel absoluter, überirdischer Schönheit und göttlicher Wahrheit. Zusätzlich brachten der ungeheure Aufwand und das handwerkliche Können den in frommen Dienst gestellten Reichtum der Stifter zum Ausdruck. Zwei Beispiele: Der um 870 vielleicht in St. Denis entstandene, um 893 als Geschenk nach Regensburg gekommene und heute im Besitz der Bayerischen Staatsbibliothek München befindliche ▶ Codex Aureus (vgl. Abb. 4) weist mit der original erhaltenen Vorderseite des Buchdeckels eine der größten Kostbarkeiten mittelalterlicher Kunst auf: Die getriebenen Goldreliefs (Majestas Domini, Evangelisten, vier christologische Szenen) in der Mitte sind gerahmt von zahlreichen Edel- und Halbedelsteinen, Perlen, Filigranarbeiten, Zellenverglasungen und unzähligen Goldkügelchen. Der Vorderdeckel des gut hundert Jahre später, um 1000, auf der Reichenau hergestellten Evangeliars Ottos III. (München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 4453) zählt zu den herrlichsten Arbeiten ottonischer Kunst. Auch bei ihm ist

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Der materielle Wert

das Goldblech dicht mit Edelsteinen, Perlen, Gemmen, goldenen Filigranpyramiden und Kügelchen übersät. Das Zentrum aber besetzt eine byzantinische Elfenbeinarbeit des 10. Jahrhunderts mit der Darstellung des Marientodes. ▶ Elfenbein erfreute sich im Mittelalter nicht nur bei altehrwürdiger Her- der Wert des kunft – sei es aus der byzantinischen Vergangenheit, sei es in Gestalt spätan- Elfenbeins tiker Spolien –, sondern ebenso bei zeitgenössischen Stücken aufgrund seiner Symbolkraft und seines materiellen Wertes größter Beliebtheit. Zusätzlich zu der „Schatzqualität“ jener Einbände trug auch das sorgfältig ausgewählte und bearbeitete Pergament zur Wertsteigerung der Prachtcodices bei. Von der atemberaubenden Kostbarkeit vieler Farbpigmente war bereits die Rede. Nicht umsonst befanden sich in den Schatzkammern des Herzogs von Berry zu Beginn des 15. Jahrhunderts, wie die Inventarlisten belegen, mitten unter goldgefassten Reliquiaren, anderen exquisiten Werken der Goldschmiedekunst, ausgefallensten Kostbarkeiten und Edelsteinen auch zwei Säcke mit gepulvertem Lapislazulistein, den man für die Ultramarinfarbe brauchte. An die Seite all dieser materiellen Komponenten, von dem historischen Symbol- und Zeichenwert erlesener Materialien ganz zu schweigen, traten dann Qualitäten, die man heute als genuin künstlerisch beurteilt: die Kalligrafie der Schrift, die minutiöse Feinheit der Miniaturen, die Delikatesse des ornamentalen Dekors auf den Buchseiten. In ihnen manifestierte sich nicht nur eine überragende schöpferische Leistung, in ihnen war überdies ein schier unglaublicher Zeitaufwand investiert, Faktoren, die selbstverständlich auch den materiellen Wert in hohem Grade mit bestimmten. Heutigen Schätzungen zufolge wären mindestens ▶ zwei Jahre bei bester Herstellungszeit körperlicher Verfassung zur Ausführung beispielsweise des Book of Lindisfarne oder des Book of Durrow erforderlich gewesen. Klösterliche Schreiber und/ oder Illuminatoren konnten in Anbetracht ihrer übrigen religiösen Pflichten, der Unmöglichkeit, bei Kerzenlicht zu arbeiten und der Voraussetzung höchster physischer und geistiger Konzentrationsfähigkeit höchstens drei Stunden pro Tag arbeiten. Nur reichere Klöster konnten sich den Luxus leisten, den Raum, der das Skriptorium beherbergte, mit mehreren Fenstern zu versehen, um möglichst viel Tageslicht einfallen zu lassen. Sofern in der Frühgeschichte der Buchmalerei gar nur ein einziger Kleriker mit dem Schreiben und Malen betraut war, muss man einen Zeitraum von fünf bis zehn Jahren für eine illuminierte Handschrift veranschlagen. Sein und aller seiner Kollegen „Lohn“ bestand so gut wie ausschließlich in ideeller Anerkennung seitens der Klostergemeinschaft. Eine wesentlich kürzere Zeitspanne beanspruchte das Schreiben und Illuminie-

IV.

Buchpreise

Die Arbeit und ihr Wert

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ren in den spezialisierten städtischen Großateliers des Spätmittelalters und der Renaissance, allerdings wollten dann die zahlreichen Mitglieder der Werkstatt adäquat entlohnt werden. Solange die Herstellung und Illuminierung luxuriöser Manuskripte also in Klosterskriptorien erfolgte und dort, wo die Bücher für den Gebrauch im eigenen Konvent bestimmt waren oder aber als luxuriöse Auftragswerke hochherrschaftlicher Stifter an die Altäre von Dom- und Stiftskirchen gelangten, machte man sich um die Kosten kaum Gedanken. Hinsichtlich der „Durchschnittsbücher“ lagen die Dinge sicher anders. Man darf das behaupten, obwohl zumindest für die Frühzeit nur spärliche Quellenaussagen existieren. Ein spanisches Dokument aus dem Jahr 796 erwähnt ein bescheiden ausgestattetes Antiphonar, das drei Goldsolidi, sowie ein einfaches Gebetbuch, das zwei Goldsolidi kostete – teuer genug, wenn man bedenkt, dass ein Ochse damals eineindrittel Goldsolidi wert war. Als weltliche Ateliers in allen wichtigen Kunstlandschaften, vor allem aber im spätmittelalterlichen Flandern, das Monopol für illuminierte Bücher an sich rissen, hatten sie auf einen relativ „offenen Markt“ zu reagieren, standen also einem potenziell breiteren Kundenkreis gegenüber. Sie wollten und mussten ihre Buchproduktion den neuen Marktgesetzen und einem in Geld umgemünzten Preis-Leistungs-Verhältnis unterstellen. Doch auch in dieser Zeit fanden Luxusausgaben weiterhin ihren Weg zu fürstlichen Adressaten. Im Übrigen arbeiteten einzelne Buchmaler (samt ihren Ateliers) sowohl für den freien Markt wie für die Höfe. Genannt sei in diese Hinsicht nur Gerard Horenbout, der im frühen 16. Jahrhundert Käufer in Gent, ferner einen europäischen „Exportmarkt“ und zusätzlich den Hof der Margarete von Österreich in Mecheln belieferte. Mit Miniaturen geschmückte Handschriften waren in dem von uns untersuchten Zeitraum immer teuer, in vielen Fällen sogar außerordentlich teuer, sogar ohne ▶ Prunkeinbände. Ein Buch mit kosmografischem Inhalt und zugehörigen Illustrationen beispielsweise, das der Überlieferung zufolge kurz nach 700 seinen Weg von Rom nach England fand, veräußerte man dort um einen Gegenwert, der dem Landbesitz von mindestens acht Durchschnittsfamilien entsprach. Im Jahr 1074 bekam ein Priester für ein einfaches Missale (Messbuch) einen Weinberg überschrieben. Für die im 12. Jahrhundert vollendete, ursprünglich zweibändige Bibel des Abtes Walther von Michelbeuren veranschlagte man 10 Talente, die heute in der Erlanger Universitätsbibliothek (Ms 1) aufbewahrte Gumpertsbibel vom Ende des 12. Jahrhunderts kostete 12 Talente – in Relation dazu war ein Weinberg mit 33 Talenten zu bezahlen, und der Baumeister, der 1140 die Salzburger Wasserleitung durch den Mönchsberg bohrte, erhielt während seiner vierjährigen Tätigkeit ein Honorar von 6 Talenten pro Jahr. Ende des 14. Jahrhunderts

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Der materielle Wert

entsprach in Italien der Wert eines billigeren medizinischen Buches den durchschnittlichen Lebenshaltungskosten von mindestens drei Monaten, der eines teuren juristischen Buches denen von eineindrittel Jahren, der des kostspieligsten, in der gleichen Quelle aufgeführten Buches denen von fünf Jahren. Im Jahr 1485 wurden in Pavia zwei Antiphonare (Sammlungen von Kirchengesängen) für 55 Florin (36 davon für den Schreiber, nur 19 Florin für das Illuminieren und Binden zusammen) hergestellt – wieder zum Vergleich: Über 60 Prozent der Professoren verdienten damals (nachgewiesen für 1435 und 1447) weniger als 51 Florin im Jahr. Im Jahr 1461 betrug der Anteil der achtzehnbändigen Bibliothek eines wohlhabenden Kaufmanns ein Viertel des Geldwertes seiner gesamten beweglichen Habe. Und heutzutage? 1976 erzielte ein um 1510 entstandenes, nicht einmal herausragendes flämisches Stundenbuch aus einer anonymen deutschen Sammlung in London die Summe von 407 000 Britischen Pfund. 1983 wurde das künstlerisch unvergleichlich anspruchsvollere ▶ Evangeliar Heinrichs des Löwen aus dem späten 12. Jahrhundert bei Sotheby’s in London für 32,5 Millionen DM als damals teuerstes Buch der Welt für die Bibliotheken in Wolfenbüttel und München ersteigert. Werden heutzutage Prachthandschriften überhaupt noch auf Ausstellungen geschickt, beläuft sich der Versicherungswert auf eine mehrstellige Euro-Millionen-Summe pro Buch. Und wie stand es um die Entlohnung der Künstler? Spätestens seit der Mitte des 13. Jahrhunderts existiert das Amt des Hofkünstlers. Dass die in die Entourage eines Fürsten aufgenommenen Künstler ein hohes Jahressalär erhielten, dass ▶ Buchmaler wie die Brüder Limburg oder Jean Le Noir vom Duc de Berry, wie dessen Rechnungsbücher ausweisen, bei Gelegenheit teure Stoffe und Pelze, Goldmünzen und Edelsteine zum Geschenk erhielten, hat den Preis der von ihnen ausgestatteten Bücher gewiss nicht wesentlich teurer gemacht als er ohnehin schon war. Wohl aber hat das künstlerische Renommee der in Hofdienst stehenden Buchmaler – und das waren fast ausnahmslos die besten ihres Faches – den Wert der von ihnen illuminierten Handschriften in die Höhe getrieben. Kein Wunder, dass sich diese Codices dann als generöse Geschenke anboten. Als etwa am 24. Februar 1466 Karl der Kühne von Burgund seinen feierlichen Einzug in Brügge hielt, überreichten ihm die Bürger ein besonders kostbares Geschenk, ein, wie die Quellen vermerken, in goldenen und silbernen Lettern auf schwarz gefärbtem Pergament niedergeschriebenes Stundenbuch, mit Miniaturen von Philippe de Mazerolles. Im Jahr darauf avancierte Mazerolles, nicht zuletzt aufgrund besagter Schöpfung, zum Hofmaler des Herzogs von Burgund. Das Schwarze Stundenbuch, das seine Karriere so sehr gefördert hatte, dürfte identisch sein mit jenem, das unter der Signatur Cod. 1856 in der Österreichischen Nationalbibliothek liegt.

Evangeliar Heinrichs des Löwen

Buchmaler als Hofkünstler

IV.

Die Arbeit und ihr Wert

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Selbst spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Buchmaler, die auf dem freien Markt tätig waren, hatten beachtliche Einkünfte. In Nürnberg, um nur dieses Beispiel zu nennen, belief sich das Jahreseinkommen des Nikolaus Glockendie Glocken- don um 1520/30 sowie des ▶ Jörg Glockendon d. J. um 1540 auf 150 bis 200 dons Gulden. Buchmaler verdienten demnach zwar weniger als ein Albrecht Dürer, aber immerhin drei- bis viermal soviel wie ein renommierter Architekt. Nikolaus Glockendon konnte mit dem Gehalt eines Jahres in seiner Vaterstadt ein bescheidenes Haus erwerben. Von einem Spitzenverdienst zu sprechen, wäre andererseits fehl am Platze, wenn man die zahlreichen Ausgaben für Lohnkosten, Rohstoffe, Lebenshaltung et cetera berücksichtigt, die der Leiter einer Miniaturenwerkstatt vom Bruttoverdienst zu bestreiten hatte.

V. Buchtypen und

ihre Bebilderung

E

ine Auflistung der verschiedenen Typen mittelalterlicher Bücher nach ihren Inhalten und den zugehörigen Miniaturen, wie sie im Folgenden skizziert wird, kann in religiöse und weltliche Werke gegliedert werden, obwohl bis zum Spätmittelalter die Grenzen zwischen Sakral- und Profanikonografie nicht immer eindeutig verlaufen. Blieben doch, um nur ein Gebiet herauszugreifen, Chroniken und anderweitige Historientexte meist in einen heilsgeschichtlichen Zusammenhang integriert, der das historische Geschehen im christlichen Weltbild fundierte. Dennoch liefert die Gliederung in sakral und profan ein passables Kriterium, solange man sich ihrer historischen „Unschärfe“ bewusst bleibt, denn sowohl die Texte als auch die Bilder wurden auf Interessen und Hintergrund ihrer jeweiligen Leser und Betrachter inhaltlich und formal abgestimmt. Jene angesprochenen Grenzunschärfen werden exemplarisch in den vielfältigen Sammlungen eines der größten Kunstförderer aller Zeiten deutlich, des nun schon mehrfach erwähnten Herzogs ▶ Jean de Berry. Zu seinen Bücherbeständen zählten nach Ausweis der Inventare 41 Chroniken, 38 Ritterromane, 24 Handschriften über Wissenschaft und Kunst, 14 Traktate über Politik und Philosophie: viele Sachbücher also, die zusammen einen Kurzabriss des Wissens seiner Zeit abgaben. Seine wahre Liebe und seine mäzenatische Leidenschaft aber gehörten den verschwenderisch illustrierten religiösen Büchern, vor allem den Stundenbüchern – er erbte sie, kaufte sie, manchmal „lieh“ er sie auch aus, ohne sie zurückzugeben; das Gros aber ließ er eigens von spezialisierten Hofkünstlern und ihren Großateliers anfertigen. Sie alle beinhalteten die damals üblichen Texte und Formeln für Gebet und Andacht – unter inhaltlichem Aspekt also nichts Besonderes. War es dann die Gestaltung des Textes, waren es die Illumination, die Miniaturen, die wertvollen Pigmente und Einbände, die die Manuskripte zu Sammlungsobjekten werden ließen? Der „schöne Schein“ auf den Pergamentseiten und die fromme Versenkung in Gebete oder in anderweitige geistige „Nahrung“ wurden im Mittelalter keineswegs als Wider-

Buchbesitz des Duc de Berry

V.

Buchtypen und ihre Bebilderung

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spruch wahrgenommen. Eine eindeutige Zäsur zwischen dem „geistig-intellektuellen“ beziehungsweise „religiös-erbaulichen“ Gehalt eines Buches und der sinnlichen Macht seiner Illustrationen existierte nicht, selbst in Zeiten, in denen der Vermittlungsfähigkeit der Schrift mehr zugetraut wurde als der des mittelalter- Bildes. Jede historische Rückschau lässt erkennen: ▶ Frömmigkeit war im Mitliche Fröm- telalter gleichermaßen ein Mittel persönlicher Zwiesprache mit Gott wie ein migkeit Instrument gesellschaftlicher Selbstdarstellung – gleichzeitig unterstanden ihr auch alle weltlich-wissenschaftlichen Anstrengungen. Erst im Verlauf der Renaissance bahnte sich eine methodische Trennung der Disziplinen an. Dabei dienten Schrift und Bild in ihrem harmonischen Zusammenwirken der Reflexion von Frauen und Männern, Klerikern und Laien, von Aristokraten und gebildeten Weltlichen – illuminierte Handschriften spiegeln ihren Glauben ebenso wider wie ihr Selbst- und Weltverständnis.

Sakrale Werke Eine Typologie sakraler Handschriften unterscheidet am besten zwischen liturgischen Schriften und Andachtsbüchern. Liturgische Manuskripte wurden während des Gottesdienstes von den Zelebranten verwendet, während Andachtsbücher private Verwendung fanden. Letztere entwickelten sich zwar zunächst aus dem Repertoire kodifizierter liturgischer Texte, berücksichtigten aber im weiteren Verlauf private, und das hieß zunehmend laikale, Frömmigkeitsformen und trugen dem in ihrem Bildangebot Rechnung. Einen hohen Rang in der Hierarchie religiöser Codices nahmen die Bibelausgaben ein. Deren Bedeutung übertrafen allerdings noch jene Manuskripte, die einen elementaren Stellenwert in der Messliturgie besaßen, allen voran die Evangeliare und Evangelistare.

Die Bibel Die christliche Konfession ist eine der großen Buchreligionen der Welt. Gottes Herrschaft steht unter dem Vorzeichen des Buches, so sehr, dass sich noch der Miniator einer um 1380/90 vollendeten französischen Historienbibel, einer Bible Historiale (Stuttgart, Landesbibliothek, Cod. bibl. 2o 6, fol. 83r), die Gesetzestafeln, die Moses auf dem Berge Sinai von Jahwe überreicht bekam, nicht anders denn als Codex vorstellen konnte. Gleich zu Beginn des Christentums manifestierte sich der medial-religiöse Identifikationspunkt in der sprachlichen Gleichsetzung von Buch und heiligem Buch, nämlich im Gebrauch des Wortes „Bibel“: Ist dieses doch abgeleitet von biblion, dem altgriechischen Namen für die Buchrolle (zu der die Römer bekanntlich rotulus sagten). Das lateinische

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Sakrale Werke

Lehnwort „Biblia“ gebrauchte den Plural, um zu kennzeichnen, dass es sich bei der Heiligen Schrift der Christen textlich um die Zusammenfassung mehrerer Bücher handelt. Der heilige Augustinus sah in der Bibel Gottes Handschrift, einen „verehrungswürdigen Griffel des Geistes Gottes“; die Bibel, so der karolingische Hoftheologe Alkuin, bestehe aus „himmlischen Wörtern“, Resultat eines göttlichen Diktats. Das Alte Testament kündigt in den Erzählungen des Alten Bundes zwischen Gott und dem Volk Israel das Heil an, das dann im Neuen Bund durch Leben, Wirken und Sterben Christi seine Erfüllung findet. Das Neue Testament enthält in der Reihenfolge des griechischen Kanons die vier Evangelien nach Matthäus, Markus, Lukas und Johannes, die Paulusbriefe, die sogenannten katholischen Briefe und die Apokalypse (Geheime Offenbarung) des Johannes. Sind beide Testamente in einem Band vereint, spricht man auch von einer Vollbibel. Die Urfassung des Alten Testaments war in Hebräisch geschrieben. Zwischen etwa 250 und 150 v. Chr. entstand eine griechische Teilübertragung des Pentateuch (der fünf Bücher Mose), die ▶ Septuaginta. Diese erhielt ihren – spä- Septuaginta ter auf die gesamte Übersetzung des Alten Testaments ins Griechische übertragenen – Namen nach der Legende, derzufolge 72 jüdische Schreiber in 72 Tagen auf der Insel Pharos vor Alexandria die Übersetzung anfertigten. Nach einigen Vorstufen begann dann der Kirchenvater Hieronymus im Jahre 383/84 mit einer lateinischen Übersetzung, die als Vulgata die Grundlage der lateinischen Bibel des Mittelalters abgab. Aus karolingischer Zeit sind die frühsten illustrierten Riesenbibeln tradiert, die, wie ihr Name besagt, über ein beträchtliches Format verfügen. Während die für den westfränkischen König Karl den Kahlen um 845/846 in Gold, Silber und Purpur auf 423 Pergamentblättern in Tours, einem Fertigungszentrum von Prachtbibeln, geschriebene und illuminierte Vivian-Bibel (Paris, Bibliothèque nationale de France, Ms lat. 1) neben zahlreichen dekorativen Rahmungen und Initialen lediglich acht ganzseitige Miniaturen aufweist, haben die Gestalter der um 870 für den gleichen Regenten bestimmte prächtige Bibel von St. Paul (Rom, Abbazia di San Paolo fuori le mura; ohne Signatur) auf 334 Blättern immerhin 24 (ursprünglich 25) Großminiaturen untergebracht. Das heißt, sie nutzten das Format (448 × 345 mm) und den Seitenumfang dieser Vollbibel, um hier den umfangreichsten Zyklus aller überlieferten karolingischen Bilderbibeln zu realisieren, wobei allein vierzehn Illustrationen auf die Bücher des Alten Testaments entfielen. Aus der ottonischen Epoche kennen wir eigenartigerweise keine einzige bebilderte Bibelhandschrift. Der Höhepunkt mittelalterlicher Bibelillustrierung fiel zweifellos in die Romanik des 12. Jahrhunderts, wofür wahrscheinlich die

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Buchtypen und ihre Bebilderung

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damaligen Reformklöster und ihr Streben nach verbesserten Textredaktionen verantwortlich waren. Die romanischen, meist zweibändigen Riesenbibeln bildeten in ganz Europa, besonders aber in England, eine Spezies für sich: zum einen schon wegen ihres überdimensionierten Formates – nicht umsonst lautete der mittelalterliche Fachausdruck für sie bibliotheca –, zum anderen wegen der außerordentlichen inhaltlichen Spannweite ihrer Bilderzyklen. Die Bebilderung reichte von der Vollillustration bis hin zur Beschränkung auf wenige Bilder beziehungsweise historisierte Initialen. Eine englische Chronik spricht von einer besonders prunkvollen Bibel, die Winchester- man in ▶ Winchester während der Malzeiten der Kleriker zum Vorlesen verBibel wendete. Wahrscheinlich handelt es sich um das circa 1155 – 1185 zu datierende Prachtwerk, das sich noch heute im Besitz der Kathedrale von Winchester befindet (Abb. 9): Jedenfalls zeigen sich im dortigen Text Markierungen für Stimmhebungen und -senkungen während des lauten Lesens. Die Schriftkolumnen des gewaltigen Werkes stammen vielleicht von einem einzigen Schreiber. Dagegen arbeitete eine ganze Abfolge von Künstlern jahrzehntelang an der Illustration dieser ambitioniertesten unter allen englischen Bibelausgaben der Romanik. Während sich die Illuminatoren zunächst auf den verschwenderisch und mit unerschöpflichem Erfindungsreichtum ausgeführten Initialschmuck vor blauem und goldenem Grund konzentrierten, meldeten sich ab den 1170er-Jahren auch Miniatoren zu Wort, welche die Gestaltung organischen Lebens nicht mehr den Buchstabenkörpern unterordnen, sondern sie in eigengesetzlichen Bildräumen realisierten wollten. Sie wählten dazu große, mehrstreifige Bildseiten. Möglicherweise kannten sie das Vorbild der ähnlich komponierten, byzantinisch beeinflussten Mosaiken in der Cappella Palatina in Palermo.

Bibelparaphrasen Bible moralisée

Zu den für die Geschichte der Buchmalerei besonders folgenreichen Bibel„derivaten“ gehörte die ▶ Bible moralisée. Entsprechende Handschriften wurden erstmals um 1220 – 1230 im Auftrag der königlichen Familie in Paris beziehungsweise in der Champagne entwickelt. Der Handschriftentypus, der erst im 15. Jahrhundert seine bis heute gültige Bezeichnung erhielt, beinhaltet eine Sammlung von Bibeltexten in Auszügen oder Paraphrasen und nach Maßgabe der mittelalterlichen Typologie koordiniert: das heißt, Ereignisse, Personen, Bauwerke, Symbole et cetera des Alten Testaments werden solchen des Neuen Testaments vergleichend gegenübergestellt, um sie als heilsgeschichtliche Vorwegnahmen des Neuen Bundes darzustellen. Das Hauptaugenmerk der einschlägigen Codices liegt dabei weniger auf den Texten, sondern auf den besonders umfangreichen Bilderzyklen, gelegentlich mit bis zu 2700 Bildpaaren. Die

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Sakrale Werke

▲ Abb. 9  Winchester-Bibel:

frühen Beispiele vereinigen pro Seite je acht Bildnisme- Historisierte Initialen, 1160–1175; daillons, die zusammen vier typologische Paare ergeben. Winchester, Cathedral Library, Ms 17, fol. 120v und 190r. Im 14. Jahrhundert traten an die Stelle gemalter Miniaturen gerne kolorierte Federzeichnungen. Die wohl berühmteste Bible moralisée-Handschrift entstand um 1220/30 und wird heute in der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien aufbewahrt (Cod. 2554). Anders als alle sonstigen erhaltenen Manuskripte ist sie nicht in Latein, sondern in Französisch geschrieben; mit 1032 szenischen, elegant gestalteten Medaillons (zusätzlich einer ganzseitigen Miniatur) vermittelt sie ein umfangreiches Programm, wobei die

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Biblia pauperum

Hussitencodex

Buchtypen und ihre Bebilderung

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kompositionelle Anordnung der Medaillons darauf hinweist, dass sich die Miniatoren an der Disposition der Rundfelder in zeitgenössischen französischen Kathedralfenstern orientierten. Die ältesten einschlägigen Manuskripte der ▶ Biblia pauperum („Armenbibel“) reichen wie die Bibles moralisées in die erste Hälfte des 13. Jahrhunderts zurück, sind aber nicht in Frankreich, sondern in süddeutschen Benediktinerklöstern konzipiert worden. Die gleichfalls nicht zeitgenössische Bezeichnung suggeriert, dass dieser ebenfalls typologisch strukturierte und hauptsächlich mit seinen Bildern und nicht mit dem Text argumentierende Typus auf ein materiell respektive geistig „armes“, das heißt leseunkundiges Publikum abzielte. Ein unhaltbares Argument, obwohl die mediale Konzentration auf einfach-didaktische zumeist aus kolorierten Federzeichnungen bestehenden Bildern dies nahezulegen scheint. Letzteres gilt auch für eine weitere Sonderform der Bibelhandschriften, für die Historienbibel, eine Prosabearbeitung der biblischen Erzählungen, die hauptsächlich im 15. Jahrhundert und hier wiederum nicht ausschließlich, aber vor allem im Elsass und im bayerisch-österreichischen Raum der Laienandacht diente. Vor dem 14. Jahrhundert verhinderte die Kirche bekanntlich die Gesamtübersetzung der biblischen Inhalte aus dem Lateinischen in die jeweiligen Volkssprachen. Ihre Texte sollten dem Laien einzig und allein durch den Klerus ausgelegt werden, vor allem in Predigten und in kommentierender Nacherzählung. Die ersten volkssprachlichen Bibeln standen folglich unter dem Verdacht der Häresie. Auch die weltlichen Herrscher unterstützten dieses Verdikt, spätestens seit dem im Jahre 1369 von Kaiser Karl IV. im Heiligen Römischen Reich verhängten Übersetzungsverbot. Dennoch, alle Widerstände vermochten die „Nationalisierung“ der Bibel nicht mehr aufzuhalten. Neue Nahrung erhielt die über die sprachliche Vermittlung ablaufende ideologische Auseinandersetzung im frühen 15. Jahrhundert, als Jan Hus und seine Anhänger die Heilige Schrift zur ausschließlichen Grundlage der Theologie und die Verbreitung der volkssprachlichen Bibel zu einem ihrer kardinalen Programmpunkte erhoben. Eine einschlägige Bildpropaganda veranschaulicht beispielsweise der zwischen 1462 und 1465 verfasste ▶ Hussitencodex in der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen (Ms theol. 182), der die als positiv bewertete Armut der christlichen Urgemeinde den anmaßenden Negativbeispielen der zeitgenössischen katholischen Kirche gegenüberstellte. Dabei sind die Illustrationen zur „einfachen“ Urkirche sehr dezent koloriert, die zur „verschwendungssüchtigen“ römischen Papstkirche dagegen reich polychromiert, um deren Luxus anzuprangern. Dieser Codex ist zwar keine Bibel, aber er verdeutlicht die Konfrontation zwischen Papstkirche und häretischen Kreisen, in die nicht zuletzt die volkssprachliche Bibelrezeption einbezogen war.

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Sakrale Werke

Später wurden Bibelausgaben immer wieder luxuriös ausgestattet. Zum Beispiel am Hof in Ferrara, einem Treffpunkt nationaler und internationaler Kunstströmungen, wo ▶ Borso d’Este 1455 eine monumentale Bibel für seine eigene Bibel für Borso d’Este Bibliothek in Auftrag gab (Modena, Biblioteca Estense, VG 12 [Lat. 422 – 423]). Leitender Künstler war offensichtlich der ansonsten als Tafelmaler tätige Taddeo Crivelli, der aus der Lombardei stammte, was unter anderem an der Durchgestaltung seiner Landschaftshintergründe abzulesen ist. Ein weiteres glänzendes Zeugnis ist die 1476 – 1478 in Florenz für Herzog Federico da Montefeltro von Urbino hergestellte ▶ Montefeltro‑Bibel. 1657 gelangte das Opus samt der her- MontefeltroBibel zoglichen Bibliothek in den Besitz der Biblioteca Apostolica Vaticana, wo es unter der Signatur Ms Urb. lat. 1 und 2 katalogisiert ist. Wie die Signatur ausweist, ist die in Latein geschriebene Bibel in zwei Bände aufgeteilt, die zusammen einen Umfang von 552 Blatt im Großformat haben. Den Auftakt eines jeden Bandes bildet eine Seite, auf der in einem von einem Zierrahmen umgebenen farbigen Feld der Titel in goldenen, humanistischen Kapitalbuchstaben erscheint, was ausgesprochen feierlich wirkt: Der Leser/Betrachter steht gleichsam vor einem antikisierenden Monumentum, wird beeindruckt von der Feierlichkeit einer Inschrifttafel und beschreitet weiterblätternd eine via triumphalis, die zu den zentralen Geheimnissen des Heilsgeschehens hinführt. Die Großminiaturen sind ihrer Struktur nach der Wand- und Tafelmalerei der Frührenaissance vergleichbar, da sie sich wie diese als kompositorisch geschlossene Einheit geben und entsprechend der zeitgenössischen italienischen Kunsttheorie die Bildwirkung dem Durchblick durch ein fiktives Fenster angleichen wollen. Derartige Bilderzyklen erhärten die Annahme, dass verschwenderisch ausstaffierte Bibelhandschriften nicht mehr wie im Früh- und Hochmittelalter vornehmlich der Tradierung der Heiligen Schrift dienten, sondern ebensosehr der Nobilitierung ihres aristokratischen Besitzers. In der deutschen Buchmalerei zählt, um nur noch dieses Beispiel zu nennen, die weiter oben vorgestellte OttheinrichBibel zu den beeindruckenden Beispielen grandios illuminierter Bibelausgaben.

Apokalypsen Einen eigenen Typus illuminierter Handschriften bilden die Apokalypsen mit dem Text der Geheimen Offenbarung des Johannes und/oder einschlägigen Kommentaren. Sie spielten kaum eine Rolle in der Messfeier, wohl aber scheint man aus ihnen gerne in Klöstern zu bestimmten Zeiten vorgelesen zu haben. Das wirft natürlich die, allerdings nicht definitiv zu beantwortende, Frage auf, welche Funktion die Miniaturen bei einer solchen Art von Endzeitdidaxe übernommen haben mögen: mystische Theologie, seherisches Denken aus der Perspektive der Ewigkeit, visualisierte Endzeitfurcht aus der Naherwartung des Jüngsten Gerichts heraus – vereinzelt auch politische Bildassoziationen, die

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Beda Venerabilis

Buchtypen und ihre Bebilderung

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die eschatologischen, auf die letzten Dinge bezogenen Inhalte zu aktuellen Entwicklungen, etwa auf die Rolle der Mönchsorden im Konflikt zwischen kirchlicher und weltlicher Machtordnung in Beziehung setzten? Oder war es einfach ein Schwelgen in phantastischen Szenerien, zu denen der rätselhafte, metaphernreiche Text provozierte? Die Phantasien der Geheimen Offenbarung des Johannes, die Aufhebung aller Kausalität in ihren Schilderungen, die jeder Anschauungslogik spottende Hemmungslosigkeit dieser Katastrophenvisionen reizte im Mittelalter jedenfalls jahrhundertelang die bildliche Phantasie wie kaum ein anderer Stoff. Wahrscheinlich ist bereits um 700 im englischen Northumbrien eine illustrierte Apokalypse entstanden, von der eine nordfranzösische und eine maasländische Ableitung existieren (Valenciennes, Bibliothèque municipale 99, um 800 – 825; Paris, Bibiliothèque nationale de France, nouv. acq. lat. 1132, um 875 – 900). Im frühen 8. Jahrhundert hatte der englische Theologe und Chronist ▶ Beda Venerabilis auch einen Kommentar zur Apokalypse verfasst und den Text erstmals in sieben Visionen unterteilt, eine Gliederung, die sich später allgemein durchsetzte. Aus Bedas Historia Abbatum erfährt man, dass der Abt des Klosters Wearmouth von seiner Romreise um das Jahr 675 Bilder der Geheimen Offenbarung mitbrachte, die dem soeben zitierten northumbrischen Exemplar als Grundlage dienten. In sehr frühe Phasen der Buchmalerei reichen auch die illuminierten spanischen Apokalypse-Ausgaben zurück. Um 776 hatte in Asturien der Mönch Beatus von Liébana einen Apokalypsekommentar verfasst. Dieser erhielt auf der Stelle politische Schlagkraft, da die Textpassagen zum Antichristen und zur Drangsal der Gläubigen direkt auf das zeitgenössische Anliegen des Kampfes (Reconquista) gegen die muslimischen Usurpatoren Asturiens umgemünzt werden konnten. Die reich bebilderten Codices aus dem 10. bis 13. Jahrhundert, von denen mehr als zwanzig in Spanien und Südfrankreich erhalten blieben, formulierten demnach eine zugleich nationale und heilsgeschichtliche Ideologie: Das Bildmaterial betonte dies mithilfe einer Reihe ikonografischer Details. Stilistisch bestätigen diese Beatus-Apokalypsen die singuläre Rolle Spaniens in der Kunst des frühen und hohen Mittelalters. Denn diese Handschriften verarbeiten heterogenste Einflüsse: von östlichen und orientalisierenden Komponenten über das maurische, über Córdoba vermittelte Element bis hin zu Erinnerungen an das westgotische des 6. Jahrhunderts. Diese Kombination bewirkte einen „plakativen“ Flächenstil und eine expressive, gelegentlich schreiend bunte Farbigkeit sowie eine radikale Stilisierung alles Figürlichen. Szenisches Geschehen entfaltet sich nicht selten in gewaltigen, über zwei Buchseiten reichenden Kompositionen. Ob das Manuskript in New York (Pierpont Morgan Library,

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Sakrale Werke

Ms 644) wirklich schon, wie im Inneren an schwer leser- ▲ Abb. 10  Beatus-Apokalypse aus licher Stelle vermerkt, 922 im Kloster San Miguel de Es- dem Kloster San Salvador de Tábacalada vollendet wurde und damit die älteste erhaltene ra: Jüngstes Gericht, 975; Gerona, Kathedral-Archiv, Ms 7 (11), fol. 17v. Beatus-Apokalypse ist, wird in der Forschung kontrovers diskutiert. Wahrscheinlich ist das Werk doch erst in die Jahrhundertmitte zu datieren. Als die bedeutendste und die schönste unter allen erhaltenen spanischen Beatus-Kommentaren gilt die im Jahre 975 entstandene ▶ Apokalypse von Gerona (Gerona, Kathedral-Archiv, Ms 7) (Abb. 10). Apokalypse Aus der karolingischen Buchmalerei seien die Apokalypse-Handschriften in von Gerona der Trierer Stadtbibliothek (Hs. 31), um 800 – 825, und die in Cambrai (Biblio-

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Buchtypen und ihre Bebilderung

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thèque municipale 386), um 900 – 950, herausgegriffen. Sie alle aber übertrifft an künstlerischem Rang die ottonische Bamberger Apokalypse (mit angefügtem Evangelistar; Bamberg, Staatsbibliothek, Msc. Bibl. 140), eines der glänzendsten Zeugnisse der Reichenauer Buchmalerei. Ob man, wie oft behauptet, von der ▶ Bamberger Apokalypse auf eine geBamberger Apokalypse nerelle Konjunktur solcher Handschriften, die sich mit den Schrecknissen der Endzeit beschäftigten, an der Epochenwende um 1000 schließen darf, ist eher unwahrscheinlich. Das Buch enthält 57 in der Größe variierende Miniaturen. Rechnet man die beiden Bildstreifen fol. 21v als Einheit, dann umfasst sein Abbildungskontingent mit der Zahl 49 (= 7 × 7) eine symbolisch heilige Größe. Durch konsequente Vereinfachungen vermochten die Künstler in relativ kleinen Formaten den überwältigenden Charakter der spirituell-visionären Szenerien auszudrücken. Dies gelang insbesondere durch die ausdrucksstarken, silhouettenhaft stilisierten Figuren. Parallel geführte Konturen und parataktisch gereihte Gesten unterstreichen den Gesamtrhythmus. Um Gebärden Nachdruck zu verleihen, wurden Arme verlängert oder sensibel agierende Hände proportional gelängt. Vor Jahrzehnten hat Hans Jantzen dafür den Begriff der „Gebärdefigur“ geprägt, denn nur Gebärden, keine Gesichter veranschaulichen Handlungen und Emotionen – Gesten, die als machtvolle, sinngebende Zeichen dienen. Die weit aufgerissenen Augen dienen einzig als Organe übernatürlicher Schau. Dies war keine populäre Kunst, vielmehr eine der exklusiven Verfeinerung, die sich an eine Rezeptionselite richtete. Im 13. Jahrhundert schließlich erfreuten sich Bilderhandschriften zur Apokalypse in England größter Beliebtheit und prunkten in stattlicher Aufmachung – mit der um 1242 – 1250 oder eher um 1255 – 1260 illuminierten Trinity▶ Trinity-Apokalypse (Cambridge, Trinity College Library, Ms R. 16.2) als der Apokalypse größten und am reichsten ausgestatteten. Als die englischen Offenbarungsschriften entstanden, kursierten Spekulationen über das absehbare Weltende im Kreise der Bettelmönche, speziell der Franziskaner, die sich mittlerweile auf Apokalypse-Kommentare spezialisiert hatten. Ein weiterer Hinweis auf eschatologisches Gedankengut sind die in England favorisierten Schriften zum Antichrist, der von den Kommentatoren traditionell mit dem „Tier“ aus Kapitel 13 der Offenbarung gleichgesetzt wird, das die Erde 42 Monate lang terrorisieren wird. Die Trinity‑Apocalypse zählt jedenfalls zum Schönsten und Suggestivsten, was nicht nur die englisch-gotische, sondern die gesamteuropäische Buchmalerei aufzuweisen hat. Ihre Adressaten waren nicht mehr, wie in der Ottonik, kleine, elitäre Kreise. Ausdrücklich hebt der Text stattdessen hervor, dass dieses Buch für Laien und nicht für theologisch oder philosophisch Gebildete geschrieben und ausgemalt sei, um ihnen dieses große literarische Erbe jüdisch-christlicher Provenienz nahezubringen. Der Ausrichtung auf eine Laien-

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leserschaft ist es zu verdanken, dass die Bilder dieser Handschrift nicht nur die Visionen des Johannes veranschaulichen, sondern mit ihren dramatisch in Szene gesetzten Akteuren, mit den Königen, Gerüsteten, Edeldamen in mittelalterlichem Habitus an ein höfisches Ritterepos erinnern.

Evangeliare, Evangelistare und Perikopenbücher Lässt man die Geschichte der abendländischen Buchmalerei Revue passieren, dann waren es nicht die Bibelausgaben, ihre Kommentare und verschiedenen Paraphrasen, auch nicht die Geheime Offenbarung des Johannes, die zu den zahlenmäßig und zu den künstlerisch wie materiell opulentesten Werken führten, sondern es waren bestimmte liturgische Bücher: die Evangeliare, Evangelistare und Perikopenbücher. Die Bibel war zwar dem Namen nach, nicht jedoch in der Praxis des christlichen Glaubenslebens das Buch der Bücher. Diesen Stellenwert erhielten vielmehr die Evangeliare. Ein Evangeliar enthält den jeweils vollständigen Text der vier kanonischen Evangelien in der kirchlich festgelegten Reihenfolge nach Matthäus, Markus, Lukas und Johannes. Einander ergänzend berichten sie von Leben und Lehre Christi. Sie vermitteln die Heilsbotschaft, der die Menschheit ihre Erlösung verdankt. Die Evangeliare, deren Verheißungen in alle vier Himmelsrichtungen und in alle Weltgegenden ausstrahlen sollten, wurden zum Kernstück liturgischer Ausstattung. Darüber hinaus benötigte man sie zu Studienzwecken in den Klöstern und Klosterschulen ebenso wie für die Missionsarbeit. Evangeliare zählten also ihrer „Natur“ nach zu den wichtigsten „Semiophoren“ (Zeichenträgern) mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Glaubensmanifestation. Die älteste römische Messordnung schrieb bezeichnenderweise für die feierlichste aller Messen, die Papstmesse, vor, dass ein Akolyth das Evangeliar mit ehrfürchtig verhüllten Händen wie ein Sanctissimum (also vergleichbar dem Kelch mit dem Messwein und den Hostien, die für Blut und Leib Christi standen) in die Basilika tragen und dass der Subdiakon es ehrerbietig auf den Altar legen solle. Deutlicher könnte nicht zum Ausdruck kommen, dass der Codex die Gegenwart Christi versinnbildlichte. Gleiches bezeugt der parallel zum byzantinischen Hofzeremoniell entwickelte Brauch der Ostkirche, das ▶ Evangelienbuch auf einem Thronsessel zur Schau zu stellen. Vom Konzil von ZurschauEphesus (431) bis zum zweiten Konzil von Nicäa (787) ist vielfach bezeugt, dass stellung der Evangeliare eine solche Inthronisation mit der „Hetoimasia“, der Bereitung des Thrones für den künftigen Richter Jesus Christus, identifiziert wird. Vielfach schloss sich auch das abendländische Zeremoniell dem östlichen Vorbild an. Vor allem in der Epoche der Karolinger präsentierten hochrangige Kirchenversammlungen das Evangelienbuch auf identische Weise in ihrer Mitte. Die sakrosankte Eigen-

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schaft des Evangeliars spiegelt sich schließlich sogar in der Vorschrift der Konstantinopler Zivilrechtssammlung Kaiser Justinians aus dem 6. Jahrhundert, im Codex Iuris Civilis, auf das Evangelienbuch schwerwiegende Eide abzulegen. Mit dem Aachener Schatzkammer-Evangeliar und dem Wiener Krönungsevangeliar wurde diese Praxis im Westen auf allerhöchster zeremonieller Ebene fortgeführt. Und noch das 1962 begonnene Zweite Vatikanische Konzil befolgte den Brauch der Inthronisation eines Evangelienbuches. Die kultische Würde dieses Buchtyps verlangte nach dem Schönsten und Edelsten, das die Pergamenter, Schreiber, Illuminatoren und Buchbinder aufzubieten hatten: Purpur, im Hofzeremoniell dem Kaiser vorbehalten, zeichnete als Färbemittel das Pergament der in allerhöchstem Auftrag entstandenen Evangeliare aus, Gold und Silber funkelten am geschriebenen Wort (Johannes und der Krönungseid). Beinahe regelmäßig gehören Kanontafeln zur Bildausstattung von Evangeliaren (vgl. Abb. 22) – fiktive Arkaden, unter denen die Konkordanz (Übereinstimmung) der Evangelieninhalte mit Kapitelzahlen präsentiert wird –, ferner eine Darstellung der Majestas Domini sowie feierliche Autorenbilder der Evangelisten. Es waren Evangeliare, die bevorzugt einen Prunkeinband erhielten. Hatte sie ein als Heiliger verehrter Missionar oder Kirchenmann, beispielsweise Cuthbert, Bischof in Lindisfarne, besessen, konnte sie sogar in den Rang einer lokalen oder nationalen Reliquie aufrücken. Seit dem 12. und dann insbesondere seit dem 13. Jahrhundert liefen den Evangeliaren andere Handschriftentypen zunehmend den Rang innerhalb der Prunkmanuskripte ab: vor allem Missalien und die neuen Prachtpsalter für Laien; von beiden werden wir noch hören. Seit circa 450 hatte sich, ausgehend von Gallien, die liturgische Vorschrift etabliert, an den einzelnen Tagen und Festen des Kirchenjahrs stets die identischen Textpassagen aus dem Neuen Testament vorzutragen. Seit dem 8. Jahrhundert hat man dann diese Evangelienstücke in separaten Büchern, den Evangelistaren beziehungsweise, nach griechischer Terminologie, Perikopenbüchern, niedergeschrieben. Das ▶ Evangelistar beinhaltet im Unterschied Evangelistare zum Evangeliar nur jene Abschnitte (Perikopen) aus den vier Evangelien, die in einer geregelten Abfolge in der feierlichen Liturgie und während der klösterlichen Vigilien – den Stundengebeten der Mönche in den Nächten und den frühen Morgenstunden – gelesen wurden. Evangelistare, die nur die Evangelientexte für die in allen Kirchen in gleicher Weise gefeierten Hochfeste beinhalten, heißen Festtagsevangelistare. Sie waren in aller Regel besonders prächtig ausgestattet. Das hochmittelalterliche Evangelistar mit dem vermutlich ausführlichsten Bilderzyklus (55 Miniaturen) Perikopenentstand um 1149/50 in St. Peter in Salzburg und ist bekannt als das ▶ Perikobuch von St. Erentrud penbuch von St. Erentrud (München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 15903).

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Missale und Brevier Die in der Liturgie verwendeten Buchtypen differenzierten sich zunächst immer mehr aus. Es ist unmöglich, an dieser Stelle alle liturgischen Buchtypen geschweige denn jeweils Beispiele dafür aufzuführen. Grundsätzlich ist zu unterscheiden zwischen den diversen Buchtypen, die in der Messe – also im Gottesdienst – Verwendung fanden und mit der Zeit zum Typus des Missale

Johannes und der Krönungseid

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aiser Otto III. ließ anlässlich seines Aufenthalts in Aachen zu Pfingsten des Jahres 1000 das Grab Karls des Großen öffnen. Auf dem Schoß des unversehrten Leichnams soll er jenen „heiligen“ Codex gefunden haben, der als Wiener Krönungsevangeliar in die Geschichte der Buchmalerei eingegangen ist. Er entstand in der Palastschule am Aachener Hof Karls des Großen als das früheste Beispiel einer Werkgruppe, zu der noch das Schatzkammer-Evangeliar im Aachener Domschatz vom Beginn des 9. Jahrhunderts, ein Evangeliar aus Xanten, ebenfalls frühes 9. Jahrhundert (Brüssel, Bibl. Royale, Ms 18732) und ein zeitgleiches Evangeliar aus Aachen (Brescia, Bibl. Civica Queriniana, Ms E. II. 9) gehören. Jeder erwählte König und Kaiser des Heiligen Römischen Reiches legte den Krönungseid ab, indem er mit den Schwurfingern die Seite mit dem Beginn des Johannesevangeliums berührte. Die vier Evangelientexte werden von Evangelistengestalten eingeleitet, die in weite weiße Gewänder gehüllt Senatoren des alten Rom gleichen. Johannes (vgl. Abb. 3) blickt dem Fürsten, der den Eid leistet,

frontal entgegen. Mit seinem rechten Fuß „überschreitet“ der heilige Autor die Grenze der Bildwelt, als wolle er ihn dem Betrachter zum Kuss entgegenstrecken. Johannes ist nicht, wie in der westlichen Darstellungstradition üblich, als der jugendliche Jünger wiedergegeben, sondern als bärtiger „Philosoph“. Auch hierin zeigt sich östlicher Einfluss, ebenso in der gesamten Bildauffassung, die die Illusion eines gerahmten Tafelbildes anstrebt. Der mit vegetabiler Ornamentik verzierte Rahmen täuscht in der Art eines Trompe-l’œils Reliefstruktur vor: Schwarze, klar konturierte Pflanzenmotive bedecken in regelmäßigem Rapport die breiten Silberstreifen zwischen zwei Goldleisten. Die Kehlungen der illusionistischen Rahmung werden durch Abschattierung modelliert. Die Thronarchitektur verrät den Nachhall perspektivischen Wissens, der „impressionistisch“ anmutende Landschaftsausschnitt dahinter erinnert ebenfalls an spätantiken Illusionismus.

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Salzburger Missale

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vereinigt wurden, und denjenigen Büchern, die für das Stundengebet verwendet wurden. Stundengebete wurden in Klöstern von Mönchen und Nonnen sowie in Domkapiteln von den dortigen Kanonikern abgehalten. Die verschiedenen während der Stundengebete eingesetzten Buchtypen wurden ihrerseits im Typus des Breviers zusammengefasst. Es folgen einige herausragende Beispiele: Girolamo da Cremona, ein hervorragender Miniator der italienischen Renaissance, wurde 1461 durch die Vermittlung Andrea Mantegnas vom Mantuaner Hof mit der Ausstattung eines Missale (heute Mantua, Diözesanbibliothek) beauftragt. In Lyon, in der Bibliothèque de la Ville (Ms 517), findet sich ein knapp illustriertes Missale, das der Kardinalbischof von Autun, Jean Rolin, um 1450/1455 in Auftrag gab. Das vom Regensburger Berthold Furtmeyr etwas vor 1478 bis kurz nach 1489 illuminierte fünfbändige ▶ Salzburger Missale (München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 15708 – 15712) ist mit über vierzig ganzseitigen Miniaturen im Folioformat und mit reichlich Gold und kostbarsten Farbsubstanzen das aufwendigste und luxuriöseste Manuskript jener Jahre in ganz Europa; Zahl und Format der virtuosen Bilder künden eindeutig von einem künstlerischen Wettbewerb mit der deutschen Tafelmalerei an der Grenze zwischen Spätgotik und Renaissance. Zwischen 1487 und 1492 entstand ein mit acht ganzseitigen Miniaturen sowie unzähligen Bordüren und Initialen sehr üppig dekoriertes Brevier, das der Ungarnkönig Matthias Corvinus bei Florentiner Buchkünstlern bestellt hatte (Rom, Biblioteca Apostolica Vaticana, Urb. lat. 112). Das bereits erwähnte Breviarium Grimani haben Brügger Miniatoren 1510 – 1520 mit 110 ganzseitigen Bildern ausgestattet. Diese Miniaturen sind ein Höhepunkt der altniederländischen Buchmalerei und der europäischen Kunst überhaupt. Ihre Naturtreue, die Landschafts- und Genreschilderungen, zahlreiche illusionistische Trompel’œil-Effekte, Stillleben, Tierstücke et cetera, die zum lustvollen Detailstudium auffordern, verraten indes, dass es sich hier um ein Brevier mit Kurzfassungen der liturgischen Stundengebete handelt, welches den Betrachter eher „unterhalten“, als ihn zur strengen Meditation anhalten will – das also eher mit den Stundenbüchern wetteifert, von denen in Kürze die Rede sein wird. Obwohl sich qualitativ unter den Missalien und Brevieren einige Höhepunkte der Buchmalerei finden, waren es quantitativ doch andere liturgische Bücher, die im Verlauf der Jahrhunderte den Anstoß zu umfangreicher und prachtvoller bildnerischer Ausschmückung gaben: die Sakramentare und Antiphonare.

