Bruders Hüter / Bruders Mörder: Intellektuelle und innergesellschaftliche Gewalt 9783110233872, 9783110233889

Is the figure of the intellectual still relevant in and for society in the late 20th and the beginning of the 21st centu

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German Pages 231 Year 2010

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Table of contents :
Frontmatter
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Die Grenzen der Intellektuellen: der Fall Kolumbien
Viel Blut um nichts? Gewalt im zeitgenössischenbritischen Drama
Die Gedanken der Tat
Die Figur des ›nachgeholten Widerstands‹ in der literarischen Publizistik der fünfziger und sechziger Jahre der BRD im Umkreis der Gruppe 47
Utopie und Wahn in der 68er-Bewegung
Erkenntnis – Wort – Tat
Intellektuelle gegenüber der innergesellschaftlichen Gewalt im Italien der 1970er Jahre: Beispiele aus italienischen Romanen von 1975 bis 2002 (Ferdinando Camon, Nanni Balestrini, Lidia Ravera)
Italien 1978: Der Fall Aldo Moro und die italienischen Intellektuellen
Gewalt ohne Transzendenz? Die französischen Intellektuellen und die Banlieue-Unruhen vom November 2005
Die Darstellung und Analyse innergesellschaftlicher Gewalt im südafrikanischen Roman der Gegenwart
Gewaltdarstellung und kritische Postkolonialität in Ken Buguls La Folie et la Mort und Léonora Mianos L’intérieur de la nuit
Backmatter
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Bruders Hüter / Bruders Mörder: Intellektuelle und innergesellschaftliche Gewalt
 9783110233872, 9783110233889

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STUDIEN UND TEXTE ZUR SOZIALGESCHICHTE DER LITERATUR

Herausgegeben von Norbert Bachleitner, Christian Begemann, Walter Erhart und Gangolf Hübinger

Band 122

Bruders Hüter/Bruders Mörder Intellektuelle und innergesellschaftliche Gewalt

Herausgegeben von Susanne Hartwig und Isabella von Treskow

De Gruyter

ISBN 978-3-11-023387-2 e-ISBN 978-3-11-023388-9 ISSN 0174-4410 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 2010 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/New York Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ⬁ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Inhaltsverzeichnis

Susanne Hartwig/Isabella von Treskow Einleitung ...........................................................................................................

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Susanne Hartwig Die Grenzen der Intellektuellen: der Fall Kolumbien.........................................

7

Anette Pankratz Viel Blut um nichts? Gewalt im zeitgenössischen britischen Drama .................

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Wolfgang Höpken Die Gedanken der Tat Intellektuelle und Gewalt im früheren Jugoslawien ...........................................

41

Helmut Peitsch Die Figur des ›nachgeholten Widerstands‹ in der literarischen Publizistik der fünfziger und sechziger Jahre der BRD im Umkreis der Gruppe 47 .................................................................................

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Niels Beckenbach Utopie und Wahn in der 68er-Bewegung ...........................................................

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Charis Goer Erkenntnis – Wort – Tat Die RAF in Rainald Goetz’ Kontrolliert und Leander Scholz’ Rosenfest .......... 109 Susanne Kleinert Intellektuelle gegenüber der innergesellschaftlichen Gewalt im Italien der 1970er Jahre: Beispiele aus italienischen Romanen von 1975 bis 2002 (Ferdinando Camon, Nanni Balestrini, Lidia Ravera).......... 127 Albrecht Buschmann Italien 1978: Der Fall Aldo Moro und die italienischen Intellektuellen Eine Lektüre mit Pierre Bourdieu....................................................................... 147 Hartmut Stenzel Gewalt ohne Transzendenz? Die französischen Intellektuellen und die Banlieue-Unruhen vom November 2005 ............................................... 163

VI

Inhaltsverzeichnis

Marion Gymnich Die Darstellung und Analyse innergesellschaftlicher Gewalt im südafrikanischen Roman der Gegenwart....................................................... 183 Isabella von Treskow Gewaltdarstellung und kritische Postkolonialität in Ken Buguls La Folie et la Mort und Léonora Mianos L’intérieur de la nuit ......................... 199 Zu den Autorinnen und Autoren......................................................................... 217 Namensregister................................................................................................... 223

Susanne Hartwig Isabella von Treskow

Einleitung

Auch wenn die Selbstbeschreibung der Gesellschaft sich nur noch aus einem rekursiven Netzwerk der Beobachtung von Beobachtungen oder der Beschreibung von Beschreibungen speist, wäre zu erwarten, daß sich beim Betrieb dieser Operationen Eigenwerte ergeben, das heißt Positionen, die sich bei weiterem Beobachten des Beobachtens nicht mehr verändern, sondern stabil bleiben. (Niklas Luhmann: Beobachtungen der Moderne. Opladen 1992, S. 46)

Innergesellschaftliche Gewalt ist ein Ergebnis der janusköpfigen Gegenwart: Dem Zusammenwachsen zur Weltgemeinschaft steht das Zersplittern nationaler Gemeinschaften als Kehrseite gegenüber, die innergesellschaftliche Gewalt als (negative) Form von glocalization erzeugt.1 Die Proteste in Irland, Litauen und Lettland 2008 und 2009 verweisen auf Risse im gesellschaftlichen System, Ausschreitungen wie die 2005 und 2006 in Paris und anderen französischen Großstädten sowie die Diskussionen über »No go-areas« in Deutschland (im Zusammenhang mit der Fussballweltmeisterschaft 2006) zeigen eine Ausbildung von »Gesellschaften in der Gesellschaft«, die ein brisantes Konfliktpotential bergen. Ob Guerilleros in Mittel- und Südamerika, Söldnertruppen im Kongo oder der jugoslawische Bürgerkrieg und die seither latenten Aggressionen in Südosteuropa – innergesellschaftliche Gewalt ist ein Phänomen, das nach Erklärungen jenseits dichotomischer Schemata samt Reflexion des eigenen Standorts derer, die die Erklärungen liefern, verlangt. Die Stunde des Intellektuellen Zolascher Prägung – Inbegriff einer sich stellvertretend erhebenden Stimme – schiene erneut gekommen, wäre nicht der Nutzen intellektueller Klärung und Kritik innergesellschaftlicher Vorgänge nach der Hochkonjunktur der 1960er und 1970er Jahre zum Ende des Jahrhunderts umstritten. Vormals häufig zu »Propheten« und, so von Edward W. Said, zu »Wächtern über die Wahrheit« stilisiert (in Verlängerung dessen allerdings auch als priesterähnlich beschimpft),2 lange positiv als Sprecher »im Namen universeller Werte«3 und

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Vgl. Roland Robertson: Glocalization: Time-Space and Homogeneity-Heterogeneity, In: Mike Featherstone/Scott Lash/Roland Robertson (Hg.): Global Modernities. London – Thousand Oaks – New Delhi 1995, S. 25–44. Vgl. z. B. Edward Said: Representations of the Intellectual. London 1994. Said steht in der Folge Julien Bendas, vgl. La trahison des clercs, Paris 1927. Zu dieser Vorstellung des Intellektuellen vgl. auch Thomas Kroll: Kommunistische Intellektuelle in Westeuropa. Frankreich, Österreich, Italien und Großbritannien im Vergleich (1945–1956). Köln – Weimar – Wien 2007, sowie den Titel von Martin Greiffenhagen: Propheten, Rebellen

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kritischer Deutung aktuellen Geschehens anerkannt, ist seit geraumer Zeit ein Abgesang auf Intellektuelle hörbar. Von Intellektuellendämmerung und Intellektuellengrab ging die Rede, auch vom intellektuellen Terrorismus4, von dem man sich zu befreien habe. Man diskreditierte Unvernunft und Narzissmus, die Verquickung von Ambition und Korruption des Fernseh-Intellektuellen, beschimpfte Intellektuelle allgemein als selbstgefällig und medienabhängig.5 »Are intellectuals a dying species?«, fragt David L. Schalk just zum Problem, ob und wann sich Intellektuelle zu kriegerischen Konflikten äußern.6 Auf der anderen Seite will man sich nicht so einfach von ihnen trennen: Dass die Beobachtungs-, Analyse- und Kommentarfunktion von Intellektuellen, Schriftstellerinnen und Schriftstellern nach wie vor eingefordert wird, zeigt sich z. B. in Hans Magnus Enzensbergers Aussichten auf den Bürgerkrieg von 1993, in dem von konservativerer Warte angesichts des Wandels der bürgerlichen Gesellschaft 2005 geäußerten Plädoyer von Ralf Dahrendorf und Paul Nolte für die aktive Einmischung von Intellektuellen in öffentliche Angelegenheiten7 oder an den jüngsten Forderungen, die Intellektuellen mögen in Bezug auf die Gewalt Israels gegen die Palästinenser deutlicher Stellung beziehen.8 In Frankreich wurden schwere Vorwürfe erhoben, die Intellektuellen hätten angesichts der banlieueRevolte 2005 versagt. Zudem vermisste man ihre Reaktionen in Anbetracht der

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und Minister. Intellektuelle in der Politik. München 1986. Zur Idee des Intellektuellen als »Priesters« vgl. Helmut Schelsky: Die Arbeit tun die anderen. Klassenkampf und Priesterherrschaft der Intellektuellen. Opladen 1975, dazu auch Georg Jäger: Der Schriftsteller als Intellektueller. Ein Problemaufriß, In: Sven Hanuschek/Therese Hornigk/Christine Malende (Hg.): Schriftsteller als Intellektuelle. Politik und Literatur im Kalten Krieg. Tübingen 2000. S. 1–25. Jäger: Der Schriftsteller als Intellektueller, S. 7. Vgl. Jean-François Lyotard: Tombeau de l’intellectuel et autres papiers. Paris 1994; Jean Sévillia: Le terrorisme intellectuel de 1945 à nos jours. Paris 2000. Vgl. Paul Johnson: Intellectuals. London 1988; Régis Debray: Le pouvoir des intellectuels en France. Paris 1979; Lothar Baier: Das große Palaver. Die Intellektuellen in Frankreich und Deutschland heute, In: Klaus Dirscherl (Hg.): Deutschland und Frankreich im Dialog. Stuttgart 2001, S. 71–83. Vgl. David L. Schalk: Are intellectuals a dying species? War and the Ivory Tower in the postmodern age, In: Jeremy Jennings/Anthony Kemp-Welch (Hg.): Intellectuals in Politics. London – New York 1997. S. 271–285. (Kursivierung im Original). Auffällig ist, dass die Kritik im deutschen und französischen Raum zumeist von Intellektuellen geübt wird (in unserem Fall z. B. Lyotard, Debray, Baier), die damit in der Tradition der Selbstreflexion Sartres stehen, auch wenn sie anders als er den Kehraus blasen. Vgl. Ralf Dahrendorf/Paul Nolte: Bürgerlichkeit in Deutschland. Ein Gespräch über die bürgerliche Gesellschaft, Religion, engagierte Intellektuelle und Generationserfahrungen nach 1945, In: Vorgänge 170, 44. Jg. (2005), S. 3–20. Vgl. den Aufruf von Rudolf Walther am 3.1.2009 in der Berliner Zeitung, Europas Intellektuelle mögen zur Vorgehensweise der israelischen Regierung im israelischpalästinensischen Krieg protestieren (http://www.berlinonline.de/berliner-zeitung/archiv/ .bin/dump.fcgi/2009/0103/feuilleton/0061/index.html; 4.3.2008).

Einleitung

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großen Finanzkrise von 2008 und bedauerte, dass an ihrer Stelle nun Wirtschaftswissenschaftler die Kommentare liefern.9 Eine einheitliche Vorstellung davon, in welcher Weise die Interventionen zu erfolgen hätten, ist indes nicht auszumachen. Als »neu« macht sich der Ruf nach dem postmodernen Intellektuellen oder »Transintellektuellen« bemerkbar, der nationalstaatliche Bindungen und Loyalität hinter sich lassen, dem Universalismus und jeder Utopie entsagen, lediglich lokal eingreifen und partikular Verantwortung übernehmen soll – eine nach dem 9.11.2001 wieder aufgegriffene Vorstellung von Jean-François Lyotard aus La condition postmoderne.10 Die (trans)intellektuelle Stellungnahme angesichts der Allgegenwärtigkeit und Entgrenzung von Gewaltkonflikten meint nicht die Positionierung der Intellektuellen in einem neutralen, abgehobenen Raum. Das hat für die Definition der Fundamente intellektuellen Handelns Konsequenzen, denn wie können Intellektuelle in Konflikten »abseits« stehen (wie Edward W. Said unter Bezug auf Benda und in Anlehnung an Karl Mannheims Autonomie-Postulat wünschte), deren Brisanz klare Meinungsäußerungen zu verlangen scheint? Welche »universellen Werte« (Said) sollen als Grundlagen von Urteilen dienen? Said hat das Problem selbst gesehen: In Zeiten der Wahrheitsskepsis und des Verlusts der epistemologischen Basis der »großen Erzählungen«, die dem ausgehenden 19. Jahrhundert noch ungebrochen zueigen war, hat Universalität, zumal jene von Jean-Paul Sartre noch 1972 überzeugt angeführte,11 ihre Begründung verloren. Welche Maßstäbe hat folglich Post- oder Transintellektualität? Zudem stehen Intellektuelle der Jahrtausendwende angesichts einer Zunahme mediatisierter Ereignisse12 vor dem Problem, dass ihre Stellungnahmen zu gesellschaftlichen Konflikten leicht selbst zum Teil des Konfliktes werden: Die Repräsentation eines innergesellschaftlichen Konfliktes läuft Gefahr, zur Fortschreibung der Auseinandersetzung beizutragen, wie etwa das stigmatisierende Stichwort »neue Unterschicht« in Deutschland zeigt, das ein Problem zugleich benennt und verfestigt. Wie kann der öffentliche Kommentar aussehen? Erzeugt der spezifische

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Zur Kritik an den französischen Intellektuellen im Zusammenhang mit den BanlieueVorfällen 2005 vgl. Mehdi Belhaj Kacem: La psychose française. Les banlieues: le ban de la République. Paris 2006; zur neueren Kritik an ihrer Zurückhaltung vgl. Gero von Randow: Philosophen, was ist aus euch geworden?, in: Die Zeit, 5.2.2009, Nr. 7 (http://pdf.zeit.de/2009/07/Frankreich-Intellektuelle.pdf; 4.3.2009). Vgl. Neue Zürcher Zeitung 29.11.2001: Intellektuelle, Postintellektuelle, Transintellektuelle. Thesen zum Probehandeln in der Weltgesellschaft (http://www.nzz.ch/2001/09/ 29/li/article7OACR.html; 5.3.2009). Vgl. zum postmodernen Intellektuellen auch Susanne Hartwigs Beitrag im vorliegenden Band. Jean-Paul Sartre: Plaidoyer pour les intellectuels. Paris 1972. Mediatisierte Ereignisse sind Geschehnisse, die zwar vermutlich auch ohne die Berichterstattung geschehen wären, wegen dieser aber einen spezifischen, mediengerechten Charakter erhalten. Die Ursache für mediatisierte Ereignisse liegt damit sowohl in der Ereignis- als auch in der Berichtsebene (vgl. Marion G. Müller: Grundlagen der visuellen Kommunikation. Theorieansätze und Analysemethoden. Konstanz 2003, S. 29).

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Charakter innergesellschaftlicher Gewalt im 20. und 21. Jahrhundert eigene Formen des öffentlichen Kommentars? Der Wunsch nach Meinungsäußerung, Klärung oder Kritik darf schließlich nicht darüber hinwegsehen lassen, dass Intellektuelle ein eigenes, nicht zwingend ablehnendes Verhältnis zu Gewalt haben können. Viele Stellungnahmen zeigen, dass innergesellschaftliche Gewalt von ihnen nicht unbedingt bekämpft, sondern zumindest partiell sogar eingefordert wird. So wählten nicht wenige Intellektuelle »Worte der Gewalt« in den jugoslawischen Auseinandersetzungen.13 Dass das ambivalente Verhältnis von Intellektuellen zu Legitimationsgewalt auch hierzulande immer noch zu diskutieren ist, zeigt das starke öffentliche Interesse an der RAFAusstellung 2005, an der Inszenierung von Elfriede Jelineks Stück Ulrike Maria Stuart am Thalia Theater Hamburg 2006, an den zahllosen Veröffentlichungen vierzig Jahre nach 1968 und den Diskussionen rund um den Film Baader Meinhof Komplex von Uli Edel von 2008. Virulent sind die Frage nach der politischen Legitimation von Gewalt, das Problem der Zurückstellung ethischer Bedenken.14 Eine andere Problemlage ergibt sich angesichts jener, die in Gesellschaften ohne Möglichkeit freier Meinungsäußerung kritische Einreden vorbringen. Nicht wenige Beispiele demonstrieren, dass das eigene Leben gefährdet sein kann, wenn die Rede nur scharf genug ist und die politisch stärkere Partei ihre Macht mit allen Mitteln verteidigt. Ken Saro-Wiwa und Anna Politkowskaja sind dafür sprechende Beispiele. Intellektuelle im Exil müssen besondere Wege finden, sich zu den Konflikten zu äußern. Auch hier verändert die Globalisierung die Kommunikationsmittel und die Reaktionen derjenigen, die sich zu Recht oder Unrecht diffamiert fühlen. Bis 1998 hatte die iranische Regierung auf den britischen Staatsbürger Salman Rushdie Kopfgeld ausgesetzt. Die Fälle Ken Saro-Wiwa und Salman Rushdie zeigen, dass der intellektuelle Kommentar nicht nur im Talk-Show-Statement zu suchen ist, nicht nur in Kolumne, Blog, Radiobeitrag, Sachbuch oder Essay. Die ästhetischen Freiheiten, die Kunst generell und Fiktion im Besonderen bieten, werden vielfach zur politischen Intervention genutzt. Der Vielschichtigkeit und Widersprüchlichkeit innergesellschaftlicher Gewaltkonstellationen kann hier auf spezifische Weise begegnet und dem Bedürfnis nach subjektiver Perspektive leichter entsprochen werden. Ohne mit abschließenden Schiedssprüchen aufwarten zu müssen, kann die Problematik der innergesellschaftlichen Gewalt und die Frage des eigenen Standorts aufgegriffen und symbolisch transformiert werden. Dabei bietet Kunst die Möglichkeit, die Darstellung und Analyse konkreter Vorgänge sowie ihre Wirkung auf Individuum und Gesellschaft mit metapoetischen Reflexionen zu verbinden. Die Schwierigkei-

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Vgl. hierzu den Beitrag von Wolfgang Höpken im vorliegenden Band. Zur gewaltmobilisierenden Rolle der »Intelligentsia« im jugoslawischen Bürgerkrieg vgl. auch Hans Magnus Enzensberger: Aussichten auf den Bürgerkrieg. Frankfurt/M. 1993, S. 67. Vgl. hierzu die Beiträge von Niels Beckenbach und Susanne Kleinert im vorliegenden Band, reflexiv dazu die neuere Literatur zu »1968«; vgl. auch den Beitrag von Charis Goer in diesem Band.

Einleitung

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ten der Trennung von Recht und Unrecht, das soziokulturelle Problem der Gewalt gegen den kulturell nahen Gegner,15 die traumatische Empfindung des vollkommenen Verrats im Bürgerkrieg können im Zusammenhang mit einer Darstellung ihrer Wahrnehmung und Deutungsweisen, der rhetorischen Strategien, die innergesellschaftlicher Gewalt vorausgehen und sie begleiten, und der Positionsbestimmung jener, die sich dazu äußern, gekoppelt werden. Fragen der Analyse und Symbolisierung neuer Konfliktszenarien durch Intellektuelle geraten erst seit kurzem ins Zentrum des diskursanalytischen, philologischen bzw. kulturwissenschaftlichen Interesses.16 Bis jetzt wurde die Frage nach der Spezifik intellektueller Intervention, zumal diejenige postmoderner Intellektualität, kaum auf die Problematik der innergesellschaftlichen Gewalt bezogen. Wo dies geschah, so galten die Stellungnahmen von Intellektuellen in den meisten Fällen Menschenrechtsverletzungen, Gewaltkonflikten und kriegerischen Auseinandersetzungen. An einer Basis im historischen, soziologischen und politologischen Bereich kann die zögerliche literatur- und kulturwissenschaftliche Beschäftigung mit dem Gegenstand nicht liegen, denn die Basis an sozialwissenschaftlichen Untersuchungen zur Friedens- und Konfliktforschung und Diktaturbewältigung ist breit.17 Dieser Erforschung von kollektiven Gewaltkonflikten in der Gesellschaft von soziologischer, geschichtswissenschaftlicher und politologischer Seite (die sich aus disziplinären Gründen selten mit den Sinnzuordnungen von Gewalt beschäftigen, sieht man einmal von den entsprechenden Studien zu »1968« und der RAF-Problematik ab) entspricht erst seit kurzem das Anliegen, dessen kultureller Dimension, intellektueller Wahrnehmung und künstlerischen Darstellungsformen nachzugehen.18

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Vgl. hierzu Isabella v. Treskow: Gewalt und Nähe. Zur Erforschung des Bürgerkriegs – das Beispiel der italienischen Erinnerungsliteratur zur guerra civile (1943–1945), In: dies./Albrecht Buschmann/Anja Bandau (Hg.): Bürgerkrieg – Erfahrung und Repräsentation. Berlin 2005. S. 21–54; vgl. auch Jan Philipp Reemtsma: Nachbarschaft als Gewaltressource, In: Mittelweg 36, 5, Jg. 13 (2004), S. 103–120. Vgl. Anja Bandau/Albrecht Buschmann/Isabella v. Treskow (Hg.): Literaturen des Bürgerkriegs. Berlin 2008. Nur beispielhaft erwähnt seien die Publikationen von Wolfgang Benz (Hg.): Auf dem Weg zum Bürgerkrieg? Rechtsextremismus und Gewalt gegen Fremde in Deutschland. Frankfurt/M. 2001, Peter Imbusch/Ralf Zoll (Hg.): Friedens- und Konfliktforschung. Eine Einführung. Wiesbaden 2005, Thorsten Bonacker (Hg.): Sozialwissenschaftliche Konflikttheorien. Wiesbaden 2005, Niels Beckenbach (Hg.): Wege zur Bürgergesellschaft. Gewalt und Zivilisation in Deutschland Mitte des 20. Jahrhunderts. Berlin 2005. Man vgl. auch den Überblick zur neueren Forschungsarbeiten und -tendenzen von Wolfgang Höpken und Michael Riekenberg: Einleitende Bemerkungen zu einem Vergleich und seinen Tücken, In: dies. (Hg.): Politische und ethnische Gewalt in Südosteuropa und Lateinamerika. Köln – Weimar – Wien 2001, S. VII-XX, sowie Treskow: Gewalt und Nähe. Vgl. z. B. das Exzellenzcluster der Universität Konstanz »Kulturelle Grundlagen von Integration«. Vgl. zum Forschungsdesiderat Isabella v. Treskow: Bürgerkrieg als Thema der Kunst- und Kulturwissenschaft. Zur Entwicklung eines neuen Forschungsfeldes, In:

Susanne Hartwig/Isabella von Treskow

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Hier setzt der vorliegende Band an. Er geht auf die Tagung Bruders Hüter/Bruders Mörder – Intellektuelle zwischen Analyse und Imagination innergesellschaftlicher Gewalt zurück, die im Mai 2007 in Passau stattfand und Standort sowie Standpunkte aktueller Kommentatorinnen und Kritiker, Darstellungstechniken und Konstruktionen von Feindschaft, Legitimationsstrategien und Reflexionen der Rede über Gewalt thematisierte. Der Schwerpunkt der Beiträge liegt auf der Zeit zwischen 1968 und der unmittelbaren Gegenwart, geographisch stehen Konflikte in Europa, Lateinamerika, Süd- und Zentralafrika im Zentrum. Gemeinsamer Bezugspunkt der Analysen aus romanistischer, anglistischer, germanistischer, geschichtswissenschaftlicher und soziologischer Perspektive ist die Frage, in welchen spezifischen Formen Kommentare zu innergesellschaftlicher Gewalt und Bürgerkriegsgewalt auftreten, die im engeren und weiteren Sinn als intellektuelle zu bezeichnen sind. Rationale Analyse und ästhetische Symbolisierung werden dabei nicht als Gegensätze begriffen, sondern als komplementäre Instrumente der gesellschaftlichen Beobachtung. Der Dank der Herausgeberinnen gilt den Autorinnen und Autoren dieses Bandes für Ihre Beiträge und die konstruktive Zuarbeit für die Drucklegung, den Reihenherausgebern, besonders Gangolf Hübinger, Frankfurt (Oder), für die Aufnahme in die Reihe Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, sowie Birgitta Zeller-Ebert und Ulrike Krauß vom Verlag de Gruyter, die mit Geduld und Kompetenz das Manuskript bis zum Druck begleiteten. Für die redaktionelle Anpassung der Manuskripte und für die Fahnenkorrekturen danken wir Michael Gebhard, Mannheim, sowie Hartmut Duppel und Katharina Gröber, Regensburg. Ein besonderer Dank geht schließlich an Birgit Olk, Mannheim, die sich um Layout und Druckfassung außerordentlich verdient gemacht hat und auch in turbulenten Phasen nicht den Humor verlor.

––––––– Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte/CHLR, Jg. 29, H. 1/2, 2005, S. 211– 232.

Susanne Hartwig

Die Grenzen der Intellektuellen: der Fall Kolumbien

Postmoderne Intellektuelle »Viel sagen bringt viel Ärger; wenig sagen hat wenig Kraft« – dieser von JeanFrançois Lyotard zitierte Satz einer Zen-Abhandlung1 bringt das Dilemma Intellektueller im 21. Jahrhundert auf den Punkt: Wenn sie reden, handeln sie sich Legitimationsprobleme ein2 und werden im schlimmsten Fall selbst zu einem Teil der Widersprüche, die sie anprangern; wenn sie schweigen, büßen sie ihre gesellschaftliche Wirkmacht ein. Wie soll ein Intellektueller auch im Namen ›höherer‹ Werte ›unabhängig‹ sprechen, wenn kein ortloses Sprechen möglich ist?3 Darf er weiterhin und angesichts einer komplexen Weltgesellschaft der Dilettant sein, wenn Vereinfachungen allzu leicht ins Fahrwasser von Ideologien und Fundamentalismen geraten? Den Intellektuellen als zentrale Figur aufzugeben hieße indes, die Gesellschaft eines wertvollen Beobachters zu berauben, nämlich eines Nicht-Fachmanns, der einen im besten Sinne des Wortes ›naiven‹ Blick (den des Kindes in Des Kaisers neue Kleider) auf sie werfen kann. Ohne die Möglichkeit, Weltdeutungen immer wieder kritisch zu beobachten, droht die Gefahr der Selbstimmunisierung einer zumeist Machtinteressen entspringenden Weltsicht. Wenn aber die Mächtigen allein die Auslegung der Realität4 übernehmen, bedeutet dies, dass Gesellschaft

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Die gesamte Passage lautet: »In der ausgezeichneten französischen Übersetzung von Dôgens Shôbôgenzô, einer Zen-Abhandlung über das japanische Quattrocento, fand ich folgende Bemerkung […]: ›Viel sagen bringt viel Ärger, wenig sagen hat wenig Kraft.‹ Wenn man sich sowohl enthält, viel zu sagen, als auch, wenig zu sagen, was sollte man sagen? Etwas später sagt er (der Mönch): ›Geh ins Gras, mache es wie der Wind‹. […] In meine Ausdrucksweise übersetzt lautete Dôgens Antwort etwa so: ›Sich selbst dem Strom der Wolken aussetzen, den Ruf nach Wissen enttäuschen, dem Wunsch abschwören, Gedanken aufzugreifen und sich anzueignen‹« (Jean-François Lyotard: Streifzüge. Gesetz, Form, Ereignis. Mit einer Bibliographie des Gesamtwerkes. Hg. von Peter Engelmann, Wien 1989, S. 29). Laut Lyotard können Intellektuelle heute keine eindeutigen Positionen mehr beziehen, weil sie nicht mehr aus den ›großen Erzählungen‹ der Aufklärung ihre Autorität beziehen und Geschichte insgesamt nicht mehr als eine zielgerichtete Bewegung angesehen wird (vgl. Jean-François Lyotard: Tombeau de l'intellectuel et autres papiers. Paris 1984). Die postmoderne Skepsis gegenüber Wahrheit steht der angestrebten Konvergenz von Wahrheit, Moral und Macht grundsätzlich entgegen. Realität wird hier im konstruktivistischen Sinne verstanden als Konstruktion einer gemeinsamen Wirklichkeit durch Kommunikation. Das Wort wird in den folgenden Ausführungen immer in diesem Sinn gebraucht; auf Anführungsstriche wird verzichtet. Wo es um allgemeine Umwelteinwirkungen geht, wird von Umwelt gesprochen.

Susanne Hartwig

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und Staatsmacht identisch werden, und das wiederum bedeutet Totalitarismus.5 Außerdem ermöglicht die Beliebigkeit von Weltsichten keine Verhaltenssicherheit.6 Wie aber können Intellektuelle im 21. Jahrhundert so etwas wie eine Gewaltenkontrolle ausüben, indem sie wirkmächtige Definitionen der Realität (z. B. ›Gerechtigkeit‹) mitbestimmen, und zugleich einer totalisierenden Weltsicht entkommen? Und schließlich: Lag die Brisanz der Intellektuellen nicht gerade in ihrem ›unerhörten Auftreten‹, das aber in der Logik der Massenmedien schon gang und gäbe ist? Hans Ulrich Gumbrecht schreibt über Intellektuelle um die Jahrtausendwende, dass sie »heute eigentlich immer nur das sagen oder schreiben, was ohnehin jeder von ihnen erwartet« und fragt entsprechend: Was hat sich verändert in dem Jahrhundert seit der Dreyfusaffäre, wie lässt sich erklären, dass auf der einen Seite nicht wenige Intellektuelle immer noch davon träumen, die Öffentlichkeit aufrütteln und politisch polarisieren zu können wie einst Emile Zola, während doch auf der anderen Seite ihre Meinungen bestenfalls noch ornamentalen Status haben?7

Dirk Baecker weist darauf hin, dass die intellektuelle Funktion ambivalent sei, nämlich »ebenso unerlässlich wie irrtumsanfällig«; daher gebe es »eine eigenartige Intelligenz der Gesellschaft, die die intellektuelle Funktion sowohl zitiert als auch auf Abstand hält, also intellektuell mit dem Intellektuellen umgeht«.8 Anders gesagt: Der Intellektuelle des 21. Jahrhunderts muss auf mindestens zwei Ebenen kommunizieren. Offensichtlich muss der Typus ›Intellektueller‹ neu konzipiert werden, nicht mehr wie im klassischen Sinne als der politisch Engagierte, der sich im Namen allgemeiner ›aufklärerischer‹ Grundwerte (Wahrheit, Freiheit, Gerechtigkeit o. ä.) zu konkreten gesellschaftlichen Misslagen äußert und notfalls auch persönliche Konsequenzen trägt.9 Vielmehr wäre eine Art ›selbstreflexiver Lenker‹ zu denken, der über einen anderen Typus von Wissen als die Fachleute verfügt10 und auch

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Vgl. auch Noam Chomsky: Hybris. Die endgültige Sicherung der globalen Vormachtstellung der USA. Zürich 2006, S. 62. »Intellektuelle haben die Aufgabe, Komplexitäten zu reduzieren. Sie haben – gerade als Generalisten – die Funktion, Wirklichkeiten zu vermitteln. Sie sind nicht für alles zuständig, doch zuständig für das, was uns alle betrifft« (Martin Meyer: Intellektuellendämmerung? Beiträge zur neuesten Zeit des Geistes. München, Wien 1992, S. 8). Hans Ulrich Gumbrecht: Riskantes Denken. Intellektuelle als Katalysatoren von Komplexität. In: Der kritische Blick. Über intellektuelle Tätigkeiten und Tugenden. Hg. von Uwe Justus Wenzel. Frankfurt/M. 2002, S. 142. Dirk Baecker: Ein Intellektueller ist jemand, der etwas gelesen hat. In: Der kritische Blick. Über intellektuelle Tätigkeiten und Tugenden. Hg. von Uwe Justus Wenzel. Frankfurt/M. 2002, S. 156. Zu den unterschiedlichen Beschreibungen intellektueller Typen u. a. durch Foucault und Bourdieu vgl. die Übersicht bei Ingrid Gilcher-Holtey: Zwischen den Fronten. Positionskämpfe europäischer Intellektueller im 20. Jahrhundert. Berlin 2006. Ihr Urteil und ihre Kompetenzen legitimieren Intellektuelle mit ihrer umfassenden Allgemeinbildung und ihren intellektuellen Fähigkeiten zu logischer Analyse und Schlussfolgerung, aber eben nicht mit ihrem Fachwissen. Da es schwierig ist, ohne einen

Die Grenzen der Intellektuellen

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seinen eigenen Standpunkt der Reflexion aussetzt. Was damit gemeint ist, soll im Folgenden anhand von Kolumbien mit seiner komplexen Konstellation innergesellschaftlicher Gewalt aufgezeigt werden. Wenn dabei über die ›Grenzen des Intellektuellen‹ gesprochen wird, dann nicht im Sinne eines pessimistischen Postmodernismus. Denn wenn Kritik nicht mehr als Stellungnahme für eine höhere Wertposition konzipiert werden kann, kann sie immer noch ›an der Grenze‹ funktionieren, nämlich dort, wo Entscheidungen für und gegen eine Option fallen, aber eben noch nicht gefallen sind.

Der Kontext: Kolumbien Kolumbien zeigt sehr deutlich die Problemfelder von Intellektuellen im 21. Jahrhundert.11 Seit Jahrzehnten schwelen bürgerkriegsähnliche Konflikte, die trotz massiver Anstrengungen innen- und außenpolitischer Art nicht beigelegt werden, da sie grundlegende strukturelle Veränderungen voraussetzen, über die kein Konsens besteht. Es existieren keine klar voneinander abgegrenzten feindlichen Lager und vor allem keine klaren Zielsetzungen. In einer Dauerkrise der Violencia überlagern sich konkrete und strukturelle, klare und diffuse, aktuelle und chronifizierte Gewalt unterschiedlicher Tätergruppen undurchschaubar.12 Kann Gewalt

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fachlichen Überblick über komplexe Sachverhalte fundiert Stellung zu beziehen, erfolgt die Legitimation mittels übergeordneter Werte wie ›Gerechtigkeit‹, ›Wahrheit‹ usw. Lateinamerikanische Intellektuelle können nicht ohne weiteres mit europäischen verglichen werden, da sie einen anderen gesellschaftlichen Kontext voraussetzen, worauf aber in diesem Artikel nicht näher eingegangen werden soll. Vgl. dazu die Interviews in: Raquel Angel: Rebeldes y domesticados. Los Intelectuales frente al Poder. Buenos Aires 1992 und allgemein Wilhelm Hofmeister/H.C.F. Mansilla: Die Entzauberung des kritischen Geistes. Intellektuelle und Politik in Lateinamerika. Bielefeld 2004, zu Kolumbien: Fernando Uricoechea Corena: Die Intellektuellen und die Politik in Kolumbien. In: Hofmeister/Mansilla: Die Entzauberung des kritischen Geistes, S. 117–129. Die besondere Stellung des Intellektuellen in Lateinamerika wird u. a. auf den hohen Analphabetismus der Bevölkerung, den hohen Stellenwert rhetorischer Fähigkeiten von Einzelpersönlichkeiten sowie deren persönliches Charisma zurückgeführt: »In kaum einer anderen Weltregion wird den Intellektuellen, den Wissenschaftlern, Schriftstellern und Künstlern, so viel Einfluss auf Politik und Gesellschaft zugesprochen, wie in Lateinamerika. Angesichts der traditionellen Schwäche politischer Institutionen bei der Wahrnehmung ihrer Mittlerrolle zwischen Staat und Gesellschaft haben Intellektuelle seit der Kolonialzeit eine maßgebliche Rolle bei der Entstehung und Verbreitung gesellschaftlich relevanter Ideen und Symbole gespielt« (Hofmeister/Mansilla: Die Entzauberung des kritischen Geistes, S. 7). Dabei sind Intellektuelle traditionell konservativ, seit den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts auch in sozialistischen Projekten aktiv (Hugo Cancino (Hg.): Los intelectuales latinoamericanos entre la modernidad y la tradición, siglos XIX y XX. Madrid, Frankfurt/M. 2004, S. 14f.). Strukturelle Gewalt ist nach Johan Galtung diffuse Gewalt, die sich als vermeidbare Beeinträchtigung grundlegender menschlicher Bedürfnisse äußert; sie kann nicht mehr klar Akteuren zugerechnet werden, sondern basiert auf Werten, Normen, Institutionen,

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aber nicht mehr eindeutigen Akteuren zugerechnet werden, werden Kritik und Lösungsvorschläge schwieriger, da jeder sie dem Gegner zurechnet. Alle Beteiligten bedienen sich zudem ähnlicher moralischer Argumente.13 Die Repräsentation der Konflikte wird damit selbst zu einem Problem. Letztlich entscheiden diejenigen über die Realitätsinterpretation, die über Ressourcen (sei es wirtschaftlicher oder ideeller Art) verfügen und somit ihre Interpretation auch durchzusetzen vermögen (beispielsweise über den Zugriff auf Massenmedien).14 Mehr und mehr sind dies die politischen Eliten oder präziser: alle Sektoren, die in der Lage sind, die Politik zu bestimmen.

Typen intellektueller Äußerungen Stellungnahmen zur gesellschaftlichen Realität können allgemein als Analyse (und direkt daraus abgeleiteten Forderungen und Lösungsvorschlägen) oder als synthetisierende Darstellung (mit nur impliziten Forderungen und Lösungsvorschlägen) abgegeben werden. Analyse ist der traditionelle Bereich der Intellektuellen, Synthese der der Literaten.15 Dabei sind Intellektuelle oft gleichzeitig auch Schriftsteller und wechseln zwischen Synthese und Analyse (die sich im Grunde auch wechselseitig voraussetzen) hin und her. Testimonialliteratur liegt zwischen Analyse und Synthese und kann als narrativ vermittelter, in Geschichten eingekleideter Journalismus angesehen werden.16

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allgemein: Strukturen. (Vgl. Johann Galtung: Strukturelle Gewalt. Beiträge zur Friedensund Konfliktforschung. Reinbek 1975). Zur Epoche der Violencia in Kolumbien (1948– 1958) vgl. aus der neueren Forschung z. B. Ramona Majka: Die Moderne und die Violencia. Zur Gesellschafts-, Konflikt- und Ideologiegeschichte Kolumbiens. Frankfurt/M. 2001. Zur aktuellen Situation in Kolumbien siehe Werner Hörtner: Kolumbien verstehen. Geschichte und Gegenwart eines zerrissenen Landes. Zürich 2006, S. 227–306. Chomsky weist auf diese Tatsache mit folgenden Worten hin: »[E]s ist wichtig zu erkennen, daß die Rechtfertigung politischen Handelns mittels edler Absichten vorhersehbar ist und insofern auch im technischen Sinne keine Informationen über die tatsächlichen Motive enthält« (Chomsky: Hybris, S. 65f.). Bourdieu bezeichnet Herrschaft über die Weltsicht als ›symbolische Macht‹ (Pierre Bourdieu: Das intellektuelle Feld. Eine Welt für sich. In: Pierre Bourdieu: Rede und Antwort. Frankfurt am Main 1992, S. 165). Mit ›Literat‹ ist der Verfasser von Literatur gemeint, mit ›Literatur‹ wiederum ein Teilsystem der Kultur, das das Programm der Kultur beobachtet (also Romane, Theaterstücke, Lyrik usw.); vgl. dazu Susanne Hartwig: Was (nicht) nicht ist: die Möglichkeitswelten der Literatur. in: LiLi, Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 150 (Juni 2008), S. 79–93. Ein Verkaufserfolg ist beispielsweise das Buch País de plomo. Crónicas de guerra der Journalistin Juanita León (2005), das die Alltäglichkeit des Bruderkrieges in Einzelgeschichten beschreibt und lapidar im Vorwort sagt: »El conflicto colombiano es más sencillo de lo que suelen revelar los informes periodísticos. Matar y no morir es un ritual de paso para miles de jóvenes pobres. No es el odio, ni las ideas y a veces ni la codicia: el motor de esta guerra heredada de generación en generación es la falta de imaginación y

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Die Analyse als der klassische Modus intellektueller Stellungnahme vertritt bezüglich Kolumbien am sichtbarsten Noam Chomsky, der als einer der schärfsten Kritiker der gegenwärtigen Weltordnung, insbesondere des US-Imperialismus, gilt. In seinem umstrittenen Buch Hegemony or Survival. America’s Quest for Global Dominance17 sieht Chomsky die Lage Kolumbiens eingebunden in einen umfassenden Plan der USA, ihre Weltherrschaft zu sichern. Chomskys Hauptthese ist, dass die imperiale Strategie der USA elementare Menschenrechte missachte und die Demokratie mit Füßen trete, um eine Herrschaft der Wenigen (»Polyarchie«) aufzubauen.18 Im Detail verweist er z. B. auf die kaum ernstzunehmende AntiDrogen-Kampagne der USA in Kolumbien sowie die Missachtung der Menschenrechte durch die Ausräucherungen der Koka-Felder.19 Zudem prangert er an, dass der (von ihm beschriebene) Zusammenhang zwischen militärischer Hilfe und Menschenrechtsverletzungen in Kolumbien nur in Forschung und Dissidentenkreisen bekannt sei.20 Der schlechte Menschenrechtsreport stehe in eklatantem Widerspruch zu der Tatsache, dass Kolumbien einer der führenden Empfänger von USWaffen und US-Training in der westlichen Hemisphäre sei. Über die Darstellung der desolaten Lage in Kolumbien und die Anprangerung eines von den USA gestützten Staatsterrors hinaus macht Chomsky auch einen Vorschlag: […] Washington könnte das Leid mildern und vielleicht den Weg für eine substantiellere Lösung tief verwurzelter Probleme freiräumen, indem es weitere Greueltaten einfach nicht mehr unterstützt. Um das zu bewirken, müßten die Führungseliten jedoch wenigstens bereit sein, in den Spiegel zu schauen, statt sich darauf zu beschränken, die Untaten offizieller Feinde zu beklagen, gegen die oftmals nicht viel unternommen werden kann.21

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de oportunidades. Por eso abundan los traidores. Nadie aspira a ganarla« (Juanita León: País de plomo. Crónicas de guerra. Buenas Aires 2005, S. 16). Die Journalistin Alma Guillermoprieto kommentiert auf dem Umschlag: »[Juanita León] no pretende volver comprensible lo incomprensible, y sin embargo, ayuda a entender.« New York 2003. Die deutsche Übersetzung (2006) trägt den abgeänderten und bereits zitierten Titel Hybris. Die endgültige Sicherung der globalen Vormachtstellung der USA. Vgl. Chomsky: Hybris, S. 10–12. Vgl. Chomsky: Hybris, S. 76. Chomsky interpretiert die Handlungen der USA wie folgt: »Informierte Spezialisten sehen in Washingtons Ausräucherungsmethoden ein weiteres Stadium des historischen Prozesses, bei dem arme Bauern von ihrem Land vertrieben werden, damit ausländische Investoren und kolumbianische Eliten Geschäfte machen können« (Chomsky: Hybris, S. 77). Vgl. Chomsky: Hybris, S. 76. Chomsky: Hybris, S. 69. Vgl. auch: »Vielversprechend z. B. ist die allmähliche Entwicklung eines Bewußtseins für die Bedeutung der Bürger- und Menschenrechte in großen Teilen der US-Bevölkerung; eine Tendenz, die sich in den sechziger Jahren [sic] beschleunigte, als der politische Aktivismus in vielen Bereichen zu zivilgesellschaftlichen Fortschritten und zum Entstehen u. a. der Umwelt- und Frauenbewegung führte« (Chomsky: Hybris, S. 282). Wirksamer als die militärischen US-Interventionen anlässlich des Drogenproblems in Kolumbien seien, so Chomsky, Prävention und Therapie der Süchtigen (Chomsky: Hybris, S. 77). Insgesamt müssten Marginalisierung und Passivität

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Zusammenfassend kann man Chomskys Stellungnahme als Intellektueller wie folgt charakterisieren: Sie analysiert die Situation in Kolumbien anhand eines klaren Schemas, das eindeutig Täter benennt, gute und schlechte Interventionen voneinander trennt und daraus einen Lösungsvorschlag ableitet. Sie stützt sich auf ein als klar empfundenes Wissen um höhere Werte. Das Legitimationsproblem des Sprechers wird durch eine einfache Setzung gelöst. Damit beschwört Chomsky nicht nur den alten Typus des Intellektuellen, sondern auch den alten Typus der Öffentlichkeit noch einmal herauf: Die Welt, so seine These, werde gegenwärtig nicht von einer, sondern von zwei Supermächten regiert, nämlich den USA und der öffentlichen Meinung.22 Einen anderen Typus des Intellektuellen repräsentiert der 1942 in Medellín geborene und seit 1971 in Mexiko lebende Grammatiker, Filmemacher und Schriftsteller Fernando Vallejo. Sein Erfolgsroman La Virgen des los sicarios,23 der Autobiographie und Romanhandlung untrennbar miteinander verquickt, erinnert an traditionelle Formen der Gesellschaftskritik. Die Geschichte erzählt von einem homosexuellen Schriftsteller Fernando, dessen Lebensweg dem Vallejos bis aufs Haar gleicht, der sich in einen fünfzehnjährigen Auftragsmörder des Drogenkartells von Medellín, einen sicario, verliebt. Beide ziehen durch die Stadt, der Junge mordet, der Alte kommentiert dies mit ekstatischem Zynismus, und als der Junge selbst Opfer einer feindlichen Bande wird, beginnt Fernando, zunächst arglos, ausgerechnet mit dem Mörder seines Ex-Freundes eine neue Beziehung. Auch dieser wird auf offener Straße erschossen. Der Roman endet an der Bushaltestelle vor dem Leichenschauhaus, wo der Erzähler sich von seinen Lesern verabschiedet, ohne ihnen Trost oder Moral zu spenden. Seinen Standpunkt hat er bereits mehrfach in seiner Erzählung verdeutlicht: Kolumbien ist ein Symptom für die schleichende Vergiftung der Welt durch den Menschen, der unausweichlich alles zugrunde richten wird, weshalb ein schnelles Ende des Planeten einem langsamen vorzuziehen sei. Medellín erscheint wie die Hölle auf Erden,24 und die sicarios wirken wie unergründliche Todesengel, deren Verhalten keiner moralischen Bewertung unterzogen wird. Menschliche Gefühle wie Trauer und Respekt werden ausschließlich Tieren entgegengebracht.25

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der vernünftig denkenden Menschen überwunden werden (was bislang noch als »Krise der Demokratie« eingestuft werde; vgl. Chomsky: Hybris, S. 14). Vgl. Chomsky: Hybris, S. 52. Dieses Konzept einer »öffentlichen Meinung« erinnert an Georg Jägers »virtuellen Intellektuellen« im Gefolge der vernetzten EDV-Kultur (Georg Jäger: Der Schriftsteller als Intellektueller. Ein Problemaufriß. In: Schriftsteller als Intellektuelle. Politik und Literatur im Kalten Krieg. Hg. von Sven Hanuschek/Therese Hörnigk/Christine Malende. Tübingen 2000, S. 25). Fernando Vallejo: La Virgen de los Sicarios. Madrid 2002. Fernando spricht von »la capital del odio« (Vallejo: Virgen, S. 10) und von einer »monstruoteca« (Vallejo: Virgen, S. 65). Vgl. die Liebe zu Tieren: »son mi prójimo« (Vallejo: Virgen, S. 75).

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Der Roman besteht aus einem einzigen Monolog Fernandos, dessen Sprache stark von dem expressiven und teilweise grotesken Jargon der sicarios geprägt ist, der aber auch gelehrte Metakommentare und poetische Bilder und sogar Syntagmen in lateinischer Sprache enthält. Die Überspitzung der rigiden Erzählerperspektive und das Springen zwischen verschiedenen Sprachregistern wecken unverkennbar Zweifel daran, ob Fernandos Darstellung der Lebensverhältnisse in Medellín glaubwürdig ist. Vallejos Porträt des gegenwärtigen Kolumbiens ist eine Übertreibung, nicht jedoch pure Erfindung einer grotesken Wirklichkeit. Denn schier Unglaubliches passiert tatsächlich in Kolumbien (wie man anderen Quellen entnehmen kann). Durch das Schwanken zwischen Erzählung und Argumentation, zwischen einem Anspruch auf Dokumentation und einer Hervorhebung des Fiktiven, zwischen der Abbildung von Umwelt und der Schaffung einer Eigenwelt ist La Virgen de los sicarios durchgängig auf zwei Ebenen lesbar. Die Annahme eines unglaubwürdigen Erzählers verbindet beide kohärent miteinander: Übergreifend kohärent ist nun der Mechanismus des unzuverlässigen Erzählens.26 Viele Aussagen über Kolumbien müssen eher Fernandos subjektiver Sicht als der Umwelt zugerechnet werden, so dass der Roman zugleich Kolumbien und die spezifischen Einstellungen, Denkmuster und Wahrnehmungsstereotypen Fernandos zum Gegenstand hat. Da die Grenze zwischen Dokument und Fiktion27 ständig überschritten wird, sind diese Grenze selbst und damit auch der Erzähler sichtbar: In Vallejos Roman geraten wechselseitig Erzählung und Erzähler ins Blickfeld, also Wirklichkeit erster Ordnung (Realität) und Wirklichkeit zweiter Ordnung (Interpretationen dieser Realität durch den Erzähler). So werden Erkenntnisobjekt (die Realität Kolumbiens) und Erkenntnisprozess (die Art, wie diese Realität mitgeteilt wird) gleichermaßen sichtbar. Aspekte des Textes, die den Erzählvorgang konstituieren (also die narration), werden zu einem wesentlichen Teil der Geschichte.28 Dabei wird der Erzähler als Teil seiner Erzählung, der Beobachter als Teil seiner Beobachtung erkennbar.

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Unreliability (unzuverlässiges Erzählen; vgl. die grundlegenden Überlegungen bei Wayne C. Booth: The Rhetoric of Fiction. Chicago, London 1961) ist keine Eigenschaft des Textes, sondern eine interpretatorische Strategie des Rezipienten auf der Suche nach Stimmigkeit der Textelemente. Ein unreliable narrator ist entsprechend »eine Projektion des Lesers […], der Widersprüche innerhalb des Textes und zwischen der fiktiven Welt des Textes und seinem eigenen Wirklichkeitsmodell auf diese Weise auflöst« (Ansgar Nünning: Unreliable Narration. Studien zur Theorie und Praxis unglaubwürdigen Erzählens in der englischsprachigen Erzählliteratur. Unter Mitwirkung von Carola Surkamp und Bruno Zerweck, Trier 1998, S. 5). Dies entspricht einem Wechsel zwischen konstativem und performativem Schreiben, also einem Anspruch auf Repräsentation von Umwelt bzw. Schaffung von Realität. Das bedeutet, dass der Leser eine Situation reflektieren kann und zugleich die Art und Weise, wie diese Situation konstruiert wird. Die Grenze zwischen Realität und Fiktion kann gezielt beobachtet werden.

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Das unzuverlässige Erzählen verfremdet die Zustände in Kolumbien und macht eine grob simplifizierende Bewertung sichtbar, die eine Gegendarstellung geradezu herausfordert. Korrektivinformationen müssen aus anderen Wissensquellen geschöpft werden, d. h. der Leser muss selbst eine vom Erzähler abweichende Leserperspektive definieren, will er nicht zu dessen apokalyptischer Schlussfolgerung gelangen. Fernandos ›Bewältigungsstrategie‹ der kolumbianischen Missstände kann selbst einer kritischen Befragung unterzogen werden. Der Verlust einer glaubwürdigen Erzählinstanz gemahnt an die Subjektivität und Perspektivengebundenheit jeder Darstellung von Realität, denn der Erzähler ist keine absolute Autorität außerhalb der Erzählung. Ein Roman mit unzuverlässigem Erzähler problematisiert das Erzählen, ohne klare Gegenbilder suggerieren zu müssen; durch die NichtFestlegung werden Freiräume, ›Spielräume‹ des Denkens geschaffen. Da unzuverlässiges Erzählen auch immer das Risiko birgt, für bare Münze genommen zu werden, müssen Signale im Text vorhanden sein, die auf eine zweite Aussageebene verweisen. Dass Fernando in La Virgen de los sicarios nicht der unverbesserliche Zyniker ist, der er vorgibt zu sein, wird im Roman selbst an einem Schlüsselerlebnis sichtbar: Fernando schafft es nicht, den Mörder seines Freundes zu töten, und durchbricht damit den Teufelskreis der Rache. Zudem nimmt der Leser eine herausragende Stellung ein: Fernando wendet sich durchgängig an jemanden, dem er die Zustände in Kolumbien erklären muss (wohl weil sie ihm nicht geläufig sind) und dessen Verwunderung er beständig antizipiert. Damit wird die Existenz einer ›Außenwelt der Normalität‹ angedeutet. Der Text vermittelt dem Leser implizit, sozusagen am Erzähler vorbei, eine zweite, den Erzählerbehauptungen zuwiderlaufende Botschaft.29 Dieses Verfahren der Unzuverlässigkeit des Erzählers bewirkt, dass zugleich zwei Geschichten erzählt werden, die aneinander rückgebunden sind. Der Autor von La Virgen de los sicarios ist kein Nihilist. In Interviews äußert er sich wiederholt vehement zur gegenwärtigen Lage in Kolumbien und argumentiert im Sinne höherer Werte wie ›Gerechtigkeit‹ und ›Wahrheit‹.30 Vallejos Kolumbien-Kritik ist ex negativo ähnlichen Idealen wie Chomsky verpflichtet, doch geht Vallejo einen paradoxen Weg: Er strebt einen Richtungswechsel durch einen Aufruf zur Weltvernichtung an. Die Stellungnahme zur desolaten Lage in Kolumbien in La Virgen de los sicarios repräsentiert den Konflikt nicht als abzuschaffendes Übel. Wenn sich im Leser nach der Lektüre des Romans Widerstand regen sollte, dann hat der Leser diesen selbst hervorgebracht und trägt selbst dafür die

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Bibard spricht von der »complicidad del lector«: »A él le toca asumir el desafío de Vallejo, el falso cínico« (Michel Bibard: La realidad ya no es maravillosa ni mágica. In: Gaceta 42/42 1998, S. 41). So kritisiert er die Wiederwahl Uribes, den er als schamlos, verlogen und demagogisch bezeichnet. Er selbst gibt sich als unbestechlich: »Pues él juega con casi todas las cartas, detentador como es de la mayoría de los puestos públicos y de los contratos. Yo puesto no tengo ni quiero, ni quiero contrato, ni los tengo para repartir, pero sí tengo una carta: mi palabra« (Fernando Vallejo: Por el desafiero. In: http://www.geomundos.com/cultura/ poderpodrido/por-el-desafuero-por-fernando-vallejo_doc_2862.html; 3.12.2007).

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Verantwortung. Als Intellektueller nimmt Vallejo ihm damit die Arbeit des ›Vordenkens‹ nicht ab. Vallejos ›Engagement‹ ist also von einem neuen Typus: Indem er eine inakzeptable Meinung vertritt (die de facto auf eine Selbstauslöschung der Menschheit hinausliefe), zwingt er den Leser dazu, aktiv diese Meinung und den, der sie vertritt, kritisch zu hinterfragen. Paradoxerweise ist die Verneinung der Verurteilung des herrschenden Konfliktes in diesem Fall also keine Bejahung desselben. Vallejos intellektuelle Stellungnahme kann man wie folgt kennzeichnen: Im Modus einer Romanhandlung unternimmt er eine Analyse der kolumbianischen Gesellschaft und nennt Lösungswege. Dabei sind höhere Werte nur ex negativo Orientierungspunkte (indem sie vom Erzähler schlicht verneint werden). Vallejo steht damit gleich zweimal quer zur traditionellen Intellektuellenkritik, denn zum einen analysiert er die Gesellschaft in einem Roman (der traditionell eher der synthetischen Sichtweise verpflichtet ist),31 und zum anderen entwickelt er seinen Lösungsvorschlag als (realistische) Konsequenz der aktuellen Lage und nicht anhand einer an einer zukünftigen Lage ausgerichteten Utopie.32 Die Öffentlichkeit, an die er sich richtet, wird nicht aufgeklärt, sondern provoziert. Chomsky und Vallejo erfüllen beide die Grundvoraussetzungen für einen traditionellen Intellektuellen: Sie äußern sich klar und vernehmlich zu aktuellen Problemlagen und beziehen dabei ihre Kompetenz aus einer umfassenden, aber nicht fachspezifischen Allgemeinbildung,33 was sie der Zwänge entbindet, die aus Expertenwissen entstehen oder aus der Bindung an Interessensgruppen und Parteien. Beide halten sich für moralisch integer und der Vernunft, der Wahrheit und der Gerechtigkeit verpflichtet. Der Bezug von Zweck und Mitteln ist bei beiden indes grundverschieden.

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Eigentlich ist der politisch-moralische Essay das charakteristischste Produkt lateinamerikanischer Intellektualität (Michiel Baud: Wissenschaft, Moral und Politik. Lateinamerikanische Intellektuelle im globalen Kontext. In: ¡Atención! 7 (2004), S. 40). Im Gegensatz dazu erzählt der Erfolgsroman Rosario Tijeras (1999) von Jorge Franco Ramos das Leben einer weiblichen Auftragsmörderin in Medellín, der zwei Söhne aus gutem Hause verfallen. Die Geschichte fasst die ausweglose Lage einer jungen Frau aus zerrütteter, armer Familie in der Drogenmetropole Medellín kondensiert zusammen. Nur an wenigen Stellen erfolgen ansatzweise gesellschaftliche Analysen wie z. B.: »La pelea de Rosario no es tan simple, tiene raíces muy profundas, de mucho tiempo atrás, de generaciones anteriores; a ella la vida le pesa lo que pesa este país, sus genes arrastran con una raza de hidalgos e hijueputas que a punta de machete le abrieron camino a la vida, todavía lo siguen haciendo; con el machete comieron, trabajaron, se afeitaron, mataron y arreglaron las diferencias con sus mujeres« (Franco 2005, S. 32). Die Einzelgestalt Rosario Tijeras steht gleichnishaft für den Kolumbianer, der aus einer langen Geschichte der Violencia hervorgegangen ist. Beide sind Linguisten (vgl. Chomskys berühmte Theorien zur Generativen Transformationsgrammatik bzw. Fernando Vallejo: Logoi. Una gramática del lenguaje literario. México 1983).

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Mittel und Zweck In einem in der Zeit erschienen Artikel legt Jan Philipp Reemtsma im Zusammenhang mit der Terrorismusdebatte im Frühjahr 2007 dar, dass Motive und Handeln, oder konziser: Zweck und Mittel, nicht trennbar seien.34 Es gilt bei der Analyse terroristischer Handlung wie bei der Analyse jedes anderen Handelns: Die Unterscheidung von Zwecken und Mitteln ist künstlich – früher hätte man gesagt: undialektisch. Handlungen werden als ganze gewählt. Man setzt sich nur Zwecke, deren Mittel man billigt – oft solche, die man der Mittel wegen wählt –, und dann wird die Unterscheidung von Zweck und Mitteln gänzlich hinfällig. Ein Chirurg muss das Operieren mögen, um gut zu sein, und darf es nicht nur als abstoßendes Mittel in Kauf nehmen. Wer Mitglied einer Terrorgruppe wird, wählt die Existenz als Mitglied einer Terrorgruppe, und wer das, was er dann ist, nicht mag, wird diese Wahl nicht treffen.35

Reemtsmas Grundthese ist auf intellektuelle Stellungnahmen in komplexen gesellschaftlichen Konfliktsituationen übertragbar. Chomsky und Vallejo bringen beispielsweise auf je verschiedene Art Zweck und Mittel imaginär zur Deckung: Chomsky versucht traditionell, die Mittel aus den Zwecken zu entwickeln (was müssen wir jetzt tun, damit das, was noch nicht ist, Wirklichkeit wird?); Vallejo entwickelt indes den Zweck konsequent aus den Mitteln (wie soll Kolumbien sein angesichts dessen, was wir jetzt tun?). Anders gesagt: Während Chomsky den Zweck schon kennt und nur die Mittel sucht, kennt Vallejo die Mittel und sucht den dazu passenden Zweck. Durch seinen inakzeptablen Zynismus verweist er zugleich darauf, dass sowohl Mittel als auch Zwecke hinterfragbar sind und dass sie untrennbar miteinander zusammenhängen. Die Reaktion des Lesers muss der Widerstand selbst sein, nicht das bloße Nachdenken über den Widerstand. Damit gerät die Kausalitätsidee in den Hintergrund zugunsten der eigenen Handlungsmöglichkeit über Mittel und Zwecke. Auch schwindet jeglicher Verdacht einer Bevormundung der Leser oder derer, die ›ohne Stimme‹ sind und für die der Intellektuelle spricht. Meyer spricht vom »Pathos der Kälte« der »Apokalyptiker«, d. h. der gesellschaftlichen Diagnosen, die lediglich den Untergang der Welt heraufbeschwören: »Sie geben vor, mit kaltem Blick nur zu beschreiben, was der Fall sei. Sie vergessen dabei, dass jede Beschreibung den Gegenstand des Beschreibens verändert.«36 (Die daraus sich ergebende Frage ist die nach der Funktion des Intellektuellen: Repräsentiert er die öffentliche Meinung oder regt er sie an? Kontraproduktiv wäre eine intellektuelle Stellungnahme, wenn sie Passivität und Resignation beförderte,

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Vallejo wählt eine Darstellung zwischen Dokumentation und Fiktion. Sinnigerweise entwickelt Reemtsma seinen Gedanken aus einem literarischen Werk, nämlich aus Dostojewskijs Dämonen, wählt also ebenfalls eine Argumentation, die sich auf Realität und auf Literatur stützt. Jan Philipp Reemtsma: Lust an Gewalt. In: Die Zeit, 11 (8. März 2007), S. 46. Martin Meyer: Intellektuellendämmerung? In: Intellektuellendämmerung? Beiträge zur neuesten Zeit des Geistes. Hg. von Martin Meyer. München, Wien 1992, S. 10.

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so genau sie als Analyse der gesellschaftlichen Realität auch wäre. Bei einer ›korrekten‹, letztlich aber pessimistischen Darstellung des Schreckens passiert aber genau das, während eine frenetische Feier der Apokalypse eher Widerstand erzeugt. Als Intellektueller inszeniert Vallejo in La Virgen de los sicarios den Widerstand gegen sich selbst, indem er dem Leser ironische Distanz ermöglicht. Explizit wird die Welt auf eine radikale Botschaft reduziert, diese aber wiederum durch unzuverlässiges Erzählen unterminiert. Damit ist es am Leser, Position zu beziehen. Vallejo gibt ihm keine Position für oder wider etwas vor (wie es der traditionelle Intellektuelle macht). Diese Gedanken erinnern an Lyotards Einschätzung der Aufgabe des Intellektuellen als der einer »Politik des Widerstands«.37 Und in ähnlicher Weise spricht Gumbrecht dem Intellektuellen die neue Aufgabe des »riskanten Denkens« zu: Wir müssen vor allem das denken, was andernfalls – und das heißt: außerhalb der Mauern der akademischen Welt – ungedacht bleibt, weil es unter Bedingungen aktueller Praxis zu riskant ist.38

Vallejos ›Lösungsvorschlag‹ ist nur, weil er als Literatur präsentiert wird, nicht nihilistisch (denn so kann eine doppelte Aussageebene geschaffen werden). Einem nichtliterarischen Essay mit dem gleichen Aussagegehalt könnte man den Nihilismus nicht absprechen. Im Gegensatz zur direkten, argumentativ-diskursiven steht eine literarische Darstellung der Gesellschaft, die auch inakzeptable Möglichkeiten der Darstellung der Gesellschaft berücksichtigen kann. Eine bis zum Paroxysmus gesteigerte amoralische Aussage bewirkt Distanz und regt damit eine aktive Stellungnahme des Lesers an.39 Die Leistung der Literatur ist, Beobachtung erster und zweiter Ordnung gleichzeitig anzubieten. Die ›ironisch-paradoxe Intervention im Modus der Literatur‹ nach dem Muster von Vallejos La Virgen de los sicarios ermöglicht eine dynamische Weltsicht, weil sie die eigentliche Frage nach Zwecken und Mitteln und deren Verflechtung offen hält und sich nicht vorschnell auf Positionen ›letzter Wahrheit‹ zurückzieht. Hier formiert sich auch Widerstand gegen die Einverleibung der Kritik in das kritisierte System, denn ironisch-paradoxe Stellungnahmen sind nicht ohne Eigenaktivität des Lesers in eine bestehende Weltsicht integrierbar.

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Vgl. Aussagen wie »Wir haben nur noch ein Minimum an Sicherheit, und dieses Minimum nenne ich die Politik des Widerstands« (Willem van Reijen/Dick Veerman: Die Aufklärung, das Erhabene, Philosophie, Ästhetik. Gespräch mit Jean-François Lyotard. In: Lyotard zur Einführung. Hg. von Walter Reese-Schäfer. Hamburg 1995, S. 157). Gumbrecht: Riskantes Denken, S. 145. Bei Gumbrecht geht es nur um den Intellektuellen im universitären Bereich, aber dessen Charakterisierung kann auf andere Bereiche ausgeweitet werden. Diese Art intellektueller Stellungnahme findet sich beispielsweise auch in Brechts ›eingreifendem Denken‹ (vgl. dazu Gilcher-Holtey: ›Eingreifendes Denken‹. Die Wirkungschancen von Intellektuellen. Weilerwist 2007).

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Literatur kommt im intellektuellen Diskurs eine Funktion zu, die der Aufgabe ähnelt, die Gumbrecht mit Luhmann der Universität zuspricht, nämlich der »Produktion von Komplexität«: Spezialisten der Praxis finden Lösungen und reduzieren so Komplexität, während es das neue Selbstverständnis der Universität und der Intellektuellen werden könnte, potenzielle Alternativen und Gegenmodelle zu den je institutionalisierten Weltdeutungen und Praxisformen zu produzieren, ›auf Vorrat‹ sozusagen und orientiert am Prinzip des ›gegenintuitiven‹ Denkens.40

Ironisch-paradoxe Literatur umgeht die Frage nach der Legitimierung intellektueller Stellungnahmen. Das Recht zum öffentlichen Auftritt nimmt sich der traditionelle Intellektuelle, weil er seine Position für moralisch integer erklärt.41 Ihn ahmt der ironisch-paradoxe Intellektuelle nach, stellt aber zugleich seine eigene Position wieder durch Ironie in Frage. Jeder Widerstand im Leser muss sich selbst legitimieren. Vallejo schafft damit eine neue Form von Kritik: Als Bruders Mörder, Bruders Hüter zu sein.42 Der selbstreflexive Intellektuelle entsteht performativ in Interaktion mit dem Leser. Mit diesem Typus wird die Gesellschaftskritik selbst wieder kritisierbar. Die paradoxe Intervention der Ironie ist indes nur im Modus der Literatur, nicht in der traditionellen Form des politischen Essays möglich.

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Gumbrecht: Riskantes Denken, S. 144. Gumbrecht setzt seine Ausführung fort: »Theorien wären dann nicht mehr Welt- oder Wirklichkeitsmodelle auf besonderer Abstraktionshöhe, sondern Dispositive zur Produktion von gegenintuitiven Begriffen und Vorstellungen. Statt ›Fackelträger in der Nacht‹ wären die neuen Intellektuellen Katalysatoren von Komplexität in einer stets von zu viel Struktur, von zu viel Organisation von Negentropie eher als Orientierungslosigkeit bedrohten Kultur« (Gumbrecht: Riskantes Denken, S. 144f.). Für den traditionellen Intellektuellen gilt, was Jäger schreibt: »Die Person des Sprechers steht für die Authentizität des Gesagten ein und beglaubigt die Rede dadurch, dass sie die Konsequenzen auf sich nimmt, die sich aus ihr ergeben. Die Form der ›moralischen Beglaubigung‹ kann somit an die Stelle der Wahrheit (im Sinne wissenschaftlich überprüfbarer Richtigkeit) und des Nutzens (im Sinne von nachweisbaren Erfolgen) treten, aus denen sich allgemeine Werte nicht zureichend begründen lassen.« (Jäger: Der Schriftsteller als Intellektueller, S. 9). Der selbstreflexive Intellektuelle nähert sich Laotses berühmter Weisheit »Was Du zusammendrücken willst, das musst du erst richtig sich ausdehnen lassen«. Ein so konzipierter selbstreflexiver Intellektueller könnte als Untertypus des »konstruktiven Intellektuellen« gelten, den Mutius als Träger einer »neuen Art von Intelligenz« ansieht, der »Wissensarbeiter« an komplexen Projekten, »die wissenschaftliche und technische Innovationsvorhaben ebenso wie soziale Veränderungs- und Lernprozesse umfassen« (Bernhard von Mutius: Die andere Intelligenz oder: Muster, die verbinden. Eine Skizze. In: Mutius (Hg.): Die andere Intelligenz. Wie wir morgen denken werden. Ein Almanach neuer Denkansätze aus Wissenschaft, Gesellschaft und Kultur. Stuttgart 2004, S. 12–39.).

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Schlussfolgerungen Folgende Stellungnahmen können nunmehr zu den drei Kernfragen des Kolloquiums gegeben werden: 1. Handeln in komplexen Situationen fordert von Individuen (und Intellektuellen) die Fähigkeit zu flexiblem Denken ohne vorgefertigte, ein für allemal für gut befundene Lösungswege, also ›operative Intelligenz‹. Diese ist keineswegs beliebig, da sie sensibel auf den jeweiligen Kontext eingeht.43 Daß es ›Grand Theories‹ nach wie vor geben kann und geben sollte, ist damit nicht bestritten. Aber sie haben, wenn sie ›intellektuell‹ zelebriert werden (was nicht sein muß), zugleich etwas Spielerisches, Künstlerisches, Selbstironisierendes an sich. Man führt eine Konstruktionsanweisung aus und sieht, wie weit man kommt. Allerdings ist mit dieser Ablehnung von ›System‹ als Form der Identifikation von Intelligenz noch nicht viel erreicht. Wir wissen noch nicht, um was es sich handelt, wenn nicht um ein System; und um was es denn geht, wenn nicht darum, alles auf einen Punkt zu bringen.44

2. Intellektuelle können die Rolle des Steuermanns übernehmen. Zu dieser schreibt von Foerster in anderem Zusammenhang (nämlich als Erklärung kybernetischen Denkens): Was macht ein Steuermann, der sein Schiff sicher in den Hafen hineinmanövrieren möchte? Er absolviert kein ein für allemal festgelegtes Programm, sondern er variiert dies permanent. […] In jedem Moment wird die Abweichung in Relation zu dem ins Auge gefaßten Ziel, dem Telos, das zum Beispiel ein Hafen sein kann, korrigiert.45

Ein Steuermann kann zielgerichtet oder korrigierend handeln. Letzteres geschieht, wenn er ein Schiff von einem Kurs abbringt, ohne eine neue Richtung vorzugeben. In diesem Fall verstört er einen Kurs. Das Bild kann auf Intellektuelle übertragen

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»Operative Intelligenz nennen wir all das, was jemand mitbringt an Wissen über den Einsatz seiner intellektuellen Fähigkeiten und Fertigkeiten« (Dietrich Dörner: Die Logik des Misslingens. Strategisches Denken in komplexen Situationen. Reinbek 2004, S. 316). Die Maxime richtigen Handelns lautet entsprechend: »Alles zu seiner Zeit, jeweils unter Beachtung der Umstände. Es gibt nicht die eine, allgemeine, immer anwendbare Regel, den Zauberstab, um mit allen Situationen und all den verschiedenartigen Realitätsstrukturen fertig zu werden« (Dörner: Die Logik des Misslingens, S. 317). Niklas Luhmann: Gibt es ein ›System‹ der Intelligenz? In: Intellektuellendämmerung? Beiträge zur neuesten Zeit des Geistes. Hg. von Martin Meyer. München/Wien 1992, S. 57. Vgl. auch Gumbrechts grundlegende Überlegung: »Ob Gesellschaften ›überhaupt‹ lebensfähig sind ohne einen übergreifenden Begriff von Wahrheit und ohne eine übergreifende Ethik, ist eine andere Frage – eine Frage allerdings, die man nicht stellen sollte, ohne weiterzufragen, ob es nicht gerade solche monolithischen Ansprüche des ethisch ›Richtigen‹ sind, die einem das Leben so oft unnötig sauer machen« (Gumbrecht: Riskantes Denken, S. 143). Heinz von Foerster/Bernhard Pörksen: Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners. Gespräche für Skeptiker. Heidelberg 1999, S. 107. Dies ist ein kybernetischer Ansatz (von griech. kybernetes, ›Steuermann‹).

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werden, von denen Schumpeter schreibt, ihr größter Wert sei der des Störfaktors.46 Dank ›intellektueller Störungen‹ in gesellschaftlichen Diskussionen kann vom Diskurs Ausgegrenztes wieder Beachtung finden, und Eigendynamiken eines Systems werden aufgebrochen. Vallejo übernimmt mit La Virgen de los sicarios eine solche Steuermann-Funktion, weil er die üblichen Diskurse über die Gewalt in Kolumbien mit seiner Stellungnahme verstört, ohne sich positiv auf neue Ideale zu verpflichten. Damit dynamisiert er die Repräsentation des Konfliktes. 3. Intellektuelle ergreifen nicht Partei von außen, sondern greifen in ein System ein, von dem sie selbst ein Teil sind. Gerade in Zeiten der Globalisierung und der zunehmenden Vernetzung unterschiedlichster gesellschaftlicher Systeme weltweit ist eine qualitativ neue Form des öffentlichen Kommentars nötig, der erkennen lässt, dass die eigene Position von einem präzisen Standpunkt abhängig ist. Beide können hinterfragt werden, weshalb es nicht möglich ist, bei intellektuellen Kommentaren von der Person zu abstrahieren (und etwa nur von ›intellektuellem Handeln‹ zu sprechen). Die ›Wahrheit‹, für die Intellektuelle im 21. Jahrhundert einstehen, ist die ›Wahrheit der Selbstbeobachtung‹. Sie dürfen Information überziehen (z. B. indem sie Fragen nach der Machbarkeit des Geforderten nicht beachten), um etwas sichtbar zu machen, was ansonsten versteckt bliebe, aber nur wenn sie zugleich dieses Überziehen sichtbar machen. Der Intellektuelle muss sich selbst als Paradox begreifen: zugleich innerhalb und außerhalb des Systems, das er beobachtet. Wer sollte die Realität interpretieren? Wer interpretiert die Realität? Wer kann die Realität interpretieren? – Solange diese drei Fragen nicht identisch sind, ist das Ende des Intellektuellen nicht gekommen.47 Das 21. Jahrhundert erzeugt einen neuen Typus: den Intellektuellen, der sich an den Grenzen bewegt, der seinen Standpunkt stets mitreflektiert und der durch ständiges Wechseln der Beobachterebenen der Gefahr der Ideologisierung entgeht. Für eine öffentliche Weltmeinung ist dieser Typus wichtiger denn je.

Bibliographie Angel, Raquel: Rebeldes y domesticados. Los Intelectuales frente al Poder. Buenos Aires, 1992. Baecker, Dirk: Ein Intellektueller ist jemand, der etwas gelesen hat. In: Der kritische Blick. Über intellektuelle Tätigkeiten und Tugenden. Hg. von Uwe Justus Wenzel. Frankfurt/M. 2002, S. 148–157.

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Mario Rainer Lepsius: Kritik als Beruf. Zur Soziologie der Intellektuellen. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 16,1964, S. 81. Denn ein Intellektueller ist, laut Baecker, »jemand, der ein Problem hat. Er steht unter dem Eindruck einer kognitiven Dissonanz zwischen den üblichen Urteilen und Einschätzungen seines Umfelds und seinem Platz in diesem Umfeld auf der einen Seite und den Urteilen und Einschätzungen, die ihm die Lektüre nahelegt, auf der anderen Seite« (Baecker: Ein Intellektueller ist jemand, der etwas gelesen hat, S. 148f.).

Die Grenzen der Intellektuellen

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Baud, Michiel: Wissenschaft, Moral und Politik. Lateinamerikanische Intellektuelle im globalen Kontext. In: ¡Atención! 7 (2004), S. 15–43. Bibard, Michel: La realidad ya no es maravillosa ni mágica. In: Gaceta 42/42 (1998), S. 40–41. Booth, Wayne C.: The Rhetoric of Fiction. Chicago/London 1961. Bourdieu, Pierre: Das intellektuelle Feld. Eine Welt für sich. In: Pierre Bourdieu: Rede und Antwort. Frankfurt/M. 1992, S. 155–166. Cancino, Hugo: Introducción. In: Los intelectuales latinoamericanos entre la modernidad y la tradición, siglos XIX y XX. Hg. von Hugo Cancino. Madrid, Frankfurt/M. 2004, S. 9–18. Chomsky, Noam: Hybris. Die endgültige Sicherung der globalen Vormachtstellung der USA. Zürich 2006. Dörner, Dietrich. Die Logik des Misslingens. Strategisches Denken in komplexen Situationen. Reinbek 2004. von Foerster, Heinz/Pörksen, Bernhard: Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners. Gespräche für Skeptiker. Heidelberg 1999. Franco, Jorge: Rosario Tijeras. Bogotá 2005. Galtung, Johan: Strukturelle Gewalt. Beiträge zur Friedens- und Konfliktforschung. Reinbek 1975. Gilcher-Holtey, Ingrid (Hg.): Zwischen den Fronten. Positionskämpfe europäischer Intellektueller im 20. Jahrhundert. Berlin 2006. – Prolog. In: Gilcher-Holtey 2006, S. 9–23. – Theater und Politik. Bertolt Brechts ›Eingreifendes Denken‹. In: Gilcher-Holtey 2006, S. 117–151. – ›Eingreifendes Denken‹. Die Wirkungschancen von Intellektuellen. Weilerwist 2007. Gumbrecht, Hans Ulrich: Riskantes Denken. Intellektuelle als Katalysatoren von Komplexität. In: Wenzel 2002, S. 140–147. Hartwig, Susanne: Was (nicht) nicht ist: die Möglichkeitswelten der Literatur. In: LiLi, Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 150 (Juni 2008), S. 79–93. Hörtner, Werner: Kolumbien verstehen. Geschichte und Gegenwart eines zerrissenen Landes. Zürich 2006. Hofmeister, Wilhelm: Einleitung. In: Hofmeister/Manislla 2004, S. 7–11. Hofmeister, Wilhelm/Mansilla, H.C.F. (Hg.): Die Entzauberung des kritischen Geistes. Intellektuelle und Politik in Lateinamerika. Bielefeld 2004. Jäger, Georg: Der Schriftsteller als Intellektueller. Ein Problemaufriß. In: Schriftsteller als Intellektuelle. Politik und Literatur im Kalten Krieg. Hg. von Sven Hanuschek/Therese Hörnigk/Christine Malende. Tübingen 2000, S. 1–25. León, Juanita: País de plomo. Crónicas de guerra. Buenas Aires 2005. Lepsius, M. Rainer: Kritik als Beruf. Zur Soziologie der Intellektuellen. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 16. Jg. (1964), S. 75–91. Luhmann, Niklas: Gibt es ein ›System‹ der Intelligenz? In: Meyer 1992, S. 57–73. Lyotard, Jean-François: Tombeau de l’intellectuel et autres papiers. Paris 1984. – Streifzüge. Gesetz, Form, Ereignis. Mit einer Bibliographie des Gesamtwerkes. Hg. von Peter Engelmann, dt. Ausgabe Wien 1989. Majka, Ramona: Die Moderne und die Violencia. Zur Gesellschafts-, Konflikt- und Ideologiegeschichte Kolumbiens. Frankfurt/M. 2001. Mansilla, H.C.F.: Intellektuelle und Politik in Lateinamerika. Kurze Einführung zu einer grundlegenden Ambivalenz. In: Hofmeister/Mansilla 2004, S. 13–38. Meyer, Martin (Hg.): Intellektuellendämmerung? Beiträge zur neuesten Zeit des Geistes. München/Wien 1992. – Intellektuellendämmerung? In: Meyer 1992, S. 7–12. Mutius, Bernhard von: Die andere Intelligenz oder: Muster, die verbinden. Eine Skizze. In:

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Mutius (Hg.): Die andere Intelligenz. Wie wir morgen denken werden. Ein Almanach neuer Denkansätze aus Wissenschaft, Gesellschaft und Kultur. Stuttgart 2004, S. 12–39. Nünning, Ansgar: Unreliable Narration. Studien zur Theorie und Praxis unglaubwürdigen Erzählens in der englischsprachigen Erzählliteratur. Unter Mitwirkung von Carola Surkamp und Bruno Zerweck. Trier 1998. – Unreliable Narration zur Einführung. Grundzüge einer kognitiv-narratologischen Theorie und Analyse unglaubwürdigen Erzählens. In: Nünning 1998, S. 3–39. Reemtsma, Jan Philipp: Lust an Gewalt. In: Die Zeit 11 (8. März 2007), S. 45f. van Reijen, Willem/Veerman, Dick: Die Aufklärung, das Erhabene, Philosophie, Ästhetik. Gespräch mit Jean-François Lyotard. In: Lyotard zur Einführung. Hg. von Walter ReeseSchäfer. Hamburg 1995, S. 121–165. Uricoechea Corena, Fernando: Die Intellektuellen und die Politik in Kolumbien. In: Hofmeister/Mansilla 2004, S. 117–129. Vallejo, Fernando: Logoi. Una gramática del lenguaje literario. México 1983. – La Virgen de los Sicarios. Madrid 2002. – El desbarrancadero. Madrid 2003. – Por el desafuero. In: http://www.geomundos.com/cultura/ poderpodrido/por-el-desafueropor-fernando-vallejo_doc_2862.html (3.12.2007). Wenzel, Uwe Justus (Hg.): Der kritische Blick. Über intellektuelle Tätigkeiten und Tugenden. Frankfurt/M. 2002.

Abstract Aus dem Dilemma, dass Stellungnahmen Intellektueller im 21. Jahrhundert einerseits keinen Legitimationsanspruch per se mehr haben, andererseits aber bei Gewaltkonflikten dringender denn je gebraucht werden, scheint ein neuer Typus des Intellektuellen, nämlich der des selbstreflexiven Denkers, einen Ausweg zu zeigen. Der Beitrag legt dar, wie das Kommunizieren auf mehreren Ebenen, vorzugsweise in der Literatur, eine intellektuelle Intervention in innergesellschaftlichen Gewaltkonflikten darstellt, die nicht der Vorgabe von Entscheidungen dient, sondern als Störelement in einer aussichtslos erscheinenden Situation fungiert. Denn ironisch-paradoxe Literatur umgeht die Frage nach der Legitimierung intellektueller Stellungnahmen, ohne gleichzeitig zu verstummen. Am Kontext Kolumbien wird dies anhand von zwei Stellungnahmen gezeigt, die sich zwischen Analyse und Synthese bewegen. Der Begriff ›Grenze‹ erscheint hier als positiver Ort der Verhandlung.

Anette Pankratz

Viel Blut um nichts? Gewalt im zeitgenössischen britischen Drama

1. Der Intellektuellen-Diskurs Seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert assoziiert man mit dem Begriff des Intellektuellen geistige Tätigkeit (in Abgrenzung zur Praxis), Distanz zu den Institutionen der Macht und kritisches, öffentliches Engagement für Werte wie u. a. Gleichheit, Freiheit oder Wahrheit.1 Besonders Schriftsteller nehmen eine Position als »sozial freischwebende Intelligenz«2 ein. Sie agieren innerhalb des autonomen literarischen Systems, übernehmen dabei aber eine dezidiert politische Funktion, die sich von der offiziellen Politik (und implizit auch von anderen gesellschaftlichen Subsystemen wie Wirtschaft oder Religion) abgrenzt.3 Diese Position als Außenseiter verleiht dem in der Öffentlichkeit Auftretenden die Autorität eines moralisch engagierten, aber nicht parteipolitisch oder institutionell eingebundenen Fürsprechers für universelle Werte.4 Diese Idealvorstellung des kritischen Intellektuellen bedarf allerdings der Relativierung. Schriftsteller können sich zwar auf die Autonomie des literarischen Systems berufen, die Wahrheit, oder besser: das, was in der jeweiligen Gesellschaft als Wahrheit definiert wird, ist aber »weder außerhalb der Macht noch ohne Macht«.5 Auch der Außenseiterstatus der Intellektuellen erscheint eher als Teil der öffentlichen Rolle, denn als valide Zustandsbeschreibung, da die ostentativ eingenommene kritische Distanz inhärenter Teil des sozialen Systems ist: »il n’ya pas de hors-societé«.6 Innerhalb einer komplexen, funktional ausdifferenzierten Gesellschaft ist eine Verabsolutierung von Insidern und Outsidern schwierig. Wer

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Vgl. Stefan Collini: Absent Minds. Intellectuals in Britain. Oxford 2006, S. 15–38; Georg Jäger: Der Schriftsteller als Intellektueller. Ein Problemaufriß. In: Schriftsteller als Intellektuelle. Politik und Literatur im Kalten Krieg. Hg. von Sven Hanuschek, Therese Hornigk und Christine Malende. Tübingen 2000, S. 3–4; Raymond Williams: Keywords. A Vocabulary of Culture and Society. London 1976, S. 140–142. Karl Mannheim zit. n. Jäger: Der Schriftsteller als Intellektueller, S. 3. Vgl. Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Frankfurt/M. 1999, S. 210. Vgl. Edward Said: Representations of the Intellectual. The 1993 Reith Lectures. London 1994, S. 39; Bourdieu: Die Regeln der Kunst, S. 210. Michel Foucault: Die politische Funktion des Intellektuellen. In: Foucault (Hg.): Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. Bd. 3. Frankfurt/M. 2003, S. 149. Collini: Absent Minds, S. 413 (Hervorhebung im Original); vgl. Michel Foucault: Die Intellektuellen und die Macht. In: Foucault (Hg.): Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. Band II. Frankfurt/M. 2002, S. 384.

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sich als Außenseiter des politischen oder wirtschaftlichen Systems geriert, kann durchaus in der medialen Öffentlichkeit oder im literarischen System eine zentrale Position einnehmen. Erst durch Prominenz verfügen Intellektuelle über genügend kulturelles Kapital, um sich als moralische Autoritäten zu inszenieren.7 Ebenso erweisen sich die oftmals in diesem Zusammenhang beschworenen Werte als »das Ergebnis der Universalisierung spezifischer Prinzipien seines eigenen Universums«.8 Die Distanzierung von der medialisierten Massengesellschaft trägt außerdem Züge des Elitismus in der Tradition der Hochmoderne, was wiederum in Gegensatz steht zur Funktionalisierung der Öffentlichkeit sowie dem vordergründigen Vertretungsanspruch für Marginalisierte, Arme und Schwache.9 Zu diesen strukturellen Widersprüchen des Intellektuellen-Diskurses kommt in der Postmoderne insbesondere nach dem Ende des Kalten Krieges der Verlust der ›legitimierenden Bezugspunkte‹.10 Globalisierung im Zeichen der neo-liberalen Marktwirtschaft, Kulturpluralismus und das transnationale Aufbrechen politischer und ökonomischer Strukturen dekonstruieren die ›großen Erzählungen‹ von Aufklärung und Fortschritt, ohne sie durch eine allgemeingültige alternative ›Wahrheit‹ zu ersetzen.11 Die postmodern-parodistische Strategie des »de-doxifying«12 benutzt ambivalente Kodierungen, die traditionelle Normen sowohl dekonstruieren als auch bestätigen. Innerhalb der postmodernen Kultur allgemein, wie auch im mehr und mehr kommerzialisierten Literatursystem im Besonderen, gehören Subversion und öffentlich geäußerte Kritik zu den üblichen und erforderlichen Werbetechniken: »today’s transgression is tomorrow’s television commercial«.13 Diese Veränderungen wirken sich auch auf die Repräsentationsstrategien literarischer Texte aus. Innerhalb des traditionellen intellektuellen Diskurses dient Literatur als Mittel zur »Weltauslegung und Sinnstiftung«.14 Dies schließt die dissidente Darstellung der Wirklichkeit mit ein, die blinde Flecken einer Kultur, Verdrängtes und Vergessenes zugänglich macht und mittels ›häretischer Brüche‹

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Vgl. Collini: Absent Minds, S. 413–415. Bourdieu: Die Regeln der Kunst, S. 211. Edward Said behauptet z. B. der Intellektuelle stehe »outside the chatty, familiar world« (S. 39), wohingegen die Mehrheit der Menschen das »herding« (S. 16; 24) bevorzuge (Said: Representations of the Intellectual); Michael Ignatieff wendet sich gleichfalls gegen »celebrity chat shows« statt »public dialogue«, zit. n. Jeremy Jennings: Deaths of the Intellectual. A Comparative Autopsy. In: The Public Intellectual. Hg. von Helen Small. Oxford 2002, S. 111. Zum Elitismus Intellektueller in der Moderne siehe John Carey: The Intellectuals and the Masses. Chicago 1992; Collini: Absent Minds, S. 24. Vgl. Jäger: Der Schriftsteller als Intellektueller, S. 24. Vgl. Jennings: Deaths of the Intellecutal, S. 122. Linda Hutcheon: The Politics of Postmodernism. London 2002, S. 7. Linda S. Kauffman: New Art, Old Masters, and Masked Passion. In: The Public Intellectual. Hg. von Helen Small. Oxford 2002, S. 132; vgl. Hutcheon: The Politics of Postmodernism, S. 4; vgl. Fredric Jameson: Postmodernism, or, the Cultural Logic of Late Capitalism. Durham 1991, S. 4. Jäger: Der Schriftsteller als Intellektueller, S. 14.

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Seh- und Denkkonventionen unterminiert.15 Intellektuelle fungieren so für ihre Kultur nicht nur als »interpreters of their time«,16 sondern als »Gewissen der Nation«,17 das die Verhältnisse durch ihre subversiven Repräsentationen und vor allem durch das »speaking truth to power«18 verändern kann. Was passiert aber, wenn es keine allgemeingültigen Wahrheiten mehr gibt? Die Paradoxien des Intellektuellen-Diskurses sollen im Folgenden anhand von Beispielen aus zeitgenössischen britischen Dramen verdeutlicht werden.

