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German Pages 714 [712] Year 2014
Ulrike Zuckschwerdt Bruder Wernher: Sangsprüche
Hermaea
Germanistische Forschungen Neue Folge
Herausgegeben von Christine Lubkoll und Stephan Müller
Band 134
Ulrike Zuckschwerdt
Bruder Wernher: Sangsprüche
Transliteriert, normalisiert, übersetzt und kommentiert
DE GRUYTER
Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG WORT
ISBN 978-3-11-031389-5 e-ISBN 978-3-11-031390-1 ISSN 0440-7164 Library of Congress Cataloging-in-Publication data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2014 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Meta Systems GmbH, Wustermark Gesamtherstellung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Meiner Familie in tiefer Liebe und Dankbarkeit gewidmet
Danksagung
Anfangs- und Endpunkt dieser Arbeit bildet mein Doktorvater Prof. Dr. Freimut Löser: Lieber Herr Löser, tapfer haben Sie sich ins Auge des Sturms aus Transliterationen, Apparaten und Kommentaren begeben – dafür ist und bleibt Ihnen mein tiefer Dank sicher. Herzlichen Dank für all Ihre Unterstützung und Förderung die vergangenen Jahre über. Auch meinem Zweitgutachter Prof. Dr. Joachim Hamm danke ich herzlich dafür, dass er sich auf das Abenteuer eingelassen und mich mit vielen Ratschlägen unterstützt hat. Prof. Dr. Katja Sarkowsky danke ich sehr für ihre spontane und unkomplizierte Hilfe, als ich unverhofft einen dritten Prüfer für meine Disputation finden musste. Ganz herzlichen Dank dafür! Ausdrücklich bedanken möchte ich mich auch bei der VG Wort für ihren großzügigen Druckkostenzuschuss. Neben den Kollegen und Hilfskräften am Lehrstuhl gilt mein besonderer Dank auch dem von Prof. Dr. Freimut Löser, PD Dr. Arno Mentzel-Reuters und Prof. Dr. Joachim Hamm ausgerichteten altgermanistischen Oberseminar an der Universität Augsburg. Dieses hat mich über die gesamte Zeit der Entstehung meiner Dissertation mit Rat und Tat begleitet und dessen Leitern sowie Teilnehmern danke ich sehr für ihre konstruktiven und hilfreichen Hinweise. Ausdrücklich herausheben aus dieser Gruppe möchte ich Dr. Klaus Vogelgsang: Lieber Klaus, Du hast mir nicht nur im Rahmen des Oberseminars, sondern weit darüber hinaus erlaubt, aus Deinem Wissensfundus zu schöpfen, der m. E. unerschöpflich ist. Ich danke Dir herzlich für Deinen Rat, Deine Hilfe und Deine Zeit! Darüber hinaus gilt mein besonderer Dank Dr. Oliver Ernst und Dr. Simon Pickl vom Lehrstuhl für deutsche Sprachwissenschaft: Ihr habt mir mehr als einmal durch gute Ratschläge weitergeholfen und mich wieder aufgebaut. Ganz herzlichen Dank dafür! Bleiben noch zwei Kollegen, die ich ebenfalls nicht unerwähnt lassen möchte: Zum einen meine vormals „bessere Hälfte“ Dr. Mirjam Burkard: Liebe Mirjam, es war nicht nur eine Freude, die Arbeitsstelle mit Dir zu teilen, sondern auch den alltäglichen Uni- und Disswahnsinn gemeinsam zu bestreiten. Ich danke Dir herzlich für diese Zeit! Zum anderen mein Historikerkollege Mathias Kluge: Lieber Mathias, wer hätte damals, als wir uns im ersten Semester kennen gelernt haben, geahnt, wohin uns die Reise führen würde. Ich danke Dir für die äußerst produktive und entspannte Zusammenarbeit. Zu guter Letzt meine Eltern Roswitha und Dieter Zuckschwerdt sowie meine Brüder Johannes und Philipp: Diese Arbeit ist für Euch und nur für
VIII
Danksagung
Euch. Worte vermögen nicht auszudrücken, wie sehr ich mich gesegnet fühle, Euch an meiner Seite zu wissen. Danke für alles! Augsburg im Mai 2012 Ulrike Zuckschwerdt
Inhalt Einleitung
1
Bruder Wernher 6 Überlieferungslage und Handschriftenverzeichnis Ort und Zeit 8 Stand 13 Werk 19 Rezeption 22 Töne 27 Exkurs: LAMEYS Tönetheorie Methodisches Vorgehen 34 Der kritische Text 37 Zur Transliteration 37 Zur Normalisierung 40 Zur metrischen Form 48 Hinweise zur Benutzung 50 Zur Anordnung der Sprüche Zum Lesartenapparat 53 Zum Übersetzungsapparat Zur Übersetzung 56 Zum Kommentar 57 Text 61 Ton I 63 Korpus in J Unikal in C Ton II 181 Korpus in J Unikal in C 419 Ton III Korpus in J 491 Ton IV Korpus in J 517 Ton V Korpus in J Unikal in C
64 174 182 404 420 492 518 560
32
50 56
6
X
Inhalt
Ton VI 569 Korpus in J Unikal in C 621 Ton VII Unikal in C 635 Ton VIII Unikal in C 647 Ton IX Unikal in A
570 614 622 636 648
Anhang 663 665 Melodien aus der Jenaer Liederhandschrift 665 Ton I 667 Ton II 669 Ton III 671 Ton IV 672 Ton V 674 Ton VI 676 Sprücheverzeichnis 678 Die Zählung(en) der Sprüche auf einen Blick 680 Abkürzungsverzeichnis 685 Verzeichnis abgekürzt zitierter Literatur 686 Literaturverzeichnis 698 Register
Teil I: Einleitung
Einleitung Horst Brunner schreibt in seinem Verfasserlexikonartikel zu Bruder Wernher, dass er im Bereich der politischen Sangspruchdichtung „neben Reinmar von Zweter der bedeutendste Nachfolger Walthers von der Vogelweide [war]“1. In Anbetracht dieses unzweideutigen Urteils verwundert es zum einen etwas, dass der Name des Spruchdichters nicht – wie der Reinmars – auf breiter Basis geläufig zu sein scheint, und zum anderen, dass, abgesehen von einigen Aufsätzen, die sich jedoch entweder nur mit einem ausgewählten Spruch2 oder aber mit einem speziellen Thema3 beschäftigen, kaum umfassende und v. a. aktuelle Untersuchungen4 zu Bruder Wernher vorliegen. Was jedoch viel schwerer wiegt, ist der Umstand, dass die „jüngste“ Edition der gesammelten Sprüche Bruder Wernhers auf die Jahre 1904/05 zurückgeht.5 Zwar enthält Anton E. Schönbachs Ausgabe zu jedem Spruch einen Kommentar, allerdings ist dieser aus heutiger Sicht zum einen dadurch kritisch zu sehen, dass er die Texte in erster Linie inhaltlich untersucht – v. a. mit Blick auf eine historische und somit chronologische Einordnung –, eine tiefgreifende sprachliche Auseinandersetzung mit den Sprüchen jedoch fehlt, es wird, wenn überhaupt, nur grob vorübersetzt. Zum anderen ist Schönbach „ein Kind seiner Zeit“ und folgt insofern Karl Lachmanns editorischen Prinzipien, indem er anhand der Überlieferungsträger versucht, einen sog. „Archetext“ herzustellen, der der angeblichen Autorversion am nächsten kommen soll. So ist die Untersuchung dadurch geprägt, dass die Handschriften nach äußerst
1 Brunner: Bruder Wernher, Sp. 901. Vgl. dazu auch Spechtler: Bruder Wernher, Bd. I, S. 1. 2 Zum Beispiel Kern: Bîspel-Spruch oder (sehr knapp) Gade. 3 Zum Beispiel Dorninger, Knapp, Strasser oder Teschner. 4 Zumindest Franz Viktor Spechtler macht mit seinen beiden schmalen Bänden (1982/84) die Texte Bruder Wernhers handschriftenorientiert zugänglich und wirft dabei einen zu Recht kritischen Blick auf Anton E. Schönbachs Edition (vgl. Spechtler: Bruder Wernher). Und Hugo Moser und Joseph Müller-Blattau haben zwar bereits 1968 in ihrer Ausgabe zu den deutschen Liedern des Mittelalters Wernhers Sprüchen ein eigenes, handschriftennahes Kapitel gewidmet, allerdings enthält dieses nur die 26 Sprüche, die in J unter Ton II überliefert sind (vgl. Moser/Müller-Blattau). Darüber hinaus bietet Udo Gerdes mit seiner Dissertation von 1969 bzw. 1973 eine breit angelegte Werkanalyse (vgl. Gerdes: Beiträge), die jedoch in der Besprechung von Eva Kiepe-Willms z. T. berechtigt kritisiert wurde (vgl. Kiepe-Willms). Das 1952 von Paul Kemetmüller veröffentlichte Glossar zu Wernhers Sprüchen (inkl. einer Zusammenfassung der einzelnen Forschungsstandpunkte zu jedem Spruch) ist dahingehend problematisch zu sehen, dass es sich maßgeblich auf Schönbachs Edition stützt (vgl. Kemetmüller). 5 Vgl. Schönbach.
4
Einleitung
subjektiven Kriterien bearbeitet bzw. bewertet werden, die sich vorrangig an vermeintlich ästhetischen Maßstäben orientieren.6 Was dabei nicht selten herauskommt, sind Texte, in die z. T. dermaßen stark eingegriffen wurde, dass sie in dieser Form in keiner Handschrift zu finden sind.7 Ein weiterer wesentlicher Kritikpunkt ist, dass Schönbach die große Heidelberger Liederhandschrift C als maßgeblichen Überlieferungsträger heranzieht, obwohl die Jenaer Liederhandschrift J nicht nur deutlich mehr Sprüche von Bruder Wernher überliefert (insgesamt 67, während C „lediglich“ 38 enthält), sondern zudem Melodien zu den einzelnen Tönen tradiert, C insofern also auch in metrischer bzw. musikalischer Hinsicht etwas voraus hat. Allein aufgrund der Tatsache, dass keine fundierte, umfassende und kritische Ausgabe der Texte Bruder Wernhers vorliegt, und zudem die Frage nach der Leithandschrift neu gestellt werden sollte, scheint eine Neuedition gerechtfertigt. Darüber hinaus sei natürlich auch der Wert von Wernhers Sprüchen an sich als Begründung hierfür ins Feld geführt. In Ermangelung eines sinnvolleren Ortes erlaube ich mir an dieser Stelle noch, auf zwei Formalia hinzuweisen, die die vorliegende Arbeit insgesamt betreffen: Zum einen wurde darauf verzichtet, in wörtlichen Zitaten explizit auf Orthografie„fehler“ hinzuweisen ([sic!]), die sich etwa lediglich durch den Wechsel von alter zu neuer Rechtschreibung ergeben. Dies bezieht auch diejenigen „Fehler“ mit ein, die sich in der Rückschau auf ältere Forschungsbeiträge (19. Jh.) ergeben. Einzig jene Stellen in Zitaten sind gekennzeichnet, in die sich ein Tippfehler eingeschlichen haben mag, etwa in Form fehlender Buchstaben o. Ä. Zum
6 Zur Veranschaulichung hier eine exemplarische Auswahl, die problemlos erweitert werden könnte: „Das stammt schwerlich von Wernher“ (Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 18), „wexenen J ganz albern“ (ebd., S. 28), „5 ob man synen eit tzůbrechen wil, ist natürlich ganz töricht“ (ebd., S. 54), „Allerdings war es notwendig, die mangelhafte Überlieferung der Jenaer Handschrift an ein paar Stellen energisch zu korrigieren.“ [bezieht sich auf I,1, hier v. a. V. 10] (Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 10) uvm. 7 Ein sehr anschauliches Beispiel ist Spruch VIII,74: Während z. B. der zweite Vers in C ſıt er ſıch dvr des obſte̅ kuͥní/ges ere· lautet, macht Schönbach daraus sît er dur Jêsus Krist, des oberisten küneges, êre (Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 73). Ähnlich sieht es mit I,1 aus (vgl. dazu auch Anm. 6): Vers 10 lautet handschriftlich Daz er vns ſchẏrme / vůr engeſtlíchen vreẏſen., bei Schönbach hingegen daz er uns schirme in tôdes vart vor engestlîchen vreisen? (Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 8). Die im Jahr 2011 erschienene Anthologie mittelhochdeutscher Sangsprüche des 13. Jahrhunderts von Theodor Nolte und Volker Schupp, die einem Desiderat nachkommt, indem nun endlich ausgewählte Sangsprüche zentraler Dichter in einem Buch gebündelt werden, muss bedingt durch das bislange Fehlen einer neuen, kritischen Edition zu Bruder Wernher auf Schönbachs Ausgabe und deren z. T. stark konjizierte Sprüche zurückgreifen.
Einleitung
5
zweiten wird überall dort, wo im Text von Benutzern, Rezipienten, Zuhörern usw. die Rede ist, aus Leser(innen)freundlichkeit darauf verzichtet, die jeweils weibliche Variante des Lexems anzuführen. Liebe Frauen, selbstverständlich sind auch Sie gemeint!
Bruder Wernher Überlieferungslage und Handschriftenverzeichnis Unter dem Namen Bruder Wernher sind insgesamt 76 Strophen in drei Liederhandschriften und einem Fragment überliefert, wobei davon insgesamt 45 Strophen unikal und 31 parallel belegt sind.8 Auf die einzelnen Überlieferungsträger ist der Strophenbestand wie folgt verteilt: Jenaer Lhs. J:
– – – –
insgesamt 67 Strophen 36 unikal 31 parallel 6 Melodien
Gr. Heidelberger Lhs. C:
– – –
insgesamt 38 Strophen 7 unikal 31 parallel
Kl. Heidelberger Lhs. A:
– – –
insgesamt 3 Strophen 2 unikal 1 parallel
Tetschener Fragment T:
– –
insgesamt 1 Strophe 1 parallel
A Kleine Heidelberger Liederhandschrift Heidelberg, Universitätsbibliothek Cod. Pal. Germ. 357 Pergament, 18,7 × 13,4 cm, 45 Bll., einspaltig, mehrere Hände Grundstock (1r–39v) um 1270–1280, Nachträge (40r–45v) 1. bis 3. Viertel des 14. Jh., Elsass (evtl. Straßburg), Schreibsprache alemannisch (Nachträge mit mitteldeutschem Einfluss)
8 Überlegungen zu möglichen Lücken in der Überlieferung Bruder Wernhers stellt Franz Viktor Spechtler an, wonach die Überlieferung „wesentlich größer gewesen sein [dürfte], als wir bisher angenommen haben“ (Spechtler: Strophen und Varianten, S. 500).
Überlieferungslage und Handschriftenverzeichnis
7
Gesamtinhalt: 29 Dichternamen (fünf davon doppelt vertreten), insgesamt 791 Strophen (692 Strophen und zwei Minneleiche), keine Melodien Œuvre Bruder Wernhers: Bl. 36v Ausgaben: Die alte Heidelberger Liederhandschrift. Mit einer Schriftprobe. Hrsg. von Franz Pfeiffer. Nachdr. der Ausg. Stuttgart 1844. Heidelberg 1962 (BLVS 9,3). Die kleine Heidelberger Liederhandschrift in Nachbildung. Mit Geleitwort und Verzeichnis der Dichter und Strophenanfänge von Carl von Kraus. Stuttgart 1932. Die kleine Heidelberger Liederhandschrift Cod. Pal. Germ. 357 der Universitätsbibliothek Heidelberg. Bd. 1: Faksimile. Bd. 2: Einführung von Walter Blank. Wiesbaden 1972 (Facsimilia Heidelbergensia 2). Online: http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/cpg357/0076 (Stand: Juli 2010)
C Große Heidelberger Liederhandschrift oder Codex Manesse Heidelberg, Universitätsbibliothek Cod. Pal. Germ. 848 Pergament, 35,5 × 25 cm, 426 Bll. (mit Textverlust fehlen mind. acht Bll.), zweispaltig, mehrere Hände Grundstock beginnendes 14. Jh., Nachträge bis 1330/1340, Zürich, Schreibsprache alemannisch Gesamtinhalt: 140 Dichter, 138 ganzseitige Miniaturen, über 6000 Strophen (36 Leiche, ca. 5400 Strophen, 28 Leiche und ca. 2780 Strophen nur aus C bekannt), keine Melodien Œuvre Bruder Wernhers: Bll. 344v–347v Ausgaben: Die große Heidelberger Liederhanschrift. In getreuem Textabdruck. Hrsg. von Fridrich Pfaff. Teil 1: Textabdruck. Heidelberg 1909. 2., verb. und erg. Aufl. bearb. von Hellmut Salowsky. Heidelberg 1984. Die Manessische Lieder-Handschrift. I. Faksimile. II. Einleitungen von Rudolf Silbig et al. Leipzig 1929. Die Große Heidelberger ,Manessische‘ Liederhandschrift. In Abbildungen hrsg. von Ulrich Müller. Mit einem Geleitwort von Wilfried Werner. Göppingen 1971 (Litterae; Nr. 1). Online: http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/cpg848/0684 (Stand: Juli 2010)
J Jenaer Liederhandschrift Jena, Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek Ms. El. f. 101 Pergament, 56 × 41 cm (ungewöhnlich groß), 133 Bll. (Anfang und Schluss verloren, im Inneren fehlen 10–14 Bll.), zweispaltig, mehrere Hände
8
Bruder Wernher
Hauptbestand (alles bis auf den Wizlaw-Nachtrag sowie weitere kleinere Nachträge) um 1330, Mitteldeutschland, Schreibsprache mitteldeutsch Gesamtinhalt: 28 namentlich genannte Dichter (davon zwei nicht authentisch [her wolueram, der von ofterdingen]) sowie zwei weitere Œuvre ohne Namen (rekonstruiert als Wizlaw von Rügen und Frauenlob), über 940 Strophen (überwiegend Sangsprüche des 13. und 14. Jh.), insgesamt 91 Melodien (davon vier fragmentarisch und zwei Leichs) in römischer Quadratnotation Œuvre Bruder Wernhers: Bll. 7v–16v Ausgaben: Die Jenaer Liederhandschrift. I. Getreuer Abdruck des Textes. II. Übertragung, Rhythmik und Melodik. Hrsg. von Georg Holz et al. Leipzig 1901, Nachdr. Hildesheim 1966. Die Jenaer Liederhandschrift in Abbildungen. Mit einem Anhang: Die Baseler und Wolfenbüttler Fragmente. Hrsg. von Helmut Tervooren und Ulrich Müller. Göppingen 1972 (Litterae; Nr. 10). Online: http://www.urmel-dl.de/Projekte/JenaerLiederhandschrift/Allgemeines.html (Bruder Werner im Digitalisat ab Seite 14 (fol. 7v)/276) (Stand: Juli 2010)
T Tetschener Fragment Prager Nationalbibliothek, Cod. XXIV.C.55 (früher Tetschen/Děčín [Tschechien], Gräflich Thunsche Bibliothek, Ms. 221/i) ein Pergamentblatt, 21,5 × 14 cm, einspaltig Mitte oder 2. Hälfte des 14. Jh. Gesamtinhalt: Das Frgmt. überliefert mit den insgesamt vier enthaltenen Strophen (zwei davon fragmentarisch) nur Spruchdichtung, keine Melodien. Œuvre Bruder Wernhers zwischen Strophen Reinmars von Zweter Ausgaben: Bernt, Alois: Tetschener Bruchstück einer mittelhochdeutschen Spruchhandschrift, ZfdA 47 (1904), S. 237–241. Bernt, Alois: Altdeutsche Findlinge aus Böhmen. Mit einer kultur- und sprachgeschichtlichen Einleitung von Alois Bernt. München 1943. Online: http://www.handschriftencensus.de/2452 (Stand: Juli 2010)
Ort und Zeit Wie bei den meisten Dichtern der mittelalterlichen Zeit liegen auch für Bruder Wernher keine urkundlichen Zeugnisse vor, die eine genauere biografische
Ort und Zeit
9
Einordnung erlauben würden. So besteht die einzige Möglichkeit, seinen Lebenshintergrund greifbarer zu machen, in den Indizien, die wir aus seinen Texten gewinnen können. Während die Mehrheit der insgesamt 76 Sprüche historisch nicht verortet werden kann, was zum Großteil aufgrund des Inhalts der Sprüche aber auch gar nicht gewollt oder vorauszusetzen ist, lassen sich elf Sprüche relativ sicher und elf eventuell datieren. Grundsätzlich bleibt jedoch in jedem Fall immer ein gewisses Maß an Restunsicherheit bestehen, so dass die hier vorgenommene zeitgeschichtliche Einordnung mit Sicherheit noch nicht der Wahrheit letzter Schluss ist. Wie in den weiter unten aufgeführten Tabellen ersichtlich, reicht die Spanne der (evtl.) datierbaren Sprüche voraussichtlich von 1217 bis 1250/51. Dies bedeutet, dass Bruder Wernhers Dichtertätigkeit mindestens 34 Jahre umfasst haben muss, wobei es angesichts der Vielzahl an Sprüchen, die zeitlich nicht verortet werden können, durchaus wahrscheinlich ist, dass er bereits vor 1217 bzw. noch nach 1250/51 gedichtet hat.9 In jedem Fall ist seine Lebenszeit auf die erste Hälfte des 13. Jahrhunderts anzusetzen.10 Sein geografischer Lebensmittelpunkt konzentriert sich auf den österreichischen und angrenzenden bayerischen Raum.11 So spielt v. a. Herzog Friedrich II. von Österreich und Steiermark eine zentrale Rolle – mit ihm setzen sich direkt bzw. indirekt immerhin sechs Sprüche auseinander.12 Und auch Friedrichs II. Vater, Herzog Leopold VI., kann aller Wahrscheinlichkeit nach mit vier Sprüchen in Verbindung gebracht werden.13 Diese verstärkte Ausrichtung auf die Babenberger, speziell Herzog Friedrich II., muss jedoch nicht unbedingt bedeuten, dass Bruder Wernher tatsächlich am Hof Friedrichs II. war, geschweige denn sich in seinen Diensten befunden hat.
9 Speziell die Formulierung ich hân der werlde ûf kranken lôn gesungen leider vil (IX,75,3) deutet darauf hin, dass Bruder Wernher bereits vor 1217 dichterisch tätig war, denn IX,75 ist evtl. auf dieses Jahr zu datieren. Da die Lebenserwartung eines Mannes im Mittelalter bei durchschnittlich 40 Jahren lag (vgl. Vogt-Lüerssen, S. 202), ist es durchaus nicht unrealistisch, dass Bruder Wernher ein solches Alter erreicht hat, obwohl die Lebenserwartung eines Fahrenden aufgrund des ungewollt strapaziösen Lebenswandels evtl. niedriger lag als etwa die eines Angehörigen der adligen Oberschicht. Hans Vetter geht ebenfalls von einer Dichtertätigkeit „von ungefähr 40 jahren“ aus (Vetter, S. 267). Auch für Walther von der Vogelweide wird übrigens eine Schaffenszeit von rund 40 Jahren angesetzt (vgl. Schweikle: Walther, Bd. 1, S. 21 und Scholz: Walther, S. 14). 10 Meyer und Doerks gehen davon aus, dass Wernher schon Ende des 12. Jahrhunderts geboren wurde (vgl. Meyer, S. 77, 105; Doerks, S. 1). 11 Vgl. u. a. auch HMS 4, S. 514; Meyer, S. 76 f.; Lamey, S. 11; Doerks, S. 1. 12 Vgl. I,12; II,28; II,35; VI,67; VI,69; VI,71. 13 Vgl. VII,73; VIII,74; evtl. IX,75; IX,76.
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Bruder Wernher
Die taten Friedrichs kennt der dichter aber so genau, daß er in seinen landen oft und lange gelebt haben muß; doch können alle sprüche, die davon berichten, sehr wohl auch am hofe irgend eines österreichischen oder steirischen adeligen vorgetragen worden sein. Diese annahme scheint mir auch eine erklärung zu geben für das fehlen von lobsprüchen auf den herzog und die schonende kritik an seinen unterlassungen und vergehen, die einem den eindruck macht aus dem munde eines dichters zu stammen, der nicht unmittelbar darunter zu leiden hatte.14
Neben Vater Leopold VI. und Sohn Friedrich II. sind auch alle übrigen Grafen, die mit eigenen Lobsprüchen bedacht werden (insgesamt vier Sprüche)15, vorrangig dem österreichischen und südostdeutschen Raum zuzuordnen. Dass Bruder Wernher übrigens politisch einem bestimmten Lager zuneigte – in der älteren Forschung wird hier in der Regel die kaiserliche Partei genannt – und sich dies in seinen Sprüchen niederschlug, kann ich nicht bestätigen.16 Zwar entsteht der Eindruck, dass er eher dazu tendiert, seine Aufforderungen oder kritischen Ermahnungen an den Papst zu richten, diese Einschätzung rührt allerdings vorrangig daher, dass die Kritik am Papst in deutlichere Worte gefasst wird, als dies gegenüber dem Kaiser geschieht.17 Bei näherer Betrachtung fällt jedoch auf, dass Bruder Wernher seinen kritischen Blick keineswegs primär auf den päpstlichen Stuhl richtet, sondern – ganz im Gegenteil – beide, sowohl Papst als auch Kaiser, ermahnt werden, falls Wernher dies für nötig
14 Vetter, S. 266. 15 Vgl. II,32; II,38; V,60; V,61. (Obwohl mit Blick auf V,61 die endgültige Auslegung nicht klar ist, stammen beide für diesen Spruch infrage kommenden Grafengeschlechter [von Osterburg und von Henneberg] aus dem südostdeutschen bzw. bayerisch-österreichischen Gebiet.) 16 Meyer sagt mit Blick auf I,4, dass Wernher „im Laufe der Jahre von Kaiser Friedrich II abtrünnig geworden [ist]“ (Meyer, S. 97). Lamey erklärt, dass Wernher zunächst ein „Anhänger der Hohenstaufischen Partei“ (Lamey, S. 32) ist, sich im weiteren Verlauf – wie I,4 zeige – „der päpstlichen einiger Massen genähert zu haben [scheint]“ (ebd.), dann aber 1246 „bereits wieder entschieden auf kaiserlicher Seite [steht]“ (ebd.). Vetter wiederum trifft missverständliche Aussagen: Einerseits meint er, dass Bruder Wernher offenlasse, „auf welcher seite er gestanden hat“ (Vetter, S. 265), dass er vielmehr „als über den parteien stehend überall zu vermitteln und zu versöhnen [sucht]“ (ebd., S. 266), andererseits betont er, dass Wernher „[zeit seines lebens] [e]in anhänger der kaiserlichen politik war“ (ebd.). Gerdes schließlich hält derartigen Positionen entgegen, dass „[d]ie häufig überstrapazierten Anzeichen einer angeblichen Parteinahme des Spruchdichters in tagespolitischen Fragen […] tatsächliche Festlegungen im objektiven politischen Zusammenhang [sind], […] aber von der ganz unpolitischen Absicht des Dichters aus betrachtet kontingente Erscheinungsformen einer Beschäftigung mit dem Aktuellen, die auf das Allgemeine ausgeht“ (Gerdes: Beiträge, S. 211). Kontingente Erscheinungsformen? 17 Vgl. dazu v. a. I,4. Für Meyer wird in diesem Spruch hingegen „das grössere Unrecht auf des Kaisers Seite gesucht“ (Meyer, S. 98). Laut Lamey „gibt hier Br. W. weder dem Papste noch dem Kaiser recht“ (Lamey, S. 32).
Ort und Zeit
11
hält.18 Ihm scheint es weniger darum zu gehen, durch die Kritik an den Herrschenden zugunsten eines bestimmten Lagers auftreten zu wollen, sondern seine Ermahnungen und Warnungen dienen in der Regel einem höheren Zweck, nämlich dem Wohl der Menschen insgesamt – sei es nun aus kirchlicher Sicht in Form des Seelenheils der Gläubigen (z. B. II,35) oder aus weltlicher in Form des (juristischen) Schutzes der Untertanen (z. B. II,23).19 Datierbare Sprüche: I,12
vermutlich um 1250/51
Da in den ersten sechs Versen des Spruches der Tod Herzog Friedrichs II. (15. Juni 1246) beklagt wird, muss I,12 in jedem Fall danach entstanden sein. Darüber hinaus spielen speziell die Verse der zweiten Strophenhälfte auf König Wenzel I. von Böhmen bzw. seinen Sohn Ottokar II. an, der 1251 Herzog von Österreich wird.
II,21 (Lesart von C!)
zwischen Juli 1235 und Juli 1236
Der Spruch bezieht sich auf die Absetzung König Heinrichs (VII.).
II,23
Anfang 1235 (noch vor der Rückkehr Kaiser Friedrichs II. nach Deutschland im Mai 1235)
II,23 ist vor dem Hintergrund der Konstitutionen von Melfi aus dem Jahr 1231 zu sehen. Kaiser Friedrich II. wird aufgefordert, derartige Reformen im Rechtswesen auch auf deutschem Boden durchzuführen.
II,26
vermutlich nicht lange 1251 verlässt Konrad IV. Deutschland endgültig, um die nach 1251 staufische Herrschaft zumindest in Sizilien zu sichern. In diesem Zusammenhang ist II,26 voraussichtlich entstanden.
II,28
1236/37
Der Spruch behandelt die Auseinandersetzung von Herzog Friedrich II. mit dem Kaiser, in deren Verlauf der Herzog seine Länder vorerst räumen und auch die Stadt Wien an Kaiser Friedrich II. verloren geben muss.
II,32
evtl. 1249 bzw. nicht lange danach
Lobspruch auf den österreichischen Grafen Wilhelm IV. von Heunburg, wobei nicht ganz klar ist, ob der Spruch erst nach Wilhelms Tod (1249) gedichtet worden ist und insofern als Totenklage zu verstehen wäre.
18 Vgl. dazu eher papstkritisch I,4; II,35 und evtl. II,43,11 f. sowie eher kaiserkritisch I,4 (v. a. V. 3 und 9); II,23; VI,69. 19 Vgl. dazu auch Lamey, S. 10; Vetter, S. 265 f.; Scholz, S. 39 f.; Gerdes: Beiträge, S. 81.
12
Bruder Wernher
II,35
evtl. Frühjahr 1236 (auf jeden Fall vor Juni 1236)
Der Spruch behandelt den Konflikt zwischen Kaiser Friedrich II., Papst Gregor IX. und der Lombardenliga und muss noch vor der Truppenaufstellung Kaiser Friedrichs II. in Augsburg im Juni 1236 entstanden sein.
II,38
vermutlich nicht lange vor 1245
Gelobt wird Graf Poppo VII. († 1245) sowie indirekt ein Graf aus dem Hause Castell. Beide Geschlechter stammen aus dem Fränkischen.
V,63
bald nach dem 15. September 1231
Der Spruch ist unmittelbar vor dem Hintergrund der Ermordung des bayerischen Herzogs Ludwig I. am 15. September 1231 und dem Eindruck, den diese hinterlassen hat, abgefasst.
VI,67
1236
In VI,67 steht die Auseinandersetzung zwischen Herzog Friedrich II. und seinen Nachbarländern Ungarn und Böhmen sowie Kaiser Friedrich II. im Mittelpunkt.
VIII,74
Sommer und Herbst 1217
Die Strophe ist vor dem Hintergrund des Kreuzzugs des österreichischen Herzogs Leopold VI. gedichtet worden.
Evtl. datierbare Sprüche: I,4
entweder: April 1239 bis August 1241 oder: Juni 1243 bis Juni 1244
Der Spruch ist entweder nach der zweiten Exkommunikation Kaiser Friedrichs II. (20. März 1239) entstanden oder in der Zeit nicht lange vor seiner Absetzung, die auf dem Konzil in Lyon (26. Juni bis 17. Juli 1245) beschlossen wurde.
I,10
evtl. 1233/34
I,10 ist vielleicht vor dem Hintergrund des Krieges zwischen Bayern und Österreich in den Jahren 1233 und 1234 entstanden.
II,39
evtl. zwischen April Der Entstehungszeitpunkt des Spruches liegt und November möglicherweise in der Phase nach der Wahl Heinrichs (VII.) 1220 zum deutschen König (April 1220) und vor der Krönung Friedrichs II. zum Kaiser (22. November 1220).
II,43
möglicherweise Spätsommer oder Herbst 1229
Kaiser Friedrich II. kehrt im Juni 1229 vom Kreuzzug aus dem Heiligen Land zurück und bewerkstelligt dabei die erfolgreiche Rückeroberung des Königreichs Sizilien, das in Friedrichs II. Abwesenheit von päpstlichen Truppen eingenommen worden war. Vor dem Hintergrund dieser Ereignisse ist II,43 evtl. zu sehen.
II,45
vielleicht Anfang der 1230er Jahre (1231 oder 1232)
Der Spruch ist ein Lob vergangener Zeiten, indem er die verkommene Jugend (evtl. verkörpert durch Heinrich [VII.], Herzog Friedrich II. und Herzog Otto II.) der Vorbildlichkeit der Alten (vermutlich vertreten durch Herzog Leopold VI.
Stand
13
und Herzog Ludwig I.), die mittlerweile verstorben sind, gegenüberstellt. IV,57
evtl. zwischen dem 10. November 1241 und dem 25. Juni 1243 entstanden
Die Datierungen von IV,57 weichen in der Forschung z. T. deutlich voneinander ab (vgl. dazu Kommentar zu IV,57). M. E. scheint sich der Spruch auf die Zeit der Vakanz des Heiligen Stuhles zu beziehen.
V,66
evtl. zwischen 1245 bis etwa 1260
Im Zentrum von V,66 steht Hartnid von Ort, wobei nicht sicher gesagt werden kann, ob es sich dabei um Hartnid I. (?) oder Hartnid III. (?) handelt. Tendenziell scheint jedoch der jüngere der beiden eher infrage zu kommen. Seine genauen Lebensdaten liegen nicht vor, so dass der Abfassungszeitraum nicht stärker eingegrenzt werden kann.
VI,69 (Lesart von C!)
vielleicht Sommer 1235
Der Spruch behandelt evtl. die Annäherung zwischen Kaiser Friedrich II. und Herzog Otto II. Mitte der 1230er Jahre, und zwar aus Sicht Herzog Friedrichs II., der diese Entwicklung wohl eher misstrauisch wahrgenommen hat.
VI,71
wohl nach April 1237
Wien wird nach der Eroberung durch Kaiser Friedrich II. von diesem im April 1237 zur Reichsstadt erklärt. Der Spruch bezieht sich wohl rückblickend auf dieses Ereignis.
VII,73
evtl. spätes Frühjahr 1217
Der Spruch ist wohl vor dem Hintergrund des Kreuzzugs Herzog Leopolds VI. 1217–1219 entstanden, wobei die ersten fünf Verse evtl. darauf hindeuten, dass Wernher den Spruch vor der Abreise aus Deutschland verfasst hat.
IX,75 und IX,76
ebenfalls evtl. spätes Frühjahr 1217
Die beiden Sprüche, die inhaltlich z. T. zwar Parallelen aufweisen, m. E. deswegen jedoch nicht unweigerlich ein zweistrophiges Lied bilden müssen (vgl. dazu Kommentar zu IX,76), sind, ähnlich wie VII,73, ebenfalls evtl. vor dem Aufbruch Herzog Leopolds VI. zum Kreuzzug entstanden, wobei diese Datierung für IX,76 wahrscheinlicher ist als für IX,75.
Stand Mit Blick auf Bruder Wernhers Standeszugehörigkeit und somit auch seinen Bildungshintergrund können noch weniger konkrete Aussagen getroffen werden, als dies hinsichtlich seiner geografischen und zeitlichen Verortung möglich ist. Einer der wenigen Orientierungspunkte ist der Beiname ,Bruderʻ, der sich, abgesehen von Fragment T, in allen drei Handschriften findet und darüber hinaus auch in den Rezeptionstexten (siehe weiter unten) beibehalten
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Bruder Wernher
wird. Dieser Titel kann entweder als Hinweis auf Wernhers Leben als Laienbruder20 (frater conversus) verstanden werden oder aber auf seine Zugehörigkeit „zur großen Brüderschaft der Wallfahrer“21 anspielen. Da Bruder Wernher sich jedoch selbst zu den leien (vgl. IV,57,11: wir leien) zählt, ist die Forschung einhellig zu dem Schluss gelangt, dass er nicht von geistlichem Stand war, sondern den Namen evtl. im Zuge einer Pilgerfahrt erhalten hat.22 Darüber hinaus wird auch auf die Miniatur der Handschrift C verwiesen, wonach der Dichter wie ein Pilger dargestellt wird: „mit einem Reisebündel auf dem Rücken, auf seinen Stab gestützt“23. M. E. handelt es sich zwar weniger um ein „Reisebündel“, sondern eher um eine Kopfbedeckung, davon abgesehen schließe ich mich jedoch der weitgehend einhelligen Forschungsmeinung an, dass Wernher eher von weltlichem Stand war und seine Anrede nicht auf einen klösterlichen Hintergrund zurückzuführen sein muss. Generell hat Gerdes jedoch nicht Unrecht, wenn er sagt, dass „[d]ie Frage nicht zu entscheiden und der Unterschied für unseren Zusammenhang nicht bedeutsam [ist]“24.
20 Laienbrüder sind Mitglieder einer klösterlichen Gemeinschaft „ohne klerikale Weihen, gewöhnlich mit eingeschränkten Wahlrechten, keiner Verpflichtung z. Chorgebet, teilweise auch Unterschiede in der Kleidung; bestimmt für die prakt. Hausarbeit, für handwerkl. und wirtschaftl. Betriebe des Klosters“ (Frank, Sp. 600). 21 HMS 4, S. 516. 22 Vgl. HMS 4, S. 516; Meyer, S. 78 f.; Lamey, S. 5; Doerks, S. 2 f. 23 HMS 4, S. 516. Mit Blick auf die Schlussfolgerungen, die aus der Miniatur in C gezogen werden (können), weist Meyer nicht zu Unrecht darauf hin, „dass die Bilder solcher Handschriften sehr oft bloss einzelnes an der dargestellten Person hervorheben und nicht immer gerade auf vollständige und erschöpfende Bezeichnung ausgehn; […]. So könnte auch die bildliche Darstellung Bruder Wernhers allein auf diejenigen Sprüche Bezug nehmen, in welchen von dessen Kreuzfahrt die Rede ist“ (Meyer, S. 80). Auf diese Art und Weise ist u. a. die Miniatur Walthers von der Vogelweide oder Johannes Hadlaubs zu verstehen. Lamey reagiert auf Meyers Mahnung zur Vorsicht wiederum, indem er erklärt, dass die Abbildung nun einmal „den einzigen auffindbaren Anhaltspunkt gewährt“ (Lamey, S. 6). 24 Gerdes: Beiträge, S. 136.
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Quelle: Heidelberger Universitätsbibliothek, Cod. Pal. germ. 848 (Codex Manesse), fol. 344v.
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Unabhängig davon, wie man Wernhers Beinamen einschätzen mag, ist m. E. grundsätzlich davon auszugehen, dass er das Leben eines Fahrenden geführt hat,25 denn gerade die Sangspruchdichtung ist die unter fahrenden Dichtern dominierende Gattung. Während der Minnesang nämlich als die „schöne, hohe Kunst“ verstanden wird, der sich v. a. diejenigen Sänger widmen können, deren Existenz in welcher Form auch immer materiell gesichert ist, dient die Sangspruchdichtung v. a. einem Zweck: dem Broterwerb.26 Der Dichter bietet also seine Kunst, seine Darbietung an, um im Gegenzug Lohn zu erhalten. Und genau dadurch sind die „fahrenden Spruchdichter […] in ihrer sozialen Erscheinungsform nicht von den Spielleuten zu unterscheiden, die an den Höfen und bei festlichen Versammlungen in großer Zahl auftraten“27. Das fahrende Volk der Spielleute ist also am unteren Rand der Gesellschaft einzuordnen.28 Dies muss jedoch nicht unweigerlich bedeuten, dass die Fahrenden von niedriger sozialer Herkunft waren und einen entsprechend dürftigen Bildungshintergrund besaßen. Wie Wolfgang Hartung am Beispiel französischer und okzitanischer Literatur sowie historischer Quellen zeigt, war sowohl die ursprüngliche Zugehörigkeit zum niederen Adel als auch zum niederen Klerus keine Seltenheit unter den Fahrenden.29 Dieser Sachverhalt kann
25 Vgl. auch Heinzle, S. 18 („er war ein Berufsliterat“) und Lamey, S. 6. Außerdem Vers 1 in III,54: Swâ man den künsten rîchen varnden man ungerne siht. Übrigens kann ich Lameys Ansicht, das Dasein als Fahrender charakterisiere auch Wernhers Sprache, wonach ihn sein „ziemlich enge[r] begrenzte[r] Wortschatz zu Wiederholungen derselben Worte, Wendungen, ja ganzer Sätze [nötigt]“ (Lamey, S. 7), nicht ohne Weiteres teilen. Durchaus liegen Wiederholungen fester Wendungen oder bestimmter Termini vor (Beispiele siehe ebd., S. 7 f.), allerdings fallen nicht selten Vokabeln auf, die einem zumindest in dieser Textgattung eher seltener begegnen und insofern durchaus innovativ wirken (z. B. I,4,8 versnîden; I,8,10 ûf den holzen slân; I,9,12 verschrôten; I,16,3 honegen; I,16,12 helfenbein; II,34,7 erbiben sên wir erdenklôz; II,34,12 slegel; II,35,6 twalm; II,42,11 verschamter koche kint; II,42,12 schamelôser müeter barn; III,55,6 ôrendriusel; IV,58,1 vernegelt bzw. vernageln; VI,67,4 vriunde veile vüeren; VI,72,12 berinphen; IX,76,11 reizenspil ). 26 Dass von Bruder Wernher keine Minnelieder überliefert sind, kann demnach ebenfalls als Hinweis auf sein Leben als Fahrender verstanden werden. Zum Verhältnis von Minnesang und Sangspruchdichtung sowie zum gesellschaftlichen und persönlichen Hintergrund der jeweiligen Dichter dieser Gattungen vgl. einführend Tervooren: Sangspruchdichtung, S. 32–34 sowie Anm. 29 in dieser Arbeit. 27 Bumke, S. 692. Zum Hintergrund der Fahrenden insgesamt vgl. Schubert, Hartung (2003), Hartung (1982), Brandhorst, Schreier-Hornung. 28 Diese niedrige soziale Stellung bedeutet übrigens nicht, dass die Fahrenden – welcher Art auch immer – per se gesellschaftlich ausgegrenzt wurden (vgl. Schubert, S. 19–23). 29 Vgl. Hartung (1982), S. 23–28. Im Unterschied zu den französischsprachigen und okzitanischen Gebieten, wo sich „höhere“ und „niedrigere“ gesellschaftliche Schichten innerhalb des fahrenden Volkes eher vermischten, beobachtet Hartung für den deutschsprachigen Raum
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wohl nicht ganz auf das deutschsprachige Gebiet übertragen werden, da sich die gesellschaftliche Ordnung etwas von der des französischen und okzitanischen Raumes unterschied,30 ungeachtet dessen geht v. a. die ältere Forschung aber auch bei Bruder Wernher davon aus, dass er von adliger Herkunft war.31
jedoch „relativ deutliche Grenzen zwischen den „unehrlichen“ Spielleuten und denjenigen Dichtern und Sängern, die dem niederen Adel entstammten und als Minnesänger bezeichnet werden“ (Hartung [2003], S. 93). Für Hartung gehören die Minnesänger somit nicht der Gruppe der Spielleute an, sondern sind „dem niederen Adel zuzurechnen“ (ebd., S. 115). Ich bin nicht sicher, ob diese klare Trennung den historischen Gegebenheiten gerecht wird. Immhin setzt sich das Werk manches Dichters aus Minnesang und Sangspruchdichtung zusammen (prominentestes Beispiel ist Walther von der Vogelweide). Gerade für die Sangspruchdichter ist nun i. d. R. ein beruflich bedingtes Maß an Mobilität und Unbehaustsein vorauszusetzen. Und dies ist wiederum ein wesentliches Kennzeichen der Spielleute. Somit müsste mancher Minnesänger durchaus den Spielleuten zugerechnet werden. An anderer Stelle schreibt Hartung: „Die Herkunft aus dem Niederadel schützte den Künstler weitgehend vor der kirchlichtheologischen Diskriminierung, weil ihm von Geburt an ein Platz in der Sozialordnung zugewiesen war.“ (ebd., S. 93) Das Wissen um gesellschaftlichen Schutz bedingt durch die eigene Standeszugehörigkeit lässt sich m. E. aus Bruder Wernhers Werk kaum herauslesen (vgl. z. B. I,8 und III,55). Sollte er also tatsächlich von (nieder-)adliger Herkunft gewesen sein, muss dennoch irgendwann ein derartiger gesellschaftlicher Abstieg erfolgt sein, dass ihm seine vormalige Herkunft keinen Schutz mehr vor einem Leben als rechteloser Fahrender bieten konnte. 30 Vgl. Anm. 29. Außerdem: „Nicht wenige dieser kleinen Adeligen, die in Frankreich und Okzitanien in ihrem Rechtsstand frei, in Deutschland hingegen unfrei und als Ministeriale (ritterliche Dienstmannen) an König, Herzog, Bischof oder Abt gebunden waren, lebten mehr schlecht als recht von mageren Einkünften eines kleinen Lehens, über welches sie ohne Lehens- und Dienstherrn, die auch ihre Leibherren waren, nicht verfügen konnten.“ (Hartung [2003], S. 108) Und: „Sozialer und wirtschaftlicher Abstieg, das sind die stereotypen Erklärungen, die uns die altfranzösischen und die provenzalischen Quellen zu diesen Spielleuten [= ehemalige niedere Adelige] vermitteln. Es ist geradezu auffällig, daß die mittelhochdeutschen Texte, soweit ich das feststellen konnte, kaum etwas berichten.“ (ebd., S. 110) 31 Vgl. Meyer, S. 81 („gehörte […] ohne Zweifel dem minder begüterten Adel an“), Lamey, S. 11 („dem niedern Adel angehört“) und S. 38 („höchst wahrscheinlich ein Adeliger“), Doerks, S. 3 („Auch daß er von edler Geburt gewesen ist, läßt sich mit einiger Wahrscheinlichkeit annehmen.“). Meyer überlegt außerdem: „,Herr‘ wird er zwar nirgends genannt; doch ist nicht unmöglich, dass dieser Titel durch ,Bruder‘ allmälig verdrängt wurde, da beide zu setzen etwas schwerfällig geklungen hätte.“ (Meyer, S. 80 f.) Dies mag zwar denkbar sein, aber aufgrund seines spekulativen Charakters wenig zielführend. Doerks weist darüber hinaus noch auf das Wappen in der Miniatur in C hin (vgl. Doerks, S. 3); allerdings muss dies nicht unweigerlich ein Anhaltspunkt für Wernhers adlige Herkunft sein, immerhin ist manches Wappen in den Abbildungen der Manessischen Liederhandschrift lediglich fiktiv (vgl. Walther von der Vogelweide). Bumke erklärt generell mit Blick auf die soziale Herkunft: „Es ist auch nicht wahrscheinlich, daß die Spruchdichter des 12. und 13. Jahrhunderts in nennenswerter Zahl aus der städtischen Bevölkerung hervorgegangen sind. Noch weniger glaubhaft ist es, daß darunter auch Adlige waren.“ (Bumke, S. 691) Eine genauere Erklärung für diese Position führt er nicht an.
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Bruder Wernher
Und Franz Viktor Spechtler und Hans Waechter glauben anhand ihrer schlüssigen Untersuchung der Melodien Wernhers die Frage seines Bildungshintergrunds präzisieren zu können, wodurch evtl. wieder Rückschlüsse auf seine soziale Herkunft möglich werden: Da Wernher sich, laut Spechtler und Waechter, als „profunder Kenner der Psalmodie“32 erweist und die „Bildung im Mittelalter primär klösterliche Bildung [war]“33, gehen sie davon aus, dass Wernher „mit Sicherheit klösterliche Bildung genossen“34 hat. Ob dies allerdings den Schluss zulässt, er müsse deswegen von adliger Geburt gewesen sein, wage ich nicht so voreilig zu sagen. Denn Ernst Schubert weist in seiner umfassenden Untersuchung zum Volk der Fahrenden darauf hin, dass „[s]elbst Bildung nicht aus solchen Zuordnungen35 befreien [kann], denn zu diesem fahrenden Volk gehört auch die gesamte „gens Goliae“36, gehören die umherschweifenden Kleriker und Mönche“37. Und auch Wolfgang Hartung hält zumindest für die okzitanische Kultur fest, dass „[s]ozialer Rang und künstlerisches Prestige […] weniger von der sozialen Herkunft und von der Rechtsstellung abzuhängen [scheinen], sondern vielmehr von den Formen und der Qualität der Darbietung und des Auftretens“38. Die Frage ist nun, ob diese gebildeten Fahrenden überhaupt nur deswegen eine umfassendere Bildung genossen haben, weil sie (ursprünglich) adlig waren? Kann man also von dem Bildungsgrad, von dem das Werk eines Sangspruchdichters zeugen mag, tatsächlich auf seinen (ursprünglichen) sozialen Hintergrund schließen, also: Bil-
32 Spechtler/Waechter, S. 57. Maria Dorninger folgt in ihren Überlegungen zu Bruder Wernhers Darstellung der Frau Spechtler und Waechter mit Blick auf einen klösterlichen (Aus-)Bildungshintergrund (vgl. Dorninger, S. 26 f., 33 und 34). 33 Spechtler/Waechter, S. 57. 34 Ebd., S. 58. 35 Zum Beispiel Zuordnungen wie „Lautenspieler oder Sackpfeifer, Schellenträger mit seinem Glockenspiel, Fiedler, blinder Musiker oder buckliger Zwerg, gesuchter Tanzbodenmusiker oder fahrender Sänger“ (Schubert, S. 15). 36 Gemeint ist das Volk der sog. Goliarden, das v. a. im 13. Jahrhundert präsent war. Die Goliarden verstehen sich als „Gemeinschaft der Jünger des Goliath, der nach mittelalterlicher Bibelauslegung eine Allegorie des Teufels war. Dahinter stand ein eigenes Gruppenbewußtsein, das sich in kritischer Distanz zur sozialen Welt der Kirche, zu den in Liedern verlästerten geizigen und habsüchtigen Prälaten, den wohlsituierten klerikalen Trinkern und Prassern einig wußte“ (ebd., S. 249). Sie fallen „durch die enge Verbindung von Kleriker und Spielmann“ (ebd., S. 248) auf und bringen auf diese Weise „geistliche Stoffe unter das Volk“ (ebd., S. 249). Vgl. ausführlich ebd., S. 248–250 und Hartung (2003), S. 104 f. 37 Schubert, S. 15. Ebenso Bumke: „Nicht geringer war die Zahl von Studierten, die trotz ihrer Bildung auf dieselbe soziale Stufe [wie die Spielleute, Anm. d. Verf.] abgesunken waren: die „armen Kleriker“ (pauperes clerici ), die „Scholaren“ (scolares), die „Lotterpfaffen“ (lodderpfaffi ) und mancher „alte Kanonicus“ (vetulus canonicus).“ (Bumke, S. 693) 38 Hartung (2003), S. 110 f.
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dung = adlig? Ich bin mit der Beantwortung dieser Frage vorsichtig. Das fahrende Volk scheint im Hinblick auf seine gesellschaftliche Klassifikation, Durchmischung und ursprüngliche soziale Zugehörigkeit schwer greifbar, so dass es unklar bleibt, ob ein fahrender Spruchdichter allein aufgrund seiner adligen Herkunft zu einem gewissen Maß an Bildung gelangt sein kann.39 Bei aller Verschiedenheit der Karrieren und der sozialen Herkunft von Spielleuten sei festgehalten, daß ihre überwiegende Mehrzahl von Spielleuten selbst abstammte. Dies trifft insbesondere in Deutschland mit seinen vergleichsweise undurchlässigen rechtlichen und sozialen Strukturen zu. Die soziale Herkunft derer, die einen Umweg über geistliche Ausbildung genommen haben, fällt auch den Zeitgenossen ins Auge, nicht zuletzt deshalb, weil sie des Lesens und Schreibens kundig waren. Viele von ihnen hinterließen persönliche und vor allem auch namentliche Hinweise in ihren Werken und hoben sich dadurch von der Masse der als „illiterat“ angesehenen Spielmannskollegen ab. Diese blieben oft ebenso anonym wie ihre soziale Herkunft und persönliche Existenz. Sie waren eben Spielmannskinder. […] Beim vergleichenden Studium der Quellen gewinnen wir den Eindruck, daß Gesellschaft und Obrigkeit in Frankreich und Okzitanien von einer viel größeren sozialen Durchlässigkeit und Toleranz geprägt waren. Die fahrenden Spielleute erfuhren dort weitaus weniger Diskriminierung. In Deutschland schiebt sich – grob gesagt – der Ausdruck „guot umb êre nemen“ zwischen Minnesänger und Spielleute.40
Werk Bruder Wernhers Sprüche zeichnen sich v. a. durch ihre Anschaulichkeit aus. So scheint die Grundprämisse von Wernhers Dichten, die Vereinfachung abstrakter Zusammenhänge durch den Einsatz möglichst konkreter, alltagsnaher Bilder zu sein, und zwar unabhängig von dem Thema, das einem Spruch zugrunde gelegt wird. Die Bandbreite an Bildern oder bîspel-ähnlichen Darstellungen reicht dabei von Anleihen aus der Natur und Tierwelt über Architektur bis hin zu Bestandteilen des alltäglichen Lebens.41 Shao-Ji Yao weist in seiner Arbeit zum Exempelgebrauch in der Sangspruchdichtung darauf hin, dass bei 39 Vgl. dazu etwa die Lebensgeschichte des Cadenet (festgehalten von Jehan de Nostredame), ebd., S. 111. 40 Ebd., S. 112 f. 41 Natur und Tierwelt: II,18 (Natureingang); II,27,12 (Reinheit des Wassers an der Quelle); II,34 (Unwetter); II,40 ([land-]wirtschaftl. Nutzung); V,62,7 f. (Obstbaum); I,15,4–8 (Feuer); III,47,1–3 (Feuer); VI,69,13 f. (Feuer); I,7,12 (Fuchs, Füchsin); I,10 (Rinder, Ochsen, Wallach/ Hengst, Bock, Hirsch); II,20 (die Füße des Schwans); II,28,5–8 (Jagdhunde); II,43 (bîspel vom Affen und der Schildkröte); II,35 (Wolf und Schafe); VI,69 (Wolf); II,25 (Storch, Schwalbe, Schwan, Schlange, Adler). Architektur: I,15; II,37; II,42; V,60 (evtl. IV,58,1 und 7). Alltägliches: Brettspiel (III,48); Pfand (II,41; II,22,12 [in C!]); Zaumzeug (V,64,9); Kleidungsstück (I,7,6); Hinken (IV,58); ein Blinder und sein Diener (II,26; IV,57); ein Dieb und der Gerichtsdiener (III,54).
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Wernher „die Anzahl typischer Exempellieder im Vergleich zu dem Befund bei Walther groß [ist]“42. Darüber hinaus „bezieht Bruder Wernher sich meistens deutlich (oder deutlich genug, dass man heute ihren Bezug noch aufspüren kann) auf ein gegenwärtiges Ereignis oder einen aktuellen Zustand“43. Den gestalterischen Rahmen von Wernhers Werk bildet also eine starke Plastizität. Innerhalb dieses Rahmens fällt neben den klassischen Themen der Spruchdichtung – Tugendlehre44 sowie die Aufforderung zur milte – v. a. eine größere Anzahl an Sprüchen auf, die geistlich ausgerichtet sind.45 Im Zentrum steht dabei die Wechselwirkung von Diesseits und Jenseits. Die Ermahnung zu einem gottesfürchtigen, moralisch einwandfreien Leben wird regelmäßig von Wernher formuliert.46 Entscheidend ist dabei der Vergleich von diesseitigem Lebenswandel und den damit einhergehenden Aussichten im Jenseits. Beides verknüpft Wernher unmittelbar miteinander, so dass er all diejenigen, die hie in Sünde und Schande leben, vor den Folgen warnt, die sie dort zu erwarten haben. Zugleich geht mit dieser Warnung direkt oder indirekt auch immer der Appell zur Umkehr, Rückbesinnung und Reinigung von irdischem Laster einher, und zwar um des Heils der eigenen Seele willen.47 Abgesehen von diesen Besonderheiten fällt Wernher auch durch eine „hin und wieder zu weit gehende Tadelsucht“48 auf, so die einhellige Meinung der Forschung. Zu beachten ist hierbei jedoch, dass die Schelte ein charakteristisches Mittel der Gattung Sangspruch ist und insofern keine Besonderheit, die sich nur bei Bruder Wernher finden würde. Darüber hinaus hat Gerdes zu Recht darauf hingewiesen, dass Wernher in seiner übrigen Schelte niemals Namen nennt. Es gibt kein einziges Beispiel für eine persönliche Schelte oder Zurechtweisung, wie sie von seiten Walthers Philipp, Otto, Gerhart Atze oder der Abt von Tegernsee erfahren haben. Alle Herren […] charakterisiert er nur durch ihren Mangel an Tugend […].49
42 Yao, S. 37; vgl. dazu auch Yao, S. 63 f. 43 Ebd., S. 66. 44 Heinzle weist in diesem Zusammenhang auf die „Verwandtschaft mit weiten Teilen der Lehrdichtung des Stricker in Thematik und Tendenz, z. T. auch in der Argumentationsweise“ (Heinzle, S. 18) hin. 45 Udo Gerdes diskutiert mögliche Einflüsse der Wanderpredigt auf Wernhers geistliche Dichtung (vgl. Gerdes: Beiträge, S. 136–143). 46 Vgl. z. B. I,15; I,17; II,19; II,20; II,22; II,35; II,41; III,52,5–12; V,65; VI,72. 47 Vgl. dazu auch Gerdes: Beiträge, S. 133 und 135 f. 48 Meyer, S. 109. Vgl. auch Lamey, S. 10; Roethe, S. 218; Doerks, S. 12; Gerdes: Beiträge, S. 195 f. 49 Gerdes: Beiträge, S. 196 f.
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Darüber hinaus nimmt sich Wernher bzw. das Sprecher-Ich auch stärker zurück, als dies etwa bei Walther der Fall ist. So fällt gerade in den Sprüchen, die an die Herrschenden gerichtet sind, auf, dass bei Wernher das Ich im Vergleich zu Walther weniger stark präsent ist. Dies ist speziell bei Sprüchen festzustellen, die eine milte-Forderung bzw. ‑Schelte enthalten. So schilt Walther bzw. das Sprecher-Ich in L 26,23 oder L 26,33 Kaiser Otto IV. unmissverständlich für seine mangelnde milte (und hebt andererseits König Friedrich II. positiv davon ab). Und in L 28,1 wird Kaiser Friedrich II. selbstbewusst und direkt apostrophiert dazu aufgefordert, dem Sprecher-Ich ein Lehen zuzuteilen. Ein derartiges Auftreten ist bei Wernher nicht denkbar. Überall dort, wo bei ihm von der persönlichen Lage des Ich oder dem Angewiesensein auf die Freigebigkeit eines Gönners die Rede ist, ist dies – im Gegensatz zu Walther – weniger auf reichs-, sondern eher auf regionalpolitischer Ebene angesiedelt. Und auch hier tritt das Ich eher zurückhaltend auf. So sind die Sprüche II,32 und II,38 zwar ein klassischer Herrenpreis, der letztlich auf Entlohnung angelegt ist, dennoch tritt das Ich kaum in Erscheinung (nur in II,32,4). Im Vergleich dazu begegnet uns das Ich in V,66 zwar häufiger (V,66,8–12), dennoch fordert es auch hier nicht unmittelbar zur Entlohnung auf. Es bleibt somit festzuhalten, dass sich Wernher zwar unzweifelhaft in Walthers Nachfolge befindet, was die Abfassung politischer Sprüche angeht, allerdings wagt er sich weder in seiner Kritik an den gesellschaftspolitischen Verhältnissen so weit vor wie Walther, noch fordert er die herrschende Klasse im waltherschen Stil offensiv zur milte ihm gegenüber auf. Abschließend sei noch auf eine Auffälligkeit hingewiesen: In Wernhers Œuvre beschäftigen sich speziell drei Sprüche eingehender mit der Kreuzzugsthematik, nämlich VII,73, VIII,74 und IX,76.50 Keiner dieser drei Sprüche ist in J enthalten, vielmehr stehen VII,73 und VIII,74 nur in C, IX,76 wiederum nur in A. Es ist nicht ganz klar, ob es sich hierbei lediglich um Überlieferungszufall handelt oder ob es dafür einen Grund gibt. In Ihrer Arbeit zum Grundstock und den Nachträgen in J kommt Gisela Kornrumpf zu dem Schluss, dass die J-Redaktoren zwar sicherlich auch nach Abschluss der Arbeit am Grundstock auf Töne oder Tonautoren gestoßen sein 50 Aufgrund der religiösen Ausrichtung und dem Überlieferungsverbund von IX,76 und IX,75 in A ist evtl. auch IX,75 zu dieser Gruppe zu zählen. Interessant an dieser drei- bzw. vierstrophigen Gruppe von Kreuzliedern ist übrigens nicht nur ihre Überlieferungssituation und ihr gemeinsames Thema, sondern auch ihre mögliche Entstehungszeit: Es deutet darauf hin, dass VII,73, VIII,74 und evtl. auch IX,76 zur Zeit des Kreuzzugs Herzog Leopolds VI. (1217–1219) entstanden sind. Dies würde darauf hindeuten, dass sich Wernher nur in einer bestimmten Phase seines Schaffens intensiver mit dem Kreuzzugsthema auseinandergesetzt hat.
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mögen, die noch nicht im Grundstock enthalten waren, angesichts der wohl „mühsame[n], oft genug erfolglose[n] Melodiensuche“51 geht sie jedoch nicht davon aus, dass gerade diese Töne und Tonautoren, zu denen im Grundstock noch keine Melodie hinterlegt war, nachträglich noch ergänzt wurden.52 Vielleicht ist das Fehlen der besagten drei Sprüche in J vor diesem Hintergrund zu sehen? Die Sprüche fallen nämlich durch ihre von den übrigen Tönen abweichende Metrik auf, sie können somit keiner in J enthaltenen Melodie zugewiesen werden. Darüber hinaus lassen sie sich – abgesehen von IX,75 und IX,76 – auch untereinander metrisch nicht zuordnen, die zusätzlichen drei Töne VII, VIII und IX bestehen also lediglich aus einem bzw. zwei Strophen. Kann es sein, dass – Kornrumpfs Überlegung zufolge – die J-Redaktoren bei diesen Strophen auf einen Nachtrag verzichteten, weil die Sprüche zum einen keiner Melodie des Grundstocks zugehörten und zum anderen ohnehin von nur geringer Anzahl waren? Was an dieser Überlegung eher zweifeln lässt, ist der Umstand, dass sich J durch eine gezielt auf Sangsprüche ausgerichtete Sammelintention hervortut. Selbst wenn also, wie Kornrumpf darlegt, „ein Redaktor oder Redaktoren-Team vor Beginn der Schreibarbeit […] festgelegt [hat], was aufgenommen werden sollte“53 und von (melodie- bzw. notenlosen) Nachträgen zu diesem Zeitpunkt nicht ausgegangen wurde, bleibt doch die Frage, ob es wirklich denkbar ist, dass – im Falle Bruder Wernhers – allein um der formalen Einheitlichkeit willen (d. h. ein Ton beginnt jeweils mit Notation) bewusst auf die Dokumentation dreier weiterer, notenloser Sprüche verzichtet worden wäre?
Rezeption Bruder Wernher und sein Werk finden in der späteren mittelalterlichen Literatur so gut wie keinen Widerhall. Sein Name wird lediglich in wenigen Dichterkatalogen bzw. einer Totenklage genannt. So beklagt ein Spruch, der unter dem Namen Robyn in der Jenaer Liederhandschrift überliefert und voraussichtlich auf die Mitte oder zweite Hälfte des 13. Jahrhunderts zu datieren ist, neben dem Tod Reinmars (des Alten? von Zweter?), Walthers von der Vogelweide, Stolles und Neidharts auch denjenigen Wernhers:54 51 Kornrumpf, S. 79. 52 Vgl. ebd., S. 78 f. 53 Ebd., S. 47. 54 Vgl. Wachinger: Rubin oder Rüdeger, Sp. 297 f. Vgl. außerdem HMS 4, S. 249; Bartsch: Liederdichter, S. LXXI; Meyer, S. 102; Lamey, S. 3. Sowohl von der Hagen als auch Bartsch verstehen den Text so, dass zwar Reinmar, Walther, Stolle und Neidhart verstorben sind, Wernher jedoch noch am Leben ist. Diese Lesart wurde in der Forschung zu Recht nicht weiter verfolgt.
Rezeption
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Robyn Reymar mich ruwet sere. Din sin vnd ouch din tot. Du bist wol klagebere. Durch dine richen kvnst Vvalter du bist von hynnen. Owe der selben not. Mit dynen wisen synnen. Du hette ouch herren gvnst Stollen. den boc mit sange. Nitharden mv̊z ich klagen. Bruder wirneren lange. Der mv̊z vns wol behagen. Er hetzync mit getwange. kvnde gůt beiagen.55 Darüber hinaus ist Wernhers Name in den Dichterkatalogen von Lupold Hornburg (erste Hälfte des 14. Jh.), Konrad Nachtigall (Dichterkatalog zwischen 1459 und 1482) und Valentin Voigt (Handschrift inkl. Dichterkatalog 1558 vollendet) enthalten:56
Lupold Hornburg Daz erste liet Her Reimar, – der wart nie so wert, der siner ler nach vert. her Walthers done huͤr als vert. vor valschem luͤte sı ͤch wol wert. her Nithart parat also wol, sam fundelt der von Eschenbach. von Wirzeburg Cunrad, din swert der kunste nieman hert. du gìe nie musen um den hert. 55 Zitiert nach Schweikle: Dichter, S. 4. 56 Vgl. zu Lupold Hornburg Schanze, Sp. 143–146 und zu Konrad Nachtigall Brunner: Nachtigall, Sp. 845–848. Vgl. außerdem HMS 4, S. 882; Meyer, S. 107; Lamey, S. 4. Zu den Dichterkatalogen von Konrad Nachtigall und Valentin Voigt vgl. Brunner: Dichter ohne Werk, S. 1– 31. Nicht vertreten ist Bruder Wernher im Katalog von Hans Folz (vgl. Brunner: Dichter ohne Werk, S. 24–31).
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Bruder Wernher
min zunge des nit meines swert, daz der Boppe, der Marner sint auch an ir kunste mindert swach. der Regenboge den Vrouwenlop bestunt gelicher wer. von Suneburg, Erenbot, Bruder Wernher sungen geschlehtes reht. nu ruͤch ich grober guten weg, daz ich bin ungerechtes slecht. got selber hot mit slechten worten uns die lere geben, wie daz wir streben noch dem ewigen leben. gesanges frunt, ei merkent eben, wie daz der meister slechten sang gevinet hat mit worten geben! her Reymar sang wol, waz her wolt, baz dann der tuesch in notte [ie sprach.57
Konrad Nachtigall II B 2 Und der Marner,
sein kunst ist weit erclungen, herzog Leupolt im fursten thon gar meisterlichen auch hie hat gesungen. der Meichsner was ein meister clug, der Joringer het kunst genug, der Erentreich was weise. auch Haincz Schuler, her Petter Wolff pflag sinnen. Petterlein Sachs sang parat schon, Wenczel von Pehem deth nit kunst zurinnen. Pfalcz von Straßpurg und der jung Stol, Ramler von Biberse sang wol loblich nach hohem preise. der Polster und der Molcke, der Künrat von Wirczpürck, her Klingsore, Prigita sang dem volke. Walther von Vogelweid der was kein dore, der jüng Stol und Küncz Prenberger, der Münich von Salczpürck hat vil künst gemessen 57 Zitiert nach Cramer, S. 61.
Rezeption
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und aüch der prüder Werenher, Künglein von Strasspürck het vil künst pesessen. Küncz Harder und Heinrich Mügleich, der Donheusser was künstenreich, Elbel der sang auch leisse.58
Valentin Voigt (Auszug aus der Vorrede der Handschrift) […] Vvnd wurdenn die Jrsten vier genent Herr Pitterolffe, Der Hoffgart, Der Sigeler vnnd der alt Sieghart. Noch ynenn sinndt komenn der Graff von Feldenegk, Peter zcwinnger, Herr Friderich vonn Schunennburgk, Graff Hermenn vonn Barburgk, Der Sicher [am Rand in roter Schrift: die 12. alten meistere], .1. Heinrich vonn Affterdingk, .2.Der Romer zw zcwigka, Sigmar der weise, .3. Der Alte Stoll, .4. Her Wolfferam vonn Estebach, Herzogk Otte vonn Osterreich, Der Vngelart Tugenthafft Schreiber, .5. der Starke Popp, .6. Der Regenboge zw Vlm, .7. Der Cantzler, .8. Her Frawennlob, Ein Doctor zw. Mentz, Der Ernpott, Der Ramslant, Cunntz Gast, .9. Der Edle Marner, Hertzogk Levppolt, Der Meisner, Der Joringer, Der Erntreiche, Heintz Schuler, Herr Petter Wolff, Peterleinn Sachs, Wentzel vonn Behem, Der Pfaltz von Strasburgk, Der Junnge Stoll, Romler von Biber, Der Polster, Der Molke, .10. Herr Curdt von Wirtzburgk, .11. Clingesor, Einn Doctor, .12. Herr Walter vonn der Vogelweidt, Einn Ritter, Cuntz Bremberger, Der Münch von Saltzburgk, [2r] Bruder Werner, Kungklein Vonn Strasburgk, Kunntz Herter, Heinrich Mügelinngk, Danheuser, Der Eltz, Der Zcirgker, Meister Wendel vonn Gortze, Peter Pitter, Graff Ditterich, Meister Wilhelm vonn Loetze, Frawenn Ehr, Heinnrich vonn Brun, Der Hugler, Der Hugo, Der Suchesinn, Der Erenfrow, Libann von Gengenn, Der Druckler, Der Hultzinngk, Veit Wagener, Der Lilgenfeinn, Michel Nachtigal […]59
58 Zitiert nach Cramer, S. 385 f. 59 Zitiert nach Brunner: Dichter ohne Werk, S. 22.
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Bruder Wernher
Horst Brunner erklärt vor dem Hintergrund der Dichterkataloge (wohl v. a. demjenigen Valentin Voigts): „Entgegen verbreiteter Forschungsmeinung wurde W. von den Meistersingern nicht rezipiert und auch nicht unter die Zwölf alten Meister gezählt.“60
60 Brunner: Bruder Wernher, Sp. 902. Vgl. außerdem Brunner: alte Meister, S. 194 und RSM 2,1, S. XXVII.
Töne Das Œuvre Bruder Wernhers lässt sich in insgesamt neun Töne unterteilen. Die nachfolgende Übersicht zeigt die Tonzugehörigkeit der einzelnen Sprüche gestaffelt nach Überlieferungsträger:61 Ton I (Br: Ton IV)
Ton II (Br: Ton I)
Ton III (Br: Ton II)
Ton IV (Br: Ton III)
J
J1–J16N
J17– J42N
J43– J53N
C
C16
C18, C20
A
–
–
Ton V (Br: Ton V)
Ton VI (Br: Ton VI)
Ton VII (Br: Ton VII)
Ton VIII (Br: Ton IX)
Ton IX (Br: Ton VIII)
J54–J56 J57– J62N
J63– J67N
–
–
–
–
–
C22
C36
C30
C32
–
–
–
–
–
–
–
A2–A3
Im Unterschied zu Horst Brunner, der sich in seiner Untersuchung zu den Tönen Bruder Wernhers auf die Edition Anton E. Schönbachs stützt und dementsprechend zu einer anderen Tönereihenfolge kommt (in der Tabelle in Klammern ergänzt)62, orientiert sich meine Tonnummerierung an den Überlieferungsträgern, und zwar gestaffelt nach der Anzahl der enthaltenen Strophen, d. h. im Editionsteil stehen zunächst die sechs Töne aus J63 und anschließend folgen diejenigen Strophen, die unikal in C überliefert und als eigenständiger Ton anzusehen sind. Den „Schlusston“ bilden die beiden Strophen aus A. Wie in der obigen Tabelle ersichtlich, wird die handschriftliche Chronologie der C-Sprüche übrigens durch Strophe C36 (= VI,72) gestört, die aufgrund ihrer Tonzugehörigkeit zu Ton VI in der Reihenfolge nach vorne zwischen C22 (= V,66) und C30 (= VII,73) rückt. Ansonsten orientiert sich die Nummerierung der Töne jedoch an der handschriftlichen Reihenfolge der Sprüche. Was die textmetrische Ausgestaltung der Töne angeht, so liegt durchgehend Kanzonenform vor – was jedoch nicht unbedingt ungewöhnlich ist für die erste
61 Zur Einsicht der hier vorliegenden Strophenzählung im Vergleich zur handschriftlichen Zählung vgl. die Übersicht im Anschluss an das Sprücheverzeichnis. 62 Vgl. Brunner: Töne, S. 49. Die Tönenummerierung des RSM ist mit der von Brunner identisch (vgl. RSM 5, S. 548). 63 Dieselbe Reihenfolge der Melodien aus J liegt auch bei Spechtler/Waechter vor (vgl. Spechtler/Waechter, S. 56).
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Hälfte des 13. Jahrhunderts64 – und diese zeichnet sich nicht durch ein hohes Maß an gestalterischer Vielfalt aus: Der Aufgesang der neun Töne wechselt vorrangig zwischen Schweif- und verschränktem Reim und zeigt bzgl. der Kadenzwahl sowie der Hebungs- bzw. Taktzahl nur bedingt Variationen. Auch der Abgesang divergiert lediglich mit Blick auf die Hebungs- bzw. Taktzahl und seltener in der Wahl der Kadenz. Die Grundstruktur von Kreuzreim mit abschließendem Paarreim bleibt dort durchweg unverändert. In der Mehrzahl der Verse liegt Auftakt vor (z. T. mehrsilbig). Betrachtet man das Verhältnis von Text und Metrik (nicht Melodie!), so ist festzuhalten, dass sich in der Jenaer Liederhandschrift – zumindest im Œuvre Bruder Wernhers – durchaus Anzeichen finden lassen, die auf ein Bemühen hindeuten, metrische Alternation herzustellen. So wurde nicht selten das Schwa der Flexionsendung getilgt, wenn z. B. ein Hiat vorliegt (z. B. I,3,10 haz ıch oder I,9,12 daz wer allez), aber auch im Wortinneren, so z. B. bei I,3,2 nẏmpt, II,38,1 wont oder II,42,9 lebte. In diesen Bemühungen deutet sich die Entwicklung hin zu einem regelmäßigen Wechsel von Hebung und Senkung an, die sich mit Verlauf des 13. Jahrhunderts immer deutlicher abzeichnet.65 Ungeachtet dieses Bestrebens um Alternation ist aber ebenfalls darauf hinzuweisen, dass das Vorgehen in J, die textmetrische Glättung in Form von Syn- oder Apokopierung zu gewährleisten, nicht stringent oder konsequent ist. Während sich in J bei Bruder Wernher etwa ein Dutzend Fälle nachweisen lassen, in denen eine Synkope zur Herstellung von Alternation notwendig wäre und diese evtl. deswegen bereits in der Handschrift vorgenommen wurde (z. B. I,1,8 ſegent, II,20,12 kvmpt, II,40,9 lebte), finden sich weit mehr Textbelege, in denen diese Synkope handschriftlich nicht durchgeführt wurde (z. B. I,1,2 lernet, I,2,4 nemet, I,2,12 kumet, wonet, I,3,12 envreuwet uvm.).66 Es gibt somit – unabhän-
64 Vgl. Brunner: alte Meister, S. 7. Johannes Rettelbach hat zudem festgestellt, dass die älteren Dichter der Jenaer Liederhandschrift „zu Bauformen mit 3. Stollen nichts bei[tragen]“ (Rettelbach, S. 96), „[b]ei Bruder Wernher oder dem Jungen Spervogel gibt es keinen 3. Stollen“ (ebd., S. 95). 65 Vgl. dazu Paul/Glier, S. 54 (§§ 58 und 59), 57 (§ 62), 85 (§ 86), 90 (§ 89) und 96 (§ 93); Bögl, S. 15 und 42. Diese regelmäßige Alternation setzt sich Paul/Glier zufolge übrigens von Gattung zu Gattung unterschiedlich schnell durch. So vollzieht sich der Wandel in der Lyrik bedingt durch den altfranzösischen und okzitanischen Einfluss wohl früher als etwa im höfischen und epischen Reimpaarvers (vgl. Paul/Glier, S. 54 [§§ 58 und 59]). Vgl. auch die Benutzerhinweise im Kapitel ,Zum Kommentarʻ. 66 Zu einem identischen Urteil kommt auch Erdmute Pickerodt-Uthleb in ihrer Untersuchung von J: „Die Frage, wie in diesen Takten [Takte, mit mehr als zwei Silben, Anm. d. Verf.] Text und Melodie einander anzupassen waren, ob durch Elision, Apokope oder Synkope, Enklise oder Proklise usw. der Verstext zurechtgestutzt oder ob für Plussilben zusätzliche Töne durch Aufspaltung vorhandener gewonnen wurden, läßt sich […] für die Jenaer Handschrift
Töne
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gig vom Überlieferungsträger – keinen Spruch,67 bei dem nicht zu Mitteln wie Apo- oder Synkope gegriffen werden müsste, um ein regelmäßig alternierendes Metrum herzustellen. Nicht selten würden die Verse aber auch dann aufgrund beschwerter Hebungen oder Hebungs- bzw. Senkungsspaltungen unregelmäßig bleiben. Das Bedürfnis nach regelmäßig alternierenden Versen scheint also noch nicht derart stark ausgeprägt zu sein, dass es sich auch schreibsprachlich niedergeschlagen hätte. Da sich nun die oben genannten Auffälligkeiten (wenigstens in J) in der Regel auf die Mehrzahl der Verse eines Spruches bezieht und sich das im Rahmen eines Tones vorgegebene Metrum in manchen Fällen nicht unmittelbar und ohne ein gewisses Maß an Kreativität erzeugen lässt, stellt sich die Frage, wie nah die Texte (speziell diejenigen aus J) zum Zeitpunkt ihrer Verschriftlichung überhaupt noch an einer Vortragssituation waren.68 Immerhin ist zumindest mit Blick auf die Jenaer Liederhandschrift vielleicht nicht völlig auszuschließen, dass diese tatsächlich für einen praktischen Gebrauch gedacht war.69 Aber selbst wenn an dieser Überlegung etwas Wahres ist, so möchte ich mit aller Vorsicht anmerken, dass mir die Vorstellung, eine oder mehrere Personen tragen direkt aus der Handschrift Texte vor, ohne dabei hin und wieder angesichts der z. T. enormen metrischen Unregelmäßigkeiten ins Stocken zu gera-
wie folgt beantworten: Von der Möglichkeit, mehr als zweisilbige Verstakte sogleich bei der Niederschrift durch Silbenkontraktion und durch Auslassung von unbetonten Vokalen […] metrisch zu verkürzen, machen die Schreiber selten und wohl eher zufällig Gebrauch. In der Regel […] wird der Text ohne Rücksicht auf die metrischen Erfordernisse der Melodie niedergeschrieben.“ (Pickerodt-Uthleb, S. 14 f.) 67 Ich beziehe mich hier ausschließlich auf die im Editionsteil abgedruckten Sprüche. Parallel zu J in A, C oder T überlieferte Sprüche wurden metrisch nicht untersucht. 68 Lässt die beinahe durchgehend vorliegende metrische Unregelmäßigkeit der Sprüche evtl. Rückschlüsse auf das Verhältnis von (ursprünglich) mündlichem Vortrag und (anschließend) verschriftlichten Texten zu? 69 Aufgrund des ungewöhnlich großen Formats der Handschrift und aus anderen Gründen wurde in der Forschung überlegt, ob J, ähnlich wie etwa später im 15. Jahrhundert das liturgische Graduale, als eine Art „Lesebuch“ gedacht war, das aufgrund seines Formats auf einem erhöhten Pult von einer Mehrzahl von Sängern eingesehen werden konnte (vgl. März/Welker, S. 131 f., 135–139; Pickerodt-Uthleb, S. 239). Auf einen konkreten Gebrauch könnte evtl. auch die Punktierung von J hindeuten, die – zumindest im Œuvre Bruder Wernhers – aufgrund ihres ausdifferenzierten, funktionalen Charakters (Reimpunkte, Zäsurpunkte, Aufzählungspunkte) durchaus als Lesehilfe verstanden werden kann. Und auch die Schrift weist Jürgen Wolf zufolge weniger auf Repräsentation als vielmehr auf einen Gebrauch hin (vgl. Wolf, S. 154). Zur möglichen Provenienz der Jenaer Liederhandschrift vgl. u. a. PickerodtUthleb, S. 240–262; Klein, S. 106–112; Czajkowski, S. 35–38 und Wolf, S. 152, 156–161.
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ten, kaum denkbar erscheinen mag.70 Darüber hinaus ist m. E. unklar, in welchem Verhältnis diejenigen Sprüche, die unmittelbar mit Notation71 überliefert sind (also im Falle Bruder Wernhers I,1; II,18; III,46; IV,57; V,60 und VI,67), zu denjenigen stehen, die eben „nur“ im Fließtext präsentiert werden. Inwieweit lassen sich Korrekturen72 innerhalb der Melodien – die ja v. a. mit dem unmittelbar bei ihnen befindlichen Spruch in direkter Wechselwirkung stehen (vgl. z. B. die Anmerkung zur Transliteration von VI,67,7) – auch auf die anderen Sprüche desselben Tones übertragen? Wenn die besagten Korrekturen auf ein Bemühen um Deckungsgleichheit von Musik und Text hindeuten, um so die Nutzbarkeit der Handschrift zu erhöhen, bedeutet dies dann automatisch, dass dieses Bestreben auch bei denjenigen Textteilen vorzufinden sein muss, die ohne Notation stehen? Ich glaube nicht, dass dieser Rückschluss ohne Weiteres gezogen werden darf – zumindest wird diese Überlegung nicht durch meine weiter unten im Kapitel ,Zur metrischen Form‘ aufgeführten metrischen Untersuchungsergebnisse gestützt, wonach eine Vielzahl der Sprüche Wernhers metrisch unregelmäßig ist und einen spontanen Vortrag – gerade im Unterschied zu Sprüchen mit Melodie – eher unwahrscheinlich erscheinen lässt.73 70 Zudem ist darauf hinzuweisen, dass „[e]ine direkte Korrelation von Reim- und Melodiefolge“ (Pickerodt-Uthleb, S. 171), also die Kongruenz von textmetrischer und musikalischer Ebene, nicht immer unweigerlich gegeben sein muss (vgl. ebd.); eine mögliche Vortragspraxis könnte dadurch zusätzlich erschwert worden sein. 71 Die Melodien sind in folgenden Ausgaben einzusehen: Holz/Saran/Bernoulli, Bd. I, S. 12–30 und Bd. II, S. 2–8; Spechtler: Bruder Wernher, hier Bd. II; Taylor, Vol. 1, S. 99–107 (Melodien) und Vol. 2, S. 154–161 (Kommentar), Brunner: Spruchsang, S. 427–432. Ein Abdruck der handschriftlichen Melodien befindet sich darüber hinaus im Anhang dieser Arbeit. 72 Bei Bruder Wernher z. B. I,1,8 (Neumen über ſchẏr-//men evtl. korrigiert [radiert]); II,18,2 (bei heẏ de vn̅ walt wurde zuvor radiert); II,18,3 (bei gereẏnet [speziell bei ‑et ] wurde zuvor radiert); II,18,12 (Neume über ſıe korrigiert [radiert]); III,46,3 (das Melisma bei ſele scheint nachträglich bearbeitet [Bei ſe- erweitert? Bei ‑le gekürzt?]); IV,57,3 (die Neumen über tıe/fe wurden evtl. korrigiert [radiert]); IV,57,4 (das Melisma zu gelıche [speziell ‑lıche] scheint korrigiert [radiert]); IV,57,10 (Neume bei Vnde korrigiert [radiert]); IV,57,11 (das Melisma zu ſolte [speziell ‑te| scheint korrigiert [radiert]); V,60,1 (die Neumen bei Ich buwe wurden korrigiert [radiert]); evtl. V,60,2 (die Neume über here scheint korrigiert [radiert]); V,60,3 (die Neumen bei ſo gewaltıchlıchen da wurden korrigiert [radiert]); V,60,7 (Neumen über dar korrigiert [radiert]); V,60,8 (eine Neume über vntruwe korrigiert [radiert]); V,60,10 (Neumen bei ſıten ſwẏnde korrigiert [radiert]); VI,67,7 (die Neume über er wurde ausradiert); VI,67,12 (ovch und ſere wurden wohl aus metrischen Gründen nachträglich ergänzt); VI,67,13 (den wurde vielleicht ebenfalls aus metrischen Gründen nachgetragen). Vgl. außerdem Brunner: Spruchsang, S. 486 f. 73 In eine ähnliche Richtung gehen auch Überlegungen von Helmut Tervooren (vgl. Tervooren: Sangspruchdichtung, S. 102 f.). Übrigens mag es zwar durchaus so sein, dass in der Praxis, d. h. beim tatsächlichen Singen der Sprüche, die eine oder andere Unregelmäßigkeit
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Die Vermutung, dass die überlieferten Melodien nicht grundsätzlich problemlos auf die im Fließtext befindlichen Sprüche angewandt werden können, wird evtl. gestützt durch die neuen Erkenntnisse von Lorenz Welker. Er überlegt, ob J vielleicht doch weniger als Gebrauchshandschrift, sondern eher als Schenkung, also vor einem repräsentativen Hintergrund zu sehen sein könnte.74 Ausgehend von der Beobachtung, dass „der Anschein nicht abzuweisen [ist], als sei eine kleinformatige Handschrift stark vergrößert worden“75, die Welker und März bereits in ihrer Arbeit aus dem Jahr 2007 anstellen und die von Welker nachfolgend wieder aufgegriffen wird,76 scheint zwar die Möglichkeit, dass das große Format von J gebrauchsbedingt zu erklären sei, hinfällig, wenn bei J jedoch von einer völlig identischen Kopie (inklusive Korrekturen) einer kleinformatigen Handschrift auszugehen ist, so ist die Frage nach einem speziell praktischen Gebrauch m. E. lediglich von J auf deren mögliche kleinere Vorlage verlegt. Auf das weiter oben angedeutete komplexe Verhältnis von musikalischer und textmetrischer Melodie bzw. Rhythmik weist auch Erdmute Pickerodt-Uthleb hin, in deren Arbeit es mit Blick auf die beiden Ebenen Textmetrik und Melodie heißt: Selbst metrisch-reimtechnisch scheinbar eindeutiger Bau garantiert demnach nicht eine bestimmte musikalische Form. Wie zum einen die Möglichkeit einkalkuliert werden muß, daß Symmetrien in Reimbau und Metrum musikalisch nicht nachvollzogen werden, so bleiben Schlüsse von jenem auf diesen Bereich von vornherein da spekulativ, wo solche Symmetrien fehlen oder nicht signifikant genug sind.77
Angesichts dieser Unsicherheiten ist ausdrücklich festzuhalten, dass sich die von mir sowohl zu Beginn eines Tones als auch im Kommentarteil der einzelnen Sprüche gelieferte metrische Interpretation ausschließlich auf den textmetrischen Bereich bezieht. Eine differenzierte musikalische Untersuchung der für Bruder Wernher überlieferten Notation sowie die Frage, in welchem mitteloder unmittelbaren Verhältnis diese Melodien zu den Texten stehen, wird im Rahmen dieser Arbeit nicht geleistet.78 Zugegebenermaßen problematisch an mehr oder weniger intuitiv aufgefangen wird, dennoch sind manche Sprüche derart unregelmäßig (z. B. II,21,1–6; II,23,12; II,24,5 oder II,27,9), dass mir das spontane Anpassen des Textes beim Singen an die Melodie schwierig erscheint. 74 Vgl. Welker, S. 145 f. 75 März/Welker, S. 131. 76 Vgl. Welker, S. 145. 77 Pickerodt-Uthleb, S. 174. 78 Eine Analyse (bzw. „eine punktuelle, in manchem durchaus vorläufige Skizze“ [Brunner: Töne, S. 47]) der Töne Wernhers mit Blick auf die in J überlieferten Melodien liefert Horst Brunner (vgl. ebd., hier v. a. S. 50–56 und Brunner: Spruchsang, S. 427–432, 486 f.). Außer-
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dieser limitierten Analyse ist, dass sich vermeintlich sichere Formbestimmungen im Zuge einer musikalischen Untersuchung als Halbwahrheit herausstellen könnten, da z. B. eine Strophe, die auf textmetrischer Ebene der klassischen Kanzonenform entspricht, auf musikalischer jedoch wie eine Rundkanzone oder eine Da-capo-Strophe gebaut sein kann.79 Mit Blick auf die Rezeption der Töne Bruder Wernhers im Meistersang des Spätmittelalters sei abschließend noch gesagt, dass seine Melodien zwar in der Jenaer Liederhandschrift (1. Hälfte des 14. Jh.) enthalten sind, im späteren Meistersang jedoch keine Beachtung mehr finden, wie überhaupt sein ganzes Schaffen.80
Exkurs: Lameys Tönetheorie Ferdinand Lamey hat in seiner Arbeit von 1880 die These aufgestellt, dass Bruder Wernher jede „neue Epoche in der Dichtg. […] durch das Anschlagen eines neuen Tones [bezeichnet], begrenzt nach Inhalt und Form“81. Einzige Ausnahme bilde hierbei Ton II, „dem Br. W. fortan sein ganzes Leben lang treu blieb, zu dem er immer wieder zurückkehrte“82. Ausgehend von der Annahme also, dass „Br. W. nie in 2 verschiedenen Tönen zu gleicher Zeit gedichtet [hat]“83 – abgesehen von Ton II, der „stets neben Br. W. Dichtung in andern
dem Ronald J. Taylor (vgl. Taylor, Vol. 1, S. 99–107 [Melodien] und Vol. 2, S. 154–161 [Kommentar]). Eingehendere Informationen bzw. Belegstellen speziell zu den Melodien Bruder Wernhers und deren Beziehung zur Textmetrik finden sich auch bei Pickerodt-Uthleb auf folgenden Seiten: 16, 19, 20, 22, 24, 25, 42, 44 f., 48, 53, 56, 76, 82, 89, 101, 102, 111 ff., 149, 154, 156, 158, 164, 171, 177, 179 f. Vgl. darüber hinaus Gerdes: Beiträge, S. 167–171. 79 Pickerodt-Uthleb führt als Beispiel für textmetrisch Kanzonenstrophe, aber musikalisch Da-capo-Strophe eine Strophe von Rubin an (vgl. Pickerodt-Uthleb, S. 142 f.). Ein weiteres, prominenteres Beispiel ist Walthers sog. Palästinalied (L 14,38), das textmetrisch einer klassischen Kanzone entspricht („Textkanzone“), nach musikalischer Analyse jedoch die Form einer Rundkanzone aufweist („Musikkanzone“) (vgl. Paul/Glier, S. 88). Zum Verhältnis von textmetrischer und musikalischer Ebene der Töne Bruder Wernhers vgl. auch Rettelbach, S. 86 f. 80 Vgl. Brunner: alte Meister, v. a. S. 189–194 und RSM 2,1, S. XXVII. Vgl. außerdem das Kapitel ,Rezeption‘ der vorliegenden Arbeit. Zur zeitlich vor dem Meistersang anzusetzenden möglichen Tonentlehnung von Bruder Wernhers Ton VIII durch Werner von Teufen vgl. u. a. Kornrumpf/Wachinger, S. 395 f. Zur metrischen Verwandtschaft zwischen den Tönen Wernhers und Stolles Alment vgl. u. a. Kornrumpf/Wachinger, S. 367. 81 Lamey, S. 20. 82 Ebd., S. 18. 83 Ebd., S. 22.
Exkurs: Lameys Tönetheorie
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Tönen [hergeht]“84 –, schlussfolgert Lamey, dass die Sprüche eines Tones jeweils in dieselbe Zeit eingeordnet werden können. Dies führt ihn wiederum zu dem Schluss, dass sich all diejenigen Sprüche, die eigentlich keine Datierung zulassen, in ihrem Entstehungszeitpunkt an denjenigen Sprüchen desselben Tones orientieren, die eine Datierung erlauben. Dementsprechend fallen, laut Lamey, z. B. die Sprüche V,60, V,64 und V,65, „die keinen historischen Anhalt bieten, dennoch sicherlich gleichfalls zwischen 1230–35“85, weil Lamey glaubt, die übrigen Strophen von Ton V in diesen Zeitraum datieren zu können.86 Insgesamt ergibt sich daraus für Lamey folgendes Bild: Zunächst sahen wir unseren Dichter im Begriffe, eine Kreuzfahrt anzutreten 1217, die er auch wahrscheinlich ausgeführt hat. Sodann 1219–1229 fehlt uns jede Nachricht, mit Ausnahme der beiden Sprüche, die die Endpunkte dieses Zeitraumes markieren. 1229–1236 Ton V und Ton VI. Br. W. hält sich in Oesterreich auf. 1237–1243 Ton III und IV. Br. W. führt ein unstätes Wanderleben. 1243–1250 Ton I. Br. W. verweilt wiederum in Oesterreich. Diese einzelnen Perioden lassen sich in zwei grössere Epochen zusammenfassen, von denen die erste von 1217–1236 reicht, die zweite 1236–1250.87
Lamey mag vielleicht nicht ganz Unrecht haben, was die inhaltlichen oder gestalterischen Gemeinsamkeiten angeht, die die Sprüche eines Tones teilweise aufweisen,88 andererseits liegt er mit mancher seiner zeitgeschichtlichen Einordnungen nicht richtig, so dass sich kein einheitliches Zeitfenster für die Abfassung eines gesamten Tones ergibt. Somit können diejenigen Sprüche, die tatsächlich nicht datierbar sind, auch nicht auf indirektem Weg zeitlich eingeordnet werden.
84 Ebd. 85 Ebd. 86 Tatsächlich lässt sich von den sieben Sprüchen des fünften Tones nur einer mit einiger Sicherheit datieren, nämlich V,63, der als Reaktion auf die Ermordung Herzog Ludwigs I. von Bayern im September 1231 zu sehen ist. 87 Lamey, S. 38. 88 In den Tönen III und IV führe Wernher, so Lamey, z. B. keine „fremde[n] Zeugnisse“ (ebd., S. 30) an, sondern rücke vielmehr als eigene Person stärker in den Fokus (vgl. ebd.); außerdem wende er sich „als mahnender Lehrer an sein Publikum“ (ebd., S. 31). Andererseits macht Lamey selbst deutlich, dass etwa die Apostrophe an das Publikum keine Besonderheit ist, die ausschließlich den Tönen III und IV vorbehalten ist, denn Ton V und VI beinhalten ebenfalls die direkte Anrede an das Publikum (vgl. ebd., S. 26).
Methodisches Vorgehen In seinem Vortrag „Die Edition – Königsweg der Philologie?“89 aus dem Jahr 1991 (publiziert 1993) wirft Karl Stackmann vor dem Hintergrund der Normalisierungsproblematik (Bsp. „Kudrun“) die Frage auf, ob im Bereich der höfischen Dichtung künftig nicht generell auf normalisierte Ausgaben verzichtet werden sollte,90 schließt jedoch unmittelbar daran die Frage an, ob die Normalisierung nicht gerade die Voraussetzung dafür sei, „daß diese Literatur über den engen Kreis von Spezialisten hinaus aufgenommen wird“91. Jeder germanistische Mediävist, der sich mit dem Gedanken trägt, einen Dichter oder ein Werk der mittelalterlichen Literatur zu edieren, wird sich früher oder später mit diesen beiden vermeintlich widerstreitenden Positionen und folglich mit der Frage auseinandersetzen müssen, an wen sich die Edition vorrangig wenden soll. Die formale Konzeption einer Edition steht und fällt mit der Adressatenfrage, an die wiederum Bedingungen wie das Vorwissen der Benutzer oder an die Edition gestellte Forderungen geknüpft sind. Für Literaturwissenschaftler mögen andere Inhalte bzw. Editionskonzepte im Vordergrund stehen als für Sprachwissenschaftler. Und während es ein Altgermanist vorziehen mag, mit dem handschriftlichen oder transliterierten Text zu arbeiten, werden fachfremde oder noch ungeübte Benutzer vermutlich für eine aufgearbeitete normalisierte Textversion dankbar sein. Egal, auf wessen Bedürfnisse man die Edition letztlich „zuschneidet“, ein Kriterium, auf das man eigentlich nicht mehr explizit hinweisen müssen sollte, muss immer den Ausgangspunkt jeglichen editorischen Arbeitens bilden: die größtmögliche Nähe zur handschriftlichen Quelle. Im Verlauf des Editionsprozesses droht jeder Arbeitsschritt etwas weiter vom überlieferten Text wegzuführen, sei es nun in sprachlicher oder aber, daraus resultierend, in inhaltlicher Hinsicht; von der Problematik z. T. gleichwertiger Lesarten, die aus Mehrfachüberlieferung erwächst, ganz zu schweigen. Hier gilt es also besonders sensibel und kritisch vorzugehen, um dem Benutzer eine möglichst unverfälschte Textgrundlage als Untersuchungsgegenstand zur Verfügung zu stellen. Zu der Vorgabe der hohen Quellennähe kommen zwei weitere Kriterien hinzu, die bei der Konzeption der vorliegenden Neuedition ebenfalls eine wesentliche Rolle gespielt haben: Zum einen das Bestreben, die Edition für ein möglichst breites und heterogenes Publikum nutzbar zu machen, zum anderen das Bedürfnis, jeden Arbeitsschritt so transparent und nachvollziehbar wie 89 Vgl. Stackmann: Edition. 90 Vgl. ebd., S. 13. 91 Ebd.
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möglich zu gestalten. Der von mir gewählte formale Dreischritt von Transliteration – Normalisierung – Übersetzung/Kommentar scheint diese Vorgaben (Nähe zur Quelle, breiter Adressatenkreis, Transparenz) m. E. am ehesten gewährleisten zu können, ohne dass darunter Handhabung, Zugänglichkeit oder Übersichtlichkeit der Edition allzu sehr leiden würden. Man könnte mit Blick auf meine Entscheidung, der Edition auch eine Transliteration beizufügen, einwenden, dass ein Abdruck der Handschrift(en) noch unmittelbarer am Originaltext sei. Diesem Argument halte ich jedoch entgegen, dass es hier weniger um die schlichte Dokumentation der Überlieferung Bruder Wernhers gehen soll als vielmehr um die Aufarbeitung in Form einer Edition. Eine Transliteration ist mehr als nur die bloße Wiedergabe des handschriftlichen Textes. Sie bietet überall dort, wo handschriftlich Deutungs- oder Identifikationsschwierigkeiten bestehen, Interpretationen an, durch die der Benutzer mit dem Problemfall nicht allein gelassen wird. Ganz grundsätzlich ist die Transliteration also auch als Hilfestellung für diejenigen zu verstehen, die beim Lesen in der Handschrift paläografische Schwierigkeiten haben. Darüber hinaus hilft der synoptische Abdruck von Transliteration und Normalisierung dabei, dass Eingriffe, Korrekturen u. Ä., die im normalisierten Text vorgenommen wurden, durch den Vergleich mit dem transliterierten Text leichter nachvollzogen werden können – nicht zuletzt dank des unterhalb der Normalisierung angebrachten Übersetzungsapparats. Gerade dieser soll maßgeblich zum Textverständnis beitragen und die Sprüche umfassend, d. h. inhaltlich, syntaktisch und grammatikalisch, „aufschließen“. Die daraus resultierende neuhochdeutsche Übersetzung, die im Kommentarteil jedes Spruches aufgeführt wird, ist somit letztlich nur eine Art Nebenprodukt, das als Interpretationsangebot meinerseits zu verstehen ist. Dank der Präsentation der einzelnen Editionsschritte wird der Prozess der „Nutzbarmachung“ eines mittelhochdeutschen Textes von der Handschrift bis zur neuhochdeutschen Übersetzung mit all seinen Schwierigkeiten und möglichen Fehlerquellen veranschaulicht, was m. E. häufiger thematisiert werden sollte, speziell in der Lehre. Durch das Aufführen von Transliteration, Normalisierung, Übersetzungsapparat und Kommentar (inkl. Übersetzung) wird ein, wie ich meine, geschlossenes Analysesystem geschaffen, dass sich den Sangsprüchen nicht nur aus unterschiedlichen Richtungen annähert, sondern in seinen Bestandteilen z. T. auch aufeinander aufbaut, so dass diese sich gegenseitig stützen. Nähme man etwa die Transliteration aus diesem Konstrukt heraus, würde derjenige Bestandteil fehlen, auf den gerade der Übersetzungsapparat in seinen Erläuterungen nicht selten Bezug nimmt. Natürlich birgt gerade der Umstand, dass die einzelnen Untersuchungsschritte unmittelbar aufeinander aufbauen und
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Methodisches Vorgehen
z. T. auseinander resultieren, die Gefahr, dass ein Irrtum oder eine Fehlinterpretation auf andere Analyseeinheiten ausstrahlt, weitertransportiert und insofern multipliziert wird. Es ist somit unbedingt notwendig, die einzelnen Arbeitsschritte systematisch und konzentriert auszuführen und ggf. zum Ausgangspunkt, nämlich dem handschriftlichen Text in Form der Transliteration, zurückzukehren. Auch mit Blick auf den Kreis möglicher Benutzer – und ich denke hier nicht nur an Studierende, sondern z. B. auch an Historiker – erscheint das dreigliedrige Konzept vorteilhaft: Der Text kann nicht nur unter literaturwissenschaftlichen Gesichtspunkten oder mit Blick auf die Art der Verarbeitung historischer Ereignisse und Personen untersucht werden, wofür die Normalisierung wohl einen schnelleren Zugang bietet, sondern auch Fragen zu Mundart oder Schreibsprache wird dank der Transliteration ein Zugang ermöglicht. Und ganz allgemein wird Experten, die ungerne mit einem durch Normalisierung künstlich erzeugten Text arbeiten möchten, in Form der Transliteration eine, wie ich finde, akzeptable Alternative geboten. Bleibt noch ein Wort zu verlieren zu der eingangs durch Karl Stackmann angedeuteten Normalisierungsproblematik und der Frage nach der Legitimation des Normalisierens: Der Vorwurf, es handle sich bei einem normalisierten mittelhochdeutschen Text um einen Kunsttext, der aus überlieferten Quellen (re-)konstruiert werde, ist völlig gerechtfertigt. Es ist nicht zu leugnen, dass man im Verlauf des Edierens irgendwann einen Punkt erreicht, an dem man sich fragen muss: Wen oder was ediere ich hier? Ist das noch das Werk Bruder Wernhers oder schon ein so nicht überlieferter, künstlicher Text? Und wenn Letzteres der Fall ist, ist eine Normalisierung dann überhaupt noch zu rechtfertigen? Meiner Meinung nach ist sie das, und zwar nicht nur aus Rücksicht auf Personen, die eben nicht zu Stackmanns „enge[m] Kreis von Spezialisten“92 gehören, sondern die Normalisierung dient gerade im vorliegenden Fall auch als eine Art Mittel zum Zweck, nämlich zu besserem Textverständnis: Um den handschriftlichen Text verstehen zu können, ist eine intensive Textarbeit notwendig, die unweigerlich eine Normalisierung desselben mit sich bringt (etwa, um Lexeme, deren Bedeutung unbekannt ist, im Wörterbuch nachschlagen zu können). Wie stark das Bedürfnis nach Normalisierung nun ausgeprägt ist, hängt wiederum von dem Grad der fachlichen Vorbildung eines jeden Benutzers ab. Während also ein auf dem Gebiet der Altgermanistik „Altgedienter“ die Normalisierung und somit das Textverständnis unmittelbar während der Beschäftigung mit dem handschriftlichen Überlieferungsträger – quasi neben92 Ebd.
Der kritische Text
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her – bewerkstelligen mag, nimmt der Prozess der Normalisierung bei einem weniger geübten Leser wohl etwas mehr Zeit und Mühe in Anspruch und tritt somit auch bewusst als eigenständiger Arbeitsschritt hervor. Entscheidend ist nun, dass in jedem der beiden Fälle die Normalisierung sowohl als Hilfsmittel als auch als Endprodukt der Auseinandersetzung mit dem handschriftlichen Text zu sehen ist. Sie dient einerseits dazu, den Text überhaupt verstehen zu können, dokumentiert aber andererseits zugleich das Ergebnis der Textarbeit. Mit Blick auf die Erstellung einer Edition bedeutet dies, dass der Herausgeber aufgrund des normalisierten Textes gezwungen ist, Stellung zu beziehen, oder positiv formuliert: Die Normalisierung ermöglicht ihm, die gewonnenen Erkenntnisse seiner Textanalyse zu präsentieren und zur Diskussion zu stellen. Grundsätzlich sei jedoch ausdrücklich darauf hingewiesen, dass eine Normalisierung natürlich nur unter der Prämisse legitim ist, Konjekturen oder andere „verfälschende“ Maßnahmen sowohl auf ein Minimum zu beschränken als auch unzweifelhaft kenntlich zu machen. Zudem müssen die Kriterien, die für die Normalisierung festgesetzt werden, klar ersichtlich und in ihrer Durchführung einheitlich sein. Die im nachfolgenden Kapitel ,Der kritische Text‘ aufgeführten Richtlinien zur Normalisierung sind deshalb vom Benutzer unbedingt zu berücksichtigen.
Der kritische Text Zur Transliteration Die Transliteration konzentriert sich auf die Sprüche der Leithandschrift J, im Falle von Parallelüberlieferung werden demnach die in A, C oder T enthaltenen Sprüche nicht zusätzlich transliteriert. Dies erfolgt nur, wenn es sich um unikal überlieferte Sprüche handelt. Der transliterierte Text behält Diakritika, Abbreviaturen und handschriftliche Besonderheiten wie z. B. Durchgestrichenes bei, wobei auf Unregelmäßigkeiten oder Auffälligkeiten im handschriftlichen Befund unmittelbar unterhalb des transliterierten Spruches hingewiesen wird. Zur Unterscheidung werden Initialen und Lombarden in der Transliteration fett gedruckt, wobei die Initiale außerdem unterstrichen ist, einfache Majuskeln werden hingegen nur durch Großbuchstaben wiedergegeben. Im Besonderen ist auf diejenigen Sprüche hinzuweisen, die in J auf dem unteren Seitenrand nachgetragen sind (in der Regel ein bis zwei Sprüche pro Seite, insgesamt 17 Strophen). Hier fehlen nicht selten die Lombarden und stattdessen stehen (abgesehen von der initialen Lombarde) lediglich Majuskeln. Ich weise nicht explizit darauf hin, wo Lombarde stehen sollte, jedoch
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Methodisches Vorgehen
nur Majuskel geschrieben wurde, sondern folge in diesem Fall kommentarlos der handschriftlichen Lesart. Gisela Kornrumpf weist in Ihrer Untersuchung zum Grundstock von J und dessen Erweiterung durch Nachträge darauf hin, dass sich die insgesamt 63 nachgetragenen Sprüche „ganz ungleichmäßig auf elf Töne von lediglich sechs Autoren [verteilen]“93, nämlich Meister Stolle, Bruder Wernher, der Goldener, Meister Friedrich von Sonnenburg, Frauenlob und Meister Boppe.94 Die Nachträge lassen sich demnach nicht beschränken auf „Töne von Sängern aus dem mittleren und nördlichen Deutschland, […] die jüngsten in J vertretenen Autoren“95 oder auf die „viel und seit langem oder später noch gebrauchten Töne“96. Mit Blick auf die 17 nachgetragenen Sprüche in Bruder Wernhers Œuvre ist festzuhalten, dass diese der Hand zugewiesen werden können, die auch den Grundstock von J geschrieben hat.97 Um die Verse von Transliteration und Normalisierung optisch möglichst parallel zu setzen und somit die Benutzerfreundlichkeit zu erhöhen, wird der transliterierte Text nicht gemäß der Handschriften als Fließtext im Blocksatz wiedergegeben, sondern durch Zeilenumbruch in Verse abgesetzt. In diesem Punkt weiche ich also von der Prämisse der möglichst handschriftengetreuen Wiedergabe der einzelnen Überlieferungsträger ab. Ich sehe dies deswegen als gerechtfertigt an, weil die handschriftliche „Formatierung“ im Gegensatz etwa zur Schreibsprache oder zur Punktierung der Handschriften keiner Systematik folgt, wodurch sich evtl. Konsequenzen für das Verständnis oder die Interpretation eines Spruches ergeben könnten, sondern willkürlich bzw. zufällig zu sehen ist. Damit sich der Benutzer dennoch ein Bild davon machen kann, an welcher Stelle im handschriftlichen Text der Zeilenumbruch erfolgt – dieser fällt nämlich nur unregelmäßig mit dem Verseende zusammen –, ist das Ende einer Zeile in der Transliteration jeweils durch Virgel / gekennzeichnet (übrigens nicht zu verwechseln mit dem Schrägstrich \ des Lesartenapparats). Seiten- und Spaltenumbrüche der Handschrift werden hingegen durch doppelte 93 Kornrumpf, S. 54. 94 Vgl. ebd. und Tabelle 2 auf S. 55. 95 Ebd., S. 54. 96 Ebd. 97 Vgl. ebd., S. 57. Laut Kornrumpf lassen sich die 17 Sprüche nochmals zwei unterschiedlichen Phasen zuordnen, wonach der Grundstockschreiber in einer ersten Phase N1 „von den sechs Tönen Bruder Wernhers alle bis auf den vierten (Nr. 3, 8r–v. 9v–12r. 12v–13v. 15r. 16r)“ (ebd.) ergänzt hat, in der Phase N2 wiederum „Bruder Wernhers ersten Ton (9r)“ (ebd.). Mit Blick auf den unterschiedlichen Überlieferugsumfang in J und C hält Kornrumpf fest: „Einer relativ schmalen und zudem völlig ungeordneten Sammlung von Sangsprüchen des alten, angesehenen süddeutschen Autors im ,Codex Manesse‘ (Nr. 117, 345r–347v, 38 Strophen) steht also mit dem Grundstockcorpus und den durch die Randnachträge repräsentierten Quellen eine reichere Tradierung im Norden gegenüber.“ (ebd., S. 58).