Sakramentar und Antiphonar Sakramentare

▶ Sakramentare

waren bereits seit dem 7. Jahrhundert gebräuchlich und nehmen nach den Evangeliaren den höchsten liturgischen Rang ein. Sie beinhalten

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ausschließlich die vom zelebrierenden Priester während der Messfeier zu lesenden Gebete und Texte; gelegentlich sind ihnen Kalendarien vorgebunden. Dieser Typus des liturgischen Buches wird nach manchen Vorstufen im späteren 11. Jahrhundert endgültig im 13. Jahrhundert vom Missale abgelöst. Im Missale sind dann alle während der Messe vorgetragenen Texte, auch solche Lesungen, Gebete (Orationen) und sonstigen Texte, die von Nichtliturgen gelesen wurden, enthalten. Für die Buchmalerei sind Sakramentare von großer Bedeutung. Ihr Hauptschmuck, darunter die Kruzifixus-Darstellung, leitete seit karolingischer Zeit den Kanon, das heißt die eucharistischen Gebete. Diese Worte Jesu bei der Wandlung waren zunächst am Anfang der Evangeliare platziert, vom 11. Jahrhundert an indes in der Mitte, wo sich das Buch am leichtesten aufschlagen ließ; ihren dauerhaften Platz fanden sie vor dem Text zum Osterfest. Doch nicht nur durch die Kreuzigungsdarstellung war der Kanon ausgezeichnet, sondern auch durch Ornamentik sowie durch dekorative Ligaturen (monogrammartige Buchstabenverbindungen). Noch folgenreicher für die Miniaturenkunst erwies sich aber, zumindest in bestimmten Epochen und Kunstlandschaften, das ▶ Antiphonar. Ein Antipho- Antiphonar nar notiert die Choralmelodien und Texte der Antiphonen genannten Wechselgesänge, die alternierend von zwei Gruppen beim Gottesdienst oder im Stundengebet der Mönche vorgetragen wurden. In späterer Zeit hieß dieses Buch, das die Gesänge des Chors fixierte, Graduale – benannte nach dem ursprünglichen Platz des Sängers bei den Stufen (lat. gradus) vor der Kanzel. Die Bebilderung solcher Choralbücher konzentrierte sich zeitlich und regional nicht ausschließlich, aber doch mit ihren schönsten Zeugnissen, auf das italienische Tre- und Quattrocento. Jede wichtige Klosterkirche oder Kathedrale Italiens scheint eine größere Zahl stattlicher Antiphonare und Gradualien besessen zu haben. Liturgischer Text und musikalische Notation mussten groß genug geschrieben sein, um von den um das Chorpult versammelten Sängern aus einiger Entfernung gelesen werden zu können. Die bekanntesten auf dieses Gebiet spezialisierten Buchmaler dürften ▶ Liberale da Verona gewesen sein, der Liberale da Verona allein im Zeitraum zwischen 1467 und 1473 nicht weniger als 61 anspruchsvolle Miniaturen für Antiphonarien des Doms von Siena schuf, sowie Girolamo da Cremona, den man von Mantua nach Siena berief, um ebenfalls an den Choralbüchern der Kathedrale zu arbeiten; sie sollten später ihren Platz in den kostbaren Beständen der Piccolomini-Bibliothek finden. Girolamos Miniaturen und figürliche Initialen ähneln dem Charakter nach Tafelbildern: Sie sind trotz ihres bescheidenen Formats wie große Tableaus konzipiert. Im 14. und zu Beginn des 15. Jahrhunderts konzentrierte man sich auch in Florenz auf die Produktion illuminierter Chorbücher und ließ sie häufig von Künstlern dekorieren, die Mitglieder religiöser Orden waren. Um 1315 – 1320

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schmückte zum Beispiel ein Anonymus, der Meister des hl. Georg, Gradualien für die Zisterzienser in der Badia a Settimo bei Florenz. Sein wichtigstes Werk schuf er später für Kardinal Jacopo Stefaneschi. Ein weiteres renommiertes Florentiner Skriptorium existierte im Kamaldulenserkloster S. Maria degli Angeli, wo an der Wende vom Tre- zum Quattrocento (um 1400) ein Silvestro dei Gherarducci und der auch auf anderen Gebieten der Malerei tätige Lorenzo Monaco Handschriften für ihr Kloster, die nahegelegene Hospizkirche von S. Maria Nuova, produzierten. Eine Liste weiterer Namen könnte hinzugefügt werden, doch die bisherigen Beispiele mögen genügen, um die Beliebtheit dieses Buchtypus in Italien zu belegen. Eines der beeindruckendsten außeritalienischen Beispiele ist das um 1312 am Oberrhein entstandene Graduale von St. Katharinental mit einer Vielzahl szenisch gefüllter Initialkörper (Zürich, Schweizerisches Landesmuseum, und Museum des Kantons Thurgau, Frauenfeld, Ms LM 26117).

Psalter

UtrechtPsalter

Der Psalter umfasst die 150 Psalmen des Alten Testaments, von denen die Überlieferung gut die Hälfte König David zuschrieb. Der Psalmengesang war seit frühester Zeit Grundstock der Heiligen Messe und des Stundengebetes der Mönche. Ob freilich der berühmte ▶ Utrecht-Psalter (Utrecht, Bibliotheek der Rijksuniversiteit, Ms Bibl. Rhenotraiectinae I Nr. 32) eine solche Aufgabe besaß, ist ungeklärt. Die Handschrift, entstanden zwischen 820 und 840 in der Benediktinerabtei Hautvillers bei Reims, enthält den Psalter, die Cantica (Gesänge des Alten und Neuen Testaments) sowie das Apostolische Glaubensbekenntnis. Ihre Besonderheit liegt im völligen Verzicht auf Kolorierung. Stattdessen sind die Texte mit 166 Federzeichnungen (in dunkelbrauner Tinte und in impressionistisch anmutendem, vibrierendem Duktus) illustriert, und zwar in einer nahezu wortgetreuen Umsetzung. Wenn zum Beispiel der Psalmtext lautet: „So kündet der Herr: ‚Ich will mich erheben, denn geknechtet sind die Geringen, und es seufzen die Armen …‘“, dann zeigt die zugehörige Illustration, wie Christus sich von seinem Weltenthron erhebt und einem Engel die Lanze überreicht. Lässt sich die „minimalistische“ Ausstattung dieses Psalters überhaupt mit einer Verwendung im Gottesdienst in Einklang bringen? Die früher zuweilen vorgebrachte These, wonach mehrere Geistliche während des Chordienstes aus dem auf einem Pult vor ihnen liegenden Utrecht-Psalter rezitiert hätten, verwechselte die liturgischen Modalitäten des Mittelalters: Eine solche Aufgabe war, wie erörtert, großformatigen Antiphonaren vorbehalten. Im Übrigen bringt der Utrecht-Psalter die Psalmen in ihrer biblischen Reihenfolge, wogegen das benediktinische Chorgebet sie in ganz anderen Sequenzen ordnet. Auch als

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Zierexemplar für einen hohen kirchlichen Würdenträger kann das Buch wegen seiner einfachen Aufmachung nicht gelten. Aus solchen Gründen scheint jene Erklärung am überzeugendsten, der zufolge die Handschrift – nicht zuletzt mithilfe der wörtlich übersetzenden Zeichnungen – dem Mönchsnachwuchs als Hilfsmittel diente, um die Psalmen auswendig zu lernen. Bereits in der karolingischen Epoche sind Psalterien bezeugt, deren Rezitation auch der Privatandacht diente. Besonders häufig scheinen Frauen aus dem Psalter gebetet zu haben. Damit bilden Psalterien im Typenspektrum ein Scharnier zwischen den liturgischen Büchern und den der individuellen Frömmigkeitsübung von Klerikern, Mönchen, Nonnen und frommen Laien dienenden Handschriften. Der rezeptionellen Beliebtheit der Psalterien entsprach ihre von Anfang an reichhaltige und künstlerisch ambitionierte Ausstattung mit Miniaturen und dekorativen Auszeichnungs- und Schmuckelementen; der ▶ Dagulf-Psalter, den Karl der Große kurz vor 795 für Papst Hadrian I. fertigen ließ (Paris, Musée du Louvre, MR 370 – 371) ist ein bezeichnendes Frühbeispiel. Insbesondere in englischen Psalterien des 13. Jahrhunderts (analog zu den dortigen zeitgleichen kleinformatigen Bibeln) erscheinen die frühesten Drolerien: Mit Vorliebe wachsen aus Initialen Randbordüren heraus mit reichem Blattwerk, Blumen und Früchten, denen gegen Ende des besagten Jahrhunderts die für den englischen Miniaturstil so kennzeichnenden grotesken Tiere, Vögel und skurrilen figürlichen Szenen eingefügt sind. Sie zielten offensichtlich auf die voluptas oculorum, die „Augenlust“ des einzelnen Betrachters ab. In der Mitte des 11. Jahrhunderts zeichnete sich der Gebrauch der Psalterien für private Andachtszwecke immer markanter ab. Damals entstand in England die früheste im Westen für uns fassbare Psalterhandschrift, die vor dem Text ein Proömium, das heißt einen geschlossenen Zyklus von Bildseiten mit Darstellungen biblischer Themen, enthält. Es handelt sich um den Tiberius-Psalter (London, British Library, Ms Cotton Tib. C.VI), der nach allgemeiner Einschätzung aus Winchester stammt. Diese spezielle und sehr individuell zugeschnittene Art der künstlerischen Ausstattung fand im frühen 12. Jahrhundert in England und am Ende dieses Säkulums auch in Frankreich breiten Nachhall. So entstanden zahlreiche Luxuspsalterien für die Andacht hochgestellter Persönlichkeiten weltlichen und geistlichen Standes. Hierfür einige Beispiele: Einen der künstlerisch herausragenden Belege für besagte Entwicklung bietet der zwischen 1120 und 1130 in England, in der Abtei St. Albans, entstandene ▶ Albani-Psalter in Hildesheim (Hildesheim, St. Godehard, Kirchenschatz – ein Einzelblatt im Schnütgen Museum, Köln). Er offeriert im Anschluss an das Ka-

DagulfPsalter

AlbaniPsalter

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Sortilegien

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lendarium 40 ganzseitige Miniaturen, der überwiegende Teil davon christologische Szenen. In diesem Psalter tauchen zudem erstmals alttestamentliche Sujets in einem Proömium auf, was von besonderer Bedeutung ist: Denn dadurch wird die Erbsünde als Ausgangspunkt des nachfolgend dargestellten Lebens Christi und seiner Erlösungstat veranschaulicht. Dass prächtige Psalterien für hochgestellte Auftraggeber annähernd jene Aufgabe übernahmen, die später die Stundenbücher innehatten, dokumentiert beispielsweise um 1190 – 1200 der für den seinerzeitigen Erzbischof von York, einen illegitimen Königssohn, angefertigte St. Louis-Psalter (Leiden, Bibliotheek der Rijksuniversiteit, Ms lat. 76 A). Auch die französische Königsfamilie bestellte im 12. und 13. Jahrhundert kostbare Psalterhandschriften, man denke nur an den Psalter der Blanche von Kastilien (Paris, Bibliothèque de l’Arsenal, Ms 1186), an den kurz vor 1200 geschaffenen Ingeborg-Psalter (Chantilly, Musée Condé, Ms 9) – dieser Codex ist an der buchmalerischen Wende zur Gotik mit Abstand die künstlerisch bedeutendste und schönste aller erhaltenen illuminierten Handschriften Frankreichs – oder den zwischen 1253 und 1270 in Paris entstandenen Psalter Ludwigs des Heiligen (Paris, Bibliothèque nationale de France, Ms lat. 10525). Halten wir fest: Insbesondere ihr reicher Schmuck weist darauf hin, dass solche Psalterien weniger liturgischen Zwecken zugedacht waren, sondern vielmehr hohen kirchlichen und weltlichen Würdenträgern als private Gebets- und Andachtsbücher dienten. Sie zählten nicht von ungefähr seit der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts zum wertvollsten Buchbesitz vornehmer Laien, insbesondere adeliger Damen, und wurden zumeist auch in weiblicher Linie vererbt. Im Kontext der Privatfrömmigkeit waren Psalterien bisweilen auch in eine Reihe abergläubischer Praktiken verwickelt, und dies ganz unabhängig von der sozialen Stellung und der Bildung der jeweiligen Besitzerin oder des Besitzers. Psalterien dienten nämlich gerne neben ihrer angestammten Aufgabe für ▶ Sortilegien, das heißt als magische Instrumente, um die Zukunft vorherzusagen. So spielten sie anlässlich der Entscheidungsfindung bei Bischofs- oder Abtswahlen oder bei Gottesurteilen eine Rolle, obwohl einige Male hohe kirchliche Amtsträger dies als dummen Aberglauben verurteilten. In Laienkreisen blieb das Blättern im Psalter bis ins späte Mittelalter und die frühe Neuzeit hinein ein beliebtes Mittel, einen keineswegs nur geistlichen Blick in die Zukunft zu werfen. Das Sortilegium ging entweder so vor sich, dass man sich an jenen Psalmvers hielt, der beim Aufschlagen des Buches als erster mit dem Auge oder dem tastenden Finger erfasst wurde; noch der englische Schriftsteller Daniel Defoe, Autor des „Robinson Crusoe“, erzählt 1722 in seinem fiktiven Bericht über die zwei Generationen zurückliegende Pestepidemie in London von der Zukunftsdeutung aufgrund eines beim Blättern ins Auge springenden Psalm-

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verses. Eine weitere Möglichkeit des Sortilegiums bestand darin, den ersten Buchstaben der ersten, zufällig aufgeschlagenen linken Seite eines Psalters auszuwählen. Zur Ausdeutung bediente man sich spezieller Orakelalphabete.

Gebet- und Stundenbücher Gebetbücher sind private, also außerliturgische Andachtsbücher, die umfangreicher als der Psalter, aber gegenüber den Stundenbüchern textlich reduziert sind. Sie entstanden um die Mitte des 9. Jahrhunderts. Eine herausgehobene Form sind die illuminierten Königsgebetbücher, von denen sich nur zwei erhalten haben: das gegen 860 geschaffene Gebetbuch Karls des Kahlen (München, Schatzkammer der Residenz) und das bereits vorgestellte Gebetbuch Ottos III., um 985 in Mainz für den jungen König bestimmt. Stundenbücher sind Gebetbücher für Laien, die sich typologisch aus dem Brevier entwickelten, deren Texte aber im Unterschied zu diesem unabhängig von der kanonischen Abfolge des Kirchenjahres angeordnet sind (Abb. 11). Stundenbücher wurden, wie man ohne Übertreibung sagen darf, zu wahren Bestsellern des späteren Mittelalters. In bescheidener Ausstattung, unzählige Male aber auch kostbarst illuminiert, brachten sie zwischen dem 13. und dem 16. Jahrhundert die persönliche Frömmigkeit und überdies das Schau- und Repräsentationsbedürfnis der Auftraggeber zum Ausdruck. Denn natürlich waren diese Prachtbücher materielle Kostbarkeiten, konnten als Wertanlage fungieren, die man sammelte, verkaufte, weitervererbte. Die ersten individuelleren Zusätze im ▶ Brevier hatten sich bemerkbar gemacht, als es den Geistlichen zum Anliegen wurde, der ausführlichen Skala von Gebetstexten (Offizium) eine Reihe weiterer Gebete hinzuzufügen. Ab dem Ende des 11. Jahrhunderts, und zwar unter dem maßgeblichen Einfluss des in Europa zur autoritativen religiösen Instanz werdenden burgundischen Klosters Cluny, erlangten die individualisierten Gebetszusätze Gültigkeit. Doch war der Typus des maßvoll individualisierten Breviers keinesfalls als Erbauungsstoff für Laien gedachte, vielmehr nach wie vor als an den Wünschen des Klerus orientierte Lektüre. Seit dem 13. und 14. Jahrhundert kristallisierten sich indes die Anfänge der Laienfrömmigkeit immer vehementer heraus, nicht zuletzt weil in Adels- und Bürgerkreisen die Kenntnisse im Lesen und Schreiben zunahmen und überhaupt das Selbstbewusstsein der aristokratischen und großbürgerlichen Schichten gegenüber der Amtskirche wuchs – den damit verbundenen Wunsch nach passender Andachtsliteratur unterstützten vielfach die seelsorgerisch tätigen Bettelorden der Franziskaner und Dominikaner. Der gleichzeitig ausgereifte Typus des Stundenbuches erfreute sich folglich schnell immenser Beliebtheit. Im Gegensatz zu den liturgischen Texten war das

Brevier

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Stundenbuch keinen unumstößlichen Regularien kirch- ◀ Abb. 11  Bedford-Stundenbuch: licher Dogmatik unterworfen, lediglich einem Mindest- Die Herzogin von Bedford kniet vor der hl. Anna (Hauptminiatur), die maß an vorgegebener Vereinheitlichung. Jeder Auftrag- drei Ehemänner der hl. Anna und geber eines Stundenbuches konnte in diesem Rahmen die beiden Töchter der Heiligen im für eigene Akzente sorgen, für die vor allem die umfang- Gespräch mit ihren Ehemännern (Nebenszenen), um 1423; London, reiche und spezifisch auf seine Vorstellungen zugeschnit- British Library, Add. Ms 18850, fol. tene Illuminierung sorgte. Diese Medaille hatte freilich 257v. ihre Kehrseite: Denn die besonders kostbar illuminierten Codices beschieden sich bald kaum noch mit ihrer Rolle als Andachts- und Gebetbücher für den täglichen Gebrauch, sondern verwandelten sich zu Statussymbolen. ▶ Stundenbücher fungierten als Vehikel künstlerischer Innovation Stundenund Schönheit, sie gaben den Künstlern die Möglichkeit, die ganze Skala ihres bücher als StatusKönnens zu entfalten; und sie boten den Auftraggebern die Chance, eine exquisymbole site Geschmackskultur an den Tag zu legen. Das Gebet hatte sich in wachsendem Maße die Aufmerksamkeit mit visuellen Reizen zu teilen. Die Luxusausgaben sammelten sich deshalb weniger in Andachtsräumen und Privatkapellen, als vielmehr in Sammlungen und Bibliotheken. So „überlebten“ sie oft fast unbeschädigt bis heute und avancierten zu einem der wichtigsten Untersuchungsgegenstände moderner Forschung auf dem Felde der Buchmalerei. Ihre Bilderwelten versetzten einst den gläubigen Betrachter in eine bunte Inszenierung des Heiligen (Abb. 12). Sie „intimisierten“ die Gestalten der Heilsgeschichte mithilfe zeitgenössischer Kleidung und heimischen Ambientes, vor der Kulisse dicht bevölkerter Gassen und Straßen, inmitten weiter Landschaften, vor der genrehaften Folie sachlich beobachteten Alltagslebens. Gegen 1480 kamen dann die ersten gedruckten Stundenbücher auf den Markt. Es sollte freilich bis weit ins 16. Jahrhundert hinein dauern, bis das von Hand illuminierte Stundenbuch endgültig verschwand. Jedes Stundenbuch (franz.: livre d’heures; engl.: book of hours) enthält Texte, die zu bestimmten Tageszeiten, eben den „Stunden“ („Horen“, heures), gelesen und gebetet wurden: Es handelte sich um Matutin und Laudes zwischen Mitternacht und Sonnenaufgang, dann im Abstand von etwa drei Stunden um Prim (6 Uhr morgens), Terz, Sext und Non. Den Abschluss bildeten am Abend Vesper und Komplet. Indem man Matutin und Laudes gerne zusammenlegte, ergab sich eine Siebenzahl von Gebetsstunden – in Übereinstimmung mit dem Psalmwort „Siebenmal am Tage spreche ich dein Lob“ (Ps 118, 164). Gleichzeitig wertete man die religionssymbolisch heilige Zahl Sieben als Zeichen für die ununterbrochene Kontinuität des Betens, wie sie das Neue Testament fordert: „Wacht und betet allezeit“ (Lk 21,36) oder „Betet ohne Unterlass“ (1 Thess 5,17). Im Allgemeinen beginnen Stundenbücher mit einem ▶ Kalendarium: Die Kalendarium bedeutendsten Kirchenfeste wie Ostern und Weihnachten sind ebenso wie die

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▲ Abb. 12  Meister der Maria von Burgund: Maria in der Kirche, in: Stundenbuch der Maria

von Burgund, 1470–1480; Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 1857, fol. 14r.

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Sakrale Werke

Festtage der Apostel und ortstypisch besonders verehrten Heiligen mit goldener oder roter, gelegentlich auch blauer Farbe hervorgehoben. Entsprechend den Monaten und den jährlich wiederkehrenden Festen sind auf den Seiten vieler Kalendarien auch kosmologische Hinweise und/oder jahreszeitlich typische Tätigkeiten der Menschen visualisiert. Auf diese Weise trugen Stundenbücher in beträchtlichem Maße zum Naturalismus spätmittelalterlicher Kunst bei. Kern eines jeden Stundenbuches war das Kleine Marien-Offizium, das man aus Psalmen, Lesungen, Hymnen, Responsorien, Gebeten und Antiphonen zusammenstellte. Im Normalfall kommen die Horen des Heiligen Kreuzes, des Heiligen Geistes und der Passion hinzu, die zwischen Auszügen aus den Evangelien, Gebeten, Andachtsübungen für die einzelnen Tage der Woche, Heiligenlitaneien und Ähnlichem eingefügt sind. Bemerkenswert ist ferner das Totenoffizium, also eine Reihe von Gebeten vor dem Verstorbenen, wenn er während der Nachtwache in der Kirche aufgebahrt war – eine eindrucksvolle Zeremonie, die sich nach den alptraumhaften Erfahrungen der Pestepidemien des 14. Jahrhunderts rasch verbreitete. Dass in den Stundenbüchern die Laien jene Texte auch außerhalb einer solchen Nachtwache still für sich lasen, bedeutet keine morbide emotionale Auseinandersetzung, sondern eine intensive Vorbereitung auf einen „guten Tod“, erwachsen aus dem traditionellen Glauben an die Notwendigkeit ständiger Buße und sündenbewusster Vorbereitung auf das Jüngste Gericht. Darin lag kein Widerspruch zum bunten Bilderspektrum der Stundenbücher. Die komplexen Wechselbeziehungen, die die Menschen im ausgehenden Mittelalter zwischen empirischen Sinneseindrücken und visionärer Schau, zwischen Weltbejahung und Weltflucht herstellten, zeigten sich im religiösen Leben der Gebildeten und Reichen ebenso wie bei der großen Masse. Etliche hochkarätige Stundenbücher beinhalteten zusätzlich ein ausgewähltes Missale; unter ihnen finden sich ein paar der berühmtesten Handschriften für den Herzog von Berry, so auch die ▶ Très Riches Heures in Chantilly (vgl. Abb. 23, 27). In ihnen war dann beispielsweise zu Weihnachten und zu Ostern nachzuvollziehen, was der Priester am Altar las. Der Kerntext eines Missale, der dem Priester reservierte „Canon Missae“, fehlte freilich so gut wie immer. Meist lernte der Nachwuchs jener Familien, die sich das leisten konnten, das ABC in den Stundenbüchern der Erwachsenen. Aber es existierten auch Stundenbücher speziell für Kinder, deren Schrift meist größer gehalten und deren Inhalt aus einer verknappten Summe von Gebeten bestand, wie dem Vaterunser, dem Ave Maria, dem Apostolischen Glaubensbekenntnis, ferner aus Tischgebeten, Bußformeln und gegebenenfalls einigen wenigen Messgebeten. Man bezeichnet solche kindgerecht gehaltenen Stundenbücher zutreffender als ▶ Fibeln. Die Fibel war der erste Buchbesitz eines Kindes, Gebetbuch und elemen-

Très Riches Heures

Fibeln

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Fibel der Claude de France

Buchtypen und ihre Bebilderung

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tares Lesebuch zugleich. Entsprechend beginnt eines der schönsten Beispiele, die zwischen 1505 und 1510 vollendete ▶ Fibel der Claude de France (Cambridge, Fitzwilliam Museum, Ms 159) mit dem Alphabet, daran schließen sich unter anderem an das Vaterunser, das Glaubensbekenntnis, Tischgebete, die Schöpfungsgeschichte, Passagen zu Adam und Eva, das Ave Maria, Betrachtungen über die Geburt Christi und die Anbetung der Heiligen Drei Könige. Zwei Vollminiaturen demonstrieren, wie die kleine Prinzessin anhand des ihr geschenkten Buches und in Obhut ihrer Schutzheiligen über Jahre hinweg das Lesen – und mit ihm das Beten – erlernte.

Handschriften mit weltlicher Thematik Neben religiösen Büchern existierte in dem hier zur Debatte stehenden Zeitraum eine Vielzahl von Büchern mit ausschließlich oder hauptsächlich profanen Inhalten. Auch sie können im Folgenden nur exemplarisch vorgestellt werden. Als Auswahlkriterium, das für die einzelnen Buchtypen aussagekräftig ist, dienen erneut die Häufigkeit und Qualität ihrer Illuminationen, speziell die der Miniaturen.

Astronomische, pharmakologische und naturkundliche Traktate

Isidor von Sevilla

Die in der Überschrift genannten Sachgebiete stützten sich im Mittelalter und in der Renaissance fast ausschließlich auf antike Überlieferungsstränge. Sie wurden, insbesondere in den naturwissenschaftlich-medizinischen Disziplinen und sofern sie in griechischen Originalschriften überkommen waren, durch arabische und jüdische Gelehrte dem Westen vermittelt. Dort fanden sie Aufnahme in die enzyklopädischen „Summen“, wissenschaftliche, systematisch geordnete Darstellungen eines gesamten Wissensgebietes. Einer der größten Gelehrten des Frühmittelalters, ▶ Isidor von Sevilla, trug um 630 jene aus der Spätantike tradierten arithmetischen Formeln zusammen, die die kosmischen Phänomene erklären sollten. Schon wer die kleinste Zeiteinheit betrachtete, wurde seiner Ansicht nach folgerichtig auf die Bewegung der Sterne verwiesen. Das rechnerisch kalkulierte Weltbild, das der spanische Universalgelehrte postulierte, sollte von da an nicht mehr aus dem abendländischen Denken verschwinden. Entsprechend groß war die Aufregung unter den Renaissance-Gelehrten in der holländischen Stadt Leiden, als ihnen am Ende des 16. Jahrhunderts die lateinische Aratus-Handschrift (die Aratea beziehungsweise der Leidener Aratus, wie das Manuskript heutzutage auch genannt wird), die einige Jahre vorher in

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Handschriften mit weltlicher Thematik

◀ Abb. 13  Sammlung ast-

ronomisch-komputistischer und naturwissenschaftlicher Texte: Zwölf Monatsbilder, 1. Drittel des 9. Jhs.; Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 387, fol. 90v.

Flandern aufgetaucht war, unter die Augen kam. Kein anderer Codex, den sie kannten, stand dem von ihnen bewunderten Altertum derart nahe. Sie hielten ihn fälschlicherweise sogar für antik. Die ▶ Aratea (Leiden, Universiteitsbibliotheek, Voss. lat. Q 79) war jedoch zur Zeit der Karolinger bald nach 825 im Raum Aachen – Metz geschrieben und illuminiert worden; indes, und das macht den Irrtum der Leidener Gelehrten verständlich, als Kopie einer spätrömischen (verlorengegangenen) Vorlage. Karl der Große hatte ein bahnbrechendes Wissenschaftsprojekt ins Leben gerufen, um eine astronomisch-komputistische (die Kalenderrechnung betreffende) Enzyklopädie erstellen zu lassen. Zu diesem Zweck rief er anlässlich der Reichssynode 809 in Aachen ein Gelehrtengremium für Zeitrechnung und Astronomie zusammen. Diesem Vorhaben entsprang um 818 eine einschlägige Sammelhandschrift, die in zwei im Salzburger Raum entstandenen Ausgaben

Aratea

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Buchtypen und ihre Bebilderung

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überliefert ist (Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 387 und München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 210). In den beiden Handschriften finden sich die ältesten Monatsbilder, die man aus dem Mittelalter kennt (Abb. 13). Eine Prachtausgabe der Ergebnisse des Jahres 809 ließ wenig später Erzbischof Drogo in Metz publizieren (Madrid, Biblioteca Nacional, Cod. 3307). Auf diesen Fundamenten baute der Leidener Aratea-Codex auf. Die Aratea reiht die Gestirne, von einer Ausnahme abgesehen (Herakles/ Herkules fol. 6v), in der schon seit dem 4. vorchristlichen Jahrhundert kanonisierten Folge aneinander: Sie werden vom Himmelsnordpol aus, von Ost nach West drehend, bis zu den südlichen Fixsternen beschrieben. Eine kurze Erläuterung der fünf in einem Bild zusammengefassten Planeten schließt den ersten und wichtigsten Teil des Manuskriptes ab. Im zweiten Teil folgen dem Bild von den vier Jahreszeiten die Kreise der Himmelssphären und die Auf- und Untergänge der Tierkreiszeichen. Daran schließen sich ein paar Bemerkungen an über Wetter- und Tierkreiszeichen beziehungsweise über die Planetenbahnen. Das Ganze endet mit der Auflistung aller möglichen Vorzeichen für gutes und schlechtes Wetter, einigen Schlusszeilen und einer feierlichen Formel, die die antike Astronomie mit dem christlichen Glauben versöhnt. Mit seinen 39 ganzseitigen (ehemals waren es fünf mehr), nach antiker Tradition fast quadratisch komponierten Miniaturen ist der Leidener Aratus ein karolingische exklusives Beispiel der ▶ „karolingischen Renaissance“. Er war ein enorm kosRenaissance tenträchtiges Werk, denn allein die Disposition der Miniaturen bedeutete einen für die damalige Zeit geradezu beispiellosen Verbrauch an teuerstem Pergament, zumal für eine Profanhandschrift! Dass die Miniaturen ziemlich häufig Rückenfiguren aufweisen, darf man als Indiz dafür werten, dass ihre Vorbilder von der bemalten Außenhaut eines Globus übernommen sind, in dessen Inneres sich der Betrachter fiktiv versetzt fühlen sollte. Die Figuren des Mythos agieren voll lebendiger Kraft. Sie besitzen eine durch Licht-Schatten-Modellierung bewirkte Plastizität und jene verhalten idealisierte Naturalistik, die sie in der klassischen Tradition verankern. Ihre formale Souveränität ist bei kaum einer zweiten Bilderhandschrift des Frühoder Hochmittelalters wiederzufinden. Als Hintergrund dienen verschiedene Blautöne, deren Intensität einerseits vom Nachthimmel inspiriert scheint und die sich zum anderen bei jenen Gestalten, die der Mythologie zufolge im Meer leben, in das tiefe Azur des Ozeans verwandeln. Die Sterne sind in Gold den zugehörigen, Konfigurationen genannten Sternbildern aufgelegt. Bei günstigem Lichteinfall funkeln sie im Sinne der Phainomena, so der Titel eines antiken Lehrgedichtes über geheimnisvolle, auf die Sterne bezogene Himmelserscheinungen. Ein schlichter roter Rahmen grenzt die Tableaus ein. Stilistische Vergleiche mit der Spontaneität der pompejanischen Wandmalerei drängen

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sich auf. Die Suggestivwirkung der Miniaturen profitiert nicht zuletzt von dem in der Entstehungszeit nachgerade revolutionären Konzept, Text und Bild zu trennen und jedes Bild als Solitär ganzseitig wiederzugeben. Während also der Leidener Codex, gemessen an seiner Datierung und seiner kunstlandschaftlichen Provenienz, eine aus dem Rahmen fallende künstlerische Leistung bietet, überrascht die Bildersprache eines um 1450 – 1460 in Italien entstandenen Buches nicht. In ihrer ästhetisch-künstlerischen Raffinesse hält sie sich an den zu erwartenden Stil damaliger Mailänder Buchmalerei. Die Miniaturen dürften von Cristoforo de Predis stammen. Das vielleicht für Francesco Sforza, den Herzog von Mailand, bestimmte Manuskript gehört zu den Schätzen der Biblioteca Estense in Modena (α.X.2.14 = lat. 209) und ist eine sogenannte anepigraphische Handschrift, das heißt ein Codex ohne Titel. Erst seit 1914 heißt sie ▶ De Sphaera. De Sphaera Das Buch enthält auf einigen Blättern am Anfang und am Schluss eine Reihe astronomischer Zeichnungen, die den Wissensstand in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts rekapitulieren und auf der aristotelisch-ptolemäischen Theorie aufbauen, der zufolge die Erde den Mittelpunkt des Universums ausmacht. Die Miniaturentableaus des zentralen, mehr oder weniger didaktisch aufgebauten Buchteils hingegen spiegeln astrologisches Denken – Vorstellungen vom Einfluss der Planeten auf die Schicksale der Menschen – und präsentieren Darstellungen der Gestirne, die auf der traditionellen Ikonologie beruhen. Besonders ins Auge fallen die erwähnten geometrischen Zeichnungen, hervorgehoben durch das Blau und Rot der Tinten und das Gold der Sonne. Sie illustrieren die astronomischen Berechnungen, die sich aus der geozentrischen Theorie der Mondphasen und -finsternisse sowie aus den Klimakoordinaten ableiten. Ein weiterer Abschnitt beschäftigt sich mit dem Tierkreis und den Sternbildern, den vier Elementen, ihren Eigenschaften und Relationen, mit den Mondphasen, den Theorien der Äquinoktien und der Sonnenwenden sowie mit der Länge von Tag und Nacht. Diesen Lagen vorgeschaltet ist fol. 2v die subtile, leicht aquarellierte Zeichnung eines Schiffes und schließlich fol. 4v und von fol. 5v bis fol. 12r der Part mit den ganzseitigen, künstlerisch eminent eindrucksvollen Miniaturen. Im Kapitel über die Natur und Herstellung der Farbpigmente wurde bereits erwähnt, dass medizinische Traktate des Mittelalters häufig mit alchimistischen Rezepten zur Farbenherstellung kombiniert waren. Die aus dem 12. Jahrhundert stammenden Abhandlungen aus der Feder des Arztes ▶ Matthaeus Platearius beispielsweise sind arzneikund- Matthaeus liche Werke, führen aber auch zahlreiche Pflanzen und Mineralien auf, die für Platearius

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Tacuinum sanitatis

Buchtypen und ihre Bebilderung

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die Farbenherstellung wichtig waren. Seine Abhandlung De medicinis simplicibus („Über die einfachen Arzneien“) wurde bis ins 18. Jahrhundert rezipiert. Eine besonders schöne, mit Miniaturen versehene Ausgabe entstand um 1500 in Frankreich (St. Petersburg, Russische Nationalbibliothek, Fr. F. v. VI). Häufig handelte es sich bei solchen Manuskripten auch um Sammelhandschriften mit Beiträgen aus unterschiedlichen Wissensgebieten. Das gilt schon für das älteste erhaltene Exemplar – eines der berühmtesten – dieses Buchtypus, den Wiener Dioskurides (Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. Med. gr. 1), der um 512 wohl in Konstantinopel für eine byzantinische Prinzessin hergestellt wurde. Er umfasst Abschnitte pharmakologischer, arzneikundlicher und naturwissenschaftlicher (Herbarium, Ornithologie) Art und fand nicht zuletzt im arabischen Kulturraum großen und lange anhaltenden Nachhall. Die Texte aller Handschriften des ▶ Tacuinum sanitatis („Notizbuch der Gesundheit“) gehen auf einen arabischen Traktat des 11. Jahrhunderts zurück, der im 13. Jahrhundert für den Stauferkönig Manfred übersetzt und seit der Mit-

Gesundheitsbücher

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ünf reich illustrierte Exemplare der Tacuinum sanitatis-Handschriften, die die Funktion von Herbarien und Gesundheitsbüchern vereinten und an der Wende vom 14. zum 15. Jahrhundert entstanden, blieben erhalten. Ein in Paris (Bibliothèqe nationale de France, Ms lat. nouv. acq. 1673) aufbewahrtes Manuskript dürfte von einem der bedeutendsten dem Naturstudium hingegebenen Maler dieser Zeit in der norditalienischen Kunstlandschaft, von Giovannino de’ Grassi und seiner Werkstatt, stammen. Während die Miniaturen in den anderen Tacuinum-Handschriften in der Regel die Alltagswelt in sachgetreuer Einfachheit, sozusagen aus dem Blickwinkel des Bürgertums darstellen, sahen die Miniatoren der Pariser Handschrift das

Leben als eine höfische Veranstaltung. Selbst den einfachsten Tätigkeiten und ihren menschlichen Akteuren verliehen sie einen raffiniert-eleganten Zuschnitt. So auch auf fol. 41r (vgl. Abb. 14), das den Kräften der Fenchelpflanze (Feniculum) gewidmet ist. Der erläuternde Text beschreibt die dem menschlichen Temperament entsprechenden Eigenschaften des bevorzugt im Hausgarten zu ziehenden Fenchels als warm und trocken; man könne ihn gegen Augenleiden und Fieber einsetzen, wogegen er den Menstruationsfluss störe – dagegen helfe dann freilich der Verzehr von Johannisbrot. ▶ Abb. 14 Giovannino und Salomone de’ Grassi (?): Feniculum (Fenchel), in: Tacuinum sanitatis, 1380; Paris, Bibliothèque nationale de France, Ms lat. nouv. acq. 1673, fol. 41.

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te des 14. Jahrhunderts in Oberitalien zu einem Bilderbuch mit erläuternden Texten ausgeweitet wurde. Sie sind als medizinisches Hausbuch gedacht, das die gesundheitlichen Optionen aufzählt, die die Umwelt des Menschen auf die jeweiligen Temperamente ausübt. In liebenswert anschaulichen, künstlerisch freilich bescheidenen Szenerien zeigen die Maler zahlreiche Sorten von Obst, Blumen, Gemüse, vor allem von Heilpflanzen, sie charakterisieren Haustiere, die jahreszeitlich nötige Kleidung, Sommer- und Winterwohnungen, die Auswirkungen der Getränke vom Brunnenwasser bis zu den unterschiedlichen

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Buchtypen und ihre Bebilderung

▲ Abb. 15  Englisches Bestiarium:

Weinsorten, schließlich noch diverse Erholungs- und Sportmöglichkeiten. Fünf breit und informativ illustrierte Exemplare solcher im Hauptteil als Herbarien firmierender Gesundheitsbücher an der Wende vom 14. zum 15. Jahrhundert blieben erhalten (Abb. 14); sie alle entstanden in der Lombardei, wo die Höfe der Visconti in Mailand und der della Scala in Verona blühende Kunst- und Wissenschaftszentren bildeten (Gesundheitsbücher). Ihr Pendant im zoologischen Bereich haben Herbarien in den sogenannten  ▶ Bestiarien (Abb. 15). „Bestiarium“ ist die Bezeichnung für eine mittelalterliche Sammlung literarischer und bildlicher Beschreibungen vom Aussehen und den Verhaltensweisen von Landtieren, Vögeln, Reptilien und Fischen – aber auch von Wesen, an deren Existenz viele Menschen damals glaubten, die jedoch reiner Fabulierlust entsprang. Die jeweiligen Tierbeschreibungen zielen eher auf Verhalten und Psychologie als auf Physiologie. Charakteristisch sind moralische Konklusionen, die man aus solchen Verhaltensmustern zog. Die Tiere werden nämlich mit Vorliebe als Symbole – zumeist für Christus oder den Teufel – aufgefasst oder aber in ihrem Verhalten als positive oder negati-

Greif mit Beute, um 1230–1240; London, British Library, Ms Harley 4751, fol. 7v.

Bestiarien

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ve Exempla für die Menschen vorgestellt. Textgrundlage aller Bestiarien ist ein spätantiker Traktat, der ▶ Physiologus. Physiologus Die frühesten Bestiarien datieren in die erste Hälfte des 12. Jahrhunderts und sind englischen Ursprungs. Als erstes überliefertes Beispiel der Gattung gilt eine um 1120 entstandene Handschrift, die unter der Signatur Ms Laud Misc. 247 in der Oxforder Bodleian Library aufbewahrt wird. Vom frühen 12. Jahrhundert an wurde der Physiologus Zug um Zug mit Textmaterial bereichert, zuerst um die in Buch XII der von Isidor von Sevilla im frühen 7. Jahrhundert verfassten Etymologiae zusammengetragenen „Verhaltensdeutungen“ unterschiedlichster Tiere, die auf (pseudo-)etymologischer Grundlage vorgenommenen wurden. Doch immerhin klassifizierte Isidor seine Beispiele einigermaßen sachdienlich nach Haustieren, Lasttieren, wilden Tieren, Kleintieren, Schlangen, Würmern, Fischen, Vögeln und kleinen geflügelten Kreaturen und beeinflusste damit die Bestiarien maßgeblich. Weiteres Textmaterial folgte: solches, das auf spätantike Schriftsteller und den Kirchenvater Ambrosius (Hexaemeron, „Die sechs Tage der Schöpfung“) zurückging. Aus der Summe dieser Überlieferungsstränge resultierten dann die Textfamilien der Bestiarien. Insgesamt dienten sie nicht dem Unterricht in Naturgeschichte, sondern der Unterweisung in christlicher Morallehre. Die meisten und die wichtigsten Bestiarien waren zu diesem Zweck reichhaltig illustriert. Bild und Text, Betrachtung und Lektüre ergänzten sich: Die Tierbilder vermittelten nämlich jene „zoologischen“ Aspekte, auf die der Text nicht eingeht, also ihre physische Gestalt. Bevorzugt wurden jene animalischen Verhaltensmuster visualisiert, die sich am ehesten für eine Stegreifinterpretation in Morallehre und Predigt eigneten. Die Dimensionen der etwa fünfzig erhaltenen, in England angefertigten illustrierten Bestiarien reichen von kleinen Quartformaten bis zu Folios. Die Illustrationen sind im Allgemeinen in den Text einbezogen, und zwar über die erste Zeile eines jeden Kapitels oder neben den Kapitelanfang gesetzt. Sie begegnen gerahmt oder ungerahmt, als Umrisszeichnung, als lavierte Umrisszeichnung oder zur Gänze koloriert. Einige Bestiarien besitzen aber auch ganzseitige Illustrationen von oft prächtiger und großformatiger Aufmachung, man denke an das Exemplar in New York (Morgan Library, Ms M.81) von circa 1185 oder das in der Oxforder Bodleian Library (Ms Ashmole 1511) von circa 1210. Die Jagdbücher des Mittelalters und der frühen Neuzeit haben mit den Bestiarien nichts zu tun, ausgenommen vielleicht der Tatsache, dass sie neben ihrem Hauptuntersuchungsgebiet, den diversen Praktiken der Jagd, auch dem gejagten Wild ein zoologisches Interesse entgegenbrachten. Eine eigene Kategorie stellte stets die Vogeljagd dar. Die Miniaturen des Buches, das als fulminantes Hauptbeispiel in Beschreibung und Bebilderung

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▲ Abb. 16  Friedrich II., De arte

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der Vogeljagd gelten darf, sind nicht nur ästhetisch ansprechend, sondern übernehmen zugleich die Funktion einer Sachbuch-Illustration. Gemeint ist die von dem Stauferkaiser Friedrich II. im 13. Jahrhundert verfasste Abhandlung De arte venandi cum avibus. Das sogenannte Friedrichs II. ▶ Falkenbuch Friedrichs II., sein Lieblingsbuch – besser gesagt dessen ZweitaufFalkenjagd- lage –, befindet sich heute in der Vatikanischen Bibliothek (Cod. Pal. lat. 1071). buch Der Text des 111 Pergamentblätter umfassenden, fast 40 Zentimeter hohen und reich bebilderten Folianten ist in Latein geschrieben. Der Titel weist ihn als Lehrbuch über die Jagd mit Raubvögeln, speziell die Falkenjagd, aus (Abb. 16). Aus einer alten Beschreibung geht hervor, dass Friedrichs Jagdbuch, das spätestens 1247 abgeschlossene Ergebnis dreißigjährigen Forschens, ein mit Gold und Silber verzierter, aus sechs Teilen bestehender Prachtcodex war, ebenbürtig jedem Werk kirchlicher Schatzkunst. Üppig sei es illustriert gewesen, die unzähligen Abbildungen von Vögeln stammten angeblich von Friedrichs eigener Hand – was man jedoch nicht wörtlich nehmen darf. Das Manuskript im Vatikan ist dagegen sehr viel dünner, es ist zwar farbig bebildert, doch Gold und Silber finden sich nicht auf seinen Blättern. Zahlreiche Seiten sind durchlöchert und mit Wasserflecken übersät. Zu Beginn erblickt man eigenartigerweivenandi cum avibus: Der Kaiser und sein Falkenmeister, um 1258– 1266; Rom, Biblioteca Apostolica Vaticana, Cod. Pal. lat. 1071, Dedikationsbild.

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se zwei thronende Herrschergestalten: oben Kaiser Friedrich II., unten einen seiner Söhne, König Manfred, in grünem Gewand mit zwei vor ihm knienden Falknern. Das Original ist also verloren, nicht aber, so paradox es klingt, Friedrichs Falkenbuch. Denn Manfred, von 1258 bis 1266 König von Sizilien, hatte nach der Vorlage des väterlichen Exemplars und anderer einschlägiger Aufzeichnungen über Jahre hinweg von unteritalischen Künstlern eine zweite Fassung des Buches herstellen lassen: die Version im Vatikan. Das Manuskript bricht unvermittelt gegen Ende des zweiten Teils ab, denn Manfred war in der Schlacht von Benevent gegen den vom Papst unterstützten Karl von Anjou gefallen. Das Buchfragment wurde zum Beutegut der siegreichen Partei. Im Jahre 1300 fand es sich im Besitz des französischen Barons Jehan de Dampierre, des Nachkommen eines Gefolgsmannes Karls von Anjou. In Frankreich wurden im weiteren Verlauf mehrere Abschriften und Kopien hergestellt. Erst Jahrhunderte später tauchte Manfreds Buch wieder auf: um 1594, im Besitz des Nürnberger Arztes und Gelehrten Joachim Camerarius. Dessen Sohn Ludwig sorgte dafür, dass das Werk in die Heidelberger Bibliotheca Palatina kam. 1623 hat man das Falkenbuch der Staufer mit dem Gros dieser Bibliothek nach Rom abtransportiert und den vatikanischen Beständen einverleibt.

Höfische Waidmannslust

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ie Jagd galt von jeher als standesgemäße Beschäftigung des Edelmannes. Die jeweiligen Auftraggeber des Hoch- und Spätmittelalters sorgten dafür, dass die Codices dieser Thematik nicht nur ihres Inhalts wegen, sondern auch aufgrund ihrer künstlerischen Ausstattung dem Stand ihrer noblen Adressaten würdig schienen. Der Traktattext des Livre du roy Modus, der sich mit unterschiedlichsten Jagdtechniken und der einschlägigen Tierwelt beschäftigt, wurde um 1370 von Henri de Ferrières verfasst. Die Handschrift in Brüssel aus den Jahren um 1455

(vgl. Abb. 17) besitzt eine Reihe liebevoll schildernder und dabei das Ganze eines landschaftlichen Szenariums überzeugend einfangender Miniaturen, die dem sogenannten Girart-Meister, einem vor allem über zeichnerische Ausdrucksmittel verfügenden, qualitätvollen Buchmaler der Jahrhundertmitte zugeschrieben werden. So zeigt beispielsweise fol. 18v einen Jagdgehilfen in idyllischer Landschaft, der im Laufe einer Hirschtreibjagd soeben dem Leithund des mit Fressen beschäftigten Rudels einen Hirschkopf mit mächtigem Geweih vor die Schnauze hält, um ihn scharfzumachen.

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Buchtypen und ihre Bebilderung

▲ Abb. 17  Meister Girart de

Aus den im Hoch- und Spätmittelalter immer zahlreicher werdenden Manuskripten und Bilderhandschriften zur Jagd seien zwei herausgegriffen: das um 1455 entstandene Livre du roy Modus (Brüssel, Bibliothèque Royale Albert Ier, Ms 10218); es ist das älteste illustrierte Lehrbuch über die Jagd in französischer Sprache (Abb. 17) und es fungierte als Vorbild für das zweite hier herangezogene Beispiel, das Livre de chasse des Gaston Phoebus, einem Klassiker der europäischen Jagdliteratur (Höfische Waidmannslust). Die Abhandlung Buch der Jagd hat ▶ Gaston de Foix mit dem Beinamen „Phoebus“ am 1. Mai 1387 begonnen und 1388 oder 1389 fertig gestellt. Sein Hauptinteresse liegt auf der Hetzjagd, der Parforcejagd mit Hunden auf Rotund Schwarzwild und der Jagd mit Bogenwaffen. Im Text fehlen jegliche allegorischen Komponenten, die zuvor in Bestiarien dominierten. Vor allem jedoch übertrifft der Autor Gaston die älteren Traktate durch seine empirische Beobachtungsgabe. Erhalten sind insgesamt 46 Manuskripte, davon 27 mit mehr oder weniger umfangreichen Bilderzyklen. Von den letzteren sind – mit Ausnahme zweier Avignoneser Abschriften, die zu Lebzeiten des Autors, also vor 1391, verfertigt wurden – alle zwischen 1400 und dem ersten Viertel des 16. Jahrhunderts zu datieren: Acht gehen auf die Jahre 1400 – 1420 zurück und sind Pariser Ursprungs.

Roussillon und Werkstatt: Jagdhund scharf gemacht, in: Jagdbuch des Königs Modus, um 1455; Brüssel, Bibliothèque Royale Albert Ier, Ms 10218, fol. 18v.

Gaston Phoebus

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13 weitere bebilderte Codices gehören in die zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts, zwei weitere sind um 1500 – 1520 datierbar. Das Livre de chasse avancierte also erst nach der Mitte des 15. Jahrhunderts zum Bestseller. Drei gedruckte Pariser Editionen aus den Jahren 1507 bis 1525 belegen das noch lang anhaltende Interesse an Gastons Abhandlung.