2. Britische Dramatiker und der Intellektuellen-Diskurs Bis Ende der 1980er finden sich in Großbritannien Autoren wie z. B. Edward Bond, David Hare oder Howard Brenton, die die traditionelle Rolle des intellektuellen Schriftstellers eindeutig ausfüllen. Die Darstellung innergesellschaftlicher Gewalt als akuter Krisenmoment – die Steinigung eines Babys in Bonds Saved (1965) oder die Vergewaltigung eines Kelten durch römische Invasoren in Brentons The Romans in Britain (1980) – diente der Kritik von Klassengesellschaft, Kolonialismus und Kapitalismus. Die Dramatiker wollten verstören und provozieren, um Denkprozesse auszulösen und um letztlich die Gesellschaft zu verändern: »Theatre is a way of judging society and helping to change it«.19 Anfang der 1990er gilt diese Haltung als »meaning bullshit«.20 Nicht nur die jungen in-yer-face-Dramatiker21 wie u. a. Anthony Neilson, Sarah Kane oder Mark Ravenhill setzen ihre skeptische Haltung in direkten Gegensatz zur politischkritischen Dramatik der siebziger und achtizger Jahre und verweigern dezidiert die Rolle des Intellektuellen als ›Sinnstifter‹.22 Auch Howard Barker, Martin Crimp oder Caryl Churchill zerschreiben in ihren postdramatischen Stücken fest gefügte Wertmuster und wehren sich gegen eine Indienstnahme für politische Zwecke. So warnt Howard Barker, man solle seine Texte verstehen als »an expression of life, not as truth, nor as information, message, propaganda for a posture, nothing but emotion turned into language. [...] I don’t say anything«.23

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Vgl. Bourdieu: Die Regeln der Kunst, S. 329. John Lehmann zit. n. Collini: Absent Minds, S. 33. Jäger: Der Schriftsteller als Intellektueller, S. 12. Said: Representations of the Intellectual, S. 63. Edward Bond zit. n. Malcolm Hay und Philip Roberts: Edward Bond. A Companion to the Plays. London 1978, S. 74. Mark Ravenhill: Some Explicit Polaroids. In: Ravenhill (Hg.): Plays One. London 2001, S. 241. Der Terminus wurde von Aleks Sierz: In-Yer-Face Theatre. British Drama Today. London 2001 geprägt. Vgl. Jäger: Der Schriftsteller als Intellektueller, S. 14. Howard Barker: Education is Friction. In: Teaching Literature. Writers and Teachers Talking. Hg. von Judith Kravis. Cork 1995, S. 262–263.

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Trotz dieses anti-aufklärerischen Impetus’ erfüllen die AutorInnen immer noch die Rolle des Intellektuellen, der die »art of representing«24 beherrscht. Durch die empathisch aufgeladene Darstellung innergesellschaftlicher Gewalt fungieren sie als »a witness who testifies to a horror otherwise unrecorded«.25 Sie konterkarieren aber die Pose des »Gewissens der Nation« durch Verzicht auf einen erkennbaren sinnstiftenden Ordnungsrahmen und didaktisierende Selbstauslegungen.26 Innergesellschaftliche Gewalt wird stattdessen zum Ende der ›großen Erzählungen‹, zur Globalisierung und zu ubiquitären Simulakren in Beziehung gesetzt. Die dabei angewandten anti-realistischen Darstellungsstrategien – das Oszillieren zwischen Nähe und Ferne, global und lokal, Referentialität und Theatralität – reflektieren gängige postmoderne Theorien von Foucault, Derrida, Lyotard und Baudrillard. Auf der inhaltlichen Ebene erscheint so Gewalt als Konsequenz der veränderten Welt und der veränderten Welterklärungsmodelle; auf der theatralisch-performativen Ebene wird sie funktionalisiert als bühnenwirksames Gegenmittel, als Zeichen von Wirklichkeit und Wahrheit. Die Stücke reflektieren dadurch oft auch die prekäre Rolle des Intellektuellen in einer Zeit der Ungewissheiten als Schwesters Mörder und Mörders Beobachter. 2.1. Postmoderne und Gewalt Die condition postmoderne, das unbestimmte Gefühl der Unsicherheiten und der postideologischen Relativität motiviert in den Dramen die Repräsentation innergesellschaftlicher Gewalt. So beklagt eine Figur in Mark Ravenhills Shopping and Fucking (1996) in Anlehnung an Lyotards Ende der grands recits das Fehlen von ›big stories‹: »Stories so big you could live your whole life in them. The Powerful Hands of the Gods and Fate. The Journey to Enlightenments. The March of Socialism«.27 Die Ideologie des Marktes löst die alten ›big stories‹ ab. Der Drogendealer Brian stellt sein kapitalistisches Credo auf eine Stufe mit den Worten der Bibel: »[W]hat are the first few words in the Bible? [...] Get. The Money. First. [...] it’s the closest we’ve come to meaning. Civilization is money. Money is civilization«.28 Folglich kommen die großen Erzählungen nur mehr in kommerzialisierter, hyperrealer Form vor, in Disneys Lion King beispielsweise oder als biblisches Telephonsexsze-

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Said: Representations of the Intellectual, S. 10. Said: Representations of the Intellectual, S. XIV. Vgl. Graham Saunders: »Love Me or Kill Me«. Sarah Kane and the Theatre of Extremes. Manchester 2002, S. 26–28. Mark Ravenhill: Shopping and Fucking. In: Ravenhill (Hg.): Plays One. London 2001, S. 66; vgl. Sierz: In-Yer-Face Theatre. British Drama Today, S. 332; Merle Tönnies: Problematic Youth Identities in Contemporary British Drama. In: Anglistik & Englischunterricht 63 (2000), S. 119. Mark Ravenhill: Shopping and Fucking, S. 86f.

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nario: »And you want to take it right up the ... yes ... oh yes ... up against the Tree of Knowledge […] This is, I tell you this is Paradise. This is Heaven on Earth«.29 Der Verlust der Gewissheiten und das alles überspannende Netz der Kommerzialisierung motivieren auch die verstörenden Gewaltszenen in Shopping and Fucking. Die Figuren werden zusammengeschlagen, gefoltert oder mit Folter bedroht, falls sie sich den Anforderungen des Marktes entziehen. Sie suchen nach Sinn im Shopping-Land und finden ihn nur in Selbstzerstörung oder der Zerstörung Anderer. Das Stück kulminiert in der vermutlich tödlichen Folterung des Callboys Gary, die die Ambivalenz des Systems zusammenfasst. Gary bezahlt die anderen dafür, dass sie ihn vergewaltigen und foltern. Er begründet den Todeswunsch mit einer unerklärlichen existentiellen Leere: »I’ve got this unhappiness. This big sadness swelling like it’s gonna burst. I’m sick and I’m never going to be well«.30 Die Gründe für Gewalt werden zwar wie in den Stücken von Bond und Brenton immer noch korreliert mit dem gesellschaftlichen System, mit Kapitalismus und Konsum, aber die Grenzen zwischen Opfer und Täter, Ursache und Wirkung verwischen. Gary wird mit seinem Einverständnis gefoltert, seine Folterer folgen dabei nur der Logik des Marktes: »Nothing right. Nothing wrong. It’s a deal«.31 Die Zeichen der Gewalt auf der Bühne sind nicht nur Reflexe des postmodernen Sinnverlusts in einem neo-liberalen Wirtschaftssystem, sie sind darüber hinaus oft gerahmt als hyperreale Simulakren, Zeichen, die wirklicher als die Wirklichkeit erscheinen, damit das Fehlen jeglicher Realität kaschieren und das Erkennen von Wahrheit, Ethik und Norm unmöglich machen.32 So postuliert Alain, der Protagonist von Mark Ravenhills Faust is Dead (1997), mit dem Gestus von Baudrillard den Tod der Realität: »At some point, at a moment at the end of the twentieth century, reality ended. Reality finished and simulation began«.33 Martin Crimps Attempts on Her Life (1997) zitiert nicht, sondern verstrickt die Zuschauer direkt in komplizierte Simulationen.34 In wechselnden Szenarien unterhalten sich nicht genauer identifizierte Sprecher über eine Figur (bzw. Figuren) namens »Anne«,

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Mark Ravenhill: Shopping and Fucking, S. 51–52. Vgl. Aleks Sierz: Cool Britannia? InYer-Face Writing in the British Theatre Today. In: New Theatre Quarterly 14 (1998), S. 332. Mark Ravenhill: Shopping and Fucking, S. 83. Mark Ravenhill: Shopping and Fucking, S. 85. Vgl. Ute Berns: History and Violence in British Epic Theatre. From Bond and Churchill to Kane and Ravenhill. In: New Beginnings in Twentieth-Century Theatre and Drama. Essays in Honour of Armin Geraths. Hg. von Christiane Schlote und Peter Zenzinger. Trier 2003, S. 67. Vgl. Jean Baudrillard: Simulacra and Simulation. Ann Arbor 1994. Mark Ravenhill: Faust (Faust is Dead). In: Ravenhill (Hg.): Plays One. London 2001, S. 132. Crimp rezipierte Baudrillard und stellte auch Attempts on her Life ein Baudrillard-Zitat als Motto voran, behauptet aber »ich liebe Baudrillards Texte, weil ich kein Wort von ihnen verstehe«, zit. n. Nils Tabert: Playspotting. Reinbek 1998, S. 261; vgl. Heiner Zimmermann: Martin Crimp, Attempts on her Life. Postdramatic, Postmodern, Satiric? In: (Dis)Continuities. Trends and Traditions in Contemporary Theatre and Drama in English. Hg. von Margarete Rubik und Elke Mettinger-Schartmann. Trier 2002, S. 109; 123.

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»Anya«, »Annie«, »Annushka« oder »Anna«,35 die selbst nie auf der Bühne erscheint: »The play’s centre is an absence which it endeavours to fill by representations and constructions of the central character in various media«.36 Gewalt – als Terrorismus, Unterdrückung, Selbstzerstörung und Bürgerkrieg – wird ebenfalls immer durch Medialisierungen verfremdet. Die Terroristin Anne hat beispielsweise einen Anschlag auf eine Shopping Mall verübt. Die Figuren auf der Bühne beschreiben nicht den Anschlag selbst, sondern das Videoband einer Überwachungskamera: »The plate glass blows out of a shoe-shop window in absolute silence and the little grey figures breaking apart and flying through the air in absolute silence with the tiny tiny flying shoes are real human beings mixed with glass«.37 Gewalt erscheint so doppelt gerahmt: als theatralische Rekonstruktionen der Hyperrealität, die wiederum auf die in einer ›realen‹ Welt der Hyperrealität existierende Gewalt verweisen. 2.2. Entgrenzungen Instabile Realitäten und Wahrheiten sind Teil einer Ästhetik der Oszillation, die dichotomische Strukturen – hier vs. da, heute vs. gestern, gut vs. böse, wahr vs. falsch, real vs. fiktiv – auflöst und damit auch stabilisierende Werthaltungen dekonstruiert.38 Häufig präsentieren die Dramen zwar innergesellschaftliche, aber nicht immer britische Gewalt. Sie projizieren ihre Gewaltdarstellungen auf Bürgerkriegsszenarien in fernen, meist osteuropäischen Ländern und beziehen dies durch räumliche und zeitliche Entgrenzungen auf Defizite westlicher Gesellschaften. In mehreren Szenarien von Attempts on Her Life fungiert Anne als Bürgerkriegsopfer. Der Text legt konkrete Bezüge nahe zur außertextuellen ›Wirklichkeit‹: í The women have been raped, and then disembowelled. The men have hacked each other to pieces. í Brother has killed brother. í Cousin has murdered cousin. Brother has raped sister. […] í Living people set on fire. The cold vapour of the petrol, then the hot rush of flame. The burning people running blazing between the fruit trees which bear their names, scorching the leaves, writhing on the blades of grass, while the soldiers stand by laughing.39

Die Stereotypen des archaischen und grausamen Bruderkriegs stellen sich jedoch letztlich wiederum als medialisierte Konstruktionen heraus. Die zwei Sprecher diskutieren ein Drehbuch. Sie appropriieren bzw. erfinden dabei Annes Geschichte als

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Martin Crimp: Attempts on Her Life. London 1997, S. 12; 21; 42; 56; 58. Zimmermann: Martin Crimp, Attempts on her Life. Postdramatic, Postmodern, Satiric?, S. 109. Martin Crimp: Attempts on Her Life, S. 38. Vgl. Sierz: In-Yer-Face, S. 6. für vergleichbare amerikanische Beispiele siehe Kauffman: New art. Martin Crimp: Attempts on Her Life, S. 13.

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[…] universal thing in which we recognize, we strangely recognize ourselves. Our own world. Our own pain. […] A universal thing which strangely […] Which strangely restores – I think it does – yes – our faith in ourselves.40

Das Oszillieren zwischen Realität und Simulation dekonstruiert hier auch die Grenzen zwischen nationaler, internationaler und lokaler Gewalt. Das Bürgerkriegsszenario dient einmal als Paradigma innergesellschaftlicher Konflikte. Ausgrenzungsmechanismen zwischen Ethnien, Klassen, Altersgruppen, Geschlechtern werden ins Extreme, Archaische, Mythisierte gesteigert und als unmotivierter Konflikt von im Prinzip Gleichen vorgeführt. Gleichzeitig dekuvriert Attempts on Her Life durch das Spiel mit den Parametern Nähe und Ferne, Realität und Konstruktion westliche Externalisierungs- und Appropriationsstrategien. Das Stück deutet an, dass ein Bürgerkrieg nie nur innergesellschaftlich wahrgenommen werden kann und Konfliktlinien sowie Sinnzuweisungen in einem transnationalen Kontext gesehen werden müssen.41 Dies stellt indirekt auch die Frage nach der Verantwortung des vermeintlich zivilisierten Westens. Repräsentieren die beiden Filmleute in Attempts on Her Life einen Bürgerkrieg oder erschaffen sie ihn erst? Crimps Stück irritiert gerade durch die Offenheit der Frage. Allerdings nicht so sehr wie Sarah Kanes Blasted (1995). Das Drama spielt wohl am Plakativsten mit Nähe und Ferne von Gewalt. Es beginnt im sicheren Bühnenrealismus, in einem Hotelzimmer in Leeds, »the kind that is so expensive it could be anywhere in the world«.42 Dort trifft der abgehalfterte Journalist Ian seine junge Geliebte Cate und unterzieht sie einer Reihe von physischen und psychischen Erniedrigungen. Fast wie nebenher ergeht sich der Zyniker dabei auch in homophoben, sexistischen und rassistischen Tiraden: »Hitler was wrong about the Jews who have they hurt the queers he should have gone for scum them and the wogs and fucking football fans send a bomber over Elland Road finish them off«.43 Das Eindringen eines Soldaten und eine Explosion44 bringen das verbal ausgegrenzte Andere in die Bühnenwirklichkeit. Das Hotelzimmer in Leeds mutiert zur globalen Kampfzone; die Handlung verweist gleichzeitig auf Großbritannien und den Bürgerkrieg im ehemaligen Jugoslawien.45 Die vorher in der Beziehung zwischen Ian und Cate personalisierte, durch die Geschlechterrollen naturalisierte

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Martin Crimp: Attempts on Her Life, S. 16. Stücke wie David Edgars Pentecost (1994) oder Abi Morgans Splendour (2000) verdeutlichen dies durch Konflikte zwischen westlichen und östlichen Figuren; David Greigs Europe (1994) durch das Auftreten von west-östlichen Migranten. Sarah Kane: Blasted. In: Kane (Hg.): Complete Plays. London 2001, S. 3. Sarah Kane: Blasted, S. 19. Sarah Kane: Blasted, S. 34; 39. Vgl. Peter-Paul Schnierer: The Theatre of War. English Drama and the Bosnian Conflict. In: Drama and Reality. Hg. von Bernhard Reitz. Trier 1996, S. 106.

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innergesellschaftliche Gewalt nimmt immer konkretere und brutalere Formen an.46 Der Soldat berichtet von seiner Teilnahme an Folterungen, Morden und Vergewaltigungen: Went to a house just outside town. All gone. Apart from a small boy hiding in the corner. One of the others took him outside. Lay him on the ground and shot him through the legs. Heard crying in the basement. Went down. Three men and four women. Called the others. They held the men while I fucked the women. Youngest was twelve. Didn’t cry, just lay there. Turned her over and – Then she cried. Made her lick me clean. Closed my eyes and thought of – Shot her father in the mouth. Brothers shouted. Hung them from the ceiling by their testicles.47

Als Ian das Geschehen als »foreign affairs« abtut und sich weigert, darüber zu schreiben: »No joy in a story about blacks who gives a shit?«,48 vergewaltigt ihn der Soldat, saugt ihm die Augen aus dem Kopf und isst sie auf.49 Ian und Cates Machtverhältnis wird auf das Bürgerkriegsszenario projiziert und umgekehrt: Im Bürgerkrieg eskaliert die weitgehend unsichtbare alltägliche Gewalt: One is the seed and the other is the tree. […] I do think that the seeds of full-scale war can always be found in peacetime civilization and I think the wall between so-called civilization and what happened in central Europe is very, very thin and it can get torn down at any time.50

Darüber hinaus ist auch die vom Journalisten Ian – und implizit der westlichen Welt – praktizierte Trennung zwischen relevanter und nicht-relevanter Gewalt, zwischen externalisierbaren »foreign affairs«51 und medientauglicher heimischer Gewalt nicht länger haltbar. Was man normalerweise in sicherer Distanz im Fernsehen sieht, bricht nun sowohl über Ian und Cate als auch über die Zuschauer herein.52 Gleichzeitig verwischen die Grenzen zwischen Tätern und Opfern; einfache Schuldzuweisungen werden unmöglich: »Don’t know what the sides are here. Don’t know where…«.53 Ian, der Cate quälte und vergewaltigte, wird nicht nur zum Opfer des Bürgerkriegs, sein Dahinvegetieren, sein Tod und die unerklärliche Rückkehr ins Leben machen ihn zu einer Christusfigur in einer absurden gottlosen Welt.54 Caryl Churchills Far Away verwendet dieselbe Strategie der Entgrenzung wie Blasted, transzendiert allerdings nicht nur räumliche, sondern auch zeitliche Grenzen. Auch in diesem Stück erscheint Gewalt zunächst externalisierbar, als Phäno-

––––––– 46 47 48 49 50 51 52 53 54

Vgl. Kenneth Urban: An Ethics of Catastrophe. The Theatre of Sarah Kane. In: PJA. A Journal of Performance and Art 69/23 (2001), S. 45. Sarah Kane: Blasted, S. 43. Sarah Kane: Blasted, S. 48. Sarah Kane: Blasted, S. 49f. Sarah Kane zit.n. Sierz: In-Yer-Face, S. 101. Sarah Kane: Blasted, S. 48. Vgl. Berns: History and Violence in British Epic Theatre, S. 65; vgl. Urban: An Ethics of Catastrophe, S. 45. Sarah Kane: Blasted, S. 40. Vgl. Saunders: »Love Me or Kill Me«, S. 64.

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men eines nicht genau spezifizierten, zeitlich und räumlich weit entfernten Wirklichkeitsraumes. Im ersten Teil foltert der Onkel der kleinen Joan Gefangene. Die Tante erklärt dem verschüchterten Mädchen, dass alles schon seine Richtigkeit hat, da der Onkel nur böse Verräter bestraft. Der zweite Teil zeigt die erwachsene Joan als funktionierenden Teil eines totalitären Regimes. Im dritten Teil glauben die Figuren in einer Welt des globalen Kriegs zu leben, in der sich Nationen, Tiere und einzelne Berufsgruppen in wechselnden Koalitionen befehden. I’ve shot cattle and children in Ethiopia. I’ve gassed mixed troops of Spanish, computer programmers and dogs. I’ve torn starlings apart with my bare hands. And I liked doing it with my bare hands, when my hands were full of blood and feathers I’d get a rush, I could go on all day doing that, it was better than sex. [...] And I know it’s not all about excitement. I’ve done boring jobs. I’ve worked in abattoirs stunning pigs and musicians and by the end of the day your back aches and all you can see when you shut your eyes is people hanging upside down by their feet.55

Was zunächst surreal wirkt, gerät im Schlussmonolog zum Vexierbild der durch ihre Gleichgültigkeit tödlichen Gesellschaft: »[T]here were piles of bodies and if you stopped to find out there was one killed by coffee or one killed by pins, they were killed by heroin, petrol, chainsaws, hairspray, bleach, foxgloves«.56 Jede der drei Szenen beginnt mit einem alltäglichen realistischen Ausgangspunkt, der allmählich verfremdet wird. Die lediglich verbale Repräsentation von Gewalt ermöglicht es den Zuschauern zunächst, das Berichtete zu externalisieren, als Reflexe des Genozids im Dritten Reich, als Überwachungsstaaten des ehemaligen Ostblocks, Bürgerkrieg im ehemaligen Jugoslawien oder als Fiktion, bis am Ende deutlich wird, dass diese Interpretationen auf den von den Figuren vorgeführten Ausgrenzungsmechanismen beruhen. Wie in Blasted ist eine Verdrängung des Geschehens Teil des Problems. Far Away benützt die Darstellung innergesellschaftlicher Gewalt zur Kritik an gesellschaftlichen Denk- und Handlungsmustern, der willkürlichen Trennung zwischen Freund und Feind, motiviert durch das westliche Nützlichkeits- und Machbarkeitsdenken. Die Dramen reduzieren mittels der Entgrenzungen innergesellschaftliche Gewalt auf die abstrakte Struktur von ›us vs. them‹, dies kann sowohl auf den Bürgerkrieg im ehemaligen Jugoslawien projiziert werden wie auf innergesellschaftliche Gewalt in Großbritannien. Und nicht nur dort: mit der Ästhetik der Oszillation verhandelt Ravenhills The Product (2005) die Welt nach dem 11. September 2001. Und Debbie Tucker Greens Stoning Mary (2006) amalgamiert Großbritannien mit Afrika.

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Caryl Churchill: Far Away. London 2000, S. 34–35. Caryl Churchill: Far Away, S. 37–38. Vgl. Siân Adiseshiah: Still a Socialist? Political Commitment in Caryl Churchill’s The Skriker and Far Away. In: Drama and/after Postmodernism. Hg. von Martin Middeke und Christoph Henke. Trier 2007, S. 287–288; José Ramon Prado Pérez: Issues of Representation and Political Discourse in Caryl Churchill’s Latest Work. In: (Dis)Continuities. Trends and Traditions in Contemporary Theatre and Drama in English. Hg. von Margarete Rubik und Elke Mettinger-Schartmann. Trier 2002, S. 97; 101; Elaine Aston: Caryl Churchill. Tavistock 2001, S. 120.

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32 2.3. Intellektuelle

Durch ihre Repräsentationsstrategien unterminieren die Stücke konventionelle Wahrnehmungsmuster. Dies richtet sich gegen die Gewissheiten von Politik und Medien sowie gegen die mit der Ästhetik des Realismus verknüpften Sicherheiten einer stabilen Repräsentation. Durch das Spiel mit Sehgewohnheiten und die Konfrontation der Zuschauer mit verstörenden Beispielen von Gewalt werden die appropriierten intellektuellen Diskurse »experiential rather than speculative«.57 Die Skepsis gegenüber rigider Rationalität ist nicht selten verbunden mit Figuren, die traditionelle Rollenvorstellungen von Intellektuellen als »Priester von Diesseitsreligionen«58 oder kritische Außenseiter repräsentieren. Far Away reflektiert deren ambivalente Rolle mittels der Hutmacher Joan und Todd.59 Sie haben einen der »best jobs«,60 der gute Bezahlung, Kreativität und Prestige gewährleistet. Trotz ihrer privilegierten Stellung bleiben die beiden moralisch integer, wehren sich gegen Korruption, Nepotismus und ungerechten Lohn, übersehen jedoch, dass sie für das repressive System eine zentrale Funktion erfüllen. Die in Schauprozessen zum Tode Verurteilten müssen ihre farbenfrohen Hüte auf dem Weg zur Hinrichtung tragen; danach werden sie zusammen mit den Leichen verbrannt. Joan und Todd nehmen dies als unabänderliche Gegebenheit hin. Joan bedauert lediglich die Zerstörung der Hüte, nicht die Tötung der Gefangenen: »It seems so sad to burn them with the bodies«.61 Doch auch das akzeptiert sie letztlich als wirtschaftlich notwendig sowie ästhetisch und philosophisch reizvoll: Joan: They could reuse them. Todd: Exactly and then we’d be out of work. […] I think that’s the joy of it. The hats are ephemeral. It is like a metaphor for something or other. Joan: Well, life. Todd: Well, life, there you are. [...] You make beauty and it disappears, I love that.62

Die vorhergehende groteske Parade, bei der die Gefangenen »ragged, beaten, chained […] each wearing a hat, on their way to execution«63 vorgeführt werden, wie auch die Andeutungen über im Fernsehen übertragenen Schauprozesse, relativieren Joan und Todds Deutung. Die Hüte repräsentieren »every creative practice that has a privileged access to the construction of meaning, together with all aspects of cultural production (including academic discourse)«.64 Mark Ravenhills The Cut (2006) assoziiert Intellektuelle ebenfalls mit gewaltsamer Disziplinierung. Wie Far Away präsentiert das Stück die Zwangsmaßnahmen eines totalitären Regimes als dystopischen Reflex der außertextuellen Wirk-

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Sierz: In-Yer-Face, S. 98. Jäger: Der Schriftsteller als Intellektueller, S. 5. Vgl. Adiseshiah: Still a Socialist?, S. 286–287. Caryl Churchill: Far Away, S. 17. Caryl Churchill: Far Away, S. 25. Caryl Churchill: Far Away, S. 25. Caryl Churchill: Far Away, S. 24. Adiseshiah: Still a Socialist?, S. 287.

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lichkeit. Der eponyme »Cut« ist ein Initiationsritual für Angehörige der Unterschicht, das die eigene Persönlichkeit auslöscht. Das hegemoniale, auf dem »Cut« basierende System der Unterdrückung funktioniert nur durch die Zustimmung der Unterdrückten. Sie setzen den »Cut« gleich mit Tradition und Befreiung: »I want to be free. Free of, of, of me. Of all this. I want it to be Cut away. I want to be Cut away from this body. Yes – and this history and this wanting and this busyness and this schooling and these, these ties, I want to be released«.65 Der obere Verwaltungsbeamte Paul überwacht die Durchführung der genau geregelten, juristisch abgesicherten Zeremonie. Er versucht John im Namen von »Progress. Humanity. Etcetera. Our core values«66 zu überreden, auf die Operation zu verzichten. Auch gegenüber seiner Frau Susan gibt sich Paul als gewissenhafter Intellektueller, der kritische Distanz zum oppressiven System einhält. Dennoch perpetuiert er durch seine Tätigkeit die anonyme Regierung. Selbst als eine studentische Revolution, an der Pauls Sohn Stephen teilnimmt, die alten Machthaber ablöst, ändert sich nichts an der Gesamtsituation. Stephen übernimmt Pauls kritische Attitüde, steht aber wie sein Vater für die unbewusste Komplizenschaft mit den Mechanismen der Ausgrenzung und gewaltsamen Anpassung. Universitäten fungieren in The Cut als wichtige Institutionen der Repression, die in einem Atemzug mit Gefängnis, Armee und dem Cut genannt werden.67 Howard Barkers The Bite of the Night (1988) spielt direkt in den Ruinen einer Universität. Dort analysiert der Protagonist Dr. Savage nicht nur die Homerischen Mythen vom Fall Trojas, im zeitlich und räumlich entgrenzten Wirklichkeitsraum interagiert er auch mit dem mythischen Personal. Bei seiner Wahrheits- und Wissenssuche verstümmelt er sukzessive Helen und begräbt sie zuletzt bei lebendigem Leib. Helen repräsentiert die »pain of unknowing«68, gefoltert von Savages ungebändigtem Willen zur Wahrheit, die er nie erreichen kann, da sie nicht existiert: »Clarity/Meaning/Logic/And Consistency/None of it/None«.69 Dr. Tinker in Kanes Cleansed (1998) tritt als moralisch-medizinische Instanz auf, die vorgibt, anderen helfen zu wollen, und sie dann einer gewaltsamen Disziplinierung unterzieht. Tinker mutiert zu einem rigoros Folternden und Mordenden, und das Setting der Universität wird zum Laboratorium für die Essenz menschlicher Gefühle, zum Ort ritualisierter und stilisierter Erniedrigungen und Prüfungen. Ein ähnliches Repräsentationsprinzip, jedoch konkreter bezogen auf innergesellschaftliche Gewalt, greift auch für Mark Ravenhills Faust is Dead. Der Philosoph Alain verkündet in einer Talkshow das Ende der Realität und empfiehlt als Gegenmittel körperlichen Schmerz: »We must embrace suffering, we must embrace cruelty«.70 Doch wie in The Cut gibt es kein wirkliches »we«. Die Gesellschaft

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Mark Ravenhill: The Cut and Product. London 2006, S. 14. Mark Ravenhill: The Cut and Product, S. 11. Mark Ravenhill: The Cut and Product, S. 9. Howard Barker: The Bite of the Night. London 1988, S. 2. Howard Barker: The Bite of the Night, S. 3f. Mark Ravenhill: Faust (Faust is Dead), S. 121.

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zerfällt in »us« und »them«. Alains hyperreale Intellektualität kontrastiert mit den Lebenswelten des Chors, der im restringierten Jugendslang von Existenzängsten, von sozialer Depravierung und von Plünderungen erzählt. Alains Thesen divergieren darüber hinaus mit seiner Suche nach dem wahren Leben, das er in einem USA-Trip voll Sex und Drogen finden will. Hyperrealität, intellektueller Diskurs und Realität verschmelzen im Treffen mit der Internetbekanntschaft Donny der sich nur ›wirklich‹ fühlt, wenn er sich mit dem Messer Wunden zufügt. Donny verblutet an einem Schnitt in die Halsschlagader. Angesichts des Blutbades und Donnys Tod verkümmern Alains Theorien zum leeren »blah blah blah«.71 Die moralisch entrüstete Abwendung Petes von seinem intellektuellen Geliebten bringt keine Lösung, da er dessen tödliche Theorien lediglich mit dem Geld und der Macht des Vaters, des Computermoguls Bill, ersetzt. Petes neue Vision einer besseren Welt bleibt gefangen in naiver Hyperrealität: »And I’m gonna keep the peace in Bosnia. I’m gonna take Saddam Hussein out for a pizza. I’m gonna shoot pool with the Pope and have Boris Yeltsin show me his collection of baseball stickers«.72 Faust is Dead operiert mit einer paradoxen Dialektik: Wie in Shopping and Fucking entsteht das existentielle Vakuum der Figuren durch Kommerzialisierungen und Medialisierungen. Alains Analyse vom Ende von Geschichte und Realität wird im Drama repliziert. Die Figuren sind gefangen in Simulationen von Camcordern, Fernsehen und Internet. Alains Theorien erklären Donnys Wunsch nach Selbstverstümmelung und führen indirekt zu seinem Tod.73 Wie in Attempts on Her Life stellt sich die offene Frage, wer für die innergesellschaftliche Gewalt verantwortlich ist und wer sie lediglich analysierend beschreibt. Alains Theorien und seine an Baudrillard angelehnten Lehrparabeln blenden soziale Strukturen aus und gehen letztlich an der Lebenswirklichkeit von Donny und dem Chor vorbei, deren Unterprivilegierung auch Zorn und Zerstörungswut erklären könnte: »Guys looting shops, guys burning cars, guys burning guys«.74

3. Fazit Mit ihrer Ästhetik der Oszillation, dem Zerspielen der Unterschiede zwischen Nah und Fern, vergangen und gegenwärtig, real und medialisiert repräsentieren britische Dramen postideologische Wirklichkeitsräume. Die dabei eingesetzten Vertex-

––––––– 71 72 73

74

Mark Ravenhill: Faust (Faust is Dead), S. 132. Mark Ravenhill: Faust (Faust is Dead), S. 112. Vgl. Johan Callens: Sorting Out Ontologies in Mark Ravenhill’s Faust (Faust Is Dead). In: Mediated Drama. Dramatized Media. Hg. von Eckart Voigts-Virchow. Trier 2000, S. 167–177. Mark Ravenhill: Faust (Faust is Dead), S. 107.

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tungsstrategien brechen Sehgewohnheiten auf und erfüllen das Postulat von ›häretischen Brüchen‹ und der Darstellung des vermeintlich Unsagbaren.75 Gewalt erscheint als de-lokalisiertes, mythisiertes Symptom der conditio humana und gleichzeitig als Reflex konkreter Mangellagen ohne einfache Lösungen. Mittels der anti-realistischen Darstellungsweise werden die kontraproduktiven Oppositionen zwischen »us« und »them«, Täter und Opfer aufgebrochen. Gewalt wird so von dem Standpunkt aus präsentiert, dass es keine festen Standpunkte mehr gibt, geben kann und geben soll, da gerade die Wahrnehmung der Welt in unüberbrückbaren Gegensätzen zu Gewalt führt. Die Dramen stellen sich bei ihren dekonstruktiven Repräsentationen – teilweise explizit, größtenteils implizit – in die Gefolgschaft der postmodernen Philosophien von Baudrillard, Foucault, Derrida und Lyotard. Gleichzeitig distanzieren sie sich vom Habitus des Intellektuellen als Bewohner des akademischen Elfenbeinturms. Die Dramatiker setzen nicht Analyse und die sichere kognitive Distanz ins Zentrum, sondern provokante Repräsentation und »experientiality«, das emotionale Miterleben. Gewalt wird genutzt als schockierendes theatralisches Zeichen, das die Kritik am Status Quo emphatisch besetzt und die Zuschauer emotional in die Handlung einbezieht. Der fehlende normative Rahmen soll bzw. muss durch die eigene Positionierung ersetzt werden: »If they don’t have a clear framework in which to locate the play then they can’t talk about it«.76 Die ambivalenten Intellektuellenfiguren destruieren die Pose des kritischen Außenseitertums. Selbst, wenn sie nicht wie Savage oder Tinker morden, verstümmeln oder foltern, agieren Intellektuelle wie Joan, Todd, Alain und Paul als Komplizen des Unterdrückungssystems, deren vermeintlich neutrale Kritik entweder wirkungslos bleibt oder im Extremfall als integraler Teil des System fungiert. Auf der Metaebene reflektieren die Figuren die Aporie postmodernen Schreibens. Die Stücke spielen mit der medialisierten Populärkultur als selbstverständlichem Teil des Alltags. Die Figuren in Shopping and Fucking verweisen auf die Popgruppe Take That, Fergie und Diana, Fertiggerichte, die Party-Droge Ecstasy oder die Kaufhauskette Harvey Nichols. Attempts on her Life experimentiert mit der Ästhetik von Werbespots und Rap-Songs. Sarah Kanes Crave (1998) zitiert nicht nur Hamlet und die Bibel, sondern auch Alistair Crowley und Joy Division. Die Autoren stellen sich nicht mit empörtem elitärem Gestus gegen die populäre postmoderne Kultur, sondern gerieren sich als Insider.77 Nebenbei funktionalisieren sie Gewalt auch als Alleinstellungsmerkmal, Vermarktungsfaktor und Markenzeichen der provokativen in-yer-face-Dramatik. Gleichwohl verlangen die Stücke durch ihre Vertextungsstrategien implizit auch eine doppelte Distanzierung. Der Einsatz post-Brechtscher Verfremdungen impliziert eine Instanz der Beobachtung, die das Geschehen auf der Bühne strukturiert.

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Vgl. Bourdieu: Die Regeln der Kunst, S. 329; Said: Representations of the Intellectual, S. XIV. Dan Rebellato zit. n. Saunders: »Love Me or Kill Me«, S. 41. Vgl. Kauffman: New Art, Old Masters, and Masked Passion, S. 148.

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Gerade durch die Verweigerung stabiler Werte und Weltauslegungen kombiniert mit Momenten emphatisch besetzter Gewalt schaffen die Stücke Irritationen, die für das Publikum nur durch das Einnehmen einer Beobachterperspektive stabilisiert und interpretiert werden können. Das Spiel mit Distanz und Nähe, Zugehörigkeit zur postmodernen Populärkultur, intellektuellen Diskursen und wechselnden Beobachterpositionen schreibt den Texten weitere Möglichkeiten zur Externalisierung zu. Kritiker konstruieren vor allem Ravenhill und Kane als zynische Vertreter einer jungen Generation von Dramatikern, die in der Nachfolge von Quentin Tarantino Schockeffekte um ihrer selbst willen einsetzen. Mittlerweile klassisch ist Jack Tinkers Verriss von Blasted als »That Disgusting Feast of Filth«.78 Der darauf folgende Sturm der öffentlichen Entrüstung konzentrierte sich zum einen auf die Autorin und ihren Geisteszustand und zum anderen auf die Zeichen der Gewalt. Die Rezensenten diskutierten, ob man dies alles auf der Bühne zeigen dürfe und nicht, ob das Gezeigte in der Wirklichkeit passieren darf.79 Mögen sie noch so raffiniert strukturiert sein, Kritiker sahen und sehen Kanes Stücke gern als Produkte eines »naughty schoolgirl desperately trying to shock«.80 Greifen männliche Autoren explizit den Intellektuellen-Diskurs auf, können sie ebenfalls externalisiert werden. Hier spielt wohl auch die in Großbritannien prävalente Skepsis gegenüber Intellektuellen eine Rolle: »Intellectuals begin in Calais. ›British intellectual‹ is an oxymoron, like ›military intelligence‹«.81 So werden Crimps Stücke als prätentiös und zu clever kritisiert: »Just heartfelt pretension« und »One does end up congratulating the play for the wit and agility with which it disappears up its own self-reflexive futility«.82 Antirealistische Stücke finden sich selten auf den Spielplänen britischer Theater und werden vorwiegend auf dem Kontinent gespielt. Man könnte nun sagen, dass die Kritiker einfach die Stücke nicht verstanden haben, man könnte aber auch einwenden, dass die Dramen keine Auseinandersetzungen mehr mit dem Zustand der gegenwärtigen Welt auslösen, sondern allenfalls mit sich selbst und den Bedingungen des Literatursystems. Nach dem 11. September 2001, George W. Bushs Kriegserklärungen und Tony Blairs (noch) nibelungentreuer Unterstützung sprach sich nicht nur Harold Pinter dezidiert bei seiner Nobelpreis-Rede 2005 gegen den Irak-Krieg aus, es setzte auch eine Welle von semi-dokumentarischen Dramen ein, deren Ziel es war: »to offer authentic news of overlooked thought and feeling […], to give a voice to the voiceless«.83 Victoria Brittain und Gillian Slovos, Guantanamo (2004), David Hares, Stuff Happens (2004) oder Robin Soans’ Talking to Terrorists (2005) schreiben

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Crimp zit.n. Sierz: In-Yer-Face, S. 94–95. Vgl. Saunders: »Love Me or Kill Me«, S. 27–28. Sheridan Morley: http://www.iht.com/IHT/LT/98/lt051398.html; 16. 6. 2000. Timothy Garton Ash: http://www.guardian.co.uk/print/0,,329466051-103390,00.html; 27.4.2007. Zit.n. Aleks Sierz: The Theatre of Martin Crimp. London 2006, S. 51. David Hare in Robin Soans: Talking to Terrorists. London 2005, S. 112.

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innerhalb eines dualistischen Rasters gegen Gewalt. Obwohl sie sich gegen die verkopften postdramatischen Repräsentationsformen der »metropolitan elites«84 wenden, erfüllen sie erneut die von Said geforderte klassische Intellektuellenrolle. Dennoch müssen sie letztlich immer noch auf einfache Lösungen verzichten: »How can you judge me unless you have lived the life I have lived?«.85

Bibliographie Adiseshiah, Siân: Still a Socialist? Political Commitment in Caryl Churchill’s The Skriker and Far Away. In: Drama and/after Postmodernism. Hg. von Martin Middeke und Christoph Henke. Trier 2007, S. 277–291. Aston, Elaine: Caryl Churchill. Tavistock 2001. Barker, Howard: The Bite of the Night. London 1988. – Education is Friction. In: Teaching Literature. Writers and Teachers Talking. Hg. von Judith Kravis. Cork 1995, S. 261–264. Baudrillard, Jean: Simulacra and Simulation. Ann Arbor 1994. Berns, Ute: History and Violence in British Epic Theatre. From Bond and Churchill to Kane and Ravenhill. In: New Beginnings in Twentieth-Century Theatre and Drama. Essays in Honour of Armin Geraths. Hg. von Christiane Schlote und Peter Zenzinger. Trier 2003, S. 49–72. Bourdieu, Pierre: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Frankfurt/M. 1999. Callens, Johan: Sorting Out Ontologies in Mark Ravenhill’s Faust (Faust Is Dead). In: Mediated Drama. Dramatized Media. Hg. von Eckart Voigts-Virchow. Trier 2000, S. 167–177. Carey, John: The Intellectuals and the Masses. Chicago 1992. Churchill, Caryl: Far Away. London 2000. Collini, Stefan: Absent Minds. Intellectuals in Britain. Oxford 2006. Crimp, Martin: Attempts on her Life. London 1997. Foucault, Michel: Die Intellektuellen und die Macht. In: Foucault (Hg.): Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. Band II. Frankfurt/M. 2002, S. 382–393. – Die politische Funktion des Intellektuellen. In: Foucault (Hg.): Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. Band III. Frankfurt/M. 2003, S. 145–152. Garton Ash, Timothy: http://www.guardian.co.uk/print/0,,329466051-103390,00.html; 27.4. 2007. Hay, Malcolm und Philip Roberts: Edward Bond. A Companion to the Plays. London 1978. Hutcheon, Linda: The Politics of Postmodernism. London 2002. Jäger, Georg: Der Schriftsteller als Intellektueller. Ein Problemaufriß. In: Schriftsteller als Intellektuelle. Politik und Literatur im Kalten Krieg. Hg. von Sven Hanuschek, Therese Hornigk und Christine Malende. Tübingen 2000, S. 1–25. Jameson, Fredric: Postmodernism, or, the Cultural Logic of Late Capitalism. Durham 1991. Kane, Sarah: Complete Plays. London 2001. Jennings, Jeremy: Deaths of the Intellectual. A Comparative Autopsy. In: Public Intellectuals. Hg. von Helen Small. Oxford 2002, S. 110–130.

––––––– 84 85

David Hare in Robin Soans: Talking to Terrorists, S. 112. Robin Soans: Talking to Terrorists, S. 96.

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Kauffman, Linda S.: New Art, Old Masters, and Masked Passions. In: Public Intellectuals. Hg. von Helen Small. Oxford 2002, S. 131–158. Morley, Sheridan: http://www.iht.com/IHT/LT/98/lt051398.html; 16. 6. 2000. Prado Pérez, José Ramón: Issues of Representation and Political Discourse in Caryl Churchill’s Latest Work. In: (Dis)Continuities. Trends and Traditions in Contemporary Theatre and Drama in English. Hg. von Margarete Rubik und Elke Mettinger-Schartmann. Trier 2002, S. 91–104. Ravenhill, Mark: Plays One. London 2001. – The Cut and Product. London 2006. Said, Edward: Representations of the Intellectual. The 1993 Reith Lectures. London 1994. Saunders, Graham: »Love me or Kill me«. Sarah Kane and the Theatre of Extremes. Manchester 2002. Schnierer, Peter Paul: The Theatre of War. English Drama and the Bosnian Conflict. In: Drama and Reality. Hg. von Bernhard Reitz. Trier 1996, S. 101–110. Sierz, Aleks: Cool Britannia? In-Yer-Face Writing in the British Theatre Today. In: New Theatre Quarterly 14 (1998), S. 324–333. – In-Yer-Face Theatre. British Drama Today. London 2001. – The Theatre of Martin Crimp. London 2006. Soans, Robin: Talking to Terrorists. London 2005. Tabert, Nils: Playspotting. Die Londoner Theaterszene der 90er. Reinbek 1998. Tönnies, Merle: Problematic Youth Identities in Contemporary British Drama. In: Anglistik & Englischunterricht 63 (2000), S. 107–123. Urban, Kenneth: An Ethics of Catastrophe. The Theatre of Sarah Kane. In: PJA. A Journal of Performance and Art 69/23 (2001), S. 36–46. Williams, Raymond: Keywords. A Vocabulary of Culture and Society. London 1976. Zimmermann, Heiner: Martin Crimp, Attempts on her Life. Postdramatic, Postmodern, Satiric? In: (Dis)Continuities. Trends and Traditions in Contemporary Theatre and Drama in English. Hg. von Margarete Rubik und Elke Mettinger-Schartmann. Trier 2002, S. 105–124.

Abstract Bis Ende der 1980er agierten britische Dramatiker wie Edward Bond oder Howard Brenton als ›Gewissen der Nation‹, die die Darstellung innergesellschaftlicher Gewalt explizit oder implizit in Beziehung setzten zu den Defiziten des kapitalistischen Systems. Die zeitgenössische Dramatik von u. a. Mark Ravenhill, Sarah Kane, Howard Barker und Caryl Churchill ist im Gegensatz dazu geprägt von der condition postmoderne, dem unbestimmten Gefühl der Unsicherheiten und der postideologischen Relativität. Sie ersetzt den »meaning bullshit« (Ravenhill, Some Explicit Polaroids) der älteren Generation durch emotional aufgeladene Gewaltdarstellungen ohne sinnstiftenden Ordnungsrahmen. Die Autoren verweigern größtenteils den intellektuellen Habitus und die didaktisierende Selbstauslegung ihrer Stücke. Trotz dieses anti-aufklärerischen Impetus' sind die Autoren immer noch Teil des intellektuellen Diskurses, die die Fragmentierung von Gesellschaften und nationalen Identitäten mit theatralischen Mitteln verhandeln. Die dabei angewandten

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Darstellungsstrategien – das Oszillieren zwischen Nähe und Ferne, global und lokal, Referentialität und Theatralität – greifen sehr oft explizit oder implizit auf die postmodernen Theorien von Foucault, Derrida, Barthes, Lyotard und Baudrillard zurück. Innergesellschaftliche Gewalt wird zum Ende der Grands Récits und zur allgegenwärtigen Welt der Simulationen und Simulakren in Beziehung gesetzt. Auf der inhaltlichen Ebene erscheint so Gewalt als Konsequenz der veränderten Welt und der veränderten Welterklärungsmodelle; auf der theatralisch-performativen Ebene wird sie funktionalisiert als bühnenwirksames Gegenmittel, als Zeichen von Wirklichkeit und Wahrheit. Die Stücke reflektieren dadurch oft auch die prekäre Rolle des Intellektuellen in einer Zeit der Ungewissheiten als Schwesters Mörder und Mörders Beobachter.

Wolfgang Höpken

Die Gedanken der Tat Intellektuelle und Gewalt im früheren Jugoslawien

I. Die Rolle, die Intellektuelle in den kriegerischen Verwerfungen auf dem Balkan gespielt haben, ist schon des Öfteren thematisiert worden.1 Auch diejenigen, die die chronique scandaleux aus Staatszerfall, Krieg und Gewalt nicht mit dem Auge des professionellen Beobachters verfolgt haben, wissen darum, dass Schriftsteller, Historiker und Journalisten zur Begründungsinstanz des Nationalismus wurden und mit ihrem Wirken dazu beitrugen, jenes Klima der Gewaltbereitschaft diskursiv zu erzeugen, das den Schritt in den Krieg erst ermöglichte. Auf allen Seiten und in durchaus vergleichbarer Weise griffen Intellektuelle in den achtziger und neunziger Jahren mit dem Medium des Wortes und der Schrift in die Politik ein, in besonderer Weise aber geschah dies in Serbien. Auch hier waren es, dies muss sehr nachdrücklich betont werden, nicht die Intellektuellen, die zu Brandstiftern des Exzesses wurden, sondern nur einige;2 allerdings, und daher soll sich das Augenmerk vornehmlich auf sie richten, waren es gerade diese wenigen, welche zeitweilig, von der Mitte der achtziger bis zum Ende der neunziger Jahre, die Diskurshe-

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2

Vgl. u. a. Jasna Dragoviü-Soso: Saviours of the Nation: Serbia´s Intellectual Opposition and the Revival of Nationalism. London 2002 (dazu auch: Aleksandar Pavkoviü: The Origins of Contemporary Serbian Nationalism. Yet another Case of »trahison des clercs«? In: Slavonic and East European Review 82, 1 (2004), S. 79í88); Dies.: Rethinking Yugoslavia: Serbian Intellectuals and the »National Question« in Historical Perspective. In: Contemporary European History 13 (2004), S. 170í184; Svetlana Slapšak: Ogledi o bezbrižnosti. Sprski intelektualci i jugoslavenski rat, Beograd 1994; Olivera Milosavleviü: U tradiciji nacionalizma ili sterotipi srpskih intelektualca XX. veka o »nama« i »drugima«. Beograd 2002; Slavenka Drakuliü: Intellectuals as Bad Guys, in: East European Politics and Societies 13,2 (1999), S. 271í277; Audrey Helfant Budding: Serb Intellectuals and the National Question 1961í1991. Ph.D. Harvard University 1998; Nicholas J. Miller: Return Engagement: Intellectuals and Nationalism in Yugoslavia, in: Jasna Dragoviü-Soso/Lenard Cohen (Hg.): State Collapse in South-eastern Europe: New Perspectives on Yugoslavia´s Disintegration. Lafayette 2007. Als publizistische Beispiele für jene Intellektuellen, die sich dem nationalistischen Diskurs verweigerten, vgl. die Sammelbände: Druga Srbija. Beograd 1992; Druga Srbija – deset godina posle 1992í2002. Beograd 2002; Nebojša Popov (Hg.): Srpska strana rata. Beograd 1996.

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gemonie zu erobern und Wirkungsmacht zu entfalten vermochten. Unter der Gewalt ihrer Worte wurde Serbien zu dem, was Odo von Marquard einmal als »monomythische Gemeinschaft« bezeichnet hat. In ihrem Wirken trat der Mythos aus dem Schatten des »Speichergedächtnisses« (Aleida Assmann) heraus und wurde zum Motor politischen Handelns. In Jugoslawien begegnet uns der Intellektuelle also offenbar nicht in jener »normativen Triade« von Kritik, Unbestechlichkeit und Unabhängigkeit,3 die wir so gerne mit ihm identifizieren. Er tritt uns vielmehr in der Rolle des Täters, des Wort-Täters der Gewalt, entgegen. Es ist dies eine soziale Figur, mit der sich die Theorie des Intellektuellen nach wie vor schwer tut, die sie immer wieder aufs neue wendet4 und die sie, ganz fixiert auf den Intellektuellen als der Wahrheit verpflichteten, uneigennützigen Herrschaftskritiker, von Julian Benda bis Pierre Bourdieu und Edward Said, zumeist nur in den Kategorien des »Verrats« zu fassen vermag.5 Auch im jugoslawischen Fall hat dieses Interpretament immer wieder herhalten müssen, um die verstörende Rolle der Intellektuellen in der Zerfallskrise des Staates einzuordnen. Die (serbischen) Intellektuellen galten als Beispiel dafür, »how individuals, whose self-defined social role is based on their defence of moral principles can be seduced by particularist – in this case: nationalist í ideology«.6 Der Intellektuelle im Dienste autoritärer Systeme und gewaltbereiter Projekte und nicht als Repräsentant universeller Werte, diese Vorstellung ist mit einem am ›Modell des J’accuse‹ orientierten Begriffsverständnisses in der Tat nur unzureichend zu greifen. Allemal für die historische Analyse, insbesondere des Intellektuellen im 20. Jahrhundert, eignet sich ein solchermaßen emphatischer Intellektuellen-Begriff kaum, wird er doch der Vielfalt intellektueller Rollen, die ihn in gleichem Maße als Kritiker der Macht wie als Legitimationsinstanz von Herrschaft erscheinen lässt, nicht gerecht. Jüngere Arbeiten zur vergleichenden Erforschung der Geschichte des Intellektuellen haben denn auch darauf verwiesen, dass es zumeist eher spezifische lokale Kontexte, historische Erfahrungen und nationale politische Kulturtraditionen, denn universalisierbare Eigenschaften und Handlungsmaximen sind, die die konkrete Form intellektuellen Engagements in unter-

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Wolfgang Bialas: Vom unfreien Schweben zum freien Fall. Ostdeutsche Intellektuelle im gesellschaftlichen Umbruch. Frankfurt/M 1996, S.15. Vgl. z. B. die Sammelbände Uwe Justus Wenzel (Hg.): Der kritische Blick. Über intellektuelle Tätigkeiten und Tugenden, Frankfurt/M. 2002; Martin Meyer (Hg.): Intellektuellendämmerung? München 1992; Jeremy Jennings/Anthony Kemp-Welch (Hg.): Intellectuals and Politics. London, New York 1997; Ian McLean, Alan Montefiore, Peter Winch (Hg.): The Political Responsibility of Intellectuals. Cambridge 1990; zur Diskussion um die Legitimität politischen Engagements des Intellektuellen vgl. auch Jürgen Habermas: Heinrich Heine und die Rolle des Intellektuellen in Deutschland. In: Ders.: Zeitdiagnosen. Frankfurt/M. 2003, S. 50í77. Julian Benda: La trahison des clercs, Paris 1927 (dt.: Der Verrat der Intellektuellen. München 1978.); Pierre Bourdieu: Die Intellektuellen und die Macht. Hamburg 1991; Edward Said: Götter, die keine sind. Der Ort der Intellektuellen. Berlin 1997. Dragoviü-Soso: Saviours of the Nation, S. 2.

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schiedlichen Zeiten und Gesellschaften determiniert haben.7 Gerade die ost- und südosteuropäischen Länder, in denen der Intellektuelle immer wieder als »aufgeregter Gesinnungsethiker«8 im Dienste nationaler und nationalistischer Projekte auf die Bühne getreten ist,9 verweigert sich daher jedem normativen und generalisierenden Verständnis. Nicht nur das politische Wirken jugoslawischer Intellektueller, auch das Narrativ, mit dem diese in den achtziger und neunziger Jahren einer durch Systemzerfall, Krise und staatliche Desintegration amorph werdenden Gesellschaft neuen Sinn zu geben suchten, ist schnell erzählt.10 Es war diese eine Narration, die weit mehr war als intellektuelle Gegenwartskritik und alltagspolitische Parteinahme. Aus den Versatzstücken des intellektuellen Diskurses formte sich vielmehr eine holistische

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Jerome Karabel: Towards a Theory of Intellectuals and Politics. In: Theory and Society 25 (1996), S. 205í233; Thomas Hertfelder: Kritik und Mandat. Zur Einführung. In: Gangolf Hübinger, Thomas Hertfelder (Hg.): Kritik und Mandat. Intellektuelle in der deutschen Politik. Stuttgart 2000, S. 15f.; Denis Sdvižkov: Das Zeitalter der Intelligenz. Zur vergleichenden Geschichte der Gebildeten in Europa bis zum Ersten Weltkrieg. Göttingen 2006, S. 185f.; Ingrid Gilcher-Holtey: Prolog. In: Dies. (Hg.): Zwischen den Fronten. Positionskämpfe europäischer Intellektueller im 20. Jahrhundert. Berlin 2006, S. 11ff.; Thomas Kroll: Kommunistische Intellektuelle in Westeuropa. Frankreich, Österreich, Italien und Großbritannien im Vergleich (1945í1956). Köln, Weimar, Wien 2007, S. 13f. Max Weber: Politik als Beruf. Frankfurt/M. 1999, S. 67. Vgl. György Konrad, Iván Szelény: Die Intelligenz auf dem Wege zur Klassenmacht. Frankfurt/M. 1978, hier S. 133ff.; für das ungarische Beispiel auch Miklós Molnár: The Hungarian Intellectuals and the Choice of Commitment and Neutrality. In: Ian McLean, Alan Montefiore, Peter Winch (Hg.): The Political Responsibility of Intellectuals, S. 189ff. Eine materialgesättigte Analyse dieses Narrativs bietet Olivera Milosavljeviü: U tradiciji nacionalizma, ili sterotipi srpskih intelektualaca XX. veka o »nama« i »drugima«. Beograd 2002; ferner Nenad Stefanov: Geschichte als Religion. Anmerkungen zur gesellschaftlichen Genese der historischen Opfermythologie im serbischen Ethnonationalismus. In: Ulf Brunnbauer, Andreas Helmedach, Stefan Troebst (Hg.): Schnittstellen. Festschrift für Holm Sundhaussen. München 2007, S. 449í460; Florian Bieber: Nationalismus in Serbien vom Tode Titos bis zur Ära Miloševiü, Wien 2005; Tanja Popoviü: Die Mythologisierung des Alltags. Kollektive Erinerungen, Geschichtsbilder und Vergangenheitskultur in Serbien und Montenegro seit Mitte der 1980er Jahre. Zürich 2003; Srdjan Petkoviü: Der nationale Diskurs unter Einfluß von Kriegspropaganda, Kirche und Folklorismus. Zur Entwicklung der serbischen Selbstwahrnehmung. Diss.Phil., Universität Duisburg-Essen 2003; Slobodan Naumoviü: Instrumentalized Tradition: Traditionalist Rhetoric, Nationalism and Political Transition in Serbia 1987í1990. In: Miroslav Jovanoviü, Karl Kaser, Slobodan Naumoviü (Hg.): Between the Archives and the Field: A Dialogue on Historical Anthropology of the Balkans, Belgrade. Graz 1999, S. 179í217; Nenad Dimitrijeviü: Words and Death: Serbian Nationalist Intellectuals. In: András Bozoki (Hg.): Intellectuals and Politics in East Central Europe. Budapest 1999, S. 119í148; Aleksandar Pavkovic: The Serb National Idea: A Revival 1986í1992. In: Slavonic and East European Review LXXII, 3 (1994), S. 440í455; Ders.: From Yugoslavism to Serbism: The Serb National Idea 1986í1996. In: Nations and Nationalities IV, 2 (1998), S. 511í528.

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Verortung der eigenen nationalen Gemeinschaft, ein umfassendes Mythologem, in das die (Neu-)Deutung der Vergangenheit ebenso eingewebt wurde wie die Zuweisung vermeintlich nationaler Wesensmerkmale und Mentalitäten, in der politische Situationsanalyse sich mit dem Aufruf zum Handeln verband und Gegenwartsdiagnose mit Erlösungsversprechen verknüpft wurde. In einer Zeit, in der die Überzeugungskraft ganzheitlicher Erzählungen und geschlossener Identitätsentwürfe längst geschwunden war, schuf das intellektuelle Wort in Serbien hermetische Sinnschemata, in denen dem Einzelnen und der Gemeinschaft als Ganzes feste Orientierungen zugewiesen wurden. Im Zentrum dieser »Groß-Erzählung« stand dabei die Diskursfigur des Leidens und des Opfers. Dieser »Leidensnationalismus«, wie es Hermann Lübbe einmal genannt hat, allerdings ohne dabei Serbien im Blick zu haben, machte das vermeintliche Schicksal von Deprivation, Bedrohung und physischer Gefährdung zur zentralen Achse und zur strukturierenden Konstante der historischen Selbstverortung. Seit dem Mittelalter, vom »Ende des serbischen Staates« in der Schlacht auf dem Kosovo 1389 über die Zeit der osmanischen Herrschaft, den Ersten und den Zweiten Weltkrieg bis hin zu den Auseinandersetzungen im zerfallenden Jugoslawien der achtziger/neunziger Jahre, wurde das Bild der serbischen Geschichte als einer einzigen Abfolge von »Zerfall«, »Auflösung« und »Zersetzung« gezeichnet.11 Seinen bedrohlichsten und zugleich prägenden Ausdruck, so dieses Autostereotyp, habe dieses historische Schicksal in der Gefahr der physischen Vernichtung und des Genozids am serbischen Volke gefunden – einer Bedrohung, die ebenfalls nicht nur in den Gewalterfahrungen des Zweiten Weltkriegs lokalisiert wurde, sondern die in gleicher Weise zu einer dreihundertjährigen, »auf breiter Grundlage geplanten« Konstante der serbischen Geschichte stilisiert wurde.12 Auch die aufgebrochenen Gegenwartsprobleme des zerfallenden Jugoslawien waren in diesem Bild lediglich Wiederholung und neuerlicher Beleg für diese Geschichte der physischen Gefährdung,13 die das Schicksal der Serben in seinem Singularitätsanspruch an die Seite von Juden und Armeniern stelle.14

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Radovan Samardžiü: Na rubu istorije. Beograd 1994, S. 167; Veselin: Djuretiü: Razaranje Srpstva u XX. Veku. Beograd 1992, bes. S. 41ff. SANU (Hg.): Sistem neistina o zloþinama genocida 1991í1993 godine. Beograd 1994; Radovan Samardžiü: O istorijskom karaktera Srba. In: Zadužbina Miloš Crnjanskog: Srbi i komentari. Beograd 1991, S. 165f.; Nikola Samardžiü: Genocid nad Srbima 1941í1945. In: Ebenda, S. 244 (dort auch das Zitat); Petar Opaþiü, Radomir Rakiü: Genocid nad Srbima u XX. veku. Beograd 1992; Vasilie Krestiü: Genocidom do Velike Hrvatske, Novi Sad. Beograd 1998; Ders.: O genezi genocida nad Srbima u NDH. In: Književne novine vom 15.9.1986; Dimitrije Bogdanoviü: Knjiga o Kosovu. Beograd 1990, hier S. 422; aus klerikaler Perspektive das Jahr 1389 mit dem Zweiten Weltkrieg als historische Achsen dieser konstanten Genozidgefahr verbindend vor allem Atanas Jevtiü: Od Kosova do Jadovna. Šabac 1987. Vgl. u. a. Miodrag Paviü: Evropa i Srbija. In: Catena mundi, tom II, Kraljevo. Beograd 1995, S. 919; Matija Beükoviü: Srbija nema preþih zadataka nego da je ima. In: Književne novine Nr. 772 vom 15.3.1989. Milroad Ekmeþiü; Srbi na istorijskom raskršüu. Beograd 1999, S. 457.

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So wie die eigene Opferrolle und die Gefahr der physischen Bedrohung zur Strukturachse der serbischen Geschichte gemacht wurden, so waren der Widerstand und die beständige Bereitschaft zum Kampf gegen dieses Schicksal eine weitere der narrativen Achsen dieses Weltbildes. Dem Mythos vom ewig leidenden Volk wurde der Mythos des ewig heroischen, stets um seine Existenz kämpfenden Volk beigegeben.15 Andere Sinnelemente dieser Erzählung wären zu ergänzen, sie sollen hier nur benannt werden, etwa jene des Verrats und der Uneinheit als ebensolche Konstanten der eigenen Vergangenheit, die dieser eine geradezu tragische Dimension verliehen hätten.16 Zur »narrativen Abbreviatur« (Jörn Rüsen) kondensiert wurde diese historische Selbstdeutung im Kosovo-Mythos, dessen mediale Revitalisierung den Nationalismus der achtziger/neunziger Jahre bekanntlich begleitete.17 Leidenserfahrung, Opfertum und Heroismus erscheinen dabei jedoch nicht nur als Elemente einer konstruierten Vergangenheit, sondern sie werden zu habituell eingeschriebenen Erfahrungen gemacht, gleichsam zu kollektiven Wesensmerkmalen der Nation primordialisiert. In der Semantik einer anachronistischen Vorstellung von »National-Charakteren« wurden sie zu »ethnopsychischen und mentalen Merkmalen des serbischen Volkes« stilisiert. Schriftsteller und Historiker, Psychologen und Psychiater suchten nach einem »historischen serbischen Archetyp«,18 in den sich die geschichtlichen Erfahrungen zu kollektiven Tugenden versteinert hätten.19 Es war ein organisches, ja biologistisches Verständnis von Gemeinschaft, das die Nation als einen für Krankheit anfälligen Körper begriff. Selbst (ehemals) marxistische Intellektuelle, die, wie der Philosoph Mihajlo Markoviü, in den fünfziger/sechziger Jahren zu den ideologischen Gründungsvätern des jugoslawischen Sozialismus, später zu dessen linken Kritikern gehört hatten, stiegen hinab in die Niederungen essentialistischer Nationsvorstellungen. So wie ein einzelner Mensch die Schwächen seines Charakters erkennen könne, so Markoviü, so sei auch die Nation in der Lage »die Mängel ihrer kollektiv geteilten Mentalität zu

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Samardžiü: Na rubu istorije, S. 186í191. Ebenda, S. 255; Ders.: Istorijski karakter Srba. In: Aleksa Djilas (Hg.): Srpsko pitanje. Beograd 1991, S.10; Dobrica ûosiü: Srpsko pitanje-demokratsko pitanje. Beograd 1992, S. 24. Zur Rolle des Kosovo-Mythos in diesem Diskurs vgl. anstelle vieler Holm Sundhaussen: Kriegserinnerung als Gesamtkunstwerk und Tatmotiv: Sechzehnhundert Jahre KosovoKrieg (1389í1989). In: Dietrich Beyrau (Hg.): Der Krieg in religiösen und nationalen Deutungen der Neuzeit. Tübingen 2001, S. 11í40. Dobrica ûosiü: Promene. Novi Sad 1992, S. 98; Samardžiü: Na rubu istorije, S. 174; Michajlo N. Stojanoviü: O istorijskim korenima srpske psihe. In: Književne novine Nr. 891 vom 1.9.1994, S. 11; Jovan Strikoviü: Snaga archetipa. In: Politika vom 13.8.1994, Mila Aleþkoviü-Nikoliü: Muke maminog junaka. In: NIN vom 30.12.1999, S. 32ff.; Vladimir Veljkoviü: Politiþki moral Srba od Nemanjiüa do Miloševiüa. Beograd 2001. Vgl. Jovan Mariü: Kakvi smo mi Srbi. Prilozi za karakterogiju Srba. Beograd 1997.

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ergründen«.20 Und die serbische Nation wurde in diesem Sinne als »krank«, als sich im Zustand der »Invalidität« befindende Nation,21 diagnostiziert. Zwei Dinge fallen an diesem pathosgeladenen Diskurs auf und mit beiden hebt er sich auch von anderen, in den neunziger Jahren ebenfalls bisweilen in nationale Mythenbildungen zurückfallenden intellektuellen Debatten in den übrigen Transformationsländern Osteuropas ab: zum einen ist dies der auffällig sakrale Charakter, der dieses Selbstbild zur politischen Religion macht. Schon die Grundfigur des Leidens und der eigenen Opferrolle legt diese sakrale Dimension offen. Die serbische Geschichte wurde als »Golgatha-Weg«, als »große Metapher von Sünde, Tod und Wiederauferstehung« erzählt;22 die Serben erschienen – in Übernahme klassischer Auserwählungsmythen – als »Christus’ unsterbliches Volk«23. In der Formel des Schriftstellers Matija Beckoviü, einer der einflussreichsten intellektuellen Deutungsakteure dieser Zeit, vom Kosovo als dem »serbischen Jerusalem«, in der Ernennung der Serben zum »dreizehnten, am meisten verlorenen und leidenden Stamme Israels«, mit der sein Schriftstellerkollege Vuk Draškoviü 1985 in einem »Brief an die israelischen Schriftsteller« eine jüdisch-serbische Solidargemeinschaft anmahnte, oder in der Analogiebildung der Schlacht auf dem Amselfeld mit der alttestamentarischen Schlacht von Masada wurden bewusst Parallelen zur jüdischen Erinnerungskultur gezogen.24 Die Hintergründe für diese sakrale Aufgeladenheit, von der auch Autoren, die nicht im Umfeld der orthodoxen Kirche agierten, nicht frei waren, sind nicht leicht zu erschließen. Sie sind mit der Notwendigkeit einer religiösen Semantik, auf die jede Begründung des Nationalen angewiesen ist, um eine emotional bindende

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Mihajlo Markoviü: Srpski narod na prelazu u novi miljenium. In: Geopolitþka stvarnost Srba. Zbornik radova. Beograd 1997, S. 386; ähnlich ûosiü: Promene, S. 122. Samardžiü: Na rubu istorije, S. 216. Radovan Samardžiü: Ideje za srpsku istoriju. Beograd 1989, S. 71; Ders.: Na rubu istorije, S. 165, 185, 241f., 347; Atanas Jevtiü: Sveti Sava i kosovski zavet. Beograd 1992; Jovan Raškoviü: Duša i sloboda. Novi Sad 1995, S. 122, 172. Zit. nach Radmila Radiü: Crkva i »srpsko pitanje«. In: Nebojša Popov (Hg.): Srpska strana rata, S. 267í304, hier S. 278; ûosiü: Srpsko pitanje, S.34; Ders.: Šta je stvarno rekao Dobrica ûosiü. Beograd 1995, S. 62; Samardžiü: O istorijskoj sudbini, S. 169, 172; Zum Geschichtsbild der Orthodoxen Kirche vgl. auch Klaus Buchenau: Vom traumatischen Gedächtnis zur politischen Aktion: Die Serbisch Orthodoxe Kirche und der Kosovokonflikt. In: Werner Rammert, Gunther Kuanthe, Klaus Buchener, Florian Altenhöner (Hg.): Kollektive Identitäten und kulturelle Innovationen. Ethnologische, soziologische und historische Studien. Leipzig 2001, S. 127í154. Matija Beükoviü: Kosovo je najskuplja reþ, in: Glas Crkve 3 (1989); Vuk Draškoviü: Ogledi. Beograd 1987, hier S. 73ff.; zu derartigen und anderen Bezügen zur jüdischen Erinnerungskultur auch Marko Živkoviü: The Wish to be a Jew. The Power of the Jewish Trope in the Yugoslav Conflict. In: Cahiers de l´URMIS 6 (2000), S. 69í84. Eine visuelle Form dieses sakralisierten Selbstbildes findet sich in der Gestaltung einer in den neunziger Jahren erschienenen Geschichte der Serben des Journalisten Vasa Kazimiroviü, deren im Quadrat zusammengelegte vier Bände die bildliche Darstellung von Jesus Christus am Kreuze ergeben. Vaso Kazimiroviü: Srbija i Jugoslavija 1914í1945. Kragujevac 1995.

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Vergemeinschaftung zu erreichen,25 nur teilweise zu erklären. Eher scheint sich diese aufdringliche Sakralität aus der multiplen, ja totalen Sinnkrise zu ergeben, als die der Zustand der serbischen Gesellschaft der achtziger/neunziger Jahre wahrgenommen wurde. Der Zerfall von Staat und System, der damit einhergehende Verlust nationalstaatlicher Einheit aller Serben – all dies wurde von den Intellektuellen als fundamentaler Krisenzustand gedeutet, der in ihren Augen nur durch die Erarbeitung nicht nur politischer, sondern umfassender, seinsmäßiger Sinnalternativen überwindbar zu sein schien. Derart kohärente Sinnordnungen aber, und hier wäre Friedrich Wilhelm Graf zu folgen, sind nur mehr im Rekurs auf das Religiöse zu begründen.26 Ein zweites prägte diesen Diskurs: Die Selbstthematisierung der eigenen Vergangenheit als Geschichte des Leidens ging einher mit anti-individualistischen und anti-modernen Ordnungsalternativen, die der serbischen Gesellschaft als Ausweg aus der vermeintlichen Sinn- und Existenz-Krise angeboten wurden. Als rückwärtsgewandtes Ideal berufen wurde eine auf orthodoxen Werten und einer sozialen und ethnischen Homogenität beruhende »serbische Demokratie«, die sich »dem Westen« moralisch stets überlegen gezeigt habe.27 Serbien, so formulierte der Schriftsteller und zeitweilige jugoslawische Präsident Dobrica ûosiü in zivilisationskritischer Manier, habe zu wählen zwischen der »Trivialität einer westlichen Konsumgesellschaft« oder der Rückkehr zu seinen »wahren Werten«.28 Zwar verband sich diese Selbstdeutung mit dem Verweis auf die besondere »Freiheitsliebe« der Serben als eine jener primordialen »Charaktereigenschaften« der serbischen Nation. Freiheit war in dieser Denkfigur aber nicht gemeint als staatsbürgerliche Freiheit des Individuums, sondern als eine metaphysische, sich im Opfer für das ethnische Kollektiv realisierende Freiheit. »Freiheit ist keine Sache des Gesellschaftsvertrages«, so der Historiker Radovan Samardžiü in deutlicher Abgrenzung gegenüber allen aufklärerischen Freiheitsbegriffen, sondern nur durch Opfer und Leid gelange man zur wahren Freiheit.29 Wo und wie war die Gewalt in diesem Selbstvergewisserungsdiskurs verortet? Wer sich die Botschaften der Intellektuellen dieser Zeit anschaut, der wird kaum einmal die ungeschminkte Verherrlichung der Gewalt finden. Der nationalistische

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Friedrich Wilhelm Graf: Die Wiederkehr der Götter. Religion in der modernen Kultur. München 2004, S. 119. Ebenda, S. 111. ûosiü: Srpsko pitanje, S. 38, 43f; Ders.: Promene, S. 172í174; ganz ähnlich auch schon 1967: Ders.: Stvarno i moguüe, 2. Aufl. Ljubljana 1988, S. 6; R. Samardžiü: O istorijskoj karakter Srba, S. 14; Mihajlo Markoviü: Projekt svoje sudbine. In: Srbija. Sve o srpskom nacionalnom programu April 1991, S. 10; Radovan Samardžiü: Program ipak potreban. In: ebenda, S. 44; zur Kritik an diesem Anti-Modernismus Ivan ýoloviü: Politika Simbola. Beograd 1997, S. 27ff.; Nebojša Popov: Traumatologija partijske države. In: Ders. (Hg.) Srpska strana rata, S. 114ff. ûosiü: Promene, S. 107. Radovan Samardžiü: Politika vom 11.8.1989; Ders. In: SANU (Hg.): Kosovska bitka 1389 godine i njene posledice. Beograd 1991, S. 207.

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Diskurs der serbischen Intellektuellen folgte nicht jener Semantik der Gewaltidealisierung, wie wir sie beispielsweise aus den intellektuellen Debatten der Sattelzeit zwischen 1890 und 1914 kennen. Es war nicht die Überhöhung des Gewaltaktes zur »kinetischen Kraft der Selbstreinigung«30 und zum Geburtshelfer einer neuen Ordnung, als welche die Gewalt beschrieben wurde. Krieg und Gewalt wurden auch nicht, wie bei den Lieferanten der sogenannten »Ideen von 1914«, zum berauschenden Erlebnis stilisiert, »eingehüllt in ein fein gesponnenes Netz nobler und verschönernder Empfindungen«.31 Die Sprache der serbischen Intellektuellen war eine andere als die eines Ernst Jünger oder des italienischen Futurismus, anders auch als jene der rumänischen Intellektuellen, die wie Emil Cioran oder Mircea Eliade in den dreißiger Jahren in einer Mischung aus Zivilisationskritik und religiös-orthodoxer Metaphysik die Gewalt beschworen. Das Verhältnis der nationalistischen Intellektuellen der achtziger/neunziger Jahre zur Gewalt kommt schließlich auch nicht mit jener Leichtigkeit daher, mit der Intellektuelle im Umfeld kommunistischer Parteien immer wieder eine Gewalt adelten, die sie für die Realisierung der revolutionären Utopie als unvermeidbar erachteten.32 Es ist vielmehr ein uninspirierender Traditionalismus,33 ein romantischer Nationalismus, der in das 19. Jahrhundert verweist, der die Beschreibungen der serbischen Intellektuellen beherrscht, und auch die Begründungsrhetorik der Gewalt weist im Grunde genommen auf die Semantik eines solchen konventionellen Nationalismus des 19. Jahrhundert zurück. Ihre Narration folgte zum einen einem Selbstverständnis von Nation, das, ganz wie im 19. Jahrhundert und ungebrochen von den Gewaltschocks des 20. Jahrhunderts, die Gewalt als quasi natürliche

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Barbara Beßlich: Wege in den »Kulturkrieg«. Zivilisationskritik in Deutschland 1890í1914. Darmstadt 2000, S. 6. Norbert Elias: Studien über die Deutschen. Frankfurt/M. 1989, S. 275. Vgl. Mark-Christian Busse: Faszination und Desillusionierung. Stalinismus-Bilder von sympathisierenden und abtrünnigen Intellektuellen. Pfaffenweiler 2000; am Beispiel deutscher Intellektueller um die »Gesellschaft der Freunde des neuen Russland« und deren Haltung zur Gewalt des bolschewistischen Staates Elke Suhr: Die »Gesellschaft der Freunde des neuen Russland«: Im Dienste der Kommunistischen Internationale, in: Gangolf Hübinger, Thomas Hertfelder (Hg.): Kritik und Mandat. Stuttgart 2000, S.151í159; für die französischen Linksintellektuellen vgl. Thomas Kroll: Kommunistische Intellektuelle in Westeuropa. Köln, Weimar, Wien 2007, S.56f.; ferner auch Manfred Gangl: Mythos der Gewalt und Gewalt des Mythos. George Sorels Einfluss auf rechte und linke Intellektuelle in der Weimarer Republik. In: Ders., Gérard Raulet (Hg.): Intellektuellendiskurse in der Weimarer Republik, 2. neubearb. u. erw. Auflage. Frankfurt/M. u. a. 2007, S. 243í266. Auf dieses Element der »Retraditionalisierung« verweisen u. a. Milena Prošiü-Dvorniü: Modeli retradicionalizacija: Put u buduünost vraüanjem u prošlost. In: Glasnik Etnografskog Instituta SANU XLIV (1995), S. 294í309; Slobodan Naumoviü: Uporteba tradicije. In: M.Prošiü-Dvorniü (Hg.): Kulture u tranziciji. Beograd 1994, S. 95ff.; Mladen Preliü: Revival of the Serbian National Myth in the Contemporary Public Speech in Serbia. In: Ethnologia balcanica. Sofia 1995, S. 191í206.

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Option zur Verteidigung nationaler Interessen verstand.34 Der Krieg als legitimes, ja notwendiges Mittel der Interessenwahrung der Nation in Zeiten vermeintlicher Gefährdung, diese im Zeitalter des romantischen Nationalismus beheimatete Legitimationsformel der Gewalt, bedurfte keiner existentialistischen Begründungszwänge. In mancher Hinsicht folgte der nationalistische Diskurs, dessen Repräsentanten ja zum großen Teil aus dem Kreise der intellektuellen Mandarine des sozialistischen jugoslawischen Systems kamen, sogar einer durchaus vertrauten Semantik, die schon der systemoffizielle Partisanenmythos mit seiner heroisierten Gewalt über vierzig Jahre lang popularisiert hatte. War die Gewalt hier das selbstverständliche Mittel im Dienste der Klasse gewesen, so wurde sie nun zum selbstverständlichen Mittel im Dienste der Nation. Die nationalistischen Intellektuellen der achtziger/neunziger Jahre bewegten sich also in den Koordinaten einer kulturellen Codierung, in der Gewalt im Dienste des Kollektivs seit langem anerkannt war, sie brachen nicht als bellizistische Geister in eine etablierte Kultur des Pazifismus ein. Zum zweiten, und auch hier verbleibt der Intellektuellen-Diskurs der achtziger/neunziger Jahre in traditionalistischen Begründungszusammenhängen, erscheint die Gewalt auch als Teil der behaupteten kollektiven Wesensheit der Nation: In der »Grundformel der serbischen Kultur«, so fasste der Schriftsteller Ivan Negrišorac 1992 dieses agonale Selbstbild zusammen, käme an erster Stelle immer das Wort »heilig«, an zweiter aber schon das Wort »Krieger«.35 »Und wäre keine einzige Schlacht geschlagen worden, wäre das Volk größer, doch was für ein Volk? Und besser wäre es, doch für wen?«, so fragte auch der Schriftsteller Matija Beckoviü in einem seiner Gedichte.36 Beide griffen damit auf Selbstbeschreibungsmetaphern zurück, die schon ein Dreiviertel-Jahrhundert zuvor in den nationalen Diskurs eingeführt worden waren, etwa durch den serbischen Ethnologen Jovan Cvijiü, der die Bereitschaft zur Selbstverteidigung und zum Kampf zur »Charaktereigenschaft« des von ihm konstruierten Typus des »dinarischen Serben« erklärt hatte.37 Der Krieg und damit die Gewalt sind in diesem Verständnis nicht nur erinnerte Vergangenheit, sie sind auch mehr als nur kollektiver Erfahrungshaushalt, sie gewinnen eine gleichsam sinnstiftende Qualität. Sätze wie die von

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Kriegerische Gewalt war in der Logik dieser Narration daher in der serbischen Geschichte auch immer nur »defensive Gewalt«, da sie stets nur zur Verteidigung der eigenen Nation angewendet worden sei; vgl. die zahlreichen Quellenbeispiele bei Milosavljeviü: U tradiciji, S. 59, 60, 84ff., 88f. Ivan Negrišorac: Srpsko pesništvo i pitanje opstanka. In: Letopis Matice Srpske (1992) 10, S. 430ff.; ähnlich auch Mihajlo Markoviü, der davon spricht, die Serben könnten gar keine Pazifisten sein, da sie immer bereit seien, ihre Freiheit und ihr Recht mit der Waffe zu verteidigen: Markoviü: Srpski narod, S. 381. Matija Beükoviü: Lele i kuku. Beograd 1976. (Zit.n.: Ivan ýoloviü: Symbolfiguren des Krieges. Zur politischen Folklore der Serben. In: Dunja Melþiü (Hg.):Der JugoslawienKrieg. Opladen 1999, S. 310.) Vgl. hierzu Dunja Rihtman-Augustin: Mentality, War and Politics. In: Ethnologica balcanica. Sofia 1995, S. 137í147.

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Dobrica ûosiü, wonach die Serben im Kriege stets gewonnen, im Frieden aber immer verloren hätten, der Frieden für die Serben daher immer schmerzvoller als der Krieg gewesen sei,38 sind Pathosformeln des Krieges, die diesen nicht nur als legitime Möglichkeit politischen Handelns erscheinen lassen, sondern ihn geradezu zum unvermeidlichen Prinzip von Lebensführung aufwerten.39

II. Es dürfte nicht viel weiterführen, danach zu fragen, wie viel »unmittelbaren Einfluss« derartige intellektuelle Diskurse auf das politische Geschehen gehabt haben.40 Dass sie Gewalthandeln unmittelbar auslösen, wäre wohl naiv anzunehmen. Die Vorstellung eines »killing and destruction by words«41 simplifiziert die Wirkungszusammenhänge von Diskurs und Praxis. Zu einem guten Teil sind derartige Diskurse immer auch selbstreferentielle Debatten, mit denen Intellektuelle ihre jeweilige soziale Rolle zu reaffirmieren suchen. Bedeutungslos sind sie deswegen jedoch nicht. Sie halfen, jene diskursive Verfeindung in der Gesellschaft zu verankern, die der Gewalt den Weg ebnete. Sie waren Teil der massenmedialen Identifikation des Gegners als »etwas seinsmäßig Anderes und Fremdes« und sie radikalisierten diesen Anderen im Carl Schmittschen Sinne zur »äußersten Steigerung des Anderssein«, zum »absoluten Feind«, mit dem es keinen Kompromiss, sondern nur die gewaltsame Auseinandersetzung geben könne.42 Indem sie den Krieg und die Gewalt mit dem Renommee des intellektuellen Wortes in ein holistisches Sinnschema aus Geschichtserfahrungen und kollektiven ›Wesensmerkmalen‹ einschrieben, nahmen sie ihm das Außeralltägliche, sie ›normalisierten‹ ihn und machten ihn so akzeptabel. Die Bilder, welche die Intellektuellen von der eigenen Gemeinschaft und der der Anderen zeichneten, waren dabei (genauso wie die ihnen folgenden Gewaltakte) Ordnung zerstörend und Ordnung stiftend zugleich: sie waren einerseits Teil dessen, was die amerikanische Ethnologin Bette Denich das »unmaking multiethnicity« genannt hat,43 indem sie die bisher gelebte (und ja durchaus auch

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ûosiü: Promene, S.106, 196; Ders.: Stvarno i moguüe, S. 39; Ders.: Srpsko pitanje, S. 32ff; Ders. In: Književne novine vom 1.11.1987; Ders. In: Politika vom 26.7.1991; Samardžiü: O istorijskoj sudbini, S. 25; Slavoljub Djukiü: ýovek u svom vremenu. Razgovori sa Dobricam ûosiüem. Beograd 1989, S. 236. Popov: Traumatologije, S. 89f. So Florian Bieber: Serbischer Nationalismus nach dem Demokratischen Machtwechsel in Serbien, Ms. Oktober 2000, der ihnen »keinen unmittelbaren Einfluss zuweist«. Dimitrijeviü: Words and Death, S. 120. Zum Schmittschen Begriff des »absoluten Feindes« vgl. Herfried Münkler: Gewalt und Ordnung. Das Bild des Krieges im politischen Denken. Frankfurt/M. 1992, S. 54ff. Bette Denich: Unmaking Multiethnicity in Yugoslavia: Media and Metamorphosis, in: Joel M. Halpern, David Kideckel (Hg.): Neighbours at war. Anthropological Perspectives on Yugoslav Ethnicity, culture and History. Pennsylvania UP 2000, S. 39í55.

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friedensfähige) Ordnung der ethnischen Cohabitation dem Verdikt der prinzipiellen Unmöglichkeit unterwarfen; sie schufen andererseits Ordnung, in dem sie die »Gemeinschaft« diskursiv als nur mehr noch ethnisch und exklusiv zu denkendes Kollektiv neu begründeten. Ihre Wirkung reichte dabei auch über das urbane intellektuelle Milieu hinaus. Jene, die sich, wie viele jugendliche Mitglieder paramilitärischer Einheiten, dem Krieg eher aus der Suche nach dem außeralltäglichen Erlebnisses heraus anschlossen und deren Gewaltbereitschaft durch andere, ›subkulturelle‹ Medialisierungen wie Rock, Videos oder Comics stimuliert sein mochte, bedurften der intellektuellen Begründung für den Krieg dabei wohl nicht. Selbst sie aber griffen, wie Natalja Basic in ihren eindrucksvollen Interviews mit jugendlichen ›Kriegern‹ des Jugoslawien-Konfliktes gezeigt hat, in der Selbstlegitimation ihres gewaltsamen Handels immer wieder auch auf die von den Intellektuellen popularisierten Identitätsmuster von Opfertum und notwendiger Verteidigung zurück, um ihr Tun zu rechtfertigen.44 Wenn auch nicht als das Handeln unmittelbar motivierendes Moment, so doch allemal als Mittel der Legitimation der Gewalt, gewannen die intellektuellen Phantasien daher durchaus Wirkungsmacht. Mit Max Webers bekannter Formel wäre der (wohl vergeblichen) Suche nach direkten Kausalketten von Wort und Tat daher entgegenzuhalten, dass »die Weltbilder, welche durch die Ideen geschaffen wurden«, sehr oft »als Weichensteller die Bahnen bestimmt (haben), in denen die Dynamik der Interessen das Handeln fortbewegte«.45 Weiterführender als die Suche nach nachweisbaren Wirkungsketten des intellektuellen Wortes dürfte die – allerdings bislang nur selten systematisch angegangene í Frage sein, warum ein Teil der serbischen Intellektuellen, sozialisiert in einem relativ liberalen Sozialismus und ausgestattet mit weithin unreglementierten Kontakten zur internationalen intellectual community, in den achtzigerer/neunziger Jahren in die Rolle des nationalistischen Mandarins schlüpfte. Das Interpretament der trahison des clercs, des Verrats an universalistischer Wertebindung, jedenfalls, dies wurde einleitend bereits angedeutet, greift dabei zu kurz. Sucht man nach einer differenzierteren Antwort, so ist der Blick nicht nur auf die intellektuellen Deutungsangebote, sondern vor allem auch auf die Akteure selbst zu richten. Die neuere Erforschung von Intellektuellen hat, etwa für den französischen Fall, mit der für intellektuelle Milieus konditionierenden Trias aus Soziabilitätsformen, Generationenzugehörigkeit und Biographien dabei ein heuristisches Gerüst geliefert,46 das sich auch zur Erklärung des serbischen Intellektuellen-Nationalismus nutzen lässt. Für verwandte Fragestellungen wie etwa die Rolle

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Natalja Bašiü: Krieg als Abenteuer. Feindbilder und Gewalt aus der Perspektive exjugoslawischer Soldaten 1991í1995. Gießen 2004. Max Weber: Einleitung: Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. In: Ders.: Schriften 1894í1922. Stuttgart 2002, S. 590. Siehe hierzu Gandolf Hübinger: Gelehrte, Politik und Öffentlichkeit. Eine Intellektuellengeschichte. Göttingen, 2006, S. 20f.; Hans Manfred Bock: Die Intellektuellen und der Mandarin? Zur Rolle des Intellektuellen in Frankreich und Deutschland. In: FrankreichJahrbuch 1998. Opladen 1998, S. 35í51.

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der Linksintellektuellen in Frankreich, Italien und Großbritannien erprobt,47 scheinen sich die serbischen Intellektuellen einem vergleichbar konzisen soziobiografischen Porträt allerdings zu verschließen. Keineswegs wird man ihnen gerecht, wenn man sie auf »frustrated writers of bad books, disappointed scholars, who formerly had glorified communism and bitter priests, who in their cells had hatred everything secular«, reduziert, wie der serbische Soziologe Nenad Dimitrijeviü meint.48 Aus Lebensläufen und sozialer Positionen, aus der Zugehörigkeit zu bestimmten Alterskohorten lassen sich, wie es scheint, nur partiell Rückschlüsse auf die Rolle der serbischen Intellektuellen und die von ihnen gewählten Deutungsoptionen herleiten. Schon von ihrem ›beruflichen‹ Status her waren die Trägerschichten des intellektuellen Nationalismus eine heterogene Gruppe. Schriftsteller waren zweifelsohne die wortreichsten Repräsentanten dieses Nationalismus. In der Belletristik entwickelte sich seit den achtzigerer Jahren eine »Literatur des Leidens«, die jener oben skizzierten Selbstbeschreibung eine breite öffentliche Resonanz verlieh,49 und es ist durchaus kein Zufall, dass zwei der renommiertesten serbischen Schriftsteller, Dobrica ûosiü und Vuk Draškoviü, auch eine unmittelbare politische Rolle als zeitweiliger Staatspräsident bzw. als Regierungsmitglied und Parteiführer zuwachsen sollte. Historiker, wenn auch nur einige wenige, und Publizisten sekundierten den Literaten; aber auch Teile des orthodoxen Klerus, der im Unterschied zu Literaten und Wissenschaftlern in sozialistischer Zeit eher ohne nennenswerte Deutungsmacht am Rande des Systems agiert hatte, gehörten zu den radikalen Verfechtern des nationalistischen Diskurses. Auch Generationenzugehörigkeit und Lebensläufe lassen die nationalistischen Intellektuellen eher als heterogene Gruppe denn als homogenes sozial-moralisches Milieu erscheinen: Von ihren Alterskohorten her fanden sich Angehörige der Kriegsgeneration mit einer, zahlenmäßig offenbar besonders starken Generation derer zusammen, die ihre intellektuelle Sozialisation in den ersten Nachkriegsjahrzehnten erhalten hatten, aber auch einzelne Vertreter einer jüngeren, in den späten sechziger und siebziger Jahren ausgebildeten Wissenschaftlergeneration stießen zu ihnen. Alt-Partisanen wie der Schriftsteller Dobrica ûosiü gehören zu ihnen ebenso wie Abkömmlinge aus Familien, die ehemals im Lager der Gegner Titos standen und die nach 1945 stigmatisiert wurden wie der Schriftsteller Matija Beckoviü, der aus einer ýetnikFamilie stammt. Theorielieferanten der sozialistischen Utopie und marxistische Kritiker einer als entartet wahrgenommenen Alltagspraxis des Sozialismus wie die ehemaligen ›Praxis‹- Philosophen Mihajlo Markoviü und Ljubomir Tadiü finden sich unter ihnen ebenso wie ideologisch ›neutrale Experten‹, die immer eine gewisse Distanz zum System und seinen Glaubensgrundlagen gewahrt hatten; ›Gebildete‹ in der Tradition des alten, vorkommunistischen Bildungsbürgertums

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Kroll: Kommunistische Intellektuelle, S. 17f. Dimitrijeviü: Death and Words, S. 134. Hierzu Mirko Ðordjeviü: Književnost populistiþkog talasa- In: Nebošja Popov (Hg.): Srpska strana rata, S. 394í418; Marko Živkoviü: Too much »Character«, too little »Kultur«: Serbian Jeremiads 1994í1995. In: Balkanologia II (1998), S. 72í98.