Der kritische Text
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Virgel // ausgedrückt. Wird ein Wort durch einen Umbruch unterbrochen, zeige ich dies dadurch an, dass die Virgel ohne Leerzeichen im Wortinneren steht (z. B. I,1,2 kríſte/líchez oder I,1,8 ſchẏr//men im Unterschied z. B. zu I,1,3 dıe / kẏnt). In der Handschrift nachträglich eingefügte Lexeme sind in der Transliteration in runde Klammern ( ) gesetzt und unterhalb des Spruches als marginal oder interlinear klassifiziert. Mit Blick auf die Punktierung innerhalb der Sprüche gilt, dass nicht alle Punkte als Reimpunkte, also als auf Versen basierendes Ordnungsinstrument zu verstehen sind. Teilweise ist ein Vers in sich durch eine Art Zäsurpunkt unterbrochen und das unmittelbar nachfolgende Wort wird nahezu regelmäßig großgeschrieben;98 in Fällen, in denen die Handschrift jedoch von diesem Muster abweicht, wird unterhalb des Spruches nicht ausdrücklich darauf aufmerksam gemacht. Neben Reimpunkten und Zäsurpunkten lässt sich noch eine dritte Gruppe festmachen: Aufzählungspunkte. Hier scheint der Punkt eine ähnliche Funktion wie das Komma in der neuhochdeutschen Interpunktion einzunehmen. Im Unterschied zur Regelung bei Zäsurpunkten stehen die Aufzählungselemente jedoch im Anschluss an den Punkt mit Minuskel, was ebenfalls auf einen differenzierten Gebrauch des Punktes hindeutet. Des Weiteren ist darauf hinzuweisen, dass, beginnt ein Vers mit Lombarde, in der unmittelbar vorausgehenden Zeile der Reimpunkt in der Regel fehlt. Hier liegen jedoch immer wieder Abweichungen von diesem Muster vor, z. B. steht in I,1 bis auf den Schlussvers grundsätzlich Reimpunkt, egal, ob nun Lombarde folgt oder nicht. Überall dort, wo in der Handschrift von dem Prinzip des fehlenden Reimpunktes vor Lombarde abgewichen wird, vermerke ich dies nicht explizit unterhalb des transliterierten Spruches. Auch beim Übergang von einem Spruch zum anderen liegt, abhängig vom Überlieferungsträger, eine bestimmte Systematik der Reimpunkte vor. So steht in der Jenaer Liederhandschrift am Ende des letzten Verses eines regulären, sprich: nicht nachgetragenen, Spruches in der Regel kein abschließender Reimpunkt (in den Nachträgen im Regelfall jedoch schon). Sowohl in der großen als auch in der kleinen Heidelberger Liederhandschrift enden hingegen die einzelnen Sprüche mit Reimpunkt. Da ich mich in A jedoch lediglich auf die drei Sprüche, die unter dem Namen Bruder Wernhers enthalten sind, konzentriert habe, kann ich keine repräsentativen Aussagen über den Gebrauch des Punktes in A insgesamt treffen. Zumindest fällt in den Sprüchen Bruder Wernhers auf, dass Reimpunkte hier selten und wenn dann eher unregelmäßig 98 Übrigens liegt hier eher selten zusätzlich Mittelreim vor wie etwa in I,4,11–12.
40
Methodisches Vorgehen
gesetzt sind. In C hingegen enden die Verse eines Spruches mehr oder weniger systematisch auf Reimpunkt. Eine weitere Besonderheit von J ist die Punktierung in den bereits erwähnten Nachträgen. Hier steht vereinzelt statt eines Punktes, der die Verse voneinander absetzen soll, ein vertikaler Strich (ähnlich einer Virgel), und zwar in der Regel dann, wenn der nachfolgende Vers mit Lombarde einsetzt. Dieser senkrechte Strich | ersetzt den Reimpunkt allerdings nur in den Nachträgen und kommt dort zudem nicht regelhaft vor, z. T. stehen auch Reimpunkt und Strich zusammen. Hinsichtlich der Punktierung ist zuletzt noch darauf hinzuweisen, dass in J die Lexeme e (normalisiert zu ie oder ê) und v̋ (normalisiert zu iu) in der Regel zusammen mit einem Punkt stehen (e. bzw. v̋.) – eine Besonderheit von Lexemen, die, zumindest handschriftlich, lediglich aus einem Buchstaben bestehen. Das in der Handschrift unmittelbar nachfolgende Wort steht in solchen Fällen nicht mit Majuskel, wodurch sich die Funktion dieser Punktierung auch grafisch von den zuvor genannten (Reimpunkt, Zäsurpunkt, Aufzählungspunkt) unterscheidet. Besteht bei der Identifizierung von Lexemen, Punkten oder handschriftlichen Korrekturen Unsicherheit, wird dies durch ein Fragezeichen (?) signalisiert, das im Anschluss an das betreffende Wort bzw. den betreffenden Punkt steht. Ich habe mich hier bewusst gegen die sonst übliche Kennzeichnung durch die Crux † entschieden, da ich auf diese Weise nicht nur „[v]ermutlich verderbte Stellen“99 markiere, also Passagen, die aus handschriftlichen bzw. paläografischen Gründe keine Deutung zulassen, sondern auch diejenigen, bei denen zwar der handschriftliche Befund keine Schwierigkeiten bereitet, dafür jedoch die semantische Ausdeutung eines Lexems oder einer Textstelle unsicher ist. Neben dem Fragezeichen (?), das ich hinter die entsprechende Stelle setze, gebe ich im Übersetzungsapparat nähere Erläuterungen.
Zur Normalisierung Mit Blick auf die Normalisierung erscheinen mir recht strikte Kriterien deswegen als gerechtfertigt, da aufgrund der parallel zur Verfügung gestellten Transliteration grundsätzlich die Möglichkeit besteht, den normalisierten Text mit dem handschriftlichen abzugleichen oder bei Bedarf schlicht zu ignorieren. Ausgangspunkt bzw. Grundlage des Normalisierungsverfahrens bildet die 25. Auflage der Mittelhochdeutschen Grammatik von Hermann Paul, Thomas 99 MF, S. 10.
Der kritische Text
41
Klein, Hans-Joachim Solms, Klaus-Peter Wegera und Ingeborg Schröbler.100 Der regionalsprachliche Text der Handschrift wurde also in das auf der Mittelhochdeutschen Grammatik beruhende Normalmittelhochdeutsch übertragen. Ich habe mich hier v. a. mit Blick auf J bewusst dagegen entschieden, der Normalisierung statt des Normalmittelhochdeutschen Normalmitteldeutsch zugrunde zu legen, da m. E. nicht klar gesagt werden kann, wo in der damaligen Zeit der mitteldeutsche Standard beginnt und wo er aufhört, d. h. welche Phänomene sollen noch normalisiert werden und welche nicht mehr. Um diese Grauzone gar nicht erst zu betreten, zielt die Normalisierung also auf die Herstellung eines normalmittelhochdeutschen Textes ab.101 Die Interpunktion des normalisierten Textes orientiert sich an der des Neuhochdeutschen. Natürlich bleibt angesichts der im Vergleich zum Neuhochdeutschen z. T. offeneren Syntax des Mittelhochdeutschen immer ein gewisses Maß an Interpretationsspielraum bei der Wahl und z. T. auch Position der Satzzeichen. Es kann den Texten somit bisweilen sicher auch eine andere Interpunktion als die vorliegende zugrunde gelegt werden. Was die Wiedergabe bzw. Kennzeichnung von handschriftlichen Initialen, Lombarden und Majuskeln angeht, so habe ich in der Normalisierung auf die optische Kennzeichnung derselben verzichtet. Lediglich die einleitende Initiale wird normalisiert mit Majuskel wiedergegeben, ansonsten steht Minuskel. Auf diese Weise soll verhindert werden, dass etwaige Majuskeln, die auf die Handschrift zurückgehen, als metrische Kennzeichnung von Strophenteilen (z. B. zur Unterscheidung von Auf- und Abgesang) (miss-)verstanden werden. Die in den nachfolgenden Kapiteln aufgeführten Richtlinien beziehen alle Überlieferungsträger mit ein, wobei die Grafien der Handschriften en bloc zusammengefasst werden. Die Übersicht der handschriftlichen Schreibungen gibt demnach keine Auskunft darüber, welcher Handschrift die Schreibungen im Einzelnen zugehören. Dies muss bei Bedarf über die Transliteration der Überlieferungsträger ermittelt werden. Konjekturen stehen im normalisierten Text kursiv. Textlücken in der Überlieferung werden durch Punkte … gekennzeichnet.
100 Den nachfolgenden tabellarischen Übersichten zur Normalisierung wurde das Phonemsystem der Mittelhochdeutschen Grammatik gemäß der 25. Aufl. zugrunde gelegt. 101 Zur Sprache der Jenaer Liederhandschrift vgl. u. a. Bartsch: Untersuchungen, Klein und Czajkowski.
42
Methodisches Vorgehen
Allgemeines Abbreviaturen, Diakritika:
werden aufgelöst (nähere Informationen siehe Vokalismus bzw. Konsonantismus)
regionale Formen:
werden normalisiert Bsp. für J (md.-mnd. Färbung): md. Senkung (vgl. Mhd. Gram., § L 26 und Mnd. Gram., § 61); md. Monophthongierung (vgl. Mhd. Gram., § E 34, 1., § L 18); im Zuge der md. Monophthongierung auftretender Präteritalausgleich inkl. Dehnung (vgl. 〈e〉 als stummes Längenzeichen) bei Verben der AR I (vgl. hsl. trıeb, rıeb, blıeb [I,10]) (vgl. Mhd. Gram., § L 18 und evtl. Frnhd. Gram., § M 111); volltonige Präfixe (vgl. Mhd. Gram., § E 34, 10., § L 57, 3.); Assimilation von /mb/ > /mm/ und seltener auch von /xs/ zu /ss/ (〈hs〉 > 〈ss〉) (vgl. Mhd. Gram., § E 34, 9., § L 99, § L 110, 1.); /ǖ/ sowie umgelautetes und nicht umgelautetes ahd. /iu/ > /ū/ (besonders vor w) (vgl. Mhd. Gram., § E 34, 8., § L 44); 〈ê〉 (= /ē/?) für /ie/ und vereinzelt 〈ô〉 (= /ō/?) für /uo/ (vgl. Mnd. Gram., § 110 bzw. § 158); Vermeidung der Schreibung 〈œ〉 für /öü/, stattdessen 〈o〉 (vgl. Mhd. Gram., § L 42 und Mnd. Gram., § 43); /b/ für /v/ (vgl. Mhd. Gram., § L 65 Anm. 3, § L 100, 1. (v. a. Anm. 3) und Mnd. Gram., § 290 Anm. 2); h-Schwund + Vokalkontraktion (md. auch nach Kurzvokal z. B. geschehen > geschên) (vgl. Mhd. Gram., § L 80); 〈ch〉 [χ, ç] für /g/ im Silbenauslaut (vgl. Mhd. Gram., § L 105 und Mnd. Gram., § 341, II.); Beibehaltung von /ə/ nach kurzem Tonvokal + Liquid (vgl. Mhd. Gram., § L 53, 2. und Mnd. Gram., § 62); ge-lose Partizipbildung (vgl. Mnd. Gram., § 221, VI. und § 423); Prät. von komen mit anl. 〈qu〉 (vgl. Mhd. Gram., § M 79 Anm. 4); ganz vereinzelt 〈dh〉 für /d/ (Mnd. Gram., § 319); 2. Pl. Ind. Präs. ‑(e)nt statt ‑(e)t (vgl. Mhd. Gram., § M 70 Anm. 8, § E 32, 2.); 3. Pl. Ind. Präs. ‑(e)n statt ‑(e)nt (vgl. Mhd. Gram., § M 70 Anm. 9 und Mnd. Gram., § 416, § 419); 2. Sg. Ind./Konj. Präs. z. T. ‑(e)s statt ‑(e)st (vgl. Mhd. Gram., § M 70 Anm. 6 und Mnd. Gram., § 418); vereinzelt r-lose Bildung des Poss.pron. unser (vgl. Mhd. Gram., § E 34, 3.3. Nr. 2 und Mnd. Gram., § 405); z. T. flektierte Form des Poss.pron. ir (vgl. Mhd. Gram., § M 43 und Anm. 3); md. her (Pron.) statt er (vgl. Mhd. Gram., § M 41 Anm. 1); md. hette (Ind. und Konj. Prät.) statt hâte bzw. hæte (vgl. Mhd. Gram., § M 113 und Anm. 3 und 4) Bsp. für C (obd. Färbung mit alem. Einschlag): Rundung von /e/ > /ö/ (vgl. Mhd. Gram., § L 24, § L 29); stammauslautendes /m/ > /n/ (vgl. Mhd. Gram., § L 94); 〈k〉 statt 〈ck〉 für /kk/ (vgl. Mhd. Gram., § L 103, 4.); 〈tt〉 für /t/ nach Kurzvokal (vgl. Mhd. Gram., § L 71, 1)); vereinzelt fehlender Umlaut bzw. fehlende Bezeichnung des Umlauts /u/ > /ü/ vor /gg/, /ck/ und im Konj. Prät. (Mhd. Gram., § E 31, 4., § L 36); vereinzelt volle Nebentonvokale (vgl. Mhd. Gram., § L 57, 5.); einmalig inlautendes /j/ > /g/ (vgl. Mhd. Gram., § E 30, 5.); Prät. von komen mit anl. 〈k〉 (vgl.
Der kritische Text
43
Mhd. Gram., § E 32, 6., § L 104); â-Formen von stân und gân (vgl. Mhd. Gram., § E 32, 7.); 2. Pl. Ind. Präs. ‑(e)nt statt ‑(e)t (vgl. Mhd. Gram., § E 32, 2., § M 70 Anm. 8); alem. dien (Dat. Pl.) statt den (vgl. Mhd. Gram., § M 45 Anm. 3); alem. wan (Pron.) statt man Hyperkorrekturen:
werden rückgängig gemacht
Kontraktionen:
werden beibehalten
Inkongruenzerscheinungen:
werden im Allgemeinen beibehalten, Konjekturen sind kursiviert
Personen-/Eigennamen und Personifikationen:
werden großgeschrieben
Iterierende Varianten:
nagel: Pl. umgelautet und unumgelautet stân – stên gân – gên denne – danne swen(ne) – swan(ne) niuwan – niwan zuo – ze alsô – alsus enpor – empor werdecheit – wirdecheit werlte – werlde Nebenformen der Präterito-Präsentien gemäß der Übersicht in Mhd. Gram., § M 94
vereinheitlichte Varianten:
nıe wen und nv wen > niuwan herre und (h)er > hêrre her und er > er wen und wan > wan (z. T. ist damit statt der Konjunktion auch das Interrogativ- bzw. Relativadverbium wannen [,woher‘] gemeint) ıeman und eman > ieman neman, nẏeman und nıeman > nieman ẏmmer bzw. nẏmmer (z. T. mit er-Haken) > iemer bzw. niemer dvr, dvrh, durch > durch vnpern und vmbern > enbern
vůr-, v-:
ver- (vgl. Mhd. Gram., § E 42, 3.6.2. Nr. 2, § L 57, 3. und Mnd. Gram., § 221, V.)
vůr, vuͥr, fuͥr, vor:
vür
tzů, zvͦ:
zuo und ze iterierend: Ist die Partikel vom Verb trennbar, liegt auf ihr also der Hauptton, steht zuo, ansonsten ze (vgl. Mhd. Gram., § E 21, 6., vgl. auch die 24. Aufl. der Mhd. Gram., § 22 Anm. 2).
‑lích(en)/‑lıch(en) :
in unbetonter Silbe wird adj. ‑lîch > ‑lich und adv. ‑lîche(n) > ‑liche(n) (vgl. Mhd. Gram., § L 23, § L 40 Anm. 1)
44
Methodisches Vorgehen
vnt-:
vntgelten > engelten vntbrynnen > enbrinnen vntfan > emphân vntfliehen > entvliehen (vgl. Mhd. Gram., § L 74, 3.)
vn̅/un̅:
Wird unabhängig von der Metrik einsilbig aufgelöst. unt: verhärtet, wenn nachfolgendes Wort mit Kons. anlautet und(e): wenn nachfolgendes Wort mit Vokal anlautet (In diesem Fall wurde evtl. aufgrund des Hiats bereits hsl. eine Elision des əLauts vorgenommen.)
Vokalismus Lautung
/ǖ/
hsl. Schreibungen
normal. Schreibung
/a/
〈a〉
〈a〉
/ä/
〈e〉
〈e〉
/ɛ/ bzw. /ë/
〈e〉
〈e〉
/e/
〈e, o〉 〈e〉 hyperkorrekte Schreibungen: 〈ı, ẏ, í〉
/i/
〈ı, í, ẏ, y, J, e〉
〈i〉
/ü/
〈u, v, uͥ, v̍, vͦ, uͦ, o〉
〈ü〉
/u/
〈v, o, u, vͦ, uͦ〉
〈u〉
/o/
〈o, u, uͦ〉
〈o〉
/ö/
〈v̊, e, v, u〉
〈ö〉
/ā/
〈a〉
〈â〉
/ǟ/
〈e〉
〈æ〉
/ē/
〈e, e̋〉 hyperkorrekte Schreibung: 〈í〉
〈ê〉
/ī/
〈ı, í, ẏ, y〉
〈î〉
< ahd. /ū/
〈u, v〉
〈iu〉
< ahd. /iu/ (hier umgelautet und nicht umgelautet)
〈ẏv, ív, ıv, ıu, v, v̎, uͥ, v̍, vͤ, u〉
〈iu〉
Der kritische Text
Lautung
−
−
−
−
hsl. Schreibungen
normal. Schreibung
/ū/
〈v, u, o〉
〈û〉
/ō/
〈o〉
〈ô〉
/ȫ/
〈o, oͤ〉
〈œ〉
/ou/
〈oͮ, ou, ov, o〉
〈ou〉
/öü/
〈eu, oͤı, oı〉
〈eu〉
/ei/
〈eı, eí, ey, eẏ, eÿ, e〉
〈ei〉
/ie/
〈ıe, íe, ẏe, ẏ, e, ı,〉
〈ie〉
/üe/
〈u, v, uͤ, vͤ, ů, v̊, ẏv〉
〈üe〉
/uo/
〈vͦ, uͦ, oͮ, v, u, o〉
〈uo〉
45
Volltonige Präfixe werden normalisiert zu 〈e〉 (= ə-Laut) (z. B. ır gezzen > ergetzen). Nebentonvokale werden ebenfalls normalisiert zu 〈e〉 (= ə-Laut): adj. ‑ic > ‑ec (vgl. Mhd. Gram., § L 57, 3.), analog dazu auch künic > künec oder werdicheit > werdecheit. Endsilben-e (/ə/) nach Kurzvokal + /r/, /l/ und i. d. R. zwischen /h/ und /t/ wird in der Normalisierung synkopiert (vgl. Mhd. Gram., § L 53, 2. und 3., § M 70 und Mnd. Gram., § 62). Endsilben-e (/ə/) zwischen /m/ und /t/ orientiert sich in der Normalisierung am hsl. Befund (vgl. Mhd. Gram., § L 53, 3.).
Konsonantismus Lautung
hsl. Schreibungen
normal. Schreibung
/p/
〈p〉
〈p〉
/b/
〈b〉
〈b〉, ausl. 〈p〉
/t/
〈t, tt〉
〈t〉
/tt/
〈tt〉
〈tt〉
/d/
〈d, dh〉
〈d〉, ausl. 〈t〉
/k/
〈k, c, ch〉
im Silbenanl. 〈k〉 im Silbenausl. 〈c〉
/kk/
〈ck, k〉
〈ck〉
/g/
〈g〉 anl. 〈k〉 bei gegen ausl.: 〈c, ch, g, k〉
〈g〉, ausl. 〈c〉
46
Methodisches Vorgehen
Lautung
hsl. Schreibungen
normal. Schreibung
/f/
〈f〉
〈f〉 (im Silbenausl. und bei /ft/ und /fs/)
/v/
〈v, f, b, u〉
gemäß der Leiths. J im Silbenanl. eher 〈v〉, z. T. aber auch 〈f〉 (z. B. hilfe, entworfen, loufen)
/ʒ/ und /ʒʒ/ (< germ. /t/)
〈z, s, ſ〉 und 〈zz, ſſ〉
hsl. 〈ſ〉 > 〈s〉 hsl. 〈z〉 bleibt stehen hsl. 〈zz, ſſ〉 > 〈zz〉
/s/ und /ss/ (< germ. /s/)
〈 ſ, s〉 und 〈ſſ〉
〈s〉 und 〈ss〉
/sch/
〈ſch, ſc, sc, sch〉
〈sch〉
/ch/
〈ch, h〉
inl. eher 〈h〉 ausl. 〈ch〉
/h/
〈h〉 ausl.: 〈ch〉
〈h〉, ausl. 〈ch〉
/xs/
〈x, xs, xſ, hſ〉
〈hs〉
Assimilation von /xs/ zu /ss/ (selten)
〈ſſ〉
〈hs〉
/pf/
〈ph, pf〉
gemäß der Leiths. J zu 〈ph〉 vereinheitlicht Ausnahme: apfel (Die Affr. mit 〈pf〉 scheint in J [bei Br. W.!] eine lexemgebundene Schreibung zu sein.)
/z/
〈tz, c, z, zz〉
im Silbenanl., nach Kons. und weitgehend im Ausl. 〈z〉 intervokal. weitgehend 〈tz〉
/m/ und /mm/
〈m〉 und 〈mm〉
〈m〉 und 〈mm〉
/n/ und /nn/
〈n〉 und 〈nn〉
〈n〉 und 〈nn〉
/m/ > /n/ vor /f/ (vgl. Mhd. Gram., § L 94)
〈mf〉 neben 〈nf〉
〈nf〉
Assimilation von /mb/ > /mm/
〈mm〉 neben 〈mb〉
〈mb〉
Sprosskonsonanz /b/ (bzw. /p/) nach /m/ (vgl. Mhd. Gram., § L 82 und § L 98)
z. T. 〈mp〉
Sprosskonsonanz wird getilgt
Der kritische Text
Lautung
hsl. Schreibungen
normal. Schreibung
/l/ und /ll/
〈l〉 und 〈ll〉
〈l〉 und 〈ll〉 (im Ausl. degeminiert)
/r/ und /rr/
〈r〉 und 〈rr〉
〈r〉 und 〈rr〉
/w/
〈w, vv, uv, v〉
〈w〉
/j/
〈ı, í, J〉
〈j〉
− − −
−
47
Plosive werden in der Normalisierung im Auslaut verhärtet. Geminate wird nach Langvokal vereinfacht. Eine Ausnahme bildet mhd. hêrre (< ahd. he̅r[i ]ro). -te wird nach /l/ und /n/ z. T. (!) lenisiert. Ausgenommen hiervon ist z. B. das Subst. bzw. Adj. milte, das Verb entgelten oder auch die durch Enklise entstandene Verbindung wiltû (< wilt dû). Hsl. Nasalstriche werden abhängig vom grammatikalischen bzw. syntaktischen Kontext zu ‑(e)n bzw. ‑(e)m aufgelöst.
Morphologie verbale Flexive:
Regionale Formen werden normalisiert zu normalmhd. Formen: 2. Sg. Ind./Konj. Präs., Konj. Prät.: ‑(e)st (< ‑[e]s) (vgl. Mhd. Gram., § M 70 Anm. 6) 1./3. Sg. Ind. Präs. von soln: endungslos (< ‑e) (vgl. Mhd. Gram., § M 94) 1. Pl. Ind. Präs.: bei nachgestelltem wir endet Flexiv auf ‑e (vgl. Mhd. Gram., § M 70 Anm. 7), bei suln endet Flexiv auf ‑n (auch bei nachgestelltem wir ) 2. Pl. Ind. Präs.: ‑et (< ‑ent) (vgl. Mhd. Gram., § M 70 Anm. 8, § E 32, 2.) 3. Pl. Ind. Präs.: ‑ent (< ‑en) (vgl. Mhd. Gram., § M 70 Anm. 9), z. T. ist nicht eindeutig zu sagen, ob es sich bei hsl. ‑en um die mundartliche Ind.-Form für regulär ‑ent handelt oder ob vielmehr 3. Pl. Konj. gemeint ist. 3. Sg. Ind. Präs. von lâzen/lân: hsl. lezet > læzet hsl. lezt > læz(ẹ)t (vgl. Mhd. Gram., § M 112 Anm. 1 und § L 74 Anm. 6) hsl. let > lât (vgl. Mnd. Gram., § 434 Anm. 1) Die Flexive der 1. und 3. Sg. bleiben (unabhängig von Modus und Tempus) von der Normalisierung ausgenommen und folgen stattdessen der hsl. Lesart. Der hsl. Befund spiegelt nicht selten das Bemühen um Alternation wider und deutet somit auf den Aufführungscharakter der Sprüche hin. Dieses Bestreben soll auch in der Normalisierung wiedergegeben werden.
48
Methodisches Vorgehen
Pron. der 3. Pers.:
Nom. und Akk. Sg. Fem. sowie Nom. und Akk. Pl. aller Genera entspr. der Leiths. J vereinheitlicht zu: sie (keine Berücksichtigung von betonter bzw. unbetonter Position)
Poss.pron.:
1. Pl.: mit ‑r gebildet, d. h. normal. unser statt unse (vgl. Mhd. Gram., § E 34, 3.3. Nr. 2) Sg. Fem. der 3. Pers. und der Pl. aller Genera: unflektiertes ir (vgl. Mhd. Gram., § M 43 und Anm. 3)
Adjektiv (st. Flexion):
Nom. und Akk. Sg. Neutr.: ‑z Gen. Sg. Mask. und Neutr.: ‑s Nom. und Akk. Pl. Neutr.: ‑iu Nom. Sg. Fem.: ‑iu Dat. Sg. Mask. und Neutr.: ‑en > ‑em(e) (gilt auch für Pronomina) Dort, wo hsl. ‑en steht und Dat. anzunehmen ist, normalisiere ich zu ‑em. (Es kann hier [wie auch bei den Formen des best. Artikels] nicht immer gesagt werden, ob ‑m lediglich aufgrund der Position im Auslaut zu ‑n wird oder ob statt des Dat. der Akk. verwendet wird, wie es für das Md. nicht untypisch ist.)
best. Artikel:
Gen. Sg. Mask. und Neutr.: ‑s Nom. Sg. Fem.: einheitlich diu (statt die) (J scheint – zumindest im Œuvre Bruder Wernhers – keine klar funktionale Trennung im Gebrauch von diu und die vorzunehmen.) Akk. Sg., Nom. und Akk. Pl. Fem.: die Nom. und Akk. Pl. Neutr.: diu
Zur metrischen Form Obwohl beim Normalisierungsverfahren versucht wurde, möglichst konsequent zu sein, wird im Rahmen der metrischen Präsentation, abgesehen von einigen Ausnahmen, darauf verzichtet, in die Textmetrik einzugreifen und auf diese Weise etwaige Fehler bzw. Unregelmäßigkeiten auszubessern. Dies bedeutet, dass metrisch bedingte Eingriffe, die bereits in der Handschrift vorliegen und z. B. dazu dienen, einen reinen Reim herzustellen (z. B. I,4,8 vůrſníten [< versnîden] : vber rí/ten oder I,12,7 gert [< gerte] : wert), nicht korrigiert wurden, sondern lediglich im Übersetzungsapparat auf die irreguläre Form hingewiesen wird. Umgekehrt bleiben aber auch handschriftlich unreine Reime stehen (z. B. II,22,4 ſchar: da oder II,34,4 geſchen : ſpehen). Eine Ausnahme bildet der im Mitteldeutschen in der Regel beibehaltene ə-Laut nach Kurzvokal + /r/, /l/, der von mir im normalisierten Text nicht nur im Versinnern, sondern auch in der Kadenz getilgt wurde (z. B. I,9,7 und 9 swerẹn : werẹn oder II,27,7 und 9 verẹt : zerẹt).
Der kritische Text
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Mit Blick auf das in dieser Arbeit verwendete metrische System ist zu sagen, dass ich mich weitgehend an demjenigen Andreas Heuslers orientiere,102 auch wenn dies wohl aus Sicht der Herausgeber des Repertoriums der Sangsprüche und Meisterlieder als veraltet anzusehen ist.103 Da sich, wie mir scheint, gegenwärtig jedoch noch kein anderes System in der gleichen Weise wie dasjenige Heuslers etabliert hat und Heuslers Verfahren m. E. nach wie vor durch seine Geschlossenheit bei gleichzeitiger Schlichtheit besticht, wird ihm in der vorliegenden Arbeit der Vorzug eingeräumt. Übrigens greifen auch Einführungen in die mittelhochdeutsche Metrik aus ganz ähnlichen Gründen immer noch auf Heuslers System zurück, was dessen Verständlich- und Zugänglichkeit gerade auch für noch ungeübte Benutzer unterstreicht.104 Die metrische Formel, die ich zu Beginn eines Tones anführe, folgt dem Muster Taktzahl – Kadenz – Reim (z. B. 4ma). Als mögliche Kadenzen kommen infrage: − m (= männlich): Einsilbige Kadenz, z. B. I,1,6 lân, bzw. ein mehrsilbiges Wort, von dem jedoch nur eine Silbe die Kadenz bildet, z. B. I,1,1 (ver-)tân. − 2m (= zweisilbig männlich): Zweisilbige Kadenz, deren erste Silbe sprachlich kurz ist, d. h. einen Kurzvokal in offener Tonsilbe besitzt, z. B. I,1,2 le-ben. − k (= klingend): Zweisilbige Kadenz, deren erste Silbe sprachlich lang ist, d. h. entweder Naturlänge (bei offener Tonsilbe) besitzt, z. B. I,1,8 wei-sen, oder Positionslänge, z. B. I,2,8 brin-get. Aufgrund der metrischen Gleichwertigkeit von männlicher und zweisilbig männlicher Kadenz führe ich für die beiden männlichen Kadenztypen wie üblich lediglich die Abkürzung m an. Eine genauere Aufschlüsselung, an welcher Stelle männliche bzw. zweisilbig männliche Kadenz vorliegt, folgt dann spruchspezifisch im Kommentarteil. Auch die Frage nach dem Auftakt verlege ich in den Kommentar. Mit Blick auf diejenigen Versschlüsse, die sowohl zweisilbig als auch sprachlich lang sind, ergibt sich theoretisch die Möglichkeit, diese als klingende oder aber als weibliche Kadenz zu verstehen, da speziell für den lyrischen Vers – etwa im Unterschied zum höfischen Reimpaarvers – prinzipiell keine Vorgaben bzgl. der Hebungs- bzw. Taktzahl vorliegen. Ob in der Lyrik 102 Vgl. Heusler. Im Unterschied zu Heusler spreche ich jedoch nicht von (männlich) vollen, sondern von männlichen Kadenzen. Außerdem verzichte ich gattungsbedingt auf die Form der stumpfen Kadenz. Vgl. bei Heusler speziell zum Versschluss bzw. zur Kadenz, Bd. I, §§ 189 und 190, Bd. II, § 583. 103 Vgl. RSM 2,1, S. XXXI. 104 Vgl. Bögl, v. a. S. 11; Tervooren: Minimalmetrik, v. a. S. 1 Anm. 1.
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nun von klingender oder von weiblicher Kadenz auszugehen ist, lässt sich in der Regel nicht endgültig entscheiden,105 einziges Hilfsmittel hierbei stellen Melodien dar, so sie denn überliefert sind. Im Falle von Bruder Wernher liegt für sechs Töne tatsächlich Notation vor, so dass hier hinsichtlich der Kadenz eher stichhaltige Aussagen getroffen werden können. Ich stütze mich hierbei auf die metrische und musikalische Untersuchung von Pickerodt-Uthleb zur Jenaer Liederhandschrift, in der sie zu dem Schluss kommt, dass die klingende Kadenz „als ,Normal‘kadenz weiblich schließender Verszeilen angesehen werden [kann] und überall dort anzusetzen [ist], wo nicht zwingende Gründe die Annahme einer weiblichen Kadenz verlangen“106. Abschließend sei noch darauf hingewiesen, dass die in der metrischen Formel verwendeten Zeichen / (trennt die beiden Stollen voneinander) und // (trennt Auf- und Abgesang voneinander) natürlich unabhängig von den in der Transliteration gebrauchten Schrägstrichen zu sehen sind.
Hinweise zur Benutzung Zur Anordnung der Sprüche Wie in der Einleitung bereits angedeutet, erscheint aufgrund der Überlieferungslage die Frage, welchem der beiden Hauptüberlieferungsträger (J und C) der Vorzug als Leithandschrift eingeräumt werden sollte, m. E. nicht unangebracht. Anton E. Schönbach folgt – wie bereits vor ihm Friedrich Heinrich von der Hagen – überall dort, wo Parallelüberlieferung vorliegt, der Lesart von C. Er begründet dieses Vorgehen zwar nirgends explizit, regelmäßig vorkommende Äußerungen107 bzgl. der angeblich minderwertigen Überlieferung bzw. Lesart von J legen jedoch nahe, dass sich J für Schönbach bereits zu weit von der vermutlichen Autorversion entfernt hat und in C somit der ursprünglichere und ästhetisch hochwertigere Text überliefert ist. Dementspre105 Erdmute Pickerodt-Uthleb weist zumindest für die Jenaer Liederhandschrift jedoch nach, dass zweihebige, sprachlich lange Verschlüsse in J in „78, 7 %“ (Pickerodt-Uthleb, S. 39) der Fälle als klingend zu interpretieren sind (vgl. ebd., S. 38 f.). Darüber hinaus führt sie m. E. zu Recht aus, „[d]aß klingende Kadenzen keine Erfindung der Metriker sind“ (ebd., S. 39), vielmehr würden Belege vorliegen, „in denen dieselbe Melodie einmal für eine männlich, das andere Mal für eine weiblich ausgehende Verszeile verwendet wird. Dort nämlich korrespondiert der Dehnung der Paenultimasilbe des weiblichen Verses über einen ganzen Takt, deren Auffassung als beschwerter Hebung also, ein zweisilbig gefüllter männlicher Paenultimatakt“ (ebd.). 106 Ebd., zur weiblichen Kadenz vgl. ebd., S. 61–68. 107 Vgl. dazu Anm. 6.
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chend setzt Schönbach die große Heidelberger Liederhandschrift als Leithandschrift an. Die nicht nur von Schönbach angestellte Vermutung, die Sprüche in J seien von ihrem Inhalt her entaktualisiert,108 untersucht Peter Kern näher und kommt zu dem Schluss: Wenn meine These109 stimmt, dann handelt es sich entgegen der geltenden Forschungsmeinung beim Text in J nicht um eine durch den Schreiber (oder seinen Auftraggeber), [sic!] entaktualisierte Fassung, sondern um eine frühere Version des Autors, die in der CFassung später entsprechend der neuen politischen Lage ,umaktualisiert‘ wurde […].110
Obgleich Kerns Überlegungen und seine daraus resultierende Schlussfolgerung denkbar sind, bin ich nicht völlig überzeugt davon. (Ein umfassender Vergleich von C und J hinsichtlich Ent- oder Umaktualisierungstendenzen könnte hier vielleicht aufschlussreich sein.) Und auch Kern selbst räumt ein, „[b]eweisbar ist das freilich nicht“111. Prinzipiell kann m. E. nicht geleugnet werden (was übrigens auch Kern nicht tut), dass in J Sprüche enthalten sind, die im Vergleich zu C eine stärker verallgemeinernde Lesart vorweisen.112 Ob dies nun damit zu erklären ist, dass J die ältere C-Fassung ins Allgemeine wendet oder aber vielmehr in J die ältere Fassung auf uns gekommen ist und diese wiederum in C umaktualisiert wurde, scheint angesichts des grundsätzlich spekulativen Charakters dieser Überlegungen müßig. Und Ulrich Müller weist darüber hinaus zu Recht auf Folgendes hin: Da diese Tendenz zur Entaktualisierung sich aber nicht durchgehend in J findet und da es sowohl allgemein gehaltene Strophen in C als auch erkenntlich aktuell-politische Strophen in J gibt, läßt sich nicht der Schluß ziehen, eine allgemein gehaltene Strophe in J,
108 Vgl. dazu Anm. 456, 457 und 812. Vgl. außerdem Kern: Entaktualisierung, S. 158 f. 109 Kern geht von den Sprüchen II,21 (= J20 bzw. C1) und VI,69 (= J65 bzw. C35) aus, die nach Schönbach die Verallgemeinerungstendenzen von J besonders deutlich machen (vgl. Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 3 bzw. 81). Da die Lesarten beider Strophen in den Handschriften C und J deutlich voneinander abweichen und C dabei konkreter in den historischen Zusammenhang eingeordnet werden kann, ist man allgemein davon ausgegangen (und geht es nicht völlig zu Unrecht z. T. immer noch), dass C die ursprünglichere, d. h. der Autorversion nähere Lesart sei. Kern dreht diese Interpretation um: „Es wäre […] genausogut vorstellbar, daß beide Versionen auf den Autor selbst zurückgehen und daß J vielleicht sogar die ältere Fassung darstellt, die erst zu einem späteren Zeitpunkt auf eine konkretere geschichtliche Lage hin zugespitzt worden sein könnte. Dann wäre C die aktualisierte Spätform der Strophe, und J hätte die frühere Autorfassung bewahrt, so daß die Rede von der Entaktualisierung in J ihren Sinn verlöre.“ (Kern: Entaktualisierung, S. 161 f.) 110 Ebd., S. 166. 111 Ebd., S. 162. 112 Vgl. z. B. II,21; II,35 und VI,69.
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die nur dort überliefert ist, müsse ursprünglich unbedingt einen aktuellen politischen Bezug gehabt haben […].113
Da also die Frage, welche der beiden handschriftlichen Werkfassungen der Autorversion näher komme und somit inhaltlich vorzuziehen sei, nicht endgültig geklärt werden kann, scheint mir ein eher pragmatisches Vorgehen bei der Wahl der Leithandschrift legitim zu sein. Dementsprechend lege ich als Hauptkriterium bei der Auswahl der Leithandschrift den Überlieferungsumfang zugrunde, wonach J (insgesamt 67 Sprüche im Vergleich zu 38 in C) klar der Vorzug einzuräumen ist. Auch Spechtler verfährt so, und zwar trotz der Tatsache, dass er in C die autornähere Fassung zu sehen scheint.114 Ausschlaggebend für den Vorzug von J als Leithandschrift sind für ihn neben der umfangreicheren Überlieferung speziell die in J enthaltenen Melodien.115 Ein weiterer Grund, der den Vorzug von J m. E. rechtfertigt, ist der Umstand, dass uns in J eine Liederhandschrift erhalten ist, die ihre Sammelintention vorrangig auf Sangsprüche richtet. J ist demnach als historische Dokumentation der Gattung Sangspruchdichtung zu sehen und insofern die Sangspruchhandschrift schlechthin.116 Ausgehend von der Wahl von J als Leithandschrift setze ich nun mit Blick auf die Anordnung der Sprüche innerhalb der Edition zwei Ordnungsebenen an: Zunächst werden die Sprüche gemäß ihrer Tonzugehörigkeit einander zugeordnet, d. h. alle diejenigen Sprüche, die z. B. das Metrum des ersten Tones aufweisen, werden im Kapitel zu Ton I gruppiert. Innerhalb dieses tönebasierten Ordnungsprinzips führe ich in einem zweiten Schritt die Sprüche gemäß ihrer Handschriftenzugehörigkeit auf, also in Ton I erst alle in J enthaltenen Sprüche und anschließend die unikal in C überlieferten. 113 Müller: politische Lyrik, S. 87. 114 Er schreibt dazu: „Für die Überlieferung aus dem Stauferkreis und dessen Nachfolger (Habsburger, Schweizer) war der politische Kontext als Aussage entscheidend wichtig; daher dürften diese Strophen dem Original näher stehen.“ (Spechtler: Strophen und Varianten, S. 501) In Spechtlers und Hans Waechters Aufsatz zur Psalmodie und Sangspruchlyrik aus dem Jahr 2000 hält Spechtler jedoch unmissverständlich fest: „Daher scheint es auch nicht gut begründbar, eine Ausgabe auf C aufzubauen, wie es Schönbach nach der Methode Lachmann getan hat. Denn die Unterschiede zwischen J und C sind erheblich, so dass wir heute keinen ,einzigen‘ Text ,herstellen‘ können. Vielmehr sind diese beiden Überlieferungen parallel nach dem Leithandschriftenprinzip darzustellen.“ (Spechtler/Waechter, S. 52) 115 Vgl. Spechtler: Bruder Wernher, Bd. II, S. VII f. sowie Spechtler: Strophen und Varianten, S. 500. 116 Vgl. dazu einführend Wachinger: Jenaer Liederhandschrift, Sp. 513–516; Gisela Kornrumpf bezeichnet J gar als „Kronzeuge“ (Kornrumpf, S. 79) für eine „dichte[n] Lied- bzw. Sangspruch-Tradierung“ (ebd.).
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Um diese Strophenzählung nicht unnötig zu verkomplizieren, sind alle edierten Sprüche von 1 bis 76 durchnummeriert, und zwar unabhängig von ihrer Ton- oder Handschriftenzugehörigkeit, die Zählung setzt also nicht mit jedem neuen Ton wieder bei 1. ein. Wird innerhalb des Fließtextes oder im Übersetzungsapparat auf einen Spruch verwiesen, liegt die neue, tönebasierte Strophenzählung zugrunde (z. B. I,12 = der zwölfte Spruch des ersten Tones). Versangaben werden, wie die Spruchnummerierung, in arabischen Ziffern genannt und durch Komma abgetrennt (z. B. I,12,5 = der fünfte Vers im zwölften Spruch des ersten Tones). Um gerade mit Blick auf die Forschungsliteratur Missverständnissen entgegenzuwirken und die Orientierung zu erleichtern, können in der Übersicht, die sich im Anschluss an das Sprücheverzeichnis befindet, sowohl die handschriftlichen Zählungen als auch die editorischen Zählungen nach Schönbach, von der Hagen und dem Repertorium der Sangsprüche und Meisterlieder im Vergleich zur Zählung der vorliegenden Arbeit eingesehen werden.117 Darüber hinaus ist die handschriftliche Zählung im Editionsteil jeweils im Anschluss an den Titel des Spruches in Klammern ergänzt. Und falls es sich bei einem Spruch zudem um ein Unikat oder um einen Nachtrag (oder beides) handelt, wird dies zusätzlich durch U bzw. N angezeigt. So steht z. B. bei I,12 hinter dem Titel (J12 N, U). Die in J nachgetragenen Sprüche werden übrigens gemäß ihrer Tonzugehörigkeit an den letzten handschriftlich „regulären“ Spruch eines Tones angehängt, so sind z. B. die Sprüche I,11–I,16 nachgetragen und entsprechen metrisch dem ersten Ton, sie sind dementsprechend an den in J letzten „regulären“ Spruch des ersten Tones (nämlich I,10) angehängt. Abschließend sei vor dem Hintergrund der Editionen von Anton E. Schönbach bzw. Friedrich Heinrich von der Hagen noch ein Wort zu der Frage nach einem Herausgeberapparat verloren. Der Grund für das Fehlen eines solchen in dieser Edition liegt darin, dass es mir schlicht wenig sinnvoll erscheint, gerade denjenigen Editionen eine Fläche zu bieten, deren Entstehung nicht nur bereits längere Zeit zurückliegt (von der Hagen 1838 bzw. Schönbach 1904/05) – was natürlich nicht unweigerlich ein Zeichen für mindere Qualität sein muss! –, sondern deren Editionsprinzipien kaum noch mit den heutigen editorischen Maßstäben gleichzusetzen sind, hierbei denke ich speziell an die Edition von Anton E. Schönbach. Indem eine Neuedition vorgelegt wird, geht es gerade darum, einen möglichst „unverbrauchten“ Blick auf das Werk Bruder Wernhers zu werfen. Dabei werden die bereits existieren-
117 Um sich ggf. innerhalb der Sekundärliteratur besser zurechtzufinden, sind die Strophenzählungen von Anton E. Schönbach und Friedrich Heinrich von der Hagen außerdem am rechten Rand der normalisierten Sprüche vermerkt.
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Methodisches Vorgehen
den Arbeiten bzw. deren Lesart natürlich zur Kenntnis genommen und dort, wo es mir sinnvoll erscheint, auch auf diese verwiesen, dennoch soll ihnen etwa in Form eines Herausgeberapparats nicht unnötig viel Platz eingeräumt werden.
Zum Lesartenapparat Im Gegensatz zur Herangehensweise der ,New Philologyʻ geht es mir nicht darum, jeder Variante denselben Stellenwert einzuräumen. M. E. gibt es durchaus unterschiedliche Arten der Varianz und diesem Umstand sollte innerhalb eines Lesartenapparats auch Rechnung getragen werden. So ist etwa eine Variante, die den Kontext verändert m. E. inhaltlich, d. h. für die Richtung, die ein Text nimmt, relevanter als etwa eine dialektale Variante, bei der z. B. alem. wan statt man steht. Einen wieder anderen Rang haben Varianten, die sich vorrangig auf metrischer Ebene auswirken (z. B. edele statt edel ). M. E. sollte vor dem Hintergrund dieser unterschiedlichen Ausprägungen explizit zwischen den einzelnen Varianten differenziert werden. Natürlich spielt hierbei auch immer das Interesse, mit welchem man sich einem Text bzw. dessen Varianten nähert, eine nicht unerhebliche Rolle. Mit Blick auf die Ausrichtung des Lesartenapparats gilt nun, dass dieser nur begrenzt phonologische, morphologische oder überhaupt regionale Varianten bewusst bereitstellt, sondern sich in erster Linie auf inhaltlich relevante Lesarten beschränkt. Der Apparat soll also vorrangig dazu dienen, inhaltliche Varianz der unterschiedlichen Überlieferungsträger sichtbar zu machen, regional bedingte Unterschiede in der Schreibung werden in der Regel nicht berücksichtigt. Parallel zu den inhaltlichen Varianten werden zum Schluss des Lesartenapparats in einer separaten Auflistung all diejenigen Varianten dokumentiert, die aufgrund von abweichender Silbenzahl in erster Linie aus metrischen Gründen bedeutsam sind. Für den Fall, dass eine solche metrische Variante bereits zuvor unter den inhaltlichen Lesarten aufgelistet ist, unterbleibt jedoch eine nochmalige Nennung. Der sogenannte metrische Apparat mag vielleicht einen eher zweitrangigen Stellenwert einnehmen und insofern entbehrlich sein, aufgrund der metrischen Unregelmäßigkeiten von J (in Wernhers Œuvre!) möchte ich jedoch die Möglichkeit bieten, den Lesartenapparat bei Bedarf auch in metrischer Hinsicht zu nutzen, um die Überlieferungsträger vergleichen zu können. Die Aufteilung zwischen inhaltlich und metrisch relevanten Lesarten birgt zwar die Gefahr, den Handschriftenapparat unnötig „aufzublasen“, dennoch
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halte ich dieses Vorgehen für sinnvoll, weil auf diese Weise Varianten in ihrer unterschiedlichen Wertigkeit differenziert werden können und dank dieser Staffelung zugleich eine relative Übersichtlichkeit über die Varianten gewonnen bzw. gewahrt werden kann. Zudem wird auch der Zugang bei der Arbeit mit Varianten dadurch erleichtert, dass sich der Benutzer, ist er z. B. speziell an inhaltlichen Unterschieden von J und C interessiert, gezielt auf einen Bereich des Apparats konzentrieren kann, ohne hier nochmals zwischen für ihn relevanten und nicht relevanten Lesarten unterscheiden zu müssen. Die Varianten werden diplomatisch gemäß ihrem Überlieferungsträger wiedergegeben, d. h. Abbreviaturen und Zeichenkombinationen werden nicht aufgelöst. Die Varianten stehen jeweils kursiv, alles andere recte. Zunächst wird die Position genannt, an der sich der betreffende Spruch im Œuvre (nicht in der Handschrift!) Bruder Wernhers befindet. Natürlich immer vorausgesetzt, es lassen sich hierzu zuverlässige Angaben machen. Bei fehlerhafter Strophenzählung der Handschrift wird in eckigen Klammern [ ] die korrekte Position genannt. So wurde etwa in C der Spruch, der auf C10 (Wan ſıht vıl dıke an ma̅ger ſtat dc wıb gewaltes pflıget) folgt – nämlich Man gıht dc níema̅ edel ſí –, in der handschriftlichen Nummerierung versehentlich nicht mit elf, sondern mit zwölf bezeichnet, was sich natürlich auf die nachfolgende Nummerierung ausgewirkt hat. Bei unikal in A oder C überlieferten Sprüchen wird im Anschluss an die Œuvreposition noch derjenige Spruch genannt, der dem Unikat vorausgeht und der ihm nachfolgt. Auf diese Weise soll gewährleistet werden, dass die unikalen A- bzw. C-Sprüche in den Strophenzusammenhang von J eingeordnet werden können. Würde man z. B. den unikal in C überlieferten Spruch V,66 (= C22) Als ıema̅ kvmt d vo̅ d ſtırmarke vert in das J-Œuvre einordnen wollen, müsste er zwischen V,64 (= C21) und V,62 (= C23) eingegliedert werden. Nach den Angaben zur Œuvreposition folgt eine Auflistung der Varianten, wobei zunächst die Versangabe steht (zur besseren Orientierung des Benutzers fett gedruckt), gefolgt von demjenigen Lexem der Leithandschrift, das z. B. in C variiert. Eine schließende eckige Klammer ] trennt dieses Lexem von der nachfolgenden Variante (z. B. I,3,3 der ] ir C.). Den Abschluss einer Variante bildet jeweils die Sigle des entsprechenden Überlieferungsträgers. Dort, wo nur eine Parallelüberlieferung belegt ist (nämlich C), wie es bei der Mehrzahl der Sprüche der Fall ist, bleibt die Sigle ausgespart. Ist eine Lesart in mehreren Handschriften identisch, wird sie gruppiert, wobei die Varianten bei Unterschieden in der Grafie durch Schrägstrich \ voneinander getrennt werden; anschließend folgen die Handschriftensiglen in der Reihenfolge der genannten Varianten (z. B. III,46,9 erwegen] bewege̅\bewegen CA.).
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Methodisches Vorgehen
Für den Fall, dass eine Variante zusätzliche Lexeme enthält, wird dasjenige Wort der Leithandschrift, das dem Zusatz unmittelbar vorausgeht, in runden Klammern ( ) angeführt, um zu veranschaulichen, an welcher Stelle das Lexem in der Parallelüberlieferung ergänzt wurde (z. B. I,5,3 (ſich) wol C.). Verse, die in diversen Punkten von J abweichen, werden der Verständlichkeit halber komplett aufgeführt. Unterscheidet sich ein Spruch in einer Vielzahl von Versen, wird er vollständig dokumentiert. Auf diese Art und Weise soll nicht nur die Benutzerfreundlichkeit des Lesartenapparats erhöht und somit die Arbeit mit unterschiedlichen Textfassungen erleichtert werden, sondern auch die bisweilen deutlicheren Unterschiede in den parallel überlieferten Fassungen sollen optisch kenntlich gemacht werden. Überall dort, wo Parallelüberlieferung vorliegt, wird zudem im Kommentar auf die divergierenden Fassungen hingewiesen und speziell inhaltlich relevante Unterschiede werden angeführt und diskutiert. Zuletzt sei noch darauf hingewiesen, dass im Lesartenapparat z. T. auch auf Sprüche verwiesen wird, die hier nicht in Form von Transliteration und Normalisierung editiert, sondern lediglich durch Varianten im Apparat vertreten sind (z. B. parallel in C überlieferte Sprüche). Diese Sprüche sind also nicht in die hier vorliegende editorische Zählung integriert und werden dementsprechend mit ihrer handschriftlichen Zählung bezeichnet (siehe z. B. im Lesartenapparat von II,25).
Zum Übersetzungsapparat Der Übersetzungsapparat folgt unmittelbar im Anschluss an den Lesartenapparat. Neben Übersetzungshilfen bzw. ‑alternativen liefert er Hinweise zu grammatikalischen oder syntaktischen Problemfällen und führt ggf. metrisch begründete Texteingriffe an. Liegen anderweitige Auffälligkeiten oder Unklarheiten vor, werden diese ebenfalls im Übersetzungsapparat erläutert. Ziel dieses Vorgehens ist es, dem Benutzer sämtliche Arbeitsschritte und getroffenen Entscheidungen so anschaulich wie möglich zu präsentieren. Auf diese Weise soll er die Möglichkeit haben, eigene Schlussfolgerungen mit meinen Erkenntnissen zu vergleichen und diese ggf. zu bestätigen bzw. zu verwerfen, so dass insgesamt eine noch intensivere Textarbeit ermöglicht wird. Für den Fall, dass im Übersetzungsapparat auf Grammatiken verwiesen oder aus der Forschungsliteratur zitiert wird, steht die literarische Angabe in Klammern unmittelbar hinter dem betreffenden Sachverhalt. Aus Formatierungsgründen und der Übersichtlichkeit wegen wird hier auf das Setzen von Fußnoten verzichtet.
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Die im Übersetzungsapparat genannten Wörterbücher wurden von mir vorrangig über das Onlineangebot der Universität Trier genutzt (vgl. Trier Center for Digital Humanities/Kompetenzzentrum für elektronische Erschließungsund Publikationsverfahren in den Geisteswissenschaften an der Universität Trier, www.woeterbuchnetz.de), die entsprechenden Homepageangaben finden sich im Literaturverzeichnis. In den Fällen, in denen aus einem OnlineWörterbuchartikel zitiert oder explizit auf diesen verwiesen wird, verzichte ich darauf, den zugehörigen Internet-Link anzugeben, sondern führe lediglich dasjenige Lemma an, aus dessen Artikel das Zitat bzw. die gewonnenen Informationen entnommen wurden. Handelt es sich um einen umfangreicheren Wörterbucheintrag, der in verschiedene Bedeutungen untergliedert ist, werden neben dem Lemma die Aufzählungszeichen des betreffenden Unterpunkts genannt, um sich ggf. innerhalb des Artikels schneller orientieren zu können.
Zur Übersetzung Bei der Übertragung eines mittelhochdeutschen Textes in das Neuhochdeutsche wird man nicht selten mit der Schwierigkeit konfrontiert, dass mittelhochdeutsche Ausdrücke im Neuhochdeutschen nicht mehr in der mittelhochdeutschen Weise verwendet werden und die Bedeutung somit spezialisiert oder generalisiert wurde. Oder aber das mittelhochdeutsche Lexem impliziert eine tiefgreifendere Bedeutung als der vermeintlich entsprechende neuhochdeutsche Begriff, klassische Beispiele sind etwa minne, triuwe, stæte. Darüber hinaus gibt es mittelhochdeutsche Wörter, die gegenwärtig überhaupt nicht mehr im Gebrauch sind und dem Editor beim Übersetzen z. T. eine gewisse Kreativität abverlangen (z. B. I,16,3 honegen oder III,55,6 ôrendriusel ). Grundsätzlich scheint es also unvermeidlich, dass der neuhochdeutsche Text aufgrund von Umschreibungen, die aus oben genannten Gründen erforderlich sind, „aufgebläht“ wird, und zwar selbst dann, wenn größtmögliche Nähe zum mittelhochdeutschen Text angestrebt wird. Da mein Vorgehen auch mit Blick auf die vorliegende Übersetzung möglichst transparent und nachvollziehbar erscheinen soll, enthält der neuhochdeutsche Text überall dort, wo ich es als erforderlich erachtet habe, Verständnis- bzw. Benutzerhilfen. Dementsprechend werden etwa Wörter, die nicht unmittelbar im mittelhochdeutschen Text stehen, sondern in der Übersetzung von mir ergänzt wurden, in runde Klammern ( ) gesetzt (vgl. z. B. Übersetzung zu I,1 oder I,7). Wird hingegen die neuhochdeutsche Entsprechung eines mittelhochdeutschen Wortes in der Übersetzung bewusst getilgt, zeige ich dies dadurch an, dass das betreffende Wort durchgestrichen ist (vgl. z. B. Übersetzung zu I,12).
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Kursivierung eines oder mehrerer Wörter deutet auf einen möglichen Terminus technicus hin, der im neuhochdeutschen Text unübersetzt stehen bleibt (vgl. z. B. Übersetzung zu II,30,3). Textstellen, bei denen eine endgültige Interpretation nicht möglich scheint, sind mit einem nachfolgenden Fragezeichen (?) versehen (vgl. z. B. Übersetzung zu I,10,11). Abschließend sei noch gesagt, dass in der Übersetzung bzw. im Übersetzungsapparat nicht explizit darauf hingewiesen wird, wenn ich in der neuhochdeutschen Übertragung aufgrund einer größeren Nähe zum heutigen Sprachgebrauch vom Numerus des mittelhochdeutschen Lexems abweiche, also Plural statt Singular wähle oder umgekehrt (z. B. II,29,1 nœten [Dat. Pl.] > ,Not‘ [Dat. Sg.]).
Zum Kommentar Der Kommentar führt neben der Übersetzung des jeweiligen Spruches eine inhaltliche Analyse an, der ggf. eine zeitgeschichtliche Einordnung des Spruches folgt. Die Auslegung des Inhalts ist jedoch lediglich als Interpretationsangebot zu verstehen, das vorrangig auf ein grundsätzliches Textverständnis ausgerichtet ist. Um bei Bedarf einen tieferen Einblick in die Einzeltextanalyse sowie mögliche Streitpunkte innerhalb der Forschung zu gewinnen, wurde versucht, am Schluss eines jeden Kommentars einen möglichst umfassenden Nachweis an bereits existierender Forschungsliteratur zu bieten.118 Es sei an dieser Stelle jedoch darauf hingewiesen, dass diejenigen Forschungsbeiträge, die noch in das letzte Viertel des 19. Jahrhunderts fallen, nur dann berücksichtigt wurden, wenn sie sich schwerpunktmäßig mit Bruder Wernher beschäftigen und auch in der übrigen Sekundärliteratur immer wieder Bezug auf sie genommen wird.119 Neben dieser unmittelbaren Auseinandersetzung mit dem Spruch nennt der Kommentar, falls dies möglich ist, auch Textstellen anderer Dichter oder 118 Hierbei ist zu beachten, dass sich eine Vielzahl von Forschungsbeiträgen an der Lesart von C orientiert, während sich der Kommentar meiner Arbeit vorrangig auf diejenige von J konzentriert. Ich weise bei den einzelnen Literaturhinweisen nicht explizit darauf hin, ob der Untersuchung J oder C zugrunde gelegt wird. 119 Dies gilt für die Arbeiten von Meyer (1866), Lamey (1880) und Doerks (1889). Auch die Ausgabe zu Reinmar von Zweter von Gustav Roethe (1887) blieb nicht unberücksichtigt. Karl Menge (1880) und Heinrich Drees (1887) hingegen wurden nicht zurate gezogen (vgl. Menge, Karl: Kaisertum und Kaiser bei den Minnesängern. Programm Köln 1880; Drees, Heinrich: Die politische Dichtung der deutschen Minnesinger seit Walther v. d. V. Programm Wernigerode 1887).
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Werke, die dem Spruch Wernhers inhaltlich nahekommen. Es sei jedoch ausdrücklich angemerkt, dass diese Querverweise weniger das Resultat einer gezielten und systematischen Suche bzw. Untersuchung anderer Œuvres (z. B. das Walthers von der Vogelweide) sind, sondern sich viel eher im Zuge der inhaltlichen Analyse der Sprüche und aufgrund von Hinweisen in der Forschungsliteratur ergeben haben. Die Liste der thematischen oder wörtlichen Parallelen ließe sich bei manchem Spruch demnach mit Sicherheit erweitern. Den Abschluss eines jeden Kommentars bildet schließlich– abgesehen von dem Literaturverzeichnis – eine Übersicht über mögliche metrische Besonderheiten. Auf diese Weise soll die Anwendung der metrischen Formel, die zu Beginn eines jeden Tones genannt wird, individuell für jeden Spruch transparent gemacht werden. Andere Editionen leisten dies z. T. durch Ikten oder Elisionspunkte, die ggf. direkt im eigentlichen Text eingefügt sind, oder auch durch Majuskel zur Kennzeichnung des Abgesangs. Ich habe mich bewusst gegen diese Methode entschieden, da ich den normalisierten Text weitgehend frei von zusätzlichen Angaben halten möchte, um eine unvoreingenommene, eigenständige Auseinandersetzung mit diesem zu ermöglichen. Immerhin lassen sich für den einen oder anderen unregelmäßigen Vers durchaus auch andere metrische Lösungen finden, als die von mir angebotene. Der Kommentar soll hier also lediglich als Hilfestellung oder Diskussionsgrundlage verstanden werden. Vor dem Hintergrund des ,Metrik‘-Unterkapitels bleibt noch ein Wort zu verlieren zur Frage nach Alternation: Wie im Kapitel zu den Tönen bereits angedeutet, lassen sich in J durchaus Tendenzen festmachen, die auf das Bemühen um Alternation hindeuten, das sich im Verlauf des 13. Jahrhunderts abzeichnet.120 Andererseits zeigen jedoch die mehrheitlich unregelmäßigen Verse, dass sich der regelmäßige Wechsel von Hebung und Senkung zur Entstehungszeit der Sprüche (1. Hälfte des 13. Jh.) zumindest schreibsprachlich noch nicht völlig etabliert hat. Ich versuche deswegen weitgehend darauf zu verzichten, entgegen dem handschriftlichen metrischen Befund Alternation durch Mittel wie Syn- oder Apokope herzustellen. Einzig im Falle eines Hiats elidiere ich grundsätzlich den aus- oder anlautenden Schwa-Laut.
120 Vgl. dazu Anm. 65.
Teil II: Text
Ton I In diesem Ton sind von den insgesamt 76 Sprüchen 16 in J (I,1–I,16) und ein unikaler in C (I,17) verfasst. Es handelt sich bei Ton I um eine klassische Kanzonenform, deren Stollen durch verschränkten Reim abc bac miteinander verbunden sind.121 Metrische Formel:122 Aufgesang: 4ma 4mb 7mc / 4mb 4ma 7mc // Abgesang: 4md 8ke 6md 8ke 8mf 9mf
121 Spechtler/Waechter sehen in Ton I klare Anklänge an die Gregorianik: „Die Bezüge zu den Psalmtönen sind, wie im Notenbeispiel dargestellt, eindeutig.“ (Spechtler/Waechter, S. 57) 122 Vgl. andererseits RSM 2,1, S. 303 (hier Ton IV). Zur Melodie vgl. Brunner: Spruchsang, S. 430, 486; Brunner: Töne, S. 54 f.; Taylor, S. 99 f.; Spechtler: Bruder Wernher, Bd. II, S. 3; Holz/Saran/Bernoulli, Bd. I, S. 12 f. und Bd. II, S. 2 f; Rettelbach, S. 86.
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Ton I, Korpus in J
Korpus in J 1. Uvır lan dıe phaffen ſyn vůr tan. (J1, U) Uvır lan dıe phaffen ſẏn / vůr tan. Wer lernet vns kríſte/líchez leben. Wer gıt vns wıb / tzv̊ rechter e̋. wer toufet vns dıe / kẏnt. Vver ſol vůr ſvnde vns bů/ze geben. 5 Wer ſol vns vz dem / banne lan. Wer wıſet vns ob wír / mít ſenden ougen werden blẏnt. / Vver helt nv ſtete rıtter ſcaft. / Sıt man nícht ſwert durch ſchẏr//men ſegent wıtwen vnde weẏſen. / Vwer gıt vns vnſes herren troſt wer / hat dıv kraft. 10 Daz er vns ſchẏrme / vůr engeſtlíchen vreẏſen. Vvır we/ren doch vůr ırret gar hete wır der / phaffen nıcht. Dıe valſchen lant ır / orden phlegen vnde habe wír mẏt / dem rechten [lebende phlıcht /
1. Uvır lan dıe phaffen ſyn vu˚r tan.
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Wir lân die phaffen sîn vertân – HMS 3: I,1 Sch 42 wer lernet uns kristelîchez leben? wer gît uns wîp ze rehter ê? wer toufet uns diu kint? wer sol vür sünde uns buoze geben? 5 wer sol uns ûz dem banne lân? wer wîset uns, ob wir mit sênden ougen werden blint? wer helt nû stæte ritterschaft, sît man niht swert durch schirmen segent witwen unde weisen? wer gît uns unsers hêrren trôst? wer hât die kraft, 10 daz er uns schirme vür engestlîchen vreisen? wir wæren doch verirret gar, hæte wir der phaffen niht. die valschen lât ir orden phlegen, unde habe wir mit dem rehten [lebende phliht. 1J 1 vertuon: hier ,dahin sein, weg sein‘ 3 wîp: Die Form lässt sowohl Sg. als auch Pl. zu. Ich gehe davon aus, dass analog zu diu kint (V. 3) auch wîp im Pl. steht. 9 die kraft: Die hsl. Form dıv kraft entspricht dem Nom. Sg. Fem., was hier jedoch keinen Sinn ergibt. Ich gehe davon aus, dass die hsl. Form des best. Art. dıv auf den hsl. unsystematischen, parallelen Gebrauch von diu und die zurückgeht. 11 verirren: ,in die Irre führen, irre machen; sich verirren, verfehlen gegen; irre werden, sich irren, verirren‘, ich übersetze freier ,verloren‘ 12 lât: Ich gehe bei hsl. lant von der mundartlichen Form der 2. Pl. aus (vgl. Mhd. Gram., § M 70 Anm. 8). (ir ) orden: Schönbach überlegt, welcher Orden hier gemeint sein könnte, kommt aber – wie ich finde nicht zu Unrecht – zu dem Schluss, dass „ordo hier einen weiteren Sinn haben muß“ (Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 12). Er schlussfolgert: „Auch matrimonium ist ein ordo, es könnten daher unter den falschen Geistlichen hier die gemeint sein, welche im Konkubinat leben.“ (ebd.) Ich bin unsicher, ob diese Deutung nicht etwas zu weit geht. Kann ordo hier nicht freier zu verstehen sein? Also weniger auf einen konkreten Orden oder etwas Vergleichbares bezogen, sondern allgemeiner ,das Gesetz, unter dem jemand steht, seine Eigenschaft, Art und Weise‘, also ,Regeln, Prinzipien, Vorstellungen‘? Ich übersetze in diesem Sinne. phlegen: hier mit Akk. (ir orden) ,betreiben, üben, tun‘, freier ,(nach ihren Regeln) leben‘ phliht: hier ,Verbindung, Gemeinschaft‘ oder freier ,Umgang‘ mit dem rehten lebende phliht: In der hsl. Version ist lebende Attr. zu phliht, was dann etwa ,mit dem Aufrichtigen in reger Gemeinschaft‘ hieße. Wäre es möglich, dass sich hsl. ein Fehler eingeschlichen hat und es eigentlich mit dem rehte lebenden phliht heißen soll? Also: ,in Gemeinschaft mit demjenigen, der aufrichtig lebt‘? Ich bleibe bei der hsl. Lesart, halte eine Verschreibung jedoch nicht für ausgeschlossen. Schönbach ändert den hsl. Befund ab in und habe wir mit den rehte
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lebenden phliht (Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 9). Gerdes folgt ihm in dieser Lesart (vgl. Gerdes: Beiträge, S. 139). haben: Ich deute den Modus der hsl. Form als Konj.
1. Uvır lan dıe phaffen ſyn vu˚r tan.
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Übersetzung Angenommen, wir lassen die Geistlichen dahin sein – wer bringt uns (dann) christliches Leben bei? Wer gibt uns die Frauen zu rechtmäßiger Ehe? Wer tauft uns die Kinder? Wer soll uns für Sünde Buße auferlegen? 5 Wer soll uns von dem Bann befreien? Wer führt uns, wenn wir mit sehenden Augen erblinden? Wer bewahrt jetzt beständiges ritterliches Leben, nachdem man die Schwerter nicht (mehr) um des Schutzes der Witwen und [Waisen willen einsegnet? Wer schenkt uns den Trost unseres Herrn? Wer hat die Macht, 10 uns vor beängstigenden Gefahren zu schützen? Wir wären doch ganz und gar verloren, wenn wir die Geistlichen nicht hätten. Lasst die Unaufrichtigen (nach) ihren Regeln leben und wir mögen mit dem [Aufrichtigen regen Umgang haben.
Inhalt Der Spruch behandelt die Frage nach der Notwendigkeit der Geistlichkeit für die christliche Glaubensgemeinschaft.123 Dabei geht Bruder Wernher dergestalt vor, dass er den Spruch mit einer Reihe von Überlegungen (vgl. V. 2–10) füllt, alle in Form von mehr oder weniger rhetorischen Fragen, die aufgrund des einleitenden Verses Wir lân die phaffen sîn vertân als rein hypothetisch zu verstehen sind. Anhand diverser Beispiele wird eine Art „Aufgabenkatalog“ eines Geistlichen (nämlich das Spenden der sieben Sakramente) präsentiert, der etwa die Unterweisung zur christlichen Lebensweise (vgl. V. 2), Eheschließung und Taufe (vgl. V. 3), die Auferlegung von Bußübungen (vgl. V. 4) oder das Einsegnen der Schwerter (vgl. V. 8) beinhaltet.124 Neben der inhaltlichen Ausrichtung werden die Verse 2 bis 10 auch durch ihren parallelen Aufbau (Frageform, Anapher wer [z. T. zusammen mit gît bzw. sol]) als zusammengehörig gekennzeichnet. Strophenein- (V. 1) und ‑ausgang (V. 11 f.) bilden eine Art Klammer, und zwar nicht nur inhaltlich, sondern auch formal, indem sie nicht analog zu den Versen 2 bis 10 gebaut sind. Interessanterweise gehen die Schlussverse 11 und 12 über die zuvor in Vers 2 bis 10 geäußerten Fragen wortlos hinweg und
123 IV,57 beschäftigt sich mit einer ähnlichen Thematik. 124 Vgl. zu den Sakramenten Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 9 f.
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speziell Vers 11 knüpft stattdessen direkt an die in Vers 1 formulierte Überlegung an, indem er sie beantwortet: ,Angenommen, wir lassen die Geistlichen dahin sein – wir wären doch ganz und gar verloren, wenn wir die Geistlichen nicht hätten.‘ Der Mittelteil (V. 2–10) ist im Grunde nicht notwendig, die Verse 1, 11 und 12 sind auch unabhängig davon verständlich. Vers 2 bis 10 dient wiederum zur Veranschaulichung und Untermauerung der in Vers 1, 11 und 12 formulierten These. Durch die Aufzählung der sieben Sakramente soll unmissverständlich unterstrichen werden, dass die phaffen ihre Berechtigung haben und gebraucht werden. Und indem zur Aufzählung der geistlichen Aufgaben die Frageform gewählt wird, erhält der Spruch einen dialogischen und zugleich eindringlichen Duktus. Zuletzt ist noch ein Blick auf das sprechende Ich zu werfen. Es fällt auf, dass es keinen Satz gibt, der nicht das Pronomen wir (vgl. V. 1, 6, 11, 12) bzw. uns (vgl. V. 2–10) enthält. Das Sprecher-Ich zählt sich also ausdrücklich zur christlichen Glaubensgemeinschaft und somit auch zum Adressatenkreis des Spruches. Auf diese Weise wird ein Wir-Gefühl geschaffen, durch das der vortragende (vermutlich fahrende) Dichter propagiert, Teil des Kollektivs zu sein, also auch Teil der Lebenswelt seines adligen Publikums. Zum Abschluss des Spruches ändert sich die Rolle des Sprechers jedoch leicht: Obgleich das Ich nach wie vor Teil des Kollektivs ist (vgl. wir ), nimmt es durch den Aufforderungssatz in Vers 12 eine beratende Position ein. Es leitet den Rest der Gemeinschaft an, indem es verkündet, wie man am besten gegenüber Geistlichen handeln solle und dass eben durchaus zwischen valschen und rehten zu unterscheiden sei. Hier scheint evtl. Bruder Wernhers persönliche Haltung durch: Wie bereits Udo Gerdes festgestellt hat, ist Wernhers Ermahnung zur kritischen Differenzierung von valschen und rehten Geistlichen wohl nicht als Befürwortung eines Laienpriestertums zu sehen, wie es etwa im Rahmen der Waldenser- oder Katharerbewegung propagiert wird.125 Tatsächlich lässt I,1 trotz des möglichen Fehlverhaltens und der schlechten Lebensführung mancher Geistlicher keinen Zweifel aufkommen an der „Untentbehrlichkeit der katholischen Gnaden- und Unterweisungsmittel“126. I,1 ist also im Sinne der Kirche formuliert. Interessanterweise geht die hier implizierte Vorstellung, die Würdigkeit eines Geistlichen hinge von dessen Lebenswandel ab, jedoch nicht mit der Ansicht der Kirche konform, wie Schönbach, und nach ihm Gerdes, festgestellt hat.127 Für die Kirche besteht zwischen priesterlichem Amt und Lebensweise des Amtsträgers keine Wechsel-
125 Vgl. Gerdes: Beiträge, S. 139–141. 126 Ebd., S. 140. 127 Vgl. Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 9; Gerdes: Beiträge, S. 139 f.
1. Uvır lan dıe phaffen ſyn vu˚r tan.
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wirkung; vielmehr ist die Anerkennung der Kirchenvertreter durch die Gläubigen unabhängig von der Person der Geistlichen zu sehen.
Historischer Hintergrund Anton E. Schönbach hat ausgehend von den Versen 5 (v. a. banne) und 7 f. (v. a. nû zusammen mit dem Ende der Schwerteinsegnung) eine historische Einordnung und Datierung vorgenommen, wonach der Spruch „etwa 1240 oder bald darnach anzusetzen“128 sei. Er geht dabei zunächst von nû in Vers 7 aus, das „das einzige Moment des Spruches [ist], das möglicherweise dazu führen kann, die Zeit seiner Abfassung zu begrenzen“129, und überträgt dies auf Vers 5, in dem vom banne die Rede ist. Darauf aufbauend diskutiert er v. a. die beiden Bannungen, die über Kaiser Friedrich II. verhängt wurden,130 und bringt andererseits die diversen kirchlichen und weltlichen Großen131 ins Spiel, die von Albert Behaim, dem päpstlichen Legaten, seit 1240 übereifrig gebannt wurden, weil sie seines Erachtens den Bann, der 1239 zum zweiten Mal über den Kaiser verhängt worden war, nicht ausreichend genug kommunizierten.132 Schönbach schließt einen direkten Bezug auf die kaiserliche Bannung 1227 bzw. 1239 aus und bezieht den Spruch vielmehr auf eben jenen Bann, den Albert Behaim ab 1240 über die Fürsten und Städte verhängt,133 weil dieser Bann „eben die Länder der Herren betroffen hat, in denen Bruder Wernher sich während seines Lebens zumeist aufhielt“134. Hans Vetter hat dies bestätigt und glaubt ebenfalls, dass der Spruch „in die periode um die jahre 1240– 1241“135 zu datieren ist. Ferdinand Lamey hingegen setzt vier Jahre später an und sieht die Zeitspanne „nach der Absetzung Kaiser Friedrichs […] am 17. Juli 1245 […], jedoch vor der Königswahl Heinrich Raspos am 22. Mai 1246“136 als Entstehungszeitraum des Spruches. 128 Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 12. 129 Ebd., S. 11. 130 1. Bann: 29. September 1227 bis 28. August 1230, 2. Bann: 20. März 1239 bis zu Kaiser Friedrichs II. Tod am 13. Dezember 1250. 131 Schönbach nennt hier die Erzbischöfe von Mainz und Salzburg, die Bischöfe von Passau, Regensburg und Freising, den Herzog von Österreich, den Landgrafen von Thüringen sowie den Markgrafen von Meißen (vgl. ebd.). 132 Vgl. ebd. Vgl. auch Gebhardt, Bd. 6, S. 267. 133 Vgl. Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 11 f. 134 Ebd., S. 12 135 Vetter, S. 255. 136 Lamey, S. 32. Vor Lamey hat bereits von der Hagen über eine ähnliche Datierung nachgedacht (vgl. HMS 4, S. 518).
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Es mag zwar richtig sein, dass der Hinweis auf einen Bann theoretisch immer auch eine betroffene Person und insofern auch ein konkretes historisches Ereignis impliziert, weil die Bannung eines Herrschers schlicht keine Alltäglichkeit im Mittelalter war. Dennoch erscheint es mir zum einen etwas riskant, die gesamte Datierung allein von nû (V. 7) abhängig zu machen, das doch nicht selten schlicht aufgrund seiner Einsilbigkeit eingesetzt wird, um den Vers metrisch zu füllen. Zum anderen halte ich die zeitgeschichtliche Einordnung auch deswegen für fraglich, weil ja gerade die Verse 2 bis 10 dank des Eingangsverses bewusst als hypothetisch charakterisiert werden. Geht die historische (Um-)Deutung Schönbachs, Vetters und Lameys also nicht etwas zu weit? Zudem beinhaltet der Katalog in Vers 2 bis 10 typisch geistliche Aufgaben, zu denen eben unter anderem auch das Lösen von dem Bann gehört. Dies muss also nicht notwendigerweise bedeuten, dass Wernher dabei an eine konkrete gebannte Person gedacht hat.
Inhaltliche Ähnlichkeit mit anderen Texten vgl. zu Vers 12 (valsche und rehte): Walther L 10,17 (hier V. 6 f.): die rehten pfaffen warne, daz si niht gehœren dén unréhten die daz rîche wænent stœren, (Schweikle: Walther, Bd. 1, S. 220)
Metrik A A A A 5 A A A A A 10 A A A
4ma 4 2m b 7mc 4 2m b 4ma 7mc 4md 8ke 6md 8ke 8mf 9mf
wer lérnet uns krístelchez lében? sündẹ
daz ér uns schírmè vür éngestlchèn vréisèn? wir wǽ ren dóch verírret gár, hǽte wír der pháffen níht: die válschen lât́ ir órden phlégen, undẹ hábe wir mít dem réhten [lébende phlíht.
1. Uvır lan dıe phaffen ſyn vu˚r tan.
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Literatur Doerks, S. 9 • Dorninger, S. 28 • Edwards, S. 307 • Gent, S. 157 • Gerdes: Beiträge, S. 80, 131 und Anm. 3, 139–141, 175, 179 und Anm. 7, 181 und Anm. 8 und 10 • HMS 4, S. 518 • Kemetmüller, S. 35 f., 57 f., 59, 62, 67, 89, 225 • Lamey, S. 5, 8, 11, 32, 38 • Meyer, S. 79 • Roethe, S. 305, 309 • Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 8–12, 16 • Spechtler/Waechter, S. 58 • Vetter, S. 255 • Yao, S. 76.
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Ton I, Korpus in J
2. DEr ban vnde echte ſẏnt eẏn tot. (J2, U) DEr ban vnde echte ſẏnt eẏn / tot. Des lıbes vnde der ſele / gar. Swer mít den tzwen geſchul/den hín vůr recht gerıchte kv̊met / Des nemet ır hoen edelen war. 5 ge/denket an dıe ſelben not. Jch wene / dıe krvmmen recht vnde ır ge/walt daṛ lutzel vrv̊met Des lẏ/bes ırge eín ende hat. Tzv̊ hant // ſo man dıe echte of ín mít gantzer / volge brínget Dıv ſele vůr dem ban/ne ín grozen ruwen ſtat. 10 Swen ſíe / der helle ſchẏrge hín vůr ſẏnen meí/ſter twínget Scaffe ez eẏn ızlıch bı/derbe man daz er der ſorge werde / vrẏ. Swer von den banne ẏn dıe / echte kv̊met daz ıſt nícht gůt vn̅ / wonet keẏn [ſelde bẏ. /
1 versehentlich (?) E-Majuskel bei Der
2. DEr ban vnde echte ſy˙nt ey˙n tot.
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HMS 3: I,2 Der ban unde æhte sint ein tôt Sch 43 des lîbes unde der sêle gar, swer mit den zwein geschulden hin vür reht gerihte kumet. des nemet ir hôen edelen war: 5 gedenket an die selben nôt, ich wæne, diu krumben reht unde ir gewalt dâ lützel vrumet. des lîbes erge ein ende hât, zehant sô man die æhte ûf in mit ganzer volge bringet. diu sêle vür den ban in grôzen riuwen stât, 10 swen sie der hellescherge hin vür sînen meister twinget. schaffe ez ein ieslich biderbe man, daz er der sorge werde vrî. swer von dem banne in die æhte kumet – daz ist niht guot unt wonet [keiniu sælde bî.
2J 3 zwei: Die hsl. Form tzwen ist charakteristisch für das Md. (vgl. Mhd. Gram., § M 60 Anm. 1). Da die beiden Bezugswörter ban und æhte nicht im Genus übereinstimmen, steht normal. die neutrale Form (vgl. Mhd. Gram., § S 137, 2. a)). reht gerihte: wohl idiomatisch für das Jüngste Gericht 6 lützel vrumet: Litotes 7 erge: in J hyperkorrigiert zu ırge, ,Schlechtigkeit, Verderbtheit, Bosheit‘ 8 mit ganzer volge: Anton E. Schönbach sieht hierin einen „Terminus der Rechtsprache“ (Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 15) und ist der Ansicht, dass „die Acht […] bereits zur Rechtskraft erwachsen [ist] und vollzogen [wird]“ (ebd.). Zwar führt das DWB als Bedeutungen einerseits „besonders beim gerichtlichen urtheil, dem folge gethan, gegeben werden muosz“ (DWB Folge 2)) an, andererseits „als die abstracte befolgung, der gehorsam […] folge thun, geben, leisten heiszt dem gebot gehorchen, es vollziehen, vollstrecken“ (DWB Folge 3)); aber die Auslegung hängt im vorliegenden Falle m. E. weniger von mit ganzer volge als vielmehr von bringen ûf in ab. Das Verb bringen steht, laut BMZ, in der Bedeutung ,vollbringen‘, wie sie Schönbach vorzieht, in der Regel ohne Präp. (vgl. BMZ bringen 2.). Da bringen hier jedoch die Präp. ûf zusammen mit dem Akk. d. P. in aufweist, ist m. E. eher von ,auf ihn bringen, verhängen über ihn‘ auszugehen. 9 vür: mit Akk. (den ban), im Md. auch mit Dat. (hsl. dem banne), hier mit kausaler Bedeutung ,wegen, aufgrund, angesichts‘ riuwe: Ist tatsächlich ,Reue‘ gemeint oder allgemeiner ,Kummer‘? 10 hellescherge: in J hyperkorrigiert zu ‑ſchẏrge, ,Höllenscherge, Teufel‘, hier ,Höllenknecht‘ 11 man: sowohl ,Mann‘ als auch allgemein ,Mensch‘ möglich 12 von: Ich ändere hsl. den zu dem, da von regulär mit Dat. steht. Ist hier der Bann als Ausgangspunkt zu sehen, von also tatsächlich mit ,von‘ zu übersetzen? Oder drückt von vielmehr eine kausale Bedeutung aus (,durch/wegen/aufgrund des Bannes‘)? Da nicht der Bann die Ursache ist, weswegen eine Person in die Acht getan wird, sondern deren Verhalten, nachdem der Bann über sie verhängt wurde, verstehe ich von nicht kausal, sondern als Ausgangspunkt im Sinne einer Chronologie der Ereignisse: Auf Bann folgt Acht.
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Ton I, Korpus in J
Übersetzung Der Bann und die Reichsacht bedeuten ganz und gar den Tod des Körpers und der Seele, für jeden, der mit (dieser) zweifachen Schuld hin vor das Jüngste Gericht [kommt. Vernehmt dies, ihr hohen Vornehmen: 5 Denkt an eben diese Bedrängnis, ich glaube, weder das gebeugte Recht noch dessen Herrschaft nützen dort [etwas. Die Verderbtheit des Körpers hat ein Ende, sobald man ihn mit aller Konsequenz in die Reichsacht tut. Die Seele empfindet angesichts des Bannes große Reue, 10 wann auch immer sie der Höllenknecht hin vor seinen Meister zerrt. Ein jeder rechtschaffene Mensch möge dafür sorgen, dass er frei von Kummer [werde. Wer auch immer von dem Bann in die die Reichsacht kommt – das ist weder gut [noch geht damit Glück einher.
Inhalt Im Mittelpunkt stehen hier Bann und Reichsacht und deren schädliche Folgen für Körper und Seele.137 Um eine größere Wirkung zu erzielen, ist der Spruch in einzelne argumentative Abschnitte gegliedert, die auf einander aufbauen und sich gegenseitig stützen. Den Anfang machen die Verse 1 bis 3, in denen eine Tatsache präsentiert bzw. festgelegt wird, nämlich dass Bann und Acht für Körper und Seele den Tod bedeuten. Diese Äußerung ist so allgemein, dass ihr wohl kaum widersprochen werden wird, so dass die Zustimmung des Publikums bereits zu Beginn gesichert ist.138 Nachdem nun das Thema des Spruches vorgegeben ist, wird in den Versen 4 und 5 die Thematik auf einen speziellen Adressatenkreis
137 Durch den Bann wird der Mensch (die Seele) aus der Glaubensgemeinschaft ausgeschlossen und bewusst isoliert. Dies bedeutet in erster Linie, dass er aufgrund der Bannung bestimmte Rechte innerhalb der Kirche nicht mehr in Anspruch nehmen kann. So hat der Gebannte z. B. keine Möglichkeit, die Sakramente zu empfangen. Auf den Bann folgt die Reichsacht. Während der Bann eine Bestrafung auf religiöser Ebene ist, hat die Acht v. a. weltliche Konsequenzen, indem der Geächtete etwa in politischer oder ökonomischer Hinsicht ruiniert wird. Im äußersten Fall bezahlt er gar durch seine Hinrichtung mit dem Leben. 138 Zum argumentativen Strophenaufbau vgl. allgemein Baltzer, S. 119–139.
2. DEr ban vnde echte ſy˙nt ey˙n tot.
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eingegrenzt (hôe edele), indem dieser mit warnendem Unterton apostrophiert wird. In Vers 6 tritt hinter dieser Ermahnung endlich das sprechende Ich hervor – dies bleibt jedoch die einzige Stelle innerhalb der Strophe – und schließt, ohne dass dabei die Anrede an die hôen edelen unmittelbar im Text fortgesetzt würde, an die Mahnung in Vers 4 f. an: krumbiu reht unde ir gewalt nützen nichts gegen Bann und Acht, durch sie wird beides vielmehr erst hervorgerufen! Das Ich benennt hier also konkret (krumbiu reht unde ir gewalt), worauf sich die Warnung bezieht. Interessant ist die Gegenüberstellung von irdischem und jenseitigem Recht (vgl. V. 3 reht geriht und V. 6 diu krumben reht unde ir gewalt) und deren Hierachisierung: Das göttliche Recht steht in jedem Fall über dem weltlichen, und zwar unabhängig davon, ob Letzteres krump oder unvoreingenommen ist. Gott ist und bleibt also der oberste Richter aller Menschen – auch derjenigen, die auf Erden selbst Recht sprechen. Nachdem Thema und Adressat genannt sind, veranschaulicht bzw. bestätigt Vers 7 bis 10 nun die eingangs formulierte Tatsache, indem nochmals etwas konkreter gesagt wird, was einerseits mit dem Körper geschieht, sobald er in die Acht getan wurde (vgl. V. 7 f.), und wie es andererseits der Seele ergeht, nachdem der Bann erfolgt ist (vgl. V. 9 f.).139 Ähnlich wie in Vers 1 f. werden auch hier die Wortpaare140 ban unde æhte und lîp unde sêle einander zugeordnet. Auf diese exemplarische Veranschaulichung und Bestätigung der Tatsachen aus Vers 1 f. folgt in den beiden Schlussversen ein abschließender Ratschlag141, der dank der zuvor geschickt gegliederten „Argumentationskette“ nicht mehr viel Raum benötigt, ein einzelner Vers genügt (V. 11: schaffe ez ein ieslich biderbe man, daz er der sorge werde vrî.). Abgerundet wird der Spruch schließlich durch eine allgemeine Sentenz, die kaum zu bestreiten ist und somit von ihrer Ausrichtung her einen Bogen zurück zum Strophenanfang schlägt. Zugleich impliziert aber auch sie erneut eine Mahnung daran, den Rat aus Vers 11 ernst zu nehmen, denn Bann und Reichsacht ist niht guot unt wonet keiniu sælde bî (V. 12). Das Sprecher-Ich tritt hier selbstbewusst auf, wenngleich es sich selbst nur an einer Stelle persönlich einbringt (vgl. V. 6). Es spricht sich nicht nur 139 Tatsächlich ist die Reihenfolge eine andere: Zunächst wird der Bann ausgesprochen, danach folgt die Acht. Die Verse 7 bis 10 sind somit nicht als Chronologie der Ereignisse zu sehen. 140 Bruder Wernher scheint eine Vorliebe für den jedoch in Minnesang und Sangspruchdichtung nicht ungewöhnlichen Gebrauch von Wortpaaren zu haben, wie Ferdinand Lamey festgestellt und mit Beispielen belegt hat (vgl. Lamey, S. 8). 141 Mit Blick auf den Konj. Präs. von schaffe (V. 11) kann nicht sicher gesagt werden, ob hier ein Wunsch oder ein Befehl bezeichnet werden soll (vgl. Mhd. Gram., § S 19): „Die Funktion der 3. Pers. des Imperativs erfüllt der Konj. Präs.“ (Mhd. Gram., § S 15).
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das Recht zu, über eine bestimmte Personengruppe zu urteilen, die aufgrund ihres rechtswidrigen Verhaltens indirekt von der angemessen lebenden Mehrheit separiert wird, sondern zugleich nimmt es die Rolle des Ratgebers ein, der sich dank seines Wissens in der Lage sieht, die Menschen zu einer besseren Lebensweise anzuleiten.
Historischer Hintergrund Datierungsvorschläge wurden zahlreich unternommen: Angefangen mit Karl Meyer, der den Spruch im Jahr „1232 oder 1234“142 entstanden wissen will und den Spruch somit auf das Ende König Heinrichs (VII.) bezieht, und Henry Doerks, der Meyers Datierung folgt und ebenfalls „die Absetzung Heinrichs“143 in den Jahren „1232–35“144 im Blick hat. Anders ordnet Ferdinand Lamey den Spruch ein, nämlich – analog zu I,1 – in den Zeitraum von 1245 bis 1246.145 Anton E. Schönbach schließlich deutet auch diese Strophe wie I,1 auf „die Verkündigung des päpstlichen Bannes für die süddeutschen Reichsfürsten durch Albert Beham“146, also auf „Ostern 1240“147. Ähnlich wie für den vorausgegangenen Spruch I,1 erscheint es mir hier müßig eine konkretere Datierung vornehmen zu wollen, da der Inhalt dafür m. E. nicht genug Greifbares liefert. Es ist von Bann und Reichsacht die Rede und von einer Zeit, in der durch hôe[n] edele[n] (V. 4) krumb[iu] reht unde ir gewalt (V. 6) vorherrschen, aber diese Umstände treffen letztlich auf sämtliche oben vorgeschlagenen Zeiträume zu.
Inhaltliche Ähnlichkeit mit anderen Texten vgl. zu Vers 1 f.: Walther L 9,16 (hier V. 12): lp und sêle lag dâ tôt. (Schweikle: Walther, Bd. 1, S. 78) vgl. zu Vers 5: Walther L 37,4 (hier V. 1): Sünder, du solt an die grôzen nôt gedenken, (Schweikle: Walther, Bd. 1, S. 204) 142 143 144 145 146 147
Meyer, S. 92. Doerks, S. 7 Ebd. Vgl. Lamey, S. 32. Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 16. Ebd.
2. DEr ban vnde echte ſy˙nt ey˙n tot.
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vgl. zu Vers 6: Walther L 85,25 (hier V. 7): nû krumb die rihter sint: (Schweikle: Walther, Bd. 1, S. 316) vgl. zu Vers 11: Walther L 117,36 (hier V. 2): gar an allen sorgen frî, (Schweikle: Walther, Bd. 2, S. 132) vgl. zu Vers 12: Walther L 34,24 (hier V. 3): dâ wonet ein sælic geist und gotes minne bî. (Schweikle: Walther, Bd. 1, S. 172)
Metrik A A A A 5 A A A A A 10 A A A
4ma 4mb 7 2m c 4mb 4ma 7 2m c 4md 8ke 6md 8ke 8mf 9mf
undẹ des lbes únde der sele gár des német ir hoen édelen war: ich wǽne, diu krúmben réht undẹ ír gewált dâ ltzel vrúmet. ergẹ æhtẹ
schaffẹ éz ein íeslich bidérbe mán, daz ér der sórge wérde vr. swer vón dem bánnẹ in dịẹ ǽ hte kúmet – daz íst niht gúot unt wónẹt [keiniu sǽlde b.
Literatur Doerks, S. 7 • Edwards, S. 307 • Gerdes: Beiträge, S. 33 und Anm. 2, 56 und Anm. 5, 117 Anm. 1, 151 Anm. 1, 174 und Anm. 5, 176 und Anm. 3, 179 und Anm. 4, 181 und Anm. 3 • Kemetmüller, S. 57, 58 f., 60, 62, 225 • Lamey, S. 8, 32, 37, 38 • Meyer, S. 91 f. • Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 12–16 • Scholz: Reichsidee, S. 196 • Vetter, S. 255.
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3. Owe der werlde werdıcheít. (J3) Owe der werlde werdıcheít. / dıu (?) nẏmpt an manígen / tugenden abe. Man ſıcht der tru/ren vıl. Dıe wol tzv̊ vreuden ſínt / geſtalt Mıt lıbe vnde ouch an rı/cher habe. 5 Mıt wıllen ſvnder hert/ze leıt. Dıe ſelben hat betwngen / des dıv ſchande vnde ır gewalt. / Daz ſıe ſıch rechtes haben bewe/gen. Dıe man da heızet werde dıet (ır) / truw̅ e. tzucht. vnd ere Ir hoer mv̊t / ıſt leıder vıl nach níder gelegen. / 10 Swa daz geſcıcht daz haz ıch an / den edelen rıchen ſere Vvaz ſol eín / trozzen des man nícht vůr ſvnde / vnde ouch vůr ere phlıget. Waz / ſol eín gůt daz wıder lıb noch ſele / en vreuwet noch ſchanden ane [geſẏ/get /
2 auch dın möglich
8 ır marginal nachgetragen
3. Owe der werlde werdıcheít.
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Ôwê, der werlde werdecheit! HMS 2: IV,4 Sch 25 diu nimt an manegen tugenden abe! man siht der trûren vil, die wol ze vreuden sint gestalt mit lîbe unde ouch an rîcher habe, 5 mit willen, sunder herzeleit. die selben hât betwungen des diu schande unde ir gewalt, daz sie sich rehtes habent bewegen, die man dâ heizet werde diet, ir triuwe, zuht und êre. ir hôer muot ist leider vil nâch nider gelegen. 10 swâ daz geschiht, daz haz ich an den edelen rîchen sêre. waz sol ein strozzen, des man niht vür sünde unde ouch vür êre phliget? waz sol ein guot, daz weder lîp noch sêle envreuwet noch schanden ane [gesiget? 3 J, 24 [23] C, 2 T 1 So we dır wlt dín wdekeít C. 2 nimt] bırt T. tugenden] dıngen T. fehlt T. 4 mit] an CT. 5 mit willen] an íugent T. 2 ma̅gen C.
3 der] ír C. der truren
4 vn̅\und CT. 6 vn̅\und CT.
7–12 in C dc ſı deſ rehte̅ hant vpflege̅· dc ma̅ / da heıſſet wduͥ fuͦre truͤwe zuht vn̅ ere· / d beſte̅ froͤıde ıſt leıd nv vıl nah gelege̅· 10 ſwa / dc beſchıht dc mvͤt mıch an dıe rıche̅ edeln / ſere· wc ſol eın trure̅ dc man nıht vuͥr ſv̍n/de vn̅ oͮ ch vmb ere pflıget· wc ſol eín gvͦt / dc wed lıb noh ſele froͤıt noch ſchande̅ an / geſıget· / 7–12 in T daz ſí níht / gantzer frevden phlegen vnd daz man / heızzet werdív fvͦre ín trıwen zvht vnd / ere. hoher mvͦt der mılde ıſt leıder gar / gelegn. 10 ſwa daz geſcht daz chlag ıch an. (?) / den edeln rıchen ſere waz ſol eín trovren / dez man níht fvͦr ſvnde noch vmbe phlí/get. waz ſol eın guͦt daz weder leıb / noch ſele frewet noch ſchanden an ge/ſıget. 7 Reimpunkt nach phlegen fehlt 10 Punkt nach an nur schwach erkennbar, Tinte verblasst; Reimpunkt nach ſere fehlt 5 mit willen: feste Wendung ,aus freien Stücken, gern‘ 6 betwingen: mit Gen. (des) ,zwingen, nötigen zu etwas‘, ich übersetze freier 7 bewegen: hier Part. Prät.; refl. mit Gen. (rehtes) hier ,abschlagen, ablehnen; entledigen‘ reht: Hier ist die Gesamtheit der rechtlichen Verhältnisse gemeint, also Rechte und Pflichten. 8 die man dâ heizet werde diet: Bezieht sich auf sie aus
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Ton I, Korpus in J
V. 7, weswegen ich den Rel.satz in der Übersetzung vorziehe. ir triuwe, zuht und êre: Diese Aufzählungsglieder sind analog zu rehtes aus V. 7 Objektsgen. zu bewegen. Meine Umstellung in der Übersetzung verdeutlicht die syntaktischen Zusammenhänge. triuwe: In J steht truw̅ e (= triuwen), was bedeutet, dass hier von Mehrzahl (Gen. Pl.) auszugehen ist. Wurde der Nasalstrich irrtümlich gesetzt? Ich greife ein und ändere den hsl. Gen. Pl. zu Gen. Sg. ab. 9 nider ligen: ,unterliegen‘ 11 strozzen: Das HWB verweist für hsl. trozzen auf strozzen (,angeschwollen sein, strotzen‘), hier subst. ,Aufbegehren‘ (vgl. außerdem DWB strotzen). Zur hsl. Schreibung mit Geminate vgl. DWD strotzen. vür: Bezieht sich m. E. einmal auf etwas Negatives (sünde), also ,gegen‘, und im anderen Fall auf etwas Positives (êre), also ,zum besten, für, um … willen, zugunsten‘ phlegen: mit Gen. (des) ,betreiben, üben, tun‘, hier ,(ein Aufbegehren) unternehmen, bereiten‘ 12 weder: in J hyperkorrigiert zu wider
3. Owe der werlde werdıcheít.
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Übersetzung Ach, die Würde der Welt! Die nimmt in Bezug auf viele Tugenden ab! Man sieht von denen viele trauern, die hinsichtlich ihres Lebens und auch in [Bezug auf kostbaren Besitz gewiss zur Freude bestimmt sind, 5 (und zwar) aus freien Stücken, ohne Kummer im Herzen. Dieselben hat die Schande und ihre Macht dazu gebracht, dass sich diejenigen, die man dort würdige Menschen nennt, des Rechts und der Pflicht entledigt haben, ihrer Loyalität, (des) höfischen [Anstands und (des) Ansehens. Ihre hohe Gesinnung ist leider beinahe besiegt. 10 Wo auch immer das passiert, verabscheue ich das an den vornehmen Reichen [heftig. Was nützt ein Aufbegehren, das man nicht gegen Sünde und auch um der Ehre [willen unternimmt? Was nützt Vermögen, das weder Körper noch Seele erfreut noch das Laster [besiegt?
Inhalt Der Spruch behandelt den Verfall der Würde und des Anstands in der Welt, ein gern gewähltes Thema der Sangspruchdichtung, das nicht selten mit dem Lob der vergangenen Zeit (laudatio temporis acti ) einhergeht. Nach dem bekannten Muster geben die Verse 1 und 2 das Thema des Spruches vor, wobei die Interjektion ôwê dessen Ernsthaftigkeit unterstreichen soll: Die Würde der Welt geht in Bezug auf manche Qualität zurück. Dieser „Tatbestand“ wird nun in den anschließenden Versen 3 bis 9 durch Beispiele konkretisiert und belegt und zudem auf eine bestimmte Gruppe eingegrenzt: die ursprünglich werde diet. Der Mittelteil (V. 3–9) lässt sich untergliedern in die Verse 3 bis 5, in denen Soll- und Ist-Zustand einander gegenübergestellt werden, und die Verse 6 bis 9, die schließlich die Gründe für die Diskrepanz zwischen Soll und Ist anführen. Zudem wird durch den Hinweis auf den eigentlich gewünschten Zustand (die einst werde diet besaß triuwe, zuht, êre und hôe[n] muot – die Tugenden und Eigenschaften schlechthin also), der in der Vergangenheit wohl bereits bestanden hat, da sein Verfall ansonsten nicht beklagt werden könnte, die Sachlage zusätzlich dramatisiert. Vers 10 schließt die Schilderung aus Vers 3 bis 9 ab, indem in Gestalt des Sprecher-Ich ein abschließendes Urteil über den gegenwärtigen Zustand
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formuliert wird. Aufgrund des verallgemeinernden swâ ist dieses Urteil als allgemeingültig, also unabhängig von Raum und evtl. auch Zeit zu verstehen. Wie für den Sangspruch im Allgemeinen als auch für Bruder Wernher im Speziellen üblich, bilden die letzten beiden Verse einen lehrhaften Abschluss des Spruches. Interessant ist hierbei die Wahl der Frageform: Obgleich es sich hier um zwei rhetorische Fragen handelt, implizieren sie dennoch eine Reaktion des Publikums, wodurch das Strophenende eine dialogische Ausrichtung erhält und der vermeintliche Schluss eben nur ein Abschluss auf formaler Ebene ist. Dank des Frage-Antwort-Charakters wird ein Fortgang vorgezeichnet, ohne dass dieser tatsächlich kommuniziert werden müsste. Zieht man nun die Lesarten der anderen Überlieferungsträger heran, so stellt sich der Spruch z. T. deutlich unterschiedlich dar. Beginnen wir mit Handschrift C: Die Verse 1 bis 7 sind auf inhaltlicher Ebene weitgehend identisch mit J, abgesehen von Vers 1, in dem die werlt durch die Apostrophe personifiziert wird. Dies hat zur Folge, dass der Stropheneingang abstrakter als in J erscheint, wo der Fokus mehr auf die Gegebenheiten der realen Welt gerichtet ist. In Vers 8 f. kommt es zur ersten deutlicheren Abweichung zwischen J und C, denn in C wird die Personengruppe anders benannt (die besten) als in J und zudem weniger deutlich in den Blick genommen. J führt die werde diet bereits in Vers 8 ein und bezieht insofern auch die Qualitäten triuwe, zuht und êre auf sie, während in C die besten erst in Vers 9 erwähnt werden und die Tugenden aus Vers 8 hingegen auf die ehrenvolle Lebensweise (werdiu vuore) bezogen sind. Da J also die betroffenen Personen bereits in Vers 8 nennt, kann in Vers 9 ins Detail gegangen und speziell ir hôer muot angesprochen werden. Dieser fehlt in C komplett, stattdessen ist von der besten vreude die Rede, die nun leider nahezu zu einem Ende gekommen ist. Die Lesart von Vers 10 unterscheidet sich in den drei Überlieferungsträgern am augenscheinlichsten voneinander. In jeder Handschrift steht ein anderes finites Verb im Hauptsatz: Während C durch müejen eine eher defensive, passive Färbung erhält, bewirkt hazzen in J, dass das Ich eine sehr offensive, selbstbewusste Ausstrahlung besitzt; die Lesart in T (klagen) ist von ihrer Ausdrucksstärke etwa in der Mitte zwischen müejen und hazzen anzusiedeln, das Ich tritt demnach nicht ganz so resignativ wie in C auf, sondern deutlich aktiver, allerdings fehlt im Vergleich zu J der latent angriffslustige Unterton. Ähnlich wie die Verse 1 bis 7 stehen sich auch die Schlussverse 11 f. von C und J inhaltlich sehr nahe, abgesehen von strozzen, für das sowohl C als auch T trûren schreibt. Auch am Strophenende behält C also die eher defensive Färbung bei, wohingegen in J erneut ein eher offensives Wort gewählt wurde.
3. Owe der werlde werdıcheít.
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Mit Blick auf den Text des Tetschener Fragments bleibt dieser in der ersten Hälfte des Spruches (V. 1–7) zwar inhaltlich insgesamt ebenfalls nahe an der Lesart von J, allerdings setzt T an entscheidenden Stellen andere Akzente als J oder C. So steht etwa in Vers 2 das allgemeinere dinge statt tugenden und in Vers 5 wird mit willen ersetzt durch ein weiteres Aufzählungsglied: an jugent. Und auch in Vers 7 findet eine Umdeutung statt, indem die rechtliche Dimension und deren Verletzung durch die Genannten (J daz sie sich rehtes habent bewegen, C daz sie des rehten hânt verphlegen) komplett ausfällt und die Verfehlung stattdessen in der weniger konkreten, eher abstrakten Vernachlässigung der Freude besteht (T daz sie ganzer vreuden phlegen). Neben dem Gebrauch unterschiedlicher Lexeme fehlen in T teilweise auch ganze Wörter. So steht Vers 3 ohne das Genitivattribut zu vil (nämlich der trûren), wodurch der Unterschied zwischen Soll- und Ist-Zustand, den J und C aufführen, verlorengeht. Und auch in Vers 11 wurde êre, das Objekt im Akkusativ zu umbe, weggelassen, allerdings handelt es sich hier wohl weniger um Absicht als um ein Versehen, da der Satz ohne das Objekt schlicht unvollständig ist und keinen Sinn ergibt. Vers 8 ist in T nahezu identisch mit der Lesart von C, d. h. auch in T bleiben die Adressaten der (An-)Klage ungenannt, im Unterschied zu C (und J) gilt dies jedoch auch für Vers 9. Hier wird zwar, ähnlich wie in J, der hôhe[r] muot thematisiert, aber ohne dass dabei ein Bezug zu Personen hergestellt würde; stattdessen wird er in Verbindung mit der milte genannt, und zwar negativ konnotiert: Es wird darauf hingewiesen, dass die hohe Gesinnung der Freigebigkeit leider ganz und gar erlegen ist, d. h. der hôhe[r] muot (bzw. die Personen, die diesen besitzen) ist gegenüber Personen oder Ereignissen nicht zurückhaltend oder kritisch, sondern ist auch dort, wo Nachsicht eigentlich nicht angebracht wäre, um der milte willen großzügig. Was die Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen T und J in den Versen 10 bis 12 angeht, so wurden diese bereits weiter oben angesprochen (Hauptvarianz: klagen – hazzen, trûren – strozzen). Angesichts der z. T. enormen Unterschiede, die in den Lesarten aller drei Überlieferungsträger vorliegen, und der zugleich jedoch relativ ausgewogenen Verteilung der Differenzen auf alle drei Handschriften fällt es m. E. schwer, Verwandtschaftsbeziehungen – etwa mit Blick auf mögliche Vorlagen – unter den Handschriften bzw. Lesarten auszumachen. Während manche Verse in J und C ähnlich sind, weicht T klar davon ab (z. B. V. 3 oder 7); andererseits gleichen sich z. B. in Vers 1 J und T stärker, wohingegen sich Vers 8 und Vers 11 wiederum in C und T deutlich von J unterscheiden (von dem in T wohl ungewollt fehlenden Akkusativobjekt êre sei hier abgesehen).
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Historischer Hintergrund Obgleich der Spruch wohl kaum durch ein konkretes historisches Ereignis ausgelöst worden sein mag, sondern vielmehr Allgemeinplätze aus Sangspruchdichtung und Minnesang behandelt, geht Meyer – und nach ihm Lamey148 – aufgrund des Inhalts, der „dem an der Schwelle des Greisenalters stehenden näher liegt als dem Jüngling“149, davon aus, dass dieser Spruch sowie einige andere „Wernhers höherm Alter angehören, wenn auch Jahr und Tag ihrer Entstehung nicht mehr zu ermitteln ist“150. Die Annahme, Themen wie der Verfall von Tugenden und Werten sowie das generelle Lob vergangener Zeiten seien eher für einen älteren Menschen von Relevanz oder in dessen Dichtung verwertbar, mag nicht völlig abwegig sein und ist zudem eine durchaus verbreitete Unterstellung – nicht zuletzt aufgrund der Gattung der Altersklage151, die u. a. solche Dinge zum Gegenstand hat und, wie der Name schon sagt, wohl erst in fortgeschrittenerem Alter verfasst wird (obgleich hier reales Alter des Dichters und fiktives Alter des Sprechers nicht unweigerlich identisch sein müssen). Dennoch ist mit Blick auf den vorliegenden Fall zu fragen, ob der Kontrast zwischen der in jeglicher Hinsicht segensreicheren Vergangenheit und der an Werten und Erziehung verkommenen Gegenwart wirklich so klar hervortritt? Zwar impliziert der Spruch durchaus, dass Soll- und Ist-Zustand eben nicht (mehr) deckungsgleich sind, dennoch lässt sich im gesamten Text nicht ein Wort – z. B. ein Temporaladverb wie nû, dô, ê oder sît – oder etwa eine Anspielung auf das Alter des Dichters/Sprechers finden, wodurch ein klarer Unterschied zwischen damals und heute aufgezeigt würde. Eine Einordnung in das höhere Alter des Dichters scheint demnach fraglich.
Metrik A A A A 5 A A A
4ma 4 2m b 7mc 4 2m b 4ma 7mc 4 2m d
148 149 150 151
diu nímt an mánegen túgenden ábe! lîbẹ, undẹ schandẹ, undẹ daz síe sich réhtes hábent bewégen,
Vgl. Lamey, S. 35. Meyer, S. 105. Ebd. Vgl. einführend Schweikle: Minnesang, S. 147.
3. Owe der werlde werdıcheít.
A A 10 A A A
8 6 8 8 9
ke 2m d ke 2m f 2m f
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ir hoer múot ist léider víl nâch níder gelégen. swâ dáz geschíht, daz ház ich án den édelen rchen serè. sündẹ, undẹ waz sól ein gúot, daz wéder lp noch selẹ envréuwet noch schánden [áne gesíget?
Literatur Doerks, S. 2 • Gerdes: Beiträge, S. 16, 38 Anm. 5, 90, 91 Anm. 3, 119 Anm. 3, 174 und Anm. 7, 176 und Anm. 4, 177 und Anm. 4, 178 und Anm. 3, 179 und Anm. 7, 181 und Anm. 8, 187 Anm. 2 • HMS 4, S. 521 • Kemetmüller, S. 39, 218 f. • Lamey, S. 8, 35, 38 • Meyer, S. 105 • Roethe, S. 220 • Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 60 f. • Vetter, S. 248.