Romane, Universalgeschichten, Chroniken und Reiseberichte Die höfisch-ritterliche Kultur des Hochmittelalters manifestiert sich in einzigartiger Weise in profanen Handschriften, besonders in Ausgaben der Epik, denen erklärende und schmückende Bilder beigegeben sind. Vor allem ist die um 1210/20 illustrierte ▶ Eneide der Berliner Bibliothek (germ. fol. 282) zu nen- die Berliner Eneide nen, deren weit über 100 Miniaturen Heinrich von Veldekes mittelhochdeutsche Dichtung von Trojas Untergang und dem Schicksal des Aeneas ins Bild übertragen. Sie stellen den ältesten überlieferten Illustrationszyklus zu einem der großen höfischen Epen dar, die in den folgenden Jahrhunderten hauptsächlich in der französischen Buchkunst ihre Fortsetzung erfuhren – König Artus lebte in ihnen ebenso nach wie Lancelot, Parzival, Tristan oder Alexander der Große. In Deutschland präsentiert die ▶ Manessische Liederhandschrift (nach Manessische 1310 – um 1340; Heidelberg, Universitätsbibliothek, Cod. Pal. Germ. 848) in Liederhandschrift 140 Darstellungen die stilisierten „Bildnisse“ der bekanntesten Minnesänger ihrer Zeit. Als eine Sonderform der höfischen Romane kann man die in Romanform und Traumerlebnisse gekleideten allegorisch-didaktischen Texte und Minneallegorien einstufen. Während sich diese einer extrem verschlüsselten und für den heutigen Leser sehr gekünstelt wirkenden Symbolsprache bedienten, der allerdings meist eine wunderbar naturalistische Bildersprache in den Miniaturen antwortet, zählt Dantes Divina Commedia (Göttliche Komödie) zu den nach wie vor enthusiastisch rezipierten Schätzen der Weltliteratur. Strukturell reiht sie sich durchaus in den Zusammenhang allegorisierender Dichtungen ein, nur dass sie eben von ganz anderer dramatischer Wucht und mit einem christlichen Gedankengebäude verknüpft ist. In Form einer Reise schildert der Dichter seine visionäre Wanderung – zu Ostern 1300 – durchs Jenseits: also durch das Inferno, die Hölle, sodann durch das Purgatorio, den Bereich der Läuterung des christlichen Fegefeuers, und schließlich in das Paradiso, das himmlische Ziel allen Seins. Die Jenseitsreise enthält die tiefgründigsten Aussagen über die menschliche Natur, zugleich aber auch heftige Angriffe gegen Zeitgenossen und konkrete politische Zustände. Der anfängliche Begleiter des Jenseitsreisenden ist der antike Dichter Vergil, der das überlieferte Wissen der Vergangenheit verkörpert. Im irdischen Paradies übernimmt dann Beatrice, die

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zur Allegorie der Theologie verklärte Geliebte Dantes, die Führung durch die neun Himmelssphären bis vor das Angesicht Gottes. Illustrationen zur ▶ Göttlichen Komödie wurden schon bald nach deren PuIllustrationen zur blikation in Auftrag gegeben; zahlreiche Miniaturen der folgenden JahrhunDivina derte schlossen sich an, ohne freilich immer der inneren Größe dieser DichCommedia tung gerecht zu werden. Ausnahmen bestätigen die Regel: etwa eine in Siena um 1440/50 entstandene Ausgabe (London, British Library, Yates Thompson Ms 36), die der auch als Tafelmaler hervorgetretene Giovanni di Paolo wunderbar illustrierte. Die berühmtesten Illustrationen zur Divina Commedia sind freilich die ab 1482 realisierten Federzeichnungen, die Sandro Botticelli für eine Prachthandschrift des Lorenzo di Pierfrancesco de’ Medici schuf. Nie ganz vollendet, bilden sie dennoch einen der Höhepunkte in der gesamten Buchkunst des Quattrocento. Die Zeichnungen tragen dem Medium der Buchillustration in genialer Weise Rechnung, insofern auf Raumillusion, die die Fläche des Blattes aufsprengen würde, verzichtet ist. Stattdessen hat Botticelli in unerhört sensibler und zarter, auf den Umriss fokussierter Linienführung das Gewicht auf die zeichnerische Umsetzung des dramatischen Geschehens gelegt. Unter den Minneallegorien ragt ein Werk durch innovative buchmalerische Leistung ganz besonders hervor: Das liebentbrannte Herz des großartigen Buch- und Tafelmalers Barthélemy d’Eyck, der in Diensten des Königs René d’Anjou stand. Von René höchstpersönlich stammt der Text zu diesem allegorischen Roman mit dem Originaltitel Le Livre du Cœur d’amour épris, der in metaphorischer Form die Suche nach erfüllter Liebe schildert (vgl. Abb. 29). Barthélemy ▶ Barthélemy vollendete zwischen 1457 und 1470 hierfür 16 herrliche Szened’Eyck rien unterschiedlichen Formats. Sie begleiten die poetischen Sequenzen, in denen der Ich-Erzähler seine innere Zerrissenheit aufgrund brennender Begierde heraufbeschwört, die ihm das Herz aus dem Leibe raubt. Dabei versetzen ihn die auftretenden Personifikationen in fiktive Szenarien. Erst 2001 wurde dem breiteren Publikum eine in der Free Library of Philadelphia aufbewahrte illuminierte Handschrift aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts bekannt (Ms Widener 1), für die das Atelier des Bedford-Meisters die aufwendige Bebilderung lieferte: Die künstlerisch höchst wertvollen Miniaturen erstrahlen in intensiven Farben und werden begleitet von delikaten floralen Bordüren und unzähligen dekorativen Initialen auf Blattgold. Es existiert kaum ein zweiter Band aus dem französischen 15. Jahrhundert, der mit derart reicher Miniaturenausstattung aufwartet und dabei nicht dem Gebet oder frommer Andacht dienen sollte. Sein Thema ist vielmehr die verschlüsselte Anleitung zu einem erfüllten Leben. Etwas mehr als zwei Wochen sind seit der Hochzeit vergangen, als sich der Neuvermählte im Bett neben seiner schlafenden Frau so manchen Überlegungen hingibt. Sie alle drehen sich darum,

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Handschriften mit weltlicher Thematik

dass und warum Reichtum das Erstrebenswerteste in der Welt sei. Doch bald erhält er im Traum Besuch: In phantastischer Abfolge dringen bei ihm Verkörperungen von Mangel, Not, Elend und anderen Schicksalsschlägen ein und suchen ihn davon zu überzeugen, dass Reichtum dem Menschen nicht in den Schoß fällt, sondern durch Leistung und harte Arbeit erworben werden müsse. Typologisch und strukturell gehen alle diese in die Rahmenhandlung eines Traums eingebundenen Lebens- und Minneallegorien auf den ▶ Rosenroman Rosenroman (Roman de la Rose) zurück. Dieser hatte im französischen Sprachraum und bald auch darüber hinaus die Gattung der Traumgedichte begründet, in der Begriffe und Eigenschaften zu agierenden Personen, zu Personifikationen beziehungsweise Allegorien, transformiert wurden. Die insgesamt weit über 20.000 Verse sind zwischen ungefähr 1225 und 1280 von zwei Autoren verfasst worden. Der erste Erzähler beginnt seine „schlafwandlerische Reise“, indem er im tiefen Schlaf aufsteht und sich anzieht, um ins Traumland aufzubrechen. Dort begegnet ihm die geliebte Frau, deren Gunst er erringen möchte, in Gestalt einer allegorischen Rose. Auf dem Weg zu ihr durch eine herrliche Frühlingslandschaft erblickt er einen mauerumringten und von Personifikationen der Laster umstandenen Garten, der der Verkörperung des „Vergnügens“ gehört. Es entfaltet sich ein verschlüsseltes Spiel um die Liebe (Minne), in dem sich unterschiedlichste weltliche und geistliche Traditionen zu dem im imaginären Geschehen angestrebten Ideal vereinen. Der zweite Autor, der die Fortsetzung verfasste, hat mit dem höfischen Geist des vorherigen kaum noch etwas zu tun. In seinem Part zieht er die enzyklopädische Summe des zeitgenössischen Wissens, durchsetzt mit satirischen Seitenhieben auf höfische Ideale. Der ungewöhnlich reichhaltigen Verbreitung des Rosenromans ist es wohl auch zu verdanken, dass kein Werk der älteren französischen Literatur derart häufig und ikonografisch innovativ illustriert wurde wie eben dieser Roman. Erhalten sind mehr als hundert zwischen dem Ende des 13. und dem frühen 16. Jahrhundert entstandene Bilderhandschriften, um nur diejenigen zu nennen, die sich ausschließlich dem Roman de la Rose widmen (mit Sammelhandschriften kommt man auf eine weitaus höhere Zahl) – viele von ihnen wurden auch außerhalb Frankreichs in Auftrag gegeben. Als Beispiel möge der um 1490 – 1500 in Flandern mit vier großen und 88 kleinen Miniaturen geschmückte Codex in London dienen (British Library, Harley Ms 4425). Auch Schriften zur Historie wurden reich illuminiert. So entstand zwischen 1447 und 1460 ein Buch zur Universalgeschichte aus der Feder eines gewissen Giovanni Colonna, betitelt Mare historiarum (Paris, Bibliothèque nationale

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Rudolf von Ems

Schweizer Chroniken

Buchtypen und ihre Bebilderung

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de France, Ms lat. 4915): Das monumentale Werk mit der stupenden Anzahl von 730 Miniaturen, eine dabei schöner als die andere, war wohl eine der anspruchsvollsten Unternehmungen der gesamten mittelalterlichen Buchmalerei. Ungefähr zur gleichen Zeit, um 1455, statteten französische Künstler, darunter Simon Marmion, Jean Mansels La Fleur des histoires (Die Blume der Geschichte), eine Kompilation der Weltgeschichte von der Schöpfung bis ins Jahr 1422, mit 65 Miniaturen aus. Auch hier ist wie im Mare historiarum weltliche Historie mit der christlichen Heilsgeschichte verwoben. Diese beiden Werke und die ungewöhnlich große Zahl erhaltener Exemplare der Fleur des histoires beweisen, dass derart strukturierte Universalgeschichten – auf ihnen liegt im Folgenden innerhalb des weiten Feldes der Historiografie der Schwerpunkt – samt ihrer reichen und meist exquisiten Bebilderung zu Bestsellern des späteren Mittelalters aufgerückt waren. Die Vorgeschichte, auf die sie zurückblicken, ist lang. In der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts drang, nicht zuletzt in Deutschland, die Volkssprache erstmals in die Domäne der bisher auf Latein verfassten Universalhistoriografie ein. Während der Süden des deutschen Sprach- und Kulturraumes mit der gereimten Weltchronik des ▶ Rudolf von Ems die erste Weltgeschichtsdichtung ins Leben ruft – die unter insgesamt 28 bebildert tradierten Manuskripten mit der oberrheinischen Prachthandschrift um 1300 (St. Gallen, Kantonsbibliothek Vadiana, Ms 302) zu ausnehmend schönen Miniaturen auf Goldgrund geführt hat –, begründet der Norden mit der Sächsischen Weltchronik den volkssprachlichen Zweig dieser universal orientierten Gattung in Prosa. Das anspruchsvolle Werk ist in rund sechzig Textfassungen überliefert, von denen vier illustriert sind. Alle diese Werke reihen sich in den Traditionsstrang einer Geschichtsschreibung ein, deren Sinngebung umfassend ist, da sie den diesseitigen Lauf der Dinge in die heilsgeschichtliche Entwicklung einbettet. So dehnt sich ein von Anekdoten, Sagen oder Legenden bunt angereicherter Bilderbogen, entstehen Text- und Bilderketten, die die Weltgeschichte zum bewegenden Drama stilisieren, indem die Miniaturen die Erzählungen auf den Punkt bringen. Ganz anders handhaben die ▶ eidgenössischen Chroniken des ausgehenden 15. und frühen 16. Jahrhunderts ihren historischen Stoff. Sie nähern sich einem bereits recht modernen Verständnis von Geschichtsschreibung an, indem sie sich auf relativ begrenzte Ereignisse, vor allem kriegerische Auseinandersetzungen im Bemühen der Schweiz um staatliche Souveränität, konzentrierten. Bei der Besprechung dieser Geschehnisse wird nicht länger ein unmittelbares göttliches Interesse unterstellt, vielmehr wird auch der alltägliche Kontext geschildert. Deshalb gehören jene umfangreichen Bilderchroniken zweifellos zu den kostbarsten Relikten aus dem kulturellen Erbe der spätmittelalterlichen republikanischen Schweiz.

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Handschriften mit weltlicher Thematik

Befördert wurde diese Entwicklung sicher durch den zeitgenössischen Humanismus. In den Patrizierzirkeln, in den Zunft- und Trinkstuben, die sich im 15. Jahrhundert in den tonangebenden Schweizer Städten als Schaltzentralen der lokalen und der landesweiten Politik etablierten, wurde Geschichtsschreibung als anspruchsvolle Liebhaberei betrieben. Die Resultate diskutierte man in angeregter Runde. Schnell aber nahmen derartige historische Studien und Dispute einen ernsthafteren, wissenschaftlicheren Charakter an. Der gestalterische Aufwand der Schweizer Geschichtsbücher, insbesondere derer der Chronisten ▶ Diebold Schilling d. Ä. und d. J., war im Vergleich Diebold Schilling zu vielen Konkurrenzeditionen unvergleichlich: Keine Mühe wurde gescheut, um von Hand Hunderte von Blättern makellosen Pergaments oder besten Papiers zu beschreiben, obwohl man sich längst des zeit- und kostengünstigeren Buchdrucks hätte bedienen können. Die Illustrationszyklen der Schweizer Chroniken verzichteten überdies auf das damals moderne Reproduktionsmedium des Holzschnittes zugunsten der offensichtlich als repräsentativer empfundenen, weil altehrwürdigen kolorierten Federzeichnungen oder Deckfarbenminiaturen mit ihrem Unikat-Charakter. Alle diese Folianten waren für die politische Elite bestimmt. Ihre Auftraggeber und Adressaten, die sich regelmäßig aus diesen Chroniken vorlesen ließen, die städtischen Honoratioren also, nahmen fast ausnahmslos an den blutigen Schlachten der Zeit teil, die in den Chroniken in hundertfacher Lust am grausamen Detail beschrieben und bebildert sind. Die zu Beginn des 15. Jahrhunderts für den Burgunderherzog geschaffene Handschrift des Livre des merveilles in Paris (Bibliothèque nationale de France, Ms fr. 2810) enthielt den reichsten Illustrationszyklus unter allen gleichnamigen Codices zum Bericht des ▶ Marco Polo über seine kurz vor 1300 erfolgte Marco Polos Livre des Reise nach China. Freilich war Marcos Schilderung trotz der Aufzählung exomerveilles tischer „Wunder“ eine relativ sachliche Reportage, die die Sensationslust der Leser nur partiell befriedigte. Abenteuerlicheres bot da schon die neue literarische Gattung fiktiver Reiseberichte. Den größten Erfolg in diesem Genre feierte das Buch eines englischen Ritters namens ▶ John de Mandeville, der von John de Mandeville sich behauptete, nach einer Pilgerreise ins Heilige Land in den Fernen Osten weitergezogen und über Zentralasien zurückgekehrt zu sein. Das Grundmuster seines Berichtes, davon ist die heutige Forschung überzeugt, hat der Fabulant, der möglicherweise aus Lüttich stammte und etwa um 1360 lebte, aus den Schriften älterer Autoren zusammengetragen. Die Handschrift mit 28 kolorierten exquisiten Silberstiftzeichnungen von einem Meister des Internationalen Stils um 1400 ist im Besitz der British Library in London (Add. Ms 24189). Der sicher in Prag tätige Illuminator war an französischen und norditalienischen Vorbildern geschult.

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Buchtypen und ihre Bebilderung

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„Klassiker“

Petrarca

die Wiener Théséide

Es war nicht ungewöhnlich, dass in der ausgehenden Antike klassische Autoren neu aufgelegt und ihre Schriften buchmalerisch nobilitiert wurden – auch wenn nur vereinzelte, allerdings künstlerisch hochrangige Beispiele die Zeiten überdauerten: der um 400 in Italien (Rom?) illuminierte Vergilius Vaticanus, der Fragmente von Vergils Georgica und Aeneis enthält, und der rund hundert Jahre später – sei es in Rom, sei es im östlichen Mittelmeerraum oder gar in Syrien – hergestellte Vergilius Romanus. Dass in den Jahrzehnten der „karolingischen Renaissance“ römisch-antike Klassiker erneut große Aufmerksamkeit erfuhren, belegt unter anderem die bereits erwähnte Handschrift der Aratea. Die Renaissance als Epochenstil, wie wir ihn heute verstehen, hatte ihre Anfänge im Italien des 14. Jahrhunderts, um sich dann seit den ersten Jahrzehnten des 15. Jahrhunderts unaufhaltsam auszubreiten. Das Sammeln klassischer Texte, Neueditionen antiker Schriftsteller, Wissenschaftler und Philosophen, die exquisite Bildausstattung derartiger Ausgaben – all das machte nunmehr einen Großteil der Produktion von Büchern und der Beschäftigung mit ihnen aus. Der im Vergleich zum Trecento erneut zu konstatierende Entwicklungsschub in der Buchmalerei des Quattrocento war zwar durch eine ganze Reihe günstiger Faktoren bedingt, an erster Stelle stand aber sicherlich die enorme Zunahme literarischer Gattungen. Das auf Quellenstudium gestützte Interesse an allen Zeugnissen der griechischen und römischen Antike wuchs sich im 15. Jahrhundert – nach Anfängen bei den frühhumanistischen Schriftstellern Francesco Petrarca und Giovanni Boccaccio (vgl. Abb. 28) – in Italien und schnell auch in den übrigen europäischen Ländern zu der bestimmenden intellektuellen Strömung aus. Diese manifestierte sich nicht zuletzt in der Edition und reichen Bebilderung der Werke dieser beiden Autoren selbst: Genannt seien exemplarisch einige Prachthandschriften zu ▶ Petrarcas Trionfi und Canzoniere (Florenz 1456 – Paris, Bibliothèque nationale de France, Ms ital. 545; Urbino 1474 –1482 – Madrid, Biblioteca Nacional, Ms Vit. 22-1; Rouen 1503 – Paris, Bibliothèque nationale de France, Ms fr. 594). Aus den zahlreichen Boccaccio-Editionen sei eine der schönsten herausgegriffen: Barthélemy d’Eycks zweites Hauptwerk neben den Illustrationen zum oben vorgestellten Buch vom liebentbrannten Herzen, der um 1470 fertig gestellte Miniaturenzyklus der ▶ Wiener Théséide (Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 2617). Die 15 großformatigen Bilder untermalen einen Text, der die französische Prosaübersetzung eines Epos von Boccaccio, eine Liebesgeschich-

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Handschriften mit weltlicher Thematik

te um den athenischen Sagenhelden Theseus erzählt, und zwar im Stil einer mittelalterlichen Romanze mit viel Amouren und Leid. Barthélemy schuf nur einige wenige Bilder dieses Zyklus, der Rest stammt von einem gleichfalls überragenden Könner seines Faches, einem Anonymus, den die Forschung nach den Illustrationen in einer Genfer Boccaccio-Handschrift benennt. Mit höchster Bewunderung hat sich dieser Jüngere in der Théséide mit den teils unvollendeten Arbeiten seines Vorgängers auseinandergesetzt und darüber zu seinem eigenen Stil gefunden. Neben den zahlreichen Boccaccio- und Petrarca-Handschriften wurden seit dem Quattrocento vor allem die antiken Originaltexte herausgebracht, in künstlerisch hoch ambitionierter Form für vermögende und humanistisch gebildete Adressaten. Es existierte bald eine hektische Nachfrage nach klassischen Texten, sowohl nach den schon seit dem Mittelalter bekannten, als auch nach den von den Humanisten gerade erst wiederentdeckten. Kunstvoll geschriebene und reich illuminierte Abschriften der Werke lateinischer Autoren, hauptsächlich Vergil, Sueton, Cicero, Livius, Lukan (eine Ausgabe von Lukans De bello civili beziehungsweise Pharsalia ist recht früh schon, 1373, in Bologna mit Miniaturen ausgestattet worden; die Handschrift befindet sich heute in Mailand, Biblioteca Trivulziana, Ms 691) – aber auch griechischer Schriftsteller und Philosophen wie Aristoteles und Homer vermochten den ständig wachsenden Bedarf der Auftraggeber und des Buchhandels kaum noch zu decken. Man darf in diesem Zusammenhang auch den jüdischen Historiker ▶ Flavius Josephus aus Flavius Josephus dem ersten nachchristlichen Jahrhundert nicht vergessen, dessen Jüdische Altertümer ins Lateinische übersetzt und nicht zuletzt deshalb im Abendland bis ins 18. Jahrhundert viel gelesenen wurden: Der französische Tafel- und Buchmaler Jean Fouquet, ein grandioser Regisseur von Massenszenen, hat eine französische Ausgabe, mit deren Illumination bereits ab circa 1405 begonnen worden war, um 1465 mit elf Großminiaturen versehen, die nicht zuletzt aufgrund der Beherrschung außergewöhnlicher perspektivischer Darstellungen faszinieren (Paris, Bibliothèque nationale de France, Ms fr. 247, Ms nouv. fr. 21013 =  2 Bände). Zwei ▶ Aristoteles-Ausgaben seien wegen ihrer Ausnahmestellung hier he- Aristotelesrausgegriffen: Da ist zum einen eine zweibändige Ausgabe, die die Werke die- Ausgaben ses Philosophen vorstellt und kommentiert, herausgebracht in Venedig 1483 (New York, Pierpont Morgan Library, PML 21194 – 21195). Neben der künstlerisch überzeugenden Leistung der Miniatoren besteht die Besonderheit darin, eben diese handgemalten Miniaturen in einen Satzspiegel aus gedruckten Lettern einzufügen. Der zweite Fall betrifft die zehn ganzseitigen Illustrationen einer vor 1500 in Süditalien unter der Leitung des ansonsten kaum bekannten Miniators Regi-

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Buchtypen und ihre Bebilderung

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naldus Piramus erstellten Handschrift mit der Nikomachischen Ethik des Aristoteles. Einige wenige Bilder stammen von einem zweiten, einem anonymen Miniator, der der Paduaner Schule und dem Stil Andrea Mantegnas nahestand. Auf höchstem Niveau kündet somit dieses Aristoteles-Manuskript von dem für Süditalien typischen kulturellen Mischklima, das so manche Blüte der Buchmalerei hervorbrachte. Eine weitere Besonderheit liegt darin, dass der für Andrea Matteo Acquaviva, den gelehrten Herzog von Atri, bestimmte Codex (Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. Phil. Gr. 4) in Griechisch, der Sprache des Aristoteles und folglich nach quellenkundlicher Vorgabe geschrieben ist. Ansonsten aber war Latein die Gelehrtensprache – und jeder, der intellektuelle, und das hieß damals humanistische Bildung für sich in Anspruch nahm, musste Latein mehr oder weniger gut beherrschen. Für Kinder und Jugendliche diente zu diesem Zweck ein Standard-Schulbuch: die Gramatica des Donatus. Ein besonders schönes Exemplar, das sich erhalten hat, wurde vor 1499 vollendas Latein- det, und zwar für ▶ Maximilian Sforza, den Sohn des berühmt-berüchtigten schulbuch Stadttyrannen von Mailand, Ludovico Sforza („il Moro“) (Mailand, Biblioteca für MaximiTrivulziana, Ms 2167). Eingeleitet wird das Lateinschulbuch mit einem Porträt lian Sforza seines Adressaten, einem Bildnis Maximilians. Man schreibt die Miniatur dem bekannten Künstler Ambrogio de Predis zu, der seit spätestens 1482 als Hofmaler in Diensten Ludovico Sforzas stand; Leonardo da Vinci arbeitete 1483 kurze Zeit mit ihm zusammen.

VI. Kunstsoziologische Aspekte

K

unstsoziologische Fragestellungen richten sich auf Kunstformen in ihren gesellschaftlichen Verflechtungen, auf die Rolle, die bestimmte Kunstwerke oder Kunstgattungen im Verständigungsprozess einer Gesellschaft spielen. Man kann solche Zusammenhänge methodisch von den unterschiedlichsten Seiten her betrachten. Bei der Frage nach den sich wandelnden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und ihren Auswirkungen auf das Medium Buchmalerei liegt der Fokus auf den folgenden Aspekten: der sozialen Situierung und ständischen Positionierung der Buchkünstler, der Strategie der Auftraggeber/Mäzene und Sammler und schließlich der Distribution illuminierter Bücher in Sammlungen und Bibliotheken und deren Wertigkeit hinsichtlich des „kulturellen Gedächtnisses“. Die Indizes im Rahmen solcher Fragestellungen können naturgemäß vielfachen Wesens sein. Zum Beispiel kann der bereits an Beispielen erläuterte Sachwert der Handschriften verdeutlichen, dass und wie der „Warencharakter“ der Bücher jeweils in Relation zu ihrem ideellen Wert angesetzt wurde. Der Sachwert war im Frühmittelalter in hohem Maße von Symbolwerten überlagert, eine ökonomische Kategorie, die dann im Spätmittelalter zu einem immer konkreter in Geld fixierten Marktwerk wurde. Dabei stellt sich die Frage, ob die künstlerische Ausstattung mehr der Seite des materiellen (etwa in Form des Materialluxus) oder mehr der des ideellen Wertes (in Form der Materialästhetik und der künstlerischen „Investition“) zuneigte. Hierzu zwei exemplarische Skizzen: „Karl, der fromme König der Franken, befahl, gemeinsam mit Hildegard, seiner erhabenen Gemahlin, dieses außerordentliche Werk zu schreiben“ („Hoc opus eximium Franchorum scribere Carlus/Rex pius, egregia Hildgarda cum coniuge, iussit“). Die zitierten Widmungsverse des von einem gewissen Godescalc geschriebenen Codex rühmen das (in Kapitel I vorgestellte) ▶ Godescalc- GodescalcEvangelistar (vgl. Abb. 2) als außergewöhnliches Werk. Nicht nur der Schreiber, Evangelistar auch Karl der Große, der Auftraggeber, der an gleicher Stelle als „kundig und verständig, eifrig bedacht auf die Kunst der Bücher“ („providus ac sapiens, stu-

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Kunstsoziologische Aspekte

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diosus in arte librorum“) angesprochen wird, muss einen Begriff davon gehabt haben, wie sehr dieses Buch alle älteren liturgischen Handschriften durch seine Ausstattung in den Schatten stellte. Was ist nun unter Karls Augenmerk „auf die Kunst der Bücher“ zu verstehen? Wahrscheinlich das, was wir heute als literarischen Geschmack bezeichnen würden, ferner die Wertschätzung philologischer Sorgfalt und Verständnis für die Ästhetik der Gestaltung von Schrift und Bild sowie Freude an der Erlesenheit der verwendeten Materialien. Also ein Sinn für Kriterien, die auch spätere Auftraggeber an ein „schönes Buch“ anlegten. Erinnert man sich aber der an früherer Stelle zitierten Fortsetzung des Widmungsgedichtes, die das Kolorit und die Silber- und Goldauflagen metaphorisch interpretiert, wird deutlich, welche gedankliche Leistung vom damaligen Rezipienten im Endeffekt erwartet wurde: die Bereitschaft und Fähigkeit nämlich, das vor Augen liegende Buch auch immateriell zu deuten und den Symbolwert als die wichtigere Qualität zu erkennen, gemessen an jedem „bloß“ materiellen Wert. Rund siebenhundert Jahre später: Mit der seit dem 15. Jahrhundert eingeleiteten Verlagerung der burgundischen Hofhaltung wechselweise nach Lille, Brüssel, Gent und Brügge sahen sich die flämischen Buchmaler nicht mehr gezwungen, auswärts – besonders am Pariser Königshof – ihr Auskommen zu suchen. Sie fanden jetzt zuhause beste Verdienstmöglichkeiten. Ja umgekehrt, französische Künstler zog es als Illuminatoren und Miniatoren nach Flandern und Brabant, etwa einen Philippe de Mazerolles. Diese geänderte Marktsituation in der flämischen Buchmalerei trug auch zu einer auffallenden inhaltlichen „Unschärfe“ bei: Die ehedem so präzise auf die unterschiedlichen regionalen Gepflogenheiten reagierenden und damit für die Lokalisierung etwa eines Stundenbuches so aufschlussreichen Varianten in der Formulierung und dem Einsatz der Gebete ersetzte man jetzt durch möglichst neutrale Textformulare (was sich natürlich auch auf die Bildauswahl auswirkte) – sollten doch die Andachtsbücher auf einem weiten Absatzmarkt, über Ländergrenzen hinweg verkauft werden. Der Warencharakter begann, zumindest partiell, über den ideellen Wert und die ihm impliziten Eigenheiten zu dominieren.

Die soziale Position der Künstler Das Privileg der Schreiber Bücher waren ein kostbares Gut, vor allem liturgische Handschriften, fromme Codices jeder Art, waren diese doch identisch mit dem Wort Gottes. Deshalb galt es in Früh- und Hochmittelalter als besonderes Privileg, sie ins Werk

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Die soziale Position der Künstler

zu setzen: „Es ist verdienstlicher“, verkündete ▶ Petrus Venerabilis, von 1122 bis 1155 Abt von Cluny, „seine Hand an die Feder als an den Pflug zu legen, die göttlichen Worte in Zeilen auf die Seiten zu zeichnen als Furchen auf die Felder.“ Das Verdienst bestand also im Schreiben, der Tätigkeit der Skriptoren. Über den spirituellen Nutzen beim Schreiben heiliger Bücher berichtete kurz zuvor auch der Theologe ▶ Ordericus Vitalis: Ein Klosterbruder, der sich unablässig versündigt, sich aber auch unermüdlich der Schreibarbeit hingegeben hatte, stand nach seinem Tod vor dem Angesicht seines Richters; nur die Tatsache, dass er mit größter Sorgfalt Buchstabe an Buchstabe gesetzt hatte, rettete ihn vor der ewigen Verdammnis. Denn mit einem einzigen Buchstaben übertraf er die Zahl seiner Sünden. Deshalb durfte seine Seele für kurze Zeit in ihren Körper zurückkehren, damit der Schreibermönch sein Leben bessere. In einem um 1160/65 in Prüfening bei Regensburg geschriebenen Manuskript der Etymologiae des Isidor von Sevilla (München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 13031) zeigt ein Bild einen Schreiber, der tot im Bett liegt, während ihm der Erzengel Michael die Seelenwaage hält. Ein anderer Engel legt das Buch in die Waagschale, was den Teufel zur Flucht veranlasst – die Seele des Schreibers wird in den Himmel aufgenommen. Unzählige Texte, die Ähnliches berichten, beschreiben die Skriptorentätigkeit im frühen und hohen Mittelalter als frommen Dienst an Gott, war es doch ein langwieriges und alle Kräfte erforderndes Geschäft, einen Text nicht nur fehlerfrei, sondern auch kalligrafisch schön zu reproduzieren. Weil das Schreiben eine so segensreiche Arbeit ist, ranken sich darum immer wieder Legenden. So galten, wie Aethelwulfs Gedicht De Abbatibus aus dem 9. Jahrhundert zu entnehmen ist, die sterblichen Überreste Ultáns, eines irischen Meisters der Schreibkunst, als fast ebenso wundertätig wie die eines Heiligen. Dimma, einem Schreiber im Kloster Roscrea in der Grafschaft Tipperary, habe, so erzählte man sich, der heilige Cronán († 619) für eine Abschrift der Evangelien nur einen Tag zugebilligt. Die erpresste Akkordarbeit konnte nur gelingen, weil vierzig Tage lang die Sonne nicht unterging, bis die Abschrift in einem Zuge fertig war. Etwa zweihundert Jahre nach seiner Entstehung fälschte man Eintragungen in dem aus dem 8. Jahrhundert stammenden Evangeliar, das als ▶ Book of Dimma (Dublin, Trinity College, Ms 59) bekannt ist, und versuchte es dadurch als den von Dimma unter solch wunderbaren Umständen kopierten Band auszugeben. Dass in vielen Darstellungen des Früh- und Hochmittelalters, sei es in Miniaturen, sei es auf Elfenbeinreliefs, der Schreiber motivisch schreibenden Evangelisten ähnelt (vgl. Abb. 8) – mit dem Gänsekiel in der Hand und einem Tintenhorn vor sich auf dem Schreibpult –, demonstriert die ideelle Überlegenheit des Geschriebenen über den bildlichen Inhalt. Gewiss, die Schönheit der

Petrus Venerabilis

Ordericus Vitalis

Book of Dimma

VI.

Laien als Schreiber

Kunstsoziologische Aspekte

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Miniaturen gab eine Vorahnung von überirdischer Schönheit, ohne indes jene Wahrheit für sich beanspruchen zu können, die die scriptura sacra besaß. Vielmehr dienten die Bilder als schöne und instruktive „Hilfsmittel“, als Gedächtnisstütze innerhalb des Textflusses und als einprägsamer Akzent im Kontinuum der Seiten. An vorderster Stelle aber blieb die sakramentale Macht des geschriebenen Wortes. An der Aura, die religiöse Manuskripte in den frühen Epochen erwarben, partizipierten selbst Texte profanen Inhalts. Dass es anfangs Mönche waren, die das Monopol der Buchproduktion innehatten, entspricht dieser „gottesdienstlichen“ Funktion des Schreibens und der Schrift. Es gab natürlich auch historische Gründe, weshalb die Schreibarbeit seit vorkarolingischer Zeit bis zum Hochmittelalter nahezu ausnahmslos in den Mönchskonventen angesiedelt war: Der dortige Bildungsgrad ist hier anzuführen, ebenso die dort vorhandenen materiellen Voraussetzungen für die komplizierte Buchherstellung sowie die Zeit und Muße, sich geduldig dieser Tätigkeit hinzugeben. Nur ganz vereinzelt hat man Laien als Mitarbeiter in die monastischen Skriptorien aufgenommen; zumindest legen das die stilisierte Wiedergabe des Echternacher Skriptoriums in dem zwischen 1039 und 1043 entstandenen Perikopenbuch Heinrichs III. (Bremen, Staats- und Universitätsbibliothek, Cod. b 21, fol. 124v) und vielleicht auch die Miniatur mit den beiden Buchkünstlern in der B-Initiale des um die Mitte des 11. Jahrhunderts illuminierten Werdener Psalters (Berlin, Staatsbibliothek PK, Ms theol. lat. fol. 358, fol. 2r) nahe: Der hinter einem schreibenden Mönch sitzende Mann im Perikopenbuch sowie die beiden im Werdener Manuskript Dargestellten besitzen nämlich keine Tonsur. Der Echternacher ist darüber hinaus an seinem kurzen Rock eindeutig als ▶ Laie zu erkennen. Die ältere Forschung hat diese Personen als Buchmaler und nicht als Schreiber interpretiert, da das Schreiben angeblich ein höheres Maß an Schulbildung als das Malen voraussetzt – Kenntnisse, die eigentlich den Klerikern vorbehalten waren. Diese Schlussfolgerung ist jedoch nicht zu verifizieren, denn Feder und Federmesser in der Hand der Dargestellten konnten einem Buchmaler ebenso hilfreiche Utensilien sein wie einem Schreiber. Seit dem frühen Mittelalter besaßen die Skriptoren ein höheres Prestige als die Miniatoren. Das manifestiert sich nicht zuletzt darin, dass man Schreibersignaturen bereits seit dem 6. Jahrhundert kennt, während Buchmaler weder damals noch später ihre Arbeiten signierten, ja erst 1193 mit einer eigenständigen Berufsbezeichnung, der des Miniators, beurkundet sind. Doch die soziologischen Voraussetzungen änderten sich: Waren die Zentren der Buchkunst bis ins 12. Jahrhundert hinein fast lückenlos identisch mit Klosterwerkstätten, so wurden deren Aufgaben seit dem 13. Jahrhundert Schritt um Schritt von professionellen Laien-Ateliers und spezialisierten kommunalen

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Die soziale Position der Künstler

Werkstätten übernommen (solche sind zwar schon fürs 11. und 12. Jahrhundert in Quellen erwähnt, allerdings nur als höchst sporadische Ausnahmen). Dieser Prozess scheint vor allem vom Paris des beginnenden 13. Jahrhunderts ausgegangen zu sein. Hier zeichnen sich die ersten Schritte einer Differenzierung in die Sparten der Pergamenter, Schreiber, Rubrikatoren und Illustratoren, Buchbinder und Buchhändler ab. Gerade Letztere übernahmen im weiteren Verlauf eine zunehmend wichtige Funktion. Und erneut ist es Paris, von wo besonders zahlreiche Quellen auch für das spätere Mittelalter überliefert sind. Vielfach haben ▶ librarii (franz.: libraires; Buchhändler) die Regie der Buchproduktion übernommen. Die Pergamenthersteller, Kopisten, Vergolder, Illuminatoren, die für sie arbeiteten, waren ihrerseits Subunternehmer, die gar nicht selten unter einem Dach lebten. Hinter der arbeitsteiligen Strategie stand der Wunsch, dem Buchhandel mit gleichbleibender Qualität und stabilen Marktpreisen beste Absatzchancen zu gewährleisten. Folgerichtig kristallisierte sich seit dem 13. und 14. Jahrhundert der Stand der Berufsschreiber heraus. Seine Angehörigen arbeiteten lagenweise und wurden nach Buchlagen („Pecien“) bezahlt. Nach Ausweis überlieferter Zahlungsverträge erhielten sie zumeist ein wesentlich höheres Salär als die Miniatoren. Doch auch das änderte sich, denn im 15. Jahrhundert übernahmen die Miniatoren die führende Rolle innerhalb der Ateliers, die reich illuminierte Codices herstellten. Das Amt des Hofkünstlers hat wesentlich zu solchem Prestigegewinn beigetragen, wie gleich zu zeigen sein wird. Viele Skriptoren mussten sich jetzt plötzlich um ihr Auskommen sorgen. Exemplarisch zeigen neuere Untersuchungen, dass das Schreiben von Büchern im spätgotischen Deutschland kaum noch als Vollberuf ausgeübt wurde, sondern lediglich als befristete Beschäftigung oder als Nebenerwerb für Studenten, Kleriker und einigermaßen gebildete Bürger, die sich selbst mit Literatur versorgen oder etwas Geld verdienen wollten. Skriptoren, die Jahrzehnte hindurch Buch um Buch geschrieben und damit ihren Lebensunterhalt bestritten haben, lassen sich nur noch ausnahmsweise ermitteln. Die allermeisten aus diesem Zeitraum bekannten Namen heften sich an nicht mehr als ein oder zwei Auftragswerke.

Vom Mönchs- zum Berufsminiator Als kurzer einleitender Exkurs sei an dieser Stelle auf die wenigen Frauen eingegangen, die als Buchkünstlerinnen tätig waren. In diesen vereinzelten Fällen handelte es sich häufiger um Schreiberinnen als um Malerinnen. So stand beispielsweise im 8. Jahrhundert Gisela, eine Schwester Karls des Großen, einer florierenden

die Rolle der Buchhändler

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Kunstsoziologische Aspekte

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Schreiberwerkstatt in Chelles vor, die auch für auswärtige Auftraggeber arbeitete. Und 1154 schrieb in einem Elsässer Kloster die Nonne Guta einen Codex (Straßburg, Bibliothèque du Grand Séminaire, Cod. 78), in dem sie sich auf fol. 4r sogar zusammen mit einem Maler als Dedikatorin abbilden ließ. Dass die Quellen in Bezug auf das Spätmittelalter dann mehr Beispiele nennen als für die vorausgehenden Epochen, könnte auch auf eine verbesserte Überlieferungslage zurückzuführen sein. Jean Le Noir ▶ Jean Le Noir war ein hervorragender Buchmaler, der über lange Strecken und seine des 14. Jahrhunderts hinweg unter anderem für Mitglieder der französischen Tochter Königsfamilie arbeitete. Ein Dokument des Jahres 1358 besagt, dass seine Tochter namens Bourgot ebenfalls in diesem Metier tätig war. Damals, so heißt es dort, belohnte der Dauphin Charles (der künftige Karl V.) die beiden, die einige Zeit zuvor in königliche Dienste getreten waren, indem er ihnen ein Haus in Paris, in der Rue Troussevache (heute Rue de la Reynie) schenkte. Wenn sie auch keine großen Karrieren machten, so fanden hin und wieder Frauen ihr Auskommen in Familienwerkstätten. Erinnert sei an eine gewisse Anastasia, die in Paris zur Gilde der Filigrankünstler oder Bordürenspezialisten zählte. Um 1405 wurde die zu ihrer Zeit berühmte Autorin Christine de Pisan auf sie aufmerksam und lobte sie für die Ausführung der champaignes d’histoires, der Hintergründe der ihr anvertrauten Buchminiaturen in höchsten Tönen. Zwei Generationen später erfährt man aus Nürnberg, dass die Nonnen des Dominikanerinnenklosters St. Katharina die Eigenproduktion illuminierter Handschriften um 1470 einstellten und von jetzt an die Arbeiten an städtische Ateliers delegierten. Ebenso wie in vorhergehenden Epochen Mönche die Herstellung von Manuskripten besorgten, wird dies wohl auch des Öfteren in Frauenkonventen der Fall gewesen sein – wie die Nürnberger Verhältnisse nahelegen. Wie für die Schreibarbeiten standen in den großen Klöstern, in denen seit dem späten 10. und im 11. Jahrhundert nicht selten hundert oder mehr Mönche lebten, auch genügend Spezialisten zur Verfügung, um liturgische Texte zu illuminieren. Genau wie für die Skriptorentätigkeit scheinen nur in Ausnahmefällen Laien als Illuminatoren mit herangezogen worden zu sein. Beispielsweise verzeichnen die Fuldaer Totenannalen für das Jahr 979 namentlich zwei Nichtmönche, die offenbar vom Kloster als Buchmaler engagiert worden waren. Wie bereits erwähnt, fand die Buchproduktion seit dem 12. und mehr noch seit dem 13. Jahrhundert vermehrt außerhalb der Klostermauern statt. Nunmehr beteiligten sich an ihr auch Weltgeistliche, Notare, Berufsschreiber, professionelle kommunale Buchmaler jeden Standes, Buchbinder et cetera. Sie alle verstanden sich zunehmend als Künstler, nicht wie vordem die monastischen Spezialisten als Handwerker zur Ehre Gottes. Motiviert war dieser Prozess vor

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Die soziale Position der Künstler

allem durch die Herausbildung einer literaturbeflissenen laikalen Rezipientenschicht – an den Hochschulen, am königlichen Hof, unter den Gebildeten in der Stadt, Wissbegierige und Unterhaltung Suchende, die leidenschaftlich Bücher kauften und sammelten. Seit rund 1200 zogen sie alle nicht nur aus dem Lesen, sondern gleichermaßen aus der Bildbetrachtung moralischen Gewinn. Die vordem als Sünde verschriene voluptas oculorum („Augenlust“) und visuelle curiositas („Neugierde“) wurden zunehmend positiv bewertet. Im Zuge dieser Entwicklung gründeten sich in den größeren Städten bürgerliche Berufsgenossenschaften, die Zünfte, denen sich im 14. Jahrhundert viele Buchmaler anschlossen. Daneben entstanden an Universitäten und Fürstenhöfen neue Fertigungszentren, in denen Bilderangebot und -nachfrage zusammentrafen. Spätestens um 1450 war die ▶ monastische Buchmalerei praktisch in aldas len europäischen Regionen zugunsten der weltlichen Ateliers in den Hinter- Erlöschen monastigrund getreten oder ganz zum Erliegen gekommen. Die Ursachen werden in scher Buchder Forschung kontrovers diskutiert. Ein Hauptgrund könnte darin zu suchen malerei sein, dass die spezialisierte Arbeitsteilung, der rege Austausch künstlerischer Ideen und die Wettbewerbssituation in den bürgerlichen Werkstätten neben der gleichbleibenden handwerklichen Qualität vor allem für eine ikonografische Innovationsbereitschaft sorgten, die den wechselnden Wünschen einer breiter gewordenen Klientel flexibler antwortete. Das im „Herbst des Mittelalters“ (Johan Huizinga) und in der Renaissance rapide Anwachsen der Buchproduktion und die damit einhergehende Kommerzialisierung brachten keineswegs, wie wir bereits anhand zahlreicher Beispiele gesehen haben, die Fertigung bibliophiler Luxusausgaben zum Erliegen. Gerade auf diesem exklusiven Gebiet engagierten sich manche Künstler, die sich bereits als Tafel- beziehungsweise Altarbildmaler einen hohen Ruf erworben hatten, zumal die Buchmalerei im ausgehenden Mittelalter nach wie vor als besonders noble – und gut bezahlte – Kunst galt. Die Durchlässigkeit in den Gattungen manifestierte sich besonders im Italien der Renaissance. Mehr als anderswo betätigten sich hier Tafelmaler und Freskanten auch als Miniatoren. Um nur einige renommierte Namen zu nennen: Pisanello, Fra Angelico, Marco Zoppo, Giovanni di Paolo, Girolamo da Cremona, Lorenzo Monaco. Die Florentiner Gherardo und Monte di Miniato, die vornehmlich als Buchhändler und Miniatoren tradiert sind, vermutlich aber auch die prachtvolle Bibel für den Ungarnkönig Matthias Corvinus illuminierten (Florenz, Biblioteca Medicea-Laurenziana, Plut. 15, 17), gehörten gleichzeitig zur Werkstatt Domenico Ghirlandaios, einer der führenden im Florenz der 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts. Ihr Stil zeigt folgerichtig eine deutliche Verwandtschaft mit Ghirlandaios Tafelbildern und Fresken. Außerhalb Italiens, um auch dafür zwei hochkarätige Beispiele anzuführen, ist an den genialen Niederländer ▶ Jan van Eyck Jan van Eyck

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Oxford als Buchzentrum

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(vgl. Abb. 20) zu erinnern, welcher maßgeblich an den späteren, bis gegen 1420 fertig gestellten Partien des sogenannten Turin-Mailänder Stundenbuches (Turin, Museo Civico d’Arte Antica, Ms 47) beteiligt war. Der vielleicht entfernt mit ihm verwandte Bartélemy d’Eyck (vgl. Abb. 29) hatte ebenfalls Miniaturen und Tafelbilder geschaffen. In Deutschland illuminierte der bekannte Altarbildmaler Stephan Lochner 1451 für eine Kölner Patrizierfamilie ein Gebetbuch mit einer Vollminiatur und 57 wunderbar feinteiligen sogenannten historisierten Initialen, deren Buchstabenkörper als Rahmen für eine Darstellung diente (Darmstadt, Hessische Landes- und Hochschulbibliothek, Hs. 70). Umso erstaunlicher ist es, dass die Buchmaler selbst im 15. Jahrhundert ihre Arbeiten fast nie signierten, zu einem Zeitpunkt also, als die Tafelmaler schon relativ häufig diesen Ausdruck ihres individuellen Künstlerstolzes der Nachwelt hinterließen. Zu den wenigen Ausnahmen gehört der erwähnte Berthold Furtmeyr, der 1471 ein reich illustriertes Exemplar des Alten Testaments (Augsburg, Universitätsbibliothek, Cod. 1.3.2o III u. IV) signierte und datierte sowie 1481 das Salzburger Missale, das auf fol. 83r des letzten Bandes stolz seinen Namen präsentiert. Aufgrund der ansonsten geübten Zurückhaltung bleibt der modernen Wissenschaft oft nichts anderes übrig, als nach ausgiebigen stilistischen „Händescheidungen“ mit sogenannten Notnamen für anonyme Meister zu operieren. Freilich besteht dabei die Gefahr, die beteiligten Hände zu stark zu differenzieren. Neuere Quellenforschung zur niederländischen Buchmalerei des 15. Jahrhunderts reduziert die Beteiligten einer durchschnittlichen Werkstatt auf den Inhaber, einige wenige seiner Familienmitglieder und höchstens einen Gehilfen oder Lehrling. Wie groß auch immer eine Miniatoren-Werkstatt war, sie verzichtete fast immer auf das Signieren ihrer Arbeiten. Dabei wirkte wohl die Tradition nach, den persönlichen Beitrag eines Buchkünstlers dem Gesamtkunstwerk Buch unterzuordnen, statt ihn selbstherrlich in den Vordergrund zu rücken. Zumal die Orientierung an Vorlagen und Mustersammlungen, das Kopieren und Abwandeln älterer Vorbilder mindestens ebenso – in der Frühzeit sogar unvergleichlich stärker – zum Repertoire der Buchmalerei zählte wie avantgardistische Innovationen. Die Ablösung der klösterlichen Buchwerkstätten durch weltliche Kräfte zeitigte nicht nur künstlerische und stilistische Konsequenzen, sondern auch gesellschaftliche und wirtschaftliche. Darauf deuten beispielsweise Quellen hin, denen zufolge in der englischen Stadt ▶ Oxford von den 115 vor 1300 bekannten Anwohnern der Cattle Street mindestens 40 im Buchgewerbe tä-

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tig waren, darunter zahlreiche Malerspezialisten für luxuriöse Editionen. Solche beeindruckenden Zahlen resultieren aus der Funktion der Universitätsstadt Oxford als ausgewiesenem Exportzentrum. Konsequenterweise zeigte sich die Buchmalerei als zunehmend pluralistisches Medium, in Oxford wie in anderen leistungsfähigen Produktionsstätten des europäischen Buchgewerbes.