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ebenso wie jene, die ihren schnellen Aufstieg aus ländlichem Milieu zum sozial privilegierten ›Intellektuellen‹ den Mobilitätsschleusen des sozialistischen Systems verdankten, wie beispielsweise der mittlerweile vor dem Internationalen Kriegsverbrechertribunal in Den Haag einsitzende Soziologe Vojislav Šešelj. Nachhaltiger als durch einen Generationenzusammenhang scheinen í zumindest einige ihrer wichtigsten Vertreter – durch ›paradigmatische Schlüsselereignisse‹ zu einer besonderen ›Erfahrungsgeneration‹ zusammengeschmiedet worden zu sein. Vor allem um den Schriftsteller Dobrica ûosiü herum bildete sich, wie der amerikanische Politikwissenschaftler Nicholas J. Miller überzeugend herausgearbeitet hat, schon lange vor der Zerfallskrise des jugoslawischen Staates ein intellektuelles Netzwerk, ein kommunikatives und sozial-moralisches Milieu, aus dem heraus sich seit den späten sechziger/frühen siebziger Jahren der nationalistische Diskurs der Intellektuellen entwickeln sollte.50 Gemeinsam war dieser Gruppe vor allem die ›enttäuschte Glaubenshaltung‹ eines als verfehlt wahrgenommenen Entwicklungswegs des jugoslawischen Sozialismus vom revolutionären, auf soziale Befreiung und einer gemeinsamen jugoslawischen Identität ausgerichteten Projekt hin zu einem zunehmend von nationalen Partikularismen geprägten ›Konsum-Sozialismus‹. In den ersten Nachkriegsjahren war dieses intellektuelle Milieu inspiriert gewesen vom Optimismus eines eigenständigen Sozialismus und des neuen, gemeinsamen jugoslawischen Staates. Für manche, wie für ûosiü selbst, der sich zunächst sogar als Kultur-Funktionär unmittelbar in den Dienst der Partei gestellt hatte, verband sich dies mit der Hoffnung auf eine neue jugoslawische Nation, die die partikularen nationalen Identitäten nicht negieren, wohl aber mit der Zeit dialektisch aufheben würde in einer neuen gemeinsamen Identität und Kultur. Es waren die sich verflüchtigenden Hoffnungen auf eine solche, Sozialismus mit Liberalität verbindende Ordnung, vor allem aber die sich immer mehr am nationalen Partikularismus der einzelnen Völker und Republiken brechende Idee einer gemeinsamen jugoslawischen Staats-Nation, die ihn und andere serbische Intellektuelle seiner Generation schon in den sechziger Jahren auf Distanz zum titoistischen System gehen ließ. Dessen Selbstverwaltungssozialismus erschien ihm als bürokratisierte Karikatur eines ›westlichen Konsum-Gesellschaft‹, die zunehmende Föderalisierung des Staates, mit der Tito den nationalen Emanzipationswünschen der einzelnen jugoslawischen Völkern entgegenkam, in der Hoffnung, das Land so stabilisieren zu können, wurde als Abkehr von der Idee eines gemeinsamen ›Jugoslawismus‹ gedeutet. Während ein Teil der Intellektuellen auf diese vermeintlichen Devianzen des Systems ›von links aus‹ mit der Einforderung eines ›echten‹ Selbstverwaltungssozialismus antwortete, etwa in den Studentenun-

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Nick Miller: The Nonconformists: Culture, Politics, and Nationalism in a Serbian Intellectual Circle, 1944í1991. Budapest, New York 2007.

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ruhen der späten 1960er Jahre,51 wandelten andere, wie ûosiü, ihre Kritik an der Alltagspraxis des Systems zu einer Kritik an der Nationalitätenpolitik der Partei und der vermeintlich von ihr benachteiligten Position Serbiens. »Gradually«; so Miller, ûosiü »redirected his focus from Yugoslavia to Serbia«.52 Es war dieser Erfahrungskontext, der seit den späten sechziger Jahren einen Teil der serbischen Intellektuellen zu einer Diskursgemeinschaft zusammenführte. In einem damals noch semi-dissidentischen Status, organisatorisch gruppiert um literarische Zirkel, den Schriftstellerverband und die Akademie der Wissenschaften, entwickelten sie dabei in vielem bereits jene Positionen, mit denen sie, unter veränderten makropolitischen Rahmenbedingungen, in den späten achtziger Jahren, öffentlich und mobilisierend auftreten sollten.53 Ein weiteres Moment, das für die Untersuchung westlicher Intellektueller offenbar von geringerer Bedeutung ist, mag im serbischen Fall eine größere Rolle bei der Entstehung intellektueller Milieus gespielt haben: die regionale Herkunft. Auffällig jedenfalls ist, dass nicht eben wenige derjenigen Intellektuellen, die zu den Wortführern des nationalistischen Diskurses gehörten, aus Gegenden stammten, in denen insbesondere während des Zweiten Weltkriegs ethnische und ideologisch motivierte Gewaltexzesse stattgefunden hatten. Auch hierin lagen offenbar gemeinsame Schlüsselerfahrungen, die diese zu einer Diskursgemeinschaft zusammenführten und ihre nationalistischen Deutungsoptionen begünstigten. Öffentliche Deutungsmacht wuchs diesen Intellektuellen allerdings erst mit den makropolitischen Veränderungen der späten achtziger Jahre zu, und dies aus mehrfachen Gründen: Die Desintegrationskrise des Staates verstärkte zum einen die nationalitätenpolitischen Konflikte und erhöhte generell die Akzeptanz nationalistischer Optionen; vor allem dem Konflikt zwischen Serbien und Slowenien bzw. Kroatien, mehr noch den eskalierenden Auseinandersetzungen im Kosovo kam dabei die Rolle eines Schlüsselereignisses für die Mobilisierung der Intellektuellen zu. Der Legitimationsverlust des sozialistischen Systems schuf zum anderen ›Sinnlücken‹, die durch das intellektuelle Wort gefüllt werden konnten. Gerade in Krisensituationen wie jener, in der sich der jugoslawische Staat, das sozialistische System und die mit beiden verbundene Sinnordnung seit den achtziger Jahren befanden, eröffnen sich intellektuellen Deutungsangeboten besondere Schleusen, um Handlungsmacht zu entfalten.54 Auch erodierte, drittens, die sich beschleunigende Systemkrise zunehmend die Herrschaftskontrolle und die Disziplinierungs-

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Einen ersten ordnenden Überblick über die Gruppierungen und Richtungen von Dissidenz im jugoslawischen Sozialismus siehe bei Katarina Spehnjak, Tihomir Cipek: Disidenti, opozicija i otpor – Hrvatska i Jugoslavija 1945í1990. In: ýasopis za suvremenu povijest 39, 2 (2007), S. 249í297. Spehnjak: Disidenti, S. 187. Vgl. etwa ûosiüs 1977 gehaltene Rede vor der Serbischen Akademie der Wissenschaften über »Literatur und Geschichte«, die bereits alle narrativen Topoi der Nationalideologie der neunziger Jahre enthält: ûosiüs: Stvarno i moguüe, S. 121í133. Thomas Meyer: Identitätspolitik. Vom Missbrauch kultureller Unterschiede. Frankfurt/M. 2002, S. 24.

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gewalt der Partei und schuf so neue Kommunikationschancen, die es in den Intellektuellen ermöglichte, ihre Sinnangebote nunmehr ungehindert auf dem Markt der Öffentlichkeit zu präsentieren. Gruppiert um die Akademie der Wissenschaften und den Serbischen Schriftstellerverband bildeten sich Kommunikationsnetze heraus, die eine eigene, von der Partei zunächst noch kritisch beäugte, aber nicht mehr zu reglementierende Sphäre kultureller Produktion schufen.55 Die Intellektuellen gewannen damit öffentliche Artikulationsräume zurück, die sie seit den siebziger Jahren nicht mehr besessen hatten. Mit dem Aufstieg Slobodan Miloševiüs, schließlich, betrat jetzt eine Elitenfraktion die politische Bühne, die eben solche nationalistischen Optionen favorisierte und sich dabei des intellektuellen Diskurses als Legitimationsinstanz bediente und die den Intellektuellen damit die Chancen nicht nur des Kulturprestiges, sondern der öffentlichen Wirkungsmacht eröffnete. Die intellektuellen Repräsentanten des serbischen Nationalismus sahen sich dabei durchaus in der Rolle des ›klassischen‹ Intellektuellen, der aus einer autonomen Position heraus an den bestehenden Herrschaftsverhältnissen Kritik übt. Selbst ihre immer nationalistischer werdenden Positionen zum Ende der achtziger Jahre und während der Kriege der neunziger Jahre mandatierten sie in einem werteethischen Sinne in der Tradition eines ›französischen‹ Rollenmodells, bisweilen gar mit direktem Verweis auf das Beispiel der Dreyfus-Affäre. Aufgabe des Intellektuellen sei es, so ûosiü aus Anlass seiner Wahl zum Mitglied der Serbischen Akademie der Wissenschaften 1977, der Wahrheit verpflichtet zu sein.56 Ihre Kritik am Föderalismus und an der angeblich zu Lasten Serbiens gehenden Nationalitätenpolitik verstanden sie daher nicht als ›Glaubenskonversion‹, sondern als intellektuelle Pflicht zur Systemkritik eines bürokratisierten Sozialismus. Bis zur Mitte der achtziger Jahre verband sich ihr Engagement in der nationalen Causa in der Tat zugleich mit einem Einfordern liberaler Freiheitsrechte. Ganz wie im übrigen Osteuropa, wurde eine Überwindung noch bestehender Formen der Parteikontrolle über die Gesellschaft eingefordert. Auch in ihren Kommunikationsformen bedienten sich die Intellektuellen der Praktiken ›klassischer‹ intellektueller Öffentlichkeit: in Komitees riefen sie zur Wahrung von Menschenrechten und der künstlerischer Freiheit auf und solidarisierten sich mit Schriftstellern, die wegen vermeintlichen Nationalismus in den Fokus staatlicher Repression geraten waren, mit Petitionen und ›Intellektuellen-Kongressen‹ griffen sie spektakulär in die tagespolitischen Debatten ein. Zivilgesellschaftliche Forderungen nach Menschenrechten und Meinungsfreiheit und nationalpolitische Forderungen wie etwa die Unterstützung der Serben im Kosovo gingen dabei zeitweilig eine Symbiose ein.57 Die Versuche, ihre Rolle, wie in den übrigen sozialistischen Ländern, in der

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Jasna Dragoviü-Soso: Intellectuals and the Collapse of Yugoslavia: The End of the Yugoslav Writer´s Union. In: Dejan Djokiü (Hg.): Yugoslavism. Histories of a Failed Idea 1918í1992. London 2003, S. 268í285. ûosiü: Stvarno i moguüe, S. 131. Drinka Gojkoviü: Trauma bez katarze. In: Popov (Hg.): Srpska strana rate, S. 365ff.

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Instanz des Treuhänders zivilgesellschaftlicher Werte zu tun, währten jedoch nur kurz. Im Klima des sich aufheizenden Nationalismus verloren sich die zunächst auch von den serbischen Intellektuellen vertretenen Forderungen nach Pluralisierung und Demokratisierung. Intellektuelle Verantwortung wurde jetzt nicht mehr so sehr in der Kritik gesellschaftlicher Praxis erblickt, sondern in der »Verkündung eines neuen nationalen Programms«.58 Die Funktion der Delegitimierung der kommunistischen Ordnung, die die Intellektuellen in den anderen osteuropäischen Ländern zu Initiatoren des demokratischen Wandels machten, führte die serbischen Intellektuellen letztlich auf das Feld des Nationalismus. Warum aber war es gerade die nationalistische Option, der sich diese Intellektuellen letztlich verschrieben? Ähnlich wie für ihren zeitweiligen Verbündeten Slobodan Miloševiü verband sich sicherlich auch für sie der nationale Diskurs mit dem Interesse an Macht. Ob sie dabei allerdings als Beispiele für eine »Intelligenz auf dem Weg zur Klassenmacht« gelten können, wie es Holm Sundhaussen in Übernahme des Interpretaments der ungarischen Autoren Konrad und Szelény vermutet hat,59 scheint fraglich zu sein. Zwar stießen einige dieser Intellektuellen zu politischen Ämtern vor (deutlich weniger allerdings als in anderen Transformationsländern60), als ›Klasse‹ jedoch formierten sich die Intellektuellen nicht; dafür waren sie schon zahlenmäßig zu gering und auch ihr politischer Einfluss war gegenüber dem machtpolitischen Machiavellismus eines Miloševiü letztlich ohne Chancen. Sie mochten zeitweilig die Rolle des »Virtuosen des Heils« spielen, »Virtuosen der Macht«61 waren sie nicht. Im Gegenteil: Eher agierten sie aus einer defensiven Situation heraus, um die ihnen mit der Staats- und Systemkrise drohende Delegitimierung als Deutungselite zu vermeiden. Der Rückgriff auf nationalistische Vergangenheitspolitik war für sie ein Instrument der gesellschaftlichen Statuswahrung in einer Zeit, da sie ihre frühere Rolle als Monopolisten der Vergangenheitsauslegung und Identitätsstiftung bedroht sahen, ja diese zu einem guten Teil bereits eingebüßt hatten. In der Rolle der serbischen Intelligenz scheint sich somit Bernhard Giesens Verallgemeinerung zu bestätigen, wonach Intellektuelle in der Initiierung nationaler Identitätsstrategien letztlich das Ausgeschlossensein von

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ûosiü: Promene, S. 138. So in Übernahme des Szeleny/Konrad´schen Begriffs Holm Sundhaussen: Serbische Historiographie zwischen nationaler Legitimationswissenschaft und postnationalem Paradigmenwechsel, S. 414; ähnlich auch Milena Davidoviü: Kraj Carstva nužnosti. In: Druga Srbia-deset godina posle, S. 238, die gar von den Intellektuellen als einer sich auf der Basis des Nationalismus vergemeinschaftenden »Klasse an sich und einer Klasse für sich« spricht. Vgl. etwa für Rumänien Cosmina Tănăsoiu: Intellecutlas and Post_Communist Politics in Romania. In: East European Politics and Societies 22, 1 (2008), S. 80í113. Vgl. die Begriffe im Anschluss an Weber bei Gangolf Hübinger: Intellektuelle, Intellektualismus. In: Hans G. Kippenberg, Martin Riesebrodt (Hg): Max Webers »Religionssystematik«. Tübingen 2001, S. 300.

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politischer Macht zu kompensieren suchen.62 Anders als in der UdSSR und den meisten übrigen sozialistischen Staaten waren die jugoslawischen Intellektuellen zunächst durchaus keine ›Kaderintellektuellen‹ gewesen, deren Rolle auf die Produktion von parteikonformer Selbstlegitimation beschränkt worden war. In der ihnen zugedachten Funktion als theoretischer Begründungsinstanz eines eigenen jugoslawischen Sozialismus war ihnen in den fünfziger/sechziger Jahren beträchtlicher Freiraum zur unreglementierten Neuschöpfung sozialistischer Theorie zugestanden worden. Eine Rolle, in der sie beachtliche Theorieleistungen eines nicht-sowjetischen Marxismus erbracht hatten.63 Ihre Rolle als kritischer und weithin autonomer Theorieakteure verlor sich jedoch zunehmend. Sie wurde zum einen durch die soziale Entwicklung des jugoslawischen Sozialismus selbst entwertet, zum anderen den Intellektuellen aber auch in dem Maße genommen, in dem sie sich von Theorielieferanten des ›eigenen jugoslawischen Sozialismus‹ zum Kritiker seiner Alltagspraxis zu wandeln begannen. Die Studentenunruhen des Jahres 1968 hatten die Intellektuellen noch einmal in diesem Sinne mobilisiert. Weniger die Schikanen und Lehrverbote, die einige von ihnen als Folge der Unruhen in den siebziger Jahren trafen, als die Tatsache, dass die sozialistische Utopie ihre Mobilisierungskraft einbüßte, nahm ihnen jedoch zunehmend diese Rolle. Die Partei hatte die Vision eines emanzipativen Sozialismus aus den fünfziger Jahren längst ersetzt durch ein ineffizientes und irrationales System der angeblichen ›Selbstverwaltung‹, das Partizipation suggerierte um versteinerte Herrschaftsverhältnisse zu kaschieren. Die Gesellschaft wiederum zeigte sich ohnehin eher an Wohlstandmehrung interessiert, nicht mehr an einem sozialen Projekt. Als Akteure auf dem Felde der sozialistischen Sinnproduktion waren die Intellektuellen daher immer weniger gefragt. Der jugoslawische Sozialismus der späten TitoÄra ließ eine Herrschaft dekonstruierende Kritik nicht nur nicht mehr zu, die jugoslawische Gesellschaft schien ihrer auch nicht mehr zu bedürfen. Die Utopie wiederzubeleben aber, dazu fehlten den Intellektuellen die gesellschaftliche Macht und die Resonanz, sie waren, um es mit Jürgen Habermas zu formulieren, der »Erschöpfung der utopischen Energien« erlegen und hatten darüber ihren Status verloren. Nachdem der späte Titoismus die Intellektuellen aus dem Feld des Politischen und der Sinnproduktion herausgedrängt hatte, bot die Zerfallskrise des jugoslawischen Staates in den achtziger Jahren ihnen allerdings Gelegenheit, auf dieses Feld zurückzukehren. Im Medium des Nationalismus vermochten sie jene verloren gegangene Deutungshoheit zu re-etablieren, ja ihren Status als Intellektuelle überhaupt neu zu fundieren. Serbien sah somit nicht das »heroische Comeback des Intellektuellen auf der politischen Bühne«, von dem Wolf Lepenies unter dem Eindruck der Ereignisse von 1989 und ganz dem französischen Modell des Intellektuellen verpflichtet,

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Bernard Giesen: Kollektive Identität: Die Intellektuelle und Nation. Eine deutsche Achsenzeit. Frankfurt/M. 1993, S. 19f. Oskar Grünwald: The Yugoslav Search for Man. South Hadley 1983.

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schwärmte.64 Vielmehr ist es ein Beispiel für die Rückkehr des Intellektuellen als Agitator eines violenten Nationalismus. Haben die serbischen Intellektuellen, indem sie in ihrem Engagement für die Nation »der politischen Leidenschaft erlagen«,65 damit zugleich die kognitiven Ansprüche der Intellektualität verspielt?66 Aus der Perspektive eines normativ aufgeladenen Begriffsverständnisses ganz sicherlich; aus einer an historischer Typologiebildung interessierten Sichtweise hingegen nicht. Mit der Krise von Staat und System hatte sich auch die Rolle der jugoslawischen Intellektuellen als Deutungs- und Sinngebungsinstanz erschöpft. Diese Rolle zu re-etablieren suchten sie (nicht nur auf serbischer Seite) im Rückgriff auf die Funktion des Agenten der Nation. Sie griffen damit auf ein vertrautes Rollenmodel zurück, das die Intelligenz des 19. Jahrhunderts in Südosteuropa immer wieder ausgefüllt und an dem sie bereits damals ihre soziale Funktion entwickelt hatte.67 Und schon damals hatte sie diese Funktion bisweilen im Einklang mit den Zielen einer demokratischen Moderne, genauso aber auch im Medium der Gewalt wahrgenommen.

Bibliographie Aleckoviü-Nikoliü, Mila: Muke maminog junaka. In: NIN vom 30.12.1999, S. 32ff. Bašiü, Natalja: Krieg als Abenteuer. Feindbilder und Gewalt aus der Perspektive exjugoslawischer Soldaten 1991í1995. Gießen 2004. Beükoviü, Matija: Kosovo je najskuplja reþ. In: Glas Crkve 3 (1989). – Lele i kuku, Beograd 1976. (Zit. n.: Ivan ýoloviü: Symbolfiguren des Krieges. Zur politischen Folklore der Serben. In: Dunja Melþiü (Hg.):Der Jugoslawien-Krieg. Opladen 1999, S. 310. – Srbija nema precih zadataka nego da je ima. In: Književne novine Nr. 772 vom 15.3.1989. Benda, Julian: La trahison des clercs. Paris 1927 (dt.: Der Verrat der Intellektuellen, München 1978.). Beßlich, Barbara: Wege in den »Kulturkrieg«. Zivilisationskritik in Deutschland 1890í1914. Darmstadt 2000. Bialas, Wolfgang: Vom unfreien Schweben zum freien Fall. Ostdeutsche Intellektuelle im gesellschaftlichen Umbruch. Frankfurt/M. 1996, S. 15. Bieber, Florian: Nationalismus in Serbien vom Tode Titos bis zur Ära Miloševiü, Wien 2005.

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Wolf Lepenies: Aufstieg und Fall der Intellektuellen in Europa. Frankfurt/M. u. a. 1992, S. 46ff. Benda: Der Verrat der Intellektuellen, S.112. So Hans-Peter Krüger: Der Intellektuelle: Seine Befreiung durch seine Selbstbejahung in eine gewaltenteiligen Moderne. In: Martina Winkler (Hg): WortEnde. Intellektuelle im 21. Jahrhundert. Leipzig 2001, S. 13í26. Zur Rolle der Intelligenz im 19.Jahrhundert in Südosteuropa vgl. resümierend Anton Sterbling: Die Intellektuellenelite Rumäniens am Ende des 20. Jahrhunderts. In: Études balkaniques 4 (2000), S. 80í88.

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Abstract Im früheren Jugoslawien treten uns die Intellektuellen nicht als »Treuhänder der Wahrheit« gegenüber, sondern als Brandstifter des Exzesses. Im Klima von Nationalismus und Staatszerfall trugen sie in den 1980/90er Jahren dazu bei, Kriegsbereitschaft diskursiv herzustellen und der friedlichen Konfliktlösung den Sinn zu nehmen. Vor allem auf serbischer Seite (re-)konstruierten Intellektuelle ein holistisches Selbstbild der eigenen Nation, das um die Denkfiguren des Leids, des Opfers und der drohenden Vernichtung der eigenen Nation kreiste und das den Kampf, auch mit gewaltsamen Mitteln, zum unvermeidbaren Instrument eigener Rettung erklärte. In der Stilisierung des Anderen zum »absoluten Feind«, mit dem der Kompromiß nicht möglich ist, bereitete dieser Diskurs eine Dehumanisierung des Gegeners vor, die der Gewalt gegen diesen ihr Stigma nahm. Die Gewalt wurde in diesem Diskurs zwar nicht offen verherrlicht (wie beispielsweise in der

Die Gedanken der Tat

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Gewalt-Euphorie deutscher Intellektueller der Sattelzeit zwischen 1890 und 1914), sie wurde jedoch als unbefragtes Mittel der Verteidigung der Nation und als Teil »heroischer Wesensheit« der Nation ausgegeben und damit plausibel gemacht. Der Beitrag sucht diesen Diskurs in seinen semantischen Strukturen zu rekonstruieren und fragt nach den sozialen und kulturellen Bedingungen, unter denen Intellektuelle die Rolle der Legitimationsinstanz gewaltsamen Handels einnahmen.

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Die Figur des ›nachgeholten Widerstands‹ in der literarischen Publizistik der fünfziger und sechziger Jahre der BRD im Umkreis der Gruppe 47

»Die sechziger und siebziger Jahre erscheinen heute ferner als das alte Rom«,1 lautete der Untertitel eines der zahlreichen Feuilletonartikel zur RAF im Frühjahr 2007; der Zeit-Redakteur Ulrich Greiner näherte sie den LeserInnen mittels eines Deutungsmusters, das er mit eigenen Erinnerungsbildern und Zitaten aus literarischen Werken, Stefan Austs Sachbuch und Karl Heinz Bohrers Essay Hitlers Kinder? belegte. Alfred Anderschs Zeilen: »das neue kz/ ist schon errichtet«, Gudrun Ensslins Sätze: »Wir müssen Widerstand organisieren. [...] Das ist die Generation von Auschwitz, mit denen kann man nicht argumentieren«, und Bohrers Diagnose: »Die emotionelle Reaktion gegen Auschwitz führt, wird sie neurotisch, zum gleichen Ende«, beglaubigten eine Vergegenwärtigung »jener Jahre«, in denen »diejenigen, die den Kampf gegen den von ihnen so genannten Faschismus aufnahmen, ihm selber anheimfielen«. Greiner verwendete zwar nicht die formelhafte Verkürzung dieses Deutungsmusters, die sich bei Wissenschaftlern, Kritikern und Autoren seit geraumer Zeit eingebürgert hat, aber er unterstellte durch die anaphorische Verwendung des Satzes: »So leichtfertig hat man damals gedacht und geschrieben«, eine zwangsläufige Verbindung zwischen den beiden in der Formel vom ›nachgeholten Widerstand‹ enthaltenen Topoi: »die teutonisch unheilvolle Mischung aus [...] Moralismus und Voluntarismus«. Heute wird in der Figur des ›nachgeholten Widerstands‹ regelmäßig die moralische Kritik einer Generation an den Vätern als Selbstermächtigung gedeutet, das von diesen Versäumte nachzuholen, als Legitimation von Gewalt.2

––––––– 1

2

Ulrich Greiner: Klammheimliche Freude. Die sechziger und siebziger Jahre erscheinen heute ferner als das alte Rom. Warum damals so viele Bürgerkinder mit der RAF sympathisierten. In: Die Zeit, 22.3.2007, dort auch die folgenden Zitate. Dass die Verwendung der Figur nicht auf die bundesrepublikanische Diskussion begrenzt war, belegt Anna Seghers’ Rede auf dem Internationalen Schriftstellertreffen in Weimar 1965 zur Gefahr eines atomaren Kriegs über »die furchtbare Schuld, die die spüren werden, die nachher noch leben und vorher stumm blieben«: »Lassen wir uns von unserer Berufspflicht überwältigen, bevor uns die Schuld überwältigt.« (Internationales Schriftstellertreffen Berlin und Weimar 14.–22. Mai 1965. Protokoll. Berlin, Weimar 1965, S. 27) Zur heutigen internationalen Verwendung vgl. Judith Butler: Gefährdetes Leben. Politische Essays. Frankfurt/Main 2005, S. 123, für die nach dem 11. September »das Erbe der Shoah« bei progressiven Juden »die Form der folgenden Frage annimmt: Werden wir schweigen (und ein Kollaborateur illegitimer gewalttätiger Macht sein), oder werden wir unsere Stimme erheben (und zu denen zählen, die taten, was in ihren Kräften

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Der Sozialpsychologe Harald Welzer etwa erklärte 2004 die Welle von Familien- und Generationsromanen seit den neunziger Jahren daraus, dass »hinter der ostentativen Anklagehaltung der 68er gegenüber der Kriegsgeneration [...] ein uneingestandener Identifikationswunsch gestanden« habe, den »man sich im Vollbesitz des [...] korrekten, nämlich antifaschistischen Geschichtsbildes selbstverständlich nicht eingestehen wollte«: »Mit der Wiederaufführung von Kriegsereignissen im freilich verkleinerten Maßstab großstädtischer Straßenkämpfe gegen Polizei und Wasserwerfer holte sich die Protestgeneration jenen Geschmack von Freiheit und Abenteuer, den der Krieg den Vätern offeriert hatte.«3 Der Kritiker Klaus Harpprecht betonte in den neunziger Jahren die noch immer nicht überwundene »Gefahr des nachgeholten Widerstandes«, »jene[r] spezifisch deutsche[n] Verlogenheit, die nach 1968, als im Westen der Antifaschismus mehr als zwei Jahrzehnte post festum so recht erst erfunden wurde, jeden Winkel des Daseins durchdrang«.4 Und kurz vor seinem Tod stellte 2003 der Schriftsteller Reinhard Baumgart eine ähnliche Kontinuität seit 1968 heraus, »[s]o daß ich heute noch gereizt reagiere« auf »nachgeborene Helden des Widerstands«,5 weil Antifaschismus die »paranoide[...] Zwangsvorstellung [sei], daß sich morgen genau das wieder ereignen könnte, was gestern passiert ist«.6 Auch wenn alle drei zitierten Autoren in der Annahme einer Einbahnstraße von ›1968‹ zur RAF übereinstimmen, die mit der Legitimation von Gewalt als nachgeholtem Widerstand begründet wird, so klingt vielleicht in den Hinweisen auf die Fortdauer der Gefahr bei Harpprecht und Baumgart an, dass die Figur des nachgeholten Widerstands älter ist als 1968 und nicht reduziert werden kann auf das, was seit der CDU/CSU-Konferenz vom November 1977 »Der Weg in die Gewalt« heißt: von der »radikalen Systemkritik« zur RAF:7 »Ihr Ergebnis war [...] die schärfere Ausgrenzung von Ideen und Theorien, die in ihrer radikalen Systemkritik das Handeln von Terroristen motivieren mochten, auch wenn solche Praxis von den Autoren nicht beabsichtigt war.«8

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5 6 7

8

stand, um illegitime Gewalt zu verhindern), selbst wenn das laute Aussprechen ein Risiko für uns darstellt?« Harald Welzer: Schön unscharf. Über die Konjunktur der Familien- und Generationsromane. In: Mittelweg 36 H.1 (2004), S. 57. Klaus Harpprecht: Totgesagt und sehr lebendig. Bonn und die intellektuelle Verweigerung: Die Opposition gegen die zweite deutsche Demokratie begann mit einem grollenden Abmarsch aus der Wirklichkeit. In: Die Zeit, 21.6.1996. Reinhard Baumgart: Damals. Ein Leben in Deutschland 1929–2003. München 2003, S. 99. Baumgart: Damals, S. 162. Heiner Geißler (Hg.): Der Weg in die Gewalt. Geistige und gesellschaftliche Ursache des Terrorismus und seine Folgen. München, Wien 1978; (Vorträge der Tagung »Der Weg in die Gewalt. Geistige und gesellschaftliche Ursachen des Terrorismus« vom 29./30.11. 1977 erschienen u. a. in FAZ, Die Zeit, Der Spiegel und Merkur). Wolfgang Jäger/Werner Link: Republik im Wandel 1974–1982. Die Ära Schmidt. Stuttgart, Mannheim 1987, S. 83.

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Harpprecht macht insofern darauf aufmerksam, als für ihn die mit den 68ern identifizierten Terroristen die zweite Generation sind: die erste sind ihm die Kritiker der Restauration in den fünfziger Jahren, die »intellektuelle [...] Opposition« der Ära Adenauer, die der jungen Demokratie hartnäckig die Identifikation verweigert hat [...]. Im Jahre 1968 drohte die zweite Generation der Bonn-, Europa- und Weltfremden das ›System‹ zu sprengen. Der sozialliberalen Koalition gelang [...] der Bau schwankender Brücken. Erst die Wiedervereinigung schenkte der Bundesrepublik den moralischen Respekt, der ihr vier Jahrzehnte verweigert wurde.9

Am Tag vor der ›Wiedervereinigung‹, die Harpprecht zum Bezugspunkt einer dritten, nicht mehr weltfremden Intellektuellen-Generation macht, veröffentlichte Frank Schirrmacher seinen »Abschied von der Literatur der Bundesrepublik«, der die Figur vom ›nachgeholten Widerstand‹ wie schon in der Besprechung von Christa Wolfs Was bleibt zu der »Nachkriegslegende« einer »Generation«, die »vierzig Jahre lang den Widerstand gegen Hitler nachholte«, über den Schriftsteller in Ost und West erklärte, dass »der Schriftsteller nach der Erfahrung des Nationalsozialismus über eine stabile, antiautoritäre, kritische Gesinnung verfüge«.10 Weil, wie diese Beispiele belegen, die Figur vom ›nachgeholten Widerstand‹ nicht nur im Zusammenhang von 1968 und der RAF benutzt wird, möchte ich im folgenden an zwei Topoi der Figur, die lange vor 1968 gebraucht werden, die Frage stellen, ob sich zentrale Merkmale, die dieser Generation zugeschrieben werden, bereits im Diskurs der Vergangenheitsbewältigung nachweisen lassen, der sich seit den ausgehenden fünfziger Jahren etabliert.11 Zugespitzt gesagt: Das gängige Konzept der ›68er-Generation‹ wird in Frage gestellt, wenn die Topoi, die sich vom Material her aufdrängen – dass erstens Schweigen Schuld bedeute und dass zweitens die Väter zu kritisieren seien – keineswegs der Legitimation innergesellschaftlicher Gewalt dienten, sondern unterschiedlicher Formen von Demokratisierung.12

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Harpprecht: Totgesagt und sehr lebendig. Fank Schirrmacher: »Dem Druck des härteren, strengeren Lebens standhalten«. Auch eine Studie über den autoritären Charakter: Christa Wolfs Aufsätze, Reden und ihre jüngste Erzählung »Was bleibt«. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2.6.1990. Vgl. zur poetologischen Verwendung in derselben Zeit Bertram Salzmann: Literatur als Widerstand. Auf der Spur eines poetologischen Topos der deutschsprachigen Literatur nach 1945. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte H.2 (2003), S. 330-347, und, weniger stark vom Kontext abstrahierend, Jürgen Schröder: »Ohne Widerstand – keine Hoffnung« (Max Frisch). Literatur als Widerstand nach 1945. In: Von Poesie und Politik. Zur Geschichte einer dubiosen Beziehung. Hg. von Jürgen Wertheimer. Tübingen 1994, S. 173–193. Erich Kubys Publizistik z. B. (vgl. Helmut Peitsch: Von Demidoff über Brest nach Berlin – der Kontext der Kriegserfahrung Erich Kubys. In: Schuld und Sühne. Kriegserlebnis und Kriegsdeutung in deutschen Medien der Nachkriegszeit (1945-1961). Hg. von Ursula Heukenkamp. Amsterdam, Atlanta 2001, S. 227–239) zwischen 1961 und 1965 beweist (vgl. die Artikel über Auschwitz, Dachau, Stalingrad, Anne Frank und Inge Scholl in Erich Kuby: Mein ärgerliches Vaterland. Berlin 1990, S. 225, 241, 247, 253), dass we-

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I. ›Wer schweigt, wird schuldig‹ »In seinen besonnenen Einleitungsworten bekannte Hans Schweikart«, berichtete am 10.3.1952 die Süddeutsche Zeitung über die Eröffnung einer Matinee zur ersten bundesweiten Woche der Brüderlichkeit durch den Intendanten der Münchener Kammerspiele, »daß es auf rechtzeitiges Reden ankomme, um nicht durch Verschweigen der Wahrheit von neuem schuldig zu werden.«13 In der Berichterstattung über die Ansprachen von und Lesungen aus Werken von Autoren der Gruppe 47 wurde die Bestimmung der Aufgabe der Literatur mit einer Einschätzung der Gegenwart verbunden: Es sei »die Aufgabe: gegen einen dritten Weltkrieg anzukämpfen, nicht aber durch neue Schweigsamkeit dem neuen Verhängnis zuzusteuern«.14 Vier Jahre später hieß es in der ersten öffentlichen Protesterklärung der Gruppe 47, dem Einspruch gegen die Verhinderung der Aufführung von Alain Resnais’ Auschwitz-Film Nacht und Nebel im Wettbewerb von Cannes durch eine Intervention des Bundesaußenministeriums: [...] wir müssen unsere Regierung darauf aufmerksam machen, daß sie sich in den Augen der Welt den Anschein gibt, mitschuldig zu sein, wenn sie über die KZs das Vergessen zu breiten versucht. [...] wir protestieren mit [... »unsere[n] französischen Freunde[n]«] gegen diese Zeichen eines politischen Opportunismus, damit wir uns nicht selbst das Recht nehmen, je wieder gegen die Vernichtung von Menschen, wo sie auch immer geschehen mag, protestieren zu können.15

Ich setze zunächst die chronologische Reihe der Belege für die Verwendung des Topos ›Wer schweigt, wird schuldig‹ fort, werde dann aber auf das Beispiel des

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13 14 15

sentliche Merkmale dessen, was in der heutigen Forschung von Soziologen, Politologen, Psychologen und Literaturhistorikern als kennzeichnend für die sogenannte 68er Generation behauptet wird (Dan Diner: Negative Symbiose. Deutsche und Juden nach Auschwitz. In: Diner (Hg.): Ist der Nationalsozialismus Geschichte? Zu Historisierung und Historikerstreit. Frankfurt/Main 1987, S. 195–196; Lutz Niethammer: Erinnerungsgebot und Erfahrungsgeschichte. Institutionalisierungen mit kollektivem Gedächtnis. In: Holocaust: Die Grenzen des Verstehens. Eine Debatte über die Besetzung der Geschichte. Hg. von Hanno Loewy. Reinbek 1992, S. 25, 27, 31) sich lange vor 1968 in der öffentlichen Erinnerung an den Faschismus herausgebildet haben. Der 1910 – und nicht zwischen 1938 und 1948 geborene – Autor vollzog in den 60er Jahren jene ›Gegenidentifikation‹, die heute als typisches Merkmal einer Generation behauptet wird, um sie zu delegitimieren. Dabei könnte der »Lernprozeß« des Erich Kuby umgekehrt eher ein Anlass sein, biologisierende Konstruktionen nationaler Identität, das »Konzept der Generationenabfolge« (Alfons Söllner: Demokratie als Lernprozess. Drei Stichworte zur Entwicklung der politischen Kultur in der Bundesrepublik Deutschland. In: Mittelweg 36 H.4 (1995), S. 88) grundsätzlich in Frage zu stellen. K.U.: Im Zeichen der Brüderlichkeit. In: Süddeutsche Zeitung, 10.3.1952. mor: Verhärtet nicht wieder euer Herz! »Woche der Brüderlichkeit« begann. In: Abendzeitung, München, 10.3.1952. Paul Schallück: Nacht und Nebel und eine Erklärung. In: Frankfurter Hefte 11 (1956) S. 397.

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Nacht und Nebel-Protests zurückkommen, um die Bedeutung des Gegenwartskontexts für das mit dem Topos begründete Verhalten zu bestimmen. Als Organisator des Münchener Komitees gegen Atomrüstung, das er mit dem SPD-Arbeitsausschuss »Kampf dem Atomtod« verband, nicht zuletzt durch den Club republikanischer Publizisten, der sich weitgehend mit seinem Grünwalder Kreis deckte,16 veröffentlichte Richter in der von ihm mitherausgegebenen Zeitschrift seines Verlegers Kurt Desch den programmatischen Artikel Schweigen bedeutet Mitschuld.17 Gegen die insbesondere vom damaligen Bundesverteidigungsminister Franz-Josef Strauß geforderte atomare Bewaffnung der Bundeswehr formulierte das Westberliner Gruppe 47-Mitglied Wolfdietrich Schnurre in derselben Nummer der Kultur: »Die Führung eines Volkes, das Todeslager und Gasöfen duldete, ist a priori zur Anerkennung einer atomaren Bewaffnung prädestiniert.«18 Schnurre war dasjenige Mitglied der Gruppe 47, das zusammen mit Günter Grass 1961 am heftigsten gegen den Bau der Mauer öffentlich Stellung nahm. Auf die Titelfrage von Grass’ offenem Brief an Anna Seghers: Und was können die Schriftsteller tun?19 gab der von ihm gemeinsam mit Schnurre verfasste offene Brief an die Mitglieder des Deutschen Schriftstellerverbandes die Antwort: »Wer schweigt, wird schuldig.«20 Der kategorischen Feststellung von Grass und Schnurre: »Es gibt keine ›Innere Emigration‹, auch zwischen 1933 und 1945 hat es keine gegeben«21, entsprach es, dass sich Grass in seinem Brief an Seghers die Rolle von Klaus Mann, Seghers hingegen die von Gottfried Benn zuschrieb; er berief sich auf die »Unterrichtung« seiner »Generation« durch Das siebte Kreuz: Ihr Buch [...] hat mich geformt, hat meinen Blick geschärft und läßt mich heute die Globke und Schröder in jeder Verkleidung erkennen, sie mögen Humanisten, Christen oder Aktivisten heißen. Die Angst Ihres Georg Heisler hat sich mir unverkäuflich mitgeteilt; nur heißt der Kommandant des Konzentrationslagers heute nicht mehr Fahrenberg, er heißt Walter Ulbricht und steht Ihrem Staat vor.22

Der gemeinsame Brief Schnurres und Grass’ hielt den DDR-Schriftstellern das – der Einsicht, wer schweige, werde schuldig, entsprechende – Verhalten bundesrepublikanischer Schriftsteller als Muster vor:

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17 18 19 20 21 22

Vgl. hierzu Hans Karl Rupp: Außerparlamentarische Opposition in der Ära Adenauer. Der Kampf gegen die Atombewaffnung in den fünfziger Jahren. Eine Studie zur innenpolitischen Entwicklung der BRD. Köln 1980, S. 185–187; Erika Runge: »Wir werden nicht Ruhe geben, solange der Atomtod unser Volk bedroht«. Zur Bewegung gegen Atomrüstung Ende der fünfziger Jahre. In: Dichter und Richter. Die Gruppe 47 und die deutsche Nachkriegsliteratur. Hg. von Jürgen Schutte. Berlin 1988, S. 42–47. Hans Werner Richter: Schweigen bedeutet Mitschuld. In: Die Kultur, 15.4.1958, S. 4. Akademie der Künste (im Folgenden: AdK), Bestand Richter, 343, Mappe: Anti-AtomBewegung, S. 5. Vgl. Günter Grass: Werkausgabe in zehn Bänden. Hg. von Volker Neuhaus. Bd. 9: Essays. Reden. Briefe. Kommentare. Darmstadt, Neuwied 1987, S. IX, 33. Hans Werner Richter (Hg.): Die Mauer oder Der 13. August. Reinbek 1961. Richter: Die Mauer, S. 65–66. Richter: Die Mauer, S. 63.

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Wenn westdeutsche Schriftsteller sich die Aufgabe stellen, gegen das Verbleiben eines Hans Globke in Amt und Würden zu schreiben, wenn westdeutsche Schriftsteller das geplante Notstandsgesetz des Innenministers Gerhard Schröder ein undemokratisches Gesetz nennen; wenn westdeutsche Schriftsteller vor einem autoritären Klerikalismus warnen, dann haben Sie genauso die Pflicht, das Unrecht vom 13. August beim Namen zu nennen.23

Auf Schwierigkeiten beim – hier zur Norm erhobenen – Versuch, durch öffentliches Sprechen Mitschuld zu vermeiden, macht ein Fernsehspiel aufmerksam, das als Exposé und in zwei Fassungen in Richters Nachlass liegt. Der Plot fiktionalisiert das Scheitern des Gruppe 47-Organisators bei der Ausschaltung des späteren FDP-Akademiedirektors Rolf Schroers24 aus der sozialdemokratisch dominierten »Kampf dem Atomtod«-Bewegung, zunächst unter dem Titel Mitschuld: […] daß erst heute viele Deutsche mitschuldig an den Verbrechen des dritten Reiches werden. Ihre Mitschuld besteht im Verdrängen, Verschweigen, Zudecken jener Vorgänge, besonders dann, wenn es sich um Freunde, Bekannte oder Mitarbeiter handelt.25

Motiviert wird das Scheitern des – nach Richters Selbstbild modellierten – Helden dadurch, dass die NS-Vergangenheit des ›untragbaren‹ Gegenspielers nur durch Dokumente »aus dem Osten« bewiesen werden könnte.26 Die erste Fassung schließt mit einer Überblendung der verbrennenden Dokumente: Die Dokumente verwandeln sich langsam in [...] Schlagzeilen, die von der unbewältigten Vergangenheit Zeugnis ablegen: Der ehemalige Generalstaatsanwalt beim Volksgerichtshof Lautz [...], die vielen durch Bluturteile belasteten Richter und Staatsanwälte, [...] der Nürnberger-Gesetze-Kommentator Globke, Minister Oberländer usw.27

Im letzten Dialog der zweiten Fassung folgt der Held dem Rat seiner Ehefrau: »Irene: Lass ihn leben. [...] Marboth: Aber wie kann ich denn das? Das bedeutet, daß auch ich geschwiegen habe. Auch ich. Dann kann ich nie mehr meine Stimme erheben in ähnlichen Fällen.... [sic] nie mehr.«28 Er zieht sich aus der Politik zurück mit Irenes Trost, dass die »Gerechtigkeit«, für die er immer eingetreten sei, den Mörder auch »ohne uns« erreichen werde.29 Der Held des von zwei Sendern abgelehnten Fernsehspiels30 belegt mit dem Verlust des Rechts auf öffentliches Sprechen durch die Schuld des Schweigens das

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Richter: Die Mauer, S. 65. Vgl. hierzu Helmut Peitsch: Der Soldat als Mörder – eine ›Kunstfigur‹? Zum ›Fall Schroers‹ 1959/60. In: Bestandsaufnahme. Studien zur Gruppe 47. Hg. von Stephan Braese. Berlin 1999, S. 247–272. AdK, Bestand Richter, 1033, Exposé für ein Fernsehspiel, S. 1. AdK, Bestand Richter, 1029, Denunziant oder Henker. Fernsehspiel, S. 75. AdK, Bestand Richter, 1029, Denunziant oder Henker. Fernsehspiel, S. 81. AdK, Bestand Richter, 1031, Denunziant oder Henker. Fernsehspiel, 2. Fassung, S. 111. AdK, Bestand Richter, 1031, Denunziant oder Henker. Fernsehspiel, 2. Fassung, S. 111. Vgl. AdK, Bestand Richter, 72/86/519 Bl. 212 Brief des Hessischen Rundfunks an Richter vom 20.11.1961; 72/86/530 Bl. 378, Brief Richters an Hajo Schedlich/ZDF vom 19.7.1965.

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Resümee des Exposés: »Ein krankes Volk kann nicht gesunden, weil es eine Radikalkur nicht durchgeführt hat, nicht durchführen will, oder nicht durchführen kann.«31 Im Jahr der Ablehnung von Richters Denunziant oder Henker durch das ZDF lud sich der Autor Gerhard Schoenberner, 1960 bekannt geworden durch sein Buch Der gelbe Stern, zur Berliner Tagung der Gruppe bei Richter ein – auf der Rückseite eines hektographierten FU-Flugblatts vom 1.10.1965, das aufrief, die »Resolution« »einige[r] Assistenten und Studentenvertreter« »für den Frieden in Vietnam« zu unterschreiben: ›Wer schweigt wird mitschuldig‹, schrieben Günter Grass und Wolfdietrich Schnurre nach dem Bau der Mauer in einem offenen Brief an die Schriftsteller der DDR. Dieser Satz gilt auch heute, für uns besonders. In einem Land, in dem es keine politische Verfolgung nach sich zieht, die Wahrheit auszusprechen, gibt es keine Entschuldigung dafür, sie zu verschweigen.32

Dem Hinweis auf das Fehlen politischer Verfolgung in der BRD entsprach der auf den Protest gegen den Vietnam-Krieg in den USA selbst, als Gegenargument gegen eine Presseberichterstattung, der die Resolution »offensichtlich kommunistischer Initiative entsprang«: Während das geistige Amerika sich zum Protest gegen die Vietnam-Politik seiner Regierung formiert, die eben jene Ideale liquidiert, die zu verteidigen sie ausgezogen ist, erhebt sich in der Bundesrepublik keine Stimme des Protests. Wir halten es für kein moralisch vertretbares Prinzip, Unrecht nur anzuklagen, wenn es auf der anderen Seite geschieht, wie es heute in Ost und West zur politischen Praxis gehört. Wir meinen, daß wir die Verurteilung des Krieges [...] nicht den Kommunisten und ihren Anhängern allein überlassen dürfen.33

Die letzte Resolution der Gruppe 47 war die erste, die (entgegen Richters späterer Darstellung, daß »es nie die ›Gruppe 47‹« gewesen sei, »die da protestierte, obwohl es in der Öffentlichkeit so gesehen wurde. Es war vielmehr stets ein Protest von vielen Einzelgängern, die sich mit der ›Gruppe 47‹ verbunden fühlten«34) ausdrücklich im Namen der Gruppe aufrief: »Die Gruppe 47 ruft alle deutschen Schriftsteller zur Unterstützung Israels auf. [...] Kein Deutscher kann die beabsichtigte Vernichtung des Staates Israel zulassen. Es ist unsere moralische Pflicht zu helfen.«35 Eine vorangegangene Erklärung enthielt als Kernsatz der »unterzeichneten Schriftsteller der Gruppe 47«: »sie sehen in der immer wieder verkündeten Absicht, den Staat Israel zu vernichten, die gleiche Politik des Ausra-

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AdK, Bestand Richter, 1033 Exposé, S. 3. AdK, Bestand Richter, 72/86/523 Bl.221, Brief Gerhard Schoenberners an Hans Werner Richter vom 3.11. [1965], Rückseite. AdK, Bestand Richter, 72/86/523 Bl.221, Brief Gerhard Schoenberners an Hans Werner Richter vom 3.11. [1965], Rückseite. Hans Werner Richter: Hans Werner Richter und die Gruppe 47. Frankfurt/Main u. a. 1981, S. 80. Kölner Stadt-Anzeiger, 13.6.1967.

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dierens, die Hitler betrieb«.36 Zwei Autoren, die nicht unterzeichnet hatten, wurden in der Rezeption der Gruppenerklärung wegen ihres mitschuldig machenden Schweigens besonders angegriffen: Hans Magnus Enzensbergers und Peter Weiss’ »Schweigen ist das größte moralische Verbrechen der gegen das moralische Verbrechen im Dritten Reich angetretenen Nachkriegsgeneration. Diese Generation ist [...] im Versagen vor der Verantwortung bereits abgetreten.«37 Der Feuilletonchef der im Handelsblatt aufgegangenen Deutschen Zeitung verkündete auf diese Weise – im Namen einer »nachrückenden Generation« – den »Abschied« von der Gruppe 47 als der Vertretung der »Nachkriegsgeneration«,38 indem er die von Richters Formulierung gerade ausgeschlossenen zu repräsentativen Autoren, die Ausnahmen zur Regel machte, vor allem aber, indem er die Abweichung zur Generationsfrage erklärte. Allerdings durchzieht Schultz’ Verallgemeinerung von Enzensberger und Weiss zu der Nachkriegsgeneration der Widerspruch, dass er sie einerseits als »kommunistisch-konform« darstellt, was sie in Gegensatz zur sozialdemokratischen Gruppenmehrheit setzt,39 anderseits an ihnen das »Gesellschaftsspiel« des »automatische[n] Protest[s] bei jeder demokratischen Bedenklichkeit« belegt: »fortgesetzte Vergangenheitsbewältigung«, die sich »bei den publizistischen Fehlern einer endlich abtretenden Generation von Karl Korn bis Kurt Ziesel aufhält«.40 Das Beispiel des Nacht und Nebel-Protests (von dem wichtige Linien zur Solidarisierung mit dem französischen Manifest der 121-Intellektuellen zur »Gehorsamsverweigerung«41 im Algerienkrieg und zur Spiegel-Resolution über »sittliche Pflicht« zur »Unterrichtung der Öffentlichkeit über sogenannte militärische Geheimnisse«42 laufen) zeigt, wie die Verwendung des Topos vom schuldigen Schweigen vom Gegenwartskontext bestimmt wurde. Dabei klammere ich die antikommunistische und nationalistische Wendung in Westberlin aus, wo Resnais zusammen mit dem Film Ernst Reuter gezeigt wurde, so dass der Regierende Bürgermeister Willy Brandt zu Nacht und Nebel sagen konnte: Dieser Film klagt nicht unser Volk an, und ich bin froh, daß die schrecklichen Fragen, die er aufwirft, heute weitgehend nicht mehr als eine Frage der Schuld behandelt werden

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40 41 42

Reinhard Lettau (Hg.): Die Gruppe 47. Bericht Kritik Polemik. Ein Handbuch. Neuwied, Berlin 1967, S. 462, im laufenden Text im Folgenden als Lettau. Uwe Schultz: Ein Zwischenruf. In: Handelsblatt, Düsseldorf, 10.6.1967. Schultz: Ein Zwischenruf. Vgl. Helmut Heißenbüttels Rückblick auf den »Moment, in dem mit dem von Mitgliedern der Gruppe ins Leben gerufenen Wahlbüro für die SPD die Bindung an eine der bundesdeutschen politischen Parteien eindeutig gemacht wurde«, Helmut Heißenbüttel: Literarische Archäologie der fünfziger Jahre. In: Die fünfziger Jahre. Beiträge zu Politik und Kultur. Hg. von Dieter Bänsch. Tübingen 1985, S. 314. Schultz: Ein Zwischenruf. Lettau: Die Gruppe 47, S. 452. Lettau: Die Gruppe 47, S. 458.

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müssen. Es wächst eine neue Generation nach, die aber wissen muß, daß die Therapie des Gras-Wachsen-Lassens nicht allein ausreicht, mit der Vergangenheit fertig zu werden.43

Hingegen begründete der Initiator des Gruppe-47-Protests, Paul Schallück, sein Verhalten im April 1956 in einer Rede über Vergeßlichkeit, die in der Kultur nur mit Kürzungen in zwei Passagen erschien; sie lauten ungekürzt: Wir laden schreckliche Schuld auf uns, wenn wir andere dazu verleiten oder uns dazu verleiten lassen, all die Menschen zu vergessen, die in den Konzentrationslagern hingemordet wurden, vergast, erschlagen, unter entsetzlichen Qualen zu Tode gefoltert: rund sechs Millionen Juden allein. Sind denn die Entsetzlichkeiten in unser Bewußtsein eingedrungen, haben sie unser Bewußtsein, unsere Lebensweise gewandelt? Wir leben privat und öffentlich so, als habe es in unserem Lande keine Einrichtungen jener Art gegeben, die sich Konzentrationslager nannten, und hier und dort ist es schon so weit, daß Menschen, vor allem Menschen jüdischen Glaubens, die den Lagern entkommen sind, über die Schulter angesehen werden, ja, daß sie mit Schrecken erfüllt unser Land ein zweites Mal verlassen und erneut in die Emigration gehen.44

Ein zweiter, unmittelbar hieran anschließender Abschnitt, der in der Kultur vollständig entfällt, betrifft den Widerstand: Ein unermeßliches Unrecht tun wir an den Männern und Frauen der verschiedenen Widerstandsgruppen, vor allem denjenigen vom 20. Juli 1944. [...] Durften wir nicht mit Recht erwarten, das Vermächtnis dieser Männer und Frauen würde von Erziehern und Politikern als Vorbild, als Wegweiser unserer Jugend übergeben [...]? Erich Kästner hat einmal gesagt: ›[...] Hat man versucht, diese Männer und Frauen [...] zu dem zu machen, was sie sind? [...]‹ Wenn die Entwicklung so weitergeht wie bisher, wird in absehbarer Zeit ein dichtes Laken völligen Vergessens über den 20. Juli gebreitet sein.45

Schallücks Kritik an Politikern, Erziehungswesen und Publizistik hat ihren Maßstab in der Vorstellung, dass die Erinnerung an die faschistischen Verbrechen, vor allem der Judenverfolgung, zu einer ›gewandelten‹ öffentlichen und privaten ›Lebensweise‹ verpflichte. In dieser Erinnerung sieht er »Scham und Hoffnung«46 verbunden und er bezieht sich für diese Verbindung auf die unmittelbare Nachkriegszeit: die »Zeit« »vor zehn, vor acht, noch vor sieben Jahren« – also bis 1949 – sei eine gewesen, »in der wir damit begannen, das Vergangene und die Toten heimzuholen, sie anzunehmen, sie in unser Bewußtsein aufzunehmen«47 als »Kraft [...] zu einem neuen politischen und privaten Leben«.48 In der Gegenwart von 1956 sieht er hingegen das minoritäre »An- und Aufnehmen der Vergangenheit ins Bewusstsein« vom »Vergessen« oder »Verdrängen«49 dominiert, das er als die

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Willy Brandt: »Mut zur Wahrheit!« In: Der Abend, Berlin, 14.11.1956, S. 3. Paul Schallück: Zum Beispiel. Essays. Frankfurt/Main 1962, S. 14/15. Schallück: Zum Beispiel, S. 15. Schallück: Zum Beispiel, S. 13. Schallück: Zum Beispiel, S. 13. Schallück: Zum Beispiel, S. 14. Schallück: Zum Beispiel, S. 15–16.

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Tendenz der Mehrheit von der einer anderen Minderheit unterscheidet, der zur »chauvinistischen aktiven Geschichtsfälschung«.50 Schallücks Unterscheidung von drei Tendenzen in der bundesrepublikanischen Erinnerung des Jahres 1956 wird von Erich Kuby bestätigt, wenn er am 15.7. in der Kultur über eine Münchener Aufführung von Resnais’ Film berichtet, die am Tag der Bundestagsabstimmung über die Wehrpflicht vor »ein paar tausend Menschen« im Amerika-Haus stattfindet, die sich »über dessen Inhalt [...] nach der [...] Pressepolemik im klaren sein mußten«: Es ist gewiß nicht an dem, daß das Volk in seiner Gesamtheit den spät sich einstellenden Willen hätte, sich über seine Vergangenheit zu beugen, in diesen entsetzlichen Abgrund hineinzublicken und daraus unerbittliche Lehren für die Zukunft zu ziehen. [...] vor einigen Jahren würde der Saal im Amerikahaus [...] vermutlich halb leer gewesen sein. [...] Fraglos ist es immer noch nur eine Minderheit, die sich einer solchen Erschütterung auszusetzen wagt; sie ist aber doch schon so groß, daß man sich von ihr einen Einfluß auf das politische Klima in der Bundesrepublik erhoffen darf.51

Von den Zuschauern des Films erwartet Kuby die Frage nach der Verantwortung für die Verbrechen: Das Entsetzlichste an diesem Film sind für einen Deutschen [...] die Bilder jener deutschen Offiziere und Soldaten, die in tadellosen Uniformen, wie Personifikationen des ›Herrenmenschen‹, elegant und lächelnd auf Leiden und Sterben herabschauen, Befehle geben, Mordmaschinen im Gange halten [...]. Deutsche Uniformen. [....] Hat die Regierung dies bedacht, wollte sie deshalb den Film nicht gezeigt haben, weil sie wieder Offiziere braucht?52

Der von der Regierung – durch Unterdrückung der Erinnerung an die Verbrechen – gepflegten Tradition des deutschen Soldaten setzt Kuby eine Erinnerung entgegen, die »politisch mündige Bürger und Bürgerinnen«53 kennzeichne. Der Gegensatz von soldatisch und zivil oder autoritär und demokratisch spielt eine Schlüsselrolle in Kubys Referat auf der Hamburger Tagung des Grünwalder Kreises, in dem er nicht nur die »Auffassung, daß der Hitlerismus kein ›deutscher Betriebsunfall‹ gewesen wäre«, begründet, sondern vor allem die »psychologischen Voraussetzungen für ein Wiederaufleben des Faschismus in Deutschland«.54 Hierüber kommt es zu einer relativ scharfen Polemik des SPD-Organs Vorwärts, wo Kuby von dem Mitglied des Grünwalder Kreises Lohmar »angeschossen« wird.55 Allerdings ist es derselbe Lohmar, der das damalige SDS-Vorstandsmitglied Gerhard

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Schallück: Zum Beispiel, S. 17. Erich Kuby: Tag und Nebel. Wer trägt die Verantwortung? In: Die Kultur 4 Nr. 64 (1955/56), S. 1. Kuby: Tag und Nebel. Kuby: Tag und Nebel. Karl Heinz Schuster: Wir sind nicht allein. Ergebnisse der Hamburger Tagung. In: Die Kultur 4 Nr. 62 (1955/56) S. 4. So Hans Georg Brenner an Richter am 22.5.1956, Hans Werner Richter: Briefe. Hg. von Sabine Cofalla, München, Wien 1997, S. 230.

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Schoenberner bei Richter in den Grünwalder Kreis einführt.56 Schoenberner kritisiert dann in seinem Bericht über die Kölner Tagung in der Neuen Gesellschaft Kuby von links; der Begrenzung der Bekämpfung des Neofaschismus auf personalpolitischen Elitenaustausch und justizielle Ausgrenzung von rechtsradikalen ›Gesinnungen‹ hält Schoenberner entgegen: [...] bedeutet Richters These ›Den Demokratisierungsprozeß vorantreiben‹ nicht mehr? [...] Damit wird sich der ›Grünwalder Kreis‹ vor der Frage sehen, ob er sich beschränken lassen soll auf die Don Quichotterie eines Kampfes gegen Symptome, die man mißbilligt, oder ob man – der besseren Einsicht folgend – von der Kritik isolierter politischer Phänomene zu der Kritik der ihnen gemeinsamen Basis kommt und sich entschließt, die Ursachen der Folgen zu bekämpfen.57

Kubys sozialpsychologische und Schoenberners sozialstrukturelle Verortung der Gefahr in der BRD-Gesellschaft setzen am Problem der »Geisteshaltung«58 der ›vergesslichen‹ Mehrheit an; sie wird in einem Buch, das bei Desch 1956 erschien, für das Die Kultur kontinuierlich warb und aus dessen Erlös der Grünwalder Kreis mitfinanziert wurde,59 folgendermaßen beschrieben: […] eine bestimmte Geisteshaltung [...], die schon viel früher da war als der Nationalsozialismus. Aus ihr ist der Nationalsozialismus gewachsen. Und diese Geisteshaltung beobachten wir nach wie vor. Wir kennen das doch alle: der Deutsche ist angeblich tüchtiger als der Franzose, ehrlicher als der Engländer, kultivierter als der Amerikaner, zivilisierter als der Russe und die Ostländer, großzügiger als der Schweizer, Holländer, Däne und die übrigen Kleinstaatler, er ist härter als alle anderen zusammen, nur menschlicher als jene ist er selbst nach seiner eigenen Auffassung nicht. [...] wir überlassen den anderen ihre ›Humanitätsduselei‹. Bei uns muß Einheitlichkeit herrschen, Stärke und Quadratkilometerzahlen sind unsere Idole [...]. Bei uns kann man stets durch Berufung auf den sogenannten Frontgeist, den Geist des Ausnahmezustandes, menschliche Regungen unterdrücken. Bei uns ist man immer fest entschlossen, auch wenn man keine Ahnung hat wozu. Und es herrscht Ordnung.60

Helmut Hammerschmidt, Redakteur des Bayerischen Rundfunks, gab diese Charakterisierung am 7. Februar 1956 in einer Sendereihe zu » aktuellen Ereignisse[n] [...], die wir unter dem Sammelbegriff Renazifizierung zusammenzufassen pflegen«;61 das mit Michael Mansfeld zusammen verfasste Buch erschien 1956 unter dem Titel Der Kurs ist falsch. Die Publikation ist für den Grünwalder Kreis hoch repräsentativ, insofern Hammerschmidt und Mansfeld die »unsinnige[...] Kollek-

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Vgl. Brief Schoenberners an Richter vom 10.8.1956, AdK, Bestand: Hans Werner Richter, 72/86/509, Bl. 331. Gerhard Schoenberner: Das Dilemma des Grünwalder Kreises. In: Die Neue Gesellschaft H.6 (1956), S. 463. Helmut Hammerschmidt, Michael Mansfeld: Der Kurs ist falsch. Wien, München, Basel 1956, S. 72. Vgl. Manfred Kittel: Die Legende von der »Zweiten Schuld«. Vergangenheitsbewältigung in der Ära Adenauer. Berlin, Frankfurt/Main 1993, S. 271. Hammerschmidt: Der Kurs ist falsch, S. 72. Hammerschmidt: Der Kurs ist falsch, S. 67.

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tivschuld-These«62 sowie die »verfehlte[...] Entnazifizierung«63 ablehnen und versichern, »die strafrechtliche Schuld oder Unschuld dieser Beamten interessiert uns nicht«;64 ihre Kritik an der ›Renazifizierung‹ beschränkt sich auf die an der Unvollständigkeit des Elitenwechsels, woraus sich für sie die permanenten Skandale unzureichender Wiedergutmachung und Anerkennung des Widerstands erklären. Es dürfte allerdings zur Verstärkung des Protests gegen die Intervention in Cannes beigetragen haben, dass das Auswärtige Amt im Zentrum von Hammerschmidt/Mansfelds Kritik steht, nicht zuletzt wegen der »Mitschuld des alten Auswärtigen Amtes«65 an der Ermordung der europäischen Juden. Weniger repräsentativ für den Grünwalder Kreis ist jedoch der zweite Schwerpunkt der Kritik, den die Verfasser auf den Begriff der »Auseinandersetzung mit unserer unglücklichen politischen Vergangenheit«66 bringen; die ›Auseinandersetzung‹ als »eine entscheidende Voraussetzung für eine glücklichere Zukunft«67 ziele darauf, die Vergangenheit zu ›überwindenden‹: »Millionenfacher Mord ist kein Betriebsunfall«.68 Der umstrittene Charakter dieser ›Auseinandersetzung‹ mit einer »bestimmten Geistesentwicklung [...], welche schon lange vor dem Nationalsozialismus verbildenden Einfluß ausgeübt hat« und »Konzentrationslager, Judenverfolgung und Euthanasie«69 möglich gemacht habe, wird deutlich, wenn sich Hammerschmidt an seine Adressaten wendet: Meine Hörer, ich begegne immer wieder, auch bei Menschen, die nachweislich willens sind, sich mit der Vergangenheit kritisch auseinanderzusetzen, einem geradezu kindlich ungläubigen Staunen, wenn ich Dokumente, deutsche Dokumente zitiere, aus denen die Beteiligung hoher Wehrmachtsangehöriger an ganz eindeutigen Straftaten ersichtlich wird. An Deportationen, Massenliquidationen, Raub, Mord, also Straftaten, die sogar nach nationalsozialistischem Militärrecht verboten waren.70

Wenn Hammerschmidt/Mansfelds Buch eine Kombination vorschlägt von Personalpolitik und Auseinandersetzung mit der Geisteshaltung, die den Faschismus möglich gemacht habe, dann geht das von Mansfeld zusammen mit Jürgen Neven du Mont geschriebene Buch Denk ich an Deutschland noch einen Schritt weiter in die zweite Richtung; es erschien gleichfalls bei Desch und wurde in der Kultur ausgiebig vorab- und seit Erscheinen nachgedruckt. Lässt sich die von Hammerschmidt/Mansfeld vorgeschlagene veränderte »Geisteshaltung« als zivil bezeichnen, so die von Mansfeld/Neven du Mont als antiautoritär. Die Differenz ergibt sich vor allem daraus, dass Mansfeld und Neven du Mont die Figur des Soldaten als unschuldiges Opfer streichen: Sie nehmen sich selbst nicht aus vom Mitwissen,

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Hammerschmidt: Der Kurs ist falsch, S. 59. Hammerschmidt: Der Kurs ist falsch, S. 67. Hammerschmidt: Der Kurs ist falsch, S. 69. Hammerschmidt: Der Kurs ist falsch, S. 68. Hammerschmidt: Der Kurs ist falsch, S. 6. Hammerschmidt: Der Kurs ist falsch, S. 6. Hammerschmidt: Der Kurs ist falsch, S. 7 Hammerschmidt: Der Kurs ist falsch, S. 71. Hammerschmidt: Der Kurs ist falsch, S. 73.

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von der Duldung und der Beteiligung am Völkermord, denn sie »glauben, daß die Scham über Vergangenes, das Entsetzen über eigenes Versagen, die Menschen zu ändern vermag«.71 »Auschwitz und Buchenwald« begründen in der Einleitung zu dem an Kurt Tucholskys Deutschland, Deutschland über alles formal anknüpfenden Kommentar in Wort und Bild den Appell: »Heute wie damals: Wir sind mitverantwortlich für das, was in Deutschland geschieht [...]. Wir lassen es zu – und wir tragen die Schuld!«72 Der CDU-Bundestagsabgeordnete Dr. Graf Henckel fühlte zwar, wie er in einem Brief an den Verlag versicherte, die »Versuchung, eine solche Veröffentlichung [...] als verbrecherisch zu bezeichnen«, legte aber »[a]uf alle Fälle« »namens und im Interesse der freien deutschen Staatsbürger, ihrer Kinder und Kindeskinder nachdrücklich und vorbehaltlos schärfsten Protest« ein.73 Mansfeld und Neven antworteten: Wir waren jung – bitte beachten Sie die Vergangenheit –, als der zweite [sic] Weltkrieg begann, in dem wir beide zusammen 10 Jahre Soldat waren, 12mal verwundet wurden und 22mal ›ausgezeichnet‹. Nach der gar nicht ausgezeichneten Erfahrung dieser und der Nachkriegsjahre entstand dieses Buch. Wir sind nämlich nicht noch einmal bereit, uns widerstandslos regieren zu lassen.74

Der Kontext der Nacht und Nebel-Erklärung der Gruppe 47 zeigt beispielhaft, dass der Topos vom schuldig machenden Schweigen zur Begründung durchaus unterschiedlicher Formen von Widerstand verwendet wurde: Das Spektrum reichte bei den Autoren im Umkreis der Gruppe 47 von Kritik über Protest bis zum Appell zur Bekämpfung der Ursachen. Doch die Reaktion auf das Vorgehen der Bundesregierung gegen Resnais’ Film war nicht auf die literarische Öffentlichkeit beschränkt. 1956 machte der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer als Hauptredner des 2. Bundesjugendkongresses des DGB deutlich, dass es ihm seit dem RemerProzess bei der Legitimierung des Widerstands nicht um die ›Nation‹ des 20. Juli, sondern um die Demokratie ging,75 um das »Widerstandsrecht des kleinen Mannes«:76 Der »Widerstandskampf, den die besten Deutschen gegen das HitlerRegime führten«, referierte die VVN-Wochenzeitung Die Tat Bauers Rede (die

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Michael Mansfeld: Denk ich an Deutschland. München, Wien, Basel 1959, S. 24. Jürgen Neven/Michael Mansfeld: Denk ich an Deutschland. Ein Kommentar in Wort und Bild. München, Wien, Basel 1956, S. 3. Graf Henckel: Ein Graf schrieb einen empörten Brief. Der Skandal um das Buch »Denk ich an Deutschland« wurde fortgesetzt. In: Deutsche Volkszeitung, Düsseldorf, 20.10.1956. Henckel: Ein Graf schrieb einen empörten Brief. Vgl. zu Bauers Begriff des individuellen Widerstandsrechts Claudia Fröhlich: Fritz Bauer – Ungehorsam und Widerstand sind »ein wichtiger Teil unserer Neubesinnung auf die demokratischen Grundwerte«. In: Claudia Fröhlich, Michael Kohlstruck (Hg.): Engagierte Demokraten. Vergangenheitspolitik in kritischer Absicht. Münster 1999, S. 108– 109. Fröhlich: Fritz Bauer, S. 111.

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von Wolfgang Kraushaar77 skandalöserweise verschwiegen wird) vor »Jugendlichen, die ihm immer wieder begeisterten Beifall zollten«,78 […] ist nicht abgeschlossen. Er wird ausgefochten hier und heute. Widerstand ist höchste Verantwortlichkeit für das Schicksal seiner Mitmenschen. ›Der Untertanengeist habe damals nach Dachau, Buchenwald und Auschwitz geführt. ‚[...] Viele [...] meinen [auch heute], Ruhe sei die erste Bürgerpflicht.‹79

Als im Juli 1956 ein Thema der Kölner Mittwochsgespräche des Bahnhofsbuchhändler Gerhard Ludwig80 die Frage »Dürfen wir vergessen?« war, die von den »Zuhörer[n] [...] mehr oder weniger mit ›Nein‹ beantwortet« wurde,81 hielt der Sozialdemokrat Carlo Schmid ein Einleitungsreferat: Die große Schuld der deutschen Gebildeten ist gewesen – ich spreche jetzt von denen, die wahrhaft unschuldig sind – sich in das Gehäuse des Hieronymus einzuschließen oder in den Elfenbeinturm, zu sagen: was geht mich an, was da draußen geschieht? Ich kann es nicht ändern mit meinen schwachen Kräften und im übrigen tue ich für die Menschheit mehr, wenn ich ein schönes und gutes Buch schreibe, als wenn ich auf das Forum gehe, auf den Markt.82

»Gerade der Gebildete muß auf dem Forum, muß auf dem Markt das verteidigen, was in seinen Büchern steht.«83 Und nur an dieser Stelle heißt es in Marion Gräfin Dönhoffs Bericht in der Zeit: »Die Jungen klatschen lang und anhaltend.«84

II. Zurückweisung der Figur als ›billig‹ und ›gefährlich‹ Der Leiter des Kölner Büros des Kongresses für kulturelle Freiheit85 lud 1961 Hans Werner Richter zu einem europäischen »Gespräch« »über die Pflicht zum Widerstand« ein,86 indem er Fragen vorgab, die zunehmend an Dringlichkeit gewannen: Von »Gab es wirklich eine Pflicht zum Widerstand gegen den Nazismus?« über »War der Kampf der Résistance-Bewegung gegen die deutsche Besetzung immer

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Vgl. Wolfgang Kraushaar: Die Protest-Chronik 1949–1959. Eine illustrierte Geschichte von Bewegung, Widerstand und Utopie. Bd.2. Hamburg 1996, S. 1418–1419. Fritz Bauer: Widerstand hier und heute. In: Die Tat, Frankfurt/Main, 28.7.1956, S. 1. Bauer: Widerstand, S. 1. Vgl. Historisches Archiv der Stadt Köln (Hg.): Freier Eintritt – Freie Fragen – Freie Antworten. Die Kölner Mittwochsgespräche. Köln: Historisches Archiv der Stadt Köln 1991. Hans-Joachim Schreiber: Darf man vergessen. Eine interessante Mittwoch-Diskussion im Kölner Hauptbahnhof. In: Die Kultur 4 (1955/56) Nr. 66, S. 4. Schreiber: Darf man vergessen, S. 4. Marion Gräfin Dönhoff: Dürfen wir vergessen? Diskussion über Deutschlands Schuld und den Antisemitismus. In: Die Zeit, 12.7.1956. Dönhoff: Dürfen wir vergessen? Vgl. Michael Hochgeschwender: Freiheit in der Offensive? Der Kongreß für kulturelle Freiheit und die Deutschen. München 1998, S. 508/509. AdK Berlin, Bestand Richter, 236, S. 2, dort auch die folgenden Zitate.

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gerechtfertigt?« und »Ist es an uns, die Deutschen in der Sowjetzone zum Widerstand gegen das Ulbricht-Regime aufzufordern?« ging es zu der einzigen, von der es hieß: »Hier werden die Meinungen hart aufeinanderprallen.« Sie lautete: »Gibt es ein Recht oder gar eine Pflicht zum Widerstand gegen den ›Bonner Staat‹, das ›Regime Adenauer‹ oder die atomare Bewaffnung des Westens?« Zugleich war diese Frage jedoch die einzige, zu der die Einladung die Antwort bereits vorwegnahm, wenn auch als rhetorische Frage verkleidet: »Handelt es sich dabei nicht einfach um einen billig zu kompensierenden Nachholbedarf?« Schärfer formulierte sieben Jahre später Richard von Weizsäcker, als Präsident des Evangelischen Kirchentags Redner zur Woche der Brüderlichkeit der Westberliner Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit: »Es ist ein gefährlicher Irrtum zu glauben, heute lasse sich im Widerstand gegen die Organe unseres Staates zeigen, was im Widerstand gegen die Machthaber des Dritten Reiches unterblieb.«87 Ob das ›‹Billige‹ oder das ›Gefährliche‹ des nachgeholten Widerstand von konservativen Publizisten wie Wolf Jobst Siedler, Joachim Fest oder Hans Egon Holthusen betont wurde, im Kern ging es um den Vorwurf, in einer »Übernahme der östlichen Sicht« auf die BRD als »präfaschistisches Gebilde«88 »das Amt des Dichters auf aktiven Nonkonformismus festzulegen«.89 Holthusen sah hierin eine Gefahr vor allem für den Dichter, von dem nur zu verlangen sei, dass er »ein stabiles und freiheitliches Gemeinwesen, in dem jeder nach Herzenslust auch Nonkonformist sein kann, in kritischer Sympathie als seine gegebene Heimat anerkennt«.90 In einem Grundsatzartikel im Monat über Günter Grass als politischer Autor verglich Holthusen seine eigene Position in der unmittelbaren Nachkriegsszeit, »daß alle ›wahre‹ Dichtung un- oder überpolitisch sei«, die damals fast unumstritten gewesen sei, mit der in der Literatur der sechziger Jahre dominierenden, wo er ältere, mittlere und jüngere Autoren (von Hans Erich Nossack und Wolfgang Koeppen über Heinrich Böll und Andersch bis Uwe Johnson und Grass) »geneigt« sah, »ihre ganze schriftstellerische Position als eine moralisch-politische Pflichterfüllung zu verstehen«.91 Die Ursache für diese Differenz nannte Holthusen das »Erlebnis der Gegenwärtigkeit des Vergangenen«: Zwischen damals und heute liegt das, was man mit einem leider schon ziemlich abgedroschenen Schlagwort die ›unbewältigte Vergangenheit‹ nennt. Diese Vergangenheit ist, wie wir alle wissen, im Laufe von zwei Jahrzehnten nicht blasser und gleichgültiger geworden, sondern stärker.92

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Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit in Berlin (Hg.): Toleranz und Brüderlichkeit. 30 Jahre Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit in Berlin. Berlin 1979, S. 87. Lettau: Die Gruppe 47, S. 486. Lettau: Die Gruppe 47, S. 490. Lettau: Die Gruppe 47, S. 495. Hans Egon Holthusen: Günter Grass als politischer Autor. In: Holthusen (Hg.). Plädoyer für den Einzelnen. Kritische Beiträge zur literarischen Diskussion. München 1967, S. 42. Holthusen: Günter Grass, S. 42–43.

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Während Holthusen hier die Veränderung der dominierenden literarischen Position nicht mit dem Alter der Autoren verband, wurde den Protagonisten der Veränderung der öffentlichen Erinnerung schon in den späten fünfziger und frühen sechziger Jahren ungeachtet ihres jeweiligen Alters vorgeworfen, einen Generationskonflikt auszutragen.93 In diesem Sinne verzeichnete der damalige Bundeskanzler Ludwig Erhard die literarisch-publizistische Situation der frühen sechziger Jahre, als er im ersten Jahr des Auschwitz-Prozesses erklärte: Es ist das gute Recht der Jugend, sich mit der Generation ihrer Eltern auch kritisch auseinanderzusetzen. Damit ist aber auch die Pflicht der Jugend verbunden, das Blut, die Tränen und den Schweiß der Väter und Mütter nicht zu vergessen [...]. Die Deutschen haben zu einem gesunden Selbstbewußtsein zurückgefunden, das sich vornehmlich [...] auf die große Aufbauleistung gründet [...]. Die große Bürde, die uns die Vergangenheit auferlegte, ist nicht mehr gepaart mit der Verneinung des eigenen Vaterlandes.94

Doch waren es in den späten fünfziger und frühen sechziger Jahren Professoren wie Karl Jaspers, geboren 1883, Theodor W. Adorno (1903), Alexander Mitscherlich (1908) und Ulrich Sonnemann (1912), Literaturkritiker wie Hans Mayer (1905), Walter Boehlich (1920), Karl Markus Michel (1929) und Fritz J. Raddatz (1931), Schriftsteller wie Axel Eggebrecht (1899), Jean Améry (1912), Peter Weiss (1917), Wolfdietrich Schnurre (1920), Erich Fried (1921), Paul Schallück (1922) und Christian Geissler (1928), die vieldiskutierte Stellungnahmen und Werke zur Vergangenheitsbewältigung vorlegten. Erhard benutzte das Generationsverhältnis als Metapher für nationale Kontinuität, so dass deren Kritiker als undankbare Kinder ausgegrenzt werden konnten. Aber es ließ sich auch so verwenden, dass der Konflikt der Generationen für den Bruch mit nationaler Tradition stehen konnte. 1965 schrieb z. B. Boehlich im Nachwort zu Richard Matthias Müllers Dialog Über Deutschland: Die Kritik an der bundesdeutschen Wirklichkeit [...] kommt vor allem von den heute Fünfunddreißig- bis Fünfundvierzigjährigen, die sich nicht verstrickt haben und die Folgen des Krieges auf sich zu nehmen bereiter sind als ihre Väter, die den Vertrag von Versailles für ein nationales Unglück hielten und keine Ruhe gaben, bis ein größeres Unglück ihm folgte.95

Er setzte die Generation der zwischen 1920 und 1930 geborenen Söhne, die bereit seien, die DDR und die Oder-Neiße-Grenze anzuerkennen, in Gegensatz zu den Vätern, die »die Augen vor Hitlers Hinterlassenschaft [...] verschließen«;96 abschließend warnte er vor den nachgeborenen Enkeln, die er sich so vorstellte wie

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Vgl. Franz Josef Rappmannsberger: Zur belletristischen Literatur des Zweiten Weltkrieges. In: Wehrkunde 6 (1957) S. 665; Helmut Ibach: Die Geschichte einer Phrase. Was heißt »Unbewältigte Vergangenheit«? In: Die politische Meinung 5 Nr. 47 (1960), S. 35; Arnim Mohler: Was die Deutschen fürchten. Frankfurt/Main, Berlin 1966, S. 96–97. Helmut Dubiel: Niemand ist frei von der Geschichte. Die nationalsozialistische Herrschaft in den Debatten des Deutschen Bundestages. München, Wien 1999, S. 96–97. Richard Matthias Müller: Über Deutschland. 103 Dialoge. Frankfurt/Main 1967, S. 138. Müller: Über Deutschland, S. 137.