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4. Eẏn rechter babes der ſolte vůr geben. (J4, U) Eẏn rechter babes / der ſolte vůr geben. Dem ſvn/dere ſẏne míſſetat. Eín kebẏſer reacht / ſolte rıchten gar an allen haz. Sıt / daz ır recht nícht rechte anſtat. 5 Des / krenket ſıch ır beíder leben. Daz // tzẏmet dem babeſe nícht got ſelbe / gebot ẏme daz Daz er tete wıder / vbele gůt. Nv wıl dıe vbele mít der / gůte dıe krıſtenheıt vůrſníten ín (?) / rechter babes der lıeze dem keẏſere / valſchen mv̊t. 10 Er lıeze ouch nícht / durch. ín dıe armen krıſten vber rí/ten Vvıl er vol enden ſẏnen tzorn. / So wırt ır beẏder ſchulde groz. Su/le wír da vnder ſín vůrlorn. So / werdent ſıe da vmme lucıfers genoz /
3 kebẏſer reacht mit übergeschriebenem a und b versehen, wodurch eine Korrektur der Wortreihenfolge impliziert wird: kebẏſer reacht > recht keẏſer 9 bei ín (= Eín?) steht weder Lombarde noch Majuskel 11 + 12 Mittelreim tzorn – vůrlorn
4. Ey˙n rechter babes der ſolte vu˚r geben.
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Ein rehter bâbes, der solde vergeben dem sündære sîne missetât. ein rehter keiser solde rihten gar ân allen haz. sît daz ir reht niht rehte anstât, 5 des krenket sich ir beider leben. daz zimet dem bâbese niht. got selbe gebôt ime daz, daz er tete wider übele guot. nû wil die übele mit der güete diu kristenheit versnîten. ein rehter bâbes, der lieze dem keisere valschen muot, 10 er lieze ouch niht durch in die armen kristen überrîten. wil er volenden sînen zorn, sô wirt ir beider schulde grôz. suln wir dâ under sîn verlorn, sô werdent sie dâ umbe Lûzifers genôz.
4J 3 ân allen haz: Die Formulierung spielt wohl auf den Leitsatz sine ira et studio des römischen Historikers und Senators Tacitus an, dessen Anspruch es war, sich einem Gegenstand bzw. einer Person möglichst objektiv und vorurteilsfrei zu nähern. haz meint insofern nicht ,Feindseligkeitʻ, sondern eher ,Voreingenommenheit, Parteilichkeitʻ. 4 anstân: hier ,sich verhalten, sich befinden, seinʻ 5 krenken: refl. ,schwächen, erniedrigen, schädigen, zunichtemachenʻ 8 Ist übele oder kristenheit das Subj.? J scheint den best. Art. diu (Nom. Sg. Fem.; Nom./Akk. Pl. Neutr.) schreibsprachlich nicht klar von die (Akk. Sg. Fem., Nom./Akk. Pl. Fem.; Nom./Akk. Pl. Mask.) abzusetzen, so dass in V. 8 durch den schreibsprachlichen Zusammenfall von Nom. Sg. und Akk. Sg. des best. Art. beide Feminina – übele und kristenheit – als Subj. des Satzes infrage kommen. Inhaltlich einleuchtender erscheint mir – trotz der Wortstellung – die kristenheit, da es wenig Sinn ergibt, wenn die übele die Christenheit mit dem Guten schwächt. Worin bestünde hier der Schaden für die Christen und der Erfolg des Bösen? Darüber hinaus spricht der papstkritische Ton der vorausgehenden Verse eher für kristenheit als Subj.: Aufgrund der mangelnden Fähigkeit des Papstes, gerecht zu agieren, führt gerade die Christenheit – hier personifiziert durch den Papst – die Schwächung des Guten durch das Böse herbei. Anton E. Schönbach wählt in seiner Ausgabe die von mir verworfene Möglichkeit (nû wil diu Übele mit der Güete die Kristenheit verstrîten [Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 16]), greift hierbei jedoch in die hsl. Lesart ein, indem er den Reim versnîden – überrîten als „sicher falsch“ (ebd., S. 17) versteht und dementspr. versnîden durch verstrîten ersetzt (meine Auslegung von hsl. vůrſníten siehe weiter unten). Udo Gerdes orientiert sich an Schönbachs Lesart, behält versnîden jedoch bei und deutet den Vers so, dass „sich die ,güeteʻ [anschickt], im Verein mit der Bosheit die Christenheit zugrundezurichten“ (Gerdes: Beiträge, S. 48). Problematisch an dieser Übersetzung ist, dass das in dieser Form nicht in der Handschrift steht. Laut J kann entweder übele oder kristenheit Subj. des Satzes sein, in keinem Fall jedoch güete, worauf Gerdes’ Interpretation jedoch hindeutet. versnîden: eigentlich ,zerschneiden, ‑hauen, ab-, wegschneidenʻ, bildlich auch ,schwächen, beschränken, verwundenʻ; evtl. könnte mit versnîden hier auch ,vermischen, verwässern, panschenʻ gemeint sein. Diese Deutung erscheint m. E. im vor-
HMS 3: I,4 Sch 44
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liegenden Fall logischer als etwa ,schwächen, verwundenʻ, und zwar aus folgendem Grund: In V. 6 f. wird gesagt, dass die eigentliche Aufgabe des Papstes darin bestehe, gegen Böses Gutes zu tun. Dieser Aufgabe kommt er jedoch nicht nach, wie in den vorausgegangenen Versen veranschaulicht wurde. Würde man versnîden nun mit ,schwächenʻ übersetzen (also: ,jetzt möchte die Christenheit [= Papst] das Böse mit dem Guten schwächenʻ), dann wäre dies ja gerade eine positive Bestätigung des Papstes! Es würde bedeuten, dass er tatsächlich gegen Böses mit Gutem vorginge, indem er es schwächt. Gerade das stimmt aber nicht. Wählt man für versnîden jedoch ,vermischen, verwässern, panschenʻ (also: ,jetzt möchte die Christenheit das Böse mit dem Guten vermischenʻ), so ist die Aussage weniger positiv konnotiert und das Fehlverhalten des Papstes kommt deutlicher zum Vorschein: Er verwässert das Böse mit dem Guten, beides geht ineinander über, ohne dass erkennbar wäre, dass das Böse wirklich bekämpft würde. Diese Auslegung erscheint mir hier sinnvoller. Unklar ist jedoch, ob das Verb versnîden in dieser Bedeutung im 13. Jahrhundert überhaupt schon verwendet wurde. Weder BMZ noch HWB deuten darauf hin. Im DWB wird unter dem Lemma verschneiden erst im sechsten von insgesamt neun Unterpunkten erklärt: 6) „die bedeutung ,durch schneiden schädigen oder verschlechternʻ liegt auch anderen gebrauchweisen zu grunde, in denen indes der begriff des schneidens ganz aufgegeben ist.“ Und unter 6) b) heißt es „guten wein mit schlechterem mischen […] mit wasser versetzen“ (DWB verschneiden 6) und 6) b)). Obgleich die Verwendung von versnîden im Sinne von ,vermischen, verwässern, panschenʻ für die erste Hälfte des 13. Jahrhundert nicht ohne Weiteres gesichert ist, ist diese Deutung m. E. prinzipiell den übrigen vorzuziehen. Mit Blick auf die hsl. Form vůrſníten (statt versnîden) und den von Schönbach als fehlerhaft gedeuteten Reim versnîden – überrîten ist festzuhalten, dass die hsl. Form m. E. entweder auf Reimzwang zurückgeht (versnîten – überrîten) oder/und als omd. Form zu sehen ist (obd. und omd. /t/ für /d/, vgl. Mhd. Gram., § E 42, 3.6.2. Nr. 1 und § L 62, 1.). 9 ein: Hsl. scheint die Lombarde vergessen worden zu sein. Ich ergänze das 〈e〉 und schreibe ein analog zu Ein/ein rehter bâbes/keiser in V. 1 und 3. lâzen: hier mit Akk. d. S. (valschen muot) ,lassen, aufgebenʻ im Sinne von ,ablassen von, erlassenʻ 10 durch in: bezieht sich auf den Kaiser (,des Kaisers wegenʻ) überrîten: ,mit Krieg, Reiterei, Kriegsschar überziehenʻ 11 volenden: ,ausführen, vollbringenʻ 12 dâ under: ,darunterʻ, d. h. ,unter diesen Umständen, dadurch, deswegenʻ
4. Ey˙n rechter babes der ſolte vu˚r geben.
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Übersetzung Ein gerechter Papst sollte dem Sünder sein Vergehen vergeben. Ein gerechter Kaiser sollte ganz und gar unvoreingenommen Recht sprechen. Da ihr Recht nicht gerecht ist, 5 wird ihr beider Leben zunichtegemacht. Das ist dem Papst nicht angemessen. Gott selbst befahl ihm, dass er gegen Böses Gutes tun solle. Jetzt möchte die Christenheit das Böse mit dem Guten vermischen. Ein gerechter Papst würde dem Kaiser die schlechte Gesinnung verzeihen, 10 er ließe auch nicht seinetwegen die armen Christen mit Krieg überziehen. Wenn er seinen Zorn (jedoch) ausleben will, wird die Schuld von beiden [groß. Wenn wir deswegen verloren sein sollen, werden sie dadurch Luzifer [ebenbürtig.
Inhalt In I,4 wird anhand des Changierens zwischen Idealzustand und Realität das Fehlverhalten von Kaiser und v. a. Papst in den Blick genommen.152 Dass es hier speziell um die Frage der angemessenen Erfüllung ihrer Amtspflichten geht, hebt die regelmäßige Wiederholung von Begriffen hervor, die eine rechtliche Dimension implizieren und zudem in ihrem Wortstamm verwandt sind, wodurch der Spruch insgesamt kohärent erscheint: rehter (V. 1, 3 und 9), rihten (V. 3), reht (V. 4), rehte (V. 4). In Vers 1 bis 3 wird zunächst erklärt, wie sich Papst und Kaiser idealerweise in ihrer Rolle als geistliche bzw. weltliche Autorität verhalten sollten.153 Dementsprechend sollte einerseits ein gerechter Papst barmherzig sein und dem Sünder gegenüber Nachsicht zeigen, ein gerechter Kaiser andererseits sich durch objektive, vorurteilsfreie Rechtsprechung hervortun. Dank des Konjunktivs (vgl. V. 1 und 3 solde) wird impliziert, dass die Realität nicht dem entspricht, wie es sein sollte, was durch die anschließenden zwei Verse bestätigt wird. Dort wird der anfänglichen Beschreibung des Idealzustands die
152 Auch Reinmar von Zweter behandelt in einem Spruch die Amtspflichten von Papst und Kaiser (vgl. Reinmar 214, Roethe, S. 516). 153 Die Zusammengehörigkeit der drei Verse wird auch in formaler Hinsicht durch den parallelen Aufbau (Anapher) unterstrichen.
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„harte Realität“ gegenübergestellt, denn weder um die päpstliche noch um die kaiserliche Rechtsprechung ist es sonderlich gut bestellt. Vielmehr richten sich Papst und Kaiser aufgrund ihres fragwürdigen Rechtsverständnisses selbst zugrunde (vgl. V. 4 f.). Die Verse 6 und 7 bauen schließlich unmittelbar auf Vers 4 f. auf, indem sie das dort Geäußerte, das nun speziell auf den Papst bezogen wird, scharf kritisieren. Zugleich wird die Vorgabe genannt, nach der der Papst eigentlich handeln sollte, nämlich nach dem Gebot Gottes, Böses mit Gutem zu vergelten. Interessant ist hierbei, die Argumentationsweise: Die Kritik am Papst, die doch sehr unverblümt ist (vgl. V. 6 daz zimet dem bâbese niht.), wird gerechtfertigt und als notwendig gekennzeichnet, indem sie durch Gott und dessen Gebot gestützt wird. Person A kritisiert also nicht aus persönlichen Gründen Person B, sondern das offensichtliche Fehlverhalten des Papstes wird „lediglich“ benannt, die Diskrepanz zwischen Gottes Vorgaben und päpstlichem Verhalten ausformuliert. Und dafür braucht es keine konkrete Sprecher-Instanz, da nur wiedergegeben wird, was ohnehin allgemein ersichtlich ist.154 Ähnlich wie zuvor im Übergang von Vers 1 bis 3 auf Vers 4 f. veranschaulicht Vers 8, wie es in der Realität aussieht: Der Papst (= diu kristenheit [V. 8]) geht keineswegs, wie in Vers 6 f. angemahnt, mit güete gegen übele vor, vielmehr verwischt er die Grenze zwischen Gut und Böse, indem er die übele mit der güete […] versnîte[t] (V. 8) – Gut und Böse werden also miteinander vermengt. In Vers 9 f. springt der Text erneut vom negativen Ist-Zustand (vgl. V. 8) zum positiven Soll-Zustand, wobei der Fokus weiterhin auf den Papst gerichtet bleibt, während der Kaiser eher eine dem Papst untergeordnete Rolle einnimmt. Dass hier erneut ein Idealzustand beschrieben wird, äußert sich auch formal durch die Anapher Ein rehter bâbes, die auch schon in den Versen 1 und 3 verwendet wurde. Und auch der Konjunktiv (vgl. V. 9 und 10 lieze) macht wie im Stropheneingang deutlich, dass die Wirklichkeit nicht dem Wunsch entspricht. Im Unterschied zu Vers 1 bis 3 werden hier jedoch keine Allgemeinplätze genannt, sondern konkretere Ereignisse155 (vgl. dazu weiter unten), bei denen sich der Papst anders verhalten sollte.
154 Einmal davon abgesehen, dass es der Sprecher ohnehin vorziehen mag, als Person im Hintergrund zu bleiben, wenn er gerade dabei ist, die oberste christliche Instanz auf Erden zu kritisieren. Dementsprechend meldet er sich, an der einzigen Stelle, an der er im Text sichtbar wird (vgl. V. 12), aus dem Kollektiv heraus (wir) zu Wort und gerade nicht wie in anderen Sprüchen als Einzelperson, die z. B. die Rolle eines Ratgebers übernimmt (vgl. z. B. I,9; II,36 oder VI,67). 155 Es kann jedoch nicht sicher gesagt werden, worauf sich der valsche muot des Kaisers bezieht.
4. Ey˙n rechter babes der ſolte vu˚r geben.
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Vers 11 ist aufgrund seines futurischen Charakters (wil volenden [im konditionalen Nebensatz] und wirt) zwar nicht als eine Art Antwort auf Vers 9 f. zu verstehen (gemäß dem bekannten Muster: auf Soll folgt Ist), dennoch dient gerade diese Ausrichtung auf Künftiges dazu, die möglichen Konsequenzen des päpstlichen Handelns aufzuzeigen – gewissermaßen als Ausblick auf den „Ist-Zustand von morgen“. Dass der Satz aufgrund der Wenn-dann-Konstruktion einen drohenden oder zumindest warnenden Unterton besitzt, ist sicherlich nicht unbeabsichtigt – v. a. mit Blick auf den Schlussvers. Denn dieser sorgt dafür, dass der Spruch mit einem Paukenschlag endet: Sowohl Papst als auch Kaiser sind Luzifer ebenbürtig, für den Fall, dass die (Glaubens-)Gemeinschaft (schlicht im Pronomen wir [V. 12] zusammengefasst) durch deren Schuld verloren sein sollte. Mit der Prophezeiung, demjenigen gleich zu werden, der aufgrund seines Hochmuts verstoßen und in die Hölle gestürzt wurde, tritt Bruder Wernher bzw. das Sprecher-Ich hier recht selbstbewusst auf. Möglich macht dies wohl v. a. der Hinweis auf Wohl und Wehe der unschuldigen Christen, zu denen sich das Sprecher-Ich ausdrücklich zählt. Es geht hier, wie Udo Gerdes zu Recht angemerkt hat, wohl weniger um die Parteinahme Bruder Wernhers für Papst oder Kaiser als vielmehr darum, „die Rettung der ,Kristenheit‘ insgesamt […] zu fördern“156.
Historischer Hintergrund In der Datierungsfrage wurden in der (älteren) Forschung zwei mögliche Entstehungszeiträume diskutiert: zum einen die Zeit nach Kaiser Friedrichs II. zweiter Bannung im März 1239, zum anderen die Phase kurz vor Friedrichs II. Absetzung durch Papst Innozenz IV. im Sommer 1245.157 Mehrheitlich neigt man der früheren Datierung zu, und zwar mit folgender Begründung: Ausgehend von den Versen 9 bis 11, in denen man den Papst „zur Milde und Nachgiebigkeit ermahnt, ihm rät, wie er gegen den Kaiser verfahren solle, und ihm
156 Gerdes: Beiträge, S. 49. Vgl. dazu auch Gent, S. 50 und 60. 157 Während Karl Meyer und Ferdinand Lamey – und evtl. auch Ulrich Müller – auf den späteren Zeitpunkt setzen, der Spruch also vor des Kaisers Absetzung durch das Konzil in Lyon im Sommer 1245 verfasst worden sei, gehen Henry Doerks, Anton E. Schönbach, Hans Vetter, Herta Gent und Manfred Scholz von dem Zeitraum „bald nach“ (Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 19) der zweiten Exkommunikation Friedrichs II. im März 1239 und „spätestens nach dem Amtsantritte Innozenz IV.“ (ebd.) im Juni 1243 aus. Vgl. Meyer, S. 98; Lamey, S. 31 f.; Doerks, S. 8; Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 19; Gent, S. 50; Vetter, S. 257; Scholz: Reichsidee, S. 57; Müller: politische Lyrik, S. 89; Brunner lässt die Datierung offen (vgl. Brunner: Bruder Wernher, Sp. 899).
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sogar die Verdammung in Aussicht stellt, falls er in seinem schädlichen Zorn beharre“158, scheint der Konflikt zwischen Papst und Kaiser noch nicht so weit gediehen zu sein, dass eine derartige Ermahnung zu Nachsicht und Entgegenkommen völlig sinnlos wäre, es kann „noch nicht alle Hoffnung geschwunden sein, ihn [den Zwist, Anm. d. Verf.] zu schlichten“159. „Aus dieser versöhnlichen stimmung heraus kann nun der spruch sehr wohl entstanden sein.“160 Obgleich auch mir der frühere Datierungszeitpunkt als der wahrscheinlichere erscheint, ist das Zeitfenster, das Meyer und Doerks mit 1230 bis 1243 bzw. 1245 abstecken,161 m. E. sowohl ungenau als auch – zumindest bei Doerks – zu weit gefasst, wohingegen Vetters Datierung „vom sommer 1239 bis frühjahr 1240“162 unnötig knapp bemessen ist. Wieso ausgerechnet bis zum Frühjahr 1240? Eine Erklärung hierfür bleibt Vetter schuldig. Betrachtet man die vorliegenden zeitlichen Einordnungen des Spruches, fällt auf, dass ein Umstand m. E. grundsätzlich vernachlässigt wird: Zwischen dem Tod Papst Gregors IX. (am 22. August 1241) bzw. dessen Nachfolger Cölestin IV. (wenig später am 10. November 1241) und dem Amtsantritt von Papst Innozenz IV. (am 25. Juni 1243) liegt eine Zeitspanne von zwei Jahren, in denen der päpstliche Stuhl vakant ist und der Spruch nicht verfasst worden sein kann. Von welchem Papst ist aber nun die Rede: Gregor IX. oder Innozenz IV.? Im einen Fall kommt ein Abfassungszeitraum von April 1239 bis August 1241 infrage, im anderen Fall von Juni 1243 bis Juni 1244.163 Welche der beiden Phasen eher wahrscheinlich ist, wage ich nicht zu entscheiden. Für den früheren Zeitpunkt spräche, dass in der Zeit unmittelbar nach der Bannung des Kaisers die Aussicht auf eine Versöhnung der gegnerischen Parteien noch realistischer ist als zum späteren Zeitpunkt, als sich die Fronten zwischen Friedrich II. und (jetzt) Innozenz IV. bereits stark verhärtet haben. Es werden zwischen 1239 und 1241 auch in der Tat Schlichtungsversu-
158 Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 19. 159 Ebd. 160 Vetter, S. 257. 161 Beide rechnen von kurz nach der Bannung im März 1239 bis „spätestens nach dem Amtsantritte Innozenz IV.“ (Juni 1243) (Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 19) bzw. „vor der Absetzung zu Lyon“ (Sommer 1245) (Doerks, S. 8). 162 Vetter, S. 257. 163 Am 29. Juni 1244 flieht Papst Innozenz IV. vor Kaiser Friedrich II. nach Lyon, wo er Anfang Dezember 1244 ankommt. Vetter hat Recht, wenn er in Bezug auf Innozenz’ IV. Flucht nach Lyon meint: „Dort ihn von einem kriege abzumahnen hätte br. W. wohl wenig anlaß gehabt.“ (Vetter, S. 257), denn spätestens jetzt scheint eine Versöhnung unmöglich geworden zu sein. Aus diesem Grund schränke ich – wenn man davon ausgeht, dass unser Spruch Papst Innozenz IV. behandelt – die Zeitspanne eher auf Juni 1243 bis Juni 1244 ein.
4. Ey˙n rechter babes der ſolte vu˚r geben.
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che durch die Reichsfürsten unternommen, die jedoch allesamt erfolglos bleiben.164 Dennoch wäre es falsch anzunehmen, dass zwischen Friedrich II. und Innozenz IV. die Bemühungen um Versöhnung später völlig zum Erliegen gekommen wären. Ganz im Gegenteil: Trotz enormer Meinungsverschiedenheiten scheint noch Ende März 1244 eine Einigung zwischen Kaiser und Papst in greifbare Nähe gerückt zu sein, die aber letztlich doch scheitert.165 Vor diesem Hintergrund erscheint es m. E. nicht ohne Weiteres möglich, einem der beiden oben genannten Zeiträume den Vorzug zu geben. Abschließend sei noch auf eine andere Frage hingewiesen: Es wird in der Forschung mehr oder weniger ausgiebig darüber diskutiert, für welche Position Bruder Wernher in diesem Spruch Partei ergreift. Die einhellige Meinung ist, dass er „im Laufe der Jahre von Kaiser Friedrich II abtrünnig geworden“166 und der vorliegende Spruch durch eine „auffallende geringe kaiserfreundlichkeit“167 geprägt sei, Wernher sich vielmehr „der päpstlichen [Partei] einiger Massen genähert“168 habe und sich insofern „ein Wandeln in Wernhers Gesinnung“169 zeige.170 Ich erlaube mir hier auf Udo Gerdes zurückzugreifen, der mit Blick auf die Frage nach Wernhers möglicher politischer Position in diesem Spruch meint: Sinnvoller wird man fragen, ob er sich mit der Klage über die Wirren der Zeit, mit der Kritik an kurialer und imperialer Politik als der Ursache für die Nöte der unbeteiligt Mitbetroffenen, mit dem Appell an die Verantwortlichen, das Heilbringende zu tun, in der wir-Form redend zum Sprecher einer bestimmten unter den Gruppen mache, die durch das Aufeinanderprallen verschiedener Interessen ins Verderben zu geraten drohen. Auf diese Frage geben die Texte keine Antwort.171
164 Ein Grund dafür ist die Ablehnung des Kaisers, die Lombardenliga in die Verhandlungen mit einzubeziehen, worauf jedoch wiederum der Papst besteht. Vgl. einführend zum Konflikt zwischen Papst und Kaiser Gebhardt, Bd. 6, S. 260–264. 165 Grund dafür ist die Weigerung Friedrichs II., den Kirchenstaat „ohne präzise Zusagen über Zeitpunkt und Bedingungen seiner Absolution“ (Gebhardt, Bd. 6, S. 269) zu räumen. 166 Meyer, S. 97. 167 Vetter, S. 257. 168 Lamey, S. 32. Wobei Lamey ebenfalls festhält, dass Bruder Wernher „weder dem Papste noch dem Kaiser recht [gibt]; allein der Papst wird nur in soferne getadelt, als er Uebel mit Uebel vergilt, statt nach dem Gebote Gottes das Böse mit dem Guten zu vergelten“ (Lamey, S. 32). 169 Doerks, S. 8. 170 Auch Schönbach schreibt hierzu: „Wernher ist übrigens, soweit ich weiß, niemals ausdrücklich ein Gegner Friedrichs II. geworden, obzwar er unzweifelhaft von ihm sich abgewendet und der Partei des Papstes sich genähert hat.“ (Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 21) 171 Gerdes: Zeitgeschichte, S. 154.
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Inhaltliche Ähnlichkeit mit anderen Texten bzgl. der Amtsverfehlungen des Papstes vgl.: Freidank 150,8–11: Dem bâbest anders niht enzimt, wan daz er sünden buoze nimt; er mac wol dem riuwaere senften sîne swaere. (Spiewok, S. 126) Freidank 151,7–12: Der bâbest hât ein schoene leben; mac er sünde ân riuwe vergeben, so solte man in steinen, ob er der kristen einen oder deheiner muoter barn lieze hin zer helle varn. (Spiewok, S. 126)
Metrik A A A A 5 A A A A A 10 A A A
4 2m a 4mb 7mc 4mb 4 2m a 7mc 4md 8ke 6md 8ke 8mf 9mf
Ein réhter babes der sólde vergében dem sndære sne míssetat. rehtẹ daz zímet dem babèse níht. got sélbe gebot ime dáz, daz ér tete wíder bele gúot. nû wíl diu bele mít der gete diu krístenhèit versntèn. ein réhter babes, der líeze dem kéisere válschen múot, liezẹ suln wír dâ únder sn verlórn sô wérdent sie da umbe Luzifèrs genoz.
Literatur Brunner: Bruder Wernher, Sp. 899 • Doerks, S. 8 • Edwards, S. 307 • Gent, S. 50, 60, 81 • Gerdes: Beiträge, S. 33 und Anm. 1, 42 und Anm. 3, 47–49, 78, 174 und Anm. 4, 176 und Anm. 3, 178 und Anm. 3, 179 und Anm. 6, 181 und Anm. 4, 208, 209 f. • Gerdes: Zeitgeschichte, S. 134 f., 154 • HMS 4, S. 518 • Kemetmüller, S. 5, 35, 57, 58, 59–62, 225 f. Lamey, S. 32, 37 • Meyer, S. 97 f. • Müller: politische Lyrik, S. 88 f. • Roethe, S. 223, 305 • Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 16–21 • Scholz: Reichsidee, S. 56 f. • Strasser, S. 243 • Vetter, S. 256 f.
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5. Man ſeıt daz neman edele en ſy. (J5) Man ſeıt daz neman edele en / ſy. Nıcht wen der edelıche tůt. / Vnde ıſt daz war des mv̊gen ſıch ge/nvge herren ſchamen De nícht vůr / ſchanden ſínt behůt. 5 Den wonet / ouch valſch. vnde írge bẏ. Díe drẏ / vůr terben mılte vnde ere. vn̅ ouch / den edelen namen Vve ẏm daz er / ıe gůt gewan. Der ſıch dıe ſchande / vnde ırge lat von hohen eren drẏn/gen Her ſolte ſehen dıe armen hoch / gemv̊ten an. 10 Dıe da mẏt gantzer / hubeſcheıt. kvnden wol nach eren / rẏngen Des ıſt eín armer wol ge/born. Der truwe. mılte. vnd (?) ere hat. / So ıſt er eín vngeſlachter gar ſwíe / rıche er ſı der ſcanden bı geſtat. /
11 vnd evtl. nur mit Minuskel statt Majuskel
5. Man ſeıt daz neman edele en ſy.
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Man seit, daz nieman edele ensî, niht wan der edellîche tuot. unde ist daz wâr, des mugen sich genuoge hêrren schamen, die niht vür schanden sint behuot. 5 den wonet ouch valsch unde erge bî – diu drî verderbent milte unde êre und ouch den edelen namen. wê im, daz er ie guot gewan, der sich die schande unde erge lât von hôhen êren dringen! er solde sehen die armen hôchgemuoten an, 10 die dâ mit ganzer hövescheit kunden wol nâch êren ringen. des ist ein armer wol geborn, der triuwe, milte und êre hât; sô ist er ein ungeslahter gar, swie rîche er sî, der schanden bî gestât.
5 J, 12 [11] C, Nr. 11 fehlt in der hsl. Strophennummerierung 1 seit] gıht. en fehlt. 2 niht fehlt. edellîche] edellıche̅. 3 (sich) wol. 5 den wonet ouch] ıa wont ín. 6 drî] zweı. 7 wê im] oͮwe. 8 hôhen] ma̅ge̅. 9 er] der. hôchgemuoten] wol gemvͦten. 10 wıe dıe nach ganze̅ wırde̅ kvnne̅ rínge̅. 11 eín arm der ıſt wol geborn der rehte vuͦre ı ̅ tuge̅de̅ hat. 12 ein fehlt. ungeslahter] vngeſlahte. 1 edel.
3 vn̅. 5 vn̅.
6 zweimal vn̅.
8 vn̅.
1 edele: Da der Spruch das Verhältnis von Geburts- und Tugendadel zum Thema hat, gehe ich hier nicht von ,anständig, herrlich, ausgezeichnet‘ aus, sondern von ,adlig‘. 2 tuon: Eigentlich müsste hier analog zu sîn in V. 1 Konj. Präs. stehen (indirekte Rede), die Ind. Präs.form tuot ist evtl. dadurch zu erklären, dass sie das Reimwort bildet (tuot : behuot). 4 die: hsl. nur de; Rel.pron. zu hêrren (V. 3) 8 ringen: refl. eigentlich ,drängen‘, hier aber eher ,ab-, wegdrängen‘ 10 hövescheit: Hsl. hubeſcheıt „ist urspr. wohl hess. (nicht mfrk.!) Nebenform“ (Mhd. Gram., § L 65 Anm. 3). 11 wol: Da wol hier in Verbindung mit geborn verwendet wird, könnte man analog zu V. 1 statt mit ,edel‘ auch mit ,adlig‘ übersetzen. 12 ungeslaht: ,von niedriger Herkunft‘ bî stân: ,(da-)beistehen, Beistand leisten, beitreten‘, hier ,helfen‘
HMS 2: IV,1 Sch 22
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Übersetzung Man sagt, dass niemand adlig sei, außer der, der gemäß einem Adligen handele. Wenn das wahr ist, sollen sich deswegen genügend Herren schämen, die sich nicht vor öffentlicher Schmach hüten. 5 Die besitzen zudem Falsch- und Bosheit – die drei (Dinge) machen die Freigebigkeit und das Ansehen und auch den [guten Namen zunichte. Ach, dass derjenige je Besitz erwarb, der zulässt, dass ihn Schande und Bosheit von hohem Ansehen wegdrängen! Er sollte die besitzlosen Edelgesinnten anschauen, 10 die dort mit vollkommenem höfischem Anstand gut verstehen, sich um Ehre [zu bemühen. Deswegen ist ein Mittelloser, der Treue, Freigebigkeit und Ehre besitzt, von [edler Geburt; dagegen ist derjenige ganz und gar von niedriger Geburt, wie reich er auch [immer sein mag, der der Schande hilft.
Inhalt Die ersten beiden Verse führen als Thema das Verhältnis von Geburts- und Tugendadel ein, indem das Konzept des Tugendadels genutzt wird, um den Adel bzw. dessen defizitäre Lebensweise zu kritisieren.172 Zugleich ist Vers 1 f. als Prämisse zu verstehen, die es in den anschließenden Versen 3 bis 6 zu belegen gilt. Dort fällt der Konditionalsatz in Vers 3 auf: Zwar zählen die Verse 4 bis 6 Eigenschaften auf, die schändliches Verhalten bezeugen oder hervorrufen, und insofern bestätigen diese Verse genau das, was eingangs gesagt wird, dennoch entsteht durch das konditionale unde ist daz wâr der Eindruck, als sei die Sprecher-Instanz selbst nicht absolut sicher, ob die Prämisse richtig ist, dass nur mustergültiges Handeln eine umfassende Ehrbarkeit und Anständigkeit von Körper, Seele und öffentlicher Reputation bewirke. Versucht der Sprecher durch den Konditionalsatz der Behauptung von Vers 1 f. die Schärfe zu nehmen angesichts seines wohl adligen Publikums? Immerhin proklamiert er dort, dass eine adlige Herkunft inklusive der materiellen Machtmittel nicht
172 Zum Verständnis der „Lehre vom Tugendadel“ (Bumke, S. 421) vgl. einführend ebd., S. 419–422, hier v. a. 421 f.
5. Man ſeıt daz neman edele en ſy.
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unweigerlich auch einen „Adel der Gesinnung“173 mit sich bringt. Auf das Abmildern der Kritik deutet auch das anfängliche Man seit hin. Die feste Wendung (oft auch man giht) impliziert durch das generalisierende Indefinitpronomen man zwar einerseits, dass das Gesagte als allgemein anerkannt gilt, die Kritik des als eine Art Sprachrohr fungierenden Sprechers also völlig berechtigt ist, andererseits ermöglicht gerade das unspezifische man dem Sprecher, sich mit seinem Tadel hinter dieser Allgemeinheit zu verstecken, um etwaigen Unmut nicht auf sich selbst zu lenken. In jedem Fall werde jedoch, laut Joachim Bumke, „die Gleichung von Geblütsadel und Tugendadel nicht ernsthaft in Frage [gestellt]“174, da „[j]edermann wußte, daß der Adel keine soziale Konkurrenz durch die Tugendhaften zu befürchten brauchte“175. Und Udo Gerdes ergänzt, dass es Wernher nicht darum gehe, „dem sozialen Aufstieg Nichtadliger den Weg zu bereiten“176, sondern das Kontrastieren von Geburts- und Tugendadel diene vielmehr dazu, „die Legitimierung des Adels durch Tugend, insbesondere durch milte, zu fordern“177. Und genau die milte wird ja neben der êre (V. 6) und dem edelen namen (V. 6) den drei Eigenschaften, die für schlechtes Ansehen und, weiter gedacht, für einen schlechten Charakter verantwortlich sind, kontrastierend gegenübergestellt: schande (V. 4 und 8) zusammen mit der fehlenden Bereitschaft, sich vor dieser zu schützen, sowie valsch (V. 5) und erge (V. 5 und 8). Wirft man nun einen Blick zurück zum Stropheneingang, so fällt auf, dass das Thema dort noch in einer eher allgemeinen Behauptung vorgestellt wird (vgl. V. 1 man seit). Im Unterschied dazu enthalten die Verse 3 bis 5 einen Adressatenkreis (vgl. V. 3 genuoge hêrren), der aber nach wie vor recht unspezifisch gehalten ist. In den Versen 7 bis 10 findet dann nochmals eine personelle Präzisierung statt (siehe im [V. 7] und er ), wobei der Spruch natürlich auch jetzt noch sehr allgemein gehalten bleibt. Vers 9 und 10 stellen, ähnlich wie Vers 6, dem mangelhaften Auftreten das vorbildliche der hôchgemuoten gegenüber. Geburts- und Tugendadel stehen also in ständigem Kontrast zueinander, wonach guot (V. 7) mit schande (V. 8) und erge (V. 8) einhergeht, während die zwar besitzlosen, dafür aber in ihrer Gesinnung Edlen (vgl. V. 9 die armen hôchgemuoten) dank ganzer hövescheit (V. 10) in der Lage sind, sich ernsthaft um êre zu bemühen. Die in Vers 1 f. angedeutete Wechselwirkung, dass man nur edele sei, wenn man auch edellî-
173 174 175 176 177
Ebd., S. 421. Ebd., S. 421 f. Ebd., S. 422. Gerdes: Zeitgeschichte, S. 153. Ebd.
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che handele, wird hier also konkretisiert: Es reicht nicht aus, Besitz zu haben, man muss auch in seiner Gesinnung und in seinem Auftreten „reich“ sein, also gemäß der höfischen Werte leben. So kommt es, dass derjenige, der zwar materiell reich ist, dennoch arm an êre sein kann. Die Schlussverse des Spruches ziehen schließlich aus dem zuvor Gesagten eine sentenzartige Bilanz, indem ein letztes Mal Tugendadel (vgl. V. 11 ein armer wol geborn) und Geburtsadel (vgl. V. 12 ein ungeslahter gar, swie rîche er sî) einander gegenübergestellt und ihre typischen Qualitäten (vgl. V. 11 triuwe, milte, êre) bzw. Unarten (vgl. V. 12 schande) wiederholt werden. Bleibt noch ein Blick auf die Überlieferung in Handschrift C. Dort liegen kaum schwerwiegende inhaltliche Abweichungen zur Jenaer Liederhandschrift vor, abgesehen von folgenden Versen: In Vers 6 schreibt C zwei statt drî und bezieht sich also lediglich auf valsch und erge. Diese Lesart ist im Grunde leichter verständlich, da die beiden Bezugspunkte valsch und erge Bestandteil einer Aufzählung sind, während die schande, die in J das dritte Aufzählungsglied bildet, bereits in einem vorausgehenden Satz genannt wird und insofern sowohl räumlich als auch kontextuell weiter von dem summierenden drî entfernt steht.178 Vers 10 unterscheidet sich wesentlich in zwei Punkten von der Lesart in J: Zum einen steht statt êre die ihr inhaltlich nahestehende wirde. Beide Termini beziehen sich auf den öffentlichen Raum und die Art und Weise, wie der Mensch innerhalb dieses Raumes dank seiner Interaktion wahrgenommen wird. Die Lesarten sind von ihrem Inhalt her also gleichwertig. Der zweite Unterschied zwischen C und J ist von weit größerer Bedeutung: mit ganzer hövescheit fehlt in C komplett. Das ist deswegen so signifikant, weil dies mit Blick auf sämtliche Überlieferungsträger die einzige Textstelle ist, in der Bruder Wernher Werte wie êre, milte, den edelen namen oder hôhen muot explizit (sprich: wörtlich) in einen höfischen Kontext stellt. Vor diesem Hintergrund hat Udo Gerdes nicht zu Unrecht geschlussfolgert, dass die höfische Tugendlehre bei Wernher nur z. T. als eine Art moralischer Rahmen eines Spruches dient. Es werden vielmehr nur einzelne Tugenden herangezogen und als Maßstab verwendet, während „einige Tugenden bei Wernher eine auffallend geringe Rolle [spielen]179 – und zwar nicht nur solche, die in den Umkreis des
178 Schönbach, der in seiner Ausgabe der Überlieferung in C grundsätzlich den Vorzug einräumt, folgt hier jedoch der Lesart von J, „denn die schande aus 3 [sic!] gehört zu valsch und erge“ (Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 56). 179 Zu nennen wären hier etwa mâze, stæte oder kiusche, die gar nicht oder nur sehr vereinzelt (kiusche: III,53) von Wernher thematisiert werden.
5. Man ſeıt daz neman edele en ſy.
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Minnewesens gehören“180. „[S]eine Tugendlehre beruht weniger auf eigentümlich höfischen als auf den allgemeinen christlichen Anschauungen“181. Die letzte bedeutsame Abweichung in C befindet sich im Relativsatz in Vers 11: Während J drei zentrale Tugenden aufzählt (triuwe, milte, êre), durch die der Besitzlose geadelt wird, summiert C diese Qualitäten in dem Überbegriff tugenden und betont insofern nicht einzelne Eigenschaften, sondern hebt durch den Terminus vuore auf die angemessene Lebensweise im Rahmen der höfischen Tugenden ab (rehte vuore in tugenden).
Inhaltliche Ähnlichkeit mit anderen Texten vgl. zu Vers 1 f.: Thomasîn von Zerklære ,Der Welsche Gastʻ V. 3860–63: niemen ist edel niwan der man, der sîn herze und sîn gemüete hât gekêrt an rehte güete. (Willms, S. 74) Hugo von Trimberg ,Der Rennerʻ V. 1417 f.: Nieman ist edel denne den der muot Edel machet und niht daz guot (Ehrismann, S. 59) Freidank 54, 6–11: Swer tugent hât, derst wol geborn: ân tugent ist adel gar verlorn. Er sî eigen oder frî, der von geburt niht edel sî, der sol sich edel machen mit tugentlîchen sachen. (Spiewok, S. 44 f.)
Metrik A A A A 5 A A A
4ma 4mb 7 2m c 4mb 4ma 7 2m c 4md
Man séit, daz níeman édelẹ ens undẹ den wónet ouch válsch undẹ érge b – diu dr verdérbent míltẹ undẹ erẹ und óuch den édelen námen.
180 Gerdes: Beiträge, S. 88. 181 Ebd., S. 159.
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A A 10 A A A
8ke 6md 8ke 8mf 9mf
Ton I, Korpus in J
schandẹ, undẹ er sólde séhen die ármen hochgemùoten án, die da mit gánzer hvescheit kúnden wól nâch eren ríngèn. miltẹ sô ịst, rîchẹ
Literatur Bumke, S. 421 f. • Gerdes: Beiträge, S. 86, 87, 89 Anm. 1, 93 und Anm. 5, 99 Anm. 8, 149 und Anm. 1, 159 und Anm. 5, 178 und Anm. 3, 179 und Anm. 5, 181 und Anm. 8 und 10, 185 f. • Gerdes: Zeitgeschichte, S. 153 • HMS 4, S. 523 • Kemetmüller, S. 38, 40, 64, 67, 217 • Lamey, S. 8, 35, 37, 38 • Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 55–57 • Scholz: Reichsidee, S. 87 • Vetter, S. 248.
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Ton I, Korpus in J
6. Mır tůt vıl maníger alſo eẏn wıb. (J6) Mır tůt vıl maníger alſo eẏn / wıb. Dıe haz ıren werden ma̅/ne treıt. Vıl dıcke vmme anders / nıcht wan vmme ír ſelbes míſſetat / Daz ıſt doch níeman alſo leıt. // 5 Alſo ẏm ob ıcht ır boſer lıb. Der dín/ge tůt daz ẏm vnde ır an eren míſ/ſeſtat Got weíz daz wol alſo ge/ſcícht ouch mír. Swelích rıcher her/re an tugenden vnde an eren gar / vůr tırbet. Vvaz rechet er an mír / er denket ob ıch mẏt ſchelten / ín vůr bẏr. 10 Vnde er mít hazze vn̅ / ouch mẏt níde mẏnen ſchaden / wırbet Nv reche vns beıden got / dıv leıt dıe wır gar ane ſchulde / tragen. Den bıderben man an bo/ſen wıbe vnde mích an allen ar/gen boſen tzagen. /
9 Wurde das zweite er beim Streichen übersehen? 12 bei wıbe scheint ursprünglich ‑n gestanden zu haben
6. Mır tu˚t vıl maníger alſo ey˙n wıb.
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Mir tuot vil maneger alsô ein wîp, diu haz ir werden manne treit, vil dicke umbe anders niht, wan umbe ir selben missetât. daz ist doch nieman alsô leit 5 alsô im, ob iht ir bœser lîp der dinge tuot, daz im unde ir an êren missestât. got weiz wol, alsô geschiht ouch mir: swelich rîcher hêrre an tugenden unde an êren gar verdirbet, waz richet er, ob ich mit schelten in verbir 10 unde er mit hazze und ouch mit nîde mînen schaden wirbet? nû riche uns beiden got diu leit, diu wir gar âne schulde tragen, den biderben man an bœsen wîbe unde mich an allen argen bœsen zagen!
6 J, 25 [24] C 3 selben] ſelbe̅. 4 daz ist doch] vn̅ ıſt oͮch. 5 iht ir bœser] ır vıl valſcher. 6 (dinge) ıht. unde] ald. 7 (weiz) vıl. geschiht] ıſt. 8 swelich] ſwa. êren] wdekeıt. gar fehlt. 10 hazze] níde. nîde] haſſe. mînen schaden] ın ſchande̅ vf mıch. 11 gar âne] ane alle. 12 an] vo̅. mich an allen argen bœsen] mír vo̅ tvge̅deloſen arge̅. 1 mang. als.
3 einmal vmb. 5 als. 7 als. 10 einmal vn̅.
11 rıch.
12 vn̅.
2 diu: Rel.pron. zu wîp (V. 1), Inkongruenz des Genus 3 selbe (hsl. ſelbes): umbe fordert hier Akk. Sg. Fem., deswegen selben (selp flektiert sowohl stark als auch schwach, da es hier einem Pron. folgt, wähle ich die schwache Flexion, vgl. Mhd. Gram., § M 48) 5 (ir bœser ) lîp: Der Begriff wird im Mhd. auf dreierlei Arten verwendet: 1. ,Körper‘, 2. ,Leben‘ und 3. als Personenumschreibung (z. B. mîn lîp für ,ich‘). Ich gehe im vorliegenden Fall von einer Personenumschreibung aus (etwas freier ausgedrückt durch ,Wesen, Natur‘) und nicht von einer Verwendung, die allein auf die körperliche Dimension ausgerichtet ist. Es geht m. E. vielmehr um die Schlechtigkeit der Frau insgesamt, nicht nur auf körperlicher Ebene. 6 der dinge ist part. Gen. zu iht (V. 5), der Rel.satz ist Attr. zu iht (V. 5), wörtlich: ,ein Etwas der Dinge, das …‘, ich übersetze freier und beziehe den Rel.satz auf die Dinge missestân: mit Dat. (im, ir ) ,nicht gut stehen‘ 9 verbern: mit Akk. d. P. (in) ,verschonen‘ 10 werben: mit Akk. d. S. (mînen schaden) ,sich bemühen, werben um‘, hier ,aus sein auf etwas‘ 12 bœse: hier sw. flektiert (Dat. Sg. Neutr.) oder hsl. wurde auslautend /m/ > /n/ zage: hier als Schimpfwort ,elender Geselle, durchtriebener Kerl‘
HMS 2: IV,5 Sch 26
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Ton I, Korpus in J
Übersetzung Mich behandelt manch einer wie eine Frau, die Feindseligkeit gegen ihren werten Ehemann hegt, sehr häufig aus keinem anderen Grund als um ihres eigenen Vergehens willen. Das bekümmert dennoch niemanden so 5 wie ihn, wenn ihr schlechtes Wesen etwas von den Dingen tut, die ihm und ihr mit Blick auf das Ansehen nicht gut [anstehen. Gott weiß genau, genauso ergeht es auch mir: Welcher wohlhabende Herr auch immer hinsichtlich Tugenden und Ansehen [völlig verkommt, was rächt er sich, wenn ich ihn mit Tadel verschone 10 und er mit Feindseligkeit und auch mit Hass auf meinen Schaden aus ist? Jetzt möge Gott uns beiden für den Kummer, den wir ganz und gar ohne [Schuld erdulden, Genugtuung verschaffen, dem anständigen Mann gegenüber (der) üblen Frau und mir gegenüber allen [üblen, gemeinen Kerlen!
Inhalt Anhand des Vergleichs mit einer unausgewogenen Beziehung zwischen Mann und Frau – ein Thema das Wernher auch noch an anderer Stelle zu Veranschaulichungszwecken heranzieht182 – möchte das Sprecher-Ich in diesem Spruch auf sich selbst und die ungerechte Behandlung durch einen missgünstigen Herrn aufmerksam machen. Der Vergleich reicht von Vers 1 bis 6 und wird klar durch das einleitende alsô in Vers 1 markiert (und rückwirkend nochmals durch alsô in Vers 7). Zunächst wird die Frau und ihr feindseliges Benehmen ihrem Mann gegenüber beschrieben und im selben Atemzug darauf hingewiesen, dass der haz, den die Frau ihrem Mann ohne Grund (vgl. V. 11 âne schulde) entgegenbringt, eigentlich auf sie selbst bezogen ist, und zwar aufgrund ihrer eigenen Vergehen. D. h. der haz der Frau gilt eigentlich ihr selbst und ihrer missetât, sie lenkt ihn jedoch um auf ihren Mann. Leidtragender ihres Verhaltens ist jedoch nicht allein ihr Mann (vgl. V. 4 f.), sondern auch sie selbst, denn aufgrund der dinge, die ihr bœser lîp tut (vgl. V. 6), wird nicht nur sein, sondern auch ihr Ansehen in Mitleidenschaft gezogen (vgl. V. 5 f.). Die Kernaussage lautet also: 182 Vgl. Spruch III,51 und III,53.
6. Mır tu˚t vıl maníger alſo ey˙n wıb.
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Der Mann muss zu Unrecht die Feindseligkeit seiner Frau erdulden, obwohl diese eigentlich sich selbst für ihre Vergehen bestrafen müsste – nun leidet jedoch die êre beider unter dieser Situation. Thematisch erinnert dies an die Erzählungen Diu übel Adelheit oder Daz buoch von dem übeln wîbe, wobei v. a. Letzteres angesichts der Gewalt, die die Frau gegenüber dem Mann ausübt, natürlich deutlich drastischer ist als I,7. Ungeachtet dessen steht jedoch in beiden Dichtungen ein Ehepaar im Zentrum, bei dem sich die Frau dem Mann gegenüber aufmüpfig, herrisch, ja sogar gewaltätig verhält.183 In der zweiten Strophenhälfte, beginnend mit dem Abgesang, rückt das Sprecher-Ich wieder in den Fokus, d. h. abgesehen von Vers 1 tritt das Ich erst nach Abschluss des Vergleichs wieder in Erscheinung. Die Rolle der bösen Ehefrau übernimmt jetzt ein rîcher hêrre (V. 8), der jedoch aufgrund des verallgemeinernden swelich nicht näher zu bestimmen ist, Wernher will seinen Scheltspruch wohl eher als universelle Belehrung für derartiges Fehlverhalten verstanden wissen. Besagter rîcher Herr – das Attribut ist natürlich nicht zufällig gewählt – ist an tugenden unde an êren völlig verkommen (vgl. V. 8) (darin besteht seine missetât, vgl. V. 3), doch anstatt etwas dagegen zu unternehmen, ist er darum bemüht dem Sprecher-Ich mit hazze (V. 10) (eine direkte Anspielung auf das wîp, vgl. V. 2) und mit nîde (V. 10) zu schaden, und zwar ungeachtet dessen, dass sich das Ich ihm gegenüber mit berechtigtem Tadel zurückhält (auch der Ehemann unternimmt nichts gegen seine Frau). Der Verweis auf Gott in Vers 7 und dass dieser genau über das ungerechte Schicksal des Ich Bescheid weiß, dient als eine Art Druckmittel gegenüber dem rîche[n] hêrre[n] (V. 8) und zugleich als Zeichen der Hilflosigkeit: Das Ich weiß sich keinen anderen Rat mehr, als auf die oberste Instanz zu verweisen. Der Strophenschluss schlägt schließlich nach gewohntem Muster wieder einen Bogen zurück zum Aufgesang: Der Sprecher tritt als Fürsprecher für sich und den (fiktiven) Ehemann auf, indem er darum bittet, dass Gott diejenigen, die gar âne schult (V. 11) Kummer leiden müssen – etwa durch eine üble Ehefrau oder durch arge[n] bœse[n] zagen (V. 12) –, dafür entschädigen möge. Die Rettung und Hilfe scheint also allein durch Gott noch möglich, so hoffnungslos ist die Lage. Dieser Spruch ist der erste in einer Reihe von Sprüchen, die inhaltlich ganz unterschiedlich ausgerichtet sind, sich jedoch in einem Punkt annähern: Wernher lässt die Frauen insgesamt eher schlecht wegkommen. Ob es nun um eine Frau geht, die ihrem Mann haz entgegenbringt bzw. ihrer gesellschaftlichen Rolle nicht gerecht wird (vgl. III,51 und III,53) oder eine Mutter ihrer 183 Vgl. zu den Erzählungen Röhrich und Ebbinghaus.
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Ton I, Korpus in J
Tochter missgönnt, wenn es dieser gut ergeht (vgl. III,47), – Wernher äußert nur selten bewusst ein gutes Wort über das weibliche Geschlecht.184 Andererseits hat Maria Dorninger nicht Unrecht, wenn sie darauf hinweist, dass es in Wernhers Werk „keine wirkliche Frauenschelte“185 gebe. Dass dies jedoch wiederum bedeutet, die Frau werde, „wiewohl hier rhetorisch instrumentalisiert, […] analog zu ihrer Funktion im Minnesang zum Medium für die Erziehung des Mannes“186, wie Dorninger schlussfolgert, würde ich nur zögerlich unterschreiben. Die erzieherische Bedeutung der Frau gegenüber dem Mann und innerhalb der Gesellschaft kann in Wernhers Werk m. E. nicht scharf genug herausarbeitet werden. Bleibt noch ein Blick auf die Parallelüberlieferung in C zu werfen: Die signifikanten Abweichungen beschränken sich auf inhaltlicher Ebene in erster Linie auf Begriffe, die in ihrer Bedeutung weitgehend gleichwertig sind, so in Vers 5 valscher lîp statt bœser lîp, Vers 8 werdecheit statt êren und Vers 12 tugendelôsen argen zagen statt argen bœsen zagen, wobei im letzten Fall die Lesart in C etwas „stärker“ ist, da nicht einfach nur eine einzelne Unart zur Attribuierung herangezogen wird, sondern mit tugendelôsen sämtliche guten Eigenschaften abgesprochen werden. Die einzig umfangreichere Variante in C findet sich in Vers 10: Statt mînen schaden (werben) heißt es dort in schanden ûf mich (werben). In C rückt also statt des Sprecher-Ich, von dessen schaden in J die Rede ist, der rîche[r] hêrre (V. 8) noch stärker in den Fokus, indem erneut auf sein verkommenes Ansehen (vgl. V. 10: in schanden) hingewiesen wird.
Inhaltliche Ähnlichkeit mit anderen Texten vgl. insgesamt Freidank 105,17–22: Der site dunket mich nicht guot, sô eins mannes wîp missetuot,
184 Explizit positiv konnotiert ist die Frau in II,24,9, wenngleich der Spruch „nur“ eine mehr oder weniger unmotivierte Aneinanderreihung von kurzen, sentenzartigen Aussagen ist, die in erster Linie Allgemeinplätze sind. Eher neutral wird das Verhalten der Frau wiederum in II,36 (v. a. V. 7) und III,56 (v. a. V. 2 f.) bewertet, nicht zuletzt deswegen, weil es dort auf das Benehmen des Mannes zurückgeht. Übrigens wird auch der Mann durchaus für sein unmännliches Verhalten gerügt (vgl. III,51 und z. T. III,53). Zur Rolle der Frau in Bruder Wernhers Werk vgl. Dorninger. 185 Dorninger, S 33. 186 Ebd.
6. Mır tu˚t vıl maníger alſo ey˙n wıb.
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des tiuvels er engiltet, daz man in drumbe schiltet; bî mîner triuwe ich daz wol nim, daz ez nieman leider ist dan im. (Spiewok, S. 90)
Metrik A4ma A4mb A7mc A4mb 5 A4ma A7mc A4md 2A 8 k e A6md 10 A 8 k e A 8 2m f 2A 9 2m f
Mir túot vil máneger álsộ ein wp, dickẹ, umbẹ, umbẹ alsộ undẹ alsộ swelich rcher herrẹ an túgenden úndẹ an eren gár verdírbèt, undẹ, hazzẹ richẹ den bidérben mán an bœ́sen wbẹ unde mích an állen árgen bœ́sen zágen!
Literatur Dorninger, S. 29 f. • Gerdes: Beiträge, S. 153, 164 und Anm. 4, 177 und Anm. 1, 179 und Anm. 4, 181 und Anm. 5, 197, 203 Anm. 2 • HMS 4, S. 522 • Kemetmüller, S. 39 f., 72, 90, 219 • Lamey, S. 8, 11, 35, 38 • Roethe, S. 339 • Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 61 f. • Vetter, S. 248.
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Ton I, Korpus in J
7. Ez wenet maníger daz er ſẏ. (J7) Ez wenet maníger daz er ſẏ. / Der er nẏe wart noch nẏm/mer wırt. Vnde lebet ín dem wane / alſo vıl gar ín gouches ſíten Den / ſelben ſelde gar vůr bírt. 5 Vnde ıſt / ouch gantzer tugenden vrı. Jme ıſt / ſín mvt tzv̊ kurtz. tzv̊ lanc. tzv̊ breít. / tzv̊ ſmal geſníten Er wıl ſıch nẏn/der vugen hín. Da er tzv̊ rechte ho/ret. Vnde mít gůten vůgen were / Er wıl ſıch tzucken vůr daz heız / ıch toren ſín. 10 kvmet er tzv̊ hobe ſo / tzeıget er ſíne lugelıche mere Er hıe. / er dort. er dort. er hıe. ſus kan / er wenken durch daz ıar. Er vo. er / voxs. mít kvndıcheıt. da míte we/net er ſích tıvren gar /
7. Ez wenet maníger daz er ſy˙.
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Ez wænet maneger, daz er sî, der er nie wart noch niemer wirt, unde lebet in dem wâne alsô vil gar in gouches siten. den selben sælde gar verbirt 5 unde ist ouch ganzer tugenden vrî. ime ist sîn muot ze kurz, ze lanc, ze breit, ze smal gesniten. er wil sich niender vüegen hin, dâ er ze rehte hœret unde mit guoten vüegen wære. er wil sich zücken vür, daz heiz ich tôren sin. 10 kumet er ze hove, sô zeiget er sîniu lügelîchiu mære: er hie, er dort, er dort, er hie – sus kan er wenken durch daz jâr. er voh, er vuhs, mit kündecheit dâ mite wænet er sich tiuren gar.
7 J, 15 [14] C 2 der] dc. wıạrt (wạrt ist durch Tilgungspunkt unter dem a und interlinear nachgetragenem ı zu wırt korrigiert). 3 (lebet) doch. in gouches] nach goͮches. 4 den selben sælde] da bı ín ere. 5 unde] er. ganzer tugenden] hoͮbet tvge̅den. 6 ime] dem. ze breit, ze smal] zeſmal ze breıt. 7 er] ern. 8 dar er wol horte vn̅ ıedoch vo̅ alle̅ rechte wre. 10 sô zeiget] da ſeıt. sîniu lügelîchiu] ſín lvgelıche̅. 12 (mit) boͤſer. dâ mite fehlt. 3 vn̅. lebt.
9 heıſſe.
10 kv̅t.
12 vohe.
3 gouch: ,Tor, Narr‘ site: ,Art und Weise, wie man lebt und handelt, Gewohnheit‘ 4 verbern: ,aufgeben, meiden, unberücksichtigt lassen‘ (evtl. auch ironisch ,verschonen‘) 8 vuoge: ,gebührende Weise‘ 9 vür zücken: ,empor zücken, einen Vorrang geben‘, hier ,nach vorne, in den Vordergrund drängeln‘ 10 zeigen: hier auf den geistigen Bereich übertragen ,etwas darlegen, bezeichnen, verkünden‘ sîniu lügelîchiu mære: Ich verstehe mære als st. Neutr. (zur Differenzierung zwischen Neutr. und Fem. vgl. mære im BMZ). Das Poss.pron. flektiert st. und da in der Verbindung Poss.pron. – Adj. – Subst. das attr. Adj. sowohl st. als auch sw. flektieren kann (vgl. Mhd. Gram., § S 102 c)), die Endg. der Hs. wiederum auf die st. Flexion hindeutet, folge ich dieser. 11 wenken: ,wanken, schwanken, schweifen‘, hier ,streunen, herumtreiben‘ 12 voh(e): hier ,Füchsin‘ kündecheit: ,Klugheit, List, Verschlagenheit‘ tiuren: ,verherrlichen, ehren, preisen, veredeln‘
HMS 2: IV,2 Sch 23
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Ton I, Korpus in J
Übersetzung Es glaubt manch einer, dass er (etwas) sei, das er nie wurde noch je sein wird, und lebt in diesem Glauben ganz und gar in der Art eines Narren. Denselben meidet das Glück ganz und gar 5 und (er) ist auch frei von vollkommenen Tugenden. Ihm ist seine Gesinnung zu kurz, zu lang, zu schmal, zu breit zugeschnitten. Er möchte sich nirgendwo einfügen, wo er zu Recht hingehört und auf anständige, gebührende Weise sein sollte. Er möchte sich nach vorne drängeln, das nenne ich den Verstand eines Narren. 10 Kommt er an den Hof, so erzählt er seine verlogenen Geschichten: Er hier, er dort, er dort, er hier – auf diese Weise versteht er durch das Jahr zu [streunen. Er (sei) Füchsin, er (sei) Fuchs, mit List glaubt er sich ganz und gar [auszuzeichnen.
Inhalt Dieser Spruch ist zunächst als Belehrung darüber zu verstehen, dass man seinen Platz in der Gesellschaft kennen und sich nicht zum Narren machen sollte, indem man glaubt, etwas Besseres zu sein (vgl. V. 1–9 bzw. 10). Nachdem auf den Irrglauben, maneger (V. 1) halte sich für mehr, als er tatsächlich sei (vgl. V. 1–3), hingewiesen wurde, nennt der Text Eigenschaften, die maneger (V. 1) nicht vorweisen kann (vgl. V. 4 f.: sælde und tugenden generell), und Bereiche, in denen er sich aufgrund seiner Einbildung anders verhält, als es eigentlich angemessen wäre (vgl. V. 6–9: sîn muot [V. 6], der ihm wie ein Kleidungsstück sowohl zu groß als auch zu klein ist; die Position, dâ er ze rehte hœret [V. 8], auf die er sich jedoch nicht beschränken lassen will, sondern sich stattdessen vür zücke[t] [V. 9] z. B. ze hove [V. 10]). Im letzten Drittel (ab V. 9 bzw. 10) wird die Belehrung, die zunächst allgemein ausgerichtet ist und auf keinen bestimmten Adressaten abzielt (maneger ), konkretisiert, indem sie in eine Abrechnung des Sprecher-Ich mit einem großspurigen Konkurrenten übergeht, wobei der Übergang von der Belehrung in die Abrechnung so fließend ist, dass einem der Wechsel anfangs kaum bewusst ist. Dass die Änderung der Motivation des Spruches derart elegant verläuft, hat mit dem Beibehalten des rhetorischen Gepräges zu tun. Die Anapher er wil sich aus Vers 7 steht auch in Vers 9, wodurch nicht nur formale, sondern auch inhaltliche Nähe impliziert wird. Darüber hinaus weist auch der
7. Ez wenet maníger daz er ſy˙.
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tôren sin in Vers 9 zurück auf die gouches siten in Vers 3. Allein durch die Nennung des Sprecher-Ich (vgl. V. 9 ich), das zuvor unsichtbar bleibt, deutet sich eine Änderung des Duktus ab Vers 9 an. Interessanterweise bringt sich das Ich im weiteren Verlauf aber nicht mehr persönlich ein, dennoch erhält das Strophenende eine subjektive Färbung. Die Schärfe, die die Abrechnung dabei birgt, wird zum einen durch die Wortwahl bewirkt (lügelîchiu [V. 10], wenken [V. 11], voh und vuhs187 sowie kündecheit [V. 12]), zum anderen durch die abgehackte, stakkatoartige und konjunktionslose Aufzählung und Wiederholung zu Beginn von Vers 11 und 12: er hie, er dort, er dort, er hie188 und er voh, er vuhs. Auf diese Weise entsteht eine ungeduldige, beinahe fahrige und angriffslustige Stimmung, die klar im Kontrast steht zu der umsichtigen und eher nüchternen Färbung der Belehrung im ersten Teil des Spruches. Der Aufbau der Strophe ist äußerst raffiniert, denn dadurch, dass lange gar nicht klar ist, dass der Spruch eigentlich darauf abzielt, einem Konkurrenten sein prahlerisches und unrechtmäßiges Auftreten vorzuhalten,189 wird der Rezipient dazu gebracht, dem Gesagten, genauer: der Belehrung von Vers 1 bis 9 bzw. 10, zuzustimmen. Der Inhalt der Belehrung ist weder fragwürdig noch angreifbar, so dass es absehbar ist, dass das Publikum auf der Seite des (noch unsichtbaren) Sprechers steht. Nachdem dieser nun der Zustimmung des Publikums sicher sein kann, tritt er selbst in Erscheinung und schwenkt um zum eigentlichen Anliegen des Spruches: das Abstrafen eines Kollegen.190 Und nun wird der tatsächliche Zweck der Belehrung deutlich: Da sich der 187 Der Fuchs steht seit jeher für den Inbegriff von Schläue, aber auch Hinterlist (vgl. DWB Fuchs 6)), und ist hier also ganz bewusst gewählt. Schönbach meint speziell mit Blick auf Vers 12 zudem: „12, die Pointe geht wohl auf ein Sprichwort zurück, das etwa hieß: vuhs oder vohe, das ist gleich, sie stehlen beide.“ (Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 58) Zu Parallelen zwischen I,7 und dem ,Reinhart Fuchs‘ vgl. weiter unten im Kapitel ,Inhaltliche Ähnlichkeiten mit anderen Texten‘. 188 Die beiden Gegenpole hie und dort beziehen sich im vorliegenden Fall auf unterschiedliche irdische Orte. In einer größeren Anzahl von Sprüchen benutzt Bruder Wernher dieses Wortpaar jedoch für die Pole „Diesseits“ und „Jenseits“ (vgl. II,19,5 + 6; II,20,4 + 5 [und V. 9]; I,24,12; II,41,12 [zusammen mit der Parallelüberlieferung zu II,22: C4, V. 10]; III,52,10; VI,72,6 [und V. 4]; außerdem wird in einigen Sprüchen zwar nur das Lexem hie verwendet, der unmittelbare Kontext impliziert jedoch das dort [in Form des Jenseits oder speziell der Hölle], vgl. dazu II,23,12; II,33,12; II,36,4; II,41,1). 189 Udo Gerdes versteht den Schluss der vorliegenden Strophe weniger als den eigentlichen Zweck des Spruchs, sondern als Beispiel, das die vorausgegangene Belehrung veranschaulichen soll (vgl. Gerdes: Beiträge, S. 182 und 184). 190 Udo Gerdes hat zu Recht darauf hingewiesen, dass dieser Spruch der einzige ist, in dem Bruder Wernher „einen Hieb […] gegen jemanden [austeilt]“ (ebd., S. 165). Ansonsten hält er sich mit derart offensichtlicher Kritik an Konkurrenten zurück und bleibt lieber im Unspezifischen wie z. B. bei den ôrendriusel[n] in III,55,6.
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Ton I, Korpus in J
Betrüger genau so verhält, wie es zuvor beschrieben und vermutlich vom Publikum als unangemessen bewertet wurde, stellt das Sprecher-Ich sicher, dass ihm die Zustimmung der Hörerschaft auch jetzt noch erhalten bleibt. Um nicht unglaubwürdig zu werden und indirekt unanständiges Verhalten gutzuheißen, hat das Publikum gar keine andere Wahl, als den Sprecher zu unterstützen – unabhängig davon, ob seine Anklage gerechtfertigt ist oder nicht. Was die Überlieferung in C angeht, so unterscheiden sich J und C, ähnlich wie bei den vorausgegangenen Sprüchen, v. a. durch Wortumstellungen oder Lexeme, die durch einen inhaltlich weitgehend gleichwertigen Begriff ersetzt sind (V. 4: êre statt sælde, V. 5: houbettugenden statt ganzer tugenden). Hinzuweisen ist jedoch noch auf das in Vers 12 ergänzte Adjektiv bœse (mit bœser kündecheit), das die negative Konnotation der kündecheit noch klarer hervorhebt.
Inhaltliche Ähnlichkeit mit anderen Texten Wie bereits Schönbach erklärt hat,191 wird anhand der Wortwahl im Abgesang der Strophe bewusst von den Charaktereigenschaften, die bestimmten Tieren (hier speziell dem Fuchs) zugesprochen werden, Gebrauch gemacht. Ob darin eine direkte oder bewusste Anspielung auf den ,Reinhart Fuchs‘ von Heinrich dem Glîchezâre besteht, wie es Schönbach andeutet,192 kann m. E. nicht mit letzter Sicherheit gesagt werden, da die Wortwahl zur Umschreibung des Fuchses nicht ausschließlich auf den ,Reinhart Fuchs‘ beschränkt werden kann.193 Gleichwohl lassen sich klare Parallelen zwischen der Charakterisierung des Mannes aus I,7 und dem Fuchs als solchem finden, mit Blick auf den ,Reinhart Fuchs‘ z. T. sogar bis in den Wortlaut. So wird der Fuchs Reinhart in regelmäßigen Abständen – neben der list – mit dem Wort kündecheit umschrieben194 (vgl. bei Bruder Wernher V. 12). Und auch er erzählt sowohl den diversen Tieren, die ihm begegnen, als auch dem König, als er an den Hof 195 kommt,
191 Vgl. Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 58. 192 Vgl. ebd. 193 Bereits der ,Physiologus‘ weist auf das (hinter-)listige Wesen des Fuchses hin, vgl. dazu Maurer, S. 42, 43 f., 84; Schröder: Millstätter Physiologus, S. 110 f., 266–272 und Schönberger, S. 28 f. 194 Vgl. Göttert, V. 7, 217, 228, 307, 364, 1163, 1823. 195 Vgl. ze hove im ,Reinhart Fuchs‘: ern gienge zv dem hove mit sinnen (ebd., V. 43) und ze hove (ebd., V. 2179).
7. Ez wenet maníger daz er ſy˙.
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bewusst Lügengeschichten.196 Unabhängig davon, ob Wernher mit diesem Spruch nun auf den ,Reinhart Fuchs‘ anspielen mag oder nicht, in jedem Fall aktiviert und nutzt er gezielt die Eigenschaften, die man mit der Personifizierung des Fuchses in Verbindung bringt (das Umherstreifen [vgl. V. 11], kündecheit [V. 12], lügelîchiu mære [V. 10]) und bei denen Wernher davon ausgehen kann, dass sein Publikum problemlos in der Lage ist, sie auf den Kontext seines Spruches zu übertragen. vgl. zu Vers 9: Freidank 77,8–11: [Swer die werden nider drucket und die swachen für zucket von swelchem hêrren daz geschiht, dern gert keiner êren niht.] (Bezzenberger, S. 136 f.)
Metrik A4ma A4mb 2A 7 2m c A4mb 5 A4ma A 7 2m c A4md A8ke A6md 10 2A 8 k e A8mf A9mf
Ez wǽnet máneger, dáz er s, wânẹ undẹ íst ouch gánzer túgende vr. imẹ dâ ér ze réhte hœ́ret únde mit gúoten vegen wǽre. kumet ér ze hóve, sô zéiget ér sîniu lgelchiu mǽrè:
Literatur Gerdes: Beiträge, S. 32 und Anm. 3, 152 Anm. 2, 165, 179 und Anm. 4, 182 und Anm. 2, 184 f. • HMS 4, S. 523 • Kemetmüller, S. 38, 218 • Lamey, S. 30 (C15 = J7), 35, 37, 38 (C15 = J7) • Meyer, S. 114 • Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 57 f. • Scholz: Reichsidee, S. 88.
196 Vgl. im ,Reinhart Fuchs‘: kvndiclichen lvge (ebd., V. 228), vbiliv mere (ebd., V. 620), boese lvgenere (ebd., V. 2184).
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Ton I, Korpus in J
8. Uvıe ſol eín ſínger ſıch bewarn. (J8, U) Uvıe ſol eín ſínger ſıch bewarn. / Sínt man dıe lob vůr ſmeẏ//chen hat. Vnde ouch dıv bẏſpıl / vůr eín ſpot. Sín twíngen vůr / ſchelten tzelt Swelıch herre ſıch / des nıcht an lat. 5 Der mac mẏt / eren wol gevaren. / Dem ſínt ouch / ſínger gute tzuch. ob er dıe rech/ten welt Vvaz weız an ſẏme h/zen der. Der mír mẏn lob tzv̊ lo/ſen gít. Mín twíngen tzv̊ eẏme / ſchelten Der wıl daz er myn. / vnde ıch ſín. tzv̊ vrıvnde vnper. / 10 Daz ſolte er of den holten ſlan wes / lezt er mích vngelten Got weız / daz wol daz ıch den bıderben gů/tes noch geſprochen han. Daz ıch / daz nícht durch loſe̅ tete ıch wan/de ıch hete recht vnde wol getan /
6 nach tzuch wurde radiert (‑t getilgt?)
8. Uvıe ſol eín ſínger ſıch bewarn.
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Wie sol ein singer sich bewarn, sint man diu lop vür smeichen hât unde ouch diu bîspel vür ein spot, sîn twingen vür schelten zelt? swelich hêrre sich des niht enlât, 5 der mac mit êren wol gevarn; dem sint ouch singer guote zuht, ob er die rehten welt. waz weiz an sîme herzen der, der mir mîn lop ze lôsen gît, mîn twingen ze eime schelten? der wil, daz er mîn unde ich sîn ze vriunde enber. 10 daz solde er ûf den holzen slân. wes læzt er mich engelten? got weiz daz wol, daz ich den biderben guotez noch gesprochen hân, daz ich daz niht durch lôsen tete; ich wânde, ich hæte reht unde wol getân.
8J 2 sint: Obgleich die Konj. sint (auch sît) in der Regel kausal, z. T. auch temporal oder konzessiv, gebraucht wird (vgl. Mhd. Gram., § S 176, 1.), scheint sie hier m. E. eher konditional gefärbt zu sein. smeichen: ,das Schmeicheln‘ 3 twingen: Eigentlich ,Aufdrängen, Bedrängen, Nötigen‘ hier jedoch im Zusammenhang mit dem twincliet zu sehen, das laut HWB speziell zur milte drängt (vgl. HWB twincliet). 4 des: adv. Gen., semantisch Gen. der Relation ,in Bezug auf‘ (vgl. Mhd. Gram., § S 75) enlân (Kontr. zu entlâzen): refl. ,sich entfalten, aufblühen’; wörtlich lautet V. 4 ,welcher Herr auch immer sich in Bezug darauf [= die Fehlinterpretationen von lop und bîspel] nicht entfaltet‘, ich übersetze freier. 8 lôsen: hier ,falsches Schmeicheln, Heucheln‘ 9 enbern: mit Gen. (mîn, sîn) ,ohne etwas sein, entbehren, worauf verzichten‘ 10 daz solde er ûf den holzen slân: Hier wird das Verhältnis, das Schuldner und Gläubiger zueinander haben und das über das Kerbholz geregelt wird, auf das Sänger-Ich und einen wohl missgünstigen Herrn übertragen. Auf dem Kerbholz wird eine wie auch immer geartete materielle Schuld durch eine entspr. Anzahl an Kerben festgehalten. Nachdem die Schuld getilgt worden ist, wird das Kerbholz und somit das „Konto“ des Schuldners durch Abspalten oder Abschaben der Holzschicht, in der sich die alten Kerben befinden, wieder „auf Null zurückgestellt“, ist also wieder für neu anfallende Schulden benutzbar. Auf den hier vorliegenden Kontext übertragen, bedeutet dies, dass der in den vorausgehenden Versen genannte missgünstige Herr sein Ansinnen besser vergessen (vom Kerbholz tilgen) sollte. Vgl. dazu DWB Kerbholz 1 e) und HWB ûf slahen. 11 noch: hier einen Ggs. ausdrückend: ,gleichwohl, dennoch, dessen ungeachtet’
HMS 3: I,8 Sch 45
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Ton I, Korpus in J
Übersetzung Wie soll sich ein Sänger schützen, wenn man die Lobpreisungen für Schmeichelei und auch die Gleichnisse für Hohn hält, sein Drängen zur Freigebigkeit als [Tadel ansieht? Welcher Herr auch immer nicht (von solchen falschen Auslegungen) ausgeht, 5 dem vermag es mit dem Ansehen gut zu ergehen; für den bedeuten Sänger zudem anständige Erziehung, wenn er die richtigen [auswählt. Was versteht (schon) derjenige in seinem Herzen, der mir mein Lob als Heuchelei auslegt, mein Drängen als Tadel? Der möchte, dass er auf mich und ich auf ihn als Freund verzichte. 10 Das sollte er (besser) vergessen. Wozu lässt er mich dafür bezahlen? Gott weiß genau, dass ich über den Tüchtigen gleichwohl Gutes gesagt habe (und) dass ich das nicht um der Schmeichelei willen getan habe; ich glaubte, [ich hätte richtig und gut gehandelt.
Inhalt Der Spruch behandelt das Verhältnis von Sänger und Publikum (hier allen voran dem hêrre[n] [V. 4], dem eigentlichen Gönner also, wenngleich das unspezifische man [V. 2] des Stropheneingangs dies noch offen lässt und erst der weitere Verlauf einen eingehenderen Blick erlaubt). Dieses wird als problematisch beschrieben, da der Sänger (in V. 1–3 zunächst noch irgendein singer) sich von seiner Zuhörerschaft missverstanden sieht: Lob wird als Schmeicheln (vgl. V. 2),197 Gleichnisse und Redewendungen als Spott und ein zur Freigebigkeit drängender Ton (wie im twincliet) als Rüge des vermeintlichen Geizes aufgefasst (vgl. V. 3). Der Sänger scheint sich dem Publikum geradezu ausgeliefert zu fühlen, worauf bewarn in Vers 1 und die Frageform der Verse 1 bis 3 hindeuten.198 Nachdem sich der erste Stollen mit dem Sänger und dessen defensiver Position auseinandergesetzt hat, wendet sich der zweite Stollen dem hêrre[n] 197 Der Vorwurf der Schmeichelei und des unaufrichtigen Lobs begegnet auch noch in II,44,8; III,49,6 und III,52,5 f. 198 Udo Gerdes weist darauf hin, dass der Dichter mit seiner Beschwerde „eine falsche Reaktion auf Formen seiner Belehrung [rügt], nicht Mangel an Kunstsinn überhaupt“ (Gerdes: Beiträge, S. 164). Diese Vermutung ist zwar nicht allzu gewagt, allerdings kann sie anhand des Textes weder belegt noch widerlegt werden.
8. Uvıe ſol eín ſínger ſıch bewarn.
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(V. 4) zu, allerdings keinem konkreten (vgl. V. 4 swelich), sondern vielmehr einem Herrn, wie ihn sich ein Sänger sicherlich wünschen würde: Er ist in der Lage, das Vorgetragene richtig einzuordnen (vgl. V. 4), wodurch sein Ansehen gepflegt oder gar gesteigert wird (vgl. V. 5), und sieht den Sänger als einer angemessenen, höfischen Erziehung zuträglich an – immer vorausgesetzt, der hêrre (V. 4) versteht sich darauf, die richtigen Sänger auszusuchen (vgl. V. 6). Gerade Vers 6 weist auf das Selbstverständnis des Dichters hin (wohl nicht nur Bruder Wernhers, sondern des [Sangspruch-]Dichters im Allgemeinen): Er versteht sich als Erzieher, als Vermittler von Bildung und Werten und insofern als notwendigen Bestandteil einer intakten (Adels-)Gesellschaft. War der Aufgesang, was das In-Erscheinung-Treten des Sprechers angeht, noch frei von persönlicher Präsenz, kehrt sich dies im Abgesang unmissverständlich ins Gegenteil: In den insgesamt sechs Versen finden sich zehn „Selbstnennungen“ des Ich. Es bleibt also kein Raum für Zweifel, um wessen Sorgen es hier geht. Zunächst werden in den Versen 7 bis 10 die Missverständnisse und Vorwürfe aus Vers 2 f. wieder aufgegriffen (z. T. beinahe wörtlich, vgl. V. 8 mîn twingen ze eime schelten), indem sie nun nicht mehr auf irgendeinen Sänger, sondern speziell auf das Sprecher-Ich bezogen sind. Die Frageform (vgl. V. 7 f. und 10) deutet hierbei die Rat- und Hilflosigkeit des Ich an. Ungeachtet dessen setzt das Ich in den beiden Schlussversen dennoch zur Verteidigung an – was sich bereits in Vers 10 durch das anschauliche daz solde er ûf den holzen slân andeutet (zur Bedeutung vgl. Übersetzungsapparat). Interessanterweise beginnt diese Verteidigung ganz ähnlich wie Vers 7 (vgl. V. 7 waz weiz […] der und V. 11 got weiz daz wol ). Während der aus Vers 7 im Unterschied zu Gott jedoch gar nichts weiz (V. 7), sondern Lügen über den Sprecher verbreitet, weiß Gott, wie es wirklich steht: Das Ich hat stets Gutes über den biderben gesagt (Aber auch nur über diesen, das verdeutlicht der ausdrückliche Hinweis durch das Wort biderbe!) und es mit seinem Lob auch nie darauf abgesehen, sich einzuschmeicheln.199 Abschließend noch eine Bemerkung zu Vers 9: Es ist nicht ganz klar, wie dieser zu verstehen ist: Meint vriunde eher die Beziehung zwischen zwei Sängern oder geht es vielmehr – vor dem Hintergrund von Vers 4 bis 6 – um einen hêrren, dem der Sprecher freundschaftlich zugetan ist bzw. war (z. B. aufgrund dessen Freigebigkeit), aber angesichts der genannten Anschuldigungen jetzt von dieser Verbundenheit absehen muss?
199 Wernher betont auch an anderer Stelle, dass er sein Lob nie an jemanden verschwenden würde, der es nicht verdient hat (vgl. neben I,8 auch II,44 und III,49).
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Ton I, Korpus in J
Historischer Hintergrund Trotz der wenig konkreten Ausrichtung des Spruches hat Karl Meyer und nach ihm Henry Doerks eine historische Einordnung vorgenommen, wonach dieser Spruch auf König Heinrich (VII.) und dessen Hofleben gerichtet sei, da solche Worte wie in Vers 1 bis 3 nur möglich [waren], als Dichter von der Gesinnungsweise der am königlichen Hofe lebenden den ganzen Stand in Misskredit gebracht hatten. Nicht nur mochten jetzt die Rügen der Ernsten den durch Schmeichelei verwöhnten Ohren als Scheltsucht erscheinen, sondern es galt jetzt auch berechtigtes Lob als Schmeichelei.200
Und Henry Doerks wird noch konkreter: Vielleicht schon Ende der zwanziger Jahre ist Spruch I,8 (III) gedichtet worden, welcher gegen König Heinrich und die am Hofe lebenden Dichter gerichtet ist. Aus der Dichtung verschwindet die Wahrheit, so lautet die Klage; durch die in der Dichtung herrschende Schmeichelei wird das Urteil der Hörer so verderbt, daß sie jetzt berechtigten Tadel für Scheltsucht und aufrichtiges Lob für Schmeichelei halten.201
Ich wage keinem von beiden zuzustimmen, bleibt der Spruch doch völlig im Ungewissen, was einen konkreten, gar entfernt politisch-kritischen Hintergrund angeht.202
Inhaltliche Ähnlichkeit mit anderen Texten zur Wendung daz solde er ûf den holzen slân in Vers 10 vgl.: Walther L 33,1 (hier V. 4): sô saget war úmbe er sîne lêre von den buochen schabe. (Schweikle: Walther, Bd. 1, S. 170) Walther L 100,24 (hier V. 4): daz ér mich von dem briefe schabe. (Schweikle: Walther, Bd. 2, S. 224)
200 Meyer, S. 90 f. 201 Doerks, S. 6 f. 202 Anton E. Schönbachs Position ist ebenfalls wenig hilfreich, meint er doch mit Blick auf Meyers und Doerks’ zeitliche Einordnung: „Davon kann gar keine Rede sein, der Spruch ist überhaupt nicht politisch und gehört in des Dichters spätere Zeit.“ (Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 23)
8. Uvıe ſol eín ſínger ſıch bewarn.
121
Metrik A4ma A4mb A7mc 2A 4 m b 5 A4ma A7mc A4md A8ke A6md 10 A 8 k e A8mf A9mf
undẹ óuch diu bspel vr ein spót, sîn twíngen vür schélten zélt?
zẹ undẹ, vriundẹ soldẹ got wéiz daz wól, daz ích den bidérben gúotez nóch gespróchen han, daz ích daz níht durch losen tétẹ; ich wandẹ, ich hǽ te réht unde wól getan
Literatur Doerks, S. 6 f., 12 • Gerdes: Beiträge, S. 147 und Anm. 3, 151, 153 f., 156, 157 und Anm. 3, 164, 174 und Anm. 2, 179 und Anm. 4, 184 Anm. 1, 185 • HMS 4, S. 522 • Kemetmüller, S. 30, 61, 62, 80, 226 • Lamey, S. 6, 8, 37, 38 • Meyer, S. 90 f. • Nolte/Schupp, S. 94 f., 395 • Roethe, S. 305 • Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 21–23 • Stackmann: Mügeln, S. 103 f. • Vetter, S. 257.
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Ton I, Korpus in J
9. Uvıe ſwert man nv der herren rat. (J9) Uvıe ſwert man nv der her/ren rat. Jch ſage v̎. wıe ma̅ / wılen ſwoͮr. Sıe rıeten truwe. míl/te. vnd ere. werdıchlıchen mv̊t. / Sıe rıeten daz man ſchone voͮr. 5 An / erge ſvnder míſſetat. Sıe rıeten / daz vůr vlůchen vnde vůr ſchelte̅ / hıe was gůt. | Do mv̊ſten ouch dıe / herren ſweren. Daz ſıe den gůten / reten bẏ mít gantzer volge weren| / Vnde ſıch der argen ſcalche wol/ten weren. 10 De herren vıl vůr / terben mít ır tugentloſen mere̅. / Nv ſıcht man herren vnde ır / rat dıe beıderthalben hant ge/ſworn. Da von der rete vıl vůr // ſcroten wírt daz wer allez baz vůr / born /
3 vnd evtl. mit Majuskel statt Minuskel 6 nach gůt. folgt ein schwächer geschriebener senkrechter Strich (vgl. auch V. 8) 7 bei Do müsste eigentlich Lombarde stehen
9. Uvıe ſwert man nv der herren rat.
123
Wie swert man nû der hêrren rât? ich sage iu, wie man wîlen swuor: sie rieten triuwe, milte und êre, werdeclîchen muot. sie rieten, daz man schône vuor, 5 ân erge, sunder missetât. sie rieten, daz vür vluochen unde vür schelten hie was guot. dô muosten ouch die hêrren swern, daz sie den guoten ræten bî mit ganzer volge wæren unde sich der argen schalke wolden wern. 10 der hêrren vil verdirbet mit ir tugentlôsen mæren. nû siht man hêrren unde ir rât, die beidenthalben hânt gesworn, dâ von der ræte vil verschrôten wirt. daz wær allez baz verborn!
9 J, 26 [25] C 2 ich sage iu] ıch weıs wol. 3 wa̅ rıet ín truͥwe vn̅ ere· vn̅ alle̅ wdeklıche̅ mvͦt. 6 vluochen] fluͤche. (unde) oͮ ch. hie fehlt. was] we. 8 guoten] ganze̅. ganzer] rehter. 6 vn̅. 9–12 in C hıe mıte welle̅t ſı ſıch valſcher fuͦre wen·/ 10 der hren vıl vdırbet vo̅ de̅ trugeloſe̅ men·/ ıch weıs de̅ hren ıſt ſın rat vn̅ oͮ ch ſín vol/ge als e geſworn· dc eteſwa d eıde vıl g verſchrote̅ wırt dıe wen bc vborn· 1 swern: ‚schwören, eidlich für wahr erklären, versichern, bestimmt aussprechen, behaupten‘, wörtlich also etwa ‚Wie verpflichtet man sich heute eidlich zur Beratung der Herren?‘ (rât also sächl., nicht persönl.). Ich übersetze etwas freier: ‚Wie betätigt man sich heute als Ratgeber von Herren?‘ 2 swern: Handelt es sich bei hsl. swoͮ r und voͮr in V. 4 um eine Verschreibung von swvͦr bzw. vvͦr? Für /uo/ steht im gesamte Œuvre Wernhers in J ansonsten 〈vͦ〉 bzw. 〈uͦ 〉. 4 varn: hier ‚sich befinden, leben‘ 10 der hêrren vil verdirbet: M. E. ist der hêrren part. Gen. zum Subj. vil, weswegen der Numerus des finiten Verbs verderben nicht Pl., sondern Sg. sein muss (vgl. Lesart in C sowie analoge Formulierung in V. 12 von J), wörtlich ‚ein Vieles/eine Menge an Herren verkommt‘. 11 ir rât: Aufgrund des Rel.satzes scheint rât hier nicht ‚Ratschlag, Beratung‘ zu meinen, sondern persönl. ‚Ratgeber‘. beidenthalp: ‚auf beiden Seiten‘, also ‚gegenseitig‘ swern: hier ‚schwören, geloben‘ im Sinne von ‚sich durch Eid verpflichten‘ 12 dâ von: hier relativisch (vgl. Mhd. Gram., § S 164, 2.) der ræte vil: wie in V. 10 vil als Bezugswort des part. Gen. der ræte (hier wieder eher ‚Ratgeber‘ statt ‚Ratschlag‘) verschrôten: ,verletzen, -wunden‘ eigentlich und bildlich
HMS 2: IV,6 Sch 27
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Ton I, Korpus in J
Übersetzung Wie betätigt man sich heute als Ratgeber von Herren? Ich erzähle euch, wie man früher vorging: Sie rieten zu Treue, Freigebigkeit und Ansehen, ehrenvoller Gesinnung. Sie rieten dazu, dass man auf angemessene Weise lebte, 5 ohne Arglist, ohne Fehltritte. Sie empfahlen, was hier gegen Flüche und auch gegen Tadel hilfreich war. Auch die Herren mussten da geloben, dass sie den guten Ratschlägen ganz und gar Folge leisten würden und sich vor den üblen Bösewichten schützen wollten. 10 Viele der Herren verkommen durch deren lasterhafte Märchen. Jetzt sieht man Herren und deren Ratgeber, die sich gegenseitig durch Eid [verpflichtet haben, von denen werden viele Ratgeber missachtet. Das wäre besser alles [unterblieben!
Inhalt Der Spruch beschäftigt sich, wie der erste Vers verdeutlicht, mit der Frage, auf welche Art und Weise man heute (vgl. V. 1 nû) die hêrren (V. 1) berät. Wichtig ist die Diskrepanz zwischen heute (vgl. V. 1 nû) und gestern (vgl. V. 2 wîlen). Ähnlich einer laudatio temporis acti sind die Verse des Aufgesangs darauf ausgerichtet, den Wert und die Integrität der Ratschläge, die früher erteilt wurden (vgl. die einschlägigen [Herrscher-]Tugenden in V. 3–6), aufzuzeigen. Die Anapher sie rieten (V. 3, 4 und 6) hält den Aufgesang und somit das Lob der Vergangenheit formal zusammen und betont zudem den präteritalen Charakter der Ausführungen. Und auch die ersten drei Verse des Abgesangs bleiben noch in die Vergangenheit gerichtet (vgl. V. 7 Dô): Nachdem in Vers 3 bis 6 die Qualität bzw. der Inhalt der Ratschläge thematisiert wurde, rücken nun die hêrren in den Blick, denn sie verpflichteten sich früher feierlich gegenüber den Ratschlägen der Berater zu Gehorsam. So gelobten sie, die erteilten Ratschläge nicht nur tatsächlich zu befolgen (vgl. V. 8), sondern sich zudem von argen schalke[n] (V. 9) fernzuhalten. Da beides ausdrücklich auf vergangene Zeiten bezogen wird, wird deutlich, dass sich die Herren heutzutage gerade nicht mehr derart verhalten. Dies bestätigt schließlich Vers 10. Er führt den Rezipienten dank des Tempus von verderben in die Gegenwart: Die schalke, die man früher noch erfolgreich gemieden hatte, haben es an die Seite der Herren geschafft. Dank ihrer ungebührlichen Einflüsterungen und Lügengeschichten
9. Uvıe ſwert man nv der herren rat.
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richten sie die Herren zugrunde (vgl. V. 10). Und dies hat zur Folge, dass nû (V. 11, vgl. auch V. 1) viele Ratgeber, und somit deren aufrichtige Beratung, missachtet werden (vgl. V. 12), und zwar obwohl sich die Herren zur Befolgung der Ratschläge verpflichtet haben (vgl. V. 11). Das ernüchternde Fazit des Spruches lautet also, dass sowohl die gegenseitige Verpflichtung als auch die Beratung der Ratgeber angesichts der Missachtung der Ratschläge durch die Herren von vornherein hätte unterbleiben können (vgl. V. 12). Was die Parallelüberlieferung angeht, so sind die variierenden Lesarten in C bis einschließlich Vers 8 von eher geringer Relevanz. Einzig auf Vers 1 ist hinzuweisen, der in C ich weiz wol statt ich sage iu lautet und somit auf die einzige Apostrophe an das Publikum verzichtet. Die Wahl von wizzen und sagen fällt kaum ins Gewicht: In beiden Fällen wird die Funktion des Sprechers als Ratgeber betont. Ab Vers 9 liegen jedoch deutlichere Abweichungen zwischen J und C vor: Zunächst einmal fehlen in Vers 9 in C die argen schalke. Statt sich also gegen den schädlichen Einfluss anderer Personen zu verwahren (vgl. J), haben sich in C die hêrren in der Vergangenheit dazu verpflichtet, sich von valscher vuore (,schlechter Lebensweise‘) fernzuhalten. C bleibt hier also deutlich allgemeiner als J, das in den argen schalke[n] den Verursacher einer valsche[n] vuore benennt. Vers 10 erscheint in C etwas unmotiviert, da nicht recht deutlich wird, auf wen oder was sich die trügelôsen203 mæren beziehen – das Pronomen ir fehlt in C natürlich, da ja auch dessen Bezugswort schalke nicht vorhanden ist. Die Textkohärenz scheint hier gestört. In Vers 11 schließlich kommt C wieder auf den Gehorsam (volge) zurück, den der Herr den Ratgebern gegenüber durch eidliche Verpflichtung schuldig ist. In C rückt der Vers also näher an Strophenanfang und ‑mitte zurück (vgl. V. 8), wo gerade die gegenseitige Verpflichtung erläutert wird. Im Schlussvers spricht C statt von ræte[n] von eide[n], die verletzt werden. Außerdem nimmt der letzte, bilanzierende Satz (die wæren baz verborn) hier
203 Weder im HWB noch im BMZ finden sich Belegstellen für das Adj. trügelôs. Das sw. Mask. trüge bedeutet ‚Betrüger‘ (wohl nur einmal belegt), das st. Fem. trüge (deutlich häufiger belegt) ist der ‚Trug, Betrug‘. Das DWB bietet unter dem Lemma truglos folgende Interpretamente: 1) „ohne falsche, unehrliche gesinnung. ‚unschuldig‘, ‚harmlos‘“ 2) „‚arglos‘, ‚ohne misztrauen, furcht vor trug‘“ 3) „‚wahr‘, ‚richtig‘, ‚ohne täuschung‘“ (DWB truglos) Sind diese Bedeutungen mit Blick auf den vorliegenden Kontext logisch? Immerhin sind die mære hier negativ konnotiert.
126
Ton I, Korpus in J
direkt Bezug auf eben diese eide. Nicht allgemein und unspezifisch wie in J (daz wære allez baz verborn) stellt sich dieses Fazit dar, sondern konkret auf diejenigen Eide gerichtet, die ohnehin nicht aufrechterhalten werden.
Historischer Hintergrund Eine historische Einordnung scheint mir nicht möglich, da der Spruch keine konkreten Anhaltspunkte oder Indizien enthält. Lamey hingegen sieht den Spruch vor dem Hintergrund der Wahl des Gegenkönigs Heinrich Raspes am 22. Mai 1246 entstanden, führt aber keine nähere Begründung für seine Vermutung an.204 Doerks zählt I,9 mit einer Reihe anderer Sprüche auf, die für ihn wohl allesamt „in Wernhers letzte Dichtungszeit“205 fallen. Auch er belegt diese vermeintliche Datierung jedoch nicht. Für Schönbach schließlich ist es „nicht unmöglich, daß dieser Spruch […] auf politische Verhältnisse und eine bestimmte historische Situation zu beziehen ist“206, allerdings schränkt er mit Blick auf die letztlich doch eher allgemein gehaltene Thematik ein, dass er „keine geschichtliche Tatsache als Motiv oder Hintergrund abzupressen [wüßte]“207.
Metrik A A A A 5 A A A A
4ma 4mb 7mc 4mb 4ma 7mc 4md 8ke 6md 10 A 8 k e A8mf A9mf
204 205 206 207
sagẹ miltẹ
sie ríeten, dáz vür vlúochen únde vür schélten híe was gúot.
undẹ dâ vón der rǽ te víl verschroten wírt. dáz wær állez báz verbórn!
Vgl. Lamey, S. 33. Doerks, S. 11. Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 63. Ebd.
9. Uvıe ſwert man nv der herren rat.
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Literatur Doerks, S. 11 • Gerdes: Beiträge, S. 155 f., 174 und Anm. 5, 179 und Anm. 5, 180 und Anm. 3, 181 und Anm. 5, 186 • HMS 4, S. 521 • Kemetmüller, S. 40, 72, 219 f. • Lamey, S. 8, 33, 35, 37 • Leitzmann, S. 163 • Roethe, S. 220 • Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 62 f. • Scholz: Reichsidee, S. 84, 87 • Strasser, S. 245 • Vetter, S. 248.
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Ton I, Korpus in J
10. Eẏn pulber wılen wart gebrant. (J10, U) Eẏn pulber wı/len wart gebrant. Daz vromt / eın ſcalc of rínder tot. Vnde ſetez / an dıe weíde da man of dıe rẏnder / trıeb Er rıeb ez vnder ſaltzen brot. / 5 Der tıvbel bracht ez vz beẏer lant. / Vnde ſchůf daz da der gůten rẏnder / lutzel lebende blıeb. Da von vns / leıder ſínt ır legen. (?) der eren phlůge. / Sıt daz vns dıe oxſen ſínt vůr ſtorben. / Vvír han noch vıere wolten dıe ge/lıche phlegen 10 der tzůge. So ne were / wır an buwe nícht vůr torben Eẏn / moẏn. eín ırch. eín hırtz. eẏn rẏnt. / Alſus dıe vıere ſẏnt genamt. Der hete / wır tzv̊ eẏner phlůge genv̊ch wen / daz vns ırch an lan ken ıſt vůr / [lamet /
7 Punkt evtl. radiert, nur noch schwach erkennbar. Bei den Versen 7 bis 10 stimmt etwas mit der Setzung der Reimpunkte und Majuskeln nicht: Der metrischen Formel des ersten Tons gemäß müssten sich in Vers 7 vier Hebungen bzw. Takte, Vers 8 acht, Vers 9 sechs und Vers 10 acht Hebungen bzw. Takte befinden. Diese Vorgabe deckt sich jedoch nicht mit dem hier vorliegenden Befund von Reimpunkten und Majuskeln. 12 lanken wird durch ein Loch im Pergament unterbrochen.
10. Ey˙n pulber wılen wart gebrant.
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HMS 3: I,10 Ein pulver wîlen wart gebrant, Sch 46 daz vrumt ein scalc ûf rinder tôt unde sæt ez an die weide, dâ man ûf diu rinder treip. er reip ez under salzen brôt 5 – der tiuvel brâht ez ûz Beierlant – unde schuof, daz dâ der guoten rinder lützel lebende bleip. dâ von uns leider sint erlegen der êren phlüege, sît daz uns die ohsen sint verstorben. wir hân noch viere, wolden die gelîche phlegen 10 der züge, sône wære wir an bûwe niht verdorben. ein moin (?), ein irch, ein hirz, ein rint – alsus die viere sint genamt. der hæte wir ze einer phlüege genuoc, wan daz uns irch an lanken ist [verlamet. 10 J 2 vrumen: hier ‚benutzen, nutzen‘; ich gehe von 3. Sg. Ind. Prät. aus, wobei das auslautende /ǝ/ des Flexivs aufgrund des Hiats bereits hsl. elidiert ist. ûf: mit Akk. d. S. (tôt) ‚einen Zweck, eine Erwartung ausdrückend‘ (ûf ) rinder tôt: tôt ist Akk. d. S. zu ûf, rinder ist attr. Gen. zu tôt, wörtlich also ‚(mit der Absicht auf) den Tod der Rinder‘ 3 sæjen: Analog zu V. 2 gehe ich von 3. Sg. Ind. Prät. aus, wobei das auslautende /ǝ/ des Flexivs aufgrund des Hiats hsl. elidiert ist. trîben: Die hsl. Formen von trîben, rîben (V. 4) und blîben (V. 6, vgl. auch V,63,11) (/ie/ statt regulär /ei/ im Ind. Prät.) sind wohl vor dem Hintergrund des Präteritalausgleichs zu sehen, zu dem es im Zuge der md. Monophthongierung kommt und bei dem die Dehnung des Monophthongs durch unausgesprochenes Dehnungs-e angezeigt wird (vgl. Mhd. Gram., § L 18 und Frnhd. Gram., § M 111). 4 salzen brôt: ‚gesalzenes Brot‘ (vgl. DWB brot, 1)) 6 lützel: Litotes 7 erligen: intr. ‚darnieder liegen, erliegen‘ 8 der êren phlüege: wörtlich ‚die Pflüge der Ehren‘ 9 phlegen: mit Gen. (der züge) ‚umgehen mit, betreiben, üben, tun‘, hier ‚(aus-)führen‘, wörtlich ‚das Ziehen ausführen‘, ich übersetze etwas freier 10 zuc: hier ‚Gespann‘. Oder könnte in diesem Fall ‚Zug‘ stehen bleiben? Schließlich kann es sich bei einem Gespann auch allgemeiner um eine Kutsche oder einen Karren handeln, während hier – analog zu Pflug – ein Gerät oder zumindest eine Tätigkeit aus der Landwirtschaft impliziert ist, mit dem/der man den Acker bestellt, und zwar dank der Nutzung der Körperkraft von Zugtieren, namentlich Ochsen (vgl. DWB zug, A. 1)). Ist zuc (hier außerdem in der Mehrzahl verwendet) also als Terminus technicus zu verstehen? zuc durch ‚das Ziehen, die Handlung des Ziehens‘ wiederzugeben, könnte ein Kompromiss sein, allerdings wird auf diese Weise die landwirtschaftliche Färbung, die bereits aufgrund von phluoc besteht, getilgt. bû: hier ‚Ertrag eines bestellten Gutes‘ verderben: ‚zugrunde gehen, bankrott gehen‘ 11 moin: Das HWB vermerkt unter dem Eintrag moie „swf. […] name eines tieres“ (HWB moie), wobei dies hsl. moyn oder auch moren geschrieben sein kann. Allerdings bietet weder das HWB noch das BMZ konkretere Interpretationsversuche an, um was für ein Tier es sich hier handeln könnte. Speziell einer der aufgeführten Textbelege aus ,Die Krone‘ Heinrichs von dem Türlin deutet jedoch darauf hin, dass ein Reit- oder Lastentier gemeint sein muss (vgl. Scholl, S. 227,
130
Ton I, Korpus in J
V. 460 ff.). Anton E. Schönbach überlegt, ob es sich hier um eine „mundartliche Synkope aus meidem, meiden stm. Hengst oder Wallach“ (Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 25) handeln könnte. Besonders im Schwäb. wird /ei/ zu /oi/ (vgl. Mhd. Gram., § L 45), wodurch der Wechsel des Diphthongs (Rundung) erklärt werden könnte. (Allerdings würde dies den sonstigen Untersuchungserkenntnissen zu J, wonach die Schreibsprache der Hs. vorwiegend md. Prägung ist, eher zuwiderlaufen.) Was den Ausfall des /d/ angeht (*moiden > moin), ist dies evtl. aus artikulatorischen Gründen ähnlich einer Kontraktion zu erklären, wobei jedoch im Falle einer Kontraktion die Wurzel des Ausgangswortes in der Regel aus Kurzvokal besteht (vgl. Mhd. Gram., § L 76 f.). Denkbar wäre vielleicht auch, dass das Lexem meidem/n aufgrund häufigen Gebrauchs gekürzt wurde. Es kann zwar nicht sicher gesagt werden, wie frequent meidem/n tatsächlich verwendet wurde, das BMZ führt jedoch diverse Belegstellen an, so dass zumindest nicht davon auszugehen ist, dass es sich bei diesem Lexem um einen eher ungebräuchlichen Ausdruck handelte. Shao-Ji Yao schließlich weist darauf hin, dass das Pferd seit dem 12. Jahrhundert zunehmend auch in der Landwirtschaft eingesetzt wird und Wernher in Vers 11 vielleicht „altertümliche, womöglich sogar überholte Verhältnisse anspricht“ (Yao, S. 155). irch: eigentlich ‚weiß gegerbtes (Bock-)Leder bes. von Gämsen, Hirschen, Rehen‘; mit hirz wird bereits Rotwild (hier: Hirsch) aufgeführt und da ein Bock einer Gams von der Körperkraft her überlegen ist (vgl. das Ziehen des Pfluges in V. 12), übersetze ich irch hier mit ‚Bock‘. 12 lanke: ‚Hüfte, Lende, Weiche‘
10. Ey˙n pulber wılen wart gebrant.
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Übersetzung Ein Pulver wurde einst gebrannt, das benutzte ein Hinterhältiger mit der Absicht, Rinder zu töten, und streute es auf die Weide, auf die man die Rinder trieb. Er mischte es unter gesalzenes Brot 5 – der Teufel brachte es aus Bayern (mit) – und sorgte dafür, dass dort von den vortrefflichen Rindern keines am Leben [blieb. Dadurch sind uns leider die Pflüge, mit denen man sich die Ehre erarbeitet, zum Erliegen gekommen, weil uns die Ochsen gestorben sind. Wir haben noch vier, wenn die den Pflug genauso ziehen würden, 10 so wären wir hinsichtlich unseres Ertrags nicht ruiniert. Ein Wallach/Hengst (?), ein Bock, ein Hirsch, ein Rind – so werden die vier [genannt. Von denen hätten wir für einen Pflug ausreichend, nur dass uns der Bock an [der Hüfte lahm geworden ist.
Inhalt Im Aufgesang wird das Thema des Spruches in einer Art (Kurz-)Erzählung präsentiert, in der ein nicht näher bestimmter schalc (V. 2) dank eines Pulvers, das er auf die Weide streut und unter gesalzenes Brot mischt, sämtliche Rinder vergiftet (vgl. V. 1–6).208 Entscheidend ist der Hinweis in Vers 5, dass dieses Pulver aus Bayern stammt. Aber was genau ist das Pulver? Für wen stehen die getöteten Rinder? Und wer ist der tiuvel (V. 5)? Karl Meyer weist darauf hin, dass die „Annahme, es werde Pulver auf Viehweiden zur Vergiftung der Rinder gestreut, ein im Mittelalter ziemlich verbreiteter Aberglaube gewesen zu sein [scheint]“209, und versteht Bruder Wernhers Rückgriff darauf als „Bezeichnung eines grossen plötzlich hereingebrochenen Verderbens“210. Was genau soll damit jedoch gemeint sein? Eine Ausdeutung der sicherlich allegorisch zu verstehenden Bestandteile scheint kaum möglich. Auch der Abgesang trägt nicht wirklich zur Klärung bei, es kommen vielmehr noch weitere Unklarheiten hinzu – allen voran der êren phlüege in Vers 8. 208 Eingehendere Überlegungen zum Verstreuen des Pulvers auf der Weide und dem Mischen unter das Brot hat Anton E. Schönbach vorgenommen (vgl. Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 24 f.). 209 Meyer, S. 93. 210 Ebd.
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Ton I, Korpus in J
Was ist damit gemeint? Wenn die Pflüge für etwas stehen, womit ein Herrscher sein Ansehen erarbeitet und pflegt, müssen die ohsen wohl als dessen Vasallen (Reichsfürsten?) verstanden werden. Ist tatsächlich deren Tod gemeint oder kann verstorben auch anders, freier verstanden werden (z. B. ‚von jmd. abfallen‘ oder ‚verloren sein‘)? Laut Meyer ist Vers 7 f. „ohne Zweifel auf Unzuverlässigkeit oder Feigheit österreichischer Herren“211 zu beziehen, „selbst von den vieren, auf die man sich noch verlasse, sei einer wenigstens nicht ganz sicher“212. Ähnlich wie Meyer geht auch Yao davon aus, dass sich die Kritik des Spruches an Adlige richtet und „[d]ie Einkleidung in die Form eines Exempels kann dazu dienen, eine direkte, zugespitzte Kritik zu umgehen.“213 Bei den noch verbliebenen vier Zugtieren (bzw. Herren) handelt es sich um ein moin (?), ein irch, ein hirz, ein rint (V. 11) – Tiere, die anhand einer eingehenderen Untersuchung evtl. mit Wappen von infrage kommenden (Reichs-)Fürsten in Verbindung gebracht werden könnten.214 Was die Rolle des Sprechers angeht, sei angemerkt, dass sich dieser in I,10 unmissverständlich als Teil des Kollektivs darstellt (wir bzw. uns, vgl. V. 7– 10, V. 12), dem aufgrund des Verlusts der Rinder (und letztlich aufgrund des lahmen Bocks) der bû bedroht ist (vgl. V. 10). Dieser Umstand bestätigt die Überlegung, dass es sich bei den Ochsen, die sonst den Pflug ziehen, um in der gesellschaftlichen Hierarchie höher Stehende handeln muss, die für das Wohl der Gemeinschaft verantwortlich sind.215
Historischer Hintergrund Die Frage nach einem möglichen Entstehungszeitpunkt halte ich für kaum stichhaltig zu beantworten. Tendenziell würde ich aufgrund von Vers 5 mit der Mehrzahl der bisherigen Datierungsversuche gehen, wonach der Spruch vor dem Hintergrund des Krieges zwischen Bayern und Österreich 1233 bis 1234 entstanden ist.216 Allerdings stimme ich mit Hans Vetter völlig überein, wenn er letztendlich einräumt: 211 Ebd. 212 Ebd., S. 94. 213 Yao, S. 156. 214 Darauf weisen u. a. auch hin: HMS 4, S. 520; Meyer, S. 93; Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 28 f.; Müller: politische Lyrik, S. 89. 215 Obgleich auch Personen aus dem bäuerlichen Bereich für das Wohl der Bevölkerung Verantwortung tragen, indem sie etwa die Lebensmittel bereitstellen, ist hier trotz des landwirtschaftlichen Vergleichs wohl kaum von Bauern die Rede. 216 Diese Position nehmen von der Hagen (HMS 4, S. 520 f.), Meyer (S. 93), Doerks (S. 7) und Vetter (S. 257 f.) ein, wobei aber auch sie bei diesem Abfassungszeitpunkt nicht absolut sicher sind. Udo Gerdes unternimmt gar nicht erst den Versuch, „die Strophe auf ein aktuelles
10. Ey˙n pulber wılen wart gebrant.
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Doch halte ich eine sichere datierung dieses spruches überhaupt für unmöglich, da ,der einzige deutliche umstand in der strophe‘ (Sch, s. 26) [nämlich Vers 5, Anm. d. Verf.] nur eingeschoben ist und keine historische anspielung zu sein braucht […].217
In Bezug auf die historische Auslegung, die Anton E. Schönbach vornimmt, bleibt zu sagen, dass er einerseits die Datierung von 1233 bis 1234 ablehnt und diverse alternative Entstehungszeitpunkte vorschlägt,218 andererseits scheint er jedoch selbst unschlüssig zu sein, denn abschließend wird nicht ganz klar, zu welchem historischen Ereignis er selbst tendiert. Seine Überlegungen, dass man „unter den Rindern die österreichischen Ministerialen zu verstehen [hat]“219 und „es sich in dem Spruche nur darum handeln [kann] – nicht daß sie getötet werden – sondern daß sie sich ins bayerische Interesse ziehen ließen und von ihrem angestammten Landesherrn abfielen“220, halte ich in Übereinstimmung mit Hans Vetter221 für abwegig, da der Text dafür keinerlei Belege liefert. Beim Tod der Tiere geht es ja gerade nicht darum, dass sie diesen selbst verschulden (wie ein selbstgewählter Abfall vom Dienstherrn implizieren würde), sondern er wird ihnen von außen gewaltsam zugefügt – sie werden eben doch, entgegen Schönbachs Ansicht, getötet.