Hofminiatoren Vielfach waren es die privilegierten Hofkünstler oder die vorrangig für Höfe arbeitenden Maler, die ihre auf kennerschaftliche Exklusivität und auf ungewöhnliche malerische Szenarien bedachten Mäzene mit künstlerisch ausgereiften und oft avantgardistischen Bilderfindungen belieferten. Betrachtet man die Aufnahme von Buchmalern in den Hofdienst, ist zuerst zu klären, was man historisch unter „Höfen“ zu verstehen hat. Norbert Elias (Die höfische Gesellschaft, 1969) hat zu Beginn seiner Untersuchung zur Soziologie des Königtums und der höfischen Aristokratie die europäischen Höfe als „zentrale gesellschaftliche Figurationen einer Staatsgesellschaft“ definiert und den Aufstieg der höfischen Gesellschaft mit „Schüben wachsender Zentralisierung der Staatsgewalt, mit der wachsenden Monopolisierung der entscheidenden Machtquellen jedes Zentralherren, der [...] ‚Steuern‘ [...] und der Militär- und Polizeigewalt“ gleichgesetzt. Eine Formel mit interpretatorischem Spielraum! Formierte beispielsweise bereits die Gruppierung aus Geistlichen, Intellektuellen, Beamten und höherem „Personal“, die Karl der Große an seine wenn auch nicht ständige, so doch gerne aufgesuchte Residenz in Aachen band, einen „Hof “? Es liegt außerhalb der Möglichkeiten des vorliegenden Buches, diese Frage unter geschichtssoziologischem Aspekt zu diskutieren. Kulturgeschichtlich betrachtet, lässt sich feststellen, dass es unter Karl dem Großen eine starke Zentralisierung in Aachen gab und parallel dazu dezentrale, „außerhöfische“ Distributionszentren, und zwar die Klöster des Reichsgebiets. Nicht von ungefähr fasst die Forschung im Kontext der karolingischen Buchmalerei das direkt in Aachen situierte Skriptorium und seine Produktion unter der Bezeichnung ▶ „Hofschule“ zusammen. Enge Kontakte bestanden zwischen diesem Atelier – das Manuskripte wie das bereits besprochene Godescalc-Evangelistar und den ebenfalls schon erwähnten Dagulf-Psalter, ferner das wunderbare Lorscher Evangeliar (Rom, Bibilioteca Apostolica Vaticana, Pal. lat. 50 und Alba Iulia, Biblioteca Documenta Batthyaneum, Nationalbibliothek Bukarest) hervorbrachte – und der berühmten Bibliothek Karls des Großen sowie der Hofkapelle, in der die Geistlichen und Gelehrten um den Kaiser in Diskussionen zusammensaßen. Nur anfangs könnte die Hofschule, wie man neuerdings annimmt, in Worms gearbeitet haben, ehe sie sich seit den Neunzigerjahren des 8. Jahrhunderts in Aachen etablierte. Während die Miniaturen

die Hofschule in Aachen

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Kunstsoziologische Aspekte

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der Hofschule formal zwar auch aus byzantinischen Quellen gespeist sind, daneben aber eine Vielzahl weiterer kunstlandschaftlicher Inspirationen in sich aufgenommen haben, orientierte sich eine zweite „höfische“ Gruppe der im Umfeld Karls entstandenen liturgischen Handschriften (ausschließlich Evangeliare, darunter das Krönungsevangeliar in Wien [vgl. Abb. 3] und das Aachener Schatzkammer-Evangeliar) ausnahmslos am spätantik-byzantinischen Stil. Wahrscheinlich waren die für diese ▶ „Palastschule“ in Dienst genommenen Aachener Palastschule Illuminatoren nicht weniger eng mit Karls Entourage verbunden als die der Hofschule; mit Sicherheit aber kamen sie von auswärts, vermutlich aus Konstantinopel, möglicherweise über die Zwischenstation Italien. Von höfischer Kunst im uneingeschränkten Sinne darf nach Ansicht des Autors jedoch erst seit dem 13. Jahrhundert gesprochen werden. Nach der Mitte dieses Säkulums suchten Fürsten, die bislang für ihren Bedarf hauptsächlich noch die Klosterwerkstätten bemüht hatten, Laienkünstler vertraglich an sich zu binden. In England lässt sich die Position des Hofkünstlers sehr früh beobachten. 1257 ist dort in Hofrechnungen ein Meister „Petro de Ispannia“ als „pictor regis“ („Maler des Königs“) verzeichnet, wohl in fester Anstellung. 1267 wird der Laienkünstler Walter von Durham als „the King’s Painter“ aufgelistet, mit regelmäßigem Einkommen. Weitaus weniger Nachrichten existieren zu dieser Zeit für den französischen Hof. Unter Ludwig IX. erscheint 1254 möglicherweise ein erster hauptamtlich für den König tätiger Baumeister. Doch erst gegen Ende des 13. Jahrhunderts begegnen Berichte über Hofmaler, darunter drei Italiener – wohl ausschließlich Tafelmaler –, aber auch zu einem gewissen Maître Honoré, jenen Quellen zufolge der prominenteste Buchmaler unter König Philipp dem Schönen. Der heute ungleich bekannteJean Pucelle re ▶ Jean Pucelle entwickelte Honorés Stil weiter und bereicherte ihn um die Synthese aus Eleganz und Naturalistik, die er aus Anregungen der italienischen Trecento-Malerei bezog. Die Raffinesse seiner Miniaturen scheint vor allem die Damen des königlichen Hofes angesprochen zu haben. Zu ihnen gehörten die Gemahlin Karls IV., Jeanne d’Evreux, ferner die Herzogin der Normandie, Bonne de Luxembourg, Yolande von Flandern, die Gemahlin Philipps von Navarra, schließlich Jeanne de Bourgogne, Jeanne de Belleville, Blanche de France und Jeanne II., Königin von Navarra. Rund eine Generation später erhielt ein gewisser Girard d’Orléans unter Johann II. 1352 das Amt eines „peintre du Roy“. Unter Karl V. bezog der als „pictor regis“ registrierte Jean de Bondol ein auffallend hohes Salär – mit der Bibel des Jean de Vaudetar (Den Haag, Museum van het Boek/Museum Meermanno-Westreenianum, Ms 10 B 23) hat er 1371 ein herausragendes Stück damaliger Buchmalerei abgeliefert, außerdem entwarf er hochwertige Tapisserien. Für Karl V. und anschließend für Jean Duc de Berry arbeitete auch der vielseitige, besonders als Bildhauer bekannte, zusätzlich je-

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doch auf dem Gebiet der Buchmalerei hervorgetretene André Beauneveu, der 1371 geadelt wurde. Mit einem Psalter für den Herzog von Berry (Paris, Bibliothèque nationale de France, Ms fr. 13091) hat er sein Meisterstück abgeliefert. Neben den erhaltenen Werken geben zahlreiche Inventarverzeichnisse eindeutige Auskunft: Buchmalerei war in ihren Spitzenprodukten Hofkunst und gehorchte den einschlägigen Bedingungen und Möglichkeiten. Der Hof war ein aufregender Umschlagplatz, an dem Fürsten, Günstlinge, Minister, bürgerliche und adelige Räte, Parvenüs, Künstler und Handwerker aufeinander einwirkten und der in verzweigtem Kontakt zu anderen, befreundeten oder konkurrierenden Höfen stand. Angesichts dieses Klimas könnte man vielleicht erwarten, dass Hofkunst und somit auch der Stil der höfischen Miniatoren ausschließlich eine „weltferne“ Stilisierung und aristokratische Typisierung an den Tag legte. Zumal die unmittelbare Nähe, die die Beziehung der Fürsten zu ihren privilegierten Hofmalern beziehungsweise Hofilluminatoren regulierte, die Instrumentalisierung der Bilder als exklusive Zeichen eines erlesenen ▶ Privatgeschmacks vorausder setzte und weiter förderte. Nicht in der Öffentlichkeit, nur unter Standesge- „höfische“ Geschmack nossen wurden die Bilderhandschriften, wenn überhaupt, herumgezeigt. Nur als Geschenk, Mitgift oder Nachlass erreichten sie eine neue, ebenfalls abgeschottete Klientel. In den Sphären höfischer Repräsentation gewannen sie jene Qualitäten, die sie nach künstlerischer Qualität und materiellem Aufwand auszeichneten und in der Tat zu Zeugnissen höfischen Raffinements machten. Das bedeutete aber nicht, dass auch ihre Formensprache jedes Mal extrem stilisiert gewesen wäre. Gerade im 14. und frühen 15. Jahrhundert war das Gegenteil der Fall. Sie bediente sich vielmehr zusätzlich zu ihren hochdekorativen und delikat verfeinerten Elementen jenes Naturalismus, den im ausgehenden 13. und besonders im frühen 14. Jahrhundert Italien als avantgardistische Stilrichtung herausgebildet hatte. Mit dessen Hilfe demonstrierte die höfische Miniaturenmalerei die geschmacklich-ästhetische „Progressivität“ ihrer Auftraggeber – jener Besteller, Käufer und Sammler, die sich ihr Interesse an „Avantgarde“-Intentionen viel kosten ließen. Zu den besagten Neuerungen zählten perspektivische Kompositionen, wirklichkeitsnahe Landschaftshintergründe, frisch erfasste Genreszenen; die Herausforderungen durch den als geradezu extravagant empfundenen Naturalismus kulminierten, wovon noch zu reden sein wird, im Porträtfach. Nicht vergessen werden sollte im Übrigen, dass die Anstellung bei Hofe Ämter und Würden mit sich brachte, die umgekehrt auch auf den Status der Künstler in den Städten, aus denen sie in der Regel herkamen, zurückwirkten. Deshalb bedeutete Hofkunst zumeist auch eine Wechselwirkung zwischen Stadt und Hof: einen Austausch an stilistischen und ikonografischen Experimenten.

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die Brüder Limburg

Johan Maelwael

Kunstsoziologische Aspekte

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Gleichzeitig war der Hofkünstler standesrechtlich befreit, das heißt, er war aller handwerklichen wie sozialen Bestimmungen der städtischen Zünfte und deren Einschränkungen enthoben. Diese betrafen beispielsweise die Anzahl der Lehrlinge und Schüler, die er beschäftigen oder die Preise, die er für seine Arbeiten nehmen durfte. Deshalb nahm für ihn die intendierte „Autonomie“ der Kunst zunehmend Gestalt an. Es bietet sich an, die Arbeitsbedingungen, die Wertschätzung, die künstlerischen Verflechtungen und die von außen herangetragenen Anforderungen der Hofminiatoren am Beispiel jener Künstler näher zu erläutern, die die vermutlich bekanntesten Buchmaler in höfischen Diensten waren, die ▶ Brüder Limburg. Dies bietet sich auch insofern an, als die Nachrichtenlage zu den drei flämischen Brüdern so reichhaltig ist wie anlässlich keines anderen Buchmalers. Paul, Herman und Johan/Jean von Limburg wurden zwischen 1385 und 1390 in Nijmegen, der Hauptstadt des kleinen Herzogtums Geldern an der Maas (in den heutigen Niederlanden) geboren. Herman und Johan waren kaum dreizehn und zehn Jahre alt, als ihre Mutter sie wohl auf Geheiß ihres Onkels nach Paris schickte. Der Onkel ▶ Johan Maelwael war schließlich neuerdings Hofmaler in Dijon und besaß überdies beste Kontakte zu maßgeblichen Kreisen der Île de la Cité, hatte er doch um 1396 selbst in Paris gewohnt und war dort mit heraldischen Arbeiten für Königin Isabeau de Bavière (die Gemahlin König Karls VI.) beschäftigt. Später, 1397, avancierte er zum Hofmaler Philipps des Kühnen von Burgund, des Bruders des Duc de Berry. Er wird seine beiden Neffen in das damals wichtigste Zentrum der europäischen Goldschmiedekunst empfohlen haben. Jedenfalls gingen die zwei Jungen bei einem Goldschmied in Paris in die Lehre. Das Goldschmiedehandwerk vertrug sich nicht schlecht mit der Tätigkeit des Illuminators, für die Herman und Johan später bekannt wurden. Zwischen beiden Berufen gab es zahlreiche Berührungspunkte, wie das Vergolden von Hintergründen und das Pointillieren (Punktieren). Nicht umsonst verzierten die Gebrüder Limburg ihre Manuskripte dort mit Blattgold, wo andere mit dem Pinsel Muschelgold auftrugen. Deshalb konnte auch Paul von Limburg, der von Anfang an und ausschließlich eine Ausbildung als Buchmaler erhalten hatte, in Gemeinschaftsprojekten von den einschlägigen Kenntnissen seiner beiden Brüder profitieren. Wieviel Zeit genau die Limburgs in Paris zubrachten, weiß man nicht. Im Februar 1402 jedenfalls engagierte der Burgunderherzog Philipp der Kühne Johan und Paul als Nachfolger des um diese Zeit verstorbenen Jacquemart de Hesdin, eines exzellenten Buchmalers. Sie stimmten vertraglich zu, exklusiv für ihn als Buchmaler zu arbeiten und eine Bible moralisée zu illustrieren.

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Die soziale Position der Künstler

Nach dem Tod Philipps des Kühnen am 27. April 1404 streckte ein neuer Mäzen seine Fühler nach ihnen aus: ▶ Jean Duc de Berry, der vermutlich 1408 alle drei, Herman, Paul und Johan, in sein Gefolge übernahm. Wohl wissend um ihre künstlerische Ausnahmestellung, überhäufte er sie mit Aufträgen sowie mit Geschenken. Minutiös listen die herzoglichen Inventare diese Gunstbeweise auf: Diamanten, einen goldenen Ring mit einem Smaragd, zahlreiche andere Preziosen, ja im Jahre 1411 ein großes Wohnhaus in Bourges (1434 als eines der stattlichsten in Bourges beschrieben), passend eigentlich für einen adeligen Herrn. Der steile soziale Aufstieg der Hofkünstler und der um sie betriebene Geniekult, wie ihn die italienische Renaissance kennt, scheinen hier vorweggenommen. Das sicherlich ausgefallenste „Geschenk“ freilich war Gillette la Mercière, so der Name eines blutjungen Mädchens aus Bourges. Man schrieb das Jahr 1408. Der Herzog von Berry schreckte nicht einmal vor einer handfesten Affäre zurück, um einem „seiner“ Limburgs einen Gefallen zu erweisen. Er ließ, wie ein Dokument beglaubigt, die neunjährige Gillette auf sein Schloss in Étampes bei Paris entführen. Untergebene baten dringlich um die Freilassung der Kleinen, da der Herzog sie, was unerhört sei, gegen den Willen ihrer Mutter und ihrer Freunde mit einem Hofmaler verheiraten wolle. Alles spricht dafür, dass Paul von Limburg der Betreffende war. 1411, als Paul das genannte Haus in Bourges geschenkt bekam (in das ziemlich sicher seine Brüder mit einzogen), war Gillette la Mercière zwölf Jahre alt und nach damaligem Gesetz heiratsfähig, sodass man sie dem ungefähr vierundzwanzigjährigen Maler aus Nijmegen zur Frau geben konnte. Die Brüder starben 1416, im gleichen Jahr wie der Herzog – möglicherweise während einer Pestepidemie. Das Können der Limburgs stellte alles bisher Dagewesene in den Schatten (vgl. Abb. 23, 26, 27). Oft genug steigerten die drei Künstler die Wiedergabe des Sichtbaren zum revolutionären Formexperiment. Sie waren die ersten, die einen stürmischen Himmel atmosphärisch schilderten. Insbesondere Pauls Können leitet sich von der Tafel- und Wandmalerei, nicht zuletzt der des italienischen Trecento her (er kannte Bilder des Sienesen Simone Martini und vermutlich Malereien Giottos und Altichieros in Florenz sowie in Padua), zusätzlich, wie einige Autoren behaupten, von der Skulptur des eminent wichtigen, in Dijon arbeitenden Bildhauers Claus Sluter. Eine stets spürbare Freude an der schöpferischen Suche durchzieht Pauls umfangreiches Œuvre. Seine Behandlung von Form und Licht erreicht eine beispiellose Meisterschaft. Atemberaubend leuchtende Farben, kräftiges Rot und Blau, kombiniert mit zarten Grün- und Gelbtönen, treten hinzu. Die Miniaturen von Herman sind etwas demonstrativer angelegt und treffen zuweilen einen ins Pathetische gehenden Ton. Eine elegante, lyrisch-zarte Malweise zeichnet dagegen den Stil Jeans aus;

der Herzog von Berry und die Brüder Limburg

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dessen feinfühlige Figuren beeindrucken selbst im kleinsten Format durch die sensibel differenzierte Darstellung der Gesichter. Sie alle aber gehorchten einem internationalen, das heißt auch an den übrigen europäischen Höfen gepflegten Stil: sicherlich eine der wichtigsten Voraussetzungen, um den Anforderungen im Dienst des Duc de Berry gerecht zu werden. Es ist sicher kein Zufall, dass der Duc de Berry, der auch anderen Kunstgattungen mäzenatisch zugewandt war, die wirklich aufsehenerregenden Innovationen fast ausschließlich in der Buchmalerei förderte. In Zusammenarbeit mit Miniatoren, von denen er revolutionäre Neuerungen erwartete, kultivierte er in diesem nur für seine Augen bestimmten Medium einen „modernen“ Kunstgeschmack, der hoch über dem der Konkurrenten lag. die BurgunDie Hauptkonkurrenten des Herrn über das Berry waren die ▶ Burgunderderherzöge herzöge. Diese dehnten ihr Machtgebiet in einem breiten Streifen von der Nordals Mäzene see bis tief nach Frankreich hinein aus. Es umfasste so wohlhabende und traditionsreiche Herzogtümer oder Grafschaften wie Burgund selbst, Franche-Comté, Nevers und Charolais im südlichen Teil, Flandern, Brabant, Hennegau, Artois, Holland, Seeland, Namur, Limburg und Rethel im nördlichen Teil sowie, als territoriale Klammer zwischen Nord und Süd, Luxemburg, vorübergehend auch Lothringen. Heirat, Erbschaft, Kauf und Eroberung waren die Mittel, mit denen Philipp der Kühne († 1404), Johann ohne Furcht († 1419), Philipp der Gute († 1467) und Karl der Kühne († 1477) Schritt für Schritt ihren bunt zusammengewürfelten, aber dennoch ungemein effizienten Reichsverband errichteten. Bald übertrafen die Burgunderherzöge an Reichtum und Macht, an Prunk und Pracht alle anderen europäischen Regenten, vor allem aber die unmittelbar benachbarten, den französischen König auf der einen und den Kaiser auf der anderen Seite, denen sie lehensrechtlich eigentlich unterstellt waren. Die Buchmalerei, die sich an ihren Höfen entfaltete, brachte einen Höhepunkt nach dem anderen hervor. die PatroIn Italien war der Mailänder Hof der ▶ Visconti – auch aufgrund politischer nage der Abhängigkeiten – besonders disponiert für die Rezeption des aristokratischen Visconti Stils der Île-de-France. Folglich entwickelte sich dieser norditalienische Hof zum idealen Nährboden, um die Buchkunst auf einen ihrer Gipfelpunkte zu führen. Die Bibliothek der Visconti, eine der größten Sammlungen in ganz Europa, stand an Umfang und Glanz jenen Sammlungen der Visconti-Verwandten in Frankreich, der Valois, in nichts nach. Und wie die Valois schätzte auch Gian Galeazzo Visconti um 1400 ganz offenbar die Patronage über Buchma-

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Auftraggeber, Sammler und Käufer

lerei wesentlich attraktiver ein als die Förderung der Tafelmalerei – bezeichnenderweise sind aus Mailand keinerlei Tafelbilder aus dem letzten Viertel des 14. Jahrhunderts oder dem ersten Viertel des 15. Jahrhunderts bekannt.

Auftraggeber, Sammler und Käufer Zahlreiche Auftraggeber und Sammler von Manuskripten sowie Förderer von Illuminatoren sind in den bisherigen Kapiteln aufgetaucht, andere werden folgen. Es kann in einem Überblickswerk über Kategorien der Buchmalerei freilich nicht darum gehen, auch nur annähernd alle einschlägigen Namen aufzuzählen. Eine „typologische“ Skizze reicht für meine Zielsetzung aus. In der ersten Hälfte des Mittelalters waren es, wie wir zur Genüge kennengelernt haben, zumeist die Auftraggeber höchsten weltlichen und geistlichen Ranges, die das Kopieren und Verbreiten kostbarer illuminierter Handschriften bestimmten. Daneben entstanden einschlägige Manuskripte auf Initiative leistungsstarker Klostergemeinschaften, größtenteils für den Eigengebrauch; eine Tendenz, die seit den Klosterreformen des späten 11. und frühen 12. Jahrhunderts neuen Auftrieb erhielt. In Stifterbildern ließen sich solche Auftraggeber, vom Kaiser und König bis zum Bischof, zum Abt und zur Äbtissin, gerne in den Handschriften darstellen, meist im Akt der Dedikation, also bei der Widmung des Buches an eine heilige Person. Der Auftraggeber kann allerdings auch der Empfänger des Buches sein, dann ist der Überbringer im Bild identisch mit dem Miniator oder Schreiber.

Aristokratische Bibliophilie Die Patronage im Buchwesen veränderte sich in entscheidenden Punkten, als im späteren Mittelalter und mit der Renaissance der Buchschmuck über seine reine Inhaltskomponente hinaus als ästhetischer Anreiz empfunden wurde und fürstliche Mäzene Bücher immer häufiger ihres Kunstwertes wegen in Auftrag gaben beziehungsweise sammelten. Nicht jedes Mal war der Auftraggeber jedoch identisch mit dem Sammler. Aber ein Herzog von Berry, der Ungarnkönig ▶ Matthias Corvinus, die Herzöge von Mailand und viele andere mehr verMatthias Corvinus einigten in ihren Schatzkammern neben Handschriften, die sie ankauften oder geschenkt erhielten, eben auch eine Fülle von Exemplaren, die sie eigens zu diesem Zweck von den ersten Künstlern ihrer Zeit, von den großen Könnern, die sie nicht selten an ihren Hof berufen hatten, anfertigen ließ. Einen ▶ „Bibliophilen“ definiert man zumeist kurz und bündig als Bücher- Bibliophilie freund, besonders als Sammler von schönen, seltenen oder geschichtlich wertvollen Büchern. Doch was ist ein Sammler? Ein harmlos Besessener, der seine

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Zeit damit zubringt, mehr oder weniger seltene Dinge einzusortieren, Schmetterlinge aufzuspießen, die Wände seines Hauses mit Bildern, mit Büchern zu „tapezieren“? Ein gerissener Spekulant, der mit seltenen Objekten enorme Gewinne macht? Oder der reiche Connaisseur, der erlesene Stücke als Beweis seines exquisiten Geschmacks anhäuft? Dem größten „Sammler“ des Spätmittelalters, dem Duc de Berry, wird man aus heutiger Sicht gerne Letzteres attestieren. Doch dabei ist historisch relativierende Vorsicht angebracht. Denn Jean de Berry sammelte Raritäten und Absonderlichkeiten aus dem Reich der Natur und ebenso – wenn auch in bescheidenerem Maße – antike Gemmen und Kameen, wie sie bereits seit einiger Zeit die Studierstuben italienischer Humanisten und Altertumsfreunde füllten. Kurz: Er sammelte Dinge nach Auswahlkriterien, die sich an Kennerschaft und seriösem wissenschaftlichen Impetus gleichermaßen orientierten wie an Kuriositätensucht. Mit den zahllosen Reliquien, die er zusammentrug, und mit den vielen Andachtsbüchern in seinem Besitz bereicherte er sein Sammler- und Mäzenatentum durchaus auch um eine „spirituelle“ Note. Und alles, was sich da in seinen siebzehn Burgen und Schlössern ansammelte, wurde im Lauf der Zeit mit penibler Sorgfalt registriert: Das älteste der ▶ herzoglichen Inventare wurde vom Schatzmeister erstellt, Jean de Berrys vom Dezember 1401 an bis spätestens Anfang 1403. Dann vergingen zehn JahSammlungen re, bis im Januar 1413 eine aktuelle Inventarisierung erfolgte, die sich durch besondere Sorgfalt auszeichnet und die Herkunft jedes einzelnen Stücks vermerkt. Das dritte Inventar von 1416 stammt vom Sekretär des mittlerweile verstorbenen Herzogs. Aus dem genauen Studium dieser drei Inventare lässt sich eine annähernd präzise Vorstellung gewinnen, wie Jean de Berry seine Kunstsammlungen angelegt und wie er sie zu Lebzeiten verwendet hat. Der Ausdruck „verwendet“ ist berechtigt, weil zahlreiche prominente Stücke, darunter auch kostbare Bücher, eine Rolle bei den üblichen luxuriösen Geschenken zu Neujahr oder zu sonstigen festlichen Anlässen spielten. Auf der anderen Seite erhielt natürlich auch Jean, wie wir wissen, regelmäßig solche Präsente. Sein Neffe, König Karl VI. beispielsweise, schenkte ihm Edelsteine und exquisite Handschriften. Das Interesse seines älteren Bruders, König Karls V., für antike Literatur, das den aus Italien hereinströmenden humanistisch-antiquarischen Wissenschaften entsprang, teilte der Herzog von Berry freilich nicht im gleichen Maße, auch wenn er sich nicht gänzlich davon freimachte. So besaß er wenigstens die allerwichtigsten einschlägigen Schriften in französischen Übersetzungen: Livius und Aristoteles, Valerius Maximus und Ovid, Vegetius und Flavius Josephus. Derartige Standardautoren aus heidnischer Zeit standen in seiner Bibliothek neben den großen Autoritäten des frühchristlichen Schrifttums. Selbstverständlich verfügte Berry über den Gottesstaat des heiligen Augustinus in der französischen Ausgabe von Raoul de Presles und selbstverständlich über

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Auftraggeber, Sammler und Käufer

den Trost der Philosophie von Boethius. Bezeichnenderweise besaß der Herzog zudem, wenigstens zeitweise, zwei frisch illuminierte Prachthandschriften mit den Komödien des Terenz, deren Inhalt ganz andere Lebensbereiche, recht schlüpfrige zumal, umfasste. Die herzogliche Bibliothek beinhaltete sodann historische Werke, Ritterromane, das Reisebuch von Marco Polo und andere „exotische“ Reiseliteratur. Alles übertrumpften indes die religiösen Werke, vor allem die Gebetbücher, deren wertvollste edelsteinbesetzte (längst verlorengegangene) Buchdeckel aufwiesen. Der Herzog besaß vierzehn Bibeln, sechzehn Psalter, siebzehn Breviere, sechs Messbücher und fünfzehn Stundenbücher. Von Letzteren haben sechs die Zeitläufe überdauert. Mit seinem Bruder Philipp dem Kühnen von Burgund und dessen Sohn Johann ohne Furcht wetteiferte der Duc de Berry außerdem darin, Schriften der aktuellen „Bestsellerautorin“ ▶ Christine de Pisan und Übersetzungen von Boccaccios Werken zu erhalten. Beide Herzoghäuser besaßen, um nur diese Beispiele zu nennen, gleichartige Abschriften von Boccaccios De claris mulieribus (Berühmte Frauen), von dessen De casis (Über die Wechselfälle des Lebens) und von dessen erotischem Skandalon des Decameron – ebenso wie von der Cité de dames (Stadt der Frauen) der erwähnten, in Paris lebenden und schreibenden Christine aus Pisa. Zwar konnte sich die Bibliothek des Duc de Berry quantitativ nicht mit den rund tausend Bänden seines Onkels, König Karls V., messen, wohl aber übertraf sie sie hinsichtlich der illustren Schönheit und an künstlerischem Rang. Von annähernd dreihundert einst vorhandenen Manuskripten blieben etwa hundert erhalten.

Anonyme Käufer Im 13. Jahrhundert vermehrte sich die Zahl handlicher, sogar extrem kleiner Buchformate. Es entstanden beispielsweise die kleinsten Bibelmanuskripte, die die Geschichte dieses Buchtyps kennt: oft weniger als 10 Zentimeter hoch! Den Anstoß gab in den Zwanzigerjahren die Pariser Universität, die zu Studienzwecken eine Neuedition der kompletten Heiligen Schrift in einem einzigen Band und im Taschenformat herstellen ließ. Die minutiöse Ausstattung hatte sich in Schrift und Bild den minimierten Dimensionen anzupassen. Der Wunsch von Professoren und Studenten nach Büchern für theologische und weltliche Studienzwecke, seit dem 14. Jahrhundert dann auch das Verlangen humanistisch interessierter Privatgelehrter rief seitens dieser zumeist anonym gebliebenen Käuferschicht eine wachsende Nachfrage nach kosten-

Christine de Pisan

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günstigen Büchern hervor. All das ist zu selbstverständlich, als dass es weiter ausgeführt werden müsste. Dagegen ist eine andere Zeiterscheinung bezüglich ihrer Konsequenzen für den Buch- und Bildergebrauch etwas genauer zu analysieren, nämlich die spätmittelalterliche Laienfrömmigkeit. Bereits die um 1260 in Magdeburg entstandene Version der Rechtssammlung des Sachsenspiegels trug der Tatsache Rechnung, dass unter den seinerzeiFrauen und tigen Laien wesentlich mehr ▶ Frauen Bücher für ihr Seelenheil benutzten als fromme Männer. Der Traktat teilt die religiösen Bücher, die im Todesfall zu vererben Bücher sind, vor allem die Psalterien, deshalb ausschließlich den Frauen zu. Symptomatisch für den geistig intimeren Kontakt zwischen frommen BuchLaienregeln inhalten und Leser(inne)n sind die sogenannten ▶ Laienregeln des fortschreitenden 15. Jahrhunderts, die sich an das mittlerweile schon etablierte Lesepublikum richteten. Viele von ihnen gingen von einem selbständig-kritischen Leser aus, der sich auch mit einer „materia difficillime“, einem „komplizierten Stoff “, beschäftigen könne und solle, demnach auch mit grundlegender geistlicher Literatur. Da überdies nach zeitgenössischer Doktrin der Gesichtssinn dem Gehör überlegen sei, lerne es sich „ex libris“ („aus den Büchern“) besser als aus Predigten. Auch die Art und Weise, wie man mit dem Text umgehen solle, wird beschrieben: Am Anfang steht die Konzentration auf die Worte, also auf den buchstäblichen Sinn, dann richtet sich das Interesse auf den Sinn der Worte, also auf Zusammenhänge und allegorische Felder, schließlich auf die geistig-geistliche Nutzanwendung. Eine zusätzliche Regieanweisung jener Laienregeln resultiert aus antiken Poetik- und Rhetoriklehren. Lektüre habe demzufolge zu erfreuen und zu nützen, sie solle aber auch emotional berühren. Dieser Dreischritt trifft sich nun genau mit der Wirkungsweise, die man das spätere Mittelalter hindurch den Bildern zuschrieb: Man kann sich an Miniaturen, historisierten Initialen und Ähnlichem erfreuen, da sie über ihre schöne Erscheinung hinaus – selbst billigere Buchausgaben konnten ja ästhetische Qualität in Schrift und Bild aufweisen – auf transzendenten Gehalt hinweisen und in der sinnlichen Vergegenwärtigung den Betrachter zur intensiven Gefühlsteilnahme verleiten. Die skizzierte Entwicklung beinhaltet vielleicht auch eine Antwort auf die Frage, weshalb unter den Büchern, die im ausgehenden Mittelalter noch von Hand geschrieben und illuminiert wurden, gerade die ▶ privaten Andachtsprivate Andachtsbücher, Luxusausgaben für die Aristokratie ebenso wie Editionen, die für die bücher Mittelschicht erschwinglich waren, die mit Abstand umfangreichste Einzelkategorie bilden. Dieser Sachverhalt erstaunt ja nicht zuletzt deswegen, weil inzwischen gedruckte Andachtsbücher eine Alternative boten, in relativ billigen und reich mit Holzschnitten illustrierten Ausgaben erhältlich. Doch ein Andachtsbuch diente eben nicht, zumindest nicht in erster Linie, der Textüberlieferung

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Die Distribution der illuminierten Handschriften

oder der Wissensvermittlung. Der Benutzer bedurfte keiner logisch fortschreitenden Information seitens des Textes: Die Gebete, mit denen man innig vertraut war, wurden im Prinzip nur zur Gedächtnisstütze schriftlich fixiert. Auch die Miniaturen dienten weniger der Illustration eines im Text genannten Sachverhaltes, sie hatten vielmehr, im Sinne der erwähnten Laienregeln, die Funktion von eigenwertigen Andachtsbildern, die vom Text unabhängig zu betrachten waren und emotional berühren sollten. Für das Medium des Buches aber, dessen Bilder eine dem Text an Bedeutung annähernd gleichgewichtige Funktion besaßen oder ihm gegenüber sogar dominant waren, konnte der Buchdruck keine adäquate Lösung bieten. Für Gebetbücher, die ihren Besitzer, welchen Standes auch immer, sein Leben hindurch begleiteten, in die er die Geburt seiner Kinder eintrug und deren Illustrationen ihn Tag um Tag zur frommen Betrachtung und geistigen Besinnung anleiteten, wurde bewusst auf die alte Tradition der individuellen Fertigung und der kostbaren Ausstattung zurückgegriffen. Außerdem erlaubten illustrierte Manuskripte, anders als die in Menge reproduzierten Druckerzeugnisse, in Text und Bild eine herstellungstechnisch bedingte Normierung zu vermeiden und auf individuelle Sonderwünsche wie die Akzentuierung bestimmter Heiliger oder intimer Gebetsinhalte einzugehen. Zeitgenössische Bibliophile und nicht zuletzt spätere Sammler sicherten im Fortgang der Jahrhunderte das Überleben alter Handschriften, indem sie sie nicht nur zusammentrugen, sondern oft genug auch restaurieren und konservieren ließen und an die großen Bibliotheken der Neuzeit vererbten, verschenkten oder verkauften.

Die Distribution der illuminierten Handschriften Um 1170 schrieb der Kanonikus Gottfried von Sainte-Berbe-en-Auge, und er stand mit dieser Meinung unter Zeitgenossen keineswegs allein: „Ein Kloster ohne Bibliothek ist gleichsam wie eine Burg ohne Waffenkammer.“ Gut dreihundert Jahre später meinte Jakob Louber, der Prior des Karthäuserkonvents in Basel: „Ein Kloster ohne Bücher ist wie ein Staat ohne Truppen, wie ein Kastell ohne Mauern, wie eine Küche ohne Hausrat, wie ein Tisch ohne Speisen, wie ein Garten ohne Kräuter, wie eine Wiese ohne Blumen, wie ein Baum ohne Blätter.“ 1237 wird aus Kloster Vorau in der Steiermark berichtet, dass die Bibliothek in Flammen aufging und Abt Bernhard II. Buch um Buch aus dem Fenster warf, bis er selbst im Feuer starb. Er opferte sein Leben, um unersetzliche Handschriften der Nachwelt zu retten. Man sieht heute noch ihre ange-

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Kunstsoziologische Aspekte

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sengten Ränder. War dieser Geistliche bibliophil, biblioman – oder verrückt? Rettete er nur das Wort Gottes oder auch die Schönheit der Miniaturen, mit der sich dieses schmückte? Reagierte er nicht auch gleich einem obsessiven Sammler, der das mühsam Zusammengetragene um jeden Preis bewahren will?

Bibliotheken: Aspekte ihrer Geschichte

Bibliotheksverzeichnisse im Karolingerreich

die Armaria

Zwar ist es nicht eindeutig dokumentiert, doch weisen verschiedene Indizien darauf hin, dass es spätestens mit dem dritten Jahrzehnt des 9. Jahrhunderts zu der Übereinkunft zwischen den Vorstehern der großen Abteien im Karolingerreich kam, die Bestände der teilweise schon sehr umfangreichen ▶ Bibliotheken genau zu erfassen, um die entsprechenden Verzeichnisse auch anderen Klöstern zugänglich zu machen. Die Reihe der erhaltenen Buchkataloge aus ostfränkischen Niederlassungen setzt mit dem Brevis librorum der Reichenau aus dem Jahr 822 ein; in St. Gallen sowie in Fulda und im elsässischen Kloster Murbach erfolgte die Inventarisierung um einiges später. Vor diesem Hintergrund sticht die Arbeit der Lorscher Bibliothekare besonders hervor, ist doch der Umfang ihrer Katalogisierung samt einer oft seitenlangen Beschreibung einzelner Codices im 9. Jahrhundert einzigartig: Über 500 Bände sind als Eigentum notiert, die im gesonderten Bibliotheksraum (lat.: armarium), ferner in Kirche und Sakristei sowie in der Klosterschule verwahrt wurden. Diese und andere Quellen vermitteln ein klares Bild davon, wie im Frühund Hochmittelalter Bücher in Konventen aufbewahrt wurden. Die kostbarsten von ihnen sind in den dortigen Schatzverzeichnissen geführt: Sie leichtfertig aus den Klostermauern zu entfernen, wurde in der Regel mit Strafe belegt; nur in seltenen und genau überprüften Fällen haben verantwortungsvolle Äbte und Prioren derartige Codices zum Kopieren an andere Abteien verliehen. Als Bestandteile des thesaurus, des Kirchenschatzes, waren ihr angestammter Aufbewahrungsort zumeist eine klostereigene Schatzkammer oder Schränke, eben die ▶ armaria, in der Sakristei. Aufgrund ihres Status als Schatzobjekte wurden kostbare Handschriften von strengen Reformorden wie den Zisterziensern sowie von den Bettelorden oft als eitler Luxus verurteilt. Im 13. Jahrhundert sprach Guilelmus Peraldus, Dominikaner und dann Bischof von Lyon, von der „superbia librorum“, dem „Hochmut der Bücher“, ihren goldenen und silbernen Buchstaben, ihrer preziösen Ausstattung, die die wahre Schönheit, nämlich die des Wortes Gottes, nur verdecke. Und der portugiesische Bischof Alvarus Pelagius geißelte im folgenden Jahrhundert die monastische Besitzgier nach wertvollen Büchern, jenen vergoldeten und mit farbenfrohen Miniaturen versehenen Codices, eingebunden mit seidenen Tüchern und Silber. Je mehr solcher Prachtausgaben Mönche und Geistliche hätten, desto weniger wüssten sie, da ihnen, wie man

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Die Distribution der illuminierten Handschriften

interpretieren darf, der literale Sinn im Vergleich zur voluptas oculorum, zur „Augenlust“, nichts mehr gelte. Die Kritik des Pelagius beinhaltet ferner deutliche Hinweise darauf, dass manches Kloster inzwischen einen lukrativen Handel, ja richtiggehende Exportgeschäfte mit Buchpreziosen trieb, in Konkurrenz zum profanen Büchermarkt. Das Einverleiben kostbar geschmückter Bücher in Kloster- und Kirchenschätze findet sein Parallelphänomen in hochherrschaftlichen Bibliotheken, deren libri honesti („ehrenvollste, geschätzteste Bände“) Bestandteil des fürstlichen thesaurus waren. Wie andere Schatzobjekte auch konnten sie in die „fürstliche Geschenkpolitik“, sei es gegenüber Kirchen, sei es gegenüber den feudalen Standesgenossen, einbezogen werden. Auch dafür existieren frühe Zeugnisse. So gibt es Nachrichten über eine umfangreiche Bibliothek an der Aachener Residenz Karls des Großen. Gottfried von Viterbo berichtet von der reichen Bibliothek Kaiser Friedrichs I. Barbarossa in dessen Pfalz im elsässischen Hagenau (1677 zerstört). Der Saal war ausgemalt mit historischen Themen, die Bücherkästen füllten Werke der renommiertesten antiken und christlichen Autoren, Theologen, Philosophen, Naturwissenschaftler. Solche Bibliotheken galten damals und späterhin als Auszeichnungen eines fürstlichen Regiments. Zwar war die Bestätigung fürstlicher Noblesse nicht das einzige Ziel beim Zusammentragen kostbarer Ausgaben, aber eben eine zusätzliche starke Motivation. Sie schuf Familientraditionen, etwa die schon mehrfach zitierte im Hause Valois: Spätestens Johann der Gute, von 1350 bis 1364 König von Frankreich, und seine Gemahlin Bonne von Luxemburg, also die Eltern des Duc de Berry, hatten sie begründet. Der Nachfolger auf dem Thron, ▶ Karl V., Jean Duc de Berrys Bruder, verstand es, bis zum Ende seiner Regierungszeit im Jahr 1380 mit rund 1000 Bänden die umfangreichste Fürstenbibliothek der Zeit aufzubauen. Jean de Berry selbst besaß am Ende seines Lebens fast 300 Bände, darunter die schönsten, die jemals in Europa entstanden. Auch sein jüngerer Bruder, Philipp der Gute von Burgund, hatte immerhin noch rund 200 Handschriften in seinem Besitz. Selbst ihre Schwester Isabella muss in diesem Zusammenhang genannt werden, spielte sie doch als Gattin des Herzogs ▶ Gian Galeazzo Visconti eine wichtige Rolle bei der Gründung und beim Ausbau der erlesenen Bibliotheken in Mailand und Pavia. Seit etwa 1380 stieg bekanntlich Mailand unter der Herrschaft des Gian Galeazzo Visconti und seiner Nachfolger zu einem Zentrum der Handschriftenproduktion auf: Folgerichtig entstand hier zwischen etwa 1390 und nach 1428 etappenweise mit dem ▶ Stundenbuch der Visconti (Florenz, Biblioteca Nazionale, Mss. Banco rari 397 und Landau Finaly, Ms 22 = 2 Bände) ein Werk, das aufgrund seiner überbordenden Dekorationslust und mit der Fülle lebhaft schildernder naturalistischer Szenerien als das schönste dieser Gattung in Italien gilt. Die im Kastell von Pavia installierte Visconti-Bibliothek wuchs und wuchs – ein

Bibliothek König Karls V.

Gian Galeazzo Visconti

ViscontiStundenbuch

VI.

Kunstsoziologische Aspekte

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Inventar aus dem Jahr 1426 listet bereits 988 Titel auf. 1499, unter den nunmehrigen Stadtherren, den Sforza, waren es weit über 1000 Bände, die wenig später der französische König Ludwig XII. größtenteils nach Schloss Blois verschleppen ließ (deshalb sind heute über 380 Bände der einstigen Visconti-Bibliothek in der Bibliothèque nationale de France in Paris wiederzufinden). In vorliegendem Zusammenhang ist auch nochmals der ungarische König Matthias Corvinus zu erwähnen: Mit seiner auf Schloss Buda zusammengetragenen Bibliothek – mit circa 3000, großenteils wunderbar illuminierten und prächtig gebundenen Bänden – vermochte gegen 1490 keine andere europäische Kollektion auch nur annähernd zu konkurrieren. Die Grenzen zwischen bibliophilen Objekten einer Schatzkammer und einer Studienbibliothek waren in den genannten Fällen freilich längst durchlässig geworden. ▶ Studienbibliotheken waren freilich keine höfische Errungenschaft. Studienbibliotheken Es war der Wissenschaftsbetrieb der Universitäten gewesen, der beginnend in Frankreich und Italien im 12. und 13. Jahrhundert den Typus der Studienbibliothek förderte: Räume oder Säle mit zahlreichen Pulten, auf denen die wichtigsten Bücher auflagen. Ab und zu zeigt noch heute der Holzdeckel mittelalterlicher Bücher im oberen Segment, und zwar in Randnähe, ein Loch, um das herum Rost abgelagert ist. Hier war ursprünglich die Eisenkette angebracht, mit der die geistlichen oder weltlichen Bibliothekare die schweren Manuskripte, die sogenannten libri catenati („Kettenbücher“) am offenen Lesepult oder Büchergestell befestigt hatten. Andere, das heißt ausleihfähige Bücher wurden in Nebenräumen, in Schränken aufbewahrt. Daraus erklärt sich der Ausdruck armarium, der ebenso häufig wie bibliot(h)eca für derartige Buchbestände begegnet. Die Bezeichnung libreria ist im Allgemeinen erst seit dem 14. und 15. Jahrhundert anzutreffen. Es ist hier nicht der Ort, eine Geschichte all jener Bibliotheken vorzulegen, die bis zum heutigen Tag das Gros illuminierter Handschriften beherbergen. Nur einige wenige besonders interessante Beispiele sollen die Bedeutung der Bibliotheken für das „kulturelle Gedächtnis“ des Abendlandes verdeutlichen, und zwar die Palatina in Heidelberg, die Humanistenbibliotheken in Florenz, die Vaticana in Rom, die Bibliothèque Royale in Brüssel und die Bayerische Staatsbibliothek in München. Eine Geschichte der Bibliotheken unter dem Aspekt der illuminierten Handschriften müsste hingegen weitere Institutionen vorstellen, so die Bibliothèque nationale de France in Paris, die British Library in London, die Österreichische Nationalbibliothek in Wien, die Pierpont Morgan Library in New York, die Trinity College Library in Dublin et cetera. die Heidel▶ „Mutter aller Bibliotheken“ hatte man im 17. Jahrhundert die Bücherberger schätze auf den Emporen der Heidelberger Heiliggeistkirche genannt; hinzu Palatina kamen vor Ort die Codices aus dem Schloss des Pfalzgrafen Ottheinrich und

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Die Distribution der illuminierten Handschriften

seiner Nachfolger sowie etliche Folianten der Universitätsbibliothek. 1466 als gemeinsamer Bestand katalogisiert, war die Sammelbezeichnung „Palatina“ zum Mythos im Munde europäischer Bibliophiler geworden. Als in Deutschland dann die Religionskämpfe 1618 in den Dreißigjährigen Krieg mündeten, machte sich die Kurpfalz zum Anführer der evangelischen Union und trat dem Protagonisten der katholischen Liga, Herzog Maximilian von Bayern, entgegen. Letzterer blieb dank der finanziellen Unterstützung der römischen Kurie Sieger. Als Gegenleistung forderte der Papst den Buchbestand der Heidelberger Palatina für den Vatikan. Er wünsche die Bücher, schrieb Gregor XV. an Maximilian, als „Denkmal der Unterdrückung der Häresie“, das dem rechten Glauben helfen werde. Die Protestanten sollten nicht weiter über das gelehrte Instrumentarium verfügen, das sie zur „Unterdrückung der Wahrheit verwenden könnten“. Maximilian kam diesem Ansinnen eilfertigst nach. In 184 Bücherkisten wurde der Großteil der Heidelberger Bibliothek über die Alpen transportiert und den vatikanischen Beständen einverleibt. Im Italien des Quattrocento gründeten mehr oder weniger bedeutende Landesfürsten, nicht zuletzt aber auch wohlhabende Kaufleute wie Francesco Sassetti, ein Teilhaber der Florentiner Medici-Bank, oder Filippo Strozzi, ferner humanistische Gelehrte eine große Zahl von Privatbibliotheken. Wie eine ▶ Humanistenbibliothek in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts Humanistenaussah, lässt sich noch heute der Bibliothek von San Marco in Florenz, um 1444 bibliotheken von Cosimo de’ Medici gestiftet, oder der ab 1447 erbauten Malatesta-Bibliothek in Cesena ablesen. Beide Bibliotheken bestehen aus einem großen, hellen Saal, durch Stützen in drei Schiffe geteilt und mit Pulten ausstaffiert, auf denen die kostbaren Bücher lagen. Die Biblioteca Malatestiana in Cesena ist die vollständigste der noch erhaltenen Renaissance-Bibliotheken. Die Handschriften blieben wie durch ein Wunder als komplette Sammlung erhalten. In Florenz fanden in der Nähe der Badia und des Palazzo del Podestà (Bargello) seit etwa 1400 eine Reihe von Cartolai (Buchhändler) ihr Auskommen, die nicht nur die wichtigsten Humanistenhandschriften anboten, sondern auch nach Auftrag kopieren lassen konnten. Um 1440 hatte sich für die Illumination dieser Codices, die auf feinstem Ziegenpergament geschrieben waren, ein luxuriöser Stil herausgebildet. Das Ganze hatte natürlich seinen Preis: Ein etwas aufwendiger gestalteter Codex kostete mindestens 50 Florin (Golddukaten), in der Prachthandschrift von Dantes Divina Commedia, 1477 – 1482 für Federico da Montefeltro produziert (Rom, Biblioteca Apostolica Vaticana, Urb. lat. 365), kosteten allein die Miniaturen 310 Dukaten. Zum Vergleich: Die Ladenmiete betrug pro Jahr 15 Florin für den Cartolaio, ein guter Miniator verdiente im Jahr etwa 60 Florin. Der wichtigste der Florentiner Buchhändler war zweifellos Vespasiano da Bisticci. Besonders stolz war dieser auf seine Kontakte zu Federico da Monte-

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Kunstsoziologische Aspekte

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feltro, den Herzog von Urbino, für dessen Sammlung – heute in der Biblioteca Vaticana – er maßgeblich tätig war. Bekannt ist Vespasianos Bemerkung, alle Bücher des Herzogs in Urbino seien handgeschrieben, da dieser sich geschämt habe, ein gedrucktes Buch zu besitzen. Dass die Florentiner Bibliothek von San Marco als eine der ersten öffentlich zugänglichen Bibliotheken firmierte, war vielleicht ein Stimulus für den von Bisticci so gerühmten Federico da Montefeltro, die eigene Bibliothek im Palast von Urbino einem gelehrten Adressatenkreis zu öffnen. Ebenso war die große Bibliothek des Herzogs Borso d’Este in Ferrara seit der Neuinventarisierung im Jahre 1467 für Doctores und Interessierte zugänglich, die Bücher sogar ausleihen durften. Seit dem 4. und 5. Jahrhundert war ein neuer kirchlicher Brennpunkt in Rom entstanden, St. Peter und der Vatikan, wobei Letzterer auch die kurialen Manuskripte beherbergte. Das 6. Jahrhundert verzeichnet wichtige organisatorische Neuerungen, nicht zuletzt das Amt des Primicerius Notariorum, eines päpstlichen Staatssekretärs, der über umfangreiches bibliographisches Wissen verfügen musste. Gegen Ende des 8. Jahrhunderts wurde erstmals ein vatikanischer Bibliothekar ernannt, der gleichzeitig die Aufgaben eines Kanzlers übernahm. In eben jenem Jahrhundert gingen aus unbekannten Gründen die vatikanischen Pergamente zugrunde, der Aufbau einer neuen Sammlung folgte. Deren späteres Schicksal war geprägt von einem ständigen Auf und Ab, von Verlusten, Neuerwerbungen, politisch bedingten Ortswechseln der libreria, mal nach Perugia, mal nach Assisi und im 14. Jahrhundert nach Avignon, in die damalige Papstresidenz. Die Zusammensetzung der im ▶ Vatikan untergebrachten Bibliothek des ersVatikanische Bibliothek ten Humanisten auf dem Papstthron, Nikolaus V., ist leider nicht überliefert. Sie dürfte zahlreiche griechische Bände enthalten haben, denn Nikolaus V. hatte solche aus der kaiserlichen Bibliothek am Bosporus retten lassen, nachdem Konstantinopel 1453 in die Hände der Türken gefallen war. Papst ▶ Papst Sixtus IV. vollendete unmittelbar nach seiner Wahl 1471 mit der EinSixtus IV. richtung einer großen öffentlichen Bibliothek das Projekt seines Vorgängers Nikolaus’ V. Er stattete die Institution mit eigenem Sitz und reichlich Geldern aus. Der Humanist Bartolomeo Sacchi, genannt ▶ Platina, wurde zur Neuordder Bibliothekar nung des Bücherschatzes, der bis dato an verschiedenen Stellen des VatikanPlatina palastes aufbewahrt wurde, von Mantua nach Rom geholt. Sixtus öffnete die Bibliothek, mit nunmehr 2524 Titeln – laut dem von Platina aufgestellten Inventar – für Gelehrte, und dies in einem eigens errichteten Gebäude. Seit 1481 trugen vier neue Räume (genannt die Griechische und die Lateinische Bibliothek, die Geheimbibliothek und die Päpstliche Bibliothek) den angewachsenen Bücherbergen Rechnung. Als auch das nicht mehr ausreichte, beauftragte 1587

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Die Distribution der illuminierten Handschriften

Papst Sixtus V. den Spätrenaissance-Architekten Domenico Fontana mit dem Entwurf für ein komplett neues Bücherdomizil, nämlich für den opulent freskierten, 70 Meter langen und 15 Meter breiten Salone Sistino. Die Vaticana ist mittlerweile eine der wertvollsten Bibliotheken der Welt, konnte sie sich doch immer wieder grandiose Büchersammlungen einverleiben, so, wie oben erörtert, 1623 die „Palatina“ oder 1689 den Bücherbesitz der in Rom lebenden abgedankten Königin Christina von Schweden. Heute verfügt die Vaticana über mehr als zwei Millionen Bücher. Dazu zählen 100 000 Originaltexte, 70 000 Handschriften, 7000 Inkunabeln (Zeugnisse des Buchdrucks aus dessen Frühzeit bis circa 1500), 100 000 historische Karten und Stiche sowie 200 000 Autographen. Der Bibliothek angeschlossen ist eine Schule, die Bibliothekare für den Heiligen Stuhl ausbildet, ferner ein Laboratorium für die Restaurierung und Faksimilierung von Handschriften. Das aktuelle Bibliotheksgebäude der ▶ Bibliothèque Royale in Brüssel wurde Bibliothèque Royale in zwischen 1954 und 1969 erbaut. Mit ihren beeindruckenden Beständen firmiert Brüssel die Institution als Nationalbibliothek des Königreichs Belgien. Die Sammlungsgeschichte der Handschriften, von denen zahlreiche bereits erwähnt wurden, reicht ins 15. Jahrhundert zurück, als Flandern (heute Belgien) zum Burgunderreich gehörte. Die Bücherbestände Philipps des Guten, des dritten Herzogs von Burgund, waren noch nicht in einem eigenen Gebäude aufbewahrt. Beim Tod seines Vaters 1419 hatte Philipp 245 im Herzogspalast zu Dijon verwahrte Bände geerbt. Philipp fügte diesem erlesenen Grundstock zahlreiche Neuerwerbungen hinzu. Nicht zuletzt interessierten ihn Ausgaben zeitgenössischer Literatur und moderne wissenschaftliche Werke. Seit circa 1445 lässt sich ein Geschmackswandel konstatieren, da Philipp von da an vor allem Übersetzungen lateinischer Schriften in die Volkssprache oder auch Prosaübertragungen alter, in Versform gehaltener Epen und Romane bevorzugte, ferner Historien, Chroniken und Adaptionen beliebter Rittergeschichten. Philipps Bücherkollektion unterlag keiner edukativen Absicht und war, bis auf wenige Ausnahmen, den Höflingen unzugänglich. Einzig und allein dem Vergnügen Philipps, gelegentlich auch seinem Wissensdrang, hatten die prächtigen Codices zu dienen. Obwohl die Quellen einen „Bücherturm“ in Dijon erwähnen, geht die Forschung davon aus, dass in keiner der burgundischen Residenzen ein dezidierter Bibliotheksraum existierte. Wahrscheinlich hat man die Manuskripte an mehreren Orten in Schränken untergebracht. Ein nach Philipps Tod angelegtes Inventar listete 876 Bände auf. Keine für damalige Zeit sonderlich hohe Zahl zwar, aber eine, hinter der sich eine beträchtliche Menge von

VI.