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Müllers Dialog, in dem ein reaktionärer Sohn dem progressiven Vater Fragen stellt: »Werden sie staats- und autoritätsgläubig werden wie ihre Vorväter, oder sind sie für die reale Demokratie zu gewinnen?«97

III. Konstruktion eines Generationskonflikts Horst Krügers Reportage aus dem Auschwitz-Prozess Im Labyrinth der Schuld wurde unter der Überschrift In einer deutschen Angelegenheit von Marcel ReichRanicki den Lesern der Zeit empfohlen, nicht nur weil »sich über diesen Prozeß [...] kein einziger prominenter deutscher Schriftsteller auch nur mit einem einzigen Wort geäußert hat«.98 Indem er Krügers »Prosastück« »eines der besten« nannte, »die ich dieses Jahr in einer deutschen Zeitschrift gefunden habe«,99 stellte er der Gegenwartsliteratur eine Aufgabe, eine Verpflichtung: »Was fühlen oder denken eigentlich diejenigen, die damals kleine Kinder waren, wenn erzählt wird, wie ihre Eltern drei Millionen Menschen in Auschwitz ermordet haben?«100 Der Hinweis auf Reich-Ranickis Zeit-Artikel gehört zum Kern einer Abrechnung mit der Gruppe 47, die der von Richter ausgeschlossene Rolf Schroers im Merkur veröffentlichte. Denn Schroers’ These, daß »hinter dem Plakat ›Gruppe 47‹ die literarischen Kontroversen und Unterschiede der deutschen Nachkriegsliteratur« verschwunden seien,101 lief auf den Vorwurf eines »Antifaschismus post festum«102 (Lettau, S. 388) hinaus: »nicht literarische Inhalte und Formen, sondern politisch eingefärbte, übrigens ziemlich allgemeinplätzig nonkonformistische Arrangements«103 kennzeichneten die Gruppe 47, und Schroers belegte diese Einschätzung bezeichnenderweise wie folgt: »Es gehört zur einschlägigen Diktion, wenn Marcel Reich-Ranicki in der Zeit die deutschen Schriftsteller auffordert, den Auschwitz-Prozeß als Lektion zu absolvieren.«104 Wenn Schroers auch betonte, dass die »Ablehnung« von dem, »was sie für neofaschistisch oder postfaschistisch hält«, etwas sei, was »die Gruppe mit jeder derzeitigen Öffentlichkeitsarbeit gemeinsam« habe, räumte er ein, dass »freilich die Limitierung dessen, was als nazistisch gelten soll, differiert«.105 Die Differenz zwischen der Gruppe 47 und der

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Müller: Über Deutschland, S. 138. Marcel Reich-Ranicki: Wer schreibt, provoziert. Kommentare und Pamphlete. München 1966, S.111, im laufenden Text im Folgenden als Reich-Ranicki; vgl. jetzt zur Korrektur Marcel Atze: Der Auschwitz-Prozeß in der Literatur, Philosophie und in der Publizistik. In: Auschwitz-Prozeß 4 Ks 2/63. Hg. von Irmtrud Wojak. Frankfurt/Main, Köln 2004, S. 637-807. 99 Reich-Ranicki: Wer schreibt, provoziert, S. 109. 100 Reich-Ranicki: Wer schreibt, provoziert, S. 112. 101 Lettau: Die Gruppe 47, S. 382. 102 Lettau: Die Gruppe 47, S. 382. 103 Lettau: Die Gruppe 47, S. 383. 104 Lettau: Die Gruppe 47, S. 383. 105 Lettau: Die Gruppe 47, S. 373–374. 98

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Öffentlichkeit, an der sie teilhat, brachte Schroers ins Bild des »antifaschistischen Verschwörergeist[s], der den Mangel seines post festum durch die Aktualisierung der Restbestände wettzumachen suchte«.106 Aus der von Reich-Ranicki empfohlenen Reportage wurde schließlich Krügers Buch Das zerbrochene Haus. Eine Jugend unter Hitler, das die eigene Familie metaphorisch nimmt für ein sozialpsychologisch als kleinbürgerlich aufgefasstes Deutschland, das es, so wie die Familie des Autors, nicht mehr gibt.107 An der Rezeption des Buches ließe sich zeigen, dass ›Mitläuferentlarvung‹ keine Waffe in einem sogenannten Generationskampf gewesen ist, sondern Teil einer Demokratisierung, Ausweitung von politischer Beteiligung, getragen nicht zuletzt von einer Erziehung, als deren Ziel mündige Staatsbürger angesehen wurden, wie es Adorno 1959 in seinem Vortrag auf der Erzieherkonferenz des Deutschen Koordinierungsrats der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit entwarf, deren Titel durch Adorno berühmt geworden ist: Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit? Adorno sagte: Aber Demokratie hat nicht derart sich eingebürgert, daß sich die Menschen als Subjekte der politischen Prozesse wissen. Sie wird als ein System unter anderen empfunden [...]; nicht aber als identisch mit dem Volk selber, als Ausdruck seiner Mündigkeit.108

Diese breit vertretene Forderung – von der Frankfurter Schule bis zur FDP – kann wohl kaum als Generationskonflikt beschrieben werden. Eher war es eine an die Jugend gerichtete Erwartung der ›Älteren‹, nicht zuletzt im Rahmen der durch die Hakenkreuzschmiereien von 1959 ausgelösten Verstärkung offizieller politischer Bildung.109 Die Kritik am »Unpolitischen« war ein Leitmotiv solcher Bemühungen. Krüger porträtiert in Das zerbrochene Haus einen der Repräsentanten dieser politisch-pädagogischen Konzeption, den 1903 geborenen hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, auf dessen Initiative der Franfurter Prozess zurückging. Krüger nennt »diesen mutigen und couragierten Mann« »ein Wunder in unserem Beamtenstaat«110 und nimmt damit ein entscheidendes Merkmal des Erziehungsideals auf, das Bauer unter den Begriff des »demokratischen Charakters«111 brachte. Außer Zivilcourage zählte Bauer hierzu: kritischen Verstand, Kontrolle von

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Lettau: Die Gruppe 47, S. 378. Vgl. hierzu Helmut Peitsch: Horst Krügers ›biographische Methode‹. In: Die biographische Illusion im 20. Jahrhundert. (Auto-)Biographien unter Legitimierungszwang. Hg. von Izabella Sellmer. Frankfurt/Main 2003, S. 157–178. 108 Theodor W. Adorno: Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit. In: Adorno: Eingriffe. Neun kritische Modelle. Frankfurt/Main 1963, S. 130. 109 Vgl. Clemens Albrecht, u. a.: Die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik. Eine Wirkungsgeschichte der Frankfurter Schule. Frankfurt/Main, New York 2000, S. 393– 397. 110 Horst Krüger: Das zerbrochene Haus. Eine Jugend in Deutschland. Hamburg 1966, S. 266/267. 111 Fritz Bauer: In unserem Namen. Justiz und Strafvollzug. In: Zwanzig Jahre danach. Eine deutsche Bilanz. Achtunddreißig Beiträge deutscher Wissenschaftler, Schriftsteller und Publizisten. Hg. von Helmut Hammerschmidt. München, Wien, Basel 1965, S. 312. 107

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Vorurteilen, Toleranz und humanitäres Ethos.112 »Die Bewältigung der Vergangenheit«113 begrenzte Bauer, der sich für eine positive Verwendung des Begriffs aussprach und dafür – irrtümlich oder taktisch geschickt – auf Theodor Heuss berief, nicht auf die Strafjustiz; dieser warf er eher vor, z. B. in der BeihilfeKonstruktion von »psychologischen und soziologischen Räsonnements« bestimmt zu werden, die »in dem eigenen Erleben, in dem eigenen Tun und Lassen während des Unrechtsstaates [...ihre] Wurzel haben dürfte[n]«.114 So kritisierte Bauer das Totalitarismus-Ideologem als die nachträgliche Wunschvorstellung, im totalitären Staat der Nazizeit habe es nur wenige Verantwortliche gegeben, es seien nur Hitler und ein paar seiner Allernächsten gewesen, während alle übrigen lediglich vergewaltigte, terrorisierte Mitläufer [...] waren, die veranlaßt wurden, Dinge zu tun, die ihnen völlig wesensfremd gewesen sind. Deutschland war sozusagen [...] ein von einem Feind besetztes Land.115

Dagegen setzte Bauer die »historische[...] Wahrheit«: »Es gab vor Hitler glühende Nationalisten und Imperialisten, Völkische und Judenhasser. Er hat sie bestätigt, sie haben ihn bestätigt.«116 Auf der einen Seite ging Bauer mit seiner Forderung einer »Vergangenheit bewältigenden« Pädagogik über die »institutionellen Sicherungen«117 hinaus, mit denen sich die Konservativen und Liberalen zufrieden gaben. Massenpsychologisch mit der Notwendigkeit »rechtzeitige[r] Immunisierung« argumentierend, forderte er eine »neue[...] Aufklärung«: »Förderung einer kritischen Wachsamkeit, von Widerspruchsgeist und Opposition«.118 Auf der anderen Seite wandte sich Bauer – z. B. in der Diskussion über Peter Weiss’ Die Ermittlung – gegen eine sozialökonomische Auffassung von ›Bewältigung‹; er vermisste in Weiss’ Stück »das menschliche Engagement«: den »Appell an uns alle, Auschwitz im Alltag, in jeder Stunde zu widerstehen, jenem Auschwitz, das immer wieder, jeden Tag, jede Minute an uns herantritt, gegenüber Nein zu sagen«, »bei sich und zu Hause und in der Öffentlichkeit«.119 Mit seinem juristischen Engagement für die Legitimierung des »Widerstandsrechts des kleinen Mannes«120 und mit dem publizistischen für einen »demokratischen Charakter« vereindeutigte Bauer etwas, das Theodor W. Adorno – auch in seinem schon in den frühen sechziger Jahren klassisch gewordenen Vortrag121 eher

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Bauer: In unserem Namen, S. 313. Bauer: In unserem Namen, S. 301. 114 Bauer: In unserem Namen, S. 306. 115 Bauer: In unserem Namen, S. 307. 116 Bauer: In unserem Namen, S. 307. 117 Bauer: In unserem Namen, S. 310. 118 Bauer: In unserem Namen, S. 311. 119 Christoph Weiß: Auschwitz in der geteilten Welt. Peter Weiss und die »Ermittlung« im Kalten Krieg. Bd.2. St.Ingbert 2000, S. 548. 120 Fröhlich: Fritz Bauer, S. 116. 121 Vgl. zu dessen Bedeutung in einer Rundfunkdiskussion über Weiss’ Ermittlung, an der auch Krüger teilnahm Weiß: Auschwitz in der geteilten Welt, S. 842–843. 113

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in der Schwebe ließ: den Gegenbegriff zur »autoritären Persönlichkeit«122 – die »Bildung eines demokratischen Charakters, der ohne Aggressivitäten nach außen selbstsicher in sich ruht«.123 Wo es Adorno bei »autonome[r] Subjektivität [...], an welche die Idee von Demokratie appelliert«,124 und »Verstärkung von [...] Selbstbewußtsein«125 beließ, buchstabierte Bauer die Funktion von Kritik in der Gesellschaft aus: Nein-Sagen als Widerstand. Die Rezeption von Krügers Das zerbrochene Haus kann die Behauptung in Frage stellen, dass es der Frankfurter Schule bis Mitte der sechziger Jahre gelungen gewesen sei, in Medien und Pädagogik ihr »konkurrenzlose[s] Bewältigungsangebot«126 durchzusetzen; es habe, so Albrecht u. a., in der Verbindung der Begriffe ›autoritärer Staat‹ und ›autoritärer Charakter‹ bestanden und durch die ›Verschränkung‹ von »Soziologie und Psychologie, Gesellschafts- und Charakterstruktur« eine »›ideologiekritische Entlarvung‹ der Geschichte und des Alltags« möglich gemacht.127 Die Rezensionen, die Das zerbrochene Haus 1966 in den führenden Tages- und Wochenzeitungen sowie literarisch-kulturellen Zeitschriften fand, belegen keineswegs ein durchgängiges Interesse an der kritischen Darstellung des autoritären Charakters als sozialpsychologischer Basis des Faschismus; im Gegenteil, weder sind sie insgesamt so positiv, wie sich Krüger 1976 im Nachwort zur Neuauflage erinnerte,128 noch lassen sie sich auf die Kritik des Kleinbürgertums der dreißiger Jahre ein. Auffällig viele Rezensenten melden den Vorbehalt an, dass die Darstellung der faschistischen Vergangenheit durch die bundesrepublikanische Gegenwart geprägt sei. Aber sie halten diese Beobachtung nicht für eine Konsequenz der Kontextgebundenheit jedes Erinnerns, sondern formulieren sie als Vorwurf, als ob es möglich wäre, ohne Bezugnahme auf die Gegenwart Vergangenheit zu erinnern. Mit einer Ausnahme – Heinrich Vormweg in den Frankfurter Heften – stellen die Rezensenten auch nicht die Frage, ob die Struktur von Krügers Text ihnen die Beobachtung, wie wichtig die Gegenwart sei, aufgedrängt habe. Vielmehr scheinen sie eine von der Gegenwart unbeeinflusste Darstellung der Vergangenheit und damit ein Vergessen späterer Einsicht zu fordern: Es geht ihnen, zugespitzt, nicht um Rekonstruktion, sondern um Rechtfertigung. So tadelt Helmut Scheffel in der FAZ die Rolle, die »Wissen, das er inzwischen erworben hat«,129 im Text spiele, Franz

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Bauer: In unserem Namen, S. 311. Bauer: In unserem Namen, S. 312. 124 Adorno: Was bedeutet: Aufarbeitung, S. 139. 125 Adorno: Was bedeutet: Aufarbeitung, S. 144. 126 Albrecht: Die intellektuelle Gründung, S. 69. 127 Albrecht: Die intellektuelle Gründung, S. 69. 128 Vgl. Horst Krüger: Afterword: Ten Years Later. In: Krüger (Hg.): A Crack in the Wall. Growing up under Hitler. New York 1986, S. 234: »unanimous praise«. 129 Helmut Scheffel: Gerichtstag. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.3.1966. 123

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Schonauer in den Neuen deutschen Heften die »Interpretation post festum«,130 Karl Heinz Bohrer in der Neuen Rundschau die »Assoziation«131 der sechziger an die dreißiger Jahre, Hans Schwab-Felisch im Merkur das »polemisch[e]« »Verhältnis [...] zu den Aktenwahrheiten der professionellen Zeitgeschichtler«,132 das »von einem Bewußtsein geprägt ist, das fünfundzwanzig Jahre einer weiteren Entwicklung hinter sich hat«;133 und sogar Marcel Reich-Ranicki, der die positivste Besprechung – neben der Wolfgang Koeppens im Spiegel und der schon ausgenommenen Vormwegs – für die Zeit schrieb, sah die Gefahr, dass »[a]us der Perspektive von Jahrzehnten [...] Gestalten und Vorgänge [...] stilisiert [würden], bis sie sich schließlich als Belege für heutige Anschauungen über damalige Zustände eignen«.134 Wenn der Autor einigen Rezensenten die von der Gegenwart unbeeinflusste Rechtfertigung nicht zu liefern scheint, folgt eine Pathologisierung des Autors. Seine Diagnose scheint in Wahrheit ihn als therapiebedürftig zu erweisen, als »Beschädigung«,135 als »Neurotische[s]«: »noch im Bannkreis unbewältigten Ressentiments«.136 Diese beiden Rezensenten sind aber auch diejenigen, die sich am deutlichsten für ein Fortschreiben des Totalitarismus-Ideologems aussprechen. Allerdings geschieht es bei beiden in verhüllter Form: autobiographisch bei Schwab-Felisch, ästhetisch bei Bohrer. Schwab-Felisch bringt explizit als Gleichaltriger seine abweichende soziale Topographie von Berlin ins Spiel; Eichkamp sei für ihn »[g]utbürgerlich«,137 nicht kleinbürgerlich gewesen, und Nazis seien die »hochgradig politisiert[en]«138 kleinbürgerlichen Arbeiter Kreuzbergs entweder gewesen oder schnell geworden. Der BVG-Streik von 1932 muss einmal wieder belegen, dass die Kommunisten Hitler an die Macht gebracht hätten.139

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Franz Schonauer: Horst Krüger: Das zerbrochene Haus. In: Neue deutsche Hefte H.112 (1966), S. 203. 131 Karl Heinz Bohrer: Horst Krüger: Das zerbrochene Haus. In: Neue Rundschau (1966), S 315. 132 Hans Schwab-Felisch: Im zerbrochenen Haus der Deutschen. In: Merkur 20 (1966) S. 490. 133 Schwab-Felisch: Im zerbrochenen Haus, S. 492. 134 Marcel Reich-Ranicki: Horst Krüger: ‚Das zerbrochene Haus‘. In: Reich-Ranicki: Literatur der kleinen Schritte. Deutsche Schriftsteller heute. Frankfurt/Main, Berlin, Wien 1971, S.154. 135 Bohrer: Horst Krüger, S. 315. 136 Schwab-Felisch: Im zerbrochenen Haus, S. 492. 137 Schwab-Felisch: Im zerbrochenen Haus, S. 489. 138 Schwab-Felisch: Im zerbrochenen Haus, S. 491. 139 Vgl. zur Rolle des Streiks in den auf die Totalitarismus-Richtlinien der KMK von 1962 verpflichteten Schulbücher der BRD Werner Gestigkeit: Die Totalitarismus-Legende von der Zerstörung der Weimarer Republik in den bundesdeutschen Schul-Geschichtsbüchern. In: Reinhard Kühnl/Gerd Hardach: Die Zerstörung der Weimarer Republik. Köln 1977, S. 271/272.

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Bohrer setzt den »ironisch[en]« »Skeptiker«140 Krüger, dem es beim Schreiben um »Nuancen«141 gehe, in Gegensatz zu den »polemischen Aufklärer[n]«,142 die Geschichte auf das »böse [...] Entwicklungsschema«143 bringen: »Geburt des Nationalsozialismus aus dem Geist des Kleinbürgertums«.144 Hierfür bietet er als Beispiel nur den Titel von Lukács’ Die Zerstörung der Vernunft, ohne jedoch zu vergessen, auf ungenannte bundesrepublikanische Nachschreiber hinzuweisen.145 Gemeint sind Harry Pross’ Die Zerstörung der deutschen Politik von 1959 und Hermann Glasers Spießer-Ideologie von 1964, deren Untertitel ja lautet: Von der Zerstörung des deutschen Geistes im 19. und 20. Jahrhundert und dem Aufstieg des Nationalsozialismus. In Abgrenzung von solcher unliterarischen Polemik ordnet Bohrer das an Krüger Rettbare einer nationalen »Suche nach Identität«146 zu. Bemerkenswert ist, dass sich Lob und Tadel in keiner Weise nach dem Alter der Rezensenten richten; der jüngste formuliert den massivsten Vorbehalt – von einer nationalistischen Position aus; der älteste (Jürgen Petersen in Die Welt der Literatur) lobt am heftigsten, indem er Krüger zu einem Apologeten der Inneren Emigration der ersten Nachkriegsjahre macht und ihn gegen Exil und junge Generation ausspielt: »Die Deutschland verlassen mußten, begreifen es nicht, die Söhne verachten die Väter.«147 Schonauer meint hingegen, dass Krüger für ihre gemeinsame Generation spreche, die bisher geschwiegen habe – in einer Situation, die er folgendermaßen beschreibt: Die Jungen wissen nichts davon. Die Alten haben ihre Mythen und Legenden parat [...], die Angehörigen der betroffenen und dezimierten Jahrgänge scheinen mit Beruflichem beschäftigt, mit ihrer Karriere, ihnen fiel bisher zu dieser Vergangenheit nichts ein.148

Einschränkungen an der Repräsentativität Krügers für ›seine‹ und Schwab-Felischs sowie Schonauers »verratene«, »mißbrauchte Generation«149 nehmen die drei positivsten Besprechungen vor: Reich-Ranicki nennt ihn einen »Außenseiter«,150 Koeppen einen »aus der Art«151 Geschlagenen und Vormweg einen – Kritiker: Dieses Buch gibt ein Beispiel. Es ist kritisch in einem höchst konkreten Sinn, nämlich gesellschaftskritisch, indem es selbstkritisch verfährt. [...] Ziel ist dabei die Artikulation

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Bohrer: Horst Krüger, S. 313. Bohrer: Horst Krüger, S. 312. 142 Bohrer: Horst Krüger, S. 313. 143 Bohrer: Horst Krüger, S. 313. 144 Bohrer: Horst Krüger, S. 312. 145 Vgl. Bohrer: Horst Krüger, S. 313. 146 Bohrer: Horst Krüger, S. 313. 147 Jürgen Petersen: Jugend unter Hitler. Horst Krügers ›Das zerbrochene Haus‹. In: Die Welt der Literatur, 14.4.1966. 148 Schonauer: Horst Krüger: Das zerbrochene Haus, S. 201. 149 Schonauer: Horst Krüger: Das zerbrochene Haus, S. 201. 150 Reich-Ranicki: Horst Krüger, S. 154. 151 Wolfgang Koeppen: Horst Krügers zerbrochenes Haus. In: Koeppen (Hg.): Die elenden Skribenten. Aufsätze. Frankfurt/Main 1981, S. 228. 141

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des Ich und der Gesellschaft als ein fortlaufender Prozeß. Mit dem Buch ist zugleich etwas geleistet, das sich als Geschichtsschreibung bezeichnen ließe.152

Auf ähnliche Weise hat dreizehn Jahre später Hermann Glaser im Vorwort zur Taschenbuch-Neuausgabe seiner Spießer-Ideologie diese als eine Sozialpsychologie charakterisiert, die die Funktion einer Autobiographie erfülle, also Darstellung und zugleich Kritik des eigenen Lebens sei; man solle sie »als Dokument verstehen: wie einer aus der Generation der Hitler-Jungen ›zurückblickt‹; freilich nicht autobiographisch, sondern sozialpsychologisch«.153 Den Vorzug gegenüber in den siebziger Jahren zeitweilig einflussreichen ›systemkritischen‹, also sozialökonomischen Darstellungen, die aufs Strukturelle zielten, erblickte Glaser in der Orientierung auf »Haltung, Gesinnung und Gesittung« von »Personen«,154 aber auch in der Anschlussfähigkeit ans Totalitarismus-Ideologem.155 Im Rückblick nach fünfzehn Jahren betonte Glaser auch stärker als im Buch selbst die Bedeutung von Kritik als einer historischen Alternative, die es für den deutschen Spießer des 19. und 20. Jahrhunderts gegeben hätte, die Tradition der Aufklärung: »Der Kleinbürger, sozialökonomisch gesehen, hätte nicht ›Spießer‹, im abgründigen Sinne, sein müssen, hätte er das, was der deutsche Geist ‚›anbot‹, aus der ideologischen Verschüttung zutage gefördert.«156 In dieser Zwischenstellung zwischen Totalitarismus-Doktrin und Sozialgeschichte entwickelte sich zur Zeit der Entstehung und Wirkung von Krügers Buch auch ein geschichtswissenschaftliches Interesse an Mittelstands- und Modernisierungstheorien über den Faschismus. Was 1969 in den beiden neuesten geschichtswissenschaftlichen Gesamtdarstellungen – von Martin Broszat und Karl Dietrich Bracher – über mittelständisch-irrationale Massen und den charismatischen Führer stand, der die sozialen Ängste der Unpolitischen in nationale Politik umsetzte,157 war nicht so weit entfernt von Krügers Interpretation. Kühnl führte 1979 dieses neue, kritische Interesse am ›Mittelstand‹ auf Bedingungen zurück, die er mit Entspannung, Ende der Ära Adenauer,158 gesellschaftlicher Reformdiskussion und Studentenbewegung eher umschrieb als genauer fasste, denn die »Frage nach der faschistischen Vergangenheit der

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Heinrich Vormweg: Zustände verstehen. In: Frankfurter Hefte 21 (1966) S. 499. Hermann Glaser: Spießer-Ideologie. Von der Zerstörung des deutschen Geistes im 19. und 20. Jahrhundert und dem Aufstieg des Nationalsozialismus. Frankfurt u. a. 1979, S. 12. 154 Glaser: Spießer-Ideologie, S. 13. 155 Vgl. Glaser: Spießer-Ideologie, S. 13. 156 Glaser: Spießer-Ideologie, S. 13. 157 Vgl. Martin Broszat: Der Staat Hitlers. Grundlegung und Entwicklung seiner inneren Verfassung. München 1969, S. 42–43; 48–49; vgl. Karl Dietrich Bracher: Die deutsche Diktatur. Entstehung Struktur Folgen des Nationalsozialismus. Frankfurt u. a. 1979, S. 531. 158 Vgl. auch Martin Broszat: Literatur und NS-Vergangenheit. In: Martin Broszat (Hg.): Nach Hitler. Der schwierige Umgang mit unserer Geschichte. München: 1988, S. 221. 153

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Väter«159 wurde, wie Krügers Das zerbrochene Haus deutlich machen kann, schon lange vor 1968 gestellt. Der FAZ-Rezensent vernahm 1966 in Das zerbrochene Haus einen ›Hass‹ auf die Familie; er versuchte diese Haltung dadurch, dass er sie für »spezifisch [d]eutsch« erklärte, für die Nation als Generationszusammenhang zu retten: »Doch auch damit ist er Deutscher, auch damit steht er in einer langen deutschen Tradition.«160

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Reinhard Kühnl: Faschismustheorien. Texte zur Faschismusdiskussion 2. Ein Leitfaden. Reinbek 1979, S. 285. 160 Helmut Scheffel: Gerichtstag.

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Terrorismus und seine Folgen. München, Wien 1978 (Vorträge der Tagung »Der Weg in die Gewalt. Geistige und gesellschaftliche Ursachen des Terrorismus« vom 29./30.11.1977 erschienen u. a. in FAZ, Die Zeit, Der Spiegel und Merkur). Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit in Berlin (Hg.): Toleranz und Brüderlichkeit. 30 Jahre Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit in Berlin. Berlin 1979. Gestigkeit, Werner: Die Totalitarismus-Legende von der Zerstörung der Weimarer Republik in den bundesdeutschen Schul-Geschichtsbüchern. In: Die Zerstörung der Weimarer Republik. Hg. von Reinhard Kühnl und Gerd Hardach. Köln 1977, S. 253–290. Glaser, Hermann: Spießer-Ideologie. Von der Zerstörung des deutschen Geistes im 19. und 20. Jahrhundert und dem Aufstieg des Nationalsozialismus. Frankfurt/M. u. a. 1979. Grass, Günter: Werkausgabe in zehn Bänden. Hg. von Volker Neuhaus. Bd. 9: Essays Reden Briefe Kommentare. Darmstadt, Neuwied 1987. Greiner, Ulrich: Klammheimliche Freude. Die sechziger und siebziger Jahre erscheinen heute ferner als das alte Rom. Warum damals so viele Bürgerkinder mit der RAF sympathisierten. In: Die Zeit, 22.3.2007. Hammerschmidt, Helmut/Mansfeld, Michael: Der Kurs ist falsch. Wien, München, Basel 1956. Harpprecht, Klaus: Totgesagt und sehr lebendig. Bonn und die intellektuelle Verweigerung: Die Opposition gegen die zweite deutsche Demokratie begann mit einem grollenden Abmarsch aus der Wirklichkeit. In: Die Zeit, 21.6.1996. Heißenbüttel, Helmut: Literarische Archäologie der fünfziger Jahre. In: Die fünfziger Jahre. Beiträge zu Politik und Kultur. Hg. von Dieter Bänsch. Tübingen 1985, S. 306–325. Graf Henckel: Ein Graf schrieb einen empörten Brief. Der Skandal um das Buch »Denk ich an Deutschland« wurde fortgesetzt. In: Deutsche Volkszeitung, Düsseldorf, 20.10.1956. Historisches Archiv der Stadt Köln (Hg.): Freier Eintritt – Freie Fragen – Freie Antworten. Die Kölner Mittwochsgespräche. Köln: Historisches Archiv der Stadt Köln 1991. Hochgeschwender, Michael: Freiheit in der Offensive? Der Kongreß für kulturelle Freiheit und die Deutschen. München 1998. Holthusen, Hans Egon: Günter Grass als politischer Autor. In: Holthusen (Hg.). Plädoyer für den Einzelnen. Kritische Beiträge zur literarischen Diskussion. München 1967, S. 40–68. Ibach, Helmut: Die Geschichte einer Phrase. Was heißt »Unbewältigte Vergangenheit«? In: Die politische Meinung 5 Nr. 47 (1960), S. 29–37. Internationales Schriftstellertreffen Berlin und Weimar 14.í22. Mai 1965. Protokoll. Berlin, Weimar 1965. Jäger, Wolfgang/Link, Werner: Republik im Wandel 1974í1982. Die Ära Schmidt. Stuttgart, Mannheim 1987. Kittel, Manfred: Die Legende von der »Zweiten Schuld«. Vergangenheitsbewältigung in der Ära Adenauer. Berlin, Frankfurt/M. 1993. Koeppen, Wolfgang: Horst Krügers zerbrochenes Haus. In: Koeppen (Hg.): Die elenden Skribenten. Aufsätze. Frankfurt/M. 1981, S. 226–231. Kraushaar, Wolfgang: Die Protest-Chronik 1949–1959. Eine illustrierte Geschichte von Bewegung, Widerstand und Utopie. Bd. 2. Hamburg 1996. Krüger, Horst: Das zerbrochene Haus. Eine Jugend in Deutschland. Hamburg 1966. í Afterword: Ten Years Later. In: Krüger (Hg.): A Crack in the Wall. Growing up under Hitler. New York 1986. Kuby, Erich: Tag und Nebel. Wer trägt die Verantwortung? In: Die Kultur 4, Nr. 64 (1955/56), S. 1. í Mein ärgerliches Vaterland. Berlin 1990.

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Abstract »Die sechziger und siebziger Jahre erscheinen heute ferner als das alte Rom«, lautete der Untertitel eines der zahlreichen Feuilletonartikel zur RAF im Frühjahr 2007; der Zeit-Redakteur Ulrich Greiner näherte sie den LeserInnen mittels eines Deutungsmusters, das er mit eigenen Erinnerungsbildern und Zitaten aus literarischen Werken, Stefan Austs Sachbuch und Karl Heinz Bohrers Essay »Hitlers Kinder?« belegte. Alfred Anderschs Zeilen: »das neue kz/ ist schon errichtet«,

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Gudrun Ensslins Sätze: »Wir müssen Widerstand organisieren. [...] Das ist die Generation von Auschwitz, mit denen kann man nicht argumentieren«, und Bohrers Diagnose: »Die emotionelle Reaktion gegen Auschwitz führt, wird sie neurotisch, zum gleichen Ende«, beglaubigten eine Vergegenwärtigung »jener Jahre«, in denen »diejenigen, die den Kampf gegen den von ihnen so genannten Faschismus aufnahmen, ihm selber anheimfielen«. Mit der Figur des ›nachgeholten Widerstands‹ wird heutzutage nicht nur von Greiner die moralische Kritik einer Generation an den Vätern als Selbstermächtigung gedeutet, das von diesen Versäumte nachzuholen, als Legitimation von Gewalt. Es lässt sich aber belegen, dass die Figur vom ›nachgeholten Widerstand‹ älter ist als ›1968‹ und vor allem, dass zwei Topoi der Figur, die lange vor ›1968‹ gebraucht wurden, die Frage aufwerfen, ob sich zentrale Merkmale, die dieser ›Generation‹ zugeschrieben werden, bereits in dem Diskurs Vergangenheitsbewältigung nachweisen lassen, der sich seit den ausgehenden fünfziger Jahren etabliert. Ein gängiges Konzept von ›68er Generation‹ wird in Frage gestellt, wenn die Topoi: dass erstens Schweigen Schuld bedeute und dass zweitens die Väter zu kritisieren seien, keineswegs der Legitimation innergesellschaftlicher Gewalt dienten, sondern unterschiedlicher Formen von Demokratisierung.

Niels Beckenbach

Utopie und Wahn in der 68er-Bewegung

Einleitung Ausgangspunkt der 68er-Bewegung in der Bundesrepublik waren Konflikte im universitären Bereich. Durch die Proteste gegen den Vietnamkrieg der USA entstand in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre eine breite Oppositionsbewegung. Durch provokative Aktionen wurde die Protestbewegung zum ›Stein des Anstoßes‹, sie erhielt öffentliche Aufmerksamkeit. Fundiert durch Gesellschaftskritik weitete sie sich aus zu einer gesamtgesellschaftlichen Revolte. Der rebellische Funke der 1968er-Bewegung zündete in einem gesellschaftlichen Umfeld, wo Bestrebungen in Richtung auf gesellschaftlichen Wandel auf massive Abwehr trafen. Im Konflikt zwischen antiautoritärem Aufbruch und autoritärem Konformismus der Bevölkerungsmehrheit gerieten die Akteure der Revolte in einen Strudel der innergesellschaftlichen Gewalt. Die Bewegung wurde erfasst von Ausläufern jener Gewalt, die zu überwinden man ausgezogen war. Hier liegt meine Forschungsfrage. Wie konnte es geschehen, dass eine durch Aufklärung und Emanzipation beflügelte Bewegung kontaminiert wurde durch die Vorstellung, dass Gewalt gegen Menschen ein legitimes Mittel der politischen Auseinandersetzung sei? Eine Reihe von Faktoren war bedeutsam. Dazu gehört auch die geschichtliche Tradition. Anders als in den USA oder in Frankreich, wo die 1968er-Bewegung stärker eingebettet war in bürgerrechtliche oder revolutionäre Traditionen, hatte sich die 1968er-Bewegung hierzulande gegen einen ängstlichen Konformismus zu behaupten. Ihre Kulturbedeutung lag in der Überwindung einer politisch und kulturell verengten Vorstellungswelt, die sich wie eine autoritäre Glocke über dem Deutschland der Nachkriegsjahre wölbte. Die Bewegung war ein wichtiger Schritt von der gespaltenen Welt des Kalten Krieges in Richtung auf eine lebbare Moderne, aber sie war, wie ich zeigen werde, auch ein Teil dieses autoritären Erbes. In einem ersten inhaltlichen Schwerpunkt diskutiere ich einige Aspekte der inhaltlichen Konzeption der Revolteure. In dem kurzen Zeitraum vom Sommer 1966 bis zum Herbst 1968 und, wie sich zeigen lässt, relativ unabhängig von äußerer Gewalteinwirkung, hat sich in der politischen Debatte der 68er-Revolte ein Wandel vollzogen vom Modell einer kritischen Gegenöffentlichkeit und von der Utopie einer besseren Gesellschaft in Richtung auf eine revolutionäre Idolatrie. Ein zweiter Aspekt bezieht sich auf das Selbstverständnis des Intellektuellen in der 1968er-Revolte. In der Bundesrepublik waren Schriftsteller und Intellektuelle zunächst begrenzt auf die schmale Nische einer geachteten aber gesellschaftlich folgenlosen Kulturelite. In der DDR wurde der Intellektuelle vereinnahmt als Ja-

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Sager und Parteisoldat. Mit der Studentenbewegung entstand eine »frei schwebende Intelligenz« (Karl Mannheim), nicht gebunden durch das Machtmonopol einer Partei oder durch partikulare Interessen. Allerdings konnten die Akteure in der 1968er-Bewegung die zeitbedingten Grenzen nicht überspringen. Die Last einer autoritären Tradition war durch Aktion oder auch durch politische Inszenierungen nicht einfach abzuwerfen. Ich diskutiere diesen Aspekt am Beispiel der politischen Avantgarde. Dies führt auf den dritten Schwerpunkt meiner Arbeit. Die Spirale von innergesellschaftlicher Gewalt, welche durch die 1968er-Revolte ausgelöst wurde, war nicht allein das Ergebnis von undurchschauten Zwängen in der Übergangsphase der sechziger Jahre, sie war nicht nur eine Quittung für den Realitätsverlust innerhalb der politischen Avantgarde. Die Gewalt war in der 1968er-Bewegung der Bundesrepublik der große Widersacher der Utopie. Sie wurde angedacht als Faszinosum der ›sprengenden Tat‹, dann als eine reale Möglichkeit erprobt und schließlich als ›Konsequenz‹ von linker Praxis propagiert und agiert. Die Sogwirkung der Gewalt verstärkte sich in dem Maße, wie die Frage der Aktionsziele in den irrealen Raum des Mythos abwanderte und wie die politische Inszenierung sich von der Realität ablöste. Der Zivilisationsbruch war zwar nicht die logisch zwingende Konsequenz dieser Fehlentwicklungen, aber er wurde möglich durch das Verschwimmen der Maßstäbe.

Das brüderliche Band Wer als Angehöriger der 1968er-Generation und als Mitakteur unter vielen an der Studentenbewegung beteiligt war, dem wird es wie dem Autor gehen: Eine Fülle von Erinnerungen, vermengt mit emotionalen Befindlichkeiten der unterschiedlichsten Art, steigen auf. Das Oszillieren widersprüchlicher Gefühle droht, das rationale Urteil zu überlagern oder gar unmöglich zu machen. In der nochmaligen Identifizierung mit dem Vergangenen entsteht die Gefahr der Parteilichkeit. Eine solche Einstellung wäre lebensgeschichtlich verständlich, aber sie widerspricht der Haltung des Forschers. Das introspektive Verstehen und der retrospektive Blick ›in eigener Sache‹ müssen daher ergänzt und gegebenenfalls auch korrigiert werden durch eine methodische Distanzierung, die durch den zeitlichen Abstand und durch das vermehrte Wissen über Zusammenhänge der politischen Kultur möglich, die zugleich durch eine erhöhte Sensibilität im Umgang mit Phänomenen der innergesellschaftlichen Gewalt aber auch geboten ist. Ich beginne mit einer Vignette. Unmittelbar nach dem Tod von Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967 – er war durch eine Polizeikugel ums Leben gekommen; der Täter wurde niemals zur Rechenschaft gezogen – fand in der Freien Universität Berlin ein Protestkongress statt.

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Herbert Marcuse, damals Inhaber einer Gastprofessur an der Freien Universität, hielt das Hauptreferat unter dem Titel »Das Ende der Utopie«.1 Marcuse diskutierte eine Version der Utopie, wo Abschied genommen wurde vom traditionellen Revolutionsmodell, wo aber gleichzeitig in der Form der ›bestimmten Negation‹ gegen das Bestehende durch Kritik und Protest die Chancen für eine qualitative Veränderung der spätkapitalistischen Gesellschaft offengehalten würden. Marcuse ergänzte die These von der ›bestimmten Negation‹ durch die Propagierung eines »Naturrechts auf Gegengewalt«.2 Marcuses Ausführungen kulminierten in dem Argument, dass selbst im Falle einer absehbaren Wirkungslosigkeit eine fundamentale Opposition erforderlich sei, »wenn wir noch als Menschen arbeiten und glücklich sein wollen – im Bündnis mit dem System können wir das nicht«3. Im Sinne von Marcuses These vom Naturrecht auf Widerstand formierte sich in den Wochen nach dem 2. Juni in Berlin und in anderen Universitätsstädten der Bundesrepublik eine oppositionelle Bewegung. Die Zielsetzung war es, gegen die besonders in Berlin als drückend empfundene Übermacht der Zeitungen des Springer-Konzerns Aufklärung zu leisten über die Hintergründe des Protests. Ich erinnere mich, dass ich in den Junitagen des Jahres 1967 zusammen mit Hunderten anderer Studierender, mit Flugblättern ausgestattet, in den ›proletarischen‹ Stadtteilen Berlins unterwegs war mit dem Ziel, der manipulativen Verfälschung durch die Springer-Presse entgegenzuwirken und für ein wahrheitsgemäßes Bild der Konflikte zwischen Universität und Stadt zu sorgen. Ich traf auf eine Stimmung innerhalb der Bevölkerung, die man als reserviert bezeichnen kann, die aber nicht den Grad an Feindseligkeit hatte, wie er nur wenige Monate später bestand und der zu jener emotional aufgeputschten Atmosphäre führte, aus der heraus die Schüsse auf Rudi Dutschke abgefeuert wurden. Die Utopie war das universalistische Moment der Bewegung. Sie einte eine Jugendgeneration, die nach dem wirtschaftlichen Aufschwung neue Leitbilder suchte und deren Akteure antraten gegen den Status quo. Der Raum der Universität wurde genutzt als Laboratorium für neue Diskurse, für Gesellschaftskritik und ansatzweise auch bereits für experimentelle Lebensformen jenseits der drei Säulen der Nachkriegsgesellschaft – Eigentum, Arbeitsteilung und Kleinfamilie. Die Vision einer postindustriellen Zivilisation jenseits von Armut und Ausbeutung, die Verlagerung der Sinnfrage von der materiellen Güterversorgung auf das Terrain von Partizipation und Selbstverwirklichung und, hinter allen Detailfragen, die radikale Ausdehnung der direkten Demokratie auf alle Institutionen und alle Lebensbereiche (alle sollten über alles bestimmen können) war konstitutiv während dieser Initialphase der 1968er-Bewegung. Zwischen Popkultur und 1968erSzene bestanden enge Verbindungen. Die Kneipenszene und die alternativen

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Herbert Marcuse zit. n. Tilman Fichter und Siegward Lönnendonker: Kleine Geschichte des SDS. Der Sozialistische Deutsche Studentenbund von Helmuth Schmidt bis Rudi Dutschke. Essen 2007, S. 67f. Marcuse zit. n. Fichter/Lönnendonker: Kleine Geschichte des SDS, S. 168. Marcuse zit. n. Fichter/Lönnendonker: Kleine Geschichte des SDS, S. 169.

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Buchhandlungen wirkten als Verlängerung der Bewegung in die Stadtteile hinein, längst bevor die politische Szene vom Campus in die städtischen Randbereiche abwanderte.4 Der theoretische Diskurs war verteilt auf viele Köpfe.5 Autoren aus dem Umkreis der Frankfurter Schule wie Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Jürgen Habermas, Alexander Mitscherlich oder Herbert Marcuse sowie wiederentdeckte Autoren oder Schriften von Erich Fromm und Wilhelm Reich bzw. die neu gelesenen Frühschriften von Karl Marx gehörten zur Pflichtlektüre. Die Kultur der Büchertische und Raubdrucke war während dieser Phase pluralistisch ausgerichtet. Die verbindende Vorstellung, dass die anzustrebende Gesellschaft mit Sicherheit weniger autoritär und mit einiger Wahrscheinlichkeit weit links von dem konservativen Zeitgeist im Nachkriegsdeutschland angesiedelt sein würde, stand zumindest in der initialen Phase der Bewegung nicht im Gegensatz zur politischen Moderne. Eine neue Kultur der politischen Clubs, der Schulungszirkel und Büchertische diente dazu, Räume für die Debatte zu öffnen und den Bahnen der eigenen Phantasie zu folgen. In der Parole aus den Tagen des französischen Mai 1968 Sous les pavés la plage, gesprayt auf eine Hauswand, ist diese Aura des Subversiven auf eine anschauliche Formel gebracht. Die Auffassung darüber, was als zivilisatorischer Fortschritt zu gelten hat, wandelt sich mit der Entwicklung dieser Zivilisation. In den Zeitläufen der Knappheit und des Mangels waren es Vorstellungen vom materiellen Reichtum und von der sozialen Gleichheit, die als Ideal einer besseren und glücklicheren Zeit vorschwebten. Das liberale Bürgertum oder Aufklärer wie Immanuel Kant oder Denis Diderot verbanden die Vorstellung vom Fortschritt mit der Idee eines brüderlich-einigenden Bandes. Dieses Bild besagte bei Diderot, dass alle Glieder des Gemeinwesens durch universalistische Werte sowie durch die Prinzipien der Wechselseitigkeit und der Gleichheit miteinander verbunden sein sollten. Die Idee eines einigenden Bandes beruht, im Unterschied zu dem hierarchischkorporativen Modell der mittelalterlichen Sozialordnung, auf dem Gedanken des mündigen Subjekts. Das verbindende Prinzip zwischen den Erwartungen von Ego und Alter wurde bei den Aufklärern wie Diderot oder Marie Jean Condorcet begründet durch Universalismus und Wechselseitigkeit der Interessen (Reziprozität) und die Orientierung am Gemeinwohl; es konnte auf persönlicher Sympathie und dem Gleichklang der Gefühle beruhen wie in der Romantik oder es nahm wie im Falle der klassischen Moderne die Form eines vorpolitischen Einverständnisses an.6 Die westlichen Demokratien sind hervorgegangen aus der Vorstellung eines

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Vgl. Niels Beckenbach (Hg.): Avantgarde und Gewalt. Gratwanderungen zwischen Moderne und Antimoderne im 20. Jahrhundert. Hamburg 2007, S. 187ff. Vgl. Beckenbach: Avantgarde und Gewalt, S. 165ff. Jean-Jacques Rousseau spricht diesbezüglich von einem primären Sozialvertrag, der den Verträgen innerhalb der verschiedenen gesellschaftlichen Sphären zugrunde liege. Vgl. Jean-Jacques Rousseau: Vom Gesellschaftsvertrag. In: Rousseau: Politische Schriften. Bd.1. Paderborn 1977, S. 71f.

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gemeinsamen Wertevorrats, gerichtet auf Ziele wie Freiheit und Selbstverwirklichung. Die Idee eines bürgerschaftlichen Bandes liegt den Sozialverfassungen von 1789 bzw. der Republik von 1792 und der Condorcetschen Skizze über den Fortschritt des menschlichen Geistes aus dem Jahre 1794 zugrunde und sie bestimmte die emanzipatorische Anthropologie und den Entfremdungsbegriff in den Marxschen Frühschriften ein halbes Jahrhundert später. Marx verbindet die Utopie eines gemeinschaftlichen Interesses mit der romantischen Vorstellung, Arbeitsteilung, Privateigentum und Hierarchie als konstitutive Elemente der Moderne aufzuheben, »morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben und nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe«.7 Sofern sich die Mitglieder von politischen und künstlerischen Zirkeln oder von wirtschaftlichtechnischen Neuererbewegungen unter der Leitidee des ›einigenden Bandes‹ versammelten, verstanden sie sich entweder als Speerspitze, als Korrektiv oder, seit Beginn des 19. Jahrhunderts, zunehmend auch als Alternativbewegung zum Mainstream der modernen Rationalität. Zielsetzung war dabei entweder die Reform der Gesellschaft oder ein temporärer Rückzug aus derselben unter dem Vorzeichen von alternativer Praxis. Zielsetzung war immer die progressive Veränderung, nicht aber die Zerstörung der Moderne.

Der ›Zauber‹ der Gewalt Es war ein Kennzeichen der Radikalität der 68er-Revolte, dass ihre Sprecher bereits in der Phase der Formierung nach neuen Leitbildern suchten. Marcuses These von der ›bestimmten Negation‹, der gesellschaftskritische Diskurs und das Experimentieren mit neuen, weniger durch die Trennung von privatem und öffentlichem Raum bestimmten Lebensformen – diese konzeptionellen Grundelemente eröffneten projektive Räume für Identifikation und Idealisierung, die jenseits der eher nüchternen Geschäftsgrundlagen der parlamentarischen Ordnung in der Bundesrepublik angesiedelt waren. Dazu parallel entwickelte sich innerhalb des Aktionsrahmens von Protest und Teach-in ein zentralisierendes Moment innerhalb der Bewegung. An die Stelle von Vielfalt und Spontaneität innerhalb der Bewegung traten die avantgardistischen Führer. Die Führungsfunktion lag beim Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS). Unbestrittener Sprecher der Avantgarde war in der Zeit zwischen 1966 und dem Frühjahr 1968 Rudi Dutschke.8 Dutschke, als Emigrant aus der DDR in den Westen von Berlin gekommen, gab in der Frage der konzeptionellen Schwerpunktbildungen unbestritten den Ton an. Er

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Karl Marx: Die deutsche Ideologie. In: Marx-Engels-Werke. Bd. 3. Ostberlin 1972, S. 1215. Zum Aspekt der Avantgarde in der 1968er-Bewegung vgl. Beckenbach: Avantgarde und Gewalt, S. 165ff.

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hatte aus der DDR einen beträchtlichen Theorievorsprung hinsichtlich der ›Klassiker‹ des Marxismus in den Westen des geteilten Berlin mitgebracht. Es war im Wesentlichen Dutschkes Einfluss innerhalb des Führungszirkels, wodurch ein Brückenschlag postuliert wurde zwischen Vietnam und anderen antikolonialen Schauplätzen wie etwa Algerien und Lateinamerika und schließlich, wie damals vermutet wurde, zum ›Antirevisionismus‹ in der Volksrepublik China. Ein jugendrevolutionärer Elan der ›Roten Garden‹ wirkte dabei als Objekt von Faszination und Idealisierung. Die Ideen dieser revolutionären Bewegungen sollten implantiert werden in die existierende Gesellschaft der ›BRD‹. Ich erläutere dies an einer weiteren Vignette. Als erste überregionale Aktivität gegen den amerikanischen Vietnamkrieg in der Bundesrepublik fand im Mai 1966 – die konservative Ära des Wiederaufbaus ging dem Ende entgegen, die Große Koalition unter Regierungsbeteiligung der SPD stand bevor – in der Universität von Frankfurt/M. ein wissenschaftlicher Kongress statt. Das Hauptreferat hielt Herbert Marcuse. Das gesellschaftspolitische Novum des Kongresses war eine Beteiligung namhafter Wissenschaftler der Bundesrepublik an einer prononciert kritischen Haltung gegenüber den USA. Die offizielle politische Haltung gegenüber den USA war bis dahin, ähnlich wie das Verhältnis zwischen der DDR und der Sowjetunion, gekennzeichnet durch Anpassung und Unterwürfigkeit. Die Mehrheit der Bevölkerung folgte dem Meinungswandel der akademischen Elite zunächst nicht. Durch die studentischen Proteste gegen den Vietnamkrieg kam ein dissonanter Akzent in die bis dahin durchgängige Wertschätzung von Gesellschaft und Kultur der USA in der Bundesrepublik. Dies führte vor allem in Berlin wegen der exponierten Lage zu einer Spannung im Verhältnis von Stadt und Universität.9 Und diese Spannung wurde systematisch geschürt durch die Zeitungen des Springer-Konzerns. Knapp zwei Jahre nach dem Frankfurter Vietnamkongress wurde im Februar 1968 in Berlin, in der Zuständigkeit des dortigen SDS und unter maßgeblichem Einfluss von Rudi Dutschke, ein Kongress durchgeführt, der alle Anzeichen von Radikalisierung und Militanz aufwies. Bereits der Titel des Kongresses »Der Kampf des vietnamesischen Volkes und die Globalstrategie des Imperialismus«10 zeigt den Wandel der Perspektive. Die Beiträge der Tagung wurden ausschließlich durch Intellektuelle mit strikt antiimperialistischer Haltung bestritten. Der Übergang zwischen gesellschaftskritischem Diskurs und Ideologie war dabei fließend. Quer über dem Podium war ein riesiges Transparent angebracht mit der Aufschrift: »Die Pflicht des Revolutionärs ist es, die Revolution zu machen«. In einem kurz nach dem antiimperialistischen Kongress erschienenen und in hoher Auflage gedruckten Manifest der neuen Linken unter dem Leitbegriff der

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Siehe zu diesem Aspekt Beckenbach: Avantgarde und Gewalt, S. 174ff. Internationales Nachrichten- und Forschungsinstitut (Hg.): Der Kampf des Vietnamesischen Volkes und die Globalstrategie des Imperialismus. Berlin 1968. – Ich danke Siegward Lönnendonker für die Überlassung der Broschüre.

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Rebellion hatte Rudi Dutschke in seinem Beitrag unter der Formel »Die laue Opposition ist tot« für die USA und Europa revolutionäre Aktivitäten nach dem Vorbild des Vietcong gefordert.11 In einem gemeinsam mit dem Frankfurter SDSSprecher Hans-Jürgen Krahl verfassten Beitrag anlässlich einer Organisationsdebatte des SDS in Frankfurt, knapp ein halbes Jahr vor dem antiimperialistischen Spektakel in Berlin, forderte Dutschke eine »Propaganda der Tat« und erwähnte als Aktionstyp der zu schaffenden revolutionären Bewegung die Stadtguerilla.12 Und es war, wenn man Peter Schneider als einem der Sprecher der Protestbewegung in Berlin Glauben schenken darf, der charismatische Führer der studentischen Rebellion in eigener Mission, der das Reden vom Eurocong in die Tat umsetzen wollte. Peter Schneider schildert einen – glücklicherweise gescheiterten – Versuch von Rudi Dutschke, gemeinsam mit einem Mitstreiter einen Mast des US-Senders American Forces Networks (AFN) in die Luft zu sprengen.13 Was war geschehen? Rückblickend erscheint es mir so, dass gegenüber der ursprünglichen Themenvielfalt in der studentischen Protestbewegung ein Themensog in Gang gesetzt wurde, dessen Fluchtpunkt in der Identifizierung mit einer revolutionären Theatralik lag. Auch die Avantgarden der klassischen Moderne wie etwa die Surrealisten oder die Dadaisten provozierten ihr gesellschaftliches Umfeld durch radikale Inszenierungen.14 Aber dort bewegten sich die Protagonisten im symbolischen Raum der Kunst. In der politischen Szene von 1967/68 wurde demgegenüber die Illusion genährt, dass sich die utopische Vision und das antikoloniale Modell der ›Dritten Welt‹ bruchlos auf die Verhältnisse in der Bundesrepublik würden übertragen lassen. Das Revolutionsmodell der ›Dritten Welt‹ erhielt eine romantische Politur, von der sich die Sprecher der Revolte wiederum verzaubern und hinreißen ließen. Hier liegt eine erste Wegscheide zwischen öffentlich darstellbarem Protest und dem Marsch in eine selbst verschuldete politische Sackgasse. Ich erinnere mich, dass mich – ich studierte Soziologie an der FU Berlin – damals ein Gefühl beschlich, dass mit dem antiimperialistischen Kongress im Februar 1968 eine gefährliche Stufe der Militanz erreicht war. Seit Anfang der siebziger Jahre verstärkten sich diese Tendenzen einer Monopolisierung der politischen Meinungsbildung und der Denkweisen. Dadurch wurden dem Gruppenpartikularismus und dem Fanatismus Tür und Tor geöffnet. Die Differenzierer verstumm-

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Vgl. Uwe Bergmann/Rudi Dutschke/Wolfgang Lefèvre/Bernd Rabehl: Rebellion der Studenten oder die neue Opposition. Reinbek bei Hamburg 1968. Das Manifest wurde in drei Auflagen mit insgesamt 140000 Exemplaren gedruckt und gehörte damals zur Pflichtlektüre jedes studentischen Oppositionellen. Dutschke zit. n. Siegward Lönnendonker/Bernd Rabehl/Jochen Staadt: Die antiautoritäre Revolte. Der Sozialistische Deutsche Studentenbund nach der Trennung von der SPD. Bd.1: 1960–1967. Wiesbaden 2002, S. 381f. Vgl. Peter Schneider: Rebellion und Wahn. Mein 1968. Köln 2008, S. 202. Vgl. Beckenbach: Avantgarde und Gewalt, S. 12ff. Zum Aspekt der Inszenierungen im 20. Jahrhundert siehe Sabine R. Arnold/Christian Fuhrmeister/Dietmar Schiller (Hg.): Politische Inszenierung im 20. Jahrhundert. Zur Sinnlichkeit der Macht. Köln/Weimar 1998.

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ten, die Dogmatiker führten die Parole. Niemand konnte damals ernsthaft behaupten, über eine Theorie der internationalen Politik zu verfügen. Die Marxkenntnisse innerhalb der Protestbewegung waren immer noch rudimentär. Die revolutionäre Parole verdrängte das rationale Denken. Bei den politischen Sprechern der Protestbewegung bildete sich eine deklamatorische Rhetorik heraus, die aus der Wirklichkeit herausführte und den tendenziell doch illusionären Weg bahnte in eine irreale Welt. Um es nochmals zu betonen: Das einigende Band der Utopie wurde zur ideologischen Klammer. An die Stelle der experimentierenden Neugierde trat ein Habitus der Parolensprache und der dogmatischen Schließung. Oberflächlich betrachtet war es der überfordernde Handlungsdruck der Sprecher der 1968er-Revolte im Angesicht von immer noch begrenztem Wissen und von gleichzeitig enormem Zulauf etwa aus der Schülerschaft oder aus dem Lehrlingsbereich, der für diese Mechanismen einer intellektuellen Schließung als Ursache angeführt werden könnte. Aber hinter der Diskrepanz zwischen Illusion und Wirklichkeit vermute ich ein tieferliegendes Dilemma. Ich nehme hier den roten Faden der ›Ideen von 1789‹ wieder auf. In der Geschichte der Ideen in Deutschland existierte ein reicher Vorrat an ästhetischen, literarischen und auch an politischen Ideen mit revolutionärem Inhalt. Aber das politische Denken der sozialen Bewegungen war niemals vom Erfolg der Praxis gekrönt. Seit dem Schicksalsjahr 1848 hatten alle Bewegungen links von der liberalen Mitte im Kampf gegen die Rechte oder gegen die pervertierten Ableger des Nationalismus auf der extremen Rechten stets in der Niederlage geendet. Wo also sollte die 1968er-Bewegung auf einen Fundus von bewährten demokratischen Traditionen zurückgreifen können? Es war in dieser Situation wie häufig in Situationen der Zäsur im Deutschland des 19. und 20. Jahrhunderts: Der Voluntarismus der Ideen ersetzte die fehlende politische Praxis. In der nach 1970 rasch entstehenden Schulungsbewegung avancierten die ›Blauen Bände‹ (die beim Dietz-Verlag in Ostberlin erschienenen Werke von Marx und Engels) zu Kultobjekten, während die Produkte des Wohlstandskapitalismus als ›Fetische‹ eines verdinglichten Bewusstseins gebrandmarkt wurden. An den Universitäten entstand ein Typus des intellektuellen ›Kaders‹ der pharisäisch und selbstgerecht eine Welt des Klassenkampfs ›ableitete‹, die im empirischen Umfeld der siebziger Jahre ihre Evidenz längst verloren hatte. In dieser Situation einer fehlenden Bezugstradition erfüllte das Prinzip der Gewalt eine kompensatorische Funktion. An die Stelle einer aufwendigen theoretischen Arbeit oder empirischer Untersuchungen traten der Voluntarismus der Aktion und mehr und mehr ein unverhülltes Feindschema. Das Feind-Paradigma wies in Deutschland im 19. und mehr noch im 20. Jahrhundert eine stattliche Ahnenreihe auf. In dem Dahindämmern des bürgerlichen Liberalismus im 19. Jahrhundert war es der Mythos von der Wiederkehr des Königs Barbarossa, der im romantischen Denken von der Wiederkehr des ruhmreichen Römischen Reiches Deutscher Nation träumen ließ. Marlis Steinert erwähnt in ihrer Hitler-Biographie den Rienzi-Mythos als Motiv von Opfer und Rache, von dem Hitler nach dem Besuch der entsprechenden Wagner-Oper hingerissen gewe-

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sen sei.15 Der Dokumentarfilmer Peter Cohen hat, basierend auf dieser Thematik, eine einleuchtende Erklärung der kulturellen Wurzeln des deutschen Nationalsozialismus vorgelegt.16 Der Kern dieser aus Wut und Vergeblichkeit gebastelten Erzählung ist stets der gleiche: Der destruktive Held, die Vision einer imaginären Idealwelt vor Augen, nicht fähig, sich den Mühen einer Auseinandersetzung mit der bestehenden Ordnung zu unterziehen, überzieht die Gesellschaft mit Zerstörung und Vernichtung. Von dieser Traditionslinie her verläuft eine dunkle Spur mitten hinein in die 1968er-Bewegung. Allerdings wurde bis zum Ende der sechziger Jahre immer eine Grenze gezogen zwischen symbolischer Aktion (dazu gehörte der Gewaltdiskurs) und konkreter Tat. Die intellektuellen Urheber der pharisäischen, im Rückblick auch ungewollt komischen Rituale der kommunistischen Aufbauorganisationen propagierten die Revolution und bekämpften sich wechselseitig, aber sie wendeten nicht selbst Gewalt an. Es war dieser von Dogmatismus und Verfeindung geprägte Habitus, der zu einer Herabsetzung der moralischen Schwelle gegenüber physischer Gewaltanwendung führte. In diesen Zusammenhang gehört auch ein weiteres von Peter Schneider erwähntes Detail. Als nach dem Attentat auf Rudi Dutschke die Rolle des SpringerKonzerns bei der Entstehung der Pogromstimmung in Berlin durch ein politisches Tribunal, geleitet von Mitgliedern des Berliner SDS, untersucht werden soll, wird bei der Eröffnung des Tribunals und ohne vorherige Absprache mit dem Zuständigen ein dokumentarischer Film von Holger Meins gezeigt – es handelt sich um eine Anleitung zur Herstellung von Sprengsätzen.17 Niemand von den Veranstaltern, niemand aus dem Umkreis der Bewegung protestiert. Niemand stoppt die Spirale der Gewalt in den Köpfen. Es war in der Situation der Krise das Spiel mit dem Feuer, wodurch dem regressiven Sog und den Protagonisten des Zivilisationsbruchs der Boden bereitet wurde.

Kains Gewalt Die Idee des einigenden Bandes wurde bisher verstanden als ein symbolisches Wir innerhalb der 1968er-Revolte. Seine Elemente waren Kritik und provokative Aktion im Raum einer kreativen Gegenöffentlichkeit. Die 1968er-Bewegung konstituierte sich dadurch als eine nach vorne weisende Bewegung, ähnlich wie die Arbeiterbewegung oder andere soziale Bewegungen im 19. und im frühen 20.

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Vgl. Marlis Steinert: Hitler. Eine Biographie. München 1994, S. 33; siehe dazu auch Niels Beckenbach: Gewalt und Modernität. Aspekte der deutschen Mentalität im 20. Jahrhundert. In: Beckenbach (Hg.): Wege zur Bürgergesellschaft. Gewalt und Zivilisation Mitte des 20. Jahrhunderts. Berlin 1995, S. 31ff. Siehe dazu Peter Cohens dokumentarischen Film Die Architektur des Untergangs. Arte 1994. Schneider: Rebellion und Wahn, S. 246.

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Jahrhundert. Aber in der Geschichte der Bünde und Verbände existiert noch eine andere Version der Bruderschaftsidee. Ihre Ursprünge liegen in den religiösen Bewegungen oder in den Männerbünden, die sich im Zusammenhang mit den sozialen Kämpfen des Mittelalters und der frühen Neuzeit herausbildeten. Max Weber hat in seinen religionssoziologischen Studien herausgearbeitet, dass in den asketischen religiösen Bewegungen ein enger Zusammenhang besteht zwischen den Motiven der Weltablehnung und der Weltbeherrschung.18 Der religiöse Bruder und der Outlaw gleichen sich in dem Aspekt einer radikalen Weltablehnung.19 Die religiöse Brüderschaftsethik und die Heilsidee können dabei entweder wie in den gnostischen Lehren als ewiger Kampf zwischen dem Göttlichen und einem UrBösen gedacht werden, sie begründen wie in der katholischen Inquisition und später im Jakobinismus während der Französischen Revolution als Geheimpolizei ein Regime des Schreckens – terror bedeutet im Lateinischen Schrecken. Die Übergangszone zwischen Religion, Politik und Alltag erweist sich dabei als fließend. Der absolute Tugendbegriff der Jakobiner zielte auf die Suche und die Verfolgung der suspects. Maximilian Robespierre, Meister und möglicherweise auch historischer Urheber einer Rhetorik des Schreckens, steigert sich von der bedeutungsvollen Ankündigung, die Verräter zu entlarven,20 über die Deklamierung eines absoluten Tugendbegriffs21 bis zur offenen Proklamation des Terrors.22 Der Werteuniversalismus der Aufklärer war durch das Prinzip von Rache, Verfolgung und Vernichtung verdrängt worden. Maximilien Robespierre, Antoine de SaintJust und andere Mitglieder des Wohlfahrtsausschusses ließen sich in der Französischen Revolution noch vom Parlament ermächtigen als Vollstrecker des Gemeinwohls. Die Mitglieder des revolutionären ›Bundes der Gleichen‹ während der Französischen Revolution verstanden sich dagegen als Verschwörer, selbst ermächtigt zur revolutionären Gewalt, dies auch um den Preis ihres eigenen Lebens. Es war ein unversöhnlicher Hass auf die Reichen und die Mächtigen, der die kleinen Verschwörerzirkel zusammenhielt und zu ihrem Handeln antrieb.23 Es existiert kein spezifisches Sozialmilieu, dem dieses Muster einer in Freund und Feind gespaltenen Weltsicht zuzuordnen wäre. Georges Sorel hat das archaisierende Denken und die Spaltung der Welt im Namen der Gewalt unter dem Vorzeichen des Generalstreiks salonfähig gemacht. Die Nationalsozialisten konn-

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Vgl. Max Weber: Theorie der Stufen und Richtungen religiöser Weltablehnung. In: Weber (Hg.): Gesammelte Schriften zur Religionssoziologie I. Tübingen 1988 [1920], S. 536ff. Zur Genese des Outlaw vgl. Eric Hobsbawm: Räuber als Sozialbanditen. München 2000. Siehe dazu am Beispiel der Französischen Revolution Elisabeth und Robert Badinter: Condorcet. Un intellectuel en politique. Paris 1988, S. 406. Vgl. die Rede vor dem französischen Konvent vom Dezember 1793: Maximilian Robespierre: Über die Prinzipien der revolutionären Regierung. In: Reden der französischen Revolution. Hg. von Peter Fischer. München 1989, S. 330–340. Vgl. Fischer: Reden der französischen Revolution, S. 349. Siehe dazu Hobsbawm: Räuber als Sozialbanditen, S. 21.

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ten sich auf eine verbreitete Strömung des Obrigkeitsdenkens innerhalb der deutschen Bevölkerung stützen, wobei dem westlichen Demokratiemodell der Geruch des schnöden Materialismus angeheftet wurde. Auch die von Marx entwickelte Strategie, dass die Macht des Kapitals durch Gewalt aufzubrechen und durch eine ›Diktatur des Proletariats‹ abzulösen sei, beruht zumindest teilweise auf dem Modell der gespaltenen Welt.24 Die manichäische, in ihrem Kern primitive Spaltung von innen gleich gut und außen gleich böse mit der Aura von Verrat und von Verdacht wurde zum verallgemeinerten Feindschema, wenn verschwörerische Bewegungen an die Macht gekommen waren. Kritik an der Führung oder verlorenes Vertrauen kann, etwa im Falle der Häresie, schärfste Sanktionen nach sich ziehen. Der von Ausschluss und Verfolgung bedrohte Genosse tendiert, getrieben von Verlustangst, zu grenzenloser Unterwerfung. Das Kapitel »Bruders Mörder« gehört zur Geschichte der Verbrechen der kommunistischen Bewegung. Diese Exzesse des Schreckens und der politischen Verrohung in den kommunistischen Regimes des 20. Jahrhunderts sind bis heute erst ansatzweise dokumentarisch erfasst und bei weitem nicht zureichend erklärt. Wir befinden uns diesbezüglich immer noch auf forscherischem Neuland. In den Verschwörerzirkeln wirkt der Hass gegen den äußeren Feind ebenfalls als Klammer der inneren Einheit. Die – bisher allerdings spärlichen – Dokumente aus der terroristischen Szene zeigen, dass sich etwa an der Frage der Bereitschaft zur Tötung beteiligter Personen im Falle von geplanten Anschlägen (z. B. als Fahrer oder Bewacher von potentiellen Entführungsopfern) eine Scheidung des harten terroristischen Kerns von der Sympathisantenszene bzw. von möglichen Anwärtern vollzog.25 Hier lässt sich eine Verbindung ziehen zum Kainsmotiv. In der biblischen Erzählung mordet Kain den Bruder Abel, weil sein Opfer durch Gott zurückgewiesen wird, während Abels Opfergabe anerkannt wird. Der Sozialpsychologe Rolf Haubl deutet den Kainkomplex als eine durch Neid und Kränkung bestimmte Ursituation. Er bezeichnet Kain als den modernen Menschen – man könnte hinzufügen, als den modernen Menschen im Zustand einer tief empfundenen Kränkung. Dadurch werde ein ebenfalls tief empfundenes Bedürfnis nach Rache und Vergeltung auslöst.26 Was sich im Falle der totalitären Bewegungen an der Macht als staatlich institutionalisierter Terror bezeichnen lässt, stellt sich innerhalb der terroristischen Gruppe als eine in Permanenz zu erbringende Aufgabe.

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Vgl. Beckenbach: Utopie und Eschatologie bei Karl Marx. In: Beckenbach (Hg.): Avantgarde und Gewalt. Gratwanderungen zwischen Moderne und Antimoderne im 20. Jahrhundert. Hamburg 2007, S. 63ff. Siehe dazu am Beispiel der Entführung von Hanns Martin Schleyer durch ein so genanntes ›Kommando‹ der RAF Peter-Jürgen Boock: Die Entführung und Ermordung des Hanns-Martin Schleyer. Eine dokumentarische Fiktion. Frankfurt a. M. 2002, S. 23ff. Vgl. Rolf Haubl: Von der Todsünde zum kreativen Potential. Über konstruktive und destruktive Formen individuellen und kollektiven Neides. In: Jahrbuch für Psychoanalyse. Bd. 4. Hg. von Mohammad Ebrahim Ardjomandi/Angelika Berghaus/Werner Knauss. Heidelberg 1998, S. 17–45.

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Das Kainsmotiv erfüllt in der These von Haubl eine vergleichbare Funktion wie der Begriff des ›Ressentiments‹ bei Max Scheler.27 In den Kainsbewegungen werden jene sozialen Bindungen gekappt und jene moralischen Skrupel gelöscht, die im Zuge der Zivilisation entstanden sind und ohne die, im Sinne der ›Ideen von 1789‹, das menschliche Zusammenleben unmöglich ist. Der von archaischem Hass getriebene Gewalttäter – als Stadtguerilla bzw. als antiimperialistischer Kämpfer, als Glaubenskrieger, oder wie auch immer er oder sie sich titulieren mag – verdrängt das zoon politicon. Aber er wird seinerseits verschlungen von den Geschöpfen seines Hasses. Ich komme wieder zurück zur 68er-Thematik. Mit der revolutionären Idolatrie erfindet sich die 1968er-Avantgarde und sie löst sich ab vom Zusammenhang der kommunizierenden Gegenöffentlichkeit. Die Protagonisten erfinden eine revolutionäre Gegenwelt und sie verlieren dadurch tendenziell den Kontakt zur Realität. Allerdings erscheint mir bei aller Kritik am revolutionären Aktionismus die Differenz zwischen der Idolatrie der ›Dritten Welt‹ und der Welt von ›Bruders Mörder‹ als evident. Beide unterscheiden sich in zwei wesentlichen Aspekten. Zum einen ist die symbolische Pose von Rhetorik und Inszenierung nicht die reale Tat. Das symbolische Handeln als verbales Probehandeln ist reversibel. Es kann, jedenfalls im Prinzip, durch Selbstreflexion auf die Ausgangsdisposition des Akteurs zurückgeführt und neu konzipiert werden. Zum anderen besteht zwischen Denken und Tatausführung ein wesentlicher Unterschied. Der Begriff der Guerilla schießt nicht und er tötet nicht. Zum Schießen und zum Töten gehören die individuelle Entscheidung und der Schuss. Das Frühjahr 1968 hat in meiner Rückerinnerung eine ambivalente Bedeutung. Einerseits konstituierte sich nach dem Attentat auf Rudi Dutschke eine breite Bewegung der Revolte, andererseits wurde im April mit den Brandattacken auf zwei Kaufhäuser in Frankfurt/M. auf Seiten der Protestbewegung zum ersten Mal und wie sich zeigen sollte in nachhaltiger Weise der Rubikon der Gewalt überschritten. Es waren zunächst individuelle Entscheidungen, die wegführten von der Politik und hin zur Gewalt. Andreas Baader und Gudrun Ensslin, zwei bis dahin unauffällige Personen innerhalb der 1968er-Bewegung, wollten mit der Kaufhausbrandstiftung ein Fanal gegen den US-Krieg in Vietnam setzen. Die Journalistin Ulrike Meinhof war, wie damals viele, fasziniert von der Radikalität dieses Gesetzesbruchs. Sie ließ sich von dem zur Gewalt entschlossenen Paar Baader/Ensslin selbst zu einem Leben als Gewalttäter im Untergrund – mythologisierend ausgedrückt, zum Kämpfer der Roten Armee Fraktion (RAF) – überreden. Holger Meins trat wie oben erwähnt als Student der Berliner Film- und Fernsehakademie an die Öffentlichkeit durch eine Anleitung zum Bau von Sprengsätzen. Er schloss sich der terroristischen Gruppe an ebenso wie Jan Carl Raspe und kurzzeitig auch dessen Freundin Marianne Herzog.

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Vgl. Max Scheler: Das Ressentiment im Aufbau der Moralen. In: Scheler (Hg.): Vom Umsturz der Werte. Bern 1972, S. 33–149.

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Die terroristische Gruppe um Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Ulrike Meinhof durchlief alle Phasen der Transformation von rationaler Kritik und moralischem Protest in irrationale Affekte der Kränkung und des Hasses, von moralischer Selbstermächtigung und von innerer Verrohung. Bei Ulrike Meinhof ist der individuelle Weg in die Gewalt vergleichsweise gut dokumentiert, da sie als Mitglied der schreibenden Zunft stets versuchte, ihr Handeln durch Wort und Text zu legitimieren. Ihr Weg zum »Sozialbanditen«, ich übernehme den entsprechenden Begriff von Eric Hobsbawm,28 spiegelt den Übergang vom politischen Protest hin zu einer, wie verschiedene Zeitzeugen aus ihrer Umgebung berichten, von außen unzugänglichen Selbstgerechtigkeit und Selbstüberhebung. Diese Haltung hat der Psychoanalytiker Wolfgang Schmidtbauer als »pharisäischen Narzissmus« bezeichnet.29 Wer der biographischen Spur der Gewalttäterin in der Annahme folgt, eine Erklärung zu finden für das prinzipiell immer unbegreifliche Verbrechen des Mordes, sieht sich bestätigt in der Unterscheidung zwischen symbolischem Handeln in einem politischen Kontext und dem individuellen Entschluss zur Gewalttat. Dabei ist auch der Umstand zu berücksichtigen, dass die Gewalt, bildhaft gesprochen, auf vielen Füßen daherkommt. Wenn, laut einer Übersicht des Bundeskriminalamtes aus der Mitte der siebziger Jahre, der harte Kern der Terrorszene (bestehend aus Inhaftierten und steckbrieflich gesuchten Personen) mit ca. 150 und der äußere Rand der Sympathisantenszene mit 2000 (jederzeit gewaltbereiten Personen) bzw. 6000 (Sympathisanten der terroristischen Gewalt im weiteren Sinn) beziffert wurde,30 so geben diese Zahlen bei aller von der Sache her bedingten Unschärfe ein ungefähres Bild über das Ausmaß der Gewaltbereitschaft zum Zeitpunkt der maximalen Ausbreitung des Terrorismus in der Bundesrepublik. Die konzentrischen Kreise von Tätern, Tatbereiten und Sympathisierenden besagen für den vorliegenden Zusammenhang bei aller gebotenen Relativierung so viel, dass mit der 1968er-Revolte auch, nicht wegzudiskutieren und unhintergehbar, eine Grundwelle von archaischen Gefühlen, von Hass und Gewalt hochgespült wurde. Man mag ein Gewaltpotential von unter 10000 Personen bei einer Jugendkohorte von vielen Millionen Menschen als relativ gering einschätzen. Dabei ist als entlastendes Argument zu berücksichtigen, dass politische Radikalität im Jugendalter häufig als Übergangserscheinung, als Ausdruck des ›Werther‹-Gefühls oder als romantische Schwärmerei anzusehen ist. Aber diese Hinweise tragen allenfalls bei zur Aufhellung der äußeren Umstände. Festzuhalten ist in der nüchternen Rückschau, dass die Gewalttäter um Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Ulrike Meinhof für Tausende von jungen Menschen als eine Art Übermenschentum, als moderne Wiedergeburt von Robin Hood und seiner Bande erschienen, angetreten in einem aussichtslosen, aber deshalb nur um so mehr bewunderten Kampf gegen

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Vgl. Hobsbawm: Räuber als Sozialbanditen, S. 31. Vgl. Wolfgang Schmidtbauer: Der Mensch als Bombe. Eine Psychologie des neuen Terrorismus. Reinbek bei Hamburg 2003, S. 64ff. Vgl. Stefan Aust: Der Baader-Meinhof-Komplex. Hamburg 1985, S. 452f.

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ein verhasstes System, gegen das Staatsmonster Leviathan oder wie es im wahnhaften Denken der Roten Armee Fraktion (RAF) in Anlehnung an den gleichnamigen Roman von Hermann Melville hieß, zur Jagd auf den »weißen Wal«.31 Wolfgang Schmidtbauer bezeichnet das selbstzerstörerische Agieren innerhalb einer mental gespaltenen Welt als »kannibalischen Narzissmus«.32 Diese Formulierung erinnert an eine Passage in Elias Canettis Arbeit Masse und Macht, das die Potenz der Lebenden, im Sinne der Überlebenden, auf der Einverleibung des oder der anderen (gemeint: Plural), der Beute, der Waren oder auch der Kriegstoten, besteht.33 Das kannibalische Element des Narzissmus meint, ganz im Sinne des klassischen Mythos, ein grenzenloses und niemals stillbares Bedürfnis nach ›Zufuhr‹ von allem und jedem, worauf das bedürftige Selbst als ›Nahrung‹ für seinen Geltungs- und Anerkennungsdrang angewiesen ist: Gehorsam und Unterwerfung, Bewunderung und Idealisierung. In einem Informationssystem, welches zwischen den Häftlingen zirkulierte, waren die Teilnehmer am Info zur Selbstkritik aufgefordert.34 Nur das Führungspaar Baader/Ensslin nahm sich aus von dieser häufig bis zur Selbsterniedrigung gesteigerten Prozedur. Holger Meins, Jan Carl Raspe und die mehr oder weniger namenlosen anderen RAF-Häftlinge, soviel lässt sich aus dem Info herauslesen, bringen unter der Deckadresse von Kritik ihre grenzenlose Subordination gegenüber der Führung der RAF zum Ausdruck. Andreas Baader und Gudrun Ensslin nehmen diese Zeichen von innerer und häufig rücksichtsloser Selbstentblößung entgegen. Sie verleiben sich die Selbstkritik der RAF-Häftlinge als eine Art ›Größennahrung‹ ein, so wie der Kannibale das Fleisch seiner Opfer verzehrt. Ihre Größenphantasien ›ernähren‹ sich zum wesentlichen Teil von der Selbsterniedrigung der übrigen Gefangenen. Daraus resultiert neben der Bestätigung des grandiosen Führer-Selbst ein Strom der Energie, der von dem terroristischen Führungszirkel ›einverleibt‹ wird. Hier schließt sich der Kreis. Holger Meins war der erste, der bereit war, den geforderten Weg des Hasses und der Unterwerfung bis zum Ende zu gehen. Die Führung ›brauchte‹ im Sinne der These vom kannibalischen Narzissmus Tote in den eigenen Reihen als Klammer des Zusammenhalts und als ›Nahrung‹ für die Größenphantasien des Führungsduos. Holger Meins verhungert. Er stirbt im dritten Hungerstreik der terroristischen Häftlinge im November 1974. Kurz vor seinem Tod schreibt er, willfähriges Werkzeug der Gehirnlenker Baader/Ensslin, an den Mithäftling Grashoff: »Entweder Mensch oder Schwein – entweder Teil des Problems oder Teil der Lösung. Dazwischen gibt es nichts...«.35

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Beckenbach (Hg.): Wege zur Bürgergesellschaft. Gewalt und Zivilisation in Deutschland Mitte des 20. Jahrhunderts. Berlin 2005, S. 257ff. Schmidtbauer: Der Mensch als Bombe, S. 64ff. Vgl. Elias Canetti: Masse und Macht. Hamburg 1960, S. 237ff. Vgl. Pieter H. Bakker Schut (Hg.): Das Info. Briefe von Gefangenen aus der RAF. Aus der Diskussion 1973–1977. Hamburg 1987. Holger Meins zit. n. Aust: Der Baader-Meinhof-Komplex, S. 290.

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Bibliographie Arnold, Sabine R./Fuhrmeister, Christian/Schiller, Dietmar (Hg.): Politische Inszenierung im 20. Jahrhundert. Zur Sinnlichkeit der Macht. Köln, Weimar 1998. Aust, Stefan: Der Baader-Meinhof-Komplex. Hamburg 1985. Badinter, Elisabeth/Badinter, Robert: Condorcet: 1743–1794. Un intellectuel en politique. Paris 1988. Bakker Schut, Pieter H. (Hg.): Das Info. Briefe von Gefangenen aus der RAF. Aus der Diskussion 1973–1977. Hamburg 1987. Beckenbach, Niels: Avantgarde und Gewalt. Gratwanderungen zwischen Moderne und Antimoderne im 20. Jahrhundert. Hamburg 2007. – (Hg.): Wege zur Bürgergesellschaft. Gewalt und Zivilisation in Deutschland Mitte des 20. Jahrhunderts. Berlin 2005. Bergmann, Uwe/Dutschke, Rudi/ Levèvre, Wolfgang/Rabehl, Bernd: Rebellion der Studenten oder die neue Opposition. Reinbeck bei Hamburg 1968. Boock, Peter-Jürgen: Die Entführung und Ermordung des Hanns-Martin Schleyer. Eine dokumentarische Fiktion. Frankfurt/M. 2002. Canetti, Elias: Masse und Macht. Hamburg 1960. Fichter, Tilman/Lönnendonker, Siegward: Kleine Geschichte des SDS. Der Sozialistische Deutsche Studentenbund von Helmuth Schmidt bis Rudi Dutschke. Essen 2007. Haubl, Rolf: Von der Todsünde zum kreativen Potential. Über konstruktive und destruktive Formen individuellen und kollektiven Neides. In: Jahrbuch für Psychoanalyse. Bd. 4. Hg. von Mohammad Ebrahim Ardjomandi, Angelika Berghaus und Werner Knauss. Heidelberg 1998, S. 17–45. Hobsbawm, Eric: Räuber als Sozialbanditen. München 2000. Internationales Nachrichten- und Forschungsinstitut (Hg.): Der Kampf des Vietnamesischen Volkes und die Globalstrategie des Imperialismus. Berlin 1968. Lönnendonker, Siegward/Rabehl, Bernd/Staadt, Jochen: Die antiautoritäre Revolte. Der Sozialistische Deutsche Studentenbund nach der Trennung von der SPD. Bd. 1: 1960– 1967. Wiesbaden 2002. Marx, Karl: Die deutsche Ideologie. In: Marx-Engels-Werke. Bd. 3. Ostberlin 1972. Robespierre, Maximilian: Über die Prinzipien der revolutionären Regierung. In: Reden der französischen Revolution. Hg. von Peter Fischer. München 1989, S. 330–340. Rousseau, Jean-Jacques: Vom Gesellschaftsvertrag. In: Rousseau (Hg.): Politische Schriften. Bd. 1. Paderborn 1977, S. 59–208. Scheler, Max: Das Ressentiment im Aufbau der Moralen. In: Scheler (Hg.): Vom Umsturz der Werte. Bern 1972, S. 33–149. Schneider, Peter: Rebellion und Wahn. Mein 1968. Köln 2008. Schmidbauer, Wolfgang: Der Mensch als Bombe. Eine Psychologie des neuen Terrorismus. Reinbek bei Hamburg 2003. Steinert, Marlis: Hitler. München 1994. Weber, Max: Theorie der Stufen und Richtungen religiöser Weltablehnung. In: Weber (Hg.): Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I [1920]. Tübingen 1988, S. 536–573.

Filmographie: Peter Cohen: Architektur des Untergangs. Arte 1994.

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Abstract Der Autor behandelt die Gewaltfrage in der 1968er-Bewegung der Bundesrepublik. Welche Gründe, welche gesellschaftlichen Ursachen waren ausschlaggebend dafür, dass eine auf Emanzipation und Aufklärung ausgerichtete soziale Bewegung deformiert wurde und mehr und mehr erstarrte in politischem Dogmatismus, in autoritärem Sektenwesen und schließlich ausuferte zur terroristischen Gewalt? Erklärende Faktoren und geschichtliche Zusammenhänge werden auf drei unterschiedlichen Ebenen diskutiert. (1) Bezogen auf die politische Kultur innerhalb der Bewegung, beschreibt der Autor den Verlust an Pluralismus (Vielfalt) und die Zentrierung von Theoriebildung und politischer Aktion durch eine selbst ernannte Avantgarde. (2) Im Zusammenhang der intellektuellen Avantgarde wird dargestellt, dass mit der Fokussierung auf das Faszinosum der ›revolutionären Peripherie‹ und, parallel, mit dem Wechsel vom Diskurs zur charismatischen Unterwerfung, tendenziell die Preisgabe der symbolischen Räume von Utopie und kreativer Phantasie sowie von experimentell-gewaltfreier Praxis in selbst-verwirklichender Absicht verbunden war. Die 1968er Avantgarde in der Bundesrepublik erweist sich in dieser Vereinseitigung nach der These des Autors als ›frei schwebend‹ in dem schlechten Sinn des Wortes. Die innergesellschaftliche Gewalt als dunkler ›Mitläufer‹ der 1968er Bewegung wird in einem ersten Résumé zum überwiegenden Teil als selbstgemacht bezeichnet. (3) Schließlich, und hier liegt der zentrale Akzent der Arbeit, wird unter Rückgriff auf die psychoanalytische Sozialisationstheorie, als ›Kainszeichen‹ der terroristischen Gewalttäter, das Konzept des ›explosiven Narzissmus‹ eingeführt. Dazu gehören narzisstische Kränkung, Tendenzen der Derealisierung und ein mentaler Rückzug in wahnartige Vorstellungen, ein projektiver Haß sowie extreme Selbstschwankungen, so z. B. zwischen Ohnmacht und Größen- bzw. Auserwähltheitsphantasien, ein Oszillieren zwischen einem ins Wahnhafte gesteigerten Gruppenselbst sowie zwischen Verzweiflung und individueller Selbstentblößung mit der Bereitschaft zur Devotion gegenüber dem charismatischen Führer, schließlich der Rückzug in eine mentale Leere sowie die finale Bereitschaft zu Mord und Selbsttötung.

Charis Goer

Erkenntnis – Wort – Tat Die RAF in Rainald Goetz’ Kontrolliert und Leander Scholz’ Rosenfest

[...] es hat keinen Zweck, den falschen Leuten das Richtige erklären zu wollen. Das haben wir lange genug gemacht. Die Baader-Befreiungs-Aktion haben wir nicht den intellektuellen Schwätzern, den Hosenscheißern, den Alles-besser-Wissern zu erklären, sondern den potentiell revolutionären Teilen des Volkes. Das heißt, denen, die die Tat sofort begreifen können, weil sie selbst Gefangene sind. Die auf das Geschwätz der »Linken« nichts geben können, weil es ohne Folgen und Taten geblieben ist. Die es satt haben!1

Das sind die berühmt-berüchtigten ersten Sätze der als Gründungs-Manifest der RAF geltenden Erklärung Die Rote Armee aufbauen zur Befreiung Andreas Baaders am 5. Juni 1970. Bereits diese Schrift enthält mit ihrer scharfen Trennung in ›wir‹ und ›ihr‹, ›richtig‹ und ›falsch‹, ›revolutionäre Akteure‹ und ›affirmative Schwätzer‹ eine ausgeprägte anti-intellektuelle Breitseite, verbunden mit einem programmatischen Bekenntnis zur Kommunikationsverweigerung. So ist es wenig erstaunlich, dass das Verhältnis von Intellektuellen, Schriftstellern und Linken zur RAF schnell ein recht ambivalentes war. Einerseits herrscht wegen der gemeinsamen linken Ausgangsposition eine solidarische Grundeinstellung, andererseits distanziert man sich weitgehend von der positiven Antwort der RAF auf die Gewaltfrage2 – »und natürlich kann geschossen werden.«3 Einen Ansatz zur Systematisierung des komplizierten Verhältnisses zwischen der RAF und den Literaten in den siebziger Jahren bietet Gerrit-Jan Berendses Unterscheidung zwischen fünf Arten von »Diskursinterferenzen«: 1. eine »Verachtung der Literatur« wie sie in der abwertenden Haltung von RAF-Mitgliedern selbst gegenüber wohlmeinenden Intellektuellen und Schriftstellern wie Jean-Paul Sartre und Heinrich Böll ihren Ausdruck findet; 2. ein »Klima der Dogmatik«, in dem die Forderung nach praktischer Umsetzung literarisch-theoretischer Äußerun-

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Anon.: Die Rote Armee aufbauen. Erklärung zur Befreiung Andreas Baaders vom 5. Juni 1970. In: Rote Armee Fraktion. Texte und Materialien zur Geschichte der RAF. Hg. vom ID-Verlag. Berlin 1997, S. 24–26, hier S. 24. Vgl. Markus Knebel/Andreas Oppermann: Die Linke und der Terror. In: GeRAFtes. Analysen zur Darstellung der RAF und des Linksterrorismus in der deutschen Literatur. Hg. von Bianca Dombrowa/Markus Knebel/Andreas Oppermann/Lydia Schieth. Bamberg 1994 (Fußnoten zur neueren deutschen Literatur. Bd. 27), S. 11–18, hier S. 13f. Ulrike Meinhof in einem Tonband-Statement zur Baader-Befreiung, zit. n. Stefan Aust: Der Baader-Meinhof-Komplex. München 1998, S. 31.

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gen laut wird; 3. eine »Instrumentalisierung der Literatur«, dadurch, dass literarische Texte wie Herman Melvilles Moby Dick und Bertolt Brechts Die Maßnahme zur Kaderbildung der RAF verwendet werden; 4. die Erschließung literarischkünstlerischer Formen der Gewaltdarstellung als eine Art »Theater der Grausamkeit« z. B. bei Hermann Nitsch, Rolf Dieter Brinkmann oder Bernward Vesper; und 5. ein zunehmendes »Verstummen«, ein Sprachverlust unter Linken, Schriftstellern und Intellektuellen durch das in Wechselwirkung von Staat und Terror entstandene repressive Klima.4 Wie hält man es mit der Gewalt? Ist Gewalt gegen Sachen noch vertretbar, gegen Personen nicht mehr? Gibt es Unterschiede zwischen staatlicher und revolutionärer Gewalt? Was würde man tun, wenn Mitglieder der Baader-MeinhofGruppe vor der Tür ständen? Welche Auswirkungen haben die staatlichen Maßnahmen gegen den Terrorismus auf das eigene Leben? Um diese Fragen kreisen die literarischen Auseinandersetzungen mit der RAF in den siebziger und frühen achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts wie Heinrich Bölls Die verlorene Ehre der Katharina Blum oder wie Gewalt entstehen und wohin sie führen kann (1974), Peter Schneiders »...schon bist du ein Verfassungsfeind«. Das unerwartete Anschwellen der Personalakte des Lehrers Kleff (1975), Peter Paul Zahls Die Glücklichen (1979) bis hin zu F.C. Delius’ Ein Held der inneren Sicherheit (1981) und Mogadischu Fensterplatz (1987), den beiden ersten Bänden seiner DeutscherHerbst-Trilogie. Die kritischen Fragen zu Terror, Staat und Gewalt werden in diesen Texten meist anhand fiktiver Protagonisten diskutiert, die sich im näheren oder weiteren Umfeld der RAF bewegen, direkt oder mittelbar mit den Terroristen in Kontakt stehen und von deren Handlungen betroffen sind. Während in der Literatur der siebziger und frühen achtziger Jahre mit Hilfe fiktiver, im Deutschland der Zeit angesiedelter Charaktere versucht wird, eine solidarische, zugleich kritisch-distanzierte Position einzunehmen, ist bei den späteren Auseinandersetzungen mit der RAF ein Wandel hinsichtlich der bevorzugten Hauptfiguren und Genres zu beobachten, der einen Hinweis auf den veränderten Zugang zu diesem Thema gibt:5 Zunehmend werden dokumentarische und biografische bzw. doku-

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Vgl. Gerrit-Jan Berendse: Schreiben im Terrordrom. Gewaltcodierung, kulturelle Erinnerung und das Bedingungsverhältnis zwischen Literatur und RAF-Terrorismus. München 2005, S. 10–14. Vgl. Uwe Schütte: »Heilige, die im Dunkel leuchten«. Der Mythos der RAF im Spiegel der Literatur nachgeborener Autoren. In: Counter-Cultures in Germany and Central Europe. From Sturm und Drang to Baader-Meinhof. Hg. von Steve Giles/Maike Oergel. Bern 2003, S. 353–372. Auch Schütte unterteilt die RAF-Literatur in zwei Hauptphasen vor und nach 1988. Vgl. dagegen Luise Tremel: Literrorisierung. Die RAF in der deutschen Belletristik zwischen 1970 und 2004. In: Die RAF und der linke Terrorimus. Hg. von Wolfgang Kraushaar. Bd. II. Hamburg 2006, S. 1117–1154. Tremel unterscheidet drei Phasen: Werke, die zwischen 1970 und 1987 erschienen sind und den Fokus auf die »Auswirkungen der staatlichen Terrorismusbekämpfung auf die Gesellschaft sowie auf Sympathisanten« legen, Werke, die hauptsächlich zwischen 1988 und 1993 erschienen sind und »Terroristen als Privatpersonen« darstellen, und schließlich Werke,

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dramatische, doku-fiktionale, biofiktionale u. ä. Ansätze gewählt, und es werden Mitglieder der RAF, insbesondere der ersten Generation, in den Mittelpunkt gestellt. Beispielhaft für diese Tendenz ist etwa Delius’ Himmelfahrt eines Staatsfeindes (1992), der letzte Teil seiner Deutscher-Herbst-Trilogie, ebenso wie Gerhard Richters Gemäldezyklus 18. Oktober 1977 (1988) oder Heinrich Breloers zweiteiliges Fernsehdokudrama Todesspiel (1997) und der Spielfilm Baader (2002) von Christopher Roth. Eine Umbruchstelle zwischen diesen Phasen der RAF-Literatur markiert der Roman Kontrolliert (1988) von Rainald Goetz und Rosenfest (2001) von Leander Scholz stellt ein recht aktuelles Beispiel der weiteren Entwicklung dar – weshalb diese beiden Texte hier eingehender diskutiert werden sollen. Dieser Wandel in der Herangehensweise hat partiell mit der trivialen Tatsache zu tun, dass sich zunehmend Spät- und Nachgeborene des Themas annehmen und es auch für eine solche Zielgruppe aufbereiten. Zudem hat er damit zu tun, dass bei einer unverschlüsselten Auseinandersetzung nicht mehr in dem Maße wie in den siebziger Jahren der öffentliche Argwohn zu fürchten ist. Doch die Tatsache, dass die geschichtlichen Daten und Fakten nicht mehr als bekannt vorauszusetzen sind, sondern erst erschlossen werden müssen, führt auch zu einem grundsätzlichen Perspektivwechsel. Zunehmend rückt die Frage nach dem Verhältnis von Faktizität und Fiktionalität, Geschichte und Geschichten, Rekonstruktion und Konstruktion, Erinnerung und Amnesie, Aufklärung und Mythos in den Fokus der Auseinandersetzung. Mit diesem an den literarischen und künstlerischen Arbeiten zu beobachtenden Perspektivwechsel geht zugleich auch ein Wandel des Selbstverständnisses der Schriftsteller, Filmemacher und Künstler als Intellektuelle, wie sie von Georg Jäger beschrieben werden, einher. Autoren wie Heinrich Böll und Erich Fried, die sich in den siebziger Jahren in die öffentliche Debatte um die RAF eingebracht haben, entsprechen weitgehend dem Bild des »Intellektuellen als ›Gewissen‹ der Nation, der Klasse, der Menschheit«, als Wächter »der Demokratie, ihrer Grundrechte und der Menschenrechte.«6 So wie sie sind auch ihre Nachfolger »Spezialisten des Wortes«, ihr Tätigkeitsfeld ist weiterhin der verbale und mediale öffentliche Diskurs, die »symbolische Ordnung der Dinge«.7 Doch im Unterschied zu den als Zeitgenossen der RAF engagierten Schriftsteller-Intellektuellen sind sie

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die ab 1997 veröffentlicht wurden und in denen »der Terrorismus zumeist als aufregende Kulisse für Kriminal- und Liebesgeschichten« fungiert (S. 1118). Diese Einteilung erscheint jedoch nur bedingt plausibel, da es zwischen dem zweiten und dritten Abschnitt (wie Tremel selbst konzediert, vgl. S. 1153, Anm. 136 und S. 1154) Überschneidungen gibt (Leander Scholz’ Rosenfest ist ein solcher Titel, der die beiden Gruppen verbindet) und es somit plausibler erscheint, ihre zweite und dritte Phase als etwas unterschiedlich akzentuierte Unterformen einer Tendenz zu betrachten. Georg Jäger: Der Schriftsteller als Intellektueller. Ein Problemaufriß. In: Schriftsteller als Intellektuelle. Politik und Literatur im Kalten Krieg. Hg. von Sven Hanuschek/Therese Hörnigk/Christine Malende. Tübingen 2000 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur. Bd. 73), S. 1–25, hier S. 12. Jäger: Der Schriftsteller als Intellektueller, S. 4f.

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nicht mehr »Moralist« und »Sprecher allgemeinverbindlicher Werte«.8 Der Anspruch auf Universalität und Geschlossenheit des Weltbildes wie auch der literarischen Formen ist ihnen längst verdächtig geworden, die Zeit der ›grands récits‹ endgültig vorbei. Sie schreiben aus einer Distanz, die zugleich eine biografische, historische, literatur- und kulturgeschichtliche ist. Mit Rainald Goetz’ Kontrolliert und Leander Scholz’ Rosenfest sollen im Folgenden zwei vielbeachtete und kontrovers diskutierte Romane als zwei unterschiedliche Beispiele einer post-engagierten literarischen Auseinandersetzung mit der RAF vorgestellt werden.