Metrik A4ma A4mb 2A 7 m c A4mb 5 A4ma 2A 7 m c
– der tíuvel braht ez ûz Béierlánt – unde schúof, daz da der gúoten rínder ltzel lébende bléip.
Ereignis festzulegen“ (Gerdes: Beiträge, S. 205 Anm. 3). Und auch Joachim Teschner konstatiert, „daß der politische Sachverhalt auf den Bruder Wernher in dieser Strophe anspielt, letztlich unklar bleibt“ (Teschner, S. 85). 217 Vetter, S. 258. 218 Das Jahr 1246 bildet die Obergrenze (vgl. Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 26), daran anschließend werden von Schönbach folgende mögliche Entstehungszeiträume genannt und diskutiert: „Gleich nach dem Antritte seines [Herzog Friedrichs II., Anm. d. Verf.] Regimentes“ (ebd., S. 27) (ab 1230); „Die Fehde zwischen Bayern und Österreich“ (ebd.) (1233 bis 1234); im Zuge der Reichsacht, die Kaiser Friedrich II. über Herzog Friedrich II. verhängt (vgl. ebd., S. 27 f.) (Juni 1236) und in der Folge der Bannung Herzog Friedrichs II. durch Albert Behaim von Kager, dem Agenten von Papst Gregor IX. (vgl. ebd., S. 29 f.) (Juni 1236). 219 Ebd., S. 26. 220 Ebd. 221 Vgl. Vetter, S. 258.
134
A A A 10 A A A
4 2m d 8ke 6 2m d 8ke 8mf 9 2m f
Ton I, Korpus in J
der hǽ te wir zẹ éiner phlege genúoc, wan dáz uns írch an lánken íst [verlámet.
Literatur Doerks, S. 4, 7 • Gerdes: Beiträge, S. 177 und Anm. 1, 179 und Anm. 4, 205 Anm. 3 • HMS 4, S. 520 f. • Kemetmüller, S. 13, 62 f., 92, 226 • Lamey, S. 8, 37, 38 • Leitzmann, S. 163 • Meyer, S. 92 f. • Müller: politische Lyrik, S. 89 • Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 24–30 • Strasser, S. 244 • Teschner, S. 85–87 • Vetter, S. 257 • Yao, S. 37, 153–156.
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11. Der herren gůt vnde herren name̅. (J11 N, U) Der herren gůt vnde herren name̅. tzv̊ rechte neman ſolde han. Níe wen der mẏt den beıden ordelıche kvnde leben. Daz ıſt / vnherlıche tan. 5 Swer ſıch nícht wıl vntruwen ſchamen. Vnde ouch der grozen kírge da man ſolte vm ere geben Dıe han / ouch ıch vůr herren nícht. Síe mv̊zen anders denne wol an mẏme ſange veıgen Svs bín ıch hıe ſcheıden von der werden phlıcht. / 10 Des mv̊chte ır ſv̊melıche lıchte an mẏr ır tzeígen Eẏn ſchelten daz von mẏr of ẏn von ſẏnen ſchulden gat. Daz gab eẏn bıchteger / tzv̊ bůze mẏr vůr alle mẏne mẏſſetat.
11. Der herren gu˚t vnde herren name̅.
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Der hêrren guot unde hêrren namen ze rehte nieman solde hân, niuwan der mit den beiden ordenlîche kunde leben. daz ist unhêrlîche gʼtân, 5 swer sich niht wil untriuwen schamen unde ouch der grôzen kerge, dâ man solde umb êre geben. die hân ouch ich vür hêrren niht, sie müezen anders denne wol an mîme sange veigen. sus bin ich hie gʼscheiden von der werden phliht. 10 des möhte ir sumelîcher lîhte an mir erzeigen ein schelten, daz von mir ûf in von sînen schulden gât. daz gap ein bîhtegær ze buoze mir vür alle mîne missetât.
11N J 3 ordenlîche: Laut DWB (vgl. DWB ordentlich I.) ist die hsl. Lesart ordeliche mundartlich bedingt (sowohl md. als auch bair.), allerdings finden sich dafür weder im HWB noch im BMZ Hinweise. 4 unhêrlîche: ‚nicht, wie es einem Herrn angemessen ist‘ gʼtân: ge-Präfix hier hsl. entweder aus metr. Gründen getilgt oder/und auf mnd. Einfluss zurückzuführen (vgl. Mnd. Gram., § 221, VI. und § 423). 6 kerge: in J hyperkorrigiert zu kírge, hier ‚Geiz, Kargheit, Sparsamkeit‘ 8 veigen: ‚verderben, zunichtewerden, zugrunde gehen‘ 9 gʼscheiden: ‚befreit werden‘, hier ‚entbunden werden‘, zum hsl. fehlenden ge-Präfix vgl. gʼtân in V. 4 10 des: adv. Gen. mit kausaler Bedeutung ‚deshalb‘ (vgl. Mhd. Gram., § S 76) sumelîch: hier ‚einige‘, ir ist attr. Gen. zu sumelîch; angesichts des Sg. von möhte (V. 10), der auch in V. 11 steht (vgl. in, von sînen schulden), gehe ich davon aus, dass es sumelîcher statt hsl. ſv̊melıche heißen muss. Ich greife dementspr. in der Normal. ein. erzeigen: tr. und refl. ‚zeigen, dartun; erweisen, erzeigen (die Person im Dat. oder mit an)‘, ich übersetze freier ‚aufzeigen‘. Schönbach übersetzt V. 9–10 folgendermaßen: „Somit bin ich dann aus dem Treueverhältnis dieser Trefflichen (höhnisch) ausgeschieden. Darum (infolge der Trennung) könnte gern einer von ihnen offen auf mich hinweisen und mir Gehässigkeit (als Sünde) vorwerfen.“ (Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 31) Diese Auslegung entfernt sich m. E. zu weit von der hsl. Lesart. 11 gân: hier ‚geschehen, ergehen, ‑folgen‘ 12 bîhtegær(e): ‚Beichtvater‘, in der Hs. mit ausgefallenem /ə/ im Auslaut
HMS 3: I,11 Sch 47
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Übersetzung Den Besitz und den Namen von Herren sollte niemand rechtmäßig führen, abgesehen von demjenigen, der mit diesen beiden ordnungsgemäß verstünde [zu leben. Derjenige handelt nicht einem Herrn gemäß, 5 der sich nicht für Treulosigkeiten schämt und auch nicht für großen Geiz, dort, wo man der Ehre wegen schenken sollte. Diejenigen halte auch ich nicht für Herren, sie müssen (alles) andere als angenehm durch meinen Gesang zugrunde [gehen. Auf diese Weise bin ich hier von der ehrenvollen Pflicht (, lobend von ihnen [zu singen,) entbunden worden. 10 Deshalb könnte manch einer von ihnen in meinem Fall leicht einen Tadel aufzeigen, den ich durch seine Schuld ihm gegenüber äußere. (Das Tadeln) erlegte mir ein Beichtvater als Buße für alle meine Vergehen auf.
Inhalt Der Scheltspruch I,11 birgt (v. a. im Abgesang) einen auffallend selbstbewussten, rügenden Ton. Im Aufgesang wird im ersten Stollen zunächst eine allgemeine Lehre in Bezug auf guot und namen (beides V. 1) eines Herrn formuliert, die als Maßstab für alles Nachfolgende zu sehen ist. Die Verse des zweiten Stollens sind ebenfalls allgemein gehalten und runden das zuvor Gesagte ab: Während die Verse 1 bis 3 eher positiv konnotiert sind, indem sie zu einer ordenlîchen (V. 3) Lebensweise auffordern, stellt Vers 4 bis 6 genau das Gegenteil dazu dar. Hier ist die Belehrung nicht positiv ausgerichtet, sondern sie kommt einer unterschwelligen Drohung gleich: ,Wenn du nicht bereit bist, für deine untriuwe die Verantwortung zu übernehmen und außerdem nichts gegen deine kerge unternimmst, dann verhältst du dich nicht einem Herrn gemäß.‘ Erst wird also gesagt, wie man sich verhalten soll (vgl. V. 1–3), und im Anschluss daran, was man besser unterlässt (vgl. V. 1–4). Nachdem diese allgemeine Lehre artikuliert ist, kann der Spruch zu seinem eigentlichen Anliegen übergehen: Die Schelte des Ich gegenüber hêrren (V. 7), die die vorausgegangenen Lehren (v. a. die zweite) nicht befolgen. Interessant ist, dass das Ich nicht direkt auf die Äußerungen in Vers 1 bis 6 Bezug nimmt, sie gar wiederholt, allein der Umstand, dass sie der eigentlichen Schelte vorgeschaltet sind, genügt, um zu verdeutlichen, worauf sich die Kritik
11. Der herren gu˚t vnde herren name̅.
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bezieht und warum das harsche Auftreten des Ich gerechtfertigt ist. Dieses droht den Beschuldigten immerhin, dass sie anders denne wol an mîme sange veigen [müezen] (V. 8), und die Äußerung in Vers 9 deutet an, dass der Sprecher nun auch von der Pflicht entbunden ist, ihnen gegenüber angemessen und lobend aufzutreten. Besonders auffällig sind schließlich die beiden Schlussverse. Auffällig deswegen, weil die unverblümte Kritik und der selbstbewusste Ton der Verse 7 bis 10 unverhofft entschärft werden. Es zeigt sich nämlich, dass die eigentliche Triebfeder für das schelten (V. 11) nicht der Sprecher ist, sondern ein bîhtegær (V. 12), der ihm dies als buoze (V. 12) für seine missetât (V. 12) auferlegt hat.222 Durch den Hinweis auf eine andere Instanz, noch dazu oder vor allen Dingen eine geistliche Autorität, die den Sprecher überhaupt erst zum Handeln anweist, wird die Kritik insgesamt relativiert. Zum einen nimmt sich der Sprecher nachträglich „aus der Schusslinie“, da er darauf hinweist, dass nicht er selbst Bedarf zum Tadeln sieht, sondern ein bîhtegær (V. 12), für den er stellvertretend spricht.223 Zum anderen erhält der Tadel aber auch eine ganz andere Qualität und Berechtigung, indem er von einer (zugegeben fiktiven) geistlichen Instanz initiiert wird. Interessant ist übrigens, in welches Licht der Sprecher aufgrund des letzten Verses rückt: Erscheint er bis dahin noch als selbstbewusste Größe, die in ihrer Rolle als Lehrer oder Ratgeber integer und glaubwürdig ist, so sorgt Vers 12 dafür, dass seine Bedeutung als moralische Instanz relativiert wird. Die argumentative Ausrichtung erhält vor diesem Hintergrund noch einmal eine ganz andere Färbung: Der Sprecher ist selbst nicht ohne Fehl (vgl. V. 12 missetât), deswegen kann er die Kritik (das schelten V. 11) auch nicht aus eigener Motivation heraus formulieren, sondern er folgt darin der Forderung des Beichtvaters. Und damit erfüllt er zugleich die auferlegte Bußübung, wodurch er wiederum beispielhaft vorangeht mit Blick auf die Aufforderung in Vers 1 bis 3, sein Leben ordenlîche (V. 3) zu leben.
222 Vgl. dazu auch Gerdes: Beiträge, S. 165. 223 Die Figur des bîhtegære ist vergleichbar mit Walthers fiktivem klôsenære (vgl. L 9,16; L 10,33; L 34,24), den er als Autorität heranzieht, um u. a. mögliche Kritik zu rechtfertigen.
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Metrik A 4 2m a A4mb 7 2m c 4mb 5 A 4 2m a A 7 2m c A4md A8ke 6md 10 A 8 k e A8mf A9mf
Der herren gúot unde herren námen níuwan dér mit den béiden órdenlche kúnde lében.
undẹ, soldẹ
des mhtèn ir súmelcher lhtẹ an mír erzéigèn. ein schéltèn, dáz von mír ûf ín von snen schúlden gat.
Literatur Gerdes: Beiträge, S. 86 Anm. 1, 93 und Anm. 5, 147 Anm. 1, 155, 164 und Anm. 4, 165, 176 und Anm. 3, 179 und Anm. 4, 181 und Anm. 7, 185 f., 197 und Anm. 2 • HMS 4, S. 522 • Kemetmüller, S. 11, 64, 94, 226 • Lamey, S. 35 • Meyer, S. 109 • Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 30 f.
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12. Ich han geklaget vnde klag ez an. (J12 N, U) Ich han geklaget vnde klag ez an. Wol tzwentzıch ıar e. baz vnde baz. Vnde / mv̊z ouch an mẏn ende klagen den vurſten vrıderıch Eẏn reẏnez hertze ſıch nẏe vůr gaz. 5 kegen graven. vrıen. dıeníſt man. / Rıtter. vnde knechte. dıe worden alle bẏ ẏm rıch Er hette von ẏn ſwes er gert. Swa man dem lande ere werdıchlıche ſolde beherten. / Ir ellen was ín manígen ſtrıten goldes wert. 10 Doch ſínt ſıe kegen vıenden noch vıl gůte ſchıltgeverten Vıl werder kvnínc vz / beheẏmer lant wıltu dıch kegen vıenden ſcarn. So hılf dem bıderben vz oſterrıch vnde habe of mẏr dır mac nẏmmer [míſſe varn. /
1 statt Initiale nur Lombarde
12. Ich han geklaget vnde klag ez an.
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HMS 3: I,12 Ich hân geklaget unde klag ez an Sch 48 wol zwênzec jâr ie baz unde baz, unde muoz ouch an mîn ende klagen den vürsten Vriderîch: sîn reinez herze sich nie vergâz 5 gegen grâven, vrîen, dienestman, ritter unde knehte – die wurden alle bî im rîch. er hâte von in, swes er gert. swâ man dem lande êre werdeclîche solde beherten, ir ellen was in manegen strîten goldes wert. 10 doch sint sie gegen vîenden noch vil guote schiltgeverten. vil werder künec ûz Bêheimer lant, wiltû dich gegen vîenden scharn, sô hilf dem biderben ûz Ôsterrîch unde habe ûf mir, dir mac niemer [missevarn.
12N J 4 sîn: Hsl. steht Eẏn, aber müsste es nicht eher ‚sein (reines Herz)‘ heißen? Schließlich geht es in den nachfolgenden Versen ausdrücklich darum, Fürst Friedrich zu preisen, was jedoch weniger stark zum Ausdruck kommt, wenn lediglich von ‚einem reinen Herzen‘ die Rede ist. Könnte es sich bei der E-Lombarde also um eine Verschreibung oder ein Missverständnis handeln? Ich gehe davon aus und greife dementspr. ein. Genauso verfahren auch Schönbach (vgl. 4. Stück bzw. 150. Bd, S. 32) und von der Hagen (vgl. HMS 3, S. 12). vergezzen: refl. hier ‚vernachlässigen, versäumen‘ 5 gegen: In der Übersetzung verzichte ich aufgrund der nhd. Syntax auf die Präposition. 7 hân: Hsl. hette ist eine eher md. Form (vgl. Mhd. Gram., § M 113 Anm. 3 und 4). gern: mit Gen. d. S. (swes) ‚begehren, verlangen‘, aufgrund des Reimzwangs (gert : wert) endet die 3. Sg. Ind. Prät. hier lediglich auf ‑t statt ‑te. 8 beherten: ‚herte machen, sichern, erhalten, behaupten‘, hier ‚bewahren‘ 10 doch: Hier nicht als adversativer Ausdruck zu verstehen, sondern eher zur Verstärkung des vorausgehenden Satzes: ‚auch‘. schiltgeverte: ‚Kampfgefährte‘ 11 Bêheimer lant: ‚Böhmerland, Böhmen‘ wiltû (< wilt dû): zur Enklise des Pers.pron. vgl. Mhd. Gram., § E 21, 2. scharn: hier ‚sammeln‘ 12 habe (ûf mir ): ‚halten, festhalten‘, hier ‚halte dich an mich‘ mugen: das niemer impliziert eine futurische Ausrichtung im Sinne von ‚sollen‘
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Ton I, Korpus in J
Übersetzung Ich habe geklagt und beklage es gut und gerne zwanzig Jahre immer mehr und mehr und werde auch bis an mein Ende den Fürsten Friedrich beklagen: Sein reines Herz vernachlässigte nie 5 gegenüber Grafen, Freie, Dienstmänner, Ritter und Knappen – die wurden alle wohlhabend unter ihm. Er bekam von ihnen, was auch immer er verlangte. Wo auch immer man dem Land das Ansehen ehrenvoll bewahren sollte, war ihr Mut in vielen Kämpfen goldwert. 10 Auch gegen Feinde sind sie weiterhin sehr gute Kampfgefährten. Überaus edler König von Böhmen, wenn du dich gegen den Feind sammeln [willst, so hilf dem Tüchtigen aus Österreich und halte dich an mich, es soll dir [künftig nie schlecht ergehen.
Inhalt Der Spruch I,12 ist eine Totenklage auf Herzog Friedrich II. von Österreich und Steiermark, der am 15. Juni 1246 in der Schlacht an der Leitha fiel. Das Verhältnis Friedrichs des Streitbaren zum Adel war z. T. gestört224, man kann also kaum von einer durch und durch positiven Beziehung sprechen, wie sie im vorliegenden Spruch geschildert wird. Entscheidend ist hierbei, dass es sich um einen Nachruf handelt, und den „Verstorbenen zu preisen, fordert das Gesetz der Gattung, das wiederum der allgemeinen Maxime ‚de mortuis nil nisi bene‘ folgt“225. Wie die Strophe in die historischen Gegebenheiten einzuordnen ist, wird weiter unten ausgeführt, zunächst sollen Inhalt und Aufbau im Mittelpunkt stehen. Der Spruch lässt sich in insgesamt vier Abschnitte einteilen, die sich an der metrischen Struktur orientieren:
224 Vgl. etwa: „Als Reaktion auf die herzoglichen Eingriffe muß man wohl die Adelsrevolte beim Herrschaftsantritt Herzog Friedrichs II. [1230, Anm. d. Verf.] sowie die Wendung vieler Adliger gegen ihn zwischen 1236 und 1239 bewerten. Nach seinem Tod im Jahr 1246, mit dem das Haus Babenberg im Mannestamm erlosch, zogen die Angehörigen des hohen Adels wichtige landesherrliche Rechte und Güter an sich, und sie verhalfen 1251 Ottokar II. von Böhmen zur österreichischen Herzogswürde.“ (Gebhardt, Bd. 6, S. 122) 225 Gerdes: Beiträge, S. 70.
12. Ich han geklaget vnde klag ez an.
– – – –
Vers Vers Vers Vers
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1 bis 3: Klage des Ich 4 bis 6: Beschreibung des Herzogs 7 bis 10: Beschreibung seiner Gefolgsleute 11 f.: Anrufung des böhmischen Königs
Mit dem ersten Abschnitt wird unmissverständlich das Thema des Spruches vorgegeben und zugleich veranschaulicht, welche Position das Ich in diesem Zusammenhang einnimmt. Schmerz und Trauer über den Tod des Herzogs werden auf vielfältige Weise Ausdruck verliehen: Die dreimalige Nennung des Verbs klagen (zweimal V. 1, einmal V. 3) zusammen mit dem zwar willkürlich, aber doch bewusst lang angesetzten Zeitraum von gut zwanzig Jahren226 und der intensivierenden Wiederholung baz unde baz (V. 2) bilden die Einleitung
226 Die Angabe von wol zwênzec jâr hat in der Forschung zu einer regen Diskussion und tendenziell zwei Auslegungen geführt: Während von der Hagen (vgl. HMS 4, S. 519), Meyer (vgl. S. 100) und Doerks (vgl. S. 10) sich klar dafür aussprechen, dass der Spruch zwanzig Jahre nach dem Tod Herzog Friedrichs II. entstanden sein muss (also um 1265 oder 1266), wendet Lamey, dem dann Schönbach (vgl. 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 35 und 36), Vetter (S. 258), Gerdes (Beiträge, S. 71 f.) und Müller (politische Lyrik, S. 90) weitgehend folgen, m. E. völlig zu Recht ein, dass „die Klage um Friedrich den Streitbaren erst 20 Jahre nach dessen Tod abgefasst sein soll, ist undenkbar. Aus welchen Gründen sollte in der Produktion Br. W. plötzlich eine Pause von nahezu 20 Jahren eingetreten sein, […] da doch vom Jahre 1229 an wir fast Jahr für Jahr Br. W. Dichtung verfolgen können […]. Endlich, konnte der Dichter eine Wirkung erwarten von seinem Hinweis auf Friedrich den Streitbaren, wenn dessen Tod schon vor 20 Jahren erfolgt war […]!“ (Lamey, S. 33) Ob man tatsächlich so weit gehen und sagen kann, dass Bruder Wernhers Schaffen von 1229 an jährlich belegt ist, sei einmal dahingestellt, die ältere Forschung neigt z. T. zu etwas voreiligen Datierungen, aber das zweite Argument (fragliche Wirkung des Spruches nach 20 Jahre zurückliegendem Tod) ist m. E. umso schlagender. Die Zeit zwischen Friedrichs II. Tod 1246 und dem Jahr 1265 oder 1266 mag genug Anlässe und Ereignisse geboten haben, um nicht ein 20 Jahre zurückliegendes Geschehen „aufwärmen“ zu müssen. Und weiter schreibt Lamey: „Auch wollte Br. W. wol nicht sagen: ich habe den Tod Friedrichs beklagt und habe denselben seit 20 Jahren beklagt und muss ihn bis an mein Ende beklagen? Vielmehr kann hier anklagen nur in der Bedeutung gebraucht sein „anfangen zu klagen“ Lexer I, 60. Dann ist das Präsens „klage“ zugleich futurisch aufzufassen, so dass Br. W. in richtiger Steigerung sagt: Ich habe den Tod Friedrichs beklagt und fange aufs neue an denselben zu beklagen noch 20 Jahre (werde ich ihn beklagen), ja bis an mein Ende. [20 Jahre als runde Zahl = lange Zeit, wie öfter.]“ (ebd., S. 34 f.) Auch dieser Argumentation stimme ich zu. Nichts spricht unweigerlich dafür, dass die Zeitangabe von 20 Jahren wörtlich zu verstehen sein muss. M. E. liegt Lamey völlig richtig, wenn er die Zahl lediglich als Ausdruck für einen langen Zeitraum versteht. Zuletzt sei noch kurz auf Lachmanns Position hingewiesen, der in seiner Walther-Ausgabe ausgehend von L 84,20 meint, dass in Wernhers Spruch „für zwênzic offenbar zwei zu lesen ist“ (Kraus: Walther, S. 218). Darauf haben wiederum Meyer (vgl. S. 101), Schönbach (vgl. 4. Stück bzw. 150. Bd, S. 32) und Gerdes (vgl. Beiträge, S. 69) zu Recht skeptisch reagiert.
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zum anschließend folgenden Herrscherlob und erzeugen zugleich die dafür angemessene Stimmung. Zudem verstärkt dieser emotionale Stropheneingang das Ausmaß des Verlustes. Im Anschluss daran folgt in Vers 4 bis 6 ein Herrscherlob, das ganz klassisch auf die Herrschertugend schlechthin, die milte, abhebt.227 Veranschaulicht wird diese durch die Beschreibung des großzügigen Auftretens Friedrichs gegenüber seinem Gefolge. Anhand der hierarchisch gegliederten Aufzählung all seiner Gefolgsleute – vom grâven bis zum kneht (vgl. V. 5 f.) –, die alle bî im rîch [wurden] (V. 6), wird die Vortrefflichkeit des Herzogs, die bis in sein reinez herze (V. 4) reicht bzw. aus diesem entspringt, verdeutlicht. Nachdem das Verhalten des Herrschers gegenüber seiner Gefolgschaft dargestellt wurde, rückt in den Versen 7 bis 10 nun das Verhalten von grâven, vrîen, dienestman, rittern unde knehten (V. 5 f.) in den Blick. Auch sie erfahren breites Lob, und zwar für ihre Gefolgschaft (vgl. V. 7), ihr würdevolles Bewahren der Landesehre (vgl. V. 8) und ihren Mut als Kampfgefährten in so mancher Schlacht (vgl. V. 9 f.).228 Indem aber seine Gefolgsleute als derart herausragend dargestellt werden, wird zugleich der Herrscher erneut gerühmt – wer solche Männer um sich schart, kann schließlich kein schlechter Dienstherr sein. Die Schlussverse verlassen den Kontext der Totenklage, und somit auch das mit dem Tod Herzog Friedrichs II. in die Vergangenheit gerückte Geschehen, und leiten über in die Gegenwart und Zukunft zu Friedrichs Nachfolger, dem künec ûz Bêheimer lant (V. 11). Interessant ist die Rolle, die der Sprecher einnimmt: Während er zu Beginn noch äußerst emphatisch den Tod Herzog Friedrichs II. beklagt, wendet er abschließend seinen Blick beinahe optimistisch nach vorne in die Zukunft und trägt sich und seine Sangeskunst dem neuen Herrn an. Darüber hinaus spricht er sich auch für de[n] biderben ûz Ôsterrîch (V. 12) aus. In der Forschung wurde die handschriftliche Lesart dem biderben (Sg.) mehrheitlich und ohne dies weiter zu kommentieren in den biderben (Pl.) geändert,229 so dass nicht mehr nur von einem biderben, sondern von mehreren die Rede ist. Diese Lesart scheint der Forschung wohl deswegen passender, weil sie davon ausgeht, dass in Vers 12 die schiltgeverten Friedrichs II. gemeint seien, deren Vortrefflichkeit – v. a. im Kampf – der Sprecher dem König aus Böhmen anpreise. Der Singular von dem biderben würde vor diesem Hintergrund also wenig Sinn ergeben. Obgleich die in der Sekundär227 Zur Rolle der milte als Herrschertugend vgl. Strasser, S. 240. 228 Heinzle versteht Wernhers Lob der Gefolgsleute als Ausdruck der Parteinahme für die österreichischen Landherren (vgl. Heinzle, S. 18). 229 Vgl. HMS 1, S. 12; Meyer, S. 104; Lamey, S. 34; Doerks, S. 10; Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd, S. 32; Vetter, S. 258; Kemetmüller, S. 64 (in Übersetzung); Gerdes: Beiträge, S. 69 und 71; Müller: politische Lyrik, S. 90; Knapp, S. 285.
12. Ich han geklaget vnde klag ez an.
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literatur präferierte Variante kontextuell stimmig erscheint, sehe ich keine legitime Begründung, in die Handschrift einzugreifen. Zwar wird bereits ab althochdeutscher Zeit /m/ im Auslaut zu /n/,230 allerdings schreibt J explizit dem. Und übrigens würde eine Wechsel von dem > den, der lediglich durch die Position des Nasals im Auslaut zu erklären wäre, auch keine Auswirkungen auf den Numerus haben. Mir scheinen zwei Interpretationen für die handschriftliche Lesart denkbar: 1. Mit dem biderben ûz Ôsterrîch ist nicht eine bestimmte Person gemeint, sondern die Formulierung ist verallgemeinernd zu verstehen: ,Hilf dem Tüchtigen aus Österreich‘ im Sinne von ,Hilf jedem aus Österreich, der tüchtig ist‘. Vor diesem Hintergrund würde die Bitte des Sprechers, sich dem biderben ûz Ôsterrîch anzunehmen, also nicht nur die Gruppe der Gefolgsleute meinen, sondern die tüchtige österreichische Bevölkerung insgesamt. 2. Der biderbe ûz Ôsterrîch steht nicht für viele Personen, sondern nur für eine, nämlich den Sprecher (bzw. Bruder Wernher): Angesichts des Todes Herzog Friedrichs II. und dem damit einhergehenden personellen Wechsel an der Spitze des Landes trägt sich der Sprecher dem neuen Herrn an, und zwar, indem er sich selbst als biderbe, also als fleißigen, anständigen Sänger anpreist. Gerade der zweite Teil von Vers 12 macht diese Auslegung m. E. fast wahrscheinlicher als die erste: Zunächst lobt der Sprecher sich selbst und im Anschluss daran, empfiehlt er dem böhmischen König, er möge sich an ihn, den Sprecher, halten (habe ûf mir, dir mac niemer missvarn). Gerade der Hinweis auf die eigene biderbecheit legitimiert diese Empfehlung, schließlich ist es naheliegend, einem biderben zu folgen und auf diesen zu hören.
Historischer Hintergrund Eine genauere Datierung von I,12 hängt davon ab, wie man die Angabe zwênzec jâr in Vers 2 auslegt.231 Grundsätzlicher Ausgangspunkt ist hierbei der Tod Herzog Friedrichs II. am 15. Juni 1246. Der Spruch ist also in jedem Fall danach entstanden. Aber um wie viel später? Da ich die Auslegung von von der Hagen, Meyer und Doerks, mit zwênzec jâr sei der Spruch auf zwanzig Jahre nach Friedrichs II. Tod anzusetzen,232 verwerfe, soll die Frage nach dem König 230 Vgl. Mhd. Gram., § L 94. 231 Vgl. dazu Anm. 226. 232 Vgl. HMS 4, S. 519 und 521; Meyer, S. 100; Doerks, S. 10.
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ûz Bêheimer lant, der sich auf eine kriegerische Auseinandersetzung vorbereitet (vgl. V. 11), zusammen mit der Bitte um Beistand (vgl. V. 12) bei der historischen Einordnung helfen. Infrage kommt, will man terminologisch ganz korrekt sein (vgl. V. 11 künec), nur König Wenzel I. von Böhmen, sein Sohn Ottokar II. wird erst 1253 nach dem Tod Wenzels I. König von Böhmen.233 Wenzel I. marschiert 1250 in Österreich ein, worauf sich evtl. Vers 11 (wiltû dich gegen vîenden scharn V. 11) beziehen mag, und 1251 wird sein Sohn Ottokar II. Herzog von Österreich. Das „Hilfsgesuch“ aus Vers 12 ist nun vielleicht vor folgendem Hintergrund zu sehen: Herzog Otto II. von Bayern stellt eine Bedrohung für Österreich dar, gegen die nun König Wenzel I. Unterstützung leisten soll, und dies, wenn man so will, durch die Annexion Österreichs 1250 auch tut. Insofern ist m. E. der Datierung von Lamey, Schönbach, Vetter, Gerdes und zuletzt Brunner zuzustimmen, die sich alle für eine Entstehung um 1250/ 51 aussprechen.234
Metrik A4ma A4mb 2A 7 m c A4mb 5 2A 4 m a 7mc A4md A8ke A6md 10 A 8 k e A8mf A9mf
Ich han gekláget undẹ klág ez án wol zwenzec jar ie báz unde báz, unde múoz ouch án mîn énde klágen den vrsten Vríderch: sîn réinez hérze sich níe vergaz rítter únde knéhte – die wúrden álle b im rch. swâ mán dem lánde ere wérdeclche sólde behértèn, ir éllen wás in mánegen strten góldes wért.
sô hílf dem bidérben ûz Osterrch unde hábẹ ûf mír, dir mac níemer míssevárn.
Literatur Brunner: Bruder Wernher, Sp. 899 • Doerks, S. 10 • Gent, S. 18, 152 Anm. 3 • Gerdes: Beiträge, S. 33 und Anm. 2, 64 und Anm. 5, 68–72, 73, 179 und Anm. 4, 181 und Anm. 3, 207, 208 • HMS 4, S. 519, 521 • Heinzle, S. 18 • Kemetmüller, S. 23, 43, 45, 57, 64–67, 87, 93, 227 • Knapp, S. 284 f. • Kraus: Walther, S. 218 • Lamey, S. 8, 33–35, 37, 38 •
233 Vgl. Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 34; Gerdes: Beiträge, S. 72; Heinzle, S. 18; Brunner: Bruder Wernher, Sp. 899. 234 Vgl. Lamey, S. 34; Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 34 f.; Vetter, S. 258; Gerdes: Beiträge, S. 71 f.; Brunner: Bruder Wernher, Sp. 899.
12. Ich han geklaget vnde klag ez an.
Meyer, S. 100 f., 104 f. • Müller: politische Lyrik, S. 90 • Roethe, S. 220, 264 • Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 32–35 • Scholz: Reichsidee, S. 18, 35 f., 41 • Strasser, S. 240 • Vetter, S. 258.
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13. Ich han durch tzucht vıl tzuchtelıch. (J13 N, U) Ich han durch tzucht vıl tzuchtelıch. Da her alle mẏne leıt gedaget. Nv wollen ſıe von tage tzv̊ tage e. lenger breıten ſıch / A herre got dır ſı geklaget. 5 Daz truwe. vnde (?) ere ín oſterrıch. Scham. vnde tzucht dıe mílte tugent ſwínde̅t daz klag ıch. / Ane twanc let man dıe ıvngen weſen. Des vorchten ſíe nícht daz ſıe ıeman wolle of ere tzehen. Nv ratent wıſe vrıvnt / wıe daz ıch ſůle geneſen. 10 Sít daz díe rıchen edelen wellen tugende vlehen E wılen was dıe tzucht ſo wert daz man ır tzv̊ allen / orten gert. Nv hat ez ſıch vůr keret ſo daz man dıe ıvngen tugende nícht en lert. /
5 vnde evtl. mit Majuskel statt Minuskel
13. Ich han durch tzucht vıl tzuchtelıch.
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Ich hân durch zuht vil zuhtelîch dâ her elliu mîniu leit gedaget. nû wellent sie von tage ze tage ie lenger breiten sich. â hêrre got, dir sî geklaget, 5 daz triuwe unde êre in Ôsterrîch, scham unde zuht, diu milte tugent swindent, daz klac ich. âne twanc lât man die jungen wesen, des vorhten sie niht, daz sie ieman welle ûf êre ziehen. nû râtet, wîse vriunt, wie daz ich sule genesen, 10 sît daz die rîchen edelen wellent tugende vliehen? ê wîlen was diu zuht sô wert, daz man ir ze allen orten gert, nû hât ez sich verkêret sô, daz man die jungen tugende niht enlêrt.
13N J 3 breiten: refl. ‚sich ausdehnen, anwachsen, ausbreiten‘ 7 twanc: ‚Zwang, Gewalt, Einschränkung‘ 8 ûf êre: êre meint hier weniger äußerlich ‚Ansehen, Ehre‘, sondern konzentriert sich durch die erzieherische Komponente (ziehen) stärker auf êre als innere Qualität, also ‚Ehre als Tugend, Ehrgefühl, ehrenhaftes Benehmen‘, wörtlich ‚mit der Absicht auf ehrenvolles Benehmen‘. ziehen: tr. ‚aufziehen, großziehen, erziehen‘ 9 genesen: hier ‚frei von Übel sein, sich wohl befinden‘ 10 sît: Ist hier eher konzessiv statt kausal zu verstehen: ‚obwohl, wenngleich‘. vliehen: tr. ‚fliehen vor, flüchten, entfernen von‘ 11 gern: Aufgrund des Reimzwangs (gert : [en-]lêrt) steht hier die 3. Sg. Ind. Prät. nur mit ‑t statt ‑te (vgl. I,12,7). 12 verkêren: refl. ‚sich ändern, umkehren, wenden, verwandeln, ins Entgegengesetzte verkehren‘
HMS 3: I,13 Sch 49
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Ton I, Korpus in J
Übersetzung Ich habe um der höfischen Erziehung willen sehr wohlerzogen bis hierher all meine Schmerzen verschwiegen. Jetzt wollen sie sich von Tag zu Tag immer stärker ausbreiten. Ach, Herr Gott, dir sei geklagt, 5 dass in Österreich Loyalität und Ehre, Schamgefühl und Sittsamkeit, die freigebige Tugend schwinden, das beklage [ich. Ohne Einschränkungen lässt man die Jungen sein, deswegen haben sie keine Angst davor, dass sie jemand zu ehrenvollem [Benehmen erziehen wollen könnte. Jetzt ratet, kluge Freunde, wie es mir gut ergehen möge, 10 obwohl die wohlhabenden Edlen vor Tugenden flüchten wollen? Ehemals vor Zeiten war die Erziehung so wertvoll, dass man allerorts nach ihr [verlangte. Jetzt hat es sich derart gewandelt, dass man den Jungen keine Tugenden [beibringt.
Inhalt I,13 ist als Klage über den Sittenverfall (hier speziell in Österreich) zu verstehen, der veranschaulicht wird durch die Diskrepanz zwischen früher, als alles besser war, und heute. Dies verdeutlichen diverse Adverbien (vgl. V. 2 dâ her, V. 3 nû, V. 11 ê wîlen, V. 12 nû), die sich jedoch vorrangig auf den Stropheneinund ‑ausgang beschränken und insofern einen inhaltlichen Rahmen des Spruches bilden. Die ersten drei Verse führen zunächst das Thema ein, das dann im weiteren Verlauf näher beleuchtet wird. Als erstes stehen das Ich und dessen Kummer im Mittelpunkt. Dieser konnte bisher (vgl. V. 2 dâ her ) vom Ich verschwiegen werden, und zwar aufgrund seiner Wohlerzogenheit und Sittsamkeit (vgl. V. 1 zuht). Doch mittlerweile (vgl. V. 3 nû) wird dieser Kummer von Tag zu Tag größer. Den Grund hierfür führen die Verse 4 bis 8 an: Die zuht, von der zuvor die Rede ist und die das Ich ausdrücklich besitzt, sowie andere herausragende Qualitäten (vgl. V. 5 triuwe, êre, V. 6 scham, milte tugent) swindent (V. 6) in Ôsterrîch (V. 5), wodurch das Ich sich in seinem Kummer nun nicht mehr zurückhalten kann. Es klagt darüber, indem es Gott anruft (vgl. V. 4 â hêrre got, dir sî geklaget), ihm von dieser Entwicklung berichtet und schließlich, zur Verstärkung, nochmals wiederholt: daz klac ich (V. 6). Im Anschluss daran
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wird die Lage abermals „konkretisiert“: Der allgemeine Werteverfall wird mit den jungen (V. 7) in Verbindung gebracht, denen man keine Grenzen aufzeigt, um sie ûf êre zu erziehen (vgl. V. 8). Nachdem dieser „Zustandsbericht“ abgegeben wurde, kommt das Ich wieder auf sich selbst und seine Situation zu sprechen: wîse vriunt235 (V. 9) sollen ihm sagen, wie es ihm gut ergehen soll angesichts bzw. trotz dieser Negativentwicklung (vgl. V. 9 f.). Hierbei fällt auf, dass die grundsätzliche Klage über die Lage an Gott gerichtet ist, die übergeordnete Instanz also. Die Bitte um einen konkreten Ratschlag hingegen wendet sich an wîse vriunt (V. 9), d. h. eine irdische Instanz, der das Ich ebenbürtig ist. Der Schluss der Strophe kehrt schließlich zurück zum Anfang des Spruches, und zwar sowohl mit Blick auf die Gegenüberstellung von heute und früher als auch inhaltlich bzw. wörtlich, indem erneut die zuht in den Fokus rückt. Die Bilanz fällt gemäß einer laudatio temporis acti eher dürster aus: Während diu zuht (V. 11) früher (vgl. V. 11 ê wîlen) so hoch angesehen war, dass man ihr überall nacheiferte (vgl. V. 11), sieht es heute (vgl. V. 12 nû) ganz anders aus, weil man sich nicht mehr darum bemüht, die jungen in Werten und Ansehen zu unterweisen (vgl. V. 12). Die Haltung, die das Sprecher-Ich einnimmt, ist insgesamt eher defensiv. Zwar erscheint es insofern selbstbewusst, als es überhaupt erst zur (An-)Klage anhebt, und vor dem Hintergrund des allgemeinen Sittenverfalls die Rolle eines „moralischen Stimmungsbarometers“ einnimmt, betrachtet man jedoch die drei Textstellen, in denen es sich selbst nennt, näher, so fällt die eher schwache Position des Ich auf: In Vers 1 bis 3 ist zunächst von seinen Sorgen die Rede, durch die es per se defensiv erscheint. Im Anschluss daran erhält das Auftreten des Ich aufgrund des Verbs klagen in Vers 6 (und 4) zwar eine etwas aktivere Färbung, weil es überhaupt wagt, seine Sorgen zu artikulieren, allerdings kann die vermeintliche Aktivität aufgrund der eingeschränkten Handlungsmöglichkeiten des Sprechers nicht durch konkrete Taten zum Ausdruck gebracht werden. Nicht zuletzt äußert sich dies darin, dass sich der Sprecher mit der (An-)Klage
235 Während die Freunde hier durch das Attribut wîse als klug und erfahren ausgezeichnet werden, kann in der Spruchdichtung auch der wîse oder die wîsen (auch meister ist möglich) als Instanz angeführt werden, die die Funktion eines Zeugen, eines Ratgebers oder auch Vermittlers einnehmen kann (vgl. dazu eingehender Gerdes: Beiträge, S. 148–151). Bruder Wernher scheint eine Vorliebe sowohl für das Adj. als auch für das Subst. wîse zu haben, denn er benutzt beides mehr oder weniger regelmäßig, vgl. wîse vriunt: I,13,9; wîse liute: I,14,7 und der wîsen liute lêre in II,25,8 (außerdem kontrastiv tumben liuten I,15,9); wîser man: II,24,5 und IX,75,7 (außerdem kontrastiv unwîser man: I,15,2 und 11); die wîsen: II,27,8; II,34,10; V,61,6 (zusammen mit die besten) und VI,67,9.
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Ton I, Korpus in J
an Gott wendet, wodurch die eigene Hilflosigkeit verdeutlicht wird. Und schließlich die Frage in Vers 9: [...] wie daz ich sule genesen. Hier wird die schwache Position des Ich gleich auf zweierlei Art veranschaulicht: zum einen durch das Verb genesen, zum anderen durch das Hilfsgesuch gegenüber klugen Freunden.
Historischer Hintergrund Obgleich der Spruch aufgrund der räumlichen Angabe in Ôsterrîch (V. 5) recht konkret wirkt, erlaubt dies m. E. dennoch keine historische Einordnung, da die Angabe nicht unweigerlich als Verweis auf ein bestimmtes Ereignis oder eine bestimmte Phase zu verstehen sein muss und dafür wohl ohnehin zu vage bleibt. Ungeachtet dessen wurden Datierungsversuche unternommen: Karl Meyer überlegt, ob der Spruch in die „Zeit des Zwischenreichs“236 fällt, also nach den Tod Herzog Friedrichs II. am 15. Juni 1246. Und auch Henry Doerks geht davon aus, dass I,13 vor dem Hintergrund der „Verwilderung an Zucht und Sitte“237 entstanden ist, zu der es im Zuge der Machtkämpfe nach Herzog Friedrichs II. Tod kommt. Anton E. Schönbach wendet gegen diese Überlegungen ein, dass Klagen über zuchtlose Jugend, über Verworrenheit der österreichischen Verhältnisse zehn Jahre vor dem Tode Herzog Friedrichs des Streitbaren ebenso am Platze gewesen sein [können] wie darnach.238
Schönbach spricht sich somit ebenfalls gegen die Möglichkeit einer Datierung aus.
Inhaltliche Ähnlichkeit mit anderen Texten vgl. zu Vers 4: Walther L 25,11 (hier V. 13): daz sî dir, süezer got, gekleit! (Schweikle: Walther, Bd. 1, S. 260)
236 Meyer, S. 99. 237 Doerks, S. 9. 238 Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 36 f.
13. Ich han durch tzucht vıl tzuchtelıch.
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vgl. zu Vers 5 f.: Walther L 36,11 (hier V. 7): scham, tríuwe, êrebernde zúht die sult ir gerne tragen, (Schweikle: Walther, Bd. 1, S. 200) vgl. evtl. zu Vers 6: Walther L 104,7 (hier V. 3): daz klage ich dem der er bestât, (Schweikle: Walther, Bd. 1, S. 268) vgl. zu Vers 9: Walther L 27,7 (hier V. 7): nû râte ein iegelîch friunt, ob ich ez halte oder ób ichz lâze. (Schweikle: Walther, Bd. 1, S. 122)
Metrik A4ma 2A 4 2m b A7mc A 4 2m b 5 A4ma 7mc 2A 4 2m d A8ke A 6 2m d 10 A 8 k e A8mf A9mf
nû wéllent síe von táge ze tágẹ ie lénger bréiten sich. triuwẹ, undẹ, êrẹ schám unde zúht, diu mílte túgent swíndent, dáz klac ích. wellẹ nû ratet, wse vríunt, wie dáz ich súle genésen, sît dáz die rchen édelèn wéllent túgende vlíehèn? zẹ nû hat ez sích verkeret so, daz mán die júngen túgende níht enlert.
Literatur Doerks, S. 9 • Gent, S. 69 Anm. 9 • Gerdes: Beiträge, S. 71 Anm. 1, 150, 176 und Anm. 3, 179 und Anm. 4, 181 und Anm. 5, 187 und Anm. 2 • HMS 4, S. 521 • Kemetmüller, S. 67, 227 • Lamey, S. 8, 35, 37, 38 • Meyer, S. 100 • Roethe, S. 220 • Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 35–37 • Strasser, S. 239 • Vetter, S. 259.
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Ton I, Korpus in J
14. Swer ſẏnen vrıvnt vůr ſůchen ſol. (J14 N, U) Swer ſẏnen vrıvnt vůr ſůchen ſol. durch helfe daz ſı v̎ geſaget. Dem ıſt vıl we geſchen daz er tzv̊r werlde e. wart geborn. Swen er / ın ſẏnen kvmmer klaget. 5 Ab er ıcht grozer ſmehe dol. Sıe lougenen ſín tzv̊ vrıvnde ouch mv̊z er lıden íren tzorn. Ich horte wıſe / lıvte ſagen. Daz neman ſıch vůr kvnnen mv̊ge ẏme míſſelínge Dar vmme wıl ıch an mẏr ſelben nícht vůr tzagen. 10 Waz ob / mẏr dıe ſelde noch vıl lıchte vreude brínge Dıe mích ſo lange hat vůr mẏten. gewínne ıch ẏmmer ſelden teıl. ſo mag ıch írer / helfe vnbern vnde laz ıch ín ır vunden heıl. /
1 statt Initiale nur Lombarde 2 v̎ ohne Punkt, obwohl das normalerweise bei Lexemen, die hsl. aus nur einem Buchstaben bestehen, in J üblich ist (vgl. e. in Vers 3).
14. Swer ſy˙nen vrıvnt vu˚r ſu˚chen ſol.
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Swer sîne vriunt versuochen sol durch helfe, daz sî iu gesaget, dem ist vil wê geschên, daz er zer werlde ie wart geborn. swen er in sînen kumber klaget, 5 ob er iht grôzer smæhe dol, sie lougenen sîn ze vriunde, ouch muoz er lîden ir zorn. ich hôrte wîse liute sagen, daz nieman sich verkunnen muge, ime misselinge. dar umbe wil ich an mir selben niht verzagen. 10 waz, ob mir diu sælde noch vil lîhte vreude bringe, diu mich sô lange hât vermiten? gewinne ich iemer sælden teil, sô mac ich ir helfe enbern unde lâz ich in ir wunden heil. 14N J 1 sîne vriunt: Der Sg. bei hsl. ſẏnen vrıvnt scheint angesichts des weiteren Handlungsverlaufs (vgl. V. 4 in, V. 6 sie, ir, V. 12 ir helfe) versehentlich (?) statt des eigentlich zu erwartenden Pl. verwendet. Ich greife ein und schreibe sîne vriunt (vgl. auch Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd, S. 37 und HMS 3, S. 12). versuochen: tr. ‚prüfen, auf die Probe stellen‘ soln: als Hilfsverb ‚müssen, sollen‘, öfter auch ‚dürfen, wollen, werden‘ 2 durch: ‚wegen, um ... willen‘ oder ‚vermittelst, dank, anhand von‘; beide Varianten ergeben Sinn, verändern diesen jedoch zugleich minimal: In der ersten Bedeutung soll gerade die Hilfsbereitschaft des Freundes auf die Probe gestellt werden und keine andere Eigenschaft, im anderen Fall wird hingegen die Hilfsbereitschaft als Mittel zum Zweck benutzt, um den Freund an sich zu prüfen. Ich entscheide mich für die erste Variante, da der Spruch in erster Linie auf die schlechten Erfahrungen mit freundschaftlicher Hilfe ausgerichtet ist (v. a. V. 4–6, 11 f.), es scheint also gerade um die Qualität der Hilfsbereitschaft zu gehen. 3 geschên (Kontr. zu geschehen): unpers. mit Adv. (hier: wê) ‚ergehen‘ 5 smæhe: ‚geringschätzige, verächtliche Behandlung, Beschimpfung, Schmähung, Entehrung, Verachtung, Schmach, Schimpf‘, grôzer smæhe ist part. Gen. zu iht, wörtlich also ‚(ein) Etwas an großer Verachtung‘ 6 lîden: ‚über sich ergehen lassen, erfahren, ertragen, erdulden, leiden‘ 8 verkunnen: refl. ‚verzweifeln‘ mugen: hier eher ‚sollen, dürfen‘ misselingen: unpers. mit Dat. ‚missglücken, fehlschlagen‘ ime misselinge: exzipierende Konstruktion (‚es sei denn‘) (vgl. Mhd. Gram., § S 159); aufgrund der fehlenden Spitzenstellung des Verbs (vgl. Mhd. Gram., § S 157, 1) a)) und der nachgestellten Position des Nebensatzes (vgl. Mhd. Gram., § S 159) ist m. E. nicht davon auszugehen, dass es sich hier um einen uneingeleiteten Konditionalsatz handelt. 11 diu: Ich beziehe den Rel.satz auf vreude, allerdings wäre es auch denkbar, dass sælde das Bezugswort bildet und der Rel.satz aus V. 11 hier aus metr. Gründen nicht unmittelbar bei seinem Bezugswort steht (bringe reimt mit [misse-]linge, wird der Rel.satz zu sælde vorgezogen, bildet bringe nicht mehr die Kadenz). 12 ir helfe: Hier ist nicht die Hilfsbereitschaft der sælde (V. 11) gemeint, sondern der Kontext springt zurück zu den Freunden. enbern: mit Gen. (ir helfe) ‚worauf verzichten‘ heil: hier ‚unversehrt, ganz‘ in ir wunden heil lâzen: Inwiefern passt ‚ihnen ihre Wunden unversehrt
HMS 3: I,14 Sch 50
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Ton I, Korpus in J
lassen‘ logisch zum Gesamtkontext? Die Aussage ist ja bereits in sich unlogisch: Wie kann jemand, der bereits Wunden besitzt, an diesen unversehrt bleiben?
14. Swer ſy˙nen vrıvnt vu˚r ſu˚chen ſol.
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Übersetzung Wer auch immer seine Freunde auf Hilfsbereitschaft prüfen will, das sei euch gesagt, dem ist (es dadurch) sehr schlecht ergangen, dass er je in die Welt geboren [wurde. Wann auch immer er ihnen sein Leid klagt, 5 wenn er große Verachtung erduldet, leugnen sie, ihn zum Freund (zu haben), zudem muss er ihren Unmut [ertragen. Ich hörte kluge Menschen erklären, dass niemand verzweifeln solle, es sei denn, er würde scheitern. Deswegen werde ich bei mir selbst nicht den Mut verlieren. 10 Was, wenn mir das Glück vielleicht noch Freude bescheren mag, die mich so lange gemieden hat? Wenn ich künftig etwas Glück erringe, so kann ich auf ihre Hilfsbereitschaft verzichten und ich lasse ihnen ihre [Wunden unversehrt (?).
Inhalt Der Spruch ist inhaltlich zweigeteilt, und zwar gemäß seines metrischen Aufbaus, so dass sich die erste Hälfte mit dem Aufgesang deckt, die zweite mit dem Abgesang. Zunächst zu den Versen 1 bis 6: Sie sind als Belehrung zu verstehen – man beachte die Apostrophe an das Publikum in Vers 2: daz sî iu gesaget –, aber nicht im Rahmen einer allgemeinen Tugendlehre, sondern speziell mit Blick auf die Freundschaft. Hierbei sieht der didaktische Ansatz so aus, dass nicht gesagt wird, wie man sich in einer Freundschaft verhalten sollte, wie also der ideale Freund aussieht, sondern das Ideal wird anhand eines Negativbeispiels impliziert: Derjenige, der sich auf die Hilfsbereitschaft seines Freundes verlässt, wird es bereuen, da man ihm in seiner Sorge nicht beistehen, sondern ihn als Freund verleugnen und, schlimmer noch, mit zorn (V. 6) abstrafen wird. Das Thema erstreckt sich über den gesamten Aufgesang, wobei sich die beiden Stollen jedoch von ihrer Ausrichtung her leicht unterscheiden: 1. Stollen = kontextuell unabhängige Sentenz, 2. Stollen = kontextuell eingebundene Präzisierung der Sentenz.
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Ton I, Korpus in J
Nun zu den Versen 7 bis 12: Der zweite Teil des Spruches setzt mit Beginn des Abgesangs ein und führt inhaltlich weg vom Aufgesang, dessen Thematik erst im Schlussvers der Strophe dank des Verweises auf die Freunde (vgl. V. 12 ir helfe, in ir wunden) wieder anklingt. Ansonsten steht allein das Sprecher-Ich im Fokus, das zuvor unsichtbar ist und höchstens in der Apostrophe an das Publikum (vgl. V. 2 iu) durchscheint. Die Verse 7 bis 12 weisen den klassischen Tenor eines Sangspruchs auf, in welchem das fahrende Ich über sein Dasein klagt, indem es auf seine eigene Glück- und Freudlosigkeit hinweist (vgl. V. 9–11), die, weitergedacht, natürlich als das Resultat von materieller Armut (sprich: mangelhafter milte des Herrn) zu verstehen ist. In welchem Bezug jedoch stehen die falschen Freunde des Aufgesangs zu dieser Klage des Sprechers? Entspricht die Beschwerde über fehlendes Glück dem kumber aus Vers 4, dem wahre Freunde abhelfen würden? Geht es also darum, dass das Ich sich durch die Mithilfe seiner Freunde einen sælden teil (V. 11) erhofft, also eine materielle Besserstellung? Andererseits haben aber gerade die Verse des Aufgesangs gezeigt, dass die vermeintliche Hilfe der Freunde zu nichts nütze ist. Wenn das Ich also abschließend erklärt, dass es getrost auf die Hilfe der Freunde verzichten könne (vgl. V. 12), solange es ihm selbst gelänge, sælde und somit auch vreude zu gewinnen (vgl. V. 11), dann spiegelt diese Haltung die Bedeutung der einleitenden Sentenz wider: Würde sich das Ich allein auf die Hilfe der so genannten Freunde verlassen, wäre es verlassen! Zuletzt bleibt noch die Frage nach den wunden, die in Vers 12 genannt werden. Was genau ist damit gemeint? Sie „gehören“ zu den Freunden und für den Fall, dass das Ich deren Hilfe nicht brauchen sollte, lässt es ir wunden heil (V. 12). Ist damit gemeint, dass das Ich davon absehen wird, auf die Schwächen und Sorgen der Freunde hinzuweisen bzw. diese anzugreifen, falls es auf ihre Hilfe nicht angewiesen sein sollte und somit auch die negativen Folgen (vgl. V. 6) der vermeintlichen Hilfsbereitschaft nicht zu spüren bekäme? In jedem Fall wirkt die Formulierung in ir wunden heil lâzen (V. 12) etwas eigenwillig: Entweder ein Mensch bleibt unversehrt oder er ist verwundet, Wunden unversehrt zu lassen, erscheint unlogisch.
Inhaltliche Ähnlichkeit mit anderen Texten zur unaufrichtigen Freundschaft vgl.: Freidank 95,20 f.: Wol im, der vil friunde hât; wê im, des trôst gar an in stât. (Spiewok, S. 82)
14. Swer ſy˙nen vrıvnt vu˚r ſu˚chen ſol.
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Freidank 96,5–8: Manic man vil friunde hât, die wîle sîn dinc ebene gât, und hât doch bî in allen vil lützel nôtgestallen. (Spiewok, S. 82) vgl. zu Vers 3: Pred 4,3 vgl. zu Vers 9 ff.: Walther L 63,8 (hier V. 1–4): Díe verzagten aller guoten dinge wænent, daz ich mit in sî verzaget. ich hân trôst, daz mir noch fröide bringe, der ich mînen kumber hân geklaget. (Schweikle: Walther, Bd. 2, S. 384)
Metrik A A A A 5 A A A A A
4ma 4 2m b 7mc 4 2m b 4ma 7mc 4 2m d 8ke 6 2m d 10 8ke A8mf 9mf
werldẹ
sie lóugenen sn ze vríundẹ ouch múoz er ldèn ir zórn.
gẹwinnẹ so mac ích ir hélfè enbérn unde laz ich ín ir wúnden héil.
Literatur Gerdes: Beiträge, S. 93, 150, 154 und Anm. 4, 174 und Anm. 1, 177 und Anm. 1, 178 und Anm. 3, 179 und Anm. 5, 182 und Anm. 2 • HMS 4, S. 522 • Kemetmüller, S. 67 f., 227 f. • Lamey, S. 35, 37, 38 • Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 37 f. • Vetter, S. 259.
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Ton I, Korpus in J
15. Swer ſẏne ruwe anz ende lat. (J15 N) Swer ſẏne ruwe anz ende lat. Der tůt als eẏn vnwıſer man. Der hette eín hus gebuwet wol. Vz (?) edhelen holtze gůt | Do quam eín tzorních vıvr dar an. / 5 do ſtvnt ſín ſẏn. ſín mv̊t. ſín rat. nícht anders denne leſche herre alſo noch vıl maníger tůt. | Bız ẏm daz vívr vůr ge dıe tůr. Do mv̊ſt er ſelbe vnde ſín gůt. / gar ín dem hus vůr brẏnnen | Dız bıſpıl lege ıch mẏr vnde tvmmen lívten vůr. 10 Daz wır den ſvnden vůr dem todhe vntflıehen vnde vntrẏnnen | hette (?) der / ſelbe vnwıſe man gewunnen alſo rechten mv̊t. So het er vůr des vívres kraft ſıch ſelben vz getragen vnd ouch ſín gůt. /
1 statt Initiale nur Lombarde 3 Vz evtl. nur mit Minuskel statt Majuskel 5 Entgegen Anton E. Schönbachs Lesart (er liest tat) würde ich hier zu rat tendieren (vgl. Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 64). 11 hette evtl. mit Majuskel statt Minuskel
15. Swer ſy˙ne ruwe anz ende lat.
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Swer sîne riuwe anz ende lât, der tuot als ein unwîser man. der hâte ein hûs gebûwet wol ûz edelem holze guot. dô kam ein zornec viur dar an. 5 dô stuont sîn sin, sîn muot, sîn rât niht anders denne ,lesche, hêrre!ʻ – alsô noch vil maneger tuot, biz im daz viur vergê die tür. dô muost er selbe unde sîn guot gar in dem hûs verbrinnen. diz bîspel lege ich mir unde tumben liuten vür, 10 daz wir den sünden vür dem tôde entvliehen unde entrinnen. hæte der selbe unwîse man gewunnen alsô rehten muot, sô hæt er vür des viures kraft sich selben ûz getragen und ouch sîn guot.
15N J, 28 [27] C 1 anz] an dc. 3 d gebuwe̅ hat· eín hvs mıt ſchone̅ holze guͦt. 5 muot] wort. 6 niht anders denne lesche] vf ands nıht wa̅ loͤſcha. 7 do ím vgıe das fuͥr dıe tuͥr. 8 (unde) ovch. gar in dem hûs] ín ſıne̅ hvſe. 9 lege] kv̍nde. 11 (hæte) oͮch. alsô rehten] e de̅ ſelbe̅. 6 als.
8 vn̅.
9 vn̅.
10 vn̅.
1 anz ende lân: hier ‚auf das/ans Ende verschieben, aufschieben‘ 3 hân: Hsl. hette ist eine eher md. Form (vgl. Mhd. Gram., § M 113 Anm. 3 und 4). edel: Aufgrund der Form holze (Dat. Sg. Neutr.) gehe ich bei edel nicht, wie die hsl. Form edhelen vermuten lassen könnte, von Dat. Pl., sondern Dat. Sg. (edelem) aus. 4 zornec: Ich übersetze etwas freier. 5 stân: hier wohl ‚gerichtet sein auf‘ muot: hier ‚Entschluss, Absicht‘ rât: hier ‚Überlegung(en)‘ 6 leschen: Die 2. Sg. Imp. des stV. steht hier nicht, wie zu erwarten wäre, endungslos, sondern „nach dem Muster der swV.“ (Mhd. Gram., § M 70 Anm. 10) mit ‑e. 7 vergên (Kontr. zu vergehen): ‚zugrunde gehen, verderben‘, hier besser ‚übergreifen auf‘ 8 müezen: bei muost (3. Sg. Ind. Prät.) ist ‑e bereits hsl. elidiert (Hiat) 9 vür legen: ‚vor Augen legen, vor-, darlegen, vorbringen, ‑stellen‘ 11 hân: Hsl. hette ist eine eher md. Form (vgl. Mhd. Gram., § M 113 Anm. 3 und 4). 12 tragen: hier mit Präp. ûz, wörtlich ‚hinaustragen, ‑bringen‘ (nicht zu verwechseln mit ûz tragen im Sinne von ‚ausdrücken; schlichten; ausmachen, festsetzen, bestimmen‘)
HMS 2: IV,7 Sch 28
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Ton I, Korpus in J
Übersetzung Wer auch immer seine Reue bis zuletzt aufschiebt, der handelt wie ein törichter Mann. Der hatte ein Haus anständig gebaut aus kostbarem, gutem Holz. Ein heftiges Feuer gelangte dort hin. 5 Da waren sein Sinn, seine Absicht, seine Überlegungen auf nichts anderes gerichtet als auf: ,Lösche, Herr!ʻ – wie es nach wie vor sehr [viele tun, bis ihnen das Feuer auf die Tür übergreifen mag. Da musste er selbst und seine Habe vollständig in dem Haus verbrennen. Dieses Gleichnis führe ich mir und einfältigen Menschen vor Augen, 10 damit wir den Sünden vor dem Tod entfliehen und entkommen. Wenn derselbe törichte Mann zu solch einer rechtschaffenen Gesinnung [gelangt wäre, so hätte er sich selbst und auch seine Habe vor der Gewalt des Feuers nach [draußen geschafft.
Inhalt In I,15 nutzt Bruder Wernher einmal mehr das Mittel des bîspels.239 Im vorliegenden Fall soll das Publikum auf den angemessenen Umgang mit der riuwe hingewiesen werden. Diese wird im ersten Vers zusammen mit dem verallgemeinernden swer genannt, was den sentenzartigen Charakter der ersten beiden Verse unterstreicht (swer-der-Konstruktionen finden sich in der Sangspruchdichtung nicht selten bei Belehrungen, Ermahnungen oder Lehrsätzen). Und auch das Subjekt des nachfolgenden bîspels (vgl. V. 3–8) wird bereits zu Beginn erwähnt: ein unwîser man240 (V. 2). Im anschließenden Mittelteil (bis zum Ende des Aufgesangs) wird nun das Gleichnis von diesem törichten Mann, der zunächst ein stattliches Haus baut und anschließend darin verbrennt, ausgeführt.241 Warum aber kommt er nicht mit dem Leben davon? Und was hat das Ganze mit der Reue aus Vers 1 zu tun? Zieht man zu den Versen 3 bis 8 die beiden Schlussverse heran, die eine Art Fazit des Gleichnisses darstellen, so kommt man zu folgendem Handlungsverlauf: Nachdem ein einfältiger Mann
239 Vgl. zum bîspel bzw. zur Bildsprache auch II,37; II,42; II,43; V,60; VI,69,13 f. 240 Vgl. dazu Anm. 235. 241 Zur inhaltlichen Struktur von I,15 vgl. auch Yao, S. 125 f.
15. Swer ſy˙ne ruwe anz ende lat.
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ein ansehnliches Haus gebaut hat, das von einem Feuer bedroht wird, hat er, anstatt dass er sich selbst und sein Hab und Gut aus dem brennenden Haus rettet, nichts anderes zu tun, als Gott um Hilfe anzuflehen. Da dies keine Wirkung zeigt, er sich jedoch allein darauf verlässt, verbrennt er in seinem Haus.242 Vor dem Hintergrund der beiden Schlussverse bestehen Ursache und Wirkung nun darin, dass der Mann nicht den rehten muot (V. 11) besitzt (dieser wird in Vers 10 beschrieben), wodurch er wiederum nicht in der Lage ist, die Situation richtig einzuschätzen und sich selbst zu retten.243 Nimmt man nun noch die Verse 9 und 10 hinzu, die, obgleich sie nicht den Schluss der Strophe bilden, eine Art Gesamtfazit darstellen, indem der Sprecher sowohl den Zweck des bîspels nennt (V. 10 den Sünden vor dem Tod entfliehen und entkommen) als auch den Adressaten (V. 9 sich selbst und tumbe[n] liute), so ergibt sich folgender Gesamteindruck244: Ausgangspunkt des Spruches ist der „(un-)sachgemäße Umgang“ mit dem Reueempfinden (und, weitergedacht, mit der Buße). Mit Blick darauf sind vier Textstellen entscheidend für das Verständnis des Spruches: 1) die Vernachlässigung der riuwe und somit das Aufschieben der Bußübungen (V. 1) 2) der rehte[n] muot (V. 11) 3) den sünden vür dem tôde entvliehen unde entrinnen (V. 10) 4) die Anrufung Gottes um Hilfe (V. 6) Alle vier Aspekte zusammen genommen bilden die Kernaussage: Den sünden entkommt man nicht allein durch Gottes Hilfe, sondern man muss auch die richtige Gesinnung (rehter muot = riuwe) besitzen, d. h. den Wunsch nach Besserung empfinden. Nur dann können alle diese Bestandteile – Vertrauen auf Gott zusammen mit einem Bewusstsein zur Reue und dem entsprechenden bußfertigen Verhalten – ineinander greifen. Und nur dann kann man der Sünde entkommen und ist in der Lage, geläutert zu sterben. Udo Gerdes weist darüber hinaus darauf hin, dass gerade mit der Zerstörung der Türe (vgl. V. 7)
242 Die Sünde bzw. deren Konsequenzen für das Seelenheil des Menschen wird hier im Bild des Feuers ausgedrückt (vgl. Gerdes: Beiträge, S. 36 und 117). 243 Shao-Ji Yao weist hier zu Recht darauf hin, dass „dieses bîspel auf die Moral hin gestaltet [ist], und zwar um diese zu illustrieren, denn das Verhalten des Protagonisten in der Brandsituation ist so nicht realistisch, die Adressaten dürften es kaum logisch gefunden haben. Ohne die Einleitung hätte diese Geschichte einen absurden Eindruck gemacht.“ (Yao, S. 129) 244 Teschner zieht einen Vergleich mit dem zeitgenössischen Predigtstil (vgl. Teschner, S. 138).
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Ton I, Korpus in J
auch der „Ausweg[s]“245 und somit „die Umkehr von der Sünde“246 zunichte gemacht wird. Mit Blick auf die Parallelüberlieferung in C liegen, abgesehen von Wortumstellungen, für die Interpretation kaum signifikante Varianten vor. Vers 5 ersetzt muot durch wort, wodurch die Aussage des Verses jedoch nicht maßgeblich verändert wird. Es ließe sich evtl. veranschlagen, dass die Lesart des Verses in C stärker im rationalen Bereich verbleibt, da alle gewählten Begriffe (sin, wort, rât) eher dem Verstand, weniger dem Gemüt (muot), also einer eher emotionalen Seite, zugerechnet werden. Diese Variante fällt m. E. insgesamt jedoch weniger stark ins Gewicht. In Vers 9 steht (vür ) künden statt (vür ) legen, wodurch jedoch analog zu Vers 5 die Bedeutung des Verses kaum verändert wird. Im einen Fall impliziert das Verb einen schriftlichen Ausgangspunkt des Vortrags, im anderen eine rein mündliche Aufführungssituation. An der Position des Sprechers, der zwar eine Ratgeberrolle einnimmt, sich selbst aber zugleich bescheiden zu den tumben liuten zählt, ändert die unterschiedliche Wahl des finiten Verbs nichts.247 Abschließend bleibt noch Vers 11: Hier heißt es in C den selben muot statt (alsô) rehten muot. Während die Lesart aus J den muot, der in Vers 10 definiert wird (den sünden vür dem tôde entvliehen unde entrinnen), ausdrücklich positiv wertet, bleibt C mit den selben muot eher unspezifisch. Diese Lesart dient dank den selben vorrangig dazu, eine Verbindung zwischen muot und der Aussage des vorangehenden Verses herzustellen (in J durch alsô gewährleistet).
Inhaltliche Ähnlichkeit mit anderen Texten vgl. insgesamt: Job 15,34 und 20,26 vgl. zur Bedeutung der riuwe (V. 1): Freidank 35,4–9: Swer mit sünden sî geladen, der sol sîn herze in riuwe baden. Riuwe ist aller sünden tôt, sus koment die sünder ûzer nôt. Swâ got die wâren riuwe siht, dâ wirt alliu sünde ein niht. (Bezzenberger, S. 99) vgl. zu Vers 6: Ps 20,10 245 Gerdes: Beiträge, S. 119. 246 Ebd. 247 Vgl. zur Position des Sprechers auch Teschner, S. 138 f.
15. Swer ſy˙ne ruwe anz ende lat.
167
Metrik A A A A 5 A A A A A 10 A
4ma 4mb 7mc 4mb 4ma 7mc 4md 8ke 6md 8ke 8mf A9mf
riuwẹ der hatẹ ein hus gebuwet wól ûz édelem hólze gúot.
niht ánders dénne ,lésche, herrẹ!ʻ – alsô nóch vil máneger túot, dô múost er sélbe únde sîn gúot gar ín dem hus verbrínnèn. diz bspel légẹ ich mír unde túmben líuten vr, tôdẹ, undẹ hǽte der sélbẹ unwse mán gewúnnen álsô réhten múot, sô hǽ t er vr des víures kráft sich sélben uz getrágen und óuch sîn gúot.
Literatur Doerks, S. 13 • Gerdes: Beiträge, S. 32 und Anm. 1, 36 und Anm. 7, 107, 117–119, 153 und Anm. 4, 174 und Anm. 2, 177 und Anm. 1, 179 und Anm. 7, 182 und Anm. 1, 203, 204 und Anm. 2 • HMS 4, S. 523 • Kemetmüller, S. 41, 220 • Lamey, S. 8, 35, 38 • Roethe, S. 339 • Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 63 f. • Sparmberg, S. 20 • Teschner, S. 136–140 • Vetter, S. 248 • Yao, S. 37, 125 f., 128 f. 130, 132, 202.
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Ton I, Korpus in J
16. Owe daz maníger valſchen mv̊t. (J16 N, U) Owe daz maníger valſchen mv̊t. Jn hertzen gar vůr borgen treẏt. Vnde honeget mích doch mít dem mvnde. ſtete tzaller tzít | Daz ıſt der ſele vnſtetıcheıt. 5 Daz / ſelbe dunket mír nícht gůt. Swer mít valſchem hazze tzv̊ allen tzıten of mẏr lıt. | Swa er mẏr vıvre wıſen wıl. | Da darb ıch anders nícht wen tıefe waz/zers vůrde ſůchen | Swa er mẏr wazzer wıſet da víndıch vıvres vıl. 10 Sus getan ſchult vůr dıent er tzv̊ aller tzıt mẏn vlůchen | Swaz er mír ſeẏt / ez ſı weích daz ıſt noch herter wen eín ſteẏn. Swaz er mẏr ſeıt ez ſy ſwartz daz ıſt noch wızer dan eín helfenbeẏn.
1 statt Initiale nur Lombarde
3 ‑et bei honeget scheint interlinear nachgetragen
16. Owe daz maníger valſchen mv̊t.
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Ôwê, daz maneger valschen muot in herzen gar verborgen treit unde honeget mich doch mit dem munde stæte zaller zît! daz ist der sêle unstætecheit. 5 daz selbe dunket mir niht guot, swer mit valschem hazze ze allen zîten ûf mir lît. swâ er mir viure wîsen wil, dâ darf ich anders niht wan tiefe wazzers vürde suochen. swâ er mir wazzer wîset, dâ vint ich viures vil. 10 sus getâner schult verdient er ze aller zît mîn vluochen. swaz er mir seit, ez sî weich, daz ist noch herter wan ein stein, swaz er mir seit, ez sî swarz, daz ist noch wîzer dan ein helfenbein.
16N J 3 honegen: tr. ‚süß mit Honig, wie Honig, zu Honig machen‘, hier ‚Honig ums Maul schmieren‘ 4 unstætecheit: Ich übersetze mit ‚Unbeständigkeit‘ (im Sinne von ‚Opportunismus‘). 5 daz selbe: Bezieht sich m. E. auf den nachfolgenden Vers. 6 swer: Aufgrund des vorausgehenden Verses verzichte ich auf die verallgemeinernde Ausrichtung von swer und schließe V. 6 stattdessen konditional an V. 5 an. ûf einem lîn (Kontr. zu ligen): ‚jemandem zur Last fallen, zusetzen, bedrängen‘ 7 wîsen: tr. ‚zeigen, anzeigen, kundtun, offenbaren‘ oder ‚weisen, führen, lenken, leiten‘ 8 suochen durfen: Ich verzichte in der Übersetzung auf das Modalverb und gebe den Aussageduktus des Notwendigen/Erforderlichen sowie das Verb suochen freier wieder. wazzer: hier verallgemeinernd ‚Gewässer‘ vürde: ‚Furt, Flussbett‘, freier ‚Grund‘ 10 schult: m. E. hier neutral ‚Grund, Ursache‘ getâner schult: Adv. Gen., der auf semantischer Ebene eine kausale Bedeutungsnuance (mit Tendenz zur instrumentalen) ausdrückt (vgl. Mhd. Gram., § S 76). 11 wan: Dient zur Einführung des verglichenen Gegenstandes, nämlich dem stein (vgl. dan in V. 12). 12 helfenbein: ‚Elfenbein‘, gekürzt aus ahd. hel(e)phantbein
HMS 3: I,16 Sch 51
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Ton I, Korpus in J
Übersetzung Ach, dass manch einer eine unaufrichtige Gesinnung ganz und gar verborgen im Herzen trägt und mir dennoch mit Worten immerzu (und) zu jeder Zeit Honig ums Maul [schmiert! Das ist die Unbeständigkeit der Seele. 5 Es erscheint mir nicht gut, wenn irgendjemand mich mit hinterhältiger Feindschaft immerfort bedrängt. Wo auch immer er mir Feuer zeigen möchte, da sollte ich besser nach nichts anderem ausschauen als dem Grund tiefer [Gewässer. Wo auch immer er mich zum Wasser führt, dort finde ich viel Feuer. 10 Aus diesem Grund verdient er immer meine Verwünschung. Wovon auch immer er erzählt, dass es weich sei, das ist noch härter als ein [Stein, wovon auch immer er erzählt, dass es schwarz sei, das ist noch weißer als [Elfenbein.
Inhalt Dieser Spruch konzentriert sich ausschließlich auf den Sprecher, der sich in einer Mischung aus defensivem Lamentieren (vgl. V. 1 Ôwê, V. 5 dunket mich niht guot) und latentem Drohen (vgl. V. 10 verdient er […] mîn vluochen) über einen anderen auslässt, der jedoch nicht näher beschrieben wird (vgl. V. 1 maneger, V. 6 swer, V. 7 und V. 9–12 er). Auf die Frage, um wen es sich dabei handeln könnte, wird weiter unten ausführlicher eingegangen. Die ersten vier Verse geben zunächst einmal das Thema des Spruches vor. Im Unterschied zu manch anderem Spruch ist diese Einleitung jedoch keine eher abstrakte und allgemein gehaltene Sentenz, vielmehr setzt die Strophe unmittelbar mit der Klage des Sprechers ein (vgl. V. 1 Ôwê, V. 3 mich). Zugleich bleiben die Verse 1 bis 3 dennoch so allgemein, dass sich der Rezipient problemlos in die Lage des Sprecher-Ich versetzen kann. Mit Vers 4 erhält die Aussage aus Vers 1 bis 3 endlich „ein Gesicht“, indem die thematisierte Problematik konkret benannt wird: Es geht um der sêle unstætecheit (V. 4). Die anschließenden Verse 5 und 6 leiten über von der Themenstellung des Spruches zu deren Veranschaulichung, die in den Versen 7 bis 12 erfolgt. Ist in Vers 1 noch vom valschen muot die Rede, spricht das Ich in Vers 6 bereits von valschem hazze, mit dem es heimgesucht werde. Analog zu den Versen des ersten Stollens stellt sich das Ich also als Opfer dar.
16. Owe daz maníger valſchen mv̊t.
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Mit Einsetzen des Abgesangs folgen nun drei Beispiele (vgl. V. 7–9, 11 und 12), die die vorausgegangene Beschwerde des Sprechers veranschaulichen sollen. Diese Beispiele dienen jedoch eher einem rhetorischen Zweck, beschreiben also kaum konkrete Sachverhalte. Die klassischen Gegensatzpaare viur – wazzer, weich – hert(e), swarz – wîz hat der Dichter wohl deswegen gewählt, um das Ausmaß der Heuchelei und Unaufrichtigkeit, mit dem sich das Ich konfrontiert sieht, eindrucksvoll zu verdeutlichen. Egal, was man ihm rät oder sagt, es kann davon ausgehen, dass das genaue Gegenteil gemeint ist. Neben der Parallelität im Gebrauch von antithetischen Wortpaaren wird die einheitliche Ausrichtung des Abgesangs auch durch den Einsatz der Anapher (vgl. V. 7 und 9 swâ er mir) unterstrichen, die z. T. in Parallelismus übergeht (vgl. V. 7/8 und 9 wîsen wil, dâ darf ich bzw. wîset, vint ich; V. 11 und 12). Auffällig im Abgesang ist Vers 10, der von Aufbau und Aussage her nicht in das Muster der Beispiele passt und deren nahtlosen Übergang zudem unterbricht, da er zwischen das erste und zweite Beispiel geschaltet ist. Inhaltlich kann der Vers sowohl auf die vorausgehenden Verse des Abgesangs als auch auf die nachfolgenden bezogen werden – in jedem Fall ist das Verhalten des unbekannten er verfluchenswert (vgl. V. 10). Auffällig an diesem Vers ist nun, dass er, der ja einer Art Fazit gleichkommt, nicht, wie es sonst häufig der Fall ist, den Schlusspunkt des Spruches bildet, das Thema also abrundet, sondern bereits in der Mitte des Abgesangs steht. Anstatt die Strophe also inhaltlich durch einen bilanzierenden Vers abzuschließen, wird dieser vorgezogen und der Spruch endet vielmehr abrupt mit einem Beispiel, wodurch er zwar nicht unvollendet, aber doch offen bleibt. Zum Schluss sei noch ein Blick auf den Unbekannten geworfen, auf den sich die Klage des Sprecher-Ich bezieht. Wem gelten die Vorwürfe?248 Da der Spruch zu sehr im Ungewissen bleibt, sind sämtliche Deutungen spekulativ, dennoch ist der Personenkreis, auf den sich das Ich beziehen könnte, m. E. recht limitiert. Mit manege[m] (vgl. V. 1), swer (V. 6) und er (V. 7 und 9–12) ist wohl am ehesten ein Konkurrent des Dichters oder aber ein Angestellter des Hofes gemeint; Personen also, die auf der „gesellschaftlichen Leiter“ dem Ich entweder ebenbürtig sind oder aber nicht unerreichbar über ihm stehen. Diese Vermutung gründet sich auf dem Verhältnis, das der Spruch zwischen Sprecher-Ich und unaufrichtigem Ratgeber beschreibt. Ihre soziale Stellung scheint demnach nicht so weit voneinander entfernt zu sein, dass ein näherer Kontakt
248 Lamey und Schönbach gehen beide von einem falschen Freund aus (vgl. Lamey, S. 35 bzw. Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 38), was m. E. zwar möglich ist, jedoch nicht unmittelbar anhand des Textes belegt werden kann.
172
Ton I, Korpus in J
der beiden unwahrscheinlich oder gar unangemessen wäre. Gerade in diesem Zusammenhang erscheint eine der beiden vorgeschlagenen Personengruppen am denkbarsten: Da sowohl Dichter mit Dichter um die Aufmerksamkeit eines möglichen Gönners konkurriert als evtl. auch Dichter und Hofpersonal249, könnte das hinterhältige Verhalten gegenüber dem Ich in einem solchen Zusammenhang zu sehen sein. Das Ich soll durch die Ratschläge eines Kontrahenten in die Irre geführt und diskreditiert werden. Dass die Stellung des Beschuldigten zugleich aber wohl auch nicht allzu weit unterhalb der des Sprechers anzusiedeln ist, deutet ein anderer Aspekt des Spruches an: Der Betrug am Sprecher wird überhaupt erst dadurch möglich, dass dieser dem Ratgeber Vertrauen entgegenbringt und dessen Ratschläge für aufrichtig und umsichtig erachtet. Nur die scheinbare Integrität der Ratschläge (und somit auch des Ratgebers) bringt das Ich dazu, diesen zu folgen.
Inhaltliche Ähnlichkeit mit anderen Texten vgl. zu Vers 3: Walther L 29,4 (hier V. 9): in sîme süezen honige lît ein giftic nagel, (Schweikle: Walther, Bd. 1, S. 140) Walther L 30,9 (hier V. 5): dén diu zunge honeget und daz herze gallen hât. (Schweikle: Walther, Bd. 1, S. 142) vgl. zu Vers 4 (unstætecheit): Walther L 71,10 (hier V. 6): der lâze alle sólhe unstætekeit (Schweikle: Walther, Bd. 2, S. 198) vgl. zu Vers 6 evtl.: ,Parzival‘ 136,21: daz wære mir ein süeziu zît, sît iwer hazzen an mir lît. (Knecht/Schirok, S. 139)
249 Auch III,55 deutet durchaus darauf hin, dass Personen des Hofes versuchen, den Herrn gegen einen Sänger aufzubringen. Helmut Tervooren stellt mit Blick auf die potenzielle Konkurrenz zwischen Dichtern und Hofangestellten fest, dass sicher auch aufseiten der Dichter „Neid auf am Hof oder an sonstigen Institutionen etablierte Sekretäre und Kanzlisten eine Rolle spielte“ (Tervooren: Sangspruchdichtung, S. 35) und manche Polemik darauf zurückzuführen sein könnte.
16. Owe daz maníger valſchen mv̊t.
173
Metrik A4ma A4mb 2A 7 m c A4mb 5 A4ma 7mc A4md A8ke A6md 10 8ke 8mf 9mf
Ôwe, daz máneger válschen múot unde hóneget mích doch mít dem múnde stǽ te záller zt! sêlẹ zẹ
swâ ér mir wázzer wset, dâ vínt ich víures víl. zẹ
Literatur Gerdes: Beiträge, S. 93 und Anm. 3, 95 und Anm. 2, 174 und Anm. 6 und 7, 176 und Anm. 3, 179 und Anm. 5, 182 und Anm. 3, 184 und Anm. 1 • HMS 4, S. 522 • Kemetmüller, S. 67 f., 228 • Lamey, S. 8, 35, 37 • Roethe, S. 305 • Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 38 f. • Vetter, S. 259 • Yao, S. 110 Anm. 399.
174
Ton I, Unikal in C
Unikal in C 17. Sıt got vs ſíner hantgetat (C16, U) Sıt got vs ſíner hantgetat⋅ wol ſchaffet / ſwaſ er herre wıl⋅ vn̅ nıema̅ deſ ſin meı/ſter ıſt⋅ vn̅ níe ſín meıſt wart⋅ vn̅ doch deſ / nıema̅ gıt eın zıl⋅ 5 ſıt ıchs ín ſınne ha̅ dıe / ſtat⋅ ſwe̅ne er vns wıl gebıete̅⋅ vf dıe lan/ge̅ hervart⋅ da mehte̅ wır tore̅ kıeſe̅ bı⋅ dc / wır vns nıht mıt vlıze enzıt vf dıeſel/be̅ reıſe wol reıte̅⋅ vn̅ ır doch nıema̅. (?) zweı / hvndt ıare wırdet vrı⋅ 10 e sol dıegeſlıch / ſınnıg man⋅ erbarmdıge leıte̅⋅ dıe ım fuͥr / angeſt hvlfe̅ fuͥr ſwe̅ne er ſıch mvͦs d vart / bewege̅⋅ da ſol mın krıſtes mvͦt wol vn̅ / der getruͥwe ſant Joha̅neſ pflege̅⋅ /
9 Punkt nur schwach erkennbar
17. Sıt got vs ſíner hantgetat.
175
Sît got ûz sîner hantgetât wol schaffet, swaz er hêrre wil, – unt nieman des sîn meister ist unt nie sîn meister wart – unt doch des nieman gît ein zil 5 – sît ichs in sinne hân die stat –, swenne er uns wil gebieten ûf die langen hervart, dâ möhten wir tôren kiesen bî, daz wir uns niht mit vlîze enzît ûf die selben reise wol reiten und ir doch nieman zwei hundert jâre wirdet vrî. 10 ê sol iegeslich sinnec man der erbarmdege leiten, die im vür angest hülfen vür, swenne er sich muoz der vart bewegen. dâ sol mîn kristes muoter wol unt der getriuwe sant Johannes phlegen.
16 [15] C davor: 15 [14] C = 7 J danach: 17 [16] C = 22 J 1 hantgetât: ‚Geschöpf, Schöpfung der Hand‘ 2 schaffen: ‚schaffen, gestalten; tun, machen, bewirken, ins Werk setzen‘. Wäre es denkbar, dass schaffen in Verbindung mit ûz vor dem Hintergrund von Vers 4 und 6 nicht ‚erschaffen (aus)‘ meint, sondern vielmehr ‚herausschaffen‘ im Sinne von ‚aus dem Leben, aus der Welt schaffen, abberufen‘? Keines der einschlägigen WB deutet jedoch auf einen Gebrauch mit dieser Bedeutung hin. 3 des: adv. Gen., semantisch Gen. der Relation ‚in Bezug darauf, dafür‘ (vgl. Mhd. Gram., § S 75) sîn (meister): Hier ist entweder Gott gemeint (also ‚Gottes Lehrmeister‘) oder aber nieman, d. h. der Mensch (also ‚sein eigener Lehrmeister‘). Ich behalte diese unklare Auslegung in der Übersetzung bei, neige inhaltlich jedoch eher der ersten Variante zu. 4 doch: hier ‚auch‘ des: adv. Gen., semantisch Gen. der Relation ‚in Bezug darauf, dafür‘ (vgl. Mhd. Gram., § S 75) nieman: Ich gehe davon aus, dass nieman hier Dat.obj. und das Subj. (= got) ausgespart ist (vgl. auch Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 59; Gerdes: Beiträge, S. 114 f.). Allerdings wäre es vielleicht auch denkbar, nieman als Subj. zu verstehen und Vers 4 in Bezug zu Vers 3 zu setzen. Übersetzt lauteten die Verse dann: ‚[...] und niemand in Bezug darauf sein Lehrmeister ist und je sein Lehrmeister wurde und deswegen auch niemand einen (Todes-)Zeitpunkt festsetzt‘. geben: hier statt ‚angeben‘ freier ‚nennen‘ zil: hier ‚festgesetzter, abschließender oder abgegrenzter Zeitpunkt, Ende, Frist, Termin‘ 5 sît: Hier wird m. E. weniger ein kausaler oder konzessiver Zusammenhang impliziert als vielmehr ein adversativer (vgl. HWB sît). (ich-)s: adv. Gen., semantisch Gen. der Relation ‚in Bezug darauf‘ (vgl. Mhd. Gram., § S 75), nämlich in Bezug auf den Tod und den Ort, an den man danach gelangt. Ich verzichte um der Verständlichkeit willen in der Übersetzung auf die Wiedergabe des adv. Gen. in (< in
HMS 2: IV,3 Sch 24
176
Ton I, Unikal in C
dem(e)): hsl. wurde auslautendes /m/ > /n/ (Mhd. Gram., § L 94) stat: ‚Stelle, Ort, Stätte‘ 6 gebieten: wörtlich ‚gebieten, befehlen‘ hervart: ‚Heerfahrt, Kriegszug‘, ich übersetze etwas freier ‚Fahrt‘; vgl. hierzu auch Anm. 250 7 mugen: Die Entrundung von hsl. mehten (/ö/ > /e/) ist im Obd. speziell für das Bair. charakteristisch (vgl. Mhd. Gram., § L 25), aber auch im omd. Raum anzutreffen (vgl. Mhd. Gram., § L 34). kiesen: hier statt ‚(aus-)wählen‘ freier ‚beschließen‘ 10 sinnec: ‚besonnen, bedächtig, verständig, weise, klug‘ erbarmdege: Wie ist die hsl. Form erbarmdıge zu erklären? erberm(e)de ist st. Fem. und erbarmec das zugehörige Adj. Handelt es sich bei der vorliegenden Form um eine Art Verschmelzung, eine Neuschöpfung aus der subst. und adj. Form, also *erbarmdec/-ic? Oder handelt es sich bei der hsl. Lesart lediglich um eine Verschreibung aus erbarmdı und geleıte̅ (vgl. dazu HMS 2, S. 232)? der: Die hsl. Position scheint fehlerhaft. Ich würde mich bei der Auslegung des zehnten Verses den Überlegungen von Udo Gerdes anschließen und dementspr. prinzipiell der Lesart von Friedrich Heinrich von der Hagen folgen (e sol iegeslich sinnik man der erbermde geleiten, HMS 2, S. 232). Gerdes schreibt hierzu: „,der (iegeslich sinnig man‘) kann als nom. sg. nicht vor ,iegeslich‘ stehen und ist als gen. pl. ohne geeignetes Beziehungswort im Vorhergehenden. Schönbach liest ,ein‘, v. d. Hagen stellt um (s. u.). Die Hauptschwierigkeit steckt in ,erbarmdige leite̅‘ C. Die merkwürdige Bildung ,erbarmdige‘ ist sonst nicht belegt. v. d. Hagen trennt ,erbermde geleiten‘, Schönbach liest ,erbermege geleiten‘. ,sol‘ 10, das als Vollverb dem Sinne nach unbrauchbar ist, fordert einen Infinitiv, der folgende Relativsatz 11 ein Beziehungswort im Plural. Schönbach faßt ,leiten‘ als schw. Mask. „Führer“, für das er aus metr. Gründen das gleichbedeutende ,geleiten‘ in seinen Text setzt, und muß demnach ,sol‘ ändern (,suoche‘). v. d. Hagen scheint ,geleiten‘ als Inf. auf ,sol‘ zu beziehen, ,geleiten‘ muß dann so viel wie „beibringen“ heißen […]. Den Plural gewinnt v. d. Hagen offenbar durch die Umstellung des ,der‘ vor ,erbermde‘: „soll deren Erbarmen beibringen, die …“ Diese Lösung ist zwar nicht eben glücklich, hat aber den Vorzug, mit geringeren Änderungen auszukommen.“ (Gerdes: Beiträge, S. 116 Anm. 1) leiten: Ich verwerfe die von Schönbach und von der Hagen vorgenommenen Auslegungen von leiten (siehe weiter oben), da sie mir in erster Linie aus der Not heraus geboren scheinen. Nach meiner Lesart (Umstellung von der; erbarmdege als subst. Neuschöpfung im Sinne von ‚Erbarmen, Barmherzigkeit‘) verstehe ich leiten im Sinne von ‚lenken, steuern‘ und meine damit, dass der sinnec man die Barmherzigkeit anderer Menschen zu seinen Gunsten lenken möge, so dass er in der Stunde des Todes nicht allein sei. 11 vür: Bei der zweimaligen Nennung handelt es sich im ersten Fall um Präp. (hier ‚gegen‘), im zweiten um Adv., also ‚gegen die Angst voran-/vorwärtshelfen‘. bewegen: refl. hier mit Gen. (der vart) ‚sich auf das Geratewohl wozu entschließen‘ 12 mîn: Objektsgen. zu phlegen
17. Sıt got vs ſíner hantgetat.
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Übersetzung Da Gott aus seiner Schöpfung heraus gewiss erschafft, was auch immer er als Herr möchte, – und niemand in Bezug darauf sein Lehrmeister ist und je sein Lehrmeister [wurde – und (er) in Bezug auf (seine Geschöpfe) auch keinem einen (Todes-)Zeitpunkt [nennt 5 – wohingegen ich über den Ort (an den wir kommen) Bescheid weiß –, (einen [Todes-]Zeitpunkt,) an dem er uns auf die lange Fahrt schicken möchte, könnten wir Narren beschließen, uns nicht sorgfältig (und) rechtzeitig auf eben diese Reise gut vorzubereiten, und doch wird niemand für zweihundert Jahre von ihr befreit. 10 Eher soll jeglicher kluger Mensch die Barmherzigkeit (derer) lenken, die ihm gegen die Angst voranhelfen würden, wann auch immer er sich zu der [Reise entschließen muss. Dort werden sich die Mutter Christi und der treue St. Johannes gewiss meiner [annehmen.
Inhalt I,17 gehört zu Bruder Wernhers Sprüchen mit geistlicher Ausrichtung. Im Zentrum stehen – nicht untypisch für Wernher – das Verhältnis von Diesseits und Jenseits und die Frage, ob man sich hier angemessen auf seine „letzte Reise“ vorbereitet. Im Unterschied zu vielen anderen seiner Sprüche, in denen sich häufig „Themenblöcke“ bilden lassen, die sich z. T. an der metrischen Struktur der Strophe orientieren, so dass der Spruch in mehrere Teile „zerlegt“ werden kann, bilden im vorliegenden Fall hingegen die Verse 1 bis 9 weitgehend eine Einheit. Nur die letzten drei Verse des Spruches weichen von der geschlossenen Textzusammengehörigkeit ab. Durch diesen „Blockcharakter“ wirkt der Spruch weniger leicht oder spielerisch und dem Rezipienten wird ein gewisses Maß an Konzentration abverlangt, um dem Inhalt folgen zu können. Die Aussage scheint so zentral, dass sie keine Pausen oder Unterbrechungen zulässt. Und die einzelnen Gedanken, die geäußert werden, wirken so eng miteinander verwoben, dass sie wohl nicht getrennt voneinander gesehen werden können. Der Spruch setzt ein mit der Beschreibung Gottes als oberstem Schöpfer (vgl. V. 1–3). Die Unzulänglichkeit des Menschen – er wird ausdrücklich als Gottes hantgetât (V. 1) bezeichnet – im Vergleich zur Macht Gottes (vgl. V. 3)
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Ton I, Unikal in C
wird also unmissverständlich zum Ausdruck gebracht. Ihre ultimative Ausprägung findet diese Macht jedoch nicht nur in ihrer Fähigkeit, Lebewesen zu erschaffen, wie es das Wort hantgetât impliziert, sondern v. a. in der Fähigkeit, Leben zu nehmen, wie es in den Versen 4 und 6 beschrieben wird. Der Mensch ist Gott absolut ausgeliefert, was den Zeitpunkt seines Todes angeht.250 Gerade aufgrund dieser Hilflosigkeit entsteht bei den Menschen, den tôren (V. 7), jedoch der trügerische Eindruck, dass sie angesichts ihrer eigenen Machtlosigkeit ohnehin nicht in der Lage sind, sich mit vlîze enzît ûf die selben reise (V. 8) vorbereiten zu können, obwohl niemand, selbst wenn er zweihundert Jahre leben würde, davon befreit würde. Die Kernaussage des Spruches ist demnach eine altbekannte: Diejenigen sind Narren, die sich nicht sorgfältig und beizeiten auf ihre „Fahrt ins Jenseits“ vorbereiten. Ob die angest, von der in Vers 11 die Rede ist, nun als direktes Resultat dieser mangelnden Vorbereitung zu sehen ist oder vielmehr den Augenblick des Todes an sich beschreibt, ist m. E. unklar. Aber dies ist wohl ohnehin zweitrangig; in jedem Fall gilt es, das Erbarmen anderer Menschen derart zu lenken, d. h. zu wecken, dass sie einem in der Stunde des Todes die Angst vor der „letzten Reise“ nehmen (vgl. V. 10). Durch den Kontrast von sinnec man (V. 10) und den zuvor genannten tôren (V. 7) wird noch einmal ausdrücklich hervorgehoben, welche Art zu leben in Vorbereitung auf das Jüngste Gericht erstrebenswert ist, nämlich die des umsichtigen Menschen. Bleibt noch ein Hinweis auf die Position, die der Sprecher in I,17 einnimmt: In den Versen 6 bis 8 spricht er aus dem Kollektiv heraus, er nimmt also weder jemanden von der langen hervart (V. 6) aus noch von der Aufgabe, sich angemessen auf diese vorzubereiten. Gleichzeitig bezieht er die Kritik, dass diejenigen tôren seien, die sich eben nicht stets das Leben nach dem Tod vor Augen hielten (vgl. V. 7 f.), auch auf sich selbst. In den Versen 6 bis 8 erscheint das 250 Die Wortwahl ist interessant: Der Tod wird als ‚langer Kriegs-‘ oder ‚Heereszug‘ bezeichnet (vgl. V. 6 ûf die langen hervart) – fragt sich, ob hier das Sterben (und dessen mögliche Schmerzen) gemeint ist oder die etwaigen Prüfungen, die nach dem Tod folgen mögen. Alfred Leitzmann führt weitere Belegstellen für hervart als ‚letzte Reise‘ an (vgl. Leitzmann, S. 163). Cyril Edwards stellt die Vermutung an, dass sich hervart zusammen mit Vers 5 sît ichs in sinne hân, die stat „gut auf das Heilige Land beziehen [könnte]“ (Edwards, S. 307), da stat „diese Bedeutung in der Kreuzzugsdichtung Walthers (Lachmann 15,4) und Freidanks“ (ebd.) habe und „[e]s sich hier also vielleicht auch um ein verstecktes Kreuzzugs- oder Pilgerlied [handelt]“ (ebd.). Schönbach schließlich greift völlig unnötig in die handschriftliche Lesart ein, da hervart „nicht bloß metrisch, sondern auch sachlich unbrauchbar“ sei (Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 59), und ändert hervart zu hovevart als „Übertragung des Ausdruckes curia Dei“ (ebd.) ab. Ein Eingriff, den nicht nur ich für absolut unbegründet halte (vgl. auch Leitzmann, S. 162 und Edwards, S. 307).
17. Sıt got vs ſíner hantgetat.
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Ich also eher zurückhaltend und als Teil der Christenheit. Diese Zurückhaltung erstreckt sich jedoch nicht auf den gesamten Spruch; im Schlussvers rückt das Ich vielmehr aus dem Kollektiv heraus und lenkt den Blick auf sein persönliches Seelenheil: Maria und Johannes mögen mîn phlegen (V. 12).251 Dass diese Bitte den Schlusspunkt des Spruches darstellt, sorgt dafür, dass sie zusätzlich betont wird. Udo Gerdes weist darauf hin, dass sich die Spruchdichter die Fürbitte „vorzugsweise von Johannes, besonders aber von Maria [erhofften], deren Hilfe sie sehr häufig erbitten“252. Dass Maria und Johannes der Täufer gerade hier Erwähnung finden, wo es um das Seelenheil im Jenseits und insofern um das Jüngste Gericht geht, ist vor allen Dingen vor dem Hintergrund der Deesis zu sehen. Die Deesis ist die mittelalterliche Darstellung von Jesus, wie er am Jüngsten Tag zu Gericht sitzt. Flankiert wird er dabei von den beiden Fürbittern Maria (links) und Johannes dem Täufer (rechts).253 Indem Wernher hier diesen unzweideutigen Verweis auf die mittelalterliche bildende Kunst in den Spruch integriert, zeigt er nicht nur indirekt seine Kenntnisse über diesen Bereich, sondern er greift einmal mehr auf ein Bild zurück, um einen eher abstrakten Sachverhalt zu veranschaulichen.
Inhaltliche Ähnlichkeit mit anderen Texten vgl. zu Vers 12: Joh 19,25–27
Metrik A A A A 5 A A A A
4ma 4mb 7mc 4mb 4 m a‘ 7mc 4md 8ke
swennẹ ér uns wíl gebíeten uf die lángen hérvárt dâ mhten wir toren kíesen b, daz wír uns níht mit vlzẹ enzt ûf die sélben réise wol réitèn
251 Gerdes versteht den Wechsel des Numerus von 1. Pl. zu 1. Sg. anders, und zwar als „Wunsch, der den Zuhörer auf die Möglichkeit der Rettung hinweist. Die Ichform kennzeichnet nicht die Wendung zum Gebet des einzelnen, sondern die repräsentative Wahl des Heilsweges, auf welche die vorausgehende allgemeine Erörterung (,nieman‘ 4. 9, ,uns/wir‘ 6. 7. 8, ,ieslich sinnec man‘ 10) angelegt war“ (Gerdes: Beiträge, S. 116 f.). 252 Ebd., S. 116, vgl. außerdem ebd., S. 116 Anm. 3 und 4. 253 Vgl. Sciurie, Sp. 52 f.
180
10
A6md 8ke A 8 2m f A 9 2m f
Ton I, Unikal in C
und ír doch níeman zwei húndert jare wírdet vr. e sol íegeslich sínnec mán der erbármdège léitèn, swennẹ
Literatur Doerks, S. 11 • Edwards, S. 307 • Gerdes: Beiträge, S. 32 und Anm. 1, 114–117, 151 Anm. 1, 174 und Anm. 4, 177 und Anm. 1, 179 und Anm. 7, 181 und Anm. 3 • HMS 4, S. 522, 523 • Kemetmüller, S. 38 f., 41, 218 • Leitzmann, S. 162 f. • Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 58 f.
Ton II Dieser Ton weist mit 26 Strophen in J (II,18–II,43) und zwei unikalen in C (II,44; II,45) die mit Abstand meisten Sprüche auf. Formal folgt er der Struktur einer Kanzone, wobei das Reimschema des Aufgesangs mit aab ccb dem Schweifreim entspricht.254 Metrische Formel:255 Aufgesang: 8ma 8ma 8mb / 8mc 8mc 8mb // Abgesang: 4md 6ke 8md 6ke 8mf 8mf
254 Lamey vermerkt mit Blick auf die Verse 3 und 6: „Dieser Ton erfährt eine allem Anscheine nach durch die Melodie veranlasste Erweiterung der dritten und sechsten Zeile von 7 zu 8 Hebungen. Das allmählige Eindringen des neuen Elementes lässt sich in den hiebei in Betracht kommenden hss. C und J verfolgen. C hält sich noch durchaus rein davon [vgl. dazu V. 3 und 6 in II,44 und II,45, Anm. d. Verf.] bis auf den letzten Spruch der ganzen Sammlung C38 [= in J II,25, Anm. d. Verf.], der daher wohl auch erst spät der C zu Grunde liegenden Liedersammlung angefügt worden ist […].“ (Lamey, S. 19) Bartsch ganz ähnlich: „Im II. Tone (J. 17–42) wurden teils bereits in J.s Vorlage, teils erst durch Nachträge in unserer Handschrift selbst die dritten Stollenzeilen den beiden vorhergehenden angeglichen, d. h. von sieben ebenfalls auf acht Hebungen erweitert.“ (Bartsch: Untersuchungen, S. 98) Gisela Kornrumpf zufolge deuten diese Untersuchungserkenntnisse auf eine „Zusatzquelle“ (Kornrumpf, S. 58) hin, „deren Bestand sich mit J überlappte“ (ebd.). 255 Vgl. andererseits RSM 2,1, S. 302 (hier Ton I). Zur Melodie vgl. Brunner: Spruchsang, S. 427, 486; Brunner: Töne, S. 51 f.; Taylor, S. 101 f.; Spechtler: Bruder Wernher, Bd. II, S. 12; Holz/Saran/Bernoulli, Bd. I, S. 16 f. und Bd. II, S. 3 f. und 117 f.; Rettelbach, S. 87.
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Ton II, Korpus in J
Korpus in J 18. Nv ſcouwet an den ſvmer guͦt. Wıe er alder werlde vreude gıt. (J17) Nv ſcouwet an den / ſvmer guͦ t. Wıe er alder werlde vreu/de gıt. Der reẏnen wrtz ır ſuze ız / krut. heẏde vn̅ walt getzıeret lıt. / Dıe voglín hohent ıren ſanc. Der hẏmel // hat gereẏnet ſıch Des ſol der / wercman ge eret ſẏn. Der alſo bılde / ſceffen kan. 5 Daz reẏne wıb ır lıe/bez kẏnt. Dar tzvͦ den wol gemvͦten / man. Vnde ouch des lıechten meẏen / blıc. Wıe ſvze er nv dvnket mích. / So er ín der beſten wırde lıt. Da / nach ſo kvmpt eín rıfe mẏt ge tvan/ge Der vuͦ r tırbet blvͦmen vnde vuͦ r / keret dıe wunníchlıche tzít. 10 Vnde ſcheı/dent ſıch dıe vogelín von ge ſange. // Vvıbes ſchone vnde mannes kraft. / ſtent ín der wırde wol drítzıch ıar. / So leıt dıv erde an ſıe ır ſtrıc des / nemt an mẏner|mvde war. /
8 bei Da scheint hinter dem 〈a〉 radiert worden zu sein (ursprünglich Daz?) 12 die Wörter mẏ ner mvde stehen hsl. zusammen, wurden aber wohl nachträglich durch einen senkrechten Strich voneinander getrennt
18. Nv ſcouwet an den ſvmer guͦt. Wıe er alder werlde vreude gıt.
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Nû schouwet an den sumer guot, wie er al der werlde vreude gît: der reinen wurz – ir süeze, ir krût – heide unt walt gezieret lît; diu voglîn hôhent ir sanc, der himel hât gereinet sich. des sol der wercman geêret sîn, der alsô bilde scheffen kan: 5 daz reine wîp, ir liebez kint, dar zuo den wol gemuoten man unde ouch des liehten meien blic; wie süeze er nû dunket mich, sô er in der besten wirde lît. dar nâch sô kumt ein rîfe mit getwange, der verdirbet bluomen unde verkêret diu wunneclîche zît 10 unde scheident sich diu vogelîn von gesange. wîbes schœne unde mannes kraft stênt in der wirde wol drîzec jâr, sô leit diu erde an sie ir stric; des nemt an mîner müede war.
17 J, 13 [12] C 1 Nû schouwet] Merkent. wie er al der] wc er der. 2 der reinen wurz ir süeze] maníg wurze vn̅ oͮch ır krut. 3 hât gereinet] reínget. 4 alsô] elluͥ. 5 kint] kín Verschreibung?. 6 unde ouch] zahı. wie süeze er nû] vil ſchoͤne er. 7 ſwıe lange ır ınder wirde ſıt. 8 dar nâch sô] vıl ſchıere. 9 verdirbet] velwet. (verkêret) ſıch. 10 vogelîn von gesange] vogel mıt ır ſange. 11 stênt] ſınt. wol] nıwan. 12 ſo leıt duͥ erge an dıch ır ſtrık des ním ı ̅ dıner mvͤde war. 3 vogelın. geſang.
9 vn̅. 10 vn̅.
11 vn̅.
2 der reinen wurz: Adv. Gen. (bezogen auf heide unt walt gezieret lît), der hier die Ursache näher beschreibt (‚durch‘) (vgl. Mhd. Gram., § S 76). wurz: ‚Pflanze, Kraut; Wurzel‘, hsl. 〈wu〉 > 〈w〉 = wrtz ir süeze, ir krût: Die beiden Aufzählungsglieder sind eine nähere Erläuterung der reinen wurz und insofern parenthetisch zu verstehen. süeze: hier ‚Duft, Wohlgeruch‘ ir (krût): Bei hsl. ız handelt es sich m. E. um eine Verschreibung von ir (ich schließe sowohl iz als Verschmelzung von ir und ez als auch iz als md. Form für ez aus). krût: ‚Kraut, kleinere Blätterpflanzen‘, ich gehe hier von allgemeiner ‚(das) Grün‘ aus, da ich krût als visuellen Sinneseindruck neben dem des Geruchs (süeze) verstehe. Es ist unklar, warum das st. Neutr. krût hier in der Form des Gen. Pl. ohne auslautendes ‑e steht. 4 wercman: ‚Schöpfer; Werk-, Baumeister, Künstler (bes. in Schmiedearbeit), Handwerker‘ bilde: allgem. ‚Bild, Werk der bildenden Kunst‘, aber auch ‚Menschenbild, Körperbildung, Gestalt‘ oder ‚Gestaltung, Art‘; da es sich bei dem in V. 1 bis 3 Beschriebenen nicht nur um Lebewesen, sondern auch um Naturerscheinungen handelt, übersetze ich bilde mit ‚Werke‘. 5 reine: Ist hier ‚keusch, jung-
HMS 2: I,9 Sch 9
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Ton II, Korpus in J
fräulich‘ gemeint? Oder kennzeichnet das Adj. doch allgemeiner die Makellosigkeit und Vollkommenheit der Frau? 8 getwanc: ‚Zwang und Bedrängung jeder Art, Gewalttat, Bedrängnis, Not‘ 12 sô: Hier wird eine zeitl. Beziehung angedeutet, also ‚dann‘
18. Nv ſcouwet an den ſvmer guͦt. Wıe er alder werlde vreude gıt.
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Übersetzung Nun schaut den schönen Sommer an, wie er der ganzen Welt Freude schenkt: Durch die herrlichen Pflanzen – ihren Wohlgeruch, ihr Grün – liegen Heide [und Wald geschmückt da, die Vögelchen intensivieren ihren Gesang, der Himmel hat sich gereinigt. Dafür soll der Künstler geehrt sein, der sich darauf versteht, solche Werke zu [erschaffen: 5 Die vollkommene Frau, ihr liebes Kind, dazu den gut gesinnten Mann und auch das Strahlen des leuchtenden Maies; wie lieblich er mir jetzt scheint, wenn er sich in vortrefflichstem Ansehen befindet. Danach kommt ein Raureif mit Gewalt, der zerstört die Blumen und verwandelt die freudvolle Zeit 10 und die Vögelchen lassen von ihrem Gesang ab. Die Schönheit der Frau und die Kraft des Mannes befinden sich gut und gerne [dreißig Jahre in (ihrem) Ansehen, dann legt die Erde ihnen ihren Strick an; bemerkt dies an meiner Müdigkeit.
Inhalt II,18 ist einer der (wenigen) Sprüche, die nicht zur Schelte oder Belehrung dienen. Der Tenor dieses Spruches erscheint (zumindest in den Versen 1 bis 7) vielmehr optimistisch und von enthusiastischem Lob geprägt. Dies ändert sich in der zweiten Strophenhälfte, wenn der Schönheit der Natur ihre Vergänglichkeit gegenübergestellt wird. Der Spruch setzt zunächst ein mit einem (positiv konnotierten) Natureingang, der sich über den ersten Stollen erstreckt. Gelobt wird ganz klassisch die Welt in ihren verschiedenen Facetten, sprich: der Duft und das Grün der Pflanzen, die Heide, der Wald und der Himmel sowie der Gesang der Vögel (vgl. V. 2 f.). Im Anschluss daran rückt der Schöpfer des Ganzen, anschaulich als wercman (V. 4) bezeichnet, in den Blick. Und als Steigerung zu den Beispielen aus der Natur (vgl. V. 1–3) werden nun auch – gewissermaßen als Krone der Schöpfung – wîp, kint und man (V. 5) gepriesen. Gleichzeitig kehrt das Lied wieder zurück zur Natur (vgl. V. 6 des liehten meien blic), indem der für Lieder mit Natureingang typische Monat Mai anzitiert wird (vgl. V. 6 und 7). Mit Verlauf des Abgesangs (Vers 7 zähle ich inhaltlich noch zur ersten, positiv konnotierten Spruchhälfte) schlägt die enthusiastische Stimmung des Aufgesangs um und die „satten“ Naturschilderungen werden ersetzt durch ihr natürliches Ende, das durch ein rîfe mit getwange (V. 8) hervorgerufen wird.