Kunstsoziologische Aspekte

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Meisterwerken verbarg. 1477 gingen die burgundischen Bücherschätze als Heiratsgut an die Habsburger über. Der spanische König Philipp II. ließ sie 1559 in Brüssel vereinen. Zu den burgundischen Codices kamen noch zwei weitere Sammlungen hinzu, nämlich die Margaretes von Österreich, der Statthalterin der Niederlande im ersten Drittel des 16. Jahrhunderts, und die ihrer Nichte und Nachfolgerin, Maria von Ungarn. Seit 1559 befanden sich alle Handschriften im Brüsseler Coudenbergpalais, das nunmehr zur Königlichen Bibliothek avancierte. Als in der Nacht vom 3. zum 4. Februar 1731 besagtes Palais einem Brand zum Opfer fiel, konnte glücklicherweise ein Großteil der Bücher gerettet werden. Während der ▶ Besetzung Brüssels durch die französische Soldateska Plünderungen der 1746 wurden Teile der Sammlung nach Paris verschleppt, die man 1770 nur Brüsseler teilweise zurückerstattete. 1794 waren es erneut französische Truppen, jetzt die Bibliothek der Revolution, die die kostbaren Werke aus Brüssel nach Paris entführten. Nur relativ wenige kamen auf Beschluss des Wiener Kongresses zurück. Nach einer vorübergehenden Teilung der Sammlung 1815 stiftete der belgische Staat, mittlerweile ihr Eigentümer, am 19. Juni die Königliche Bibliothek Belgiens und kaufte parallel dazu die 70 000 Bände umfassende Sammlung Karel Van Hulthems aus Gent auf. Bayerische Die ▶ Bayerische Staatsbibliothek in München ist nach der Staatsbibliothek Staatsin Berlin die zweitgrößte Universalbibliothek im deutschsprachigen Raum. Uns bibliothek interessiert naturgemäß der Bestand an Handschriften (circa 90 000) und Inkuin München nabeln (darunter beispielsweise eine Gutenberg-Bibel), aus dem weltberühmte Manuskripte wie der spätkarolingische Codex Aureus aus St. Emmeram in Regensburg (vgl. Abb. 4), das Evangeliar Kaiser Ottos III. und das Perikopenbuch Kaiser Heinrichs II. (vgl. Abb. 6) – die beiden letzteren aus der Zeit um 1000 –, Fragmente von Wolfram von Eschenbachs Parzival, eine Handschrift des Nibelungenliedes und der Carmina Burana, sämtlich aus dem 13. Jahrhundert, als Glanzstücke herausragen. Nach der Biblioteca Vaticana, der British Library und der Bibliothèque nationale de France verzeichnet die Münchner Bibliothek den weltweit viertgrößten Bestand an Handschriften des abendländischen Mittelalters. Der Kernbestand der Sammlungen führt zeitlich weit zurück und topografisch an einen anderen Ort Münchens: von der klassizistischen Ludwigstraße in die Münchner Residenz, wo der Bibliophile und Antikenfreund Herzog Albrecht IV. 1558 die von seinem Vater Wilhelm V. geerbten Bücher mit eigenen Neuerwerbungen vereinte und die Bestände – darunter Turnier- und Wappenbücher, einige fernöstliche Manuskripte, sowie griechische und hebräische Werke aus der angekauften Bibliothek des Bankiers Johann Jakob Fugger – Gelehrten und Höflingen als Lektüre zur Verfügung stellte. Zusammen mit einer Antikensammlung wurden die Bücher zunächst im Antiquarium der Residenz untergebracht.

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Die Distribution der illuminierten Handschriften

Im Jahr 1565 erschien in München ein Buch mit dem Titel Inscriptiones vel tituli theatri amplissimi … („Aufzeichnungen oder Leitgedanken zu einer überaus prächtigen Schaubühne …“) aus der Feder des gelehrten Niederländers ▶ SaSamuel à Quiccheberg muel à Quiccheberg. Es handelt sich um die erste Methodik des Sammlerwesens. Quiccheberg wollte im Sinne der manieristischen Kunst- und Wunderkammern ein Museum schaffen, das naturwissenschaftliche Objekte ebenso umfasst wie Produkte der Künste und der Technik, alltägliche Gegenstände wie seltenste Kostbarkeiten und Raritäten. Der Niederländer empfahl außerdem die Gliederung der zugehörigen Bibliothek nach zehn didaktisch gegliederten Kategorien: Theologie, Jurisprudenz, Medizin, Geschichte, Philosophie, Mathematik (inklusive Astrologie, Arithmetik und Geometrie), Philologie, sakrale und profane Dichtung, Musik, Grammatik. Als während des Dreißigjährigen Krieges schwedische Truppen die bayerische Residenzstadt einnahmen und plünderten, wurden auch die Bücherschätze nicht verschont; ein größeres Kontingent kam in die Sammlung Wilhelms von Weimar nach Gotha. Als 1802/1803 rund 150 Klöster in Bayern ▶ säkularisiert wurden – der geistliche Besitz wurde verstaatlicht – bedeuteSäkularisation te dieser Eingriff in die traditionelle klösterliche Bibliothekslandschaft für die ehemalige Münchner Hofbibliothek, die sich ab 1803 Hof- und Zentralbibliothek, ab 1828 Hof- und Staatsbibliothek nannte, einen ungeheuren Zugewinn – dazu zählten Höhepunkte der Buchmalerei wie die oben aufgeführten karolingischen und ottonischen Meisterwerke. Rechnet man die Bestände der zur gleichen Zeit in die bayerische Landeshauptstadt transferierten Kurpfälzischen Hofbibliothek hinzu, dann wuchs die Münchner Sammlung damals um circa 550 000 Bände und 18 600 Handschriften! Zum Schicksal alter Codices gehörte es, dass Buchbestände im Lauf der Jahrhunderte immer wieder durch Brände dezimiert wurden, dass im 16. Jahrhundert, im Gefolge der Reformation, Bücher als Zeugnisse des alten Glaubens en masse vernichtet wurden, dass zu Beginn des 19. Jahrhunderts in den Umwälzungen der Säkularisation, das heißt bei der Auflösung der Klöster und der Verstaatlichung ihres Besitzes, Folianten der Ebracher Klosterbibliothek dazu herhalten mussten, Schlaglöcher in einer Straße auszugleichen, dass die Goldschläger in und um Nürnberg massenhaft das Blattgold von mittelalterlichen Miniaturen schabten. Und dass wertvolle Bücher oft in die Hände von ▶ DieBücherben gerieten, gehört ebenfalls dazu. Die Wikinger, die im 9. und 10. Jahrhun- diebstähle dert irische Klöster plünderten und deren Bücher entführten, taten dies gewiss nicht wegen der schönen Bilder, sondern wegen der kostbaren Einbände beziehungsweise Buchkästen. Um Text und Bild ging es hingegen Kaiser Otto II., der sich 973 im St. Gallener Kloster das Armarium öffnen ließ und einige seltene Bücher „mitnahm“.

VI.

Guglielmo Libri Carrucci

das TurinMailänder Stundenbuch

Kunstsoziologische Aspekte

134

„Wer mich stiehlt, möge ohne guten Ruf bleiben, er möge niemals selig werden. Dieser Elende möge vom Feuer der Hölle verbrannt werden“, so einer der unzähligen Flüche des Mittelalters gegen potenzielle Diebe. Offenbar gab es genügend Kandidaten, die dafür infrage kamen. Und solche gab es auch zu einem viel späteren Zeitpunkt. Einer der berüchtigsten Bücherdiebe ging im 19. Jahrhundert seinen unrühmlichen „Geschäften“ nach: Der italienisch-französische Mathematiker und „Bibliophile“ ▶ Guglielmo Libri Carrucci arbeitete seit 1841 in Frankreich als Sekretär einer Kommission, deren Aufgabe es war, Bestandskataloge von Handschriften zu erstellen. Libri Carrucci benutzte nun diese Position für Diebstähle im großen Stil, wozu er sogar Einträge in Bibliothekskatalogen fälschte. Am Ende hatte er etwa 40 000 Bücher und Manuskripte in seine Hände gebracht! Vor einer drohenden Gefängnisstrafe floh er schließlich 1848 nach England, samt seiner Beute, achtzehn großen Bücherkisten, die er für eine enorme Summe verkaufte. Rund 2000 Manuskripte, die er in Italien gestohlen und in London veräußert hatte, wurden 1884 vom italienischen Staat zurückgekauft und befinden sich jetzt in Florenz, in der Biblioteca Medicea Laurenziana. Auch Frankreich konnte 1888 einen Teil der entwendeten Bücherschätze zurückholen. Man sieht, Bibliotheken waren nicht immer imstande, den Verlust wertvoller Bücher und Glanzlichter der Buchmalerei zu verhindern – und gegen Kriegs- und Brandverluste waren sie schon gar nicht gefeit, wie unter anderem folgender Fall bezeugt: 1713 war das ▶ Turin-Mailänder Stundenbuch, von dem wir bereits hörten, auseinanderdividiert in ein Gebetbuch, das samt anderen Handschriften der Königlichen Bibliothek zu Turin 1904 einem verheerenden Brand zum Opfer fiel, und in ein Messbuch, das das Stadtmuseum in Turin aus dem Besitz der Mailänder Bibliothek der Fürsten Trivulzio im Jahre 1935 erwarb. Den katastrophalen Verlust von 1904 beklagte der große Buchmalerei-Kenner Hulin de Loo: „Ich kenne keine tragischere Geschichte als die jenes Meisterwerks. Als ich es sah, 1903, war es von einer außergewöhnlichen Frische. Die nahezu makellosen Seitenränder zeigten, wie wenig darin geblättert worden war. Selbst das Silber, das die Buchmaler hie und da verwendet hatten, war nicht schwarz geworden. Beweis genug dafür, dass die Seiten kaum der Luft ausgesetzt worden waren. Die kostbare Handschrift hatte sich also bald geschlossen und ihre wunderbaren Malereien für Jahrhunderte zwischen ihren eng gebundenen Blättern verborgen gehalten. […] und nun, kaum sind sie der Bewunderung der Welt offenbart worden, verschwinden sie auf einmal für immer in den Flammen.“ Trotz solcher Vorkommnisse bleibt festzuhalten, dass ohne die bedeutenden Bibliotheken und Sammlungen die immens hohe Verlustrate mittelalterlicher Buchmalerei noch sehr viel höher ausgefallen wäre.

VII. Elemente

der Gestaltung

F

ür die Disposition und die Makrostruktur von Miniaturen ist ihr Verhältnis zum Aufbau des jeweiligen Seitentextes bestimmend – einen Sonderfall stellen jene Miniaturen dar, die als autonome, eigenwertige Bilder behandelt und in dieser Form dem Text vorangestellt sind oder ihn als Konvolut unterbrechen. Doch selbst dann ist von einer Bild-Text-Relation auszugehen, nicht nur in dem Sinne, dass sich gewisse Miniaturen aus dem engen Bezug zur Schrift emanzipieren, sondern mehr noch deshalb, weil selbst die ganzseitigen Miniaturen in der Regel dem Prinzip der zeitgenössisch so benannten iustificatio ›„iustificatio“‹ gehorchen: Dabei werden nach den komplexen Proportionsregeln des Goldenen Schnittes die Randbreiten festgelegt, die den Textspiegel rahmen, vom schmalen Streifen parallel zum Falz über den breiteren oberen und äußeren Rand bis zum breitesten der Ränder unten; diesem vorgegebenen Maßsystem sind fast immer auch die Abmessungen der Miniaturen angepasst. Die wichtigsten Dispositionsregeln beziehen sich auf die folgenden Fragen: Wie „begleiten“ die Miniaturen den Text inhaltlich, illustrieren sie ihn fortlaufend und sozusagen „wortgetreu“, paraphrasieren sie ihn oder bringen sie sogar textunabhängige Inhalte, einen Überschuss an expliziter Bedeutung, ins Spiel? Diesen Fragen, die für jedes Buch nur individuell zu beantworten sind, kann im Rahmen einer Überblicksdarstellung nicht nachgegangen werden, hier soll es vielmehr um allgemeine Fragen der Gestaltung gehen. Wissenschaftsgeschichtlich besitzt die in Kapitel III erwähnte ▶ Wiener Genesis aus dem 6. Jahrhundert eine Schlüsselposition in frühen „Gestaltungs-Fragen“. Deshalb muss sie, obwohl sie als eine in der syrisch-antiochenischen oder in der syrisch-palästinensischen Kunstlandschaft entstandene Handschrift eigentlich nicht in unser Untersuchungsgebiet fällt, hier kurz diskutiert werden (Abb. 18). Eines ihrer auffallendsten Merkmale ist die uneinheitliche Situierung der Miniaturen: So erscheinen auf einigen Blättern im unteren Viertel, über die ganze Seitenbreite hinweg, rechteckig abgeschlossene und strukturell selbst-

Wiener Genesis

VII.

Elemente der Gestaltung

▲ Abb. 18  Wiener Genesis: Jakob

136

ständige Bilder. In der Überzahl sind jedoch friesartig abrollende Illustrationen ohne Rahmung, wobei zwei Bildstreifen wie bei modernen Comicstrips durch landschaftliche Motive oder Wegkurven zu einer Erzählsequenz verbunden sind. Ein Teil der älteren Forschung wollte jenen Modus, der mit ineinander verlaufenden szenischen Momenten operiert, vom Erzählstil spätantiker Rotuli und ebenso von den spiralartig abrollenden Bilderfriesen etwa der römischen Trajans- oder Marc-Aurel-Säule des 2. nachchristlichen Jahrhunderts herleiten. Auf größere Zustimmung stößt mittlerweile eine andere Erklärung. Ihr zufolge habe die antike Buchkunst nur die Illustration mit kleineren ungerahmten Einzelbildern gekannt, die in die Text-Kolumnen der Rotuli eingelassen waren. Der Übergang von der Papyrusrolle zum Pergamentcodex in der Spätantike hatte dann eine neue Logik im Text-Bild-Verhältnis zur Folge: eine seitenorientierte Anordnung der Illustrationen, wie sie die Wiener Genesis im experimentellen Urzustand zeigt. Das gesteigerte Platzangebot, das die Codexseite im Vergleich zu den Kolumnenspalten der Rotuli bot, habe zu einer szenisch-narrativen Ausweitung des Bildangebotes geführt. Die illusio-

und Rahel, 6. Jahrhundert (1. Drittel?); Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. theol. graec. 31, fol. 14r.

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Schriftarten und Bild

nistisch wirkenden Landschaftskulissen und bühnenartigen Requisiten einzelner Bilder waren Füll- und Überleitungsmotive zwischen ursprünglich vignettenartigen Einzelbildern. Dann läge eine frühe Entwicklungsstufe jenes Prozesses vor, in dessen Fortgang das Zusammenwirken von Schreiber und Maler immer komplexer wurde, bis die einzelne Codexseite zu einem durchkomponierten ästhetischen Organismus geworden war. Anders formuliert: Dort, wo eine Miniatur nicht als gleichsam „losgelöste“, frei „schwebende“ Einheit auftritt, sondern formal auf die Schrift bezogen ist, dürfen weder Schrift noch Bild separat betrachtet werden. Sie sind (natürlich ebenso wie Initialen, Bordüren et cetera) integrale Bestandteile der Gesamtgestaltung und können ohne ihre Zuordnung zum Schrift- beziehungsweise Textspiegel künstlerisch nicht hinreichend gewürdigt werden. Unter einem ▶ Schriftspiegel (alternativ „Textspiegel“) versteht man die proportional bemessene Fläche, die der Text auf einer Buchseite einnimmt. Folgerichtig gibt der „justierte“ Schriftspiegel die proportionalen Formatabmessungen einer Miniatur vor, sofern diese nicht am Seitenrand zur Marginalie, zur „Nebensache“, oder als Bas-de-page zur untergeordneten „Basis“ am unteren Seitenrand wird. Für den Entwurf eines ambitionierten Seitenlayouts ist es sowohl in formaler Hinsicht wie auch des Öfteren bezüglich der Bedeutung relevant, in welcher Schrifttype der Text geschrieben ist und welche kalligrafischen Regeln er demgemäß befolgt.

Schriftspiegel

Schriftarten und Bild Infolge der Wertschätzung des geschriebenen Wortes verwundert es nicht, dass die Schriftkultur des frühen Christentums für die hierarchisch erstrangigen Aufgaben die römische Schriftart ▶ Capitalis verwendete. Diese seit dem 1. Jahrhundert vor Christus bekannte scriptura monumentalis wurde für feierliche, sorgfältig in Stein gehauene Inschriften verwendet. Ihre präzisen geometrischen Formen entsprechen den Koordinaten des architektonischen Schriftträgers. Im Detail unterscheidet man zwischen der Capitalis quadrata (die Buchstaben lassen sich in ein Quadrat einschreiben) und der hauptsächlich als Buchschrift verwendeten Capitalis rustica (mit leicht gekrümmten Buchstaben). Beide Varianten bestehen aus Großbuchstaben (Majuskeln). Der spätantike Codex Vergilius Vaticanus verwendet um 400 beispielsweise eine Capitalis rustica. Seine Miniaturen gleichen gerahmten Tafelbildern, in vielen von ihnen begeg-

Capitalis

VII.

Elemente der Gestaltung

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nen atmosphärische Landschaften, in einigen auch Interieurs. Der Text ist einspaltig unter die Bilder gesetzt, annähernd in der Breite der Querformate und als kontinuierlicher Schriftspiegel, ohne Zwischenraum zwischen den Wörtern und fast ohne Interpunktion. Dadurch erfährt er eine Kompaktheit, die das Bild in der Art eines Inschriftensockels wie eine stabile Basis zu „tragen“ scheint. Das Tableau der Miniatur und der Schriftspiegel „sichern“ sich gegenseitig ab auf der unbestimmten Fläche des Pergaments. Nach der Völkerwanderung übernimmt das fränkische Schriftwesen kursive Buchstaben einer flüssigen Gebrauchsschrift römisch-aniker Provenienz in den Grundbestand der Capitalis. Sie entstammen der Unziale, einer Schrift, die im 4. Jahrhundert aus der Majuskel-Kursive entwickelt wurde, und der Halbunziale, die bereits den Charakter einer Kleinbuchstabenschrift beziehungsweise Minuskel zeigt. Manuskripte in leicht handhabbarem Format, aus Sparsamkeitsgründen in Minuskeln (Unziale und Halbunziale) geschrieben, befanden sich im Handgepäck jener Missionare, die vom 6. bis 8. Jahrhundert im irischangelsächsischen Raum, im westgotischen Spanien und im Merowingerreich unterwegs waren. Die größeren und feierlichen Majuskeln blieben dagegen den Luxusausgaben von Handschriften vorbehalten, die an Festtagen am Altar verwendet wurden. Später fand die scriptura monumentalis in karolingischen Prachtcodices überall dort Verwendung, wo einer Buchseite durch diese Auszeichnungsschrift der Anstrich von Klassizität verliehen werden sollte. Zu den Errungenschaften der von Karl dem Großen eingeleiteten Schriftrekarolingische form zählt die ▶ karolingische Minuskel: eine elegante Kleinbuchstabenschrift Minuskel voll Ebenmaß und schwungvoller Rundungen (während als Auszeichnungsschrift für Überschriften und Textanfänge Capitalis und Unziale unangefochten das Feld behaupteten). Durch Normierung und Worttrennung gelang der karolingischen Minuskel ihre visuelle Klarheit. Noch die Inkunabeln des Buchdrucks – die ersten Drucke und Bücher, die von der Erfindung des Buchdrucks durch Gutenberg um 1454 bis zum Jahr 1500 hergestellt wurden – griffen auf diese verständliche Schreibschrift zurück; noch heute bildet sie die Basis des modernen Alphabets. Ihr frühestes Auftreten hat sie im Godescalc-Evangelistar (Abb. 19). Die ottonische Schriftkalligrafie setzte die karolingischen Vorbilder fort. Auch die romanische Buchschrift ging letztlich aus der karolingischen Minuskel hervor. Doch machten sich auch schon frühe Anzeichen des Übergangs zur gotischen Minuskel bemerkbar. So tauchten im 11. Jahrhundert im Gebiet des anglonormannischen Königreiches die ersten Schriftdokumente auf, die in ihren Ansätzen zu Spitzbogen, in langgezogenen Buchstaben und im gitterartigen Schriftbild bereits die kommende gotische Stilisierung erahnen lassen. Das 12. Jahrhundert entwickelte die Übergangsschrift, die „Carolino-Gotica“,

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Schriftarten und Bild

▲ Abb. 19  Godescalc-Evangelis-

ehe am Ende dieses Säkulums endgültig der Schritt zur tar: Textseite mit Perikope zu Mt. 24,24ff., geschrieben in karolingifrühgotischen Minuskel getan war. scher Minuskel, 781; Paris, BiblioAls Francesco Petrarca, dem im 14. Jahrhundert eine thèque nationale de France, nouv. rinascità, eine Wiedergeburt antiker Werte und Nor- acq. lat. 1203, fol. 7v. men vorschwebte, in jungen Jahren eine Reihe von Handschriften des 10. Jahrhunderts entdeckt und erworben hatte, bewunderte er die kalligrafische Ausgewogenheit und schöne Klarheit der karolingischen Minus-

VII.

gotische Schriftformen

Textura

Bastarda

Elemente der Gestaltung

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kel (die damals ja nach wie vor geschrieben wurde) als antikes Erbe, als Manifestation klassischer Gesinnung. Umso mehr missfiel ihm das Eckige, „Unproportionierte“ der ▶ gotischen Schrift. Gotische Schrift, das sah Petrarca natürlich richtig, besitzt, gemessen an den älteren Schrifttypen, eine gestrecktere, kantigere Erscheinungsweise, einen engeren Duktus aneinandergereihter Buchstaben. Doch vor der Folie dieser grundlegenden Gemeinsamkeit zeichnen sich Unterschiede ab, die man in folgende Hauptgruppen einteilen kann: Am Anfang steht die aus der spätkarolingischen Minuskel entwickelte frühgotische Buchschrift, die sich zuerst, im 11. und 12. Jahrhundert, in Nordfrankreich und England herauskristallisierte und dann so universal durchsetzte, dass man seit dem 13. Jahrhundert von einem gotischen Stil in der Schriftkunst sprechen darf. Aus diesen Prämissen erwuchs die gotische ▶ Textura (übersetzt: „Gewebe“, was die dichte Drängung der Buchstaben bezeichnet), die im 14. und 15. Jahrhundert dominierte. Charakteristisch für diese Schrift ist die durchgehende Brechung der Kleinbuchstaben, während die Großbuchstaben häufig zu phantasievollen Ziergebilden ausgestaltet sind. Betont sind die Vertikaltendenzen. Über der Tatsache, dass die Textura zur dominanten Schrift des späteren Mittelalters avancierte, darf man eine wichtige Ausnahme nicht vernachlässigen, die vor allem in der spätmittelalterlichen Buchkunst Südfrankreichs und Italiens begegnet, nämlich die Rotunda: eine schwerer wirkende, in runderem Habitus vorgetragene Schrifttype, die ein wenig noch klassische oder auch karolingische Vorbilder spüren lässt. Zur gebräuchlichsten aller gotischen Schriften aber rückte im Spätmittelalter die ▶ Bastarda auf, eine Mischform zwischen der etwas staksigen Textura und der fließenden Kursive. Von Paris aus hatte sich die Bastarda rasch in Europa ausgebreitet, da sie von allen seinerzeit gebräuchlichen Schriftarten den individuellsten Schreibmodus ermöglichte. Folglich waren bereits um 1200 die meisten Lehrbücher an den jungen Universitäten Europas in einer frühen Bastarda geschrieben. Gleich welche Version, immer kam es zu einer engen Verklammerung von Bild und Schrift: Die Kalligrafie des nun zumeist zweispaltig unter oder über die Miniaturen platzierten Textes bediente sich einer Vielzahl roter, blauer, vergoldeter oder mehr oder weniger ornamentierter Kleininitialen, die Kapitelabschnitte sind nicht selten von zeichnerisch strukturierten, ebenfalls kolorierten Dekorstäben „gesäumt“ – kurz: die elaborierten und farbigen Elemente sowie Akzentuierungen der Schrift samt deren durch die Ober- und Unterlängen erzeugten „Amplituden“ korrespondierten mit der zunehmenden Vielteiligkeit der Bilder, den zu ornamentalen Figurationen gewordenen Draperien des go-

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Schriftarten und Bild

tischen Stils, der delikaten Buntheit der Szenerien. Die Bewegung, die in die gotische Schrift gekommen war, unterstützte die ihrerseits mobilisierte Bildsprache. Den Gelehrten des italienischen Trecento (14. Jahrhundert) sind die Impulse zu einer neuen, einer antikisierenden Schriftart zuzuschreiben, zur italienischen ▶ Humanistenschrift. Humanistenschrift Diese letztlich gemäß dem Vorbild der karolingischen Minuskel nach neuer Klarheit und übersichtlicher Prägnanz strebende, zwischen 1400 und 1430 aufkommende Schrift haben ihre frühen Anhänger bezeichnend genug littera antiqua genannt. Ihre Verbreitung hing maßgeblich mit dem Ehrgeiz zusammen, die klassischen Texte neu zu edieren. Deshalb wurde auch die neue Schrift sehr schnell von den Intellektuellen in Norditalien wie von den professionellen Schreibern in Florenz und anderswo übernommen. Letztere entdeckten zudem als Auszeichnungsschrift und für Zierseiten die spätantike Capitalis wieder – besonders schöne Beispiele bringen unter anderem die für den Ungarnkönig Matthias Corvinus in Florenz hergestellten Handschriften. Das Brevier des Matthias Corvinus zum Beispiel aus den Jahren 1487 – 1492 (Rom, Biblioteca Apostolica Vaticana, Urb. lat. 112) besitzt eine prächtige Frontispiz-Miniatur zum ersten Hauptteil, den Festtagsgebeten. Ihr Titulus ist feierlich in goldenen Capitalis-Lettern auf blauem Grund eingetragen. Das Ganze gleicht einer Schrifttafel an der Rückwand eines architektonischen Gehäuses, einer von schwarz marmorierten Säulen und Pilastern getragenen und von einem kassettierten Tonnengewölbe überspannten Ädikula. Otto Pächt hat diese Eigenheit folgendermaßen charakterisiert: Die Schrift wird nicht auf das Pergamentblatt gesetzt, sondern als Inhalt eines „dort erscheinenden Bildes“, also eines Bildes im Bilde, imaginiert, „als etwas primär Schaubares, nicht Lesbares“. Dadurch transformiert sich die Buchseite in einen illusionistischen Bildraum. Zu einem einschlägigen Trompe-l’œil (einer perspektivischen Augentäuschung) transformierten die Künstler 1483 die beiden Frontispize der ▶ Aristo- Aristotelesteles-Ausgabe in der New Yorker Pierpont Morgan Library. Wie bereits erwähnt, Ausgabe in der Pierpont findet sich in den beiden Bänden die Kombination aus gedruckter Schrift und Morgan gemalten Bildern. Auf der Titelseite des ersten Bandes (fol. 2r) glaubt der BeLibrary trachter beim ersten Hinsehen, er könne durch aufgebogene Ecken, Seitenstreifen und durch herausgerissene Partien des Pergaments, das die zwei Schriftkolumnen „trägt“, hindurchsehen auf von Fabelwesen bevölkerte Szenerien rings um ein Architekturgebilde. Aufgebogene Ränder bilden auch zuoberst den bizarren Kontur eines Bildes im Bilde, das die Gestalten zweier Philosophen in weiter Hügellandschaft zeigt. Kaum weniger raffiniert ist das Frontispiz des zweiten Bandes (fol. 1r): Hier scheint ein dicht in zwei Spalten beschriebenes

VII.

Elemente der Gestaltung

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Pergamentblatt von einem Balkon herabzuhängen; die Illusion wird indes schnell zur Irritation, da die beiden Textspalten von einer Ornamentleiste „getrennt“ sind, die ihrerseits in die Bildwelt hineinragt, welche die vorgetäuschte Schriftseite „rahmt“. Beide Male ist die Schrift selbst in einem solchen Maß zu einem Bild transformiert, dass dieses die nur mühsame Lesbarkeit der eng gedruckten Zeilen weit übertrifft.

Zierseiten

Book of Durrow

Die in der Geschichte der Buchmalerei vermutlich berühmtesten und zugleich in ihrer Bedeutung, ihrer Symbolik umstrittensten Zierseiten in Prachtcodices sind die Titelseiten insularer, anglo-irischer Evangeliare. Sie werden in der Fachliteratur auch als Teppichseiten oder kreuzförmige Seiten (sofern ihnen das Kreuzzeichen einbeschrieben ist) bezeichnet. Teppichseiten finden sich in den meisten größeren Evangelienhandschriften und kommen bereits voll entwickelt im ▶ Book of Durrow aus der zweiten Hälfte des 7. Jahrhunderts (oder, nach anderer Datierung, aus dem frühen 8. Jahrhundert) vor. Für ihre Entstehung sind mehrere Impulse verantwortlich gemacht worden. Die ältere Hypothese, nach der sie mit Funden römischer Mosaikböden in England zusammenhängen, findet heute keine Anhänger mehr. Es ist auch vorgeschlagen worden, sie als ein Analogon zu verzierten, mit Flechtwerk (Entrelac) geschmückten Bucheinbänden zu sehen, gleichsam als einen virtuellen Teileinband: als wäre jedes einzelne Evangelium des Buches in seine eigene dekorative Hülle gebunden. Doch Flechtwerk als dominierendes Schmuckelement war derart verbreitet, dass daraus keine beweiskräftige Entwicklungsfolge abzuleiten ist. Aufschlussreicher scheint in dieser Hinsicht der wiederholte Einbezug der Kreuzform in solche Teppichseiten. Es existieren vereinzelte Belege, dass das Kreuzsymbol in frühen Evangelienbüchern des Mittelmeerraums entweder als Titelbild oder als Abschluss gebraucht wurde. Ferner gibt es Hinweise auf Verwendung eines Vorsatzblattes, auf dem der Titel oder ein symbolisches Zeichen, das ein Kreuz gewesen sein kann, in einen Rahmen eingestellt waren. Ein Beispiel für eine Kreuzform als Abschluss findet sich in einem koptischen Evangeliar, das um 500 datiert wird und jetzt in der New Yorker Pierpont Morgan Library (Glazier 67, Folio 215) liegt. Vielleicht hatte das Kreuz hier und bei seiner Verwendung auf Buchdeckeln neben seiner Verherrlichung als zentrales Element christlicher Symbolik eine apotropäische, das Böse auf magische Art und Weise abwehrende Funktion.

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Zierseiten

Das ▶ Book of Durrow umfasst im jetzigen Erhaltungszustand noch sechs Teppichseiten. Die Serie beginnt auf fol. 1v: Im Flechtband des Rahmenwerkes erscheint, integriert in den farbsatten Ornamentrapport des Mittelrechtecks, fast einem textilen Stickmuster ähnelnd, ein Doppel- oder Patriarchalkreuz. Diesem Auftakt gegenüber steht eine leider arg beschädigte Seite: Innerhalb eines breiten Randes in einem rechteckigen Feld ruht ein Kreuz mit sich verbreiternden Enden, mit Flechtband geschmückt. Die vier Felder zwischen den Kreuzarmen beinhalten die Symbole der Evangelisten. Diese Figur zeigt besonders klar, dass es sich bei solcher Schmuckfreude nicht um ein reines Spiel der Phantasie, um l’art pour l’art handelt, sie zeigt ganz im Gegenteil die (zumindest vielfach) zugrunde liegende heilsgeschichtliche Dimension. In diesem Fall dokumentiert sie die heilsgeschichtliche Nähe von Kreuz und Majestas Domini, dem als Herrn der Christenheit frontal thronenden Christus. Während das Kreuz von Durrow keine besonders betonte Mitte hat, besetzen vergleichbare Beispiele bezeichnend genug die Kreuzmitte mit der Christusbüste oder dem Lamm Gottes. Die weiteren Teppichseiten des Book of Durrow stehen am Anfang der vier Evangelien. Ihnen voraus geht jeweils das Bild des Evangelistensymbols. Dann folgen (verso) das Frontispiz und gegenüber eine Initiale mit dem Evangelienanfang. Alle diese Teppichseiten drücken unmittelbar oder verschleiert den gleichen kosmologischen und eschatologischen, auf die letzten Dinge bezüglichen Sinn aus: Das Kreuz, Christus, in der Mitte der Welt! Stets sind Bild und Ornament von der gleichen sakralen Bedeutungsdichte durchdrungen. Unabhängig von den ikonologischen Fragen der Bilddeutung erregen alle Teppichseiten des Codex Bewunderung, wenn das Auge über ihre formalen Finessen gleitet: über farbig kontrastierende und doch einen harmonischen Gesamtklang erzeugende Wirbelformen, über kleinere und größere Kreise, gefüllt mit dynamisch gespannten Spiralmustern. Wo noch Raum bleibt in diesem horror vacui, dieser Scheu vor der Leere, ist er mit Trompetenmustern bedeckt. Am reichsten entfaltet der Durrow-Meister in der Teppichseite am Beginn des Johannes-Evangeliums die Kraft seines ornamentalen Könnens. Das zentrale Feld einer ins Mittelquadrat einbezogenen, goldgeränderten Scheibe, deren Struktur die Erinnerung an jene Goldschmiedekunst heraufbeschwört, wie sie aus Grabbeigaben im ostanglischen Sutton Hoo aus dem frühen 7. Jahrhundert bekannt ist, nimmt das griechische Kreuz als Siegeszeichen Christi ein. In den Randzonen verbinden sich ineinander verflochtene zoomorphe Wesen zu einem Knäuel kaum noch entwirrbarer Tierfiguren. Die entsprechende Sequenz im ▶ Book of Lindisfarne ist ähnlich wie im Book of Durrow komponiert, nur dass anstelle der Symbole die Evangelisten als Menschen nach antikem Vorbild abgebildet sind. Das Buch besitzt fünf Teppichsei-

Teppichseiten im Book of Durrow

Book of Lindisfarne

VII.

Elemente der Gestaltung

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ten, davon drei auf eingehefteten Einzelblättern. Das Frontispiz am Anfang des Buches zeigt ein klar umrandetes Würfelkreuz mit einem fünften Würfel als Ständer. Die anderen Teppichseiten stehen vor den vier Evangelien, analog zum Book of Durrow. Das circa ein Jahrhundert später entstandene ▶ Book of Kells (vgl. Abb. 1) Book of Kells weist eine etwas andere Gliederung auf und dazu noch Bilder aus dem Leben Christi. In dem üppigen Konvolut präsentieren drei Seiten in wechselnder Kreuzform die vier Evangelistensymbole. Sie befinden sich am Anfang der Evangelien. Den strahlenden Höhepunkt bilden jedoch zwei Seiten unmittelbar vor dem Matthäus-Evangelium: Ein Bild des thronenden Christus steht einer Kreuzseite gegenüber. So ergibt die Betrachtung der drei prächtigsten Bücher der insularen Kunst eine fortlaufende Entwicklung, die von Ornament und Abstraktion zur Sichtbarmachung des Gott-Menschen führt. Der nächste Schritt auf diesem Wege ist dann der Rückgriff auf die Majestas Domini mit der thronenden Gestalt Christi, der in der karolingischen Kunst die Kreuzseiten verdrängen wird. Die ▶ Entrelacs in den insularen Evangeliaren waren sicher nicht nur ErgebEntrelacOrnamentik nisse einer ausufernden Phantasie oder einer ästhetizistischen Haltung; man geht wohl nicht fehl, sie, zumindest teilweise, als apotropäische, das Böse bannende Zeichen zu interpretieren. Solche Bücher – und nicht nur die Zierseiten erweisen das – waren eben mehr als bloße Informationsträger. Modern gesprochen, stellen sie sich als intermediärer Grenzgänger heraus: Buch und sakrales Objekt, Träger von Schrift und Bildwerdung des Wortes zugleich, Empfänger und Sender der heiligen Botschaft in einem, voller Demut im Dienste Gottes und gleichzeitig voll kreativen Stolzes ob dieser vornehmsten Aufgabe, die einem liturgischen Buch zukommen konnte. Fast unbegrenzt ist der Vorrat an phantasievollen Ornamentmotiven, mit denen die Mönchskünstler die Pergamentseiten verzierten. Und es waren die ornamental geschmückten Initialen und Ligaturen (Verbindungen zweier oder mehrerer Buchstaben), die damals und in den folgenden Jahrhunderten die „Bildwerdung“ des Wortes auf unvergleichliche Weise in Szene setzten.

Initialen Initialen – zweifellos eine der aufschlussreichsten Erscheinungen der mittelalterlichen Buchmalerei – sind hervorgegangen aus der unendlich variantenreichen Verschmelzung von Schrift und Ornament. Littera initialis, so die lateinische Bezeichnung für den in Größe, Form und Farbe hervorgehobenen Anfangsbuchstaben eines Textes. Dieses Phänomen begegnet erstmals in Codi-

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Initialen

ces der römischen Spätantike. Da die antike Schrift weder Worttrennung noch Interpunktion kannte, war ihr fortlaufender, ohne jedes Intervall vorgetragener Verlauf nicht leicht zu „dechiffrieren“. Der kleine Trennungsstrich, der Paragraphos, oder das demselben Zweck dienende Häkchen, die Koronis, halfen wenig weiter, da sie kaum zu sehen waren im Schriftbild. Umso hilfreicher war die Einführung der Initialen. Im Mittelalter waren häufig Spezialisten für sie zuständig. Sie verwendeten dieselben Farben, Malmaterialien und Hilfsmittel (Vorzeichnungen mithilfe von Zirkel und Lineal, markierende Ritzungen et cetera) wie die Miniatoren. Die Entwicklung der Initialkunst verlieh dem Buchstaben ein bis dahin unbekanntes Eigenleben, als Medium zwischen Text und Bild. Dieser Prozess führte freilich oft zu einer seltsamen Umkehrung: Je dekorativer im Lauf des Mittelalters die Initialen überwuchert wurden, desto eher konnten sie selbst – unbeschadet ihrer den Text gliedernden Funktion – die Eindeutigkeit des Schriftzeichens verlieren, sich bis zur Unkenntlichkeit verrätseln. Es entstand ein Konflikt zwischen der rationalen Funktion des Buchstabens und der Wertung der Initiale als magisches Zeichen. Bereits die Buchmalerei der vorkarolingischen, das heißt der merowingischen Epoche, erhob die Initiale zu einem wichtigen künstlerischen Thema. Aber erst in den ältesten irischen Handschriften fand eine revolutionäre Veränderung statt. Die Schreiber stellten von der Initiale zur Normalschrift einen allmählichen Übergang her und zogen die Initiale aus dem Rand in die Schriftkolumne hinein. Der Zeilenanfang der großen Abschnitte senkte sich von der Höhe der durch Punktkonturen, rote Farbe, Spiralendungen und ähnliche Verzierungen ausgezeichneten Initiale oder den Ligaturen hinab zu der einfachen, in gewöhnlicher Tinte geschriebenen Normalschrift. Zur Zeit des Book of Durrow, um die Jahrhundertwende zum 8. Jahrhundert, sind solche Anfänge zu reich orchestrierten ▶ Diminuendokompositionen angewachsen, zu riesen- Diminuendokompohaften Initialen, die Zug um Zug zum Buchstabenniveau der Lesezeile vermitsitionen teln. Das auf solche Art behandelte Schriftzeichen verliert fast gänzlich die vom römischen Alphabet vorbestimmte Gestalt, verwandelt sich vielmehr zum dynamischen Organismus, der sich zu dehnen und zu kontrahieren vermag. Die kurvilineare Ornamentik, die die Initiale füllt oder sich ihr anschmiegt, und das Überwuchern der Zierbuchstaben mit Schmuck lassen keine leere Stelle. In der insularen Buchkunst eroberten Initialen außerdem erstmals die ganze Buchseite, und zwar ausschließlich im Evangeliar, das den höchsten Rang unter den liturgischen Büchern beanspruchte. An fünf Stellen war das der Fall. Zu Beginn der Evangelientexte und anlässlich der Passage knapp nach dem Beginn des Matthäus-Evangeliums. In letzterem Fall setzte der Schreiber-Illuminator in riesenhafter Größe die Ligatur der ▶ Ligaturen, das ChristusmonoLigaturen gramm – das griechische XP (Chi-Rho) – , begleitet von fortlaufend schlichter

VII.

Te-igiturInitiale

Präfationszeichen

Elemente der Gestaltung

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werdenden Zeichen (vgl. Abb. 1). Das heilige Monogramm will nicht entziffert, nicht gelesen, es will als zeichenhafte Ganzheit, wie eine Vision des göttlichen Logos, „geschaut“ werden. Die Anfänge der Evangelien lauten Liber generationis (Das Buch der Abstammung Jesu Christi …; Matthäus-Evangelium), Initium Evangelii … (Anfang des Evangeliums von Jesus Christus …; Markus-Evangelium), Quoniam quidem … (Da nun schon viele es unternommen haben …; LukasEvangelium) und In principio erat verbum (Im Anfang war das Wort; JohannesEvangelium). Auch diese Einleitungsformeln werden zu Schriftkonfigurationen ausgebaut, die den Reichtum und das Pathos von Bildkompositionen besitzen. Außerhalb der Evangelienhandschriften verwirklichte sich die „Bildwerdung“ des Wortes bevorzugt in den Sakramentarien. Symptomatisch dafür ist die ▶ Te-igitur-Initiale, die sich seit der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts in ein Kreuzeszeichen verwandelte. Die Te-igitur-Initiale war der erste Buchstabe der Gebetsbitte, mit der der Kanon der Messe beginnt. Wenig später bietet das Sakramentar, das Erzbischof Drogo von Metz herstellen ließ (Paris, Bibliothèque nationale de France, Cod. lat. 9428, fol. 15v), ein weiteres Beispiel: Die Miniaturen, die hier in den mit Purpur gemalten Buchstabenkörper als Bildinseln eingelassen sind, thematisieren alttestamentliche Präfigurationen des neutestamentlichen Versöhnungs- und Erlösungsopfers Christi. Ein solcher Gedanke lag umso näher, da sich, wie früher bereits erwähnt, eine Beziehung zum hebräischen Buchstaben Tav beziehungsweise zum griechischen Tau (beide Buchstaben jeweils in T-Form) herstellen ließ; mit jenem Zeichen wurden, laut Ezechiel 9,4, alle Israeliten auf der Stirn „gesiegelt“, die Jahwe vor seinem todbringenden Zorn erretten wollte. Dementsprechend präsentierte sich auch in der Folgezeit die Te igitur-Initiale regelmäßig als Höhepunkt der Initialenkunst. Eine vergleichbare Gelegenheit bot das ▶ Präfationszeichen, wie es etwa das Sakramentar von Saint-Denis aus dem 11. Jahrhundert beeindruckend vorführt (Paris, Bibliothèque nationale de France, Cod. lat. 9436, fol. 14r). In hochmittelalterlichen Sakramentarien wurden nämlich die beiden Anfangsworte der als Präfation bezeichneten Eröffnung des Hochgebets „Vere dignum“ des Öfteren in abgekürzter Form durch eine Ligatur aus V und D wiedergegeben. Dabei versah man den Längsschaft des D mit einem Querstrich, um ihm das Aussehen eines Kreuzes zu verleihen und mit jener Ligatur die Doppelnatur Christi zu symbolisieren: Der geschlossene Buchstabenkörper des D steht für die vollkommene, göttliche Seite des Fleisch gewordenen Logos, ohne Anfang und ohne Ende; das Kreuz dagegen verkörpert die Einheit von göttlicher und menschlicher Natur in der Person Jesu. Initialen, Prunkinitialen zumal, vermochten also auch der Buchstabenmeditation zu dienen, die zur Gotteserkenntnis führen sollte. Doch kommen wir wieder auf die formalen Gesichtspunkte zurück:

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Initialen

Zwischen dem 7. und dem 9. Jahrhundert entstanden die vier Haupttypen der mittelalterlichen ▶ Initiale: 1) die Initiale mit Besatzornament, bei der un- Entwicklung terschiedliche Zierelemente dem Buchstabenkontur appliziert oder zu seinen der Initialen Ausläufern gemacht werden; 2) die Initiale mit Füllornamentik, bei der die Buchstaben aus Zierleisten bestehen beziehungsweise ornamental gefüllt sind; 3) die Initiale als eigenständiges ornamentales Gebilde, bei der heterogene Elemente, vor allem pflanzliche, zoomorphe oder phantastische Motive, die Buchstabenform ersetzen (eine Sonderform ist die anthropomorphe, die sogenannte Figureninitiale, die nach vorkarolingischen Anfängen vor allem im 11. und 12. Jahrhundert in der englischen Buchmalerei eine Renaissance erlebte) – wobei diese Substitute ein unheimlich wucherndes, ein akrobatisches Leben gewinnen, als wolle sich die Initiale selbst verschlingen. Und dann gibt es noch die sogenannte historisierte, also bildgefüllte Initiale (vgl. Abb. 9). So zeigt der um 735 vollendete Canterbury- bzw. Vespasian-Psalter (London, British Library, Cotton Ms Vesp. A.I) auf fol. 53r die Initiale „Q“ und das Oval des Buchstabenkörpers beherbergt eine Szene aus der Jugendgeschichte Davids. Ob diese zukunftsträchtige Neuerung einen Vorläufer hatte, wissen wir nicht. Die historisierte Initiale scheint sich auf den Britischen Inseln jedoch zunächst nicht durchgesetzt zu haben, sie taucht erst in der karolingischen Buchmalerei wieder auf, und zwar nur in der Malschule von Metz zur Zeit des Bischofs Drogo, im 2. Viertel des 9. Jahrhunderts. Nach dieser Beschreibung der vielfältigen Erscheinungsformen der Initiale folgt ein kurzer Abriss ihrer stilistischen Entwicklung. In seiner Frühphase war das Initialen-Repertoire im merowingischen Frankreich besonders reich ausgeprägt und ebenso in der insularen, anglo-irischen Kunst. Die Zierbuchstaben wurden dekoriert mit einander überlagernden Kreisen (die man mit dem Zirkel konstruierte), gebänderten Einlagen oder geometrischen Mustern, zuzüglich des zoomorphen Dekors, etwa in Form stilisierter Fische, Vögel, tierischer Monstren aus dem reichen Fundus germanischer Ornamentik. Geschöpft wurde insbesondere aus der sogenannten ▶ Tierornamentik Tiermit den vielen sich windenden und verrenkenden Lebewesen, den langglied- ornamentik rigen, langschnäuzigen Abstraktionen. Punktereihen, die viele dieser Initialen säumen, erinnern an aufgelötete Kügelchen metallener Prunkgefäße, die Farbigkeit der Füllungen lässt an Edelsteineinlagen von Fibeln denken. Die karolingische Buchkunst wendet sich von derartigen Phantasiegebilden weitgehend ab und besinnt sich – geleitet von klassischer Klarheit – auf die Formprägnanz des Initialwesens. Die drastische Buntfarbigkeit früherer Perioden weicht einer subtilen und noblen Abstimmung des akzentuierten Buch-

VII.

WenzelsBibel

Elemente der Gestaltung

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stabenkörpers auf den hellen Farbton des Pergaments, der in Aussparungen inmitten der Initiale zu koloristischer Geltung kommt. Obwohl also im Ganzen eine Distanz der karolingischen Initialornamentik zur insularen Kunst zu bemerken ist, heißt das nicht, dass alle Verbindungen abgerissen wären. Da die byzantinische Buchmalerei – die bewunderte Quelle, aus der karolingische Miniatoren so gerne schöpften – keine Initialzierseiten kannte, musste man in dieser Hinsicht doch wieder auf insulare Anregungen zurückgreifen. Die prachtvolle Initiale mit der LI-Ligatur zum Liber Generationis (also zum Beginn des Matthäus-Evangeliums) im Lorscher Evangeliar erhärtet dies exemplarisch. Dennoch verliert im karolingischen Initialendekor die Füllornamentik zunehmend den Anschein eines teppichhaften Gewebes, eines abstrakten Flechtmusters, und bevorzugt feingliedriges, organisches Rankenwerk. Im spätkarolingischen Drogo-Sakramentar (um 850 – 855) bahnt sich schließlich die Entwicklung der historisierten Initialen an. Während die Zierbuchstaben vor- und frühromanischer Zeit ein dekoratives Spiel mit Gold- und Silbereffekten, oft auf einem Fond aus Purpur, kultivierten, bevorzugte man seit der Hochromanik die historisierten Initialen, zusätzlich zu Ranken- oder Blattwerkinitialen: Die vegetabilen Bestandteile verunklärten mit ihrem Eigenleben erneut die Lesbarkeit des Buchstabens. Man nehme nur als besonders schlagendes Beispiel die 1389 – 1400 in Prag geschaffene sechsbändige (unvollendete) deutschsprachige ▶ Wenzels-Bibel (Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 2759 – 2764). König Wenzel  IV. von Böhmen rechnete neben Jean Duc de Berry und Gian Galeazzo Visconti zu den drei herausragenden fürstlichen Mäzenen der Wende zum 15. Jahrhundert, deren ganz persönlich gefärbte Vorlieben die gotische Buchkunst zu einem Höhepunkt an Ausstattungspracht und künstlerischer Vollendung führte. Die Initiale beispielsweise zur Genesis (fol. 2v) nimmt die gesamte Blatthöhe ein: Etliche dem Buchstabenkörper einbeschriebene Medaillons illustrieren Gottes Schöpfungswerk bis zum siebten Tag der Ruhe. Eine Binnenrahmung beherbergt weitere biblische Gestalten – und alle freibleibenden Flächen sind mit Goldgrund sowie, analog zu den Außenrändern der Initiale, mit herrlichem Dekor aus eingerollten Akanthusblättern, Stängeln und Blüten versehen. Das Hochrechteck des Zierbuchstabens gleicht einem bildgeschmückten Tableau, und es braucht seine Zeit, bis man dieses als monumentalisierte Initiale erkennt, welche die in gleicher Breite rechts stehende Textkolumne einleitet. Die Buchkunst der Zisterzienser verhielt sich hinsichtlich der Zierbuchstaben ambivalent, zumindest im 12. und zu Beginn des 13. Jahrhunderts. Trotz eines in den Ordensstatuten festgelegten Schmuckverbots benutzte sie zwar Initialen, doch suchte sie diese auf den Status eines Hilfsmittels für konzentriertes Lesen zu beschränken. Konsequent durchhalten ließ sich die anfängliche

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Initialen

Schmuckaskese freilich nicht. Ein Beispiel für das Ausbrechen aus den Restriktionen liefert einer der wichtigsten Codices frühzisterziensischer Buchproduktion, das Manuskript Moralia in Job, geschrieben und illuminiert Anfang des 12. Jahrhunderts im Mutterkloster Cîteaux (Dijon, Bibliothèque Municipale, Ms 173). An den hier oft die ganze Seitenhöhe einnehmenden, wenn auch einfach gezeichneten und zurückhaltend kolorierten, zu Pflanzen, Bäumen et cetera ausgeformten Initialschäften machen sich Mönchsgestalten mit allen möglichen landwirtschaftlichen Geräten zu schaffen; auf fol. 41r ist gar ein Mönch dabei, den Stamm der Initiale mit einer Axt zu fällen, während oben ein Mitbruder die Äste der Laubkrone kappt. Häufig wurden historisierte Initialen in einen aus mehreren Teilbildern bestehenden, übergreifenden Erzählzusammenhang einbezogen: So komponierte Jan van Eyck im ▶ Turin-Mailänder Stundenbuch auf fol. 93v eine Sequenz aus folgenden ikonografischen Bestandteilen (Abb. 20): Geburt Johannes’ des Täufers (Hauptminiatur); Gott sendet die Taube des Heiligen Geistes aus (Initiale); die Taufe Christi durch Johannes (Bas-de-page – Bildzone am unteren Seitenrand, unterhalb des Schriftspiegels). Im Hauptbild spielt alles auf die heilsgeschichtliche Verknüpfung zwischen dem noch ungeborenen Jesusknaben und dem kindlichen Täufer an. Im Hinterzimmer grübelt nämlich der greise Vater des Johannes über das mosaische Gesetz, das bald ausgedient haben wird angesichts einer neuen Ära, der sein Sohn als Vorläufer des Messias den Weg bereitet. Vorn im Hauptraum kommt von rechts eine Frau mit Krug herbei, sicher Maria, um das Johanneskind als neuen Propheten zu salben. Die Katze im Vordergrund, die das Böse verkörpert, reagiert fauchend und mit einem Buckel auf das Nahen des Erlösers im Leib der Gottesmutter, während hinter ihr und hinter der Rückenfigur einer Sitzenden das Kleinkind freudig auf Maria und deren Leibesfrucht deutet. Im tiefroten Himmelbett aber nimmt eine Amme den eben geborenen Johannes von der Mutter in Empfang. Dass jedes Detail in diesem Bild eine allegorische Auslegung verdient, zeigt sich nicht zuletzt in der „Fortsetzung“: Aus dem Initialenkörper unterhalb der Großminiatur schickt Gottvater die Taube des Heiligen Geistes zur Erde herab, um bei der Taufe Jesu im Jordan dessen göttliche Natur zu bezeugen. Letztere findet im Bas-de-page statt. Zur Milieuschilderung dieses Ereignisses entfaltet Jan van Eyck ein wunderbares Flusspanorama, mit einer Farbperspektive, welche die Phänomene zum Horizont hin in geheimnisvolles Blau taucht – kurz: er malt eine atmosphärische Landschaft, wie sie auf Jahrzehnte hin nicht wieder erreicht wurde. Aber, und das verdeutlicht nicht zuletzt die historisierte Initiale, es wäre verfehlt, diese Szenerie zu modern, als subjektive Stimmungslandschaft zu deuten. Sie symbolisiert vielmehr die stets in heilsgeschichtliche Zusammenhänge eingebundene Natur.