Rainald Goetz’ Kontrolliert als metahistoriografische (Selbst-)Reflexion über den Deutschen Herbst »Und weil ich kein Terrorist geworden bin, deshalb kann ich bloß in mein eigenes weißes Fleisch hinein schneiden«,9 sprach Rainald Goetz – und tat es. Mit diesem spektakulären Akt der Selbstverletzung während der Lesung im Rahmen des Klagenfurter Ingeborg-Bachmann-Wettbewerbs 1983 schrieb sich der promovierte Historiker und Mediziner Goetz gleichsam mit einem einzigen Messerstreich in die Literaturgeschichte ein. Der Vorgang wirft zahlreiche Fragen nicht nur bezüglich der Literatur generell und der goetzschen Poetologie im Besonderen auf, sondern führt auch direkt hin zur Auseinandersetzung mit der RAF in Goetz’ Roman Kontrolliert. Die von den RAF-Vordenkern immer wieder ausgerufene Fundamentalopposition von Theorie und Praxis, Wort und Tat, Geist und Körper, die es im Sinne des revolutionären Kampfes zugunsten der Aktion und gegen die Reflexion aufzulösen gälte, spielt auch für Rainald Goetz eine Schlüsselrolle.10 Ich erzähle hier die Geschichte des Jahres neunzehnhundert siebenundsiebzig. Heute ist Montag, der siebzehnte Oktober, kurz nach zwölf, nein, null Uhr zwei. Ich korrigiere, heute ist Montag, der siebzehnte zehnte, null Uhr drei, eben ist das dunkle Silberglimmen der Ziffern meiner Uhr von zwei auf drei gesprungen, gewisser Zeitwahn, um mich Nacht.11

Mit diesen Worten beginnt der innere Monolog, der den ersten der drei Teile von Kontrolliert bildet. Der Ich-Erzähler ist gewissermaßen eine multiple Persönlichkeit: Er ist nicht nur eine mit einigen autobiografischen Zügen ausgestattete Figur – er ist wie Goetz selbst im Deutschen Herbst 23 Jahre alt, schreibt Kinderbuchkri-

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Jäger: Der Schriftsteller als Intellektueller, S. 8 und 5. Vgl. auch Karl Heinz Bohrer: Eine Phänomenologie der Einzelnen. Die gesellschaftskritischen Möglichkeiten des dichterischen Blicks. In: Der kritische Blick. Über intellektuelle Tätigkeiten und Tugenden. Hg. von Uwe Justus Wenzel. Frankfurt/M. 2002, S. 44–51. Rainald Goetz: Subito. In: Rainald Goetz: Hirn. Frankfurt/M. 2003, S. 9–21, hier S. 16. Vgl. z. B. Anna Opel: Rainald Goetz. In: Anna Opel: Sprachkörper. Zur Relation von Sprache und Körper in der zeitgenössischen Dramatik – Werner Fritsch, Rainald Goetz, Sarah Kane. Bielefeld 2002, S. 87–131, hier S. 90. Rainald Goetz: Kontrolliert. Frankfurt/M. 1988, S. 15.

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tiken und promoviert in Geschichte über Domitian sowie in Medizin über Jugendpsychiatrie –,12 er war außerdem als Psychiater Dr. Raspe bereits Protagonist des goetzschen Debütromans Irre (1983) und imaginiert sich nun als Jan-Carl Raspe, jenes Mitglied der ersten RAF-Generation, das in der folgenden Nacht auf den 18. Oktober 1977 zugleich mit Andreas Baader und Gudrun Ensslin in Stammheim Selbstmord begeht: Der Bau heißt Stammheim, ich bin Raspe. Ich saß im Raspe im Gefängnis, ich ging im Raspe in der Zelle auf und ab, ich las mit seinen Augen Bücher, ich war der Baaderhaß. Da war die Grenze da. Ich war nicht Raspe. Was denkt der Raspe, unvorstellbar. Ich bin nicht berechtigt, mir was auszudenken.13

So wie der Versuch der empathischen Identifikation mit einer der Schlüsselfiguren des deutschen Terrorismus seine Grenze im ›Baaderhaß‹ findet, so scheitert auch das geschichtswissenschaftliche Großprojekt Raspes, den Gesamtzusammenhang darzustellen, an der nicht im symbolischen verharrenden Staatsgewalt: Ursprünglich sollte hier der Staat verhandelt werden. Gut ein Jahr lang habe ich die Vorarbeiten in diese Richtung hin getrieben, vergeblich. Der Anspruch war vermessen, falsch, nicht richtig vermessen, nicht für mich, Resultat war Lähmung. Der Staat ist ungeheuerlich, die Ungeheuerlichkeit, die ein einer, wie ich hier, nicht fassen kann. Schließlich schießt der Staat aus den Gewehren echte Menschen tot, nichttote Menschen werden staatsbefehlsgemäß in Staatskerkern gefoltert, Staatstheater spielen echte Stücke, siehe Stammheim, Stichwort Krieg, [...].14

Die doppeldeutige Gattungsbenennung »Geschichte«,15 die Goetz dem Roman hinzugefügt hat, entfaltet schon mit diesen ersten Sätzen des Romans ihre Ambivalenz: Wo hört die Vergangenheit auf, und wo beginnt die Gegenwart; was ist Teil der Historie, und was gehört zur Erzählung; welche Erkenntnisse sind objektiv, faktentreu, belegbar, und was ist subjektive Deutung, Erfindung, Imagination? Diese typischen historiographiekritischen Fragen werden nun aber bei Goetz in der für ihn charakteristischen Weise mit einem Intellektualitätsdiskurs verknüpft. In dessen Zentrum steht die Reflexion über die durch Körperlichkeit und Sprache bedingten Möglichkeiten und Grenzen des Denkens. Denken findet bei Goetz immer unter den Bedingungen von Körperlichkeit und im Medium der Sprache statt – und im Wissen um die damit verbundenen Schwierigkeiten. Denken und Körperlichkeit werden bei Goetz, dem Historiker, in der abendländisch-cartesianischen Tradition, in der in revolutionärer Verkehrung ja auch die RAF-Rhetorik der Gewalttätigkeit steht, vielfach als Widerspruch empfunden. Zugleich werden sie bei Goetz, dem Mediziner, als untrennbare Einheit gesehen. Diese Ambivalenz drückt sich aus in einem der Leitmotive des Textes: dem Hirn, das zugleich physisches Organ und symbolischer Ort des Denkens ist. Mit dieser ›liaison dangereuse‹ muss der weltverbundene Mensch leben, wie Goetz

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Vgl. Goetz: Kontrolliert, S. 32f., 38f., 54, 120–122, 129, 142f. u. a. Goetz: Kontrolliert, S. 16. Goetz: Kontrolliert, S. 15. Goetz: Kontrolliert, S. [5].

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schon in einem früheren Text halb ironisch, halb pathetisch betont: »Wer das Denken denkt, denkt, wer denkt, lebt nicht, wer nicht lebt, ist tot. Aber das Fleisch lebt. Da entsteht ein Widerspruch. Widerspruch muß auf Erden Widerspruch bleiben, denn was der Mensch getrennt hat, kann der Mensch nicht lösen.«16 Denken als geistig-materieller Vorgang ist für Goetz, den Schriftsteller, nicht von vornherein an Sprache gebunden. Der »extrem gefaßte Augenblick der Schau des Denkens«, heißt es in Kontrolliert, sei »kein Ereignis wörtlicher Natur. [...] Jedes Wort im Hirn ist allerletzter Endzustand natürlicher Basalprozesse an den materiellen Grenzen menschlicher Gehirnmaterie, und so weiter. Vielleicht lasse ich mir diesen Tumor doch noch einmal radikal und endgültig entfernen.«17 Solange aber der Sprachtumor wuchert, gibt es kein Entrinnen aus dem Denken in Worten. Der von seinem Geschichtsschreibungsprojekt paralysierte Erzähler mag sich noch so sehr für die reine Logik der Zahlen begeistern18 oder in der »eben noch zu kontrollierende[n], sehr viel rhythmische[n], mehr als mehr, wirklich nämlich massen stimmige[n], nicht nicht mehr, sondern eben noch, bestenfalls natürlich den Fraktal Gesetzen folgend strukturiert melodische[n] Musik«19 die ideale Ordnung erkennen. Er mag sich auch die Erlösung aus der Schreibblockade durch selbst- und besinnungslose ›écriture automatique‹ wünschen, bei der man automatisch »das Hirn umgehen« könnte, »das wertet, ordnet, sichtet, sieht und hört, damit man nur der reine Speicher wäre, der auf Wunsch die Wortsumme der letzten vierundvierzig Tage ganz erbräche«.20 Doch mathematische Logik, melodische Musik oder automatisches Schreiben bleiben nur Wunschdenken – am Ende wird der Erzähler immer wieder auf die unkontrollierbare Sprache als Medium des Ausdrucks von Denken zurückgeworfen. Für den denkenden Geschichtsschreiber, ist folglich Schreiben eine lebenserhaltende Maßnahme: »Solange die Patrone schreibt, nicht schießt, die Tinte nicht versiegt, bin ich nicht tot.«21 Die andere Alternative hingegen, »der Satz, die Knarre spricht, [ist] für mich ein Baaderschwachsinn und sonst nichts.«22 Die Sprache der Gewalt ist eben gerade keine Sprache, weil sie nicht Ausdruck des janusköpfigen Hirns, sondern der puren Physis ist, nicht Leben weiterführt, sondern beendet, nicht Optionen aufzeigt, sondern Tatsachen schafft. Trotzdem ist der Erzähler als unter seinem eigenen Denken- und Sprechen-Müssen Leidender umso empfänglicher für die Attraktivität des Tatmenschen: Baader ist natürlich eine faszinierende Abscheulichkeit, als herrschsüchtiger Angeber und Schwinger harter Schlägerworte, mir nur zu gut verständlich, wie vielen kunstsinnigen

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Rainald Goetz: Und Blut. In: Rainald Goetz: Hirn. Frankfurt/M. 2003, S. 177–196, hier S. 187. Goetz: Kontrolliert, S. 83. Vgl. Goetz: Kontrolliert, S. 20–22. Goetz: Kontrolliert, S. 23. Goetz: Kontrolliert, S. 49. Goetz: Kontrolliert, S. 151. Goetz: Kontrolliert, S. 63.

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Nichtproleten, schönheitssüchtig, denen Baaders Fleisch als Twen in München und Berlin den Kopf verdrehte.23

Diese ambivalente Haltung Baader gegenüber ist symptomatisch für die paradoxe Reaktion auf die RAF: Man sei »reif für jede raf Parole jeder Staatsfeindschaft und gleichzeitig immun paralysiert zum Nichttatmensch.«24 So bleibt der Erzähler, obwohl er »während der herrlichen Wochen, in denen Schleier inhaftiert war«, täglich im Park des Luxembourg saß und davon träumte, »vielleicht selber mal als Täter terroristisch tätig zu werden«, letztlich Literat: »Da ich Antikritikantikörper in mir habe, war ich dann doch auch in diesem Herbst, wie schon in den sieben Jahren davor, wieder eher von echten poetischen Büchern gefesselt als von Politik.«25 Als nichttätiger Sympathisant26 versteht er, dass die revolutionäre Praxis eigenen Gesetzmäßigkeiten folgt: »Handeln folgt nicht theoretischer Begründung, sondern handelt für sich logisch einfach Schritt für Schritt nach einer jeweils neuen Augenblickslogik. Deshalb ist es Unsinn, vom Täter auch noch Theorien zu verlangen.« Auch als Nichttäter nähme man »zu leicht die theoretisch unwichtigen Tätertheorien, um sich die Taten zu erklären, anstatt wirklich die Taten zu untersuchen.« Doch genau in dieser Reflexion besteht die Aufgabe der Intellektuellen, und hieraus erhält die Geschichtsschreibung, und zwar eine literarische, ihre Legitimation: Deshalb ist die Feststellung der Unzulänglichkeit der Theorie der raf richtig nützlich nur als Hinweis auf die Taten, die es zu beschreiben gilt. Tut das dann später einer, braucht niemand dort die revolutionäre Theorie vermissen, die man besser in den reinen Dokumenten und Erklärungen studiert.27

Den unzulänglichen Tätertheorien – aber natürlich auch der ungeheuerlichen, unfassbaren Staatsraison als ihrem Komplement – setzt Rainald Goetz als gebildeter und theoriefester Autor auf der inhaltlichen und der diskursiven Ebene von Kontrolliert einiges entgegen: Eine inhaltliche Strategie besteht beispielsweise darin, widersprüchliche Aussagen nach dem Modell ›Ich bin Raspe‹/›Ich war nicht Raspe‹ aufeinanderprallen zu lassen.28 Eine andere besteht darin, den ›RAF-Komplex‹ nicht zu isolieren, sondern anzureichern und in einem reißenden Reflexionsstrom Assoziationen zwischen der französischen Revolution, dem Dritten Reich und dem Deutschen Herbst, dem Arbeitszimmer des Erzählers, den Stammheimer Gefängniszellen und dem Volksgefängnis Schleyers zu ent- und verwerfen, auf Hamlet und Medea zu verweisen, Roland Kaiser, AC/DC und die Beastie Boys zu zitieren. Eine der diskursiven Strategien besteht darin, mit verschiedenen Zeitstruk-

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Goetz: Kontrolliert, S. 125. Goetz: Kontrolliert, S. 172f. Goetz: Kontrolliert, S. 100. Vgl. Goetz: Kontrolliert, S. 90. Goetz: Kontrolliert, S. 60f. Vgl. Klaus Theweleit: Bemerkungen zum RAF-Gespenst. »Abstrakter Radikalismus« und Kunst. In: Klaus Theweleit: Ghosts. Drei leicht inkorrekte Vorträge. Frankfurt/M. und Basel 1998, S. 17–99, hier S. 78.

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turen zu arbeiten, wie im ersten Kapitel, wo die den Text durchziehenden Zeitnennungen zwischen Mitternacht und drei Uhr nachts eine fortschreitende Chronologie suggerieren, dieser Eindruck jedoch dadurch konterkariert wird, dass in dem nächtlichen Gedankenstrom Gegenwärtiges, Vergangenes und gar Zukünftiges zusammenkommen und zudem das Kapitel, dadurch, dass sich im letzten Abschnitt »noch einmal alles schnell im Video im Schnelllauf«29 wiederholt, eine zyklische Struktur aufweist. Eine andere entscheidende diskursive Strategie ist, mit verschiedenen Erzählperspektiven zu arbeiten und zwar nicht nur so, dass, wie der Blick auf die Kapitelüberschriften und die Kapitelanfänge nahelegt, im ersten Kapitel eine Ich-Erzählperspektive gewählt wird, im zweiten eine auktoriale und im dritten eine multi-personale,30 sondern sogar ständig, manchmal innerhalb eines Satzes, zwischen den Perspektiven gewechselt wird. Durch diese Vorgehensweisen gelangt Kontrolliert an keinen Endpunkt des Denkens, zu keiner Synthese der Thesen und Antithesen, zu keinem eindeutigen Standpunkt. Das Projekt bleibt unabgeschlossen, die Kontrolle wird nicht erlangt, stattdessen entfaltet sich ein hochgradig komplexes und widersprüchliches Netzwerk von Gedanken. Der Generation der 68er, der Goetz als 1954 Geborener gerade nicht mehr zuzurechnen ist, sei, so Klaus Theweleit, die deutsche Sprache unheimlich und fremd gewesen. Ihr eigentlicher Spracherwerb sei daher maßgeblich einerseits durch die englischsprachige Popkultur und v. a. Popmusik und andererseits durch ein aus Marxismus, Psychoanalyse und Kritischer Theorie generiertes ›jüdisch-intellektuelles Rotwelsch‹ geprägt gewesen.31 Gegenüber dieser entgrenzenden »Sprachexplosion« in den sechziger Jahren habe in den Siebzigern bei den »öffentlich relevant bleibenden Gruppen, gerade bei den K-Gruppen und der RAF, die als übriggebliebene ›radikale‹ Gruppen ins Zentrum der politischen Bewegung rückten, aber Sprachverengung, Denkverengung« geherrscht. Eine »große[...] Reduktionsbewegung« habe stattgefunden, in der die sprachliche und damit auch die gedankliche Vielfalt wieder »eingeschnurrt, eingeschmolzen« worden sei »auf zwei, drei vorgeschriebene, beinah institutionalisierte Sprachen, knöcherne Einschätzungssprachen aus Links-Instituten.«32 In einem ähnlichen Sinne argumentiert Heinz Stamm: »Mit dem Einsatz von Gewalt, mit dem Einsatz militärischer Waffen aber wird die Waffe der Kommunikation geopfert, werden Denk- und Kritik-

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Goetz: Kontrolliert, S. 97. Vgl. Peter Hanenberg: Gedankenstriche 10 Jahre danach. Zu Rainald Goetz’ Roman Kontrolliert. In: GeRAFtes. Analysen zur Darstellung der RAF und des Linksterrorismus in der deutschen Literatur. Hg. von Bianca Dombrowa/Markus Knebel/Andreas Oppermann/Lydia Schieth. Bamberg 1994 (Fußnoten zur neueren deutschen Literatur. Bd. 27), S. 59–65, hier S. 60–63. Vgl. Theweleit: RAF-Gespenst, bes. S. 17–20. Vgl. auch Klaus Theweleit: Bonbonglas. Sprechen und Gewalt im »Land, das Ausland heißt« – eine autobiographische Notiz. In: Klaus Theweleit: Das Land, das Ausland heißt. Essays. Reden, Interviews zu Politik und Kunst. München 1995, S. 143–157, hier bes. S. 148–151. Theweleit: RAF-Gespenst, S. 34f.

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verbote errichtet.«33 Denn der Weg in den terroristischen Untergrund sei immer, so auch Herfried Münkler, eine »Komplexitätsreduktion mit der Waffe«.34 Indem Rainald Goetz nun in Kontrolliert erneut intellektuelle und popkulturelle Diskurse bemüht, um eine Verkomplizierung, Multiperspektivität, Selbstreflexivität in die RAF-Debatte einzubringen, kann er mit einiger Berechtigung als Begründer eines Neuansatzes in der kulturellen Verarbeitung der Geschichte des deutschen Terrorismus gelten.

Leander Scholz’ Rosenfest als intermediale Arbeit am popkulturellen Mythos RAF35 Einen ebenfalls popkulturell inspirierten und theoriegeleiteten, doch deutlich andere Akzente setzenden Ansatz stellt der Roman Rosenfest dar. In seinem Debütroman beginnt Leander Scholz, auf die von Baader und Ensslin verwendeten Decknamen Hans und Grete aufbauend,36 die Geschichte seiner Protagonisten im Duktus einer raumzeitlich schwebenden Prosa des Wunderbaren. Die ersten Sätze muten an wie ein modernes Märchen: »Als Hänsel gefangengenommen wurde, ging Gretel ins Kaufhaus, um sich eine rote Bluse zu kaufen. Als Gretel an der Kasse gefangengenommen wurde, sagte sie zu den Häschern, was für ein Glück, und sie gab die Bluse zurück.«37 Von hier springt die Erzählung zu den Studentenprotesten gegen den Besuch des Schahs von Persien am 2. Juni 1967 in Berlin. Während dieser Demonstration, als der historische Baader in Traunstein eine Gefängnisstrafe absaß, lässt Scholz es zu einer schicksalhaften ersten Begegnung zwischen Andreas und Gudrun kommen. Baader, sich selbst als Bohemien inszenierend, »stolz auf sein äußerst männliches Gesicht mit kräftigen Koteletten, auf die abgehackten Bewegungen der Gliedmaßen, entliehen von Rainer Werner Fassbinder«, immer mit ein wenig Kokain in der Tasche, fällt auf als der Einzige in der Men-

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Heinz Stamm: Die Botschaft der Medien. Zur Dialektik von »revolutionärer Gewalt« und Öffentlichkeit. In: Klaus Hartung u. a.: Der blinde Fleck. Die Linke, die RAF und der Staat. Frankfurt/M. 1987, S. 49–61, hier S. 55. Vgl. Oskar Negt und Alexander Kluge: Geschichte und Eigensinn. Frankfurt/M. 1981, S. 364. Herfried Münkler: Sehnsucht nach dem Ausnahmezustand. Die Faszination des Untergrunds und ihre Demontage durch die Strategie des Terrors. In: Faszination der Gewalt. Politische Strategie und Alltagserfahrung. Hg. von Reiner Steinweg. Frankfurt/M. 1983 (Friedensanalysen. Bd. 17), S. 60–88, hier S. 61 (im Original kursiv). Vgl. Charis Goer: Black Box RAF. Mythos, Pop und Politik bei Leander Scholz und Christopher Roth. In: Mythosaktualisierungen. Tradierungs- und Generierungspotentiale einer alten Erinnerungsform. Hg. von Stephanie Wodianka/Dietmar Rieger. Berlin 2006 (Media and Cultural Memory/Medien und kulturellen Erinnerung. Bd. 4), S. 211–226. Vgl. Aust: Baader-Meinhof-Komplex, S. 108. S.a. die in der RAF-Ausstellung gezeigte Videoinstallation Hans & Grete (2002f.) von Sue de Beer mit Texten von Alissa Bennett und den Titel des von Astrid Proll herausgegebenen Fotobandes mit Bildern der RAF aus den Jahren 1967–1977 (2004). Leander Scholz: Rosenfest. München 2001, S. 7 (im Original kursiv).

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schenmenge, »der elegant gekleidet war, wie immer im dunklen Hemd und jenen engen, selbstgeschneiderten Seidenhosen«.38 Während er unbeteiligt die Demonstrierenden mit seiner Super-8-Kamera filmt, ist Gudrun, »das Mädchen mit den blonden, strähnigen Haaren« und »rotgeheulte[m] Gesicht«,39 emotional stark involviert und macht den Kampf zu ihrem persönlichen Anliegen: »die wollen mich kaputtmachen!«40 schreit sie. Damit wird kennzeichnenderweise die der historischen Ensslin als Reaktion auf die Nachricht vom Tod Benno Ohnesorgs zugeschriebene Aussage, der »faschistische Staat« sei »darauf aus, uns alle zu töten«41, ins Subjektive gewendet. Virtuell begleitet von Mozarts Figaros Hochzeit (nicht, wie am 2. Juni in der Deutschen Oper tatsächlich gespielt, der Zauberflöte), aus deren Libretto Scholz im ersten Kapitel zu Beginn der Abschnitte jeweils einige Zeilen zitiert, fällt Gudrun im Tumult des Polizeikessels Andreas buchstäblich zu Füßen. Dieser macht ihr nur wenige Augenblicke später einen Heiratsantrag, den sie, sich einem opernhaften ›lieto fine‹ verweigernd, zurückweist.42 Wie in Kleists Trauerspiel Penthesilea (1808), in dem sich die Amazonenkönigin Penthesilea nicht dem gewaltsamen, blutigen Vermählungsritus des Rosenfestes, auf das sich Scholz’ Romantitel bezieht, unterwirft und damit einen für sie und ihren Geliebten Achill tödlich endenden Konflikt zwischen Gesetz und Leidenschaft auslöst, reimt sich auch in dem RAF-Roman ›Küsse‹ und ›Bisse‹:43 Andreas [...] schnappte mit seinem Mund [...] den Zeigefinger seiner Mitdemonstrantin. [...] Gudruns Finger in seinem Mund fühlte sich überraschend rauh an. [...] Andreas hatte Lust, sich von Gudrun mitnehmen zu lassen. »Ein zweiter Vorschlag«, er ließ ihren Finger wieder aus seinem Mund gleiten, »ich hebe dich hoch und du heiratest mich dafür!« Gudrun musste erneut grinsen. »Romantiker!« Mit einem irritierten Zucken in ihren Mundwinkeln fragte sie sich, ob es in der Mitte dieses Tumultes wirklich kein besseres Thema gab, als über eine zukünftige Hochzeit zu reden. »Dich würde ich niemals heiraten!«44

Hänsel und Gretel, Figaros Hochzeit, Penthesilea: In Rosenfest werden archetypische Konzepte von Gut und Böse, Eros und Thanatos, Traum und Wirklichkeit, Täuschung und Enthüllung in ihrer urdeutschen Ausformung als Disposition zu unstillbarer Sehnsucht, als Zerrissenheit zwischen zügelloser Leidenschaft und mäßigender Vernunft, als Scheitern des Individuums an der übermächtigen Ord-

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44

Scholz: Rosenfest, S. 8f. Scholz: Rosenfest, S. 14. Scholz: Rosenfest, S. 19. Aust: Baader-Meinhof-Komplex, S. 60. Vgl. Jillian Becker: Hitler’s Children. The Story of the Baader-Meinhof Terrorist Gang. Philadelphia und New York 1977, S. 72. Vgl. Scholz: Rosenfest, S. 14–17. Vgl. Heinrich von Kleist: Penthesilea. Ein Trauerspiel [Erstdruck]. In: Heinrich von Kleist: Sämtliche Werke und Briefe in vier Bänden. Hg. von Ilse-Marie Barth u. a. Bd. II: Dramen 1808–1811. Hg. von Ilse-Marie Barth und Hinrich C. Seeba. Frankfurt/M. 1987 (Bibliothek deutscher Klassiker. Bd. 26), S. 143–256, hier S. 254. Scholz: Rosenfest, S. 16f.

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nung oder auch als Aufscheinen des Unheimlichen im Vertrauten gezeigt. Aber Scholz greift nicht nur auf deutsches Bildungsgut, sondern auch auf Klassiker der Popkultur zurück, er »wildert im kollektiven Gedächtnis«.45 Er fügt Versatzstücke aus Literatur, Oper und Film, aus nationaler und internationaler Kultur, aus 18., 19. und 20. Jahrhundert zusammen, um seine RAF-Geschichte zu erzählen. Zusammengehalten werden diese disparaten Versatzstücke durch einen Rückgriff auf das Genre des ›road movie‹, in dem eine von Zufällen bestimmte, oftmals tödlich endende Reise jugendlicher (Anti-)Helden auf der Suche nach sich selbst, der großen Liebe oder alternativen Lebensentwürfen gezeigt wird. Dieses Genre bietet Scholz eine narrative Struktur zum ›emplotment‹46 der Geschehnisse zwischen dem 2. Juni 1967 und der Verhaftung Gudrun Ensslins am 7. Juni 1972 und stellt auch die entsprechenden Modelle zur Charakterisierung der Figuren zur Verfügung. Darüber hinaus werden auch dramaturgische Mittel des Films wie Montage, Zoom, Großaufnahme oder ›slow motion‹ sprachlich nachgebildet, so dass die Ereignisse sich mal überschlagen, mal fast völlig zum Erliegen kommen und die Protagonisten mal nah und vertraut, mal unscharf und fremd erscheinen.47 »Die Geschichte der RAF ist auch eine Geschichte der Bilder, die sie inszeniert, beschworen und hinterlassen hat«, konstatiert Astrid Proll, die mit ihren Fotografien von Baader und Ensslin 1969 in Paris selbst einen bedeutenden Beitrag hierzu geleistet hat. Doch diese Bilder sind nicht schlicht als »ein Stück Zeitgeschichte«, als neutrale »Dokumente« betrachtbar.48 Ein solches Konzept von Fotografie als objektive Abbildung, wie es Proll formuliert, wirkt im 21. Jahrhundert bestenfalls naiv, andernfalls sogar verdächtig. Auch für Scholz ist die Geschichte der RAF primär eine Geschichte der Bilder, jedoch der inszenierten, der manipulierten und manipulierenden Bilder, der ›images‹ im popkulturellen Sinne: schillernde, mit Konnotationen stark aufgeladene Zeichen, die gerade deshalb einen so starken, auch sinnlichen Reiz ausüben, weil sie ihren Gegenstand zwar einerseits auf eine griffige Formel bringen, dessen Bedeutung andererseits aber nicht eindeutig festlegen. Dieses ›image‹ ist Resultat der medialen (Selbst-)Inszenierung der RAF. Denn schon in den siebziger Jahren habe, so Heinz Stamm, »eine wechselseitige Beziehung zwischen der Aktionspraxis sog. revolutionärer Gruppen und der über diese berichtenden Medien« bestanden: »Die Reaktion der Massenmedien wird zum Kalkül der Gruppen, die den bewaffneten Kampf befürworten und praktizieren, wie umgekehrt sich die Medien begierig auf Opfer und Täter stürzen, um das Ereignis markt- und mediengerecht auszubeuten und zu verwerten.« (Massen-)-

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47 48

Enno Stahl: [Gespräch mit Leander Scholz]. Auf: http://www.satt.org/literatur/ 01_06_scholz_1.htm. Zum Konzept des ›emplotment‹ als erzählerische Verknüpfung historischer Fakten zu einem Handlungs- und Sinnzusammenhang vgl. die Schriften von Hayden White, z. B. The Historical Text as a Literary Artifact. In: Hayden White: Tropics of Discourse. Essays in Cultural Criticism. Baltimore und London 1978, S. 81–100. Vgl. Albert Kümmel: Das bundesrepublikanische Imaginäre im Möglichkeitssinn. Auf: http://buecherzeit.de/buecher/belletristik/3-446-19982-9.html. Astrid Proll: Hans und Grete. Bilder der RAF 1967–1977. Berlin 2004, Rückumschlag.

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Medien und Stadtguerilla passen, so Stamms Argumentation, aufgrund gemeinsamer komplexitätsreduzierender Kommunikationsweisen – man könnte auch sagen: anti-intellektualistischer Diskursformen – »kongenial« zusammen: Der Einsatz nicht-argumentativer, symbolischer Aktionsmittel, wie auch die personale Verantwortlichkeitszuweisung an Funktionsträger der Gesellschaft decken sich mit der Arbeitsweise der etablierten Medien, die nicht mit dem Intelligiblen, sondern mit der Sensation, nicht mit dem Universellen, sondern mit dem Singularen, nicht mit dem Kollektiv, sondern mit der Persönlichkeit arbeiten.49

Hieran schließt Scholz unmittelbar an, wenn er die Überzeugung vertritt, es seien die klischeehaften Bilder der RAF, die überleben werden, »Bilder, die uns ›Helden‹ oder ›Verbrecher‹ zeigen, immer aber ›Helden‹ oder ›Verbrecher‹.«50 In impliziter Kritik an jenen auf Diskussionsvermeidung abzielenden Bildkonzepten bricht Scholz das Schweigen über die überlieferten ›images‹ der RAF als Helden und Verbrecher. Der Medientransfer, der im eigentlichen Sinne wie auch der metaphorische, wird von Scholz als interpretativer Akt begriffen. Indem Bilder zur Sprache gebracht werden, werden Spielräume geschaffen für Deutungen, die latent oder offen immer auch das Wissen um die prinzipielle Andersartigkeit und damit Unverfügbarkeit des Gedeuteten mitreflektieren. So ist der selbstbewusst mit medialer Differenz umgehende Schriftsteller »nicht einer, der sich im Bildraum archivierend verhält und das Sehen der Sprache dem Ikonischen abringt«, sondern er entfaltet durchaus subversives Potential, ist »erkennend und Partisan.«51 Scholz definiert ›Mythos‹ als »eine Geschichte, die historisch beglaubigt ist, aber sich erst anreichert, indem sie sich aus dem historischen Kontext löst und an Eigenleben gewinnt«.52 In der Begrifflichkeit der Traumdeutung findet im Prozess der Mythenbildung sowohl eine Verdichtung als auch eine Verschiebung statt, der ursprüngliche Gehalt wird angereichert, ergänzt, modifiziert, schließlich gar getilgt.53 Damit wird die Aufbereitung von mythisch gewordener Geschichte zu einer poetisch-hermeneutischen Aufgabe, es sei, so Scholz, »nach dem narrativen Moment zu fragen, das den Mythos einbalsamiert und überlebensfähig macht.«54 In Rosenfest wird diese Fragestellung auf den ›Mythos RAF‹ angewandt: »Die Liebesgeschichte dieser beiden Figuren, daß sie jederzeit Gefühle haben, ist der Parasit, der in dem Mythos verborgen ist, das fehlende Band.«55 Programmatisch

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54 55

Stamm: Botschaft der Medien, S. 52f. Vgl. Leander Scholz: Hyperrealität oder Das Traumbild der RAF. In: Akzente 48.3 (2001), S. 214–220, hier S. 215f. Vgl. Scholz: Hyperrealität, S. 220. Vgl. Scholz: Hyperrealität, S. 215. Vgl. Dietmar Rieger: Geschichte und Geschichtsmythos. Einige Überlegungen am Beispiel der Jungfrau von Orléans. In: Mythosaktualisierungen. Tradierungs- und Generierungspotentiale einer alten Erinnerungsform. Hg. von Stephanie Wodianka/Dietmar Rieger. Berlin 2006 (Media and Cultural Memory/Medien und kulturellen Erinnerung. Bd. 4), S. 17–30. Vgl. Scholz: Hyperrealität, S. 216. Scholz: Hyperrealität, S. 217.

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betreibt Scholz die narrative Ausgestaltung des angereicherten ›Traumbildes‹56 der RAF als ›Arbeit am Mythos‹.57 Das Buch sei nicht als historischer Roman oder als Doku-Drama konzipiert, sondern als Versuch, »die Ikonisierung selber zu bearbeiten, den Mythos auch als Mythos ernst zu nehmen und ihn als Mythos zu bearbeiten, also neu zu re-arrangieren unter dem Aspekt der Liebesgeschichte.«58 Die Geschichte von Baader und Ensslin erscheint in Rosenfest als Variante der uralten und doch immer aktuellen Erzählung der großen Liebe, der Terror als Ausprägung des Gewaltpotentials, das sämtlichen Liebeskonzepten von der antiken Verbindung zwischen Venus und Mars über die verabsolutierende romantische Liebe bis zum popkulturellen ›amour fou‹ inhärent ist. Mit der Liebesgeschichte greift Scholz auf eines der bewährtesten ›emplotment‹-Muster zurück, jedoch zielt dieser vordergründige Appell an das Allzumenschliche nicht auf naive Identifikation, sondern im Gegenteil auf kritische Differenzierung. Indem der Roman die Geschichte von Baader und Ensslin offensiv enthistorisiert und entpolitisiert und als die Geschichte des Verbrechers und Helden aus Liebe in jedem Einzelnen von uns erzählt, demonstriert er an einem besonders plakativen Beispiel der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte die von den Medien noch gestärkten Mechanismen des kollektiven Gedächtnisses, das Partikulare und auch Inkommensurable zu tilgen. Denn im Duktus des ›grand récit‹ der Liebe führt der Roman eigentlich nur Charaktermasken mit den Namen von Gudrun Ensslin und Andreas Baader vor, hinter denen keine historische und allgemeine Wahrheit steht. Die eigentliche Provokation des Romans besteht folglich nicht darin, dass er die Geschichte des deutschen Terrors umdeutet, trivialisiert, poetisch überhöht. Sie besteht darin, dass er eine prinzipielle Skepsis gegenüber hegemonialen Deutungsansprüchen zum Ausdruck bringt und einen auf Vereindeutigung ausgerichteten Erinnerungsdiskurs bloßstellt.

Vergleicht man die beiden Romane, so setzen sie atmosphärisch und poetologisch, thematisch und formal durchaus unterschiedliche Akzente in der Aufarbeitung der RAF-Geschichte: Der nächtlichen Schwere in Kontrolliert steht die heitere Leichtigkeit von Rosenfest gegenüber; die Orientierung an geschichtswissenschaftlichen und medizinischen Diskursen bei Goetz lässt die RAF als Trauma erscheinen, während Scholz’ v. a. pop- und medienkulturelle Perspektive die RAF als Mythos in den Blick nimmt; der Zugang zum Thema findet bei Goetz primär über die Sprache, bei Scholz hingegen über die Bilder statt; Goetz’ Herangehensweise ist entsprechend stark von produktionsästhetischen, Scholz’ Überlegungen dagegen mehr von rezeptionsästhetischen Fragestellungen geprägt; der expliziten geschichtstheoretischen und historiografischen Reflexion bei Goetz steht die implizi-

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Vgl. Scholz: Hyperrealität, S. 216. Vgl. Hans Blumenberg: Arbeit am Mythos. In: Terror und Spiel. Probleme der Mythenrezeption. Hg. von Manfred Fuhrmann. Frankfurt/M. 1979, S. 291–326. Stahl: [Gespräch mit Scholz], o. S.

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te Verarbeitung solcher Überlegungen in der Verwendung von ›emplotment‹Mustern bei Scholz gegenüber. Bei aller Unterschiedlichkeit sind die beiden mit allen theoretischen Wassern gewaschenen und popkulturell geschulten Autoren doch gleichermaßen durch eine – genuin intellektuelle – Haltung geprägt: Skepsis. Sie trauen weder den geschichtlichen Tatsachenberichten noch den massenmedialen Bildern, sie trauen keinen Zeitzeugen, keinen Experten und auch nicht sich selbst. Goetz und Scholz treten nicht als Sprachrohre einer mit sich selbst im Reinen seienden vernünftigen Vernunft, als kritische Mahner vor regressiven Tendenzen auf. Wie andere Literaten vor ihnen erfüllen sie traditionelle Intellektuellen-Funktionen, insofern sie ein nach wie vor – und derzeit sogar wieder hochaktuelles – gesellschaftlich relevantes Thema aufgreifen und sich als Kenner und reflektierte Kritiker literarischer, medialer und wissenschaftlicher Diskurse zeigen. Doch anders als ihre engagierten Vorgänger spielen sie den ›advocatus diaboli‹ und verweigern zwar einfache, komplexitätsreduzierende Antworten, wissen aber zugleich um den Charme der einfachen Lösungen und den Reiz des Trivialen. Als skeptische Freigeister bringen sie auch Verständnis für das Unverständliche auf, stellen sich der Faszination für das Irrationale, das Unvermittelte, und versuchen nicht selbstsicher, das Archaische, Undemokratische, Asoziale, wie es urtypisch in Gewalt zutage tritt, zu sublimieren. Damit handeln sie sich den Vorwurf ein, affirmativ zu wirken und nicht zur politischen Aufarbeitung der Geschichte des deutschen Terrorismus oder gar zur politischen Bewusstseinsbildung beizutragen. Aber gerade im Hinblick nicht nur auf die polarisierenden Äußerungen der RAF selbst, sondern auch die verhärteten Fronten in den aktuellen Debatten über die RAF, in denen es wieder einmal vorrangig um Wissensmonopole und Deutungshoheit geht, erscheint dieser Verzicht auf den Anspruch, aufklärerisch zu wirken, vielleicht als der eigentlich bedeutsame Beitrag zur kulturellen Verarbeitung der RAF. Wenn Hans Ulrich Gumbrecht im Anschluss an Niklas Luhmann konstatiert, dass die Aufgabe der ›neuen Intellektuellen‹, die nicht mehr für sich beanspruchen können oder wollen, eine allgemeine Wahrheit zu vertreten, generell in der »Produktion von Komplexität« liegen sollte, so trifft dies im Zusammenhang mit der RAF in besonderem Maße zu: Spezialisten der Praxis finden Lösungen und reduzieren so Komplexität, während es das neue Selbstverständnis der Universität und der Intellektuellen werden könnte, potenzielle Alternativen und Gegenmodelle zu den je institutionalisierten Weltdeutungen und Praxisformen zu produzieren, »auf Vorrat« sozusagen und orientiert am Prinzip des »gegenintuitiven« Denkens. [...] Statt »Fackelträger in der Nacht« wären die neuen Intellektuellen Katalysatoren von Komplexität in einer stets von zu viel Struktur, von zu viel Organisation, von Negentropie eher als von Orientierungslosigkeit bedrohten Kultur.59

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Hans Ulrich Gumbrecht: Riskantes Denken. Intellektuelle als Katalysatoren von Komplexität. In: Der kritische Blick. Über intellektuelle Tätigkeiten und Tugenden. Hg. von Uwe Justus Wenzel. Frankfurt/M. 2002, S. 140–147, hier S. 144f.

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Im Gegensatz zu den komplexitätsreduzierenden Praxisspezialisten der RAF selbst, aber auch jenen in Politik und Medien beziehen Goetz und Scholz in ihren Texten nicht eindeutig Position, geben keine endgültigen Antworten und keine klaren Handlungsanweisungen – das macht sie ärgerlich, aber auch bedenkenswert.

Bibliographie Anon.: Die Rote Armee aufbauen. Erklärung zur Befreiung Andreas Baaders vom 5. Juni 1970. In: Rote Armee Fraktion. Texte und Materialien zur Geschichte der RAF. Hg. vom ID-Verlag. Berlin 1997, S. 24í26. Aust, Stefan: Der Baader-Meinhof-Komplex. München 1998. Becker, Jillian: Hitler’s Children. The Story of the Baader-Meinhof Terrorist Gang. Philadelphia und New York 1977. Berendse, Gerrit-Jan: Schreiben im Terrordrom. Gewaltcodierung, kulturelle Erinnerung und das Bedingungsverhältnis zwischen Literatur und RAF-Terrorismus. München 2005. Blumenberg, Hans: Arbeit am Mythos. In: Terror und Spiel. Probleme der Mythenrezeption. Hg. von Manfred Fuhrmann. Frankfurt/M. 1979, S. 291í326. Bohrer, Karl Heinz: Eine Phänomenologie der Einzelnen. Die gesellschaftskritischen Möglichkeiten des dichterischen Blicks. In: Der kritische Blick. Über intellektuelle Tätigkeiten und Tugenden. Hg. von Uwe Justus Wenzel. Frankfurt/M. 2002, S. 44í51. Goer, Charis: Black Box RAF. Mythos, Pop und Politik bei Leander Scholz und Christopher Roth. In: Mythosaktualisierungen. Tradierungs- und Generierungspotentiale einer alten Erinnerungsform. Hg. von Stephanie Wodianka/Dietmar Rieger. Berlin 2006 (Media and Cultural Memory / Medien und kulturellen Erinnerung. Bd. 4), S. 211í226. Goetz, Rainald: Subito. In: Rainald Goetz: Hirn. Frankfurt/M. 2003 (suhrkamp taschenbuch. Bd. 3491), S. 9í21. Goetz, Rainald: Und Blut. In: Rainald Goetz: Hirn. Frankfurt/M. 2003 (suhrkamp taschenbuch. Bd. 3491), S. 177í196. Goetz, Rainald: Kontrolliert. Frankfurt/M. 1988. Gumbrecht, Hans Ulrich: Riskantes Denken. Intellektuelle als Katalysatoren von Komplexität. In: Der kritische Blick. Über intellektuelle Tätigkeiten und Tugenden. Hg. von Uwe Justus Wenzel. Frankfurt/M. 2002, S. 140í147. Hanenberg, Peter: Gedankenstriche 10 Jahre danach. Zu Rainald Goetz’ Roman Kontrolliert. In: GeRAFtes. Analysen zur Darstellung der RAF und des Linksterrorismus in der deutschen Literatur. Hg. von Bianca Dombrowa/Markus Knebel/Andreas Oppermann/Lydia Schieth. Bamberg 1994 (Fußnoten zur neueren deutschen Literatur. Bd. 27), S. 59í65. Jäger, Georg: Der Schriftsteller als Intellektueller. Ein Problemaufriß. In: Schriftsteller als Intellektuelle. Politik und Literatur im Kalten Krieg. Hg. von Sven Hanuschek/Therese Hörnigk/Christine Malende. Tübingen 2000 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur. Bd. 73), S. 1í25. Kleist, Heinrich von: Penthesilea. Ein Trauerspiel [Erstdruck]. In: Heinrich von Kleist: Sämtliche Werke und Briefe in vier Bänden. Hg. von Ilse-Marie Barth u. a. Bd. II: Dramen 1808í1811. Hg. von Ilse-Marie Barth/Hinrich C. Seeba. Frankfurt/M. 1987 (Bibliothek deutscher Klassiker. Bd. 26), S. 143í256. Knebel, Markus/Oppermann, Andreas: Die Linke und der Terror. In: GeRAFtes. Analysen zur Darstellung der RAF und des Linksterrorismus in der deutschen Literatur. Hg. von Bianca Dombrowa/Markus Knebel/Andreas Oppermann/Lydia Schieth. Bamberg 1994 (Fußnoten zur neueren deutschen Literatur. Bd. 27), S. 11í18.

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Abstract In den Äußerungen der RAF wird eine deutliche Polarität von wir und ihr, richtig und falsch, Tat und Wort, revolutionären Akteuren und affirmativen Schwätzern aufgebaut, womit eine ausgeprägte anti-intellektuelle Polemik und ein programmatisches Bekenntnis zur Kommunikationsverweigerung verbunden ist. So ist es wenig erstaunlich, dass das Verhältnis von Intellektuellen, Schriftstellern und Linken zur RAF schnell ein recht ambivalentes war: Einerseits herrscht wegen der gemeinsamen linken Ausgangsposition eine solidarische Grundeinstellung, ande-

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rerseits distanziert man sich weitgehend von der positiven Antwort der RAF auf die Gewaltfrage. Während in der Literatur der 1970er und frühen 1980er Jahre versucht wird, eine solidarische, zugleich kritisch-distanzierte Position zum linken Terrorismus einzunehmen, ist an den späteren Auseinandersetzungen mit der RAF ein Wandel sowohl hinsichtlich der literarischen Ansätze, Themen und Darstellungsweisen als auch im Selbstverständnis der Schriftsteller, Filmemacher und Künstler als Intellektuelle zu beobachten. Als unterschiedliche Beispiele einer post-engagierten literarischen Auseinandersetzung mit der RAF werden zwei vielbeachtete und kontrovers diskutierte Romane vorgestellt: Rainald Goetz’ metahistoriografische (Selbst-)Reflexion über den Deutschen Herbst Kontrolliert (1988) und Leander Scholz’ intermediale Arbeit am popkulturellen Mythos RAF Rosenfest (2001). Bei aller Unterschiedlichkeit der beiden Romane sind sie doch von einer beiden Autoren gemeinsamen – genuin intellektuellen – Haltung geprägt: Skepsis. Goetz und Scholz, geschichts-, medien- und kulturtheoretisch ebenso geschult wie popkulturell erfahren, trauen weder den geschichtlichen Tatsachenberichten noch den massenmedialen Bildern, sie trauen keinen Zeitzeugen, keinen Experten und auch nicht sich selbst. Wie andere Literaten vor ihnen erfüllen sie traditionelle Intellektuellen-Funktionen, insofern sie ein gesellschaftlich relevantes Thema aufgreifen und sich als Kenner und reflektierte Kritiker literarischer, medialer und wissenschaftlicher Diskurse zeigen. Doch anders als ihre engagierten Vorgänger beziehen Goetz und Scholz in ihren Texten nicht eindeutig Position, versuchen keine Antworten oder gar Handlungsanweisungen zu geben, sprechen nicht als Mahner im Dienste des Wahren, Schönen und Guten. Sie repräsentieren somit ein neues Intellektuellentum, das sich dadurch auszeichnet, dass es die Komplexität und die Ambivalenz von Phänomenen wie der RAF offenlegt und verstärkt.

Susanne Kleinert

Intellektuelle gegenüber der innergesellschaftlichen Gewalt im Italien der 1970er Jahre: Beispiele aus italienischen Romanen von 1975 bis 2002 (Ferdinando Camon, Nanni Balestrini, Lidia Ravera)

Zur Figur des politisch engagierten Intellektuellen im Kontext innergesellschaftlicher Gewalterfahrungen im Italien der 1970er Jahre In der Diskussion um den Status der Intellektuellen im Italien der Nachkriegszeit, die durch eine starke Präsenz der Kommunistischen Partei geprägt war, spielte das Konzept des »organischen Intellektuellen« von Antonio Gramsci, dessen Schriften nach und nach herausgegeben wurden, eine große Rolle. Diesem Konzept eines sozial und politisch aktiven, gesellschaftlich integrierten Intellektuellen wurde im Kontext der 68er Bewegung das des Massenintellektuellen gegenübergestellt. Die Vorstellung, dass sich die soziale und berufliche Position der Intellektuellen immer mehr der Lage der Arbeiter annähere, war in der in Italien besonders ausgeprägten Annäherung zwischen Studenten- und Arbeiterbewegung verbreitet. Die Bindungskraft der Kommunistischen Partei ließ durch das Entstehen der außerparlamentarischen antiautoritären Bewegung nach; es entstand ein Intellektuellentypus, der sich weder der klassischen freischwebenden Intelligenz noch dem PCI verbunden fühlte und in den Gruppen der Neuen Linken eine andere politische Verankerung suchte.1 Im Gefolge der FIAT-Streiks von 1969, in denen sich die Studentenbewegung eng mit den streikenden Arbeitern verbunden hatte, wurden – auch unter dem Eindruck der chinesischen Kulturrevolution – politische Gruppen wie Lotta continua und Potere operaio stark, in denen den Intellektuellen der Idee nach keine besondere Position mehr eingeräumt wurde. Die Realität der politischen Praxis zeigte allerdings, dass teilweise auch auf Seiten der Neuen Linken leninistische Vorstellungen von Avantgarde-Funktionen der studentischen Intellektuellen wieder belebt wurden, wie Robert Lumley in seiner Studie Dal 68 agli anni di piombo. Studenti e operai nella crisi italiana (1998) konstatiert.2 Auch zur Frage der Anwendung von Gewalt entwickelten sich innerhalb der Neuen Linken unterschiedliche Vorstellun-

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2

Zur Veränderung des Intellektuellenbildes im Kontext sozialer und politischer Veränderungen und zur Kritik an traditionellen Intellektuellenbildern in der Neoavantgarde vgl. Romano Luperini: Il Novecento. Apparati ideologici – ceto intellettuale – sistemi formali nella letteratura italiana contemporanea. Bd.2. Torino 1981, S. 715–759. Robert Lumley: Dal 68 agli anni di piombo. Studenti e operai nella crisi italiana. Firenze 1998, bezieht sich hier auf die Gruppe Avanguardia operaia, vgl. S. 127 und S. 149, Fußnote 22.

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Susanne Kleinert

gen. Während die Gruppen, die in die »neuen sozialen Bewegungen« führten, in den 1970er Jahren eher auf symbolische Formen von Gewalt setzten, wie die Besetzung von Schulen, Universitäten und Fabriken, zogen die Roten Brigaden nach anfänglichen Rückbezügen auf die Auseinandersetzungen in den Fabriken eine Strategie der Gewalt vor, die auf der Basis leninistischer Avantgarde-Vorstellungen die eigene Gruppe absolut setzte. Robert Lumley beschreibt die Haltung der politischen Kultur der Nach-68er-Gruppen zur Gewaltfrage folgendermaßen: I protagonisti dei movimenti sociali erano infatti affascinati dall’idea di una violenza politica esplosiva, elementare e passionale, vale a dire romantica, mentre l’uso della violenza era considerato secondario. Per le Brigate rosse, al contrario, la violenza aveva un carattere affatto diverso: era la forma primaria e determinante di lotta, [...] ed è in questo senso che esse diventarono un’organizzazione pienamente ed esclusivamente terroristica.3

Die Zuspitzung der innergesellschaftlichen Konfliktsituation durch die Attentate rechtsextremistischer Kräfte einerseits und die Entführungen und Morde der Roten Brigaden andererseits führten in den 1970er Jahren zu einer Auseinandersetzung mit der Gewaltfrage, der sich die Intellektuellen nicht entziehen konnten. Während die Kommunistische Partei Italiens die Gewalt verurteilte und bekämpfte, reichten die Reaktionen auf der Seite anderweitig linksorientierter Intellektueller am Anfang der 1970er Jahre von einer verbalen Akzeptanz der Gewalt bis hin zur aktiven Teilnahme an Attentaten, wie das Beispiel des Verlegers Giangiacomo Feltrinelli zeigte. Mit der massiven Zunahme der Gewalt, die – so Marica Tolomelli – kein Pendant in anderen demokratischen Ländern hatte,4 wuchs allerdings die Distanzierung der Intellektuellen von gewalttätiger Politik. In der journalistischen Auseinandersetzung wurde schließlich den Intellektuellen nach der Moro-Entführung 1978 ihr Rückzug aus der öffentlichen Debatte vorgeworfen, womit implizit eine Aufforderung zur affirmativen Unterstützung des Staates verbunden war, die von Intellektuellen wie Leonardo Sciascia zurückgewiesen wurde.5 Wenn auch – nach Tolomelli – ein Ergebnis der innergesellschaftlichen Konfliktsituation in Italien darin bestand, dass traditionelle Selbstbilder des Intellektuellen im Sinne einer Meinungsführerschaft nicht mehr zu halten waren,6 so lässt sich über die journalistische Diskussion hinaus eine Beschäftigung der Intellektuellen mit der Gewalttätigkeit der 1970er Jahre beobachten, die sich in differenzierten Darstellungsformen vom Essay (Sciascias L'affaire Moro) über die Dokumentarliteratur bis zum stärker fiktionalisierten Roman bewegte.

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6

Lumley: Studenti e operai nella crisi italiana, S. 267. Vgl. Marica Tolomelli: Terrorismo e società. Il pubblico dibattito in Italia e in Germania negli anni Settanta. Bologna 2006, S. 78. Vgl. Tolomelli: Terrorismo e società, S. 241í249. Tolomellis These zufolge verweigerten sich die italienischen Intellektuellen gegenüber der von der konservativen Presse erhobenen Forderung, eine affirmative Haltung gegenüber dem italienischen Staat einzunehmen. Tolomelli spricht von »un definitivo declino della figura sia dell’intellettuale organico sia dell’intellettuale inteso in termini classici« (Terrorismo e società, S. 248).

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Manche Intellektuelle beschäftigten sich mit der innergesellschaftlichen Gewalt nämlich nicht nur in den Formen des politischen Essays oder journalistischen Artikels, sondern auch in literarischen Formen. Das literarische Schreiben, vor allem die offene Form des Romans, ermöglichten ihnen eine freiere, von den politischen Lagerbildungen weniger beeinflusste Auseinandersetzung mit der Gewaltthematik als die journalistische Debatte. Insbesondere erlaubte es die Literatur, eine subjektive Perspektive auf die Gewalt zu entwerfen, womit die starke ideologische Dimension der damaligen Debatten und die juristische Problematik umgangen werden konnten. Psychologische und ethische Fragen innerhalb der Gewaltthematik konnten gerade im Medium der Literatur eingehender behandelt werden als in anderen Formen gesellschaftlicher Diskurse, oder, wie es die Literaturwissenschaftlerin und Romanautorin Silvia Contarini formuliert: »La fiction peut sans doute redonner à l’époque l’épaisseur et les vérités multiples que le rude conflit politique a aplaties.«7 Die folgenden Analysen literarischer Texte von Nanni Balestrini, Ferdinando Camon und Lidia Ravera verfolgen exemplarisch die Auseinandersetzung italienischer Autoren mit dem Thema politisch motivierter Gewalt über einen Zeitraum von 1975 bis 2002. Die Beispiele reichen von der zeitnahen Auseinandersetzung mit dem Geschehen bis zu Bildern der Erinnerung, die fiktionale Intellektuellenfiguren mit einer alptraumhaften Wiederkehr der verdrängten Gewalterfahrungen der 1970er Jahre konfrontieren. Mit zunehmendem zeitlichem Abstand werden dabei die konkreten Bezüge auf bestimmte politische Gruppen des linksextremistischen Spektrums verwischt.8

1. Der kritisch-aufklärerische Intellektuelle: Ferdinando Camon Ferdinando Camon, geb. 1935, lässt sich als ein kritischer, engagierter Intellektueller charakterisieren, da er in seinen Romanen Themen von geschichtlicher, sozialer und politischer Relevanz behandelt hat, wie z. B. die deutsche Besatzung in Venetien, das Verschwinden bäuerlicher Kulturen und das politisch motivierte

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Silvia Contarini: Années 70: une transition traumatique. In: Actes de la Conférence Internationale: La valeur de la littérature pendant et après les années ’70: le cas de l’Italie et du Portugal. Hg. von Monica Jansen/Paula Jordão. Université Utrecht 11.–13. März 2004, http://congress70.library.uu.nl, 2006, S. 303–316. Die hier analysierten Texte gehen nicht direkt auf die Roten Brigaden und die MoroEntführung 1978 ein. Die essayistische und fiktionale Verarbeitung der Moro-Entführung, zu der inzwischen eine Reihe von Zeugnissen von Mitgliedern der Roten Brigaden vorliegen (vgl. die Bibliographie in Andrea Colombo: Un affare di stato. Il delitto Moro e la fine della Prima Repubblica. Milano 2008, S. 277–279), hat anlässlich des 30. Jahrestages der Moro-Entführung 2008 eine neue Dynamik gewonnen, deren erinnerungspolitische Implikate eine eigene Analyse erfordern würden. Ein Beispiel fiktionaler Bearbeitung der Moro-Entführung ist Giampaolo Spinato: Amici e nemici. Roma 2004.

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Attentat. Außerdem hat er sich in einigen seiner Romane mit der Psychoanalyse auseinandergesetzt.9 Im Vorwort zu seinem 1975 publizierten Roman Occidente beschreibt Camon die Intention seines Schreibens als Ausdruck einer staatsbürgerlichen Beunruhigung. Er präsentiert sich damit als ein Intellektueller, dem es weniger um die genuin literarischen als um die politischen Implikationen des eigenen Schaffens geht. Die Handlung des Romans spielt in der ersten Hälfte der 1970er Jahre in Padua. Attentate und Straßenkämpfe bestimmen das Klima in der Stadt, das Camon anhand von Protagonisten einer rechtsextremistischen und einer linksextremistischen Gruppe darstellt. Die literarische Darstellung beider politischer Lager unterstreicht den Anspruch des Schriftstellers, zu allgemeineren Erkenntnissen über die politische Dynamik seiner Zeit mit Hilfe der Literatur zu gelangen. Die fiktionalen Figuren werden dabei durch eine Collagetechnik authentifiziert, in der Passagen aus Flugblättern und politischen Schriften in die Handlung und die Dialoge eingefügt werden. Ein Postskriptum legt diese Referenzen offen, wodurch beispielsweise die fiktive Gruppe Potere rivoluzionario als Darstellung der realen Gruppe Potere operaio lesbar wird. Der Anführer dieser Gruppe wird sehr ironisch als ein Intellektueller dargestellt, der seinen fehlenden Überblick durch hektischen Aktionismus und pathetische Parolen kompensiert. Möglicherweise handelt es sich um einen Hinweis auf Toni Negri, der damals Mitglied von Potere operaio in Padua war, später nach Paris emigrierte und mit Michael Hardt 2003 das Buch Empire. Die neue Weltordnung publizierte. Camon stellt die linksextremistische Gruppe, die ihre Militanz in Straßenkämpfen kultiviert, als ignorant gegenüber der eigentlichen Gefahr dar, einer Gruppe rechtsextremistischer Attentäter, die sich auf alte faschistische Tendenzen in der Oberschicht stützt. Mit der rechtsextremistischen Gewalt setzt sich Camon in einer anderen Form auseinander als mit dem Linksradikalismus: Er setzt den psychoanalytischen Diskurs ein, um anhand der Subjektivität des rechtsextremistischen Protagonisten Franco seine These zu erläutern, dass die »strategia della tensione« eine Form der Annäherung der Söhne an die faschistische Vergangenheit der Väter sei. Gewalt stelle dabei aber immer nur den Versuch dar, die eigene innere Leere zu überdecken und die eigene Sterblichkeit in der Form des Attentats in die Außenwelt zu projizieren und damit den Tod gleichsam zu exportieren.10 Camon hat mit seinem Roman das Interesse realer Rechtsextremisten auf sich gezogen, nämlich der in das Attentat auf den Bahnhof von Bologna verwickelten rechtsextremistischen Zelle und von Franco Freda, der sich in der Verfilmung von Occidente durch die RAI dargestellt glaubte und das Gespräch mit dem Autor gesucht hat. Die Homepage Camons enthält Auszüge des Gesprächs mit Franco Freda, der in erster Instanz für das Attentat auf der Piazza Fontana in Mailand verurteilt, später aber von diesem Vorwurf freigesprochen wurde. Das Interview

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Zum Gesamtwerk Camons vgl. Paola Barbon: Italia Nord-Est. Zu Ferdinando Camon und seinem Werk. In: Italienisch 20 (1988), S. 82–90. Ferdinando Camon: Occidente. Milano 1975, S. 170 und S. 304–307.

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kontrastiert klar die ethischen Maßstäbe des Schriftstellers und die Egozentrik des Rechtsextremisten, der sich selbst absolut setzt und dabei möglicherweise indirekt seine Schuld eingesteht, wie Camon vermutet.11 Camons Rückgriff auf die Psychoanalyse, der den Wahrheitsanspruch der ideologisch-politischen Ebene des gesellschaftlichen Konflikts relativiert, folgt dabei einem Erkenntnisinteresse, das sich ein tieferes Wissen über die kollektive Geschichte und nicht nur um das einzelne Individuum erhofft. Der Autor äußert sich in einem Interview folgendermaßen über die Psychoanalyse: »La storia è un reato e l’analisi è il suo processo. Quindi, l’analisi non è una fuga dalla storia e un rifugio nella psicologia privata. Al contrario, è uno strumento d’indagine storica.«12 Vom dauerhaften Wert dieser intellektuellen Arbeit an der Geschichte ist Camon weiterhin überzeugt. Man kann seinem Werk Weitsichtigkeit in der Reflexion über die Praxis des Attentats nicht absprechen, wenn man bedenkt, wie massiv diese Form der Gewalt im gegenwärtigen Terrorismus zugenommen hat.

2. Der militante Intellektuelle: Nanni Balestrini Nanni Balestrini, geb. 1935, in den sechziger Jahren Mitglied der Neoavantgarde und experimenteller Dichter, widmete dem politischen Geschehen der 1970er Jahre mehrere literarische Texte und zusammen mit Primo Moroni einen essayistischen Text über die 68er Bewegung in Italien, L’orda d’oro 1968–1977 (1988). Aufgrund der Kontinuität seiner Beschäftigung mit dem Thema kann er als der vielleicht wichtigste literarische Zeuge der Bewegung gelten. Vogliamo tutto (1971) verarbeitete den »heißen Herbst« der FIAT-Streiks 1969 in einer Mischung aus fiktionaler Handlung und eingestreutem dokumentarischen Material aus Flugblättern. La violenza illustrata (1976) erkundete in einer experimentellen Schreibpraxis die Mechanismen der Presseberichterstattung zu den gewaltsamen Praktiken des Operaismus, den Balestrini als Mitglied von Potere operaio und später der Autonomia operaia vertrat. Gli invisibili (1987) gilt als zentraler literarischer Text über die autonomistische Bewegung von 1977 und ihr Scheitern. L’editore (1989) setzt sich mit der Figur Giangiacomo Feltrinellis, seinem Tod und dem öffentlichen Bild dieses Intellektuellen auseinander. Balestrinis Entscheidung für den Typus des militanten Intellektuellen spielte eine Rolle im Auflösungsprozess der Neoavantgarde, die sich 1968/69 in eine eher literarisch und eine eher politisch orientierte Linie spaltete.13 Er wirkte an der Gründung von Potere operaio mit, einer Gruppe, die bei den FIAT-Streiks interve-

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Vgl. www.ferdinandocamon.it/libro_it_004_occidente.htm und www.ferdinandocamon.it /articolo_B_Occidente.htm (27.3.2008). Angela M. Jeannet: Conversazione con Ferdinando Camon. In: Italian Quarterly 29 (1988), S. 59–68, hier S. 62 (Hervorhebung im Original). Vgl. zur Geschichte der Neoavantgarde Fabio Gambero: Invito a conoscere la Neoavanguardia. Milano 1993, S. 67–128.

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nierte und die Autonomie der Arbeiter gegenüber den gewerkschaftlichen Institutionen propagierte. Balestrini gab aber insofern nicht völlig seinen Status als Intellektueller auf, als er daran festhielt, das Wort und die Veröffentlichungsmöglichkeiten zu nutzen, die ihm als Lektor und Repräsentant des FeltrinelliVerlags in Rom offen standen. In seinem halbdokumentarischen Roman Vogliamo tutto beschrieb er die FIAT-Streiks aus operaistischer Perspektive und wies mit der Hauptfigur eines aus Süditalien stammenden jungen Arbeiters auf die Bedeutung der Binnenmigration hin.14 Der Verzicht auf einen Avantgarde-Anspruch der Intellektuellen drückte sich in Balestrinis Texten dadurch aus, dass er fremdes diskursives Material aufnahm – in Vogliamo tutto etwa Flugblätter, Slogans, Zeitungsartikel. Am Anfang der 1970er Jahre schließt Balestrinis Teilnahme am Operaismus die Legitimation der Gewalt ein, was aus der Publikation eines Vortrags anlässlich einer von Potere operaio organisierten Lesereise Balestrinis hervorgeht. Er interpretiert dabei den Schluss von Vogliamo tutto im Hinblick auf den Protagonisten als konsequenten Übergang zu gewalttätigem Handeln: [...] l’unico suo sbocco collettivo è quello di chiedere ricchezza sulla base della forza e della contrapposizione, al livello dei rapporti di forza, con il potere. Vale a dire: la violenza. Il passaggio alla pratica diretta di appropriazione collettiva della ricchezza sociale: da »vogliamo tutto« a »prendiamoci tutto«.15

Potere operaio löste sich nicht zuletzt wegen der Gewaltfrage auf. Ein Teil der Mitglieder schloss sich den Roten Brigaden an, andere – wie Balestrini – der Autonomia operaia, die 1973 als Sammelbecken operaistischer Gruppen gegründet wurde und sich nach der Moro-Entführung auflöste; viele ihrer Mitglieder, auch Balestrini und Toni Negri, wurden im April 1979 wegen Unterstützung der Roten Brigaden, u. a. wegen Beihilfe zum Mord in 19 Fällen, angezeigt und entzogen sich der Verhaftung durch die Flucht nach Frankreich. Das Verfahren gegen Balestrini wurde 1984 eingestellt.16 Die Erfahrungen der autonomistischen Bewegung verarbeitet Balestrini in Gli invisibili (1987). Auch dieser Roman ist nach dem Prinzip der Montage strukturiert und halbdokumentarisch, da er sich auf Berichte eines Informanten namens Sergio Bianchi stützt. Der Roman behandelt die Geschichte der Bewegung beginnend mit ihrer Agitation in den Schulen, erweitert also die operaistische Perspektive um die

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Die Rezeption Balestrinis in Deutschland zeigt sich u. a. darin, dass die 1972 im TrikontVerlag veröffentlichte deutsche Übersetzung später den Titel des Sponti-Organs Wir wollen alles (1973–75) lieferte, in dem Ansätze des italienischen Operaismus aufgenommen wurden. Nanni Balestrini: »Prendiamoci tutto« – Conferenza per un romanzo. Letteratura e lotta di classe. Milano 1972, S. 32. Potere operaio erreichte durchaus eine gewisse Stärke; zur 3. Organisationskonferenz, an der im September 1971 auch Feltrinelli als klandestiner Beobachter teilnahm, kamen fast tausend Delegierte, vgl. Carlo Feltrinelli: Senior Service. Das Leben meines Vaters. München 2001, S. 432. Zum Operaismus vgl. die Dokumente in Nanni Balestrini, Primo Moroni: L’orda d’oro 1968–1977. La grande ondata rivoluzionaria e creativa, politica ed esistenziale. Milano 1988, S. 374–472. Vgl. die Homepage www.nannibalestrini.it (26.5.2007).

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Thematik der neuen sozialen Bewegungen. Die Geschichte wird im Rückblick aus der Perspektive eines Inhaftierten erzählt, der den autonomistischen Kampf um die Macht im Gefängnis weiterführt, aber am Ende die Sinnlosigkeit seiner Eskalationsstrategie konstatiert.17 Der Text enthält keine explizite, moralisch begründete Distanzierung von der Gewalt, doch lässt sich – wie auch in L’editore – die Konkretheit in der Beschreibung der Folgen körperlicher Gewalt durchaus im Sinne eines Ausdrucks ihrer traumatisierenden Wirkung interpretieren. Im Unterschied zu den Roten Brigaden legitimiert Balestrini die Anwendung von Gewalt nicht durch sprachliche Analogien zum juristischen Vokabular, sondern beschreibt sie entsprechend dem Slogan des »Prendiamoci la città« (»Nehmen wir uns die Stadt«) als Aneignung von Räumen, das aus dem Bedürfnis nach selbstbestimmter Praxis entsteht.18 Balestrinis Roman L’editore unterzieht das Gewaltthema insofern einer stärkeren Selbstreflexion, als in diesem Text die Hauptfiguren nicht junge militante Angehörige linksextremistischer Gruppen, sondern Intellektuelle sind. Auch die chronologische Verschachtelung der Handlungsebene hebt den Reflexions- und Erinnerungsmodus des Romans hervor. Die Figuren treffen sich, um ein Filmprojekt über den gewaltsamen Tod eines Verlegers zu diskutieren, und reflektieren dabei ihre damaligen, 17 Jahre zurückliegenden Reaktionen auf das Ereignis. Die Rekonstruktionsarbeit wird zur Abrechnung mit einer Vergangenheit, in der das Begräbnis des Verlegers als das letzte Ereignis erscheint, an dem ein politischer Zusammenhalt der Linken bestand. Eine einheitliche Interpretation kristallisiert sich nicht heraus, die Kommentare der Figuren bleiben in sich heterogen und stehen ebenso heterogen der Masse an veröffentlichter Meinung gegenüber, die Balestrinis Roman in einer halbdokumentarischen Art zitiert, allerdings ohne nähere Angabe der Quellen. Bezugspunkt der literarischen Rekonstruktionsarbeit ist der Tod des Verlegers Giangiacomo Feltrinelli, der 1972 in der Nähe von Mailand durch die vorzeitige Explosion einer Bombe starb, mit der er einen Strommasten sprengen wollte – eine Sabotageaktion der GAP (Gruppi di azione partigiana), deren führendes Mitglied

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Vgl. dazu detaillierter Susanne Kleinert: Violence politique et sentiment d’irréalité: la représentation des années ’70 chez Balestrini, Camon et Vassalli. In: Actes de la Conférence Internationale: La valeur de la littérature pendant et après les années ’70 – le cas de l’Italie et du Portugal. Hg. von Monica Jansen/Paula Jordão. Université Utrecht 11.–13. März 2004, http://congress70.library.uu.nl, 2006, S. 336–356. Zur literarischen Gewaltdarstellung Balestrinis vgl. auch Susanne Gramatzki: Prosa der Grausamkeit. Nanni Balestrinis Romane zwischen neoavantgardistischer Ästhetik und gesellschaftspolitischem Engagement. In: Intellettuali italiani del secondo Novecento. Hg. von Angela Barwig/Thomas Stauder. München 2007, S. 91–115. Vgl. dazu Vincenzo Binetti: Re-mapping Autonomous Spaces and Invisible Communities in Nanni Balestrinis Testimonial Narrative. In: Actes de la Conférence Internationale: La valeur de la littérature pendant et après les années ’70 – le cas de l’Italie et du Portugal. Hg. von Monica Jansen/Paula Jordão. Université Utrecht 11.–13. März 2004, http://congress70.library.uu.nl, 2006, S. 265–285.

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er seit seinem 1969 erfolgten Untertauchen war. Mit ihrem Namen bezog sich diese Untergrundgruppe unmittelbar auf den antifaschistischen Widerstand der historischen GAP (Gruppi di azione patriotica) im 2. Weltkrieg. Feltrinelli war in Italien das wohl prominenteste Beispiel eines Intellektuellen, der selbst zum Mittel politischer Gewalt griff. Er befürchtete einen Staatsstreich von rechts nach dem Muster der griechischen Militärdiktatur, wie seine Veröffentlichungen aus dem Jahr 1969 belegen, und hatte nach dem Bombenattentat an der Piazza Fontana in Mailand, das zunächst den Anarchisten in die Schuhe geschoben wurde, konkrete Anhaltspunkte, dass er selbst und sein Verlag im Visier einer Exekutive und Justiz stand, an deren Neutralität weder er noch die Linke insgesamt glaubte.19 Seinen Verlag hatte Feltrinelli als ein Intellektueller betrieben, der neue Ideen verbreiten wollte und in literarischer Hinsicht u. a. die Neoavantgarde der sechziger Jahre und in politischer Hinsicht die historische Aufarbeitung der Arbeiterbewegung und den Dritte-Welt-Diskurs förderte. Seine umfangreichen Finanzmittel – er war einer der reichsten Männer Italiens – erlaubten ihm die Finanzierung eines Archivs der Arbeiterbewegung, der heute noch existierenden Fondazione Feltrinelli. Nanni Balestrini schreibt keine fiktionale Biographie Feltrinellis, sondern sucht anhand der Gespräche seiner Figuren, eines Buchhändlers, eines Universitätsprofessors, einer Journalistin und eines Regisseurs, eine Art Gegenöffentlichkeit zu schaffen, in der nicht nur die konservative Berichterstattung, sondern vor allem auch die These des PCI kritisiert wird, Feltrinelli sei ermordet worden. L’editore hat den Anspruch, die persönliche Entscheidung des Verlegers für die politische Gewalt sichtbar zu machen und seinen Tod sozusagen vor Instrumentalisierungen durch politische Diskurse zu schützen.20 Allerdings liefert auch Balestrini eine Interpretation aus der Perspektive des ex post, die den Tod des Verlegers in eine historische Dimension einordnet und als Beginn eines Prozesses sieht, in dem eine neue, gegenüber dem alten Begriff des Klassenbewusstseins »dezentrale Kollektivität« entsteht.21 Sie wird an einer anderen Stelle als Ausgangspunkt der Politik der

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Sein Freund, der Maler Giuseppe Zigaina berichtet, Feltrinelli habe ihm von folgender Warnung des Geheimdienstes erzählt: »›Entweder Sie kehren in ein normales bürgerliches Leben zurück, oder man wird Sie eines Tages tot in einem Strassengraben finden.‹ Und immer noch lächelnd fuhr er fort: ›Das ist die Botschaft. Verstehst du?‹« (Giuseppe Zigaina: Der Gnostiker und der Guerrillero. In: du 724 (März 2002), S. 64–67, Zitat S. 67), vgl. zu Feltrinellis Leben auch Carlo Feltrinelli: Senior Service. Das Leben meines Vaters. München 2001. Vgl. Nanni Balestrini: L’editore. In: La grande rivolta. Vogliamo tutto, Gli invisibili, L’editore. Milano 1999, z. B.: » [...] questa morte ha coinciso subito con una cancellazione una cancellazione e una mistificazione di questo personaggio cancellazione mistificazione spostamento modificazione cioè tutto pur di non parlare della cosa in sé« (S. 307). Vgl. Balestrini: L’editore. S. 306. In diesem Zusammenhang wird auch die MoroEntführung als zweiter markanter Einschnitt in der Geschichte der Bewegung erwähnt, die mit dem Tod Feltrinellis beginne und mit der Moro-Entführung ende. Eine Figur, der Blonde, der die jungen Autonomen repräsentiert, sucht in der Geschichte von Feltrinellis Tod auch nach der Geschichte der eigenen Generation – im Bewusstsein jedoch, dass sie

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Autonomia reklamiert, die Politik der Roten Brigaden dagegen zurückgewiesen, da sie von veralteten Positionen ausgehe: [...] questa svolta che avviene dopo la morte dell’editore la rivoluzione comincia a decentralizzarsi dovunque [...] incomincia a sollecitare e a sostenere tutte le contraddizioni le insubordinazioni le rivolte tutte le rivendicazioni là dove nascono e allora nessuno ascoltava le Br che applicavano il vecchio modello rivoluzionario della centralizzazione politica monolitica che non aveva nessun rapporto con le insubordinazioni con il casino che stavano succedendo.22

Die Gewalt wird also nicht nach ethischen, sondern nach politischen Kriterien beurteilt und erscheint – insbesondere in der Form der autonomistischen Rebellion – als legitime Wahl. Die Diskussion des Todes von Feltrinelli folgt einem agonistischen Prinzip des Ringens um das öffentliche Bild der 1970er Jahre, wobei der Text explizit dem Bild einer düsteren und blutigen Zeit die Erinnerung der Zeitgenossen gegenüberstellt: »un periodo sì duro e teso ma soprattutto di vitalità e di gioia e di intelligenza e di passione«.23 Die romanimmanenten Intellektuellenfiguren scheitern zwar in ihrem Versuch, einen Film über den Tod Feltrinellis zu konzipieren, aber die Erzählung ihres Scheiterns darin, ein einheitliches Bild zu finden, führt zum Ergebnis einer Multiplikation der Perspektiven und des Bewusstseins, eine Geschichte zu konstruieren: »Questa storia è la storia di una storia che racconta un’altra storia o meglio altre storie o che piuttosto crede di raccontarle perché ciò che può essere mostrato non può essere detto dice lei«.24 Balestrinis Texte zielen auf die Herstellung einer Gegenöffentlichkeit im engen Bezug auf eine politische Bewegung. Nach dem Ende der Autonomia operaia hat er diese Strategie beibehalten und nutzt inzwischen auch das Internet zur Verbreitung seiner Texte. Dass die Gewalt auch nach dem Ende politisch motivierter Gewalt ein interessantes Thema für ihn blieb, zeigt der Text I furiosi, der die Gewalt in den Fußballstadien behandelt. Die Faszination der Gewalt hat ihn sichtlich nicht losgelassen. In ihren Aussagen stehen die Romane von Balestrini und Camon in Opposition zueinander, da sie sehr unterschiedliche politische Linien vertreten. Balestrini bekennt sich klar zur operaistischen und autonomistischen Tendenz der neuen Bewegungen der 1970er Jahre, auch zu gewalttätigen Aktionen und nähert sich als Intellektueller dabei der Figur des politischen Agitators an. Camon dagegen setzt in Occidente – auch wenn sich seine damalige politische Position nicht genau erkennen lässt – in seiner Ironie gegenüber Potere operaio auf eine eher gemäßigte politische Position und warnt als kritischer Intellektueller vor den Gefahren der politischen Gewalt. Der psychologisch und ethisch argumentierende Camon distanziert sich dabei von den damaligen Diskursen, während Balestrinis Texte

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wegen der Vielzahl der Geschichten, die erzählt werden müssten, nicht aufgeschrieben werden kann. Balestrini: L’editore, S. 317. Balestrini: L’editore, S. 316. Balestrini: L’editore, S. 316.

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eine gewisse Faszination der Gewalt erkennen lassen. Balestrinis sehr genaue, teilweise auch krude Gewaltdarstellungen enthalten dabei jedoch in ihrer literarischen Qualität durchaus auch ein kritisches Potential gegenüber politischer Ideologie. In ihrer Form lassen sich beide Romane insofern gut vergleichen, als sie politische Diskurse in den literarischen Text aufnehmen, auf die Öffentlichkeit einwirken und Diskussionen unterstützen oder in Gang setzen wollen.

3. Die Intellektuelle und die verdrängte Vergangenheit: Lidia Ravera Von den beiden bisher behandelten Texten unterscheiden sich die im Folgenden zu behandelnden Romane von Lidia Ravera durch eine stärkere Literarisierung. Lidia Ravera, geb. 1951, ist eine italienische Linksintellektuelle, die als Schriftstellerin vor allem durch den unter dem Pseudonym »Rocco e Antonia« veröffentlichten Roman Porci con le ali (1976) bekannt wurde, den sie gemeinsam mit Marco Lombardo Radice schrieb und der als Ausdruck des Lebensgefühls der Generation von 1977 gilt. Sie hat eine Reihe von Romanen geschrieben, die sich mit Themen der Jugendkultur, der Gewalt und der Verschiedenheit der Lebensstile der Generationen beschäftigen. Eine Sammlung journalistischer Essays ist unter dem Titel in fondo, a sinistra... (2005) erschienen. Dem Thema der Auseinandersetzung der Intellektuellen mit gesellschaftlicher Gewalt sind zwei Romane von Lidia Ravera gewidmet, Voi grandi (1990) und La festa è finita (2002). In beiden Romanen steht eine Intellektuellenfigur im Vordergrund, die die eigene linksradikale Vergangenheit der 1970er Jahre hinter sich gelassen hat und sich in einer erfolgreichen beruflichen Karriere an der Universität (Voi grandi) bzw. in der internationalen Musikszene (La festa è finita) eingerichtet hat. Im Unterschied zu den weiter oben behandelten Romanen präsentiert Ravera die Gewalterfahrungen der 1970er Jahre nicht auf einer Ereignisebene, sondern von vornherein in einer zeitlichen Perspektive der Nachzeitigkeit. Raveras Intellektuellenfiguren werden in einer für sie unangenehmen Weise durch andere Figuren an die damaligen Konflikte erinnert. Beide Romane setzen sich so mit der Frage der innergesellschaftlichen Gewalt aus einer Perspektive des Gedächtnisses auseinander. Selbst- und Fremdwahrnehmung des Intellektuellen stehen dabei in einer konfliktuellen Position zueinander, denn Raveras Intellektuellenfiguren werden durch gesellschaftlich marginalisierte, ehemals militante Angehörige der Protestgeneration gezwungen, sich wieder in die 1970er Jahre zurückzuversetzen, in die »fucina di nevrosi meravigliose che erano gli anni Settanta«.25 Ein weiterer, mit dieser Thematik verbundener Unterschied zu den oben behandelten Texten liegt darin, dass Lidia Raveras Romane keinen dokumentarischen Anspruch erheben, sondern sich in einer stärker ausgeprägten Fiktionalisierung auf Dialog- und Bewusstseinsprozesse der wenigen Hauptfiguren in einem zeitlich sehr engen Rahmen konzentrieren. Zugleich weisen ihre Romane dadurch, dass sie um Intel-

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Lidia Ravera: Voi grandi. Milano 1990, S. 19.

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lektuellenfiguren angelegt sind, eine starke Selbstreflexivität auf. Allerdings gibt sich diese Selbstreflexivität insofern nicht als direkt autobiographisch zu erkennen, als die Intellektuellenfiguren beider Romane männliche Figuren sind. Die Handlung von Voi grandi umfasst wenige Tage. Sergio, ein 40-jähriger marxistischer Philosophieprofessor an der römischen Universität, der es nach seinem Engagement in einer linksradikalen Gruppe in den 1970er Jahren und anschließender Arbeitslosigkeit nach und nach geschafft hat, eine feste Stelle an der Universität zu erhalten, hat sich seine persönliche Ordnung geschaffen, in der ihn nur noch selten melancholische Stimmungen an seine militante Vergangenheit erinnern, etwa anlässlich des 20. Jahrestages der 68er-Revolte. An deren Atmosphäre erinnert er sich durch eine gedankliche Rückschau auf eine Demonstration seiner eigenen Studenten in etwas herablassender Weise: »Ma come fate, ragazzi, ad avere cosí piccole illusioni: sui sogni, noi eravamo dei giganti...«.26 Sergio hat sich Ende der achtziger Jahre beruflich etabliert und auch die Heirat mit der jungen Laura, die den Geist der achtziger Jahre repräsentiert, soll ihn mit der Gegenwart versöhnen, in der die Träume im Verhältnis zur Zeit der Militanz geschrumpft sind. Doch bei aller Anpassung an die Verhältnisse pflegt Sergio auch eine emotionale Verwurzelung in der Vergangenheit, die sich darin ausdrückt, dass er in seiner alten Wohnung nichts verändert hat. Seine Position drückt sich in der Topographie des Romans darin aus, dass er zu dieser erinnerungsgesättigten Wohnung die danebenliegende Wohnung neu hinzu gekauft hat, in der er mit Laura ein neues Leben beginnen will. Sergio sucht eine Addition von Vergangenheit und Gegenwart, wie auch seine Reflexion über die damals neue Computertechnologie zeigt: Si accese una sigaretta e docilmente voltò la sedia verso il monitor del computer. Per una buona mezz’ora si impegnò a correggere il capitolo precedente, deliziato dalla forza della tecnologia che faceva scomparire gli errori, invece di sottolinearli col segno a penna del ripensamento. Intervenire sul già esistente non per distruggere ma per migliorare, lo faceva sentire calmo e soddisfatto, come se stesse rimettendo in ordine se stesso.27

Genau in dieser Situation bemerkt er Spuren der Anwesenheit einer Person in seiner alten Wohnung. Das Lieblingsbuch seiner früheren Lebensgefährtin Marianna, Tolstois Der Tod des Ivan Iljitsch ist aus dem Regal verschwunden. In der neuen Wohnung ist die Badezimmertür von innen verschlossen – Sergio weiß plötzlich, dass er am selben Morgen in die Augen der zurückgekehrten Marianna geblickt hat, ohne sie zu erkennen. Die Rückkehr Mariannas, einer flüchtigen ehemaligen Linksterroristin, stellt Sergios Arrangement mit der Vergangenheit und die Gegenwart seine Heiratspläne auf eine harte Probe. Auch Marianna ist nicht mehr dieselbe wie in den 1970er Jahren: Durch eine Gesichtsoperation hat sie ihr Aussehen verändert, die existenziellen Bedingungen und die Einsamkeit während ihrer langen Jahre auf der Flucht haben sie in Prostitution und Drogensucht geführt. Von den alten politischen Inhalten ist nichts mehr geblieben außer einer

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Ravera: Voi grandi, S. 25. Ravera: Voi grandi, S. 30.

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hartnäckigen Gewohnheit der Negation alles Bestehenden, die schon die frühere Marianna geprägt hatte: Marianna la realtà la considerava al solo scopo di negarla. Non ammetteva ineluttabilità o leggi di natura. C’era sempre un colpevole, c’era sempre qualcosa da salvare. Come in un videogioco, studiava i bersagli. Colpire, prepararsi a colpire, la faceva sentire viva. Tutto il tempo fra un obiettivo e un altro era tempo morto.28

Lidia Ravera konzipiert Marianna zwar als eine Figur der Negation, doch mit einer gewissen Anteilnahme, wie der sich unmittelbar an das Zitat anschließende, ungewöhnliche Vergleich der Terroristin mit einer Romanschriftstellerin zeigt: »Si preparava per ogni impresa con una pazienza da romanziera, tre pagine oggi, tre pagine domani, e alla fine dello sforzo ci sarà tutta intera la storia, qualcosa da mostrare.«29 Zwischen Sergio und Marianna entsteht in der Gegenwart der Handlung ein Verhältnis der Konfrontation, das allerdings auch Momente starker Empathie und Rückprojektion in die gemeinsame Vergangenheit einschließt. Sergio kann sich dem emotionalen Sog, der von Mariannas latenter Verzweiflung und manifestiertem Spott über seine Verbürgerlichung ausgeht, kaum entziehen. In einem psychologischen Kammerspiel, in dem Sergio sich nochmals legitimieren zu müssen glaubt, warum er in den 1970er Jahren – anders als Marianna – nicht den Schritt in eine Politik der Gewalt vollzogen hat, kommt es zu einer immer stärkeren Kollision zwischen beiden Figuren. Marianna erfüllt in ihrer Aggressivität die Funktion des Aufbrechens einer Verdrängung der Vergangenheit. Sergio fühlt sich von dieser Rückkehr der Vergangenheit existenziell so bedroht, dass er schließlich gegen Marianna gewalttätig wird. Der Intellektuelle, der sich gegen die politische Gewalt entschieden hatte, greift also selbst zur Gewalt in dem Moment, in dem er es als bedrohlich erfährt, an eine gemeinsame Geschichte erinnert zu werden. Der blinde Fleck, den Sergio in seiner Wahrnehmung Mariannas hat, besteht in der Unfähigkeit, ihre tatsächliche Schwäche und ihren Wunsch nach Hilfe zu erkennen. Die Aussage des Romans liegt auf einer Ebene der Erinnerung an eine innergesellschaftliche Gewaltsituation. Dass eine Politik der Gewalt zum Scheitern verurteilt ist, steht im Roman von vornherein fest und ist nicht Gegenstand der literarischen Reflexion. Vielmehr geht es um den Umgang mit den Personen, die durch eine frühere Teilnahme an gewalttätiger Politik so marginalisiert sind, dass sie völlig aus der Gesellschaft herausfallen. Der Intellektuelle wird hier als eine Figur mit einer beschränkten Erkenntnisfähigkeit gezeigt, denn seine eigenen Interessen erlauben ihm nur ein mehr oder weniger hilfloses Lavieren zwischen Faszination und Abwehr, nicht aber ein souveränes Agieren. Dem Leser wird dies weniger in der Form von Kommentaren vermittelt als vielmehr vor allem im Spiel der Perspektiven, das der Roman in Szene setzt. Sowohl die globale Struktur als auch die Anlage einzelner Szenen wird durch eine Pluriperspektivität geprägt, die eine Haltung der fertigen Urteile zu erschüt-

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Ravera: Voi grandi, S. 37. Ravera: Voi grandi, S. 37.

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tern sucht. Der Roman ist in drei Hauptkapitel mit den Überschriften »Venerdì«, »Sabato«, »Domenica« gegliedert, denen jeweils eine dominante Perspektive entspricht – am Freitag dominiert die Perspektive von Sergio, am Samstag Marianna, am Sonntag schließlich Laura. Aus der Perspektive Mariannas erschließt sich die Perspektive des Intellektuellen Sergio insofern als defizitär, als er das tatsächliche Ausmaß des Leidens Mariannas nicht erkennt, eines Leidens, das aus der Einsamkeit entsteht, die das Kappen jeglicher Bindungen und Bezugspunkte nach sich zieht. Marianna hat beispielsweise während der elf Jahre ihrer Flucht nichts vom Tod ihrer Eltern erfahren und sucht bei Sergio vergeblich nach ihren verlorenen Wurzeln. Umgekehrt gelingt es auch Marianna nicht, die Entwicklung Sergios zu akzeptieren. Die Kommunikation scheitert, doch die Gründe dieses Scheiterns zu verstehen, gelingt nur dem Leser, weil er die verschiedenen Perspektiven mitvollzieht. Der literarische Text als ganzer beansprucht daher eine Erkenntnis- und Empathiefunktion, die der Intellektuelle als Romanfigur nicht erreicht. Ein Zeichen für die Ironie Raveras gegenüber dem Anspruch auf Überlegenheit des Intellektuellen zeigt sich insbesondere am Schluss des Romans, als die junge Laura sich als alltagstauglicher erweist als Sergio, der in seinem Glauben, Marianna umgebracht zu haben, in höchster Verwirrung bei den Hochzeitsfeierlichkeiten erscheint. Das Ende nimmt die zunächst aufgebaute und Mariannas Perspektive zugeordnete Dimension von Pathos und Tragik wieder zurück: Die Ex-Terroristin verschwindet ebenso plötzlich wie sie aufgetaucht ist und erhält damit auf der Handlungsebene eine Ähnlichkeit mit einem Phantasma. Im Abstand vieler Jahre sowohl zur Publikation des Romans als auch zu den »anni di piombo«,30 auf die der Roman anspielt, hat Lidia Ravera auf ihrer 2007 eingerichteten Homepage den Roman knapp als psychologischen Thriller über den »cadavere nell’armadio della mia generazione: il terrorismo« bezeichnet.31 Die Angst, die eine verdrängte gewalttätige Vergangenheit auslöst, wird als Thema des Romans bereits auf den ersten Seiten skizziert. Sergio nimmt Mariannas Blick, die er nicht erkennt, als persekutorisch und bedrohlich war: »Quando la donna si era tolta gli occhiali da sole, e l’aveva guardato di nuovo, era rimasto annichilito. Incapace perfino di respirare.«32 und weiter: »Erano occhi capaci di instaurare con chiunque rapporti di belligeranza permanente.«33 Das Gespenst des bewaffneten Kampfes, repräsentiert durch Marianna, setzt Ravera bereits am Romananfang in einen wirkungsvollen Kontrast zur melancholisch-nostalgischen Abgeklärtheit von Sergios Erinnerungen an die utopischen Träume seiner Jugend. Der Kernkonflikt zwischen Sergio und Marianna wird eingerahmt durch Figuren, die anderen Generationen angehören: Von Laura als Vertreterin der Jugend der achtziger Jahre und ihren Eltern, die nur wenige Jahre älter sind als Sergio,

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Diese Bezeichnung (»bleierne Jahre«) für die gewalttätigen 1970er Jahre geht auf den italienischen Titel von Margarethe von Trottas Film Die bleierne Zeit zurück. Vgl. www.lidiaravera.it (16.3.2008). Ravera: Voi grandi, S. 13. Ravera: Voi grandi, S. 14.