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Ton II, Korpus in J
Blumen gehen zugrunde, der Gesang der Vögel verstummt und die wunneclîche zît an sich kommt zu einem Ende (vgl. V. 9 f.). Nachdem dieser natürliche Verlauf in der Tier- und Pflanzenwelt beschrieben worden ist, gehen die beiden Schlussverse auf das Ende menschlichen Lebens bzw. von wîbes schœne und mannes kraft (beides V. 11) ein, wobei der Unterton m. E. nicht (an-)klagend zu verstehen ist, sondern geprägt ist von einer unterschwelligen Einsicht in den natürlichen Kreislauf des Lebens: Nachdem Frau und Mann gut dreißig Jahre in der wirde (V. 11) gelebt haben, macht die Welt ihrem Leben bzw. den Eigenschaften schœne und kraft (Attribute, die Vitalität und Gesundheit implizieren) ein Ende, wobei das gewählte Bild des strickes256 recht drastisch erscheint. Als konkretes Beispiel für diesen Verfallsprozess führt sich das Ich selbst an, indem es auf seine (Lebens-)Müdigkeit hinweist.257 Mit Blick auf die Rolle, die das Sprecher-Ich spielt, fällt auf, dass die Naturschilderungen nicht dazu dienen, die Befindlichkeit des Sprechers zu kontrastieren, vielmehr gehen Naturzustand und Stimmung des Ich Hand in Hand: Während das Ich in Vers 6 das Liebliche und Angenehme des Monats Mai sowie all seine Begleiterscheinungen bestätigt, fungiert es im Schlussvers als Beispiel für die zuvor beschriebene Vergänglichkeit des Menschen (und der Natur).258 In C liegen in erster Linie nur Wortumstellungen oder inhaltlich kaum signifikante Lexemvarianten vor. Einige wenige Stellen weisen eine unterschiedliche Ausrichtung des Inhalts auf, die aber nur teilweise eine abweichende Lesart bewirken. Die folgenden Varianten führen zu einem leicht veränderten Inhalt: In Vers 4 steht in C elliu statt alsô, was bedeutet, dass die Lesart in C keinen Zweifel daran lässt, dass allein Gott der Schöpfer aller Dinge ist. Vers 6 schreibt in C einleitend zahî statt unde ouch, wodurch die positive, heitere Färbung der ersten Strophenhälfte noch stärker unterstrichen wird. In Vers 11 steht in C niwan statt wol. Während J also lediglich eine Schätzung für die Lebenszeit des Menschen bzw. der Attribute schœne und kraft
256 Vgl. dazu Gerdes: Beiträge, S. 99 f. 257 Ist dies als Hinweis darauf zu verstehen, dass der Dichter zum Abfassungszeitpunkt des Spruches bereits älter, wol drîzec jâr, war? Auch Schönbach stellt diese Möglichkeit unkommentiert in den Raum (vgl. Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 32). 258 Shao-Ji Yao stellt die Vermutung an, dass man II,18 „als Exempel verstehen [kann], wenn die Beschreibung des Naturphänomens, des Verlaufs der Jahreszeiten vom Frühling zum Herbst, als eine auszudeutende Handlung betrachtet wird“ (Yao, S. 37, vgl. auch S. 67 und 122 f.).
18. Nv ſcouwet an den ſvmer guͦt. Wıe er alder werlde vreude gıt.
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vornimmt, die dank des wol Spielraum nach oben lässt, legt C eine klare Obergrenze fest: niwan drîzec jâr. Die letzte Variante nimmt den gesamten Schlussvers ein und sorgt im Gegensatz zu den zuvor genannten Varianten für einen deutlicheren Unterschied zu J. Zunächst einmal bleibt der Vers in C dahingehend nicht neutral, als nicht die Welt (der Verlauf der Dinge als solches also) dem Leben ein Ende bereitet, sondern die erge, also der Geiz259. Vers 12 birgt in C demnach indirekt eine Belehrung des Publikums: ,Der Geiz bewirkt das Ende von wîbes schœne und mannes kraft, beseitigst du den Geiz, bleibt beides erhalten.ʻ Zu diesem belehrenden Unterton passt auch der zweite wesentliche Unterschied: die Apostrophe an das Publikum (vgl. V. 12 dich, nim, dîner): Der Sprecher tritt nicht wie in J unmittelbar in Erscheinung, so dass am Strophenende nicht von seiner Erschöpfung die Rede ist, sondern von der des Rezipienten: des nim in dîner müede war (V. 12). Während der Spruch in J somit den natürlichen Kreislauf des Lebens thematisiert und keine unmittelbare didaktisch motivierte Wertung enthält, nimmt der Spruch in C eine eher unerwartete Wendung und schließt mit einer Belehrung und unterschwelligen Aufforderung zur milte.
Inhaltliche Ähnlichkeit mit anderen Texten vgl. zu Vers 4: Walther L 45,17 (hier V. 9 f.): ér solt iemer bilde giezen, dér daz selbe bilde gôz. (Schweikle: Walther, Bd. 2, S. 326) vgl. zu Vers 11: Winsbeke 37,1: Sun, drîzic jâr ein tôre gar, der muoz ein narre vürbaz sîn. (Frischeisen, S. 151)
Metrik A8ma A8ma A8mb
ẹr der réinen wúrz ir sezẹ, ir krut, héidẹ unt wált gezíeret lt; diu vóglîn hohènt ir sánc, der hímel hat geréinet sích.
259 erge kann auch ‚Bosheit, Feindseligkeit‘ heißen (vgl. HWB erge), da in der Sangspruchdichtung jedoch von den Dichtern keine Gelegenheit ausgelassen wird, die milte zu loben bzw. (k)erge zu schelten, gehe ich hier von der Bedeutung ‚Geiz, Knausrigkeit, Sparsamkeit‘ aus. Die wertende Lesart von C mit erge statt neutral erde scheint zu dem (bewusst strafenden?) Ende durch den stric besser zu passen.
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8mc 8mc 8mb 4 m a (?) 6kd 8 m a (?) 10 2A 6 k d 8me A8me 5
A A A A A
Ton II, Korpus in J
gẹêret undẹ ẹr dér verdírbet blúomen únde verkeret diu wúnneclche zt unde schéident sích diu vógeln von gesángè. wbes schœ́nẹ unde mánnes kráft stênt ín der wírde wol drzec jar, erdẹ
Literatur Doerks, S. 13 • Dorninger, S. 28 • Gerdes: Beiträge, S. 24 Anm. 2, 97–101, 113, 179 und Anm. 4, 199 f. • HMS 4, S. 523 • Kemetmüller, S. 13, 27, 89, 211 • Lamey, S. 8, 11, 31, 35, 37, 38 • Leitzmann, S. 161 • Moser/Müller-Blattau, S. 72 f., 81 • Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 30–32 • Vetter, S. 245 • Yao, S. 37, 67, 122 f., 201.
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Ton II, Korpus in J
19. Owe der maníchvalten not. Dıe al der werlde kvmftıch ıſt. (J18) Owe der maníchvalten not. / Dıe al der werlde kvmf/tıch ıſt. Man ſıcht von / hohen kvníngen vnde von ſchone̅ / vrouwen ſwachen mẏſt. / Jr mẏn/níchlıcher ſchẏn wırt dort gar bıt/terlıche (vn̅ ubele) ſtalt Solte ez da míte eín / ende han. Daz were der ſele eín / ſelıcheít. 5 Jr lıb hıe ſemfte hat ẏr/korn vuͦ r ẏmmer werende wunne / breıt. Jn wırt eín wıder wexſle dort / mít (grozen) ruwen maníchvalt Daz we/re ob neman lege tot. Vnde ouch / der helle wıtze nícht en were. / Vvır mvchten doch daz alter / vorchten daz ıſt eín tegelıche not. / 10 Daz lıebe kínt des vater wol vm/bere Swen ez den vrẏvnden wı/der ſtat. Daz alter kvmpt mít man/ígen ſchaden. Nv ſıch of werlt des tuͦ t dır not du bıſt of truren // her geladen. /
3 vn̅ ubele interlinear nachgetragen
6 grozen interlinear nachgetragen
19. Owe der maníchvalten not. Dıe al der werlde kvmftıch ıſt.
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Ôwê, der manecvalten nôt, diu al der werlde künftec ist! man siht von hôhen künegen unde von schœnen vrouwen swachen mist. ir minneclîcher schîn wirt dort gar bitterlîche und übele g’stalt. solde ez dâ mite ein ende hân, daz wære der sêle ein sælecheit. 5 ir lîp hie senfte hât erkorn, vür iemer wernde wunne breit, in wirt ein widerwehsle dort mit grôzen riuwen manecvalt. daz wære, ob nieman læge tôt unde ouch der helle wîze niht enwære, wir möhten doch daz alter vürhten; daz ist ein tegelîchiu nôt. 10 daz liebe kint des vater wol enbære, swen er den vriunden widerstât. daz alter kumt mit manegen schaden. nû sich ûf, werlt, des tuot dir nôt, dû bist ûf trûren her geladen.
18 J, 3 C 2 wa̅ ſıht vs ſchone̅ frowe̅ vn̅ uſ kv̍nige̅ wden ſwachen míſt. 3 ır vıl mı ̅neklıcher ſchın wırt bıttlıch geſtalt. 5 ir lîp hie] d lıb ím. 6 in] es. grôzen riuwen] ruͥwe. 7 daz] es. 9 wir möhten doch daz alter vürhten] wir moͤhte̅ fuͥrchte̅ doch dc alt. 10 des] ſıns. 11 vriunden] luͥte̅. 12 tuot dir] get dıch. ûf trûren her geladen] mıt ıam vb laden. 8 vn̅.
9 daſt.
11 ma̅gem.
1 künftec: hier zusammen mit sîn ‚bevorstehen‘ 2 Zieht man die Lesart von C heran (man siht ûz schœnen vrouwen und ûz künigen werden swachen mist) und berücksichtigt die Aussage von V. 3, so bedeutet V. 2 etwas freier übersetzt ‚Von hohen Königen und schönen Damen bleibt nur ein wertloser verwester Rest.‘ (wörtlich ‚Man sieht von hohen Königen und schönen Damen wertlosen Unrat.‘). 3 g’stalt: ge-Präfix hier entweder aus metr. Gründen getilgt oder/ und auf mnd. Einfluss zurückzuführen (vgl. Mnd. Gram., § 221, VI. und § 423); um der besseren Verständlichkeit willen ergänze ich die gekürzte Form g’- in der Normal.; Part. Prät. zu stellen ‚aussehend, gestaltet, beschaffen, geartet‘ 5 ir: bezieht sich wie ir in V. 3 auf die künege und vrouwen aus V. 2 lîp: Aufgrund des Gegensatzes zwischen Seele und Körper, der mit V. 4 eingeleitet wird, ist lîp hier tatsächlich als ‚Körper‘, d. h. als irdische Hülle der Seele zu verstehen. senfte: ‚Annehmlichkeit; Ruhe, ruhiges Leben‘ erkiesen: ‚erwählen‘ 6 in: auf V. 2 (künege und vrouwen) bezogen widerwehs(e)le: hier st. Fem. ‚Gegen-, Umtausch‘, wörtlich ‚ihnen widerfährt dort ein Tausch mit großem, vielfältigem Kummer‘, um der besseren Verständlichkeit willen, übersetze ich freier. 7 daz wære (C: ez wære): wörtlich ‚es/das wäre‘ im Sinne von ‚angenommen(, dass)‘; V. 7 f. ist als konditionales Gefüge zum Obersatz in V. 9 zu verstehen (vgl. hierzu Mhd. Gram., § S 191 und § S 192, 1.). Vgl. dazu auch Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 15. 8 wîze: ‚Strafe, bes. Fegefeuer-, Höllenstrafe‘. Zur hsl. Schreibung wıtze vgl. Mhd. Gram., § L 68 (hier der Absatz auf S. 128 unmittelbar oberhalb von
HMS 2: I,3 Sch 3
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Ton II, Korpus in J
Anm. 3). 10 des vater: Objektsgen. zu enbern enbern: Laut HWB bedeutet enbern ‚ohne etwas sein, entbehren, worauf verzichten mit Gen.‘. Schönbach übersetzt V. 10 (basierend auf der Lesart von C) mit „möchte doch selbst das liebe Kind des eigenen Vaters gern entraten“ (Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 15). Mir ist nicht ganz klar, was genau er unter ‚entraten‘ versteht und wie sich dies in den Gesamtkontext einfügt. 11 er: J schreibt ez statt er (vgl. Hs. C), wodurch sich der Nebensatz aus V. 11 nicht auf den Vater, sondern auf das Kind bezieht. Diese Lesart (‚Das liebe Kind könnte gut und gerne ohne den Vater sein, wann auch immer es sich den Verwandten widersetzt‘) ergibt m. E. jedoch mit Blick auf den Gesamtzusammenhang keinen Sinn: Es geht nicht darum, dass sich das Kind seinen Verwandten widersetzt (vgl. V. 11) und deswegen auf seinen Vater verzichten kann (vgl. V. 10), sondern vielmehr soll zum Ausdruck gebracht werden, dass das Kind dann gut und gerne ohne seinen Vater sein kann, wenn dieser sich Verwandten (C schreibt allgemeiner liute) zuwider macht, d. h. ihnen zur Last fällt. Diese Auslegung fügt sich, wie mir scheint, logischer in den Gesamtkontext des Spruches, weswegen ich hier zugunsten der Lesart von C in diejenige von J eingreife. vriunde: hier ‚Verwandte‘ widerstân: ‚sich widersetzen, Widerstand leisten‘ oder ‚zuwider sein‘, beide Bedeutungen ergeben – zumindest vor dem Hintergrund der Lesart von C! – grundsätzlich Sinn, ich wähle letztere. 12 ûf sehen: ‚aufschauen, aufblicken, hochschauen‘, hier vielleicht besser ‚(hin-/her-)schauen‘ nôt tuon: mit Dat. (dir) ‚nötig sein‘ (in der Regel steht das Funktionsverbgefüge auch mit Gen. [des]) ûf (trûren): hier wohl ‚einen Zweck, eine Erwartung ausdrückend‘ trûren: Während ich trûren als ‚Kummer, Trauer, Traurigkeit‘ verstehe, interpretiert Schönbach V. 12 – speziell die Formulierung ûf trûren her geladen – folgendermaßen: „Welt = die Menschen, die zum irdischen Leben als einem Trauerfest geladen sind“ (Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 15). Obgleich diese Auslegung denkbar und auch kontextuell stimmig ist, bin ich zurückhaltend, was die Übersetzung von trûren als ‚Trauerfest‘ angeht, da sich weder im HWB noch im BMZ für eine derartige Auslegung Hinweise finden lassen.
19. Owe der maníchvalten not. Dıe al der werlde kvmftıch ıſt.
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Übersetzung Ach, die vielfältige Not, die der ganzen Welt bevorsteht! Von hohen Königen und schönen Damen bleibt nur ein wertloser verwester [Rest. Ihr liebliches Aussehen wird dort ganz und gar schauderhaft und übel. Sollte es damit ein Ende haben, wäre das für die Seele ein Segen. 5 Ihr Körper hat hier Bequemlichkeit erwählt, für immer währende, große [Freude, dort ändert sich das für sie mit großem, vielfältigem Kummer. Angenommen, es würde niemand sterben und es würde auch das Fegefeuer der Hölle nicht geben, (so) müssten wir doch das Alter fürchten; das ist eine tägliche Sorge. 10 Das liebe Kind könnte gut und gerne ohne den Vater sein, wann auch immer er den Verwandten zur Last fällt. Das Alter geht mit [vielerlei Nachteilen einher. Jetzt schau (hin), Welt, das hast du nötig, du bist mit der Aussicht auf Kummer [hierher geladen!
Inhalt In II,19 geht es, wie etwa in I,15 oder I,17, um die Vorbereitung auf das Jenseits und die Folgen, die man dort für eine unangebrachte diesseitige Lebensweise zu spüren bekommt. Der Spruch setzt ein mit einer Klage über die Not, die auf die Welt (und ihre Bewohner) zukommt (vgl. V. 1): Sowohl die Schönheit der Damen als auch die Macht der Könige muss aufgrund der Vergänglichkeit allen Seins früher oder später zugrunde gehen, so dass von ihnen nur noch swache[r] mist (V. 2) bleibt.260 Und auch ihr minneclîcher schîn (V. 3) (hier sind wohl v. a. die schœnen vrouwen261 [V. 2] gemeint) nützt ihnen dort nichts mehr, denn er erscheint bitterlîche und übele g’stalt (V. 3).
260 Schönbach führt Bibelstellen an, die zu Vers 2 in Beziehung gesetzt werden können (vgl. Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 15). Die Vergänglichkeit des Menschen wird in der Kunst des Mittelalters gerne veranschaulicht, indem drei Lebende und drei Tote einander gegenübergestellt werden (vgl. Hartmann, S. 365), wobei die Toten außerdem dazu „mahnen, oberflächliche Zerstreuung wie Jagd und Tanz zu meiden und ein gottgefälliges Leben zu führen“ (ebd.). 261 Udo Gerdes weist zu Recht darauf hin, dass Wernher das Lexem vrouwe ansonsten nur zur Anrede benutzt (vgl. II,32,2 und III,53,4) (vgl. Gerdes: Beiträge, S. 88 Anm. 4).
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Ton II, Korpus in J
Im Anschluss daran folgt im zweiten Stollen der Hinweis, dass es ein Segen für die Seele wäre, wenn es dâ mite (V. 4) ein Ende nehmen würde. Diese Äußerung ist wohl vor dem Hintergrund der vorausgehenden und nachfolgenden Verse zu sehen: Gemeint sind die negativen Folgen, die auf die Seele im Jenseits (vgl. V. 6 dort) zukommen, angesichts der ausschweifenden, eher sinnlichen (vgl. V. 5 lîp) Lebensweise mancher Menschen im Diesseits (vgl. V. 5 hie). Würde es ein Ende haben, mit dieser Art zu leben, wäre dies auch für das Heil der Seele gut, denn ansonsten wird sie für das unangemessene Verhalten auf Erden bezahlen müssen – senfte und wunne (beides V. 5) werden gegen riuwe (V. 6) eingetauscht.262 Der Abgesang führt mit Vers 7 f. den hypothetischen Charakter aus Vers 4 fort: Selbst dann, wenn niemand mehr sterben müsste und auch die Strafe der Hölle nicht mehr existieren würde, müsste der Mensch dennoch das Alter fürchten, und zwar vermutlich deswegen, weil er nicht weiß, was ihn bzw. seine Seele tatsächlich im Jenseits erwartet und ob seine irdischen Bemühungen ausreichend waren.263 Im Übergang von Vers 9 auf die Verse 10 und 11 kommt es zu einem thematischen Bruch, indem die Personen Vater und Kind in den Fokus rücken. Wie im Übersetzungsapparat bereits diskutiert, wirft die Lesart der Verse 10 f. in J einige Unklarheiten auf (in Vers 11 schreibt J im Nebensatz ez statt er), weswegen ich hier derjenigen von C den Vorzug einräume. Ausgehend davon soll in Vers 10, laut Gerdes, zum Ausdruck gebracht werden, „[…] daß sogar das Kind den Tod des alten Vaters wünscht“264, denn dieser werde den Verwandten aufgrund seines Alters und den damit einhergehenden Gebrechen zur Last. Die Bedeutung von enbern ginge demnach über den bloßen Verzicht auf den Vater hinaus, indem das Kind beinahe aktiv die „Befreiung“ vom Vater (sprich: seinen Tod) herbeisehnt. Problematisch an dieser Interpretation ist evtl., dass sie eine Art Generationenkonflikt impliziert, von dem aber in dem Spruch ansonsten nicht die Rede ist. Andererseits zielt die indirekte Klage über die Zuwendungen, die alten Menschen gegenüber notwendig sind und die ihren Angehörigen abverlangt werden, ebenfalls auf die in Vers 9 angeführte Furcht vor dem Alter und die täglichen Sorgen, die damit einhergehen – wenngleich in Vers 9 genau genommen weniger das irdische Leid gemeint ist als vielmehr das jenseitige.
262 Vgl. ebd., S. 103. 263 Die Verse 7 bis 9 geben keinen sicheren Aufschluss darüber, worin tatsächlich die Ursache der Angst vor dem Alter liegt. Auch Gerdes bleibt zu dieser Frage etwas knapp in seinen Ausführungen (vgl. ebd., S. 103 f.). 264 Ebd.
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Gerdes‘ Überlegung, die Vater-Kind-Thematik in Beziehung zum Alter und den manegen schaden (V. 11), die mit ihm einhergehen, zu setzen, scheint grundsätzlich einleuchtend, dennoch erklärt auch sie nicht ganz zufriedenstellend, welche Funktion die Verse 10 und 11 für die Frage nach dem Verhältnis von Diesseits und Jenseits haben. Zwar spielt auch der erste Stollen auf die Vergänglichkeit des Menschen an, die auch das Alter impliziert, allerdings geht es dort weniger um die Sterblichkeit an sich, sondern darum, wie der Mensch bis zu seinem Ende seine Zeit auf Erden verbringt: mit Sinnesfreuden (vgl. V. 5) oder mit der Vorbereitung auf das sog. Leben nach dem Tod? Von körperlichen Gebrechen des Alters und den Sorgen der Angehörigen ist dort hingegen nicht die Rede. Der Schlussvers schließt nach bereits bekanntem Muster die Strophe ab, indem er den Bogen inhaltlich zurück zum Anfang schlägt. Augenscheinlich zeigt dies die Apostrophe an die werlt (V. 12 nû sich ûf, dir, dû), die ansonsten nur in Vers 1 direkt angesprochen wird. Wird dort jedoch noch über die Zukunft geklagt, die der Welt und somit ihren Bewohnern bevorsteht, so hat sich in Vers 12 der Tonfall geändert und die Welt wird stattdessen zum Handeln aufgefordert – gerade angesichts des Kummers und der Traurigkeit, zu der sie bestimmt ist. Betrachtet man den Spruch insgesamt, so fällt auf, dass er inhaltlich z. T. weniger homogen erscheint, als dies bei manch anderem Spruch der Fall ist. Während die Strophe im Aufgesang und zu Beginn des Abgesangs kohärent ist und einzelne Aspekte aufeinander aufbauen, entfernt sich der Inhalt (unmotiviert?) mit Verlauf des Abgesangs (ab V. 9) immer mehr vom ursprünglichen Thema der Strophe, nämlich dem Verhältnis von dies- und jenseitigem Leben und den Konsequenzen, die man evtl. durch seine irdische Lebensweise nach dem Tod tragen muss. Besonders stechen dabei die Verse 10 und 11 (Vater-Kind-Thematik) heraus, die sowohl in sich Schwierigkeiten aufwerfen (zumindest in J) als auch nicht ohne Probleme in den Gesamtkontext einzuordnen sind. Erst der Schlussvers rundet den Spruch unverkennbar ab, indem er wieder eine Beziehung zum ursprünglichen Thema herstellt. In der Parallelüberlieferung liegen neben Wortumstellungen und inhaltlich weniger relevanten Unterschieden auch ein paar signifikantere Varianten vor, auf die hingewiesen werden sollte: Vers 2 in C unterscheidet sich insofern von J, als die Lesart durch das zusätzliche, infinite werden und die Präposition ûz den Bezug zwischen schœnen vrouwen und künigen und dem swachen miste deutlicher herausstellt – am Ende werden nämlich sowohl Damen als auch Könige (wieder) zu Staub. Darüber hinaus stellen die Verse 5 und 6 in C im Gegensatz zu J keinen Bezug zu den in Vers 2 genannten Personen her. Es ist also nicht von ir lîp
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Ton II, Korpus in J
(V. 5) bzw. in (V. 6) die Rede, sondern in C bleiben beide Verse eher allgemein: In Vers 5 (der lîp im …) ist es der Körper selbst, unabhängig von konkreten Personen, der für sich (= im) Bequemlichkeit und wunne erwählt. Zudem fällt in C der in J enthaltene Gegensatz von hie und dort weg. Und Vers 6 verwendet das generalisierende ez (wirt …) und ist insofern ebenfalls als von Vers 2 unabhängige Äußerung zu sehen. Schließlich noch Vers 12, dessen wesentlicher Unterschied in der zweiten Vershälfte besteht: dû bist mit jâmer überladen (‚du bist übervoll an Schmerz‘ oder ‚zu schwer mit Schmerz beladen‘). Da jâmer semantisch in dieselbe Richtung weist wie trûren, liegt der Hauptunterschied zwischen C und J in der Wahl des Verbs: überladen einerseits und (her) laden andererseits. (Die Varianten in der Überlieferung von Vers 11 wurden weiter oben bereits behandelt.)
Historischer Hintergrund Die Datierungsversuche, die Schönbach265 und anschließend Vetter266 unternommen haben, halte ich angesichts der nicht vorhandenen historischen Indizien für nicht nachvollziehbar.
Metrik A A A A 5 A A A A A 10 A A A
8ma 8ma 8mb 8mc 8mc 8mb 4md 6ke 8md 6ke 8 2m f 8 2m f
man síht von hohen knegen únde von schœ́nen vróuwen swáchen míst. ir mínneclcher schn wirt dórt gar bítterlchẹ und bele g’stált. soldẹ éz dâ mítẹ ein énde han, daz wǽre der selẹ ein sǽ lechéit.
wærẹ undẹ wir mhten dóch daz álter vrhten, daz íst ein tégelchui not. swen ér den vríunden wíderstat. daz álter kúmt mit mánegen scháden.
265 „König Heinrich VII. hat seinen Untergang im Februar 1242 gefunden – ist es möglich, daß dieser Vorgang die Betrachtungen Wernhers auslöste? […] Nimmt man noch hinzu, daß dem Kaiser Friedrich II. seine dritte Gemahlin, die englische Isabella, durch ihre Schönheit in Deutschland berühmt, um dieselbe Zeit, 1241, gestorben war, so wird man den Spruch wohl etwa für 1242 ansetzen dürfen.“ (Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 15) 266 „Sch.’s vermutung der entstehung dieses spruches wird noch gestützt durch den tod Gregors am 21. august 1241, die ewigen fehden, die rüstungen im ganzen reich und den Mongoleneinfall in Ungarn im jahre 1241“ (Vetter, S. 245).
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Literatur Dorninger, S. 28 • Gerdes: Beiträge, S. 24 Anm. 2, 88 Anm. 4, 102–104, 114, 117 Anm. 1, 178 und Anm. 3, 179 und Anm. 4, 181 und Anm. 3, 183 und Anm. 4 • HMS 4, S. 523 • Kemetmüller, S. 13, 21 f., 59, 208 • Lamey, S. 19, 35, 37, 38 • Moser/Müller-Blattau, S. 73 f., 81 • Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 14 f. • Vetter, S. 245.
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Ton II, Korpus in J
20. Dıv ſele ıſt luter alſo eẏn glas. So ſıe der touf erwaſchen hat. (J19, U) Dıv ſele ıſt luter alſo eẏn / glas. So ſıe der touf er/waſchen hat. Dıe meẏlet vnſer / bruͦ der lıb mít vngetaner míſſe/tat. Der ſwane (?) ıſt an de̅ veden wíz / vnde ſẏnt ẏm doch dıe vuͦ ze ſwartz / Dıe vert von vns rechte alſo eẏn / blas. Vnde lat den lıb tzvͦ phande / hẏe. 5 Den wormen er eẏn ſpıſe wírt. / Ez ſtet ır dort got weız wol wẏe. / Der tot dem lıbe ende gít alſam dem / lıeche tuͦ t der ſnartz Owe daz eva / den apfel beız. Daz hat (ſer) vnſer af/ter kvnft er arnet Des vorchte / wır dıe dorne hıe. Daz vns begív/zet ıamers ſweız. 10 Da bı (ſo) ſuͦ le wır / alle ſín gewarnet Dıe tageweẏ/de dıe wıl hẏn der abent ſıget vaſte / tzvͦ. Swer rechte tuͦ t des ſıt gewís / deme kvmpt eín líecht morgen vrvͦ. /
3 über ſwane ist interlinar etwas eingefügt, was wie ſhwan (?) aussieht; die Schrift ist deutlich jünger als die reguläre Textualis von J 8 ſer interlinear nachgetragen 10 ſo interlinear nachgetragen
20. Dıv ſele ıſt luter alſo ey˙n glas. So ſıe der touf erwaſchen hat.
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Diu sêle ist lûter alsô ein glas, sô sie der touf erwaschen hât. die meilet unser brœder lîp mit ungetâner missetât – der swane ist an den vederen wîz unde sint im doch die vüeze swarz. diu vert von uns rehte alsô ein blâs unde lât den lîp ze phande hie: 5 den würmen er ein spîse wirt; ez stêt ir dort got weiz wol wie. der tôt dem lîbe ende gît, alsam dem liehte tuot der snarz. ôwê, daz Êva den apfel beiz, daz hât sêr unser afterkunft erarnet. des vürhte wir die dorne hie, daz uns begiuzet jâmers sweiz. 10 dâ bî sô suln wir alle sîn gewarnet. diu tageweide, diu wil hin, der âbent sîget vaste zuo, swer rehte tuot, des sît gewis, deme kumt ein liehter morgen vruo.
19 J 1 erwaschen: ‚ab-, reinwaschen‘ 2 meilen: ‚beflecken, beschmutzen‘ brœde: ‚schwach‘ ungetân: hier ‚nicht schön, hässlich‘ 4 varn: Da hier von der Seele die Rede ist, erscheint mir ‚gehen, fahren‘ weniger treffend, als etwas freier ‚entweichen‘, was auch besser zu blâs passt. blâs: ‚Hauch‘ 5 stân: mit ez und Dat. d. P. (ir) ‚den Zustand, die Lage einer Person bezeichnend‘, etwa ‚um jemanden stehen, bestellt sein um jemanden‘ (vgl. BMZ stân II. 1. c.) 6 lîp: Ich tendiere hier zu ‚Leben‘, da jedoch zuvor Seele und Körper und deren (Un-)Sterblichkeit einander gegenübergestellt werden, ist es möglich, dass hier das Thema ‚Körper‘ weiterverfolgt wird. liehte: ‚Licht, Leuchten, Helligkeit, Glanz‘, aber auch ‚einzelnes Licht, Kerze‘. Hsl. lıeche scheint mir nur als Verschreibung erklärbar, es sei denn, der Ausfall von t ist analog zum Konsonantenschwund bei Mehrfachkonsonanz zu verstehen, wobei jedoch im Fall von Dreifachkonsonanz in der Regel „der mittlere gern aufgegeben [wird]“ (Mhd. Gram., § L 81, vgl. auch Mhd. Gram., § L 116, 4.). snarz: Eigentlich ‚Makel, Fleck‘, HWB und BMZ stellen jedoch mit Blick auf V. 6 die Überlegung an, ob snarz hier nicht eher ‚Lichtschnuppe‘ (also der verkohlte Abfall vom Docht einer Kerze) gemeint sein könnte. Diesen entfernt man mit der Lichtschere vom Docht. Moser/Müller-Blattau übersetzen snarz mit ‚Lichtschere‘ (vgl. Moser/Müller-Blattau, S. 81). Ebenso Nolte/Schupp: „wie es die Lichtschere mit dem Kerzenlicht macht“ (Nolte/Schupp, S. 17). Ich folge dieser Lesart. 8 erarnen: ‚einernten, erwerben, verdienen (als Lohn oder Strafe), entgelten‘ 9 des: Korrelat zu dem Adverbialsatz daz uns begiuzet jâmers sweiz, wobei dieser daz-Satz eine „kausale Bedeutungsnuance“ (Mhd. Gram., § S 180, 2. b)) aufweist, also ‚Aus dem Grund/Deswegen fürchten wir hier die Dornen, da uns der Schweiß des Leids begießt‘. 11 tageweide: ‚Tagesreise, die an einem Tage zurückgelegte Wegstrecke (ursprünglich wohl von Wanderzügen mit Vieh: so weit Vieh an einem Tag weiden kann)‘ sîgen (mit zuo): ‚sich senken, hereinbrechen, sinken‘ vaste: hier ‚schnell‘ 12 komen: hier mit Dat. d. P. (deme) ‚geschehen, widerfahren‘
HMS 3: II,3 Sch 52
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Ton II, Korpus in J
Übersetzung Die Seele ist reiner als Glas, wenn sie die Taufe rein gewaschen hat. Die [= Seele] befleckt unser schwacher Körper durch abscheuliche Sünden – die Federn des Schwanes sind weiß und doch sind seine Füße schwarz. Die entweicht uns genau wie ein Hauch und lässt den Körper als Pfand hier: 5 Für die Würmer wird er zur Nahrung; um sie ist es dort, Gott weiß genau wie, [bestellt. Der Tod bereitet dem Leben ein Ende, wie es die Lichtschere mit dem [Kerzenlicht macht. Ach, dass Eva in den Apfel biss, das hat unsere Nachkommenschaft schmerzlich vergolten. Aus dem Grund fürchten wir hier die Dornen, da uns der Schweiß des Leids [benetzt. 10 Dadurch mögen wir alle gewarnt sein. Die Tagesreise will zu Ende gehen, der Abend bricht rasch herein; jeder, der richtig handelt, dessen seid versichert, dem widerfährt ein heller, [früher Morgen.
Inhalt Auch in II,20 steht das Verhältnis von Dies- und Jenseits im Zentrum. Der gesamte Spruch ist stark geistlich ausgerichtet. So behandelt der Aufgesang zunächst das Gegensatzpaar sêle – lîp, während im Abgesang das irdische Leid – hervorgerufen durch den Sündenfall – und die Mahnung zu angemessenem Handeln im Fokus stehen. Der Aufgesang kann inhaltlich nochmals geteilt werden. Dementsprechend beschäftigt sich der erste Stollen mit der Beschreibung der Reinheit der Seele – anschaulich ausgedrückt im Bild des Glases267 (vgl. V. 1). Die Seele, die durch ungetâne[r] missetât (V. 2) des schwachen Körpers beschmutzt wurde (vgl. V. 2), wird durch die Taufe (wieder) gereinigt (vgl. V. 1). Dieser Gegensatz von Seele und Körper, von Reinheit und Sünde verdeutlicht das anschließende Bild des Schwanes268 (vgl. V. 3): Während seine weißen Federn 267 Schönbach führt Belege für „Glas als Bild der Klarheit und des Glanzes“ (Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 40) auf (vgl. ebd.). 268 Schönbach stellt Überlegungen an, woher das Bild des weißen Federkleids und der schwarzen Füße stammen könnte, zieht dabei Isidor von Sevilla, Hrabanus Maurus, Hugo von Fouilloy, Vinzenz von Beauvais und Konrad von Megenberg heran und kommt abschließend zu dem Schluss, dass Wernher „eine Verwechslung begangen“ (ebd., S. 41) habe, weil dem
20. Dıv ſele ıſt luter alſo ey˙n glas. So ſıe der touf erwaſchen hat.
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rein und unbefleckt sind, besitzt er dennoch schwarze, also „schmutzige“, Füße. Ähnlich zwiespältig stellt es sich beim Menschen dar: Seine Seele mag durch die Taufe gereinigt und von der Erbsünde befreit sein, dennoch bedeutet dies nicht, dass er je ohne persönlich begangene Sünde war oder ist.269 Im zweiten Stollen rückt der Körper, der in Vers 2 bereits thematisiert wurde, stärker in den Blick. Er wird als phant270 dargestellt, das von der Seele auf der Erde zurückgelassen wird, sobald sie vom Körper „ausgehaucht“ (vgl. V. 4 ein blâs)271 ist. Während sie also ins Jenseits übergeht, wird der Körper zur spîse für die würme[n] (beides V. 5). Ein überaus anschauliches Bild, das auch heute noch geläufig ist. Zudem geht es in dieselbe Richtung wie der swache mist, zu dem in II,19,2 schöne Damen und hohe Könige werden. Der Körper bleibt also im Diesseits, aber der Umstand, dass die Seele ins Jenseits kommt, sagt noch nichts darüber aus, wie es ihr dort ergehen mag, denn das hängt davon ab, wie sie ihr irdisches Leben zugebracht hat – Gott allein kann im Jenseits darüber richten, was sie erwartet (vgl. V. 5). Im Gegensatz dazu findet der Körper im Tod sein unwiderrufliches Ende und wechselt nicht in ein nächstes Lebens- oder Entwicklungsstadium (außer vielleicht das der Verwesung) wie die Seele (vgl. V. 6). Während sich der Aufgesang insgesamt recht wertungsfrei und neutral, beinahe im Charakter eines Berichtes darstellt,272 ist dies im Abgesang nicht der Fall. Hier (in den Versen 7 bis 10) wird zum einen offen über den Sündenfall und Evas maßgebliche Beteiligung daran geklagt (vgl. V. 7), die als Ursache für das irdische Leid der Menschen, der afterkunft (V. 8), gesehen wird (vgl. V. 8 f.), und zum anderen nimmt der Tonfall eine „persönlichere“ Färbung an, da die Angst und Verzweiflung der Menschen dank der verwendeten Bilder
Schwan i. d. R. nicht schwarze Füße, sondern schwarzes Fleisch zugeschrieben werde (vgl. ebd., S. 40 f.). Gerdes widerspricht Schönbach: „Die literarisch ungewöhnliche Gegenüberstellung der weißen Federn und der schwarzen Füße des Schwans wird man nicht ohne weiteres mit der geläufigen Version, in der das Fleisch als schwarz angesehen wird, gleichsetzen und dem Dichter als „Verwechslung“ ankreiden dürfen“ (Gerdes: Beiträge, S. 123). Vgl. hierzu außerdem den ,Physiologus‘ (Maurer, S. 68 [hier (2)], 69 [hier Str. 169], 89 [hier (2)]; Schröder: Millstätter Physiologus, S. 136–139 [(hier Str. 169)], 332–337 und Schönberger, S. 8 f.). 269 Vgl. Gerdes: Beiträge, S. 125. 270 Bruder Wernher benutzt auch noch an anderer Stelle den Begriff phant (vgl. II,41,12; VI,70,6), allerdings nicht explizit in Bezug auf den Körper, der nach dem Tod auf der Erde zurückbleibt, wie Schönbach meint (vgl. Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 41). 271 Vgl. ebd. 272 Einzige Ausnahme bilden evtl. meilen und brœde aus Vers 2, jedoch müssen diese Lexeme nicht unweigerlich als bewusste Wertung aufgefasst werden, sondern können auch lediglich als Ausdruck oder Beschreibung eines objektiv negativen Zustandes verwendet sein.
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Ton II, Korpus in J
(die dorne vürhten273 [vgl. V. 9], von jâmers sweiz begozzen [vgl. V. 9]) erstens intensiver in den Blick rücken und zweitens stets von der 1. Plural begleitet werden (vgl. V. 8 unser, V. 9 wir, uns, V. 10 wir). Und auch das Verb warnen bzw. die Formulierung wir suln alle gewarnet sîn (vgl. V. 10) trägt aufgrund der Eindringlichkeit und Bedrohung, die es impliziert, zu dieser emotional aufgeladeneren Stimmung bei. Gleichzeitig bildet diese Warnung oder Mahnung in Vers 10 den Abschluss der Auslassungen über Eva, den Sündenfall und dessen Konsequenzen für die afterkunft (V. 7). Die Schlussverse ähneln in ihrem Tenor wieder dem des Aufgesangs. Dementsprechend taucht z. B. die 1. Plural in Vers 11 und 12 nicht mehr auf – lediglich die Apostrophe des sît gewis (V. 12), die an den mahnenden Unterton aus Vers 10 erinnert, sorgt noch dafür, dass der Strophenschluss nicht völlig vom Rezipienten losgelöst ist. Ansonsten sind Vers 11 und 12 als Schlussfazit zu verstehen, das in dem Bild der schnell hereinbrechenden Nacht den Übergang von Leben und Tod beschreibt, wobei nur demjenigen ein liehter morgen vruo274 (V. 12) zuteilwird, der rehte tuot (V. 12). Einmal mehr mahnt Bruder Wernher also zu einem Leben, das in Vorbereitung auf das Leben nach dem Tod geführt werden soll.
Historischer Hintergrund Aus kaum nachvollziehbaren Gründen– wohl v. a. aufgrund der beiden Schlussverse – gehen Meyer, Lamey und Doerks davon aus, dass Bruder Wernher II,20 in fortgeschrittenem Alter abgefasst hat.275 In Übereinstimmung mit Anton E. Schönbach lehne ich eine Datierung ab, da der Spruch dafür schlicht keinerlei Anhaltspunkte bietet.276
Inhaltliche Ähnlichkeit mit anderen Texten vgl. zu Vers 1: Freidank 21,4: von toufe ez [= daz mensche, Anm. d. Verf.] danne reine wirt, (Bezzenberger, S. 86) 273 Gerdes versteht Vers 9 als „den verkürzt zitierten Fluch Gottes über Adam“ (Gerdes: Beiträge, S. 124), den Wernher „ins Präsens umformt und auf ‚hie‘ und ‚uns‘ überträgt“ (ebd.) und der ursprünglich „[a]us Gen. 3, 18. 19“ (ebd., S. 124 Anm. 4) stammt. 274 Vgl. Gerdes zu der hier bildlich anzitierten „Auferstehungsverheißung“ (ebd., S. 125). 275 „Wernhers höherm Alter“ (Meyer, S. 105), „mit dem vorgerückten Alter des Dichters“ (Lamey, S. 35), „Ergreifend klingt in des Greisen Munde“ (Doerks, S. 11). 276 Vgl. Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 42.
20. Dıv ſele ıſt luter alſo ey˙n glas. So ſıe der touf erwaſchen hat.
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vgl. zu Vers 2: Freidank 23,13 f.: Menneschlîchiu broedekeit deist der sêle herzeleit. (Spiewok, S. 20) vgl. zu Vers 4: Freidank 18,1: got gît die sêle, der nem s‘ ouch hin; diu vert von mir als ein blâs und lât mich liegen als ein âs. (Bezzenberger, S. 83) vgl. zu Vers 5: Job 21,26 vgl. zu Vers 4–6: Freidank 17,17–20: Diu sêle ist z’allen stunden zem lîbe sô gebunden, daz sie zuo im muoz haben pfliht, swaz guots und übels von im geschiht. vgl. zu Vers 9: 1. Mose 3,18 f.
Metrik A A A A 5 A A A A A 10 A A A
8ma 8ma 8mb 8mc 8mc 8mb 4md 6ke 8md 6ke 8mf 8mf
sêlẹ, alsộ der swánẹ ist án den véderen wz unde sínt im dóch die veze swárz, diu vért von úns rehtẹ álsộ ein blas unde lat den lp ze phánde híe:
ôwe, daz Eva den ápfel béiz,
swer réhte túot, des st gewís, deme kúmt ein líehter mórgen vrúo.
Literatur Doerks, S. 11 • Dorninger, S. 28 f. • Gerdes: Beiträge, S. 24 Anm. 2, 52 und Anm. 1, 91 und Anm. 5, 118 und Anm. 3, 123–125, 168 Anm. 2, 179 und Anm. 4, 181 und Anm. 4, 183, 199 • HMS 4, S. 523 • Kemetmüller, S. 19, 68, 228 • Lamey, S. 8, 35, 38 • Leitzmann, S. 163 • Meyer, S. 105 f. • Moser/Müller-Blattau, S. 74, 81 • Nolte/Schupp, S. 16 f., 373 • Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 39–42 • Vetter, S. 259.
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Ton II, Korpus in J
21. Unſe herre hete adame geben Jn paradẏſe wunne vıl. (J20) Unſe herre hete adame geben / Jn paradẏſe wunne vıl. / Ez was ẏm allez vnder tan. / wılt. / vnde tzam. vnz an eín tzıl. Eẏn / kleẏne obíz er ín vuͦ r bot. Des ne / vuͦ r míden ſıe leıder nícht Eẏn / ſlange ez even ezzen hıez. adam / der az ez offe rat. 5 Owe daz ſıe ıs nícht / eẏne vntgalt. hıe von vıl maníger / kvmber hat. Waz (dan) ob (lıchts) eẏneme (rıchen) kv/nínge noch alſo geſcıcht Der (nv) der / kronen hat gewalt. Groze rıcheıt // vnde wıl nícht ſcande mẏden Ich / wene ez ín der tıvbel rıet. Sıt ſıe da / umme worden gevalt. 10 Da von wír / alle kvmber mvͦzen lıden Sol ıch / vntgelten der ſculde daz (vrou) eva den ap/fel az. So vntgelte ıch des ıch nẏe ge/noz. krıſt herre nv gevuͦ ge ez allez / baz. /
1 Punkt vor Jn fehlt 6 dan, lıchts, rıchen interlinear nachgetragen tragen 11 vrou interlinear nachgetragen
7 nv interlinear nachge-
21. Unſe herre hete adame geben Jn parady˙ſe wunne vıl.
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Unser hêrre hâte Adâme geben in paradîse wunne vil. ez was im allez undertân, wilt unde zam unz an ein zil, ein kleine obez er in verbôt. Des ne vermîden sie leider niht. ein slange ez Êven ezzen hiez; Adâm, der âz ez ûfe rât. 5 ôwê, daz sie es niht eine entgalt, hie von vil maneger kumber hât. waz dan, ob lîhtz eineme rîchen künege noch alsô geschiht, der nû der krônen hât gewalt, grôzer rîcheit unde wil niht schande mîden? ich wæne, ez in der tiuvel riet. sît sie dâ umbe worden gevalt, 10 dâ von wir alle kumber müezen lîden. sol ich entgelten der schulde, daz vrou Êva den apfel âz, sô entgelte ich, des ich nie genôz. krist, hêrre, nû gevüege ez allez baz.
20 J, 1 C C komplett Got hat adam vn̅ even gebe̅ ı ̅me / padẏſe wu̅nen vıl· adame tet / er vndtan gar wılde vn̅ zam / bıs vf eın zıl· eın obs dc dv ſol/deſt mıde̅ dur ſelhe vngemach· d ſlange es / even eſſen hıes nv eſſe dvs oͮ ch vf ır rat· 5 mır / ıſt níht leıt das dvs nıht eíne engvlte vn̅ / es duͥ wlt nıht kvmb hat· es kam alſo dc / eıne̅ ıvge̅ kuͥnıge alſam geſchach· de̅ oͮ ch d / krone wc gedaht· rıcheıt vn̅ ere wa̅ dc er / nıht wolde mıde̅· eıne̅ ſchalk de̅ hat dtıefel / valſchen rat zemvnde braht· 10 da vo̅ ſı beıde / eın ſvres mvͦſte̅ lıden· ſvn wır engelte̅ des / vn̅ dc adam vn̅ eve de̅ apfel as· ſo engulte / ıch deſ ıch níe genoſ got hre fuͤge ıns alles / bas· / 2 zil: Bezeichnet hier die Ausnahme von allez und ist insofern nicht wörtlich zu verstehen, sondern freier als ‚Punkt, Sache‘. 3 vermîden: mit Gen. d. S. (des) ‚schonen, verschonen, unbehelligt lassen‘ 5 engelten: mit Gen. d. S. (es) ‚Strafe wofür leiden, es büßen müssen, wofür bezahlen‘ 6 lîhtz = lîhtẹ ẹz 7 der krônen (hât gewalt): Obj. im Gen. (den Textbelegen des BMZ zufolge steht gewalt hân in der Regel mit Gen., vgl. BMZ gewalt), nhd. mit Präp. ausgedrückt ‚Gewalt/Macht haben über‘ 8 grôzer rîcheit: Es ist unklar, wie der Akk. Sg. in J (Groze rıcheıt) zu erklären ist. Analog zu der krônen wäre hier statt des hsl. Akk. der Gen. (grôzer rîcheit) zu erwarten. Vielleicht wurde hsl. der er-Haken vergessen? Ich greife in der Normal. dementspr. ein. 9 sît: Statt des kausalen Anschlusses wäre auch ein temporaler denkbar. 11 vrou: Ich übersetze nicht mit ‚Herrin, Dame‘, sondern mit ‚Frau‘. 12 geniezen:
HMS 2: I,1 Sch 1
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Ton II, Korpus in J
intr. mit Gen. (des) ‚Nutzen, Freude woran haben‘ gevüegen: unpers. ‚gestalten‘, baz gevüegen ‚bessern‘ oder ‚zum Besseren wenden‘ (vgl. Moser/Müller-Blattau, S. 81)
21. Unſe herre hete adame geben Jn parady˙ſe wunne vıl.
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Übersetzung Unser Herr hatte Adam im Paradies viel Freude geschenkt. Alles war ihm untertan, Wildes und Zahmes bis auf eine Sache, eine kleine Frucht verbot er ihnen. Die ließen sie leider nicht in Ruhe. Eine Schlange befahl Eva, sie zu essen; Adam aß sie auf Empfehlung hin. 5 Ach, dass sie dafür nicht alleine büßte, hierdurch leiden sehr viele Kummer. Was dann, wenn es leicht einem mächtigen König noch dergestalt ergeht, der jetzt die Macht über die Krone (und) großes Vermögen besitzt und sich nicht von Schande fernhalten möchte? Ich glaube, der Teufel befahl es ihnen. Weil sie dadurch zu Fall gebracht [wurden, 10 müssen wir deswegen alle Kummer erleiden. Soll ich für die Schuld, dass Frau Eva den Apfel aß, bezahlen, so büße ich für etwas, an dem ich mich nie erfreuen (konnte). Christus, Herr, [jetzt wende es alles zum Besseren.
Inhalt Auch II,21 beschäftigt sich, ähnlich wie II,20, mit dem Sündenfall, der Erbsünde und deren Folgen für die Menschen. Dabei folgt der Spruch einem wohlüberlegten Aufbau: − Vers 1 bis 4: Nacherzählung des Sündenfalls − Vers 5: Erbsünde − Vers 6 bis 8: „die Schilderung eines aktuellen Gegenstücks, die hier gewissermaßen mit der Schablone des biblischen Berichts entworfen ist“277 − Vers 9 bis 10: Rückbezug auf die anfängliche Schilderung von Sündenfall und Erbsünde − Vers 11 f.: „Personalisierung“ der Folgen der Erbsünde Darüber hinaus lassen sich die einzelnen Abschnitte z. T. untereinander zuordnen. So kann man zwischen den Versen 1 bis 4 und 9 f. eine beinahe übergangslose Verbindung herstellen. Ähnlich verhält es sich mit Vers 5 und den Schlussversen 11 und 12, wobei es jedoch auch klare Anklänge zwischen Vers 5 und 10 gibt. Einzig der Mittelteil (V. 6–8) steht „abseits“ von den übrigen Versen, da keine unmittelbaren Bezüge (Wortwiederholungen, konkrete motivische Parallelen) vorliegen. 277 Gerdes: Zeitgeschichte, S. 132.
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Ton II, Korpus in J
Vor dem Hintergrund dieser „Themenblöcke“ besitzt II,21 unterschiedliche Aussageebenen, die, abhängig etwa von der Erwartungshaltung des Rezipienten, auch unterschiedlich starke Gewichtung entfalten. Zunächst einmal steht das Leid (kumber vgl. V. 5 und 10), das die Erbsünde für viele (vgl. V. 5 vil maneger) bzw. alle (vgl. V. 10) mit sich bringt, im Zentrum. Nicht nur die Interjektion ôwê (V. 5) verdeutlicht dies, sondern auch Wortwiederholungen, die überall dort zu finden sind, wo von der Erbsünde die Rede ist (entgalt [V. 5], entgelten [V. 11], entgelt [V. 12] sowie kumber [V. 5 und 10]). Indem die beiden Schlussverse die Erbsünde an einem „konkreten“ Einzelfall aufzeigen, dem Sprecher-Ich, wird die Dramatik des Ganzen erst richtig deutlich: Die Menschen müssen für etwas büßen, das sie nicht selbst verschuldet und aus dem sie nie einen Vorteil gezogen haben. Die Ausweg- und Hilflosigkeit dieser Situation verdeutlicht die abschließende Bitte, Gott möge es alles besser fügen, die direkt an diesen gerichtet ist (vgl. V. 12). Nur er hat Einfluss darauf, dass der Mensch Erlösung findet. Die zweite Aussageebene steht der vorausgegangenen sehr nahe, da sie sich ebenfalls mit dem Sündenfall beschäftigt, aber etwas andere Akzente setzt. Es geht um das Nachgeben der Versuchung und deren Folgen bzw. um eine mögliche Erklärung für beides. Das Ich führt das Kosten der verbotenen Frucht auf die Einflüsterungen des Teufels zurück (vgl. V. 9), der von der Schlange verkörpert wird (vgl. V. 4). Die Konsequenz des Ganzen ist der Sturz aus dem Paradies (vgl. V. 9), für den wiederum alle kumber müezen lîden (V. 10). Die dritte Aussageebene schließlich befindet sich im Mittelteil der Strophe und richtet den Fokus auf ein konkretes Ereignis.278 Vor dem Hintergrund des Gesamtkontextes dient sie dazu, den Ablauf des Sündenfalls an einem Beispiel – ob nun real oder nicht – zu demonstrieren: Der rîche künec (V. 6) ist mit Adam und Eva gleichzusetzen, die Macht der Krone (vgl. V. 7) und grôzer rîchheit (V. 8) mit dem paradiesähnlichen Zustand und die schande, von der sich der König partout nicht fernhalten möchte (vgl. V. 8), steht für die Versuchung der verbotenen Frucht, der Eva (und Adam) schließlich nachgibt. Was im einen Fall die Verbannung aus dem Paradies zur Folge hat, bedeutet im anderen öffentliche Schmach und Ansehensverlust (vgl. V. 8 schande), was für einen König wohl gleichbedeutend ist mit der Vertreibung aus dem Paradies. Gerade die Verse 6 bis 8 aus J (aber auch die übrigen des Spruches) unterscheiden sich deutlich von denen in C. Denn während J eher allgemein und vage
278 Inwieweit die Verse 6 bis 8 (in J!) tatsächlich datier- oder historisch verortbar sind, wird weiter unten noch zu fragen sein.
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bleibt, was historische Deutungsmöglichkeiten angeht, so bietet C in dieser Hinsicht weitaus mehr Spielraum. Dort ist von einem jungen König (vgl. V. 6) die Rede, der nicht von der schande (V. 8 in J) in sein Unglück gestürzt wird, sondern von einem schalke279 (vgl. V. 9), der als „Sprachrohr“ des Teufels und dessen hinterhältigem Ratschlag280 fungiert (vgl. V. 9). Die Folge dessen ist, dass si beide ein sûrez muosten lîden (V. 10 in C). Dieser Vers ist deswegen so wichtig, weil er zweideutig ist: Mit si beide können sowohl der junge König und der schalc als auch Adam und Eva gemeint sein. Und auch der anschließende Vers 11 in C führt diesen doppelten Bezug fort, denn dort heißt es, dass die Menschen entgelten des unt daz Adâm und Êve den apfel âz, also sie büßen für einen König, der teuflischen Einflüsterungen nachgibt, und für den Sündenfall von Adam und Eva. Im Unterschied zur Lesart in J erscheint C also kohärenter, da der Mittelteil des Spruches – der in J übrigens nur drei Verse umfasst, während er in C von Vers 6 bis Vers 10 reicht – beinahe nahtlos an Anfangs- und Schlussteil anschließt. Bleibt noch, einen näheren Blick auf die Verse des Aufgesangs in C zu werfen. Auch hier finden sich klare Unterschiede zu J. Am augenscheinlichsten sind die Verse 3 bis 5. Während J hier eine eher neutrale Nacherzählung des Sündenfalls liefert, erscheint C deutlich dynamischer, was an der Rolle des Sprechers liegt. In J bleibt er weitgehend unsichtbar, deutet sich nur in unser hêrre (V. 1) und evtl. in der Interjektion ôwê (V. 5) an. In C hingegen nimmt er eine zentrale Stellung ein, indem er sich zum einen in Vers 5 selbst „nennt“ (mir) und sich zum anderen in den Versen 3 bis 5 direkt an den Rezipienten wendet (vgl. V. 3–5 dû).281 Diese Anreden gehen in allen drei Versen mit einer
279 Der schalc ist ein von Bruder Wernher häufig gewählter Ausdruck, vgl. I,9,9; II,31,11 und 12 (zweimal); III,46,11; III,47,4 und 12; III,49,5; III,54,11; III,55,12. Zur Rolle des schalkes vgl. Strasser, S. 244. 280 Udo Gerdes weist auf den zweimaligen Gebrauch des Wortes rât hin, das einmal in Verbindung mit dem rât der Schlange verwendet wird (vgl. V. 4), das andere Mal mit Blick auf den schalke (vgl. V. 9), wobei der Ratschlag hier zudem als valsch klassifiziert ist. Durch die Wiederholung des Ausdrucks in unterschiedlichen Zusammenhängen, wird deren Parallelität signalisiert, wonach slange und schalc dieselbe Funktion einnehmen, nämlich die des Verführers oder Anstifters (vgl. Gerdes: Beiträge, S. 50 und Zeitgeschichte, S. 131). 281 Gerdes hingegen versteht die Anrede auf Adam bezogen (vgl. Gerdes: Beiträge, S. 50 und S. 208). Darauf aufbauend sind mit si beide (V. 11) nicht zweideutig Adam und Eva bzw. König und Schalk gemeint, sondern si beide bezieht sich, laut Gerdes, „auf Adam, den Gott verfluchte und aus dem Paradies vertrieb, und andererseits auf den König, den der Kaiser von Krone und Macht ausschloß“ (ebd., S. 50, vgl. auch Gerdes: Zeitgeschichte, S. 131). Auch Yao sieht hier Adam angesprochen (vgl. Yao, S. 67 f.). Andererseits hält er es ebenfalls für möglich, dass si beide doppeldeutig zu verstehen sein könnte (vgl. ebd., S. 68).
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Ton II, Korpus in J
Bewertung von zuvor Gesagtem einher.282 Anstatt also die einzelnen „Stationen“ des Sündenfalls unkommentiert zu lassen, wie das in J weitgehend der Fall ist, formuliert das Ich in C in Vers 3, als von der verbotenen Frucht die Rede ist, eine Ermahnung oder Belehrung, die sich direkt an den Rezipienten richtet: ein obz, daz dû soldest mîden durch solhiu ungemach. Ganz ähnlich sieht es in Vers 4 aus, der von der Schlange erzählt: Der Sprecher verteidigt Eva, die sich verführen ließ, indem er erklärt: nû æze dûz ouch ûf ir rât (in J isst Adam den Apfel ûfe rât, wobei hier wohl Eva diejenige ist, die dazu auffordert und nicht die Schlange wie in C). Der Sprecher zeigt also nicht mit dem Finger auf Eva und macht sie allein für alles verantwortlich, sondern hält dem Zuhörer den Spiegel vor, frei nach dem Motto: ,Sei vorsichtig mit deinem Urteil, wer weiß, wie du gehandel hättest.‘ Diese reflektierte Haltung spiegelt sich übrigens auch in Vers 11 wider, denn dort wird, im Gegensatz zu J, ausdrücklich auch Adam in die Verantwortung genommen: Adam und Eva aßen den Apfel.283 Vers 11 fällt darüber hinaus auch durch die unterschiedliche Wahl des Personalpronomens im Konditionalsatz auf: J schreibt sol ich entgelten, C hingegen suln wir entgelten. Aufgrund der 1. Plural in C wird deutlich, „daß Bruder Wernher sich mit seinem Publikum identifiziert“284, während die Lesart in J den, wenn man so will, individuellen Aspekt stärker betont, also weniger aus der Mitte der Gemeinschaft heraus erscheint. Zuletzt Vers 5: Die handschriftliche Lesart in C ist inhaltlich nicht logisch – mir ist niht leit, daz dûs niht eine entgulte und es diu werlt niht kumber hât –, weshalb Schönbach und vor ihm bereits von der Hagen m. E. nicht zu Unrecht zu folgender Version korrigiert haben: mir ist niht leit, daz dûs niht eine entgulte und es diu werlt noch kumber hât.285 Folgt man dieser geänderten Version, so ist der Tenor des Verses analog zu Vers 4 und 11 zu sehen, denn auch hier vermeidet es der Sprecher, erneut im Unterschied zu J, Eva als Alleinschuldige auszumachen. Stattdessen rückt er die Erbsünde bzw. deren 282 Mit Blick auf die Verse, die eine Apostrophe enthalten, schreibt Schönbach: „[…] war es offenbar der Wunsch von J, den frei konstruierten Übergang von der Erzählung zur direkten Rede und diese selbst zu vermeiden zugunsten eines platt ablaufenden Berichtes.“ (Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 3) Edwards geht noch weiter mit seinem Urteil: „Schon der Schreiber von C hat das Umschalten der Erzählung auf direkte Rede und zurück nicht mehr verstanden.“ (Edwards, S. 310) 283 Laut Schönbach ist die Lesart in C „jüdisch korrekter als katholisch“ (Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 3). 284 Teschner, S. 95. 285 Vgl. HMS 2, S. 227 und Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 2. Edwards behält die handschriftliche Lesart aus C bei, kommentiert die inhaltlichen Schwierigkeiten jedoch nicht (vgl. Edwards, S. 310).
21. Unſe herre hete adame geben Jn parady˙ſe wunne vıl.
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Abbüßen weg von ihrem Ursprung, nämlich Adam und Eva, und setzt im Hier und Jetzt an – bei dir, dem Rezipienten. Durch die Apostrophe dû, die das Gegenüber einerseits personalisiert, andererseits aber doch so sehr im Unbestimmten lässt, dass keine spezielle Person gemeint ist, gelingt es, eine Situation zu erzeugen, in der sich jeder im Publikum angesprochen fühlen muss.
Historischer Hintergrund Während die Forschung in der Frage der historischen Einordnung die Lesart von II,21 in J zu Recht unbeachtet ließ, da sie schlicht zu wenig verwertbare Indizien enthält,286 ist sie sich mit Blick auf die Überlieferung in C einig darüber, dass sich der Spruch auf König Heinrich (VII.) und dessen von seinem Vater Kaiser Friedrich II. erzwungene Unterwerfung im Sommer 1235 bezieht.287 Die Datierungsversuche der Forschung setzen zwischen Juli 1235 und Juli 1236 an.288 Als schalke wurde einhellig Anselm von Justingen ausge-
286 Vgl. Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 3 und Müller: politische Lyrik, S. 91. Zum inhaltlichen Unterschied des Spruches in J und C vgl. auch Yao, S. 69 f. sowie Kern: Entaktualisierung, S. 162–165. Ausgehend von seiner These, wonach J die im Vergleich zu C ältere Fassung enthalten könne (vgl. dazu eingehender das Kapitel ,Zur Anordnung der Sprücheʻ, hier v. a. Anm. 109), stellt Kern die Vermutung an, „daß Bruder Wernher die Gedichtfassung, wie sie uns J überliefert, zu einer Zeit gedichtet haben könnte, als Heinrichs Auflehnung gegen den kaiserlichen Vater, jene schande (die schändliche Tat) bereits geschehen, die Strafe des Kaisers aber noch nicht erfolgt war, allerdings schon zu befürchten stand. Danach wäre als Entstehungsdatum für die J-Fassung die 1. Hälfte des Jahres 1235 denkbar, die Zeit nämlich, als Heinrich VII. noch die Königskrone besaß, das kaiserliche Strafgericht für die Empörung sich aber bereits abzeichnete“ (Kern: Entaktualisierung, S. 165). Auch Yao stellt angesichts der fehlenden historischen Indizien die Vermutung an, dass die J-Fassung „nicht nur einmal vorgetragen [wurde]. Man kann sich vorstellen, dass Wernher die Version C, die sich exakt auf den Sturz des Königs bezieht, nach einiger Zeit unter anderen Umständen hat vortragen wollen und deswegen den Text änderte, um das Beispiel zu ,entaktualisieren‘“ (Yao, S. 70). 287 Vgl. HMS 4, S. 517; Meyer, S. 94; Lamey, S. 26; Doerks, S. 7; Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 4–6 (mit ausführlicher Belegung durch Urkunden); Vetter, S. 243; Gent, S. 69 f.; Kemetmüller, S. 16 f.; Gerdes: Beiträge, S. 50 f. und Zeitgeschichte, S. 131; Teschner, S. 90; Müller: politische Lyrik, S. 90 f.; Edwards, S. 307, 311; Kern: Entaktualisierung, S. 163; Brunner: Verkürztes Denken, S. 318 f.; Yao, S. 68 f. 288 Ferdinand Lamey geht von 1236 aus (vgl. Lamey, S. 26). Henry Doerks legt den Entstehungszeitpunkt „in das Ende des Jahres 1235 oder in das Jahr 1236“ (Doerks, S. 7). Während Schönbach von „Frühjahr 1236“ (Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 8) ausgeht, entstand der Spruch laut Hans Vetter „erst im juli“ (Vetter, S. 243) des Jahres 1236, dem Manfred Scholz (vgl. Scholz: Reichsidee, S. 28), Peter Kern (vgl. Kern: Entaktualisierung, S. 164) und auch Horst Brunner (vgl. Brunner: Verkürztes Denken, S. 318) in dieser Datierung folgen. Vgl. auch Kemetmüller, S. 18.
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Ton II, Korpus in J
macht,289 der für König Heinrich (VII.) Ende 1234 in Verhandlungen mit dem Lombardenbund ein Schutz- und Hilfsabkommen schloss, was von Kaiser Friedrich II. schlicht nur als Hochverrat angesehen werden konnte. Dass dies für Heinrich (VII.) nicht ohne Konsequenzen bleiben würde, stand außer Frage.290 Heinrichs Absetzung ist somit als „Vertreibung aus dem Paradies“ zu sehen, wobei Kaiser Friedrich II. die Rolle Gottes einnimmt.291 In beiden Fällen – im Sündenfall wie im Abfall Heinrichs – wird also gegen das Gebot des (Gott-)Vaters verstoßen, wie Teschner hervorhebt.292
Inhaltliche Ähnlichkeit mit anderen Texten vgl. zu Vers 3: 1. Mose 3,3 und 2,17
289 Vgl. Anm. 287. 290 Vgl. Gebhardt, Bd. 6, S. 241. 291 Vgl. Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 4. 292 Vgl. Teschner, S. 93 f. Teschner ist zudem der Ansicht, dass der Tenor des Spruches „so neutral und allgemein [ist], daß an die Stelle Heinrichs beliebige andere Könige treten könnten, die ebenfalls falschen Ratgebern folgten. Das heißt doch, daß Bruder Wernher nicht mehr an der unmittelbaren politischen Relevanz des dargestellten Falles interessiert ist, sondern an seiner moralischen Verwertbarkeit“ (ebd., S. 96). Und er geht noch weiter: Politische Vorgänge „werden nicht aus sich heraus betrachtet und beurteilt, nicht das Besondere und Eigenartige wird herausgearbeitet – im Gegenteil: aus dem aktuellen politischen Ereignis wird der bestimmte, vorgezeichnet [sic!] Typus herausgeschält, um es in das Beziehungssystem der Präfiguration einzuordnen. Der Spruchdichter als autonome Persönlichkeit, die unmittelbar zu Kaiser und Fürsten spricht, tritt von der Bühne ab“ (ebd., S. 97). Diese Position geht m. E. etwas zu weit, denn das politische Geschehen dient nicht allein als eine Art „Rohmasse“, die zur literarischen Verarbeitung beliebig gewählt und je nach Bedarf geformt würde. Mögen manche Sprüche angesichts ihres schwer greifbaren oder aber austauschbaren politischen Hintergrunds auch vom unmittelbaren Geschehen distanziert erscheinen oder dazu dienen, einen z. B. geistlichen Sachverhalt zu exemplifizieren, so würde ich dennoch nicht so weit gehen und Bruder Wernher Distanziertheit gegenüber gesellschaftspolitischen Prozessen unterstellen, wie Teschner dies tut. Dafür erscheint der Tonfall manches Spruches zu drängend und mahnend. Die Überlegung, dass in einem moralisch-geistlichen Spruch ein aktuelles Ereignis aus der Politik zur Veranschaulichung herangezogen wird, lässt nicht unweigerlich den Schluss zu, dass es in erster Linie nur um die moralisch-geistliche Komponente ginge. M. E. sind häufig beide Bestandteile – der moralisch-geistliche und der konkret-politische – Kehrseiten einer Medaille, denn die Ermahnung zu moralischem, gottesfürchtigem Leben schlägt ja auf den konkreten Alltag der Menschen (theoretisch auch der Herrschenden) durch und kann sich somit durchaus auch auf der politischen Handlungsebene niederschlagen.
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Metrik
A A A 5 A A A A 10 A A A
8ma 8ma 8mb 8mc 8mc 8mb 4md 6ke 8md 6ke 8mf 8mf
Únser herre hâtẹ Ádâme293 gében in páradse wúnne víl. ez wás im állez úndertan, wílt unde zám unz án ein zíl, ein kléine óbez er ín verbot. Dés envermden sie léider níht. ein slángẹ ez Even ézzen híez; Adam, der az ez ufe rat. ôwe, daz síe ẹs niht éinẹ entgált, hie vón vil máneger kúmber hat. waz dán, ob lhtz éineme rchen knege nóch also geschíht, grozer rcheit undẹ wíl niht schánde mdèn? ich wǽnẹ, ez ín der tíuvel ríet. sît síe dâ úmbe wórden gevált, sol ích entgéltèn der schúlde, dáz vrou Eva den ápfel az, sô ẹntgéltẹ ich, dés ich níe genoz. krist, herrẹ, nû gevegẹ ez állez báz.
Literatur Brunner: Verkürztes Denken, S. 318 f. • Doerks, S. 7 • Dorninger, S. 29 • Edwards, S. 307, 310 f. • Gent, S. 69 f. • Gerdes: Beiträge, S. 24 Anm. 2, 33 und Anm. 1, 49–52, 73 f., 100 Anm. 6, 160 Anm. 4, 177 und Anm. 1, 178 und Anm. 3, 179 und Anm. 7, 181 und Anm. 5, 200, 208, 210 • Gerdes: Zeitgeschichte, S. 130–133 • HMS 4, S. 517, 523 • Kemetmüller, S. 5, 6, 13, 16–18, 25, 26, 30, 34, 207 • Kern: Entaktualisierung, S. 162–165 • Lamey, S. 8, 26, 27, 30, 31 • Meyer, S. 94 • Moser/Müller-Blattau, S. 74, 81 • Müller: politische Lyrik, S. 90 f. • Roethe, S. 339 • Schmidt-Wiegand, S. 196, 204 f. • Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 2–8. • Scholz: Reichsidee, S. 28 f. • Stackmann: Mügeln, S. 178 • Strasser, S. 244 • Teschner, S. 90–97 • Vetter, S. 243 • Yao, S. 37, 67–70, 200, 201.
293 Während ich bei Adâm in Vers 1 die Haupthebung auf die erste Silbe lege (Ádâm, Betonung im Deutschen), setze ich diese in Vers 4 auf die zweite Silbe (Adam, Betonung im Französischen), da die Metrik dieses Verses Erstsilbenbetonung nur unter Einsatz einer Hebungsspaltung (Ádâm der az) bei gleichzeitigem Hebungsprall (híez Ádâm) zulässt, wodurch der gesamten Vers – in dem ohnehin unregelmäßigen Spruch – wiederum sehr unrhythmisch erschiene.
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Ton II, Korpus in J
22. Owe da míte wír ſẏnt geborn. Vnde alſo mvͦz ez enden ſıch. (J21) Owe da míte wír / ſẏnt geborn. Vnde alſo mvͦz / ez enden ſıch. Dıe engele blaſen of ır / horn. Tzvͦ ıvngeſt alſo dvnket mích. / Sıe tvnt vns kvnt (mıt rede) wol of vntfant / uwer lon daz ıſt wol recht Iſt aber / ıcht genaden da. So vraget dıe ıamer/lıche ſchar. 5 Ja da ıſt gnade vıl. wer / ſıe tzvͦ rechte (nv ge) brínget da. Man ſıcht / ín eẏner wırde ſten den herren vnde (ouch) / den knecht Nach lone alſo ſıe ez vuͦ r / dıenet han. Do ſıe índer werlde lebete̅ / ín vrẏen mvͦte Sıe ſlıefen al tzvͦ / lange. dıe wol wıſten wıe ez ſolte / ır gan. 10 Nv wachent ſıe owe ın (der) pẏne / huͦ te Daz du ſo lutzel vreude gıs / werlt lange leít vnde kvrtze tage. / Des ıſt da nícht achter ruwe me wen / ẏmmer endeloſe klage. /
3 mıt rede interlinear nachgetragen 5 nu ge interlinear nachgetragen 6 ouch marginal nachgetragen 10 der interlinear nachgetragen
22. Owe da míte wír ſy˙nt geborn. Vnde alſo mvͦz ez enden ſıch.
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Ôwê, dâ mite wir sint geborn unde alsô muoz ez enden sich. die engele blâsent ûf ir horn ze jungest, alsô dunket mich, sie tuont uns kunt mit rede: ,wol ûf! emphânt iuwer lôn! daz ist wol reht.ʻ ,ist aber iht genâden dâ?ʻ sô vrâget diu jâmerlîche schar. 5 ,jâ, dâ ist gnâde vil, wer sie ze rehte nû gebringet dâ.ʻ man siht in einer wirde stên den hêrren unde ouch den kneht, nâch lône alsô sie ez verdienet hân, dô sie in der werlde lebeten in vrîem muote. sie sliefent al ze lange, die wol wisten, wie ez solde ergân. 10 nû wachent sie, ôwê, in der pîne huote. daz dû sô lützel vreude gîst, werlt, langiu leit unde kurze tage! des ist dâ niht afterriuwe mê wan iemer endelôse klage.
21 J, 4 C 1 Da mítte wır nv ſın geborn. da mıtte mvͦs oͮch ende̅ ſıch. 3 da mvͦſſen wır zebvͦſſe ſtan dſv̍nde̅ dc ıſt reht. 4 iht] ich Verschreibung?. vrâget] ſprıcht. 5 gnâde] genade̅. wer] ſw. nû gebringet dâ] brı ̅get dar. 6 stên] da. unde ouch] vn̅. 2 engel. 7–12 in C got ſprıchet dıs leıt ıch dur / dıch· mıne wunde̅ blvͦte̅ mır vıl ſere· wır / lebe̅ ın d wlte ın vrıem mvͦte. dc erbarme / dıch 10 hre got dvr dıner marter ere· dc vnſ / nıht geſcheheals ín wır ſparenſ vf de̅ le/ſte̅ tag· wır ſetze̅ hıe duͥ hohuͥ pfant dıv / nıema̅ dort erloͤſen mag· / 9 Reimpunkt nach dıch fehlt 2 ze jungest: ‚jüngst, zuletzt‘, angesichts des Kontextes scheint hier ‚der Jüngste Tag‘ gemeint 4 iht genâden: genâden (hier im Pl.) ist part. Gen. zu iht, wörtlich also ‚(ein) Etwas an Gnade‘ 5 Aufgrund des zustimmenden jâ erscheint V. 5 als direkte Antwort auf die Frage in V. 4. genâde vil: genâde (hier im Sg.) ist part. Gen. zu vil, wörtlich also ‚(ein) Vieles an Gnade‘ ze rehte: ‚rechtmäßig, gebührend, auf angemessene Weise‘ 6 in einer wirde: Hier ist wohl gemeint, dass vor dem Jüngsten Gericht kein Unterschied zwischen hêrre und kneht gemacht wird, sondern mit demselben Maß gemessen wird, sie befinden sich also in einer wirde, d. h. im gleichen Ansehen. Ich übersetze etwas freier. kneht: Analog zu den Sprüchen II,26,3 und IV,57,1 meint kneht hier eher ‚Diener, Untergebener‘ und weniger ‚Knappe‘, obwohl die Verbindung hêrre – kneht auch auf das Verhältnis ‚Herr, Ritter‘ – ‚Knappe‘ anspielen könnte (vgl. hierzu I,12,6). 7 nâch: mit
HMS 2: I,4 Sch 4
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Dat. (lône) hier ‚gemäß, entsprechend‘ (vgl. BMZ nach II. 4.) 8 vrîem: Hsl. steht entweder in + Akk. (vrẏen) statt Dat. (vgl. Mhd. Gram., § S 67), was im Md. nicht ungewöhnlich ist, oder aber auslautend wurde /m/ > /n/; ich ersetzte die hsl. Form durch die des Dat. Sg. (vrîem) (vgl. auch die Lesart in C). 9 ergân: intr. ‚kommen; zu Ende gehen‘, beide Möglichkeiten erscheinen sinnvoll 12 des: adv. Gen., semantisch Gen. der Relation ‚mit Blick darauf, dafür‘ (vgl. Mhd. Gram., § S 75) afterriuwe: ‚Nachreue, Nachwehe, Betrübnis‘; zur hsl. Form achterruwe vgl. Mhd. Gram., § E 39, 5. und § L 100 Anm. 4
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Übersetzung Ach, damit werden wir geboren und derart muss es zu Ende gehen. Die Engel blasen zum Jüngsten Tag in ihr Horn, so scheint mir, sie verkünden uns mit Worten auf angenehme Weise: ,Auf! Empfangt euren [Lohn! Das ist gut und gerne rechtens.ʻ ,Gibt es dort jedoch Erbarmen?ʻ, so fragt die kummervolle Menge. 5 ,Führwahr, dort gibt es viel Erbarmen, für den, der es jetzt auf gebührende [Weise da zeigt.ʻ Man sieht, (wie) der Herr und auch der Untergebene mit demselben Maß [gemessen werden, (ihrem) Lohn entsprechend, genau so, wie sie es verdient haben, als sie auf Erden in freiem Geiste lebten. Diejenigen schliefen allzu lang, die genau wussten, wie es kommen sollte. 10 Jetzt erwachen sie, oje, in der Obhut des Leids. Dass du so wenig Freude schenkst, Welt, langes Leid und kurze Tage! Dafür gibt es dort keine nachträgliche Reue mehr außer stets endloser Klage.
Inhalt Auch II,22 beschäftigt sich mit dem Jenseits und den Folgen, die dort evtl. für ein sorgloses (vgl. V. 8 vrî ) Leben getragen werden müssen. Bereits der erste Vers gibt diesen Kreislauf von Leben und Sterben vor, wobei nicht ganz klar ist, was genau mit dâ mite (V. 1) gemeint ist. Die Erbsünde? Aber von dieser wird der Sünder durch die Taufe befreit, so dass sie eigentlich nicht bis zum Lebensende bestehen bleibt?294 Jedenfalls wird dieses Ende, der Jüngste Tag und somit das Weltgericht (V. 2 ze jungest), gemäß der biblischen Vorstellung von den Engeln eingeläutet.295 Und auch das in Vers 3 implizierte Prinzip ,Tue Gutes auf Erden, dann widerfährt dir nach dem Tod der gerechte Lohn.‘ (vgl. V. 3 lôn) wird dank eines Dialogs zwischen Engeln und uns (V. 3) bzw. der jâmerlîche[n] schar (V. 4) überaus anschaulich präsentiert. Auf diese Art und Weise gelingt es, anhand epischer Elemente (direkte Rede, Inquit-Formeln [kunt tuon mit rede [vgl. V. 3], vrâgen [vgl. V. 4]]) einen eher abstrakten oder theoretischen Sachverhalt auf spielerische Art zu vermitteln. Gleichzeitig for-
294 Die Frage, worauf sich dâ mite bezieht, wird anhand der Parallelüberlieferung in C, die weiter unten thematisiert wird, zu klären sein. 295 Zum Jüngsten Gericht vgl. Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 16 f. und Gerdes: Beiträge, S. 104 f. und 133 f. Vgl. außerdem ,Inhaltliche Ähnlichkeit mit anderen Texten‘.
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muliert Bruder Wernher einmal mehr die Voraussetzung für eine positive Aufnahme im Jenseits: jâ, dâ ist genâde vil, wer sie ze rehte nû gebringet dâ (V. 5). Für denjenigen, der zu Lebzeiten (nû) Barmherzigkeit zeigt, wartet auch im Jenseits (dâ) viel davon.296 Diese Ausführungen, die an sich schon recht anschaulich sind, werden in den anschließenden drei Versen nochmals konkretisiert, und zwar, wie es häufiger bei Bruder Wernher begegnet, in Form eines Einzelbeispiels.297 In diesem Fall geht es um Herren und Untergebene, die beide am Tag des Jüngsten Gerichts mit demselben Maß gemessen werden – also unabhängig von ihrem irdischen Rang – und deren Lohn298 so ausfällt, wie sie es sich zu Lebzeiten verdient haben (vgl. V. 7). All diejenigen also, die sliefent al ze lange (V. 9), ihre Zeit auf Erden demnach nicht mit Blick auf das himmlische Leben zugebracht, sondern wider besseres Wissen (vgl. V. 9) mit Unbekümmertheit und irdischen Freuden „verschlafen“ haben, erwartet ein böses Erwachen in der pîne huote (V. 10).299 Die Verse 9 f. entfernen sich geschickt wieder von dem Einzelbeispiel aus Vers 6 bis 8 und verallgemeinern Ursache und Wirkung, so dass sich jeder angesprochen fühlen muss, der sein Leben sorglos und nicht vorausschauend führt. Das Ich, das als Einzelperson ohnehin insgesamt zurückhaltend bleibt (vgl. V. 1 wir, V. 2 mich, V. 3 uns), nimmt sich nun völlig aus der Gruppe der Angesprochenen aus, da hier eben nicht alle Gläubigen gemeint sind, sondern speziell diejenigen, die nicht umsichtig leben. Die beiden Schlussverse wechseln nun etwas abrupt das Thema und knüpfen nicht, wie vielleicht zu erwarten gewesen wäre, an Vers 10 an, indem sie genauer auf der pîne huote (V. 10) eingehen. Stattdessen endet die Strophe mit einer (an-)klagenden Apostrophe an die Welt (vgl. V. 11) und der Erkenntnis, dass es unmöglich ist, durch nachträgliche Reue endelôse[r] klage (vgl. V. 12) zu entkommen (vgl. V. 12). Obgleich v. a. Vers 12 inhaltlich an den Gesamtkontext des Spruches anknüpft, erscheinen Vers 11 und 12 doch etwas unvermittelt, speziell die Apostrophe an die Welt, die ja zuvor keine zentrale Rolle spielt (in Vers 8 wird sie einmal genannt) und schon gar nicht explizit negativ konnotiert ist (z. B. als Kummer oder Leid verursachend), wirkt wie eine Art „Fremdkörper“ im Gesamtzusammenhang. 296 Ich gehe davon aus, dass sich das zweite dâ nicht wie das erste auf das Jenseits bezieht, sondern das Diesseits meint. 297 Vgl. z. B. I,15,1–8 oder II,21,6–8. 298 Vgl. lôn V. 3 und 7: Einmal ist vom irdischen Lohn die Rede, das andere Mal vom himmlischen. Dass beide nicht als gleichwertig anzusehen sind, zeigt sich in den Folgen, die sich für diejenigen ergeben, die zu lange geschlafen haben (vgl. V. 9) und deswegen nur auf ihr diesseitiges, nicht jenseitiges Leben bedacht waren. 299 Zum „Sündenschlaf“ (Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 18) vgl. ebd., S. 18 und evtl. auch ,Physiologus‘ (Schönberger, S. 63).
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Die Überlieferung in C weicht beinahe ähnlich stark von der Lesart in J ab, wie dies etwa bei II,21 der Fall ist: Die Verse 1 bis 6 ähneln sich noch weitgehend, allerdings liegen auch hier bereits Abweichungen vor, die, vergleicht man sie mit der Strophe in J, zu deren besserem Verständnis beitragen. Dementsprechend wiederholt zunächst Vers 1 in C dâ mite, so dass es sowohl auf die Geburt als auch auf den Tod bezogen wird. Was nun genau mit dâ mite gemeint ist, erläutert der dritte Vers, der sich in C deutlich von dem in J unterscheidet: dâ müezen wir ze buoze stân der sünden, daz ist reht. Mit dâ mite ist also die Sünde gemeint, mit der wir zunächst geboren werden (also die Erbsünde), und für die wir andererseits auch bis zu unserem Tod Rechenschaft ablegen müssen (nämlich für individuell zu Lebzeiten begangene Sünden). In C bleibt die Aufforderung der Engel, den Lohn zu empfangen, also völlig unerwähnt und stattdessen liefert Vers 3 den Grund dafür, warum in Vers 4 überhaupt nach der Gnade im Jenseits gefragt wird:300 Das Heil der Seele hängt zwar maßgeblich davon ab, ob die Sünden tatsächlich auf Erden verbüßt werden, die Aussicht auf Nachsicht und Erbarmen Gottes (vgl. V. 4 f.) wäre dabei jedoch sicher hilfreich und tröstlich. Anstatt das Beispiel von Herr und Untergebenem, das in Vers 6 einsetzt, in den anschließenden Versen fortzusetzen, folgt im Strophenverlauf von C ab Vers 7 ein komplett anderer Inhalt, der stärker, als dies in J der Fall ist, dem geistlichen Duktus verschrieben bleibt. In den Versen 7 und 8 rückt Gott in den Mittelpunkt, indem er sich an den Rezipienten wendet und in direkter Rede auf das göttliche Opfer und Martyrium hinweist. Durch diesen inhaltlichen Unterschied in Vers 7 und 8 erhält auch Vers 6 eine andere Bedeutung als in J. Wenn Gott sagt, diz leit ich durch dich, mîne wunden bluoten mir vil sêre (V. 7 f.), dann mag sich die Apostrophe dieser Verse entweder direkt an das Publikum wenden oder aber vielleicht auch dem Menschen an sich gelten, der in Vers 6 wiederum durch Herr und Untergebener verkörpert wird. Dass hier zwei Personen genannt werden, die anschließende Apostrophe jedoch im Singular steht, könnte man dann evtl. so interpretieren, dass mit hêrre und kneht zwei Personen unterschiedlichen gesellschaftlichen Ranges stellvertretend für alle Menschen stehen sollen, also: diz leit ich durch dich, hêrre, unt durch dich, kneht. Diese alle Menschen umfassende Ausrichtung bestätigt die 1. Plural in Vers 9 (in J: 3. Plural): Alle Menschen leben in vrîem muote.301 Und angesichts dieser Sorglosigkeit wird Gott um Erbarmen gebeten (vgl. V. 9),
300 Vgl. Gerdes: Beiträge, S. 105 f. 301 Im Unterschied zu J, in dem der vrîe muote eher neutral zu verstehen ist, hat er in C einen eher negativen Unterton: Die Unbekümmert- und Sorgenlosigkeit (vielleicht sogar Zuchtlosigkeit), mit der der Mensch sein Leben zubringt, möge Gott erbarmen.
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damit es uns nicht so ergehen mag wie in. Mit in ist, laut Gerdes, die jâmerlîche schar (vgl. V. 4) gemeint,302 die aufgrund ihres wenig gottgefälligen Lebens beim Jüngsten Gericht auf die Gnade Gottes hoffen muss (vgl. V. 5). Denn anstatt sich im Diesseits etwa durch Frömmigkeit darauf vorzubereiten, schiebt der Mensch (vgl. V. 11 wir) es so lange auf, (vgl. V. 11 ûf den lesten tac), bis es zu spät ist. Und dann nützen ihm all die Pfänder, die er hie gesetzt hat (gemeint sind wohl irdische Besitztümer, ob nun ideelle wie Ansehen und Macht oder materielle wie Reichtum), dort herzlich wenig, da er sie nicht auszulösen vermag – im Jenseits wird mit anderer „Währung“ bezahlt.303 Wirft man einen vergleichenden Blick auf die gesamte Strophe in C und J, so besitzen beide eine klar lehrhafte Ausrichtung: Der Rezipient soll auch durch II,22 zu einer frommen Lebensführung ermahnt werden. Dennoch gehen die beiden Lesarten dabei unterschiedlich vor: J baut v. a. auf die Wirkung des „konkreten“ Einzelbeispiels (vgl. V. 6–8) und im Anschluss daran auf das wieder allgemeiner gehaltene, eindringliche Bild des Verschlafens der Vorbereitung auf das Jenseits (vgl. V. 9 f.). Die Schlussverse in J fügen sich zugegebenermaßen nicht ganz so nahtlos in den Kontext wie in C, da sie z. T. inhaltlich anders ausgerichtet sind. Ganz anders C: Hier wird auf den Einsatz eines Beispiels verzichtet, stattdessen soll die Erinnerung an Gottes Marter die gewünschte Wirkung beim Zuhörer erzielen. Auch das abschließende Bild des Pfandes, das nicht ausgelöst werden kann, dient didaktischen Zwecken. Gerade seine Plastizität lässt keine Missverständnisse aufseiten des Rezipienten zu und liefert als Schlusspunkt des Spruches einen deutlichen Gedankenanstoß. Zuletzt sei noch auf den Gebrauch von direkter Rede und Inquit-Formel in C aufmerksam gemacht: Dadurch, dass beide auch in Vers 7 f. (zusammen mit der Anrede an Gott in Vers 9 f.) verwendet werden, erscheint der Spruch in C auch mit Blick auf die Wahl der Darstellungsmittel insgesamt kohärenter, da sich narrative Elemente auf die gesamte Strophe verteilen und nicht nur auf den Aufgesang, wie es in J der Fall ist.
302 Vgl. Gerdes: Beiträge, S. 106. 303 Henry Doerks hat zu Recht auf die Parallele hingewiesen, die II,22,11 f. aus C mit II,41,11 f., der unikal in J überliefert ist, aufweist (vgl. Doerks, S. 11 und Leitzmann, S. 160). Demnach haben beide Sprüche in den Schlussversen das Bild der hohen Pfänder gemein, diu nieman dort er-/gelœsen mac. Die Lesarten sind im Wortlaut beinahe identisch, der übrige Inhalt gleicht II,21 aus C jedoch nur insofern, als ebenfalls die Frage von Diesseits und Jenseits behandelt wird. Zum Bild des Pfandes, das nicht ausgelöst werden kann, vgl. Gerdes: Beiträge, S. 107.
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Historischer Hintergrund Einmal mehr plädieren Meyer und Lamey (und wohl auch Doerks) dafür, dass der Spruch erst in Wernhers fortgeschrittenem Alter entstanden sei,304 was m. E. nicht konkret am Text belegt werden kann. Schönbach weist lediglich auf die vermeintliche Datierung der anderen hin, kommentiert diese jedoch nicht weiter.305
Inhaltliche Ähnlichkeit mit anderen Texten vgl. zu Vers 2: Offb 8,1 f.; 8,7; 8,10; 8,12; Mt 24,31; 1. Kor 15,52 vgl. zu Vers 4: Walther L 124,18 (hier V. 6): nie kristen man gesach sô jæmerlîche schar. (Schweikle: Walther, Bd. 2, S. 452) vgl. zu Vers 6: Walther L 22,3 (hier V. 10): wer kan den hêrren von dem knehte gescheiden, (Schweikle: Walther, Bd. 1, S. 244) vgl. zu Vers 8 in C: Walther L 37,4 (hier V. 2): die got durch úns leit únde solt dîn herze in riuwe senken, (Schweikle: Walther, Bd. 1, S. 204) vgl. zu Vers 11 f. in C: Walther L 16,15 (hier V. 4 und 7): […] an dem lesten tage. (V. 4); dórt, dâ er pfánt noch bürge hât. (V. 7) (Schweikle: Walther, Bd. 2, S. 474) evtl. auch Walther L 100,24 (hier V. 9 f.): sô wil er danne ein wette hân, sô jener niht vergelten mag. (Schweikle: Walther, Bd. 2, S. 224)
Metrik A8ma A8ma A8mb A8mc 5 A8mc A8mb A4md 2A 6 k e
Ôwe, dâ míte wir sínt gebórn undẹ álsô múoz ez énden sích. die éngele blasent uf ir hórn ze júngest, álsô dúnket mích, sie túont uns kúnt mit réde: ,wol uf! emphant iuwer lon! daz íst wol réht.ʻ ,ist áber íht genaden da?ʻ sô vraget diu jamerlche schár.
nâch lonẹ also sie ẹz verdíenet han, dô sie ín der wérlde lébẹten in vrem múotè.
304 Vgl. Meyer, S. 105; Lamey, S. 35; Doerks, S. 11. 305 Vgl. Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 17.
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10
A8md A6ke A 8 2m f 2A 8 2m f
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soldẹ nû wáchent síe, ôwe, in der pne húotè. daz du sô ltzel vréude gst, werlt, lángiu léit unde kúrze táge!
Literatur Doerks, S. 11 • Gerdes: Beiträge, S. 24 Anm. 2, 37 Anm. 6, 91 und Anm. 5, 104–107, 110 Anm. 3, 126 Anm. 5, 133 f., 168 Anm. 2, 174 und Anm. 7, 178 und Anm. 3, 179 und Anm. 4, 181 und Anm. 4, 184 • HMS 4, S. 523 • Kemetmüller, S. 5, 6, 13, 22, 41, 209 • Lamey, S. 8, 19, 35, 37, 38 • Leitzmann, S. 160 • Meyer, S. 105 • Moser/Müller-Blattau, S. 74, 81 • Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 16–18 • Vetter, S. 245.
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23. Got vuͦr der werlde míſſetat. Von dorne er eẏne kronen truͦc. (J22) Got vuͦ r der werlde míſſetat. / Von dorne er eẏne kronen truͦ c. / Do ın dıe vngetoufte dıet mít nệgelen (?) / an eín krutze ſluͦ c. Er keẏſer ır ſvͦlt / danken dem der vch (ſo ho) gehohet hat. / Sıt ır der krıſten kronen tragen. / Den got tzvͦ troſte goz ſín bluͦ t. 5 Er // keıſer denket ouch dar an. Vnde / waz got anders mít v̎. tuͦ t. Nv rıch/tent vnder der kronen ſo daz uwer / ſele werde rat Horent ır dıe armen / ſchrıen owe. Von vngerıchte wıe / tzẏmet daz deme rıche Vvaz ob vıl / lıchte geluckes rat an ſulhen díngen / ſtılle ſte. 10 So vorchte ıch daz dív ſelde / vch gar vntwíche Ich horte e̋. tzvͦ / pulle da groz wunder von gerıchte / ſagen. Nv rıchtent hıe daz wırt v̎ / lıeb. Swenne vch dıe vıere hín tzvͦ / grabe tragen
2 Das erste 〈e〉 bei negelen besitzt ein übergeschriebenes Zeichen, das optisch dem Apex ähnelt; evtl. könnte es sich dabei aber auch um ein rundes (?) 〈a〉 handeln, das unten nicht ganz geschlossen ist. Darüber hinaus steht unterhalb des 〈e〉 ein Punkt, der m. E. jedoch nur dann die Funktion eines Elisionspunktes besitzen kann, wenn das Übergeschriebene tatsächlich ein 〈a〉 ist, durch welches das 〈e〉 ersetzt werden soll. 3 ſo ho interlinear nachgetragen
23. Got vuͦr der werlde míſſetat. Von dorne er ey˙ne kronen truͦc.
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Got vür der werlde missetât von dorne er eine krônen truoc, dô in diu ungetoufte diet mit negelen an ein kriuze sluoc. her keiser, ir sult danken dem, der iuch sô hô gehœhet hât, sît ir der kristen krônen traget, den got ze trôste gôz sîn bluot. 5 her keiser, denket ouch dar an unde waz got anders mit iu tuot. nû rihtet under der krônen sô, daz iuwer sêle werde rât. hœret ir die armen schrîen ,ôwêʻ von ungerihte? wie zimet daz deme rîche? waz, ob vil lîhte gelückes rat an solhen dingen stille stê? 10 sô vürhte ich, daz diu sælde iuch gar entwîche. ich hôrte ê ze Pülle dâ grôz wunder von gerihte sagen, nû rihtet hie, daz wirt iu liep, swenne iuch diu viere hin ze grabe tragen.
22 J, 17 [16] C 1 vür] dvr. von dorne er eine krônen] ein duͥrnín krone. 2 ein] dc. 3 her keıſer níget ım ſıt er uͥch ſo gehoͤhet hat. 4 krônen] krone. got] er. 5 ſo mket was ır ſelde̅ habt vn̅ wc er wunders dur uͥch tuͦt. 6 nû rihtet under der krônen sô] ſo rıchtet oͮ ch mıt d krone. iuwer] d. 8 zimet] ſtat. 2 nageln.
7 we.
8 de̅.
9–12 in C ſo v / fuͥrhte ıch dc geluͥkes rat· noch vor de̅ rıche / ſtılle ſte· 10 ır rıhtet hıe ſo tuͦt ır ſeleklıche· / ſıt dc wır alle hoͤre̅ vo̅ gerıhte dc zepuͥlle / ſage̅· ſo rıhtet oͮch hıe dc wırt uͥ lıeb e dc / uͥch dıe vıere zem grabe trage̅· / 1 er: Schönbach liest êr und meint, „J hatte sicher nur das Pronomen er verstanden“ (Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 33), was mir jedoch sinnvoller erscheint als das Subst. êr(e). 4 trôst: Könnte hier statt ‚Trost, Zuversicht‘ auch der Schutz der Christen durch Gott gemeint sein? tragen: Die hsl. Form tragen der 2. Pl. Ind. Präs. (regulär traget) deutet auf mnd. Einfluss hin (vgl. Mnd. Gram., § 419). 5 anders: hier ‚sonst‘ 6 rât: hier ‚Abhilfe, Befreiung von etwas‘, rât werden: ‚(ab-)helfen, befreien‘ mit Gen. (iuwer sêle) 9 gelückes rat: ‚das sich wälzende Rad des Glücks‘ 10 sælde: Bedeutet eigentlich mehr als nur ‚Glück‘, eher ‚Segen, Heil, Glückseligkeit‘, allerdings scheint es mir hier synonym zu gelücke (‚Glück, Geschick, Zufall‘) in V. 9 gebraucht. entwîchen: mit Dat. (iuch) ‚entweichen‘, allgem. ‚fortgehen, sich entfernen, im Stich lassen‘ 11 wunder: Aufgrund des attr. grôz übersetze ich hier ‚Großartiges‘. 12 tragen: Dis hsl. Form tragen (regulär tragent) geht entweder auf Reinzwang zurück (sagen : tragen) oder/und ist als md. und/oder mnd. Form der 3. Pl. Ind. Präs. zu sehen (vgl. Mhd. Gram., § M 70 Anm. 8 und Mnd. Gram., § 419).
HMS 2: I,10 Sch 10
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Übersetzung Gott trug für das Vergehen der Welt eine Dornenkrone, als ihn das ungetaufte Volk mit Nägeln an ein Kreuz schlug. Herr Kaiser, Ihr sollt demjenigen danken, der Euch so hoch erhöht hat, weil Ihr die Krone der Christen tragt, für die Gott zum Trost sein Blut vergoss. 5 Herr Kaiser, bedenkt das auch und was Gott sonst mit Euch tut. Jetzt sprecht unter der Krone derart Recht, dass Eurer Seele geholfen werden [wird. Hört ihr die Armen ,achʻ schreien aufgrund von Ungerechtigkeit? Wie steht das dem Reich an? Was, wenn das Rad des Glücks durch solche Dinge sehr leicht stillsteht? 10 Ich fürchte dann, dass Euch das Glück komplett im Stich lässt. Ich hörte früher dort in Apulien Großartiges über das Gericht berichten, jetzt verschafft hier Recht, es wird für Euch angenehm, wann auch immer [Euch die Vier hin zu Grabe tragen.
Inhalt Ausgangspunkt von II,23 ist der Kreuzestod Gottes bzw. Jesu, der sich zur Rettung des Menschen (vgl. V. 1 vür der werlde missetât) geopfert hat. Dieses „ultimative Opfer“, das in den ersten beiden Versen anhand von Signalwörtern wie Dornenkrone (vgl. V. 1), ungetoufte diet (V. 2), negelen (V. 2) oder kriuze (V. 2) knapp, aber treffend geschildert wird, dient dazu, Kaiser Friedrich II. an Demut und Dankbarkeit gegenüber Gott zu erinnern und zugleich an seine Pflicht, für Gerechtigkeit im Reich zu sorgen. Denn „[s]eit der Aufhebung der unmittelbaren Gottesherrschaft durch den Sündenfall kommt den Herrschern die Aufgabe zu, unter den Menschen Recht und Frieden zu wahren“306. Der Spruch folgt dabei einem genau strukturierten Aufbau, bei dem ein Abschnitt auf den nächsten aufbaut, so dass sie argumentativ ineinandergreifen. Die Grundlage bilden die Verse 1 und 2, die die Ermahnung des Kaisers enthalten. Daran schließen Vers 3 bis 6 an, in denen der Kaiser dazu aufgefordert wird, dankbar (vgl. V. 3 ir sult danken dem) für die gesellschaftlich herausragende Position zu sein, mit der Gott ihn bedacht hat (vgl. V. 3) – immerhin trägt er der kristen krônen (V. 4), für die Gott sein Blut vergoss (vgl. V. 4). Erneut wird auf den Kreuzestod verwiesen, es scheint beinahe so, als würde dieser als eine Art „Druckmittel“ gegen den Kaiser eingesetzt. Zu dieser Auslegung 306 Gerdes: Beiträge, S. 41. Vgl. auch Gerdes: Zeitgeschichte, S. 140.
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passt die ausdrückliche Ermahnung in Vers 5, das zuvor Gesagte zu bedenken. Darüber hinaus warnt der Vers vor möglichen Konsequenzen, mit denen der Kaiser andernfalls zu rechnen hat (vgl. V. 5). Nach dem Hinweis, dass der Kaiser seine Macht letztlich Gott verdanke und insofern demütig bleiben solle, fordert Vers 6 den Kaiser dazu auf, seinen Amtspflichten nachzukommen, nämlich für Recht und Ordnung zu sorgen. Diese Forderung geht (indirekt) mit einer Ermahnung, wenn nicht gar Warnung, einher: Indem das Seelenheil des Kaisers an die Ausübung seiner Pflicht(en) geknüpft wird, impliziert Vers 6 zugleich, dass der Seele nicht geholfen werden kann, wenn der Kaiser nichts an seiner Handlungsweise ändert. Bis hierher erscheint der Spruch sehr kohärent, was z. B. Wortwiederholungen belegen, die über den gesamten Aufgesang verteilt sind. So wird an drei Stellen das Lexem krône verwendet (vgl. V. 1, 4 und 6),307 ebenso got (vgl. V. 1, 4 und 5). Die Apostrophe des Kaisers tritt besonders deutlich in der Anapher her keiser (V. 3 und 5) hervor, erscheint aber auch in anderer Form in der Mehrzahl der Verse (vgl. V. 3 ir, iuch, V. 4 ir, V. 5 iu, V. 6 iuwer, V. 7 ir, V. 10 iuch, V. 12 iu, iuch). Verstärkt wird die direkte Anrede des Kaisers natürlich noch durch den regelmäßigen Gebrauch des Imperativs (vgl. V. 3 sult, V. 5 denket, V. 6 rihtet, V. 7 hœret, V. 12 rihtet), wodurch gleichzeitig der Sprecher einen sehr selbstbewussten Eindruck erweckt. In den Versen des Aufgesangs werden unterschiedliche Methoden eingesetzt, um Einfluss auf den Kaiser und sein Handeln auszuüben: − Vers 1 f.: Vor-Augen-Führen des Kreuzestods − Vers 2 f.: Erinnerung an Gottes Macht (und das menschliche Ausgeliefertsein), die dem Menschen den irdischen Platz zuweist (Demut und Dankbarkeit) − Vers 5: Ausweiten der göttlichen Macht auf Zukünftiges, evtl. gar Jenseitiges − Vers 6: Hinweis auf das persönliche Seelenheil und dessen Abhängigkeit vom irdischen Handeln Diesem Muster folgen auch die Verse des Abgesangs: Den Anfang macht in Vers 7 f. der Hinweis auf die armen (V. 7), die angesichts der Ungerechtigkeit (auf deutschem Boden) aufschreien. Besondere Aus307 Während in Vers 1 von der Dornenkrone die Rede ist, die mit Gott/Jesus in Verbindung gebracht wird und negativ konnotiert ist, meint die krône in Vers 4 und auch Vers 6 die weltliche Macht, die der Kaiser innehat. Speziell Vers 6 impliziert hierbei eine positive Auslegung der kaiserlichen Macht, indem dem Kaiser die Fähigkeit zur positiven Veränderung und Gestaltung zugestanden wird. Vgl. dazu auch Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 33 (speziell zur Formulierung under der krônen S. 34). Vgl. außerdem Gerdes: Beiträge, S. 40, 74, 200.
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drucksstärke erhalten die beiden Verse nicht nur dadurch, dass sie anschaulich auf das Leid der armen aufmerksam machen, indem diesen ein ôwê als direkte Rede in den Mund gelegt wird, sondern vor allen Dingen auch durch die Wahl der Frageform. Dadurch wird der vorwurfsvolle und zugleich fordernde Unterton zusätzlich unterstrichen. Zudem bewirkt sie gerade mit Blick auf Vers 8 (wie zimet daz deme rîche?), dass hier nicht nur eine Tatsache festgehalten wird (etwa: daz zimet deme rîche niht), sondern die Frageform impliziert zum einen, dass es dem Reich nicht gut ansteht, zum anderen hat sie aufgrund der Verwunderung oder besser Entrüstung, die in ihr mitschwingt, Appellcharakter: ,Wie steht das dem Reich an?! Wie steht das dem Kaiser, der ja das Reich verkörpert, an?! Tut etwas!‘ Das Urteil über den gegenwärtigen Zustand im Reich fällt also nicht gut aus. Auf diesem Umstand bauen wiederum die anschließenden zwei Verse auf. Sie enthalten Warnung und Drohung zugleich: Das unrechtmäßige Verhalten des Kaisers könnte dazu führen, dass das Rad des Glücks (Rota Fortunae) leicht zum Stillstand kommt (vgl. V. 9), und wenn dies geschieht, dann ist es wahrscheinlich, dass den Kaiser die sælde verlässt (vgl. V. 10).308 An diesen Versen fallen gleich mehrere Dinge auf: Zunächst einmal wird in Vers 9 erneut die Frageform eingesetzt, wodurch die Drohung bzw. Warnung zwar unmissverständlich ist, zugleich aber gewissermaßen „getarnt“ als Frage daherkommt. Des Weiteren sticht das Sprecher-Ich heraus, das hier erstmals offen in Erscheinung tritt, und zwar – wie es die vorausgehenden Verse bereits gezeigt haben – auf selbstbewusste Art und Weise: Das Ich spricht den Kaiser direkt an und sagt ihm das Ende seines Glücks309 voraus, falls sich an seinem Auftreten nichts ändern sollte. Diese Prophezeiung erinnert an Vers 6, in dem der Kaiser dazu aufgefordert wird, derart Recht zu sprechen, dass seine Seele gerettet wird. sêle und sælde des Kaisers stehen also auf dem Spiel.
308 Vgl. zu dem Bild des Glücksrads Schmidt-Wiegand, S. 199 f., 201 und Anm. 29. Wernher verwendet es außerdem noch in II,39,11. 309 Interessant ist, dass in Vers 9 f. zwei unterschiedliche Lexeme für ‚Glück‘ gewählt wurden: Vers 9 gelücke, Vers 10 sælde. Obgleich beide Wörter in ihrer Grundbedeutung nicht komplett identisch sind (gelücke: ‚Glück, Geschick, Zufall‘, sælde: ‚Segen, Heil, Glück [von Gott]‘), gehe ich im vorliegenden Fall davon aus, dass sie weitgehend synonym zu verstehen sind. Im einen Fall geht es um das Glück an sich, veranschaulicht im Bild des Glücksrads (vgl. dazu Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 34 und Gerdes: Beiträge, S. 44 Anm. 1), „eine im mittelalter gewöhnliche vorstellung“ (BMZ gelücke mit zahlreichen Belegen für diesen Gebrauch), im anderen um das Glück eines Menschen (sælde wird häufig in Bezug auf Personen verwendet, vgl. BMZ sælde). Ingrid Strasser interpretiert die sælde vor dem Hintergrund der Position des Kaisers als „,passive‘, göttliche sælde […] und zum zweiten als ,aktive‘, in der Wahrung seines Amtes errungene sælde“ (Strasser, S. 243).
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Die beiden Schlussverse liefern abschließend – neben dem Leid der armen aus Vers 7 – eine weitere Begründung dafür, warum die (An-)Klage des Sprechers über die Zustände im deutschsprachigen Raum und somit der vorwurfsvolle Ton des Ich gegenüber dem Kaiser gerechtfertigt sind: Während in Apulien die Rechtsprechung großartig zu funktionieren scheint (vgl. V. 11), herrscht auf deutschem Boden (vgl. V. 12 hie) Ungerechtigkeit (vgl. V. 7 f.).310 Spätestens jetzt dürfte unmissverständlich klar sein, dass Recht und Unrecht sowie die Rolle, die der Kaiser dabei spielt, im Zentrum des Spruches stehen, wird doch über den gesamten Abgesang hinweg mit unterschiedlichen Lexemen auf diesen Sachverhalt angespielt (vgl. V. 6 rihtet, V. 8 ungerihte [= deutsches Gebiet], V. 11 gerihte [= Apulien], V. 2 rihtet). Der Schlussvers schließlich ähnelt Vers 6 und 10, indem auch er in einer Mischung aus Warnung und Prophezeiung versucht, den Kaiser zum angemessenen Handeln zu animieren, und zwar dadurch, dass dessen persönliches Wohlbefinden in die Waagschale geworfen wird. In dieser Aufforderung schwingt das bereits bekannte, zentrale Thema Bruder Wernhers mit: Die Vorbereitung im Diesseits auf das Leben nach dem Tod. Eine fromme, demütige und gerechte Lebensweise auf Erden wirt iu liep (V. 12), dafür wartet im Jenseits also der entsprechende Lohn. „Vom Schluß her zeigt sich, daß in der ‚sælde‘ auch die Bedeutung der himmlischen Seligkeit angelegt war.“311 Aber wer sind diu viere (V. 12), von denen im Schlusvers die Rede ist? Sind darunter, ganz praktisch, tatsächlich nur die vier Sargträger zu verstehen oder steckt doch mehr dahinter? Auch die Sekundärliteratur hilft nicht bei der Klärung dieser Frage.312 Des Weiteren stellt sich die Frage, ob die Aussage des Sprechers, ich hôrte ê ze Pülle (V. 11), wörtlich zu verstehen ist, also ob das Ich tatsächlich selbst in Apulien (ze Pülle) war? Eine Unterstellung, die m. E. mit Zurückhaltung zu behandeln ist. ze meint hier wohl eher ‚über‘ statt ‚in, zu‘, also: ‚ich hörte früher über Apulien‘. Dass „Zeugenaussagen“ wie ich hôrte, ich sach o. Ä. in der Sangspruchdichtung (aber auch in anderen Gattungen) ein gern gewähltes Mittel sind, um die Glaubwürdigkeit und Wahrhaftigkeit des Gesagten zu unterstreichen, spielt mit Sicherheit auch im vorliegenden Fall bzgl. der Frage, ob die Stelle tatsächlich biografisch ausgedeutet werden kann, eine zentrale Rolle. Durch die Wahl der Formulierung ich hôrte ê […] sagen (etwa im Ver310 Joachim Heinzle sieht Wernher hier beinahe als eine Art Sprachrohr: „Wenn er den Kaiser auffordert, im Land seines Richteramtes zu walten […], dann klingt das wie ein Manifest der Landherren, die tatsächlich 1236 Klage beim Kaiser erhoben und damit dazu beigetragen hatten, daß dem Herzog der Prozeß gemacht wurde.“ (Heinzle, S. 18) 311 Gerdes: Beiträge, S. 46. 312 Vgl. Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 34.