TurinMailänder Stundenbuch

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„Randphänomene“

Das Charakteristikum gotischer Initialkunst schlechthin ◀ Abb. 20  Jan van Eyck: Geist das ▶ Fleuronné, ein filigranes, oft höchst elegantes, ein- burt Johannes’ des Täufers und Taufe Christi, in: Turin-Mailänder oder mehrfarbiges Rankenwerk, das der Initiale entwächst, Stundenbuch, um 1420; Turin, sich über die Ränder ausbreitet und von unterschiedlichs- Museo Civico d’Arte Antica, Ms ten Gestalten, gar von weitschweifigen Szenen bevölkert 47, fol. 93v. sein kann. Die Initialen der Renaissance wiederum integrieren in ihren Dekor ger- Fleuronné ne klassische Architekturmotive der Antike. Historisierte Initialen der Zeit, sei es in Italien, sei es nördlich der Alpen, gehen – parallel zu den Großminiaturen – dazu über, die füllenden Bilder und Szenerien tiefenräumlich, mathematisch-perspektivisch zu organisieren, also wie kleine, durch den Initialkörper gerahmte Tafelbilder zu behandeln. Initialmalerei begegnet sogar noch in den Inkunabeln des Buchdrucks, in denen die Drucker nicht selten den Raum für Initialen aussparten, damit der Miniator dort den farbigen Anfangsbuchstaben von Hand hineinmalen konnte. Die Exklusivität der individuell „ikonisierten“ Initialen übte offenbar nach wie vor einen zu großen Reiz aus, als dass man sie ohne weiteres den standardisierten Typen des Buchdrucks überlassen hätte.

„Randphänomene“ Projektive Rahmungen Das in der Wiener Schatzkammer aufbewahrte ▶ Krönungsevangeliar entstand, wie wir hörten, in der Palastschule am Aachener Hof Karls des Großen (vgl. Abb. 3). Monumental wirkende Evangelistengestalten bilden das Präludium zu den vier Evangelientexten. Deutlich strebt die gesamte Bildauffassung etwa des Johannes (fol. 178v) den Anschein eines gerahmten hochrechteckigen Tafelbildes an, nicht zuletzt deshalb, weil der mit vegetabiler Ornamentik verzierte Rahmen ähnlich einem Trompe-l’œil Reliefstruktur vortäuscht. Im weiteren historischen Verlauf verzichteten die Buchmaler, beginnend wahrscheinlich im unmittelbaren Anschluss an die karolingische Epoche, auf derartige Rahmenformen oder sie hoben deren illusionistischen Charakter auf, indem sie die ehedem plastisch gemeinten einfassenden Gebilde in die Fläche zurückführten und zu planen dekorativen Leisten abstrahierten. Auf diese Weise wurde der als materielles Objekt interpretierte Bilderrahmen frei für die ornamentale Gestaltung: Er wurde zum integralen Bestandteil des komplett den Flächenprinzipien gehorchenden Dekorationssystems der Buchseite, indem er mit dem Beiwerk der Bordüren, speziell dem Fleuronné, verschmolz. Erst die

Wiener Krönungsevangeliar

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Renaissance sollte in ihrem Bemühen um „klassische“ Kompositionsklarheit nachhaltig, wenn auch keineswegs ausnahmslos, zum Tafelbildcharakter der Miniaturen und einer adäquaten Rahmung zurückkehren.

Bordürensysteme Unter Bordüren (franz. bordure bedeutet Einfassung, Borte) versteht man eine um den Textspiegel und/oder um eine Miniatur herumgelegte dekorative Rahmung. Sie entwickelte sich in der Übergangsphase zwischen romanischer und gotischer Buchmalerei als zunehmend wichtiger werdende Konkurrenz der Initialzierleisten. In der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts, ausgehend von den Randleisten- Rankenausläufern der Initialen, entstand die ▶ Randleistenbordüre, befestigt bordüre an einem der Initiale entwachsenden Stab, welcher den Text von der Bordüre trennt. Die Loslösung von der Initiale führte dann zur Vollbordüre. Deren Motivschatz blieb vorerst rein vegetabil, ehe er sich Drolerie-Motive, Medaillons aller Art, Trompe-l’œil-Stillleben, hingestreute, plastisch erfasste Blumen, Tiere (gerne Vögel, Schmetterlinge, andere Insekten) und Szenisches (historisierte Bordüre) einverleibte. Das letztere Gestaltungsprinzip fand seine FortBildbordüre setzung in den ▶ Bildbordüren. Diese zu einem Bildelement (Interieur, Landschaft u. Ä.) ausgebauten Bordüren erlebten ihren Höhepunkt in der flämischen Buchmalerei des 15. und 16. Jahrhunderts (Abb. 21). Doch auch Italien spielt eine gewichtige Rolle, indem es die Bordüren um farbige Blüten und stilisierte Akanthusblätter bereicherte, die im Laufe des 15. Jahrhunderts in ganz Europa zu den Hauptmotiven der Bordürengestaltung avancierten. Von Anfang an war es die Aufgabe der Bordüre, die übrigen Komponenten einer Manuskriptseite – die Initialen, den Rahmen und die Miniaturen – eng miteinander zu koordinieren und das vorherrschende Flächenprinzip mit der bildlichen Raumillusion, sofern stilistisch vorhanden, zu einer harmonischen Einheit zu führen. Die Illuminatoren hatten natürlich eine breite Skala vegetabiler Motive zur Verfügung, mit denen sie ihre Bordüren gestalteten. Sie konnten beispielsweise die in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts aufgekommene, linear strukturierte, vor allem in Blau, Rot und Schwarz ausgeführte, um Initialen geschlungene Blattranke entlang eines Bordürenstabes weiterführen. Dornblattranken waren eine Spezialität der gotischen Buchmalerei. Gemeint sind darunter von einer Ranke ausstrahlende, an kleinen Zweigen sitzende, botanisch nicht immer unterscheidbare zugespitzte Efeu- oder Weinblätter. Von derart stilisierten Weinblättern leitete sich dann auch der im Mittelalter gebräuchliche Begriff Vignette ▶ „Vignette“ oder „vigneture“ ab. Betrachten wir für die weitere Entwicklung fol. 30r in den kurz vor 1410 von den Brüdern Limburg für den Herzog von Les Belles Berry fertig gestellten ▶ Belles Heures (New York, Metropolitan Museum of Art, Heures

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▲ Abb. 21  Flämischer Meister (Brügge oder Gent): Madonna mit Kind, in: Hastings-Stundenbuch, um

1483; London, British Library, Add. Ms 54782, fol. 59v.

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The Cloisters 1854, acc. no. 54.1.1). Dort beginnt der Zyklus des Marienoffiziums mit der Verkündigung an Maria. Es ist nicht nur die Schönheit dieser Verkündigungsszenerie, es ist vielmehr die vierseitige Bordüre, die diese Bildseite zu einer Meisterleistung der Brüder Limburg macht. Die Künstler haben nämlich, nachdem schon eine üppige Dornblatt-Rahmung ausgeführt war, diese wieder abrasieren lassen, um den modernsten Dekor anzubringen, den sie inzwischen kannten: eine überwältigend reiche Akanthusbordüre. Hier tritt dieses Motiv in der Pariser Kunst zwar nicht erstmalig auf, doch ist diese Bordüre wegweisend für die prachtvollen Möglichkeiten einer Dekorationsform, die ihre Blüte Generationen später in den flämischen Randverzierungen erlebte. In die Ranken haben die Limburgs nämlich auch Bildinseln eingestreut, in denen auf Goldgrund musizierende Engel, Propheten, Allegorien, Wappen, Drolerien und Ähnliches auftauchen. Bordüren verklammern die einzelnen Bestandteile einer Manuskriptseite zu Bas-de-page einem Gesamtsystem, zu dem auch das sogenannte ▶ Bas-de-page gehört, das heißt ein marginalisierter Bildbereich im unteren Teil des Schriftspiegels oder auch unterhalb von diesem, mit kleinen, inhaltlich meist auf die Hauptminiatur bezogenen Szenen beziehungsweise Drolerien. Wie dadurch eine narrative Sequenz zustande kommen konnte, wurde bereits anhand einer Seite des TurinMailänder Stundenbuches dargestellt (vgl. Abb. 20). Welch raffinierte Erzähltechnik und Symbolisierungsoption die illusionistische Transformation der rahmenden Bordüre in Gang zu setzen vermochte, sei an einem erstaunlichen Beispiel referiert. Das ▶ Stundenbuch der Maria von Burgund in der Österreichischen NatioStundenbuch der nalbibliothek in Wien (Cod. 1857) ist eines der bedeutendsten Werke spätmitMaria von telalterlicher Buchmalerei. Es entstand um 1477 in Flandern. Die komplizierte Burgund Frage nach dem verantwortlichen, sicher niederländischen Künstler soll an dieser Stelle nicht interessieren. Die Besitzerin, Maria, war die Tochter des letzten Burgunderherzogs, Karls des Kühnen. Nach dessen Tod in der Schlacht kam es am 21. April 1477 zur Ehe zwischen Maria und dem Habsburger Kaisersohn Maximilian in Brügge. Zu diesem Anlass hat die Stiefmutter Margarete von York Maria das Stundenbuch als Geschenk übergeben (vgl. Abb. 12). Auf fol. 43v öffnet der Künstler das Pergamentblatt suggestiv in den Raum, indem er die für Miniaturen traditionelle dekorative Randzone zu einem ▶ InTransformation der terieur ausbaut, durch das der Betrachterblick auf ein Geschehnis im Freien Bordüre gelenkt wird. Die Grenze zwischen Interieur und Außenwelt bildet eine fensterartige Säulenstellung. Auf deren Brüstung liegen ein Brokatkissen und ein kostbarer Rosenkranz; auf zwei anstoßenden Mauerpostamenten befinden sich unter weiteren Gegenständen ein Schmuckkästchen und ein aufgeschlagenes Gebetbuch. Im Landschaftsprospekt hinter der Arkade ist eine Menschenmen-

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„Randphänomene“

ge um den am Boden liegenden Christus gruppiert, der gerade ans Kreuz genagelt wird. Während die Schergen dabei sind, den letzten Nagel ins Kreuz zu treiben, versucht Johannes die zusammenbrechende Maria zu stützen. Vorne wenden sich einige Frauen in der burgundisch-höfischen Tracht des ausgehenden 15. Jahrhunderts um und schauen direkt aus dem Bild heraus. Dieser Blickachse entspricht auch eine innere Beziehung zwischen den einzelnen Darstellungsbereichen, eine Relation, auf die deutlich von der Konsolplastik seitlich der Arkade angespielt wird: Ihrem Realitätscharakter nach gehört sie zum Dekor des Innenraums, inhaltlich verweist sie auf das Geschehen draußen. Die links wiedergegebene Opferung Isaaks durch Abraham sowie die Darstellung des Moses mit der ehernen Schlange auf der rechten Seite weisen auf den Opfertod Christi und seine Erhöhung am Kreuz voraus. Die aufgeschlagene Seite des Gebetbuches mit der Kreuzigung zeigt die kanonische Stundenbuchdarstellung zu den Kreuzstunden und konkretisiert die in dem Interieur waltende Andachtsstimmung ebenso wie die sonstigen Gegenstände: das Kissen zum Aufstützen beim Beten, der auf ihm liegende kostbare Rosenkranz, das Juwelenkästchen in Gestalt eines zeitgenössischen Reliquiars, das Glasfläschchen, das man als Zeichen für die Reinheit Mariens deuten darf. Wie durch ein Fenster betrachtet man die vergangene Handlung und holt sie damit in die Gegenwart herein, sodass sie dem imaginären Bewohner des Innenraums, zu dem die Bordüre transformiert wurde, direkt vor Augen rückt. Es handelt sich um ein komplexes Vexierspiel raumzeitlicher Verweise und damit auch von Bedeutungsnuancen. Die Adressatin sowohl der formalen als auch der inhaltlichen Bildbezüge ist die Besitzerin des Stundenbuches, ist Maria von Burgund. Sie ist potenziell im Bild, im Interieur (also in der einstigen Marginalzone) anwesend, ihr sind die dortigen kostbaren Gegenstände zuzuordnen, die zugleich Träger einer Mariensymbolik sind. Die unmittelbare Vergegenwärtigung eines biblischen Ereignisses verbindet sich mit der reflexiven Betrachtung, das Sehen als visuelle Wahrnehmung verbindet sich mit innerer Schau. Nicht umsonst liegen die schmerzlich ausgestreckten Hände der Gottesmutter bei der Kreuzannagelung und der Rosenkranz auf der Fensterbrüstung auf einer vertikalen Kompositionslinie, nicht umsonst sind auf diese Weise der Ort der mitleidenden Gottesmutter und der Ort der Andacht Mar ias von Burgund aufeinander bezogen. Ja mehr noch, es ist, als habe die Fürstin das Gemach (die einstige Bordüre!) verlassen, um den Schauplatz der Passion aufzusuchen, jene Stelle, an der sich ihre Hofdamen in ihrer zeitgenössischen Kleidung

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schon befinden. Das Mitleiden, die compassio, die von der Gottesmutter Maria vorgelebt war, soll direkt von ihrer irdischen Namensträgerin nachvollzogen werden.

„Ouvertüren“ Eine besonders folgenreiche Innovation der im Quattrocento tätigen Schule

von Padua war die Ausgestaltung von Titel- oder ▶ Incipit-Seiten als fingierIncipitSeiten der te antike Monumente oder Architekturen mit Inschrift. Sie glichen so einem Renaissance „Triumphtor“, durch das sich der „Weg“ zum geschriebenen und gemalten Inhalt des Buches eröffnete. Doch nicht nur damals, vielmehr in allen Epochen existierten im Innenleben der Codices Einleitungssequenzen, die zu bemerkenswerten künstlerischen Bilderfindungen führten und in der Regel typologisch begründet waren. Im Bereich der sakralen, liturgischen beziehungsweise der Privatandacht dienenden Manuskripte war dies vor allem der Fall bei den Kanontafeln und den Kalendarien, während Autoren- und Dedikationsminiaturen, ferner die besagten Incipit-Seiten gleichermaßen in Profanhandschriften begegnen.

Kanontafeln

Eusebius von Caesarea

Den Evangelientexten vorangestellt, vermitteln diese Konkordanz-Tabellen bis gegen 1200, als sie von der Bildfläche verschwanden, zwischen dem „Draußen“, der Hülle des Buches, und seinem essenziellen Inhalt, dem Wort Gottes. Sie erschließen wie magische Pforten, indem sie die heiligen Texte praktikabel und zugänglich machen, den Weg zu deren Heilsfunktion. Dies spiegelt sich auch in ihrer Erscheinungsform als Portale, die gleichsam das Buch eröffnen zum Gnade bringenden Inhalt der Evangelien. Die Frühgeschichte dieses „Entrées“ ist in der Hauptsache mit zwei Namen verknüpft. Um 313 zum Bischof von Caesarea gewählt, stellte ▶ Eusebius die Konkordanzreihen der Evangelienabschnitte auf. Er gliederte die Evangelien in 1162 nummerierte Abschnitte (Perikopen) – die Verseinteilung biblischer Texte, wie sie heutige Bibelausgaben verwenden, war im frühen Mittelalter noch nicht üblich – und ordnete diese numerisch in zehn Übersichtstafeln an, deren Zahlenreihen das Auffinden von Parallelstellen schnell und bequem erlaubten. Diese Übersichtstafeln (Konkordanzen), die bereits eine Art architektonischer Disposition beinhalteten, fungierten als die frühesten Kanontafeln. Um in den vier Evangelien jeweils übereinstimmende Textstellen leichter aufzufinden, erhalten alle Evangelien abschnittsweise fortlaufende Ordnungsnummern. Diese gruppieren sich zu Tabellen, canones, aus denen ersichtlich

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„Ouvertüren“

wird, ob ein Abschnitt nur bei einem Evangelisten vorkommt oder ob und an welcher Stelle Parallelen in den anderen Evangelien existieren. Kanontafeln zeigen folglich an, welche Textstellen in welchem Evangelium begegnen. Kanon I listet jene Textstellen auf, die in sämtlichen Evangelien vorkommen, Kanon II – IV präsentiert Übereinstimmungen zwischen drei Evangelien, Kanon V – IX solche zwischen zwei Evangelien und Kanon X vermerkt die nur bei einem Evangelisten zu findenden Passagen. Carl Nordenfalk, der ein Standardwerk über die Entstehung und Entwicklung der Kanontafeln geschrieben hat, verwies auf die Intention des Eusebius, die Evangelienharmonie in seinen Kanontafeln als Widerspiegelung der Heiligen Schrift im Kleinen zu etablieren. Eusebius zufolge partizipierten die Kanontafeln an der Heiligkeit des göttlichen Wortes, dem sie vorausgingen, und wurden deshalb ungewöhnlich prachtvoll in die Gestalt von Kolonnaden gekleidet. Eusebius schrieb dieser architektonischen Form auch eine symbolische Funktion zu: als Atrium am Eingang zum heiligen Text – eine Einladung und ein Weg zum Allerheiligsten. Der zweite Name, der in vorliegendem Zusammenhang genannt werden muss, ist der des heiligen ▶ Hieronymus. Der Übersetzer der Bibel ins Lateihl. nische (Vulgata) ist insbesondere seit dem italienischen Frühhumanismus des Hieronymus 14. Jahrhunderts unzählige Male als einer der größten doctores der lateinischen Kirche in der reich mit Büchern ausgestatteten Studierstube dargestellt worden. Er war der heilige Patron all derjenigen, die auf dem Gebiet der Sprache tätig waren. Seiner im Jahre 405/06 abgeschlossenen Vulgata-Ausgabe der Bibel stellte er Kanontafeln voran, deren Aufgabe er in einem Brief an Papst Damasus beschrieb. Damit hatte er das Fundament gelegt, auf dem die kommenden Evangelienbücher aufbauen sollten, indem sie ihren Texten regelmäßig Kanontafeln vorausschickten und diese immer künstlerischer ausstaffierten und als ästhetisch raffinierte, architektonisierte Bild-Wort-Zahlen-Konfigurationen präsentierten. In der buchkünstlerischen Ausgestaltung der Evangelienbücher erscheinen die eusebianischen und von Hieronymus institutionalisierten Tabellen in drei maßgeblichen Versionen: zum einen in der zwölf Tafeln umfassenden kleineren lateinischen Kanonfolge, welche die entsprechenden Handschriften seit etwa 400 und im Mittelalter dann allgemein verwendeten; zweitens in der sechzehn Tafeln umfassenden größeren lateinischen Kanonfolge, und schließlich in der zehnteiligen byzantinischen Kanonfolge, die vor allem in spätottonischer Zeit auch im Abendland ihren Einfluss geltend machte. Die Tabellen der canones werden in senkrechten, zumeist von Säulen getrennten Kolumnen nebeneinander angeordnet. Dieses Schema forderte die architektonische Gestaltung der Kanontafel heraus. Sie ist entweder wie die Schauseite eines antiken Tempels komponiert, indem die Buchkünstler die Säu-

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▶ Abb. 22  Book of Lindisfarne: Kanontafel, um 715–720; London, British Library, Cotton Ms Nero D IV, fol. 17v.

Book of Lindisfarne

len durch Dreiecksgiebel verbanden (der sogenannte Gebälktypus), oder die Kanonreihen sind mit einem überwölbenden Rundbogen zusammengefasst, was der häufigste Fall ist. Der Gebälktypus ist vorwiegend in der karolingischen Buchmalereischule von Reims ausgeprägt und findet sich beispielsweise im ersten Drittel des 9. Jahrhunderts in schöner Durchführung in dem nach dem Reimser Erzbischof Ebo benannten Ebo-Evangeliar (Epernay, Bibliothèque Municipale, Ms 1). Der Bogentypus ist seit dem 6. Jahrhundert nachzuweisen. Die früheste erhaltene und prächtige Ausformung erhielt er im ▶ Book of Lindisfarne (Abb. 22). In ihm nehmen die Kanontafeln sechzehn Seiten ein, was eine elegante Anordnung der Spalten für Querverweise erlaubt. Einzigartig ist beim Lindis-

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„Ouvertüren“

farner Evangeliar weiterhin, dass den Kanontafeln ein zusätzlicher Bogen für die Titel am oberen Teil der architektonischen Komposition hinzugefügt ist und die Säulen mit stufenförmig getreppten Basen und Kapitellen ausgestattet sind. Kanontafeln, das zeigen solche Details im Verbund mit komplexem Dekor und feierlichem Schriftduktus, sind damals bereits zu einem anspruchsvollen Element der Buchgestaltung avanciert. Eine besondere Vielfalt legen die Kanonseiten der Evangeliare – und das macht sie speziell auch für die Kunst des Illuminierens so interessant – bei der Verzierung der Architekturrahmungen und bei figurativen Zusätzen an den Tag. Dazu dienen ornamentale wie vegetabile Elemente an den Rändern und in den Zwickeln, Evangelistensymbole in den Lünetten oder um die Säulen geschlungene Vorhänge (vela). Letztere, die in vergleichbarer Weise auch bei Architekturkulissen von Evangelistenbildern erscheinen können, geben als Zeichen der revelatio (Offenbarung) den Blick frei auf das Relevante, die Offenbarungen im Buch, niedergelegt in den geheiligten Schriften.

Kalendarien Vor allem Stundenbücher beginnen im Allgemeinen mit einem Kalender, einem Kalendarium. Mithilfe farbiger Hervorhebungen oder anderweitiger dekorativer Akzente wird hier inmitten eines Verzeichnisses aller nach Monaten und Tagen geordneter beweglichen und unbeweglichen Feste des Kirchenjahres auf besonders wichtige Festtage hingewiesen. Die Zusammenstellung der Einträge differierte im Mittelalter nach dem Gebrauch für einzelne Diözesen, Orden, Kirchen et cetera. Deshalb lassen sich mit ihrer Hilfe oft Schlüsse auf die regionalen Entstehungs- beziehungsweise Bestimmungsorte einer Handschrift ziehen. Die Monatstage sind in einem solchen ▶ immerwährenden Kalender nicht fortlaufend nummeriert. Vielmehr sind die altrömischen Bezeichnungen von Kalenden, Iden und Nonen verwendet, nach der die Tage berechnet werden, ausgehend von drei Fixpunkten eines Monats. Die Wochentage werden mit Kleinbuchstaben des Alphabets von a bis g begleitet. Dabei handelt es sich um die sogenannten Sonntagsbuchstaben. Verwendet man sie im Zusammenhang einschlägiger Tabellen, dann lassen sich der Wochenverlauf und der Ostertermin am Sonntag nach dem ersten Vollmond im Frühjahr ermitteln. Dazu bedarf es zusätzlich noch der sogenannten Goldenen Zahl, die im Kalendarium aus der Verteilung einzelner Zahlen von I bis XIX resultiert, sofern man erneut besagte Tabellen auf sie anwendet; denn dann ergeben sich neunzehn verschiedene Möglichkeiten, welche die Bestimmung des Mondzyklus erlauben. Doch es sind nicht so sehr die eigentlichen kalendarischen Einträge, die in buchmalerischer Hinsicht relevant sind, obwohl auch sie durchaus schön illuminierten Dekor aufweisen können, sondern die begleitenden Szenerien, die

immerwährender Kalender

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insbesondere im Spätmittelalter die einzelnen Monate farbenfroh veranschaulichen. Sie gehören ikonografisch in die lange Tradition der illustrierten Monatsarbeiten (neben der Buchmalerei karolingischer Zeit [vgl. Abb. 13] Reliefs in der Portalzone romanischer und gotischer Kathedralen, Fresken et cetera) und der Jahreszeitenzyklen und spielen in der Gattungsgeschichte der Landschaft sowie des Genres eine herausragende Rolle. Am berühmtesten in dieser Hinsicht sind die Monatsminiaturen in den von Monatsbilder den Brüdern Limburg ausgestatteten ▶ Très Riches Heures des Duc de Berry in in den Très Chantilly (vgl. Abb. 27). Miniaturen und Kalenderblätter füllen hier nebeneinRiches andergesetzt jeweils eine Doppelseite aus. Heures In dem das Rechteck der Kalenderbilder überhöhenden blaugrundigen, in kostbarstem Lapislazuli gemalten Halbrund erblickt man von außen nach innen vier einander konzentrisch überlagernde Bogenfelder. Im äußeren Feld stehen die lateinischen Namen der beiden pro Monat einander ablösenden Tierkreiszeichen. Das zweite Feld zeigt auf blauem Grund das sternenübersäte Band des Zodiakus, während in einem weiteren Bogenfeld darunter astronomische Daten eingetragen sind: der Monatsname und die Zahl seiner Tage, die Mondphasen sowie die Zahlen der einzelnen Monatstage in der Reihenfolge von 1 bis 30 beziehungsweise 31. Im innersten Halbkreis schließlich thront der Sonnengott Phoebus auf seinem von geflügelten Rossen durch den Himmel gezogenen Wagen, während er die Sonne in Händen hält. Darunter formen sich die jahreszeitlichen Tätigkeiten zu ganzseitigen Bildern mit genrehaften höfischen oder bäuerlichen Szenen vor wunderbaren Hintergrundlandschaften. In den meisten erscheint minutiös und doch auch wie eine Fata Morgana jeweils eines jener berühmten Schlösser, die dem Herzog von Berry oder der französischen Krone gehörten: Stützpunkte und Wahrzeichen der Herrschaft ebenso wie überquellende Schatzkammern und Kunstsammlungen. Eine einzigartige Miniatur, die den physischen und psychischen Einfluss der Sternbilder auf den Menschen veranschaulicht, beschließt auf fol. 14v das Kalendarium (Abb. 23). Ikonografische Anregungen gaben wahrscheinlich ältere medizinische Werke, etwa das Blatt in einem jüdischen Manuskript, das im 14. Jahrhundert in der Provence geschrieben wurde (Paris, Bibliothèque nationale de France, Ms hebr. 1181). Das Besondere an der Miniatur in den Très Riches Heures ist die Doppelder „astro- gestalt des ▶ menschlichen Körpers, ein von hinten gesehener Jungmännerakt logische und, in Vorderansicht, die zarte Aktfigur eines Mädchens. Die Doppelgestalt Mensch“ scheint im Kosmos zu schweben, umgeben von einem Luftraum in Form einer Mandorla, mit den sieben Planetensphären. In der ovalen Rahmung finden sich die Sternbilder des Zodiakus. Sie sind durch Blattwerk und lateinisch beschriftete Namensbänder getrennt. Vor dem anatomischen Menschenpaar schweben erneut die Zodiakalsymbole. Der astronomische Text, der die Darstellung in

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„Ouvertüren“

▲ Abb. 23  Gebrüder von Lim-

den Blattecken begleitet, kombiniert jeweils drei der Tier- burg: Der astrologische Mensch, in: kreiszeichen mit zwei der vier Beschaffenheiten warm, Les Très Riches Heures du Duc de Berry, 1410–1416; Chantilly, Musée kalt, trocken und feucht, ferner mit dem männlichen oder Condé, Ms 65, fol. 14v. weiblichen Charakter, einem der vier Temperamente und einer der vier Himmelsrichtungen. Hinter dieser Bilderfindung steht die Überzeugung, dass der Mensch als Mikrokosmos ein geheimnisvolles Äquivalent des Makrokosmos, des Universums, sei.

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Breviarium Grimani Flämischer Kalender

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Die Kalenderbilder der Très Riches Heures fanden um 1510 – 1520 stilistische und ikonografische „Fortsetzung“ im ▶ Breviarium Grimani. Sie werden dem Flamen Gerard Horenbout zugeschrieben. Und dessen Miniaturen wiederum erfuhren um 1540 ein Echo im sogenannten ▶ Flämischen Kalender: Er zeichnet sich trotz seines extrem kleinen Formats durch hohen künstlerischen Rang und kostbare Aufmachung aus – nicht umsonst hat ihn im 17. Jahrhundert der bayerische Kurfürst Ferdinand Maria als ein Prunkstück für seine Schatzkammer in München erworben (München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 23638). Der Kalender ist allerdings nur der Rest eines einstigen Stundenbuches. Jedem Monat in diesem Büchlein sind ein Vollbild und auf der rechten Pendantseite eine Randminiatur gewidmet, die die Kalendereinträge umschließt. Die wunderschönen Miniaturen bieten Szenen aus dem täglichen Leben, seine im Jahresverlauf wechselnden charakteristischen Tätigkeiten, voller Charme und Beobachtungsgabe. In einigen Fällen sind die Ansichten der Vollbilder und der Randminiaturen sogar zu blattübergreifenden, durchlaufenden Kompositionen ausgestaltet. Eine derartige formale und koloristische Zusammenschau setzte eine hohe Meisterschaft voraus. Als Maler gilt der in Gent geborene und in Brügge arbeitende Simon Bening, der auch am erwähnten Breviarium Grimani beteiligt war. Zeitgenossen rühmten ihn als den besten lebenden Buchmaler ganz Europas. Die Miniaturen des Flämischen Kalenders mit ihren realistischen Landschaftsausschnitten, mit ihren liebevollen Einblicken in das ländliche und stadtbürgerliche Leben jener Jahre, wirken wie kleine Tafelgemälde. Dabei hat es Simon Bening jedoch verstanden, Bild und Schrift immer wieder zu einem harmonischen Organismus im Sinne des Mediums Buchmalerei zu vereinen.

Autoren-, Stifter- und Dedikationsbilder Godescalc- In mehrfacher Hinsicht wurde bisher das ▶ Godescalc-Evangelistar als ein Evangelistar bahnbrechendes Werk vorgestellt, dieses älteste unter allen erhaltenen Evange-

listaren, das Bilderschmuck aufweist. Auch im Zusammenhang mit Autorenbildern darf es wieder genannt werden. Der im Typus der Majestas Domini thronende Christus (fol. 3r), vermutlich von einer spätantiken Vorlage abgeleitet, ist durch eine innovative physische Plastizität ausgezeichnet. Kaum weniger prägnant erscheinen die vier Evangelistenbilder, die dieser Miniatur vorangehen. Die Evangelisten sitzen, überhöht von ihrem Symbol, in einem rechteckig gerahmten Feld (wogegen die Evangelisten späterer Handschriften meist unter einer Säulenarkade platziert sind). Der Typus des Evangelisten, der im Akt des Schreibens göttlicher Inspiration gehorchend dargestellt ist, folgt dem Muster antiker Autorenbilder. Denn auch diese gaben einen inspirierten, in diesem Fall von der Muse inspirierten Autor wieder. In der Beziehung zur Majestas Domi-

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„Ouvertüren“

ni kommt jedoch ein spezifisch neuer Akzent hinzu: Christus gleicht, indem er im Maßstab den vier Schreibern vor ihm angepasst ist, einem fünften Autorenbild: Er ist die Quintessenz, auf ihn gehen die vier Evangelientexte im Ursprung zurück. Das Godescalc-Evangelistar erweitert nebenbei bemerkt das bildliche Proömium noch um ein weiteres zukunftsweisendes Miniaturenmotiv, den Lebensbrunnen (fol. 3v) – verschiedene Vögel und ein Hirsch, Symbole der nach dem Wasser des ewigen Lebens dürstenden Menschenseele, nähern sich einer unter einem goldenen Baldachin sprudelnden Quelle des Paradieses (vgl. Abb. 2). Darin liegt die Verheißung dessen, was der auf der folgenden Seite mit einer beeindruckenden Initiale anhebende Text explizit in goldenen Buchstaben auf Purpurgrund zu verkünden beginnt. Das Godescalc-Evangelistar ist nicht das erste Buch, das die Evangelisten im Sinne antiker Autorenbildnisse darstellt. Aber es setzte Maßstäbe, wie diese „Bildnisse“ als eindrucksvolle Ouvertüre im Bild-Text-Organismus unterzubringen waren. Während im Aachener Schatzkammerevangeliar (fol. 14v) die Evangelisten ausnahmsweise auf einer einzigen Seite, zu viert in einer eindrucksvollen Phantasielandschaft sitzend und schreibend vereint sind, wird es in den folgenden Evangelienausgaben üblich, je eines dieser Autorenbilder an den Anfang eines jeden Evangeliums zu setzen. Aus dem Wiener Krönungsevangeliar wurde bereits ein Beispiel besprochen, das stellvertretend für eine Vielzahl anderer stehen darf (vgl. Abb. 3). Typologisch mit den Autorenbildern der Evangelisten verwandt ist die Darstellung des heiligen ▶ Gregor des Großen, des ersten Mönches auf der Kathe- Gregor d. Gr. als Autor dra Petri, der im ausgehenden 6. Jahrhundert lebte. Bereits die älteste, zwischen 704 und 714 in einem northumbrischen Kloster verfasste Vita berichtet von jener Inspiration, die ihm bei der Niederschrift seiner Ezechiel-Homilien durch eine himmlische Taube zuteil geworden sei. Dementsprechend stellen ihn die Kunst und eben auch die Buchmalerei im etablierten Typus des schreibenden oder sinnierenden Autors dar. In allen genannten und in unzähligen späteren Fällen manifestiert sich die Tendenz, den Autorenbildern, die den Text einleiten, das Format einer Vollminiatur zu geben. Annähernd das Gleiche gilt für die Veranschaulichung antiker Autoren. In dem gegen 500 datierbaren ▶ Vergilius Romanus (fol. 14v) sieht Vergilius Romanus man das Autorenbildnis des sitzenden lateinischen Dichters, wenn auch noch nicht seitenfüllend, sondern als textunterlegtes Querformat von etwa einem Drittel Blatthöhe. Anspruchsvoller ist das gegen 512 anzusetzende Auroren„Porträt“ (fol. 5v) im Wiener Dioskurides, das den im ersten nachchristlichen Jahrhundert lebenden Verfasser im Profil zeigt, wie er schreibt. Ein jugendli-

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Manessische Liederhandschrift

Christine de Pisan

Widmungsminiatur im Wiener Dioskurides

Elemente der Gestaltung

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cher Miniator ihm gegenüber zeichnet auf ein auf einer Staffelei befestigtes Pergamentblatt eine Mandragora-Pflanze und blickt über die Schulter zur Personifikation der Epinoia, der Macht des Gedankens, die eine solche Pflanze in Händen hält. Seitenfüllend dann die Miniatur in einer aus dem Anfang des 13. Jahrhunderts stammenden Handschrift mit der Naturalis historia (Florenz, Biblioteca Medicea-Laurenziana, Ms Plut. 82.1, fol. 2v), auf der der Autor Plinius d. Ä. Kaiser Titus ein Schriftband mit der Widmung seines Werkes überreicht, während der Schreiber (vermutlich nicht der Miniator) als marginaler Blickfang auf einem Baum hockt. 137 ganzseitige Miniaturen füllen die ▶ Manessische Liederhandschrift in Heidelberg und präsentieren großformatig und gelegentlich auch szenisch arrangiert die Autoren, mittelhochdeutsche Minnesänger (Abb. 24): Diese Bilder stehen also nicht im Proömium einer Handschrift, sondern illustrieren deren Inhalt über Hunderte von Seiten hinweg. Nicht zu vergessen ist ein nun wieder zum Auftakt zählendes Autorenbildnis in einer um 1410 – 1412 entstandenen Pariser Handschrift, deren französischer Titel lautet: L’Épître d’Othéa à Hector (London, British Library, Harley Ms 4431, fol. 4r). Dieses Stück Literatur stammt von einer der berühmtesten Schriftstellerinnen der älteren europäischen Literaturgeschichte, von ▶ Christine de Pisan. Die Miniatur stellt die aus Pisa gebürtige Autorin im Inneren eines spätgotischen Hauses am Schreibpult dar und erhebt sie zusätzlich zur konkreten Bildnisabsicht zum Sinnbild der Vita contemplativa, des beschaulichen, der Muse geweihten Lebens. Die älteste einen Buchtext einleitende Widmungs-(Dedikations-)Miniatur findet sich im zitierten ▶ Wiener Dioskurides (fol. 6v): Sie präsentiert in ornamentaler Rahmung die byzantinische Prinzessin Anicia Juliana, begleitet von zwei Personifikationen; ihr war das Werk um 512 gewidmet worden. Jahrhunderte lang zählten Widmungsminiaturen dann zum fast unumgänglichen Bestandteil jener Handschriften, die sich hochherrschaftlichem Auftrag verdankten. Im Codex Aureus Escorialensis, einem 1043 – 1046 in Echternach vollendeten Evangeliar für Kaiser Heinrich III. (El Escorial, Biblioteca de San Lorenzo, Cod. Vitr. 17), sind gleich zwei Widmungsbilder in eine doppelseitige Komposition einbezogen (fol. 2v/3r): Links knien zu Füßen eines thronenden Christus die wesentlich kleineren Gestalten Kaiser Heinrichs II. und seiner Gemahlin Gisela, der Eltern Heinrichs III.; rechts nimmt die thronende Muttergottes von Heinrich das Evangelienbuch entgegen und segnet gleichzeitig dessen Gemahlin Agnes. Das ganzseitige Widmungsbild (fol. 19r) im früher schon vorgestellten Evangeliar Heinrichs des Löwen, um 1175 – 1188, zeigt im unteren Register Heinrich den Löwen und Mathilde mit den Heiligen Ägidius und Blasius, die das Herzogspaar (und Stifterpaar des Buches) der darüber thronenden Madonna zuführen. Der Widmungsakt an sich ist verdeutlicht in der 1371 in

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„Ouvertüren“

▲ Abb. 24  Codex Manesse (Ma-

Paris hergestellten Bible historiale de Jean de Vaudetar nessische bzw. Große Heidelberger (Den Haag, Museum van het Boek/ Museum Meerman- Liederhandschrift): Heinrich von Morungen, zw. 1310 und ca. 1340; no-Westreenianum, Ms 10 B 23). Der Kammerherr Jean Heidelberg, Universitätsbibliothek, de Vaudetar hatte eine Bibelnacherzählung als pracht- Cod. Pal. Germ. 848. volles Geschenk für den französischen König Karl V. anfertigen lassen. Dieser veranlasste das Einfügen einer Titelseite (fol. 2r), auf der sein Hofmaler Jean Bondol aus Brügge die Überreichung des Buches am 28. März 1372 szenisch darstellte. Noch narrativer aufgebaut ist die zwei Drittel von fol. 4r einnehmende bildliche Widmung in der um 1412 erneut in Paris geschriebenen und illuminierten staatsphilosophischen Schrift Pierre Salmon: Réponses à Charles VI et Lamentation au Roi sur son état (Genf, Bibliothèque publique et universitaire, Ms fr. 165). Der ansonsten unbekannte Autor Pierre

VII.

Elemente der Gestaltung

166

Salmon überreicht dem auf dem Rand seines Prunkbettes sitzenden König Karl VI. das Buch; Augenzeugen sind drei hochrangige Persönlichkeiten, darunter der Herzog Jean de Berry. Eine ganz spezielle Lösung des Widmungsgedankens bietet erneut das ▶ Stundenbuch der Maria von Burgund. Fol. 14v (vgl. Abb. 12) Stundenbuch der zeigt eine vornehme Dame, mit der entweder Maria von Burgund oder MargaMaria von rete von York gemeint ist, wobei Letztere das Buch ihrer Stieftochter Maria geBurgund schenkt hatte, auf einer seitlichen Fensterbank sitzend und in einem Gebetbuch lesend. Auf der Brüstung sieht man abgelegten Schmuck und zwei rote Nelken. Die geöffneten Fensterflügel geben den Blick frei in den Chorraum einer gotischen Kathedrale, in dem als Adressatin die Madonna mit dem Kind thront. Man kann die Darstellung sowohl als Visualisierung eines Dedikationsaktes wie als solche einer Buchstiftung bezeichnen. Denn in Stifterbildern ließen sich die hochrangigen Auftraggeber – vom Kaiser und König bis zum Bischof, zum Abt und zur Äbtissin – eben nicht selten im Vollzug der Dedikation, also bei der Widmung des Buches an eine heilige Person, wiedergeben. Nicht immer musste die Repräsentation des Stifters jedoch im szenischen Kontext und im großen Format einer Titelminiatur geschehen (worüber im nächsten Kapitel im Zusammenhang ottonischer und romanischer Herrscherbilder noch etwas zu sagen sein wird), sie konnte auch – sozusagen als visuelle Bescheidenheitsformel – im Kleinstraum einer Initiale oder eines Bordüren-Medaillons stattfinden. Letzteres war beispielsweise der Fall in der ▶ Bibel des Federico da Bibel des Federico da Montefeltro, auf deren Titelseite eine Renaissance-Bordüre die in Capitalis geMontefeltro schriebene Textpassage rahmt und seitlich zwei Medaillons mit den Bildnissen Federicos und seiner Gattin Battista Sforza, also des herzoglichen Auftraggeberpaares, enthält. Um 1448 schuf der große Tafel- und Altarbildmaler Rogier van der Weyden – über diese Zuschreibung ist sich die Forschung weitgehend einig – die Titelminiatur zum ersten Band der Chronik des Hennegau (Brüssel, Bibliothèque Royale Albert 1er, Ms 9242 – 9244, fol. 1r). Sie zeigt die Überreichung des Codex an dessen Besteller, wobei sich die Standards eines Stifterbildes mit denen eines Dedikations- respektive Autorenbildes vereinen. Auch diese Typenverschmelzung ist in der Geschichte der Buchmalerei des Öfteren zu konstatieren.

VIII. Zwischen

künstlerischer Tradition und Innovation

D

as 14. Jahrhundert war in der Geschichte der Buchmalerei ein Wendepunkt hinsichtlich der Bildersprache und ihrer Stellung zwischen Tradition und Innovation. Die Veränderung betraf die formale und kompositorische Verselbstständigung der Miniaturen, die bahnbrechende Autonomie des illuminierten Bildes, jenen Prozess, der eine gewisse Inkongruenz mit sich brachte zwischen den modernen Bildorganismen und der Fläche des Blattes, die sie aufnahm. Die Schöpfer dieser neuen Bildersprache waren keine Buchmaler. Es waren italienische Tafelmaler und Freskanten, ▶ Giotto und dessen Nachfolger im Trecento. Aber sie beeinflussten die Buchmalerei im eigenen Land und ebenso nördlich der Alpen in einer Intensität, die man gar nicht hoch genug veranschlagen kann. Ihre Arbeiten stellten ein kunstvoll geformtes, rhythmisiertes Ganzes vor Augen, die Ästhetik eines in sich geschlossenen Kunstwerkes. Auch wenn das einzelne Tableau zu einem größeren Ganzen gehört – an den Wänden einer Kirche oder eines Palastes, in der Summe von Tafeln eines Altarwerks –, ist es jeweils eine selbstständige Größe. Das frühmittelalterliche Bild ordnete sich hingegen immer dem realen Gebilde, das es schmückte, unter und verblieb derart im Status variabel ausgeprägter zeichenhafter Stilisierung. Während die Protagonisten in Italien den von ihnen unterschiedlich präparierten materiellen Grund (die Wandfläche, die Holztafel) zu einem Projektionsraum transformierten, indem sie das jeweilige Bild zum illusionistischen „Fensterausblick“ in eine tiefenräumliche Welt verwandelten, sahen sich die Buchmaler, wollten sie hiermit wetteifern, einem ungleich schwierigeren Sachverhalt gegenüber: Bedingt durch das Medium und seine arbeitstechnischen Notwendigkeiten gingen die Miniatoren erst nach den Schreibern und Rubrikatoren an die Arbeit. Sie hatten sich vielfach mit vom Text ausgesparten Stellen auseinanderzusetzen, in die ihre Bilder einzufügen waren. Dies band die Miniaturen – rein optisch gewertet – an die Flächengesetzlichkeit der Schrift; die Zweidimensionalität der Kalligrafie wurde ihnen zur Richtschnur und ord-

Giottos Kunst als Vorbild

VIII.

Miniaturen als „Fenster“

Zwischen künstlerischer Tradition und Innovation

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nete sie der Dominanz der Pergamentseite ein und unter. Die Bilder gehorchten jenem Diktat der Fläche durch Stilisierung, Ornamentalisierung und den Verzicht auf räumliche Illusion. Als sich die Miniaturen jedoch in illusionistische ▶ „Fenster“ verwandelten, als sie die Pergamentblätter virtuell durchstießen und eine Welt „hinter“ der Buchseite imaginierten, konterkarierten sie das traditionelle Zusammenspiel aller Ausstattungselemente des Buches, wurden bald mehr, bald weniger eigenwertig. Dabei brachen sie durchaus nicht alle Brücken zum traditionellen Erbe des Mediums ab. Die in der Buchmalerei – vor allem in der französischen – bahnbrechenden Jahrzehnte um 1400 zeigen dementsprechend ein Janusgesicht, verliebt zurückblickend auf die große Vergangenheit und begierig die im italienischen Trecento kreierten Neuerungen aufgreifend. Und um ihr kreatives Potenzial etwa in den Belles Heures auszuschöpfen, passten die Brüder Limburg die Miniaturen nicht länger in freigelassene Stellen des zuvor geschriebenen Textes ein. Viele Darstellungen waren vielmehr seitenfüllend konzipiert und als eigenständige, durch keinerlei Text unterbrochene Zyklen eingefügt. Ihre Komposition erinnert an groß dimensionierte Malereien wie Tafelbilder, Glasfenster oder Fresken. Vor allem Paul Limburg war es, der in seinen Werken den Bildraum als kontinuierlichen, den eigenen Gesetzen gehorchenden Organismus gestaltete. Die Gebäude, die er in jenen Illusionsraum hineinstellt, folgen den Regeln der Perspektive, ebenso etliche Figuren in enorm verkürzter, Raum erschließender Haltung, die in der Kunst nördlich der Alpen bis damals unbekannt und selbst in Italien noch eine kühne Erfindung war. Gleichzeitig kommt in den Belles Heures zu dieser Naturalistik ein Kolorit hinzu, das mit überirdisch leuchtenden Farben die ideale Schönheit des Göttlichen und eine paradiesischutopische, eine nicht von Schatten verdunkelte Welt widerspiegelt. Wie sehr die moderne Bildautonomie schließlich die überkommenen Standards des Mediums infrage stellen konnte, beweisen die Gent-Brügger Miniatoren des späten 15. und frühen 16. Jahrhunderts. Malten sie doch das Gros der Bilder auf Einzelblätter, die anschließend in das Buch montiert wurden. Im Croy-Gebetbuch (Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 1858) zum Beispiel – im zweiten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts von Gerard Horenbout und Simon Bening, möglicherweise auch von Gerard David bebildert – sind die Vorderseiten der Folia, auf deren Verso sich die Großminiaturen befinden, sogar leer gelassen. Hinzu kommt, dass die Vollminiaturen samt und sonders Einzelblätter sind; sie waren also nie in den Lagenverband integriert, sondern separat eingefügt: Der Vorgang des Illuminierens emanzipierte sich völlig vom Beschreiben des Buchblocks. Dies führte sogar so weit, dass die einzelnen Miniaturen nicht einmal an Maler aus ein und demselben Atelier vergeben werden mussten.

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Die Grisaille

Der seit dem 14. Jahrhundert zunehmend autonomer werdende ▶ Bildcha- autonomer rakter der Miniaturen ließ die neuen optischen Erkenntnisse der Welt und ihrer Bildcharakter der Erscheinungen in die Darstellungen einfließen. Dieser Prozess war kein Privileg Miniaturen der Buchmalerei, zumeist war er in anderen Bildgattungen vorbereitet worden. Aber er wird nicht selten von der Miniaturenkunst progressiver vorgetragen als etwa in der Tafelmalerei. Das relativ kleine Format der Bilder in den Codices und ihr auf private Betrachtung berechnetes Erscheinungsbild scheinen für „avantgardistische“ Arten der Darstellung prädestiniert gewesen zu sein und gerade deswegen einen unwiderstehlichen Reiz auf progressive Auftraggeber und Künstler ausgeübt zu haben. Wenn im Folgenden also dieser Entwicklung nachgegangen wird, dann in dem Bewusstsein, dass die Buchmalerei den jeweils zeittypischen Stiltendenzen gehorcht, diese indes oft genug pointiert und forciert.

Die Grisaille Die herausragende Rolle Frankreichs im spätmittelalterlichen Kosmos der Buchkunst belegt im 14. Jahrhundert unter anderem die Miniatorenwerkstatt des von 1320 bis 1334 in Paris tätigen Jean Pucelle. Wahrscheinlich stammt von ihm auch das ▶ Stundenbuch der Jeanne d’Evreux (Abb. 25). Die Richtigkeit dieser Zuschreibung vorausgesetzt, darf er als „Erfinder“ der Grisailletechnik, der Grau-in-Grau-Malerei, in der Buchmalerei gelten. Nicht zuletzt durch die Feinarbeit ist Pucelle berühmt geworden, mit der er seine Bilderfindungen auf kleinstem Format und weitgehend reduziert auf Grautöne vortrug; also in der Technik der Grisaille, genauer gesagt, der DemiGrisaille: Denn nicht nur dekorative Details heben sich farbig vom monochromen Fond ab, auch das Inkarnat, Lippen und Haare sind leicht getönt. Das ist ein erstaunliches Faktum, erwartet man doch angesichts eines königlichen Gebetbuchs prächtige Kolorierung und opulente Gold- und Silberauflagen. Doch der scheinbare Minimalismus entpuppt sich als nachgerade ästhetizistische Delikatesse. Denn die Farbakkorde spiegeln, so sparsam sie eingesetzt sind, ein Höchstmaß an künstlerischem Kalkül, konnte man doch eine Skala von rund 22 verschiedenen Tönen nachweisen, die aus der Verwendung sowohl reiner als auch gemischter Pigmente resultieren. Die wenn auch dezente Polychromie widerspricht im Übrigen der Behauptung, dass dieses Gebetbuch explizit für den Gebrauch während der Fastenzeit, der Zeit der Buße und sinnlichen Enthaltsamkeit, bestimmt war. Vielmehr loten die Miniaturen sensualistische Eindrücke und illusionistische Optionen aus. Denn ungeachtet ihrer geringen Größe sind die Figuren des Stundenbuchs der Jeanne d’Evreux nach Art und Typus mit der Pariser gotischen Skulptur verwandt.

Stundenbuch der Jeanne d’Evreux

VIII.