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aber einer anderen Generation anzugehören scheinen. Er charakterisiert die ganz andere Art ihres Lebens im London des Jahres 1968: [...] si sposavano là, vestiti come voleva Mary Quant, ma ben saldi nel loro amore per la buona vita, ciò che di utile può offrire il presente. Studiare bene, studiare molto. Lui psichiatria, lei arte drammatica. Essere belli, essere sani, essere seri. Niente di particolarmente noioso, soltanto un po’ di attenzione per se stessi, un po’ di continuità, fin da ragazzi, con il passato. Invece di caracollare su e giù per le Categorie Generali. Umanità. Proletariato. Imperialismo. Non se li immaginava mica sciocchi o vanitosi, seguivano le rivolte sui giornali, così che, già allora, riuscivano a vederle in prospettiva. Come oggi lui. Come a esserne fuori...34

Das perspektivische Sehen und die Lebenskunst, die Sergios Neid und Bewunderung hervorrufen, werden hier der intellektuellen Abstraktheit der 1970er Jahre entgegengesetzt. Dieses Votum für Pluralismus und Relativierung allgemeiner Wahrheitsansprüche lässt sich insofern als ein metafiktionales Element interpretieren, als der Roman selbst das perspektivische Sehen als eine den ganzen Roman konsequent durchziehende Form des Schreibens praktiziert. Die Ironie, die die Intellektuellenfigur vor allem am Ende des Romans erfährt, enthält daher auch ein indirektes Plädoyer für die Abkehr von den »Meistererzählungen«. Zur Perspektivierungspraxis des Romans zählt allerdings nicht nur die Ironie, sondern auch die Empathie mit den Emotionen der Figuren. Die Profilierung der privaten, psychologischen Ebene und die Zurückdrängung der politischen Inhalte militanter Bewegungen der 1970er Jahre entsprechen dabei nicht nur dem ›Zeitgeist‹ der achtziger Jahre, sondern enthalten auch eine Abkehr vom Bild des militanten, engagierten Intellektuellen. Mit der Gestaltung der Perspektive der jüngeren Generation sucht Ravera offensichtlich den politisch-ideologischen Schemata der eigenen Generation zu entkommen. Diese Linie verstärkt sich in dem mehr als zehn Jahre nach Voi grandi erschienenen Roman La festa è finita. Die Handlung spielt im Jahr 1998. Ein Zirkel ehemaliger Aktivisten einer nicht namentlich genannten linksradikalen Gruppe der 1970er Jahre trifft sich auf Einladung der Protagonistin Alexandra Berthollet in Turin. Anlass ist der Aufenthalt des Dirigenten Carlo Ronchi zu Konzertproben in der Stadt. Carlo hatte in der Vergangenheit die Gruppe plötzlich verlassen, obwohl er einer ihrer führenden Intellektuellen war, und sich für eine Musikerkarriere entschieden, die ihn in die USA geführt hat. Das Treffen scheitert, da Carlo von einem weiteren ehemaligen Mitglied der Gruppe, dem früheren FIAT-Arbeiter Angelo Cugno, entführt wird. In zwei Handlungssträngen werden die Entführung und die Suche Alexandras bzw. der Kommissarin Margherita Valperga, der Tochter eines Anführers der Gruppe, nach dem Verschwundenen erzählt. Die Handlung bildet dabei den Rahmen für eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, die als innerer Monolog, als Lektüre früherer Tagebuchnotizen oder als Dialog geführt wird. Am Ende stehen Tod und Begräbnis Angelos, einer Figur, die sich nicht von der Vergangenheit lösen kann und explizit als wahnsinnig bezeichnet wird. Sym-

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Ravera: Voi grandi, S. 22.

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bolisch werden hier die 1970er Jahre zu Grabe getragen, insbesondere ihr Aspekt gewalttätiger Politik. Die gegenüber Voi grandi noch verstärkte Distanzierung Raveras von politischer Gewalt wird in der Charakterisierung Angelos als wahnsinnig ersichtlich, allerdings enthält auch La festa è finita Elemente der Anteilnahme, die Angelos Verzweiflung als nachvollziehbar erscheinen lassen. Während es die aus bürgerlichen Familien kommenden ehemaligen Revolutionäre nämlich geschafft haben, entweder Karriere zu machen, wie Carlo und andere Mitglieder der Gruppe, oder in Sozialberufen unterzukommen, wie Alexandra, wird Angelo nach seiner Entlassung aus der Firma 1980 zu einem Außenseiter der Gesellschaft. In der Situation der Entführung kommt es zu einer deutlichen Konfrontation zwischen der Position von Angelo, der Carlo den Verrat an den gemeinsamen Ideen vorwirft, und der Berufung Carlos auf das Recht, sich zu verändern und zu vergessen. Angelo hält am Pathos der alten Konfrontationssituationen fest, spricht von Kriegszuständen, in denen man sich befinde, Klassen- und Weltkonflikten35 und begründet seine Absicht, Carlo zu töten, mit dem Argument, dieser sei ein Verräter und Klassenfeind geworden.36 In einer grotesken Nachahmung von Verhör- und Gerichtsverfahren, die an Praktiken der Roten Brigaden erinnert, bringt Angelo schließlich seine Anklage auf den Punkt: ›Io ti accuso di aver tradito.‹ ›Che cosa?‹ ›L’idea.‹ La parola non gli piace, avrebbe potuto dire ›i nostri ideali‹ o magari ›i nostri progetti‹ , la vocazione che dicevi di avere, di stare dalla parte degli sfruttati. Invece ha detto ›l’idea‹, una parola cretina, coniugata al singolare. Infatti Carlo sorride e ogni suo sorriso si conficca nella corteccia cerebrale di Angelo, danneggiando gli ultimi residui di buon senso. ›L’idea? Quale idea? Io ne avevo tante di idee. O fingevo di averle. Mi piacevano. Mi sono sempre piaciute le idee. Anche adesso. Ne ho. Ho delle idee.‹ Non vorrebbe avere questo tono sprezzante, è sempre stato affezionato alla sua giovinezza.37

Es gibt keine echte Kommunikation in der Gegenwart der völlig gegensätzlichen Biographien, doch Carlos kurz vorher evozierte Erinnerung an die FIAT-Streiks von 1969 zeigt, dass er weiß, was Angelo meint – die damals zumindest in der eigenen Vorstellung gelungene Verbindung zwischen dem Intellektuellen und dem Arbeiter. Der Kommentar hebt die Distanz zwischen Vergangenheit und Gegenwart hervor: »Resta soltanto l’eco di una mitologia.«38 Die Mythologie betont die Seite des Festes, der Musik, der Rebellion, der damaligen Kraft der Arbeiterbewegung – eine in Raveras Roman in den verschiedenen Erinnerungsfragmenten präsente Dimension. Auch wenn Balestrini nicht direkt erwähnt wird, liegt es nahe, in der Figur Angelos einen intertextuellen Bezug auf den Ich-Erzähler der FIATStreiks in Vogliamo tutto zu vermuten, denn beide Figuren haben eine süditalieni-

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Lidia Ravera: La festa è finita. Milano 2002, S. 96. Ravera: La festa è finita, S. 124. Ravera: La festa è finita, S. 126f. Ravera: La festa è finita, S. 120.

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sche Herkunft gemein und an einer Stelle wird Angelo mit einer Romanfigur verglichen.39 Die beschriebene Gegenwart jedoch steht im Zeichen des Alptraums, des Wahnsinns und der Gewalt überall dort, wo die Vergangenheit lebendig wird. Eine Nebenfigur stellt bezeichnenderweise die Frage: »Chi non ha paura dei fantasmi del passato?«40 Dass die ›Gespenster‹ der Vergangenheit furchteinflößend sind, unterstreicht die dramatische Komponente der Handlung, in der nicht umsonst an einen Slogan der Roten Brigaden erinnert wird, allerdings ohne direkten Verweis auf sie: »Colpirne uno per punirne cento. Colpirne uno.«41 In der Konfrontation mit Angelo reklamiert Carlo das Recht auf Ideologieverzicht – die Vielzahl und Wandlungsfähigkeit seiner Ideen machen den Intellektuellen der Gegenwart aus, für den keine einzelne Idee die von Angelo eingeforderte Verbindlichkeit haben kann. Carlo hat – so seine Selbstreflexion – größere Teile der Vergangenheit vergessen, da die Kunst und ein neues Leben seine früheren revolutionären Ideen einfach überlagert haben. Man könnte ihn als einen postmodernen Typ von Intellektuellem/Künstler im Sinne von Baumans Definition des postmodernen Intellektuellen als Interpret betrachten, dem die Pluralität des Denkens, verbunden mit einer Unverbindlichkeit früherer Ideen, eigen ist.42 Die ideologische Verbindlichkeit wird im Roman aus der Perspektive der jüngeren Generation eindeutig als negativ dargestellt.43 Doch auch Carlos Position wird aus einer anderen Perspektive relativiert, womit gleichzeitig auch die Vorstellung einer Überlegenheit des Intellektuellen verabschiedet wird. Neben der Konfrontation zwischen Angelo und Carlo spielt eine dritte Perspektive eine zentrale Rolle, die der früheren Geliebten beider Männer: Alexandra. Bezeichnenderweise schreibt sie seit vielen Jahren Tagebuch, ein Hinweis auf ihre Gedächtnis- und selbstreflexive Funktion im Text. Alexandra wird von einer intellektuellen Verarbeitung der Geschichte dadurch scharf abgegrenzt, dass sie mit Dostojewskis Figur des Fürsten Myschkin verglichen44 und schon während der 1970er Jahre, inmitten der politischen Kämpfe, als gedankenverloren beschrieben wird.45 Alexandra ist eine Figur der Beobachtung und der Anteilnahme. Ihre Beobachtungen sowohl von Carlo als

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Vgl. Carlos Wahrnehmung: »Angelo è il personaggio di un romanzo che hai letto tanti anni fa, che ha risvegliato con il suo pathos il tuo giovanile appetito per la Storia. Tutto qui.« Ravera: La festa è finita, S. 219. Ravera: La festa è finita, S. 79. Ravera: La festa è finita, S. 232. Vgl. Zygmunt Bauman: Legislators and Interpreters. On modernity, post-modernity and intellectuals. Cambridge (UK) 1987. Bauman grenzt den Intellektuellen als Interpreten vom Typus des Gesetzgeber-Intellektuellen ab, der mit seinen (oft ideologischen) Wahrheitsansprüchen die Moderne geprägt hat. Vgl. die Abrechnung der Kommissarin Margherita mit ihrem Vater, einem Anführer der Gruppe, Ravera: La festa è finita, S. 110f. Vgl. Ravera: La festa è finita, S. 81. Alexandra wird als zeitentrückt und gleichzeitig als Interpretin der geschichtlichen Momente dargestellt, die bei den Beteiligten zum Verstummen führen: Sie ›liest‹ die leeren Seiten des Tagebuchs aus dem Jahr 1975. Hier dürfte es sich um einen indirekten Hinweis auf die damalige Eskalation der Gewalt handeln.

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auch Angelo bereiten die Leser auf das Ende des Romans vor: Carlo formuliert in seiner Grabrede auf Angelo eine Absage an die nicht mehr in der Realität verankerten, der Negation verhafteten Vorstellungen ewiger Rebellion. Aus der Konfrontation mit Angelo behält Carlo gleichwohl einen Erfahrungsgewinn zurück: »Voleva che io mi fermassi e guardassi, almeno per un attimo, nel buio che conclude ogni giornata. Voleva dirmi che non si può ignorare la signoria assoluta della notte, della fine, della morte.«46 In beiden Romanen werden männliche Intellektuellenfiguren gezeigt, die in ihrer Vergangenheit insofern mit dem Feuer gespielt haben, als sie eine große Nähe zu gewalttätigen politischen Bewegungen hatten. Die Gewalt der Vergangenheit wird verdrängt oder vergessen und droht den Intellektuellen wieder einzuholen, der sich inzwischen in einer komfortablen sozialen Position eingerichtet hat. Die Rückkehr der phantasmatisch gewordenen Vergangenheit wird dabei nicht nur als negativ dargestellt, sondern auch als Anlass zu einem Lernprozess, der aus der Gegenüberstellung verschiedener Perspektiven zu einer anderen Art der Verarbeitung von Geschichte führt – nicht zu ideologischer Abstraktion, sondern zur Anteilnahme an konkreten menschlichen Schicksalen. Zwar wird diese Position in La festa è finita durch die Figur der Alexandra repräsentiert, die eher als das Gegenteil einer Intellektuellen erscheint, doch vertritt Lidia Ravera in ihren Essays die Hoffnung, dass eine heutige linksorientierte Politik sich auf diesen Wert stützen kann: In fondo, a sinistra, si è cresciuti in numero e in vocazione a farsi gli affari della polis, a difendere quel che resta della democrazia. [...] In fondo, a sinistra, si è affacciata di nuovo un’idea di politica, fatta di attenzione e partecipazione, che pareva defunta per sempre.47

Lidia Raveras Position lässt sich als die einer Intellektuellen charakterisieren, die eine Politik der Aufmerksamkeit und Anteilnahme propagiert, insbesondere mit den Schwachen und Vergessenen. In dieser Haltung kann man ein Charakteristikum des Intellektuellen generell erkennen.48 Die behandelten Beispiele zeigen so eine Bandbreite in der Auseinandersetzung italienischer Intellektueller mit der Gewalt der 1970er Jahre in Italien, die von der kritischen intellektuellen Be- und Verurteilung der Gewalt (Ferdinando Camon) über die direkte Teilnahme an einer militanten Gruppe und dem Versuch der Vermittlung ihres Denkens und Lebensgefühls (Nanni Balestrini) zu einer Haltung des Erinnerns reicht, die zwar die Gewalt als Mittel der Politik kritisiert, aber Anteilnahme mit den Biographien sowohl derjenigen zeigt, die durch die Ereignisse marginalisiert wurden, als auch derjenigen, die intellektuell zu neuen Ufern aufgebrochen sind (Lidia Ravera). Der literarische Text erweist sich dabei als geeignetes Medium der Reflexion vor allem dort, wo alte ideologische Festlegungen durch eine neue Pluralisierung der Perspektiven aufgebrochen werden. Die

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Ravera: La festa è finita, S. 277. Lidia Ravera: in fondo, a sinistra... ., Milano 2005, S. XV. Vgl. Edward Said: Representations of the Intellectual. New York 1994, S. 11.

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Literatur erlaubt den Autoren außerdem, in der Darstellung der Gewalt durch den Einbezug der subjektiven Erfahrungsdimension dem traumatisierenden Charakter politischer Gewalt Rechnung zu tragen. Dies geschieht auf unterschiedliche Weise: bei Camon im Rückgriff auf psychoanalytische Erklärungsmodelle, bei Balestrini in der kruden Konkretheit beschriebener Gewaltszenen, bei Lidia Ravera im Motiv einer Rückkehr der ›Gespenster‹ der Vergangenheit, die ihre Intellektuellenfiguren mit Vorwürfen und Rachephantasien verfolgen. Gerade in der Offenheit für das Thema der Gewalt als Trauma zeigt sich eine eigenständige Darstellungsleistung der literarischen Texte jenseits der politischen Positionen der Autoren zur innergesellschaftlichen Gewalt im Italien der 1970er Jahre.

Bibliographie Balestrini, Nanni: »Prendiamoci tutto« í Conferenza per un romanzo. Letteratura e lotta di classe. Milano 1972. – L’editore. In: La grande rivolta. Vogliamo tutto, Gli invisibili, L’editore. Milano 1999. Bauman, Zygmunt: Legislators and Interpreters. On modernity, post-modernity and intellectuals. Cambridge (UK) 1987. Barbon, Paola: Italia Nord-Est. Zu Ferdinando Camon und seinem Werk. In: Italienisch 20 (1988), S. 82–90. Binetti, Vincenzo: Re-mapping Autonomous Spaces and Invisible Communities in Nanni Balestrinis Testimonial Narrative. In: Actes de la Conférence Internationale: La valeur de la littérature pendant et après les années ’70 – le cas de l’Italie et du Portugal. Hg. von Monica Jansen/Paula Jordão. Université Utrecht 11–13 März 2004, http://congress70. library.uu.nl, 2006, S. 265–285. Camon, Ferdinando: Occidente. Milano 1975. Colombo, Andrea: Un affare di stato. Il delitto Moro e la fine della Prima Repubblica. Milano 2008. Contarini, Silvia: Années 70: une transition traumatique. In: Actes de la Conférence Internationale: La valeur de la littérature pendant et après les années ’70: le cas de l’Italie et du Portugal. Hg. von Monica Jansen/Paula Jordão. Université Utrecht 11–13 März 2004, http://congress70.library.uu.nl, 2006, S. 303–316. Feltrinelli, Carlo: Senior Service. Das Leben meines Vaters. München 2001. Gambero, Fabio: Invito a conoscere la Neoavanguardia. Milano 1993. Gramatzki, Susanne: Prosa der Grausamkeit. Nanni Balestrinis Romane zwischen neoavantgardistischer Ästhetik und gesellschaftspolitischem Engagement. In: Intellettuali italiani del secondo Novecento. Hg. von Angela Barwig/Thomas Stauder. München 2007, S. 91– 115. Jeannet, Angela M.: Conversazione con Ferdinando Camon. In: Italian Quarterly 29 (1988), S. 59–68. Kleinert, Susanne: Violence politique et sentiment d’irréalité: la représentation des années ’70 chez Balestrini, Camon et Vassalli. In: Actes de la Conférence Internationale: La valeur de la littérature pendant et après les années ’70 – le cas de l’Italie et du Portugal. Hg. von Monica Jansen/Paula Jordão. Université Utrecht 11–13 März 2004, http://congress70.library.uu.nl, 2006, S. 336–356. Luperini, Romano: Il Novecento. Apparati ideologici – ceto intellettuale – sistemi formali nella letteratura italiana contemporanea. Bd. 2. Torino 1981.

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Lumley, Robert: Dal 68 agli anni di piombo. Studenti e operai nella crisi italiana. Firenze 1998. Moroni, Primo: L’orda d’oro 1968–1977. La grande ondata rivoluzionaria e creativa, politica ed esistenziale. Milano 1988. Ravera, Lidia: Voi grandi. Milano 1990. – La festa è finita. Milano 2002. – In fondo, a sinistra.... ., Milano 2005, S. XV. Said, Edward: Representations of the Intellectual. New York 1994. Spinato, Giampaolo: Amici e nemici. Rom 2004. Tolomelli, Marica: Terrorismo e società. Il pubblico dibattito in Italia e in Germania negli anni Settanta. Bologna 2006. Zigaina, Giuseppe: Der Gnostiker und der Guerrillero. In: du 724 (März 2002), S. 64–67. www.ferdinandocamon.it/libro_it_004_occidente.htm www.ferdinandocamon.it/articolo_B_Occidente.htm (27.3.2008). www.nannibalestrini.it, (26.5.2007). www.lidiaravera.it

Abstract Die 1970er Jahre waren in Italien von einem außerordentlich hohen Ausmaß gewalttätiger politischer Konflikte geprägt, in deren Gefolge sich auch das Bild des Intellektuellen veränderte. Nach Marica Tolomellis Terrorismo e società. Il pubblico dibattito in Italia e in Germania negli anni Settanta (2006) führten sie zu einem Niedergang sowohl des Konzepts des »organischen Intellektuellen« (Gramsci) als auch des klassischen freischwebenden Intellektuellen. Die Auseinandersetzung der Intellektuellen mit der politischen Gewalt fand nicht nur in journalistischer, sondern auch in literarischer Form statt – die offene Form des Romans ermöglichte dabei eine größere Freiheit von der politischen Lagerbildung als der Journalismus. Die untersuchten Beispiele literarischer Auseinandersetzung mit politisch motivierter Gewalttätigkeit reichen von Ferdinando Camons Occidente (1975) über die stark dokumentarischen, formal aber experimentellen Texte Nanni Balestrinis – insbesondere Gli invisibili (1987) und L’editore (1989) – bis zu Lidia Raveras Romanen Voi grandi (1990) und La festa è finita (2002). Während die älteren Texte auf die Öffentlichkeit einwirken und politische Diskussionen in Gang setzen oder festhalten wollen, sind Lidia Raveras stärker literarisierte Romane aus einer größeren politischen Distanz geschrieben und konzentrieren sich modellhaft auf das subjektive Erleben von Intellektuellenfiguren, die mit der Wiederkehr einer als vergangen geglaubten Gewalt konfrontiert werden. Ferdinando Camons Haltung gegenüber der Eskalation politischer Gewalt, die er in Occidente am Beispiel der Kämpfe rechts- und linksextremistischer Gruppen in Padua schildert, kann man als die eines kritisch-aufklärerischen Intellektuellen beschreiben. Seine Verurteilung rechts- und linksextremistischer Gewalt beruht neben ethischen Kriterien stark auf psychoanalytisch orientierten Gedankengängen.

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Nanni Balestrini verfolgt in einer Haltung militanter Identifikation in seinen Texten verschiedene Etappen des Linksextremismus von den großen FIAT-Streiks 1969 über den Tod des Verlegers Feltrinelli 1972, der durch fehlerhaften Umgang mit Sprengstoff verursacht war, bis zur Geschichte der italienischen autonomistischen Bewegung, die mit der Inhaftierung eines großen Teils ihrer Anhänger endete. Die Texte zielen darauf ab, eine Gegenöffentlichkeit für die vertretenen Positionen zu schaffen und das Lebensgefühl der Mitglieder der dargestellten linksextremistischen Gruppen zu beschreiben. In Lidia Raveras Romanen führt die Konfrontation der Intellektuellen mit ihrer militanten Vergangenheit zu einem reflektierten Polyperspektivismus, der sowohl ironische Distanzierungen als auch Anteilnahme mit den durch Gewalt geprägten Lebensläufen ermöglicht. Die Romane ironisieren dabei die Position intellektueller Überlegenheit und unterstützen das Anliegen einer Empathie mit den von der Geschichte vergessenen Figuren und propagieren indirekt einen weder verdrängenden noch sentimentalen Umgang mit der Gewalt der Vergangenheit.

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Italien 1978: Der Fall Aldo Moro und die italienischen Intellektuellen Eine Lektüre mit Pierre Bourdieu

Aufstieg und Niedergang des kritischen Intellektuellen und Aufstieg und Niedergang der Printmedien sind enger miteinander verknüpft, als es Schriftstellern lieb sein kann. Diese Feststellung kann nicht überraschen, seit Geistesgeschichte (auch) als Mediengeschichte geschrieben wird. Ohne bewegliche Lettern keine Reformation, ohne verbesserte Drucktechnik kein Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit, ohne industriell hergestellte Tagespresse kein J’accuse. Wenn also heute die Figur des Intellektuellen vor allem als bange Frage nach ihrem möglichen Weiterleben, wenn nicht gar nach ihrem Verschwinden diskutiert wird, hat das auch mit der unklaren Zukunft des Qualitätsjournalismus zu tun, der von Verlagsseite mehr und mehr zum Contentzulieferer reduziert und von Leserseite durch Blogs herausgefordert wird. Der Intellektuelle als Figur der Öffentlichkeit, der kontinuierlich an übergreifenden Diskussionen partizipiert und sein Rollenbild durch immerwährende Distinktionsanstrengung schärft, kann nicht überleben ohne Medien, die den Kontakt zwischen ihm und dem Leser herstellen. Was für frühere Generationen intellektueller Leitfiguren Kommunikationszusammenhänge waren, ist in den heutigen industrialisierten westlichen Gesellschaften mit ihrer höchst ausdifferenzierten Medienlandschaft im Wesentlichen ein Kommunikationsproblem. Wenn im Folgenden die italienischen Intellektuellen vor ihrer größten, ihrer gewalttätigsten Herausforderung der Nachkriegszeit vorgestellt werden, dem Mord an Aldo Moro 1978, soll deshalb die Analyse der Kommunikationswege im Vordergrund stehen. Mediengeschichtlich liegt die Moro-Entführung, deren Bedeutung für Italien oft mit der des Kennedy-Attentats für die USA verglichen wird, am Ende jener Konfiguration des intellektuellen Felds, das noch vor allem durch Printmedien bestimmt wurde. Doch nicht die Sozialgeschichte der (italienischen) Medien steht im Mittelpunkt der folgenden Analyse, vielmehr die literarische Reflexion über die Medienkommunikation in diesem besonderen Fall innergesellschaftlicher Gewalt, wie sie in Leonardo Sciascias Buch L’affaire Moro aufgefächert wird; bereits mit dem auf die Affäre Dreyfus anspielenden Titel knüpft der Text unmittelbar an die Geschichte bedeutender intellektueller Wortmeldungen des 20. Jahrhunderts an. Gegenstand des Buches ist die Entführung und Ermordung des Vorsitzenden der damaligen italienischen Mehrheits- und Regierungspartei Democrazia Cristiana (DC) im Frühjahr 1978 durch ein Kommando der Roten Brigaden, die Moro für 55 Tage in ihrer Gewalt hatten, ihn in einem sogenannten

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Volksprozess zum Tode verurteilten und schließlich hinrichteten, als der zuletzt geforderte Gefangenenaustausch von der Regierung mit Hinweis auf die Staatsraison abgelehnt wurde. Sciascia stellte das Manuskript von L’affaire Moro bereits im August 1978 fertig, kaum drei Monate nach dem Ende der Entführung. Die 21 kurzen Kapitel beschränken sich im Wesentlichen auf die chronologische Kommentierung der wichtigsten Phasen der Entführung. Dabei greift der Text so weit als möglich auf öffentlich zugängliche Dokumente (Regierungserklärungen, Kommuniqués der DC und der Roten Brigaden) sowie auf in Zeitungen veröffentlichte Stellungnahmen namhafter Politiker sowie anderer Intellektueller zurück. Den roten Faden der Chronik bilden die Briefe, die Aldo Moro aus seiner Gefangenschaft an Parteikollegen, Familienangehörige und Freunde schrieb und die in den Wochen der Entführung in Zeitungen veröffentlicht wurden.1 Das Buch operiert demnach entlang der kommunikativen Schnittstellen zwischen der Sphäre der politischen Macht und der der intellektuellen Intervention: Aldo Moro, aus der Sphäre der Macht kommend, will auf die öffentliche Meinung wirken, umgekehrt beeinflusst Leonardo Sciascia, der Schriftsteller, mit seiner literarischen Veröffentlichung die Wahrnehmung der politischen Machtverhältnisse. Als methodischer Rahmen für die Analyse dieses Austausches zwischen dem Feld der Macht und dem intellektuellen Feld bietet sich die Theorie Pierre Bourdieus an, weil sie erlaubt, gerade die Entwertung des für einen aktiv gestaltenden Politiker immens wichtigen sozialen Kapitals durch die Gefangenschaft Aldo Moros in den Blick zu nehmen sowie seine Versuche, es auf genuin intellektuelle, nämlich allein auf die Kraft der Sprache rekurrierende Weise wieder zurückzugewinnen.2 Die Entstehungsgeschichte des Buches, sein konkreter Anlass sowie die publizistischen Reaktionen – es wurde schon zum Gegenstand einer Polemik, bevor es

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Eine ausführliche Darstellung der Briefe Aldo Moros aus seiner Gefangenschaft findet sich in Marco Clementi: La pazzia di Aldo Moro. Mailand 2006, S. 170–276, in Salvatore Savoia: Aldo Moro: »…l’iniquia ed ingrata sentenza della D.C.«. Massafra 2006, sowie in Vladimiro Satta: Odissea nel caso Moro. Viaggio controcorrente attraverso la documentazione della Commissione Stragi. Rom 2003. Die folgende Analyse unter der Leitfrage nach der Rolle des Intellektuellen während der italienischen Staatskrise 1978 basiert auf der Intrepretation des Romans L’affaire Moro als Sonderform des detektorischen Erzählens in Albrecht Buschmann: Die Macht und ihr Preis. Detektorisches Erzählen bei Leonardo Sciascia und Manuel Vázquez Montalbán. Würzburg 2005, S. 162–178. Während dieser Beitrag die These vertritt, dass die Funktionsweise der intellektuellen Öffentlichkeit Italiens der achtziger und neunziger Jahre nicht verstanden werden kann, ohne die Folgen der Moro-Affäre zu berücksichtigen, springt David Ward in seiner Analyse des intellektuellen Feldes in Italien (»Intellectuals, culture, and power in modern Italy«. In: The Italianist 21/22 (2001/2002), S. 290–318) vom Wandel um 1968 direkt zur Analyse von tangentopoli und von Silvio Berlusconis Aufstieg in die Regierung. Zu Pierre Bourdieus Theorie der wechselseitigen Beziehungen von intellektuellem Feld und Feld der Macht vgl. Pierre Bourdieu: Champ du pouvoir, champ intellectuel et habitus de classe, in: Scolies 1 (1971), S. 69–93, sowie: Die verborgenen Mechanismen der Macht. Hamburg 1997. Zur Einführung in Bourdieus Theorie vgl. Joseph Jurt: Das literarische Feld. Das Konzept Pierre Bourdieus in Theorie und Praxis. Darmstadt 1995.

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überhaupt erschien –, machen deutlich, dass L’affaire Moro nur in enger Verbindung zu seinem aktuellen politischen Gegenstand betrachtet werden kann.

1. Aldo Moro und die italienische Staatskrise 1978 Aldo Moro, geboren 1916, Jurist, Professor für Staatsrecht, war ein Machtpolitiker par excellence, ein Stratege im Hintergrund, tief verwurzelt im christlichen Glauben, persönlich völlig unkorrupt, was sogar seine Gegner zugestehen. Unmittelbar nach dem Krieg wird der 29-jährige Mitglied der Costitutente, der Verfassungsgebenden Versammlung, die die Weichen für Italiens heutige Demokratie stellt. Als 1954 Alcide de Gasperi stirbt, der prägende Vorsitzende der DC, werden Moro und Giulio Andreotti zu zentralen Führungsfiguren der Partei. Während Andreotti der Mann der Exekutive und der faktischen Machtausübung ist, agiert Moro eher als Stratege, der beharrlich an Lösungen über den Tag hinaus arbeitet und anderen den Vortritt lässt, wenn er die politische Mehrheit dafür gesichert hat. Ziel seiner internationalen Politik ist die Wahrung der italienischen Bündnis- und Handlungsfähigkeit, während Andreotti als Mann der US-Amerikaner gilt. Moros besondere Fähigkeit besteht darin, zu heiklen politischen Fragen Reden halten zu können, die keine inhaltliche Festlegung bedeuten und gerade darum für viele Parteifreunde akzeptabel klingen. Sein Spitzname lautet »Dr. Divago«, und von ihm stammen politische Zauberformeln wie das geflügelte Wort von den »konvergierenden Parallelen«. Pasolini spricht von seinem »neuen Latein«, Sciascia nennt seine Sprache »il linguaggio del non-dire«. Mit dieser Art der Rede, aus der jeder herauslesen kann, was er herauslesen möchte, mit der er einschläfert und einbindet, schafft er es in den sechziger Jahren, die Sozialisten in ein Regierungsbündnis mit den Konservativen zu führen und so seiner Partei den Machterhalt zu sichern, kritisch beäugt von den NATO-Partnern, die um Italiens Bündnistreue im kalten Krieg fürchten. In den siebziger Jahren versucht er das Gleiche mit den immer stärker werdenden Kommunisten, die nach dem Sturz Salvador Allendes zum compromesso storico bereit sind. Als sich auch innerhalb der DC eine Mehrheit dafür entscheidet, dem Drängen der Kommunisten auf eine Beteiligung an der Regierungsverantwortung nachzugeben, trägt man Aldo Moro den Parteivorsitz an. Um diesen historischen Kompromiss zwischen Bürgerlichen und Kommunisten politisch abzusichern, muss allerdings auch der rechte Arbeitgeberflügel der DC gewonnen werden; Exponent dieser Gruppe ist Giulio Andreotti, der deshalb Ministerpräsident werden soll. Regierungsämter sind den Kommunisten nicht konkret versprochen, aber in Aussicht gestellt worden. Während im Herbst 1977 die ersten Sondierungsgespräche für dieses in Europa einzigartige Mitte-LinksBündnis anlaufen, beginnt in Turin der Prozess gegen die Gründergeneration der Roten Brigaden um Renato Curcio. Als sich sechzehn Bürger aus Angst vor Racheakten der Terroristen weigern, in diesem Prozess als Geschworene zur Verfügung zu stehen, entbrennt eine Polemik um die Verantwortung des Bürgers für den Staat. Leonardo Sciascia vertritt in Artikeln die Auffassung, dass ein so kor-

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rupter und ineffizienter Staat wie der italienische, ein »stato in via di decomposizione«, 3 der in der Vergangenheit so oft seine Schutzfunktion nicht habe erfüllen können, sich nicht wundern dürfe, wenn die Bürger sich ihm verweigern. In der Presse wird Sciascia daraufhin stellvertretend angegriffen, sein Standpunkt sei typisch für die »Feigheit der Intellektuellen«. Die politische Lage war, nach Streiks, Attentaten und Entführungen, höchst angespannt. Am 16. März 1978 steht auf der Tagesordnung des italienischen Parlaments die Vertrauensabstimmung, die auf der Basis eines Bündnisses zwischen bürgerlichen Parteien unter Führung der DC und des Partito Comunista Italiano (PCI) eine Regierung der nationalen Solidarität unter Führung von Giulio Andreotti wählen sollte. Auf dem Weg ins Parlament wird die Eskorte Aldo Moros gewaltsam gestoppt, fünf Begleiter werden erschossen, er selbst entführt. In der um einige Stunden verschobenen Parlamentsabstimmung erhält Andreotti die überwältigende Mehrheit von über 90 % der Stimmen. Die Gewerkschaften verkünden als Zeichen der Solidarität mit Moro einen Generalstreik. Als erster fordert Ugo Pecchiolini, der innenpolitische Sprecher des PCI, offensichtlich aus Angst, man könnte seiner Partei mangelnde Staatstreue vorwerfen, die Einhaltung einer harten Linie (»fermezza«) ohne Verhandlungen mit den Entführern. Die DC und die Presse vertreten ebenfalls diese Position. Zu diesem Zeitpunkt ist noch nicht einmal sicher, wer Moro entführt hat, und es werden auch noch keine Forderungen gestellt. Die Entführung wird in der Tagespresse unisono als Anschlag auf den »historischen Kompromiss« interpretiert. In Italien läuft die größte polizeiliche Fahndungsaktion aller Zeiten an, bei der sich über 510 000 Ermittlungsbeamte im Einsatz befinden, davon 172 000 in Rom. Am 18. März wird der Presse das erste Kommuniqué der Roten Brigaden zugespielt. Es kündigt an, dass man Moro im Volksgefängnis den Prozess machen und die Öffentlichkeit weiter informieren werde. In ganz Italien werden von den Roten Brigaden in den kommenden Wochen Attentate auf Richter, Polizisten und Industrielle verübt. Am 30. März erscheint der erste Brief Aldo Moros in der Presse: Unter Hinweis auf die Gepflogenheiten anderer Staaten fordert er die Regierung zu Verhandlungen mit den Entführern auf.4 Doch Regierungsvertreter erklären, Moro habe offensichtlich unter Druck geschrieben, stehe womöglich unter Drogen, weshalb man auf seine Forderungen nicht eingehen werde. Als Moro diesen Vorwurf in den nächsten Briefen entkräftet, veröffentlicht die DC am 25. April eine Erklärung, in der fünfzig selbsternannte Freunde Moros versichern, der Moro, der die Briefe schreibe, sei ein anderer Moro als der, den sie gekannt hätten. Diese Be-

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Vgl. Leonardo Sciascias Rückblick auf diese öffentliche Auseinandersetzung in La Sicilia come metafora (Mailand 1989, hier S. 101). Aldo Moro hatte bereits vorher Briefe geschrieben; diese wurden jedoch nicht veröffentlicht. Insgesamt schrieb er in der Zeit der Entführung 50 bis 60 Briefe, die genaue Zahl ist bis heute nicht bekannt. Zur Odyssee seiner Texte vgl. Carlo Ginzburg: Der Richter und der Historiker. Überlegungen zum Fall Sofri. Berlin 1991, vor allem die Synthese auf S. 103, sowie Vladimiro Satta: Odissea nel caso Moro. Viaggio controcorrente attraverso la documentazione della Commissione Stragi. Rom 2003.

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hauptung wird auch beibehalten, als Moro in seiner Funktion als Parteivorsitzender der DC einen außerordentlichen Parteitag einberuft, um der Parteibasis Gelegenheit zu geben, sich gegen die harte Linie der Parteiführung zu äußern. Die Regierung verweigert selbst minimale Zugeständnisse an die Entführer, wie etwa Hafterleichterungen für Mitglieder der Roten Brigaden, da sie als Zeichen der Schwäche interpretiert werden könnten. Trotz der Vermittlungsbemühungen des Papstes und der UNO ändert sich an dieser Position bis zum Tod Aldo Moros nichts, was umso mehr überrascht, als es vor und nach der Moro-Entführung für italienische Regierungen gängige Praxis war, in solchen Fällen über inoffizielle Kanäle die Freilassung von Entführten zu erwirken. Auf Druck von Ministerpräsident Andreotti tritt der Krisenstab der DC bis zum Verstreichen des Ultimatums nicht mehr zusammen. In einem Brief vom 27. April greift Moro seine Parteifreunde scharf an: Durch ihre Haltung werde sein Leben aufgegeben und damit in Italien die Todesstrafe wieder eingeführt. Für seine Beerdigung verbittet er sich die Anwesenheit der »uomini del potere«. Zaghafte Versuche, etwa von Staatspräsident Leone, den Entführern entgegenzukommen, werden auf Druck Andreottis von der Regierung blockiert. Am 5. Mai erscheint das neunte Kommuniqué, in dem die Hinrichtung Moros in einem Gerundiv-Satz angekündigt wird (»[...] eseguendo la sentenza a cui Aldo Moro è stato condannato«). In allen Zeitungen wird die mögliche Bedeutung des Gerundiums erörtert. Am 7. Mai 1978 schließlich wird die Leiche Moros in einem roten R 4 im Zentrum Roms gefunden.5 Da der genaue Verlauf der Entführung bis heute ebenso wenig geklärt ist wie die zahlreichen Pannen im Verlauf der polizeilichen Ermittlungen, können auch die Langzeitfolgen für das politische und intellektuelle Klima Italiens kaum präzise benannt werden. Fest steht, dass sich der compromesso storico, der Schulterschluss zwischen DC und PCI, allein während der Entführung bewährte und damit zum Tod seines Mentors Moro führte. Doch wurden die Kommunisten nicht an der Regierung beteiligt. Da sie in den folgenden Wahlen Stimmenverluste erlitten, verschwand dieser Plan von der politischen Tagesordnung. In den achtziger und neunziger Jahren wurden die Enthüllungen um den Fall Moro immer spektakulärer. Heute weiß man, dass der Brigadist Mario Moretti, der die Entführung Moros plante und zu einem für die anderen Mitglieder des römischen Kommandos völlig überraschenden Zeitpunkt die Hinrichtung Moros anordnete, ein V-Mann der Polizei war und mit dem CIA in Kontakt stand. Als Italien 1980/81 durch den Skandal um die Geheimloge Propaganda Due (P2) erschüttert wurde, erfuhr man, dass

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Die inzwischen fünf Prozesse zur Erhellung der Umstände der Moro-Entführung haben eine so große Zahl so grober Fahndungspannen zutage gefördert, dass man eigentlich nur zu dem Schluss kommen kann, dass der Staat, dass vor allem die Regierung unter Andreotti Aldo Moro nicht finden wollte (vgl. Werner Raith: In höherem Auftrag. Der kalkulierte Mord an Aldo Moro. Berlin 1984). Ein historischer Über- und Rückblick auf die Ereignisse findet sich in Indro Montanelli/Mario Cervi: L’Italia degli anni di piombo (1965–1978). Milano 1991.

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enge Ratgeber Giulio Andreottis sowie des Innenministers Francesco Cossiga zur Zeit der Entführung Logenbrüder in der P2 waren, ebenso die Direktoren der Geheimdienste und leitende Mitarbeiter der römischen Polizei. Auch der meinungsbildende Corriere della Sera war, so stellte sich heraus, 1977 über Bankbeteiligungen unter die Kontrolle der P2 geraten. Die lange Reihe von Fahndungspannen während der Entführung, die unnachgiebig harte politische Linie der Regierenden und die mit Stichworten des Corriere della Sera vorgetragenen Angriffe gegen linksliberale Intellektuelle erscheinen seitdem in einem anderen Licht.

2. Innergesellschaftliche Gewalt und literarische Öffentlichkeit Die italienische Gesellschaft und mit ihr die namhaften Intellektuellen bewegen sich, wie wir gesehen haben, 1978 in einem Klima vielfältiger innergesellschaftlicher Gewalt. Politischer Mord, Attentate auf Schöffen oder Richter etc. gehören zum Alltag. Schriftsteller wie Dario Fo, Eugenio Montale oder Italo Calvino sind in der Diskussion dieser Zustände höchst präsent und werden dafür in der mehrheitlich konservativen Presse massiv attackiert. Die Auswirkungen der Moro-Entführung auf das intellektuelle Klima in Italien zeigen sich sofort. Bereits am 18. März 1978, zwei Tage nach der Entführung, beginnt mit einem Artikel von Cesare Medail im Corriere della sera eine Polemik, die sich nicht gegen die Roten Brigaden richtet, sondern gegen die Intellektuellen, die zwar immer und zu allem das Wort ergriffen, nun aber schweigen würden. Andere Zeitungen greifen dieses Argumentationsmuster auf, so dass zeitweise der Eindruck entsteht, als seien es einige (linke) Intellektuelle, die die Entführung Moros (und damit letztlich dessen möglichen Tod) zu verantworten hätten. Auch Leonardo Sciascia wird im PCInahen Paese sera wegen seiner angeblich staatszersetzenden Positionen angegriffen und suggestiv gefragt, ob er bereit sei, diesen Staat gegen die Erpressung durch Terroristen zu verteidigen. Jeder Intellektuelle, der jetzt nicht demonstrativ für die offizielle Linie der »fermezza« eintritt, wird als Sympathisant der Terroristen gebrandmarkt. In diesem aufgeladenen politischen Klima gelingt es, die staatskritische intellektuelle Linke politisch zu spalten, einzuschüchtern und, wie in dem Fall des Lotta continua-Sympathisanten Adriano Sofri, strafrechtlich zu verfolgen und jahrelang zu inhaftieren.6 Ähnliches gilt für den Prozess gegen die Autonomia operaia, bei der jenseits aller juristischen Glaubwürdigkeit versucht wurde, Antonio Negri und andere linke Intellektuelle als Köpfe der Moro-Entführung anzuklagen; die Beschuldigten wurden wie Sofri jahrelang in Untersuchungshaft gehalten.7

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Vgl. Leonardo Sciascia: L’affaire Moro. In: ders.: Opere Vol. II. Milano 1989, S. 534. Die jahrelange Untersuchungshaft ohne rechtskräftige Verurteilung war durch die Sondergesetze möglich geworden, die wenige Tage nach der Entführung in Kraft gesetzt und unter Ministerpräsident Cossiga, weiter verschärft wurden. Zum »caso Sofri« vgl. Ginzburg: Der Richter und der Historiker, S. 21ff. Vgl. Raith: In höherem Auftrag, S. 173ff.

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In der Moro-Entführung und ihrer literarischen Reflexion durch Sciascia nun kommen die Schlüsselbegriffe Gewalt und Kommunikation in eine signifikant enge Beziehung: Aldo Moro, bedroht durch den gewaltsamen Tod, schreibt mit den Briefen nach draußen um sein Leben; nur eine erfolgreiche Kommunikation kann sein Leben retten. Sciascia seinerseits analysiert dieses existenzielle Schreiben und versucht so gut als möglich, seine betont unaufgeregte Analyse der (kommunikativen) Zusammenhänge gegen die aufgekratzte Stimmung, wie sie in Medien vermittelt wird, durchzuhalten. Das Besondere an der »affaire« liegt gerade darin, dass nicht der Tod Moros das Besondere ist, sondern die intensive Kommunikation über den angekündigten Tod, zwischen den Tätern (den Roten Brigaden), dem Opfer (Moro), den möglichen Rettern (Regierung und Staatsorgane) und den Beobachtern (Presse, Leser, Intellektuelle etc.). L’affaire Moro dokumentiert und kommentiert diesen dichten Kommunikationszusammenhang aus zahlreichen, schnell aufeinander folgenden öffentlichen Wortmeldungen, der ab dem 30. März, mit der ersten Zeitungsveröffentlichung eines Briefes von Aldo Moro höchst ungewöhnlich wurde. Nicht die (fotografischen) Bilder des Entführten, wie wir sie von anderen Entführungen erinnern, bestimmten die öffentliche Wahrnehmung, sondern die Texte des Entführten. Nicht das zu Passivität verdammte Objekt eines Fotos oder eines Videos, sondern das schreibende Subjekt. Der Autor Aldo Moro untermauerte auf diese Weise seine Forderung nach Verhandlungen der Regierung mit den Entführern, und er tat dies, wie wir sehen werden, überraschend autonom: Seine Freiheit lag in seinem Stil. Heute liegen gut sechzig Briefe veröffentlicht vor, einige gelten als verschwunden, seinerzeit erschienen in der Presse nur diejenigen, in denen Moro sich an den Innenminister und an Parteifreunde wandte; wie man heute weiß, waren sie zuvor von Regierungsstellen zensiert und gekürzt worden. Die tastende Nacherzählung der Ereignisse, wie sie auf den letzten Seiten nachgereicht wurde, benennt mehr signifikante Lücken als gesicherte Wahrheiten – allein schon deshalb wird diese Art der Annäherung an den Fall Moro, die sich auf Fakten stützt, die an entscheidender Stelle kaum greifbar sind, Leonardo Sciascia nicht interessiert haben. Hinzu kommt, dass sich seine spezifisch philologische Annäherung an einen Politiker, der ihm zuvor als Repräsentant des Machtapparats der DC suspekt und als Architekt des compromesso storico erklärter Gegner war, aus werkimmanenten Quellen speist. Ein Teil seines symbolischen Kapitals hatte Sciascia sich in den sechziger und siebziger Jahren mit zeitgeschichtlichen Recherchen und politischen Kriminalromanen erschrieben. Beide Subgattungen stützen sich auf faktisch fundierte Indizienketten. Doch gerade an der Faktizität des Gegenständlichen zweifelte Sciascia in den siebziger Jahren zunehmend. Stattdessen rückten Worte, Gesten, Symbole in den Fokus seiner Ermittlerfiguren, weshalb er schon in La scomparsa di Majorana (1975) und I pugnalatori (1976) verstärkt zu einer auf Texten gestützten literarischen Enquête tendierte. Als »Fuga dei fatti«8, als das Sich-Entziehen der Dinge selbst, benannte er jenes Phänomen,

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Sciascia: L’affaire Moro, S. 480.

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dass er als Autor nur Zugang dem schriftlich fixierten Teil des Dramas um Aldo Moro habe, also zu den Texten von ihm und über ihn. Die Geschichte der Entführung entzog sich seinem Zugriff, aber die Texte, die der Entführte und seine Gegenspieler verfasst und veröffentlicht haben, die konnte er begreifen und analysieren. Folgerichtig vergleicht er in L’affaire Moro die Entführung immer wieder mit einem Drama mit verteilten Rollen und festen Regieanweisungen, etwa wenn er mit dem Aufschub des Ultimatums den »momento più alto della tragedia« erreicht sieht.9 Als Gegengewicht zu dieser Konzentration auf den Text ist die besondere Aufmerksamkeit für die Transzendenz des anwesenden oder des abwesenden Körpers gestaltet: So betont der Erzähler »Sciascia«, dass allein durch die Entführung, das heißt durch die Abwesenheit Moros bei der Vertrauensabstimmung im Parlament am 16. März 1978, ein so deutliches Ergebnis erzielt worden sei, das bei seiner Anwesenheit schwerlich hätte erreicht werden können (»quel che la sua presenza difficoltosamente avrebbe conseguito«).10 Ausführlich wird auch die Wiedergewinnung des abwesenden Körpers geschildert, der Fund von Aldo Moros Leiche im Zentrum der Hauptstadt Rom (symbolisch auf halbem Weg zwischen den Parteizentralen der DC und des PCI), der fast das gesamte 19. Kapitel einnimmt. Die Gliederung von L’affaire Moro ergibt sich aus der chronologischen Folge der seinerzeit zugänglichen Briefe, die Aldo Moro aus der Gefangenschaft schrieb. Daneben werden jedoch auch andere Texte berücksichtigt, von Kommuniqués der Roten Brigaden bis zu eingeblendeten intertextuellen Verweisen auf literarische Texte. Aus der Kombination von raffender Schilderung der Ereignisse, Zitaten, Textanalysen, literarischen Assoziationen und Interpretationen entfaltet der Text das Schicksal Aldo Moros als Drama, als »tragedia della comunicazione«.11 Mit seinem Projekt der zeitnahen politischen Textanalyse agierte Sciascia allerdings nur als einer von vielen konkurrierenden Interpreten. Auch die Arbeit der Regierung bestand zeitweise vor allem darin, auf die Briefe Moros zu reagieren, das heißt die in ihnen enthaltenen Anregungen oder Anweisungen zu analysieren, zu interpretieren und nach Möglichkeit zu entwerten. Ihr politisches Handeln offenbarte sich in der Interpretation von Texten. Wie wenig das Leben Aldo Moros gegen Ende der Entführung noch zählte, lässt sich daran ablesen, dass bei der Ankündigung seiner Hinrichtung durch die Roten Brigaden weniger die Tatsache selbst, sondern beinahe ausschließlich ihre Formulierung (»eseguendo la sentenza«) kommentiert wurde. Der Erzähler »Sciascia« wundert sich, dass plötzlich alle über mögliche Bedeutungen des Gerundiums nachdenken, wo es doch um das Leben eines Menschen geht. Er notiert: »C’è da dubitare che una concentrazione sul gerundio sia mai valsa e possa mai valere a salvare una vita: ma ormai siamo nel surreale.«12

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Sciascia: L’affaire Moro, S. 531. Sciascia: L’affaire Moro, S. 478. Claude Ambroise: Invito alla lettura di Leonardo Sciascia. Mailand 1995, S. 232. Sciascia: L’affaire Moro, S. 549. Bereits zwölf Jahre zuvor hatte Sciascia sich in einem

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In der Interpretation der ersten Briefe Moros durch Vertreter der Regierung und der Partei DC steckte bereits der Kern ihrer Strategie, zwischen dem früheren Moro (der als zentrale Figur der Partei über soziales Kapital verfügte) und dem Briefe schreibenden Moro (dessen soziales Kapital durch seine Isolation beinahe wertlos wird) zu unterscheiden. Man behauptete, dass der Moro, der die Briefe schreibt, nicht der Moro sei, den man zuvor kannte; folglich sei es nicht notwendig, seine Argumente zu beachten. Um die Strategie der Regierung zu durchkreuzen und ihre Argumentation zu widerlegen, führt L’affaire Moro zunächst den Nachweis, dass Aldo Moros Briefe sich in Stil und Argumentationsweise von seinen früheren Reden und Artikeln nicht unterscheiden. Dies gelingt durch eine detaillierte philologische Analyse, die belegt, dass Moro sich höchst geschickt seines für ihn typischen »linguaggio del nondire« bediene, um nicht nur sein Ziel (Verhandlungen und Austausch im persönlichen, aber auch im Interesse des italienischen Staates) zu befördern, sondern zugleich auch Informationen über seinen ungefähren Aufenthaltsort, seine Vermutungen über die Verfassung der Entführer und deren politische Interessen durchzuschmuggeln: »Disperatamente e lucidamente si autocensurò, adattando alla funzione del dire il suo linguaggio del nondire.«13 Indem der Erzähler »Sciascia« allein aus den jedermann verfügbaren Texten belegt, dass der Briefautor Moro die gleichen Grundüberzeugungen mit der gleichen Sprache vertritt wie der Moro der Zeit vor der Entführung, kann er den Kern der Argumentation der Verhandlungsgegner entkräften. Es gibt noch einen weiteren Grund, warum sich Sciascias Interesse auf die Briefe konzentrierte. Als Aldo Moro seine Texte schrieb, war er ein Gefangener im Angesicht des Todes, der allein das Wort zu Verfügung hatte, um sein Leben zu retten. Er war nicht mehr Parteichef, nicht mehr Politiker, nicht mehr Ehemann – nur noch ein Mensch im Angesicht des Todes, allein mit sich und der Sprache. Demgegenüber war die historische Figur, der Berufspolitiker Aldo Moro für Sciascia uninteressant. Allein jener Moro, der sich in ein Opfer verwandelt hatte, der tragische Fall dessen, der von derselben Koalition geopfert wird, die er auf den Weg gebracht hat, interessiert ihn.14 Erst ein Moro ohne Macht und ohne Maske

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Zeitungsartikel mit Moros Sprache und seinem Wirken durch Sprache befasst. In der Palermitaner Tageszeitung L’Ora vom 30. 1. 1965 schrieb er: »L’onorevole Moro è un uomo politico meridionale [...] E dell’uomo politico meridionale ha tutte le qualità, e principale quella del non dire. [...] Genialmente, bisogna riconoscerlo, l’onorevole Moro ha inventato un più rigoroso, quasi scientifico non dire. È sua, se non ricordo male, la trovata delle convergenze parallele: che non significano assolutamente niente, né nella logica astratta, né in quella delle cose concrete.« (Zit. n. Leonardo Sciascia: Quaderno. A cura di Vittorio Nisticò e Mario Farinella. Palermo 1991, S. 36f.) Sciascia: L’affaire Moro, S. 475. Hervorhebung im Original. Für den Akteur auf der politischen Bühne hatte Leonardo Sciascia nichts übrig: »Ho detestato la politica di Moro [...]«, sagte er in einem Interview (vgl. Davide Lajolo/Leonardo Sciascia: Conversazione in una stanza chiusa. Mailand 1981, S. 31) Gegen Ende von Moro hingegen ist die Sympathie des Erzählers »Sciascia« schon so weit gewachsen, dass er sich zu einer Apologie von Moros Machtmenschentum hinreißen lässt:

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kann für Sciascia zur literarischen Figur werden, denn erst in diesem Augenblick ist der Politiker gezwungen, sich allein in seiner und durch seine Sprache zu zeigen. Darum erfolgt die emphatische Annäherung an ihn auch nicht mimetisch (über Aussehen oder Kleidung ), sondern allein durch die Betrachtung seiner Sprache. Nur aus dem Stil versucht »Sciascia«, den »uomo solo«,15 aus der Sprache die Wirklichkeit zu rekonstruieren. So wird Aldo Moro, der »dal vertice del potere alla più assoluta impotenza« gefallen ist,16 zu einem tragischen Opfer eben jener Machtmechanismen stilisiert, deren Profiteur er zuvor selbst war. Aus dem Mann der Macht ist ein Opfer der Macht geworden, und beide Rollen definieren sich allein über seine Sprache. Es wirkt wie ein grausamer contrappasso: Machtmensch war Moro dank der perfekten Beherrschung der Kunst des Nichtssagens, und Opfer der Macht wird er, weil seine Gegenspieler eben jene Sprache nicht mehr verstehen wollen. In Bourdieuschen Kategorien ausgedrückt setzt Aldo Moro sein inkorporiertes kulturelles Kapital ein (seine sprachliche Ausdrucksfähigkeit), mit dem Ziel, seinen Verlust an sozialem Kapital zu kompensieren und durch die Veröffentlichung der Briefe mit der Öffentlichkeit jenseits seiner Partei zu kommunizieren und sie politisch zu mobilisieren. Über sein kulturelles Kapital »Sprachbeherrschung« könnte er, im Fall des Zuspruchs durch die öffentliche Meinung, neues soziales Kapital und in dieser Transformation einen Kapitalzuwachs im Feld der Macht erlangen. Gleiches versucht er mit seinen Ausführungen über die Todesstrafe, die indirekt wieder eingeführt werde, wenn man nicht verhandele und ihn damit der sicheren Hinrichtung durch die Roten Brigaden überantworte. Als Professor für Staatsrecht verfügte er zwar über symbolisches und soziales Kapital, um solche Analysen als herrschenden Diskurs durchzusetzen, nun aber kann er im Wesentlichen nur noch auf sein kulturelles Kapital (Bildung, Sprachbeherrschung) zurückgreifen. Beide Ver-

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»Non pare abbia mai letizia di potere«, resümiert er, und dass er »tra gli altri [gemeint sind die »uomini del potere«] il migliore« gewesen sei (Sciascia: L’affaire Moro, S. 544). In einem anderen Interview präzisiert er: »C’est Aldo Moro jeté dans la tragédie qui m’a intéressé, Aldo Moro qui découvre emprisoné que le pouvoir est un songe qui s’en va, Aldo Moro qui aurait pu être le héros de la vie est un songe de Calderón, Sigismondo et Moro.« (James Dauphiné: Leonardo Sciascia, qui êtes vous? Paris 1990, S. 138). Ohne Maske ist der gefangene und von allen einflussreichen Freunden verlassene Moro für ihn nur noch Kreatur. Dass in dieser Auffassung Sciascias auch eine gewisse Inkonsequenz liegt, formuliert indirekt Doug Thompson: »Aldo Moro learned the real meaning of ›power‹ only when it was too late, when he was utterly powerless.« (Doug Thompson: »Sciascia, Aldo Moro and ›il linguaggio del condire‹«. In: Perspectives on Contemporary Literature 11 (1985), S. 106) Denn »Sciascia« unterschlägt, dass Moro nur unter äußerem Zwang erkennt, was Ausübung von Macht für einen Machtlosen bedeutet. »Da personaggio ad ›uomo solo‹, da ›uomo solo‹ a creatura: i passi che Pirandello assegna all’unica possibile salvezza.« (Sciascia: L’affaire Moro, S. 513). Sciascia: L’affaire Moro, S. 553.

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suche scheitern, weil es der Regierung gelingt, die Kommunikation zwischen Moro und der Öffentlichkeit zu stören und die zu den Parteimitgliedern zu unterbinden.17 L’affaire Moro ist nicht nur luzide Dokumentation, nicht nur literarische Verdichtung eines Kampfes um Sprache und Macht, sondern auch in doppelter Hinsicht ein Buch voller Prophetie: Weil sich in seiner Darstellung einerseits Visionen aus Sciascias Roman Todo modo über die Radikalisierung der Machtausübung der DC erfüllen, andererseits wiederum Ahnungen über künftige Entwicklungen formuliert werden, die auf beklemmende Weise wirklich geworden sind. Der Erzähler »Sciascia« selbst erinnert sich in Moro mit resigniertem Unterton an seine früheren Bücher: Moro e la sua vita sembrano generati di una certa letteratura. Ho ricordato Pasolini. Posso anche – no rallegrandomene, ma nemmeno rinnegandoli – ricordare due miei racconti, almeno due: Il contesto e Todo modo. [...] Una sintesi, una tirata di somma: ma nel vuoto di riflessione, di critica e persino di buon senso in cui la vita politica italiana si è svolta, le sintesi non potevano apparire che anticipazioni, che profezie; se non addirittura istigazioni. Lasciata insomma alla letteratura la verità, la verità [...] sembrò generata dalla letteratura.18

Ganz konkret lässt sich auf die Brudermorde innerhalb der Gemeinschaft der christdemokratischen Führungsschicht in Todo modo verweisen, oder auf das Leitmotiv des »uomo solo«, der gefangen ist in einer »catena di causalità«, wie es ebenfalls in diesem Roman mehrfach heißt. »Sciascias« luzider, durch die philologische Selbstbeschränkung geschärfter Blick für die Folgen der Moro-Affäre zeigt sich beispielsweise, wenn er einen von vielen namhaften Intellektuellen unterschriebenen Aufruf an die Roten Brigaden interpretiert und anmerkt, dass die Linke und ihre intellektuellen Unterstützer selbst aufpassen sollten, nach den Roten Brigaden nicht zum nächsten Opfer des gerade juristisch aufrüstenden Staates zu werden. Die Linke sei schließlich »la parte della sinistra più scopertamente vicina, in teoria, alle posizioni delle Brigate rosse«.19 Genau diese Ahnung bestätigte sich: Wichtige Vertreter der außerparlamentarischen Linken wurde mit jenen Gesetzen und Sondervollmachten, die im Verlauf der Moro-Entführung verabschiedet worden waren, unter zum Teil abstrusen Anschuldigungen ins Gefängnis gebracht. Man denke nur an den weiter oben erwähnten »caso Sofri«. Mit guten Argumenten kann Sciascia folglich für sich und für die Literatur in Anspruch nehmen, der »verità«20 näher zu kommen als etwa die tagesaktuell berichtenden Journalisten oder die an der Faktizität der Ereignisse sich abarbeitenden Historiker. Diesen »intuito di letterato«, den ihm seinerzeit selbst

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Diesem letzten Aspekt, der (gestörten) Kommunikation in L’affaire Moro, widmet Sara Gentile (L’isola del potere. Metafore del dominio nel romanzo di Leonardo Sciascia. Roma 1995, S. 64–69) ein eigenes Kapitel (»Potere e comunicazione«). Sciascia: L’affaire Moro, S. 479. Sciascia: L’affaire Moro, S. 534. Diesen Wahrheitsbegriff lässt er sich, bei allen Relativierungen, nicht nehmen: »Mi sono interessato a Moro spinto dalla mia vecchia idea che bisogna cercare la verità.« (Sciascia: Metafora, S. 131)

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ein Giorgio Bocca zubilligte, erklärt er mit seiner schriftstellerischen Unabhängigkeit, mit seiner Rolle als keiner Gruppe zugehörigem Einzelgänger. Nur dank »l’indipendenza, l’isolamento, il nessun legame con qualsiasi forma di potere comunque costituito« könne er etwas Substanzielles über die gegenwärtigen Ereignisse aussagen.21 Hier schließt sich ein Kreis, wie er sich auch in anderen seiner Bücher findet: die identifikatorische Annäherung zwischen dem Autor und dem Ermittler, dem Suchenden, dem Fragenden. Die Wahrhaftigkeit der Analysen, die Aldo Moro in seinen Briefen vorlegt, rührt demnach daher, dass Moro, ähnlich wie Leonardo Sciascia als Schriftsteller, isoliert ist und keinerlei Verbindung mehr zum »potere comunque costituito« unterhält. Allerdings kann diese Fähigkeit des Autors ohne den Leser keinerlei Wirkungsmacht entfalten. Durch ein deutliches Zeichen am Ende des Textes überträgt der Autor die Verantwortung für die letzte Semiose des Buches an den idealen Leser. Moro endet mit einem dem Fließtext nachgestellten Zitat aus dem Erzählungsband Ficciones des Argentiniers Jorge Luis Borges: Ho già detto che si tratta di un romanzo poliziesco ... A distanza di sette anni, mi è impossibile recuperare i dettagli dell’azione; ma eccone il piano generale, quale l’impoveriscono (quale lo purificano) le lacune della mia memoria. C’è un indecifrabile assassinio nelle pagine iniziali, una lenta discussione nelle intermedie, una soluzione nelle ultime. Poi, risolto ormai l’enigma, c’è un paragrafo che contiene questa frase: ›Tutti credettero che l’incontro dei due giocatori di scacchi fosse stato casuale.‹ Questa frase lascia capire che la soluzione è sbagliata. Il lettore, inquieto, rivedi i capitoli e scopre un’altra soluzione, la vera.22

Dieser letzte Absatz von Moro ist ein Zitat aus der Erzählung »Examen de la obra de Herbert Quain«. Jorge Luis Borges’ Erzähler stellt an dieser Stelle das Werk eines Autors vor, in dem die Auflösung der Grenzen zwischen Text und außerliterarischer Wirklichkeit, zwischen Autor und Werk in Szene gesetzt wird. In dem Zitat ist von einem Kriminalroman die Rede, in dem der Leser durch einen einzigen Hinweis am Schluss des Textes auf selbigen zurückverwiesen wird, ihn erneut liest und nun eine andere als die bisher geglaubte Lösung des Falls entdeckt, und zwar die wahre Lösung. Dass L’affaire Moro gerade mit dieser Stelle endet, ist als Aufforderung an den idealen Leser zu verstehen, diese Operation zu wiederholen, um nun im Wissen um die gesamte Argumentation die Briefe Moros und die Argumente des Erzählers noch einmal zu lesen und zu bewerten. Zitiert wird der Absatz von Borges beinahe vollständig, unterschlagen aber wird dessen letzter Satz: »El lector de ese libro singular es más perspicaz que el detective.«23 Ebenso wird der bezeichnende Titel jenes Kriminalromans von Quain verschwiegen, an den sich der Erzähler bei Borges erinnert: The god of the labyrinth. Liest man diesen Kontext mit (anders gesagt: folgt man der Aufforderung zum pro-

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Leonardo Sciascia: Nero su Nero. In: ders.: Opere. Vol. II. Milano 1989, S. 833f. Sciascia: L’affaire Moro, S. 565. Alle weiteren Zitate aus dem Buch von Jorge Luis Borges nach der Ausgabe Alianza Editorial, Madrid 1971. Borges: Ficciones, S. 83.

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duktiven Wieder- und Weiterlesen), ergeben sich folgende Verknüpfungen: »Sciascia« setzt den Text von L’affaire Moro parallel zum Text Quains, also zu dem Kriminalroman The god of the labyrinth. Folgt man dieser Parallelisierung, erscheint die italienische Wirklichkeit als das Labyrinth, in dem sich Aldo Moro verlaufen hat. Der Gott dieses Labyrinths kann nur der Leser sein, denn allein Sciascia kommt als der bei Borges durch Kursivdruck hervorgehobene »detective« in Frage, der weniger hellsichtig ist als der Leser und sich dessen abschließender Semiose unterordnet. Der Autor, der sich dem Leser überantwortet, der Leser als gottgleich absolut gesetzte Instanz im literarischen Feld. Es ist die die Präsenz religiöser Motive, die Moro auch gegen Schluss deutlich prägt.24 Damit ist nicht die (umgangssprachliche) Rede von der »Prophetie« des Buches gemeint, sondern die Strukturierung des Textes entlang einer religiösen Isotopie, in der das Feld der Macht wortwörtlich verteufelt, als »la diabolicità del potere« verdammt wird, die Suche nach Wahrheit demgegenüber sakralisiert.25 In einem späteren Text, La Sicilia come metafora (1989), geht Sciascia noch weiter und setzt diejenigen, die Aldo Moro aus dem politischen Feld und damit aus dem Feld der Macht seinerzeit ausgrenzten,26 explizit mit Inquisitoren gleich: »[...] ho parlato di quanto inquisitorio fosse il suo linguaggio, tipico della vecchia Inquisizione cattolica.«27 Aldo Moro wird damit umgekehrt zum Häretiker, und Sciascia kann die politische Gegenwart Italiens über die religiöse Opposition »Inquisitor« versus »Häretiker« modellhaft lesbar machen. »Ho voluto scrivere più un libro religioso que un libro politico«28, sagte Leonardo Sciascia später über L’affaire Moro und bestätigt damit die Analyse, wonach seine Wortmeldungen im politischen Feld die Hierarchien dieses Feldes zu umgehen versuchen oder sie (literarisch) leugnen. Aus diesem Grund beschreibt Sciascia die Wochen, in denen der Politiker Aldo Moro um sein Überleben kämpft, in den Kategorien einer Passion: weil er eine »gran pietà«29 für Aldo Moro empfindet. Ebenfalls bedeutsam ist aber auch, dass sich in dem Buch über Aldo Moro wie auch schon in früheren Romanen das kritische Potential eines polyphonen Gegendiskurses zum monologischen Diskurs der Macht über sich selbst erst in der Außenperspektive des Lesers vollendet.

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Vgl. Claude Ambroise: Polemos. In: Leonardo Sciascia: Opere. Vol. II, Mailand 1989, S. XIX. Sciascia: L’affaire Moro, S. 553. Sciascia nennt explizit »sociologi e psichiatri hanno dimostrato como sanno servire al potere« (Sciascia: La Sicilia come Metafora, S. 130). Sciascia: Metafora, S. 131. Sciascia: Metafora, S. 132, ähnlich auch in Lajolo/Sciascia: Conversazione, S. 31. Sciascia: Metafora, S. 131.

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3. Die Aufgabe des Intellektuellen: Selbstbeschränkung, Empathie plus Distanz Die Frage nach der Wahrnehmung von Geschichte ist eine Frage nach der (öffentlichen) Meinung. Nach Leonardo Sciascias Lektüre der Texte aus dem Feld der Macht ist evident, dass die öffentliche Meinung auf keinen Fall in einem herrschaftsfreien Diskurs und unter den Bedingungen störungsfreier Kommunikation zustande kommt, sondern hierarchisch gesteuert, zensiert und manipuliert sowie unter Rückgriff auf bewusst intransparent gehaltene Besitzverhältnissen an den Medien selbst. Es ist genau diese fehlende (ökonomische und politische) Freiheit eines großen Teils derjenigen großen Zeitungen und der staatlich kontrollierten Sender, die die Meinungsbildung maßgeblich beeinflussen, welche die Möglichkeiten der Intervention der Intellektuellen einschränkt. Seit Emile Zola sind sie auf Medien angewiesen, die ihre Stimme hörbar machen, idealerweise ohne sie von vornherein diskursiv zu determinieren. Genau dies geschah aber im Zusammenhang mit der Moro-Entführung: Wer sich nicht für die »harte Linie« einsetzte, stand implizit im Verdacht, für die »Terroristen« zu sein. Aus dieser Begrenzung der Interventionsmöglichkeiten des Intellektuellen befreit sich Sciascia, der zu anderen Zeiten durchaus regelmäßig in Tageszeitungen veröffentlichte, indem er sich einerseits allein auf die genuin literarische Intervention zurückzieht, wo er das diskursive Umfeld sowie die Besitzverhältnisse an den Medien besser kennt; und es ist kein Zufall, dass L’affaire Moro zuerst in Frankreich erschein, einige Wochen vor der italienischen Ausgabe. Anderseits beschränkt er sich in seinem Buch auf eine streng philologische Herangehensweise, womit er ebenfalls seine Autonomie absichert. Und schließlich tritt er am Ende als Autor zurück und überantwortet die Semiose seiner Analyse letztlich dem Leser, der nun in seinem Umgang mit dem Text über die (flüchtigen) Fakten und Ereignisse alle Freiheit zur eigenen Urteilsbildung hat. Seine eigene Aufgabe als Intellektueller sieht Sciascia darin, vor allem die komplexen Kommunikationsbedingungen des in Frage stehenden Ereignisses zu beschreiben, zu analysieren und (intertextuell) einzuordnen. Auf eine Diskussion der Fakten und Ereignisse selbst möchte er sich so wenig wie möglich einlassen, weil er weiß, dass er auf diesem Gebiet keine Deutungshoheit beanspruchen kann. Nun hat seine Sicht auf die Moro-Entführung auch ihre spezifischen blinden Flecken, denn der Rückgriff auf die religiöse Isotopie ist für sein Gesamtwerk ein ebenso typisches Motiv wie die identifikatorische Annäherung an das Opfer oder die Apologie der (erkenntnisfördernden) Isolation des Subjekts.30 Dennoch skizziert Sciascias Buch eine Rollenbeschreibung des Intellektuellen, die in Anbetracht der mit ihr erreichten luziden Schlüsse über den Tag hinaus bedenkenswert ist: Erstens muss er sich beschränken auf das, wovon er etwas versteht (in seinem Fall auf den Umgang mit dem geschriebenen Wort), zweitens muss er sich seinen

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Zu diesen Leitmotiven cf. Buschmann: Die Macht und ihr Preis, S. 115ff., 148ff. und 196ff.

Italien 1978: Der Fall Aldo Moro

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Gegenstand, seinem Gegenüber mit maximaler Empathie nähern, um ihn wirklich verstehen zu können, doch muss dies drittens mit maximaler Distanz zu den anderen Akteuren im Feld der Macht wie im intellektuellen Feld geschehen. Vor allem die beiden letzten Punkte, die Verknüpfung von (emotionaler) Nähe zum Gegenstand und (rationaler) Distanz zum diskursiven Umfeld, beschreiben eine große Herausforderung.

Bibliographie Ambroise, Claude: Polemos. In: Leonardo Sciascia: Opere Vol.II, Mailand 1989, S. VII– XXVIII. – Invito alla lettura di Leonardo Sciascia, Mailand 31995. Borges, Jorge Luis: Ficciones. Madrid 1971. Bourdieu, Pierre: Champ du pouvoir, champ intellectuel et habitus de classe. In: Scolies 1 (1971), S. 69–93. – Die verborgenen Mechanismen der Macht. Hamburg 1997. Buschmann, Albrecht: Die Macht und ihr Preis. Detektorisches Erzählen bei Leonardo Sciascia und Manuel Vázquez Montalbán. Würzburg 2005. Clementi, Marco: La pazzia di Aldo Moro. Mailand 2006. Dauphiné, James: Leonardo Sciascia, qui êtes vous? Paris 1990. Gentile, Sara: L’isola del potere. Metafore del dominio nel romanzo di Leonardo Sciascia. Roma 1995. Ginzburg, Carlo: Der Richter und der Historiker. Überlegungen zum Fall Sofri. Berlin1991. Jurt, Joseph: Das literarische Feld. Das Konzept Pierre Bourdieus in Theorie und Praxis. Darmstadt 1995. Lajolo, Davide/Sciascia, Leonardo: Conversazione in una stanza chiusa. Mailand 1981. Montanelli, Indro/Cervi, Mario: L’Italia degli anni di piombo (1965–1978). Milano 1991. Onofri, Massimo: Storia di Sciascia. Rom/Bari 1994. Raith, Werner: In höherem Auftrag. Der kalkulierte Mord an Aldo Moro, Berlin 1984. Satta, Vladimiro: Odissea nel caso Moro. Viaggio controcorrente attraverso la documentazione della Commissione Stragi. Rom 2003. Savoia, Salvatore: Aldo Moro: …l’iniquia ed ingrata sentenza della D.C.. Massafra 2006. Sciascia, Leonardo: L’affaire Moro. In: ders.: Opere Vol. II. Milano 1989, S. 463–599. – Nero su Nero. In: ders.: Opere Vol. II. Milano 1989, S. 601–846. – La Sicilia come metafora. Intervista di Marcelle Padovani. Mailand 1989. – Quaderno. A cura di Vittorio Nisticò e Mario Farinella. Palermo 1991. Thompson, Doug: Sciascia, Aldo Moro and ›il linguaggio del nondire‹. In: Perspectives on Contemporary Literature 11 (1985), S. 100–108. Ward, David: Intellectuals, culture, and power in modern Italy. In: The Italianist 21/22 (2001/2002), S. 291–318.

Abstract Auf Grundlage einer knappen Rekonstruktion der italienischen ›anni di piombo‹ sowie von deren ereignisgeschichtlichem Höhenpunkt, der Entführung und Hinrichtung des christdemokratischen Spitzenpolitikers Aldo Moro im Frühjahr 1978

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Albrecht Buschmann

durch die Roten Brigaden, analysiert der Beitrag die problematische Rolle der italienischen Intellektuellen im Spannungsverhältnis zwischen literarischem Feld und Feld der Macht. Mediengeschichtlich liegt die Moro-Entführung, deren Bedeutung für Italien mit der des Kennedy-Attentats für die USA verglichen wird, am Ende jener Konfiguration des intellektuellen Felds, das noch im Wesentlichen durch Printmedien bestimmt wurde. Im Mittelpunkt der nachfolgenden Analyse steht die literarische Reflexion über die Medienkommunikation in diesem besonderen Fall von »Gewalt in sozialer Nähe«, wie sie in Leonardo Sciascias Buch L’affaire Moro (1978/193) aufgefächert wird; bereits mit dem auf die Affäre Dreyfus anspielenden Titel knüpft der Text unmittelbar an die Geschichte bedeutender intellektueller Wortmeldungen des 20. Jahrhunderts an. Das Fazit der Textanalyse kann belegen, dass Sciascias hermeneutische Lektüre der Briefe, die Aldo Moro aus dem ›Volkgefängnis‹ der Brigate rosse schrieb, entsprechend den Leitmotiven seiner anderen zeitkritischer Texte über eine identifikatorische Annäherung an das Opfer auf eine Apologie der (erkenntnisfördernden) Isolation des Subjekts abzielt. Hinzu kommt die Überhöhung des Opfers Aldo Moro, da sein Kampf ums Überleben in den Kategorien einer Passion dargestellt ist. Das metafiktionale Schlusskapitel von L’Affaire Moro zeigt einen Autor, der sich dem Leser überantwortet, der als gottgleich absolut gesetzte Instanz im literarischen Feld figuriert. Zusammenfassend folgert der Beitrag, dass Leonardo Sciascias Rollenmodell für den Intellektuellen des ausgehenden 20. Jahrhunderts vorsah, gleichzeitig maximale (emotionale) Nähe zum Gegenstand herzustellen und zugleich maximale (rationale) Distanz zum diskursiven Umfeld zu wahren. Besonders die zweite Forderung, innerhalb des literarischen Feldes eine Außenposition einzunehmen, trägt utopische Züge.

Hartmut Stenzel

Gewalt ohne Transzendenz? Die französischen Intellektuellen und die Banlieue-Unruhen vom November 2005

I. Der Oberst Dreyfus wird rehabilitiert; die Volksfront triumphiert über die Umsturzversuche der Ligen; die algerische Befreiungsbewegung erreicht die Unabhängigkeit. Diese Einschnitte in der Geschichte Frankreichs gelten neben anderen als Marksteine in der Geschichte des Intellektuellen als einer Leitfigur der französischen Kultur des 20. Jahrhunderts. Man kann trefflich darüber streiten, welche Legitimität oder Kohärenz der Intervention von Intellektuellen in diesen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen zukommt oder welche Bedeutung sie für den Gang der Dinge jeweils gehabt haben. Unstrittig ist jedoch, dass sich seit der Dreyfus-Affäre ein Wahrnehmungs- und Deutungsmuster etabliert, das in der französischen Kultur bis heute eine große Bedeutung entfaltet. Dem sacre des Intellektuellen als einer unabhängigen, nur seinem Gewissen verpflichteten geistigen Instanz kommt in Frankreich im 20. Jahrhundert ein ähnliches Prestige zu wie im vorhergehenden Jahrhundert dem romantischen sacre de l’écrivain. Charles de Gaulles berühmte Äußerung über Jean-Paul Sartre, dessen Verhaftung die rechte Presse wegen seiner Beteiligung am Manifeste des 121 gegen den Algerienkrieg im Herbst 1960 forderte, ruft das symbolische Kapital auf und erkennt es an, mit dem die Intellektuellen in Frankreich gesellschaftliche Geltung beanspruchen können (während kurz darauf ein deutscher Bundeskanzler Intellektuelle als »kleine Pinscher« bezeichnet): »On n’emprisonne pas Voltaire«.1 Die Geschichte der französischen Intellektuellen wird in höchst verschiedenen Perspektiven erzählt.2 Eines ihrer Zentren ist immer wieder die transzendentale Legitimation der intellektuellen Kritik, ihre Begründung in universalistischen Wertsetzungen, in deren Namen Intellektuelle das Wort ergreifen. Ihre Position wird dadurch konstituiert, dass sie sich jenseits pragmatischer Zwänge und Interessen und gegen diese auf transzendentale Prinzipien berufen, deren Geltung sie einkla-

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Vgl. dazu und zum Kontext Annie Cohen-Solal: Sartre 1905–1980. Reinbeck 1988, S. 632–652. Vgl. z. B. Christophe Charle: Naissance des intellectuels, 1880–1900. Paris 1990; Régis Debray: Le pouvoir intellectuel en France. Paris 1979; Bernard Henri-Lévy: Les aventures de la liberté. Paris 1991; Pascal Ory/Jean-François Sirinelli: Les intellectuels en France, de l’affaire Dreyfus à nos jours. Paris 1992; Jean-François Sirinelli (Hg.): Intellectuels et passions françaises. Manifestes et pétitions au XXe siècle. Paris 1996; Jacques Juillard/Michel Winock (Hg.): Dictionnaire des intellectuels français. Paris 1996; Michel Winock: Le siècle des intellectuels. Paris 1997.

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Hartmut Stenzel

gen. Die Intellektuellen wollen sich also selbst, wie Bernard Henri-Lévy etwas blumig formuliert, als »intermédiaires entre le monde et l’universel«3 begreifen, um die unabhängige Position zu begründen, die ihrer Intervention gesellschaftliche Gültigkeit und Akzeptanz verleihen soll. So ergreift Zola das Wort »au nom de l’humanité qui a tant souffert et qui a droit au bonheur«,4 so wenden sich die antifaschistischen Intellektuellen den proletarischen Massen zu »qui veulent enfin l’avènement de l’homme«,5 so erklärt das Manifeste des 121 die »cause du peuple algérien« zur »cause de tous les hommes«.6 Die Idee der Menschheit, ihrer philosophischen und/oder geschichtlichen Bestimmung bietet einen der wichtigsten transzendentalen Bezugspunkte für Intellektuelle, die zur Linken neigen und die damit zugleich auf die aufklärerischen Ursprünge ihrer Position verweisen. Intellektuelle Kritik, so Sartre, die ›klassische‹ Inkarnation des Intellektuellen in einer selbst wieder ›klassischen‹ Formulierung, beruft sich auf eine »conception globale et dogmatique (vague ou précise, moraliste ou marxiste) de l’homme«.7 Die Frage der Gewalt spielt in den Interventionen von Intellektuellen in dieser Tradition eine wichtige Rolle, da sie nur allzu oft Bestandteil der Konflikte ist, zu denen sie Stellung beziehen. Insbesondere in den Diskussionen, die die Auflösung des Kolonialsystems und den algerischen Befreiungskampf thematisieren, spielt die Rechtfertigung der Gewalt eine wichtige Rolle. Der Appel des 121 konfrontiert explizit die legitime »guerre d’indépendance nationale« der Front de Libération Nationale (FLN) mit der illegitimen »guerre impérialiste«, die die französische Armee in Algerien führt.8 Die Idee einer ›gerechten‹ Gewalt, die in diesem Gegensatz präsent ist, wird so immer wieder zu einem Problem, an dem Intellektuelle die Legitimität ihrer Position messen. Sartre beispielsweise begreift die antikolonialistische Gewalt als notwendigen Bestandteil eines Befreiungsprozesses, in dem die Emanzipation von den kolonialen Strukturen selbst ein Resultat der Gewalt ist: Et le colonisé se guérit de la névrose coloniale en chassant le colon par les armes. Quand sa rage éclate, il retrouve sa transparence perdue, il se connaît dans la mesure même où il se fait; de loin, nous tenons sa guerre comme le triomphe de la barbarie; mais elle procède par elle-même à l’émancipation progressive du combattant, elle liquide en lui et en dehors de lui, progressivement, les ténèbres coloniales.9

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Henri-Lévy: Les aventures de la liberté, S. 11. Émile Zola: L’affaire Dreyfus. Hg. von Colette Becker. Paris 1969, S. 124. Jean Cassou zit. n. Franziska Sick: Literaturpolitik und politische Literatur. Zum Selbstverständnis der französischen Romanschriftsteller im Umkreis der Volksfront. Heidelberg 1989, S. 167. Manifeste des 121 zit. n. Olivier Wieviorka/Christophe Prochasson: La France du XXe siècle. Documents d’histoire. Paris 1994, S. 497. Jean Paul Sartre: Situations VIII. Autour de 68. Paris 1972, S. 378. Vgl. Wieviorka/Prochasson: La France du XXe siècle, S. 495f. Jean-Paul Sartre: »Préface«. In: ders.: Situations V. Colonialisme et néo-colonialisme, Paris 1964, S. 167–193, S. 182 (Erstveröffentlichung in: Frantz Fanon: Les Damnés de la terre, Paris 1961).

Gewalt ohne Transzendenz?

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Mehr noch, Sartre spitzt die Legitimität der Gewalt in dem Paradox zu, dass erst in dem gewaltsamen Befreiungsakt das transzendentale Ziel, das dieser Prozess anstrebt, sich realisieren könne, nämlich die Menschwerdung der Kolonisierten: Quand les paysans touchent des fusils, les vieux mythes pâlissent, les interdits sont un à un renversés: l’arme d’un combattant, c’est son humanité. Car en ce premier temps de la révolte, il faut tuer: abattre un Européen, c’est faire d’une pierre deux coups, supprimer en même temps un oppresseur et un opprimé: restent un homme mort et un homme libre.10

Die pathetische Wendung, in der Sartre die Verwirklichung von Humanität und Freiheit mit der Anwendung von Gewalt verbindet, ist viel diskutiert und heftig kritisiert worden. Mich interessiert hier nur die Argumentationsfigur, in der eine positive Setzung von Gewalt mit einer transzendentalen Wertsetzung begründet wird. Sie zeigt exemplarisch eine Grundposition der traditionellen Intervention von Intellektuellen. Dem Reich der Faktizität und der praktischen Zwecke halten sie ein normatives Regulativ humanistischer Prinzipien entgegen, in dessen Namen sie Stellung beziehen und (ver)urteilen, in dessen Namen sie damit in Konflikten Position beziehen und sich diese deutend aneignen können. Dieses Regulativ ist nur transzendental begründbar und moralische Probleme wie das der Gewaltanwendung sind ihm dann notwendigerweise untergeordnet. Nur der Rückgriff auf die Absolutheit einer solchen Wertordnung kann die Intervention und die Deutungsmacht der Intellektuellen begründen, die letztlich auch die Rechtfertigung von Gewalt ermöglicht. An der Frage der Legitimität von Gewalt wird besonders deutlich, wie die kulturelle Geltung der Figur des Intellektuellen an die Plausibilität und die Akzeptanz eines »méta-récit« gebunden ist, der es ermöglicht, Aspekte und Ereignisse der vorfindlichen Wirklichkeit als defizitär und kritikwürdig zu beurteilen und der es erlaubt, Perspektiven ihrer Veränderung zu konstruieren. Mit dieser diskursiven Herrschaftsgeste scheint es in der Postmoderne aus vielfältigen Gründen nun vorbei zu sein – Geltungsanspruch und Deutungsmacht der Intellektuellen geraten in eine Krise, die in vielfältiger Weise mit dem Verlust ihrer transzendentalen Legitimation zu tun hat.11 Schon 1980, im Todesjahr Sartres, verkündete die neu gegründete Zeitschrift Le Débat das Ende der Intellektuellen, zumindest in jener traditionellen Funktion des »intellectuel-oracle«, die Sartre zuletzt repräsentiert hatte und die nun durch eine Verwissenschaftlichung der kritischen Positionen abgelöst werde. Mit dem Verweis auf den Verlust jener universellen Werte und Gewissheiten, auf denen die »méta-récits« aufbauen, beerdigt Jean-François Lyotard selbst wenige Jahre später den Intellektuellen,12 während Régis Debray die universalistische Legitimation seiner Position schon früher in ihrer Banalisierung durch die postmoderne Medienwelt verschwinden sah. Das Medienspektakel habe

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Sartre: Préface, S. 183. Vgl. zum Folgenden Winock: Le siècle des intellectuels, S. 608ff. Jean-François Lyotard: Tombeau de l’intellectuel et autres papiers. Paris 1984.

Hartmut Stenzel

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die philosophische Reflexion ersetzt, so die Diagnose Debrays, und den universalistischen Anspruch des Intellektuellen unterminiert.13 Diese Sicht radikalisiert Debray um die Jahrtausendwende in seinem Abgesang auf den »intellectuel français« (I. F.). Der traditionelle Intellektuelle, der »intellectuel original« (I. O.), sei von seinem medientauglichen ›Zombie‹, dem »intellectuel terminal« (I. T.), abgelöst worden, der den intellektuellen Diskurs nur noch angepasst simuliere.14 Debrays Position wird – anders als die Lyotards – von einer nostalgischen Perspektive bestimmt, die etwa die ›klassische‹ Figur Zolas aufruft, in deren Namen der »I. O.« als eine eigenständige geistige Macht jenseits des und gegen das politische Feld beschworen werden kann. Der »I. T.« hingegen habe diesen Anspruch für das Linsengericht medialer Wirksamkeit verkauft, um den Preis der Anpassung an die herrschenden Diskurse und die Mechanismen des Medienbetriebs. Die transzendentale Verankerung intellektueller Kritik wird damit zu einer Legitimationsgeste ohne inhaltliche Bedeutung. Ihr Anspruch ist Debray zufolge nicht nur (oder nicht einmal in erster Linie) wegen der Fragwürdigkeit überindividueller Gewissheiten hohl geworden, sondern auch wegen der Dominanz der Medien über die Inhalte.