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gleich zur allgemeineren Form man seit) wird möglichen Zweifeln am Wahrheitsgehalt von vornherein entgegengewirkt, die Wendung ist also eher als rhetorisches Mittel zu verstehen, weniger als konkreter Hinweis auf Leben und Person des Dichters. Die Parallelüberlieferung fällt erneut durch deutliche Unterschiede im Vergleich zu J auf, wobei diese gegen Ende des Spruches zunehmen. Ich gehe hier exemplarisch auf ein paar wenige, offensichtliche Varianten ein: Tendenziell tritt in C m. E. das Ich weniger stark in den Vordergrund, als dies in J der Fall ist. Am augenscheinlichsten ist dies an Vers 11 zu erkennen: Statt ich hôrte ê ze Pülle heißt es dort wir alle hœren […] ze Pülle. Der Sprecher tritt in C also als Einzelperson zurück und „versteckt“ sich mit seiner Formulierung im Kollektiv. Die Kritik, die mit Vers 11 f. an Friedrichs II. Amtsführung einhergeht, wird also, anders als in J, aufgrund der 1. Plural und des Lexems alle als allgemein bekannt ausgegeben, wodurch eine größere Wirkung erzielt werden soll: ,Wir wissen alle, wie es in Apulien mit der Gerechtigkeit steht, deswegen handelt auch hier so.‘ Ein weiterer wesentlicher Unterschied liegt in Vers 5 vor. In C lautet er: sô merket, waz ir sælden habt unt waz er wunders durch iuch tuot. Hier ist demnach, im Gegensatz zu J, nicht von demjenigen die Rede, was Gott mit dem Kaiser anstellt, falls dieser sein Verhalten nicht bessert (vgl. V. 5 in J waz got anders mit iuch tuot), sondern davon, was Gott durch iuch tuot, was Gott also um des Kaisers willen tut. C scheint weniger drohend oder warnend, als es bei J den Eindruck macht. Als letztes Beispiel für die Varianz, die in den Lesarten von J und C vorliegt, ist auf Vers 12 hinzuweisen: Während in J als Anreiz zur besseren Amtsführung eine entsprechend angenehme Entlohnung im Jenseits in Aussicht gestellt wird (vgl. V. 12 in J nû rihtet hie, daz wirt iu liep, swenne […]), bezieht sich diese Prophezeiung in C auf das Diesseits: Nicht swenne der Kaiser zu Grabe getragen wird, sondern ê dies geschieht, wird es ihm ggf. gut ergehen. Schönbach legt die unterschiedliche Lesart beider Handschriften etwas anders aus: „C meint das persönliche Gericht unmittelbar nach dem Tode, J überhaupt das Schicksal im Jenseits.“313 Als weitere signifikante Varianten seien genannt: − Vers 3: nîgen statt danken − Vers 9: Statt der allgemeineren Formulierung in J schreibt C sô vürhte ich, daz […]. Übrigens die einzige Stelle in C, in der der Sprecher als Einzelperson auftritt. 313 Ebd.
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Vers 10: Der Inhalt weicht vollständig von J ab: Das einleitende sô vürhte ich steht in C in Vers 9 und obwohl beide Lesarten aufgrund ihres verschiedenen Inhalts nur schwer zu vergleichen sind, fällt auf, dass C eine positivere Ausrichtung besitzt (,Tut Ihr dies, widerfährt Euch sælecheit.‘), wohingegen J nicht den Gewinn, sondern den Verlust der sælde betont.314
Historischer Hintergrund Der Spruch ist vor dem Hintergrund der Reformmaßnahmen im Königreich Sizilien zu sehen, die für Kaiser Friedrich II. eine zentrale Rolle eingenommen haben. Im Zuge dieser Reformen treten im September 1231 die Konstitutionen von Melfi in Kraft, die „erste große Rechtskodifikation des Abendlandes überhaupt“315. Im Zentrum dieser Neuordnung steht neben „den Zuständigkeiten und Aufgaben der einzelnen Instanzen, den fachlichen Fähigkeiten sowie der Integrität und Unbestechlichkeit der dort Tätigen, den Appellationsmöglichkeiten, Prozeßfristen oder Beweismitteln“316 das Bestreben, „[s]o vollkommen wie irgend möglich [sicherzustellen], daß jeder Bewohner des Regnums sein Recht erhielt“317. Diese juristische Umgestaltung wird also 1231 in Kraft gesetzt, dennoch ist Schönbach – und im Anschluss an ihn Vetter318 – zuzustimmen, wenn er darauf hinweist, dass „die gesicherten Rechtszustände Siziliens als Folge dieser Gesetzgebung schon wohl bekannt gewesen sein [müssen], als Wernher den Kaiser aufforderte, auch in Deutschland […] gutes Recht und Gericht zu schaffen“319. Das bedeutet, dass der Spruch nicht, wie Meyer, Lamey und evtl. auch Doerks320 vorschlagen, „1230 oder 1231“321 bzw. „[i]m August des Jahres 1231“322 entstanden sein kann, denn zu diesem Zeitpunkt hatte das reformierte Gerichtswesen noch keine Möglichkeit, sich derart zu bewähren, dass ihm sein 314 Zur Bedeutung von sælecheit und sælde für den Herrscher schreibt Gerdes, dass die „,felicitas‘ des Kaisers […] von dessen ,tugent‘ abhängt“ (Gerdes: Beiträge, S. 44), d. h. Glück und Seelenheil des Herrschers werden maßgeblich von der Art der Amtsausübung beeinflusst, worauf die Verse 5, 9 und 10 hinweisen. Vgl. auch Gerdes: Zeitgeschichte, S. 142. 315 Gebhardt, Bd. 6, S. 234. 316 Ebd. 317 Ebd. 318 Vgl. Vetter, S. 245. 319 Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 35. 320 Vgl. Doerks, S. 5. 321 Meyer, S. 91. 322 Lamey, S. 23.
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guter Ruf bis nach Deutschland vorauseilen konnte. Ich schließe mich der Datierung von Schönbach, Vetter, Scholz und Müller an, die für einen Abfassungszeitpunkt zu Beginn 1235 plädieren.323 Da Kaiser Friedrich II. im Mai 1235 erstmals seit August 1220 wieder deutschen Boden betritt,324 der Spruch aber andererseits impliziert, „daß der kaiser schon lange nicht mehr in Deutschland war und erst im begriffe ist zu kommen“,325 gehe ich, analog zu Hans Vetter326, davon aus, dass der Spruch nicht nach Mai 1235 (Rückkehr des Kaisers nach Deutschland) entstanden sein kann.
Inhaltliche Ähnlichkeit mit anderen Texten vgl. zu Vers 2: Walther L 37,4 (hier V. 5): man sluoc im drîe nagel dur hende und ouch dur füeze. (Schweikle: Walther, Bd. 1, S. 204) Walther L 77,4 (hier V. 14): daz wir die diet verlisten. (Schweikle: Walther, Bd. 2, S. 460) vgl. zu Vers 3: Walther L 37,4 (hier V. 1 f.): Sünder, du solt an die grôzen nôt gedenken, die got durch úns leit únde solt dîn herze in riuwe senken, (Schweikle: Walther, Bd. 1, S. 204) vgl. zu Vers 9: Reinmar von Zweter 91: Gelückes rat ist sinewel im loufet maneger nâch, doch ist ez vor im gar ze snel unt lât sich doch erloufen williclîch, den ez beswîchen wil. Swer stîget ûf Gelückes rat, 323 Schönbach für „Anfang bis Mitte 1235“ (Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 36); Vetter für „vor den mai 1235“ (Vetter, S. 246); Scholz für „vor Mai 1235“ (Scholz: Reichsidee, S. 104) und Müller für „vor dem Erlaß des Mainzer Landfriedens (August 1235)“ (Müller: politische Lyrik, S. 91 f.). Auch Kemetmüller tendiert zu dieser Datierung (vgl. Kemetmüller, S. 29). Gent bleibt etwas unspezifischer: „Er [Bruder Wernher, Anm. d. Verf.] fordert den Kaiser schon zum Richteramt auf (Str. 10), bevor der Kaiser nach Deutschland gekommen ist“ (Gent, S. 104). Schmidt-Wiegand führt neben den Konstitutionen von Melfi ebenfalls den Mainzer Reichslandfrieden (August 1235) als Entstehungshintergrund an. Den Spruch in die Zeit von 1235 bis 1237 zu datieren, hält sie jedoch für „problematisch“ (Schmidt-Wiegand, S. 202), erläutert dies jedoch nicht näher. 324 Vgl. Gebhardt, Bd. 6, S. 242. 325 Vetter, S. 245 f. 326 Vgl. ebd., S. 246. Brunner setzt im Vergleich dazu später an und scheint von 1236/37 auszugehen (vgl. Brunner: Bruder Wernher, Sp. 899).
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der darf wol guoter sinne, wie er behalte Gelückes stat, deiz under im iht wenke: wand ir daz rat hin ab im zucket vil. Die müezen danne sîgen mit unwerde, wan si mit schanden ligen ûf der erde: Gelücke wenket unbesorget, ez gît vil manegem ê der zît unt nimt hin wider swaz ez gît: ez tœret den, swem ez ze vil geborget. (Roethe, S. 456) Reinmar von Zweter 246: Ich sach gemâlt an einer want die aller schœnsten vrouwen, gelückes rat stuont an ir hant: si treip ez umbe geswinde, alsô ez si selben dûhte guot. Viere ich an dem rade sach: der eine der saz dar ûf, der was ein künec als er verjach; der zweite ûf steic behende: ,nû bin ouch ich ein künec hôch gemuot.ʻ Der dritte der sprach: [,]ich mac niht vil geschallen, ich was ein künec unt bin her abe gevallenʻ. (Roethe, S. 531) vgl. zu Vers 7 und 12: Walther L 36,11 (V. 8): minnet got und rihtet, swaz die armen klagen, (Schweikle: Walther, Bd. 1, S. 200) Sigeher (Brodt 7, V. 9): so minnet got unt rihtet swaz die wîsen klagen (Brodt, S. 92)
Metrik A8ma A8ma A8mb A8mc 5 A8mc A8mb 2A 4 m d A6ke A8md 10 A 6 k e A 8 2m f A 8 2m f
dornẹ dô ín diu úngetòufte díet mit négelen án ein kríuze slúoc. sît ír der krísten kronen tráget, den gót ze troste goz sîn blúot. her kéiser, dénket óuch dar án unde wáz got ánders mít iu túot. nû ríhtet únder der kronen so, daz íuwer sele wérde rat. hœret ír die ármen schren ,ôweʻ von úngerìhte? wie zímet dáz deme rchè? waz, ób vil lhte gelckes rát an sólhen díngen stílle ste? vürhtẹ, sældẹ nû ríhtet híe, daz wírt iu líep, swennẹ íuch diu víerẹ hin ze grábe trágen
Literatur Brunner: Bruder Wernher, Sp. 899 • Doerks, S. 5 • Edwards, S. 312 f. • Gent, S. 104 f. • Gerdes: Beiträge, S. 34, 40–46, 47 Anm. 3, 74 f., 76, 149 und Anm. 2, 174 und
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Anm. 5, 177 und Anm. 1, 179 und Anm. 4, 181 und Anm. 3, 200, 208, 209 f. • Gerdes: Zeitgeschichte, S. 139–143, 153 • HMS 4, S. 516 • Heinzle, S. 18 • Kemetmüller, S. 5, 23, 27–29, 211 • Lamey, S. 23, 26, 31 • Leitzmann, S. 161 • Meyer, S. 91 • Moser/ Müller-Blattau, S. 74 f., 81 • Müller: politische Lyrik, S. 91 f. • Roethe, S. 264 • Schmidt-Wiegand, S. 201 f., 204 • Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 32–36 • Scholz: Reichsidee, S. 47, 101–104 • Strasser, S. 243 • Vetter, S. 245 f. • Wisniewski, S. 127 f.
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24. Der gevatter vnde der vole tzan. Tzvͦ grozen noten ſínt tzvͦ ſwach. (J23) Der gevatter vnde der vole / tzan. Tzvͦ grozen noten ſínt / tzvͦ ſwach. Vuͦ r ſmahe vıent vnde / kleẏne wunden dıcke prubent vn/gemach. Bẏ grozeme guͦ te vuͦ r ſca/met mvͦt. Da ıſt tzucht vnde ere vrí / Maních tzvnge ſprıchet ſuͦ ze wort. / Vnde ſchuzet doch den angel dar. 5 Eín / wıſer man der mẏnnet got. Waz / der geſprıchet daz lezet er war. Treít / ſware buͦ rde groz vbermvt da kıeſe / ıch (rechte) toren bı Schame ıſt vuͦ r der / tzvngen guͦ t. Tzvcht eret wol den / alten mẏt dem ıvngen Eẏn reẏníz / wıb mít guͦ ten ſıten gıt werden / manne hoen mvͦt. 10 Schame ıſt ẏr / erſten rechtes vıl vuͦ rdrvngen Sver / gıt der ıſt lıeb. Daz habe wır an den / buͦ chen wol geleſen. Sıt ſıch dıe werlt / hıe hat vuͦ r ſchamet. So werbe wır // daz wır dort geneſen /
6 rechte interlinear nachgetragen
24. Der gevatter vnde der vole tzan. Tzvͦ grozen noten ſínt tzvͦ ſwach.
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Der gevater unde der vûle zan ze grôzen nœten sint ze swach. versmæhe vîent unde kleine wunden dicke prüevent ungemach. bî grôzeme guote, verschamet muot, dâ ist zuht unde êre vrî. manec zunge sprichet süeziu wort unde schiuzet doch den angel dar. 5 ein wîser man, der minnet got. waz der gesprichet, daz læzet er wâr. treit swære bürde grôz übermuot, dâ kiese ich rehte tôren bî. schame ist vür der zungen guot. zuht êret wol den alten mit dem jungen. ein reinez wîp mit guoten siten gît werdem manne hôen muot. 10 schame ist ir êrsten rehtes vil verdrungen. swer gît, der ist liep, daz habe wir an den buochen wol gelesen. sît sich diu werlt hie hât verschamet, sô werbe wir, daz wir dort genesen.
23 J, 6 C C komplett Gevatt vn̅ fuͥlızant an groſſen noͤte̅ ſínt / zeſwach· ſmehe vıende vn̅ kleíne wun/de̅ dıke fuͤgent vngemach· hat ſwach geburt / gros vbmvͦt da kıeſent tore̅ bı· manıg zvn/ge ſprıchet ſvͤſſe wort da doch dangel stıchet / dar· 5 eın wıſe ma̅ d mı ̅net got ſwc er geret / dc lat er war· hat rıch man vschamte̅ mvͦt. / d ıſt gar ere̅ vrí· duͥ ſchame ıſt vor dzvnge / guͦt· zuht eret wol de̅ alte̅ vn̅ den ıvnge̅· / eín ſchoͤne wıb mıt reíne̅ ſıtte̅ gıt wdem / ma̅ne hohe̅ mvͦt· 10 gvͦt hat d mı ̅ne reht eín / teıl vdrunge̅· ſw gıt dıſt lıeb dc han ıch an / de̅ ſwarzen bvͦche̅ wol erleſen· ſıt ſıch duͥ wlt / hıe hat verſchamt ſo ſchaffen dc wır dort / geneſen· / 1 gevater(e): ‚Gevatter, Pate‘ vûle zan: Ausgehend von der Lesart in J (vole tzan) lese ich vûle zan, also ‚fauler Zahn‘ (vgl. auch Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 22 und 23). Albert Leitzmann hat jedoch zu Recht darauf hingewiesen, dass mit Blick auf die Lesart in C (fuͥlızant, also fülezant oder fulzant) „der Zahn des jungen Pferdes, der Milchzahn, den man sich bei sehr hartem Beißen leicht ausbeißt“ (Leitzmann, S. 160), gemeint ist. Ich orientiere mich an J und behalte dessen Lesart bei, schließe allerdings die Möglichkeit nicht aus, dass auch J (*voletzan) analog zu C ‚Milchzahn‘ meint. Dies ist deswegen nicht unwahrscheinlich, da die Lexeme vole und tzan in J durch einen Zeilenumbruch getrennt sind und somit auch als ein Lexem zu verstehen sein könnten. Moser/Müller-Blattau folgen ebenfalls der Lesart von J (der vole zan, Moser/Müller-Blattau, S. 75), übersetzen jedoch mit ‚Milchzahn des Fohlens‘ (ebd., S. 81). Unabhängig davon, ob man nun vûle zan oder fülezan liest, weist der Vers inhalt-
HMS 2: I,6 Sch 6
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lich m. E. jedoch in dieselbe Richtung: Sowohl der Pate als auch der faule Zahn bzw. der Milchzahn sind in großen Nöten zu schwach. 2 versmæhe: ‚verächtlich‘ prüeven: hier ‚hervorbringen, anstiften, bewirken‘ 3 verschamet: ‚schamlos, unverschämt‘ vrî: Scheint hier eher negativ konnotiert, also ‚unbeschränkt, ungebunden‘, d. h. zuht und êre werden nicht (zurück-)gehalten; evtl. auch ‚zuchtlos, hemmungslos‘. Moser/Müller-Blattau übersetzen mit ‚fehlen‘ (Moser/Müller-Blattau, S. 81). 4 angel: ‚Stachel‘ 5 wâr lâzen: ‚erfüllen‘ 6 tragen: tr. ‚an sich tragen, haben, besitzen‘ kiesen: ‚prüfend sehen, wahrnehmen, erkennen, herausfinden‘ rehte: hier ‚wahr, wahrhaftig, wirklich, echt‘ 7 vür: hier ‚zum besten, für, um‘ zunge: das stsw. Fem. flektiert hier sw. 9 werdem (manne): hsl. steht entweder Akk. d. P. statt regulär Dat. d. P. oder auslautend wurde /m/ > /n/; ich ersetzte die hsl. Form durch die des Dat. Sg. (werdem) 10 verdringen: mit Gen. d. S. (ir êrsten rehtes) ‚wegdrängen, verdrängen‘; V. 10 will zum Ausdruck bringen, dass der Zustand der Gesellschaft derart verkommen ist, dass der Schamhaftigkeit nicht mehr das Recht eingeräumt wird, das ihr von jeher gebührte. Anstatt ihr den ihr angemessenen höchsten Rang zuzusprechen, wird sie gering geschätzt und von ihrer vormals zentralen Stellung abgedrängt. 12 verschamen: refl. ‚schamlos werden‘, hier freier ‚in Schamlosigkeit verfallen/versinken‘
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Übersetzung Der Pate und der faule Zahn sind in großen Nöten zu schwach. Verächtliche Feinde und kleine Wunden bewirken häufig Unannehmlichkeit. Bei großem Vermögen, schamloser Gesinnung, da sind Sittsamkeit und Ehre [ungebunden. Manche Zunge spricht süße Worte und sticht dennoch den Stachel dorthin. 5 Ein weiser Mann, der liebt Gott. Was der sagt, das erfüllt er. Besitzt schwere Bürde großen Übermut, erkenne ich daran echte Narren. Schamhaftigkeit ist für die Zunge gut. Anstand ehrt sicher den Alten (zusammen) mit dem Jungen. Eine makellose Frau mit vollkommenen Sitten versetzt einen würdigen Mann [in freudige Stimmung. 10 (Die) Schamhaftigkeit ist von ihrem obersten Recht ganz und gar verdrängt [worden. Wer auch immer gibt, der ist gut, das haben wir in den Büchern genau [gelesen. Weil die Welt hier in Schamlosigkeit verfallen ist, mögen wir uns bemühen, [auf dass wir dort gerettet werden.
Inhalt Der Spruch II,24 ist eine Sammlung aus Merksprüchen und Sentenzen, die sich jeweils auf einen Vers beschränken, und erinnert dadurch an das Priamel, wobei jedoch eine abschließende Kommentierung des zuvor Gesagten unterbleibt. Behandelt werden die unterschiedlichsten Themen:327 − Vers 1: Nutzlosigkeit von Personen und Dingen (hier: Zähne), die eigentlich gerade aufgrund ihrer Funktionalität von Nutzen sein sollten − Vers 2: kleine und große „Störenfriede“ − Vers 3: Unverträglichkeit von charakterlicher Verdorbenheit (hervorgehoben durch Besitz) und Tugenden wie Sittsamkeit und Ehre − Vers 4: hinterhältige Schmeichelei − Vers 5: Gottesliebe und Lohn für ein gottesfürchtiges, frommes Leben − Vers 6: Diskrepanz zwischen realen Gegebenheiten (hier: swære bürde) und Selbstein- bzw. Selbstüberschätzung (= Definition eines Narren)
327 Belege für Texte, die ähnliche Themen behandeln, führt Anton E. Schönbach auf (vgl. Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 23 f.).
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Vers 7: positive Wechselwirkung zwischen Zurückhaltung (hier in verbaler Hinsicht) und Schamgefühl Vers 8: die ehrenhaften Folgen von gutem Anstand für Alt und Jung Vers 9: Definition einer vollkommenen Frau und die Reaktion des Mannes auf sie Vers 10: Verfall der Gültigkeit des Schamgefühls Vers 11: Ermutigung zur Freigebigkeit aufgrund ihrer positiven Folgen für den Gebenden328 Vers 12: Aufforderung zu einem Leben in Vorbereitung auf das Jenseits; nur dadurch kann Rettung vor der verschamten werlt gewährt werden
Obgleich die Themen auf den ersten Blick unzusammenhängend und eher wie „Mikroeinheiten“ innerhalb des Spruches wirken, fallen bei einem zweiten, eingehenderen Blick durchaus Bezüge der Verse untereinander auf. Diese Bezüge, die zwar nicht regelmäßig vorliegen, weisen dennoch ein bestimmtes Muster auf. Demnach enthält der Aufgesang, der – abgesehen von Vers 5 –
328 Es ist interessant, dass gerade die Aufforderung zur milte mit dem Verweis daz habe wir an den buochen wol gelesen versehen ist. Die explizite Nennung von Büchern als Quelle des Wissens dient hier wohl dazu, den Wahrheits- und Glaubwürdigkeitsgehalt der Aussage swer gît, der ist liep zu unterstreichen (vgl. Gerdes: Beiträge, S. 151 f.). In C wird diese Wirkung noch zusätzlich verstärkt, indem es nicht nur buochen sind, in denen man das Gesagte gelesen hat, sondern swarze buoche. Dieser Wortlaut erinnert an Walthers Spruch L 33,1 bei dem es in Vers 7 heißt: nû lêretz in sîn swarzez buoch. Günther Schweikle schreibt dazu in seinem Kommentar: „swarzez buoch, Buch über die ,Schwarze Kunst‘, Zauberkunst, Magie“ (Schweikle: Walther, Bd. 1, S. 412). Sowohl Schönbach als auch Lamey plädieren dafür, den Hinweis auf die schwarzen Bücher in II,24 „ironisch“ (Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 24; Lamey, S. 38) zu verstehen, „als ob man Zauberbücher brauchte, um zu erforschen, was jedermann täglich sieht“ (Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 24). Gerdes erklärt zudem: „Seine Behauptung, die Binsenweisheit ‚swer gît, der ist liep‘ habe er ‚an den swarzen buochen wol erlesen‘ (6, 11), kann man schwerlich ernst nehmen.“ (Gerdes: Beiträge, S. 152) Vor ihm bereits Gustav Roethe ähnlich: „Wernhers daz hân ich an den swarzen buochen wol erlesen […] ist natürlich nicht wörtlich zu nehmen“ (Roethe, S. 331). Obgleich ich nicht sicher bin, inwiefern bzw. ob der nachfolgende Hinweis überhaupt zum Verständnis von Vers 11, speziell der swarzen buoche, beiträgt, sei dennoch darauf hingewiesen, dass im (Spät-)Mittelalter die Funktion eines Buches auch über die Farbe seines Einbandes gekennzeichnet wurde. So zeigt Christiane Wanzeck in ihrer Untersuchung von lexikalisierten Farbverbindungen (die zugegebenermaßen vorrangig sprachwissenschaftlich und nicht historisch ausgerichtet ist), dass z. B. das Farbadjektiv rot in Verbindung mit dem Subst. Buch (nicht Handschrift!) entweder ‚königlich‘ oder ‚rechtlich‘ bedeutet und somit ein ‚Stadtbuch‘ bzw. eine ‚Rechtssammlung‘ oder ‚Verbrecherverzeichnis‘ gemeint ist (vgl. Wanzeck, S. 361). Vielleicht ließe sich auch für die Verbindung ,schwarz‘ und ,Buch‘ eine ähnliche Bedeutung finden? Für den Hinweis auf den funktionalen Charakter der Einbandfarbe eines Buches danke ich meinem Historikerkollegen Mathias Kluge.
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inhaltlich negativ konnotiert ist, Sentenzen, denen im vorwiegend positiv gefärbten Abgesang Gegenbeispiele gegenübergestellt werden. So folgt auf die Kritik an übermäßigem Besitz, der mit einer schamlosen Gesinnung einhergeht (vgl. V. 3), in Vers 11 die Ermunterung zur Freigebigkeit, die positive Folgen für den Gebenden nach sich ziehen wird. Auf den Verzicht auf Ehre und Sittsamkeit, den Vers 3 beinhaltet, reagiert wiederum Vers 8: Gerade die zuht êret den Menschen, egal, ob er jung oder alt ist. Vers 4 andererseits beschreibt die geheuchelte Schmeichelei, wonach die zunge zwar süeziu wort spricht, tatsächlich aber entgegengesetzt handelt. Im Unterschied dazu wird die zunge[n] in Vers 7 in einem Kontext verwendet, in dem es weniger um die negative Geschwätzigkeit geht als vielmehr um bescheidene Zurückhaltung (bedingt durch das Schamgefühl). Schließlich die Verse 5 und 9: Beide sind – entgegen dem sonstigen Muster – positiv gefärbt und beschreiben auf verkürzte Art eine Idealvorstellung von Mann und Frau, wobei in Vers 5 das Verhältnis des demütigen, frommen Mannes zu Gott dargestellt wird,329 in Vers 9 hingegen die Beziehung der makellosen Frau zum Mann. Laut Maria Dorninger wird in dem Vers „das positive Verhalten einer Frau vorgeführt, das sich bestens auf die Persönlichkeit und persönliche Konstitution eines Mannes auswirkt […] und damit wieder auf die gesamte Gesellschaft“330. Während die zuvor erläuterten Verspaare – bis auf Vers 5 und 9 – die Funktion haben, sich gegenseitig zu kontrastieren, sind Vers 10 und 12 eher als Aufeinanderfolge zu verstehen. Vers 10 beschreibt den freiwilligen Verzicht auf die Schamhaftigkeit – er ist also eher negativ konnotiert –, worauf schließlich der Schlussvers aufbaut: ,Da die Welt nun einmal aufgrund der Schamlosigkeit verkommt, müssen wir uns anstrengen, damit wir wenigstens im Jenseits gerettet werden.‘ Gerade diese Aussage, die von ihrer Ausrichtung her charakteristisch für Bruder Wernher ist, steht in diesem inhaltlich eher inkohärenten Spruch als exponierter Schlussvers, so dass dieser Vers in jedem Fall im Gedächtnis bleibt. In der Parallelüberlieferung stellt sich ein ähnliches Bild wie in J dar, allerdings sind in C die Verse 3 und 6 vertauscht, so dass sich die Verspaare anders zusammensetzen. Neben den zahlreichen kleineren Unterschieden, die inhaltlich weniger stark ins Gewicht fallen,331 lassen sich Varianten ausmachen, die
329 Zum Lexem wîse bei Bruder Wernher vgl. Anm. 235. 330 Dorninger, S. 28. 331 Vgl. z. B. V. 2 vüegen statt prüeven, V. 4 stichen statt schiezen, V. 6 zuht fehlt, V. 9 ein schœne wîp mit reinen siten (zur endungslosen Flexion von schœne nach unbestimmtem Artikel vgl. Mhd. Gram., § M 24) statt ein reinez wîp mit guoten siten, V. 12 schaffen statt werben.
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sich auf den Inhalt deutlicher auswirken. Hier sind zunächst die Verse 3 und 6 zu nennen: Neben ihrer im Vergleich zu J vertauschten Position liegt auch inhaltlich ein Unterschied vor: Statt bî grôzem guote, verschamet muot dâ ist zuht unde êre vrî. (V. 3 in J) heißt es in C: hât rîcher man verschamten muot, der ist gar êren vrî (V. 6 in C). Auch in C wird also auf Besitz angespielt, der den Charakter verdirbt, d. h. Vers 6 in C ist analog zu Vers 3 in J als Gegenbeispiel zu Vers 11 zu sehen. Gleichzeitig wird Vers 6 in C aber auch zu Vers 5 in Beziehung gesetzt, und zwar aufgrund der ähnlichen Verseingänge: ein wîse man (V. 5) – hât rîcher man (V. 6). Es scheint so, als würden in Vers 5 und 6 in C gutes und schlechtes Beispiel einander gegenübergestellt. Auch Vers 6 in J bzw. Vers 3 in C unterscheiden sich inhaltlich z. T.: Während es in J treit swære bürde grôz übermuot, dâ kiese ich rehte tôren bî (V. 6 in J) heißt, steht in C hât swach geburt grôz übermuot, dâ kiesent tôren bî (V. 3 in C). Die Verse gehen also zumindest zu Beginn in andere Richtungen, wobei C m. E. mit swach geburt den Kontrast zu grôz übermuot stärker hervorhebt: von niedriger Geburt und trotzdem sehr über- bzw. hochmütig. Zuletzt ist noch auf Vers 10 hinzuweisen, er lautet: guot hât der minne reht ein teil verdrungen. Nicht die schame ist also verdrängt worden, sondern die minne, und zwar vom guot, was in direktem Zusammenhang mit dem nachfolgenden Vers steht, denn dort wird ja gerade die Großzügigkeit hervorgehoben. Indem C minne statt schame schreibt, erscheint der Vers weniger gesellschaftskritisch als in J – obgleich die Kritik am Besitz, gesamtgesellschaftlich zu sehen ist –, da nicht die beiden Pole ,Schamgefühl (= Bescheidenheit)ʻ und ,Besitztum‘ einander gegenübergestellt werden. Darüber hinaus ist die Verwendung des Lexems minne eher ungewöhnlich für Bruder Wernher, da er diesen höfischen Bereich ansonsten vernachlässigt – es sei denn, hier ist analog zu Vers 5 von der Gottesminne die Rede, in dieser Bedeutung tauchen nämlich sowohl Substantiv als auch Verb durchaus in Bruder Wernhers Œuvre auf.332
Historischer Hintergrund Was die Datierungsfrage angeht, falls man hier überhaupt von einer solchen sprechen kann, ist am ehesten Anton E. Schönbach zuzustimmen, der zu II,24 schreibt: 332 Neben dem Adj. minneclîch in II,19,3, das sich tatsächlich auf eine vrouwe bezieht, steht das Subst. minne – abgesehen vom vorliegenden Fall – nur in einem einzigen Spruch, nämlich II,33,8, wo die minne auf Gott ausgerichtet ist. Ebenso die insgesamt vier Stellen, an denen das Verb minnen benutzt wird: Auch hier bezieht sich das Gefühl auf Gott, nicht auf einen
24. Der gevatter vnde der vole tzan. Tzvͦ grozen noten ſínt tzvͦ ſwach.
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Es ist von innen heraus wahrscheinlich, daß diese Sätze prägnant und von Anspielungen gesättigt waren, volles Erfassen war aber nur durch kurze Zeit und innerhalb eines kleinen Kreises möglich. Später mußte man sich begnügen, die Verse als allgemeine Sentenzen zu nehmen.333
Lameys Überlegung hingegen, der Spruch sei in das „vorgerückte[n] Alter des Dichters“334 zu setzen, ist m. E. haltlos, da sich hierfür keinerlei konkrete Anhaltspunkte im Text finden lassen.
Inhaltliche Ähnlichkeit mit anderen Texten vgl. zu Vers 1: Spr 25,19 vgl. zu Vers 4: Spr 12,18 f. und 16,24 Walther L 29,4 (hier V. 8 f.): zwô zungen hât ez, kalt und warm, die ligent in sîme rachen, in sîme süezen honige lît ein giftic nagel, […] (Schweikle: Walther, Bd. 1, S. 140) Freidank 55,15 f.: Nû seht daz hones, swie süeze ez sî, dâ ist doch lîhte ein angel bî. (Spiewok, S. 46) vgl. zu Vers 5: Spr 10,8 vgl. zu Vers 8: Freidank 52,20 f.: Beide in alter unde in jugent zimt niht sî wol sô zuht jugent. (Spiewok, S. 44) vgl. zu Vers 9: Spr 12,4 vgl. zu Vers 10 in C: Freidank 55,19–22: Uf minne und ûf gewinne stânt al der werlde sinne; noch süezer sint gewinne dan dehein werltlich minne. (Spiewok, S. 46) vgl. zu Vers 11: Walther L 33,1 (hier V. 7): nû lêretz in sîn swarzez buoch, […] (Schweikle: Walther, Bd. 1, S. 170)335 Walther L 33,31 (hier V. 9): an welen buochen hânt siu daz erlesen, (Schweikle: Walther, Bd. 1, S. 174) Menschen (vgl. II,24,5; II,36,11; III,52,11; IV,59,11). Zur Rolle der minne in Bruder Wernhers Werk vgl. auch Dorninger. 333 Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 24. 334 Lamey, S. 35. 335 Vgl. dazu auch Anm. 328.
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Metrik 2A 8 m a A8ma A8mb 2A 8 m c 5 A8mc A8mb 4md A6ke A8md 10 A 6 k e A 8 2m f A 8 2m f
Der geváter únde der vule zán ze grozen nœ́ten sínt ze swách. versmǽ he vent unde kléine wúnden dícke prevent úngemách. bî grozeme gúote, verschámet múot da ist zúht undẹ ere vr. manec zúnge spríchet seziu wórt unde schíuzet dóch den ángel dár. ein wser mán, der mínnet gót. waz dér gespríchet, daz lǽzet er war. treit swǽre brde grôz bermùot, dâ kíesẹ ich réhte toren b. schamẹ ein réinez wp mit gúoten síten gît wérdem mánne hoen múot. schamẹ swer gt, der ist líep, daz hábe wír án den búochen wól gelésen. sît sích diu wérlt hie hat verschámet, sô wérbe wir, dáz wir dórt genésen.
Literatur Dorninger, S. 28 • Gerdes: Beiträge, S. 32, 88 f., 91 und Anm. 5, 92, 93 und Anm. 3, 149, 152, 179 und Anm. 4, 181 und Anm. 3 • HMS 4, S. 521, 523;336 Kemetmüller, S. 24, 67, 210 • Lamey, S. 8, 11, 19, 35, 37, 38 • Leitzmann, S. 160 • Moser/Müller-Blattau, S. 75, 81. • Nolte/Schupp, S. 330 f., 459 f. • Roethe, S. 331 • Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 22–24 • Vetter, S. 245.
336 Von der Hagen scheint in der Strophenzählung durcheinandergekommen zu sein, denn er schreibt für II,24 in seinem Kommentar versehentlich I,9, obwohl der Spruch nach seiner Zählung eigentlich die Nummer I,6 (im zweiten Band) trägt (vgl. HMS 4, S. 523).
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25. Nv ſcouwet wel eẏn ſvnder art. Der ſtork ır kennet ſẏne tzıt. (J24) Nv ſcouwet wel eẏn ſvnder / art. Der ſtork ır kennet ſẏ/ne tzıt. Dıv kleẏne ſwale vnd ouch / der ſwan ſwen ez ẏn kegen dem / tode lıt. Der tvmme menſche ır ken/net nícht den der ín gebıldet hat. / Vber den ſteín der ſlange veret. / Vnde of dem mere ſchj(j)ffes (?) ganc. 5 Jn / den luften aren vluch der víndet / ſelten mẏn gedanc. Vnde ouch des / ıvngen mannes mvͦt. Der vnder / tzwentíc ıaren ſtat. Der ar ıvnget / aber wol. Daz habe wír von der wí/ſen lıvte lere. Der ſlange nuwet / ıren balc. híe bẏ man wunder pruͦ /ben ſol. 10 Des mannes alter nuwet / ſıch nícht mere Swer nach den / achzích íaren gat mít valweme / hare vnde ane ſtab. Als ez (nv) ın der / werlde ſtat. (?) der gıcht daz got dív / ſelde ẏme gab. /
4 bei ſchjffes ist innerhalb des Wortes mit dünner Feder wohl ein 〈j〉 nachgetragen 12 nv interlinear nachgetragen; Punkt nach ſtat schwach; wenn tatsächlich Punkt gesetzt wurde, steht der ohne Majuskel
25. Nv ſcouwet wel ey˙n ſvnder art. Der ſtork ır kennet ſy˙ne tzıt.
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Nû schouwet, welh ein sunder art: der storch erkennet sîne zît, diu kleine swalwe und ouch der swan, swen ez in gegen dem tôde lît; der tumbe mensche erkennet niht den, der in gebildet hât. über den stein der slange vert unde ûf dem mere schiffes ganc, 5 in den luften aren vluoc – der vindet selten mîn gedanc unde ouch des jungen mannes muot, der under zwênzec jâren stât. der ar junget aber wol – daz habe wir von der wîsen liute lêre –, der slange niuwet ir balc, hie bî man wunder prüeven sol; 10 des mannes alter niuwet sich niht mêre. swer nâch den ahzec jâren gât mit valweme hâre unde âne stap, als ez nû in der werlde stât, der giht, daz got diu sælde ime gap.
24 J, 38 C, in C fehlt die hsl. Nr. des letzten Spruchs im Œuvre Bruder Wernhers; analog zu J61/C21 sind in C38 (im Vgl. zu J24) V. 3 und V. 6 getauscht. C komplett Merkent welh eín ſvnder / art d ſtorch erke̅net ſınuͥ zıt· d wíȷ ́e / vn̅ oͮch duͥ kleíne ſwal· wa ſı de̅ kalte̅ wı ̅//ter lıt· d wde me̅ſche erke̅net haı nıht de̅ / d ın gebıldet hat· alb al vb de̅ ſteın deſ ſla̅/gen vart· vn̅ vf de̅ mer dſchıffe gang· 5 vn / ın de̅ luͥfte̅ arn fluͥge· nıema̅ erke̅net mín / gedank· noch eínes ıvnge̅ ma̅neſ mvͦt d / vnd drıſſeg ıare̅ ſtat· dar d ıvnget ſıch oͮch / wol· dc hoͤre̅ wır vo̅ dwıſen meıſt lere· d / ſlange ıvngert ſıne̅ balk· dc hoͤre̅ wır ſ ı ̅/ge̅ vn̅ ſage̅· 10 d wde me̅ſche ıvngt ſıch níht / me· ſw vf duͥ ahtzıg ıar kvmt· mıt val/wem hare vn̅ ane ſtab· als es nv ın dwl/te gat d ıehe dc ım vro ſelde gab· / 1 sunder: ‚abgesondert, allein stehend, besonders, eigen‘ art: hier ‚angeborene Eigentümlichkeit‘ 2 in: Der Dat. d. P. steht hier in Verbindung mit der unpers. Verbindung gegen dem tôde ligen (wohl im Sinne von ‚dem Tod entgegengehen, im Sterben liegen‘) (vgl. Mhd. Gram., § S 91, 2.). 4 der slange: Im Mhd. sowohl als Mask. als auch als Fem. belegt. varn: hier ‚kriechen, schlängeln‘ 5 der: Gen. Pl., der sich auf Schlange, Schiff und Adler bezieht. vinden: Hier ist wohl ‚ausfindig machen‘ im Sinne von ‚erkennen, durchschauen‘ gemeint. gedanc: hier ‚das Denken, Verstand‘ selten: Litotes? 8 haben: Ich übersetze etwas freier. 9 balc: ‚Haut‘ der slange ir balc: Inkongruenz des Genus bei der slange und ir balc 10 man: Hier sowohl ‚Mann‘ als auch ‚Mensch‘ möglich, da in V. 3 vom Menschen an sich die Rede ist, übersetze ich hier mit dem übergreifenden Begriff. 11 val: hier ‚blond‘
HMS 2: I,16 Sch 16
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Übersetzung Nun schaut, was für eine besondere Eigenart: Der Storch erkennt seine Zeit, die kleine Schwalbe und auch der Schwan, wann auch immer es für sie dem [Tod entgegengeht; der einfältige Mensch (aber) erkennt den nicht, der ihn erschaffen hat. Die Schlange kriecht über den Felsen und auf dem Meer der Gang des Schiffes, 5 in den Lüften der Flug des Adlers – (all dies) durchschaut mein Verstand [niemals und auch (nicht) die Gesinnung des jungen Mannes, der jünger als zwanzig [Jahre ist. Der Adler verjüngt sich jedoch sehr wohl – das wissen wir durch die Lehre der klugen Menschen –, die Schlange erneuert ihre Haut, hier muss man Unerklärbares beobachten; 10 das Alter des Menschen erneuert sich nicht mehr, wer auch immer nach achtzig Jahren mit blondem Haar und ohne Stock geht, wie es jetzt auf der Welt geschieht, der sagt, dass ihm Gott Glück geschenkt [hat.
Inhalt II,25 beschreibt anhand von Beispielen aus der Welt der Tiere und des Menschen den Gang des Lebens, wobei der Spruch dabei einerseits direkten Bezug auf die Bibel nimmt,337 andererseits Überlegungen und Aussagen aus dem ,Physiologus‘ (vgl. V. 8 der wîsen liute lêre) aufgreift. Dies betrifft sowohl das Zeitempfinden der Tiere in Vers 1 f.338 wie auch die Fähigkeit von Adler und Schlange zur Verjüngung (vgl. V. 7 und 9 im Gegensatz zu V. 10)339. 337 Vgl. zu V. 1–3 Jer 8,7, zu V. 4–6 Spr 30,8 f. und zu V. 7 Ps 103,5 (vgl. Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 44). Vgl. zu V. 1–3 auch Gerdes: Beiträge, S. 110 f., zu V. 4–6 ebd., S. 113 und zu V. 7–12 ebd., S. 113 f. 338 Vgl. Maurer, S. 64 (hier (1) […] „‚A‘sida siu bechennet ir zit an dem himile.“), 65 (hier Str. 159,1 „Asida bechennit an dem himil ir zit.“), 88 (hier (1) […] Et assida in celo cognovit tempus suum.); Schröder: Millstätter Physiologus, S. 132–135 (identisch mit Maurer, S. 65), 325–330 und Schönberger, S. 46–49, 98 f. sowie Jer 8,7 („Der Storch unter dem Himmel weiß seine Zeit, Turteltaube, Kranich und Schwalbe halten die Zeit ein, in der sie wiederkommen sollen; aber mein Volk will das Recht des HERRN nicht wissen.“). 339 Vers 8 ist evtl. vor dem Hintergrund von Vers 4 (über den stein der slange vert) zu sehen, denn in den unterschiedlichen Fassungen des ,Physiologus‘ häutet sich die Schlange i. d. R., indem sie ihre alte Haut mithilfe von Felsspalten abzieht, vgl. Maurer, S. 32 (hier (6) Phisiologus zellit, daz diu Natra driu geslahte habe. Ir erist geslahte ist, so siu iraltet, so negesihit siu
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Die Strophe folgt einem bestimmten Aufbau: Vers 1 bis 3: Zunächst wird mit einer Apostrophe an das Publikum zum Thema hingeführt (vgl. V. 1 Nû schouwet, welh ein sunder art). Danach werden Voraussicht und Klugheit der Tiere (hier: storch, swalwe und swan) der Einfalt des Menschen gegenübergestellt. Veranschaulicht wird dies aufseiten der Tiere durch das Wissen um die eigene Sterblichkeit, genauer: um den eigenen Todeszeitpunkt.340 Während der Mensch – mit Blick auf seine Geburt – nicht einmal weiß, [w]er in gebildet hât (V. 3),341 „[kennen]
nieht; so vastet si denne vierzich tage unt naht, unze sich daz fel ab ir losit. so suochet si denne ein engiz loch an eineme steine unte sliufet da durch; so vert ir diu obere hut abe, so wirdit siu gejunget.), 33 (hier Str. 82 Physiologus saget, daz diu Natir driu geslehte habe. / ir erste geslehte ist, so si eraltet, so gesiht si niht. / so vastet si vierzich tage unde naht, unz si daz vel abe erloset hat. / so suochet si denne ein engiz loch an einem steine. / dar durch sie sliuffet, die oberen hut si abe ziuhet; / so wirdet si ze stet widir gejunget.), 81 f. (hier (6) Physiologus dicit: Tria sunt genera viperarum nocencium. Primum, quando senuerit, inpedimentum habet oculorum, ut non videat. Sed vide, quid faciat. Ieiunat enim XL diebus et XL noctibus, donec laxetur pellis eius; tuncque vadens querit excisium petre et per ipsum transitum facit sicque expoliatur et iuvenescit.), 94 (hier Dria slahta nateron sint. ein slahta ist, so siu aldet, so suinet iro daz gisune: so uastad siu uerceg dago unde uierceg nahto, so loset sih alliu ire hut abo; so suochet siu einen locherohten stein unde sliuffet dar dureh unde streifet die hud abo unde iunget sih so.); Schröder: Millstätter Physiologus, S. 96 (identisch mit Maurer, S. 33), 237–248 und Schönberger, S. 20 f. Zum Adler vgl. Maurer, S. 54 (hier (1) An dem salmen der nach dem zehinzigstin ist, stet daz des mannes jungent werde erniuwot also des Aran. Sus zellit Phisiologus des Aran gelsahte: so er alt wirdit, so swarent ime die federen unt tunchelint diu ougin. So suochet er einen vil chochin brunnen unte fliuget von deme brunnen uf zuo deme sunnen. da brennet er sine federen unt vellet nider in den brunnen, den er irchos. daz tuot er dristunt, so wirt er gejunget unte gesehente.) und (2) […] So er getoufet wirt so ist er gejunget also der Are.), 55 (hier Str. 130 In dem zehenzegistem salme sculen wir nemen war, daz des mannes jugent sich iteniwe sam des Arn. / ez zelt Phisiologus des Aren geslehte sus. / so der Ar alt wirdet, so swærent im die vederen, dei ougen im tunchelent. / so suochet er an den stunden einen chochen brunnen / unde vliuget von dem brunnen uf zuo dem sunnen. / da brennet er sine vedere, in den brunne vellet er nidere, / der im da zuo ist worden chunt, daz tuot er danne dri stunt. / so wirt er gejunget unde darnach gesehent. und Str. 131,6 so er wirt getouffet, also der Are ist er gejunget.), 86 (hier (1) Dicit David in psalmo CII: Renovabitur ut aquile iuventus tua. Phisiologus dicit aquilam talem naturam habere, ut quando senuerit, graventur ale eius et oculi eius obducuntur caligine. Tunc vero quȩrit fontem aquȩ vive et contra fontem evolat in altum usque ad ignem solis, ibique incendit alas suas simul et caliginem oculorum suorum emendat. Surgens autem de radio solis denum descendit in fontem ac tertia vice se mergit statimque renovata est.); Schröder: Millstätter Physiologus, S. 120–123 (identisch mit Maurer, S. 55–57), 293–303 und Schönberger, S. 12–15 sowie Ps 103,5 („der deinen Mund fröhlich macht, und du wieder jung wirst wie ein Adler.“). 340 Vgl. hierzu Anm. 338. 341 Schönbach schreibt zu Vers 3 und dessen Wechselwirkung zu Vers 1 f.: „Eigentlich gehörte dazu, daß der Mensch seinen Tod nicht voraussieht (mors certa, dies incertus), aber
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die Tiere das Gesetz, unter dem sie stehen, […]; der vor allen Geschöpfen ausgezeichnete (,werde‘) [= Lesart von C, in J tumbe, Anm. d. Verf.] Mensch kennt und anerkennt nicht das über ihm waltende Gesetz Gottes“342. Vers 4 bis 6: Im Anschluss an die fundamentalen Themen Geburt und Tod folgt im zweiten Stollen eine Beschreibung „unbegreifliche[r] Vorgänge und Erscheinungen der natürlichen Welt“343 (vgl. V. 4 der slange vert, schiffes ganc, V. 5 aren vluoc),344 die für den Menschen derart sonderbar sind, dass sie seinen Verstand übersteigen. Er findet keine Erklärung für sie. Übrigens enthält Vers 5 die einzige Stelle, an der das Sprecher-Ich auftritt (in Vers 8 spricht es nur aus der Gemeinschaft heraus [daz habe wir]). Vers 7 bis 12: Der Abgesang schließlich wirft den Blick auf das Älterwerden und welche Methoden die Tiere teilweise entwickelt haben, um diesem – zumindest zeitweise – zu entgehen: der ar junget (V. 7) und der slange niuwet ir balc (V. 8).345 Der Mensch hingegen niuwet sich niht mêre (V. 10), ist er erst einmal in ein bestimmtes Alter gekommen. Vielmehr kann er sich, wie die sentenzartigen Schlussverse 11 und 12 erklären, gerade aus mittelalterlicher Sicht glücklich schätzen, wenn er mit achtzig Jahren noch ohne Stock und mit blondem Haar daherkommt.346
Interessant an diesem Aufbau sind die Wiederholungen, durch die die einzelnen Abschnitte (aber auch die Abschnitte in sich) inhaltlich enger miteinander gemäß der Bibelstelle biegt das ab zu: er kennt Gott nicht.“ (Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 44 f.) 342 Gerdes: Beiträge, S. 111. 343 Ebd., S. 110. Es ist zu beachten, dass Gerdes Schönbachs Edition zugrunde legt, dessen Lesart von Vers 5 (und in dem lufte des aren vlüge nie mêre erkennet mîn gedanc, Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 44) in keiner der beiden Handschriften enthalten ist! 344 Der Wortlaut der Verse 4 bis 6 erinnert übrigens stark an eine Stelle aus der Bibel (Spr 30,8 f.): „Drei sind mir zu wundersam, und vier verstehe ich nicht: des Adlers Weg am Himmel, der Schlange Weg auf dem Felsen, des Schiffes Weg im Meer und des Mannes Weg beim Weibe“. Die Frage, ob der Hinweis ûf dem mere schiffes ganc (II,25,4) speziell in diesem Kontext (Schlange und Adler) auch entfernt in Verbindung gesetzt werden kann mit der Serra aus dem ,Physiologus‘, sei hier aufgeworfen. Die Serra ist ein Tier (gemeint ist wohl der Delphin), das im Meer lebt und, sobald es ein Schiff sieht, spreitet zagil unde vederen, daz si sigelen mege engegen dem sceffe (Maurer, S. 31); vgl. auch Maurer, S. 30, 81, 94; Schröder: Millstätter Physiologus, S. 94–96, 232–236; Schönberger, S. 74–77. 345 Vgl. hierzu Anm. 339. 346 Christian Schröder schreibt zum Motiv des Abstreifens der Haut: „Das Ablegen der alten Kleider bedeutet das Ablegen der alten Sünden in der Taufe […]. Das neue Gewand ist das weiße Taufkleid, welches die neu erworbene Reinheit bedeutet […].“ (Schröder: Millstätter Physiologus, S. 243)
25. Nv ſcouwet wel ey˙n ſvnder art. Der ſtork ır kennet ſy˙ne tzıt.
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verknüpft werden. So werden etwa die Verben erkennen (V. 1 und 3) und niuwen (V. 9 und 10) wiederholt, und zwar in unterschiedlicher Verwendung: Während sie in Bezug auf die Tiere positiv besetzt sind – die Tiere erkennen ihren Todeszeitpunkt (vgl. V. 1) und sie verjüngen sich (vgl. V. 7 und 9) –, stehen sie zusammen mit dem Menschen negativ konnotiert, d. h. der Mensch erkennt seinen Schöpfer nicht (vgl. V. 3) und er ist auch nicht in der Lage, sich zu verjüngen (vgl. V. 10). Und auch die Substantive ar und slange stehen sowohl im zweiten Stollen (vgl. V. 4 und 5) als auch im Abgesang (vgl. V. 7 und 9). Darüber hinaus fällt die Formulierung daz habe wir von der wîsen liute lêre in Vers 8 auf, mit der Bruder Wernher aufgrund des Inhalts von II,25 unmissverständlich auf den ,Physiologus‘ anspielen mag. Einmal mehr verweist Bruder Werner also auf die wîsen347 als Quelle der Weisheit (vgl. auch II,24,11: […] an den [swarzen] buochen wol gelesen) und erhebt so einen Anspruch auf Glaubwürdigkeit und Wahrhaftigkeit. Die Parallelüberlieferung in C unterscheidet sich z. T. deutlich von der Lesart in J. Am signifikantesten ist dies in Vers 2 der Fall: Die zweite Vershälfte lautet in C wâ sie den kalten winter lît und setzt somit andere Akzente, als dies in J der Fall ist (vgl. V. 2 in J swen ez in gegen dem tôde lît). Dort geht es um den Tod, bei dem die Tiere – unbewusst – erkennen, wann er für sie gekommen ist, wohingegen C lediglich den Übergang zur Winterzeit thematisiert; die Tiere wissen naturgegeben, wann sie in ihre südlichen Überwinterungsgebiete aufbrechen müssen.348 Der Kontrast in J zwischen Geburt und Sterben ist somit drastischer als in C. Andererseits bleibt die Lesart von C wohl näher an der Realität: Denn Tiere, die zur Überwinterung in den Süden ziehen, verfügen tatsächlich nicht nur über eine faszinierend exakte „innere Uhr“, sondern auch über einen äußerst effektiven „inneren Kompass“, ob dies auch für ihr angebliches Wissen um den eigenen Todeszeitpunkt gilt, ist hingegen weniger klar. Eine weitere auffällige Variante beinhaltet Vers 9: Während in J hie bî man wunder prüeven sol steht, schreibt C daz hœren wir singen unt sagen. Im Gegensatz zu J zieht C somit nicht nur der wîsen meister lêre (V. 8) zur Untermauerung der Glaubwürdigkeit des Gesagten heran (wobei meister – zusammen mit 347 Zur Verwendung von wîse (Adj. und Subst.) vgl. Anm. 235, speziell zu meister vgl. Gerdes: Beiträge, S. 150 f. Udo Gerdes vermerkt zur Kombination der Lexeme wîse und meister (Lesart in C!), dass die vorliegende Textstelle „in der Spruchdichtung einer der ersten Belege, wenn nicht der erste überhaupt [ist]“ (ebd., S. 150). 348 Die Lesart von C bleibt hier deutlich näher am Wortlaut von Jer 8,7 (vgl.: „[…] Turteltaube, Kranich und Schwalbe halten die Zeit ein, in der sie wiederkommen sollen; […]“).
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wîse – einen noch höheren Anspruch auf Weisheit erhebt als liute aus J), sondern unterstreicht mit der Formulierung daz hœren wir singen unt sagen (V. 9) außerdem, dass die Äußerungen allgemein bekannt und verbreitet sind. Auch in Vers 12 liegt ein bedeutender Unterschied zwischen J und C vor: Während in J got dem Achtzigjährigen sælde schenkt, indem dieser in hohem Alter nach wie vor gesund ist, bleibt Gott in C völlig außen vor. Dort ist vielmehr vrou Sælde für die Gesundheit des Alten verantwortlich, wodurch der Vers einen weniger religiösen und mehr höfischen Anstrich erhält (speziell im Minnesang wird häufig mit der Personifizierung von Tugenden gearbeitet). Bleibt noch auf eine letzte Auffälligkeit hinzuweisen: Weiter oben wurden in Bezug auf J bereits die Wortwiederholungen erläutert, die für einen größeren Zusammenhalt des Spruches insgesamt sorgen. Mit Blick auf die Überlieferung in C fällt auf, dass die Neigung zur Wiederholung bestimmter Lexeme hier noch ausgeprägter ist. So steht etwa das Verb erkennen nicht nur in Vers 1 und 3, sondern wird zudem auch in Vers 5 verwendet. Dasselbe Bild bietet sich im Abgesang: Während J zwei verschiedene Verben für den Verjüngungsprozess benutzt (vgl. V. 7 jungen, V. 9 und 10 niuwen), steht in C zwar lediglich eines, nämlich jungen, dieses jedoch in drei verschiedenen Versen (vgl. V. 7, 9 und 10).349 Ein weiteres Beispiel liegt in den Versen 3 und 10 vor, die beide mit der Anapher der werde mensche einsetzen. Speziell mit Blick auf Vers 3 fällt dabei auf, dass die Lesart von J – der tumbe mensche – die Wertung enthält, die gerade den Unterschied zwischen tierischer Weisheit und menschlicher Einfalt unterstreicht, wohingegen die Lesart in C etwas unpassend erscheint: Der Mensch wird einerseits gelobt, indem er als wert bezeichnet wird, andererseits getadelt, weil er nicht in der Lage ist, Gott als seinen Schöpfer zu erkennen. Oder ist Vers 3 in C etwa ironisch zu verstehen:350 Der ach so „vortreffliche“ Mensch weiß nicht um den, der ihn geschaffen hat? In jedem Fall wirkt der Spruch in C aufgrund der systematischeren Wortwiederholungen noch etwas kohärenter als in J.351
349 Vgl. dazu auch Gerdes: Beiträge, S. 176. 350 Schönbach geht von dieser Interpretation aus (vgl. Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 45). 351 Weitere bedeutsame Varianten in C sind: In Vers 2 wîje, was in J fehlt. In Vers 5 erkennt nicht der ar, sondern nieman mîn gedanc. Vers 6 schreibt drîzec statt zwênzec Jahre und Vers 8, wie bereits erwähnt, meister statt liute. Speziell zu Vers 6 ist noch auf eine Anmerkung von Udo Gerdes hinzuweisen, der mit Blick auf drîzec (V. 6) in C schreibt: „Die hier ausdrücklich erwähnten dreißig Jahre erinnern an Wernhers Spruch über die Jahreszeiten des Lebens [= II,18,11, Anm. d. Verf.], in dem sie das Ende der Blüte und den Beginn des Verfalls markieren“ (Gerdes: Beiträge, S. 113).
25. Nv ſcouwet wel ey˙n ſvnder art. Der ſtork ır kennet ſy˙ne tzıt.
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Historischer Hintergrund Einmal mehr gehen Lamey und Doerks ohne konkrete Indizien davon aus, dass auch dieser Spruch in das höhere Alter Bruder Wernhers zu legen sei.352 Vermutlich führen sie diese vermeintliche Datierung auf die Verse 11 und 12 zurück, in denen von einem Achtzigjährigen die Rede ist. Dies als biografisch zu lesen, ist m. E. jedoch kaum gerechtfertigt.353
Inhaltliche Ähnlichkeit mit anderen Texten vgl. vgl. vgl. vgl. vgl.
zu den Ähnlichkeiten zum ,Physiologus‘ Anm. 338 und 339 zu Vers 1–3: Jer 8,7 zu Vers 4–6: Spr 30,18 f. zu Vers 7: Ps 103,5; Jes 40,31 zu Vers 11: Walther L 66,33 (hier V. 1): Lât mich an eime stabe gân (Schweikle: Walther, Bd. 2, S. 442)
Metrik A8ma A8ma A8mb 8mc 5 8mc A8mb A4md A6ke A8md 10 A 6 k e A8mf A8mf
diu kléine swálwẹ und óuch der swán, swen éz in gégen dem tode lt; der túmbe ménschẹ erkénnet níht dén, der ín gebíldet hat. Ǘber den stéin der slánge vért undẹ uf dem mére schíffes gánc, undẹ der ár júnget áber wól – daz hábe wir vón der wsen líute lerè –, der slánge níuwèt ir bálc, hie b man wúnder preven sól; swer nach den áhzec jaren gat mit válweme hârẹ undẹ ane stáp, als éz nû ín der wérlde stat, der gíht, daz gót diu sǽldẹ ime gáp.
352 Vgl. Lamey, S. 35; Doerks, S. 11. 353 Eine ähnliche Position nimmt Anton E. Schönbach ein: „Der Schluß wird sich schwerlich mit irgendwelcher Sicherheit auf den Autor beziehen lassen“ (Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 45). Einmal davon abgesehen, wie realistisch ein Alter von achtzig Jahren für hochmittelalterliche Zeiten überhaupt war.
254
Ton II, Korpus in J
Literatur Doerks, S. 11 • Gerdes: Beiträge, S. 110–114, 150, 152, 168 Anm. 2, 176, 179 und Anm. 4, 182 und Anm. 2, 183, 184 • HMS 4, S. 523 354 • Kemetmüller, S. 6, 13, 33, 214 f. • Moser/Müller-Blattau, S. 75, 81 • Lamey, S. 19, 30, 35, 38 • Leitzmann, S. 162 • Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 44 f. • Roethe, S. 194, 305, 339 • Vetter, S. 247.
354 Von der Hagen scheint in der Strophenzählung durcheinandergekommen zu sein, denn er schreibt für II,25 in seinem Kommentar versehentlich I,15, obwohl der Spruch nach seiner Zählung eigentlich die Nummer I,16 (im zweiten Band) trägt (vgl. HMS 4, S. 523).
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Ton II, Korpus in J
26. Genvge herre ſín geſwachet So daz ıch (es) ín vuͦr gan (J25) Genvge herre ſín geſwachet / So daz ıch (es) ín vuͦ r gan Síe / mvͦzen díenen ane danc. Ob ıch ez / tzvͦ rechte ır kennen kan. Jn ıſt ge/ſchen alſo eẏme blínden der (da) ſynen / knecht vuͦ r ıaget Da nẏeman / wan ſıe eẏne ſin. Da mvͦz der blín/de al eẏne ſtan. 5 Tzvͦ hant geruwet / ẏm dıe vart. Swen er der wege nícht / kan gegan. Daz meẏne ıch an dıe (ſelbe̅) / herren dıe nv leıder ſínt vtzaget. // An eẏme mílten kvnínge guͦ t. / Der ſıe da hat geríchet vıl wıllıch/lıche Der hoer herren dıeníſt wach / owe wa quam ír mannes mvͦt. / 10 Sıe lobent lıchte eẏnen ergeren ſca̅/denrıche Dıe hant ín ſelben ín den / vuͦ z geſtecket eẏnen wexenen dorn. / Nv hẏnke̅t lıeben herren ſıt ır hant / den mílten kvnínc vuͦ r lorn. /
1 Punkt vor So fehlt; es interlinear nachgetragen marginal nachgetragen
3 da interlinear nachgetragen
6 ſelbe̅
26. Genvge herre ſín geſwachet So daz ıch (es) ín vuͦr gan.
257
Genuoge hêrren sint geswachet sô, daz ich ez in vergan: sie müezen dienen âne danc. ob ich ez ze rehte erkennen kan, in ist geschên alsô eime blinden, der dâ sînen kneht verjaget: dâ nieman, wan sie eine sint, dâ muoz der blinde al eine stân; 5 zehant geriuwet in diu vart, swen er der wege niht kan gegân. daz meine ich an die selben hêrren, die nû leider sint verzaget an eime milten künege guot, der sie dâ hât gerîchet vil willeclîche, der hôer hêrren dienest wac. ôwê, wâ kam ir mannes muot? 10 sie lobent lîhte einen ergeren schandenrîche. die hânt in selben in den vuoz gestecket einen wehsenen dorn. nû hinket, lieben hêrren, sît ir hânt den milten künec verlorn.
25 J, 8 C 1 Gevͦge hre̅ hant ſıch ſo geſwachet deſ ıch ın erban. 2 ich ez ze rehte] ıchs rehte. 3 eime] eíne̅. dâ sînen] de̅. 4 dâ] ſwa. sie eine] dıe zwene. 5 swen] als. 6 selben fehlt. 7 an eíne̅ kuͥnıge dır pflag. 8 vn̅ rıchet al da her vıl wılleklıche. 9 owe war kan ır ma̅neſ mvͦt wıe hohe er hren dıeneſt wag. 10 einen ergeren schandenrîche] eın ergers ſıcherlıche. 11 die] ſı. 12 ir hânt] wır han. 3 als.
6 meín.
11 weſſen.
1 hêrre: Es ist unklar, warum im Nom. Pl. des sw. Mask. das ‑n ausgefallen ist (vgl. recke in V,60,10). Wurde über dem ‑e der Nasalstrich vergessen? sint: hsl. steht die md. Form der 3. Pl. Ind. Präs. (vgl. Mhd. Gram., § M 70 Anm. 9) swachen: hier ‚in Beziehung auf Wert und Ansehen herabsetzen, erniedrigen, verringern‘ vergunnen: Ich gehe hier nicht von negativ ‚missgönnen‘, sondern positiv ‚in Güte gestatten, vergönnen‘ (mit Dat. d. P. [in] und Akk. d. S. [ez]) aus. 2 âne danc: feste Wendung ‚gegen den Willen, wider Willen, unfreiwillig‘ 4 sint: vgl. V. 1 5 (ge-)riuwen: tr. ‚betrüben, leid sein, verdrießen, reuen‘, md. auch mit Dat. (siehe J) vart: hier ‚Verlauf, Umstand‘ 6 meinen: mit Akk. d. S. (daz) und Präp. an ‚seine Gedanken auf etwas richten, etwas bedenken, berücksichtigen‘ verzagen: intr. ‚ein zage werden, den Mut, die Zuversicht, Fassung verlieren, verzagen‘ 8 willeclîche: ‚willig, gut-, bereit-, freiwillig, gern‘ 9 hôer hêrren: poss. Gen. zu dienest wegen: ‚wägen, schätzen, erachten‘ 10 erger: Komparativ zu arc, hier ‚geizig‘ schandenrîche: In den einschlägigen WB findet sich kein Eintrag zu einem aus schande und ‑rîche zusammengesetzten Lexem. Handelt es sich hier schlicht um eine bisher noch nicht belegte Komposition (‚reich an Schändlichem, schmählich, schändlich‘) oder ist eigentlich schaderîche (‚reich an Schaden, verlustreich‘, vgl. HWB und DWB) gemeint? 11 wehse: ‚schneidend, scharf‘ 12 lieben (hêrren): Hier sw. flektiert, obwohl die st. Flexion zu erwarten wäre (vgl. Mhd. Gram., § M 24).
HMS 2: I,8 Sch 8
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Ton II, Korpus in J
Übersetzung Viele Herren setzen sich (selbst) derart herab, dass ich es ihnen gönne: Sie müssen gegen ihren Willen dienen. Wenn ich es richtig zu erkennen vermag, ist es ihnen wie einem Blinden ergangen, der dort seinen Diener verjagt: Dort, wo niemand außer ihnen beiden ist, dort muss der Blinde [mutterseelenallein dastehen; 5 sofort betrübt ihn die Entwicklung immer dann, wenn er die Wege nicht zu [gehen vermag. Daran denke ich bei den Herren, die jetzt leider den Mut verloren haben gegenüber einem freigebigen, edlen König, der sie dort überaus bereitwillig bereichert hat, der den Dienst hoher Herren schätzte. Ach, wo ist ihre männliche Gesinnung [hingekommen? 10 Leicht loben sie schändlich einen Geizigeren. Die haben sich selbst einen scharfen Dorn in den Fuß getrieben. Jetzt humpelt, liebe Herren, da ihr den freigebigen König verloren habt!
Inhalt II,26 folgt in seinem Aufbau einem Muster, das häufiger von Bruder Wernher eingesetzt wird, und zwar wird ein Gleichnis (oft ist es auch ein Exempel) verwendet, um eine (eingangs formulierte) These zu veranschaulichen oder aber, um einen konkreten Sachverhalt ins Allgemeine zu heben (oder umgekehrt).355 Im vorliegenden Spruch sieht die Gliederung folgendermaßen aus:356 − Vers 1 f.: Bestimmung des Themas − Vers 3 bis 5: Exempel/bîspel − Vers 6 bis 12: Übertragung des Exempels/bîspels auf einen „konkreten“ Sachverhalt Ausgangspunkt bildet die Feststellung des Sprecher-Ich, dass viele Herren sich selbst und ihren eigenen Wert derart herabsetzen, dass ihnen das Ich die Lage, in die sie sich selbst bringen, gönnt. Sie müssen in der Konsequenz nämlich gegen ihren Willen zu Diensten stehen (die Verse 1 und 2 entfalten ihre eigent-
355 Vgl. zur Rolle und Funktion des bîspels Gerdes: Beiträge, S. 203–206. 356 Shao-Ji Yao unterteilt den Spruch in Promythion (V. 1–3), Exempel (V. 3–5) und Auslegung (V. 6–12) (vgl. Yao, S. 125).
26. Genvge herre ſín geſwachet So daz ıch (es) ín vuͦr gan.
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liche Bedeutung erst vor dem Hintergrund des Abgesangs). Das Ich tritt hierbei durchaus forsch auf. Zugleich entschärft aber die Äußerung ob ich ez ze rehte erkennen kan (V. 2) die Situation, da durch sie impliziert wird, dass das Ich nicht absolut sicher ist und die Sachlage auch anders sein könnte. Natürlich ist dies vor allen Dingen ein argumentativer Schachzug, den das Ich nutzt, um seine zuvor geäußerte Haltung scheinbar zu relativieren und sich auf diese Weise vor potenzieller Kritik zu schützen. Im Anschluss daran folgt das bîspel vom blinden und seinem kneht[e] (beides V. 3), das Bruder Wernher auch noch an anderer Stelle verwendet.357 Zwar ist der Blinde der Herr des Dieners, diese Position nützt ihm jedoch nichts, wenn er seinen Diener davonjagt und am Ende alleine und orientierungslos dasteht und sein vorschnelles, unüberlegtes Handeln bereuen muss.358 Im weiteren Verlauf des Spruches stellt sich heraus, dass mit dem kneht[e] des bîspels ein milte[r] küneg[e] guot (vgl. V. 7) gemeint ist. An diesem sind die Herren verzaget (V. 6) – obgleich er ihnen gegenüber sehr großzügig war (vgl. V. 8) und ihren Dienst zu schätzen wusste (vgl. V. 9).359 Indem sie ausgerechnet diesen König ablehnen und lîhte einen ergeren schandenrîche (V. 10) loben, beißen sie die Hand, die sie füttert. Den Schaden, den sich die Herren durch ihr unüberlegtes Handeln selbst zufügen, beschreibt anschaulich das Bild des Dorns, den sich die Herren – sehenden Auges! – zuziehen (vgl. V. 11 f.). Und das dadurch hervorgerufene Humpeln ist zudem für jedermann erkennbar.360 Die Zuordnung künec = kneht, hêrren = blinder ist nur auf den ersten Blick eine Abwertung des gesellschaftlichen Status des Königs. Wie das bîspel deutlich macht, nimmt der kneht eine ganz zentrale Rolle ein, so dass der blinde ohne ihn hilflos ist. Sowohl künec als auch kneht leisten in ihrer jeweiligen Position also entscheidende, wenn nicht unverzichtbare Dienste. Die hêrren andererseits werden aufgrund des Verlgeichs mit einem Blinden hinsichtlich ihrer gestörten Wahrnehmungsfähigkeit dargestellt: Anstatt den Wert ihres
357 Vgl. IV,57 und evtl. V,64,10 verblinden. 358 Yao weist mit Blick auf II,26 und IV,57 auf die unterschiedliche Darstellung des Blinden hin: Während er in II,26 als Täter inszeniert wird, der seinen Diener aktiv vertreibt, ist er in IV,57 eher das Opfer; hier verliert er seinen Führer (IV,57,1) (vgl. Yao, S. 127). Zum Vergleich von II,26 und IV,57 vgl. auch ebd., S. 126 f. 359 Die Freigebigkeit des Königs wird mehrfach und auf unterschiedliche Art und Weise betont: V. 7 eime milten künege, V. 8 der […] hât gerîchet vil willeclîche, V. 9 wegen (,wägen, schätzen, erachten‘) impliziert ebenfalls eine materielle Komponente, V. 12 den milten künec. 360 Auch in IV,58,3 und 6 ist von hinken (zusammen mit strûchen und vallen) die Rede. Und auch dort ist „die beginnende Minderung des Ansehens“ (Gerdes: Beiträge, S. 60) gemeint. Auch Reinmar von Zweter verwendet übrigens das Bild des Hinkens, allerdings beginnt bei ihm der geloube zu hinken (vgl. Reinmar 223, Roethe, S. 520).
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Ton II, Korpus in J
Königs zu erkennen, wenden sie sich von ihm ab und stattdessen einem Geizhals (vgl. V. 10) zu, also dem Gegenteil ihres Königs. Die Parallelüberlieferung fällt nur durch wenige signifikante Varianten auf. Nachfolgend sind diejenigen aufgeführt, die m. E. am augenscheinlichsten ins Gewicht fallen: C schreibt in Vers 7 an einem künege, der ir phlac und betont, indem das nachgestellte Adjektivattribut aus J (vgl. V. 7 guot) durch einen Relativsatz ersetzt wird, noch deutlicher, als dies in J der Fall ist, das positive, fürsorgliche Verhalten des Königs. Darüber hinaus unterstreicht die Wortwahl phlegen die Parallele zwischen künec und kneht, denn Letzterer kümmert sich ja ebenfalls um den blinden, phliget ihn also. In Vers 12 steht in C statt der 2. Plural (J ir hânt) die 1. Plural (C wir hân), wodurch der Schlussvers in C etwas dramatischer erscheint: Aufgrund des unbedachten Vorgehens der hêrren müssen jetzt nicht nur diese unter dem Verlust des Königs leiden, sondern die Gemeinschaft an sich – wir hân den milten künec verlorn.
Historischer Hintergrund Die Forschung hat in dem milten künege weitgehend übereinstimmend Kaiser Friedrichs II. Sohn Konrad IV. ausgemacht.361 Bei seinem Gegenspieler, dem ergeren in Vers 10, wird es sich um einen der beiden deutschen Gegenkönige, Heinrich Raspe oder Wilhelm von Holland, handeln. Heinrich Raspe wird am 22. Mai 1246 zum deutschen Gegenkönig gewählt, stirbt jedoch bereits ein Jahr später, am 16. Februar 1247, wohl nach einer schweren Erkrankung.362 Der Entstehungszeitraum des Spruches wäre also zeitlich klar begrenzt. Vor diesem Hintergrund bereitet Vers 12 einige Schwierigkeiten: In ihm ist davon die Rede, dass der freigebige König verlorn sei. Wenn mit verlorn nun Konrads IV. endgültige Abreise aus Deutschland gemeint ist, lässt sich dies schwer mit Heinrich Raspes Regentschaft von Mai 1246 bis Februar 1247 verbinden, denn Konrad IV. verlässt Deutschland erst im Oktober 1251 Richtung Italien. Geht man also von einer Abfassungszeit zwischen Anfang 1246 (bald
361 Vgl. HMS 4, S. 517; Meyer, S. 98; Lamey, S. 32; Doerks, S. 9; Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 30; Gent, S. 110; Gerdes: Beiträge, S. 60 f.; Gerdes: Zeitgeschichte, S. 30; Edwards, S. 307. 362 Vgl. Gebhardt, Bd. 6, S. 277–279.
26. Genvge herre ſín geſwachet So daz ıch (es) ín vuͦr gan.
261
vor oder unmittelbar nach Heinrich Raspes Wahl) und Februar 1247 aus, so ist mit verlorn nicht Konrads IV. Abreise gemeint.363 Diese Schwierigkeiten ergeben sich nicht, wenn man nicht von Heinrich Raspe, sondern Graf Wilhelm von Holland ausgeht, denn dieser ist bis 1254, also über Konrads Abreise hinaus, deutscher Gegenkönig. Er wird noch im Todesjahr Heinrich Raspes, am 3. Oktober 1247, zum neuen Gegenkönig gewählt.364 Es ist nicht ganz klar, warum die Forschung bei der Klärung der Datierungsfrage von II,26 in erster Linie von Heinrich Raspe als ergerem ausgeht und Graf Wilhelm von Holland, soweit ich das sehe, einzig von Ulrich Müller ernsthaft in Erwägung gezogen wird.365 Schönbach erklärt mit Blick auf Vers 12: „[…] die Herren wanken noch und Heinrich Raspe ist schwerlich schon gewählt, noch weniger des Erfolges sicher.“366 Aber reicht dies als Argument aus, Wilhelm von Holland bei Datierungsversuchen völlig außen vor zu lassen (geschweige denn, unter dem freigebigen König Heinrich [VII.] zu verstehen)?367
363 Die Datierungen der Forschung spiegeln diese unsichere Auslegung von verlorn wider, denn eine konkretere Festlegung wird nur bedingt vorgenommen: „schwerlich vor 1251“ (Meyer, S. 98); „nicht lange nach der Wahl Heinrichs“ (= 22. Mai 1246) (Lamey, S. 32); „kaum vor 1251“ (Doerks, S. 9); „Also fällt der Spruch gewiß vor die Schlacht von Frankfurt (am 5. August 1246)“ (Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 30); „fällt wahrscheinlich in das Jahr 1247, nachdem Konrad IV. vom Papst gebannt und abgesetzt war“ (Gent, S. 110). 364 Vgl. Gebhardt, Bd. 6, S. 282–288. 365 Er bringt den ergeren und den dorn in Verbindung mit Wilhelm, der nach seiner Wahl zum Gegenkönig „schon bald (ab 1251) mit seinen kirchlichen ,Gönnern‘ in territorialen Konflikt [kam], was schließlich so weit führte, daß der Kölner Erzbischof Konrad von Hochstaden 1255 Wilhelms Rücktritt oder Absetzung zu erreichen versuchte […]. Da V. 12 nicht sagt, ob der „milde König“ (= Konrad) abgesetzt (1245), abwesend (seit 1251) oder gestorben (1254) ist, läßt sich die Strophe nicht eindeutig auf ein bestimmtes Jahr datieren; sofern die Gleichsetzung „karger“/„Dorn“ = Wilhelm, wird sie wohl erst nach 1251 entstanden sein“ (Müller: politische Lyrik, S. 92). Vgl. andererseits Lamey, S. 32; Doerks, S. 9; Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 30 (Schönbach diskutiert die Frage, ob Heinrich Raspe oder nicht doch schon Heinrich [VII.] gemeint ist, tendiert schließlich jedoch zu Ersterem). 366 Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 30. 367 Vgl. zu Heinrich (VII.) Anm. 365. Schönbach räumt abschließend ein, „daß ich, wenigstens derzeit, Klarheit und Sicherheit über Bezug und Datierung dieses Spruches nicht zu gewinnen vermag“ (ebd.).
262
Ton II, Korpus in J
Metrik A A A A 5 A A A A A 10 A A A
8ma 8ma 8 2m b 8mc 8mc 8 2m b 4md 6ke 8md 6ke 8mf 8mf
sie mezen díenen ane dánc. ob ích ez ze réhtẹ erkénnen kán, alsộ blindẹ zehánt geríuwet ín diu várt, swen ér der wége niht kán gegan. meinẹ an éime mílten knege gúot, der síe dâ hat gerchet vil wílleclchè, sie lóbent lhtẹ einen érgeren schándenrchè. die hant in sélben ín den vúoz gestécket éinen wéhsenen dórn, nû hínket, líeben herren, st ir hant den mílten knec verlórn.
Literatur Brunner: Bruder Wernher, Sp. 899 • Doerks, S. 9 • Edwards, S. 307 • Gent, S. 110 f. • Gerdes: Beiträge, S. 59–61, 73, 74, 177 und Anm. 1 und 3, 179 und Anm. 7, 203 Anm. 1, 208 • Gerdes: Zeitgeschichte, S. 130 • HMS 4, S. 517 • Kemetmüller, S. 25–27, 40, 45, 58, 211 • Lamey, S. 8, 19, 32 f. • Leitzmann, S. 161 • Meyer, S. 98 f. • Moser/ Müller-Blattau, S. 75 f., 81 • Müller: politische Lyrik, S. 92 • Roethe, S. 339 • Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 27–30 • Scholz: Reichsidee, S. 87, 120 • Strasser, S. 248 • Teschner, S. 123–125 • Vetter, S. 245 • Yao, S. 37, 77, 125–127, 128, 129, 130, 158, 201.
264
Ton II, Korpus in J
27. Ich han der ſwaben wírdıcheít. Jn vremden landen víl geſen. (J26) Ich han der ſwaben wírdıcheít. Jn / vremden landen víl geſen. Da wor/ben ſıe nach brıſe alſo daz man ẏn / wırde mvͦſte ıen. Nv wıl ıch ín ır / lande varen wıe ſıe da heẏme ſẏnt / gemvͦt Swer mír da heẏme vnde / anders wa. Von ſchulden mvͦz be/vallen wol. 5 Er ſı gewıs daz ıch ẏme / tuͦ mít dıenſte alſo ıch von rechte / ſol. Jſt daz ıch ẏne vínde. So daz er / vuͦ r valſche ıſt behuͦ t Eẏn lob daz / vz der kvnde veret. Daz hat der wı/ſen volge ín vremden landen So / ıſt maníger der mít ſcalle guͦ t duͦ rch / rovm bı den vremeden tzeret. 10 Vnde / lebet da heẏme ín grozen houbet / ſchanden Swer beıder lob behalte̅ / wıl der ere ſín hus daz ıſt mẏn rat. / Daz wazzer nẏnder ıſt ſo guͦ t ſo da / ez vz von ſprvngen gat. /
27. Ich han der ſwaben wírdıcheít. Jn vremden landen víl geſen.
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Ich hân der Swaben wirdecheit in vremden landen vil gesên; dâ wurben sie nâch prîse alsô, daz man in wirde muoste jên; nû wil ich in ir lande varn, wie sie dâ heime sint gemuot. swer mir dâ heime unde anders wâ von schulden muoz gevallen wol, 5 er sî gewis, daz ich ime tuo mit dienste, alsô ich von rehte sol, ist, daz ich ine vinde sô, daz er vür valsche ist behuot. ein lop, daz ûz der kunde vert, daz hât der wîsen volge in vremden landen. sô ist maneger, der mit schalle guot durch roum bî den vremeden zert 10 unde lebet dâ heime in grôzen houbetschanden. swer beider lop behalten wil, der êre sîn hûs, daz ist mîn rât. daz wazzer niender ist sô guot, sô dâ ez ûz von sprungen gât.
26 J, 27 [26] C 1 Swaben] ſwabe. 3 varn] ervarn. heime fehlt. 5 er] d. dienste] ſange. von] ze. 6 valsche] ſchande̅. 8 vremden] alle̅. 9 vıl manıg vndwıle̅t gvͦt dvr guͥde bı de̅ froͤmde̅ zert. 10 de̅ man daheíme ſıht ín groſſen ſchande̅. 11 beider] beıde. 12 ûz von sprungen gât] vo̅ ſprvnge vf gat. 1 geſehen.
2 ıehen.
4 vn̅. 5 ím. als.
6 ín. alſo.
2 jên (Kontr. zu jehen): mit Dat. d. P. (in) und Gen. d. S. (wirde) ‚jemandem etwas zugestehen, zu eigen geben, anrechnen‘ 4 von schulden: feste Wendung ‚mit Recht, zu Recht‘ gevallen: mit Dat. d. P. (mir) hier ‚gefallen‘, hsl. mit be-Präfix, ich ändere zu ge- (wie es übrigens auch C schreibt) 5 tuon: absol. ‚tun, handeln, verfahren, sich verhalten‘, hier mit Dat. d. P. (ime) ‚begegnen, verhalten‘ alsô: hier vergleichend ‚wie‘ von: ‚durch, von, aufgrund‘ soln: ist hier nicht als Hilfsverb verwendet, deswegen ‚verpflichtet, genötigt, bestimmt sein‘ 6 ist, daz: wörtlich ‚wenn es so ist, dass‘ 7 kunde: hier ‚Kenntnis, Wissen‘ varn: hier ‚hervorgehen, kommen, erwachsen‘ 8 volge: hier ‚Zustimmung‘ 9 schalle: ‚übermütiges Lautwerden, Prahlerei, Übermut‘; oder ist vielmehr die feste Wendung mit schalle (‚laut, lautstark‘) gemeint? Ich entscheide mich für Letzteres, da durch roum zusätzlich bzw. ohnehin der prahlerische, heuchlerische Charakter impliziert ist. roum: ‚Schimmer, Vorstellung, täuschendes Bild‘ bî den vremeden: alternativ zu ‚bei den Fremden‘ könnte auch etwas freier übersetzt werden ‚in der Fremde, im Ausland‘ 10 (grôze) houbetschanden: ‚Hauptschande, große Schande‘ 12 ûz von sprunge gân: ‚von der Quelle kommen, entspringen‘
HMS 2: I,14 Sch 14
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Ton II, Korpus in J
Übersetzung Ich habe viel von dem Ansehen der Schwaben in fremden Ländern [kennengelernt; dort bemühten sie sich derart um Ruhm, dass man ihnen Ehre zugestehen [musste; jetzt möchte ich in ihr Land gehen, (um zu sehen,) wie sie daheim gesinnt [sind. Wer auch immer mir zu Hause und andernorts zu Recht gut gefallen muss, 5 der möge sicher sein, dass ich ihm dienstergeben begegne, wie ich von Rechts [wegen verpflichtet bin, wenn ich ihn derart vorfinde, dass er sich vor Unehrenhaftigkeit hütet. Ein Lob, das aus (diesem) Wissen hervorgeht, das hat die Zustimmung der Verständigen in fremden Ländern. So (gibt es) manchen, der lautstark Vermögen um des schönen Scheins willen [bei den Fremden verbraucht 10 und daheim in übermäßig großer Schande lebt. Wer auch immer das Lob beider behalten möchte, der möge sein Haus ehren, [das ist mein Ratschlag. Das Wasser ist nirgends so rein, wie dort, wo es der Quelle entspringt.
Inhalt Auch in II,27 wird – wie z. B. in II,26 oder II,28 – auf eine Art Kurzerzählung zurückgegriffen, um einen eher allgemeinen bzw. abstrakten Sachverhalt zu erläutern. Dieser veranschaulichende „Erzählerbericht“ steht hier zu Beginn des Spruches im ersten Stollen. Es geht um das Ansehen368 der Schwaben, welches das Sprecher-Ich in vremden landen (V. 1) häufig wahrgenommen hat (vgl. V. 1) und das man ihnen völlig zu Recht zuspricht (vgl. V. 2). Da der Sprecher weiß, wie es um den Ruf der Schwaben im Ausland bestellt ist, bleibt für ihn noch herauszufinden, wie es mit ihrem Auftreten dâ heime (V. 3) in ihrem Land (vgl. V. 3) aussieht. Denn das Ich steht nur demjenigen rechtmäßig zu Diensten (vgl. V. 5), der sich nicht nur dâ heime unde anders wâ (V. 3) angemessen und gut verhält, sondern der dies auch auf eine Art und Weise tut, die ihn vor Unehrenhaftigkeit und Treulosigkeit bewahrt (vgl. V. 6). Es werden somit Bedingungen gestellt, die erfüllt sein müssen, um sich den Dienst des Ich zu sichern. 368 Das Ansehen der Schwaben wird in II,27 durch die Lexeme wirdecheit (V. 1), prîs (V. 2), wirde (V. 2), vür valsche behuot (V. 6) und lop (V. 7 und 11) beschrieben.
27. Ich han der ſwaben wírdıcheít. Jn vremden landen víl geſen.
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Die Verse 4 und 6 bilden eine verallgemeinernde Schlussfolgerung369 des ersten Stollens, gleichzeitig wird die als allgemeingültig erscheinende Aussage aber durch das Sprecher-Ich, das an keiner Stelle des Spruches so „geballt“ auftritt wie im zweiten Stollen (vgl. V. 4 mir, V. 5 ich [zweimal], V. 6 ich), wieder personalisiert. Auf diese Weise erscheint der Übergang vom einleitenden bîspel zur eher abstrahierten Belehrung, die dann im Abgesang in vielschichtiger Form erfolgt, weniger einschneidend. In den Versen 7 und 8 tritt das Ich schließlich zurück (im Abgesang begegnet es uns unmittelbar nur noch in Vers 11 [mîn rât]) und stattdessen wird der verallgemeinernde Duktus, der sich im zweiten Stollen bereits angedeutet hat, deutlich verstärkt. Der Dienst des Ich, von dem zuvor die Rede ist, wird nun als lop (V. 7) definiert – der Dienst speziell des Sängers also –, das als besonders hochwertig und kostbar dargestellt wird, da es zum einen überhaupt nur dann ausgesprochen wird, wenn die in Vers 4 bis 6 genannten Bedingungen erfüllt sind (das Lob vert ûz der kunde [V. 7]), und zum anderen, weil gerade dieses lop der wîsen volge (V. 8) besitzt, und diese volge (‚Zustimmungʻ) werden die wîsen nicht ohne Grund gewähren. Auch hier setzt Wernher also den Verweis auf die Klugen, Erfahrenen ein, deren Urteil anerkannt ist und Gültigkeit besitzt.370 Diesen beiden eher positiv konnotierten Versen wird anschließend in Vers 9 und 10 eine Art negatives Gegenbeispiel gegenübergestellt: Anstatt Lob und gutes Ansehen auf die Art und Weise zu verdienen, wie es in den vorausgegangenen Versen beschrieben wird, erzählen Vers 9 und 10 von manege[m] (V. 9), der um des schönen Scheins willen sein Hab und Gut bî den vremeden (V. 9) verprasst (vgl. V. 9), während er dâ heime (V. 10) in tiefer Sünde lebt (vgl. V. 10). Er gibt also nichts darauf, wie er sich zu Hause verhält und wahrgenommen wird, im Ausland aber, dort lebt er auf großem Fuß, um bei denjenigen, die ihn nicht kennen, einen guten Eindruck zu erwecken, der tatsächlich aber nur Blendwerk ist. Die Verse 9 und 10 dienen zur Abschreckung vor einem derart schlechten Verhalten und zugleich zur Untermauerung der Verse 7 und 8 und dem darin angepriesenen Lob (das wiederum vor dem Hintergrund des zweiten Stollens zu sehen ist). Im Anschluss an diese zunächst positiven und dann negativen Ausführungen folgt in den beiden Schlussversen eine mehr oder weniger neutrale, bilanzierende Sentenz: Das lop, von dem in
369 Klassisches Kennzeichen hierfür ist die swer-der-Konstruktion, die auch in der abschließenden Sentenz in Vers 11 eingesetzt wird. Eine ähnliche Funktion hat die Verbindung maneger – der in Vers 9; grundsätzlich wird damit der generalisierende bzw. allgemeingültige Anspruch einer Aussage betont. 370 Vgl. dazu Anm. 235.
268
Ton II, Korpus in J
Vers 11 die Rede ist, ist v. a. vor dem Hintergrund von Vers 7 (Ein lop, daz ûz der kunde vert) zu sehen, d. h. vor dem Hintergrund der Bedingungen, die an das Lob geknüpft sind. Darüber hinaus bezieht sich beider (V. 11) Lob auf Vers 9 f., nämlich auf die Fremden und die Einheimischen. Dies ist wiederum ein klarer Verweis auf den Aufgesang, denn dort geht es ja gerade darum, das Lob nicht nur in der Fremde, sondern v. a. auch zu Hause, wo man nur schwer jemanden täuschen kann, zu erlangen.371 Deswegen möge man sîn hûs êre[n] (V. 11), also generell auf seinen Ruf achten, denn damit legt man den Grundstein für das persönliche Ansehen insgesamt, ob nun nah oder fern. Wer sein Haus nicht „sauber hält“, der wird wohl kaum in der Lage dazu sein, Ansehen, Würde und seinen guten Ruf in die Welt hinauszutragen. Wenn das Wasser bereits an seiner Quelle verunreinigt ist, wird es bestimmt nicht sauberer, je weiter es von seinem Ursprung wegfließt (vgl. V. 12). Der Spruch endet also ähnlich, wie er begonnen hat – mit dem Bemühen um möglichst große Anschaulichkeit. Die Lesart in C fällt weniger durch Wortumstellungen innerhalb bestimmter Verse oder variierende Formulierungen auf als vielmehr durch Varianten einzelner Lexeme. Besonders hervorzuheben ist Vers 5, in dem es in C sange statt dienste heißt, so dass nicht der Dienst allgemein genannt wird, sondern ganz konkret der Dienst des Sängers. Das Ich in C definiert sich und seine Form des Dienens also spezifischer. Besonders daran ist, dass gerade dieses Dienen, nämlich das Singen, einen maßgeblichen Teil zum Ansehen einer Person beitragen kann, und zwar sowohl positiv als auch negativ. Dem Sänger kommt also eine gewisse Macht zu. Weitere Lexemunterschiede zwischen J und C finden sich in den Versen 6, 8 und 9: Am bedeutsamsten ist m. E. Vers 8, in dem es in C in allen landen statt in vremden landen heißt. Einerseits verstärkt die Lesart in C den Gültigkeitsbereich des Lobs (vgl. V. 7), denn die Zustimmung der wîsen erstreckt sich nun nicht mehr nur auf die vremden lande, sondern auf alle. Die Qualität des Lobs wird somit zusätzlich erhöht. Andererseits nimmt aufgrund dessen, dass das Lexem vremde hier ersetzt ist und zudem in Vers 3 lediglich dâ statt dâ heime steht, die gezielte Einheitlichkeit des Spruches auf Lexemebene in C ab. Im Unterschied zu J wird hier weniger stark auf die systematische Wiederholung bestimmter Ausdrücke geachtet. 371 Diese Gleichwertigkeit von In- und Ausland spiegelt sich in der Ausgestaltung des Spruches wider: Von der Fremde ist an vier Stellen die Rede (vgl. V. 1 und 8 in vremden landen, V. 4 anders wâ, V. 9 bî den vremeden), vom Zuhause ebenfalls (vgl. V. 3 in ir lande, V. 3, 4 und 10 dâ heime), wobei beides über den gesamten Spruch verteilt ist.
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269
Bleiben noch die Verse 6 und 9, die sich in J und C nur auf den ersten Blick voneinander unterscheiden: In Vers 6 beschränkt sich die inhaltliche Varianz auf Lexeme (valsch in J und schande in C), die beide negativ konnotiert sind und dem Überbegriff ,Untugend‘ zugerechnet werden können. Der Vers weist also in beiden Lesarten inhaltlich in dieselbe Richtung. Ähnlich sieht dies auch bei Vers 9 aus (vil maneger underwîlent guot durch guide bî den vremden zert): Zwar variiert dieser insgesamt stärker, als dies bei den bisher genannten Unterschieden der Fall ist, dennoch weichen die Lesarten von J und C in ihrer Kernaussage nicht voneinander ab.
Historischer Hintergrund Die ältere Forschung hat sich aufgrund des ersten Stollens zu der Annahme verleiten lassen, dass Bruder Wernher „eine Reise zu den Schwaben beabsichtigt“372. Ob der dritte Vers jedoch tatsächlich wörtlich zu verstehen ist, ist unklar. Zwar kann aus den Versen 1 bis 3 evtl. der Schluss gezogen werden, dass Bruder Wernher selbst kein Schwabe ist,373 dennoch kann die Aussage des ersten Stollens insgesamt auch schlicht rhetorischen Zwecken dienen – wovon m. E. eher auszugehen ist – und weniger als biografischer Hinweis zu verstehen sein: Der Spruch behandelt die Frage nach der Ausgewogenheit des Ansehens in der Ferne und zu Hause. Diese Thematik führt er anhand eines bîspels aus, das zu Beginn der Strophe steht und vor dessen Hintergrund der weitere Strophenverlauf zu sehen ist. Hierbei erscheint es nicht unlogisch, dass Bruder Wernher nicht einfach nur ein bîspel wählt, das auf Fremde und Heimat anspielt, sondern für zusätzliche Anschaulichkeit sorgt, indem er das bîspel personalisiert, d. h. in Form einer Art Erfahrungsbericht des SprecherIch gestaltet. Und dieser Erfahrungsbericht beschreibt die Eindrücke, die das Ich hinsichtlich des Ansehens der Schwaben bereits in vremden landen (V. 1) gesammelt hat. Wenn es dann erklärt, es wolle nun in ir lande varn (V. 3), um zu sehen, wie sie sich dort verhalten, muss dies nicht unweigerlich eine autobiografische Aussage Wernhers sein. Abschließend sei noch auf Anton E. Schönbachs Auslegung von II,27 hingewiesen. Er geht davon aus, dass die Strophe als Bittspruch zu verstehen sei:
372 Lamey, S. 6. Vgl. auch: „Deutsche Länder und Stämme, die er besuchte“ (HMS 4, S. 520); „als er sich zu einer Reise nach dem Schwabenland ansschickte“ (Meyer, S. 82); „auch bei seinem Besuche, den er ihrem Lande abstatten wolle“ (Doerks, S. 3); „machte er mehrere Fahrten und kam nach Schwaben, Franken und an den Rhein“ (Kemetmüller, S. 93). 373 Vgl. HMS 4, S. 520; Lamey, S. 11.
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Ton II, Korpus in J
Der Spruch enthält die ziemlich unverblümte Aufforderung an die schwäbischen Fürsten (noch König Heinrich? schwerlich) und Herren, dem Dichter reichlich zu spenden, je nach der Gabe werde auch das Lob ausfallen.374
Worin Schönbach das Unverblümte oder gar eine Aufforderung zur Spende sieht, ist mir rätselhaft.375 Noch dazu geht es in II,27 ja nur zweitrangig um die Schwaben. Wie weiter oben erläutert, sind sie eher Mittel zum Zweck: Der Spruch zielt eigentlich auf die Ermahnung zu angemessenem Auftreten ab, und zwar sowohl zu Hause als auch in der Fremde.
Inhaltliche Ähnlichkeit mit anderen Texten vgl. zu Vers 1: Ludwig Tieck (Einleitung im ,Phantasus‘): „[…] die freundlichen, sinnvollen, erfindungsreichen Schwaben im Garten ihres Landes schildern, von denen schon ein alter Dichter singt: Ich hab der Schwaben Würdigkeit In fremden Landen wohl erfahren;“ (Frank: Ludwig Tieck, S. 19)376 vgl. zu Vers 9 f.: Walther L 103,6 (hier V. 5 ff.): maniger schînet vor den fremden guot und hat doch valschen muot. wol im ze hove, der heime rehte tuot! (Schweikle: Walther, Bd. 2, S. 396) Spervogel MF 20,1 (hier V. 1–4): Swer in vremeden landen vil der tugende hât, der solde niemer komen hein, daz waere mîn rât, erne héte dâ den selben muot. ez enwárt nie mannes lop sô guot, sô daz von sînem hûse vert, dâ man in wol erkennet. (MF, S. 38)
374 Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 41. Gerdes schließt sich eher beiläufig Schönbachs Position an, indem er II,27 als „Mahnung zur Freigebigkeit“ versteht (Gerdes: Beiträge, S. 189). 375 Die Verse 4 bis 6, in denen das Ich seinen Dienst (= Gesang) ankündigt, für den Fall, dass sich der Betreffende dâ heime unde anders wâ auf erfreuliche Art und Weise präsentiert, reichen m. E. in ihrer allgemeinen, unspezifischen Formulierung kaum aus, um daraus eine Spendenforderung Wernhers abzuleiten. 376 Vgl. auch Leitzmann, S. 162.
27. Ich han der ſwaben wírdıcheít. Jn vremden landen víl geſen.
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Metrik A A A A 5 A
8ma 8ma 8mb 8mc 8mc 8mb A4md A6ke 8md 10 2A 6 k e A8mf A8mf
prîsẹ heimẹ, undẹ er s gewís, daz ích ime túo mit díenstẹ, alsộ ích von réhte sól, íst, daz ích ine vínde so, daz ér vür válsche íst behúot. volgẹ so ist máneger, dér mit schálle gúot durch róum bî den vrémeden zért unde lébet dâ héimẹ in grozen hóubetschándèn. swer béider lóp behálten wíl, der ere sîn hus, daz íst mîn rat.
Literatur Doerks, S. 3 • Gerdes: Beiträge, S. 94 und Anm. 5, 147 Anm. 1, 149 Anm. 7, 154 und Anm. 3, 156, 157, 174 und Anm. 4, 179 und Anm. 4, 181 und Anm. 9, 184, 189 • HMS 4, S. 520377 • Kemetmüller, S. 5, 32, 72, 79, 93, 213 • Lamey, S. 6, 8, 11 • Leitzmann, S. 162 • Meyer, S. 82 • Moser/Müller-Blattau, S. 76, 81 • Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 40–42 • Vetter, S. 246.
377 Von der Hagen scheint in der Strophenzählung durcheinandergekommen zu sein, denn er schreibt für II,27 in seinem Kommentar versehentlich II,14, obwohl der Spruch nach seiner Zählung eigentlich die Nummer I,14 (im zweiten Band) trägt (vgl. HMS 4, S. 520).
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Ton II, Korpus in J
28. So ſtarken man ích nẏe geſach. Jch wene er ín der ſı bekant. (J27) So ſtarken man ích nẏe ge/ſach. Jch wene er ín der ſı be/kant. Der eẏne mvͦge betwẏngen / hoe buͦ rge vnde wıte lant. En hat er (ouch) // der hulfe nícht ẏm mvͦge an beıden / míſſe barn Díe lıvte ſẏnt tzvͦ grozer / not. Vnde ouch tzvͦ kvrtzewıle guͦ t. / 5 Jch hore ſagen ſwer gerne ıaget. Daz / er den hvnden lıebe tuͦ t. Daz ſıe of der / rore vnde of der (rechten) verte ıcht wıder varn. / Sıt daz man hvnden lıeben ſol. Daz / ſıe of der rechten verte ıcht wíder / keren. So tzẏmet ouch guͦ te han/delvnge an vnvuͦ rtzageten helden / wol. 10 Sıe helfent vıl gewaltes ırme / herren Betwngen dıeneſt duͦ rch / vorchte wırt. (?) Da ıſt der lıebe gar ge/ſwıgen. Swer holden vríunt an ſtrí/te hat der mac wol vẏenden an ge/ſıgen /
3 ouch marginal nachgetragen 6 rechten interlinear nachgetragen schwach erkennbar
11 Punkt nach wırt nur
28. So ſtarken man ích ny˙e geſach. Jch wene er ín der ſı bekant.
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Sô starken man ich nie gesach, ich wæne, er iender sî bekant, der eine müge betwingen hôe bürge unde wîtiu lant; enhât er ouch der helfe niht, im müge an beiden missevarn. die liute sint ze grôzer nôt unde ouch ze kurzewîle guot. 5 ich hœre sagen, swer gerne jaget, daz er den hunden liebe tuot, daz sie ûf der ruore unde ûf der rehten verte iht wider varn. sît daz man hunden lieben sol, daz sie ûf der rehten verte iht wider kêren, sô zimet ouch guotiu handelunge an unverzageten helden wol; 10 sie helfent vil gewaltes irme hêrren. betwungen dienest, durch vorhte wirt – dâ ist der liebe gar geswigen. swer holden vriunt an strîte hât, der mac wol vîenden an gesigen.
27 J, 5 C 1 ich wæne, er iender] vn̅ wene oͮch níema̅. 2 betwingen hôe] ertwı ̅ge̅ vıl d hohe̅. 3 en und ouch fehlen. im müge] er mag. 4 ze] bı. 5 ich hœre sagen, swer] es ſı eın ma̅ d. 6 dc ſı ze ruͦre vn̅ vf dverte kv̅nen ſıch bewarn. 7 hunden] hvnde. 8 wider kêren] umbekere̅. 9 guotiu] wduͥ. helden] luͥte̅. 10 sie] dıe. irme hêrren] vn̅ maníger ere̅. 11 wirt] eín fruͥnt. 2 vn̅.
4 vn̅. 8 vart.
9 zımt. vnvzagte̅ 11 dıenſt.
1 iender: In von wænen abh. Sätzen nimmt iender negative Bedeutung an, und zwar auch dann, wenn ein verneinendes Ausdrucksmittel fehlt (vgl. Mhd. Gram., § S 147, 1.). 2 betwingen: hier ‚unterwerfen‘ burc: Aufgrund des Attr. hôhe ist hier wohl nicht von der Bedeutung ‚Stadt‘ auszugehen, sondern von ‚Burg‘. wît: ‚weit, von großer Ausdehnung‘, deutet hier mehr auf die Größe der Länder hin, als auf die Entfernung, die zwischen dem Standort des Sprechers und den Ländern liegt. 3 missevarn: hier ‚übel ergehen‘ 4 liute: Aufgrund des Kontextes (vgl. V. 5–10) verstehe ich liute speziell auf die Gefolgsleute bezogen (vgl. auch Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 19 und Strasser, S. 247 und Anm. 58). kurzewîle: ‚Zeitkürzung, Unterhaltung, Vergnügen‘ guot: Was genau ist gemeint: Sind die Gefolgsleute sowohl in Zeiten der Not als auch in denen der Freude anständig, d. h. brav und gut gesittet, oder sind sie in solchen Zeiten viel eher nützlich, d. h. hilfreich? Kontextuell scheinen beide Bedeutungen gemeint zu sein. 5 liebe tuon: mit Dat. (den hunden) ‚an jemandem/etwas mit Freundlichkeit handeln, ihm wohl tun‘ 6 daz: M. E. ist hier sowohl die finale als auch die konsekutive Bedeutung möglich. ruore: ‚die Hatz der Hunde auf das Wild‘ vart: hier ‚Fährte‘ iht: hier mit verneinender Bedeutung (vgl. Mhd. Gram., § S 147, 1.) 7 lieben: hier mit Dat. (hunden) ‚liep, angenehm, beliebt machen‘ 8 kêren: Die hsl. Form keren der 3. Pl. Ind. Präs. (regulär kêrent) ist, wohl bedingt durch Reimzwang (kêren : hêrren), als md. und/oder mnd. Form zu sehen (vgl. Mhd. Gram., § M 70 Anm. 9 und Mnd. Gram., § 419).
HMS 2: I,5 Sch 5
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Ton II, Korpus in J
9 guot: Aufgrund der Tendenz im Mhd., bei einem Subst., das nicht durch Art. oder Pron. näher bestimmt wird, stark zu flektieren, steht hier guotiu statt guote (vgl. Mhd. Gram., § M 24, § S 101). 10 vil gewaltes: gewaltes (hier st. Neutr./Mask.) ist part. Gen. zu vil, wörtlich also ‚ein Vieles/eine Menge an Herrschaft‘ (wegen des geschilderten Dienstverhältnisses erscheint mir ‚Herrschaft‘ sinnvoll) 11 betwungen: adj. gebrauchtes Part. von betwingen, hier ‚erzwungen, unfreiwillig‘, hsl. wird 〈wu〉 > 〈w〉 = betwngen wirt: hier ‚Gastwirt, ‑geber‘ swîgen: mit Gen. (der liebe) ‚von/zu etwas schweigen‘; ist geswigen ist eigentlich Zustandspassiv, da nhd. schweigen jedoch nur Vorgangspassiv bilden kann, wird hier mit nhd. werden + Part. Prät. übersetzt. 12 holt: ‚gewogen, günstig, freundlich‘ an (strîte): hier ‚im‘ an(e) gesigen: mit Dat. (vîenden) ‚besiegen‘
28. So ſtarken man ích ny˙e geſach. Jch wene er ín der ſı bekant.
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Übersetzung So einen gewaltigen Mann habe ich nie gesehen, ich glaube, er ist auch [nirgends bekannt, der alleine hohe Burgen und große Länder unterwerfen könnte; wenn er darüber hinaus keine Hilfe hat, könnte es ihm mit beidem schlecht [ergehen. Die Gefolgsleute sind in großer Not und auch bei vergnüglichem Zeitvertreib [nützlich. 5 Ich höre behaupten, dass jeder, der mit Vergnügen jagt, den Hunden eine [Freude bereitet, damit sie auf der Hatz und auf der richtigen Fährte nicht umkehren. Da man sich (bei) Hunden beliebt machen soll, damit sie auf der richtigen Fährte nicht umkehren, steht auch eine gute Behandlung der tapferen Helden gut an; 10 sie helfen ihrem Herrn viel in Bezug auf die Herrschaft. Erzwungener Dienst, Gastgeber aus Angst – dort wird über die Freude ganz und [gar geschwiegen. Wer auch immer einen geliebten Freund im Kampf hat, der vermag mit [Sicherheit Feinde zu besiegen.
Inhalt II,28 beschäftigt sich mit dem Verhältnis von Herr und Vasall, allerdings stehen hier nicht die Gefolgsleute in der Kritik, wie das etwa in II,26 der Fall ist, sondern der Herr. Er mag noch so herausragend sein an Stärke und Macht, wenn er keine Hilfe und Unterstützung hat, wird er weder bei der Eroberung von hohen Burgen noch von großen Ländern erfolgreich sein (vgl. V. 1–3). Interessant an den ersten vier Versen ist ihr beinahe diplomatischer Tonfall: Einerseits formulieren sie eine unmissverständliche Kritik an der Amtsführung des Herrn (vgl. V. 3 f.), andererseits mildern sie diese ab durch das eingangs geäußerte, überschwängliche Lob (vgl. V. 1 f.).378 Damit wird signalisiert, dass der Herrschaftsanspruch des Herrn grundsätzlich nicht infrage gestellt wird, sondern prinzipiell berechtigt ist, zugleich aber in der Art der Ausübung dieser Herrschaft deutlicher Optimierungsbedarf besteht. 378 Es fällt auf, dass das Ich nur dort durch eine persönliche „Nennung“ auf sich aufmerksam macht, wo der Herr nicht kritisiert, sondern gelobt wird (vgl. V. 1). Die eher unschmeichelhaften Verse 3 und 4 bleiben hingegen weitgehend allgemein, also ohne unmittelbaren Hinweis auf den Sprecher.