Zwischen künstlerischer Tradition und Innovation

▲ Abb. 25  Jean Pucelle (?):

Auch technisch ging Pucelle sozusagen wie ein Bildhauer vor und arbeitete von der Fläche in die Tiefe, vom cremefarbenen Pergament bis hin zum tiefen Schwarz, das er über diverse Grauabstufungen vorbereitete. Dabei hat er selten laviert, das heißt selten mit dem nassen Pinsel verlaufende Farbflächen angelegt, um die Modellierung zu vertiefen. Stattdessen ist der jeweilige Grauton mit sehr trockenem Pinsel aufgetragen. Dieses Verfahren gibt dem Illuminator die Chance, feinere Schattierungen vorzunehmen als dies mit Buntpigmenten möglich wäre. Die ▶ Demi-Grisaille ermöglichte es Pucelle, zwei stilistischen Optionen gerecht zu werden: einmal der über das italienische Trecento angeregten Plastizität und Räumlichkeit sowohl der Teile wie auch des Ganzen; zum anderen der Beibehaltung des französisch-hochgotischen Stils.

Kreuzigung und Anbetung der Könige, in: Stundenbuch der Jeanne d’Evreux, 1325–1328; New York, The Metropolitan Museum of Art, The Cloisters, Acc. 54 (1.2), fol. 68v/69r.

DemiGrisaille

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Die Grisaille

Die Technik der Grisaille (der Terminus müsste streng genommen dort, wo die Monochromie nicht aus Grau- sondern aus Brauntönen besteht, durch das neutralere „Peinture en Camaieu“ ersetzt werden) erscheint zum ersten Mal in der vom 12. bis zum 14. Jahrhundert praktizierten ornamentalen Glasmalerei der Zisterzienser. Sie entsprang dem Gebot Bernhards von Clairvaux, der 1134 sowohl farbige als auch figürliche Darstellungen im Orden verbot, da aller Kunstluxus von der spirituellen Gottesbegegnung ablenke. Ebenfalls in den Bereich der Bildaskese führen die wahrscheinlich frühesten figurativen Grisaillen, nämlich die mit Passionsszenen bemalten Velen, Vorhänge, die während der Fastenzeit vor dem Hochaltar, gelegentlich auch vor den Nebenaltären aufgespannt wurden. Den ersten nachweislichen Versuch, die Illusion der Materialität von Steinskulpturen oder -reliefs mittels gemalter Grisaillen hervorzurufen, unternahm Giotto um 1306 in der Sockelzone der Paduaner Arenakapelle. Die dortigen Personifikationen sind nicht völlig monochrom, sondern haben leicht eingefärbtes Inkarnat und dunkle, von einem hellen Randstreifen umgebene Hintergründe. Von einer bildasketischen Motivation wird man bei ihnen nicht sprechen. Vielmehr scheint sich an ihnen ein ▶ Medienwettstreit zwischen Malerei und Bildhauerei festzumachen. Die Malerei übertrumpft den Gattungskonkurrenten, indem sie seine Phänomene, insbesondere die Steinfarbe, möglichst genau nachahmt und zugleich mit der dem Bildhauer nicht zur Verfügung stehenden Farbe naturnahes Leben zeigt. Nördlich der Alpen führten dann derartige Experimente in der altniederländischen Malerei des 15. Jahrhunderts zu jenen Trompe-l’œil-Effekten, die so oft an den Außenseiten gemalter Flügelretabeln in delikaten Graustufungen Steinskulpturen in Nischen fingieren. Die Gattung der Buchmalerei kennt die Grisaille-Technik, wie gesagt, seit dem Stundenbuch der Jeanne d’Evreux. Sie wird dann in etwas späteren Handschriften wiederholt für die Figurenwiedergabe herangezogen – besonders in Arbeiten, die mit Pucelles Werkstatt in Zusammenhang stehen. Das Brevier der Jeanne d’Evreux, von dem heute noch ein Band erhalten ist (Chantilly, Musée Condé, Ms 51/1887), bietet einen erneuten Beweis für die Vorliebe der Königin für Grisaille-Figuren, die wie in ihrem Stundenbuch vor einem gemusterten, starkfarbigen Grund stehen. Auch in dem 1348/49 vollendeten Psalter der Bonne de Luxembourg (New York, The Metropolitan Museum of Art, The Cloisters, Inv. 69.86) platziert der Miniator, üblicherweise mit Jean Le Noir identifiziert, derartige Figuren vor intensiv farbige Folien. Neben der illusionistischen Funktion könnte die Demi-Grisaille, worauf vor allem Michaela Krieger hingewiesen hat, noch eine andere Absicht verfolgt haben: Sie sollte die Vorstellung von materieller Kostbarkeit erwecken, indem sie auf andere, teurere Werkstoffe, etwa partiell farbig gefasste Elfenbeinreliefs, anspielte. Da eine solche Nachahmung naturgemäß nur virtuell sein kann, gerät

Medienwettstreit

VIII.

Zwischen künstlerischer Tradition und Innovation

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im Endeffekt die künstlerische Idee, nicht das Material, zum eigentlichen Träger des Wertes. Das ist wohl der Hauptgrund dafür, dass die Grisaille besonders in Handschriften für königliche oder anderweitige prominente Auftraggeber ihren Platz fand. Man denke nur an die Bible Moralisée des Jean le Bon (Paris, Bibliothèque nationale de France, Ms fr. 167) mit mehr als fünftausend Grisaille-Miniaturen.

Im Spiel der Themen Von der repraesentatio zum Porträt

Ottonische Herrscherbilder

Seit der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts sind Bilder überliefert, die dem Gottesgnadentum der Herrscher Rechnung tragen. Nicht umsonst erscheint die Hand Gottes über dem thronenden Karl dem Kahlen in dem prunkvollsten aller mittelalterlichen Herrscherbilder, dem des Codex Aureus, der an das Kloster St. Emmeram in Regensburg gelangte. Die Ottonik führte diese Tradition des ▶ Herrscherbildes fort, das typologisch von Dedikationsbildern, die den Herrscher mit dem von ihm gestifteten Buch in der Hand zeigen, zu unterscheiden ist (vgl. Abb. 5). Einzigartig in dieser Hinsicht ist das Krönungsbild in dem bereits besprochenen Evangeliar Ottos III. aus den Jahren um 1000, für das die neuere Forschung versuchsweise Heinrich II. als Auftraggeber ins Gespräch brachte, das man aber doch wohl der Initiative Kaiser Ottos III. verdankt. Es zeigt in einem Doppelblatt (fol. 23v/24r) den thronenden Herrscher mit dem Adlerszepter des Augustus und dem Globus. Er ist umringt von den Vertretern der geistlichen und weltlichen Stände. Die Architektur über ihm darf man als Kirche interpretieren, die den Gedanken des Gottesgnadentums aufruft. Von links bringen die Personifikationen der Reichsprovinzen huldigend ihre Gaben dar. Von Kaiser Heinrich II. existiert ein feierliches Krönungsbild in dem wunderbaren, auf der Reichenau illuminierten Perikopenbuch Heinrichs II. (München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 4452). Auf fol. 2r krönt in der oberen Bildhälfte Christus den Kaiser und seine Gemahlin, die von den Apostelfürsten Petrus und Paulus, den Patronen des Bamberger Doms, präsentiert werden. Heinrich hält die Zeichen seiner Herrschaft, Zepter und Globus, in Händen. In der unteren Bildhälfte erscheinen die huldigenden und ihre Gaben darbringenden weiblichen Personifikationen, die Italien, Gallien und Germanien verkörpern. Mit den in einer Bodensenke auftauchenden Frauen mit Schalen und Füllhörnern sind vermutlich die sechs Herzogtümer Bayern, Schwaben, Franken, Sachsen, Nieder- und Oberlothringen gemeint.

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Im Spiel der Themen

Aus dem Regensburger Benediktinerkloster St. Emmeram stammt das Krönungsbild Heinrichs II. für das wohl 1002 oder 1003 entstandene Regensburger Sakramentar (München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 4456, fol. 11r). Es zeigt den Regenten, dem Christus die Krone aufs Haupt setzt. Dabei ragt Heinrich II. mit dem Haupt, den Schultern und der Brust in die Mandorla, die Sphäre der Heiligkeit, hinein. Von oben reichen ihm zwei Engel das Schwert und die Lanze herab. Die heiligen Bischöfe Ulrich von Augsburg und Emmeram von Regensburg flankieren ihn. Heinrich ist offensichtlich in Parallele zu Moses gestellt, dem die Hohepriester Aaron und Hur so lange die Arme stützten, bis die Feinde Gottes besiegt waren. Von Moses berichtet das Alte Testament weiter, dass er den Stab Aarons, der Knospen und Blüten trieb, bei der Bundeslade aufbewahrte. Dementsprechend versieht der Regensburger Miniator die Heilige Lanze mit Knospen. Welche Auffassung hatten die karolingischen und ottonischen Könige beziehungsweise Kaiser von ihrem Amt? Wie wollten sie es gesehen wissen? Wie wollten sie sich in Form von Stifterbildern – denn als solche sind ja die genannten Miniaturen zu verstehen – der Nachwelt präsentieren? Die Herrscherbilder in den Prunkcodices, die nicht für den alltäglichen Altardienst gebraucht wurden, sondern vornehmlich als Schatzobjekt und der Gunstbestätigung dienten, inszenierten das Regentenamt in seiner semisakralen Würde. Auf die ▶ Porträtähnlichkeit im modernen Verständnis kam es dabei Verzicht auf Porträtüberhaupt nicht an (weswegen auch gelegentlich Unsicherheit darüber herrscht, ähnlichkeit welcher ottonische Kaiser der Stifter eines bestimmten Codex war). Als differenzierende Zeichen dienten lediglich Details, die als überindividuelle Bedeutungsträger wirksam waren, beispielsweise Krone, Schwert und Lanze. Hauptaufgabe der Miniatoren war es, die repraesentatio, die aus der Nähe des Herrschers zur göttlichen Quelle der Herrschaft geborene Amtswürde zu verdeutlichen. Dazu existierten traditionsgesättigte Bildformeln, die analog zur unverrückbar gleichbleibenden Würde des Amtes stets unverändert wiederholt wurden. Das Bild des königlichen und kaiserlichen Donators einer exzeptionellen Handschrift war und blieb eine zeichenhafte Matrix, deren transzendierende Verweisaufgabe durch keinen Überschuss an Naturalistik gestört werden sollte. Je mehr seit dem Investiturstreit, also seit dem ausgehenden 11. Jahrhundert, der König und Kaiser trotz sakraler Reminiszenzen im Krönungsritus als Laie betrachtet wurde, desto mehr verlor er das seither von der Kirche als Anmaßung eingestufte Recht, sich mit derart hieratischem Bildanspruch in den liturgischen Büchern zu verewigen. Wenn sich im frühen und hohen Mittelalter geistliche oder weltliche Stifter in einem liturgischen Buch wiedergeben ließen und sich damit der ideellen Teilnahme an der liturgischen Handlung versicherten, trat ihre individuelle

VIII.

Stifterdarstellungen als Mittel der „memoria“

Zwischen künstlerischer Tradition und Innovation

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Persönlichkeit völlig hinter diesem über ihre Person hinausweisenden Zusammenhang zurück, veranschaulicht im Gebrauch zeichenhaft standardisierter Formeln. Doch was geschah, als sich die Stifter in einem privaten Gebetbuch, einem Stundenbuch, darstellen ließen? Waren sie, die in ihren Büchern bildlich Heilige um die Erhörung eines Wunsches anflehten, gleichzeitig Votanten? Die Frage ist wohl zu bejahen, zumal ihnen die visuelle Zuordnung ihrer eigenen Person zu einem Andachtsinhalt gleichsam wie eine ewige Anbetung vorkommen konnte, wie das unablässige Ansammeln eines Gnadenschatzes, der die Basis zur Lossprechung von Sünde ist. Zusätzlich aber schob sich eine andere Zielsetzung in den Vordergrund, die Absicht nämlich, Stifterdarstellungen zu einem Mittel der ▶ memoria zu machen, zu Erinnerungsbildern, die das individuelle Aussehen des Porträtierten mit Mitteln naturalistischer Darstellungs-

Ein Reisebild

S

eine Les Petites Heures führte der Herzog von Berry auf seinen Reisen offenbar ständig mit sich. Wohl auch aus diesem Grund ließ er das kleinformatige Stundenbuch am Schluss mit Gebeten für Reisende und mit einer Miniatur aus der Hand des Johan von Limburg versehen, die ihn selbst zeigt, begleitet von einem hohen Beamten und einem weißen Windhund, wie er sich vom Burgoder Stadttor aus zu Fuß auf den Weg macht (vgl. Abb. 26). Man sieht den gealterten, weißhaarigen Herzog in einem prächtigen, mit Goldmuster auf schwarzem Grund verzierten Reisemantel, auf dem Kopf eine Pelzmütze. Sein Gefolge führt der in Weiß und Rosa gewandete Oberhofmarschall neben dem Herzog an. Die zierlichen Ranken in den Bordüren scheinen ältere Vorbilder zu rekapitulieren. Die Miniatur illustriert einen kurzen Gebetstext, der den göttlichen Beistand für Reisende erfleht.

Auffallend ist, dass der schwebende Schutzengel in die lünettenförmige Ausbuchtung oben mit dem ornamental gemusterten blauen Fond verwiesen ist, wogegen das „Porträt“ des Stifters der Handschrift zum Hauptgegenstand wird. Auch ansonsten zeigen zahlreiche Bildnisse den Auftraggeber im Gebet vor Gott, Maria und dem Kruzifixus oder beim Empfang der Sakramente während der Messe – das Betrachten des Stundenbuches wird zum kontemplativen Akt, der die persönliche Gebetsfrömmigkeit reflektiert und zugleich die Leistung des Stifters bekräftigt.

▶ Abb. 26 Johan (Jean) von Limburg: Der Duc de Berry bricht zu einer Reise auf, in: Les Petites Heures du Duc de Berry, 1372 – 1390 – diese Miniatur um 1410 – 1412 nachträglich eingefügt; Paris, Bibliothèque nationale de France, Ms lat. 18014, fol. 288v.

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Im Spiel der Themen

kunst der Nachwelt überlieferten. Unzählige Beispiele ließen sich dafür anführen, doch erneut möge der Herzog von Berry um 1400 als markanter Exponent dieser Entwicklung einstehen. Nicht zuletzt deshalb, weil eine der faszinierendsten Miniaturen in den für Stifterbild in Jean de Berry geschaffenen ▶ Heures de Bruxelles (Brüssel, Bibliothèque Ro- den Heures yale, Ms 11060-61) und einer der Höhepunkte europäischer Buchmalerei über- de Bruxelles

VIII.

Zwischen künstlerischer Tradition und Innovation

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haupt, die punktuell farbig akzentuierte Grisaille auf den Seiten 10 und 11 (da das Stundenbuch paginiert ist, wird die Seiten- und nicht die Folienzählung gebraucht) eine revolutionäre Innovation bringt: ein individuelles Stifterporträt. Welchem Miniator es zu verdanken ist, André Beauneveu oder einem anonymen französischen Maler, muss hier nicht diskutiert werden. Die zweiseitige Szenerie ist möglicherweise bereits um 1380/90 entstanden und nachträglich in das um ein bis zwei Jahrzehnte später vollendete Buch eingefügt worden. Neben ihrer künstlerischen Qualität ist die Darstellung deshalb so aufregend, weil sie vermutlich erstmals in der Geschichte der Buchmalerei den – individuell, auch in seinen hässlichen Zügen charakterisierten – Votanten und Stifter der Handschrift im gleichen Maßstab zeigt wie die herzoglichen Namens- und Schutzpatrone, den Apostel Andreas und Johannes den Täufer, die den Duc de Berry der gegenüber thronenden Madonna empfehlen. Gerne hat der Herzog von Berry sein eigenes Bildnis in den von ihm bestellten Manuskripten gesehen, als sei er obsessiv in den Gedanken der eigenen memoria verliebt gewesen (Abb. 26). Entsprechend viele Porträts von ihm existieren auf den Pergamentseiten, aber nicht nur dort. Millard Meiss, der große Kenner der französischen Buchmalerei um 1400, erstellte ein Gesamtverzeichnis und kam auf 66 Darstellungen des Herzogs auf Siegeln, in Miniaturen und als Skulpturen.

Landschaft Die Kunstwissenschaft setzt den Beginn der neuzeitlichen, von subjektiven Seherlebnissen geprägten Landschaftsmalerei ins 14. Jahrhundert. Seit dem Beginn des 15. Jahrhunderts geht die Dominanz in der Gattung „Landschaft“ von den Italienern an die altniederländisch-flämischen Maler über. Und gerade die Buchmalerei erweist sich als eines der produktivsten Experimentierfelder. In den damaligen Hintergründen und Fensterausblicken erscheinen Naturszenarien in überwältigender Detailliertheit und mit mehr oder weniger intensiven malerisch-atmosphärischen Stimmungen sowie mit suggestiver Tiefenwirkung. Einen entwicklungsgeschichtlich prominenten Stellenwert besitzen in diesem Zusammenhang die in der Mehrzahl von den Brüdern Limburg zu Beginn des 15. Jahrhunderts realisierten Kalenderbilder in den Très Riches Heures. Februarbild Im ▶ „Februar“ (fol. 2v) liegt das Land, vom Schnee zugedeckt, unter einem in den Très bleiernen Himmel (Abb. 27). Kälte regiert das Dasein. Draußen wird Holz geRiches schlagen oder weggefahren, drinnen wärmen sich Männer und Frauen vor dem Heures Feuer. Aus dem Kamin kringelt Rauch in einen eisgrauen Himmel. Der Frosthauch verdichtet den Atem des Mannes im Hof. Die Schafe drängen sich im Pferch dicht aneinander, und die Vögel picken die Körner auf, die ihnen ein Bauer kurz zuvor hingestreut hat; noch erkennt man seine Schritte an den Spu-

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Im Spiel der Themen

▲ Abb. 27  Gebrüder von Lim-

ren im Schnee. Nie zuvor ist Ähnliches gemalt worden, burg: Kalenderminiatur zum Febund später ist Vergleichbares erst auf den Gemälden von ruar, in: Les Très Riches Heures du Duc de Berry, 1410 – 1416; ChantilPieter Bruegel dem Älteren aus der Mitte des 16. Jahrhun- ly, Musée Condé, Ms 65, fol. 2v. derts wiederzufinden. Dieses früheste echte Winterbild der Kunstgeschichte ist mit seiner unübertrefflichen Beobachtungskraft gleichermaßen wie mit seiner überwältigenden Schönheit symptomatisch für die Kunstfertigkeit der Brüder Limburg. Jene Kalender-

VIII.

Flämischer Kalender

Zwischen künstlerischer Tradition und Innovation

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bilder des Stundenbuchs, die nicht höfische, sondern ländliche Szenen schildern, stammen vermutlich erst aus den Jahren um 1440 und von Barthélemy d’Eyck. Genauer gesagt, sie wurden von ihm überarbeitet und ergänzt, bis auf eine Ausnahme, die sich zur Gänze seiner Hand verdankt: der „Oktober“ (fol. 10v). Die Szenerie präsentiert die Feldarbeit der Aussaat und des Eggens vor der Kulisse des Louvre. Die Eindringlichkeit der Lichtbeobachtung gewinnt eine zukunftsweisende Intensität. Menschen und Boote spiegeln sich im Wasser, von einer einzigen Lichtquelle herrührende Schatten fallen hinter den Menschen, der Vogelscheuche, den Tieren auf den Boden – es sind die frühesten Darstellungen derartiger Phänomene in der Kunstgeschichte. Hinzu kommen weitere Innovationen. Die Bildebene beispielsweise steigt nicht unregelmäßig an, sondern verläuft konsequent in die Tiefe. Kein Weg, keine Baumreihe steckt auf konventionelle Art den Tiefenraum ab, stattdessen dienen kontinuierliche Verkleinerung, Überschneidungen und die Nuancierung von Farbvaleurs diesem Zweck. An den Seiten existieren keine bildbegrenzenden Formen; die beiden Männer im Vordergrund bewegen sich in entgegengesetzter Richtung aus der Szenerie heraus. So anschaulich ist nie zuvor ein sich jenseits des Bildrandes fortsetzender Raum wiedergegeben worden. Von diesen kardinalen Bilderfindungen lassen sich direkte Linien ziehen zu den Landschaften der Gent-Brügger Buchmalereischule. Ihren Hauptmeistern, Gerard Horenbout und Simon Bening – Letzterem ganz besonders –, erkennt man das Verdienst zu, mit dem wunderbaren Naturszenario, in das sie religiöse Geschichten einbetteten, die Gattung weiter vorangetrieben zu haben. Die künstlerische Entdeckung der Landschaft setzte in den Niederlanden bekanntlich zu dem Zeitpunkt ein, als Flandern und Holland dem burgundischen Reich einverleibt wurden und sie Anteil an der höfischen Spätkultur Burgunds erhielten. Der burgundische Hof hatte am Ende des 14. Jahrhunderts einen feudal-aristokratischen Lebensstil von höchst verfeinerter Prägung ausgebildet, bei dem moderner Lebensgenuss und offene Weltfreude in seltsamer Weise gemischt waren mit mittelalterlich-mystischer und zeremonieller Lebensauffassung. Aus der spielerischen Auseinandersetzung der höfischen Welt mit den Lebensräumen des Bauern und des Bürgers war dort eine idealisierende Landschaftskunst erblüht, welche sich mit der beginnenden Internationalen Gotik um 1390/1410 über ganz Mitteleuropa ausbreitete und sich auch in den böhmischen und österreichischen Malerschulen spiegelt. Simon Bening schuf einen der schönsten Landschaftszyklen, nämlich im erwähnten ▶ Flämischen Kalender. Gut ein Jahrhundert nach den Très Riches Heures malte er als Erster wieder ganzseitige Kalenderlandschaften, die er zu autonomen Tableaus komponierte. Unvergleichlich ist die Systematik, mit der er die Landschaftsphänomene visuell erkundete. Er schilderte die unterschied-

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Im Spiel der Themen

lichsten Wetterlagen: sonnendurchflutete oder schneebedeckte Landschaften, neblige, regnerische, windige oder wolkenverhangene Tage. Seine Szenarien sind präzise komponiert und voll poetischer Sensibilität. Im Septemberbild mit den Bauern, die das Feld bestellen, füllen Bäume den gesamten Mittelgrund der Komposition, und zwar so dicht, dass sie den Horizont verdecken. Bening malte sie geradezu „pointillistisch“, das heißt mithilfe winziger Punkte und Farbflecken, die zu einer vibrierenden Textur aus Glanzlichtern zusammenfinden.

Stilllebenmotive Auch die frühesten, als Stimmungsreiz verstandenen nachantiken Stilllebenmotive reichen ins italienische Trecento zurück – wenngleich die Verabsolutierung zu eigenständigen Kompositionen erst um die Mitte des 16. Jahrhunderts in den südlichen Niederlanden stattfand. Im Kontext der Buchmalerei waren es vor allem die Bordüren, in denen sich Tiere, Pflanzen et cetera in der dem Stillleben eigenen visuellen Naturalistik und illusionistischen Präsenz ansiedelten. Diese Entwicklung kulminierte in eben jener Epoche, in der auch die Landschaft als Hintergrundszenerie ihre markanteste Ausprägung erfuhr (vgl. Abb. 21). Zu welchen Trompe-l’œil-Ergebnissen die Ausweitung der ehemaligen Bordüre zu einem Illusionsraum im Stundenbuch der Maria von Burgund geführt hat, wurde bereits referiert. Doch auch in zahllosen anderen Fällen wurde das Spiel mit der Augentäuschung – um einzig auf diese forcierteste Version der Stilllebenmotivik einzugehen – in jenen „Randbereichen“ der „Bilderbuch“-Seiten zu erstaunlichsten Effekten gesteigert. Hierfür nur ein Beispiel: Das nach seinem Blumendekor in den Bordüren benannte ▶ Blumen-Stundenbuch (München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 23637) entstand um 1520/25, erneut im Wirkungsfeld der Gent-Brügger Schule. In diesem Codex sorgte der kreative Geist eines Simon Bening für zwei ganz besonders auffällige Experimente: Zum einen schmückte er alle Textseiten mit einem Streumuster aus Blumen, Vögeln und Insekten, das sich durch verblüffende illusionistische Effektivität auszeichnet. Zum anderen schlägt sich seine Experimentierlust in der Virtuosität, mit der er von Seite zu Seite alle nur denkbaren Variationsmöglichkeiten durchspielt, nieder. Die Kunstliteratur berichtet von Malern, die solche Augentäuschung in der Antike beherrschten. Zum Beispiel ein Zeuxis, der im Wettstreit mit seinem Kollegen Parrhasios Weintrauben so naturgetreu abbildete, dass reale Vögel an diesen Gebilden des schönen Scheins picken wollten. Bening scheint in Wettstreit mit der Antike getreten zu sein, wenn er zum Beispiel in der Bordüre (fol. 83) zwei Libellen präsentiert, von denen die durchscheinenden Flügel der einen in den Textspiegel ragen, der Rumpf der anderen die Grenze zur Bor-

BlumenStundenbuch

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düre überschneidet. Die Insekten erliegen gleichsam einer Illusion, da sie sich auf vorgetäuschten Blüten niedergelassen haben – und sie täuschen ihrerseits den Betrachter, da ihre hochgradig naturalistische Präsenz nur eine gemalte, eine auf die Fläche projizierte ist.

Erzählstrukturen

kontinuierender Erzählstil

Die Miniaturenausstattung eines jeden Buches bringt allein deshalb, weil sie mehr oder weniger genau dem Verlauf des Textes zu folgen hat, eine Erzählstruktur mit sich. Visuell erzählt wird in den Codices aber auch durch die Koordination einzelner Bildmotive auf einer Seite, ferner innerbildlich in Groß- und Vollminiaturen, insofern dort der Handlungsverlauf strukturiert, zeitlich rhythmisiert und inhaltlich gewichtet ist. Diese Möglichkeiten hängen selbstverständlich eng zusammen mit der stilistischen Entwicklung der Bildkünste. Unabhängig davon, von welchen historischen Impulsen man den vorherrschenden Kompositions- und das heißt zugleich den ▶ Erzählstil der Wiener Genesis herleitet (vgl. Abb. 18), eines bleibt unumstritten: der Modus kontinuierender Bilderzählung, eine konsekutive Abfolge von Szenen, vergleichbar mit modernen Phänomenen wie dem Comicstrip oder der Szenenfolge des Films. Die Handlungsprotagonisten, die in einer bestimmten „Einstellung“ auftreten, begegnen in der nächsten wieder (oft auch bei gleichbleibender Hintergrundkulisse) und treiben in der Begegnung mit neuen „Mitspielern“ die Erzählung in der Zeit voran. Sicherlich kam diese Erzählweise dem Buchtypus des Rotulus entgegen, dem kontinuierlichen Band der Schriftrolle und der damit verbundenen „Kinästhetik“ des „Abrollens“. Der Codex dagegen visiert, mit den Worten Pächts, auf seinen separaten Blättern Kompositionen mit „seitlichem Abschluss“, „Unterteilung“ und „Insichgeschlossensein des Bildes wie der Buchseite“ an. Dass sich dadurch auch der Erzählstil änderte, liegt auf der Hand. Das zeitliche Nacheinander muss der Maler auf der Fläche nahezu zwingend in ein formal-kompositorisches Nebeneinander übersetzen. Wolfgang Kemp hat gezeigt, dass mit der italienischen Malerei um 1300, mit der die Geschichte des neuzeitlichen Bildes beginnt, auch ein neues Kapitel in der Geschichte des Erzählens in Bildern aufgeschlagen wird. Denn von da an werden für und durch Bilderzählungen spezielle Imaginationsräume eingerichtet. Der Handlungsspielraum wird durch tiefenräumliche Orte und durch Beziehungen zwischen diesen konstituiert, durch die Beziehungen zwischen Innenräumen, zwischen Innenraum und Außenraum und zwischen Bildraum und Betrachterraum.

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Erzählstrukturen

Die Miniaturenkunst kennt viele Möglichkeiten, ein solches Beziehungsgeflecht zwischen Erzählräumen und Raumorten herzustellen. Eine davon offeriert beispielsweise das um 1415 – 1430 für den Burgunderherzog Johann Ohnefurcht realisierte ▶ Bedford-Stundenbuch (London, The British Library, Add. Ms 18850, fol. 32r) in Vollendung (vgl. aber auch Abb. 11): Die Bildseite zeichnet sich dadurch aus, dass an die Stelle einer vegetabilen Bordüre eine Folge von Interieurs tritt. Diese scheinen über viele Stockwerke hinweg in einem von zwei Türmen flankierten Palast untergebracht und beherbergen Episoden aus dem Marienleben, bezogen auf das Zentralbild mit der Verkündigung an Maria. Dass inhaltliche Querbezüge etwa auch aus dem Zusammenspiel von Hauptminiatur, historisierter Initiale und Bas-de-page resultieren können, wurde bereits anlässlich eines Blattes aus dem Turin-Mailänder Stundenbuch (vgl. Abb. 20) demonstriert. Weitere einschlägige Beispiele aufzuführen, erübrigt sich angesichts der „Allgegenwärtigkeit“ des Phänomens seit dem 14. und dann vor allem im 15. Jahrhundert. Die Erzählstruktur innerhalb einer Miniatur, also die bildinterne Regie, sei ebenfalls nur anhand zweier Beispiele skizziert. Ihr zeitlich weites Auseinan-

BedfordStundenbuch

Die Macht der Gebärde

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as Bamberger Perikopenbuch Heinrichs II., das der König und spätere Kaiser Heinrich II. dem Bamberger Domkapitel schenkte, ein Beispiel der sogenannten Liuthar-Gruppe, gehört zu den Höhepunkten ottonischer Buchmalerei und der gesamten mittelalterlichen Kunst. Die Künstler vermieden die Wiedergabe vielfiguriger Szenerien. Ihre gestalterische Stärke konzentrierte sich auf die Ausdruckskraft weniger großer und dabei schwereloser Figuren, ferner auf die kühne Verwandlung der Bildfläche, des mystischen Goldgrundes, in ein Spannungsfeld, das von den Blicken und Gebärden der Personen sowie von „mitagierenden“ wehenden Gewandzipfeln durchdrungen scheint. Auf jede anatomische

Korrektheit und raumkörperliche Naturalistik wird zugunsten einer expressiven Stilisierung verzichtet, um die reine Spiritualität der religiösen Inhalte auszudrücken. Nichts Nebensächliches lenkt die Betrachtung ab. Die Kunst der Miniaturen ist auf Klarheit und innere Monumentalität gerichtet. Das Blatt mit der Verkündigung an die Hirten (vgl. Abb. 6) steigert die Erscheinungsmacht des Engels auf kaum zu überbietende Weise: Die Flügel füllen die ganze Breite der Miniatur, der vom Wind geblähte Mantel zeigt an, dass der Engel soeben herbeigeflogen ist. Ein vornehm gekleideter Hirte, vielleicht der Herdenbesitzer, wendet wie von einer höheren Macht bewegt den Kopf, um den Gruß des Engels zu erwidern.

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EgbertCodex

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derliegen soll verdeutlichen, dass es sich um einen zwar stilistisch divergenten, aber dennoch universalen Aspekt von Miniaturen, die als gemäldeartig geschlossene Einheiten auftreten, handelt. Betrachtet man ein Blatt wie fol. 31r im ▶ Egbert-Codex mit der „Heilung des Blinden bei Jericho“, geben sich die Figuren als unvergessliche Gestaltformeln. Die ausgestreckte Rechte des hockenden Blinden durchbricht die eingrenzende Schräge des Stabes, der gekrümmte Baum fungiert als formale Resonanz des Zusammengekauerten. Eine der pilzförmigen Laubkronen weist in die gleiche Richtung wie die Hand des Blinden. Der Zwischenraum zwischen dem Blinden sowie der gebietenden Hand und der federnd gespannten Gestalt Christi ist entlang jener gestischen Zeichen mit geistiger Spannung erfüllt. Was sich hier so suggestiv anbahnt, ist in den wenig späteren Reichenauer Handschriften weiter pointiert. Stets handelt es sich um stilisierte Figuren,

Ein Hochverratsprozess Die bekannteste illuminierte BoccaccioHandschrift ist die in der Bayerischen Staatsbibliothek in München, die die unglücklichen Schicksale berühmter Männer und Frauen beinhaltet – im 15. Jahrhundert die Lieblingslektüre der vornehmen Welt. Ein kleiner Teil der Miniaturen stammt unmittelbar von der Hand des großen französischen Malers Jean Fouquet, so vor allem das alles in den Schatten stellende Titelbild (fol. 2v; Abb. 28). Das herrliche Frontispiz hält – fast ist man versucht zu sagen, im Sinne einer Reportage – ein Staatsereignis fest, das mit dem eigentlichen Buchinhalt nur unter dem Vorzeichen des wankelmütigen Schicksals zu tun hat. Rautenförmig sind die Sitzreihen eines feierlichen Gremiums angeordnet, und zwar so, dass die vordere Spitze der Konfiguration aus dem Bild herauszustoßen scheint. Der dadurch bewirkte Raumsog diri-

giert das Auge des Betrachters entlang der zentralen Bildvertikale zu dem klein im Hintergrund wiedergegebenen französischen König Karl VII. unter einem mächtigen Thronbaldachin. Der Souverän präsidiert jenem Hochverratsprozess, der 1458 in Vendôme gegen den Herzog von Alençon inszeniert wurde, im Beisein aller Würdenträger und ausländischen Gesandten und unter Vorsitz des Kanzlers Guillaume Jouvenel des Ursins. Fouquet verstand es meisterlich, die Massenregie dieser pompösen Schauhandlung in ein perspektivisches Kompositionsschema einzubinden, wodurch allerdings die konventionelle Flächenbindung einer Buchminiatur weitgehend zum Verschwinden gebracht ist. ▶ Abb. 28 Jean Fouquet: Das Gericht zu Vendôme, in: Boccaccio: Über den Sturz berühmter Männer, 1458; München, Bayerische Staatsbibliothek, Cod. gallicus 6, fol. 2v.

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Erzählstrukturen

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Erzählstrukturen

meist mit parallel geführten Konturen und parataktisch ◀ Abb. 29  Barthélemy d’Eyck: gereihten Gesten. Um den Gebärden, welche die Zwi- Amor entnimmt dem schlafenden Autor das Herz, in: René d’Anjou: schenräume gestisch-erzählerisch überbrücken, Nach- Le Livre du Cœur d’amour épris, druck zu verleihen, wurden Arme verlängert oder Hän- zwischen 1457 und um 1470; Wien, Österreichische Nationalbibliothek, de vergrößert. Ms 2597, fol. 2r. Das zweite Beispiel – die beiden Bände von Flavius Josephus: Jüdische Altertümer (Paris, Bibliothèque nationale, Ms fr. 247; Ms. nouv. acq. fr. 21013) – datiert ins 15. Jahrhundert. Die elf Großminiaturen schuf ▶ Jean Fouquet um 1465. Dieser hatte die Gestaltungs- Jean Fouquet und die prinzipien der italienischen Renaissance und somit auch deren ErzählstrukRenaissance tur, die sich durch die Einheit von Raum und Zeit auszeichnet, verinnerlicht. Die Größe dieses französischen Künstlers zeigt sich in erster Linie in der virtuosen Schilderung von Massenszenen, die er in allen anekdotischen Einzelheiten in seine eigene Zeit und in die Täler der Loire oder an die Ufer der Seine überträgt. Fouquets Gespür für perspektivische Staffelungen verdichtet sich zu kühnsten Kompositionen, in denen sich Straßenzüge durch mittelalterliche Städte winden, sich Menschenaufläufe in kontinuierlichem Zug in weiter Ferne verlieren. Allerdings gehorchte Fouquet nie strikt den mathematischen Zwängen der Zentralperspektive; stattdessen entwickelte er eine Art sphärischer Perspektive, die ihm eine Bildregie im Sinne panoramaartig erfasster Geschehnisabläufe ermöglichte. Abschließend sei noch darauf eingegangen, dass die Buchmalerei speziell des 15. Jahrhunderts gelegentlich Vollminiaturen so hintereinander reiht, dass aus diesem seriellen Prinzip eine zusammenhängende Handlung entsteht. Einen der eindrucksvollsten Belege bieten die zwischen 1457 und um 1470 realisierten sechzehn Illustrationen zu René d’Anjous allegorischem Roman ▶ Le Livre Das „liebentbrannte du Cœur d’amour épris (Das liebentbrannte Herz). Herz“ Die Folge der Illustrationen beginnt auf fol. 2r mit einem kühnen Auftakt (Abb. 29): einem Nachtbild, in dem der Liebesgott Amor dem schlafenden Autor das Herz entnimmt. Nur spärliches Licht erhellt das fast gespenstisch wirkende Schlafgemach eines Palastes. Das Bett links gehört, wie das heraldische Motiv verkündet, dem Schlossherrn, René d’Anjou. Nackt liegt er im weißen Laken und schläft. Er träumt das, was der Betrachter im Zimmer sieht: Ein vornehm gekleideter geflügelter Jüngling, der antike Liebesgott Amor, tritt heran und entnimmt dem Schläfer das Herz. Von rechts kommt ein anderer junger Mann hinzu, um das Herz in Empfang zu nehmen. Seine Gestalt ist von modischer Eleganz, seine weiße Kleidung leuchtet im dunklen Raum fahl auf. Es handelt sich um Désir, die Verkörperung sehnsüchtiger Begierde. Der Beginn einer Seelen- und Liebesreise ist damit eingeläutet. Auf fol. 15r (um einen Sprung zu machen) steht der gerüstete Titelheld Cœur vor einem geheim-

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nisvollen schwarzen Stein. Die rötlich aufgehende Sonne wird zusammen mit den Licht-Schatten-Reflexen im noch taunassen Gras mit pointillistisch anmutenden Pinselstrichen umschrieben. Die Botschaft, die Cœur dem Stein abliest, ist so sorgenschwer, dass es guttut, wenn jede Angst und jedes Begehren schlafen. Deren Personifikation, Désir, ruht träumend unter einem Espenbaum. Und so geht es weiter in diesem „Bildroman“, von Station zu Station, bis die allegorische Erzählung mit der Einschiffung zur Liebesinsel ihr glückliches Ende findet.

Phantastik: Ornamente und Drolerien

apotropäische Wirkung

Nicht jedes dekorative Detail in den mittelalterlichen Handschriften besaß einen ikonografischen Sinn. Schmuckformen wie beispielsweise Textzierbalken und Füllmotive am Zeilenende übernahmen „nur“ die Aufgabe, die jeweilige Seite zu gliedern; sie könnten auch Gedächtnisstütze und Lesehilfe zum Auffinden bestimmter Passagen gewesen sein. Solche Hilfsmittel waren umso notwendiger, als mittelalterliche Handschriften ja keine Indizes kannten und in der Regel nicht paginiert waren. Weder von dieser Art Dekor noch von vegetabiler Ornamentik (Fleuronné) soll jetzt die Rede sein, sondern von einer Ornamentik und von Marginalien, welche die Welt des Phantastischen, des Dämonischen und Skurrilen in die Bücher hineinholten, und dies überraschenderweise auch in solche mit liturgischen und frommen Inhalten – wie es sehr früh in der insularen Buchmalerei der Fall war. Der Aberglaube schrieb die schützende, die ▶ apotropäische Kraft von Entrelacs und Knotenwerk gerne der Unfähigkeit der Teufel und Hexen zu, solche verwirrenden Details zu dechiffrieren. Der Schaft eines Initialbuchstabens, der in das Maul eines Tieres oder Monstrums übergeht, geometrische Muster, die ins Vegetabile hinübergleiten, zoomorphe Mischgestalten, die zum Losspringen bereit sind – es sei denn, sie neutralisieren sich selbst durch ihr Ineinander-Verflochtensein –, Geschöpfe, in ihren eigenen Körper verbissen; viele dieser Gebilde verdanken sich vermutlich dem Wunsch der Teufelsabwehr. Dabei müssen sie auf das humoristische Element nicht verzichten (ist doch der Teufel, zumindest bis hin zu Goethes Mephistopheles, auch allergisch gegen Witz und Heiterkeit). Um nur ein Beispiel anzuführen: Im Book of Kells (fol. 253v) ist das biblische Zitat „Niemand kann zwei Herren dienen“ dadurch symbolisiert, dass der Anfangsbuchstabe des lateinischen Wortes nemo („niemand“) aus zwei Männern besteht, die sich gegenseitig am Bart zerren – die zwei Herren also, denen man nicht gleichzeitig gehorchen kann, ohne dass daraus Streit erwächst.

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Phantastik: Ornamente und Drolerien

Allerdings sollte man sich vor einer interpretatorischen Verabsolutierung hüten, wie sie schon im 12. Jahrhundert ▶ Bernhard von Clairvaux angesichts der Mischwesen in der kirchlichen Bauskulptur vorgenommen hatte: „Aber im Kreuzgang [...], was sollen da solche lachhaften Monstrositäten, die geradezu unglaublich deformierte Schönheit und formvollendete Hässlichkeit? […] Man sieht viele Körper, die zu ein und demselben Kopf gehören, und dann wieder einen Körper mit vielen Köpfen, und hier ist ein Vierfüßler, mit einem Schlangenschwanz, hier ein Fisch mit dem Kopf eines Vierfüßlers [...]. Kurz, da gibt es eine solche Vielfalt sonderbarer Formen überall, dass wir lieber den Marmor lesen würden als die Bücher.“ Bernhards Empörung richtet sich nicht nur gegen die Gelder, die solcher Kunstaufwand kostete, und gegen die Gefahr der geistigen Ablenkung. Er richtete sich genauso stark gegen die der göttlichen Weltordnung Hohn sprechende Abstrusität, in der alles durcheinander gerät. Was hätte Bernhard dazu gesagt, dass es gerade der Blick in die Bücher war, der vor langer Zeit die insularen Mönche mit eben jenen „lachhaften Monstrositäten“ konfrontierte? Hätte er das in denselben Büchern angelegte Gegenmodell erkannt, die alles durchdringende Ordnung? In keinem anderen Land Europas und in keiner anderen Epoche der europäischen Kunst erhielten die Zierschrift und die Ornamentik größere und phantasievollere Entfaltungsräume als in der insularen Buchausstattung des 7. bis 9. Jahrhunderts. Doch zu fragen bleibt, welche Absicht hinter solcher Ornamentalisierung und Stilisierung stand. Eine mögliche Antwort darf die Tatsache nicht übergehen, dass die „verwirrenden“ Linien in einer ordnenden Disziplin aufgefangen sind (vgl. Abb. 1). Für die Ornamentik im Book of Lindisfarne beispielsweise ließ sich ein ausgefeiltes geometrisches System vorbereitender, mit dem Zirkel entworfener Muster nachweisen. Ernst H. Gombrich scheint es deshalb angemessener, die Absicht der insularen Buchkünstler, alle freien Partien eines Rahmens, eines Schmuckfeldes, eines Buchstabenkörpers auszufüllen, nicht pejorativ als horror vacui, als Angst vor der Leere, zu charakterisieren, sondern positiv als ▶ amor infiniti, als Liebe zum Unendlichen. Michelle P. Brown geht davon aus, dass das Ineinander raffinierter dekorativer Verflechtungen und diszipliniertester Ordnung nicht nur eine konzeptionelle künstlerische Leistung ersten Ranges war, sondern auch höchste physische Anstrengung und Konzentration voraussetzte. Die Autorin vergleicht die investierte Energie mit der von einem Asketen geübten Selbstbeherrschung und Abtötung des Fleisches. Nicht ausschließlich, aber eben auch aufgrund der Hingabe, die die Mönchskünstler dem Buch zuteil werden ließen, geriet es zum opus Dei, zum Werk im Dienste Gottes.

Bernhards Kritik an Monstrositäten

„amor infiniti“

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Stundenbuch der Jeanne d’Evreux

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Umberto Eco vergleicht die Mönche auf den Britischen Inseln, die sich auf ihre Weise in der Welt der Sprache und der bildlichen Phantasie bewegten, mit Reisenden durch einen Märchenwald – oder mit dem heiligen Brendan, der die Meere befuhr und auf wundersame Phänomene stieß. Und Eco verweist auf das zwischen dem 7. und 9. Jahrhundert vielleicht in Irland, sicher jedoch auf den Britischen Inseln, geschriebene Buch der verschiedenartigen Monster (Liber monstrorum de diversis generibus), das viele der Bilder zu beschreiben scheint, mit denen uns die insularen Illuminatoren konfrontieren. Der anonyme Autor fürchte zwar, Lügenmärchen zu erzählen, aber er könne der Faszination des Fabulierens nicht widerstehen. Allerdings bleibt zu fragen, ob hier nicht ein allzu modernistisches Argument verwendet ist. Ist Eco nicht dort sehr viel näher am historischen Sachverhalt, wo er im Einklang mit der neueren Forschung die Ratio betont, die Mathematik und die organische Proportion, die noch den wildesten Verschlingungen des Flecht- und Rankenwerks zugrunde liegt? In dem in Alba Julia aufbewahrten ersten Teil des Lorscher Evangeliars verstecken sich in einem Kanonblatt (Seite 17) menschliche Gesichter in den Strukturen und Maserungen der Marmorsäulen, welche die Kanones trennen. Schon in karolingischer Zeit „spielten“ also Illuminatoren mit der Schnittstelle zwischen realem Schein und scheinbarer Realität. Und später, seit der Hochgotik des 13. Jahrhunderts und mehr noch seit dem 14. Jahrhundert, taten sie dies noch extensiver, und zwar in den Drolerien (Grotesken), mit singulär auftretenden oder szenisch vereinten Mischwesen und skurrilen Gestalten in Initialen und Bordüren. Unzählige Versuche hat man unternommen, die Fülle der Drolerien im ▶ Stundenbuch der Jeanne d’Evreux zu interpretieren oder gar einem Gesamtprogramm einzuordnen. Eine übergreifende Programmatik jedoch ist nirgends nachweisbar, ebenso wenig wie die Wasserspeier an gotischen Kirchen einem durchgängigen Bildprogramm folgen. Deshalb hat die von einigen Wissenschaftlern vorgebrachte These, diese Marginalien als „erzieherisch“ gemeintes Kontrastprogramm zu postulieren, zu Recht keine Akzeptanz gefunden. Nur ausnahmsweise, hauptsächlich innerhalb des Marienoffiziums, scheinen die Randfiguren auf den Inhalt der Vollbilder abgestimmt. Im Vergleich zu anderen gotischen Handschriften hat Pucelle bei den Drolerien eine sehr subjektive Auswahl getroffen. Er visualisiert nur selten Affen – verbreitete Schoßtiere an den Höfen – und Vögel, das ansonsten beliebteste Bordürenrepertoire. Auch Bilder von Turnieren und anderweitigem ritterlichen Zeitvertreib treten zurück. Relativ selten sind ferner Szenen derben, zotigen, ja „pornografischen“ Zuschnitts. Stattdessen hat der Künstler bei der Mehrzahl der menschlichen und phantastischen Wesen die Physiognomie besonders betont und sich weiterhin der Wiedergabe komplexer Draperiemotive gewidmet: Ein deutlicher Anhaltspunkt

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Phantastik: Ornamente und Drolerien

dafür, dass Pucelle stets seine Spielereien und Phantastereien im aktuellsten künstlerischen Vokabular vorzutragen suchte, dem des Trecento-Naturalismus. Die Gent-Brügger Schule des ausgehenden Mittelalters und der Frührenaissance hat das abstruse figurative Vokabular mit all seinen „surrealen“ Aspekten wieder und wieder durchdekliniert. So auch im ▶ Croy-Gebetbuch (Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 1858), das man heute aufschlussreich genug auch als Buch der Drolerien bezeichnet. Wie in keinem anderen Andachtswerk der europäischen Buchmalerei schlug es im zweiten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts den Betrachter mit seinen phantastischen Fabel- und Hybridwesen in Bann, durch jene Drolerien, die in unzähligen Abwandlungen die Ränder der Handschrift bevölkern. Ja, ganze Schauspiele werden von solchen Bizarrerien aufgeführt, etwa von Affen, die ein Turnier reiten (fol. 157v und 158v) oder verwegen musizieren (fol. 51r/v). Ein Teil der Drolerien erinnert an jene fleischgewordenen Albträume, die sich in den Höllenlandschaften und Spukvisionen eines Hieronymus Bosch, eines älteren und noch wesentlich berühmteren Zeitgenossen Simon Benings, tummeln. Diablerien sagten die Menschen des 16. Jahrhunderts dazu, oder sie sprachen von grilli, „Grillen“, launigen Einfällen. Als Gegenstück zum Alltäglichen und zum sozial Akzeptierten avancierten Drolerien zum Träger von Gesellschaftssatire, zu Indizes einer ▶ „verkehrten Welt“. Die in der kirchlichen Skulptur vielfach vorkommenden Monster (an Kapitellen, Portalen, am Chorgestühl) – einem religiösen Moralismus ebenso verpflichtet wie dem groben Scherz und der beißenden Satire – wanderten, so könnte man sagen, auf die Bildseiten der illuminierten Handschriften. Zwar verfolgten dort die verspielten und dämonisierten Gestalten und Szenen fürs Erste die gleichen symbolischen Absichten, doch dabei blieb es nicht. Mehr noch als in den anderen künstlerischen Gattungen waren sie ja – vor allem im Zusammenhang privater Stunden- und Gebetbücher – Blickfang nicht nur des frommen Auges, sondern auch des Conaisseurs, des künstlerisch gebildeten, auf exquisite und exklusive Seherlebnisse erpichten männlichen oder weiblichen Besitzers des teuren Buches. Und in dieser Eigenschaft dienten sie, gleichsam als „entlastendes“ Gegengewicht zum religiösen Text, dem Vergnügen. Denn stets boten „Grillen“ und „Capricci“ sowohl dem Künstler als auch dem Betrachter die Chance, gegen eine tradierte und kanonisierte Formensprache zu revoltieren, um im Schutze des Abseitigen der eigenen Subjektivität ästhetischen Ausdruck zu verleihen. Leonardo da Vinci beschrieb um 1500 nachdrücklich den Zusammenhalt zwischen Phantasie und Phantastik. Er betonte, dass ein Maler nach seinen inneren Vorstellungen „schöne, unge-

CroyGebetbuch

verkehrte Welt

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Zwischen künstlerischer Tradition und Innovation

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heuerlich drollige Dinge“ in die Welt setzen könne und dann auch Herr über jene Geschöpfe und Ausgeburten sei. Subjektivität und Ästhetik gingen in eins: Ihr wunderliches Äußeres prädestinierte Drolerien zu dekorativen Marginal-Zwecken auf den Pergamentseiten der Bücher. Ihre Silhouetten waren leicht an die Erfordernisse der Ornamentkunst anzupassen, denn sie waren problemlos einzubetten, sei es in geometrische Motive, sei es in Blumen oder Blattranken. Während die Hauptminiaturen die göttliche Ordnung des Universums vermitteln, stellen die Marginalia die Welt auf den Kopf – aber eben nur „am Rande“, als eher spielerische Abweichung.