II. Eine solche Sicht des Geltungsverlusts intellektueller Diskurse ist nun selbst wieder deutlich von den französischen Verhältnissen geprägt, von der dort bis heute wirksamen Konstruktion der Figur des Intellektuellen allgemein wie von den spezifischen Bedingungen, die in Frankreich ihre kulturelle Bedeutung relativiert haben. Der Funktionswandel und -verlust des Intellektuellen als kultureller Leitfigur ist ebenso wie seine Entstehung eine französische Affäre. Sie wird von der erfolgreichen medialen Selbstinszenierung der als »nouveaux philosophes« auftretenden losen Gruppierung junger Intellektueller Ende der siebziger Jahre angestoßen, die vor allem gemeinsam haben, dass sie aus dem Umfeld der radikalen politischen Bestrebungen von Mai 68 stammen und diese nun beerdigen bzw. für von vorneherein illusionär erklären.15 Ein wichtiger Einschnitt ist danach die Ernüchterung der Intellektuellen, die sich in den ersten Jahren der Präsidentschaft François Mitterrands für die Sozialisten engagieren.16 Beide Episoden stehen in engem Zusammenhang mit der Auflösung der Hoffnungen auf grundlegende

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Vgl. Régis Debray: Le pouvoir intellectuel en France. Paris 1979. Vgl. Régis Debray: I.F. suite et fin. Paris 2001. Vgl. dazu Serge Quadruppani: Catalogue du prêt à penser français depuis 1968. Paris 1983, insbes. Kap. II. Vgl. dazu die Darstellung von Joseph Jurt: »Le silence des intellectuels«? Zu einer Debatte im Frankreich Mitterands. In: Esprit civique und Engagement. Festschrift für Henning Krauß zum 60. Geburtstag. Hg. von Hanspeter Plocher und Bernadette Malinowski. Tübingen 2003, S. 277–293.

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gesellschaftliche Veränderungen, die nach der Bewegung von Mai 68 viele Intellektuelle mobilisierten und die nach dem Wahlsieg der Sozialisten erneut auf der Tagesordnung zu stehen schienen.17 Régis Debray, dessen Verabschiedung dieser kulturellen Tradition oben angeführt wurde, repräsentiert diesen Zyklus der Erwartungen und Enttäuschungen engagierter Intellektueller seit Mai 68 exemplarisch. Seine desillusionierte theoretische Deutung hat eine selbstkritische Dimension, die sich mit seinen eigenen Interventionen, aber auch mit seinen Erfahrungen als zeitweiser »conseiller spécial« Mitterrands auseinandersetzt.18 Nach den großen Kontroversen der auf den Einschnitt von Mai 68 folgenden Jahre sieht Debray einen Beleg für die Entwicklung der Figur des Intellektuellen zum »I. T.« in den »Débats« betitelten, seit den 1990er Jahren regelmäßig erscheinenden Seiten der großen Tageszeitungen. Sie machen die Stellungnahmen von Intellektuellen, die wegen ihrer medialen Position regelmäßig um Meinungsäußerungen gebeten werden, zu einem journalistischen Tagesgeschäft und nehmen ihnen dadurch ihren Ereignischarakter und ihre Bedeutung (und im Übrigen zumeist auch die Betroffenheit als Motiv). Ob zu Fragen des Schulwesens, des Laizismus, zu Kopftuch tragenden muslimischen Schülerinnen oder zu den Problemen der Immigration, die Stellungnahmen der Intellektuellen funktionieren dort nach einem Mechanismus, den Debray als ein »système de réflexes partagées« kennzeichnet,19 eine Produktion von vorhersagbaren Reaktionen auf Ereignisse oder Debatten aller Art, die gerade Aktualitätswert haben. Wenn intellektuelle Interventionen traditionell zumindest auch Ausdruck persönlichen Engagements, des Einsatzes für die Gültigkeit einer bedroht erscheinenden transzendentalen Wertordnung waren (sie dienten natürlich immer auch der Konstruktion von symbolischem Kapital), so werden sie hier dadurch banalisiert, dass die üblichen Verdächtigen stereotyp ihre meist ohnehin bekannten Positionen deklamieren. Zwar stehen durchaus zentrale gesellschaftliche Konflikte und Wertvorstellungen zur Diskussion. Doch die Stellungnahmen simulieren eine Dringlichkeit, die tatsächlich nur die des medialen Tagesgeschäfts ist und von der man zur Tagesordnung übergeht, sobald ein Thema seine Aktualität und Medienpräsenz verliert.20 Diese Überlegungen zur kulturellen Banalisierung aktueller intellektueller Interventionen in Frankreich wie zu deren medialer Bedingtheit skizzieren den Horizont, in dem die folgende Darstellung argumentiert. Zum einen geht es weitgehend um Texte, die als Stellungnahmen zu oder Auseinandersetzungen mit den

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Vgl. dazu Jean-Jacques Becker/Pascal Ory: Crises et alternances 1974–2000. Paris 2002, S. 247–281. Vgl. die Darstellung seiner Erfahrungen mit den sozialistischen Machthabern in: Régis Debray: Loués soient nos seigneurs. Une éducation politique. Paris 1996. Debray: I. F. suite et fin, S. 48. Vgl. dazu die Darstellung der ersten Kopftuchdiskussion um 1990 bei Pierre Birnbaum: La République imaginée. Paris 1998, 290ff. Sie beginnt mit einem großspurig »Le Munich de l’école républicaine« betitelten Text einiger Intellektueller auf der Seite »Débats« von Le Monde, um bald in juristischen Detailfragen zu münden, die für die Medien nicht mehr von Interesse sind.

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Banlieue-Unruhen vom November 2005 in den Diskussionsseiten von Le Monde und Libération veröffentlicht worden sind, also von einem der medialen Dispositive konfiguriert werden, das im letzten Jahrzehnt bestimmend für die Präsenz von Intellektuellen in der französischen Öffentlichkeit ist. Zum anderen greifen die hier untersuchten Texte in unterschiedlicher, aber strukturell vergleichbarer Weise eine zentrale transzendentale Argumentationsfigur auf, die zugleich für die erinnerungskulturelle Dimension der aktuellen gesellschaftlichen Konflikte in Frankreich wie für die postmoderne Banalisierung intellektueller Interventionen aufschlussreich ist: den republikanischen Universalismus.21 Nun ist das Wertsystem der Republik zweifellos ein wesentlicher Bestandteil der traditionellen französischen Identitätskonstruktion; insofern vermag es nicht verwundern, dass es als Bezugspunkt der Auseinandersetzung mit einer gesellschaftlichen Krisensituation eingesetzt wird. Gerade deshalb aber zeigt der Rückgriff darauf den stereotypen Charakter der intellektuellen Diskussion über die Unruhen. Denn der republikanische Laizismus, als Ersatz für die Verdrängung der Religion aus dem öffentlichen Raum entstanden, stellt Wertvorstellungen bereit, die vage genug sind, um konsensfähig zu sein und die es zugleich ermöglichen, Anspruch auf Allgemeingültigkeit zu erheben.22 Er ist daher in den letzten Jahrzehnten insbesondere in den Diskussionen um die Probleme einer multikulturellen Gesellschaft mobilisiert worden, in denen er die Funktion erhielt, eine als bedroht wahrgenommene kulturelle Hegemonie zu legitimieren.23 Der Rückgriff auf das republikanische Wertsystem wird so zu einem archimedischen Punkt, der das Problem einer beunruhigenden und nicht verstehbaren Explosion von Gewalt ohne allzu großen Analyse- und Deutungsaufwand zu denken erlaubt und es ermöglicht, ihre Fremdheit in einen Verstehenszusammenhang zu integrieren. Es soll im Folgenden gezeigt werden, dass verständnisvoll sympathisierende wie kritische Deutungen in vergleichbarer Weise den Unruhen Klischees von republikanischen Idealvorstellungen überstülpen, mit denen die unlösbar erscheinenden Probleme ethnischer und kultureller Alterität wie sozialer Verelendung verdeckt werden, die den seit langem andauernden Problemen der Banlieues zu Grunde liegen. Insbesondere das Postulat der »égalité« erhält in diesem Kontext eine fatale Ambivalenz, insofern es zugleich für die Forderung nach Gleichheit der Lebenschancen wie auch für eine Abwehr des kulturell Fremden aufgerufen werden kann. Die Deutung der Unruhen, so meine These – sei es als Ausdruck der Ablehnung republikanischer Werte, sei es als Einklagen von Defiziten ihrer Verwirklichung – stabilisiert trotz seiner hochtrabend verkündeten Werte ein postkoloniales System der sozialen und kulturellen Ausgrenzung des Fremden, auf

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Vgl. dazu allgemein Susanne Hartwig/Hartmut Stenzel: Einführung in die französische Literatur- und Kulturwissenschaft. Stuttgart 2007, Kap. 4.3.4, sowie Pierre Bouretz: La République et l’universel. Paris 2000. Vgl. Bouretz: La République et l’universel, S. 15–21. Vgl. Bouretz: La République et l’universel, S. 210–216 sowie Hartwig/Stenzel: Einführung in die französische Literatur- und Kulturwissenschaft, S. 314–318.

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der die nationale Identität Frankreichs aufbaut. Der Rückgriff auf das republikanische Wertsystem begründet eine Deutungshoheit intellektueller Diskurse, die nicht ein Verstehen des bedrohlich erscheinenden Fremden, sondern seine Vereinnahmung oder Ausgrenzung zur Folge hat – zumindest soweit es sich nicht assimilieren lassen will.24 Von solchen Überlegungen ausgehend wird dann zu untersuchen sein, in welche Beziehung die Gewalt der Unruhen zu diesem Wertsystem gesetzt werden kann, ob und in welcher Weise sie darin domestiziert oder ihr darin gar eine transzendentale Legitimation zugewiesen werden kann.

III. Charakteristisch für die Auseinandersetzung mit den Unruhen in der französischen Öffentlichkeit ist es, dass die grundlegenden sozialen und kulturellen Konflikte, die darin zum Vorschein kommen, erst durch die mediale Aufbereitung spektakulärer Szenen von Zerstörung und Gewalt als gesellschaftliches Problem wahrgenommen werden. Erst im Herbst 2005 wurde in einer breiten Öffentlichkeit darüber diskutiert, dass die Wohnblocks der großen Vorstädte zu sozialen Brennpunkten geworden sind. Bis dahin war die soziale und kulturelle Marginalisierung der Vorstadtbewohner zwar immer bekannt, aber als grundsätzliches Problem allenfalls kurzzeitig ins öffentliche Bewusstsein gedrungen. Die dramatische Zuspitzung und Ausweitung der Unruhen im Herbst 2005 sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass solche Ereignisse in weniger spektakulärer Form in den letzten Jahrzehnten fast zum Alltag der französischen Vorstädte gehörten. Erst jetzt aber werden die damit verbundenen Probleme zum allgegenwärtigen Thema der Medien und damit auch zum Gegenstand der Stellungnahmen von Intellektuellen. Die Geschichte der Banlieues wie diejenige der mehr oder weniger ernsthaften Reformversuche dieser Stadtviertel, die allesamt keine grundlegenden Veränderungen bewirkt haben, reicht bis in die siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts zurück.25 Es ist die Geschichte der systematischen Marginalisierung einer postkolonialen Immigration (mit ihrer kolonialen Vorgeschichte), die dadurch charakterisiert ist, dass ein großer Teil der Arbeitsimmigranten, die im wirtschaftlichen Boom insbesondere zwischen 1950 und 1970 ins Land kamen, und die, mehr noch ihre Kinder, die französische Staatsbürgerschaft als Angehörige der (ehemaligen) Kolonien bereits besaßen oder in den liberalen Phasen der inkohärenten französi-

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Was auch immer man von der Politik des Präsidenten Nicolas Sarkozy denken mag, es ist jedenfalls bemerkenswert, dass er in seiner Rede vom 8. Februar 2008 über den von ihm initiierten »Plan Banlieue« zumindest in Ansätzen den Versuch unternimmt, »égalité« und »diversité« (die zu einem Verfassungsgrundsatz werden soll) miteinander zu verbinden. Er sieht die Anerkennung kultureller Alterität als den »enjeu de civilisation« an, der Voraussetzung für eine Änderung der Lage in den Vorstadtghettos ist (Sarkozy zit n. www.elysee.fr/download/index.php?mode=edito&id=33 (22.2.2008)). Vgl. die sukzessive Chronologie in: Banlieues. Trente ans d’histoire et de révoltes. Manière de voir. In: Le Monde diplomatique, Nr. 89, 2006, S. 11, S. 21, usw.

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schen Immigrationspolitik zuerkannt bekamen.26 Die Marginalisierung, der sie ausgesetzt waren, hat schon früh zu einer Ghettobildung geführt, zunächst in Wohnheimen und Barackensiedlungen (den so genannten bidonvilles), danach in Teilen der Wohntürme jener in den sechziger Jahren schnell erbauten Vorstädte, die von ihren ursprünglichen Bewohnern verlassen worden waren.27 Soziale und kulturelle Marginalisierung sowie die in dieser Entwicklung entstehende multikulturelle Realität Frankreichs führten solange nicht zu größeren Problemen, solange die wirtschaftliche Prosperität der Nachkriegszeit (der Trente Glorieuses) andauerte. Mit dem Beginn der wirtschaftlichen Krise seit Mitte der siebziger Jahre werden die Banlieues vieler französischer Städte dann zunehmend zu Konfliktherden, wozu die wachsende Fremdenfeindlichkeit (mit dem Erstarken des Front National) ebenso beiträgt wie eine Bildungs- und Sozialpolitik, die sie systematisch vernachlässigt. In dieser Entwicklung verbindet sich die ethnische Abgrenzung mit einer sozialen Ausgrenzung, was sich etwa daran zeigt, dass die Banlieues vieler französischer Städte zugleich Gebiete mit weit über dem Durchschnitt liegender Arbeitslosigkeit und Abhängigkeit von Sozialhilfe sind.28 Entscheidend für die Genese der Unruhen sind nun zwei Aspekte, die in der soziologischen Forschung zu den Vorstädten seit langem dargestellt und analysiert werden. Zum einen kann man sie als Reaktion auf die strukturelle Gewalt verstehen, die die soziale Marginalisierung insbesondere auf die dort lebenden Jugendlichen ausübt.29 Zum anderen aber kann man die Unruhen als Abwehrreaktion verstehen, als eine Verteidigung des eigenen Territoriums gegen Eingriffe ›von außen‹. Denn die Marginalisierung hat auch einen Territorialisierungseffekt zur

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Vgl. dazu die umfassenden Darstellungen von Gérard Noiriel: Le creuset français. Paris 1988 (insbesondere für die Immigration bis nach dem zweiten Weltkrieg) sowie Patrick Weil: La France et ses étrangers. Paris 2004 (für die letzten Jahrzehnte). Vgl. dazu den Überblick in Patrick Weil: La République et sa diversité. Immigration, intégration, discriminations. Paris 2005, S. 47ff. Am Beispiel einzelner Vorortviertel ist diese Entwicklung in den letzten Jahren immer wieder dargestellt worden, vgl. z. B. Christian Bachmann/Luc Basier: Mise en images d’une banlieue ordinaire. Paris 1989; Pierre Bourdieu/Alain Accardo: La misère du monde. Paris 1993, S. 125–262; Daniel Lepoutre: Cœur de banlieue. Codes, rites et langages. Paris 2001; Dominique Bromberger: Clichy-sous-Bois. Paris 2006 oder Bertrand Bissuel/Sandrine Blanchard/Benoît Hopquin/Catherine Rollot/Xavier Ternisie: Du »paradis« au ghetto: l’histoire de la Rosedes-Vents. In: Le Monde (18.11.2005). Vgl. die Darstellung Banlieues. Trente ans d’histoire et de révoltes. S. 6f. – 2004 stellt ein offizieller Bericht über die Situation der Banlieues fest: »Cette situation de crise n’est pas le produit de l’immigration. Elle est le résultat de la manière dont l’immigration est traitée. […] Les pouvoirs publics sont confrontés à une situation qui s’est créée progressivement au cours des dernières décennies« (zit. n. ebd., S. 13). »Ces violences urbaines […] sont avant tout l’expression de la violence inerte des structures économiques et d’une violence sociale qui pèse depuis vingt ans sur les jeunes peu qualifiés – et tout particulièrement sur les jeunes des cités.« Stéphane Beaud/Michel Pialoux: Violences urbaines, violences sociales. Genèse des nouvelles classes dangereuses. Paris 2003, S. 380.

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Folge, eine Aneignung der erbärmlichen Lebenswelt, in der insbesondere die Jugendlichen eine Identifikation mit ›ihrem‹ Bereich der Vorstädte entwickeln, der ihnen – nicht zuletzt durch den Rückzug der staatlichen Institutionen – überlassen bleibt.30 Diese Versuche, zu der eigenen Lebenswelt trotz allem ein positives Verhältnis zu entwickeln, erklärt im Übrigen auch die wachsende Bedeutung des Islam bei den Immigranten der zweiten und dritten Generation in den Vorstädten. Er wird dort zum Bestandteil von Konstruktionen einer von der dominanten Kultur nicht domestizierten Identität und fungiert dadurch als Gegenpol zu den Identitätsmustern, die die Banlieue-Bewohner und insbesondere die Jugendlichen ausgrenzen.31 Ihr Territorium wird jedenfalls in vielfältiger Weise zum Bezugspunkt eines Gruppenbewusstseins, das gegen die Ausgrenzung alternative Identitäten entwirft. Die Verbindung von sozialer und kultureller Marginalisierung führt gerade dann zu einer Gewaltbereitschaft der Jugendlichen, wenn sie sich in dem Raum der Vorstädte bedroht fühlen, in dessen Grenzen sie ihre Identität suchen müssen. In dieser Hinsicht ist die Gewalt, die in den Unruhen ausbricht, durchaus verstehbar; sie ist zugleich ein Protest gegen die Lebensverhältnisse und eine spontane Form der Zurückweisung von Übergriffen der Staatsgewalt in das ›eigene‹ Territorium. Das Geschehen selbst, das die Unruhen auslöst, ist an sich dramatisch genug: drei von der Polizei zur Ausweiskontrolle angehaltene Jugendliche aus Clichysous-Bois, einem der vielen Vorstadtghettos der Pariser Banlieue, flüchten in eine Transformatorenstation, wo zwei an einem Stromschlag sterben und der dritte schwere Verbrennungen davonträgt. Es hat vor allem deshalb so spektakuläre Folgen, weil es die alltägliche Erniedrigung vor allem der jugendlichen Vorstadtbewohner durch grundlose Ausweiskontrollen mit einer Grenzüberschreitung durch die Polizei verbindet, die in den Wohnblöcken ihrer Cité ansonsten praktisch nicht präsent ist.32 In wenigen Tagen breiten sich Demonstrationen und Aktionen weit über die Pariser Region aus. Mit den gewaltsamen Aktionen gegen Gegenstände und Institutionen der Alltagskultur (von Autos bis hin zu Bibliotheken und Schulen) werden keinerlei Forderungen oder Ziele verbunden, geschweige denn Veränderungen angestrebt. Über vierzehn Tage im November demonstrieren die losen Jugendbanden vieler Vorstädte vor allem, dass sie ihr Territorium beherrschen und dass sie trotz der Polizeipräsenz imstande sind, mit spektakulären

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Vgl. dazu Lepoutre: Coeur de banlieue, Kap. I; Cyprien Avenel: Sociologie des »quartiers sensibles«. Paris 2004, Teil II, sowie Bromberger: Clichy-sous-Bois, S. 64ff. und S. 169ff. So Nathalie Kapko: Communauté d’expériences et diversité des trajectoires. In: Émeutes urbaines et protestations. Hg. von Hugues Lagrange und Marco Oberti. Paris 2006, S. 81– 104. S. 97: Der Islam gebe den Jugendlichen die Möglichkeit, »de partir en quête d’une autre image d’eux-mêmes que celle que leur renvoient leurs trajectoires scolaire et professionnelle.« Vgl. hierzu und zum Folgenden Hugues Lagrange/Marco Oberti: Émeutes urbaines et protestations. Une singularité française. Paris 2006, S. 37–58 und Bromberger: Clichysous-Bois, S. 169–184.

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Aktionen Beachtung in den Medien zu finden. Danach kehrt wieder der Alltag ein und damit auch die alltägliche Missachtung und Ausgrenzung. Zwei Jahre später, anlässlich ähnlicher, wenn auch wenig spektakulärer Unruhen (zwei Jugendliche wurden in Villiers-le-Bel von einer Polizeistreife angefahren und getötet), titelt Le Monde »Les banlieues restent sinistrées, deux ans après les émeutes«.33 Nüchtern, mit einem eher resignativen als zynischen Unterton hat Dietmar Dath in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) vom 9. November 2005 die mit den Unruhen manifest gewordene Grundproblematik schon kurz nach ihrem Beginn kurz und bündig dargestellt. Sie seien eine unabwendbare, zyklisch wiederkehrende Normalität, solange die Vorstadtbewohner nicht die gleichen Lebensbedingungen hätten wie der Mehrheit der französischen Bevölkerung: »Wenn eine Gesellschaft, die so hochindustrialisiert ist wie die hiesige, keine andere Form des Gesellschaftszusammenhangs erfinden kann als die Lohnarbeit, muss sie mit solchen Zyklen leben.«34

IV. So bleibt von den Unruhen vom November 2005 in erster Linie das Medienereignis, zu dem die soziokulturelle Konfliktlage der Vorstädte durch spektakuläre Gewalttaten wird. Zwei Monate lang sind daher die Diskussionsseiten der großen französischen Tageszeitungen voll von Stellungnahmen und Aufrufen, in denen alle, die sich dazu berufen fühlen, ihre Sicht der Probleme, ihre Deutungen und Lösungsvorschläge formulieren. Ihr Problem besteht allerdings darin, dass zwar spektakulär und fernsehwirksam Autos und Schulen gebrannt haben, dass Gruppen von Jugendlichen sich Straßenschlachten mit Polizeikräften geliefert haben, dass aber all dies ohne ein erklärendes Wort geblieben war. Die Akteure der Unruhen haben gehandelt, ohne sich zu legitimieren oder gar ihrer Gewalt einen über sich selbst hinaus weisenden Sinn zu geben. Ihre Aktionen waren allenfalls defensiv gemeint und nicht mit Forderungen verbunden; sie hatten keinen transzendentalen Bezugspunkt. Jetzt ergreifen unter anderem Intellektuelle das Wort, um die Erklärungen nachzuliefern, die die Aufständischen nicht gegeben haben. Oder zumindest um zu erklären, dass es keine Erklärung gebe, dass die Unruhen mithin Ausdruck eines »nihilisme« des »nique-tout« seien, wie der längst von seiner Begeisterung für die Kulturrevolution bekehrte André Glucksmannn in hochmütiger Ignoranz schreibt.35 Diese Sicht stellt letztlich nur die negative Variante einer Deutungsarbeit dar, in der der ziellosen und spontanen Gewalt der Unruhen eine politische Bedeutung und damit eine Transzendenz zugeschrieben werden soll.

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Luc Bronn: Les banlieues restent sinistrées, deux ans après les émeutes. In: Le Monde (26.10.2007). Dietmar Dath: Brandmodernisierung. Der französische Ausnahmezustand bestätigt die Normalität. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (9.11.2005), S. 39. Vgl. André Glucksmann: Les feux de la haine. In: Le Monde (22.11.2005).

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Diese Deutungsversuche erscheinen umso dringlicher, als angesichts der nur auf sich selbst verweisenden Logik destruktiv erscheinender Gewalt die Unruhen als Absage an das republikanische Projekt nationaler Identität verstanden werden können. So mag es nicht verwundern, dass im Zentrum der meisten Stellungnahmen die Frage steht, wie die nicht artikulierte, aber in den Gewaltaktionen praktisch manifestierte Abwendung von den Versprechungen des republikanischen Gleichheitsideal in einen identitären Konsens reintegriert werden kann. Das republikanische Wertsystem wird zu einem transzendentalen Bezugspunkt, von dem aus die Gewalt gedacht und damit auch diskursiv beherrscht werden kann. Das gilt selbst für die eben bereits angesprochene, negativ wertende Deutung der Unruhen, die deren pauschale Verurteilung mit dem Argument legitimiert, dass sie eine Negation republikanischer Wertvorstellungen beinhalten, die es zu bekämpfen gelte. Diese Argumentation ist nicht weit entfernt von der Kriminalisierung der Aufständischen, die (so in dem bekanntem Diktum Nicolas Sarkozys – damals noch als Innenminister amtierend – von der »racaille«, von der man die Vorstädte reinigen müsse) die Gewalt als den Versuch von Verbrecherbanden deutet, sich Zonen zu schaffen, in denen sie ungestört ihren kriminellen Geschäften nachgehen könnten.36 Am deutlichsten geht Alain Finkielkraut in diese Richtung, ähnlich wie Glucksmann, einer der Medienstars der derzeitigen französischen Intellektuellenszene. In seinen Publikationen wie in den regelmäßigen Gesprächsrunden, die er auf France Culture leitet, vertritt er einen rigiden, betont patriotischen Republikanismus, dessen Akzeptanz er als undiskutierte Norm setzt und von dessen fragloser Geltung aus er auch die Unruhen deutet.37 Die Geschichte seiner Stellungnahmen ist selbst eine kleine Affäre in der Affäre der Banlieue-Aufstände. Sie beginnt mit einem Interview in der israelischen Zeitung Haaretz am 18. November, das kurzzeitig auf der Homepage dieser Zeitung stand, von einem Journalisten für Le Monde zusammengefasst wurde und kurz nach der Publikation dieses Artikels verschwand, so dass der Originaltext nicht mehr zugänglich ist. In der Wiedergabe durch Le Monde werden eine Reihe harscher Urteile angeführt, in denen Finkielkraut einerseits den »caractère éthnoreligieux« der Unruhen behauptet und erklärt: »Il s’agit d’un pogrom antirépubli-

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»Pourquoi croyez-vous que les banlieues se sont embrasées? a lancé le ministre de l’intérieur et président de l’UMP à une assistance conquise. Parce que j’ai employé le mot ›racaille‹ ou ›Karcher‹? Mais enfin, de qui se moque-t-on? Les banlieues se sont embrasées parce que nous avons engagé une action, qui ne s’arrêtera pas, de démantèlement des bandes, des trafics et des trafiquants.« (Erklärung Sarkozys zit. n. Rosa Moussaoui: Sarkozy juge que »racaille« est un peu »faible«. In: L’Humanité (21.11.2005) – Diese Sicht der Dinge widerspricht übrigens allen Polizeistatistiken über die während den Unruhen Festgenommenen, von denen allenfalls etwa ein Fünftel bereits in andere polizeiliche Verfahren verwickelt waren. Vgl. dazu Lagrange/Oberti: Émeutes urbaines, S. 46–49. Vgl. den von Alain Finkielkraut herausgegebenen Sammelband, der eine Reihe dieser Gespräche veröffentlicht und der den programmatischen Titel Qu’est-ce que la France? trägt: Alain Finkielkraut: Qu’est-ce que la France? Paris 2007.

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cain: il y a en France des gens qui haïssent la République.«38 Andererseits betont er der Zusammenfassung des Journalisten zufolge die materiellen Motive der Aufständischen, was eine kriminelle Dimension der Gewalt anklingen lässt: »Quant aux motivations des jeunes des cités, elles n’ont aucun lien avec l’emploi, selon lui. Que veulent-ils? ›C’est simple: l’argent, les marques, et, parfois, les filles.‹«.39 Diese Darstellung seiner Äußerungen hat Finkielkraut als verzerrend kritisiert.40 Doch auch in einem daraufhin mit ihm geführten Interview lehnt er die Deutung ab, die Aufständischen hätten soziale Motive, und sieht die Unruhen als Ausdruck eines Kulturkonflikts, dem er zugleich eine antirepublikanische Dimension zuschreibt. Die Gewalt kann er in diesem Deutungsansatz nur als Ausdruck von Hass verstehen, der sich gegen die Symbole der Republik entlädt: Je pense qu’il n’y a pas de lien de cause à effet entre la misère sociale réelle des quartiers et l’incendie des écoles. Pourquoi cet acharnement contre les symboles républicains? Nous devons admettre qu’un certain nombre de gens vivant en France détestent ce pays.41

Diese Sicht präzisiert Finkielkraut in einem wenig später geschriebenen Artikel für die Zeitschrift L’Arche (Januar 2006), wo er als Ursache der Unruhen die »haine d’une partie du monde arabo-musulman contre l’Occident et plus particulièrement contre les anciennes puissances coloniales, comme la France«42 anführt. Seine Deutung wird zum Bestandteil eines Ausgrenzungsdiskurses, in dem die Akteure der Unruhen als eine fremdkulturelle Bedrohung des republikanischen Selbstverständnisses erscheinen. Zwar bezeichnet Finkielkraut die den Jugendlichen zugeschrieben Konsumorientierung (»Du fric ou je fais des conneries!«) zugleich als »occidentalisme échevelé«,43 erkennt im ausgegrenzten Fremden also durchaus das Eigene. Dennoch deutet er die Gewalt als Ausdruck eines unlösbaren kulturellen Konflikts, als Bedrohung der republikanischen Identitätskonstruktion. Die Kolonialgeschichte (die Bedeutung Frankreichs als »ancienne puissance coloniale«) ist nicht zufällig in seinen Äußerungen über die Unruhen präsent, denn die Infragestellung dieses Teils der französischen Geschichte wird ihm zu einem Indiz für die Krise der nationalen Identität. Sie zeige, wie er in einem Rundfunkgespräch über die Situation der Schule erklärt, dass die »francophobie« in Anbiederung an die

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Sylvain Cypel: La voix »très déviante« d’Alain Finkielkraut au quotidien »Haaretz«. In: Le Monde (24.11.2005). Sylvain Cypel: La voix »très déviante« d’Alain Finkielkraut au quotidien »Haaretz«. Vgl. dazu Robert Solé: Les gros mots d’un philosophe. In: Le Monde (4.12.2005), sowie Finkielkrauts Selbstbewertung in Qu’est-ce que la France, S. 31. Sylvain Cypel/Sylvie Kaufmann: Alain Finkielkraut: »J’assume«. In: Le Monde (27.11.2005). Alain Finkielkraut: Un certain sens de l’honneur. In: L’Arche 573 (Januar 2006), zit. n. http://www.nouveau-reac.org/docs/FA/AF_arche573.htm (letzter Zugriff: 28.2.2008). Finkielkraut: Un certain sens de l’honneur.

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ethnische und kulturelle Alterität von Teilen der Bevölkerung zu einer »idéologie française« werde.44 Finkielkrauts Deutung der Unruhen macht so die Gewalt zum Zeichen des Fremden, das die ohnehin in einer Identitätskrise befindliche französische Gesellschaft bedrohe und das aus ihr ausgegrenzt werden müsse. So betont er denn auch ohne Umschweife in der eben erwähnten Diskussion: »[I]l est rigoureusement impossible d’intégrer des gens qui ont tendance à ne pas aimer la France dans une France qui ne s’aime pas, ou qui s’aime de moins en moins.«45 Der Sinn der Gewalt, den sein Diskurs konstruiert, ist ganz negativ; sie erscheint als sinnlose und zerstörerische Absage an eine Gesellschaftsordnung, die Finkielkraut als undiskutierbare Norm setzt. Er legitimiert damit ideologisch die Ausschließung des Fremden, die in der Ansiedelung in den Banlieues bereits sozial und kulturell vollzogen ist (womit in schönem Zirkelschluss die spontane Gegenwehr gegen die Marginalisierung zeigen würde, wie berechtigt diese doch ist). Die transzendentale Legitimation durch die Werte der Republik begründet eine affirmative Position, in der das Fremde als feindlich und deshalb als nicht assimilierbar erscheint.46 Es ist bezeichnend für die Unbestimmtheit der republikanischen Wertvorstellungen, dass sie es ermöglichen, eine genau entgegengesetzte Deutung der Unruhen zu begründen. Für Finkielkraut ist das Gleichheitsideal der Republik eine normative Anforderung, der sich alle »citoyens« trotz ihrer sozialen Probleme oder ihrer kulturellen Besonderheiten unterzuordnen haben und gegen die Gewalt in jedem Fall illegitim ist. Die Gewalt in den Vorstädten erhält in seiner Deutung einen negativen Sinn: nicht als unbestimmter, spontaner Protest, sondern als Gefährdung des republikanischen Konsenses und der kulturellen Homogenität Frankreichs. Verlagert man die Idee der Gleichheit dagegen auf den sozialen und ökonomischen Bereich, lässt sich damit eine Deutung begründen, die die Gewalt als Resultat fehlender Gleichheit versteht, damit geradezu als Ausdruck des Anspruchs der rebellischen Jugendlichen, die Werte der Republik ernst zu nehmen und ihre Verwirklichung einzufordern. Damit würden sie dann zugleich ihren Willen zur Integration bekunden und sich protestierend gegen die faktische Verweigerung dieser Integration durch ihre Lebenssituation und ihre soziale Misere wenden. Die Gewalt wäre dann nicht mehr Manifestation des bedrohlichen Fremden, sondern Ausdruck des Wunsches nach einer gemeinsamen Identität, die noch nicht verwirklicht ist.

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Finkielkraut: Qu’est-ce que la France?, S. 57f.: »Ce n’est plus le patriotisme qui est obligatoire aujourd’hui, c’est le dénigrement de la patrie […]. Croit-on qu’en érigeant ainsi la francophobie en idéologie française, on s’ouvrira aux nouvelles populations?« Finkielkraut: Qu’est-ce que la France?, S. 58. Zugleich rechtfertigt Finkielkraut damit auch die vorherrschende Repressionspolitik, weshalb es kaum zu verwundern vermag, dass seine Deutung dem Urteil Sarkozys zufolge den französischen Intellektuellen zur Ehre gereiche (vgl. o. A.: Nicolas Sarkozy juge qu’Alain Finkielkraut »fait honneur à l’intelligence française«. In: Le Monde (4.12.2005)).

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Ohne Umschweife vertritt der bedeutende Soziologe Emmanuel Todd eine solche Deutung. Obwohl er die soziale Misere der Vorstadtbewohner betont, erklärt er zugleich: »Mais je ne vois rien dans les événements eux-mêmes qui sépare radicalement les enfants d’immigrés du reste de la société française.«47 Damit deutet er das sozial und kulturell (noch) Fremde als potentiell Eigenes, jedenfalls als in einen von den republikanischen Idealen begründeten gesellschaftlichen Konsens integrierbar: J’interprète les événements comme un refus de marginalisation. Tout ça n’aurait pas pu se produire si ces enfants d’immigrés n’avaient pas intériorisé quelques-unes des valeurs fondamentales de la société française, dont, par exemple, le couple liberté-égalité. […] Je lis leur révolte comme une aspiration à l’égalité.48

Ursache der Gewalt wäre dann die Attraktionskraft der republikanischen Ideale, auf deren Verwirklichung die Unruhen zielten und die auch eine gelungene Integration begründen könnten. Im Grunde erscheint diese Integration sogar schon als vollzogen, da die rebellischen Jugendlichen ja die Devise der Republik (wenn auch ohne die »fraternité!«) Todd zufolge schon verinnerlicht haben. Er versteht diese Ideale als Grundlage einer Identitätskonstruktion, die er den Aufständischen als Perspektive zuschreibt und selbst nicht in Frage stellt. Allerdings begreift er sie implizit als ein Projekt, dessen Realisierung noch aussteht und dessen Bedeutung sich durch seine Integrationskraft erst noch erweisen muss. Jedenfalls aber ist es die hegemoniale nationale Identität, die als Synthesefigur für die gewalttätigen Aktionen fungiert. Noch grundsätzlicher wird diese Deutung der Unruhen in einer Stellungnahme formuliert, die Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats von ATTAC unter dem programmatischen Titel »République inachevée ou à jeter?« veröffentlichen.49 Der Titel verweist darauf, dass sie die Aufstände als Prüfstein für die Frage verstehen, ob das republikanische Identitätsangebot sich überhaupt verwirklichen lässt oder ob es aufgegeben werden muss. Sie insistieren daher zunächst auch auf dem Zwangscharakter des republikanischen Projekts und der symbolischen Gewalt, die es denen auferlegt, die sich darin integrieren sollen: La République a toujours été inachevée. Le creuset républicain contient sans doute une part inhérente de violence symbolique (les immigrés doivent apprendre une nouvelle langue pour participer aux affaires de la cité, etc.).50

Daneben verweisen sie auch auf die unaufgearbeitete koloniale Vergangenheit Frankreichs, deren verdrängte Tradition auch die gegenwärtige Lage der Immigranten und ihrer Nachkommen noch präge. Von solchen Problematisierungen der

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Raphaëlle Bacqué/Jean-Michel Dumay/Sophie Gherardi: Emmanuel Todd. »Rien ne sépare les enfants d’immigrés du reste de la société«. In: Le Monde (13.11.2005). Bacqué/Dumay/Gherardi: Emmanuel Todd. »Rien ne sépare les enfants d’immigrés du reste de la société«. Alain Lecourieux/Christophe Ramaux: République inachevée ou à jeter? In: Libération (15.11.2005). Lecourieux/Ramaux: République inachevée ou à jeter?

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republikanischen Ideale wie auch der gesellschaftlichen Realitäten ausgehend, betont diese Stellungnahme zunächst die Legitimität der Gewalt und bezeichnet die Unruhen als »révolte sociale, parfaitement légitime à de multiples égards.«51 Doch wird diese Legitimität sogleich wieder eingeschränkt und an eine Verwirklichung des republikanischen Projekts gekoppelt. In dieser Wendung der Argumentation taucht, ohne explizit genannt zu werden, auch wieder das Schreckgespenst des Islam auf, der ja als Bedrohung der hegemonialen Kultur bei Finkielkraut eine so große Rolle spielt: Elle [la révolte] n’en prend pas moins, à l’instar de l’exaltation religieuse, une forme foncièrement réactionnaire. L’histoire nous montre que toutes les formes de révolte ne sont pas bonnes à prendre.52

Gegenüber solch verdächtigen Formen der Gewalt gilt auch den Vertretern von ATTAC die Idee der Republik als eine Art transzendentales Regulativ, das die Gewalt in einen über sie selbst hinausweisenden Sinnzusammenhang einbinden soll: »Puisse la révolte en cours ne pas conforter les scénarios les plus noirs, mais susciter l’impérieux sursaut vers un nouveau projet républicain pour être commun.«53 Auch diese Argumentation versucht also, das in der Gewalt (wie auch in der »exaltation religieuse«) möglicherweise enthaltene Fremde zu etwas Eigenem zu machen, ihm eine Logik zuzuweisen, die es in Übereinstimmung mit dem republikanischen Selbstverständnis bringen kann – vor allem, indem es zu dessen Erneuerung beitragen würde. Nicht die Gewalt als solche vermag der Diskurs dieser globalisierungs- und gesellschaftskritischen Intellektuellen zu rechtfertigen, sondern nur eine Gewalt, die über sich selbst hinausweist. Zwar stellt ihre Stellungnahme die postkoloniale Prägung der Lebenssituation als wichtige Grundlage und Auslöser der Gewalt in Rechnung. Zugleich aber fordert sie deren Überwindung: die Revolte soll im einheitsstiftenden Anspruch einer Erneuerung des republikanischen Projekts kanalisiert werden. Noch expliziter reflektiert der gemeinsame Beitrag einiger bedeutender Historiker (Benjamin Stora, Pierre Vidal-Naquet u. a.) die postkoloniale Dimension der Gewalt, die sich in den Unruhen manifestiert. Mit dem Titel »Démons français«54 verweisen sie auf die verdrängte koloniale Vergangenheit der Republik. Mit dieser Vergangenheit werden den Verfassern zufolge auch die republikanischen Wertvorstellungen selbst in Frage gestellt. Sie betonen die fortdauernde Prägung der kulturellen und sozialen Realität Frankreichs, insbesondere der Immigranten und ihrer Abkömmlinge, durch diese Tradition und stimmen einer Deutung der Gewalt der Unruhen als (ziellose) Abwehr der daraus resultierenden Zumutungen zu. Diese Bewertung wird allerdings sogleich wieder eingeschränkt, indem die Gefahr

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Lecourieux/Ramaux: République inachevée ou à jeter? Lecourieux/Ramaux: République inachevée ou à jeter? Lecourieux/Ramaux: République inachevée ou à jeter? Benjamin Stora/Pierre Vidal-Naquet/u. a.: Démons français. In: Le Monde (6.12.2005).

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eines Chaos (von »pires dérives«) heraufbeschworen wird, das die spontane Revolte hervorbringen könnte: Dans ses grandes lignes, ce constat nous paraît très largement fondé. Mais nous voulons souligner ici que ce constat ne saurait en rester au stade de la révolte, de l’émotion et de la confusion qui l’accompagnent souvent. Car le risque serait alors grand d’aboutir aux pires dérives.55

Ähnlich wie in der Stellungnahme der Intellektuellen aus dem Umfeld von ATTAC wird die Gewalt als verständliche Reaktion gegen die postkolonialen Strukturen gedeutet, zugleich aber delegitimiert. Als deren Transzendenz entwerfen auch die kritischen Historiker eine Erneuerung der Republik, die Idee einer Republik, die sich von ihrer kolonialen Tradition befreien soll: Mais nous sommes convaincus que tous, intellectuels, politiques et simples citoyens, dès lors qu’ils sont sincèrement attachés à la cause de la démocratie, peuvent et doivent participer à la renaissance d’une République enfin débarrassée de ses démons coloniaux.56

Die Republik ist auch in dieser Argumentation zwar nicht die Norm, gegen die Gewalt von vorneherein illegitim wäre, aber ein Telos, in dessen Verwirklichung die Gewalt überflüssig würde. Ob die »démons coloniaux« möglicherweise der Idee der Republik nicht ganz äußerlich, sondern vielleicht sogar Bestandteil ihres universellen Anspruchs sind, wird dabei nicht diskutiert. Immerhin hatte die Republik ja keine Probleme damit, ihre Kolonialpolitik mit den Prinzipien der Revolution und des republikanischen Universalismus zu legitimieren.57 Ungeachtet solcher Fragen wird sie als der Bezugspunkt gesetzt, der die Gewalt zu überwinden oder doch zumindest zu kanalisieren geeignet ist. In diesem Panorama, in dem Intellektuelle mit ganz unterschiedlichen Deutungsstrategien die Gewalt der Banlieue-Unruhen auf eine Idee der Republik beziehen, deren Geltung als Norm oder zumindest als Ziel unbestritten erscheint, bin ich nur auf eine abweichende Stimme gestoßen, die die Gewalt deutet, ohne sie an diesem transzendentalen Bezugspunkt zu messen, als Manifestation einer anders nicht artikulierbaren Wut, die ihren Zweck in sich selbst hat. Es ist die des Soziologen und Ethnologen Marc Hatzfeld, einer der profiliertesten Kenner der Lebenswelt der Banlieue, der in mehreren Darstellungen die nach Autonomie strebenden Strukturen ihrer Lebenswelt dargestellt hat.58 Mit dem programmatischen Titel »Je suis une racaille«59 zitiert er die vieldiskutierte Invektive Sarkozys und macht sie zu einem Bezugspunkt einer Identifikation mit den Aufständischen. Er geht davon aus, dass es der Charakter von Aufstandsbewegungen sei, ungesteuert und ohne

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Stora/Vida-Naquet/u. a.: Démons français. Stora/Vida-Naquet/u. a.: Démons français. Vgl. dazu Hartwig/Stenzel: Einführung in die französische Literatur- und Kulturwissenschaft, S. 355f. Vgl. Marc Hatzfeld: Petit traité de la banlieue. Paris 2004, und Marc Hatzfeld: La culture des cités, une énergie positive. Paris 2006. Marc Hatzfeld: Je suis une racaille. In: Le Monde (10.11.2005).

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klares Ziel auszubrechen, und dass es in den Unruhen vor allem darum gegangen sei, überhaupt Beachtung zu finden: La matière des révolutions qui changent le sort des hommes est fait de révoltes sauvages et incertaines. L’impatience secrète repose donc – et en revanche – sur l’espoir qu’en dépit des souffrances prévisibles, peut-être, enfin quelqu’un prendra au sérieux le risque pris par les jeunes de Clichy et d’ailleurs pour faire entendre une colère qui dépasse largement la mort tragique de leurs amis.60

Die Jugendlichen ernst zu nehmen, bedeutete zunächst einmal, ihre Motive anzuerkennen und die Wut, die sie bewegt wahrzunehmen. Die imaginäre Identifikation, mit der Hatzfeld sich den Aufständischen zuwendet, mag naiv oder illusionär wirken. Man kann sie jedoch auch als Ausdruck des Versuchs lesen, sich ihrer Bewegung nicht in einen im intellektuellen Diskurs über sie erzeugten Verstehenszusammenhang zu bemächtigen, sondern ihr ihre eigene Logik (und auch ihre Gewaltsamkeit) zu belassen: Je dois dire que si j’en étais, j’aurais la colère moi aussi, je partagerais leur révolte face à cette alliance de l’injustice installée et des effets du spectacle. […] Face à ces jeunes garçons qui risquent leur existence quasi perdue pour faire apparaître leur cité pourrie, leur destin déglingué et leur jeune vigueur au journal de vingt heures, je suis aussi une racaille, je suis de leur côté, non sans inquiétude, mais sans hésitation.61

In dieser emphatischen Annäherung an die rebellischen Jugendlichen ist vielleicht auch das Trauma des Intellektuellen präsent, nur schreiben und nicht handeln zu können. Partei zu ergreifen, ohne die Frage nach Erfolg und Perspektiven zu stellen und vor allem ohne zu deuten, ist in gewisser Weise eine Form der Intervention, die auf das Privileg des Intellektuellen verzichtet, das ja in den letzten Jahrzehnten ohnehin brüchig geworden ist. Es ist allerdings bemerkenswert, dass sich Hatzfeld mit seinem Schlusssatz in Andeutungen, dann doch noch in eine französische Tradition einschreibt, die der Revolutionen, mit der er auch seine Parteinahme begründet: »Après tout, ce sont d’autres révoltes populaires qui ont fait de ce pays un pays libre et tenté jusqu’à ce jour sans grand succès d’en faire un pays hospitalier et fraternel.«62

Bibliographie Avenel, Cyprien: Sociologie des »quartiers sensibles«. Paris 2004. Bachmann, Christian/Basier, Luc: Mise en images d’une banlieue ordinaire. Paris 1989. Bacqué, Raphaëlle/Dumay, Jean-Michel/Gherardi, Sophie: Emmanuel Todd. »Rien ne sépare les enfants d’immigrés du reste de la société«. In: Le Monde (13.11.2005). Beaud, Stéphane/Pialoux, Michel: Violences urbaines, violences sociales. Genèse des nouvelles classes dangereuses. Paris 2003.

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Hatzfeld: Je suis une racaille. Hatzfeld: Je suis une racaille. Hatzfeld: Je suis une racaille.

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Abstract Gewalt ohne Transzendenz? Die französischen Intellektuellen und die BanlieueUnruhen vom November 2005 untersucht die in den Diskussionsforen großer französischer Tageszeitungen publizierten Reaktionen französischer Intellektueller auf die Banlieue-Unruhen von November 2005. Der Beitrag rückt diese Stellungnahmen in den Kontext der Bedeutung der kulturellen Leitfigur des Intellektuellen, die seit der Dreyfus-Affaire als eine unabhängige Instanz konstruiert wird, die im Namen transzendentaler Wertsetzungen in gesellschaftlichen Auseinandersetzungen interveniert. In diesen Interventionen spielt, wie das Beispiel Sartres zeigt, die transzendentale Legitimation von Gewalt eine wichtige Rolle. Mit der Auflösung der dieser kulturellen Tradition zugrunde liegenden metarécits in der Postmoderne geht ein Geltungsverlust der Stellungnahmen von Intellektuellen einher, die sich mit ihrem Funktionswandel verbindet: der »intellectuel terminal« (R. Debray) wird zu einem Akteur der Medien, seine Interventionen zu einem Bestandteil im medialen Tagesgeschäft. In diesem Horizont können die Stellungnahmen von Intellektuellen zu den Banlieue-Unruhen von 2005 (wie zum Teil auch diese Unruhen selbst) als folgenloses Medienereignis verstanden werden. Die spektakulären Unruhen selbst sind Symptome einer seit Jahrzehnten bestehenden und sich verschärfenden Situation einer sozialen Marginalisierung und teilweise ethnischen Ghettobildung, die allgemein bekannt ist und an der sich nichts ändert. Neu ist nur die medial weidlich ausgeschlachtete Dimension einer Gewalt, die keine Ziele verfolgt und von den darin involvierten Jugendlichen in keiner Weise legitimiert wird. Die gewaltsame Ver-

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teidigung des eigenen Territoriums ist soziologisch längst als ziellose Reaktion auf die strukturelle Gewalt einer Lebenssituation analysiert worden, an der sich nichts ändert – auch nach den Unruhen nicht. Die Stellungnahmen von Intellektuellen, die in dem Beitrag analysiert werden, erheben den Anspruch, der sinnlos erscheinenden Gewalt sozusagen stellvertretend für die Akteure einen Sinn zuzuschreiben. In negativen wie in positiven Deutungen der Unruhen kommt dabei dem Synthesekonzept des republikanischen Universalismus eine entscheidende Bedeutung zu. Das vage Konglomerat von Wertvorstellungen, die ihn begründen, erlaubt es, die Unruhen sowohl als Absage an das Wertsystem der Republik wie als Einforderung der uneingelösten Versprechen, insbesondere des republikanischen Gleichheitspostulats, zu deuten. Auch in dessen Zuspitzung auf das unbewältigte postkoloniale Erbe, dem sich die Republik stellen müsse, bleibt der Anspruch der Intellektuellen erhalten, der ziellosen Gewalt einen transzendentalen Sinn zuzuschreiben und sie durch diese Deutungsarbeit in einen identitären Konsens zumindest virtuell zu integrieren.

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Die Darstellung und Analyse innergesellschaftlicher Gewalt im südafrikanischen Roman der Gegenwart

I. Einleitung Die südafrikanische Geschichte und die südafrikanische Gegenwart sind maßgeblich durch innergesellschaftliche Gewalt geprägt. Zu den Faktoren, die in der Vergangenheit, zu Zeiten der Apartheid, Wellen innergesellschaftlicher Gewalt ausgelöst haben, zählen Armut und Arbeitslosigkeit, aber vor allem auch die lange Zeit von der Gesetzgebung legitimierten und zementierten Denkraster, die eine Ausgrenzung und Ungleichbehandlung aufgrund von Rassenunterschieden zum Teil des Alltags in Südafrika machten. Innergesellschaftliche Gewalt ist aber auch ein Thema, das in der öffentlichen Diskussion in Südafrika – und über Südafrika – nach wie vor eine wichtige Rolle spielt. Im Mai 2008 beispielsweise gingen weltweit Nachrichten über gewaltsame Ausschreitungen gegen Flüchtlinge und Migranten in Südafrika durch die Presse: Die Opfer […] werden beschimpft, ausgeraubt oder vergewaltigt, totgeprügelt, mit Benzin übergossen und verbrannt. 6000 Ausländer sind bereits aus den Townships von Johannesburg geflohen, wie viele ihr Leben ließen, weiß zur Stunde niemand. Die Südafrikaner sind schockiert und beschämt, sie haben derartige Gewaltausbrüche offenbar nicht mehr für möglich gehalten.1

Mehr als zehn Jahre nach dem Ende der Apartheid gehört innergesellschaftliche Gewalt aufgrund von Armut, Arbeitslosigkeit und den Folgen der Apartheid weiterhin zu den zentralen sozialen Problemen, denen das demokratische Südafrika sich stellen muss. Angesichts der großen Bedeutung, die innergesellschaftliche Gewalt in der Geschichte wie in der Gegenwart Südafrikas spielt, ist es wenig überraschend, dass sich südafrikanische Intellektuelle zu Stellungnahmen zum Kreislauf der Gewalt herausgefordert sahen und sehen. Während des Apartheidregimes äußerten sich viele südafrikanische Intellektuelle, bisweilen unter großen persönlichen Risiken, kritisch über die Rassensegregation und lieferten in fiktionalen und nicht-fiktionalen Texten Analysen innergesellschaftlicher Gewalt. Zu den Autoren, die sich in ihren Werken klar politisch positionierten, zählen sowohl schwarze Autoren und Autorinnen wie Bessie Head oder die Township Poets als auch Autoren und Autorinnen der liberalen weißen Minderheit. Der General Law Amendment Act von 1962 ermöglichte eine weitreichende Zensur, denn durch dieses Gesetz konnte

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Bartholomäus Grill: Arme gegen Ärmere. In: Die Zeit, 21. Mai 2008, S. 9.

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jede Kritik an der Rassensegregation als Störung des inneren Friedens geahndet werden – als Aufruf zu innergesellschaftlicher Gewalt. Autoren und Autorinnen, die gegen den General Law Amendment Act verstießen, mussten mit schweren Strafen rechnen: Publikationsverbot, Gefängnis oder Exil waren für viele Schriftsteller und Schriftstellerinnen die Folgen politischer Meinungsäußerungen.2 Auch Nadine Gordimer und Zakes Mda waren von der Zensur betroffen. Der schwarze Dramatiker und Romanautor Zakes Mda, dessen Werke in den letzten Jahren mit verschiedenen nationalen und internationalen Preisen ausgezeichnet wurden, verbrachte 32 Jahre im Exil in den USA und kehrte erst 1995 nach Südafrika zurück. Die 1991 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnete weiße Autorin Nadine Gordimer wurde infolge ihrer politischen Stellungnahmen gegen die Apartheid zeitweilig mit einem Publikationsverbot belegt. Gordimers Rolle als Gegnerin des Apartheidregimes wird allerdings in Südafrika selbst vor allem aus zwei Gründen kritisch gesehen und zumindest teilweise relativiert: Erstens wird darauf hingewiesen, dass Gordimer als Mitglied der privilegierten weißen Bevölkerung mit weitaus weniger drastischen Repressionen konfrontiert wurde als viele schwarze Autoren und Autorinnen, die mit Haft bestraft wurden. Zweitens wurde Gordimer eine Tendenz zur stereotypen Darstellung schwarzer Figuren vorgeworfen.3 Dass Mda, Gordimer und andere südafrikanische Intellektuelle häufig fiktionale Texte als Medium für eine Analyse der Ursachen und Folgen innergesellschaftlicher Gewalt heranziehen,4 ist nicht zuletzt auf die Möglichkeiten der Semantisierung literarischer Darstellungsverfahren zurückzuführen. Im Gegensatz zu nichtfiktionalen Texten eignet sich der fiktionale Freiraum nicht nur zum Entwurf utopischer oder dystopischer Szenarien, sondern beispielsweise auch zu einer multiperspektivischen Auffächerung von Themen wie etwa innergesellschaftliche Gewalt und zur Gegenüberstellung divergierender, durchaus auch antagonistischer Sichtweisen zu bestimmten Problemlagen. Durch ein Herunterbrechen gesellschaftlicher Probleme auf die Ebene des Individuums, wie es in literarischen Texten in der Regel zu beobachten ist, und durch Strategien der Sympathielenkung können fiktionale Werke zu einer Perspektivenübernahme, zur Entwicklung von Empathie und damit letztlich auch zu einem Dialog zwischen verschiedenen Positionen einladen. Literarische Texte vermögen in der Beschäftigung mit dem Thema innergesellschaftliche Gewalt in Südafrika also im Sinne des von Hubert Zapf skizzierten Funktionspotentials von Literatur als ›reintegrativer Interdiskurs‹ zu

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Zur Zensur in Südafrika in den 1960er Jahren vgl. Walter Ehmeier: Literature in Time with History. South African Literature in English and Political Change in the 1960s. Essen 1995, S. 73í83. Zu den Reaktionen auf Gordimers Werke in Südafrika zur Zeit der Apartheid vgl. Kathrin M. Wagner: ›History from the Inside‹? Text and Subtext in some Gordimer Novels. In: Geoffrey V. Davis (Hg.): Crisis and Conflict. Essays on Southern African Literature. Essen 1990, S. 89í107. Zur Darstellung von Gewalt in der südafrikanischen Literatur vgl. u. a. Ehmeier: Literature in Time with History, S. 118í127.

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fungieren, d. h. als Medium, in dem ein »Aufeinanderbeziehen des Ausgegrenzten und des kulturellen Realitätssystems«5 erfolgen kann.

II. Postkoloniale Literatur aus funktionsgeschichtlicher Sicht und Edward Saids ›neuer Humanismus‹ Im postkolonialen Diskurs nehmen funktionsgeschichtliche Sichtweisen von Literatur traditionell einen zentralen Stellenwert ein, wird der postkolonialen Literatur doch oft per se eine gegendiskursive Funktion zugeschrieben. So stellt etwa Helen Tiffin kategorisch fest: »subversive manoeuvres, rather than the construction or reconstruction of the essentially national or regional, are what is characteristic of post-colonial texts, as the subversive is characteristic of post-colonial discourse in general.«6 In seinem Klassiker The Wretched of the Earth (1961) vertritt Frantz Fanon in besonders plakativer Weise eine in der postkolonialen Literaturwissenschaft noch bis heute häufig anklingende, im Kern normative Auffassung von postkolonialer Literatur, welche besagt, dass im postkolonialen Kontext verfasste literarische Texte erst dann ihr Ziel erreichen, wenn sie – als »revolutionary literature«7 fungierend – die Leserschaft aufzurütteln vermögen. Immer wieder figuriert Literatur in den Schriften postkolonialer Literaturwissenschaftler und Literaturwissenschaftlerinnen als »integral part of an organized struggle for national liberation«8. Eine derartige Literaturauffassung hat zwangsläufig zur Folge, dass der Wert literarischer Texte letztlich an deren Eignung zum Erfüllen sozialer und politischer Funktionen gemessen wird,9 während die »ästhetische Wirkungsstruktur«10 der Texte, und damit deren literaturspezifische Eigenschaften, bisweilen in den Hintergrund gedrängt werden.11 Für die Darstellung innergesellschaftlicher Gewalt haben Funktionszuschreibungen wie die soeben skizzierten unmittelbare Konsequenzen, kann doch gemäß einer Auffassung von fiktionalen Texten als

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Hubert Zapf: Literatur als kulturelle Ökologie. Zur kulturellen Funktion imaginativer Texte an Beispielen des amerikanischen Romans. Tübingen 2002, S. 66. Helen Tiffin: Post-Colonial Literatures and Counter-Discourse. In: Ashcroft, Bill/ Griffiths, Gareth/Tiffin, Helen (Hg.): The Post-Colonial Studies Reader. London, New York 1995, S. 95í98; S. 95f. Frantz Fanon: The Wretched of the Earth. Harmondsworth 1990, S. 179. Bill Ashcroft: Resistance and Transformation. In: Antor, Heinz/Stierstorfer, Klaus (Hg.): English Literatures in International Contexts. Heidelberg 2000, S. 23. Vgl. Ashcroft: Resistance and Transformation, S. 23. Winfried Fluck: Das kulturelle Imaginäre. Eine Funktionsgeschichte des amerikanischen Romans 1790í1900. Frankfurt/M. 1997, S. 10. Zum Zusammenhang zwischen der ästhetischen Wirkungsstruktur eines Textes und dessen sozialem und politischem Funktionspotential vgl. Fluck: Das kulturelle Imaginäre, S. 10: »Insofern müssen sich Thesen zur sozialen Funktion mit einer Theorie literarischer Wirkung verbinden, bilden beide Aspekte ein Interdependenzverhältnis, aus dem sich umgekehrt auch ergibt, daß sich der Begriff des Ästhetischen nicht auf ein neukritisches Autonomiepostulat reduzieren läßt.«

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›revolutionary literature‹ innergesellschaftliche Gewalt mitunter in einem durchaus positiven Licht dargestellt werden – als Form des Widerstands gegen koloniale und postkoloniale Machtstrukturen – oder doch zumindest als Antwort auf Gewaltausübung seitens der (ehemaligen) Kolonialmacht partiell legitimiert erscheinen. In Bezug auf die südafrikanische Literatur lassen sich gerade in Publikationen älteren Datums recht rigide Funktionszuschreibungen antreffen. So wurden Texte schwarzer Autoren und Autorinnen häufig – im Sinne der oben skizzierten dominanten Funktionszuschreibung für postkoloniale Literatur – der Kategorie der Protestliteratur zugeordnet, während die Werke weißer Autoren und Autorinnen wie Nadine Gordimer oder John Maxwell Coetzee in die Tradition eines liberalen Realismus gestellt wurden.12 Der südafrikanische Autor Zakes Mda liefert in seinem Artikel Current Trends in Theatre for Development in South Africa eine diachrone Analyse der dominanten Funktionen des südafrikanischen Theaters, in der er sich mit der Kategorie der ›Protestliteratur‹ kritisch auseinandersetzt und auch über das Theater hinaus relevante Denkanstöße für eine Funktionsgeschichte südafrikanischer Literatur liefert. Mda bezeichnet die Protestliteratur bzw. das Protest Theatre lediglich als eine Phase in der Entwicklung der südafrikanischen Literatur – eine Phase, in welcher letztlich die weiße Bevölkerungsgruppe als intendierter Adressatenkreis fungierte.13 Im Zuge des Black Consciousness Movement in den siebziger Jahren, so Mda weiter, machte das Protest Theatre einem Theatre for Resistance Platz, welches sich an einen anderen Adressatenkreis wandte: The distinctive characteristic of Theatre for Resistance was that it addressed itself directly to the oppressed people – rather than appealing to the conscience of the oppressor – with the overt aim of mobilizing the oppressed to fight against oppression.14

Auch hier klingt also wieder das Paradigma einer Literatur, welche die unterdrückten und marginalisierten Teile der Bevölkerung aufzurütteln und zu politischem Aktivismus zu motivieren vermag, an. Vor allem seit der Überwindung der Apartheid hat sich laut Mda in Südafrika schließlich zunehmend ein Theatre for Development etabliert, das nicht zu einfachem Protest motiviert, sondern verstärkt zur kritischen Reflexion einlädt: Progressive Theatre for Development is anti-agitprop since its emphasis is on utilizing theatre as a vehicle for critical analysis, which in turn will result in critical awareness, or conscientization. The process of conscientization involves the active participation of the

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Zu einer kritischen Auseinandersetzung mit diesen binären Kategorien vgl. Antje Hagena: ›Liberal Realism‹ and ›Protest Literature‹ as Concepts of South African Literary History. In: Crisis and Conflict. Essays on Southern African Literature. Hg. von Geoffrey V. Davis. Essen 1990, S. 73í88. Vgl. Zakes Mda: Current Trends in Theatre for Development in South Africa. In: Writing South Africa. Literature, Apartheid, and Democracy, 1970í1995. Hg. von Derek Attridge und Rosemary Jolly. Cambridge 1998, S. 257í264. Mda: Current Trends in Theatre, S. 257.

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people in transforming themselves by engaging in a dialogue through which they identify their problems, reflect on why the problems exist, and take action to solve the problems.15

Als Instrument der kritischen Analyse gesellschaftlicher Probleme im oben beschriebenen Sinne, darunter des Problems innergesellschaftlicher Gewalt, lassen sich nicht nur Theaterstücke, sondern auch zahlreiche andere literarische Texte aus Südafrika, die seit dem Ende der Apartheid entstanden sind, kategorisieren. Zu einer solchen ›literature for development‹ lassen sich auch die beiden Romane zählen, die im Folgenden untersucht werden sollen. Mit der Entwicklung in der soeben beschriebenen Richtung erscheint südafrikanische Literatur in zunehmendem Maße geeignet, jenes Funktionspotential zu verwirklichen, welches sich mit Hubert Zapf als reintegrativer Interdiskurs fassen lässt. Ein solches Funktionspotential ist zudem an Edward Saids Vorstellungen von einem neuen Humanismus anschließbar.16 Wenngleich Said traditionellen humanistischen Vorstellungen durchaus kritisch gegenüberstand,17 vertrat er doch gerade in seinen späteren Schriften die im Kern humanistische Auffassung, dass die Bedeutung des Individuums als Impuls für soziale Veränderungen nicht unterschätzt werden dürfe: »Humanism is centered upon the agency of human individuality and subjective intuition, rather than on received ideas and approved authority.«18 Die Aufgabe des Intellektuellen muss es demnach sein, auf die Bedeutung des Individuums hinzuweisen, die oft in Analysen gesellschaftlicher Probleme hinter »unfathomable forces caused by abstract, ahistorical, and decontextualized entities like ›market forces‹ and ›structural underpinnings,‹«19 zu verschwinden droht. Das Individuum und die Folgenhaftigkeit seines Handelns bilden also einen zentralen Faktor in einem neuen Humanismus. Im Folgenden soll anhand von zwei Romanen, die sich mit dem Übergang vom Apartheidsstaat zum demokratischen Südafrika auseinandersetzen, exemplarisch das Potential literarischer Texte zur kritischen Auseinandersetzung mit innergesellschaftlicher Gewalt in Südafrika im Sinne eines neuen Humanismus aufgezeigt werden. Bei den beiden ausgewählten Texten handelt es sich um Nadine Gordi-

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Mda: Current Trends in Theatre, S. 259f. Vgl. exemplarisch Edward W. Said: Preface to the Twenty-Fifth Anniversary Edition. In: Orientalism. New York 2003, S. xvíxxx. Zu Saids ambivalenter Einstellung gegenüber dem Humanismus vgl. Matthew Abraham: Introduction. Edward Said and After. Toward a New Humanism. In: Cultural Critique 67 (2007), S. 1: »Edward W. Said established an ambivalent relationship toward humanism throughout his life and work. While Said extolled humanism’s power to connect progressive intellectual workers and create lines of solidarity between the discrepant experiences of women and men who were working against grave injustices in the world – regardless of national filiations – he also recognized humanism’s potential destructiveness in contributing to the realization of totalizing discourses such as orientalism. As a consequence of this ambivalence, Said advocated a New Humanism that would affirm the highest aspirations of culture while also working against the pitfalls of identitarian thinking, which propels national and religious enthusiasm.« Said: Preface to the Twenty-Fifth Anniversary Edition, S. xxix. Abraham: Introduction: Edward Said and After, S. 2.

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mers None to Accompany Me von 1994, also einen Roman aus der Zeit unmittelbar nach dem offiziellen Ende der Apartheid, und um Zakes Mdas The Madonna of Excelsior von 2002. In beiden Romanen wird innergesellschaftliche Gewalt in vielfältiger Weise thematisiert und im Hinblick auf die Bedingungen ihrer Entstehung kritisch beleuchtet. Für beide Romane ist zudem kennzeichnend, dass sie ein breites Figurenspektrum entwerfen, welches zur multiperspektivischen Auffächerung des Themas innergesellschaftlicher Gewalt und zur Gegenüberstellung kontroverser Einstellungen dient. Als Perspektiventräger dienen Repräsentanten der verschiedenen Bevölkerungsgruppen und politischen Gruppierungen in Südafrika, die unterschiedliche Einstellungen zur Gewalt und zu Legitimierungen gewaltsamer Handlungen vertreten.

III. Zakes Mda: The Madonna of Excelsior Zakes Mdas Roman The Madonna of Excelsior erzählt die Entwicklung vom Apartheidsstaat zum demokratischen Südafrika anhand des kleinen Ortes Excelsior, der als eine Art Mikrokosmos gelesen werden kann, spielen sich doch in Excelsior im Kleinen viele jener Auseinandersetzungen ab, die in dem dargestellten Zeitraum auch die Entwicklung auf nationaler Ebene geprägt haben. Die im Wesentlichen chronologisch erzählte Handlung umfasst den Zeitraum von den frühen siebziger Jahren bis in die südafrikanische Gegenwart am Beginn des 21. Jahrhunderts. Der Schauplatz des Romans liegt in einer ländlichen Region im Nordosten Südafrikas, in der Schwarze die Mehrheit der Bevölkerung stellen, aber in finanzieller Abhängigkeit von der weißen Minderheit der Buren leben. Es sind vor allem Vertreter der schwarzen Bevölkerung, die im Mittelpunkt des Romans stehen und die individualisiert werden, aber auch die Perspektive von Buren wird ausgestaltet. Insbesondere anhand des Schicksals einer jungen Frau namens Popi, die sich im Handlungsverlauf immer mehr zur Hauptfigur entwickelt, wird deutlich, in welchem Maße das Leben des Individuums im Apartheidsstaat durch Gewalt geprägt sein konnte. Popi gehört zu jenen Kindern in Excelsior, die es gemäß den südafrikanischen Apartheidsgesetzen eigentlich gar nicht geben sollte, denn sie hat eine schwarze Mutter und einen weißen Vater. Popi, so wird im Verlauf des Romans immer wieder betont, sieht man auf den ersten Blick an, dass sie einen weißen Vater hat, denn ihre Haare sind glatt und hell, und sie hat eine verhältnismäßig helle Haut und blaue Augen. Gemäß dem 1927 erlassenen Immorality Act handelte es sich beim Geschlechtsverkehr zwischen Schwarzen und Weißen um eine Straftat. Popi wird von den Weißen so weit wie möglich ignoriert; von den Schwarzen wird sie als ›boesman‹ (Afrikaans für ›Buschmann‹, aber auch pejorative Bezeichnung für alle ›Farbigen‹) beschimpft und ausgelacht. In einer Gesellschaft, die per Gesetz die Rassensegregation festschreibt, ist also offenbar kein Platz für sie.

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Popis Schicksal ist kein Einzelfall: Anfang der siebziger Jahre bringt in Excelsior eine Reihe schwarzer Frauen Kinder zur Welt, deren Aussehen eindeutig zu erkennen gibt, dass es sich bei ihren Vätern um Weiße handelt. Die Darstellung der Beziehungen, aus denen diese Kinder hervorgehen, in Mdas Roman ist eines der Beispiele für eine Darstellung von Gewalt, die unter dem Vorzeichen der Rassendiskriminierung in Südafrika verübt wurde, erinnern die entsprechenden Szenen doch sehr deutlich an den Missbrauch von Sklavinnen durch ihre Besitzer. Die Frauen sind nicht nur Opfer sexueller Gewalt, sondern werden darüber hinaus gerichtlich verfolgt und mit Haft bestraft. Zwar werden sowohl die weißen Männer als auch die schwarzen Frauen vor Gericht gestellt und angeklagt; die Argumentationslinie der Verteidigung beruht jedoch auf der Annahme, allein die Frauen hätten sich strafbar gemacht, müsse es sich doch bei ihren Anschuldigungen gegenüber verschiedenen angesehenen Männern des Ortes um Falschaussagen handeln. Eine Antwort auf die Frage, woher in diesem Fall die hellhäutigen Kinder kommen, bleibt die Verteidigung allerdings schuldig. Die Gestaltung der Perspektivenstruktur spielt in Mdas Roman eine Schlüsselrolle für das Funktionspotential des Textes im Sinne von Saids neuem Humanismus. Bereits in der Darstellung eines breiten Spektrums unterschiedlicher, auch antagonistischer Perspektiven ist eine Anerkennung der Pluralität von Sichtweisen und Erfahrungen innerhalb der Gesellschaft angelegt. Darüber hinaus wird in diesem Roman dadurch, dass die Perspektive der Erzählinstanz und die Strategien der Sympathielenkung sich in signifikanter Weise gegenläufig verhalten, eine Sichtweise auf die Perpetuierung von Denkmustern, die zur Legitimierung von Gewalt beitragen, eröffnet, die eine Lesart gemäß dem neuen Humanismus nahelegt, wie im Folgenden erläutert werden soll. Verschiedene Zweige der Erzähltheorie, vor allem die feministische und die postkoloniale Narratologie, gehen davon aus, dass die erzählerische Vermittlung ebenso wie die Perspektivenstruktur von Texten in Analogie zu gesellschaftlichen Machtstrukturen gelesen werden kann. Der Perspektive der Erzählinstanz wird dabei eine besondere Autorität zugesprochen, vor allem in solchen Fällen, in denen die Erzählerstimme als Stimme einer Gemeinschaft ausgewiesen ist, also nicht die Sichtweise Einzelner, sondern die einer gesellschaftlichen Gruppe widerspiegelt. Genau dies ist in Mdas Roman der Fall; die Erzählinstanz lässt sich geradezu als Musterbeispiel für jenen Typus von Erzählinstanz lesen, den die Narratologin Susan Lanser als communal voice bezeichnet. Lanser definiert die communal voice als »a practice in which narrative authority is invested in a definable community and textually inscribed either through multiple, mutually authorizing voices or through the voice of a single individual who is manifestly authorized by a community.«20 In Mdas Roman ist die communal voice die Stimme der schwarzen, gesellschaftlich benachteiligten Bevölkerung des Ortes Excelsior. Eine Erzählerstimme kann auf textueller Ebene durch unterschiedliche Verfahren als communal voice

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Susan Lanser: Fictions of Authority. Women Writers and Narrative Voice. Ithaca, NY 1992, S. 21.

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ausgewiesen werden. In The Madonna of Excelsior ist die Erzählinstanz erstens durch den Gebrauch von Personalpronomina der ersten Person Plural als communal voice gekennzeichnet. Zweitens wird auf inhaltlicher Ebene deutlich gemacht, dass die Erzählerstimme die Meinung einer Gruppe wiedergibt, denn sie wird sogar explizit als Stimme der »people of Excelsior«21 bezeichnet. Indem sie als Stimme einer Gruppe erscheint, erhält die Erzählerstimme im Spektrum der Stimmen und Perspektiven, die in einem narrativen Text inszeniert werden, zusätzliches Gewicht, also eine höhere narrative Autorität, als sie einer Einzelstimme in der Regel zugesprochen wird.22 Für die Verwirklichung eines Funktionspotentials im Sinne von gegendiskursivem Schreiben oder einer ›revolutionary literature‹ erscheint die communal voice geradezu als ideales Verfahren, um einer marginalisierten Gruppe eine gewichtige Stimme zu verleihen.23 Die communal voice läuft aber auch Gefahr, einer politisch funktionalisierbaren Homogenisierung der Sichtweisen Vorschub zu leisten, und steht damit im Widerspruch zum Ideal des neuen Humanismus. Anders als in vielen anderen postkolonialen Romanen wird die communal voice in The Madonna of Excelsior nicht einfach als Möglichkeit genutzt, um der Stimme der Marginalisierten Gehör und Gewicht zu verschaffen. Vielmehr wird die moralische Autorität der communal voice durch Strategien der Sympathielenkung unterminiert, vertritt sie doch negative Einstellungen gegenüber einer Figur, die eindeutig als Sympathieträger gezeichnet ist. Die bereits erwähnte Popi ist unter den Opfern von Gewalt in The Madonna of Excelsior vielleicht diejenige Figur, die im höchsten Maße die Sympathie der Leser und Leserinnen auf sich zu ziehen vermag. Durch Einblicke in ihre Entwicklung, in ihre Bewusstseinsvorgänge und in ihr Werte- und Normensystem wird Popi individualisiert und als weitgehend unschuldiges Opfer von sozialer Ostrakisierung und physischer Gewalt charakterisiert. Die communal voice fungiert als Sprachrohr der Gemeinschaft, die auf die ›Andersartigkeit‹ von Popi mit sozialer Ausgrenzung reagiert und damit zur Perpetuierung von Gewalt und zum Aufkeimen von »thoughts of revenge«24 bei der ostrakisierten Figur beiträgt: Even though on one hand we praised her [Popi] for being beautiful, and for having a wonderful voice, we continued to laugh at her for being a boesman. As we laughed at

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Zakes Mda: The Madonna of Excelsior. New York 2002, S. 70. Vgl. etwa Birgit Neumann: Erinnerung – Identität – Narration. Gattungstypologie und Funktionen kanadischer Fictions of Memory. Berlin, New York 2005, S. 167: »Erinnerungen, die von einer communal voice dargestellt werden, haben eine verbindliche und affektiv-normative Relevanz für eine soziale Gruppe. Sie bilden den Bodensatz einer nicht verhandelbaren, kollektiv geteilten Wir-Identität« sowie S. 168: »Dort, wo Vergangenheiten von einer communal voice zum Ausdruck gebracht werden, steht deren Authentizität nicht in Frage.« Vgl. u. a. Hanne Birk: AlterNative Memories. Kulturspezifische Inszenierungen von Erinnerung in zeitgenössischen Romanen indigener Autor/inn/en Australiens, Kanadas und Aotearoas/Neuseeland. Trier 2008, Kap. 2.1.1. Mda: The Madonna of Excelsior, S. 137.

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other men and women, and boys and girls, who looked like her, and were brave enough to walk the streets of Excelsior. We laughed. Until she lost hope that we would ever accept her. Until she was filled with thoughts of revenge.25

Auch an anderen Stellen im Text diskreditiert sich die communal voice als mögliches moralisches Orientierungszentrum durch das Eingestehen von Reaktionen wie Schadenfreude und Sensationslust angesichts der Konfrontation mit den Opfern von Gewalt in Excelsior, wie beispielsweise die folgende Textstelle illustriert: It was always a spectator sport when someone was arrested. We crowded around the police van. Children and their parents. Grandmothers and grandfathers. Stretching our necks to take a good look at the day’s culprit. Squawking like mynas in a cage at feeding time. A feeding frenzy. Caged birds bearing witness to their fellow being transferred to another cage.26

Der Vergleich der schwarzen Einwohner und Einwohnerinnen des Ortes mit eingesperrten Vögeln zur Zeit der Fütterung trägt zur Unterminierung eines moralischen Anspruchs der communal voice als deren Sprachrohr bei, verweist zugleich aber freilich auch auf Gründe für dieses Verhalten: Die Erfahrung der eigenen Unfreiheit generiere Emotionen wie Sensationslust und Schadenfreude. Die Gestaltung der communal voice in The Madonna of Excelsior regt also einerseits zur Analyse gesellschaftlicher und mentaler Strukturen an, die zur Perpetuierung sozialer Ungerechtigkeit beitragen; andererseits lässt sie sich aber auch als Eingeständnis eigener Fehler lesen, was der Auseinandersetzung mit der Schuldfrage in Mdas Roman ein zusätzliches Maß an Komplexität verleiht. Im Gegensatz zu ihrem älteren Halbbruder Viliki, der sich am bewaffneten Kampf um Gleichberechtigung und Freiheit in Südafrika beteiligt, verhält sich Popi zunächst völlig unpolitisch. Die Einstellung der jungen Frau ändert sich jedoch grundlegend, als sie selbst zum Opfer physischer Gewalt wird. Zufällig gerät sie in Excelsior in eine Demonstration gegen die Apartheid. Sie sieht, wie Demonstranten niedergeschlagen werden, und wird schließlich auch selbst brutal angegriffen: Something hit Popi on the back of her head. She fell to the ground. She saw a police boot connecting with her face. She felt another crashing into her ribcage. She went numb. She could hear as if from a distance sounds of whips lashing on her body.27

In wenigen, konzisen Sätzen wird den Lesern an dieser Stelle eindringlich ein Gewaltszenario vor Augen geführt, das wohl keinen Zweifel an dem Ausmaß an physischer Gewalt, dem die Figur ausgesetzt ist, lässt. Nach der Niederschlagung der Demonstration wird seitens der Polizei zunächst verhindert, dass die verwundeten Demonstranten medizinische Hilfe erhalten, was die menschenverachtende Komponente des Vorgehens gegen die Demonstration zusätzlich unterstreicht. Die unmittelbare Konfrontation mit innergesellschaftlicher Gewalt wird für Popi zum

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Mda: The Madonna of Excelsior, S. 137. Mda: The Madonna of Excelsior, S. 130. Mda: The Madonna of Excelsior, S. 151.

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Initiationserlebnis. Nach dieser Erfahrung beschließt sie, sich politisch zu engagieren: »She was no longer going to be a bystander. Or a sidewalker who minded her own business. A sidewalker who had done no wrong and would therefore not run away.«28 Eine ähnlich konzise und doch drastische Darstellung von Gewalt wie die oben zitierte findet sich auch bei der Darstellung einer Folterung, der Popis schwarzer Halbbruder Viliki aufgrund seines Engagements für die politische Untergrundbewegung ausgesetzt ist: Viliki […] was in detention where the Special Branch policemen were torturing him, demanding a confession. He insisted he had none to make. He would rather die than betray his comrades. The more the electric current ran through his body and his genitals were clamped with a pair of pliers, the more hatred […] swelled in his body.29

Bei Viliki wie auch bei Popi löst die Erfahrung von Gewalt Hassgefühle aus; Gewalt bringt neuerliche Gewaltbereitschaft hervor. Während Popi sich ebenso wie ihr schwarzer Halbbruder dem Kampf gegen die Apartheid verschreibt, ist ihr weißer Halbbruder Tjaart Cronje ein eifriger Verfechter der Segregationspolitik. Er schließt sich dem südafrikanischen Militär an und ist überzeugt, an einem gerechten Kampf beteiligt zu sein; d. h. er folgt der hegemonialen Deutung des gewaltsamen Konfliktes, den die Buren mittels »[d]ramatic stories of heroes who fought against ungodly terrorists in the bush«30 in das kollektive Gedächtnis der Gruppe einzuschreiben suchen. Tjaart ist auch aktiv an der Niederschlagung jener Demonstration in Excelsior beteiligt, während der Popi verwundet wird, und zählt zu jenen, die den Verwundeten medizinische Hilfe versagen. Popis weißer Halbbruder, so verdeutlicht der Roman, ist zutiefst durch eine Kultur geprägt, die ihre Identität maßgeblich auf eine Geschichte der gewaltsamen Inbesitznahme des ursprünglich von schwarzen Bevölkerungsgruppen bewohnten Landes im Zuge des großen Treks im 19. Jahrhundert gründet.31 Die Identitätspolitik der Buren, die auf einer erinnerungskulturellen Verankerung der Geschichte von Gewalt und deren einseitiger Deutung beruht, wird in Mdas Roman immer wieder thematisiert. Der große Trek als zentrales identitätsstiftendes Ereignis war eine Reaktion auf die Abschaffung der Sklaverei in der Kapkolonie

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Mda: The Madonna of Excelsior, S. 152. Mda: The Madonna of Excelsior, S. 131. Mda: The Madonna of Excelsior, S. 136. Zur kollektiven Identität der Buren sowie der identitätsstiftenden Bedeutung des großen Treks und anderer gewaltsamer Konflikte vgl. Claudia Drawe: Erinnerung und Identität in ausgewählten Romanen der Postapartheid. Trier 2007, S. 14: »Im Gegensatz zu den englischsprachigen Südafrikanern hat diese Bevölkerungsgruppe [die Buren] einen engen Zusammenhang zwischen sich und dem Land entwickelt. Die Afrikaaner sehen sich als ein afrikanisches Volk, das […] ein auserwähltes ist und somit mythisch-religiösen Charakter gewinnt. Die gemeinsame Geschichte ist eine konstruierte (wie jede Geschichtsschreibung), die auf bestimmte Ereignisse wie den großen Trek, die Ausrufung der Republik, den Anglo-Boer War et cetera, rekurriert und die Rechtfertigung für die Apartheid wie auch für die Kultur der Afrikaaner und ihre enge Verbundenheit mit dem Land darstellt.«

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durch die Briten im Jahr 1834. Mehr als 10.000 Buren, die zuvor auf ihren großen Farmen Sklaven als Arbeitskräfte eingesetzt hatten, verließen nach 1834 die KapProvinz und zogen Richtung Nordosten, um sich dort eine neue Existenz aufzubauen. Im Zuge der Expansion in von schwarzen Bevölkerungsgruppen bewohnte Regionen kam es wiederholt zu gewaltsamen Auseinandersetzungen. Wird also der große Trek von den Buren als identitätsstiftendes Ereignis beschworen, dann wird damit eine gewaltsame Expansion verherrlicht. Wie bedeutsam der große Trek für die Identität der in Mdas Roman dargestellten Buren ist, wird dadurch unterstrichen, dass sie sich nicht nur auf das historische Ereignis selbst zur Legitimierung ihrer Machtposition berufen, sondern auch auf dessen gedächtnisstiftende Inszenierung hundert Jahre später. So erinnert eine Säule in Excelsior an jene Bürger des Ortes – ausnahmslos Buren natürlich –, die im Jahr 1938 mit Ochsenwagen den Trek von Kapstadt in das Landesinnere nachgestellt haben.32 In Mdas Roman werden durch die leitmotivische Bezugnahme auf den großen Trek historische Kontinuitätslinien der Gewalt aufgezeigt, die bis in die südafrikanische Gegenwart reichen und deren Wirkmacht u. a. an den Einstellungen von Tjaart Cronje deutlich wird. Dass es dennoch am Ende des Romans zu Ansätzen zu einer Aussöhnung zwischen den Halbgeschwistern Tjaart und Popi kommt,33 lässt sich als Ausdruck der Hoffnung deuten, dass Individuen in der Lage sind, aus den verhärteten Strukturen, in denen sie aufgewachsen sind, auszubrechen und letztlich auch den Zyklus der Gewalt zu beenden, der die Geschichte Südafrikas bisher bestimmt hat.

IV. Nadine Gordimer: None to Accompany Me In Nadine Gordimers Roman None to Accompany Me wird die innergesellschaftliche Gewalt, die in Südafrika in der Zeit unmittelbar nach dem Ende der Apartheid herrscht, vor allem mittels der Erinnerungen einzelner Figuren zur Geschichte der Gewalt zu Zeiten der Apartheid in Bezug gesetzt. Kontinuitätslinien der Gewalt werden vor allem an einer Figur festgemacht, einem jungen Schwarzen namens Oupa, der damals wie heute zum Opfer von Gewalt wird. Als Oupa eingeführt wird, wird er sogleich mit einem der wichtigsten südafrikanischen Erinnerungsorte in Verbindung gebracht, mit Robben Island, jener Insel vor Kapstadt, auf der auch Nelson Mandela von 1962 bis 1990 inhaftiert war und auf der Oupa vier Jahre in Haft war. Wenn Oupa von seiner Haft auf Robben Island und der Erfahrung von »brutality and heedless insult«34 berichtet, stellt er die Schrecken der Gefangenschaft zumeist in einem unangemessen wirkenden Plauderton dar: »Oupa’s lively accounts […] do not discriminate between terrors he has experienced and the everyday gossip of the Foundation’s personnel«.35 Der unangemessen wirkende

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Vgl. Mda: The Madonna of Excelsior, S. 30. Vgl. Mda: The Madonna of Excelsior, S. 252ff. Nadine Gordimer: None to Accompany Me. New York 1995, S. 15. Gordimer: None to Accompany Me, S. 36.

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Ton, den Oupa wählt, verweist auf charakteristische Strategien des Umgangs mit der Erinnerung an Gewalt auf individueller und kollektiver Ebene. Einerseits lässt sich Oupas »lively account« auf individueller Ebene als Versuch interpretieren, sich von den eigenen Erinnerungen zu distanzieren. Andererseits wird im Zusammenhang mit Oupas Inszenierung seiner Erinnerungen aber auch auf eine moralisch zweifelhaft erscheinende Haltung liberaler Weißer in Südafrika verwiesen, die den Erinnerungen der Opfer der Apartheid an die durchlebte Gewalt mit wenig verhüllter Sensationslust und einem Verlangen nach »vicarious experience«36 begegnen. Im Mittelpunkt von Gordimers Roman steht eine weiße Südafrikanerin, die englischsprachige Anwältin Vera Stark, die mit Oupa zusammenarbeitet. Durch ihre Arbeit für eine Organisation, die sich schon zu Zeiten der Apartheid für die Rechte der schwarzen Bevölkerung eingesetzt hat, ist Vera Stark als Gegnerin der Rassensegregation ausgewiesen. Ihre Position in der südafrikanischen Gesellschaft wird von der Protagonistin dennoch problematisiert. Vera stellt sich immer wieder jene Frage, die Gordimer 1959 zum Titel eines ihrer Essays gemacht hat: Where Do Whites Fit In?37 Die Protagonistin ist sich bewusst, dass sie selbst stets von den Privilegien der weißen Bevölkerungsschicht profitiert hat, sich aber auch zum Ziel gesetzt hat, einen Beitrag zur Beseitigung der ungerechten gesellschaftlichen Strukturen zu leisten. Dabei erkennt sie rückblickend kritisch die Grenzen eines (gewaltfreien) Einsatzes für die Rechte der Schwarzen, kam doch der Einsatz juristischer Mittel im Kampf gegen die Apartheid letztlich eher einer Suche nach Schlupflöchern gleich als einem systematischen Kampf gegen gesellschaftliche Unrechtsstrukturen. Das heißt, dass die Figur sich mit Problemen auseinandersetzt, die auch in Bezug auf die Frage nach der Wirksamkeit eines neuen Humanismus von zentraler Bedeutung sind, vor allem mit der Frage nach den Konsequenzen und Grenzen der Handlungsmöglichkeiten Einzelner. Gordimers Roman unterstreicht nicht nur, dass die südafrikanische Vergangenheit von Gewalt bestimmt war, sondern betont auch, dass die Zeit nach Beseitigung der Apartheid durch ein hohes Maß an innergesellschaftlicher Gewalt gekennzeichnet ist. Die Gewalt im neuen, demokratischen Südafrika wirkt vor allem durch ihre mediale Präsenz allgegenwärtig. So sieht die Protagonistin Vera sich tagtäglich durch die Medien einem endlos scheinenden Strom von Berichten über Gewalt ausgesetzt: There are wars and famines too far away to stir response; there are coups and drought drawing nearer, there are the killings of the night, still closer. Some mornings, attacks on farms; a white farmer shot, the wife raped or killed, money and car missing.38

Aber die Darstellung von Gewalt in Gordimers Roman bleibt nicht auf Referenzen auf deren mediale Repräsentation beschränkt; vielmehr werden Vera und Oupa im

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38

Gordimer: None to Accompany me, S. 15. Nadine Gordimer: Where Do Whites Fit in? In: The Twentieth Century 165 (1959), S. 326–331. Gordimer: None to Accompany Me, S. 110.

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Handlungsverlauf selbst zu Opfern von Gewalt. Bei einer Fahrt im Auftrag der Organisation, für die beide arbeiten, fallen sie einem Raubüberfall zum Opfer, in dessen Verlauf beide angeschossen werden. Während Vera sich bald von der Schusswunde erholt, stirbt Oupa an Komplikationen, die sich aus der Verletzung ergeben. Anders als in Mdas Roman wird die unmittelbare Konfrontation der Protagonistin mit innergesellschaftlicher Gewalt nicht zu einer Initiationserfahrung, die zu politischem Engagement und aktivem Widerstand motiviert; vielmehr löst Oupas Tod bei Vera Trauer sowie ein Gefühl von Resignation angesichts der anhaltenden Gewalt aus. Die Art und Weise, in der der Überfall kommentiert wird, betont zum einen, dass das, was Vera und Oupa widerfährt, kein Einzelfall ist, und unterstreicht damit, welches Problem innergesellschaftliche Gewalt für die südafrikanische Gesellschaft bedeutet. Zum anderen werden im Zusammenhang mit dem Überfall gängige Deutungsmuster innergesellschaftlicher Gewalt in Südafrika aufgezeigt: In the context of newspaper headlines, the nightly sheet-lightning of violence, psychedelic entertainment darkening and flaring on the television screen, this must be an attack by black hatred on a white foolish enough to think she had any reason to be in an area whites themselves had declared fit only for blacks; or it could be an attack by white hatred of white collaborators with blacks’ intention to seize land – the land! – for themselves. Either way, serve the victims right. And the third possibility. Created as climate creates conditions, accepted like the lack of rain – the couple could have been robbed because they didn’t lock the doors, they didn’t keep the gun handy, they should have had the sense to stay at home. Stay out of it.39

Mit Schuldzuweisungen, so suggeriert dieses Zitat, ist die öffentliche Meinung schnell bei der Hand, und auch ein gewisses Maß an Selbstgefälligkeit und Schadenfreude werden ersichtlich. Damit erinnert die Darstellung der öffentlichen Meinung in None to Accompany Me in auffälliger Weise an das Bild der öffentlichen Meinung, repräsentiert durch die communal voice, das in Mdas The Madonna of Excelsior gezeichnet wird.