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Im Anschluss an diese Beschreibung eines „konkreten“ Sachverhalts (vgl. V. 1–4) folgt in den Versen 5 bis 10 nach bekanntem Muster ein bîspel, das im vorliegenden Fall sowohl die vorausgegangenen als auch die nachfolgenden Verse zu verstehen hilft.379 Das bîspel handelt von der angemessenen Behandlung der (Jagd-/Spür-)Hunde: Man soll liebevoll mit ihnen umgehen, damit sie auf der Hatz, wenn sie die richtige Fährte aufgenommen haben, nicht umkehren mögen (vgl. V. 5–8).380 Und genauso, wie man die Hunde gut behandeln soll, soll man auch mit den unverzageten helden (V. 9) umgehen, denn auch sie helfen und nützen ihrem Herrn, wenn es darauf ankommt (vgl. V. 8–10). Das bîspel über die Hunde wird also auf die helden übertragen und diese sind wiederum in Beziehung zu den Versen 1 bis 4 zu setzen, denn sie sind mit der helfe (V. 3) gemeint, von der dort die Rede ist. Die Verse 5 bis 10 sind somit als rückwirkende Erläuterung der Verse 1 bis 4 zu verstehen.381 Die Schlussverse runden das zuvor Gesagte in einer knappen, aber treffenden Bilanz ab: Weder der erzwungene Dienst382 noch die aus Angst hervorgehende Gastfreundschaft haben einen wirklichen Nutzen, denn beides entbehrt Zuneigung und Anteilnahme (vgl. V. 11). Dass diese jedoch unabdingbar sind für ein intaktes Verhältnis zwischen Dienstherr und Vasall, zeigt Vers 12: Jeder, der im Kampf einen Freund zur Seite hat, der ihm zugetan ist, der ist auch in der Lage, die Feinde zu besiegen. Besonders bemerkenswert ist die Wahl des Lexems vriunt. Es ist nicht nur als eine Art Gegenpol zu vîent zu sehen, sondern impliziert dadurch, dass es für die Gefolgsleute (= die helfe [V. 3], die liute [V. 4], die helden [V. 9]) steht, dass diese nicht nur als Lehensmänner zu verstehen sind, sondern als Untergebene, die zugleich in einer partnerschaftlichen, gar freundschaftlichen (oder verwandtschaftlichen) Beziehung zu ihrem Herrn stehen. Und genau dieses Plus sorgt für den kleinen, aber feinen Unterschied zwischen einem Dienstverhältnis, das auf Angst und Zwang beruht (vgl. V. 11), und einem, das aus gegenseitigem Respekt, Zuneigung und Partnerschaft hervorgeht (vgl. V. 12). 379 Das bîspel wird eingeleitet von der Formulierung ich hœre sagen (V. 5), die analog zu man seit oder man giht zu sehen ist. Ziel ist es, einen Anspruch auf Allgemeingültigkeit zu erheben, im Sinne von: ,Was ich jetzt sage, ist allgemein bekannt und anerkannt, ich habe es erzählen hören.‘ 380 Vgl. zu dem bîspel Stackmann: Mügeln, S. 45. 381 Vgl. zur inhaltlichen Struktur des Spruches auch Yao: Er versteht Vers 1 bis 4 als Promythion, Vers 5 bis 8 als Exempel und Vers 9 bis 14 als Auslegung bzw. Nutzanwendung (vgl. Yao, S. 125 und 131). 382 Anton E. Schönbach versteht betwungen dienest als Terminus technicus, weist darauf hin, dass er in den mittelhochdeutschen Wörterbüchern bereits als feststehender Begriff nachgewiesen sei (vgl. BMZ betwingen, 3.) und führt außerdem Belege anderer Texte zu seinen Überlegungen an (vgl. Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 20).
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II,28 weicht in C in einigen entscheidenden Punkten von J ab (oder umgekehrt). Einige Varianten lassen sich aufgrund der Ausrichtung, die der gesamte Spruch durch sie erhält, in einer Gruppe zusammenfassen. Es handelt sich um die Verse 9, 10 und 11: Vers 9 schreibt in C liuten statt helden, Vers 10 unt maneger êre statt irme hêrren und Vers 11 ein vriunt statt wirt. Alle drei Varianten sorgen dafür, dass das Kernthema des Spruches – das Verhalten des Dienstherrn gegenüber seinen Gefolgsleuten – leicht abgewandelt erscheint. So stellt das Lexem liute zwar eine Parallele zu Vers 4 her, in dem es ebenfalls verwendet wird, da aber ausgerechnet das Wort helt ersetzt ist, werden die beiden „Hauptdarsteller“, nämlich Dienstherr und Dienstmann, weniger deutlich herausgestellt, wie dies in J durch das Lexem helt der Fall ist. Mit liute kann schließlich jeder gemeint sein, es ist unspezifisch und allgemein. Einen ähnlichen Effekt hat die Abweichung in Vers 10: In C lautet der Vers die helfent vil gewaltes unt maneger êre. Kein Wort also von irme hêrren, dem sie beistehen. Und schließlich vriunt statt wirt in Vers 11: In diesem Fall erscheint die Lesart von C sinnvoller. wirt in J wirkt eher unzusammenhängend, da weder zuvor noch danach die Rede auf einen Hausherrn oder, spezifischer, Gastgeber zu sprechen kommt. Es bleibt eine gewisse Unklarheit bzgl. der Verwendung von wirt. Anders in C: Gerade dadurch, dass Vers 11 die Freundschaft thematisiert, die nur durch vorhte zustande kommt, erhält die positive Aussage in Vers 12, in der das Lexem vriunt erneut vorkommt, eine stärker kontrastierende Wirkung und die beiden Schlussverse erscheinen noch zusammenhängender, als dies in J der Fall ist. Eine weitere Variante, auf die hingewiesen werden sollte, liegt in Vers 5 vor, der in C nicht mit ich hœre sagen, swer einsetzt, sondern mit ez sî ein man, der […]. M. E. ist dieser man in C nicht gleichzusetzen mit dem man, von dem im ersten Stollen beider Handschriften die Rede ist. Da Vers 5 das Nachfolgende aufgrund der Formulierung ez sî eindeutig als hypothetisch markiert, ist man hier wohl unspezifisch gemeint, was zu dem generalisierenden Charakter eines bîspels passt – man ist auf jeden übertragbar. Schließlich noch Vers 6: Der entscheidende Unterschied zwischen J und C liegt im Ende des Verses: In J heißt es iht wider varn, in C kunnen sich bewarn. Während es in J also darum geht, dass die Hunde auf der Hatz nicht plötzlich umkehren, spricht C davon, dass die Hunde durch die gute Behandlung in der Lage sind, sich vorzusehen, in Acht zu nehmen.
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Historischer Hintergrund In dem starken man (V. 1) hat die Forschung übereinstimmend Herzog Friedrich II. von Österreich und Steiermark ausgemacht.383 Was die Datierungsfrage angeht, weichen die vorgeschlagenen Jahreszahlen z. T. voneinander ab. Meyer plädiert für „die ersten Jahre seiner Regierung“384, also ab 1230, während Lamey, Doerks, Schönbach und Knapp für einen späteren Zeitpunkt, nämlich 1236/37, votieren.385 Ich schließe mich dieser Datierung an und erlaube mir, aus der nachvollziehbaren Herleitung Anton E. Schönbachs zu zitieren: Es bleibt dabei aber noch zweifelhaft, in welche Zeit Friedrichs des Streitbaren man den Spruch verlegen darf. Gleich nach dem Antritt seiner Herrschaft 1230 fand ein großer Aufstand seiner österreichischen Ministerialen wider ihn statt. Aber das wird er selbst noch nicht verschuldet haben […]. Für unseren Spruch ist wichtig, daß Friedrich 1230 die Eigenschaften noch gar nicht betätigt haben kann, die der Dichter ihm beilegt. […] Vielmehr weist ertwingen 2 [in J betwingen, Anm. d. Verf.] deutlich darauf, daß der Herzog seine eigenen Länder wieder gewinnen mußte, und damit kann nur die Zeit gemeint sein, wo er im Kampfe mit Kaiser und Reich seine Länder vorerst beinahe ganz hatte räumen müssen, das sind die Jahre 1236 und 1237.386
Udo Gerdes rät wiederum zur Vorsicht bei der Festlegung auf Herzog Friedrich II. von Österreich und Steiermark bzw. bei der Frage der Datierung. Er stimmt zwar darin mit der älteren Forschung überein, dass der Inhalt des Spruches stark auf Herzog Friedrich II. hindeute, dennoch schränkt er ein: Da aber aus dem Spruch nicht hervorgeht, ob die Dienstmannen tatsächlich bereits vom Herzog abgefallen sind und woran bei ‚vil der hôhen bürge und wîtiu lant‘ zu denken ist, läßt sich nicht beweisen, daß diese Mahnung einer bestimmten unter den sich anbietenden historischen Konstellationen zuzuordnen wäre. Die aktuelle Situation, die Wernhers Äußerung gewiß ausgelöst hat, ist deswegen so schwer festzustellen, weil der Dichter offenbar bewußt auf eine Analyse der Lage verzichtet, vielmehr mit einer ganz allgemeinen Belehrung reagiert.387
383 Vgl. HMS 4, S. 518; Meyer, S. 94 (Meyer hat hier wohl versehentlich eine falsche Spruchnummer angegeben: Er schreibt „Spr. I,10 (II)“, was nach handschriftlicher Zählung jedoch J22 [in dieser Arbeit II,23] entspricht, der wiederum keinerlei Anhaltspunkte auf Herzog Friedrich enthält, sondern auf Kaiser Friedrich bezogen ist. Die eigentlich korrekte Nummer wäre I,5 (II).); Lamey, S. 25 f.; Doerks, S. 8; Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 19; Knapp, S. 284. Vgl. die Zusammenhänge zwischen II,28 und VI,67. 384 Meyer, S. 94. 385 Vgl. Lamey, S. 25; Doerks, S. 8; Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 21; Knapp, S. 284. 386 Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 20 f. 387 Gerdes: Beiträge, S. 64 f.
28. So ſtarken man ích ny˙e geſach. Jch wene er ín der ſı bekant.
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In eine ähnliche Richtung geht Teschner, er liest sogar ein „Bemühen, den drängenden politischen Anlaß zu entaktualisieren und den eigentlich politischen, zeitgenössischen Gehalt zu neutralisieren“388, aus dem Spruch heraus, was m. E. etwas zu weit geht.
Inhaltliche Ähnlichkeit mit anderen Texten vgl. evtl. zu Vers 3: Walther L 14,30 (hier V. 2): dér hât beide an mannen und an wîben missevarn, (Schweikle: Walther, Bd. 2, S. 56) vgl. zu Vers 7 bis 12: Freidank 72,9 f.: Ein hêrre niemer mac genesen, wellent ime die sîne vîent wesen. (Spiewok, S. 62) Freidank 107,24–27: Manc man grôze arebeit unbetwungen sanfte treit, diu in diuhte swaere, ob er betwungen waere. (Spiewok, S. 92) Rumelant von Sachsen, IV,15 (hier V. 5–8): swer sîne guoten winde lât in hungernôt verterben den sumer lanc, der mac des winters in dem snê vil lützel mite erwerben, ir macht ist kranc. (Runow, S. 88)
Metrik A A A A 5 A
8ma 8ma 8mb 8mc 8mc 8mb A4md 2A 6 k e A8md 10 A 6 k e A 8 2m f A 8 2m f
wænẹ der éine mge betwíngèn hoe brgẹ unde wîtiu lant; mügẹ undẹ ich hœ́re ságen, swer gérne jáget, daz ér den húnden líebe túot, ruorẹ, undẹ, vertẹ vertẹ sô zímet ouch gúotiu hándelùngẹ an únverzàgeten hélden wól; betwúngen díenest, durch vórhte wírt – dâ íst der líebe gár geswígen.
388 Teschner, S. 125. Interessanterweise führt Teschner ungeachtet dessen noch auf derselben Seite des obigen Zitats „[z]um besseren Verständnis der Strophe“ (ebd.) eine historische Einordnung an, wonach sich der Dichter „in dieser Strophe mit dem Verhältnis des Herzogs von Österreich zu seinen Dienstmannes [sic!] auseinandersetzt“ (ebd.). Und weiter unten erneut: „Es ist eine ganze Reihe von Situationen denkbar, auf die diese Strophe angewendet
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Ton II, Korpus in J
Literatur Doerks, S. 8 • Gerdes: Beiträge, S. 24 Anm. 2, 63, 64 f., 68 und Anm. 2, 73, 149 und Anm. 2, 179 und Anm. 6, 181 und Anm. 9, 203 Anm. 1, 204 • Gerdes: Zeitgeschichte, S. 122 • HMS 4, S. 518 • Kemetmüller, S. 23 f., 34, 209 • Knapp, S. 284 • Lamey, S. 8, 19, 25 f., 27 • Moser/Müller-Blattau, S. 76, 81 • Müller: politische Lyrik, S. 102 • Roethe, S. 339 • Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 18–22 • Scholz: Reichsidee, S. 40, 41 • Stackmann: Mügeln, S. 45 • Strasser, S. 247 • Teschner, S. 125–128 • Yao, S. 37, 125, 130–132, 202.
werden könnte. Dennoch wissen wir sehr genau, auf welche Verhältnisse Bruder Wernher anspielt“ (ebd., S. 127).
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Ton II, Korpus in J
29. Getruwer vrıvnt vuͦr ſuͦchtez ſwert. Dıe tzwıe(ne) ſínt ín noten guͦt. (J28, U) Getruwer / vrıvnt vuͦ r ſuͦ chtez ſwert. / Dıe tzwıe(ne) ſínt ín noten guͦ t. Sıe ſínt / wol hoer erren wert. Der ſıe hat dıc/ke wol behuͦ t. Getruwe vrívnt des / wortes darſtu nẏm|meredıch geſcha/men Truwe vıl der tugende hat. / Truwe ıſt valſchem herztem gram. / 5 Truwe leſchet míſſetat Sıe machet / got ír ſelber tzam. Truwe vnde ere / vnde got dıe (drıv ſıch) vuͦ gent wol tzvͦ ſamen / Truwe ıſt eín rechte ſelıcheıt. Vnde / ıſt da bẏ nícht wankel an ír mvͦte / Des lıb ıſt grozer ere wert. So wol / dem hertzen daz ſıe treít. 10 Sıe barmet / ſıch den armen al tzvͦ guͦ te Enpor / lat dıe truwe vuͦ r dıe hıe (dıe) werlt wol / geeret hat. vuͦ r ſchande balde hínder // dıe tuͦ r ır vuͦ get ſcanden míſſetat. /
1 ne interlinear nachgetragen 3 Die Wörter nẏm mere dıch stehen hsl. zusammen, nẏm mere wurden aber wohl nachträglich durch einen senkrechten Strich voneinander getrennt. 5 Punkt vor Sıe fehlt 6 drıv ſıch interlinear nachgetragen 11 dıe interlinear nachgetragen
29. Getruwer vrıvnt vuͦr ſuͦchtez ſwert. Dıe tzwıe(ne) ſínt ín noten guͦt.
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Getriuwer vriunt, versuochtez swert – diu zwei sint in nœten guot. sie sint wol hôer êren wert, der sie hât dicke wol behuot. ,getriuwe vriuntʻ des wortes darftû niemer mêre dich geschamen. triuwe vil der tugende hât. triuwe ist valschem herzen gram. 5 triuwe leschet missetât. sie machet got ir selber zam. triuwe unde êre unde got – diu driu sich vüegent wol zesamen. triuwe ist ein rehtiu sælecheit unde ist dâ bî niht wankel an ir muote. des lîp ist grôzer êre wert; sô wol dem herzen, daz sie treit! 10 sie barmet sich den armen al ze guote. enbor lât die triuwe vür, diu hie die werlt wol geêret hât. vrou Schande, balde hinder die tür! ir vüeget schanden missetât.
28 J 1 vriunt: Sowohl ‚Freund‘ als auch ‚Verwandter‘ ist denkbar. Ich wähle Ersteres, da dadurch eine breitere Auslegung (ein größerer Personenkreis) möglich wird. versuochen: hier adj. Part. ‚erprobt‘ zwei: Entgegen der Hs. muss hier analog zu diu die neutrale Form zwei stehen (vgl. Mhd. Gram., § S 137, 2. a)). Ist die hsl. Form metr. bedingt und wurde dahingehend nachträglich „korrigiert“ (tzwıe[ne])? Dank der zusätzlichen Silbe ist der Vers in der Hs. nämlich regelmäßig alternierend. Darüber hinaus deutet die zweisilbige Form der Hs. auf die mnd. Form des Zahlworts hin, denn dort lautet der Nom. Mask. twêne (vgl. Mnd. Gram., § 396 b)). 2 êre: Es ist unklar, warum in der Hs. Geminate (erren) steht. der: Das Bezugswort (dem) fehlt im Obersatz. 3 getriuwe vriunt: Entweder das Adj. wird hier entgegen der allgem. Tendenz schwach flektiert, vriunt steht also im Sg. (‚treuer Freund‘), oder aber vriunt entspricht der gekürzten Pl.form zu vriunde (vgl. HWB vriunt) und getriuwe flektiert somit st. (‚treue Freunde‘). Bei Einzahl stellt sich die Frage, warum hier nicht analog zu V. 1 getriuwer vriunt (Nom. Sg. Mask.) gewählt wurde? In Anlehnung an V. 1 übersetze ich mit Sg. (getriuwe also sw. flektiert). darftû (< darft dû): zur Enklise des Pers.pron. vgl. Mhd. Gram., § E 21, 2. 4 gram: mit Dat. (valschem herzen) ‚feindselig erzürnt‘; hsl. scheint sich das Bezugswort herzem mittels Attraktion kasuell an sein Adj.attr. (valschem) angeglichen zu haben (vgl. allgemein Mhd. Gram., § S 167). 5 leschen: tr. ‚lëschen machen, löschen, auslöschen; beendigen, tilgen‘ zam: mit Dat. (ir selber) ‚vertraut, wohlbekannt‘ sie machet got ir selber zam: Gemeint ist damit, dass die triuwe dafür sorgt, dass sie und Gott einander vertraut sind, einander nahestehen, wodurch die triuwe natürlich als besonders erstrebenswerte Tugend dargestellt wird. 8 wankel: ‚schwankend, unbeständig‘ 9 des (lîp): Es ist nicht ganz klar, auf wen oder was sich des bezieht. Schönbach greift (im Gegensatz zu von der Hagen) in die hsl. Lesart ein und schreibt der sie treit statt daz sie treit (vgl. Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 42 und auch Gerdes: Beiträge, S. 93), wodurch ein Bezugspunkt von des erzeugt wird. Moser/Müller-Blattau wiederum verstehen des lîp als Personenumschreibung
HMS 3: II,12 Sch 53
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Ton II, Korpus in J
(‚derjenige‘) und übersetzen: ‚Derjenige, dessen Herz sie in sich trägt, ist großer Ehren wert.‘ (Moser/Müller-Blattau, S. 81) Wenngleich sich diese Deutung m. E. nicht völlig mit dem hsl. Befund deckt, erscheint die Übersetzung von des lîp dennoch sinnvoll. sie: Da der Spruch explizit auf die triuwe und deren Lob ausgerichtet ist, gehe ich davon aus, dass sich sie nicht auf die êre, sondern allgemein auf die triuwe bezieht. Diese Deutung wird durch meine Umstellung in der nhd. Übersetzung konkretisiert. tragen (hier Kontr. treit): ‚an sich tragen, haben, besitzen‘ 10 sie: Auch hier ist m. E. die triuwe gemeint. 11 enbor: ‚in der Höhe, in die Höhe, empor‘ (vgl. dazu das st. Fem. bor [‘oberer Raum, Höhe’]); die hsl. Schreibung (enpor) findet sich im Omd. (vgl. Mhd. Gram., § L 74 Anm. 1). 12 vrou: Da schande eine Personifikation ist, gehe ich davon aus, dass es sich bei hsl. vuͦr um eine Verschreibung von vrou handelt (also evtl. vruͦ). vüegen: tr. hier ‚bewerkstelligen, bewirken‘
29. Getruwer vrıvnt vuͦr ſuͦchtez ſwert. Dıe tzwıe(ne) ſínt ín noten guͦt.
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Übersetzung Treuer Freund, erprobtes Schwert – die zwei sind in der Not nützlich. Sie sind (für den) sicherlich hoher Verehrung wert, der sie sich häufig gut [bewahrt hat. ,Treuer Freundʻ für diese Worte brauchst du dich künftig niemals mehr zu [schämen. Treue besitzt viel Vorzüglichkeit. Treue ist über ein unaufrichtiges Herz erzürnt. 5 Treue tilgt Vergehen. Sie steht Gott nahe. Treue und Ehre und Gott – die drei fügen sich gut zusammen. Treue ist wahre Glückseligkeit und ist dabei nicht unbeständig in ihrem Wesen. Derjenige ist großer Verehrung wert; so ergeht es dem Herzen gut, das sie in [sich trägt. 10 Sie erbarmt sich der Armen überaus freundlich. Lasst die Treue, die hier die Welt gut und gerne ausgezeichnet hat, voraus in [die Höhe! Herrin Schande, sofort hinter die Tür! Ihr bewirkt das Vergehen der Schande!
Inhalt II,29 ist eine mehr oder weniger klassische Tugendlehre, in der allerdings kein Tugendkatalog aufgelistet wird, sondern speziell die triuwe im Zentrum steht. Im ersten Stollen wird Treue und Loyalität personalisiert im vriunt veranschaulicht, der, genau wie das versuochte[z] swert (V. 1), in der Not von Nutzen und auch sonst hôer êren wert (V. 2) ist – immer vorausgesetzt, man hat sich den Freund bewahrt (vgl. V. 2). Deswegen braucht man sich auch nicht zu schämen, wenn man vom getriuwe[n] vriunt (V. 3) spricht (vgl. V. 3).389 Ab dem zweiten Stollen folgt ein Versblock, der bis einschließlich Vers 11 reicht und in dem allein die triuwe thematisiert wird. Dabei werden Themen abgehandelt, die einerseits auf eine Art Schutzfunktion der triuwe für den Menschen hindeuten – triuwe ärgert sich über unaufrichtige Herzen (vgl. V. 4) und
389 Der erste Stollen – speziell Vers 3 – ist nicht nur als Lob der triuwe zu verstehen, sondern zugleich als Lob der wahren Freundschaft. Beides bedingt sich gegenseitig und das eine ist ohne das andere nicht denkbar. Die Freundschaft bzw. das Lexem vriunt taucht bei Bruder Wernher immer wieder auf: I,8,9; I,13,9; I,14,1 und 6; II,19,11; II,28,12; II,29,1 und 3; II,31,8; II,34,2; II,41,9; III,46,6; V,60,4; VI,67,4,8,10,11 und 13; VI,70,9,10 und 14. In Kombination mit vîent steht vriunt in drei Sprüchen: II,28,12; III,46,6; VI,67,3 f.,7 f.,11 und 13.
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Ton II, Korpus in J
tilgt Vergehen390 (vgl. V. 5) – und andererseits aufzeigen, welche Vorteile man durch die triuwe gewinnt: Sie bringt vil der tugende mit sich (vgl. V. 4), bringt den Menschen Gott näher (vgl. V. 5), sie beschert einem sælecheit (V. 7) und ein gefestigtes Wesen (vgl. V. 8) und befähigt einen außerdem dazu, Mitleid mit den Armen zu empfinden (vgl. V. 10). Die Verse 4 bis 10 fallen z. T. durch ähnlich gebaute, parataktische Sätze auf – hierzu gehört auch die regelmäßige, anaphorische Wiederholung des Lexems triuwe (vgl. V. 4 [zweimal], 5, 6, 7, 11) –, wodurch der Spruch, zumindest im Mittelteil, eine gewisse Dynamik entwickelt. Dass zum Abschluss des Spruches ausgerechnet einer der „Antagonisten“ der triuwe auftritt, ist ein bewusst eingesetzter Schachzug: Der Rezipient soll nicht nur durch positive Anreize (vgl. V. 4 f. und 7–10) zur triuwe animiert werden, sondern zugleich durch Abschreckung (vgl. V. 4, 5 und 12). Und diese Abschreckung erfolgt im Schlussvers durch die personifizierte vrou Schande. Interessant daran ist, dass durch die Personifikation die Untugend, die der Zuhörer meiden soll, „ein Gesicht bekommt“. Sie wird zur vermeintlich realen Gegenspielerin der triuwe stilisiert und zugleich wird der Eindruck erweckt, dass sie gerade aufgrund ihrer „Persönlichkeit“, die menschliche Verletzlichkeit impliziert, auch bekämpft werden kann. Während die triuwe also nur indirekt als agierende Instanz in Erscheinung tritt391 bzw. „persönlich“ nur in Gestalt des getriuwe[n] vriun[des] (V. 3), wird der schande ein anderer Rang eingeräumt: Einerseits erscheint sie aufgrund der Personifikation mächtiger, bedrohlicher, andererseits wird sie im Unterschied zur triuwe gerade dadurch aber (an-)greifbar, nahbar, wie die Zurechtweisung des Schlussverses zeigt.
Inhaltliche Ähnlichkeit mit anderen Texten vgl. zu Vers 1: Walther: L 30,29 (hier V. 10): ,gewissen friunt, versuohte swert sul man ze nœten sehen.ʻ (Schweikle: Walther, Bd. 1, S. 146) Freidank 95,18 f.: Gewisse friunt, versuochtiu swert, diu sint ze nœten goldes wert. (Spiewok, S. 82) Heinrich Wittenwîler ,Der Ringʻ V. 7538 f.:
390 Anton E. Schönbach liefert intertextuelle Bezüge zu triuwe leschet missetât (vgl. Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 42 f.). 391 Vgl. V. 4 triuwe ist valschem herzen gram, V. 5 triuwe leschet missetât. sie machet got ir selber zam, V. 8 unde ist dâ bî niht wankel an ir muote, V. 10 sie barmet sich den armen al ze guote, V. 11 lât die triuwe vür, diu hie die werlt wol geêret hât.
29. Getruwer vrıvnt vuͦr ſuͦchtez ſwert. Dıe tzwıe(ne) ſínt ín noten guͦt.
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Won die weishait also spricht: Den freund man in den nöten mag Versuochen bas dann ander tag. (Brunner: Wittenwiler, S. 434)
Metrik A8ma A8ma A 8 2m b 8mc 5 8mc 8 2m b A4md A6ke A8md 10 A 6 k e 8mf A8mf
Getríuwer vríunt, versúochtez swért – díu zwei sínt in nœ́ten gúot.
tríuwe víl der túgende hat. tríuwẹ ist válschem hérzen grám. triuwẹ, undẹ triuwẹ íst ein réhtiu sǽlechéit undẹ
gẹêret vrou Schánde, bálde hínder die tr! ir veget schánden míssetat.
Literatur Doerks, S. 2 • Gerdes: Beiträge, S. 24 Anm. 2, 90, 93 f., 168 Anm. 2, 175, 179 und Anm. 4, 181 und Anm. 3, 185 • HMS 4, S. 523 • Kemetmüller, S. 68, 69, 228 f. • Lamey, S. 19, 37 • Leitzmann, S. 163 • Meyer, S. 78 • Moser/Müller-Blattau, S. 76, 81 • Roethe, S. 305, 309 • Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 42 f. • Strasser, S. 240 • Vetter, S. 259.
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Ton II, Korpus in J
30. Trovme hant mír vıl gelogen. Vnz her alle mẏne tage. (J29, U) Trovme hant mír vıl gelogen. / Vnz her alle mẏne tage. Vnde / ín ſlafe mẏr betrogen. Da bı ıch ouch / eín ander klage. Daz mích eín tzage / trıvget der mích (ſo) manígen ſchaden / bırt Elbe tríegent nícht ſo vıl. Jvnge / vnde alte ạḷſo ez mích tuͦ t. 5 Swenne / ez mích betrıegen wıl. A herre got / gıb mír den mvͦt. Daz ıch mích da vuͦ r / geſegene (wend) ez ıſt gar ob mír vuͦ r ırt. / Ez lezet mích vıl ſelten vrẏ. Swa daz / ıch vare ez ıſt of mír gebeẏzet Vıl / manígen míchel wunder nẏmpt. Vn̅ / wıl mích vragen waz ez ſẏ. 10 Ez ıſt eín dínc daz man mír wol vntheızet. / Vnde mír daz lıvget daz ıſt mẏme / trovme worder wol gelích. Swenne / er mír ſaget ıch habe guͦ t. So bín ıch / ín dem ſlafe rıch. /
3 ſo interlinear nachgetragen
4 bei alſo sind 〈a〉 und 〈l〉 unterpunktet und durchgestrichen
30. Trovme hant mír vıl gelogen. Vnz her alle my˙ne tage.
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Troume hânt mir vil gelogen unz her alle mîne tage unde in slâfe mich betrogen; dâ bî ich ouch ein ander klage, daz mich ein zage triuget, der mir sô manegen schaden birt. elbe triegent niht sô vil junge unde alte, sô ez mich tuot. 5 swenne ez mich betriegen wil, â hêrre got, gip mir den muot, daz ich mich dâ vür gesegene, wand ez ist gar ob mir verirt! ez læzet mich vil selten vrî, swâ daz ich vare, ez ist ûf mir gebeizet. vil manegen michel wunder nimt unt wil mich vrâgen, waz ez sî, 10 ez ist ein dinc, daz man mir wol entheizet unde mir daz liuget. daz ist mîme troume worden wol gelîch: swenne er mir saget, ich habe guot, sô bin ich in dem slâfe rîch.
29 J 1 liegen: mit Dat. (mir) ‚belügen, betrügen‘ 2 mich: Obgleich das Md. laut den einschlägigen WB generell dazu neigt, statt des Dat. den Akk. zu verwenden, geht der hier hsl. anstelle des Akk. verwendete Dat. mẏr vielleicht ebenfalls auf md. Einfluss zurück. Ich ändere in der Normal. mẏr zu mich ab, da betriegen i. d. R. mit Akk. steht. betriegen: ‚verlocken, betören; betrügen‘ dâ bî: ‚dabei, dazu, überdies‘ (ein) ander: Akk. d. S. zu klagen; steht in J endungslos, was mhd. nicht untypisch ist (vgl. Mhd. Gram., § M 53). Statt mit ‚(ein) Zweites, (ein) Anderes‘ übersetze ich hier mit ‚(ein) Folgendes‘. 3 zage: ‚verzagter, feiger Mensch‘, überhaupt als Schimpfwort ‚elender Geselle, durchtriebener Kerl, Faulpelz‘; angesichts des weiteren Verlaufs des Spruches (v. a. V. 9, der deutlich macht, dass es sich eben nicht einfach um einen [menschlichen] Feig- oder Fiesling handelt) ist zu überlegen, ob zage hier unübersetzt bleibt und als Terminus technicus verstanden wird. Dafür spricht, dass das eigentliche Mask. zage im gesamten Spruch als Neutrum verwendet wird (abgesehen vom Rel.satz in V. 3): Die Verse 4 bis 10 führen alle das neutrale Pron. ez an, wenn auf den zagen Bezug genommen wird; in V. 10 wird er/es sogar ausdrücklich als dinc bezeichnet. Vielleicht ist zage auch weniger als eine Art handelndes Wesen zu verstehen, sondern abstrakter als ‚Traum-‘ oder ‚Trugbildʼ? Die Frage ist nur, wieso dann überhaupt auf einen Begriff zurückgegriffen wird, der i. d. R. auf Personen angewendet wird, und nicht stattdessen z. B. der Ausdruck triegel (‚[Be-]Trüger‘ aber auch ‚[Be-]Trug, Trugbildʼ) verwendet wird? Das Lexem zage scheint mir durchaus bewusst gewählt zu sein, und zwar trotz oder gerade wegen seines Personenbezugs. triegen: mit refl. Akk. ‚betrügen, trügen‘ bern: ‚hervorbringen, zum Vorschein bringen, Frucht oder Blüte tragen, gebären‘; da die Belege in den einschlägigen WB für den tr. Gebrauch von bern neben dem Obj. im Akk. den Dat. d. P. belegen (vgl. BMZ bern, B. 1.), ändere ich den hsl. Akk. d. P. (mích) in den Dat. d. P. (mir) ab. 4 alp (Pl. elbe oder elber): ‚gespenstisches Wesen, Alp, boshafter, neckischer Geist‘ junge unde alte: Hier sind zweierlei Interpretationen möglich: Entweder soll damit eine möglichst breite Mehrheit der Gesellschaft, also die Allgemeinheit, impliziert
HMS 3: II,13 Sch 54
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werden oder aber junge unde alte ist als Nennung derjenigen beiden Personengruppen zu sehen, die für die Täuschung der elbe besonders anfällig sind: unerfahrene, unvernünftige Kinder bzw. junge Menschen und vergreiste Alte. ez = zage (V. 3) 5 muot: Hier am ehesten ‚Entschlossenheit, Mut‘; Schönbach übersetzt mit ‚Geistesgegenwart‘, was m. E. kontextuell sehr treffend ist, weswegen ich mich dieser Interpretation anschließe (vgl. Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 44). 6 dâ vür: hier ‚dagegen (helfend)‘ gesegenen: mit Akk. d. P. (mich) ‚segnen‘, das ge-Präfix verstärkt die Handlung; auch hier neige ich dazu, Schönbach zu folgen, der ‚einen Segen sprechen‘ übersetzt (vgl. ebd.). ob: mit Dat. d. P. (mir) ‚über, oberhalb, auf‘. Ist hier räuml. ‚zu‘ gemeint, also ‚zu mir irregeführt/verirrt‘? verirren: ‚in die Irre führen, irre machen, stören, verwirren‘ 7 vil selten: Litotes vrî lâzen: hier ‚ablassen von, allein lassen‘ 8 beizen: ‚jagen; beißen machen‘ ez ist ûf mir gebeizet: ‚es macht Jagd auf mich‘ bzw. ‚es jagt mich‘, evtl. etwas freier ‚es hat sich in mich verbissen‘ 9 wunder nemen: ‚sich wundern, neugierig sein zu erfahren‘ 10 entheizen: ‚verheißen, prophezeien, geloben‘, hier ‚versprechen‘ (vgl. dazu HWB und BMZ geheizen) 11 liegen: tr. mit Dat. d. P. (mir) ‚jemandem etwas versagen, jemanden um etwas betrügen‘ worden: Hsl. worder scheint mir nur als Versehen erklärbar. gelîch: mit werden ‚gleich werden‘, ‚gleichen, ähneln‘ 12 er = der troum
30. Trovme hant mír vıl gelogen. Vnz her alle my˙ne tage.
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Übersetzung Träume haben mich bis hierher mein Leben lang oft belogen und mich im Schlaf betört. Darüber hinaus klage ich noch über Folgendes, (nämlich) dass mich ein zage täuscht, der das mir auf diese Weise viel [Schaden einbringt. Böse Geister betrügen nicht so sehr Junge und Alte, wie es mich (betrügt). 5 Wann auch immer es mich betrügen will, ach Herr Gott, schenke mir die [Geistesgegenwart, dass ich für mich einen Segen dagegen spreche, denn es hat sich ganz und [gar zu mir verirrt! Es lässt nie von mir ab, wo auch immer ich hingehe, es macht Jagd auf mich. Sehr viele wundern sich und möchten mich fragen, was es sei, 10 es ist eine Sache, die man mir fest verspricht und mir (dann) vorenthält. Das ähnelt meinem Traum absolut: Wann auch immer er mir vermittelt, ich habe Besitz, so bin ich reich im [Schlaf.
Inhalt Der Spruch II,30 fällt inhaltlich etwas aus dem üblichen Themenspektrum Bruder Wernhers heraus. Er ist stark bzw. ausschließlich auf das Sprecher-Ich konzentriert und geht auch thematisch weg von den charakteristischen Themen der Sangspruchdichtung.392 Zwar enthält der Spruch keine offensichtlich narrativen Elemente wie etwa direkte Rede (inkl. Inquit-Formel) oder einen sukzessiven Handlungsverlauf, dennoch besitzt er m. E. einen berichtenden oder erzählenden Duktus. Dieser Eindruck wird verstärkt durch den unwirklichen Charakter, der zum einen durch die eingangs angedeutete, negativ konnotierte Traum- und Schlafsituation erzeugt wird, zum anderen aufgrund der im Spruch genannten „Personen“: Neben den elbe (V. 4) spielt der Hauptakteur, der bzw. das zage393 (V. 3), eine zentrale Rolle. Die elbe sind gegenüber Jungen und Alten nicht halb so betrügerisch wie es der/das zage gegenüber dem Sprecher ist (vgl. V. 4). Dieses nicht näher bestimmte Wesen oder Trugbild
392 Yao weist darauf hin, dass das Traummotiv in der hier vorliegenden Form („als partieller Vorgang in die Erzählung eingebettet“, Yao, S. 192) „erst im späteren Mittelalter beliebt zu werden [scheint]“ (ebd.). 393 Vgl. zu zage die Erläuterungen im Übersetzungsapparat.
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täuscht den Sprecher (vgl. V. 5) und jagt ihm nach, verbeißt sich geradezu in ihm (vgl. V. 8), und lässt nicht mehr von ihm ab (vgl. V. 8). Dieser obsessiven Verfolgung durch den/das zage vermag das Ich nur durch ein Segensgebet zu begegnen (vgl. V. 6), allein Gott und die Bitte um dessen Beistand bieten somit Schutz vor übersinnlichen, gespenstischen Wesen. Anhand von Vers 9 rückt der Aufführungscharakter der Strophe, der bisher wenig oder gar nicht präsent war, in den Blick, indem Verwunderung und mögliche Fragen des Publikums aufgegriffen werden. Dieser Erklärungsbedarf, der aufseiten der Zuhörer vermutet wird, impliziert zugleich, dass die historischen Rezipienten letztlich auf demselben Kenntnisstand sind wie die zeitgenössischen – sowohl damals als auch heute scheint unklar, wer oder was ein zage ist.394 Und wie genau definiert das Ich dieses Wesen oder Trugbild nun? Bei dem zage handelt es sich um ein dinc (V. 10), das man (!) dem Sprecher fest in Aussicht stellt (vgl. V. 10 wol entheizet), ihm letztlich jedoch vorenthält, um das das Ich also betrogen wird (vgl. V. 11). Was aber bedeutet das? Ist der/ das zage, dieses dinc (V. 10), nur eine Sache, eine Angelegenheit oder tatsächlich doch ein Wesen? Und wenn der/das zage ein dinc (V. 10) im Sinne eines Sachverhalts (z. B. ein Traum- oder Trugbild) ist, wer ist dann der eigentliche „Bösewicht“? Wer betrügt und verfolgt das Ich (vgl. V. 5 und 7 f.)? Wirklich nur die personifizierte Sache? Oder könnte es sich dabei auch um diejenigen handeln, die dem Ich überhaupt erst falsche Versprechungen hinsichtlich des din[ges] (V. 10) machen, also Personen, die in dem indefiniten man in Vers 10 zusammengefasst werden? Mit Blick auf den Gesamtkontext des Spruches (die Träume, die das Ich täuschen) scheint der/das zage eher für eine Sache, nicht für ein Wesen zu stehen.395 Wenn dies der Fall ist, sorgt jedoch die Wortwahl speziell der Verse 3 bis 8 dafür, dass der/das zage als aktive Instanz inszeniert wird, deren Handeln auf eine bewusste Motivation zurückzugehen scheint. Es entsteht dadurch der Eindruck, dass es nicht nur um einen Sachverhalt geht, der passiert und dadurch (negative) Auswirkungen auf das Ich hat, sondern der/das zage scheint aktiv zu diesen Auswirkungen beizutragen. Schönbach deutet den/ das zage deshalb nicht als Sache, sondern als Person, nämlich als „Dämon“396, und stellt die Vermutung an, dass Bruder Wernher dieses Wesen deswegen 394 Es wäre interessant zu sehen, ob das Lexem zage auch an anderer Stelle in der hier vorliegenden Bedeutung verwendet wird. 395 Von der Hagen geht von einer sächlichen Auslegung aus. Er schreibt: „Träume haben ihn oft betrogen, aber noch mehr als Elben täuschen ihn Geheiße, die unerfüllt bleiben […].“ (HMS 4, S. 522) „Geheiße“ ist wohl v. a. vor dem Hintergrund von Vers 10 und seinem Verb entheizen zu sehen. 396 Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 45.
30. Trovme hant mír vıl gelogen. Vnz her alle my˙ne tage.
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nicht konkreter beschreibt, „weil man sich scheut, Namen der Dämonen auszusprechen, vielleicht – und das dünkt mich fast wahrscheinlicher – weil der ganzen Darstellung Unerzählbares zugrunde liegt“397. Welche Rolle spielen in diesem Kontext nun troum (V. 1 und 11) und slâf (V. 2 und 12), die sowohl zu Beginn als auch zum Schluss erwähnt werden? Zunächst wird die Strophe aufgrund dessen, dass die Eingangsthematik am Schluss wieder aufgegriffen wird, abgerundet, der inhaltliche Bogen wird in den Schlussversen zurück zum Strophenanfang geschlagen, speziell Vers 12 klingt wie eine genauere Ausführung zur ersten Hälfte von Vers 2 (unde in slâfe mich betrogen). Interessant ist dabei auch die Art, wie der Übergang vom Traum-/Schlaf-Thema zum zage-Thema gestaltet ist: Der Themenwechsel setzt mitten im Versinneren ein (vgl. V. 2 und 11). Gleichzeitig wird der unmittelbar vorausgehende Vers durch Enjambement unmissverständlich an den nachfolgenden Vers gebunden: − V. 1 f. […] unz her alle mîne tage unde in slâfe mich betrogen [; dâ bî ich ouch ein ander klage,] − V. 10 f. […] daz man mir wol entheizet unde mir daz liuget. [daz ist mîme troume worden wol gelîch:] Aufgrund dieser engen Verknüpfung der Verse wird sowohl zu Beginn als auch am Ende der Strophe das zage-Thema des Mittelteils in einen eher traumhaften, unwirklichen Gesamtzusammenhang gestellt. Und gerade durch diese irreale Dimension erhält das Gesagte eine trügerische Note: Nichts ist, wie es scheint, alles kann sich als gegenteilig entpuppen.398 Genauso, wie der Traum dem Schlafenden vorgaukeln kann, er sei reich (vgl. V. 12),399 genauso trügerisch ist der/das zage zu sehen (vgl. V. 11). Und deswegen hofft das Ich darauf, dass Gott ihm die Geistesgegenwart bescheren möge, gegenüber falschen Versprechungen (z. B. Reichtum, den sich das Ich im Schlaf erträumt [vgl. V. 12]), mit denen der/das zage das Ich verführen will (ähnlich, wie dies in Vers 11 f. durch den troum geschieht), standhaft zu sein (vgl. V. 5 f.).
397 Ebd. 398 Auf diese Ausrichtung deutet auch die zumindest im Aufgesang regelmäßige Wiederholung des Lexems triegen bzw. betriegen hin (vgl. V. 2 betrogen, V. 3 triuget, V. 4 triegent, V. 5 betriegen) sowie des Lexems liegen, das interessanterweise nur in den Anfangs- bzw. Endversen Verwendung findet (vgl. V. 1 gelogen, V. 11 liuget). Vgl. zur vorliegenden Verwendung von troum und slâf auch V,64,7 f. 399 Anton E. Schönbach führt diverse Beispiele für das Motiv des Traumglücks an (vgl. Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 44 f.). Vgl. zu diesem Thema auch den Spruch V,64,7 f.
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Ton II, Korpus in J
Inhaltliche Ähnlichkeit mit anderen Texten vgl. zu Vers 11 f.: Walther: L 75,17 (hier V. 6–8): dô ích sô wunneclîche was in troume rîche. dô taget ez und muoz ich wachen! (Schweikle: Walther, Bd. 2, S. 282) vgl. zu Vers 9: Walther L 98,26 (hier V. 1 f.): Vil maniger frâget mich der lieben, wer si sî, (Schweikle: Walther, Bd. 2, S. 92)
Metrik A 8 2m a 8 2m a A8mb 8mc 5 A8mc 2A 8 m b A4md A6ke A8md 10 A 6 k e 2A 8 m f A8mf
úndẹ in slafe mích betrógen; dâ b ich óuch ein ánder kláge, daz mích ein záge tríugèt, der mír sô mánegen scháden bírt. élbe tríegent níht sô víl jungẹ únde álte, sô éz mich túot. swennẹ
varẹ vil mánegen míchel wúnder nímt unt wíl mich vragen, wáz ez s,
swennẹ ér mir ságet, ích habe gúot, sô bín ich ín dem slafe rch.
Literatur Gerdes: Beiträge, S. 168 Anm. 2, 178 und Anm. 3, 179 und Anm. 7, 182 Anm. 1 • HMS 4, S. 522 • Kemetmüller, S. 13, 68, 69, 229 • Lamey, S. 7, 8, 19, 30, 37 • Moser/MüllerBlattau, S. 77, 81 • Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 43–45 • Vetter, S. 259 • Yao, S. 192.
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Ton II, Korpus in J
31. Uver helfet mír an ſẏner ſtat. Des helfe mír was vıl gereıt. (J30, U) Uver helfet mír an ſyner ſtat. / Des helfe mír was vıl gereıt. / Jch lıge ſere ín ıamers bat. Wer wıl. / durch ſẏne werdıcheıt. Mır helfen ſo / daz mír noch vreude werde baz bekant. / Den wılle ıch tzvͦ herren han. Mít / dıenſte alſo ıch von rechte ſol. 5 Vnde / wıl ẏm weſen vnder tan. Wes hert/ze ıſt reyner tugenden vol. Der ſıch / des vnder wínde daz er bıete mẏr (durch helfe) / dıe hant Híe míte ſẏnen werden / gruͦ z. Daz er ſpreche vrívnt ıch wıl / dıch loſen Von aremvͦt dıe bẏ dır // ıſt. Jch wílle dıch machen ſorgen / buͦ z. 10 Gehabe dıch wol vnde ſchılt / ouch me dıe boſen Swa (daz) du rıche / ſcalke ſıchſt ſo vlívch von ín ıch wıl / dıch neren. Eín ſcalc er ne gıt dẏr / nẏmmer nícht laz ín ſín guͦ t mẏt / ſcalken tzeren. /
2 unklar, wieso hier zwei (Zäsur-)Punkte im Versinneren stehen 6 durch helfe interlinear nachgetragen 11 daz interlinear nachgetragen
31. Uver helfet mír an ſy˙ner ſtat. Des helfe mír was vıl gereıt.
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Wer hilfet mir an sîner stat, des helfe mir was vil gereit? ich lige sêre in jâmers bat. wer wil durch sîne werdecheit mir helfen, sô daz mir noch vreude werde baz bekant? den wile ich ze hêrren hân mit dienste, alsô ich von rehte sol, 5 unde wil im wesen undertân. wes herze ist reiner tugenden vol? der sich des underwinde, daz er biete mir durch helfe die hant, hie mite sînen werden gruoz, daz er spreche: ,vriunt, ich wil dich lœsen von aremuot, diu bî dir ist, ich wile dich machen sorgen buoz. 10 gehabe dich wol unde schilt ouch mê die bœsen! swâ daz dû rîche schalke sihst, sô vliuch von in, ich wil dich nern. ein schalc, erne gît dir niemer niht, lâz in sîn guot mit schalken zern!ʻ
30 J 1 helfen: Aufgrund der hsl. Endg. ‑et muss es hier hilfet (Ind. Präs.) statt helfet heißen, in J md. /i/ > /e/ gesenkt. an … stat: ‚anstatt, anstelle‘ gereit: ‚bereit, fertig, zur Hand‘ 2 sêre: hier ‚mit Schmerzen, schmerzlich‘ 3 bekant werden: ‚geschehen, sich ereignen‘, hier ‚widerfahren, zuteilwerden‘ 4 wellen: hier evtl. mit futur. Färbung mit dienste: ‘ergeben, dienstwillig‘ 5 wellen: futur. ausgerichtet (vgl. auch V. 9 und 11) 6 V. 6 scheint als Antwort auf die Frage in V. 5 zu verstehen zu sein. underwinden: refl. mit Gen. (des) ‚durchringen zu etwas‘ durch: hier ‚aus‘ 7 hie mite: ‚(hier-)mit, damit, dazu‘ 9 buoz machen: mit Gen. oder Dat. d. S. (sorgen = Gen. und Dat. Pl. Fem., Kasus kann hier nicht bestimmt werden, Belege in den WB deuten jedoch auf Gen. hin) ‚Abhilfe, Besserung, Erleichterung verschaffen‘ 10 gehaben: mit refl. Akk. (dich) ‚sich befinden und benehmen‘ mê: ‚außerdem, noch dazu‘ oder ‚länger, fernerhin, fortan‘, ich wähle Letzteres, da das vorausgehende ouch den additiven Charakter bereits ausdrückt. 11 sehen: Analog zum Ausfall des Schwa zwischen /h/ und /t/ in der 3. Sg. Ind. Präs. (siht) steht die 2. Sg. Ind. Präs. hier ebenfalls ohne Schwa (sihst). nern: ‚retten, schützen‘ 12 (er)ne … niemer niht: Für das Mhd. typische Häufung negativer Ausdrucksmittel, die den negierenden Charakter der Aussage jedoch nicht aufheben. zern: tr. ‚auf-, verzehren, verbrauchen‘
HMS 3: II,14 Sch 55
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Übersetzung Wer hilft mir anstelle von demjenigen, dessen Hilfe mir ganz und gar zur [Verfügung stand? Ich liege mit Schmerzen im Bad des Kummers. Wer wird mir um seines [Ansehens willen helfen, so dass mir noch mehr Freude zuteilwerde? Den möchte ich dienstwillig zum Herrn haben, wie ich es rechtmäßig soll, 5 und werde ihm ergeben sein. Wessen Herz ist voll reiner Sitten? (Dessen Herz,) der sich dazu durchringt, dass er mir aus Hilfsbereitschaft die [Hand reicht, dazu seinen angesehenen Gruß, auf dass er sagen möge: ,Freund, ich werde dich befreien von Armut, die bei dir herrscht, ich werde deinen Sorgen Abhilfe verschaffen. 10 Benimm dich gut und tadel auch künftig die Schlechten! Wo auch immer du reiche Hinterhältige siehst, flieh vor ihnen, ich werde [dich schützen. Ein Böser gibt dir niemals etwas, lass ihn sein Eigentum mit Bösen verbrauchen!ʻ
Inhalt II,31 beschäftigt sich mit einem Kernthema der Sangspruchdichtung – der milte. Das Sprecher-Ich fordert zur Hilfe durch Freigebigkeit auf und begründet dies mit seiner misslichen Lage: ich lige sêre in jâmers bat (V. 2). Obgleich diese äußerst bildliche Beschreibung es nahezulegen scheint, ist II,31 kein Klagelied über Armut und fehlende Unterstützung im herkömmlichen Sinne. Vielmehr folgt der Spruch einem Frage-Antwort-Muster, das trotz der Zuhörer, die aufgrund der Frageform impliziert werden, und ungeachtet der (fiktiven) Antwort eines (fiktiven) Gönners (vgl. V. 8–12) dennoch beinahe wie ein Zwiegespräch wirkt, das der Sprecher mit sich selbst führt und in dem er die Antworten auf seine Fragen immer gleich mitliefert. Im Detail sieht die Struktur des Spruches folgendermaßen aus: − Vers 1: Frage 1 (sie formuliert zugleich „die mit dem Spruch gemeinte Bitte“400) − Vers 2 (erste Hälfte): Nennung eines Grundes für die Berechtigung von Frage 1 − Vers 2 (zweite Hälfte) bis Vers 3: Frage 2 400 Gerdes: Beiträge, S. 180 Anm. 3.
31. Uver helfet mír an ſy˙ner ſtat. Des helfe mír was vıl gereıt.
− − −
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Vers 4 bis Vers 5 (erste Hälfte): Stellen eines Anreizes zur positiven Beantwortung von Frage 2 Vers 5 (zweite Hälfte): Frage 3 Vers 6 bis Vers 12: Antwort auf Frage 3 (inkl. fiktiver direkter Rede des idealen Gönners [vgl. V. 8–12])
Dieser Aufbau veranschaulicht, wie raffiniert die Argumentationsstruktur ist, denn sie ist auf den ersten Blick nicht zu erkennen: Zunächst weist das Ich anschaulich auf seinen jâmer[s] (V. 2) hin,401 der die Aufforderung zu (materiellem) Beistand legitimiert (vgl. V. 1 f.).402 Im nächsten Schritt wird anhand des Geltungsbedürfnisses der infrage kommenden Gönner versucht, sie indirekt damit zu ködern, dass ihnen eine Steigerung ihres Ansehens in Aussicht gestellt wird, für den Fall, dass sie dem Ich helfen (vgl. V. 2 wer wil durch sîne werdecheit mir helfen?).403 Darüber hinaus soll wohl auch die Art, wie das Ich seinen Dienst als Gegenleistung ankündigt (vgl. V. 4 f.), eine einschmeichelnde Wirkung haben: Die Formulierungen ze hêrren hân mit dienste (V. 4) und im wesen undertân (V. 5) lassen keinen Zweifel daran, wer Herr und wer Untergebener in diesem „Arrangement“ ist bzw. wäre. Im Anschluss an diese eher extrinsische Motivierung folgt schließlich noch ein ideeller oder immaterieller Anreiz: Derjenige, der sich dazu durchringt, dem Ich die helfende Hand zu reichen (vgl. V. 6) und es mit seinem Gruß zu bedenken (vgl. V. 7),404 zeigt, dass sein herze ist reiner405 tugenden vol (V. 5). Es werden also nicht nur gesteigerte werdecheit (V. 2) und ein ergebener 401 Anton E. Schönbach führt für den Ausdruck jâmers bat Belegstellen aus dem kirchlichen Bereich an (vgl. Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 46 f.). 402 Der erste Vers deutet darauf hin, dass das Ich einen Gönner hatte, diesen jedoch – aus welchen Gründen auch immer – verloren hat. Dadurch wird den potenziellen Gönnern indirekt signalisiert, dass der Sprecher durchaus unterstützenswert ist, denn er hat ja bereits zuvor einen Gönner für sich gewinnen können. Schönbach meint hierzu, dass der Spruch „wahrscheinlich nach dem Tode eines Fürsten gedichtet [ist]; Wernher sieht nach einem neuen Herrn aus und beschreibt, wie er sich von ihm aufgenommen wünscht“ (ebd., S. 46). Diese Vermutung ist denkbar, allerdings bleibt sie angesichts fehlender konkreterer Indizien spekulativ. 403 Ingrid Strasser weist mit Blick auf das Lexem vreude in Vers 3 darauf hin, dass vreude und milte in einer Wechselwirkung zueinander stehen: „Übt der Herrscher Freigebigkeit, kommt er also einer seiner vornehmsten Herrscherpflichten nach, resultiert aus diesem Handeln die vröude der Beteilten“ (Strasser, S. 243). 404 Es fällt auf, dass hier sowohl die verbale als auch die nonverbale Kommunikationsebene angeführt wird. Das Ich möchte demnach auf jede erdenkliche Weise erhört werden. 405 Udo Gerdes weist darauf hin, dass die Wendung reinez herze (bzw. die attr. Verwendung des Adj. reine) „geradezu Kennwort der Freigebigkeit“ (Gerdes: Beiträge, S. 69 f.) ist (vgl. dazu z. B. auch II,39,9).
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Ton II, Korpus in J
Dienstmann (vgl. V. 4 f.) in Aussicht gestellt, sondern darüber hinaus auch der offensichtliche Beweis für die Reinheit des Herzens! Ab Vers 8 kommt es zu einem formalen Schnitt, denn nun setzt die (fiktive) direkte Rede des (fiktiven) Gönners ein, die z. T. wie eine Antwort auf den gesamten vorausgegangenen Spruch gelesen werden kann und wie die Reaktion des idealen Gönners schlechthin erscheint. Bereits die Anrede vriunt (V. 8) an das Ich bestätigt diesen Eindruck. Im Anschluss daran folgt zunächst die Zusicherung, das Ich von aremuot (V. 9) und sorgen (V. 9) zu befreien.406 Ist das Ich erst einmal erlöst von seinem Kummer und seinen Nöten, singt es sich doch gleich viel unbeschwerter, und dementsprechend ist die Aufforderung des (fiktiven) Gönners Gehabe dich wol unde schilt ouch mê die bœsen! in Vers 10 zu verstehen. Übrigens zeigt dieser Appell, wie das Sprecher-Ich den in Vers 4 f. angekündigten dienst verstanden wissen will, nämlich als Gesang in Form von Lob und Schelte. Die beiden Schlussverse warnen abschließend noch vor den riche[n] schalke[n] (V. 11), von denen das Ich trotz ihres Reichtums nichts zu erwarten hat, da sie ihr guot mit schalken zern (V. 12). Deswegen soll sich das Ich lieber fernhalten von solchen Menschen (vgl. V. 11). Die Warnung vor den schalke[n] (V. 11) erscheint auf den ersten Blick kontextuell etwas unzusammenhängend, bei näherer Betrachtung wird jedoch deutlich, dass auch sie letztlich auf die Werbung eines Gönners ausgerichtet ist. Denn jeder, der nicht bereit ist, sein Vermögen mit jemandem wie dem Sprecher-Ich zu teilen, wird sich als rîcher schalc gebrandmarkt sehen müssen. Ein solches „Etikett“ kann ein Herr, der etwas auf sich und seinen Ruf gibt, wohl nur schwer gelten lassen – zumindest zielt das Ich auf diese Wirkung ab.
Inhaltliche Ähnlichkeit mit anderen Texten Die Belegstellen, die Anton E. Schönbach bei Walther ausmacht und die er zu Bruder Wernhers Spruch in Verbindung setzt, decken sich z. T. mit Formulierungen aus II,31. Dennoch ist m. E. zweifelhaft, ob explizit auf sie hingewiesen werden muss – immerhin sind manche von ihnen nicht charakteristisch für Walther und/oder Bruder Wernher, sondern lassen sich auch bei anderen Dichtern oder in anderen Gattungen finden. Hierzu würde ich etwa die von
406 Man beachte den parallelen Satzbau von ich wil dich lœsen (V. 8) und ich wil dich nern (V. 11), die beide eine zentrale Aussage bzgl. der Lebenssituation des Sprecher-Ich beinhalten.
31. Uver helfet mír an ſy˙ner ſtat. Des helfe mír was vıl gereıt.
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Schönbach genannten Textstellen tugenden vol (V. 5), werden gruoz (V. 7) oder machen sorgen buoz407 (V. 9) zählen.408 vgl. zu Vers 10: Der Litschauer II,5 (hier V. 9 f.): ê dan ich einen rîchen boesen prîsete umbe ein gebelîn, ê wolte ich mit den milten armen immer arme sîn. (CollmannWeiß, S. 126)
Metrik A8ma A8ma A8mb 8mc 5 2A 8 m c A8mb A4md 6ke A8md 10 A 6 k e A8mf A8mf
sêrẹ mir hélfen, so daz mír noch vréudè wérde báz bekánt? wilẹ, dienstẹ, alsộ unde wíl im wésen úndertan. wes hérzẹ ist réiner túgenden vól? der sích des únderwìnde, dáz er bíete mír durch hélfe die hánt,
von áremùot, diu b dir íst, ich wíle dich máchen sórgen búoz. gehábe dich wól unde schílt ouch me die bœ́ sèn! ein schálc, erne gt dir níemer níht, lâz ín sîn gúot mit schálken zérn!ʻ
Literatur Doerks, S. 12 • Gerdes: Beiträge, S. 70 und Anm. 1, 155, 157 und Anm. 3, 162 und Anm. 1, 164, 168 Anm. 2, 176 und Anm. 4, 177 und Anm. 1 und 3, 179 und Anm. 7, 180 und Anm. 3, 181 und Anm. 5 • HMS 4, S. 521 • Kemetmüller, S. 5, 68, 69, 71, 229 f. • Lamey, S. 6, 7, 19, 30, 37 • Moser/Müller-Blattau, S. 77, 81 • Roethe, S. 305 • Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 46 f. • Strasser, S. 244 • Vetter, S. 260.
407 Sowohl im HWB als auch im BMZ finden sich genug Textstellen, in denen das Lexem sorge zusammen mit dem Funktionsverbgefüge buoz tuon/machen/werden steht (vgl. BMZ buoz und HWB bzw. BMZ sorge), so dass die Wendung keineswegs als Eigenheit Walthers oder Wernhers zu sehen ist. 408 Vgl. Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 46 f.
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32. Nv ratent alle dıe nv leben. Vnde ouch bẏ guͦten wítzen ſẏnt. (J31, U) Nv ratent alle dıe nv leben. / Vnde ouch bẏ guͦ ten wít/zen ſẏnt. Jn welhem lande vrouwe / ere. habe eín reẏne gebende kẏnt. / Daz nícht wen mílter werke phle/ge baz dan íe mílter man gephlac. / Als ıch daz wort hıe vuͦ r geſprach. / Do wart eín vıl gemeẏne rof. 5 Do / rıefen íene vnde dıſe. Got mẏlter / herre̅ nẏe geſchof. Den graben wıl/halm von hvnesburc. Der (ıſt der) geren/den oſtertac Dar ne horet nv wen / bíeten (?) tzvͦ. Dıe hende ſwer ſín guͦ t / vntfahen welle Nv ſaget wer ſo / groze mílte ín al der werlde tuͦ . / 10 Swaz man der gebenden ıeman / vuͦ r getzelle Des mílten ſalatínes / hant geſete vm ere nẏe ſo wíten / ſcaz. Noch nẏe man der ıe wart / geborn des ſẏ ín al der werlde traz. /
6 〈s〉 bei wılhalms radiert; ıſt der interlinear nachgetragen 7 〈íe〉 bei bíeten materialbedingt (?) schlecht lesbar; hier scheint zu irgendeinem Zeitpunkt radiert worden zu sein, wodurch die später (?) über die radierte Stelle geschriebenen Buchstaben weniger deutlich erkennbar sind, als dies bei regulär (d. h. ohne Radierung) geschriebenen der Fall ist.
32. Nv ratent alle dıe nv leben. Vnde ouch by˙ guͦten wítzen ſy˙nt.
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Nû râtent alle, die nû lebent unde ouch bî guoten witzen sint, in welhem lande vrouwe Êre habe ein reine gebende kint, daz niht wan milter werke phlege, baz, dan ie milter man gephlac. als ich daz wort hie vür gesprach, dô wart ein vil gemeine ruof, 5 dô riefen iene unde dise: ,got miltern hêrren nie geschuof, dan grâven Wilhalm von Hûnesburc, der ist der gernden ôstertac. darne hœret niuwan bieten zuo die hende, swer sîn guot emphâhen welle.ʻ nû saget, wer sô grôze milte in al der werlde tuo? 10 swaz man der gebenden ieman vergezelle, des milten Salatînes hant gesæte umb êre nie sô wîten schatz, noch nieman, der ie wart geborn. des sî in al der werlde tratz!
31 J 1 râten, leben, sîn: Der hsl. Befund deutet, was den Numerus angeht, sowohl auf 2. als auch 3. Pl. Ind. Präs.: Während hsl. ratent normalmhd. 3. Pl. ist, entspricht die Form im Md. der 2. Pl.; hsl. leben wiederum ist normalmhd. 2. Pl., md. jedoch 3. Pl. und hsl. ſẏnt schließlich entspricht normalmhd. der 3. Pl., md. wird diese Form z. T. aber auch für die 1. Pl. verwendet, nur im Alem. tritt sint auch für 2. Pl. auf (vgl. hierzu Mhd. Gram., § M 107 und Anm. 2). Ausgehend von hsl. ſẏnt setze ich für V. 1 die 3. Pl. an und vermute, dass hsl. normalmhd. und md. Formen der 3. Pl. nebeneinanderstehen. Da dieser Auslegung zufolge V. 1–3 jedoch nicht Aufforderungs-, sondern Aussagesatz ist (vgl. dazu nû saget in V. 9), und zudem die Apostrophe an das Publikum fehlt, die in V. 4 f. impliziert wird, halte ich es auch für möglich, dass in V. 2 doch 2. Pl. anzusetzen ist (‚Jetzt überlegt alle, die ihr lebt...‘) und hsl. ſẏnt (statt sît) auf Reimzwang zurückzuführen ist. (Schönbach ignoriert den hsl. Befund übrigens und schreibt kommentarlos: Nû râtent alle, die nû lebent und ouch bî guoten witzen sint [Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 47]). 2 reine: ‚Reinheit, Makellosigkeit‘; wörtlich ‚ein Reinheit/Makellosigkeit schenkendes Kind‘, also ‚ein Kind, das Makellosigkeit verleiht‘, ich übersetze etwas freier. 3 phlegen: mit Gen. (milter werke) ‚betreiben, üben, tun‘ 4 gemeine: ‚mehreren gehörig, gemeinschaftlich‘ gemeine ruof: Schönbach weist zu Recht darauf hin, dass die Wendung gemeine ruof irgendwann fest wird und so viel wie ‚Gerücht, Kunde‘ bedeutet (vgl. ebd., S. 50; vgl. HWB ruof und DWB Ruf, B. III. 3)). Mit Blick auf V. 4 erklärt er jedoch: „zwischen dieser Bedeutung [,Gerücht‘, Anm. d. Verf.] und der rein sinnlichen ‚Geschrei‘ steht das Wort an unserer Stelle.“ (ebd.) 5 miltern: In der Hs. steht der Komparativ ohne ‑n (Akk. Sg. Mask.), ich ergänze dieses, aus metr. Gründen allerdings mit synkopiertem /ə/. 6 Reicht die direkte Rede ab V. 5 bis V. 8 oder endet sie doch bereits in V. 6? gernden: subst. ‚die nach Lohn verlangenden Sänger und Spielleute‘, etwas freier ‚fahrendes Volk‘ ôstertac: Neben ‚Ostertag, ‑fest‘ kann auch freier ‚höchste Freude‘ gemeint sein (vgl. HWB ôstertac). 7 dar zuo: Wohl aufgrund des Reimklangs UO steht zuo nicht unmittelbar bei dar, sondern am Ende
HMS 3: II,15 Sch 56
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des Verses. hœren: intr. im Verhältnis der Abh. oder Zugehörigkeit von etwas sein ‚gehören zu, erforderlich sein zu‘ bieten: ‚anbieten, darreichen, strecken‘ 9 tuon: etwas freier ‚zeigen‘ 10 der gebenden: part. Gen. zu ieman verzellen: tr. mit Dat. d. P. (ieman) ‚berichten, erzählen‘ bzw. gezellen: tr. mit Dat. (ieman) ‚erzählen‘; die vorliegende Form vergezelle ist als Hyperkorrektur (Ergänzung eines vermeintlich fehlenden ge-Präfixes) zu verstehen (vgl. Czajkowski, S. 31 f.). 12 (noch) nieman: Greift m. E. lediglich formal den negierenden Charakter der in V. 11 vorausgegangenen Aussage auf (vgl. Mhd. Gram., § S 145), so dass hier nicht mit ‚niemand, keiner‘, sondern mit ‚jemand, einer‘ zu übersetzen ist. des: adv. Gen., semantisch Gen. der Relation ‚in Bezug darauf, dafür‘ (vgl. Mhd. Gram., § S 75) tratz: ‚Widersetzlichkeit, Feindseligkeit, Trotz‘
32. Nv ratent alle dıe nv leben. Vnde ouch by˙ guͦten wítzen ſy˙nt.
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Übersetzung Nun überlegen alle, die jetzt leben und auch von vortrefflicher Klugheit sind, in welchem Land die Dame Ehre ein Kind hat, dessen Makellosigkeit (sich auf [andere überträgt und) das nichts als freigebige Taten zu vollbringen vermag, mehr, als es je ein [freigebiger Mann tat. Als ich diese Worte hier zuvor sagte, da rief man absolut einhellig, 5 jene und diese riefen da: ,Gott hat nie einen freigebigeren Herrn erschaffen als Graf Wilhelm von Heunburg, der ist für das fahrende Volk wie der Ostertag. Für jeden, der (von) seinem Eigentum empfangen möchte, ist nichts (anderes) erforderlich, als seine Hände hinzustrecken.ʻ Jetzt sagt, wer auf der ganzen Welt so große Freigebigkeit übt? 10 Was auch immer man jemandem von den Freigebigen erzählen mag, (weder) die Hand des freigebigen Saladins verstreute um des Ansehens willen [je so großen Schatz noch (sonst) jemand, der je geboren wurde. Dafür (, dass sie Wilhelm an Freigebigkeit nicht gleichkommen), möge ihnen die ganze Welt feindselig [gesinnt sein!
Inhalt In diesem klassischen Herrenpreis steht eine der zentralen Herrschertugenden im Zentrum – die milte.409 Gelobt wird grâve Wilhalm von Hûnesburc (V. 6).410 Der erste Stollen beschäftigt sich zunächst mit der Überlegung, welcher Mann ein Kind der vrouwe Êre (V. 2) sei (vgl. V. 2), reine411 (V. 2) schenke (vgl. V. 2) und niht wan milter werke phlege (V. 3). Die Antwort darauf präsentiert der zweite Stollen: Die Allgemeinheit (vgl. V. 4 ein vil gemeine ruof, V. 5 iene unde dise) ist sich einig darin, dass es nur eine Person gibt, auf die die zuvor geäußerte Beschreibung zutrifft: Graf Wilhelm412 von Heunburg413 (vgl. V. 4– 409 Das Lexem milte (Adj. und Subst.) wird an fünf Stellen verwendet (vgl. V. 3 [zweimal], 5, 9 und 11). 410 Zum historischen Hintergrund vgl. weiter unten. 411 Zum Symbolcharakter des Subst. bzw. Adj. reine mit Blick auf die Freigebigkeit einer Person vgl. Gerdes: Beiträge, S. 69 f. 412 „Wilhalm J ist die urkundliche Form und die des steir. Reimchronisten“ (Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 47 f.). 413 Es ist nicht ganz klar, wie die handschriftliche Form hunesburc (für Heunburg) zu erklären ist. Schönbach meint, dass sie „falsch sein [wird], da s, das Genitivzeichen männlicher Eigennahmen, hier nicht eintreten kann“ (ebd., S. 48). Darüber hinaus führt er in einer Fuß-
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8). Er sei der gernden ôstertac (V. 6), indem er freigebig und großzügig sîn guot (V. 8) an all diejenigen verteilt, die ihm die hende [bieten] (vgl. V. 7 f.). Es ist bedeutsam, dass hier explizit die gernden genannt werden und nicht etwa allgemeiner die armen, denn auf diese Weise lässt der Sprecher (bzw. Dichter) keinen Zweifel daran, wer konkret beschenkt werden soll.414 Graf Wilhelm von Heunburg dient als Vorbild, dem nachgeeifert werden soll, und zwar ausdrücklich in seiner Großzügigkeit gegenüber dem fahrenden Volk. Darüber hinaus fällt an den Versen 4 bis 8 die Verwendung der direkten Rede auf. Besonders daran sind v. a. zwei Aspekte: Zum einen bilden diese Verse aufgrund der direkten Rede eine unmittelbare Reaktion oder Erläuterung der Verse 1 bis 3. Zum anderen wird dadurch, dass das in direkter Rede Gesagte als Aussage der Allgemeinheit ausgewiesen ist, das Lob Wilhelms von Heunburg noch zusätzlich gesteigert: Nicht (nur) der Sprecher, sondern iene unde dise (V. 5) halten den Grafen für äußerst freigebig.415 Diese Ansicht unterstreichen schließlich die Verse 9 bis 12, die mit einer Apostrophe an das Publikum und einer (rhetorischen) Frage zum Mitdenken animieren wollen (vgl. V. 9 nû saget). Der Sprecher greift einer Antwort seines Publikums vor, indem er festhält, dass sogar des milten Salatînes hant gesæte umb êre nie sô wîten schatz (V. 11) und auch sonst niemand, der je geboren wurde (vgl. V. 12); und weil sie alle nie so freigebig waren wie Wilhelm von Heunburg, möge ihnen die ganze Welt Feindseligkeit entgegenbringen (vgl. V. 12). Auffällig an Vers 10 bis 12 ist die zwiespältige Position, die Sultan Saladin (und andere, namenlose gebende [vgl. V. 10]) einnote die Aussage des Landesarchivars von Jaksch in Klagenfurt an: „,Die ältesten Namensformen sind uns aus dem Jahre 1103 überliefert: Huneburch und Huninpurch in den Originalen, Monumenta ducatus Carinthiae 3, Nr. 516. 517. Die Formen Huonesperc und Heonasperc sind aus meinem, wie ich glaube, vollständigen Material nicht zu belegen und entstammen vielleicht schlechten Drucken.‘“ (ebd., S. 48 Anm. 1) Den mangelhaften Materialzustand als Begründung für die abweichenden Schreibungen heranzuziehen, erscheint etwas einfallslos, allerdings weiß ich keine sinnvollere Erklärung anzubieten (abgesehen von der Vermutung, es könnte sich um eine weitere Nebenform des Namens handeln). In seiner Untersuchung zu den Grafen von Heunburg hält Karlmann Tangl in der Einleitung fest: „In den Urkunden findet man als Benennung unseres Grafengeschlechts die abweichenden Schreibarten Huninpurch, Hunenpurch, Hunepurch, Hunpurch, Hewenpurch, Hewnpurch und Heunpurch […]. In den Urkunden des Stiftes St. Paul findet man mehrere Male die Namen Huonenpurch, Hoͮnenpurch […] und Huenenpurch.“ (Tangl, S. 51) Die handschriftliche Form hunesburc führt Tangl, soweit ich das sehen kann, jedoch nicht an. Unabhängig von diesen Erkenntnissen ist wohl in jedem Fall das hsl. 〈u〉 als Langvokal aufzufassen, da nur so der Diphthong der Form ,Heunburg‘ erklärt werden kann. 414 Für Schönbach zeigt die Verwendung des Lexems zudem, „daß der Dichter sich unverholen […] zu den gernden von V. 6 rechnete“ (Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 50). 415 Vgl. zur Bedeutung des Anspruchs auf Allgemeingültigkeit auch Gerdes: Beitäge, S. 157 Anm. 4.
32. Nv ratent alle dıe nv leben. Vnde ouch by˙ guͦten wítzen ſy˙nt.
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nimmt: Einerseits dient der Vergleich mit dem an Freigebigkeit kaum zu überbietenden Saladin416 zur Verstärkung des Lobs von Wilhelm von Heunburg, die Person Saladins ist also positiv konnotiert, andererseits kippt seine anfängliche Vorbildlichkeit schließlich ins Negative, indem seine Freigebigkeit im Vergleich zu derjenigen des Grafen Heunburg als ungenügend klassifiziert wird.
Historischer Hintergrund Als grâven Wilhalm von Hûnesburc (V. 6) hat die Forschung einhellig den österreichischen Grafen Wilhelm von Heunburg ausgemacht.417 Auf der Grundlage der Arbeit von Karlmann Tangl sind für II,32 zwei verschiedene Grafen Wilhelm von Heunburg denkbar: − Wilhelm III. (= senior bzw. der Ältere oder Oheim), der erstmals 1185 urkundlich in Erscheinung tritt418 und 1230 das letzte Mal genannt wird419. Seine Lebensdaten legt Tangl in die Jahre 1160 bis etwa 1230.420 − Wilhelm IV. (= junior bzw. der Jüngere oder Neffe), der zuerst 1208 in einer Urkunde erwähnt wird421 und evtl. 1249 stirbt422. In der Frage, auf welchen der beiden II,32 Bezug nimmt, scheint die Wahl auf den Jüngeren der beiden zu fallen. Der Grund hierfür liegt zum einen in dem Turnier von Friesach, das im Mai 1224 stattgefunden hat, zum anderen in einer Äußerung Ulrichs von Liechtenstein, die sich auf dieses Turnier bezieht. Der Minnesänger führt an drei Stellen den Namen Hiunenburc an,423 so dass daraus 416 Hannes Möhring schreibt in seiner Arbeit über Saladin: „An seinem als ,edler Heide‘ in Europa die meisten christlichen Herrscher des Mittelalters überstrahlenden Bild hatte Saladin nicht nur durch die Behandlung der kapitulierenden Christen und seine stets bewiesene Vertragstreue aktiven Anteil. Unter den positiven Eigenschaften Saladins ragt seine geradezu verschwenderische Freigebigkeit heraus, die Muslime wie Christen beeindruckte. Nicht zuletzt auch sie trug dazu bei, die Erinnerung an ihn zu vergolden.“ (Möhring, S. 111) 417 Vgl. HMS 4, S. 519; Meyer, S. 83; Lamey, S. 7 und 36; Doerks, S. 3; Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 47 f.; Vetter, S. 260; Kemetmüller, S. 70; Gerdes: Beiträge, S. 84; Müller: politische Lyrik, S. 92 f.; Heinzle, S. 18; Brunner: Bruder Wernher, Sp. 898. 418 Vgl. Tangl, S. 89. 419 Vgl. ebd., S. 95 f. 420 Vg. ebd., S. 96. 421 Vgl. ebd., S. 102. 422 Vgl. ebd., S. 115. 423 Vgl. L 65,19 von Hiunenburc der milte man, L 81,7 von Hiunenburc der milte man und L 86,25 Von Hiunenburc der grâve wert (vgl. Spechtler: Ulrich von Liechtenstein, Str. 189,3; 251,7 und 274,1).
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geschlossen werden kann, dass irgendein Graf von Heunburg bei diesem Turnier anwesend gewesen sein muss. Tangl plädiert für Wilhelm IV. und argumentiert in dieser Frage folgendermaßen: Wilhelm III. mochte 1224 schon ein guter Sechziger gewesen sein und daher kaum mehr Lust gehabt haben, sich am Tyostiren zu betheiligen. Wilhelm IV. aber, sein Neffe, war damals ein Vierziger und daher in dem Alter, wo man solche Spiele, bei denen es oft ziemlich ernst herging und Contusionen und Wunden absetzte, noch liebt und auch noch die dazu gehörige körperliche Kraft und Gewandtheit besitzt.424
Ein weiterer Grund, der eher für den jüngeren der beiden Wilhelms spricht, ist die Freigebigkeit, die Wilhelm IV. nachgesagt wird. Tangl hierzu: Auch mochte Graf Wilhelm, was mit seiner Prunkliebe vollkommen vereinbarlich ist, sowohl zu Hause als auch auswärts ein freigebiger Herr gewesen sein, der das Geld minder achtete als mancher andere […].425
Die historische Person scheint also bestimmt, bleibt der Abfassungszeitpunkt des Spruches. Hierbei kann vielleicht die erste Hälfte von Vers 4 Hilfestellung geben: als ich daz wort hie vür gesprach. Die Forschung scheint sich weitgehend einig darin, dass hie vür darauf hindeutet, dass Wilhelm IV. zum Zeitpunkt der Niederschrift bereits tot ist,426 der Spruch „aber doch wol im frischen Andenken an dessen rühmenswertes Leben“427 zeitnah nach seinem Tod entstanden sein muss. Demzufolge wäre II,32 evtl. 1249 bzw. nicht lange danach verfasst worden. Da sich jedoch ansonsten keinerlei Hinweise im Text finden lassen, die auf den Tod des Grafen hindeuten würden, bleibt speziell die Datierungsfrage sehr spekulativ, denn sie stützt sich allein auf die Auslegung von hie vür.428
Inhaltliche Ähnlichkeit mit anderen Texten vgl. zu Vers 1: Walther L 27,7 (hier V. 7): nû râte ein ieglîch friunt, ob ich ez halte oder ób ichz lâze. (Schweikle: Walther, Bd. 1, S. 122) 424 Tangl, S. 103. Schönbach folgt Tangl in dieser Argumentation (vgl. Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 48.) und auch Hans Vetter schließt sich an (vgl. Vetter, S. 260). 425 Tangl, S. 104. 426 Vgl. Meyer, S. 83; Lamey, S. 36; Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 49; Vetter, S. 260. 427 Lamey, S. 36. 428 Ähnlich sieht dies auch Müller: „Daß der Gepriesene tot sei […], steht jedoch nicht ausdrücklich da.“ (Müller: politische Lyrik, S. 93)
32. Nv ratent alle dıe nv leben. Vnde ouch by˙ guͦten wítzen ſy˙nt.
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vgl. evtl. zu Vers 4: Walther L 85,25 (hier V. 1 f.): Ích sach hie vór eteswénne den tac, dáz unser lób was gemeín allen zungen. (Schweikle: Walther, Bd. 1, S. 316) vgl. zu Vers 6: Meißner: XVII,11 (hier V. 9): Den gernden hilfet er zu not, den ist er ein ostertac (Objartel, S. 227) vgl. zu Vers 11 f.: Walther: L 19,17 (hier V. 7–9): denke án den milten Salatîn der jach, daz küniges hende dürkel solten sîn, sô wurden si erforht und ouch geminnet. (Schweikle: Walther, Bd. 1, S. 88)
Metrik A8ma A8ma A8mb A8mc 5 A8mc A8mb 2A 4 m d A6ke A8md 10 A 6 k e A8mf A8mf
Nû ratent álle, díe nû lébent undẹ óuch bî gúoten wítzen sínt, in wélhem lánde vróuwe Ere hábẹ ein réine gébende kínt, daz níht wan mílter wérke phlége, báz, dan ie mílter mán gephlác. dô ríefen íene únde díse: ,got míltern herren níe geschúof, dan graven Wílhalm von Hunesbùrc der íst der gérnden ostertác
nû ságet, wér sô groze míltè in ál der wérlde túo? swaz mán der gébenden íeman vérgezéllè, gesætẹ
Literatur Brunner: Bruder Wernher, Sp. 898 • Doerks, S. 3 • Gerdes: Beiträge, S. 70 und Anm. 1, 83 f., 94 und Anm. 4, 149 und Anm. 3, 157 und Anm. 4, 168 Anm. 2, 177 und Anm. 1, 178 und Anm. 3, 179 und Anm. 6, 181 und Anm. 6, 192 und Anm. 2, 193 und Anm. 1 • Gerdes: Zeitgeschichte, S. 151 • HMS 4, S. 519 • Heinzle, S. 18 • Kemetmüller, S. 42, 43, 44, 45, 70, 86, 87, 230 • Lamey, S. 7, 8, 19, 36, 37, 38 • Leitzmann, S. 163 • Meyer, S. 83 • Moser/Müller-Blattau, S. 77, 81 • Müller: politische Lyrik, S. 92 f. • Roethe, S. 227 • Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 47–51 • Strasser, S. 240 • Vetter, S. 260.
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33. Dıv ſcande ſtıget vnde velt. Jn dırre werlde an ſelden (durch helfe) / kvͦr. (J32, U) Dıv ſcande ſtıget vnde velt. / Jn dırre werlde an ſelden (durch helfe) / kvͦr. Sıe brıchet ſere mít gewalt. / Vnde ouch an rechter werde vuͦ r / Dıe phaffen vnde leẏn mvͦzen ge/meẏne leıſten eẏn gebot Des // worde rat wen daz man ſeıt. Swer / ſere an grozen ſcanden ſẏ. 5 Der werde / keẏner ſvnder wan von rechten / houbet ſvnden vrẏ. Dıe ſele kegen / dem tíubele vert vıl gar vnſchul/dıch ıſt ır got Got gıt dem eren / gerenden gůt. Vıl tugenden vůre / da bẏ ware mẏnne So gıt der / tıvbel den dıe mít ſcanden ſẏnt / alſo gemvͦt. 10 Daz ſıe mít ſvnden / bergen vnde gewẏnne Vvaz ſol / ẏm lıb waz ſol ẏm gůt. Waz ſv/len ẏm ouch rıche lant. Swer ſıch / al híe beſchelten lat vnde ouch der / helle wírt bekant. /
1 durch helfe interlinear nachgetragen, nur sehr schwach erkennbar429
429 Das RSM liest durch prıſe (vgl. RSM 5, S. 554). Mir scheint die Unterlänge des Anfangsbuchstabens des zweiten Wortes jedoch eher auf ein h als auf ein p hinzudeuten.
33. Dıv ſcande ſtıget vnde velt. Jn dırre werlde an ſelden (durch helfe) / kvͦr.
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Diu schande stîget unde velt in dirre werlde an sælden durch helfe kür. sie brichet sêre mit gewalt unde ouch an rehter wirde vür – die phaffen unde leien müezen gemeine leisten ein gebot –, des wurde rât, wan daz man seit, swer sêre an grôzen schanden sî, 5 der werde keiner sunder wân von rehten houbetsünden vrî: diu sêle gegen dem tiuvele vert, vil gar unschuldec ist ir got. got gît dem êren gernden guot, vil tugenden vuore, dâ bî wâre minne; sô gît der tiuvel den, die mit schanden sint alsô gemuot, 10 daz sie mit sünden bergen unde gewinne. waz sol im lîp, waz sol im guot, waz suln im ouch rîchiu lant, swer sich al hie beschelten lât unde ouch der helle wirt bekant?
32 J 1 helfe: Gen. zu kür kür: ‚Überlegung, Erwägung, prüfende Wahl; Auswahl und das Ausgewählte; Ent-/Beschluss, Bestimmung; Beschaffenheit, Art und Weise‘ an sælden durch helfe kür: Grundsätzlich erscheint der hsl. Nachtrag durch helfe problematisch, und zwar sowohl inhaltlich als auch metrisch (vgl. Kapitel ,Metrikʻ). Schönbach lässt den Nachtrag kommentarlos weg und übersetzt: „Die Schande […] steigt und fällt, wie das Schicksal es bestimmt“ (Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 51, ähnlich auch Moser/Müller-Blattau, S. 77, 81). sælde ist dieser Lesart zufolge Gen.attr. zu kür (wörtlich ‚gemäß der Bestimmung des Glücks/ Schicksals‘) und im Sinne von Fortuna zu verstehen (vgl. dazu die Rota Fortunae [das Glücksrad] in II,23,9 und II,39,11; im Unterschied zu II,23 und II,39 steht in II,33 jedoch nicht gelücke, sondern sælde). Nimmt man den Nachtrag hinzu, so ist nun helfe das Gen.attr. zu kür (jetzt eher ‚Art und Weiseʼ) und der Vers lautet wörtlich: ‚Die Schande nimmt auf dieser Welt zu und ab an Glück, gemäß der Art an Unterstützung (,die ihr zuteilwird).‘ Ich stelle in der Übers. etwas um. 2 sie: bezieht sich auf diu schande vür brechen: ‚hervorbrechen, auf-, emporkommen‘ sêre: ‚heftig, gewaltig, schmerzlich, mit Schmerzen‘ an: Hier abstrakte Verhältnisse ausdrückend mit Dat. (rehter wirde) ‚an, in, von, mit‘; gemeint ist, dass auch bei demjenigen, der sich in gutem Ansehen befindet, die Schande aufkommen, hervorbrechen kann. 3 Dieser Vers ist als parenthetische Erläuterung zu verstehen (vgl. weiter unten Anm. zu gebot). leien: Hsl. ist das ‑e- des Flexivs synkopiert (leẏn), was generell nicht untypisch ist für die Gruppe der sw. flektierten Mask. (v. a. mit Blick auf die Gen.-Formen) (vgl. Mhd. Gram., § M 5). gemeine: ‚auf gemeinsame, gleiche Weise; zusammen‘ leisten: ‚ein Gebot befolgen und ausführen, ein Versprechen erfüllen, eine Pflicht tun‘, ich übersetze etwas freier ‚einem Gesetz unterliegen‘ gebot: Dieses Gebot (oder Gesetz) und dessen Befolgung bezieht sich auf das in V. 1 f. und V. 4–6 Gesagte, also die „Gesetzmäßigkeiten“, die mit der schande einhergehen. Und eben denen sind sowohl die Geistlichen als auch die Laien unterworfen. 4 rât werden: mit Gen. (des) ‚abhelfen, befreien von etwas‘ werden: hier in der
HMS 3: II,16 Sch 57
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nicht umgelauteten Form des Konj. wan daz: vor einem Nachsatz den vorhergehenden positiven oder negativen Hauptsatz beschränkend sêr: ,wund, verwundet, verletzt, angeschlagen‘ 5 der: attr. Gen. zu keiner, wörtlich ‚keiner derer‘ sunder wân: feste Wendung ‚gewisslich, sicherlich‘ houbetsünden: ‚Kapitalsünde, größte Sünde‘ 7 gern: Hier substantiviertes Part. Präs. ‚der Verlangende, Begehrende‘, ich löse die Konstruktion in einem Rel.satz auf. 8 (got gît …) vil tugenden vuore: vil ist Akk.obj., vuore (hier ‚Art zu varn, sich zu benehmen, Lebensweise‘) der part. Gen. dazu, tugenden ist wiederum Gen.attr. zu vuore, wörtlich also ‚ein Vieles/eine Menge an Benehmen der Sittsamkeit‘ 9 mit (schanden): Drückt hier entweder die begleitenden Umstände, die Art und Weise aus (‚mit/unter/in schändlichem Treiben‘) oder die Vermittlung, das Hilfsmittel oder Werkzeug (‚durch/mit/mittels schändlichem Treiben‘). Ich wähle die erste Variante, da die schanden m. E. in erster Linie die Begleitumstände bzw. den Ausgangspunkt liefern, für das, was in V. 10 beschrieben wird. gemuot: Schönbach versteht gemuot als Part. des Verbs müejen (‚beschweren, bekümmern, quälenʻ) und übersetzt „[…] indes der Teufel seiner Sippe, die mit Schanden geplagt […] wird, es verleiht, daß sie bösen Gewinn mit Sünden heimbringen“ (Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 52). Diese Auslegung ist theoretisch zwar möglich, allerdings geht es in dem Vers m. E. weniger darum, die vom Teufel Verführten als Opfer darzustellen (Schönbach: „mit Schanden geplagt“), sondern eher umgekehrt um die bewusste Hinwendung des Menschen zum Teufel, da er sich gerade bei diesem aufgrund seiner üblen Gesinnung mehr Vorteile verspricht. Ich übersetze deswegen gemuot mit dem eher neutraleren ‚gesinnt, gestimmt‘. 10 mit (sünden): Hier ist nun m. E. tatsächlich die Vermittlung, das Hilfsmittel oder Werkzeug gemeint, also ‚durch, mit, mittels‘. bergen: ‚bergen, in Sicherheit bringen, sichern, bewahren‘ gewinne(n): absol. ‚gewinnen, siegen‘, aufgrund des Reimzwangs (minne : gewinne) steht hier der Inf. ohne ‑n 11 soln: mit Dat. d. P. (im) ‚nützen‘ 12 swer: Ich übersetze aus kontextuellen Gründen nicht mit verallgemeinernder Bedeutung. al (hie): Das Adv. dient besonders vor Adj., Adv. und Part. Präs. zur Verstärkung des Begriffs. beschelten: ‚durch Tadel oder Schmähung herabsetzen, verkleinern, erniedrigen‘ bekant werden: ‚geschehen, ereignen, widerfahren‘
33. Dıv ſcande ſtıget vnde velt. Jn dırre werlde an ſelden (durch helfe) / kvͦr.
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Übersetzung Das Glück der Schande nimmt auf dieser Welt zu und ab, gemäß der Art an Unterstützung (, die ihr [= der Schande] zuteilwird). Sie bricht heftig mit Gewalt hervor und (zwar) selbst dort, wo hohes Ansehen [herrscht – Geistliche und Laien unterliegen gemeinsam einem diesem Gesetz –, dem könnte abgeholfen werden, gleichwohl man erzählt, wer auch immer von [großer Schande angeschlagen sei, 5 von denen würde sicherlich keiner von wahren Todsünden befreit: Die Seele fährt zum Teufel, daran ist Gott ganz und gar schuldlos. Gott schenkt demjenigen, der Ansehen begehrt, Besitz, viel tugendvolles Benehmen dazu wahre Liebe; so (be-)schenkt der Teufel diejenigen, die in schändlichem Handeln darauf aus [sind, 10 dass sie durch Sünden bewahren und gewinnen. Was nützt demjenigen das Leben, was nützt demjenigen Besitz, was nützen [demjenigen zudem mächtige Reiche, der sich hier schmähen lässt und (später) zudem die Hölle kennenlernt?
Inhalt In II,33 wird einmal mehr das Thema des sündhaften Verhaltens auf Erden behandelt. Im Zentrum steht dabei – neben den houbetsünden (V. 5) – die schande (vgl. V. 1, 4 und 9),430 die prinzipiell vor niemandem Halt macht, auch nicht vor denjenigen, die sich in rehter wirde (V. 2, vgl. auch V. 3) befinden. Abhängig davon, wie viel helfe (V. 1) sie erhält, nimmt die schande bzw. ihr Glück zu oder ab (vgl. V. 1).431 Der Spruch deutet in Vers 4 zwar an, dass der Mensch sich durchaus aus diesem Zustand der ständigen Bedrohung durch die Schande befreien könnte (vgl. V. 4 des wurde rât), allerdings geht aus Vers 4 f. ebenfalls hervor, dass dies wohl nicht für diejenigen gilt, die sich in grôzen schanden (V. 4) befinden, denn wenn diese an ihnen haften bleiben, werden sie sich auch von rehten houbetsünden (V. 5) nicht befreien können.432 Und
430 Vgl. zur parallelen Verwendung von schande und sünde bei Walther Gerdes: Beiträge, S. 91 Anm. 3. 431 Der Spruch impliziert hier ein Lob vergangener Zeiten (vgl. V. 1 in dirre werlde). 432 Dass diese Ansicht als allgemein bekannt zu verstehen ist, deutet sowohl die einleitende Formel man seit (V. 4) als auch die swer-der-Konstruktion (vgl. V. 4 f.) an.
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dies bedeutet wiederum, dass die sêle (V. 6) nicht gerettet werden kann, sondern ohne, dass Gott eine Schuld daran hätte (vgl. V. 6), gegen dem tiuvele vert (V. 6). Entscheidend an den Versen 1 f. und 4 bis 6 ist, dass den darin beschriebenen „Gesetzmäßigkeiten“ der Schande (vgl. V. 3 gebot) prinzipiell jeder unterliegt bzw. ausgeliefert ist. Es wird keine Ausnahme gemacht zwischen phaffen unde leien (V. 3), beide Personengruppen sind anfällig. Der Spruch erscheint hier speziell dem Klerus gegenüber kritisch, denn er sieht auch die Geistlichen als fehlbare Menschen an. Bis hierher veranschaulicht II,33 die zentrale Wechselwirkung von schande und (houbet-)sünde und deren Folgen für das Seelenheil. Mit Beginn des Abgesangs rücken nun die beiden Kontrahenten aus Vers 6 näher in den Blick: got und der tiuvel. In den Versen 7 bis 10 werden sie einander gegenübergestellt, indem jeweils aufgezählt wird, welche Mittel Gott bzw. der Teufel dem Menschen an die Hand gibt. Durch diesen unmittelbaren Vergleich und dessen Kontrast sollen dem Rezipienten zum einen die Vorteile, welche die Gemeinschaft mit Gott mit sich bringt, vor Augen geführt werden, zum anderen der vermeintliche Nutzen, der durch die Zusammenarbeit mit dem Teufel entsteht: Während Gott dem êren gernden guot [gît]433 (V. 7), tugendhaftes Auftreten (vgl. V. 8) und wâre minne (V. 8), beschenkt der Teufel diejenigen, die mit schanden sint alsô gemuot, daz sie mit sünden bergen und gewinne (V. 9 f.). Der Teufel – und somit die Hölle (vgl. V. 6) – wird erneut mit schande (vgl. V. 9) und sünde (vgl. V. 10) in Verbindung gebracht, die beide zwar dazu beitragen, dass derjenige, der mit dem Teufel im Bunde ist, im Diesseits Erfolg hat (vgl. V. 10 gewinne) und diesen auch zu bewahren versteht (vgl. V. 10 bergen), die Rechnung für den irdischen, fragwürdigen Erfolg folgt jedoch auf dem Fuße, nämlich im Jenseits, wenn die Seele des lasterhaften Sünders zur Hölle fährt. Und in diesem Sinne schließt auch der Spruch: Was nützt das Leben und all der irdische Reichtum (vgl. V. 11), wenn man am Ende durch schändliches, sündhaftes Treiben herabgesetzt ist und die Hölle kennenlernen muss? Für die Verse 11 und 12 wurde wohl bewusst die Frageform gewählt, denn die Antwort auf die rhetorischen Fragen liegt auf der Hand, der Strophenschluss bleibt also nur vordergründig offen. Zugleich wird auf diese Weise erreicht, dass die Berechtigung und Richtigkeit des Anliegens des Spruches, nämlich die Absage an den Teufel (und somit an schande und sünde) und andererseits die Hinwendung zu einem gottesfürchtigen Leben, rückwirkend bestätigt und indirekt vom Publikum goutiert wird. Schließlich wird niemand behaupten wollen,
433 Das von Gott gegebene guot dient letztlich als Mittel zum Zweck: Mit ihm soll êre erworben werden, und zwar durch ein mildtätiges, großzügiges Auftreten.
33. Dıv ſcande ſtıget vnde velt. Jn dırre werlde an ſelden (durch helfe) / kvͦr.
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dass ein Leben in irdischem Reichtum, aber ohne Mildtätigkeit (vgl. V. 7), Tugendhaftigkeit und wahre (Gottes-)Liebe (vgl. V. 8) irgendeinen Nutzen besäße.
Inhaltliche Ähnlichkeit mit anderen Texten vgl. zu sælden[…] kür in Vers 1: ,Parzivalʻ 688,29 f.: hie trat mîn ungelücke für unt schiet mich von der sælden kür. (Knecht/Schirok, S. 692) vgl. zu houbetsünden in Vers 5: Walther L 22,18 (hier V. 1): Swer houbet sünde und schande tuot (Schweikle: Walther, Bd. 1, S. 248) Walther L 29,35 (hier V. 3): […] ich wæne er houbetsünde und schande zuo ime winket. (Schweikle: Walther, Bd. 1, S. 154) vgl. zu wâre minne in Vers 8: Walther L 26,3 (hier V. 4): ich entúon diu rehten werk, ich enhân die wâren minne (Schweikle: Walther, Bd. 1, S. 156)
Metrik A A A A 5 A A A A A 10 A A A
8ma 8ma 8mb 8mc 8mc 8mb 4md 6ke 8md 6ke 8mf 8mf
Diu schánde stget undẹ vélt in dírre wérldẹ an sǽ lden durch hélfe kr. undẹ – die pháffen únde léien mezen geméine léisten éin gebót –, sêrẹ diu sele gégen dem tíuvele vért, vil gár unschúldec íst ir gót. vil túgenden vúore, da bî ware mínnè; sô gt der tíuvèl den, díe mit schánden sínt also gemúot, daz síe mit snden bérgen únde gewínnè. waz sól im lp, waz sól im gúot, waz súln ím ouch rchiu lánt, undẹ
Literatur Gerdes: Beiträge, S. 90 Anm. 2, 91 Anm. 3 und 5, 93, 96 und Amn. 1, 168 Anm. 2, 174 und Anm. 7, 176, 179 und Anm. 4, 181 und Anm. 4 • Kemetmüller, S. 70 f., 230 f. • Lamey, S. 8, 37 • Moser/Müller-Blattau, S. 77 f., 81 • Roethe, S. 305 • Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 51 f. • Strasser, S. 241 • Vetter, S. 260.
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34. Eẏn vuler apfel ſmecket nícht. Vnde ıſt tzvͦ horde gar vnwert. (J33, U) Eẏn vuler apfel ſmecket / nícht. Vnde ıſt tzvͦ horde / gar vnwert. So lıeben vryvnt / man noten ſıcht. Des ín dem huſe / wırt ge gert. Nach ſẏme tode dríer / tage dız merke ſwers (nıcht) geloben wıl / Swaz nv bı dırre werlt geſcıcht. / Daz ıſt noch me vuͦ r vns geſchen. / 5 Wen daz dıe truwe nıe vuͦ r ſchıet / So gar als wír nv mvͦgen ſpehen. / Der hẏmel hat vuͦ r wandelt ſıch. / Dıe ſvnne vnde ouch der ſternen / vıl Der beben ſín wır erdencloz. / Dıe ſterne rıſen brvnnen ſínt vuͦ r / ſvnken Der hagel twínget vns / dıe vrucht. des wırt menſchen kvm/ber groz. 10 Wes mac bı dırre werlt / dıe wıſen dvnken Der nv den hí//mel hat ırkorn der geıſlet vns bẏ / vnſer habe. Jch vorchte ſere vnde / wırt ẏm tzorn. den ſlegel wırfet er vns her abe. /
3 nıcht interlinear nachgetragen 4 Bei vͦns scheint ein 〈o〉 (nur schwach erkennbar) übergeschrieben worden zu sein, das dann aber wieder getilgt wurde. 5 bei Wen evtl. auch Minuskel möglich; Punkt vor So fehlt
34. Ey˙n vuler apfel ſmecket nícht. Vnde ıſt tzvͦ horde gar vnwert.
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Ein vûler apfel smecket niht unde ist ze horde gar unwert. sô lieben vriunt man nôten siht, des in dem hûse wirt gegert nâch sîme tôde drîer tage; diz merke, swers niht gelouben wil. swaz nû bî dirre werlt geschiht, daz ist noch mê vür uns geschên, 5 wan daz die triuwe nie verschiet sô gar, als wir nû mugen spehen: der himel hât verwandelt sich, diu sunne unde ouch der sternen vil, erbiben sên wir erdenklôz, die sterne rîsent, brunnen sint versunken, der hagel twinget uns die vruht, des wirt menschen kumber grôz. 10 wes mac bî dirre werlt die wîsen dunken? der nû den himel hât erkorn, der geiselt uns bî unser habe; ich vürhte sêre unde wirt im zorn, den slegel wirfet er uns her abe.
33 J 1 hort: ‚Schatz, Hort‘, hier eher ‚Vorrat, Rücklage‘, Moser/Müller-Blattau übersetzen ‚Flechtwerk zur Aufbewahrung von Obst‘ (Moser/Müller-Blattau, S. 81) unwert: ‚gering, wertlos‘ 2 vriunt: hier ‚Verwandter‘ nôten: ‚mit Not, ungerne’; Schönbach ändert ohne Kommentar in man selten siht (vgl. Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 52). Dass man diesen Verwandten ungern sieht, bedeutet, dass man ihn ungern auf diese Weise sieht, nämlich tot. gern: hier mit Gen. d. P. (des) ‚begehren, verlangen‘ 3 diz merke: Ich beziehe diese Aufforderung zurück auf V. 2 f. (bis tage), da m. E. mit V. 4 eine neue Sinneinheit beginnt, die klar von dem eingangs Geäußerten getrennt werden soll, indem der Ausspruch diz merke, swers niht gelouben wil das Thema aus V. 2 f. abschließt. Es wäre allerdings auch möglich, die Aufforderung auf V. 4 f. zu beziehen, was eine andere Interpunktion nach sich ziehen würde. gelouben: Hier kann nicht klar entschieden werden, ob gelouben mit Gen. oder Akk. d. S. (swer-ẹs bzw. ‑ẹz) steht; meine Entscheidung für den Gen. ist zugegebenermaßen willkürlich. 4 bî (dirre werlt): räuml. ‚bei, um, an, auf, zu‘ vür: hier zeitl. ‚vor‘ geschên (Kontr. zu geschehen): Der hsl. unreine Reim (geschên : spehen) bleibt normal. stehen. wan daz: negative Beschränkung eines positiven Satzes oder Satzgliedes verscheiden: intr. ‚fortgehen, vergehen, verschwinden‘ spehen: ‚schauen, betrachten (suchend oder kundschaftend, beurteilend oder wählend)‘ 6 der sternen: part. Gen. zu vil 7 erbiben: ‚erbeben‘, die Lesart der Hs. (Der beben) ergibt m. E. keinen Sinn. Worauf sollte sich das Pron. (?) der beziehen? Auf die sterne? Auf die sunne? Aber wenn es übersetzt hieße ‚deren Beben [hier subst.] sehen wir‘, wie würde dann der erdenklôz in den Kontext passen? Geht es nicht gerade darum zu sagen, dass der Erdball (er-)bebt, also nicht der biben, sondern erbiben? Eine mögliche Erklärung für Der statt des Präfixes er- wäre, dass es sich bei D um eine Lombarde handelt, die vom Rubrikator erst zu einem späteren Zeitpunkt in den bereits bestehenden Text nachgetragen wurde. Der Schreiber musste hier also für den Rubrikator eine Lücke lassen und den entspr. Buchstaben aussparen. Ist es denkbar, dass dem Schreiber hier eine Verwechslung des Buchstabens unter-
HMS 3: II,17 Sch 58
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Ton II, Korpus in J
laufen ist? Er also bereits während des Schreibvorgangs das Präfix er- als von hsl. beben eigenständiges Wort (miss-)verstanden und im Zuge dessen nicht nur er- und beben getrennt geschrieben hat, sondern auch davon ausging, dass vor er- ein D ergänzt werden muss? Ich halte es für denkbar, allerdings fällt speziell die Getrenntschreibung nur schwach ins Gewicht, da in J Präfixe regelmäßig getrennt vom Wortstamm geschrieben werden. sên (Kontr. zu sehen): in J hyperkorrigiert zu sîn 8 rîsen: hier ‚fallen (ab-, nieder-, herausfallen, zerfallen), untergehen‘; obgleich in Verbindung mit Sternen oder Planeten ‚untergehen‘ wohl treffender wäre, übersetze ich hier mit ‚herabfallen‘, um die Endzeitstimmung noch deutlicher hervorzuheben. Da der zweite Hauptsatz im Ind. steht (sint versunken), gehe ich bei hsl. rîsen von der md. Form für die 3. Pl. Ind. Präs. aus (vgl. Mhd. Gram., § M 70 Anm. 9). 9 twingen: tr. mit Dat. d. P. (uns) ‚bedrängen, Not und Gewalt antun‘ vruht: hier ‚Feldfrucht, Getreide‘ 10 dunken: hier unpers. mit Gen. d. S. (wes) und Akk. d. P. (die wîsen) ‚dünken, scheinen‘ (vgl. Mhd. Gram., § S 60) 11 erkiesen: hier ‚ersinnen, erfinden‘ geiseln: J schreibt geıſlet für die 3. Sg. Ind. Präs. Handelt es sich hierbei um eine Form, die analog zur r-Metathese (vgl. Mhd. Gram., § L 91) zu sehen ist? Also ein Umsprung von ‑el zu ‑le? Oder ist hier in der langen Form geisẹlet schlicht das /ә/ im Wortinnern statt im Flexiv ausgefallen? bî: instrumental ‚durch, an‘ (Oder doch kausal ‚wegen, für‘?) 12 unde: Markiert hier den konditionalen Nebensatz und ist insofern nicht zu übersetzen (vgl. Mhd. Gram., § S 157 Anm. 1). slegel: Werkzeug zum Schlagen ‚Schlegel, Keule, schwerer Hammer‘, das DWB führt zudem an, dass slegel zusammen mit werfen eine feste Verbindung zu sein scheint, die nicht selten in Bezug auf Gott verwendet wird (vgl. DWB schlägel, 1) h)) und evtl. als ‚göttlicher Donnerkeil‘ zu verstehen sein könnte.
34. Ey˙n vuler apfel ſmecket nícht. Vnde ıſt tzvͦ horde gar vnwert.
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Übersetzung Ein fauler Apfel schmeckt nicht und ist als Vorrat völlig wertlos. Solch lieben Verwandten sieht man ungern, der in dem Haus drei Tage nach seinem Tod (zurück-)gesehnt wird; dies merke sich jeder, der es [nicht glauben möchte. Was auch immer jetzt auf dieser Welt geschieht, das ist vor uns schon häufiger [geschehen, 5 außer dass die Treue nie so gänzlich verging, wie wir jetzt beobachten können: Der Himmel hat sich verändert, die Sonne und auch viele Sterne, wir sehen (den) Erdball erbeben, die Sterne fallen herab, Brunnen sind versiegt, der Hagel bedroht uns das Getreide, deswegen wird das Leid des Menschen groß. 10 Wie mag es den Weisen auf dieser Welt vorkommen? Derjenige, der nun (einmal) den Himmel erschaffen hat, der straft uns an [unserem Besitz; ich fürchte schmerzlich, wenn er zornig wird, schleudert er den Prügel auf uns [herab.
Inhalt II,34 ist aufgrund der Verwendung von meteorologischen Erscheinungen eine äußerst anschauliche, ausdrucksstarke Klage über den Zustand der Welt, wobei der erste Stollen thematisch darauf noch nicht hindeuten mag. Er setzt ein mit einer einzeiligen Sentenz, die die Wertlosigkeit eines fauligen Apfels hervorhebt.434 Im Anschluss daran folgt die Feststellung, dass man ungern einen sô lieben vriunt (V. 2) sieht, der auch noch drei Tage435 nach seinem Tod in seinem Haus zurückgesehnt wird (vgl. V. 2 f.). Schönbach (der nôten kommentarlos zu selten ändert)436 interpretiert Vers 2 f. als Fortführung von Vers 1: Der faule Apfel ist genauso unliebsam, „wie der tote Verwandte, dessen Verwesungsgeruch man im Hause nicht erträgt“437. sô lieben vriunt man nôten 434 Die Bedeutung dieser Sentenz für den gesamten Spruch wird erst am Ende der Strophe deutlich. In der Rückschau ist der vûle apfel metaphorisch für die verkommene Welt zu sehen, deren Wert und Nutzen genauso fragwürdig ist, wie der des fauligen Obstes. 435 „die drei Leidtage sind die Frist zwischen Tod und Beerdigung“ (Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 53). 436 Vgl. ebd., S. 52. 437 Ebd., S. 54. Vgl. dazu auch Müller: politische Lyrik, S. 93.
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siht (V. 2) wäre also nicht auf den Verlust des Verwandten bezogen, sondern – ganz praktisch – auf den Zustand der sterblichen Überreste des Verstorbenen. Die Verse 2 und 3 würden mit Blick auf den gesamten Spruch demnach ein Beispiel für den (moralischen) Verfall der Welt darstellen: Die Welt ist ebenso unerträglich geworden, wie es der Leichengeruch eines toten Verwandten ist. Ab Vers 4 geht der Spruch von den aussagekräftigen Metaphern der Eingangsverse über zum eigentlichen Thema – dem Verfall der Welt: ,Was auch immer jetzt auf Erden geschieht, das ist vor uns schon häufiger geschehen, allerdings ist die triuwe nie derartig stark zurückgegangen, wie man es jetzt beobachten kann.‘ Interessant ist nun, dass der Verfall der triuwe und die Konsequenzen, die dieser für die Menschen und das gesellschaftliche Zusammenleben nach sich zieht, nicht anhand von Beispielen aus dem Lebensalltag der Menschen belegt wird, sondern anhand von Wetterereignissen. Phänomene wie die Veränderung des Himmels sowie der Sonne und zahlreicher Sterne (vgl. V. 6), das Erzittern der Erde (vgl. V. 7), der Untergang der Sterne und das Versiegen der Brunnen (vgl. V. 8) oder der Hagel, der die Ernte bedroht und die Machtlosigkeit des Menschen impliziert (vgl. V. 9), erzeugen unmissverständlich eine Endzeitstimmung, die den drohenden Weltuntergang ankündigt.438 Der Ernst der Lage lässt sich angesichts solch anschaulicher Signale nicht leugnen. Und wie mögen sich nun die wîsen (V. 10) bei einem solchen Zustand der Welt fühlen (vgl. V. 10)? Immerhin wissen sie, die Erfahrenen, wie es früher in der Welt zuging, und sind daher in der Lage, das volle Ausmaß des Verfalls zu erkennen und zu beurteilen.439 Durch den Verweis auf die wîsen, die positiven „Gegenspieler“ der Verkommenheit also, soll die aktuelle Lage noch dramatischer erscheinen. Diese Dramatik erreicht in den beiden Schlussversen schließlich ihren Höhepunkt, denn nun wird Gott ins Spiel gebracht. Allerdings enthalten die Verse gerade nicht das Lexem got, das von Bruder Wernher ja mit einer gewissen Regelmäßigkeit verwendet wird, sondern lediglich das Demonstrativpronomen der (V. 11 [zweimal]) bzw. das Personalpronomen der 3. Person Maskulinum (vgl. V. 12 im, er). Diese Pronomen verdeutlichen zusammen mit dem angedeuteten Gegensatz von oben und unten (vgl. V. 12 wirfet […] her abe), Himmel und Erde (vgl. V. 11 himel), dass hier nur von dem 438 Schönbach führt Bibelstellen zum Ende der Welt an (vgl. Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 54 f.). Vgl. auch ,Inhaltliche Ähnlichkeit mit anderen Texten‘. 439 Obgleich in Vers 4 darauf hingewiesen wird, dass es früher auch schon ähnlich zuging wie heute, die alten Zeiten demnach nicht per se besser waren, deutet dennoch das Gegenüberstellen von jetzt (vgl. V. 4, 5 und 11 nû und V. 4 und 10 bî dirre werlt) und damals (vgl. V. 4 vür uns) und der Umstand, dass es heute schlimmer in der Welt steht als früher, auf ein Lob vergangener Zeiten hin.