IX. Buchmalerei in

Zeiten des Buchdrucks

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ie Buchmalerei erlebte zwischen ausklingendem Mittelalter und beginnender Neuzeit in fast allen Teilen des Abendlandes ihre finale Krise. Die Lage stellte sich allerorten – ausgenommen in Flandern – identisch dar: Nach einer stellenweise letzten intensiven Hochblüte von 1480 bis 1520 läuft die Produktion illuminierter Manuskripte ab 1520 allmählich aus und endet um 1540, von wenigen späteren Ausnahmen abgesehen. Die Frage ist, warum? Hartnäckig betrachtete die ältere Forschung die Medienkonkurrenz des billigeren gedruckten Buches als Ursache, ohne dabei zu bedenken, dass reich illuminierte Handschriften von jeher das Privileg wohlhabender Schichten waren. Die günstigeren Produktionskosten des gedruckten Buches erklären also nicht den Rückgang der stets auf exklusive Adressaten bedachten Miniaturenhandschriften. Und selbst wenn, warum schlug, das Wortspiel sei erlaubt, der Kostenfaktor in Flandern nicht zu Buche? Die Verfechter jener These, wonach der Buchdruck auf Papier die wesentlich kosten- und zeitaufwendigere Herstellung der Pergament-Manuskripte marktökonomisch zwangsläufig aus dem Felde schlagen musste, ebenso wie die technische Reproduzierbarkeit die Aura des manuell fabrizierten Buches, belegten das gerne mit zwei Druckwerken. Inzwischen weiß man jedoch, dass diese nicht so sehr von einem Konflikt, sondern eher von einem Arrangement zwischen den beiden Parteiungen der damaligen Medienlandschaft berichten: Am Beginn des europäischen Buchdrucks mit beweglichen Lettern steht sogleich ein Chef-d’œuvre: die zweibändige Ausgabe der lateinischen Vulgata, die ▶ Gutenberg in Mainz vorlegte. Dass dieser Bibeldruck Ende 1454 schon weit GutenbergBibel fortgeschritten war, bezeugt ein Brief des Enea Silvio Piccolomini (des späteren Papstes Pius II.), der in Frankfurt am Main Probeseiten der Bibel zu Gesicht bekommen hatte. Bereits im Frühjahr 1455 war die erste Auflage fast komplett verkauft beziehungsweise subskribiert. Der meisterliche Druck ist von hoher textlicher Qualität und zugleich ein ästhetisches Erlebnis. Die typologische Gestaltung orientierte sich am Vorbild von Bibelhandschriften, richtete sich nach

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Buchmalerei in Zeiten des Buchdrucks

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deren zweispaltiger Komposition mit Blocksatz und Kolumnentitel sowie nach den dort in ihrer Größe alternierenden Initialen. Wie sehr die Gutenberg-Bibel nicht gegen altehrwürdige Handschriften opponieren, sondern eine mediale Ergänzung, allenfalls Alternative bieten wollte, geht zusätzlich zu der formalen Traditionsanbindung aus der Verkaufsstrategie hervor: Während der größere Teil der Auflage auf preiswertes Papier gedruckt wurde und sich somit an ein breiteres Publikum richtete, verwandte der Rest der Gesamtauflage Pergament, zielte also auf eine an die exklusivere Materialität der Handschriften gewöhnte Käuferschicht. Im Übrigen wurden in jedes Exemplar die Überschriften der einzelnen biblischen Bücher von Hand mit roter Tinte eingetragen. Und es existieren Exemplare, die von Hand mit Goldgrundinitialen und Randranken ausgestattet wurden – was die Grenzen zur herkömmlichen Buchmalerei vollends durchlässig machte. Maximilian I. ▶ Kaiser Maximilian I. war um 1500 der erste Herrscher der Neuzeit, der die und der innovativen Chancen des Buchdrucks zur Vermehrung seiner eigenen ReputaBuchdruck tion und zur Repräsentation seiner Dynastie, des Hauses Habsburg, einsetzte. Memoria, Erinnerung für die Nachwelt, lautete die Parole maximilianischer Kunstpolitik – und gleichzeitig ging es dem Kaiser um die jederzeit mögliche Multiplikation dieses Gedächtniswerkes. Buchdruck und Druckgrafik schienen – ihrer Reproduktionsmöglichkeiten wegen nunmehr von allerhöchster Stelle autorisiert – der Buchmalerei den Rang abzulaufen, die „altmodisch“ weil „auratisch“ war, aber auch umständlich, und zudem produzierte sie nur Einzelwerke („Originale“). Das verdient einen genaueren Blick: Maximilian hat ab 1500 mit den drei von ihm selbst verfassten deutschsprachigen Büchern Freydal, Weißkunig und Theuerdank ein literarisches Memorialwerk geplant, von dem allerdings nur der Theuerdank fertig geworden ist. Bezeichnend ist, wie dieses Versepos an die Öffentlichkeit ging, nämlich 1517 in einer exklusiven Auflage von 40 Pergamentexemplaren und 300 Papierexemplaren gedruckt, wobei man die Auslieferung allerdings bis nach dem Tod Maximilians 1519 zurückhielt. Wie auch bei den Fragmenten des Freydal und Weißkunig stand beim Theuerdank eine prachtvolle künstlerische Erscheinungsweise im Zentrum der editorischen Absichten, weshalb die Holzschnitte fast ausschließlich von Künstlern allerersten Ranges entworfen sind. Auch die Wahl der Schrifttypen, überhaupt die gesamte repräsentative Buchgestaltung, erinnern eher an den Luxus handschriftlicher Codices als an die Usancen einer Massenproduktion. Da es dem Kaiser jeweils darum ging, mit den Möglichkeiten des Buchdrucks die Qualitäten von Handschriften noch zu übertreffen, erteilte er 1508 den Auftrag, für ihn ein neues Gebetbuch anfertigen und dazu von den besten Schreibmeistern und Typografen eine noch nie dagewesene Schrift konzipieren

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Buchmalerei in Zeiten des Buchdrucks

zu lassen. Das ▶ Gebetbuch (Abb. 30), das daraufhin entstand, erhärtet ein weiteres Mal, dass es Maximilian und seinem Stab von Buchkünstlern nicht darum zu tun war, der traditionellen Buchmalerei einen Wettkampf zu liefern, der nur einen Sieger kennt. Stattdessen initiierten sie eine fruchtbare Konkurrenz im Sinne eines Ansporns zur gegenseitigen Steigerung. Es wird deutlich, wie sehr der kaiserliche Auftraggeber das Changieren zwischen Handschrift und Buchdruck schätzte. Am offensichtlichsten belegt dies jenes Exemplar des Gebetbuches, das (in zwei Hälften geteilt und unvollständig) in der Bibliothèque municipale in Besançon und in der Bayerischen Staatsbibliothek in München erhalten blieb. Denn dieses außergewöhnliche Druckwerk erhielt – im Geiste mittelalterlicher Bordüren – Randzeichnungen, die von Meistern wie Hans Baldung Grien, Hans Burgkmair, Lukas Cranach d. Ä., Jörg Breu d. Ä., Albrecht Altdorfer und insbesondere Albrecht Dürer geschaffen wurden. Es würde zu diesem Grenzgänger zwischen den Gattungen, zur medialen ars combinatoria (hier die Kombination verschiedenartiger Gattungen, um neue Lösungen zu finden) dieses Buches passen, wenn, wie auch schon vermutet wurde, Maximilian daran gedacht hätte, jene Federzeichnungen im Holzstock vervielfältigen und so in preiswerteren Ausgaben seines Gebetbuches reproduzieren zu lassen. Auch sonst sind die Jahrzehnte zwischen circa 1455 und 1530 europaweit charakterisiert von allen nur denkbaren Übergangsformen und Kombinationen (beispielsweise die bereits besprochene Aristoteles-Handschrift). Ulrich Merkl hat zahlreiche solcher, wie er sagt, ▶ Hybridformen zwischen gedrucktem und handgefertigtem Buch aufgelistet. Dass Inkunabeln, also die frühen, vor 1500 entstandenen Erzeugnisse der Buchdruckerkunst, nach dem Muster handgeschriebener Bücher mit Miniaturen ausgestattet wurden, war besonders in Oberitalien beliebt, wo bis gegen 1500 eine Menge reich ausgemalter, meist auf Pergament gedruckter Exemplare ediert wurden. Bei vielen von ihnen sind Stellen für die nachträgliche Unterbringung gemalter Initialen freigelassen (wie es bereits auch die Gutenberg-Bibel gehandhabt hatte). Diese Praxis hätte folglich die herkömmlichen Illuminatoren nicht vom Markt verdrängen, sondern ihnen im Gegenteil reichlich Arbeit verschaffen müssen. In Venedig beispielsweise vervielfachte sich in der Tat nach der Einrichtung der ersten Druck-Offizin im Jahre 1469 die Zahl der Illuminatoren sprunghaft. Auch in Nürnberg oder in Paris waren vergleichbare Entwicklungen zu beobachten. Die einfach belassene Grafik weist gegenüber den Miniaturen einen gravierenden Nachteil auf: das Fehlen von Farbe. Welche Rolle spielte aber dann unter den „Hybridformen“ die kolorierte Druckgrafik, die doch diesen Mangel auszugleichen schien? Gab es ein Konkurrenzverhältnis zwischen ihr und den Miniaturen?

das Gebetbuch Maximilians I.

Hybridformen

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Bei der möglichen Antwort auf diese Frage ist in er- ◀ Abb. 30  Albrecht Dürer: Randster Linie der Kostenfaktor zu berücksichtigen. Ein als zeichnung (Feder auf Pergament) zu Psalm 100, in: Gebetbuch MaxiEinzelstück kolorierter Holzschnitt im Oktavformat ko- milians I., um 1515; München, stete um 1520 in Nürnberg ungefähr 11 bis 22 Pfennig, Bayerische Staatsbibliothek, 20 L. ein kolorierter Kupferstich im gleichen Format etwa 18 impr. membr. 64, fol. 56v. bis 29 Pfennig. Zur gleichen Zeit verlangte Nikolaus Glockendon für eine Miniatur im Oktavformat ungefähr 90 Pfennig, also das Dreibis Vierfache eines kolorierten Druckes. Die billigste Lösung im Rahmen der „Hybridformen“ wäre folglich gewesen, die Holzschnitte oder Kupferstiche in gedruckten Büchern zu kolorieren oder aber kolorierte Originalgrafiken in Handschriften einzukleben, statt Miniaturen zu verwenden. Doch diese vom finanziellen Aufwand her naheliegende Lösung wurde so gut wie nie praktiziert. Wie lässt sich vor solchem Hintergrund die „Erfolgsstory“ der flämischen Stundenbücher aus der führenden Gent-Brügger Schule erklären? Vor allem Dagmar Thoss hat hierzu überzeugende Argumente aufgeführt: Unbeschadet aller Rezession in ihrem Umfeld illuminierten flämische Buchmalerei-Ateliers eine Unzahl herrlicher Codices. Alle kulturellen Zentren Europas verlangten nach prachtvoll ausgestatteten Gebetbüchern der ▶ Gent-BrügGentBrügger ger Schule. Die dynastisch mit den Niederlanden verbundenen Herrscher in Schule Spanien und Österreich bezogen ihre Andachtsbücher ebenso von dort wie ein Kardinal Albrecht von Brandenburg oder reiche italienische Kunstliebhaber. König Heinrich VIII. von England sicherte sich sogar die Dienste eines der führenden Vertreter der Schule, indem er ihn als Hofmaler zu sich berief: nämlich Gerard Horenbout. Mit ihm gingen seine Tochter Susanna, deren Maltalent Albrecht Dürer während der niederländischen Reise mit Hochachtung erwähnte, und sein Sohn Lukas, der ebenfalls Buchmaler war. Was aber hatte diese Gent-Brügger Kunst den Liebhabern des ebenso schönen wie frommen Buches zu bieten? Was machte ihre Attraktivität aus? Offensichtlich war das Erfolgsgeheimnis der Schule ihre Flexibilität, mit der sie sich, gestützt auf wichtige Innovationen, geschmeidig den veränderten Marktbedingungen anpasste. Ihre wichtigste formale Erfindung bestand zweifellos in einer Neuorganisation der Bildseite, in einer ▶ Modernisierung des ModerniLayouts. Die an der Zweidimensionalität der Buchseite orientierte Einheit von sierung des Layouts Schrift, Bild und Dekor, auf der die ältere Geschichte der Buchmalerei beruhte, war in dem Moment infrage gestellt, als flächige Mustergründe und gobelinartig stilisierte Landschaftshintergründe außer Mode kamen und mehr oder weniger illusionistischen Bildräumen Platz machten. Damit gehorchte die Miniatur zunehmend den Prinzipien des tiefenräumlich gestalteten Gemäldes. Diese Gesichtspunkte wurden erörtert. Die Entwicklung machte sich ab der Mitte des 15. Jahrhunderts überall in der europäischen Buchmalerei bemerkbar. Doch

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erst gegen Ende der Siebzigerjahre des 15. Jahrhunderts fanden flämische Ateliers eine Lösung für die Neuorganisation der Buchseite, die den modernen naturalistischen Tendenzen und dem neuen visuellen „Weltbild“ Rechnung trug. Die Lösung lag im revolutionären Spiel mit den Realitätsebenen. Die Miniatoren versahen nämlich die einst flächengebundenen Bordürenmotive mit einem Höchstmaß an raumkörperlicher Illusion. Der Bordürenrahmen erweckte den optischen Anschein, dem Betrachter näher zu liegen als das gerahmte Zentrum, er überschritt die „ästhetische Grenze“ und tendierte virtuell in die Betrachterrealität. Folgerichtig paarte er sich mit dem faszinierenden Repertoire an ▶ Trompe-l’œil-Effekten: Verschiedene „lebensechte“ Blüten, Trompel’œil-Effekte kostbar glänzende Schmuckstücke, plastisch modellierte Perlen- und Korallenketten schienen auf dem Bordürenfond ausgestreut, auf den sie Schlagschatten warfen, wie man es von realen Gegenständen erwartet. Manchmal wurden sie auch, zur Steigerung der Realitätsillusion, scheinbar in die Buchseite eingesteckt, mittels vorgetäuschter Nadeln angeheftet oder an Bordüren- und Textspiegelleisten aufgehängt. Die kühnen Neuerer der Gent-Brügger Schule wandelten solche Seitenarrangements mehr als ein halbes Jahrhundert hindurch mit höchster technischer Raffinesse in zahllosen Experimenten ab. Sie entwickelten einen Einfallsreichtum, der ihren Werken bleibenden Erfolg garantierte. Der humanistische Gelehrte Sebastian Brant veröffentlichte sein satirisches Brants ▶ Narrenschiff erstmals 1494 in Basel. Den Ruhm der Ausgabe begründen die „Narrenzahlreichen Holzschnitte und darüber hinaus das ausgewogene Verhältnis von schiff“ Text, Typografie und Buchschmuck. Das Projekt war zweifellos in einem Umfeld gediehen, das souverän mit dem Medium des gedruckten Buches umzugehen wusste. Wenn Brant seinen Disput unter der Überschrift „Von unnutzen buchern“ beginnt, dann deshalb, um sich gegen die inflationäre Demokratisierung des Lesens zu richten und die Überfülle von Informationen zu beklagen, die die Bücherflut mit sich schwemmt. Hier einige Daten zur explosionsartig anwachsenden Massenproduktion gedruckter Bücher: Bis 1490 existieren europaweit mehr als 200 Offizinen (größere Buchdruckereien) in unterschiedlichen Städten, eine Zahl, die schnell steigt. Nach neueren Berechnungen liegt die Menge der Buchausgaben, die die Druckereien gegen Ende des Jahrhunderts ausstoßen, zwischen 26 000 und 27 000; die Gesamtzahl der Drucke wird auf 17 Millionen hochgerechnet. Der Buchmarkt konstituiert über Platzmarkt, Messehandel und Wanderhandel ein flächendeckendes Netzwerk, mit dessen Hilfe man eine weit verstreute Kundschaft bedient. In solchem Kontext schrieb Brant sein Kapitel „Von unnutzen buchern“, als Reflex auf diese beängstigende Konjunktur des Buchmarkts, von der das

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Narrenschiff selbst freilich gehörig profitierte. Nicht umsonst kennt seine Publikationsgeschichte zahlreiche nicht autorisierte Editionen, die, um die Herstellungskosten zu senken, schlampige Nachschnitte der Illustrationen verwenden, das originäre ausgeklügelte Layout vernachlässigen und das Format reduzieren. Das Buch als Ramschartikel – auch das bereitet sich im Zuge früher Massenproduktion vor – ist eine Folge des immens angewachsenen Lesebedürfnisses! Martin Luther ▶ deutete in einer Tischrede 1532 den Buchdruck mit beweglichen Lettern noch emphatisch als ein Geschenk Gottes, als dessen finale Gabe an die Menschheit. Doch schon sieben Jahre später fürchtete er medienkritisch, das reine Gotteswort werde unter der Fülle gedruckter Bücher verschüttet. Dort, wo Bücher nicht mit Druckgrafik illustriert wurden, vermittelten ab circa 1530 aquarellierte Federzeichnungen auf Papier in Gestalt von Chroniken, Urkunden, Wappen- und Turnierbüchern einen Nachklang der traditionellen Buchmalerei. Gelegentlich verwendete man zu diesem Zweck aber auch weiterhin Deckfarbenminiaturen auf Pergament. Und doch flackerte immer wieder ein letztes Lebenszeichen, eine letzte auratische Reminiszenz des einst so erfolgreichen Mediums Buchmalerei auf: etwa die Ausgaben der alchimistischen Lehrschrift ▶ Splendor Solis, deren ältestes Exemplar in der Werkstatt des Nürnberger Buchmalers Albrecht Glockendon entstand, und die ständig neu kopiert, übersetzt und illuminiert wurde – ein Prachtmanuskript aus dem Jahr 1582 befindet sich in London (British Museum, Ms Harley 3469); oder, um bei Beispielen im deutschsprachigen Raum zu bleiben, die Fürsten- und Reformatorenporträts ▶ Lucas Cranachs d. J., die zwischen 1542 und 1562 als Vorsatzblätter in gedruckte Pergamentbibeln eingebunden wurden; oder schließlich die Prachtcodices, die Hans Mielich in den Fünfziger- und Sechzigerjahren des 16. Jahrhunderts für den Bayernherzog Albrecht V. im manieristischen Stil illuminierte. Doch selbst wenn noch bis ins 19. Jahrhundert vereinzelte Prunkhandschriften – vor allem Liturgica und Andachtsbücher – in der alten Technik angefertigt wurden, ändert das nichts an der Tatsache, dass sich das faszinierende Medium seit Langem überlebt hatte. Warum dies der Fall war, bleibt bis heute relativ rätselhaft. Das Medium Buch hat eine imponierende Geschichte, die heute jedoch angesichts der übermächtigen Konkurrenz der elektronischen Medien droht, sich ebenso dem Ende zu nähern wie seinerzeit die Buchmalerei. Nicht länger scheint die Welt grundlegend vom Buch als Leitmedium geprägt zu sein: das Ende der Gutenberg-Galaxis. Bücher werden heute nicht selten als Fos-

Martin Luther zum Buchdruck

Splendor Solis

Vorsatzblätter in protestantischen Bibeln

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silien einer überholten „Informatik“ verspottet. Bilder sind zur Verfügungsmasse einer virtuell manipulierbaren und damit unendlich variablen Phänomenalität geworden. In einer Hinsicht treten diese Innovationen jedoch wieder in den Dienst der altehrwürdigen Gattung Buch. So hat man bei einer Ausstellung in München 2012/13 die weltweite Neuheit eines 3-D-Systems erprobt, das mittels einer einschlägigen Brille ein gestengesteuertes Blättern beziehungsweise Drehen des dreidimensional imaginierten Buches erlaubt. Und seit Beginn des Jahres 2010 institutionalisierte die Europäische Kommission unter dem Namen „Europeana Regia“ ein Projekt zur Digitalisierung mittelalterlicher Prachthandschriften in verschiedenen europäischen Bibliotheken. Sie alle sind über die Projektwebseiten www.europeanaregia.eu/de sowie www.europeana. eu/ aufrufbar und miteinander vergleichbar. Vielleicht ist es altmodisch, aber der Verfasser dieses Buches bekennt, neben solchen unschätzbaren Hilfsmitteln weiterhin einen guten Bildband, Ausstellungskataloge und ein Faksimile zur Hand zu nehmen, um Buchmalerei visuell und „haptisch“ auf sich wirken – einwirken – zu lassen.

Literatur I. Buchmalerei –

Faszination und Geschichte Alexander, Jonathan J. G.: Italienische Buchmalerei der Renaissance im 15. Jahrhundert, München 1977. Alexander, Jonathan J. G. (Hg.): The Painted Page. Italian Renaissance Book Illumination 1450 – 1550, München 1994. Avril, François: L’Enluminure du XIVe siècle à la Cour de France, Paris 1978 (Manuscript Painting at the Court of France: the Fourteenth Century, New York 1978; Buchmalerei am Hofe Frankreichs, München 1978). Avril, François (Hg.): Les Fastes du gothique. Le siècle de Charles V. Ausst.-Kat. Galeries Nationales du Grand Palais, Paris 1981/82, Paris 1981. Avril, François/Reynaud, Nicole: Les manuscrits à peintures en France. 1440 – 1520, Paris 1993. Châtelet, Albert: L’âge d’or du manuscrit à peintures en France au temps de Charles VI et Les Heures du Maréchal Boucicaut, Dijon 2000. Dückers, Rob/ Roelofs, Pieter (Hg.): Glanzvolles Mittelalter. Die Handschriften der Gebrüder Limburg. Katalog anlässlich der Ausstellung „Die Brüder von Limburg: Nijmegener Meister am französischen Hof (1400 –  1416)“, Museum Het Valkhof, Nijmegen, Stuttgart 2005. Grimme, Ernst Günther: Die Geschichte der abendländischen Buchmalerei, Köln 1980. Henderson, George: From Durrow to Kells. The Insular Gospel-books 650 – 800, London 1987. Hoffmann, Hartmut: Buchkunst und Königtum im ottonischen und frühsalischen Reich. 2 Bde., Stuttgart 1986. Jakobi-Mirwald, Christine: Buchmalerei. Ihre Terminologie in der Kunstgeschichte, Berlin 1997.

Kren, Thomas/ McKendrick, Scot: Illuminating the Renaissance. The Triumph of Flemish Manuscript Painting in Europe. Ausst.-Kat. The J. Paul Getty Museum, Los Angeles 2003; Royal Academy of Art, London 2003/04, Los Angeles 2003. List, Claudia/Blum, Wilhelm: Buchkunst des Mittelalters, Stuttgart/Zürich 1994. Marks, Richard/Morgan, Nigel: Englische Buchmalerei der Gotik 1200 – 1500, München 1980. Mayr-Harting, Henry: Ottonische Buchmalerei. Liturgische Kunst im Reich der Kaiser, Bischöfe und Äbte. 2 Bde., Stuttgart/Zürich 1991. Mazal, Otto: Buchkunst der Romanik, Graz 1978. Meiss, Millard: French Painting in the Time of Jean de Berry. The late 14th Century and the Patronage of the Duc. 2 Bde., London/ New York 1967. Nordenfalk, Carl: Insulare Buchmalerei. Illuminierte Handschriften der Britischen Inseln. 600 – 800, München 1977. Pächt, Otto: Buchmalerei des Mittelalters. Eine Einführung, München 1984. Pracht auf Pergament. Schätze der Buchmalerei von 780 bis 1180. Ausst.-Kat. Kunsthalle der Hypo-Kulturstiftung und Bayerische Staatsbibliothek, München 2012/13, München 2012. Smeyers, Maurits: Flemish Miniatures from the 8th to the mid-16th Century, Leuven 1999. Sterling, Charles: La peinture médiévale à Paris 1300 – 1500. 2 Bde., Lausanne 1987 – 1990. Thomas, Marcel: The Golden Age. Manuscript Painting at the Time of Jean, Duke of Berry, New York 21996. Thoss, Dagmar: Flämische Buchmalerei. Handschriftenschätze aus dem Burgunderreich. Ausstellung der Handschriften- und Inkunabelsammlung der Österreichischen Nationalbibliothek, Prunksaal, Graz 1987.

Literatur

Walther, Ingo F./Wolf, Norbert: Codices illustres. Die schönsten illuminierten Handschriften der Welt. 400 bis 1600, Köln u. a. 2001 [mit einem Überblick u. weiterer Literatur zur außereuropäischen Buchmalerei]. Weitzman, Kurt: Spätantike und frühchristliche Buchmalerei, München 1977. Wolf, Norbert: Herausragende Hofkunst in Frankreich zur Zeit des Herzogs von Berry, Faksimile Verlag Luzern 2005 [S. 27 zu Jean de Joinville].

II. Mediale Besonderheiten Das Stundenbuch der Sforza. Kommentarband zur Faksimile-Edition mit Beiträgen von Mark L. Evans, Bodo Brinkmann und Hubert Herkommer. Faksimile Verlag Luzern 1995. Ganz, Peter (Hg.): Das Buch als magisches und als Repräsentationsobjekt (Wolfenbütteler Mittelalter-Studien 5), Wiesbaden 1992. Les Belles Heures. Faksimile-Edition mit Kommentarband von Eberhard König und Timothy Husband. 2 Bde., Faksimile Verlag Luzern 2003. Mazal, Otto: Europäische Einbandkunst aus Mittelalter und Neuzeit. Ausstellung der Handschriften- und Inkunabelsammlung der Österreichischen Nationalbibliothek, Prunksaal, Graz 1990. Mittler, Elmar (Hg.): Bibliotheca Palatina. Ausst.-Kat. Heiliggeistkirche Heidelberg. 2 Bde., Heidelberg 1986 [Bd. 1, S. 136ff., Nr. C 11 zum Josua-Rotulus]. Plotzek, Joachim M. (Hg.): Biblioteca Apostolica Vaticana. Liturgie und Andacht im Mittelalter. Ausst.-Kat. Erzbischöfliches Diözesanmuseum Köln, 1992/93, Stuttgart 1992 [Nr. 30 – 32 Beispiele für Exultet-Rollen]. Reudenbach, Bruno: Das Godescalc-Evangelistar. Ein Buch für die Reformpolitik Karls des Großen, Frankfurt am Main 1998. Schreiner, Klaus: Buchstabensymbolik, Bibelorakel, Schriftmagie. Religiöse Bedeutung und lebensweltliche Funktion heiliger Schriften im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit.

200

In: Wenzel, Horst/Seipel, Wilfried/Wunberg, Gotthard (Hg.): Die Verschriftlichung der Welt. Bild, Text und Zahl in der Kultur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit (Schriften des Kunsthistorischen Museums Wien, Bd. 5), Wien/Mailand 2000, S. 59 – 104. Steenbock, Frauke: Der kirchliche Prachteinband im frühen Mittelalter. Von den Anfängen bis zum Beginn der Gotik, Berlin 1965. Wenzel, Horst: Die Schrift und das Heilige. In: Wenzel, Horst/Seipel, Wilfried/Wunberg, Gotthard (Hg.): Die Verschriftlichung der Welt. Bild, Text und Zahl in der Kultur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit (Schriften des Kunsthistorischen Museums Wien, Bd. 5), Wien/Mailand 2000, S. 15 – 58 [S. 15 das Zitat nach Hugo von St. Victor]. Wolf, Norbert: Das frühe Christentum und die große insulare Buchmalerei. Mit einem Beitrag von Umberto Eco, Faksimile Verlag Luzern 204 [S. 44ff. zum Book of Durrow].

III. Die Materialien Grimme, Ernst Günther: Das Evangeliar Kaiser Ottos III. im Domschatz zu Aachen, Freiburg/Basel/Wien 1984. Kirmeier, Josef/Schütz, Alois/Brockhoff, Evamaria (Hg.): Schreibkunst. Mittelalterliche Buchmalerei aus dem Kloster Seeon, Ausst.Kat. Kloster Seeon, Augsburg 1994 [S. 113 zu den Ausführungen des Conrad von Mura; S. 140ff. ausführlich zu diversen Farbmitteln]. Kühn, Hermann: Reclams Handbuch der künstlerischen Techniken, Bd. 1: Farbmittel, Buchmalerei, Tafel- und Leinwandmalerei, Stuttgart 1984 [S. 59 – 123 zur Buchmalerei]. Ploss, Emil Ernst u. a.: Alchimia. Ideologie und Technologie, München 1970 [zu den Farbrezepten]. Rück, Peter (Hg.): Pergament. Geschichte –  Struktur – Restaurierung – Herstellung, Sigmaringen 1991. Trost, Vera: Gold- und Silbertinten. Technologische Untersuchungen zur abendländischen Chrysographie und Argyrographie von der Spätantike bis zum hohen Mittelalter, Wiesbaden 1991.

201

IV. Die Arbeit und ihr Wert Alexander, Jonathan J. G.: Medieval Illuminators and their Methods of Work, New Haven/London 1992. Eberlein, Johann Konrad: Miniatur und Arbeit. Das Medium Buchmalerei, Frankfurt am Main 1995. Euw, Anton/Fox, Peter (Hg.): Book of Kells. Ms 58 Trinity College Library Dublin. Kommentarband der Faksimile-Ausgabe Luzern 1990. Hauschild, Stephanie: Mönche, Maler, Miniaturen. Die Welt der mittelalterlichen Bücher, Ostfildern 2005. Merkl, Ulrich: Buchmalerei in Bayern in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Spätblüte und Endzeit einer Gattung, Regensburg 1999 [S. 58ff. zur Nürnberger Buchmalerei und ihren Produktionsbedingungen]. Trost, Vera: Skriptorium. Die Buchherstellung im Mittelalter, Stuttgart 2011.

V. Buchtypen und ihre Bebilderung

Baxter, Ron: Bestiaries and their Users in the Middle Ages, Stroud 1990. Bischoff, Bernhard u. a.: Aratea. Kommentar zum Aratus des Germanicus Ms. Voss. lat. Q. 79, Bibliotheek der Rijksuniversiteit Leiden, Faksimile Verlag Luzern 1989. Fingernagel, Andres (Hg.) und Christian Gastgeber (Redaktion): Im Anfang war das Wort. Glanz und Pracht illuminierter Bibeln, Köln u. a. 2003. Hamel, Christopher de: Das Buch. Eine Geschichte der Bibel, Berlin 2006. Hansen, Wilhelm: Kalenderminiaturen der Stundenbücher. Mittelalterliches Leben im Jahreslauf, München 1984. Harthan, John: Stundenbücher und ihre Eigentümer, Freiburg/Basel/Wien 1977. Hassig, Debra: Medieval Bestiaries. Text, Image, Ideology, Cambridge u. a. 1995.

Literatur

König, Eberhard/Bartz, Gabriele: Das Stundenbuch. Perlen der Buchkunst. Die Gattung in Handschriften der Vaticana, Stuttgart/Zürich 1998. Pastoureau, Michel: Das mittelalterliche Bestiarium, Darmstadt 2013. Pfaff, Carl: Die Welt der Schweizer Bilderchroniken (Begleitpublikation zu einer gleichnamigen Wanderausstellung), Schwyz 1991. Schreiner, Klaus: Buchstabensymbolik, Bibelorakel, Schriftmagie. Religiöse Bedeutung und lebensweltliche Funktion heiliger Schriften im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. In: Wenzel, Horst/Seipel, Wilfried/Wunberg, Gotthard (Hg.): Die Verschriftlichung der Welt. Bild, Text und Zahl in der Kultur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit (Schriften des Kunsthistorischen Museums Wien, Bd. 5), Wien/Mailand 2000, S.59 – 104 [S. 61 das Zitat nach Augustinus und Alkuin, S. 84 zu Sortilegien usw. mithilfe des Psalters]. Suckale-Redlefsen, Gude/Schemmel, Bernhard (Hg.): Die Bamberger Apokalypse. Kommentarband zur Faksimile-Ausgabe, Faksimile Verlag Luzern 2000 [auch zur Geschichte der Apokalypse-Illustrationen]. Unterkircher, Franz: Das Stundenbuch des Mittelalters, Graz 1985. Unterkircher, Franz: Bestiarium. Die Texte der Handschrift Ms Ashmole 1511 der Bodleian Library Oxford, Graz 1986. Wagner, Christoph/Unger, Klemens (Hg.): Berthold Furtmeyr. Meisterwerke der Buchmalerei und die Regensburger Kunst in Spätgotik und Renaissance, Ausst.-Kat. Historisches Museum Regensburg, Regensburg 2010. Wieck, Roger S.: Time Sanctified. The Book of Hours in Medieval Art and Life, New York/Baltimore 1988.

VI. Kunstsoziologische Aspekte Dückers, Rob/Roelofs, Pieter (Hg.): Glanzvolles Mittelalter. Die Handschriften der Gebrüder Limburg. Katalog anlässlich der Ausstellung „Die Brüder von Limburg: Nij-

Literatur

megener Meister am französischen Hof (1400 – 1416)“, Museum Het Valkhof, Nijmegen, Stuttgart 2005 [mit Beiträgen zur Biografie der Limburgs und zum HandschriftenMäzenat des Duc de Berry]. Eberlein, Johann Konrad: Miniatur und Arbeit. Das Medium Buchmalerei, Frankfurt am Main 1995 [S. 273ff., 279, 283ff. zu Peraldus und Pelagius]. Häse, Angelika: Liturgische Handschriften in Lorsch um die Mitte des 9. Jahrhunderts. In: Das Lorscher Evangeliar. Kommentar, Faksimile Verlag Luzern 2000, S. 23 – 32 [zu den Inventaren karolingischer Klosterbibliotheken]. Jahn, Cornelia/Kudorfer, Dieter: Lebendiges Büchererbe. Säkularisation, Mediatisierung und die Bayerische Staatsbibliothek, Ausst.Kat. Bayerische Staatsbibliothek München 2003/04, München 2003. König, Eberhard: Die Très Belles Heures von Jean de France, Duc de Berry. Ein Meisterwerk an der Schwelle zur Neuzeit u. a., München 1998 [zur Geschichte des Turin-Mailänder Stundenbuches]. Maccioni Ruju, P. Alessandra/Mostert, Marco: The Life and Times of Guglielmo Libri (1802 – 1869), Hilversum 1995. Merkl, Ulrich: Buchmalerei in Bayern in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Spätblüte und Endzeit einer Gattung, Regensburg 1999 [S. 35f. zu den Dominikanerinnen in Nürnberg]. Mittler, Elmar (Hg.): Bibliotheca Palatina. Ausst.-Kat. Heiliggeistkirche Heidelberg. 2 Bde., Heidelberg 1986 [Bd. 1, S. 1ff. zur Geschichte der Bibliothek]. Noel, William: Die Oxforder Bibelbilder, Faksimile Verlag Luzern und The Walters Art Museum Baltimore, Luzern 2004 [S. 179ff. zu Oxford als Produktionszentrum]. Plotzek, Joachim M. (Hg.): Biblioteca Apostolica Vaticana. Liturgie und Andacht im Mittelalter. Ausst.-Kat. Erzbischöfliches Diözesanmuseum Köln, 1992/93, Stuttgart 1992 [S. 15ff. zur Geschichte der Bibliothek].

202

Rouse, Richard/Rouse, Mary: Illitterati et uxorati. Manuscripts and their Makers. Commercial Book Production in Medieval Paris, 1200 – 1500. 2 Bde., London 2000. Schreiner, Klaus: Laienfrömmigkeit – Frömmigkeit von Eliten oder Frömmigkeit des Volkes? Zur sozialen Verfaßtheit laikaler Frömmigkeitspraxis im späten Mittelalter. In: Laienfrömmigkeit im späten Mittelalter. Formen, Funktionen, politisch-soziale Zusammenhänge (Tagung vom 13. – 16. Juni 1988 in der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, München), Hg. von Klaus Schreiner, München 1992, S. 1 – 78 [zu den Laienregeln]. Warnke, Martin: Hofkünstler. Zur Vorgeschichte des modernen Künstlers, Köln 1985. Wolf, Norbert: Die Buchmalerei der frühen Gotik in England, Faksimile Verlag Luzern 2007 [S. 122f. zur Brüsseler Bibliothek].

VII. Elemente der Gestaltung Cazelles, Raymond/Rathofer, Johannes (Hg.): Les Très Riches Heures du Duc de Berry. Kommentar zur Faksimile-Edition des Manuskriptes Nr. 65 aus den Sammlungen des Musée Condé in Chantilly, Faksimile Verlag Luzern 1984. Clausberg, Karl: Die Wiener Genesis. Eine kunstwissenschaftliche Bilderbuchgeschichte, Frankfurt am Main 1984 Nordenfalk, Carl: Insulare Buchmalerei. Illuminierte Handschriften der Britischen Inseln. 600–800, München 1977. Pächt, Otto: Buchmalerei des Mittelalters. Eine Einführung, München 1984 [S. 152 das Zitat]. Weitzmann, Kurt: Illustrations in Roll and Codex. A Study of the Origin and Method of Text Illustration, Princeton 21970 [zur Wiener Genesis]. Wolf, Norbert: Die Macht der Heiligen und ihrer Bilder, Stuttgart 2004 [S. 225ff. zum „Fensterbild“ im Stundenbuch der Maria von Burgund].

203

Literatur

VIII. Zwischen künst

lerischer Tradition und Innovation

Brown, Michelle P.: Das Buch von Lindisfarne. Spirituelle Welten, Faksimile Verlag Luzern und The British Library, London, Luzern 2003 [S. 1ff. Umberto Ecos Interpretation der insularen Ornamentik]. Gombrich, Ernst H.: Ornament und Kunst. Schmucktrieb und Ordnungssinn in der Psychologie des dekorativen Schaffens, Stuttgart 1982 [S. 263ff. zur Ornamentik in Handschriften]. Kemp, Wolfgang: Die Räume der Maler. Zur Bilderzählung seit Giotto, München 1996. König, Eberhard: Das liebentbrannte Herz. Der Wiener Codex und der Maler Bartélemy d’Eyck, Graz 1996. Krieger, Michaela: Grisaille als Metapher. Zum Entstehen der Peinture en Camaieu im frühen 14. Jahrhundert, Wien 1995.

Pächt, Otto: Buchmalerei des Mittelalters. Eine Einführung, München 1984 [S. 26 die Zitate]. Schaefer, Claude: Fouquet. An der Schwelle zur Renaissance, Dresden/Basel 1994.

IX. Buchmalerei in Zeiten

des Buchdrucks

Das Gebetbuch Kaiser Maximilians. Der Münchner Teil mit den Randzeichnungen von Albrecht Dürer und Lucas Cranach d. Ä. Einführung von Hinrich Sieveking, München 1987. Merkl, Ulrich: Buchmalerei in Bayern in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Spätblüte und Endzeit einer Gattung, Regensburg 1999 [S. 218ff. viele Beispiele zum Ausklang der Buchmalerei]. Thoss, Dagmar: Flämische Buchmalerei. Handschriftenschätze aus dem Burgunderreich. Ausstellung der Handschriften- und Inkunabelsammlung der Österreichischen Nationalbibliothek, Prunksaal, Graz 1987.

Namenregister A

Aachen 54 Acquaviva, Andrea Matteo (1458 – 1529) 106 Aethelwulf (um 800–859) 109 Albrecht III., Herzog von Österreich (1365 – 1395) 43 Albrecht IV., Herzog von Bayern (1447 – 1508) 132 Albrecht von Brandenburg (1490 – 1545) 195 Alkuin (um 730 – 804) 67 Altdorfer, Albrecht (um 1480 – 1538) 193 Altichiero (um 1330 – um 1390) 119 Ambrosius, hl. (339 – 397) 95 Angelico, Fra (1395/1400 – 1455) 113 Aristoteles (384 – 322 v. Chr.) 105 Augustinus, hl. (354 – 430) 67

B

Baldung Grien, Hans (1484/85 – 1545) 193 Beatus von Liébana (um 730 – um 800) 72 Beauneveu, André (um 1335 – um 1401/03) 117 Beda Venerabilis (673 – 735) 72 Bedford-Meister (tätig 1405 – 1430) 29, 100 Bening, Simon (1483/84 – 1561) 29, 162 Bernhard von Clairvaux (um 1090 – 1153) 171 Birago, Giovanni Pietro da (um 1450 – um 1513) 40 Bisticci, Vespasiano di (1421 – 1498) 129 Boccaccio, Giovanni (1313 – 1375) 104 Bondol, Jean (nachweisbar 1368 – 1381) 116, 165 Bonne von Luxemburg († 1349) 127 Borso d’Este (reg. 1450 – 1471) 71 Bosch, Hieronymus (um 1450 – 1516) 189 Botticelli, Sandro (um 1445 – 1510) 100 Boucicaut-Meister (nachweisbar 1405 – 1420) 29 Brant, Sebastian (1457/58 – 1521) 196 Breu d. Ä., Jörg (um 1475/80 – 1537) 193

Bruegel d. Ä., Pieter (1526/30 – 1569) 177 Burgkmair, Hans (1473 – 1531) 193

C

Cassiodor (um 485 – um 580) 35 Christina von Schweden (1626 – 1689) 131 Christine de Pisan (1365 – um 1430) 112, 123, 164 Corvinus, Matthias, König von Ungarn (reg. 1458 – 1490) 35, 113, 121, 128, 141 Cranach d. Ä., Lucas (1472 – 1553) 193 Cranach d. J., Lucas (1515 – 1586) 197 Cristoforo de Predis siehe Predis Crivelli, Taddeo (nachweisbar 1452 – 1476) 71

D

Damasus I., Papst (reg. 366 – 384) 157 Dante Alighieri (1265 – 1321) 11, 99 David, Gerard (um 1460 – 1523) 168 Defoe, Daniel (1660 – 1731) 82 Donatus, Aelius (um 320 – um 380) 106 Drogo, Erzbischof (823 – 855) 90, 146, 147 Dürer, Albrecht (1471 – 1528) 64, 193 Durandus, Guglielmus (um 1230 – 1296) 34

E

Este, Borso d’ (1413 – 1471) 130 Eumenes II. (195 – 158 v. Chr.) 45 Eusebius von Caesarea (um 263 – um 338/39) 156 Eyck, Barthélemy d’ (nachweisbar 1444 –  um 1476) 29, 100, 104, 114 Eyck, Jan van (um 1390 – 1441) 29, 113, 149

F

Federico da Montefeltro, Herzog von Urbino (1422 – 1482) 71, 129, 166 Flavius Josephus (um 37 – 100) 105 Fontana, Domenico (1543 – 1607) 131 Fouquet, Jean (1420 – um 1481) 29, 105 Friedrich I., Kaiser (1122 – 1190) 127 Friedrich II., Kaiser (1194 – 1250) 96

205

Furtmeyr, Berthold (um 1430/40 – um 1506) 78, 114

G

Gaston de Foix (1331 – 1390) 98 Gherardo di Miniato (1446 – 1497) 113 Ghirlandaio, Domenico (1449 – 1494) 113 Giotto di Bondone (um 1267 – 1337) 30, 119 Giovanni di Paolo (um 1399 – 1482) 113 Girard d’Orléans (nachweisbar Mitte des 14. Jhs.) 116 Girolamo da Cremona (tätig zwischen 1467 und 1483) 78, 79, 113 Glockendon, Albrecht (um 1495 – 1545) 197 Glockendon d. J., Jörg (um 1520 – vor 1561) 64 Glockendon, Nikolaus (um 1490 – 1533/ 1534) 64, 195 Gottfried von Viterbo (um 1125 – um 1192) 127 Grassi, Giovannino de’ († 1398) 30 Gregor der Große (um 540 – 604) 163 Gregor XV., Papst (reg. 1621 – 1623) 129 Gutenberg, Johannes (um 1397 – 1468) 49

H

Hadrian I., Papst (reg. 772 – 795) 81 Harun al Raschid (786 – 809) 48 Heinrich II., Kaiser (973 – 1024) 172 Heinrich III., Kaiser (1017 – 1056) 164 Heinrich VIII., König von England (1491 – 1547) 195 Heinrich von Veldeke (um 1145/50 – 1210) 99 Herman von Limburg siehe Limburg, Brüder Hieronymus, hl. (um 345 – 420) 67, 157 Horenbout, Gerard (um 1465 – 1541) 29, 62, 162, 195 Hugo von St. Victor († 1141) 34 Hulin de Loo, Georges (1862 – 1945) 134 Hus, Jan (um 1370 – 1415) 70

I

Isabeau de Bavière (1370 – 1435) 118 Isidor von Sevilla (um 560 – 636) 88, 95, 109

Namenregister

J

Jacquemart de Hesdin († um 1410/15) 118 Jean Duc de Berry (1340 – 1416) 29, 37, 61, 63, 65, 87, 116, 117, 118, 119, 121, 122, 127, 148, 152 Jean Le Noir (nachweisbar 1331 – 1375) 63 Jean von Limburg siehe Limburg, Brüder Johann II. der Gute, König von Frankeich (1319 – 1364) 116, 127 Johann Ohnefurcht, Herzog von Burgund (1371 – 1419) 120, 123 Joinville, Jean de (1224/25 – 1317) 13 Justinian I., Kaiser (reg. 527 – 565) 76

K

Karl der Große (747 – 814) 20, 81, 89, 107, 115, 138, 151 Karl der Kahle (823 – 877) 20, 67, 83 Karl der Kühne 41, 63, 120, 154 Karl IV., Kaiser (1316 – 1378) 29, 70 Karl IV., König von Frankreich (1295 – 1328) 116 Karl V., König von Frankreich (1338 – 1380) 29, 112, 116, 122, 123, 127 Karl VI., König von Frankreich (1368 – 1422) 118, 122

L

Lauber, Diebold (vor 1427 – nach 1471) 49 Le Noir siehe Jean Le Noir Leonardo da Vinci (1452 – 1519) 40, 106 Liberale da Verona (um 1445 – 1527/29) 79 Libri-Carrucci, Guglielmo (1803 – 1869) 134 Limburg, Brüder 29, 118, 119 Louber, Jakob (1440 – 1513) 125 Ludwig von Anjou (1339 – 1417) 29 Ludwig IX., König von Frankreich (1214 – 1270) 13, 116 Ludwig XII., König von Frankreich (1462 – 1515) 128 Lukan (39 – 65 n. Chr.) 105 Luther, Martin (1483 – 1546) 197

M

Maelwael, Johan (um 1365/70 – 1419) 118 Mandeville, John de († um 1372) 103

Namenregister

Mantegna, Andrea (1430/31 – 1506) 30, 78, 106 Margarete von Österreich (reg. 1507 – 1530) 62, 132 Margarete von York (1446 – 1503) 154 Maria von Burgund (1457 – 1482) 154, 155, 166 Maria von Ungarn (reg.1531 – 1555) 132 Marmion, Simon (um 1425 – 1489) 29, 102 Martini, Simone (um 1284 – 1344) 30, 119 Matthaeus Platearius († 1161) 91 Maximilian I., Kaiser (1459 – 1519) 154, 192, 193 Maximilian I., Kurfürst von Bayern (1573 – 1651) 129 Mazerolles, Philippe de (um 1420 – nach 1479) 63, 108 Medici, Cosimo de’ (1389 – 1464) 129 Meister der Maria von Burgund (nachweisbar um 1470 – 1480) 29 Meister des Hl. Georg (nachweisbar 1. Hälfte des 14. Jhs.) 80 Meister des Registrum Gregorii (tätig Ende des 10. Jhs.) 24 Mielich, Hans (1516 – 1572) 197 Monaco, Lorenzo (um 1370 – um 1425) 80, 113 Monte di Miniato (1448 – 1533) 113 Montefeltro siehe Federico da Montefeltro Mura, Conrad von (13. Jh.) 45

N

Nikolaus V., Papst (reg. 1447 – 1455) 130

O

Oderisio da Gubbio (nachweisbar 1268 – 1271) 11 Ordericus Vitalis (1075 – 1142) 109 Ottheinrich, Pfalzgraf (1502 – 1559) 60, 128 Otto II., Kaiser (955 – 983) 133 Otto III., Kaiser (980 – 1002) 54, 83, 172

P

Paris, Matthew (bald nach 1200 – 1259) 28 Paul von Limburg siehe Limburg, Brüder Pelagius, Alvarus (1280 – 1352) 126 Peraldus, Guilelmus († um 1271) 126

206

Petrarca, Francesco (1304 – 1374) 104 Philipp der Gute, Herzog von Burgund (1419 – 1467) 120, 127, 131 Pilipp der Kühne, Herzog von Burgund (1342 – 1404) 29, 118, 120, 123 Philipp II., König von Spanien (1527 – 1598) 132 Philipp IV. der Schöne, König von Frankreich (1268 – 1314) 116 Piccolomini, Enea Silvio (1405 – 1464) 191 Piramus, Reginaldus (tätig spätes 15./ frühes 16. Jh.) 106 Pisan, Christine de siehe Christine de Pisan Pisanello (1395 – 1455) 113 Platearius, Matthaeus († 1161) 44 Platina siehe Sacchi, Bartolomeo Plinius d. Ä. (um 23 – 79) 45 Polo, Marco (1254 – 1324) 103 Predis, Ambrogio de (um 1455 – um 1508) 106 Predis, Cristoforo de († um 1478) 91 Pucelle, Jean (nachweisbar 1319 – 1335) 28, 46, 116

Q

Quiccheberg, Samuel à (1529 – 1567) 133

R

René d’Anjou (1409 – 1480) 100 Roger von Helmarshausen siehe Theophilus Presbyter Rogier van der Weyden siehe Weyden, Rogier van der Rudolf von Ems (um 1200 – um 1254) 102

S

Sacchi, Bartolomeo (1421 – 1481) 130 Sassetti, Francesco (1421 – 1490) 129 Schilling d. Ä, Diebold (um 1445 – 1485) 103 Schilling d. J., Diebold (vor 1460 – 1515) Sforza, Francesco (reg. 1450 – 1466) 91 Sforza, Ludovico († 1508) 106 Sforza, Maximilian (1493 – 1530) 106 Silvestro dei Gherarducci (1339 – 1399) 80 Sixtus IV., Papst (reg. 1471 – 1481) 130 Sixtus V., Papst (reg. 1585 – 1590) 131 Sluter, Claus (um 1360 – 1406) 119

207

Stefaneschi, Jacopo (um 1270 – 1343) 80 Strozzi, Filippo (1428 – 1491) 129

T

Tavernier, Jean (nachweisbar 1454 – 1467) 41 Theophilus Presbyter (um 1070 – nach 1125) 43, 51

V

Vergil (70 – 19 v. Chr.) 99, 104 Visconti, Gian Galeazzo (reg. 1395 – 1402) 120, 127, 148

Namenregister

W

Walther von Michelbeuren (1161 – 1190) 62 Wenzel IV., böhmischer König (1361 – 1419) 148 Weyden, Rogier van der (um 1399 – 1464) Wilhelm V., Herzog von Bayern (1548 – 1626) 132

Z

Zoppo, Marco (1432? – 1478?) 113

Abbildungsnachweis akg-images/Trinity College Library, Dublin: Abb. 1, 8 akg-images/Bibliothèque Nationale, Paris: Abb. 2 akg-images/Kunsthistorisches Museum, Wien: Abb. 3 akg-images/Bayerische Staatsbibliothek, München: Abb. 4, 6, 28, 30 akg-images/Musée Condé, Chantilly: Abb. 5, 23, 27 akg-images/British Library, London: Abb. 7, 11, 15, 21, 22 akg-images/Cathedral Library, Winchester: Abb. 9 akg-images/Museo Capitular de la Catedral, Gerona: Abb. 10

akg-images/Österreichische Nationalbibliothek, Wien: Abb. 12, 13, 18, 29 akg-images/Bibliothèque nationale de France, Paris: Abb. 14, 19, 26 akg-images/Biblioteca Apostolica Vaticana, Rom: Abb. 16 akg-images/Bibliothèque Royale Albert Ier, Brüssel: Abb. 17 akg-images/Museo Civico d’arte antica, Turin: Abb. 20 akg-images/Universitätsbibliothek, Heidelberg: Abb. 24 akg-images/The Metropolitan Museum of Art, New York: Abb. 25

Informationen zum Autor Norbert Wolf, geb. 1949, ist promovierter Kunsthistoriker. Er lebt in München und ist hier als wissenschaftlicher Autor tätig. Zahlreiche Veröffentlichungen zur älteren und neueren Kunst, insbesondere zur Malerei und Buchmalerei.