Fazit Ungeachtet der vielfältigen Unterschiede zwischen den beiden Romanen im Hinblick auf die Darstellung innergesellschaftlicher Gewalt konvergieren sie in einem zentralen Punkt, kritisieren doch beide die mangelnde Reflexivität der öffentlichen Meinung, die auf innergesellschaftliche Ungerechtigkeit und Gewalt vor allem mit Selbstgefälligkeit und Sensationslust reagiert. Im Einklang damit steht die große Bedeutung, die beide dem Handeln des Einzelnen beimessen. Die beiden Romane, die hinsichtlich ihrer Darstellung und Analyse innergesellschaftlicher Gewalt in Südafrika untersucht wurden, lassen sich nicht zuletzt aufgrund ihrer Betonung der Bedeutung individuellen Handelns und des Aufbrechens

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Gordimer: None to Accompany Me, S. 188f.

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gängiger Kategorien im Sinne des von Said formulierten neuen Humanismus lesen, dessen Quintessenz Abraham wie folgt charakterisiert: This sort of humanism recognizes the necessity of confronting the power and possibility of human choice, the embrace of human agency and alternative futures, and the human reconciliation made possible by that embrace.40

Bibliographie Abraham, Matthew: Introduction. Edward Said and After. Toward a New Humanism. In: Cultural Critique 67 (2007), S. 1í12. Ashcroft, Bill: Resistance and Transformation. In: English Literatures in International Contexts. Hg. von Heinz Antor/Klaus Stierstorfer. Heidelberg 2000, S. 15í27. Birk, Hanne: AlterNative Memories. Kulturspezifische Inszenierungen von Erinnerung in zeitgenössischen Romanen indigener Autor/inn/en Australiens, Kanadas und Aotearoas/Neuseeland. Trier 2008. Drawe, Claudia: Erinnerung und Identität in ausgewählten Romanen der Postapartheid. Trier 2007. Ehmeier, Walter: Literature in Time with History. South African Literature in English and Political Change in the 1960s. Essen 1995. Fanon, Frantz: The Wretched of the Earth. Harmondsworth 1990. Fluck, Wilfried: Das kulturelle Imaginäre. Eine Funktionsgeschichte des amerikanischen Romans 1790í1900. Frankfurt/M. 1997. Gordimer, Nadine: Where Do Whites Fit in? In: The Twentieth Century 165 (1959), S. 326í331. í None to Accompany Me. New York: Penguin, 1995 [1994]. Grill, Bartholomäus: Arme gegen Ärmere. In: Die Zeit, 21. Mai 2008, S. 9. Hagena, Antje: ›Liberal Realism‹ and ›Protest Literature‹ as Concepts of South African Literary History. In: Crisis and Conflict. Essays on Southern African Literature. Hg. von Geoffrey V. Davis. Essen 1990, S. 73í88. Lanser, Susan Sniader: Fictions of Authority. Women Writers and Narrative Voice. Ithaca, NY 1992. Mda, Zakes: Current Trends in Theatre for Development in South Africa. In: Writing South Africa. Literature, Apartheid, and Democracy, 1970í1995. Hg. von Derek Attridge/Rosemary Jolly. Cambridge 1998. S. 257í264. í The Madonna of Excelsior. New York 2002. Neumann, Birgit: Erinnerung – Identität – Narration. Gattungstypologie und Funktionen kanadischer Fictions of Memory. Berlin, New York 2005. Said, Edward: Preface to the Twenty-Fifth Anniversary Edition. In: Orientalism. New York 2003, S. xvíxxx. Tiffin, Helen: Post-Colonial Literatures and Counter-Discourse. In: The Post-Colonial Studies Reader. Hg. von Bill Ashcroft/Gareth Griffiths/Helen Tiffin. London, New York 1995, S. 95í98. Wagner, Kathrin M.: ›History from the Inside‹? Text and Subtext in some Gordimer Novels. In: Crisis and Conflict: Essays on Southern African Literature. Hg. von Geoffrey V. Davis. Essen 1990, S. 89í107.

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Abraham: Introduction, S. 6.

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Zapf Hubert, Literatur als kulturelle Ökologie. Zur kulturellen Funktion imaginativer Texte an Beispielen des amerikanischen Romans. Tübingen 2002.

Abstract Die südafrikanische Geschichte wie auch die südafrikanische Gegenwart sind maßgeblich durch das Phänomen innergesellschaftlicher Gewalt geprägt. Daher verwundert es nicht, dass innergesellschaftliche Gewalt ein Thema ist, das in der öffentlichen Diskussion in Südafrika – und über Südafrika – nach wie vor eine wichtige Rolle spielt. Angesichts der großen Bedeutung, die innergesellschaftliche Gewalt in der Geschichte wie in der Gegenwart Südafrikas zukommt, sahen und sehen sich südafrikanische Intellektuelle zu Stellungnahmen zum Kreislauf der Gewalt herausgefordert. Während des Apartheidregimes äußerten sich viele südafrikanische Intellektuelle, bisweilen unter großen persönlichen Risiken, kritisch über die Rassensegregation und lieferten in fiktionalen und nicht-fiktionalen Texten Analysen innergesellschaftlicher Gewalt. Dass südafrikanische Intellektuelle häufig fiktionale Texte als Medium für eine Analyse der Ursachen und Folgen innergesellschaftlicher Gewalt heranziehen, ist nicht zuletzt auf die Möglichkeiten der Semantisierung literarischer Darstellungsverfahren zurückzuführen. Im Gegensatz zu nicht-fiktionalen Texten eignet sich der fiktionale Freiraum nicht nur zum Entwurf utopischer oder dystopischer Szenarien, sondern beispielsweise auch zu einer multiperspektivischen Auffächerung von Themen wie etwa innergesellschaftliche Gewalt und zur Gegenüberstellung divergierender, durchaus auch antagonistischer Sichtweisen zu bestimmten Problemlagen. In diesem Artikel soll anhand von zwei Romanen – Nadine Gordimers None to Accompany Me (1994) und Zakes Mdas The Madonna of Excelsior (2002) –, die sich mit dem Übergang vom Apartheidsstaat zum demokratischen Südafrika auseinandersetzen, exemplarisch das spezielle Potential literarischer Texte zur kritischen Auseinandersetzung mit innergesellschaftlicher Gewalt in Südafrika im Sinne eines ›neuen Humanismus‹ (sensu Said) aufgezeigt werden. In beiden Romanen wird innergesellschaftliche Gewalt in vielfältiger Weise thematisiert und im Hinblick auf die Bedingungen ihrer Entstehung kritisch beleuchtet. Für beide Werke ist zudem kennzeichnend, dass sie ein breites Figurenspektrum entwerfen, welches zur multiperspektivischen Auffächerung des Themas innergesellschaftliche Gewalt und zur Gegenüberstellung kontroverser Einstellungen dient. Als Perspektiventräger dienen Repräsentanten der verschiedenen Bevölkerungsgruppen und politischen Gruppierungen in Südafrika, die unterschiedliche Einstellungen zur Gewalt und zu Legitimierungen gewaltsamer Handlungen vertreten.

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Gewaltdarstellung und kritische Postkolonialität in Ken Buguls La Folie et la Mort und Léonora Mianos L’intérieur de la nuit

1. Einleitung Das Bild vom Kontinent Afrika verbindet sich in europäischen Medien und Gemütern häufig mit denen des Hungers und der Korruption, mit Vorstellungen von sozialer Unsicherheit und politischen Unruhen, von Armut und Krieg. Instabilität und die Gefahr immer neuer Katastrophen speziell in Schwarzafrika bzw. in subsaharischen Staaten gelten als nicht zu bewältigende Erscheinungen. Nichtveränderbarkeit wird dabei als typisch afrikanisch begriffen. Diese Schematisierungen gehen teilweise aus dem Desinteresse der politisch Verantwortlichen hervor. Sie können dazu dienen, politische Apathie zu entschuldigen und europäisches oder nordamerikanisches Hegemonialdenken zu legitimieren. Im Übrigen wird auch Spendenfreude mobilisiert und staatliche Entwicklungshilfe gerechtfertigt, indem man den Eindruck verstärkt, nur Hilfe von außen könne innere Veränderungen bewirken. Die betroffene Bevölkerung erscheint in dieser Sicht als ausgeliefert, unschuldig, machtlos. Von afrikanischer Seite wird das vorurteilbeladene Bild des Kontinents zurecht als einseitig und diffamierend kritisiert. Häufig wird darin eine Fortsetzung des Kolonialismus mit anderen Mitteln gesehen.1 Die Benutzung des Begriffes »Afrika« zur Bezeichnung der heterogenen Entität stellt dabei weniger ein Problem dar als die undifferenzierte Wahrnehmung politisch-sozialer Konstellationen und der Eindruck von Rechthaberei, gönnerhafter Herablassung, Selbstbespiegelung und US- oder Eurozentrismus, die sich laut vielen Kritikern hinter Humanität und dem Wunsch nach interkultureller Annäherung verbergen.2 Die Literatur bestätigt den von ihr privilegierten Themen nach das Bild eines in Krieg, Armut und Misswirtschaft verfallenen Afrika. Speziell innergesellschaftliche Gewalt bildet einen Hauptgegenstand neuerer Literatur afrikanischer Autorinnen und Autoren, etwa Gewalt in diktatorischen Regimen, Warlord-Eroberungs-

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Vgl. z. B. die entsprechenden Äußerungen von Alexandre Kum’a Ndumbe. Man denke auch an die Rede von Nicolas Sarkozy in der Universität Cheikh Anta Diop in Dakar am 26. Juli 2007; vgl. hierzu Makhily Gassama (Hg.): L’Afrique répond à Sarkozy. Contre le discours de Dakar. Paris 2008, ein Band, in dem dreiundzwanzig Intellektuelle – Schriftstellerinnen, Schriftsteller, Wissenschaftlerinnen, Wissenschaftler – auf die provokante Rede des französischen Staatspräsidenten reagieren. So schrieb Uzodinma Iweala in Le Monde: »[…] L’Afrique ne veut pas être sauvé.« (29./30.7.2007). Iweala, aus nigerianischer Familie, in Washington großgeworden, ist – und das ist im vorliegenden Zusammenhang von Interesse – der Autor des Romans Beasts of no nation (2005) über einen afrikanischen Kindersoldaten, der als Vorlage für das Tanzstück Nine Finger des Genter Choreographen Alain Platel diente.

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kriege oder ethnische Kämpfe. An aktuellen frankophonen Romanen sind Ahmadou Kouroumas Allah n’est pas obligé (2000) oder die Texte zu nennen, die aus dem Projekt Ecrire par devoir de mémoire zum Genozid in Ruanda hervorgegangen sind, z. B. La Phalène des collines (2000) von Koulsy Lamko oder L’Aîné des orphelins (2000) von Tierno Monénembo, auch der 2008 verfilmte Roman Johnny chien méchant (2002) von Emanuel Boundzéki Dongala, Ken Buguls La Folie et la Mort (2000), Boubacar Boris Diops Le Cavalier et son ombre (1997) und Kaveena (2006), Léonora Mianos L’intérieur de la nuit (2005) oder Gilbert Gatores Le passé devant soi (2008). Der Grad der Referentialisierung ist dabei unterschiedlich. Dargestellte strukturelle oder körperliche Gewalt verweist nicht zwingend auf ›reale‹ Gewalt, insbesondere erschöpft sich nicht der Textsinn darin. Zwei Romane, in denen die Gewaltdarstellung für eine kritische Gesellschaftsanalyse funktionalisiert wird und deren kritische Funktionalisierung wiederum auf die Auffassung von intellektueller Intervention zurückschlägt, werden hier vorgestellt: Ken Buguls La Folie et la Mort und Léonora Mianos L’intérieur de la nuit. Die Rolle von Intellektuellen wird darin anhand von Figuren eher am Rande abgehandelt, aber es geht wesentlich um Intellektualität, um Rationalität und Irrationalität, um die Problematisierung einfacher Rückkehr zu spirituellen Traditionen und um Einsicht in politische und ideologische Zusammenhänge. Zudem nehmen die Romane über den gesellschaftskritischen Ansatz hinaus eine eigene Haltung in der Debatte um Position und Stoßrichtung postkolonialer Intellektueller ein, die sich in Beziehung zum »profond désillusionnement« postmoderner, postkolonialer Literatur setzen lässt.3 Von nicht unerheblicher Bedeutung ist dabei, dass aus afrikanischer Sicht Schriftsteller und Schriftstellerinnen ohnehin ihrer akademischen Ausbildung bzw. ihrer Sprecherfunktion in der Gesellschaft wegen als Intellektuelle gelten. So werden sie beispielsweise als »educated elite«4 beschrieben, welche innerhalb oder außerhalb staatlicher Institutionen Verantwortung für das Gemeinwesen trägt, und ihre politischen und kulturellen Interventionen prinzipiell unter dem Aspekt der Handlungsorientierung gesehen, dabei meistens mit den Zielen der Entwicklungspolitik in Verbindung gebracht, zu denen auch die Aufgabe gezählt wird, »Tradition« und »Fortschritt« miteinander zu versöhnen und für die Zukunft fruchtbar zu machen.5 Literatur, die die Gegebenheiten der politischen Wirklichkeit thematisiert

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Hans-Jürgen Lüsebrink: »Introduction«. In: ders./Katharina Städtler (Hg.): Les littératures africaines de langue française à l’époque de la postmodérnité. Etats des lieux et perspectives de la recherche. Oberhausen 2004, S. 7–12, S. 17. Vgl. hierzu Toyin Falola: Nationalism and Intellectuals. Rochester 2001, S. 50. Vgl. zu afrikanischen Intellektuellen und ihren Aufgaben z. B. Toyin Falola: Nationalism and Intellectuals. Rochester 2001; Henning Melber (Hg.): African Empowerment: Knowledge and Development. Frankfurt am Main, Wien 2002; Thandika Mkandawire: African Intellectuals. Rethinking Politics, Language, Gender und Development. Dakar, London, New York 2005. Vgl. auch Abdoulaye Gueye: Les intellectuels africains en France. Préface de Babacar Sall. Paris 2001. Vor allem Ken Bugul, aber auch Léonora Miano sind durch publizistische Veröffentlichungen in Erscheinung getreten und können insofern auch im traditionellen westeuropäischen Sinne als Intellektuelle gelten. Ken

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und auf eine Veränderung derselben drängt, wird aus afrikanischer Sicht prinzipiell als Mittel intellektueller Intervention verstanden.

2. Zu den Romanen La Folie et la Mort von Ken Bugul aus dem Jahr 2000 folgt dem Modell des realistischen Romans und höhlt es als ein Anti-Bildungsroman aus,6 changierend zwischen Sarkasmus und Realismus, wirklichkeitsnaher Erzählung, Parodie des europäischen Romans und Märchen. Die Handlung spielt in Le Continent, imaginäres Sinnbild eines korrupten und verarmten afrikanischen Staats, regiert vom willkürlich agierendenen Diktator Grand Timonier. Repression, Rivalität und Gewalt bestimmen den Alltag. Analog zu den Vorschriften, mit denen Alfred Jarrys König Ubu sein Land terrorisiert und die zum Gebrauch der machine à décerveler führen, finden sich hier absurde Dekrete, darunter eines, das auf seine Weise »Enthirnung« verlangt: Alle Verrückten, die denken, und alle Verrückten, die nicht denken, werden getötet.7 Diese Maßnahme wird mit dem herrschenden Bürgerkrieg im Ausland und den großen Flüchtlingsströmen begründet.8 Eingefügt sind Passagen surrealistischen Gehalts und eine Reihe von bewusst ungeordnet aufgeführten Realitätsreferenzen, etwa die Nennung von »Lady Di« und Bob Marley oder des Genozids in Ruanda. Integriert sind ferner zahlreiche Kommentare eines auktorialen Erzählers, in denen Regierungsmethoden, Weltbank, Aids, Korruption, Prostitution und Entwicklungshilfe kritisiert werden. Die Parolen zu good governance – transparente Bürokratie, Dekolonisation, Demokratie – entlo-

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Bugul hat in Radio-, Zeitschriften- und Buch-Interviews klare politische Meinungen geäußert (vgl. z. B. Pierrette Herzberger-Fofana: Ecrivains africains et identité culturelles. Entretiens. Tübingen 1989), Léonora Miano äußerte sich zu ihren Büchern, zur Situation Afrikas und zum Verhältnis von Afrikanern und Europäern in vielen Interviews, die seit dem Erscheinen von L’intérieur de la nuit mit ihr geführt wurden (vgl. http:// www.leonoramiano.com/index.php; 23.10.2008). Ken Bugul wurde 1947 oder 1948 unter dem Namen Mariétou Biléoma Mbaye im Senegal geboren. Sie studierte im Senegal und in Belgien und arbeitete von 1986 bis 1993 für eine internationale Organisation (International Planned Parenthood Federation, Africa Region) in Nairobi (Kenia), Brazzaville (Kongo) und Lomé (Togo). Heute lebt sie in Porto-Novo im Benin, ist dort als Schriftstellerin tätig und betreibt eine Kunstgalerie. 2000 wurde sie mit dem Grand Prix Littéraire de l'Afrique Noire ausgezeichnet. Sie hat zahlreiche Romane verfasst, von denen der erste auch ins Deutsche übersetzt wurde: Die Nacht des Baobab (dt. 1986). – Alle Übersetzungen ins Deutsche aus La Folie et la Mort und L’intérieur de la nuit sind von der Verfasserin. Ken Bugul: La Folie et la Mort. Roman. Paris 2000, S. 12: »[...] le décret qui décrète que tous les fous qui raisonnent, et tous les fous qui ne raisonnent pas, donc tous les fous, doivent être tués sur tout l’étendue du territoire national.« Vgl. Bugul: La Folie et la Mort, S. 11: »La nouvelle guerre civile et fratricide qui sévit à côté de nous a déjà fait dix mille morts et cent mille personnes sont sur les routes en direction de L, M, N, O, P, Q, les pays limitrophes, dont nous faisons partie.«

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cken der Erzählfigur Hohn und Gelächter. Mit dieser Erzähltechnik operiert La Folie et la Mort auf typische Weise kritisch: mit den Mitteln der ästhetischen Avantgarde und Umsetzungen afrikanischer oraler Erzähltraditionen sowie jenen der klassischen europäischen politischen Kritik. Das zeigt auch der Handlungsverlauf: Die vier Protagonisten, zwei Frauen und zwei Männer, ziehen in der Hoffnung auf gute Berufsaussichten vom Dorf in die Stadt.9 Als Dorfbewohner sind sie nach dem Scheitern der Entwicklungsprogramme verarmt, nahezu bildungs- und gänzlich chancenlos. Die Stadt gilt ihnen als gelobtes Land, in dem man seine Träume mit etwas Geschick in Erfolg verwandeln kann.10 Sie ist jedoch ein dreckiger, labyrinthischer, verkommener Ort mit nur vordergründig besserem Lebensstandard. Eine willkürlich vorgehende Polizei verängstigt die Bürger und verleitet sie zu hysterischen Reaktionen. Die Bürger, »das Volk«, sind jedoch nicht unschuldig. Der größte Feind in der Stadt sind andere Stadtbewohner oder Nachbarn, aus Neid, Missgunst oder Angst jederzeit zu Denunziationen und Gewalt bereit. Auch die Repräsentanten der Staatsmacht bieten keinen Schutz.11 An Mom Dioum, einer der weiblichen Hauptfiguren, zeigt sich besonders, dass La Mort et la Folie nicht als roman de formation, sondern als roman de déformation gedacht ist. Sie absolviert in der Stadt ein Wirtschaftsstudium, arbeitet als Prostituierte, um das Studium zu finanzieren, dann als ebensolche auf einem Luxusboot, in einer Inszenierung aus »mirages«12, in der halbnackte Frauen männlichen Zuschauern als Teil einer Wirklichkeit jenseits der manifesten Realität präsentiert werden. Mom Dioum flieht zurück aufs Dorf, als sie von den damit verbundenen Verbrechen hört. Ihre Biographie macht den Misserfolg der Übernahme kolonialer Institutionen wie Schule und Universität manifest. Dass die Universität als akademische Schmiede für Intellektuelle in einem desolaten politischen System gut funktionieren kann, ist offensichtlich zu bezweifeln. Das Luxusboot setzt metaphorisch die flottierende, zynische Lebensweise einer macht- und geldgierigen Oberschicht um. Kennzeichen des engen Verhältnisses zwischen afrikanischer Elite, Weltbank und Experten ist der Betrug, Betrug im Sinne von Korruption und im Sinne des Scheins, einem Kreislauf von Vorspiegelungen. Die

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Vgl. Bugul: La Folie et la Mort, S. 112: »Avec son diplôme universitaire, elle allait trouver un mari à la ville, un mari cadre aussi. Ils allaient former un beau couple. Ils allaient voyager, faire des enfants, mais pas beaucoup. Elle avait lu dans les manuels, et entendu dans les discours, qu’il ne faillait pas faire beaucoup d’enfants, d’après les experts.« Vgl. Bugul: La Folie et la Mort, S. 49ff. Als Fatou Ngouye und Yoro in die Stadt kommen, sehen sie einen Polizisten in Uniform, erschrecken bei diesem ihnen unbekannten Anblick, schreien, werden von Umstehenden des Diebstahls bezichtigt und aufs Revier geführt. Fatou Ngouye wird von einem Vorgesetzten vergewaltigt, kommt ins Krankenhaus, dann zu einem Pfarrer, der sie regelmäßig sexuell missbraucht und schwanger in ein Wohnheim abschiebt, von wo sie wegrennt, als sie das Wort »stehlen« hört. Sie gerät auf einen Marktplatz, wo man sie wieder als Diebin bezichtigt, mit Benzin übergießt und anzündet. Fatou Ngouye verwandelt sich in eine schwarze, hochschwangere Statue. Ihr Begleiter Yoro wird männlicher Prostituierter. Bugul: La Folie et la Mort, S. 216.

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Betrugsmotivik – Schein, Maskerade, Fata Morgana, Köder, Wunschbild usw. – durchzieht den Text und wird jeweils zum Prüfstein intellektueller Differenzierung zwischen Handeln, Reden und Motivation. Einen besonderen Akzent legt Ken Bugul auf die spezifische Verbindung von korrupter Herrschaft und Missbrauch spiritueller Traditionen. Zurück im Dorf will Mom Dioum, wie es refrainartig heißt, durch eine Lippen-Tätowierung »sich töten, um wiedergeboren zu werden«13. Die Schmerzen erträgt sie allerdings nicht, sie unterbricht den Tätowierungsakt und flieht. Der einfache Weg zurück zu den Wurzeln der Tradition ist unmöglich, so gibt die Autorin zu verstehen, die Tradition, welche die Frau in eine bestimmte Rolle drängt, bietet kein akzeptables Ordnungsmuster mehr. Die Wirklichkeit der unsichtbaren Welt und einer mit rationalen Maßstäben nicht kompatiblen Kausalität wird dabei nicht grundsätzlich bestritten. Über weite Teile bestimmt ein »magisches Szenario«14 die Handlung, in dem eigene Gesetzmäßigkeiten herrschen: Mom Dioum flieht mit ihrem durch die halbe Tätowierung entstellten Gesicht in die Wüste, wird von einem Fremden aufgenommen, in Wirklichkeit einem wilden Tier, vor dem sie ein Märchenwesen warnt. Sie flieht, hört Blätter flüstern, sieht wie sie riesenhafte Wellenmeere und Feuersbrünste verfolgen, bis sie dem hungrigen Monster entgeht. Diese Episode gehört zu den wenigen positiven in La Folie et la Mort. Als Mom Dioum auf einen Marktplatz und damit wieder in die »rationale« Wirklichkeit gerät, wird sie von den Dorfbewohnern zur »Verrückten« erklärt bzw. spielt, um ihr Leben zu retten, »die Verrückte«, bis zur Einweisung in eine psychiatrische Klinik. Dort lernt sie Yaw kennen, ebenso wenig verrückt wie sie. Zwischen beiden entfaltet sich eine stille Liebe, die schließlich durch Gewalt beendet wird. Yaw macht den Tötungspakt wahr, allerdings ohne die Re-Iterationskomponente, und bringt Mom Dioum um, als sie beginnt, trotz des Wahnsinnsdekrets gemeinsame Pläne zu schmieden. Wenig verschlüsselt liefert La Folie et la Mort durch die Schilderung der Lebensläufe Hinweise auf die Gefahren undemokratischer Systeme. Die Mischung aus politischer Diktatur und traditionellen Denkweisen der Bevölkerung, die als ebenso hilflos wie kleingeistig und leicht verführbar präsentiert wird, hat die Ausstoßung von Einzelnen aus der Gemeinschaft zur Folge, die nicht korrupt leben wollen. Das Problem der Figuren ist immer, trotz Integrationswillen außerhalb einer Gruppe zu stehen, nicht Teil des sozialen Verbunds zu sein, ein Verbund, der für jeden zur Bedrohung werden kann. Die verheerenden Folgen der Kollektivität, einer der wichtigsten afrikanischen Werte, werden diskreditiert. Insofern ist dem Urteil von Patricia Célérier zur »construction dichotomique classique de la violence«15 in La Folie et la Mort nur bedingt zuzustimmen. Selbst das Tarnkleid

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Bugul: La Folie et la Mort, S. 46. Vgl. zu entsprechenden Erzählformen Xavier Garnier: La magie dans le roman africain. Paris 1999, S. 65ff. Patricia Célérier: »Engagement et esthétique du cri«, in : Notre Librairie 148, 2 (2002). (Spezialausgabe Penser la violence). S. 8–11, hier S. 10.

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Verrücktheit hilft nicht, denn wer nicht in der Ordnung steht,16 stirbt einen sozialen, symbolisch umgesetzt in den physischen Tod. Strukturelle Gewalt, Repressionsgewalt in der Diktatur und körperliche Gewalt stehen in kausaler Beziehung. Nicht nur von den politischen Repräsentanten und der ökonomischen »Elite«, sondern auch von spirituellen Anführern und der Bevölkerung wird extreme Gewalt gegen Mitbürger ausgeübt. Speziell auf die ungute Verbindung moderner Unterdrückungsstrategien mit konventionellen, kulturell tief verankerten Werten hebt Ken Bugul dabei ab. Yaw geriert sich als Verrückter, nachdem er mit angesehen hat, wie Dorfbewohner am Vortag eines rituellen Festes zur Feier der Ahnen als Vorfahren verkleidet in den Hügeln Kinder des eigenen Dorfes umbringen. Dies ist der Punkt, an dem sich Staatsgewalt, rituelle Gewalt, wie sie auch die Tätowierung von Mom Dioum darstellt, und innergesellschaftliche kollektive Gewalt berühren. Die Kinder werden gefesselt, vergiftet, erwürgt und enthauptet, die Köpfe in einen Sack gesteckt. Als Opfergaben sollen sie dem Grand Timonier dargebracht werden, um ihn zum mächtigsten und reichsten Mann des Planeten zu machen.17 Die Ermordung wird von den Tätern, Männern des Dorfes, als Kult verstanden, den sie seit fünf Jahren durchführen und mit dem sie in diesem Jahr angeblich »Freiheit« erlangen. Die Fragwürdigkeit des Freiheitsbegriffs und seiner Prämissen liegt auf der Hand. Implizit ist klar, dass Le Grand Timonier den Kult zur Stärkung seiner Macht missbraucht. Der Kult ist Teil einer repressiven Strategie zur Verstetigung der Diktatur. Sein Versprechen, im Austausch für die blutigen Köpfe Freiheit zu gewähren, ist absurd, für die Dorfbewohner aber reales Zeichen seiner Allmacht. Die Gewalt, die die Gruppe gegen einen Teil des eigenen Dorfes ausübt, die Tabubrüche, die dabei begangen werden, setzt der Staatsführer bewusst ein. Zur Strategie gehört auch das Delegieren des Mordens, denn die Dorfbewohner sind nicht nur Mitschuldige, sondern schuldige Täter und damit aktiver Teil des repressiven Systems. Die im Modus des Absurden vorgebrachte Gesellschaftskritik, als solche dazu gedacht, das Analysevermögen der Leser zu stimulieren, wird sekundiert von einer Aufwertung nicht-rationaler Erkenntnisformen. Mit der Integration von sprachlichrituellen Elementen in sakralem Stil zeigt Ken Bugul, dass nicht primär Kult, Ritus, magisches Denken und Durcherleben von Erweckungsgefühlen schädlich sind, sondern deren Gebrauch. Daran, dass Mom Dioum nur fliehen, nicht ankommen kann, mag man einen Kommentar zur aktuellen politischen Lage sehen. Der Figur wird allerdings einmal Kraft verliehen, alle Hindernisse zu überwinden und Freiheit zu gewinnen, nämlich als sie dem Märchenwesen entgegen allen rationalen Einwänden Glauben schenkt und seine Aufforderungen befolgt. Ferner liefert der Roman die Erkenntnis der Instrumentalisierung des Ritus zur Gewaltanmaßung

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Verrückt meint im traditionellen afrikanischen Denken nicht nur »geistig verwirrt«, sondern, laut Ibrahima Sow, »von der Gruppe isoliert« (vgl. Ibrahima Sow: Les structures anthropologiques de la folie en Afrique Noire. Paris 1978). Bugul: La Folie et la Mort, S. 141.

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nicht explizit. Geradezu ein nicht-rationaler Denkmodus wird mitunter vom Leser verlangt, der der Versenkung, ausgelöst durch einen poetischen, an Wiederholungen reichen Stil. Der Weg zur Einsicht ist damit nur teilweise ein Vorgang der Erhellung durch Aufzeigen. Mehrmals wiederholt der Text in signifikanten Momenten die Passage, die auch den Romananfang bildet: Il fait nuit. Une nuit noire. Une nuit terriblement noire.18 Il fait nuit. Une nuit noire. Une nuit terriblement noire. Une nuit étrangement noire. Une nuit horriblement noire.19

Während der Zeremonie des Tags nach dem Kindermord versinkt in einem Moment alles um Yaw, es wird metaphorisch Nacht: »Yaw sah nichts mehr, hörte nichts mehr«20. Er erlebt die Szene wieder, versteht die Vorgänge und schöpft daraus die Kraft für Rebellion. Im Dunkeln kommt Yaw die Frage, ob dies die »Kultur seines Landes« sei, eine »Maskerade«. Als Yaw die mittlerweile als Ahnen auftretenden Mörder denunziert, wird er von ihnen fast erschlagen, wäre da nicht ein Missionar, der ihn rettet und weit über Land in die psychiatrische Klinik bringt. Seine Hoffnung, die Umstehenden würden ihm helfen, hat getrogen.21 Wiedererleben und Re-Iteration als Teil afrikanischer Kulte werden hier literarisiert, die Sprache wird »afrikanisiert«, und das nicht nur in dieser Passage. Hier aber wird der Modus des Wiedererlebens besonders sichtbar bzw. hörbar textstrukturell umgesetzt, in Satz- und Syntagmenwiederholungen und in rhythmisch regelmäßig gesetzten Sätzen.22 Anhand der Szene extrem destruktiver körperlicher Gewalt gegen die Kinder der eigenen Gemeinschaft wird der Leser durch die Sprachform zum Nachvollziehen von Yaws Einsicht motiviert. Die durch die Fiktion intendierte »Aufklärung« geht vom Irrationalen, Intuitiven erst aus. Er-

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Bugul: La Folie et la Mort, S. 11. Bugul: La Folie et la Mort, S. 143. Bugul: La Folie et la Mort, S. 145 (»Yaw ne voyait plus rien, n’entendait plus rien.«) Bugul: La Folie et la Mort, S. 146f.: »Ils sont déguisés, ce ne sont pas des morts qui sont revenus. / Je les ai vus, ils n’ont qu’à enlever les masques, ils ne sont pas des ancêtres revenants, c’est une mascarade. / Croyez-mois, je vous jure que je les ai vus. [...] Yaw eut peur, recula de quelques pas et pensant que la foule allait le soutenir, il continua, la prenant à témoin : Ce sont tous des faux, ce ne sont pas des ancêtres, ce sont des assassins, des criminels, des tueurs d’enfants [...]. Les sages passèrent à travers la foule et furent rejoints par d’autres personnes âgées qui se trouvaient là.« Ein anderes Beispiel für magische Beschwörungen in Formeln ist die Wiederholung des Mottos vom Sterben, um wiedergeboren zu werden. Man kann das als übliches MotivVerfahren werten. Darin gehen zusätzlich poetische Formeln afrikanischer Dichtung ein und wird Reden nicht als vorwärtsschreitender Vorgang vorgeführt, sondern als »Aufder-Stelle-Gehen« und Vertiefung.

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kenntnis ist in La Folie et la mort nicht das Gegenstück zum Irrationalen, sondern dessen Fortsetzung. Die symbolische Überhöhung als Teil des mörderischen Ahnen-Ritus dient in La Folie et la Mort dem Diktator dazu, Omnipotenz zu beweisen. Ein ähnlicher Konnex bestimmt die Gewaltdarstellung in Mianos L’intérieur de la nuit.23 Stilistisch mischen sich auch hier Abstraktion und Konkretion, abstrakt die nicht referentialisierbare und chronotopologisch wenig verankerte Romanwirklichkeit, konkret die Details. Hauptschauplatz ist das Dorf Eku im imaginären Staat Mboasu. Die Bewohner leben nach traditionellen Gesetzen, geographisch und geistig weit weg von der nächsten Stadt, von der Moderne. Es herrschen Polygamie, strenges Patriarchat und strikte Herrschaft der Älteren über die Jüngeren.24 Ayané, wenig geschätzte Tochter eines Dorfbewohners und einer »Fremden«, einer Frau aus einem anderen Dorf, geht als einzige in die Stadt, um zu studieren, möchte ihr Studium später in Paris fortsetzen. Sie stellt die Verbindung zwischen Dorf und Welt bzw. zwischen Tradition und Moderne her. Nicht untypisch für die afrikanische Literatur wird die Figur einer Waisen gewählt,25 die, ausgehend von ihrer marginalen Position im dörflichen Sozialgefüge als Beispiel für Tendenzen von Intellektualität im Roman eine Sonderrolle erhält. Die Staatsordnung ist in L’intérieur de la nuit nicht anders als in La Folie et la Mort undurchschaubar. Nur ungenau wissen die Dorfbewohner, dass politische Umwälzungen vor sich gehen. Selbst die gut informierte Ayané ist überrascht, als Milizionäre nachts ins Dorf kommen und die Bewohner in ihre Gewalt bringen. In der zentralen Episode des Romans zwingen sie die Einwohner dazu, sich auf dem Dorfplatz zu versammeln, töten den Marabout und wählen ein Kind, das sie ermorden lassen. Die einzelnen Schritte folgen einem makabren Ritus: In der Stimmung des Terrors bleiben alle erstarrt, als der Anführer erklärt, er werde achtzehn Kinder bzw. Jugendliche ab zwölf Jahren mit sich nehmen. Der Dorfälteste appelliert an ihre Vernunft und fleht auf Knien. Ihm wird daraufhin von Epa, einem Jugendlichen aus dem Dorf, der zu den Milizionären übergetreten ist, die Kehle durchgeschnitten, bevor vor Epas Augen dessen Lieblingsbruder getötet wird. Junge Frauen und kleine Kinder werden in die Hütten geschickt, die anderen sehen mit an, wie das Kind sich noch wehrt, bevor Männer des Dorfes es ermorden, man

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Léonora Miano wurde 1973 in Douala im Kamerun geboren und studierte ab 1991 in Frankreich Anglistik. Für L’intérieur de la nuit erhielt sie viele enthusiastische Kritiken und mehrere Literaturpreise, den Prix Louis Guilloux (2006), den Prix Montalbert (2006), den Prix René Fallet (2006) und den Prix Bernard Palissy (2006). Zu weiteren Auszeichnungen vgl. http://aflit.arts.uwa.edu.au/MianoLeonora.html (17.3.2009). Ihre Verbindung von Fiktion, Reflexion und Kritik wird in den Rezensionen, auch zu Contours du jour qui vient (2006) und Tels les astres éteints (2008) vielfach hervorgehoben. Vgl. die Analyse von Ayané, Léonora Miano: L’intérieur de la nuit. Paris 2005. S. 162. Vgl. hierzu Ludovic Emane Obiang: »Sans père mais non sans espoir: Figure de l’orphelin dans les écritures de la guerre«, in: Notre Librairie 148, 1 (2002). (Spezialausgabe Penser la violence). S. 21–25.

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es in Stücke schneidet, kocht und an die Anwesenden zum Essen verteilt.26 Am Ende der Nacht führen die Milizonäre mehrere Jugendliche des Dorfes als neue Milizionäre mit sich. Der nächtliche Gewaltakt führt zu weiteren Gewaltakten: Am nächsten Morgen erschlägt eine Frau ihren Mann, der am Mord beteiligt war. Bewusst ausgeübte, körperliche, mörderische Gewalt hält damit in die Dorfgemeinschaft Einzug. Die Konstellation zweier Brüder, von denen der eine, wenn auch unter Zwang, am Tod des anderen mittelbar teilhat, ist hier nur bedingt als literarische Metaphorisierung des »Bruderkriegs« anzusehen.27 Dass das getötete Kind Waise ist, erhöht den amoralischen Charakter der Szene, verweist auch auf reale Begebenheiten.28 Vor allem aber symbolisiert die Szene die desolate Situation in vielen afrikanischen Staaten, die, wie gesagt, häufig mithilfe der Figur des Waisenkinds in der modernen afrikanischen Literatur versinnbildlicht wird, und steht darüber hinaus für den Zerfall des Zusammenhalts gerade dort, wo das Kollektiv besonders eng zusammengeschnürt ist. Angeprangert wird in den Fragen der Beobachterin Ayané die Passivität der Dorfbewohner. Sie ist Folge eines im Roman als extrem rigide dargestellten Systems aus Patriarchat, Polygamie und gegenseitiger Abhängigkeit. Das Verbot der Abweichung von tradierten Regeln ist ihr Nährboden. Teils ist die dauerhafte Armut an der Unbeweglichkeit des Systems schuld, teils die Machtstrukturen: Es sei das Dauerziel der Bevölkerung, dem Tod zu entgehen, dem Hungertod oder dem Tod durch kollektive Gewalt, so die Erzählfigur.29 Die Rede von den Vorfahren, welche Opfer verlangen, eine Rede, die der Miliz-Anführer im Munde führt,30 figuriert ähnlich wie in La Folie et la Mort als Zeichen sinnleerer Argumentation. Mit der Durchführung des »Todesrituals« beweisen und verstetigen die Täter ebenfalls ähnlich wie in Ken Buguls Roman ihre Übermacht. Auch von ihnen wird Mord rhetorisch als »sacrifice«31 sakral überhöht: »C’est un privilège divin que de prendre une vie«32, sagt der Anführer. L’intérieur de la nuit zeigt die Gefahren rhetorischer und performativer Umfunktionalisierung traditioneller Denk- und Handlungsmuster und deren Folgen in den postkolonialen Gesellschaften am drastischen Beispiel extremer Gewalt. Die Drastik sowohl der Einzelszene wie der

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Miano: L’intérieur de la nuit, S. 115–125. Zu Verfahren der Literarisierung von Konstellationen innergesellschaftlicher Gewalt vgl. Anja Bandau/Albrecht Buschmann/Isabella v. Treskow: »Literaturen des Bürgerkriegs – Überlegungen zu ihren soziohistorischen und ästhetischen Konfigurationen«, in: dies. (Hg.): Literaturen des Bürgerkriegs. Berlin 2008, S. 7–18. Léonora Miano hat einen konkreten Fall zum Vorbild, entnommen einem Fernsehbericht über den Osten von Zaïre, in dem ein Vierzehnjähriger von ähnlichen Vorgängen berichtete. (Vgl. Léonora Miano: Interwiew mit NB in Amina. November 2005. http://www.arts.uwa.edu.au/Aflit/AMINAMiano.html (3.11.2006)). In diesem Sinne heißt es: »La mort avait fait de l’Afrique son royaume.« (Miano, L’intérieur de la nuit, S. 161). Miano, L’intérieur de la nuit, S. 103. Miano: L’intérieur de la nuit, S. 132. Miano: L’intérieur de la nuit, S. 87.

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Schilderung der strengen Sozialstruktur macht das Bild dieser afrikanischen Gesellschaft unrealistisch, so konkret der Bezug zur Realität sein mag. Intention ist offenbar, Empathie, aber auch Schauder und Ablehnung zu provozieren, nicht nur in Bezug auf die Figuren, sondern auch auf die Darstellung selbst.

3. Fragen, Denken, Reden, Schweigen Die Bewohner des Dorfes verstehen die Zusammenhänge nicht, gehen nicht einmal der Symbolik des Opfers näher nach. Es ist wie in La Folie et la Mort den Lesern überantwortet, die Beziehungen zwischen Machtdurchsetzung bzw. Machtfestigung und Tabubruch zu erkennen.33 Die Kritik an den normativen Zwängen wird in L’intérieur de la nuit allerdings noch schärfer und weniger grotesk formuliert. Die literarische Behandlung der Frage des Denkens und Nicht-Denkens, der Denkfähigkeit und Denklust, auch des Denkverbots, wie es in La Folie et la Mort der Grand Timonier den Staatsbewohnern auferlegt ist und dem in L’intérieur de la nuit die Dorfgemeinschaft folgt, übrigens auch Epa, als er mordet, und schließlich die Behandlung des Frageverbots – Fragen verstanden als Vorform kritischen Denkens –34 folgt aufklärerischen Impulsen im klassischen Sinne. Ken Bugul präsentiert Figuren, die deswegen zugrunde gehen, weil sie zu naiv sind, um in einem kafkaesken, von Gewalt durchsetzten System zu überleben. Allerdings bietet das System keinen Ausweg, als sich verrückt zu stellen, und gerade das ist gefährlich. Der Diktator ist ein moderner Mann, der das politische Spiel auf mehreren Ebenen beherrscht. Die Dorfbewohner in L’intérieur de la nuit verstehen die horriblen Ereignisse der Nacht als ›von oben‹ kommend: »Das Schicksal hatte sie gesandt«, heißt es über die Milizionäre; oder: »Es war eine Prüfung«.35 Dann setzt das Denken der Dorfbewohner angesichts der Grausamkeiten, Morde und Tabubrüche aus. Hinterher heißt es, sie hätten eben nicht die Gewohnheit zu denken. Die Zivilisten legen sich selbst ein Denkverbot auf, begleitet von einem Sprechverbot – Amnesie. Die Sicht der Erzählfigur auf den Wunsch nicht zu denken oder sich zu erinnern: Ils (les villageois) préféraient même ne jamais en parler. Mettre des mots sur les choses, ce n’était certainement pas un moyen de les oublier. De même, les recouvrir de silence était une ruse que la mémoire déjouerait vite, mais ce n’était pas leur habitude d’analyser

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Laut Miano dient der Roman dem Ziel, die »mentalen Mechanismen« der Bevölkerung und die Motive der Täter zu verstehen. Vgl. Léonora Miano : Interwiew mit NB in Amina. November 2005. http://www.arts.uwa.edu.au/Aflit/AMINAMiano.html (23.10.2008). Ayané stellt zuviele Fragen, vgl. Miano, L’intérieur de la nuit, S. 153. Vgl. hiermit die Gestaltung der Figur Epa, z. B. ebd., S. 86. Epa denkt nicht, daher funktioniert auch sein Gewissen nicht mehr (S. 131). Miano: L’intérieur de la nuit, S. 130f.

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les événements. Se poser la question du pourquoi n’apportait jamais de soulagement, puisque la réponse se trouvait hors des limites de l’entendement humain.36

Denken nütze nichts, Fragen auch nicht, denn die Antwort finde sich mit Sicherheit jenseits der Grenzen des menschlichen Verstehens, heißt es. Eine ambivalente Aussage, die als Ausrede und als Wegweiser aus der Rationalität dient. Denkverzicht führt im Übrigen zum Verzicht auf Gefühle. Trauer um die Toten ist nach dem Einbruch der Milizionäre ins Dorfleben nicht möglich. Der Mordakt im Zentrum des Dorfes und in der Mitte der Nacht, à l’intérieur de la nuit, führt zu kollektivem traumatischem Stillstand. Nicht anders als in La Folie et la Mort wird in L’intérieur de la nuit Spiritualität und damit verbundene Irrationalität nicht grundsätzlich abgelehnt. Das wäre in Anbetracht ihres kulturellen Gewichts auch unsinnig. Aber deutlich wird, dass der traditionelle Wunderglaube und Ahnenverehrung neben der Vermeidung selbständigen Denkens außerhalb normativ vorgegebener Bahnen Milizionären oder Mitläufern des Regimes das Werk erleichtern. Sie selbst agieren ihrerseits in einem fehlgeleiteten Glauben an die Macht der Magie. Symptomatisch wird die Problematik der Forderung nach verstärktem Einsatz alter Bräuche und traditionellen Denkens, eine Forderung, die gerne als postkolonial-emanzipatorisch auftritt, am Anführer festgemacht, der seine Taten im Übrigen unter Drogeneinfluss begeht. Aus antimodernistischen Impulsen hat er sein terroristisches Verhalten entwickelt, das vorgibt, der Tradition, der Wiedergewinnung authentischer Identität und damit einer besseren Zukunft zu dienen. Seiner Charakterisierung nach ist er eine amoralische Defiguration des »radikalen Intellektuellen«37, eine Karikatur selbsternannter intellektueller Revolutionäre bzw. einiger afrikanischer Diktatoren. Ehemaliger Geschichtsstudent mit Aussicht auf eine Lehrerposition hat er sich einer nationalistischen, afrozentristischen Studentengruppe angeschlossen,38 um Abkehr von allen kolonialen Institutionen und die Rückkehr zur Tradition als neue Werte zu proklamieren. Er verkündet sie als »Architekt einer neuen Welt«.39 »Der Held der neuen Zeit«, so lässt er sich vorstellen, »will uns kein Leid antun. Das Kind, dessen Fleisch von allen geteilt wird, macht euch das schönste Geschenk der Welt, das, durch sein Blut untereinander verbunden zu werden. Welche Liebe könnte größer sein als die dessen, der sein Blut hingibt? Um dieser Liebe würdig zu sein, müsst ihr es zu empfangen wissen [...]«40 – eine pseudo-religiöse Rede, mit der in widersinniger Weise Anschluss an spirituelle Traditionen gesucht wird.41

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Miano: L’intérieur de la nuit, S. 132. Falola: Nationalism and African Intellectuals, S. 16. Vgl. Miano: L’intérieur de la nuit, S. 90. Vgl. Miano: L’intérieur de la nuit, S. 131. Miano: L’intérieur de la nuit, S. 124. Mit der Aussage, er sei nicht einfach »kalt«, sondern innerlich gefroren, »congelé« (Miano: L’intérieur de la nuit, S. 90), wird möglicherweise angedeutet, dass er selbst Opfer erzwungener Täterschaft ist, folglich einer Gewaltsituation, in die Jugendliche häufig geführt werden, um aus ihnen Kindersoldaten zu machen. Ahmadou Lourouma schildert dies in Allah n’est pas obligé (2000).

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Die intellektuelle Gegenfigur Ayané ist in der Lage, die Vorgänge zu durchschauen, nicht dazu, den Mord abzuwenden. Als Einzelperson einzuschreiten, ist in dieser Situation, in der nicht diskutiert wird, aussichtslos. Konkrete, manifeste körperliche Gewalt kann mit den Mitteln der Intellektuellen in einem solchen Moment nicht abgewendet werden. Die Weichen werden vorher und an anderer Stelle gestellt. Autoritäre Strukturen und gegenseitige Kontrolle haben Debatten, Kritik, eigenständige Reflexion und darauf aufbauendes Handeln verhindert, und dieses System ist so fest verankert, dass im Dorf Verstehen erst im Moment der Androhung von Gewalt möglich wird, so die Konstellation im Roman. Symptomatisch zeigt sich dies, als die ranghöchste Frau die Stimme erhebt: Comme Ié se dirigeait vers eux, Ekwé et Ebé savaient qu’on venait de statuer sur leur sort. Elle se tint devant eux. Ils ne soutinrent pas son regard. Elle leur dit. Ils entendirent. N’émirent pas de réserve. Quelques mots. Même pas un rituel, comme dans le temps. lorsqu’un membre du clan en était banni. [...] Ié lui parlait. Elle lui répondait. Tout le monde regardait.42

Der neuerliche Akt der Gewalt, die Ermordung der zwei Männer, die als schuldig am Kindsmord gelten, zeigt, wie leicht die vorhandene strukturelle Gewalt in manifeste körperliche Gewalt überführt werden kann und zum Herrschaftsinstrument eines Kollektivs wird, das seine Regeln nicht hinterfragt. Ästhetisch wird der Stillstand durch Syntagmen ohne Objekt oder Verb, Halbsätze und viele einsilbige Worte umgesetzt, eine verstümmelte Redeweise, die auf den Stillstand im sozialen Gefüge verweist.

4. Literatur und kritische Postkolonialität Die Darstellung extremer körperlicher Gewalt vor allem an Kindern dient in La Folie et la Mort und in L’intérieur de la nuit dazu, neben körperlicher Gewalt durch Söldnertruppen Formen diktatorischer Gewalt auf verschiedenen gesellschaftlichen Ebenen anzuprangern und die kausale Verbindung zwischen struktureller und physischer Gewalt aufzuzeigen. Dabei zielt in beiden Fällen die Kritik auf das Verhalten des Einzelnen und der Gruppe, speziell aber auf das Verhalten »normaler« Bürger in aktuellen afrikanischen Gesellschaften. Im Visier sind damit auf Gewalt basierende politische bzw. Herrschaftsstrukturen, die ehemaligen Kolonialmächte oder allgemein die »Erste Welt« eher latent, offen kritisiert werden Führungspersonen sowie, und das ist das Ungewöhnliche, die Bevölkerung selbst, und zwar Frauen nicht weniger als Männer. Die literarische Haltung zur sowohl eigenständig agierenden wie betroffenen Bevölkerung ist folglich nicht einfach die des Mitleids, welches z. B. Michael Walzer als besonderes Merkmal der Intellektuellen hervorhebt und das für ihn bedeutet, »mit den Opfern der Gesellschaft« zu »sympathisieren«43. Auch kommt die intellektuelle Funktion der

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Miano: L’intérieur de la nuit, S. 137. Michael Walzer: »Die Tugend des Augenmaßes. Über das Verhältnis von Gesellschafts-

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Fiktion hier nicht dem Eintreten für die Gedemütigten und Sprachlosen im Stil eines Emile Zola oder Jean-Paul Sartre gleich, mag die Grundintention der Gesellschaftskritik und des Dringens auf gesellschaftliche Veränderungen auch ähnlich sein. Die Fürsprecherrolle, die Intellektuelle in marxistischen und postkolonialen Theorien z.T. zugewiesen wird, erfasst ebenfalls nur partiell die Stoßrichtung der Autorinnen. Selbst die postkoloniale »Solidarität«44, von der Cornel West spricht, wird, wenn überhaupt, eher indirekt sichtbar, festzumachen an Randgestalten und gesellschaftlich marginalisierten Figuren wie Ayané, den vier Hauptpersonen in La Folie et la Mort und den Kindern. Die Subalternen zum Sprechen zu bringen, wie Michel Foucault es initiierte,45 ist, eingedenk auch aller diesbezüglichen Äußerungen Mianos in Interviews, offenbar für die Autorin nicht das Mittel der Wahl. Mit der Wendung an die eigenen Landsleute kommt der Gewaltdarstellung dadurch eine Funktion zu, die nicht mit klassischen postkolonialen Positionen übereinstimmt, sondern diese kritisch reflektiert.46 Der oder die Einzelne mag als stummes und angesichts seiner Verstrickungen in repressive politische Systeme nicht zu voller Eigenverantwortung gelangendes Subjekt bedauernswert sein, ganz ohne Verantwortung ist er oder sie nicht. Ob die Stummheit der Dorbewohner die Stummheit der Subalternen meint, von der Gayatri Chakravorty Spivak schreibt,47 ist nicht sicher, denn es handelt sich nicht um Leerpositionen in Texten westlicher, »kolonialer« Autorinnen. Die Konstellation aus afrikanischer Autorschaft und Kritik am Verhalten afrikanischer Bürgerinnen und Bürger ist damit brisanter als viele Überlegungen zur Suche nach dem Bewusstsein der postkolonial Beherrschten. Diese Konstellation, in der die Sprechpositionen der »westlich infizierten« Intellektuellen so prekär wie die gesellschaftliche Polemik ist, macht das kritische Potential der Romane aus. Das Dilemma der Anpassung an westliche Denkweisen, Ideen, Auftrittsformen, die Probleme des »Ko-Optierens« und des double bind, auch die Fragen nach der Privilegierung postkolonialer Intellektueller gegenüber den postkolonialen Subjekten und nach der Bedeutung von Theorien von Intellektuellen für den Alltag der »Subalternen« kümmern die beiden Autorinnen hier wenig.

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kritik und Gesellschaftstheorie«. In: Uwe Justus Wenzel (Hg.): Der kritische Blick - Über intellektuelle Tätigkeiten und Tugenden. Frankfurt a.M. 2002, S. 25–38, S. 33. Cornel West: »Die neue Politik kultureller Differenz«. In: Elisabeth Bronfen (Hg): Hybride Kulturen. Beiträge zur anglo-amerikanischen Multikulturalismus-Debatte. Tübingen 1997, S. 247–265, S. 248. Vgl. Michel Foucault: »Préface«. In: Serge Livrozet: De la prison à la révolte. Paris 1973, S. 7–14. Man vgl. vor allem typische Fälle wie Spivaks Haltung in In Other Worlds. Essays in Cultural Politics. London 1987, oder José Carlos García Fajardos »Les signes d’identités des peuples africains après le passage des Européens«. In: Miriam Aparicio (Hg.): L’identité en Europe et sa trace dans le monde. Paris 2006, S. 115–143. Gayatri Chakravorty Spivak: »Can the Subaltern Speak«. In: Cary Nelson/Lawrence Grossberg (Hg.): Marxism and the Interpretation of Culture. Urbana 1988, S. 271–313.

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Die Romane stehen damit auch für eine Neuformulierung intellektueller Interventionsziele postkolonialer Provenienz. Cornel West beschrieb 1993 im Anschluss an Antonio Gramsci den »kritischen organischen Katalytiker« als »Kulturarbeiter« bzw. Intellektuellen, der zwischen Welten, Klassen und Rassen vermittle. Die Stärke dieser Kulturarbeiter bzw. »marginalisierte[n] Akteure der ersten Welt«48, z. B. Farbiger in den USA, liegt in ihrer Mittlerstellung zwischen von ihm so genannter Erster und Dritter Welt und in ihrem Potential zur »Demystifikation« der weißen »Repräsentation«, d. h. der Demystifikation von westlichen Symbolsystemen, Einstellungen, Werten und Handlungsnormen. Ken Bugul und Léonora Miano stehen und vermitteln zwischen den Kulturen, indem sie in französischer Sprache für ein afrikanisches, frankophones Publikum und für nicht-afrikanische Leser und Leserinnen schreiben. Ken Buguls »Demystifikation«, mit der sie, wie Cornel West anregt, »die komplexe Dynamik von institutionellen und anderen verwandten Machtstrukturen«49 aufdeckt, bezieht sich auf die Machtstrukturen innerhalb dörflicher und urbaner Gemeinschaften und auf diktatorische Gesellschaften. Sie ironisiert und diskreditiert dabei den Wunsch, durch Wiederbelebung tatsächlich oder angeblich alter Sitten und Riten ethnische Einheiten wieder herzustellen, die in der Nation drohen unterzugehen, ihnen eine eigene Macht und Identität zu verleihen.50 Sie und Léonora Minao richten sich in den untersuchten Texten nicht primär gegen die Macht und Arroganz der Weißen, sondern gegen politische Führungspersonen bzw. Kriegsherren in Zentralafrika und gegen das Verhalten der Individuen als Teil des Kollektivs, mit denen sie hart ins Gericht gehen. Die Verstrickungen der politischen Elite in ein System globaler Ungerechtigkeiten werden nicht unterschlagen, aber vor allem bei Miano in L’intérieur de la nuit eher marginalisiert. Beide kritisieren in den Rückgriffen weniger die weißen Autoritäten, als dass sie die Veralltäglichung von Gewalt und die Umkehr oder Fortsetzung kolonialer Eroberungsphantasien durch afrikanische Eliten und Milizionäre thematisieren. Das Verhältnis zur europäischen Literatur und Kultur ist bei Bugul und Miano vielschichtig. Beide adaptieren das Muster des realistischen Romans und liefern intertextuelle Verweise auf Ubu roi von Jarry, auf Kafka und Joseph Conrads Heart of Darkness. Mianos Milizenführer erscheint als Wiedergänger des Protagonisten Kurtz. Auch er ist brutal, gebildet, drogenabhängig und stützt sich auf die

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49 50

West: »Die neue Politik kultureller Differenz«, S. 247. Vgl. auch die Konzepte von Gayatri Chakravorty Spivak, z. B. »Can the Subaltern Speak?«. In: Cary Nelson/Larry Grossberg (Hg.): Marxism and the Interpretation of Culture. Urbana 1988, S. 271–313. West: »Die neue Politik kultureller Differenz«, S. 259. Vgl. z. B. die Rede der »sages« in Bugul: La Folie et la Mort, S. 138–139: »La journée va être longue certes, mais ce culte des ancêtres est tout ce qui nous reste de notre culture. Nous avons tout perdu ou tout sacrifié au nom de l’unité de ce pays dont on nous disait que nous faisions partie. / Et voilà le résultat. / Nous ne sommes pas inclus dans les programmes de développement. Nous sommes oubliés, relégués dans le fond des priorités. [...] Nous devons tout faire pour nous accrocher à ce culte des ancêtres, sinon nous n’existerons plus en tant que peuple, et nous disparaîtrons à jamais.«

Gewaltdarstellung und kritische Postkolonialität

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Verehrung seiner Anhänger. Bedenkt man Frantz Fanons Deutung, dass die depravierte Gestalt Kurtz’ eine Übertragung der Seelenabgründe des Weißen auf »den« Schwarzen sei, dass der Roman die Vorstellung eines »nègre qui sommeille chez tout blanc«51 enthalte, ist L’intérieur de la nuit besonders provokativ. Afrika seitens einer afrikanischen Autorin auch durch den Titel als »dunklen Ort« zu präsentieren, dessen große Schwäche das Eigene sei, fordert die Angesprochenen erheblich heraus. Miano übt indes als Schriftstellerin nicht nur »afrikanische« Selbstkritik. Tels les astres éteints greift 2008 wenig chiffriert und ungeschönt die Mechanismen an, mit denen in der westlichen europäischen Welt Schwarze von der Gesellschaft der français de souche als nicht zugehörig abgewiesen werden. In ihrer Kritik an Gewalt sind die erörterten Texte nicht eben zahm. Ken Bugul ist eine Autorin, die gerne auf Konfrontationskurs geht, wie sich nicht nur in ihren literarischen Texten, sondern auch an Interviews und Stellungnahmen ablesen lässt.52 La Folie et la Mort provoziert, indem Gewaltformen darin auf allen gesellschaftlichen Ebenen und in starker Drastik vorgeführt werden. Die männlichen Figuren erscheinen dabei als Profiteure des Systems, aber auch als Opfer, auch sexuelle Opfer; das Bild der Frau entspricht nicht dem Wunschbild der unschuldigen oder starken Frau in Literatur und Literaturwissenschaft.53 Einige Frauenfiguren sind nicht nur Opfer, sondern direkt oder indirekt auch Täterinnen. Nicht anders in L’intérieur de la nuit, für das Léonora Miano zwar ein allgemeines, völker- und kulturenübergreifendes Ziel reklamiert, nämlich die »barbarie« überall da, wo es Menschen gibt, anzuklagen,54 mit dem sie aber nichtsdestotrotz vornehmlich an ihre afrikanischen Landsleute appelliert. Ihre Kritik hat dabei gewollt gewalttätigen Charakter – dass die Leser durch die Wahl des Extremen brüskiert werden, ist einkalkuliert. In Bezug auf L’intérieur de la nuit spricht sie von einem »choc frontal«,55 der eine Änderung der Verhältnisse bewirken solle. Wenn man die Reaktionen auf L’intérieur de la nuit bedenkt, gerade übrigens auch in Bezug auf die Frauenfiguren, ist ihre Rechnung zweifellos aufgegangen.56 Sowohl die appellative Funktion als auch das analytische Potential beider Romane stehen, so lässt sich schließen, im Kontext eines sich wandelnden, reflexiven postkolonialen, auch postfeministischen Denkens. Über die kritische Auseinandersetzung mit der Akzeptanz der Werte »Tradition« und »Kollektivität« werden die

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54

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Frantz Fanon: Peau noire, masques blancs. Paris 1952 [1971], S. 151. Vgl. z. B. das Interview zu ihrem ersten Roman Le Baobab fou in Pierrette HerzbergerFofana: Ecrivains africains et identité culturelle. Entretiens. Tübingen 1989 (»Ken Bugul, une forme d’écriture féminine«, S. 59–64). Man vgl. z. B. die Einteilung in »Femmes victimes«», »Femmes fortes« und »Femmes en lutte« in Denise Brahimi/Anne Trevarthen: Les femmes dans la littérature africaine. Portraits. Paris – Abidjan 1988. Tashitenge Lubabu M.K.: »Léonora Miano: Je veux faire mal aux Africains!«. In: Jeune Afrique, 8.10.2006 (http://www.jeuneafrique.com/jeune_afrique/article_jeune_afrique.asp?art_cle=LIN08106lonorsniaci0; eingesehen 3.7.2008) Tashitenge Lubabu M.K.: »Léonora Miano : Je veux faire mal aux Africains!«. Vgl. http://www.leonoramiano.com; 23.10.2008.

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Isabella von Treskow

Funktionen von Intellektuellen neu durchdacht. Mit einer feministisch wenig konformen Darstellung von Frauen und teilweise sehr aggressiven Darstellungen der Bevölkerung stellen Ken Bugul und Léonora Miano die Funktion und den Anspruch postkolonialer Intellektueller zum einen und zum anderen die des Einzelnen in der Gruppe zur Debatte. Gefordert wird implizit von den Letztgenannten eine Steigerung intellektuell-analytischer Anstrengung und die Entschlossenheit, Verblendungsstrategien zu durchschauen und ihnen zu widerstehen, vor allem wenn es um ethisch unhaltbare Vorkommnisse und Zusammenhänge geht. Die Kritik an afrikanischen »Entfremdungs«- und »Entmündigungs«-Topoi wie am Topos der eigentlich rebellischen Subalternen führt damit zu einer veränderten intellektuellen Funktion: Nicht Fürsorge, auch nicht die Idee, die Subalternen »zum Sprechen zu bringen«, nicht ein »Sprechen für«, sondern geradezu ein »Sprechen gegen« wird durch Fiktion ausgeübt. Verantwortung nicht nur politischen Mandatsträgern, sondern auch den Regierten abzuverlangen ist das Ziel der Romane, vorgebracht mit jener Einseitigkeit und Radikalität, mit der mediale intellektuelle Interventionen vorgebracht zu werden pflegen, ästhetisch zwar komplex, aber in der Anklage kompromisslos.

Bibliographie Bandau, Anja/Buschmann, Albrecht/v. Treskow, Isabella: Literaturen des Bürgerkriegs – Überlegungen zu ihren soziohistorischen und ästhetischen Konfigurationen. In: dies. (Hg.): Literaturen des Bürgerkriegs. Berlin 2008, S. 7–18. Brahimi, Denise/Trevarthen, Anne : Les femmes dans la littérature africaine. Portraits. Paris, Abidjan 1988. Bugul, Ken: La Folie et la Mort. Roman. Paris 2000. Célérier, Patricia : Engagement et esthétique du cri. In : Notre Librairie 148, 2 (2002). (Spezialausgabe: Penser la violence), S. 8–11. Falola, Toyin: Nationalism and Intellectuals. Rochester 2001. Fanon, Frantz: Peau noire, masques blancs. Paris [1952] 1971. Foucault, Michel: Préface. In: Serge Livrozet : De la prison à la révolte. Paris 1973, S. 7–14. Garnier, Xavier: La magie dans le roman africain. Paris 1999. Gassama, Makhily (Hg.): L’Afrique répond à Sarkozy. Contre le discours de Dakar. Paris 2008. García Fajardo, José Carlos: Les signes d’identités des peuples africains après le passage des Européens. In: Miriam Aparicio (Hg.): L’identité en Europe et sa trace dans le monde. Paris 2006, S. 115–143. Gueye, Abdoulaye: Les intellectuels africains en France. Préface de Babacar Sall. Paris 2001. Herzberger-Folana, Pierrette: Écrivains africains et identité culturelle. Entretiens. Tübingen 1989. Iweala, Uzodinma: Cessez de vouloir ‹sauver› l’Afrique! L’humanitarisme ‹sexy› en vogue sert le paternalisme colonial et le sentiment de supériorité culturelle des Occidentaux. In: Le Monde, 29./30.07.2007. Kourouma, Ahmadou: Allah n’est pas obligé. Paris 2000.

Gewaltdarstellung und kritische Postkolonialität

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Lubabu M.K., Tashitenge/Miano, Léonora: Je veux faire mal aux Africains! In: Jeune Afrique, 8.10.2006 (http://www.jeuneafrique.com/jeune_afrique/article_jeune_-afrique.asp.?art_cle=LIN081061onorsniaci=; eingesehen 3.7.2008). Melber, Henning (Hg.): African Empowerment: Knowledge and Development. Frankfurt/M., Wien 2002. Miano, Leonora: L’intérieur de la nuit. Paris 2005. – Interview mit NB, in: Anima. November 2005. http://www.arts.uwa.edu.au/Aflit/ANIMAMiano.html (23.10.2008) Mkandawire, Thandika: African Intellectuals. Rethinking Politics, Language, Gender and Development. Dakar, London, New York 2005. Obiang, Ludovic Emane: Sans père mais non sans espoir: Figure de l’orphelin dans les écritures de la guerre. In : Notre Librairie 148, 1 (2002). (Spezialausgabe: Penser la violence), S. 21–25. Sow, Ibrahima: Les structures anthropologiques de la folie en Afrique Noire. Paris 1978. Spivak, Gayatri Chakravorty: In Other Worlds : Essays in Cultural Politics. London 1987. – Can the Subaltern Speak. In: Cary Nelson/Lawrence Grossberg (Hg.): Marxism and the Interpretation of Culture. Chicago 1988, S. 271–313. Walzer, Michael: Die Tugend des Augenmaßes. Über das Verhältnis von Gesellschaftskritik und Gesellschaftstheorie. In: Uwe Justus Wenzel (Hg.): Der kritische Blick – Über intellektuelle Tätigkeiten und Tugenden. Frankfurt/M. 2002, S. 25–38. West, Cornel: Die neue Politik kultureller Differenz. In: Elisabeth Bronfen (Hg.): Hybride Kulturen. Beiträge zur anglo-amerikanischen Multikulturalismus-Debatte. Tübingen 1997, S. 247–265. http://www.leonoramiano.com/index.php; 23.10.2008). http://aflit.arts.uwa.edu.au/MianoLeonora.html (17.3.2009).

Abstract 2005 veröffentlichte Léonora Miano in Paris den Roman L’intérieur de la nuit, der von der Kritik Frankreichs enthusiastisch, von afrikanischen Lesern skeptisch aufgenommen wurde. Die Autorin, aus Kamerun stammend, zeichnet darin anhand fiktiver Orte und Personen ein wenig schmeichelhaftes Bild des ländlichen Afrika. Die Kernszene der Handlung, ein Ritualmord, in dem auch ein Bruder am Tod seines Bruders schuldig wird, verweist auf reales Geschehen, vor allem aber generell auf die nach innen gerichtete Gewaltbereitschaft in zentralafrikanischen Gesellschaften bzw. Gemeinschaften. In vergleichbarer Weise prangert Ken Buguls La Folie et la Mort (2000) ebenfalls durch Bilder körperlicher Grausamkeit in Dorfgemeinschaften Verdrängung, Vermeidung der Übernahme von Verantwortung und kritiklose Abhängigkeit von neuen »spirituellen« Anführern an. Eng werden in beiden Romanen positive Elemente magischen und spirituellen Denkens mit Ereignissen verknüpft, die auf postkoloniale Emanzipationsbestrebungen zurückgehen, u. a. mit dem Ziel, die Ambivalenzen und negativen Folgen des Postkolonialismus aufzuzeigen, ohne dessen Grundlagen zu negieren. Beide Romane stehen damit im Zeichen einer kritischen Diskussion postkolonialer nationaler bzw. kollektiver Entwicklungen und reflektieren implizit theoretische Positionen postkolonialer Autorinnen und Autoren, sowohl in Hinsicht auf die Frage nach der

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Isabella von Treskow

Neukonstituierung von zentralafrikanischen Staaten und Gemeinschaften als auch in Hinsicht auf die Frage nach dem Verhalten des und der Einzelnen in der Gemeinschaft.

Zu den Autorinnen und Autoren NIELS BECKENBACH, geb. 1941, 1984 bis 2006 Professor für Soziologie an der Universität Kassel, Studium der Soziologie in Heidelberg und Berlin. 1969 Diplom der Soziologie, 1975 Promotion FU Berlin, 1981 Habilitation in Berlin. Forschungsaufenthalte in Paris/CNRS, Berkeley/Calif., TU Wien. Forschungsschwerpunkte: Soziologische Enquêten in der Industriearbeit (Hafenarbeit, Automobilarbeit etc.), Soziale Bewegungen, Bürgergesellschaft, Intellektuelle und Gewalt, Mediensoziologie und Mentalitätsanalyse. Publikationen u. a.: Auf dem Wege zur Bürgergesellschaft (Hg.), Berlin 2005; Avantgarde und Gewalt (Hg.), Hamburg 2007; (Hg.): Fremde Brüder. Der schwierige Weg zur deutschen Einheit (Hg.), Berlin 2008. ALBRECHT BUSCHMANN, geb. 1964, ab 2010 Professor für spanische und französische Literatur- und Kulturwissenschaft an der Universität Rostock, Studium der Romanistik und Orientalistik in Saarbrücken, Granada und Paris. 1991 Magister Artium, 2003 Promotion und 2009 Habilitation an der Universität Potsdam. Bis 2009 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Romanistik der Universität Potsdam. 2009 Vertretungsprofessur für Romanische Literaturwissenschaft (Spanisch/Französisch) an der Universität Jena. Forschungsschwerpunkte: Narrativik des 20. Jahrhunderts, Übersetzung und Kulturtheorie, Wege des Wissens im Kontext von Kulturen der Gewalt in sozialer Nähe. Publikationen u. a.: Die Macht und ihr Preis. Detektorisches Erzählen bei Leonardo Sciascia und Manuel Vázquez Montalbán, Würzburg 2005; Bürgerkrieg – Erfahrung und Repräsentation (Hg. zus. mit Anja Bandau, Isabella von Treskow), Berlin 2005; Literaturen des Bürgerkriegs (Hg. zus. mit Anja Bandau, Isabella von Treskow), Horacio Castellanos Moya y el arte de sobrevivir en centroamerica, Themenschwerpunkt der Zeitschrift Cultura (El Salvador), 101/2009. CHARIS GOER, geb. 1971, Akademische Rätin a. Z. im Fach Literaturwissenschaft an der Universität Bielefeld. Studium u. a. der Fächer Deutsch, Englisch, Musikwissenschaft und Erziehungswissenschaft in Paderborn, Detmold und Kalmazoo/Michigan. 1998 Erstes Staatsexamen für die Lehrämter Sekundarstufe II und I an der Universität Paderborn, 2003 Promotion an der Universität Bielefeld. Forschungsschwerpunkte: Literatur und Ästhetik um 1800, Literatur und Kultur um 1900, Intermedialität, Popliteratur und -kultur, interkulturelle Literatur, Fachdidaktik Deutsch. Publikationen: Der Deutschen Morgenland. Bilder des Orients in der deutschen Literatur und Kultur von 1770 bis 1850 (Hg. mit Michael Hofmann), München 2008; Ungleiche Geschwister. Literatur und die Künste bei Wilhelm Heinse, München 2006; »Seelenaccente« – »Ohrenphysiognomik«. Zur Musikanschauung E.T.A. Hoffmanns, Heines und Wackenroders (Hg. mit Werner Keil), Hildesheim u. a. 2000; Über Richard Beer-Hofmann. Rezeptionsdokumente aus 100 Jahren (Hg. mit Sören Eberhardt), Paderborn 1996; weitere Ver-

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Zu den Autorinnen und Autoren

öffentlichungen v.a. zu Themen der Ästhetik, Intermedialität und Popkultur vom 18. Jh. bis zur Gegenwart. MARION GYMNICH, geb. 1968, Professorin für Anglistische Literatur- und Kulturwissenschaft am Institut für Anglistik, Amerikanistik und Keltologie der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Studium der Anglistik, Germanistik und Slavistik an der Universität zu Köln. 2000 Promotion Universität zu Köln. 2006 Habilitation Justus-Liebig-Universität Gießen. 2002–2006 Koordinatorin des Internationalen Promotionsprogramms Literatur- und Kulturwissenschaft der Universität Gießen. 2006/07 Vertretungsprofessur für anglistische Literaturwissenschaft an der Justus-Liebig-Universität Gießen. 2007/08 Gastprofessur an der Universität Graz. Forschungsschwerpunkte: Englische Literatur des 19. bis 21. Jahrhunderts, amerikanische interkulturelle Literatur, postkoloniale Literatur, Erzähltheorie, Gender Studies, postkoloniale Theorie. Publikationen u. a.: Entwürfe weiblicher Identität im englischen Frauenroman des 20. Jahrhunderts, Trier 2000; Literature and Memory (Hg. zus. mit Ansgar Nünning, Roy Sommer), Tübingen 2005; Kulturelles Wissen und Intertextualität: Theoriekonzeptionen und Fallstudien zur Kontextualisierung von Literatur (Hg. zus. mit Birgit Neumann, Ansgar Nünning), Trier 2006; Metasprachliche Reflexionen und sprachliche Gestaltungsmittel im englischsprachigen postkolonialen und interkulturellen Roman, Trier 2007; Charlotte Brontë: Jane Eyre; Emily Brontë: Wuthering Heights, Stuttgart/Weimar 2007; Interkulturelle Kompetenz, Stuttgart/Weimar 2007 (mit Astrid Erll). SUSANNE HARTWIG, geb. 1969, Inhaberin des Lehrstuhls für Romanische Literaturen und Kulturen (Schwerpunkt Lateinamerika) der Universität Passau. Studium der Französischen und Italienischen Philologie und der Altphilologie in Münster und Paris. 1995 Staatsexamen, 1998 Promotion Universität Münster, 2004 Habilitation Universität Gießen. 2004/05 Vertretungsprofessur für französische und spanische Literaturwissenschaft an der Universität Potsdam, 2005/06 Vertretungsprofessur an der Universität Erfurt. Forschungsschwerpunkte: Text-, Literatur- und Kommunikationstheorien, insbesondere Theatertheorie und Narratologie (Spanien, spanisch- und portugiesischsprachiges Lateinamerika), Kognitions- und Emotionstheorien in der Literaturwissenschaft und in den Kulturwissenschaften. Publikationen u. a.: Chaos und System. Studien zum spanischen Gegenwartstheater, Frankfurt/M.: Vervuert/Madrid: Iberoamericana 2005; S. H./Klaus Pörtl (Hg.), La voz de los dramaturgos. El teatro español y latinoamericano actual, Tübingen: Niemeyer 2008 (Beihefte zur Iberoromania 22); »Was (nicht) nicht ist: die Möglichkeitswelten der Literatur«, in: LiLi, Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 150 (Juni 2008), S. 79–93. WOLFGANG HÖPKEN, geb. 1952, seit 1995 Professor für Ost- und Südosteuropäische Geschichte an der Universität Leipzig. Studium der Geschichte, Slawistik, Politikwissenschaft und Pädagogik an der Universität Hamburg, Assistent an der Universität Hamburg, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Südost-Institut München, Stellvertretender Direktor am Georg-Eckert-Institut für Internationale Schulbuch

Zu den Autorinnen und Autoren

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forschung Braunschweig, 2000-2005 Direktor am Georg-Eckert-Institut für Internationale Schulbuchforschung Braunschweig. Mitgliedschaften in wissenschaftlichen Vereinigungen: u. a. Vizepräsident der Südosteuropa-Gesellschaft, Mitglied der Südosteuropa-Kommission der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Forschungsschwerpunkte: Fragen der Sozial- und Kulturgeschichte Südosteuropas. Publikationen u. a: Politische und ethnische Gewalt in Südosteuropa und Lateinamerika (Hg. zus. mit Michael Rietzenberg), Köln, Weimar, Wien 2001; Labyrinthe der Erinnerung. Kulturelle Gedächtnisse auf dem Balkan. Münster 2004. SUSANNE KLEINERT, geb. 1952, Professorin für Romanische Philologie und Literaturwissenschaft mit Schwerpunkt Italianistik in der Fachrichtung Romanistik der Universität des Saarlandes. Studium der Romanistik und Politikwissenschaft sowie zeitweise Soziologie und Amerikanistik in Erlangen und Paris. 1979 Promotion Universität Erlangen-Nürnberg, 1994 Habilitation Universität des Saarlandes. 1994 Vertretungsprofessur und Ruf an die Universität Mainz. 2007–2009 Dekanin der Philosophischen Fakultät II der Universität des Saarlandes. Forschungsschwerpunkte: Französische Literatur des 18. Jahrhunderts (Dissertation), hispanoamerikanischer Roman der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, italienischer Roman des 20. Jahrhunderts, insbesondere Literatur und Geschichte, Memoria, Genderaspekte, Modernisierungserfahrung. Mitherausgeberin der Reihe Mannheimer Beiträge zur Sprach- und Literaturwissenschaft. Publikationen u. a.: Konflikt der Diskurse. Zum Verhältnis von Literatur und Wissenschaft im modernen Italien (Hg. zus. mit Helene Harth und Birgit Wagner), Tübingen 1991; Korrespondenzen. Literarische Imagination und kultureller Dialog in der Romania. Festschrift für Helene Harth zum 60. Geburtstag (Hg. zus. mit Anja Bandau, Andreas Gelz, Sabine Zangenfeind), Tübingen 2000. ANETTE PANKRATZ, geb. 1965, Professorin für Anglistik/British Cultural Studies an der Ruhr-Universität Bochum. Studium der Anglistik und Geschichte in Regensburg, Reading (UK) und Williamstown (USA). 1992 M.A., 1997 Promotion Technische Universität Dresden, 2003 Habilitation Universität Passau. 2004/05 Vertretungsprofessur für Anglistik/British Cultural Studies an der Ruhr-Universität Bochum, 2005/06 Vertretungsprofessur für Neuere Englische Literatur an der Universität Siegen. Forschungsschwerpunkte: zeitgenössisches britisches Drama, Repräsentationen und Medialisierungen von Liminalität, englische Literatur und Kultur des 17. und 18. Jahrhunderts. Publikationen zum Thema: The Aesthetics and Pragmatics of Violence (Hg. zus. mit Michael Hensen), Passau 2001; »Death is … Not.« Repräsentationen von Tod und Sterben im zeitgenössischen britischen Drama, Trier 2005. HELMUT PEITSCH, geb. 1948, Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft am Institut für Germanistik der Universität Potsdam; Studium der Germanistik, Politologie und Philosophie an der FU Berlin; 1973 Staatsexamen, 1976 Promotion, 1983 Habilitation an der FU Berlin, 1978–1985 Wissenschaftlicher Assistent am FB Germanistik der FU Berlin, 1985/86 Lecturer in Leeds, 1986–1992 Lecturer

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Zu den Autorinnen und Autoren

in Swansea, 1992í1994 Professor an der New York University, 1994–2001 Professor of European Studies an der University of Wales, Cardiff. Forschungsschwerpunkte: Reisebeschreibungen um 1800, Stadtbeschreibung im 19. Jahrhundert, Nachkriegsliteratur, insbesondere Vergangenheitsbewältigung im Ost-WestVergleich, Wissenschaftsgeschichte. Publikationen u. a.: European Memories of the Second World War (Hg. zus. mit Charles Burdett, Claire Gorrara), New York, Oxford 1999, Paperback 2006; Georg Forster. A History of His Critical Reception, New York 2001; »No Politics«? Die Geschichte des deutschen PEN-Zentrums in London 1933í2002, Göttingen 2006. HARTMUT STENZEL, geb. 1949, Professor für romanistische Literatur- und Kulturwissenschaft an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Studium der Romanistik, Germanistik und Geschichte an den Universitäten Freiburg und Nantes. 1978 Promotion Universität Freiburg i. Br., 1986 Habilitation Universität-Gesamthochschule Wuppertal. 1988 Heisenberg-Stipendium der DFG, 1988–1990 Vertretungsprofessur Universität Gießen. Mitantragsteller und Principal investigator des Gießen Center for the Study of Culture. Forschungsschwerpunkte: Literatur- und Kulturtheorie, französische und spanische Kultur und Literatur des 17., 19. und 20. Jahrhunderts, literarische, kulturelle und gesellschaftliche Modernisierung in Frankreich im 17. Jahrhundert, republikanische Ideologie und Identitätskonstruktionen in Frankreich, Grundlagen und Konflikte der französischen Erinnerungskultur seit 1870. Publikationen zum Thema: Einführung in die französische Literaturund Kulturwissenschaft (zus. mit Susanne Hartwig), Stuttgart 2007; »Kommunistische Identitätskonstruktionen. Anmerkungen zu Selbstverständnis und Geschichte des PCF.«, in: Psyche und Epochennorm. Festschrift für Heinz Thoma, Hg. von Henning Krauß, Christophe Losfeld, Kathrin van der Meer, Anke Wortmann, Heidelberg 2005, S. 431–447; »Literaturwissenschaft – Landeskunde í Kulturwissenschaft oder: die verdrängten Probleme eines hybriden Fachs. Anmerkungen zur Situation der Romanistik« Kulturwissenschaftliche Literaturwissenschaft, Hg. Von Ansgar Nünning und Roy Sommer. Tübingen 2004, 55í77. ISABELLA V. TRESKOW, geb. 1964, Lehrstuhl für Romanische Philologie (Französische und italienische Literaturwissenschaft) am Institut für Romanistik der Universität Regensburg. Studium der Romanistik und Germanistik in Berlin (Freie Universität), Freiburg i. Brsg., Montpellier, Heidelberg. 1988 Licence ès Lettres modernes, 1989 Maîtrise de Lettres modernes en littérature comparée, 1995 Promotion Universität Heidelberg, 2006 Habilitation Universität Potsdam. 2006/07 Vertretungsprofessur für romanistische Literaturwissenschaft an der Universität Erfurt, 2008/09 Vertretungsprofessur für Französische und italienische Literaturund Medienwissenschaft an der Universität Mannheim. Forschungsschwerpunkte: Krieg und innergesellschaftliche Gewalt in Literatur und Medien, Wissens- und Intellektuellengeschichte seit der Renaissance, deutsch-französische Kulturbeziehungen, französische Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts. Publikationen u. a.: Bürgerkrieg – Erfahrung und Repräsentation (Hg. zus. mit Albrecht Buschmann, Anja Bandau), Berlin 2005; Literaturen des Bürgerkriegs (Hg. zus. mit Anja

Zu den Autorinnen und Autoren

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Bandau, Albrecht Buschmann), Berlin 2008; Intellektuelle avant la lettre – Kritisches Denken und Interventionsformen in der Frühen Neuzeit (Hg. zus. mit Rainer Bayreuther, Meinrad v. Engelberg, Sina Rauschenbach), Wiesbaden 2010.

Namensregister

Abraham, Matthew 196 Adenauer, Konrad 67, 79, 87 Adorno, Theodor W. 80, 82, 83, 84, 96 Allende, Salvador 149 Améry, Jean 80 Andersch, Alfred 65, 79, 91 Andreotti, Giulio 149, 150, 151, 152 Assmann, Aleida 42

De Gasperi, Alcide 149 Delius, F. C. 110, 111 Derrida, Jacques 26, 35 Diderot, Denis 96 Diop, Boubacar Boris 200 Draškoviü, Vuk 46, 52 Dreyfus, Alfred 8, 55, 147, 163 Dutschke, Rudi 95, 97, 98, 99, 101, 104

Baader, Andreas 104, 105, 106, 109, 110, 111, 113, 114, 115, 117, 119, 121 Barker, Howard 25, 33 Baudrillard, Jean 26, 27, 34, 35 Bauer, Fritz 77, 82, 83, 84 Baumgart, Reinhard 66 Beckoviü, Matija 46, 49, 52 Benda, Julian 3, 42 Benn, Gottfried 69 Blair, Tony 36 Bocca, Giorgio 158 Böll, Heinrich 79, 109, 110, 111 Bond, Edward 25, 27 Bourdieu, Pierre 42 Brandt, Willy 72 Brecht, Bertolt 110 Breloer, Heinrich 111 Brenton, Howard 25, 27 Brinkmann, Rolf Dieter 110 Brittain, Victoria 36 Bush, George W. 36

Edel, Uli 4 Eliade, Mircea 48 Engels, Friedrich 100 Ensslin, Gudrun 65, 92, 104, 105, 106, 113, 117, 118, 119, 121 Enzensberger, Hans Magnus 2, 72 Erhard, Ludwig 80

Canetti, Elias 106 Cioran, Emil 48 Coetzee, J. M. 186 Cohen, Peter 101 Condorcet, Jean-Marie 96, 97 Conrad, Joseph 212 ûosiü, Dobrica 47, 50, 52, 53, 54, 55 Cossiga, Francesco 152 Curcio, Renato 149 Cvijiü, Jovan 49 Dahrendorf, Ralf Lord 2

Fanon, Frantz 185, 213 Fassbinder Rainer, Werner 117 Fest, Joachim 79 Finkielkraut, Alain 173, 174, 175, 177 Foucault, Michel 211 Fried, Erich 80, 111 Fromm, Erich 96 Gatore, Gilbert 200 Gaulle, Charles de 163 Globke, Hans 69, 70 Glucksmann, André 172, 173 Gordimer, Nadine 184, 186, 193, 194 Gramsci, Antonio 127, 145, 212 Grass, Günter 69, 71, 79 Gumbrecht, Hans Ulrich 122 Habermas, Jürgen 57, 96 Hare, David 25, 36 Hatzfeld, Marc 178, 179 Head, Bessie 183 Herzog, Marianne 104 Heuss, Theodor 83 Hitler, Adolf 29, 65, 67, 72, 74, 77, 82, 83, 85, 87, 100 Horkheimer, Max 96

Namensregister

224 Jäger, Georg 111 Jarry, Alfred 201, 212 Jaspers, Karl 80 Jelinek, Elfriede 4 Johnson, Uwe 79 Jünger, Ernst 48 Kafka, Franz 212 Kant, Immanuel 96 Kästner, Erich 73 Kennedy, John F. 147 Kleist, Heinrich von 118 Koeppen, Wolfgang 79, 86 Kourouma, Ahmadou 200 Krahl, Hans-Jürgen 99 Krüger, Horst 81, 82, 84, 86, 87 Kuby, Erich 74, 75 Lamko, Koulsy 200 Lanser, Susan 189 Lübbe, Hermann 44 Luhmann, Niklas 18, 122 Lyotard, Jean-François 3, 7, 17, 26, 35, 165, 166 Mandela, Nelson 193 Mann, Klaus 69 Mannheim, Karl 3, 94 Marcuse, Herbert 95, 96, 97, 98 Markoviü, Mihajlo 45, 52 Marquard, Odo von 42 Marx, Karl 96, 97, 100, 103 Mayer, Hans 80 Mda, Zakes 184, 186, 188 Meinhof, Ulrike 104, 105 Meins, Holger 101, 104, 106 Melville, Herman 110 Miloševiü, Slobodan 56 Mitscherlich, Alexander 80, 96 Mitterrand, François 166, 167 Monénembo, Tierno 200 Moro, Aldo 128, 132, 147, 148, 149, 150, 151, 152, 153, 154, 155, 156, 157, 158, 159, 160 Mozart, Wolfgang Amadeus 118 Negrišorac, Ivan 49 Neilson, Anthony 25 Nitsch, Hermann 110 Nolte, Paul 2 Nossack, Hans Erich 79

Ohnesorg, Benno 118 Pahlavi, Mohammed Reza Schah 117 Pecchiolini, Ugo 150 Pinter, Harold 36 Politkowskaja, Anna 4 Proll, Astrid 119 Raspe, Jan-Carl 104, 106, 113, 115 Reich, Wilhelm 96 Reich-Ranicki, Marcel 81, 86 Resnais, Alain 68 Richter, Gerhard 111 Richter, Hans-Werner 69, 70, 71, 75, 78, 81 Robespierre, Maximilien de 102 Roth, Christopher 111 Rushdie, Salman 4 Said, Edward W. 1, 3, 37, 42, 185, 187, 189, 196 Saint-Just, Louis Antoine Léon de 102 Samardžiü, Radovan 47 Sarkozy, Nicolas 173, 178 Saro-Wiwa, Ken 4 Sartre, Jean-Paul 109, 163, 164, 165, 211 Schalk, David L. 2 Scheler, Max 104 Schleyer, Hanns Martin 107, 115 Schmid, Carlo 78 Schmitt, Carl 50 Schneider, Peter 110 Schnurre, Wolfdietrich 69, 71, 80 Scholz, Leander 109, 111, 112, 117, 118, 119, 120, 121, 122, 123 Šešelj, Vojislav 53 Slovo, Gillian 36 Sofri, Adriano 152, 157 Sorel, Georges 102 Spivak, Gayatri Chakravorty 211 Stamm, Heinz 116, 119 Tadiü, Ljubomir 52 Theweleit, Klaus 116 Tiffin, Helen 185 Tito (Josip Broz) 53, 57 Todd, Emmanuel 176 Tucker Green, Debbie 31 Uribe Vélez, Álvaro 14

Namensregister Vesper, Bernward 110 Voltaire (François Marie Arouet) 163 Walzer, Michael 210 Weber, Max 51, 102

225 West, Cornel 211, 212 Zapf, Hubert 184, 187 Zola, Emile 1, 8, 160, 164, 166, 211