34. Ey˙n vuler apfel ſmecket nícht. Vnde ıſt tzvͦ horde gar vnwert.
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Einen die Rede sein kann. Gerade dieser Duktus des Unaussprechlichen, des Umschreibens intensiviert die zuvor erzeugte Dramatik der Endzeitstimmung. Der Mensch erscheint klein und hilflos, während Gott, der hier als strafender Gott dargestellt wird,440 über allem thront und die Geschicke der Welt in Händen hält. Und wie er sich verhält, wie er mit der Erde und ihren (= seinen) Geschöpfen verfahren wird, hängt von deren Betragen ab, hängt davon ab, ob sie die Entwicklung, die die Welt genommen hat und nach wie vor nimmt, umkehren und somit zu einer besseren Lebensführung zurückkehren werden. Denn wenn sie durch ihr Verhalten seinen Zorn (vgl. V. 12) wecken, steht zu befürchten, dass er es nicht dabei belässt, die Menschen „nur“ an ihrem Besitz zu bestrafen (vgl. V. 11), sondern ihnen den slegel […] her abe [wirfet] (V. 12). Die abschließende Warnung vor der Strafe Gottes zusammen mit der Mahnung zur Rückkehr zu einem moralischen, gottesfürchtigen Leben bildet also auch in diesem Spruch die Kernaussage.
Historischer Hintergrund Anton E. Schönbach stellt bzgl. der Datierungsfrage die Überlegung an, dass der Spruch „nur dann gewirkt haben [kann] […] [,] wenn von den Vorzeichen des Weltendes, die er anführte, wenigstens etliche zur Zeit seiner Abfassung wirklich eingetreten waren“441. In diesem Zusammenhang führt Schönbach etliche Quellen an, in denen meteorologische Angaben (Erdbeben, Unwetter, Überschwemmungen, Viehsterben) gemacht werden.442 Obgleich mir Schönbachs (wie auch Lameys und Vetters) Argumentation absolut einleuchtet, scheint mir der Spruch eine konkretere Datierung nur schwer möglich zu machen. Zum einen muss die Endzeitstimmung nicht unweigerlich auf ein konkretes historisches Unwetter oder Erdbeben zurückzuführen sein (vgl. das biblische Verständnis des Weltuntergangs: Kriege, Erdbeben, Verwüstung, Verdunklung des Himmels usw.)443, zum anderen ist es müßig und bleibt auch dann noch sehr spekulativ, wenn es tatsächlich gelingen sollte, unter den möglichen Unwettern usw., die belegt sind, eines ausfindig zu machen, das nahezu alle im Spruch genannten meteorologischen Erscheinungen aufweist. 440 Vgl. dazu auch V,65,9. 441 Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 55. 442 Vgl. ebd., S. 55 f. Vgl. außerdem zur Datierungsfrage anhand von meteorologischen Vermerken in historischen Quellen Lamey, S. 29 und Vetter, S. 260. Vetter zitiert darüber hinaus aus einem Schreiben (1240/41) des Archidiakons Albert Beham, in dem dieser Kaiser Friedrich II. für Wetter und Naturkatastrophen verantwortlich macht (vgl. Vetter, S. 261). 443 Vgl. Mt 24,1–29.
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Vermutlich hat Bruder Wernher ein bestimmtes Ereignis als Ausgangspunkt genommen, zu dem dann der Dramatik wegen andere Wetterphänomene ergänzt wurden.
Inhaltliche Ähnlichkeit mit anderen Texten vgl. zu Vers 1: Der Guotære I,7: Diz biſpel daz ſi vür geſeit den jungen herren, daz ſie ſich davor behueten, haben ſie ſin. Swer einen grozen hufen leit von ſchœnen epfeln, daz weiz ich, unde einen vulen birget darin, E daz iht langer vrist erge, ſo wirt der vulen apfel me, den al der ſchœnen epfel ſi: ſchedelicher iſt, ſwa valſcher rat wont jungen herren nahen bi. (HMS 3, S. 42) vgl. zu Vers 2 f.: Joh 11,39 vgl. zu Vers 6 bis 9: Walther L 21,25 (hier V. 7–9): diu sunne hât ir schîn verkêret, untríuwe ir sâmen ûz geêret állenthalben zuo den wegen. (Schweikle: Walther, Bd. 1, S. 242) Mt 24,7 und 24,29; Mk 13,24 f.; Lk 21,25 f.; Offb 8,7; 8,10; 8,12 vgl. zu Vers 7: ,Passional‘ 329,8–10: under des grozen werden biben muoz der erdenkloz, swie er ist kreftec unde groz. (Köpke, S. 329)
Metrik A A A A 5 A A
8ma 8ma 8mb 8 m (?) c 8 2m (?) c 8mb
undẹ nâch sme tode drer táge; diz mérke, swérs niht gelóuben wíl.
sunnẹ, undẹ
34. Ey˙n vuler apfel ſmecket nícht. Vnde ıſt tzvͦ horde gar vnwert.
A A A 10 A A A
4md 6ke 8md 6ke 8 2m f 8 2m f
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der hágel twínget úns die vrúht, dés wirt ménschen kúmber groz.
ich vrhte serẹ unde wírt im zórn, den slégel wírfet er úns her ábe.
Literatur Gerdes: Beiträge, S. 90, 94 Anm. 1, 150, 168 Anm. 2, 176 und Anm. 4, 179 und Anm. 6, 181 und Anm. 4, 187 und Anm. 2, 189 • HMS 4, S. 521 • Kemetmüller, S. 13, 58, 59, 71, 231 • Lamey, S. 29, 31, 37 • Leitzmann, S. 164 • Meyer, S. 109 • Müller: politische Lyrik, S. 93 • Moser/Müller-Blattau, S. 78, 81 • Roethe, S. 220, 339 • Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 52–56 • Vetter, S. 260.
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35. Gregoríus babes geıſtlıcher vater. Wache vnde brích abe dínen ſlaf. (J34) Gregoríus babes geıſtlıcher va/ter. Wache vnde brích abe / dínen ſlaf. Vnde ſchaffe daz of vrom/der weíde ıcht ırre loufen díne ſchaf. / Ez waſſent ıvnger wolbe vıl. Dıe ſínt / ín truͦ gelıcher var Lambarten gluͦ t / ín ketzerheıt. War vmme leſcheſtu / des nícht. 5 Sínt daz man der dẏner / ſchaf ſo vıl ín ketzer vuͦ re ſıcht. Sıe / ſchenken dır von golde eín twalm. / Da von ſo bıſtu ín ſvnden gar Dem / rıche hılf daz recht behaben. Daz / ſterket dıch vnde alle krıſtlıch or/den. Denke an den der ſıch vuͦ r / vns bot tzuͦ r marter. Vnde ſıch lıe / begraben. 10 la tzwıſchen dır vn̅ ẏm / nícht hazzes horden So wırt der / dín geloube ſtarc. der krıſtenheıt / vnde bırt nícht abe. So ſuͦ le wír pruben eẏne vart vuͦ r ſvnden / hín tzvͦ gotes grabe / Über dem Spruch (in einer freien Zeile zwischen dem Schlussvers von II,34 und dem ersten Vers von II,35) wurde in deutlich jüngerer Schrift (Kursive, 2. Hälfte des 14. Jh.) huius [< h9] nominis decimus [< decim9] qui sancta canonizavit elizabeth anno domini 1227 444 nachgetragen. Dies muss sich auf II,35 beziehen, da dieser Spruch mit den Worten Gregôrius, bâbes, geistlîcher vater einsetzt. Darauf deutet auch eine feine Linie hin, die von dem nachgetragenen Gregôrius zu dem handschriftlich regulär geschriebenen Gregôrius gezogen wurde. Interessant an dieser deutlich späteren Notiz ist nun einerseits, dass sie auf einen wie auch immer gearteten praktischen Gebrauch von J hindeutet, andererseits scheint sie jedoch mit Blick auf den historischen Hintergrund fehlerhaft zu sein: Elisabeth von Thüringen, um die es hier geht, wurde nicht 1227 heiliggesprochen, sondern erst 1235,445 und dies wurde nicht von Papst Gregor X., dessen Amtszeit erst im Jahr 1271 beginnt, sondern von Papst Gregor IX. (Papst von 1227 bis zu seinem Tod 1241) vorgenommen. Um letzteren Gregor geht es im Übrigen auch in II,35. Auffällig an diesen fehlerhaften Angaben ist zudem, dass derjenige, der den Nachtrag vorgenommen hat, klar zwischen Gregor IX. und Gregor X. unterschieden wissen will (huius nominis decimus). Der Nachtragende scheint sich also etwas dabei gedacht zu haben, wodurch die fehlerhaften Angaben umso rätselhafter sind. 444 ‚[Gregorius,], der Zehnte dieses Namens, der Elisabeth im Jahre des Herrn 1227 heiliggesprochen hat.‘ Vgl. zu dem hsl. Nachtrag auch Kornrumpf, S. 57. Schönbach liest (wohl auf von der Hagen aufbauend) Gregorius anstatt huius nominis (vgl. Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 9). Ich danke PD Dr. Arno Mentzel-Reuters für seine Hilfe bei der Deutung dieses hsl. Nachtrags. 445 Vgl. Wimmer/Melzer, S. 243.
35. Gregoríus babes geıſtlıcher vater. Wache vnde brích abe dínen ſlaf.
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Gregôrius, bâbes, geistlîcher vater, wache unde brich abe dînen slâf unde schaffe, daz ûf vremder weide iht irre loufent dîniu schâf. ez wahsent junger wolve vil, die sint in trügelîcher var. lambarten glüet in ketzerheit, war umbe leschestû des niht, 5 sint daz man der dîner schâf sô vil in ketzervuore siht? sie schenkent dir von golde ein twalm, dâ von bistû in sünden gar. dem rîche hilf daz reht behaben, daz sterket dich unde alle kristʼlîch orden! denke an den, der sich vür uns bôt zer marter unde sich lie begraben! 10 lâ zwischen dir und im niht hazzes horden, sô wirt der dîn geloube starc der kristenheit unde birt niht abe, sô suln wir prüeven eine vart vür sünden hin ze gotes grabe.
34 J, 2 C 2 unde schaffe] dv wende. ûf ] ı ̅. iht fehlt. 3 die sint in trügelîcher var] ín trugelıcher wat. 4 des] dc. 5 dc ma̅ ſo vıl d díner ſchafe ı ̅ ketzer vuͦre weıde ſıht. 6 twalm] trank. dâ von bistû in sünden gar] dc dıch ın ſv̍nde̅ lat. 7 rîche] keıſer. daz] ſín. 8 sterket] hoͤhet. kristʼlîch] geıſlıch. 9 gedenke wol dc got dıe marter vmb vns leıt vn̅ wart begrabe̅. 11 ſo wırt d vrıde vn̅ d geloͮ be ſtark vn̅ nímt níht abe. 12 sünden] ſv̍nde. 1 geıſlıch. vn̅. 8 vn̅. 1 abe brechen: hier tr. ‚abbrechen, beenden‘ 2 vremde: Die Rundung von /e/ > /ö/ (hsl. vromder [〈o〉 für /ö/], vgl. auch II,51,3) weist – entgegen den sonstigen Erkenntnissen zur Schreibsprache von J – in das Obd. (vgl. Mhd. Gram., § L 24 und § L 29). 3 junger wolve: part. Gen. zu vil trügelîch: ‚trüglich, betrügerisch, trügerisch‘ var: Aufgrund des Reimklangs AR (var : gar) handelt es sich bei var wohl um die Nbf. zu varwe (,Aussehen‘), nicht um das Fem. var ‚Aufzug, Art und Weise‘. die sint in trügelîcher var: Ich übersetze sint etwas freier mit ‚haben‘. 4 glüejen: hier ‚lodern‘ statt ‚glühen‘ leschestû (< leschest dû): zur Enklise des Pers.pron. vgl. Mhd. Gram., § E 21, 2. 5 sint: kausal ‚weil, da, nachdem‘ der dîner schâf: part. Gen. zu vil ketzervuore: ‚ketzerisches Treiben‘ 6 von golde: Ist tatsächlich ‚aus Gold‘ gemeint? Wird also die Farbe beschrieben? Hieße es dann nicht eher guldîn? Oder ist von golde vielmehr im übertragenen Sinne gemeint: ‚so außergewöhnlich und bestechend wie Gold‘? twalm: hier ‚betäubender oder tötender Saft (auch das Getränk, dem ein solcher beigemischt ist)‘ bistû (< bist dû): zur Enklise des Pers.pron. vgl. Mhd. Gram., § E 21, 2. 7 behaben: hier ‚erhalten, erretten‘ oder auch ‚festhalten, behalten, behaupten‘ 8 krist(en)lîch: Die hsl. Lesart ist im Vgl. zum Normalmhd. in zweierlei Hinsicht eine gekürzte Form, die eigentlich wohl kristenlîche lautet: Zum einen kann nicht sicher gesagt werden, ob die Lesart der Hs. bereits die jüngere, kürzere Form kristlîch ist (vgl. DWB christlich) oder ob hier schlicht aus metr. Gründen die unbetonte, mittlere Silbe von krist-en-lîch getilgt wurde. Zum anderen fehlt
HMS 2: I,2 Sch 2
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Ton II, Korpus in J
in J das Flexiv des Adj. Ich gehe davon aus, dass hier parallel zum Pronominaladj. al (alle V. 8) die st. Flexion steht (vgl. Mhd. Gram., § S 103 Anm. 1), die jedoch aufgrund des Hiats (krist[en]lîchẹ orden) bereits hsl. elidiert ist. 10 hazzes: Part. Gen. zu niht (wörtlich ‚ein Nichts des Hasses‘), wobei niht hier bereits zur Negationspartikel geworden ist (vgl. Mhd. Gram., § S 79). horden: ‚sich ansammeln, sich mehren‘ 11 bern: mit Adv. abe (‚herab, hinweg‘) ‚zurückgehen, abnehmen, verringern‘ 12 prüeven: ‚erwägen, schätzen‘, aber auch ‚erwägend veranlassen, anstiften, bewirken‘ denkbar vür: ‚gegen; für‘, beide Interpretationen sind sinnvoll, im einen Fall dient die Reise ins Heilige Land dazu, Sünden im Allgemeinen entgegenzuwirken, im zweiten Fall ist sie als Buße für die bereits begangenen Sünden zu verstehen.
35. Gregoríus babes geıſtlıcher vater. Wache vnde brích abe dínen ſlaf.
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Übersetzung Gregor, Papst, geistlicher Vater, erwache und beende deinen Schlaf und sorge dafür, dass deine Schafe auf fremder Weide nicht in die Irre laufen. Es wachsen viele junge Wölfe heran, die haben ein trügerisches Aussehen. Die Lombardei lodert vor Ketzerei, wieso löschst du das nicht, 5 nachdem man so viele deiner Schafe in ketzerischem Treiben sieht? Sie schenken dir einen betäubenden Saft aus Gold, durch den du dich ganz [und gar in Sünde befindest. Hilf dem Reich, sein Recht zu behaupten, das stärkt dich und alle christlichen Stände! Denke an denjenigen, der sich für uns zur Marter anbot und sich begraben ließ! 10 Lass zwischen dir und ihm sich kein Hass anhäufen, dann wird dein Glaube für die Christen stark und nimmt nicht ab, dann sollen wir für die Sünden eine Reise hin zum Grabe Gottes erwägen.
Inhalt Ähnlich wie I,4 formuliert auch II,35 eine unmissverständliche Kritik an Papst Gregor IX. Im Zentrum steht das Verhalten Gregors IX. gegenüber der Lombardenliga, dem Städtebund, der sich gegen die Unterordnung unter Kaiser Friedrich II. wendet und der angesichts der Unstimmigkeiten zwischen Papst und Kaiser von Gregor IX. streckenweise unterstützt wird.446 Der Spruch ist eher kaiserfreundlich oder zumindest papstkritisch und fordert Gregor IX. dazu auf, etwas gegen das Ketzertum – v. a. in der Lombardei – zu unternehmen (vgl. V. 4 f.).447 Diese Aufforderung wird eingeleitet von dem anschaulichen Bild des schlafenden Papstes, der nun endlich aufwachen und handeln soll (vgl. V. 1). Der kritische und mahnende Ton wird in erster Linie durch die Apostrophe an
446 Vgl. Gebhardt, Bd. 6, S. 235, 244, 251. 447 Gerdes schreibt dazu treffend: „Zum Anwalt der Rechtgläubigkeit macht er [Bruder Wernher, Anm. d. Verf.] sich unmißverständlich in dem Spruch, der den Papst vor der Häresie in Oberitalien warnt (2). Das Votum ist Ausdruck eines bemerkenswerten Anspruchs: mit dem Vorwurf, die Kurie mache gemeinsame Sache mit den Ketzern, vertritt Wernher das Interesse der Kirche gegen deren Oberhaupt.“ (Gerdes: Beiträge, S. 142; vgl. auch Gerdes: Zeitgeschichte, S. 137) Die Vorstellung, die Städte des Lombardenbundes seien der Ketzerei verfallen, geht auf ihren Ungehorsam gegenüber dem Kaiser zurück. Für diesen ist seine Aufgabe, Gerechtigkeit herzustellen und das Volk zu führen, eine direkt von Gott übertragene, die keinen Ungehorsam dulden kann (vgl. dazu einführend Houben, S. 71–77).
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Ton II, Korpus in J
den Papst448 sowie die regelmäßige Verwendung des Imperativs449 erzeugt. Dabei fällt auf, dass der Sprecher dem Papst gegenüber zwar einen äußerst selbstbewussten Ton anschlägt, gleichzeitig aber an den beiden Stellen, an denen er im Text „persönlich“ in Erscheinung tritt, nur aus dem Kollektiv heraus spricht, sich also gewissermaßen hinter der 1. Plural versteckt (vgl. V. 9 uns, V. 12 wir). Andererseits ist zu bedenken, dass es gerade in diesen zwei Passagen um Sachverhalte geht, die letztlich die gesamte Christenheit betreffen,450 so dass der Sprecher hier theoretisch gar nicht anders kann, als in der Mehrzahl zu sprechen. Gleichzeitig wird dadurch wiederum ein Spannungsverhältnis zwischen dem Papst und seinen „Schäfchen“ (vgl. V. 2 und 5) erzeugt: Aufgrund der beinahe gezielt platzierten 1. Plural entsteht der Eindruck, dass die „einfachen Christen“ genau wissen, welch bescheidenen Rang sie gegenüber demjenigen, der sich vür uns bôt zer marter unde sich lie begraben (V. 9), einnehmen und welche Aufgabe damit einhergeht: ein vart vür sünden hin ze gotes grabe (V. 12).451 Während die Gläubigen also ihren Platz kennen, muss der Papst – dessen Hauptaufgabe ja explizit in der Bezeichnung geistlîcher vater (V. 1) benannt wird, nämlich die Christen zu führen – an seinen Platz erst wieder erinnert werden: denke an den, der sich vür uns bôt zer marter unde sich lie begraben! lâ zwischen dir und im niht hazzes horden, sô wirt der dîn geloube starc der kristenheit unde birt niht abe (V. 9–11).452 Der
448 Vgl. V. 1 Gregôrius, bâbes, geistlîcher vater, V. 2 dîniu, V. 4 leschestû, V. 5 dîner, V. 6 dir, bistû, V. 8 dich, V. 10 dir, V. 11 dîn. 449 Vgl. V. 1 wache, brich abe, V. 2 schaffe, V. 7 hilf, V. 9 denke, V. 10 lâ. 450 V. 9: Gott, der sich für die Menschen (= uns) geopfert hat, V. 12: Überlegung, eine Pilgerfahrt ins Heilige Land zu unternehmen. 451 Meyer versteht diesen Vers als Hinweis darauf, dass „Wernher ohne Zweifel damals in das Land seiner Sehnsucht gekommen [ist]“ (Meyer, S. 88), was m. E. eher kritisch zu sehen ist (vgl. dazu auch Gerdes: Beiträge, S. 208). 452 Besonders Vers 9 erinnert thematisch zum einen an I,4,6 f., in dem der Papst ebenfalls an seine von Gott gegebene Aufgabe erinnert wird (daz zimet dem bâbese niht. got selbe gebôt ime daz, daz er tete wider übele guot), zum anderen an II,23, der zwar auf den Kaiser ausgerichtet ist, in dem aber in den Versen 1 bis 5 ebenfalls der Opfertod Gottes zum Wohle der Christenheit herangezogen wird, um den Kaiser zu angemessenem Handeln zu ermahnen (vgl. insbesondere den ähnlichen Wortlaut in Vers 5: her keiser, denket ouch dar an […]). Anton E. Schönbach hingegen sieht in II,35,9 eine Andeutung auf das liturgische Jahr, wonach Vers 9 darauf hindeute, „daß der Spruch um die österliche Zeit gedichtet wurde, also ungefähr im April 1227“ (Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 11). Obgleich ich Schönbachs Interpretation nicht widerlegen kann und er zudem Belegstellen der Bibel anzitiert, die z. T. in dieselbe Richtung weisen wie mancher Vers in II,35 (vgl. ebd., S. 11 f.; Gerdes: Beiträge, S. 36 Anm. 1– 4, 200; Gerdes: Zeitgeschichte, S. 137), erscheint sie mir doch spekulativ. Selbst wenn sich Bruder Wernher hier einer biblischen (Bild-)Sprache bedient, muss dies nicht unweigerlich Rückschlüsse auf die Datierung des Spruches zulassen.
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Spruch ist also insgesamt als Handlungsaufforderung und Ermahnung zu verstehen.453 Wie aber ist der inhaltliche Aufbau im Einzelnen gestaltet? Bei genauerem Hinsehen lässt sich eine gewisse Systematik ausmachen: In einzelnen Versblöcken wird das Verhältnis bzw. Auftreten des Papstes gegenüber bestimmten Personengruppen bzw. Instanzen beschrieben und dort, wo es notwendig erscheint, zu einer Änderung des Verhaltens aufgerufen. Der Spruch lässt sich demnach folgendermaßen aufteilen: − Vers 1 bis 3: der Papst, seine (verirrten) „Schäfchen“ und die junge[n] wolve454 (einschließlich der einleitenden Aufforderung zum Handeln [vgl. V. 1 f.]) − Vers 4 bis 6: die ketzerheit und die gefährdeten schâf der Lombardei (= Spezifizierung von Vers 2 f.) − Vers 7 f.: rîch (= Kaiser) und reht und die Unterstützung, die der Papst beidem zukommen lassen sollte455 − Vers 9 bis 12: Gott und die Christenheit zusammen mit der Ermahnung, sich wieder auf Gott und den christlichen Glauben zu besinnen Mit Blick auf die Parallelüberlieferung in C fallen neben Wortumstellungen (z. B. V. 5) eher unwesentliche Weglassungen (z. B. V. 2 iht oder V. 3 die sint) bzw. Ergänzungen (z. B. V. 5 weiden) und Ersetzungen von Lexemen auf (z. B. V. 3 wât statt var, V. 6 tranc statt twalm, V. 8 geistlîch statt krist’lîch), durch die sich der Sinn aber nicht signifikant ändert. Folgende Varianten fallen jedoch schwerer ins Gewicht: In Vers 2 schreibt C wenden statt schaffen (wodurch auch das Fehlen von iht zu erklären ist, das in J negierend zu verstehen ist). wenden kann transitiv sowohl ‚rückgängig machen, umwenden, ‑kehren‘ als auch ‚hindern, verhin453 Wentzlaff-Eggebert weist zudem darauf hin, dass die Verse 7 bis 12 deutlich zeigen, „wie hier aus Sorge um die Einheit des Christentums und des Reiches der Kreuzzug als ein Mittel zum Ausgleich gesehen und empfohlen wird“ (Wentzlaff-Eggebert, S. 304). 454 Bruder Wernher verwendet auch an anderer Stelle den Wolf als Umschreibung für listige, unaufrichtige Personen (vgl. VI,69,4,7 und 11). Vers 6 (sie) ist in II,35 in Verbindung mit den jungen wolve zu sehen: Die hinterhältigen Wölfe der Lombardei betäuben und täuschen den Papst (mit einem Getränk von golde), so dass er geblendet ist und nicht sieht, dass er sich versündigt (vgl. V. 6). Vgl. zu Vers 3 auch Mt 7,15. 455 Vers 7 (dem rîche hilf daz reht behaben) erinnert thematisch an I,4,4 (sît daz ir [Papst und Kaiser, Anm. d. Verf.] niht rehte anstât) sowie an den kaiserkritischen Spruch II,23: In Vers 8 heißt es dort mit Blick auf das ungerihte auf deutschem Gebiet: wie zimet daz dem rîche? rîche meint hier ebenfalls den Kaiser (vgl. zu keiser = rîche Scholz: Reichsidee, S. 47 f.) und in Vers 12 wird er schließlich dazu aufgefordert, Recht zu sprechen (nû rihtet hie), ähnlich wie dies im vorliegenden Spruch gegenüber Gregor IX. getan wird.
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dern‘ heißen. Dadurch ergeben sich zwei unterschiedliche Auslegungen: Entweder man versteht wenden als ‚rückgängig machen‘, was bedeuten würde, dass die Schafe bereits in die Irre gelaufen sind (vgl. V. 2), oder aber wenden bedeutet ‚verhindern‘ – die Schäfchen sind also noch nicht verloren. Ob sich dadurch speziell für die Datierungsfrage, die sich als kompliziert genug darstellt (siehe weiter unten), Abweichungen ergeben, ist zwar theoretisch denkbar, praktisch m. E. aber kaum feststellbar. Vers 7 in C bestätigt die Auslegung desselben Verses in J, denn statt dem rîche heißt es dort dem keiser und sîn rehte (statt allgemeiner daz rehte). Der Codex Manesse erscheint hier also konkreter, während J „verallgemeinert“456, laut Ulrich Müller.457 Das Wechselspiel zwischen Papst und Kaiser zeichnet sich in der Lesart von C somit deutlicher ab als in derjenigen von J. Vers 8 zeigt Querverweise zu einem anderen Spruch, nämlich zu II,23. In C steht (in II,35) hœhet statt sterket, was inhaltlich zwar keinen signifikanten Unterschied macht, allerdings aufgrund des ähnlichen Wortlauts in II,23,3 – und zwar in C und J! – auffällt, denn dort heißt es: her keiser, ir sult danken dem, der iuch sô hô gehœhet hât.458 In II,23 wird demnach der Kaiser darauf hingewiesen, wie sehr er durch Gott erhöht wurde, und im vorliegenden II,35 (zumindest in der Lesart von C!) bezieht sich diese Wortwahl auf den Papst. Wernher sieht demnach bei beiden Instanzen Bedarf, sie an ihre Abhängigkeit von Gott zu erinnern. Und schließlich Vers 11: Dieser unterscheidet sich insgesamt deutlich von der Lesart in J. Er lautet in C: Sô wirt der vride unt der geloube starc unt nimt niht abe. Auch hier erscheint C, ähnlich wie Vers 7, näher am historischen Hintergrund des Spruches zu sein. Denn im Konflikt zwischen Papst und Kaiser in der Lombardenfrage wird speziell aufseiten des Kaisers ein militärisches Vorgehen gegen die Lombardenliga nicht ausgeschlossen – und zu diesem kommt es ja letztlich auch im November 1237.459 Wenn also in C in Vers 11 ausdrücklich vom Frieden die Rede ist und dieser zudem als vom Verhalten 456 Müller: politische Lyrik, S. 93. Zur Frage der Verallgemeinerung und Entaktualisierung von J vgl. Kern: Entaktualisierung sowie das Kapitel ,Zur Anordnung der Sprüche‘, hier v. a. Anm. 109. 457 Schönbach schreibt diesbezüglich: „Die historischen Bezüge werden in J ziemlich verwischt.“ (Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 9) Und Cyril Edwards meint: „Der historische Zusammenhang ist für den Bearbeiter in J uninteressant: den Angriff auf die Ketzerei in den lombardischen Städten (Z. 2–6) läßt er zwar unverändert, dafür wird der Kaiser aus dem Abgesang entfernt: […] Der Kaiser wird also zum rîche, und da es wohl zu den Zeiten des Bearbeiters keinen für die Norddeutschen interessanten Krieg in Italien gab, wird auch der vride nicht mehr erwähnt.“ (Edwards, S. 312) Zu der Variante vride in C vgl. weiter unten im Fließtext. 458 In C: her keiser, nîget im, sît er iuch sô gehœhet hât. 459 Vgl. Gebhardt, Bd. 6, S. 253.
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des Papstes abhängig dargestellt wird, scheinen die politischen Ereignisse der damaligen Zeit in C deutlicher durch, als dies bei der eher allgemeineren Formulierung in J der Fall ist (Sô wirt der dîn geloube starc der kristenheit unde birt niht abe).
Historischer Hintergrund Die Datierungsfrage von II,35 wurde in der Forschung z. T. ausführlich diskutiert, allerdings ohne dabei zu einem einheitlichen Ergebnis gekommen zu sein. Zunächst einmal ist Schönbach zuzustimmen, wenn er sagt, dass durch den Hinweis auf das schwierige Verhältnis zwischen Papst, Kaiser und Lombardenbund „allein kein Zeitabschnitt für die Abfassung des Spruches abgegrenzt werden kann“460, denn dieser Konflikt besteht im Grunde während der gesamten Amtszeit Kaiser Friedrichs II. und existiert insofern auch schon vor der Papstwahl Gregors IX. (im März 1227) zwischen Friedrich II., Gregors IX. Vorgänger (nämlich Papst Honorius III.) und den lombardischen Städten.461 Andererseits ist zweifelhaft, ob Schönbach (und nach ihm Edwards)462 recht hat, wenn er davon ausgeht, dass anhand von Vers 12 die Datierung eingegrenzt werden kann, weil dort „eine Kreuzfahrt (nicht ein privater Pilgerzug)
460 Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 10. 461 Besonders deutlich zeigt sich der Konflikt zwischen Kaiser und Lombardenliga schon 1226: Kaiser Friedrich II. hat die Reichsfürsten aus Deutschland und Reichsitalien nach Cremona geladen, um u. a. auch über das Kreuzzugsvorhaben zu sprechen (er hat Honorius III. im Sommer 1225 einen für August 1227 geplanten Kreuzzug fest zugesagt). Da sich allerdings die lombardischen Städte widersetzen und die Alpenpässe sperren, gelangt nur eine begrenzte Zahl (und nicht König Heinrich [VII.]!) zum Kaiser nach Cremona (vgl. Gebhardt, Bd. 6, S. 22 f.). 462 „Die sorgfältige Identifizierung des neuen Papstes in der ersten Zeile […] sowie die Erwähnung der Vorbereitung zum Kreuzzug (Z. 12) ermöglichen eine ungewohnt präzise Datierung auf das Frühjahr oder den frühen Sommer 1227.“ (Edwards, S. 311) Auch Meyer datiert den Spruch auf diese Zeit: „Aus den Anfangszeilen, der Erwähnung Gregors, geht hervor, dass der Spruch etwan in den Frühling oder Sommer des Jahres 1227 fällt, wahrscheinlich vor die Bannung des Kaisers [die erste Bannung (September 1227) ist gemeint, Anm. d. Verf.], da diese nirgends erwähnt wird, aber vor Antritt der Kreuzfahrt [1228 bis 1229, Anm. d. Verf.], was aus den Schlusszeilen erhellt.“ (Meyer, S. 87 f.) Ebenso Doerks: „[…] Spruch I,2 (II), welcher nach dem März 1227 gedichtet sein muß, da Papst Gregor angeredet wird, und vor Oktober oder November. Denn am 29. September wurde Friedrich II. in den Bann gethan, ein Ereignis, welches unser Dichter sicher nicht unerwähnt gelassen hätte; nach der letzten Zeile hat er übrigens an den Kreuzzug von 1228 noch nicht gedacht.“ (Doerks, S. 6) Und zuletzt noch Gent: „wohl Ostern 1227, noch vor der Bannung des Kaisers“ (Gent, S. 98).
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in Aussicht gestellt“463 werde und der Spruch „somit […] vor 1228“464 falle. Ich würde in dieser Frage Vetter zustimmen, der gegen Schönbachs (und Edwards) These einwendet: Z. 12 braucht auch nicht auf den kreuzzug von 1228/9 bezogen zu werden; denn auch in den jahren 1235/6 mahnte der papst Friedrich II. immer und immer wieder an den kreuzzug.465
Während also Meyer, Schönbach und schließlich Edwards für eine frühe Datierung des Spruches plädieren,466 spricht sich Vetter (und vor ihm Lamey) für einen etwa zehn Jahre späteren Abfassungszeitpunkt aus, nämlich „etwa april–mai 1236“467. Er begründet dies zum einen mit der oben bereits angeführten Überlegung zu Vers 12, zum anderen damit, dass in Schönbachs Festlegung auf April bzw. Mai 1227 gerade einmal ein Monat zwischen der Wahl Gregors IX. und Bruder Wernhers Kritik an dessen Amtsführung läge, was Vetter eher unrealistisch erscheint.468 Dieser m. E. berechtigte Einwand kann nicht nur durch Vers 1 (Der Papst „verschläft“ bereits nach einem Monat seine Zuständigkeiten? Und dies spricht sich so schnell bis nach Deutschland herum?), sondern v. a. durch Vers 6 begründet werden: Dieser deutet doch darauf hin, dass der Papst von den Lombarden verführt, getäuscht und in die Irre geführt wird (sie schenkent dir von golde ein twalm, dâ von bistû in sünden gar). Um dies zu bewerkstelligen, muss der Papst aber wohl erst eine gewisse Zeit im Amt sein. Denn selbst wenn Gregor IX. bereits vor seiner Ernennung
463 Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 10. 464 Ebd. 465 Vetter, S. 244. 466 Schönbach grenzt den Entstehungszeitpunkt noch weiter ein: Da der Spruch einerseits vor dem Kreuzzug 1228 und vor der Bannung Friedrichs II. im September 1227 verfasst worden sein müsse und er andererseits dank der sprachlichen Anklänge an die Osterzeit erinnere, datiert Schönbach ihn auf die Zeit „zwischen dem 25. April und 2. Mai 1227“ (Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 11). 467 Vetter, S. 244. Kemetmüller stimmt Vetters Datierung zu (vgl. Kemetmüller, S. 21). Lamey setzt noch später an als Vetter: „Anregung kann der Dichter leicht durch die Ueberreichung des kaiserlichen Verteidigungsschreibens im November 1238 empfangen haben. Jedenfalls ist der Spruch noch vor der Excommunication des Kaisers, 20. März 1239 [also die zweite Bannung, Anm. d. Verf.], gedichtet, da diese nirgend erwähnt wird und der Inhalt des ganzen Gedichtes zwar auf eine grosse Spannung zwischen den Häuptern der Christenheit, nicht aber auf den völligen Bruch zwischen beiden schliessen lässt.“ (Lamey, S. 29) Auch Gustav Roethe hält eine frühe Datierung für fraglich: „Meyers Datierung […] scheint falsch“ (Roethe, S. 41 Anm. 78). 468 Vgl. Vetter, S. 243. Vgl. dazu auch Kemetmüller, S. 21.
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zum Papst mit der Lombarden-Problematik ver- bzw. betraut war, so bezieht sich II,35 jedoch explizit auf seine Amtsführung als Papst.469 Ich wage keine derart konkrete Datierung, wie sie Schönbach und Vetter vornehmen (Jahr und Monat!), neige aber aufgrund von Vetters Argumentation eher dem späteren Entstehungszeitpunkt zu. Nicht zuletzt die Lesart von C, in der in Vers 11 ausdrücklich auf den Frieden hingewiesen wird, scheint vor dem Hintergrund einer drohenden militärischen Auseinandersetzung formuliert zu sein. Und Friedrich II. sammelt im Juni 1236 in Augsburg ja tatsächlich seine Truppen, um in die Lombardei zu ziehen, wie es auf dem Mainzer Hoftag ein Jahr zuvor (am 15. August 1235) vereinbart worden war.470 Allerdings stellt sich hierbei grundsätzlich die Frage, ob die Situation zwischen Papst und Kaiser zu diesem Zeitpunkt nicht bereits so verfahren ist, dass die Aufforderung, die der Spruch gegenüber dem Papst formuliert, sich nämlich von den Lombarden zu lösen und endlich auf die Seite des Kaisers zu schlagen, überhaupt noch einen realistischen Hintergrund besessen haben mag? Immerhin handelt der Kaiser mit der Aufrüstung entgegen den Hoffnungen und Bemühungen des Papstes, noch eine friedliche Lösung herbeizuführen, die sowohl den Kaiser vom militärischen Eingreifen abhalten als auch das Fortbestehen der Lombardenliga gewährleisten würde.471 Eine exakte Datierung bleibt also nach wie vor offen.
Inhaltliche Ähnlichkeit mit anderen Texten vgl. zu Vers 1–5: Joh 10,12 f.472 vgl. zu Vers 3: Mt 7,15 vgl. zum Bild des Papstes, der seine Amtspflichten „verschläft“: Mt 13,25
469 Schönbach versucht dieser Argumentation vorzugreifen, indem er den Übergang von Honorius III. auf Gregor IX. gerade in der Lombarden-Problematik als fließend versteht und der Papst also als solcher – egal, ob nun Honorius III. oder Gregor IX. – eher für die Lombarden als für den Kaiser Partei ergreift (vgl. Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 10 und 12 f.). 470 Vgl. Gebhardt, Bd. 6, S. 244 und 253. 471 Vgl. ebd., S. 244 und 251. 472 Schönbach schreibt vor dem Hintergrund der anzitierten Bibelstellen (speziell Joh 10,12 f.): „Diese Bezüge, die einer geistlichen Hörerschaft empfindlich sein mußten, verleihen den wider den Papst gerichteten Worten des Spruches eine besondere Schärfe, die sich noch steigern mußte, wenn wirklich der mercenarius von Johann. 10,12 f. verständlich auf den Papst bezogen wurde.“ (Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 12).
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Walther L 33,21 (hier V. 6–10): und ruofen ime, wie lange er welle slâfen. si wider würkent sîniu werc und felschent sîniu wort. sîn kamerære stilt im sînen himelhort. sîn suoner mordet hie und roubet dort, sîn hirte íst ein wólf wórden under sînen schâfen.473 (Schweikle: Walther, Bd. 1, S. 164)
Metrik A8ma 2A 8 m a A8mb A8mc 5 8mc A8mb A 4 2m d A6ke 8 2m d 10 A 6 k e A 8 2m f A 8 2m f
Gregorius, bábes, géistlîcher váter, wáchẹ unde brích abe dnen slaf weidẹ
goldẹ undẹ dénkẹ an dén, der sich vr uns bot zer márter únde sich líe begráben! sô wírt der dn gelóube stárc der krístenhèit unde bírt niht ábe,
Literatur Doerks, S. 6 • Edwards, S. 306, 311 f. • Gent, S. 98 f., 156 • Gerdes: Beiträge, S. 33 und Anm. 1, 35–40, 47 Anm. 5, 78, 79, 134, 142, 160, 161, 174 und Anm. 7, 179 und Anm. 4, 181 und Anm. 3, 200, 208, 209 f. • Gerdes: Zeitgeschichte, S. 135–139 • HMS 4, S. 516 • Kemetmüller, S. 13, 18–21, 207 f. • Lamey, S. 28 f., 30 • Meyer, S. 87 f., 88 • Moser/ Müller-Blattau, S. 78, 81 • Müller: politische Lyrik, S. 93 • Nolte/Schupp, S. 46, 380 f. • Roethe, S. 41 Anm. 78, 223, 264 • Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 9–13 • Vetter, S. 243 • Wentzlaff-Eggebert, S. 303 f. • Wisniewski, S. 130.
473 Zu beachten ist, dass in Walthers Spruch nicht die Schafe, sondern der Hirte (= Papst) zum Wolf wird (vgl. auch Gerdes: Beiträge, S. 36 Anm. 2).
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36. S we dır guͦtes rıcher man. An truwen vnde an eren kranc. (J35, U) S we dır guͦ tes rıcher man. / An truwen vnde an eren / kranc. Gedenkeſtu ẏmmer an den / tot. Der e̋. dıe boſen des betwanc. / Daz ſıe tzvͦr helle mvͦzen varen. / Durch ıren gırıchlıchen mvͦt Vnde / heteſtu hıe tuſent lant. der volget / dır tzuͦ r erden nícht 5 mere den eín // lẏnne̅ tuͦ ch. Nv merke wel eín tzvͦ (ver) / ſıcht. hıe míte ſo ıſt dıv arme ſele / grozer pẏne vmbehuͦ t Sín wıb / nẏmt eẏnen anderen man. hıe mít / ſo wırt der ſele gar vuͦ r gezzen Ir / boſen rıchen vnde ır argen da geden/ket an. 10 Jch meẏne wer dıe ſcande / hat beſezzen Teılet uwer guͦ t den / armen míte vnde mẏnnet got daz / ıſt mẏn rat. Tuͦ t ır des nícht ſo wız/zet daz dıe helle kegen v̎ offen ſtat. /
1 initial nur 〈S〉, vermutlich ist So gemeint tragen
5 ver (oder vielleicht auch vor) marginal nachge-
36. S we dır guͦtes rıcher man. An truwen vnde an eren kranc.
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Sô wê dir, guotes rîcher man, an triuwen unde an êren kranc, gedenkestû iemer an den tôt, der ê die bœsen des betwanc, daz sie zer helle muosen varn durch ir gireclîchen muot? unde hætestû hie tûsent lant, der volget dir zer erden niht 5 mêre dan ein lînîn tuoch – nû merke, welh ein zuoversiht! hie mite sô ist diu arme sêle grôzer pîne unbehuot. sîn wîp nimt einen andern man, hie mite sô wirt der sêle gar vergezzen. ir bœsen rîchen unde ir argen, dâ gedenket an 10 – ich meine, wer die schande hât besezzen –, teilet iuwer guot den armen mite unde minnet got, daz ist mîn rât! tuot ir des niht, sô wizzet, daz diu helle gegen iu offen stât.
35 J 1 Sô: Hsl. wurde der Vokal evtl. aufgrund seiner unmittelbaren Nähe zur freigelassenen Initiale vergessen. kranc: Eigentlich ‚schwach‘, aufgrund des Gegensatzes von guotes rîcher man und an triuwen/êren kranc übersetze ich kranc freier mit ‚arm‘. 2 gedenkestû (< gedenkest dû): zur Enklise des Pers.pron. vgl. Mhd. Gram., § E 21, 2. betwingen: mit Gen. d. S. (des) ‚(er-)zwingen‘ 4 hæstestû (< hætest dû): zur Enklise des Pers.pron. vgl. Mhd. Gram., § E 21, 2. der: Gen. bezogen auf tûsent lant zer erden: wörtlich ‚zur Erde‘, gemeint ist ‚in die Erde‘, d. h. begraben werden nach dem Tod 5 lînîn: ‚von lîn, leinen‘ zuoversiht: ‚im Hinblick auf Künftiges, was man zu erwarten hat, gewisse Erwartung‘ 6 unbehuot: ‚unbeschützt, ‑bewacht‘ (mit Gen. d. S.), auch ‚nicht bewahrt‘, wörtlich ‚der großen Qual unbeschützt/nicht bewahrt‘, was hier wohl so viel heißt wie ‚vor großer Qual nicht beschützt/ bewahrt‘; ich mache die hsl. Assimilation von /n/ > /m/ vor Labial rückgängig (vgl. Mhd. Gram., § L 95 Anm. 5). 10 meinen: ‚seine Gedanken auf etwas richten, etwas bedenken, berücksichtigen‘ besitzen: hier mit Akk. d. S. (die schande) ‚in Besitz nehmen‘ 12 des: part. Gen. zu niht (wörtlich ‚[ein] Nichts dessen‘ = ‚nichts davon‘), wobei niht hier bereits zur Negationspartikel geworden ist (vgl. Mhd. Gram., § S 79) wizzen: hier ‚sich bewusst sein, im Klaren sein‘ gegen: hier eigentlich ‚entgegen, gegenüber‘, ich übersetze freier
HMS 3: II,19 Sch 59
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Übersetzung Oje, du an Vermögen reicher Mann, an Aufrichtigkeit und Ansehen arm, denkst du stets an den Tod, der die Üblen früher dazu zwang, dass sie zur Hölle fahren mussten aufgrund ihrer habgierigen Gesinnung? Und wenn du hier tausend Reiche hättest, von denen folgt dir in die Erde [nichts 5 weiter als ein Leinentuch – hört, was für Aussichten! Hierdurch ist die arme Seele vor großer Qual nicht bewahrt. Seine Frau nimmt einen Anderen zum Mann, dadurch wird die Seele völlig vergessen. Ihr üblen Reichen und ihr Schlimmen, denkt daran 10 – ich denke an denjenigen, der sich die Schande zu Eigen gemacht hat –, teilt euer Vermögen mit den Bedürftigen und liebt Gott, das ist mein [Ratschlag! Wenn ihr nichts davon tut, so seid Euch bewusst, dass die Hölle für Euch [offen steht.
Inhalt In II,36 steht erneut die Diskrepanz zwischen Dies- und Jenseits im Vordergrund.474 Zentral ist dabei die einseitige Ausrichtung auf Besitz und die damit einhergehende Vernachlässigung von triuwe und êre und somit auch der Seele. Ein guotes rîcher man (V. 1) dient zur Veranschaulichung der Belehrung: Er lebt im Hier und Jetzt, ohne Rücksicht auf sein Ansehen oder auf Loyalität und Pflichtgefühl anderen gegenüber (vgl. V. 1). Und darüber hinaus denkt er auch nicht vorausschauend an den Tod und das Schicksal im Jenseits, das ihm angesichts seines Lebensstils bevorsteht: Genauso wie die bœsen (V. 2), die durch ir gireclîchen muot (V. 3) zer helle muosen varn (V. 3), wird es auch diesem wohlhabenden Mann ergehen, denn all sein Besitz – und wären es tûsent lant (V. 4) – nützt ihm am Ende, wenn er begraben wird (vgl. V. 4), gar nichts. Das einzig Materielle, das ihn auf seiner letzten Reise begleiten wird, ist ein lînîn tuoch (V. 5). Der leicht ironische Ausruf in Vers 5 (nû merke, welh ein zuoversiht!) unterstreicht die Dummheit und Kurzsichtigkeit, von der das Verhalten des Mannes zeugt. Ab Vers 6 rückt diu arme sêle in den Blick. Denn angesichts eines derartigen Lebenswandels, wie ihn der reiche, habgierige Mann an den Tag legt, 474 Vgl. zum Thema „Jenseits/Diesseits“ z. B. auch I,15; I,17; II,19; II,20.
36. S we dır guͦtes rıcher man. An truwen vnde an eren kranc.
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kann es der Seele im Jenseits gar nicht gut ergehen, wie es bereits Vers 2 f. gezeigt hat. Die Seele kann vor grôzer pîne (V. 6) nicht bewahrt werden. Und spätestens, wenn sich die Ehefrau (bzw. Witwe) des Verstorbenen schließlich neu verheiratet (vgl. V. 7), ist die Seele verloren, denn dann hat sich auch der letzte Mensch, der (evtl.) für ihr Heil gebetet hat, von ihr abgewendet und sie vergezzen (V. 8).475 Ihr Schicksal ist endgültig besiegelt. Die letzten vier Verse des Spruches bilden die eigentliche Belehrung und sind auch unmissverständlich als solche bezeichnet: daz ist mîn rât (V. 11). Der Sprecher tritt hier nun persönlich in Erscheinung (vgl. V. 10 ich, V. 12 mîn) und gibt den bœsen rîchen und argen – genauer: denjenigen, die schanden [hânt] besezzen (V. 10) – 476 in direkter Anrede klare Anweisungen, was sie zu tun haben, um sich selbst vor der Hölle zu retten (vgl. V. 12): teilet iuwer guot den armen mite unde minnet477 got (V. 11). Mildtätigkeit (= Nächstenliebe) und Gottesliebe sind demnach die zentralen Eigenschaften, die den Menschen davor bewahren, zur Hölle zu fahren. Der Sprecher warnt aber mit seiner Belehrung nicht nur, sondern gerade Vers 12 ist als Drohung (Verdammung zur Hölle) aufzufassen. Das Ich tritt somit nicht allein als Ratgeber auf, sondern nimmt die Rolle einer Instanz ein, die außerhalb des Geschehens zu stehen scheint und aufgrund ihrer Weisheit dazu befähigt ist, Ratschläge zu erteilen, und zwar in einer durchaus strengen, unversöhnlichen Art und Weise.
Inhaltliche Ähnlichkeit mit anderen Texten vgl. zu Vers 3: Biterolf 13392–13398: vil maniger, der ze helle ist komen nun durch gierlichen muͦt vnd nindert cristenlichen tuͦt
475 An den Versen 6 bis 8 fallen zwei Dinge besonders auf: Erstens ähneln sich die beiden Verse nicht nur inhaltlich (beide beschäftigen sich mit Not und Verdammung der Seele), sondern auch aufgrund der Anapher hie mite sô. Die Verse scheinen also auf verschiedenen Ebenen „verwandt“. Und zweitens kommt es ab Vers 8 zu einem Wechsel von persönlichem (Apostrophe an den Mann, 2. Sg.) zu eher neutralem Tonfall (3. Sg. [sîn wîp]). Der Übergang wirkt etwas unvermittelt und es stellt sich die Frage, ob in Vers 7 nicht doch dîn statt sîn gemeint ist. 476 Die genaue Festlegung auf eine bestimmte Personengruppe soll Missverständnisse aufseiten des Publikums, an wen der Spruch überhaupt adressiert ist, von vornherein ausschließen, die besagten Personen müssen sich gezielt angesprochen fühlen. 477 Zur Verwendung von minnen vgl. Anm. 332.
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nun hurten vnd sparn, der mag noch bas ze helle varn dann Etzele der maͣre, wie er ein hayden waͣre. (Schnyder, S. 414) vgl. zu Vers 4 f.: Winsbeke 3,9 f.: dir volget niht wan alsô vil, ein lînîn tuoch vür dîne scham. (Frischeisen, S. 142) Freidank 177,1–4: Zer werlde komen wir âne wât; in swacher wât ouch sie uns lât. Zer werlde ich blôzer komen bin, diu lât mich ouch niht füeren hin. (Spiewok, S. 150) Regenbogen VI,3 (V. 9): ein linin tuoch ja so wol her! (HMS 3, S. 354) vgl. zu Vers 11 f.: Walther L 36,11 (hier V. 8–10): minnet got und rihtet, swaz die armen klagen, geloubt niht daz iu die lügenære sagen und volget guotem râte, sô múget ír in himelrîche bouwen. (Schweikle: Walther, Bd. 1, S. 200) Walther L 20,4 (hier V. 2): daz ist mîn rât [...] (Schweikle: Walther, Bd. 1, S. 90)
Metrik A8ma A8ma A8mb 2A 8 m c 5 8mc A8mb A4md A6ke A 7 (?) m d 10 A 6 k e 2A 8 m f A8mf
undẹ gedénkestû íemer án den tot, der e die bœ́ sen dés betwánc, daz síe zer hélle múosen várn dúrch ir gíreclchen múot?
hie míte sô íst diu árme sele grozer pne únbehúot. hie míte sô wírt der sele gár vergézzèn. undẹ
tuot ír des níht, sô wízzet, dáz diu hélle gégen iu óffen stat.
Literatur Gerdes: Beiträge, S. 92 und Anm. 9, 93 und Anm. 5, 96, 109 Anm. 2, 122 Anm. 3, 154 und Anm. 3, 168 Anm. 2, 176 und Anm. 4, 179 und Anm. 7, 181 und Anm. 3, 183 f. • Kemetmüller, S. 72, 231 f. • Lamey, S. 7, 30, 31, 38 • Moser/Müller-Blattau, S. 78 f., 81 • Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 56 f. • Strasser, S. 240, 241 • Vetter, S. 261.
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37. Swer koſtelıch eín hoez hus. von holtze wol vntworfen hat. (J36) Swer koſtelıch eín hoez hus. / von holtze wol vntworfen / hat. Dıe ſule groz dıe wende ſtarc. / Of vıer ammen gedıllet ſtat. Dıe tor / beſpenget vnde mít guͦ ten ſlozzen / wol bewart Den verſten vzerma/zen ho. mít guͦ ten hengelbovmen / ſlecht. 5 Mıt larzen da oben of geſtreu/wet. Dıe wíte vnde ouch dıe lenge / recht. Swan ez den gar bereıte ſı ſo. (ſuͦ lt ír) / merken of der vart Lezet manz dan / blıben ane dach. Dıe grozen ſul vnde / ouch dıe ſtarken wende So ıſt ez gar / eín wínt ıch wene ıch eín tzvͦ wene / ſach. 10 Vnde nam da von vıl leſterlıch / ſín ende Sínt ez der regen vnde der / ſne al eíne ſvnder dach begreíf. Dıe / tzwey dıe ſchuͦ fen ín kuͦ rtzer vrıſt / daz ez an eren gar tzvͦ ſleıf. /
2 Of evtl. nur mit Minuskel statt Majuskel
6 ſuͦlt ır ist am Ende der Zeile nachgetragen
37. Swer koſtelıch eín hoez hus. von holtze wol vntworfen hat.
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Swer kostelîch ein hôez hûs von holze wol entworfen hât, die siule grôz, die wende starc, ûf vier drâmen gedillet stât, diu tür bespenget unde mit guoten slozzen wol bewart, den virst ûzer mâzen hô, mit guoten hengelboumen sleht, 5 mit latten dâ oben ûf gestreuwet, diu wîte unde ouch diu lenge reht; swan ez dan gar bereite sî, sô sult ir merken ûf der vart, læzet manz dan belîben âne dach, die grôzen siul unde ouch die starken wende, sô ist ez gar ein wint. ich wæne, ich ein ze Wiene sach 10 unde nam dâ von vil lesterlîch sîn ende, sint ez der regen unde der snê aleine sunder dach begreif, die zwêne, die schuofen in kurzer vrist, daz ez an êren gar zersleif.
36 J, 7 C C komplett Swer koſteklıche eín ſchoͤne hvs mıt hol/ze rehte entworfe̅ hat· dıe ſuͥle gros / dıe wende ſtark vf dremel wol gedılet ſtat· / geſpenget wol vn̅ dc dıe tv̍rn mıt ſloſſen // ſın bewart· der vırſt ın reht maſſe erhabe̅ / mıt ſtarke̅ hengelboͮ me̅ ſleht· 5 dar vf mıt / latte̅ wol geſtroͤıt an hoͤhe vn̅ an d wıte / reht· ob es nv gar bereıtet ſı mıch dvnket / an dvart lat ers belıbe̅ ane dach· dıe tre/mel ſv̍le vn̅ oͮch dıe ſtarke̅ we̅de· dc wur/de eín nıht ıch wene ıch ır eıneſ wılent / ze wıene ſach· 10 dc na̅ da vo̅ vıl laſtlıch eín / ende· als eſ duͥ neſſe vn̅ oͮch dſne mıt wı ̅/de vn̅ oͮch mıt tache ergreıf· ſı ſchvͦfe̅ dc / ı ̅ krvzer vrıſt an ere̅ es vıl gar zerſleıf· / 6 Reimpunkt nach vart fehlt 1 kostelîch: ‚auf kostbare Weise, mit großem Aufwand‘, in der Hs. fehlt die Adv.endg. ‑e, vermutlich aufgrund des Hiats kostelîchẹ ein oder aber das Fehlen ist im Zuge des allgemeinen Ausfalls der Adv.endg. ‑e in spätmhd. Zeit zu sehen (vgl. Mhd. Gram., § M 32 Anm. 1). Ich folge der hsl. Lesart, da der ə-Laut aufgrund des Hiats metr. ohnehin getilgt würde. 2 sûl: ‚Säule, Pfosten, Pfeiler‘, die Textbelege weisen für den Pl. häufig siule auf, allerdings liegen auch Quellen mit sûle vor. drâme: Die aus hsl. ammen rekonstruierte Grundform *amme wird von keinem der einschlägigen WB aufgeführt (das Fem. amme ist auszuschließen). Ich schließe mich Schönbachs Vermutung an, dass es sich hier wohl um eine Verschreibung des stsw. Mask. drâme/trâme (‚Balke‘) handelt (vgl. Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 26). Wie die hsl. Lesart zustande gekommen ist, ist jedoch unklar – schließlich fehlt mutmaßlich
HMS 2: I,7 Sch 7
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nicht nur der Anlaut dr-/tr-, sondern der ursprüngliche Langvokal ist aufgrund der nachfolgenden hsl. Geminate kurz. Letzteres scheint jedoch nicht ganz ungewöhnlich, zumindest weist das DWB unter dem Lemma dram, das mit dem Lexem dremel verwandt ist, diverse Belege auf, in denen Geminate steht. Dass hier tatsächlich drâme/trâme gemeint ist, wird übrigens auch von der Lesart in C (dremel) gestützt. (Moser/Müller-Blattau greifen in die hsl. Lseart ein [vıer ammen > vīerramen] als ein Wort und übersetzen: „gemauertes Viereck, in welchem Feuer brennen kann“ [Moser/Müller-Blattau, S. 81]. Daraus resultierend ändern sie stât zu slât [,Kamin‘] [vgl. ebd.].) dillen: ‚mit Brettern decken, aus Brettern machen‘, hier freier ‚zimmern‘ stân: Das zu der 3. Sg. Ind. Präs. zugehörige Subj. ist wohl das hûs aus V. 1; ich übersetze mit Part. Präs. ‚(auf vier Balken gezimmert) stehend‘. 3 bespengen: ‚mit Spangen versehen, schmücken‘. Schönbach dazu: „falsch verstanden, denn Tore mit eisernen Spangen beschlagen gehören in alter Zeit zu einer Steinburg, nicht zu einem Holzhaus“ (Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 27). 4 virst: Es ist unklar, warum in der Hs. der Akk. Sg. des ausschließlich st. belegten Mask. sw. flektiert (verſten). Ist die hsl. Form metr. bedingt? Dank der zusätzlichen Silbe wäre der Vers regelmäßig alternierend (vgl. II,29,1 zwei). Zum Wechsel des Stammvokals [hsl. /e/ statt regulär /i/] vgl. neben Mhd. Gram., § L 26 auch Mnd. Gram., § 61). ûzer mâzen: ‚überaus, übermäßig‘ hengelboum: ‚Stange oder Balken zum Dranhängen von Gegenständen‘ sleht: ‚in gerader Fläche oder Linie, eben, gerade‘ 5 latte: Auch in diesem Fall neige ich dazu, Anton E. Schönbach zuzustimmen, der bei hsl. larzen von einer Verlesung von latten ausgeht (vgl. Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 26). Seine alternative Überlegung, bei larzen könne es sich auch um einen Angleich an larchen (‚Lerchen‘) handeln, weil diese „besonders gutes Holz für Dachschindeln liefern“ (ebd., S. 26), halte ich zwar nicht für völlig abwegig, allerdings erscheint mir die Wahrscheinlichkeit einer Verlesung/-schreibung von 〈tt〉 > 〈rz〉 rein paläografisch denkbarer als 〈rch〉 > 〈rz〉. streuwen (Nbf. zu ströuwen): hier ‚bestreuen, beschütten, bedecken, belegen‘ 6 bereite: ‚bereit, fertig‘ ûf der vart: feste Wendung ‚auf der Stelle, sogleich, bei dieser Gelegenheit, da‘ 7 belîben lâzen: hier mit Akk. d. S. (ez) ‚etwas da lassen, wo es ist, sich nicht darum bekümmern‘ 9 gar ein wint (sîn): ‚etwas Nichtiges, das nicht in Betracht kommt, ohne Wirkung bleibt‘, ich übersetze mit einem vergleichbaren nhd. Ausdruck ‚für die Katz‘ Wiene: Die hsl. Lesart deutet den mnd. Einfluss (〈ê〉 [bzw. /ē/] für ie) an (vgl. Mnd. Gram., § 110). 10 lesterlîch: ‚schimpflich‘; analog zu kostelîch in V. 1 fehlt hsl. die Adv.endg ‑e. Auch hier folge ich der Hs. 11 aleine: Hier ‚einsam, völlig allein‘ im Sinne von ‚ohne etwas, frei von etwas‘; da aleine und sunder denselben Sachverhalt ausdrücken, fasse ich beide Ausdrücke zusammen (,ohne‘). begrîfen: ‚umfassen, umschließen; erreichen, erfassen, ergreifen‘ 12 zwêne: Bezieht sich auf zwei Maskulina (regen, snê), deswegen muss es hier regulär zwêne statt hsl. tzweẏ heißen. Die hsl. Form ist charakteristisch für das Md. (vgl. Mhd. Gram., § M 60 Anm. 1). zerslîfen: ‚zerfallen, vergehen, ‑schwinden‘
37. Swer koſtelıch eín hoez hus. von holtze wol vntworfen hat.
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Übersetzung Wer auch immer mit großem Aufwand ein hohes Haus aus Holz anständig [entworfen hat, die Pfosten hoch, die Wände massiv, auf vier Balken gezimmert stehend, die Tür mit Spangen versehen und mit anständigen Schlössern gut gesichert, den First außergewöhnlich hoch, mit anständigen, geraden Balken zum [Aufhängen versehen, 5 dort oben mit Latten bedeckt, die Breite und auch die Länge angemessen; wann auch immer es dann komplett fertig sein mag, könnt ihr auf der Stelle [beobachten, (dass,) wenn man es dann ohne Dach sein lässt, die breiten Pfosten und auch die massiven Wände, es ganz und gar für die Katz’ ist. Ich glaube, ich sah eines in Wien 10 und (das) nahm dadurch überaus schändlich ein Ende, weil Regen und Schnee es ohne Dach erfassten, die zwei, die sorgten in kurzer Zeit dafür, dass es in seiner Pracht ganz und gar [verfiel.
Inhalt Ähnlich wie in I,15 oder II,42 nutzt Bruder Wernher auch in II,37 die Haus(bau-)metaphorik zu Veranschaulichungszwecken.478 Während es in I,15 jedoch um die mangelhafte irdische Vorbereitung auf das Jenseits geht (ein Mann verbrennt mit all seinem Hab und Gut in seinem Haus, weil ihm die nötige Voraussicht fehlt), bleibt das Jenseits in II,37 außen vor; im Zentrum steht der moralische Verfall einer Person bzw. Autorität (vgl. V. 10 vil lesterlîch, V. 12 an êren gar zersleif ), die eigentlich die besten Voraussetzungen für ein
478 Wenngleich die Hausbau- bzw. allgemeiner Baumetaphorik hier (im Gegensatz zu II,42) nicht dazu dient, den Dichter und seine Tätigkeit zu veranschaulichen, so lässt sie doch an das Autorkonzept des ,Dichter-Handwerkers‘ denken: Im Rahmen dieses Konzepts greift der Dichter auf Handwerksberufe (Textilhandwerk, Bauhandwerk, Metallhandwerk) zurück, um den Vorgang des Dichtens anschaulich zu machen. Der Dichter präsentiert sich bzw. seine Tätigkeit also im Vergleich mit der des Baumeisters. Vgl. hierzu Obermaier: ,Dichtung über Dichtung‘, hier v. a. S. 333–338, Obermaier: Dichter als Handwerker sowie Harant, u. a. S. 147–151.
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ehrenwertes Leben mitbringt.479 Verdeutlicht wird dies durch den Verfall eines Hauses, das zwar solide gebaut ist (vgl. V. 1–5),480 das jedoch unweigerlich zugrunde gehen muss, wenn man vergessen hat, es mit einem Dach auszustatten (vgl. V. 7–9). Der Spruch lässt sich in drei Abschnitte unterteilen: − Vers 1 bis 5: exakte Beschreibung der einzelnen Konstruktionsteile des Hauses − Vers 6 bis 9 (erste Hälfte): Einschränkung der zuvor geschilderten Solidität des Hauses (Schwachstelle: fehlendes Dach) − Vers 9 (zweite Hälfte) bis 12: Veranschaulichung des zu befürchtenden Verfalls anhand eines „konkreten“ Beispiels Interessant dabei ist, dass der Spruch seinen bîspel-Charakter nie völlig verliert, das bîspel des soliden Hauses ohne Dach bleibt in allen zwölf Versen aufrechterhalten,481 wenngleich zum Schluss der verallgemeinernde Tonfall des bîspels (V. 1 Swer, V. 7 manz) durch einen persönlich-belehrenden ersetzt wird (vgl. V. 9–12). Die Sprecher-Instanz, die bisher kaum in Erscheinung getreten ist (einzig in Vers 6 scheint sie in der Apostrophe an das Publikum durch), wodurch auch der Aufführungscharakter, der ja im Zuge einer Belehrung aufgrund des Wechselspiels zwischen Ratgeber (= Sprecher) und Beratenem (= Publikum) immer latent vorhanden ist, eher im Hintergrund bleibt, tritt nun in Vers 9 unmittelbar in den Fokus: Für das allgemein gehaltene bîspel in Vers 1 bis 9 wird ein „konkreter“ Fall herangezogen, nämlich der Verfall eines Hauses in Wien (vgl. V. 9–12). Allgemeines bîspel und spezifisches Beispiel stützen sich somit gegenseitig. Die m. E. einzigen wirklich signifikanten Unterschiede zwischen J und C finden sich in Vers 6 und evtl. Vers 7: Statt der Apostrophe an das Publikum (sô sult ir merken) enthält C – ähnlich wie Vers 9 ich wæne – eine Äußerung, die aufgrund der Wendung mich dunket ausdrücklich auf den Sprecher zu beziehen ist. Während in J demnach
479 Auch in II,42 geht es um ein heruntergekommenes Lob, das anhand des Bildes des verfallenen Hauses dargestellt wird. Im Unterschied zu II,37 geht aus dem Spruch jedoch nicht hervor, ob das Haus einst stattlich und solide war oder von jeher eher baufällig (vgl. dazu auch Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 63). 480 Anton E. Schönbach liefert eine detaillierte Erklärung zu den einzelnen Bestandteilen des Hauses (vgl. ebd., S. 25 f.). Udo Gerdes’ Hinweis zu Vers 4 ist interessant: „Die ‚mâze‘ […] kennt Wernher überhaupt nicht.“ (Gerdes: Beiträge, S. 88) „Das Wort kommt nur 7, 4 [= II,37,4] in technischer Bedeutung vor.“ (ebd., S. 88 Anm. 3) 481 Vgl. dazu auch ebd., S. 201 f.
37. Swer koſtelıch eín hoez hus. von holtze wol vntworfen hat.
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der belehrende Ton (oder Anspruch) dank der Apostrophe hervorgehoben wird, steht in C das Sprecher-Ich stärker im Fokus. In Vers 7 wiederum schreibt C erz statt manz. Durch den Rückbezug zum einleitenden Swer wird die Zusammengehörigkeit der Abschnitte 1 bis 5 und 6 bis 9 somit evtl. zusätzlich verstärkt. Ganz grundsätzlich fällt im Vergleich von J und C natürlich auf, dass C im Gegensatz zu J keine (mutmaßlich) verderbten Schreibungen enthält. So verursachen hsl. dremel (V. 2) und latte̅ (V. 5) in C – im Gegensatz zu ammen und larzen in J – keine Deutungsschwierigkeiten.
Historischer Hintergrund Der Spruch scheint den Zustand in Österreich (genauer: Wien) im Zusammenhang mit der Auseinandersetzung zwischen Herzog Friedrich II. und Kaiser Friedrich II. in den Jahren 1236 bis 1239 zu umschreiben.482 Diese Position wird auch übereinstimmend von der Forschung eingenommen.483 Interessant dabei ist, dass der Hauptmängel des Wiener Hauses das fehlende Dach ist. Dem Wiener Herzoghof fehlt also gewissermaßen das Oberhaupt, das schützend über allem steht.
Inhaltliche Ähnlichkeit mit anderen Texten vgl. zu Vers 7 bis 12: Walther L 24,33 (hier V. 10): mîn dach ist fûl, sô rîsent mîne wende, (Schweikle: Walther, Bd. 1, S. 236)484
482 Herzog Friedrich II. wird 1236 von Kaiser Friedrich II. geächtet und erst 1239 wieder vollständig rehabilitiert (vgl. Gebhardt, Bd. 6, S. 251, 260). 483 Vgl. HMS 4, S. 518; Meyer, S. 96; Lamey, S. 26; Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 27; Müller: politische Lyrik, S. 94; Brunner: Bruder Wernher, Sp. 899; Yao, S. 153. 484 Schönbach schreibt mit Blick auf den Zustand des Wiener Hofes, der in II,37 metaphorisch beschrieben wird: „Nur ist bei Wernher die Katastrophe schon vollständig eingetreten, die Walther nur als drohend verkündet; dem entspricht der Abstand der Zeiten.“ (Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 27) Gerdes meint: „Das Bild des Hauses, dessen Dach fehlt, dessen Balken und Wände mithin durch Witterungseinflüsse vergehen, und die Anwendung auf die ‚êre‘ des Wiener Hofes mögen von Walther angeregt sein.“ (Gerdes: Beiträge, S. 94) Ähnlich äußert sich auch Müller (vgl. Müller: politische Lyrik, S. 94). Vgl. außerdem Teschner, S. 84 f.
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Metrik A8ma A8ma A 7 (?) m b 8mc 5 A8mc A8mb 2A 4 m d A6ke A8md 10 2A 6 k e A8mf A8mf
́ die síule groz, die wénde stárc, uf vier drâmen gedíllet stat, diu tr bespénget únde mit gúoten slózzen wól bewárt, mit látten dâ óben uf gestréuwet, diu wtẹ undẹ óuch diu lénge réht; læzet mánz dan belben ane dách, undẹ sô íst ez gár ein wínt. ich wǽ nè, ich éin ze Wíene sách unde nám dâ vón vil lésterlch sîn éndè, sint éz der régen únde der sne aléine súnder dách begréif, die zwene, die schúofen in kúrzer vríst, daz éz an eren gár zersléif.
Literatur Brunner: Bruder Wernher, Sp. 899 • Doerks, S. 8 • Gerdes: Beiträge, S. 23 und Anm. 6, 88 Anm. 3, 94, 178 und Anm. 3, 179 und Anm. 7, 201 f. • HMS 4, S. 518 • Kemetmüller, S. 7, 23, 24 f., 41, 74, 210 f. • Lamey, S. 8, 26 • Leitzmann, S. 161 • Meyer, S. 96 • Moser/Müller-Blattau, S. 79, 81 • Müller: politische Lyrik, S. 93 f. • Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 25–27 • Teschner, S. 84 f. • Vetter, S. 245 • Yao, S. 37, 153, 155.
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38. Eẏn edel grave wol geborn. der wont ín oſter vranken lant. (J37 N, U) Eẏn edel grave wol geborn. der wont ín oſter vranken lant. lenger e. baz vnde baz. wırt er ín tugenden wol bekant. Sus / wıl er mẏt truwen vnde mẏt eren tzvͦ ſẏme grabe komen Her hat eẏnes rechten herren lıb. her hat eẏnes rechten herren / mvͦt. 5 Er ıſt geborn von hoher art daz beſte er vıl gerne tůt. Des hat er ſıch von kẏndes ívgent vnz her vıl wol an genomen Der / wıle er vngenennet ıſt. Jr mvͦget wenen ez ſẏ der kaſtellere Neẏn tzware hern ıs es nıcht her wírt genant ín kvrtzer / vrıſt. 10 her heızet boppe vnde ıſt ſchanden lere Von hẏnnenberc ıſt her geborn des hus ıſt von al ſulher art. Daz ez nícht boſer / herren bırt. Des hat ez ſıch vnz her bewart.
38. Ey˙n edel grave wol geborn. der wont ín oſter vranken lant.
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Ein edel grâve wol geborn, der wont in ôster vranken lant, ie lenger ie baz unde baz wirt er in tugenden wol bekant; sus wil er mit triuwen unde mit êren ze sîme grabe komen. er hât eines rehten hêrren lîp, er hât eines rehten hêrren muot, 5 er ist geborn von hôher art; daz beste er vil gerne tuot, des hât er sich von kindes jugent unz her vil wol angenomen. die wîle er ungenennet ist, ir muget wænen, ez sî der Kastellære – nein, zʼwâre, ern ist ez niht, er wirt genant in kurzer vrist: 10 er heizet Poppe unde ist schanden lære, von Hennenberc ist er geborn, des hûs ist von al solher art, daz ez niht bœser hêrren birt, des hât ez sich unz her bewart.
37N J 1 ôster: ‚nach Osten hin, im Osten, östlich‘, hier in Zusammensetzung mit vranken 2 ie: In der Hs. fehlt das vor dem Komparativ lenger und in Folge der Konstruktion ie – ie (nhd. je – desto) zu erwartende ie. 6 des: Objektsgen. zu refl. an-nemen, (‚einer Person/Sache annehmen, sich darum kümmern‘) 7 die wîle: Es ist unklar, wieso hsl. Der statt Die steht (vgl. auch VI,68,10), denn als Einleitung von Temporalsätzen fungiert in der Regel der adv. Akk. die wîle (vgl. Mhd. Gram., § S 173, 12). Da diese Kombination als feste Wendung fungiert, greife ich in die hsl. Lesart ein und schreibe die. 9 (in kurzer) vrist: ‚Zeitspanne; Aufschub‘, also wörtlich ‚nach einer kurzen Zeitspanne; nach kurzem Aufschub‘ 11 Henneberc: in J wohl hyperkorrigiert zu hẏnnenberc hûs: ‚Haus‘ im Sinne von ‚Geschlecht‘ 12 bern: tr. ‚hervorbringen, gebären allgem.‘ des: Objektsgen. zu refl. bewarn (‚sich in Acht nehmen vor‘)
HMS 3: II,21 Sch 60
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Übersetzung Ein vornehmer Graf von hoher Abkunft lebt im ostfränkischen Gebiet, je länger (er lebt), desto bekannter wird er aufgrund vollkommener [Eigenschaften; auf diese Weise möchte er mit Aufrichtigkeit und mit Ansehen ins Grab kommen. Er hat den Körper eines wahren Herrn, er hat die Gesinnung eines wahren Herrn, 5 er ist von hoher Abkunft; das Beste tut er nur allzu gern, darum hat er sich von Jugend an bis heute sehr gut gekümmert. Solange er ungenannt ist, könnt ihr annehmen, es sei der Kasteller – nein, wahrlich, er ist es nicht, er wird gleich genannt: 10 Er heißt Poppo und ist frei von Schande. Zu Henneberg ist er geboren. Das Geschlecht ist von solcher Art, dass es keine schlechten Herren hervorbringt, davor hat es sich bis hierher in [Acht genommen.
Inhalt II,38 ist ein klassischer Herrscherpreis, der zudem kein Geheimnis daraus macht, um welchen Herrn es sich konkret handelt. Doch dazu weiter unten mehr. Von seinem Aufbau her bilden zunächst einmal Auf- und Abgesang zwei separate Blöcke: Der Aufgesang geht auf die einzelnen, lobenswerten Eigenschaften des Grafen ein, bleibt aber bis auf Vers 1, der den Gepriesenen als grâven aus ôster vranken lant ausweist, ansonsten eher unspezifisch, was die Person angeht. Die beiden Stollen können inhaltlich als einzelne Einheiten verstanden werden: Der erste Stollen deutet zunächst auf die Person hin, die im Zentrum des Lobs steht (vgl. V. 1), und führt anschließend eher ideelle Werte bzw. Qualitäten an, die der Graf besitzt und die rühmenswert sind; so wirt er in tugenden wol bekant (V. 2) und bereitet sich durch ein Leben mit triuwen unde mit êren auf das Leben nach dem Tod vor (vgl. V. 3 sus wil er […] ze sîme grabe komen). Der Graf ist also gerade in dem Punkt besonders vorbildlich, auf den Bruder Wernher in seinem Werk immer wieder abzielt – im Hinblick auf ein gottesfürchtiges und mildtätiges Leben in Erwartung des Jenseits. Im zweiten Stollen kommt es schließlich zu einer genaueren Beschreibung des Grafen bzw. seiner Vortrefflichkeit. Hierbei wird ein möglichst umfassendes Bild entworfen, denn es werden sowohl Körper (vgl. V. 4 lîp) als auch Geist/
38. Ey˙n edel grave wol geborn. der wont ín oſter vranken lant.
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Gemüt (vgl. V. 4 muot) gelobt (beides entspricht eine[m] rehten hêrren [V. 4]). Und auch seine hohe Abkunft wird hervorgehoben (vgl. V. 5 geborn von hôher art, es treffen hier also Geburts- und Tugendadel aufeinander) und auf sein vorbildliches Handeln hingewiesen (vgl. V. 5), um das er bereits von Kindesbeinen an bemüht ist (vgl. V. 6). Interessant an Vers 6 ist der Bezug, der sich zu Vers 3 herstellen lässt: Während der erste Stollen mit dem Hinweis auf das Grab und den Tod endet, schließt der zweite Stollen mit dem Rückblick auf Kindheit und Jugend des Grafen. Durch diese Erwähnung von kindes jugent (V. 6) und ze sîme grabe (V. 3) wird ein Zeitfenster impliziert, das sich auf sein komplettes Leben erstreckt und dadurch signalisiert, dass er sich Zeit seines Lebens vortrefflich verhalten hat, und zwar in jeglicher Hinsicht, wie v. a. die Verse 2 bis 5 zeigen.485 Nachdem der Aufgesang überschwänglich und auf vielfältige Weise auf die Vorbildlichkeit des Grafen abgehoben hat und insofern beim Publikum Neugier und Interesse aufgebaut haben mag, dient der Abgesang dazu, die gepriesene Person namentlich zu nennen, so dass beim Rezipienten kein Zweifel darüber besteht, von wem genau die Rede ist. Diese „Enthüllung“ wird inszeniert durch eine Art fiktiven Dialog zwischen Sprecher und Publikum (vgl. V. 7–9), wobei der Sprecher jedoch nur durch die Apostrophe an die Zuhörer (vgl. V. 8 ir muget wænen) sowie den Dialogcharakter (nach dem Schema Frage [vgl. V. 8] – Antwort [vgl. V. 9]) durchscheint: Zunächst schließt der Sprecher de[n] Kastellære (V. 8) aus, den das Publikum als erstes hinter dem Besungenen vermutet haben mag (vgl. V. 8),486 und lüftet in Vers 10 f. endlich das Geheimnis: Es handelt sich um Poppe […] von Henneberc, der von vortrefflicher Abkunft ist, denn das hûs (V. 11), von dem er abstammt, hat bisher keinen schlechten Herrn hervorgebracht (vgl. V. 12). Das Lob wird abschließend also noch gesteigert, indem es von Graf Poppo auf das gesamte Geschlecht übertragen wird. Dass das Herrscherhaus keine unerhebliche Rolle spielt, deutet rückblickend der komplette Spruch an: Sowohl im Auf- als auch im Abgesang wird immer wieder auf die edle Geburt und Abstammung des Grafen hingewiesen: V. 1 wol geborn, V. 5 geborn von hôher art, V. 11 von Henneberc ist er geborn, von al solher art, V. 12 niht bœser hêrren birt.
485 Es fällt hier übrigens auf, dass die milte nicht erwähnt wird, immerhin ist sie eine zentrale Herrschertugend und gerade in der Sangspruchdichtung eine regelmäßig gelobte oder angemahnte Herrscherqualität. 486 Die Forschung hat zu Recht darauf hingewiesen, dass Bruder Wernher hier geschickt ein zweites Herrscherlob einfügt, indem er so tut, als könne der Graf von Castell angesichts seiner Vortrefflichkeit leicht mit Poppo von Henneberg verwechselt werden (vgl. HMS 4, S. 520; Meyer, S. 83; Lamey, S. 7; Doerks, S. 3; Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 58; Müller: politische Lyrik, S. 94).
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Historischer Hintergrund Bei dem genannten Grafen Poppo von Henneburg handelt es sich nach weitgehend einhelliger Meinung um Poppo VII., den Bruder Ottos von Botenlauben.487 Wenn dies tatsächlich stimmt und die Auslegung von Vers 3 korrekt ist, wonach der Spruch „noch zu Lebzeiten desselben gedichtet [ist]“488, so müsste der Entstehungszeitpunkt nicht lange vor 1245 liegen,489 da Poppo VII. in diesem Jahr verstorben ist.490 Mit Blick auf den zweiten Erwähnten, den Kastellære (V. 8), der wohl dem ostfränkischen Adelsgeschlecht von Castell zuzuordnen ist,491 überlegt lediglich von der Hagen ausführlicher, um wen es sich handeln könnte, und kommt zu dem Schluss, dass „vermuthlich Rupert III gemeint [ist]“492. Meyer (und anschließend Doerks, der Meyer nahezu wörtlich folgt) erklärt lediglich: „die Grafen von Kastell, ebenfalls Franken, wohnten zwischen den Bambergischen und Würzburgischen Territorien.“493
Metrik A8ma A8ma 8 2m b 2A 8 m c
ie léngèr ie báz unde báz wirt ér in túgenden wól bekánt; sús wil ér mit tríuwen únde mit eren ze sme grábe kómen. er hât éines réhten herren lp, er hat éines réhten herren múot,
487 Vgl. HMS 4, S. 520 (Von der Hagen schreibt zwar „Poppo XIII“ [HMS 4, S. 520], muss aber doch Poppo VII. meinen, da er weiter unten dann von „Poppo’s Bruder, Otto von Botenlauben“ [HMS 4, S. 520] spricht.); Meyer, S. 83; Lamey, S. 7; Doerks, S. 3; Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 58; Kemetmüller, S. 72; Vetter und Gerdes schreiben lediglich „den Henneberger“ (Vetter, S. 261) bzw. „Poppo von Henneberg“ (Gerdes: Beiträge, S. 192), dennoch ist wohl auch bei ihnen davon auszugehen, dass sie Poppo VII. meinen. Vgl. außerdem Brunner: Bruder Wernher, Sp. 898. 488 Meyer, S. 83. 489 Aufgrund des Hinweises auf das Grab (vgl. V. 3) wurde die Überlegung angestellt, dass der Besungene Graf Poppo von Henneberg zum Abfassungszeitpunkt noch gelebt hat, sich aber „bereits in höherem Alter befunden habe“ (Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 58; vgl. auch Meyer, S. 83 und Vetter, S. 261). Schönbach geht davon aus, „daß Poppo VII. etwa 1180 oder vorher geboren“ (Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 58) ist und überlegt weiter: „Um 1240 wäre er dann bereits sechzig Jahre gewesen und die Anspielungen auf sein hohes Alter wären berechtigt.“ (ebd.) 490 Vgl. Patze/Schlesinger, S. 203. 491 Vgl. einführend Andermann/Dohna. 492 HMS 4, S. 520. Vgl. auch Brunner: Bruder Wernher, Sp. 898. 493 Meyer, S. 83. Vgl. auch Doerks, S. 3.
38. Ey˙n edel grave wol geborn. der wont ín oſter vranken lant.
8mc 8 2m b 4md 6ke 8md 10 A 6 k e A8mf A8mf 5
A A A A
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wîlẹ ir múget wǽnen, éz s der Kástellǽrè – zʼwârẹ undẹ
Literatur Brunner: Bruder Wernher, Sp. 898 • Doerks, S. 3 • Gerdes: Beiträge, S. 83, 168 Anm. 2, 176 und Anm. 1, 179 und Anm. 5, 192, 193 Anm. 1 • HMS 4, S. 520 • Kemetmüller, S. 32, 36, 42, 62, 72 f., 87, 93, 232 • Lamey, S. 7, 8 • Meyer, S. 83 • Moser/Müller-Blattau, S. 79, 81 • Müller: politische Lyrik, S. 94 • Roethe, S. 227, 305 • Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 57 f. • Vetter, S. 261.
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Ton II, Korpus in J
39. Ich gan dem edelen kvnınge wol daz ẏm ſẏn dínc tzuͦr wunſch ırge. (J38 N, U) Ich gan dem edelen kvnınge wol daz ẏm ſẏn dínc tzuͦ r wunſch ırge. Vnde trag ouch ẏm dıenſte gvnſt wer ẏm myt truwen bı geſte. Wen / er ſo rechte kvnínclıche vuͦ re ín allen díngen hat Vver er nícht eẏnes kvnínges kẏnt man ſoltín doch tzvͦ kvnínge han.. 5 Alſo daz ẏm / daz rıche vnd ouch dıv krone were vndertan. Als ſıe von rechten ſachen ſol. dıe krone of ſẏme houbet ſtat Her hat beıaget ín ſíner / ıvgent. den prıs daz ẏm gewalt durch vorchten níget Daz enírret nícht ſẏn mẏltlicheıt ſín reẏne hertze ſín edele tugent. 10 Daz er ín rechter / kvnínge vuͦ re of ſtıget Nv ſıtzet er of geluckes rade wıler daz ez ẏm wenke nícht. So rıchter waz dıe armen klagen ſo gıt ẏm got / tzvͦ ſelden phlıcht.
4 zwei Reimpunkte
39. Ich gan dem edelen kvnınge wol daz y˙m ſy˙n dínc tzuͦr wunſch ırge.
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Ich gan dem edelen künege wol, daz im sîn dinc ze wunsch ergê, unde trac ouch im dienste gunst, wer im mit triuwen bî gestê, wan er sô rehte küneclîche vuore in allen dingen hât. wær er niht eines küneges kint, man solt in doch ze künege hân, 5 alsô daz im daz rîche und ouch diu krône wære undertân. als sie von rehten sachen sol, diu krône ûf sîme houbet stât. er hât bejaget in sîner jugent den prîs, daz im gewalt durch vürhten nîget; daz enirret niht sîn miltecheit, sîn reine herze, sîn edele tugent, 10 daz er in rehter künege vuore ûf stîget. nû sitzet er ûf gelückes rade: wil er, daz ez ime wenke niht, sô riht er, waz die armen klagen, sô gît im got ze sælden phliht.
38N J 1 dinc: allgem. ‚Ding, Sache‘ ze: Das in der Hs. stehende tzuͦr ergibt hier keinen Sinn, da wunsch Mask. ist (zur Abschwächung von zuo > ze vgl. das Kapitel ,Allgemeines‘ in ,Zur Normalisierung‘). ze wunsch: feste Wendung ‚vollkommen‘ ergên: hier ‚gelingen, sich vollenden‘ 2 im (dienste): Verschmelzung aus in dem wer: Da ich bei im (dienste) nicht von einem Pers.pron., sondern von Präp. ausgehe, fehlt das Bezugswort zu wer; ich ergänze es in der Übersetzung. 3 vuore: ‚Art zu varn, sich zu benehmen, Lebensweise, Art und Weise überhaupt‘ 6 (von rehten) sache(n): hier ‚Ursache, Grund‘, wörtlich ‚aus rechtmäßigen Gründen‘ 7 in: Auf einen konzessiven Gebrauch von in, den Schönbach annimmt („Schon in dieser seiner Jugend (obgleich er so jung ist) hat er […]“ [Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 59]), deuten weder die Belege in den einschlägigen WB hin noch lässt sich in Grammatiken ein Hinweis darauf finden. 9 irren: tr. ‚irre machen, in Verwirrung bringen, stören, hindern‘ 11 wenken: intr. (hier mit Dat. d. P. [ime]) ‚einen wanc tun, wanken, schwanken, weichen, schweifen‘, ich übersetze freier mit ‚drehen‘ 12 rihten: tr. ‚in Ordnung bringen‘ (ze sælden) phliht: hier ‚Obliegenheit, Pflicht, Verpflichtung‘, wörtlich ‚die Verpflichtung zum Glück‘
HMS 3: II,22 Sch 61
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Ton II, Korpus in J
Übersetzung Ich gönne dem vornehmen König sehr, dass ihm seine Angelegenheiten [wunschgemäß gelingen mögen, und empfinde im Dienst zudem Wohlwollen (für denjenigen), der ihm in Treue [beistehen mag, da er in allen Dingen ein wahrlich königliches Auftreten besitzt. Wäre er nicht der Sohn eines Königs, müsste man ihn dennoch zum König [haben, 5 (und zwar) auf die Art, dass ihm das Reich und auch die Krone untertan [wären. Wie sie es zu Recht soll, sitzt die Krone auf seinem Kopf. Er hat in seiner Jugend den Ruhm errungen, dass sich vor ihm die Gewalt aus Angst verneigt; das stört seine Freigebigkeit nicht, sein reines Herz, seine vornehme Sittsamkeit, 10 so dass er sich in der Art und Weise eines richtigen Königs erhebt. Jetzt sitzt er oben auf dem Rad des Glücks: Wenn er nicht möchte, dass es sich [dreht, dann möge er in Ordnung bringen, was die Bedürftigen klagen, dann schenkt [ihm Gott Glück.
Inhalt Der Spruch ist zunächst einmal ein Herrscherpreis bezogen auf einen vortrefflichen König (vgl. V. 1). Der Sprecher, der einzig im ersten Vers in Erscheinung tritt, ist diesem König wohlgesonnen, wie der erste Stollen zeigt. Dort steht zunächst einmal ein eher äußerer Bereich im Vordergrund, der sich auf das Handeln einzelner Akteure bezieht: In Vers 1 ist davon die Rede, dass dem König sîn dinc ze wunsch ergê, er also in seinen Angelegenheiten erfolgreich sein möge, in Vers 2 versichert das Sprecher-Ich, demjenigen zu Diensten zu stehen, der wiederum dem König treu ergeben sei, und Vers 3 schließlich fasst das Auftreten und Verhalten des Königs insgesamt als rehte küneclîche vuore zusammen. Im Anschluss daran befasst sich der zweite Stollen mit der Frage der Rechtmäßigkeit und v. a. auch Schicksalhaftigkeit des Herrschaftsanspruchs des Königs: Selbst dann, wenn er nicht der Sohn eines Königs wäre, müsste man ihn zum König (inkl. Reich und Krone) machen (vgl. V. 4 f.). Vers 6 kehrt aus dem Hypothetischen wieder zurück in die Realität und stellt klar, dass aber auch unabhängig von seiner generellen Eignung als König diu krône
39. Ich gan dem edelen kvnınge wol daz y˙m ſy˙n dínc tzuͦr wunſch ırge.
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ûf sîme houbet stât, und zwar als sie von rehte sachen sol. Alles hat also seine Rechtmäßigkeit.494 Mit Einsetzen des Abgesangs wendet sich das Lob des vortrefflichen Königs nun eher charakterlichen Qualitäten zu. Zunächst werden Entschlossenheit, einschüchterndes bzw. Respekt einflößendes Auftreten und letztlich wohl auch Kampfkraft gegenüber Kontrahenten, die in der personifizierten gewalt (V. 8) zusammengefasst sind, beschrieben, indem gesagt wird, daz im gewalt durch vürchten nîget (V. 8). Auf diese Weise gelingt es ihm, bereits in sîner jugent (V. 7) den prîs (V. 8) zu erlangen. Daraufhin werden einzelne (Herrscher-)Qualitäten hervorgehoben, nämlich sîn miltecheit, sîn reine herze495, sîn edele tugent (V. 9), und dass er an diesen enirret niht (V. 9). Ähnlich wie Vers 3 – der Wortlaut beider Verse ist z. T. identisch – präsentiert bzw. formuliert Vers 10 schließlich eine Art Endergebnis oder Fazit, das sich aus all den zuvor genannten Punkten zusammensetzt: daz er in rehter künege vuore ûf stîget.496 Die Verse 7 bis 10 und die Verse des zweiten Stollens sind in ihrer gegenseitigen Ergänzung von entscheidender Bedeutung, denn sie bringen das Konzept von Geburts- und Tugendadel zusammen:497 Der König trägt durch Abstammung (vgl. V. 4 eines küneges kint) rechtmäßig die Krone, ist aber ohnehin durch seine natürliche Veranlagung wie geschaffen für dieses Amt (vgl. V. 4–6). Insofern vereint er aufgrund seiner charakterlichen Vortrefflichkeit den Herrschaftsanspruch von Geburts wegen mit demjenigen, der aus Tugendhaftigkeit gemäß der Vorstellung des Tugendadels heraus erwächst. Er ist also in jeglicher Hinsicht ein legitimer Herrscher. Bleiben noch die beiden Schlussverse. Sie führen weg von dem Tonfall des Herrscherlobs und nähern sich stattdessen einer wohlwollenden Belehrung oder Ermahnung zu bedächtigem Handeln. Ausgangspunkt bildet die Feststellung nû sitzet ir ûf gelückes rade (V. 11). Damit soll zum Ausdruck gebracht werden, dass der König vom Glück bzw. Schicksal gesegnet ist, da er sich von seinem Wesen und seiner Abstammung her in einer optimalen Ausgangslage befindet – er sitzt somit auf dem Glücksrad (Rota Fortunae).498 Wie das Bild des Rads jedoch ebenfalls impliziert, steht es nicht still. Um nun zu verhindern, dass das Rad in Bewegung gerät (vgl. V. 11 wenke) und somit
494 Laut Ruth Schmidt-Wiegand ist der „gute Sitz der Krone“ (Schmidt-Wiegand, S. 199) ein „Beweis für die Zusammengehörigkeit von Würdenträger und Herrschaftszeichen“ (ebd.). 495 Vgl. zu reinez herze auch I,12,4 und Anm. 405. 496 Strasser sieht die Formulierung ûf stîgen in Verbindung mit dem Glücksrad in Vers 11 (vgl. Strasser, S. 240 Anm. 7), während Schönbach überlegt, ob damit evtl. die Königswürde gemeint sei (vgl. Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 60). 497 Vgl. Gerdes: Beiträge, S. 77 und Zeitgeschichte, S. 144. 498 Vgl. zu dem Bild des Glücksrads Anm. 308.
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auch das Glück anfängt zu schwanken, muss der König der gesellschaftlichen Position, die er innehat und mit der bestimmte Verpflichtungen einhergehen, durch sein Handeln gerecht werden. Im vorliegenden Fall bedeutet dies, auf die Klagen und Beschwerden der Armen zu hören und dementsprechend für Gerechtigkeit zu sorgen (vgl. V. 12). Erst wenn er dieser Aufgabe nachkommt, gît im got ze sælden phliht (V. 12). Auch hier wird also für ein vorbildliches Leben auf Erden himmlischer (oder irdischer?) Lohn in Aussicht gestellt. Das persönliche Seelenheil wird von der irdischen Pflichterfüllung abhängig gemacht. Zum Schluss sei noch auf inhaltliche, ja geradezu wörtliche Parallelen von II,39 und II,23, hingewiesen. Im Zentrum steht dabei sowohl die Verwendung des Glücksrads (II,23,9 waz, ob vil lîhte gelückes rat an solhen dingen stille stê?) als auch die Aufforderung, Recht zu sprechen (vgl. II,23,6 nû rihtet under der krônen und 12 nû rihtet hie) angesichts der Klage der Armen (II,23,7 f. hœret ir die armen schrîen ,ôwêʻ von ungerihte?). Hierbei fallen zwei Dinge besonders auf: Zum einen dient das Glücksrad in beiden Fällen zur Drohung oder zumindest Warnung vor der Wankelmütigkeit des Schicksals – das Glück kann vil lîhte (II,23,9) vergehen –, zum anderen kann Vers 12 in II,39 (sô riht er, waz die armen klagen) beinahe als Reaktion auf II,23,7 f. verstanden werden (die armen schrîen ,ôwêʻ von ungerihte). Zuletzt fällt auch der parallele Gebrauch der Krone auf: In II,23 wird mit dem Wechselspiel von Kaiserkrone und Dornenkrone gespielt, in II,39 hingegen steht die Herrscherkrone (in diesem Fall die des Königs) im Vordergrund. Wernher hat hier also bei den Themen „Gerechtigkeit“ und „Leid der Unbeteiligten“ mit ähnlichen Mitteln gearbeitet.499 Allerdings beziehen sich die beiden Sprüche wohl nicht auf dieselbe Person: Während in II,23 Kaiser Friedrich II. gemeint ist (vgl. V. 3 und 5 her keiser), steht hinter dem edelen künege (V. 1) in II,39 wohl sein Sohn König Heinrich (VII.). Dass Bruder Wernher für Vater und Sohn ähnliche Lexeme verwendet und die besagten Sprüche thematisch eng zueinander in Verbindung setzt, ist allemal bemerkenswert.
Historischer Hintergrund Die Frage, welcher König in II,39 gemeint ist, wurde ausgiebig diskutiert, wobei sich zwei Positionen herausgebildet haben: Entweder es handelt sich 499 Die inhaltlichen und sprachlichen Parallelen veranlassen Henry Doerks dazu, zwischen den beiden Sprüchen eine „Zusammengehörigkeit“ (Doerks, S. 5) zu sehen und anzunehmen, „daß dem Dichter bei Abfassung des späteren der frühere Spruch noch wohl in der Erinnerung war“ (ebd.). Zur Ähnlichkeit von II,23 und II,39 vgl. auch Gerdes: Beiträge, S. 45 Anm. 4, 76 und Zeitgeschichte, S. 139.
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hier um Friedrich II. vor seiner Krönung zum Kaiser (22. November 1220), wonach der Spruch also vor dem 22. November 1220 entstanden sein müsste,500 oder aber um seinen Sohn König Heinrich (VII.) (Königswahl im April 1220, Krönung am 8. Mai 1222), und zwar ebenfalls vor der Kaiserkrönung seines Vaters.501 Während die Unterstützer der ersten Auslegung das Hauptaugenmerk auf die Verse 7 und 8 legen, deren Aussage unmöglich auf den 1220 erst 9jährigen Heinrich (VII.) bezogen werden könne,502 stützt die zweite Gruppe ihre Argumentation auf Vers 4 (und 6): eines küneges kint könne hier nur Heinrich (VII.) meinen, denn Friedrichs II. Vater (Heinrich VI.) war nicht König, sondern Kaiser.503 Diesen Hinweis in Vers 4 (eines küneges kint) versucht Meyer (und Doerks) dadurch zu entkräften, indem er ihn als mehr oder weniger gewollte historische Ungenauigkeit abtut,504 wogegen Schönbach m. E. zu Recht einwendet, dass in solchen Dingen das Mittelalter sehr genau [war] und Wernher sofort von seinen Zuhörern korrigiert worden [wäre], wenn er Friedrich II. den Sohn eines ,Königs‘ statt eines ,Kaisers‘ genannt hätte.505
Und um diese These zu stützen, verweist Schönbach auf Vers 4 in V,62, in dem es des edelen keisers kint heißt (hier entweder auf Konrad IV. oder Heinrich [VII.] bezogen).506 Es scheint bei derartigen Aussagen also durchaus auf deren Korrektheit Wert gelegt worden zu sein. Umgekehrt versucht Schönbach Meyers Einwand, Heinrich (VII.) sei zu jung gewesen, als dass Vers 7 f. auf ihn hätte gedichtet werden können, dadurch abzuwehren, dass er den Spruch einerseits unmittelbar nach der Wahl Heinrichs (VII.) entstanden sieht und dieser deswegen „das Gepräge der Improvisation“507 trage, zum anderen vermutet er, dass
500 Für diese Auslegung plädieren von der Hagen (HMS 4, S. 516), Meyer (S. 84 f.) und Doerks (S. 5). 501 Diese Ansicht vertreten Lachmann (Kraus: Walther, S. 218), Lamey (S. 18), Schönbach (4. Stück bzw. 150. Bd., S. 60), Vetter (S. 262), Gent (S. 131, 152), wohl auch Müller (politische Lyrik, S. 94), Schmidt-Wiegand (S. 199) und Brunner (Bruder Wernher, Sp. 898). 502 Vgl. Meyer, S. 84; Doerks, S. 5. 503 Vgl. z. B. Lamey, S. 18 und Müller: politische Lyrik, S. 94. 504 Er schreibt: „der Dichter verschmäht um der poëtischen Wirkung willen etwas weniges von geschichtlicher Genauigkeit.“ (Meyer, S. 86), vgl. außerdem Doerks, S. 5. 505 Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 61. 506 Vgl. ebd. 507 Ebd., S. 60.
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man in unserem Spruche das erste Zeugnis für die merkwürdige Legendenbildung erblicken [darf], welche die Regierung Heinrichs VII. in der Rückschau zu einer Epoche goldenen Friedens und strengster Gerechtigkeit idealisierend erhob.508
Hans Vetter folgt in der Personendeutung Lamey und Schönbach, allerdings sieht er den Entstehungszeitpunkt nicht vor dem Hintergrund der Königswahl Heinrichs (VII.), sondern vor dem seiner Krönung am 8. Mai 1222.509 Er begründet dies damit, dass Heinrich (VII.) erst mit seiner Krönung vollwertiger König ist, der die Amtsgeschäfte führt und Klagen des Volkes anhört.510 eines küneges kint (V. 4) ändert Vetter andererseits ab zu eines keisers kint511 und rechtfertigt dies mit der Erklärung, dass die Überlieferungslage „ungenau[e]“512 sei, „denn der spruch ist nur in J überliefert, deren schreiber die historische beziehung wahrscheinlich nicht gekannt hat“513. Während sich Scholz Vetters Datierung anschließt,514 lehnt Müller diese Vermutung völlig zu Recht ab, indem er Vetter eine unbegründete und unnötige Konjektur der handschriftlichen Lesart vorwirft.515 Es fällt angesichts dieser unterschiedlichen Ansätze schwer, eine durch und durch fundierte Entscheidung hinsichtlich der historischen Einordnung zu treffen. Obwohl ich Schönbachs Einwände gegenüber Meyer bzgl. der Verse 7 und 8 als nicht durchschlagend genug empfinde, da sie nicht konkret anhand des Textes belegt werden können, sondern eher subjektiv geprägt sind, halte ich seinen Hinweis auf die Exaktheit, die speziell mit einer Formulierung wie eines küneges kint einhergeht, für überaus wichtig. Meyers „poëtische[n] Wirkung“516 kann m. E. nicht einmal ansatzweise als Begründung für ein vermeintliches Ersetzen von keiser durch künec gelten. Genauso wenig Vetters „ungenaue überlieferung“517. Tendenziell würde ich mit Blick auf II,39 hinter 508 Ebd., S. 61. Müller versteht Schönbachs Überlegung dergestalt, dass „die Strophe eine Art „Rechtfertigung“ dieser Wahl [Heinrichs, Anm. d. Verf.] [sei], wogegen der Wortlaut nicht spricht“ (Müller: politische Lyrik, S. 94). 509 Vgl. Vetter, S. 262. Auch Gent legt den Spruch ins Jahr 1222, allerdings ohne dies näher zu erläutern (vgl. Gent, S. 131). 510 Vgl. Vetter, S. 262. 511 Vgl. ebd. 512 Ebd. 513 Ebd. 514 Vgl. Scholz: Reichsidee, S. 27. 515 „Abzulehnen ist Vetters Datierung […], der die Strophe aufgrund von V. 6 auf Heinrichs Krönung (8. V. 1222) beziehen zu müssen glaubt und ohne Bedenken den V. 4, der ,ungenau‘ überliefert sei, seiner neuen Datierung ‚anpaßt‘ (!!), indem er ändert: „4 l[ies] ‚keisers‘ statt ‚küneges‘“ (Müller: politische Lyrik, S. 94). 516 Meyer, S. 86, vgl. auch Anm. 504. 517 Vetter, S. 262.
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dem edelen künege aus Vers 1 eher König Heinrich (VII.) vermuten und auch in der Datierungsfrage für das Zeitfenster zwischen April 1220 und November 1220 plädieren, da diese Auslegung allerdings unabhängig davon, welcher Position man zuneigt, prinzipiell berechtigte Gegenargumente aufwirft, scheint es mir hier schwierig, eine „endgültige Wahrheit“ zu formulieren.
Inhaltliche Ähnlichkeit mit anderen Texten vgl. zu Vers 5: Walther L 19,29 (hier V. 8): […] daz rîche und ouch diu krône […] (Schweikle: Walther, Bd. 1, S. 82)518 vgl. zu Vers 11: Reinmar von Zweter 91: Gelückes rat ist sinewel im loufet maneger nâch, doch ist ez vor im gar ze snel unt lât sich doch erloufen williclîch, den ez beswîchen wil. Swer stîget ûf Gelückes rat, der darf wol guoter sinne, wie er behalte Gelückes stat, deiz under im iht wenke: wand ir daz rat hin ab im zucket vil. Die müezen danne sîgen mit unwerde, wan si mit schanden ligen ûf der erde: Gelücke wenket unbesorget, ez gît vil manegem ê der zît unt nimt hin wider swaz ez gît: ez tœret den, swem ez ze vil geborget. (Roethe, S. 456) Reinmar von Zweter 246: Ich sach gemâlt an einer want die aller schœnsten vrouwen, gelückes rat stuont an ir hant: si treip ez umbe geswinde, alsô ez si selben dûhte guot. Viere ich an dem rade sach: der eine der saz dar ûf, der was ein künec als er verjach; der zweite ûf steic behende: ,nû bin ouch ich ein künec hôch gemuot.‘ Der dritte der sprach: [,]ich mac niht vil geschallen, ich was ein künec unt bin her abe gevallen‘. (Roethe, S. 531)
518 Zu der Bedeutung, die die Krone bei Wernher und Walther (v. a. L 18,29 [Schweikle: Walther, Bd. 1, S. 84]) spielt, vgl. Gerdes: Beiträge, S. 75 und Zeitgeschichte, S. 144.
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vgl. zu Vers 12: Walther L 36,11 (hier V. 8): minnet got und rihtet, swaz die armen klagen, (Schweikle: Walther, Bd. 1, S. 200) zur Volksstimmung, die in der bayerischen Fortsetzung der Kaiserchronik wiedergegeben wird, vgl.: Schröder: Kaiserchronik, V. 613 ff., 631 ff., 657, 678, 754–757, 764 f.
Metrik A8ma 8ma A8mb A8mc 5 A8mc A8mb A 4 2m d A6ke 2A 8 2m d 10 A 6 k e A8mf A8mf
Ich gán dem édelen knege wól, daz ím sîn dínc ze wúnsch erge, únde trac óuch im díenste gúnst, wer ím mit tríuwen b geste, vuorẹ wær ér niht éines kneges kínt, man sólt in dóch ze knege han, rîchẹ krônẹ er hat bejáget in sner júgent daz enírret níht sîn míltechèit, sîn réine hérze, sîn édele túgent, daz ér in réhter knege vúorẹ ûf stgèt. nû sítzet ér ûf gelckes ráde: wil ér, daz éz ime wénke níht, sô ríht er, wáz die ármen klágen, sô gt im gót ze sǽlden phlíht.
Literatur Brunner: Bruder Wernher, Sp. 898 • Doerks, S. 5 • Edwards, S. 307, 308 • Gent, S. 131 f., 152 • Gerdes: Beiträge, S. 42 und Anm. 3, 43 und Anm. 4, 44 und Anm. 1 und 4, 45 Anm. 4, 47 Anm. 3, 70 und Anm. 1, 74–77, 82 Anm. 2, 168 Anm. 2, 177 und Anm. 1, 179 und Anm. 4, 181 und Anm. 3, 191 • Gerdes: Zeitgeschichte, S. 139, 143–145 • HMS 4, S. 516 • Kemetmüller, S. 6, 28, 44, 45, 73 f., 232 • Kraus: Walther, S. 218 • Lamey, S. 18 • Meyer, S. 84–86 • Moser/Müller-Blattau, S. 79, 81 • Müller: politische Lyrik, S. 94 • Nolte/Schupp, S. 46 f., 381 • Schmidt-Wiegand, S. 199 f., 204 • Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 59–62 • Scholz: Reichsidee, S. 25–27 • Strasser, S. 239 f. • Vetter, S. 262 f.
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Ton II, Korpus in J
40. Swa herren ſterben daz ıſt ſchade. Des mvͦchte doch wol werden rat. (J39 N) Swa herren ſterben daz ıſt ſchade. Des mvͦchte doch wol werden rat. Wen daz ır ſvͦmelich hıe ſo gar vnnvtzen erben / lat. Der guͦ t vuͦ r tırbet des ſıch vıl der guͦ ten lıvte ſolden nern. Man ſıcht ín walde rıvten ouch man ſıcht ín buwen / breıte velt. 5 Man grebet ín ſılber vnde golt dıv ſtraze vnde aller wazzer gelt. Daz dıenet ín da bı ſıcht man ſíe ſcatz / vıl ſnodelíchen tzern. So we mẏr we der alter vuͦ r lorn. Sıt man der ívngen ſıcht ſo vıl vuͦ r tzíen Vnde ẏmm we daz / ıch vuͦ r ſvͦmelıche han ſo vıl geſworn. 10 Jch wante daz er welte vm ere lıen Eẏn guͦ t den armen dendıe rıchen edelen helfe / ſculdıch ſẏnt. Jch wıl den boſen nẏmmer klagen der vns hıe let eẏn boſer kẏnt
2 bei ſvͦmelich stand ursprünglich ‑e im Auslaut, das jedoch radiert wurde
40. Swa herren ſterben daz ıſt ſchade. Des mvͦchte doch wol werden rat.
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Swâ hêrren sterbent, daz ist schade; des möhte doch wol werden rât, wan daz ir sumelîcher hie sô gar unnutzen erben lât, der guot verdirbet, des sich vil der guoten liute solden nern. man siht in walde riuten ouch, man siht in bûwen breitiu velt. 5 man grebet in silber unde golt; diu strâze unde aller wazzer gelt, daz dienet in; dâ bî siht man sie schatz vil snudelîchen zern. sô wê mir, wê der alten verlorn, sît man der jungen siht sô vil verzîen! und iemer wê, daz ich vür sumelîche hân sô vil gesworn! 10 ich wânde, daz er wolde umb êre lîen ein guot den armen, den die rîchen edelen helfe schuldec sint! ich wil den bœsen niemer klagen, der uns hie lât ein bœser kint.
39N J, 19 [18] C 1 des möhte] vn̅ ſol. 2 sumelîcher] eteſlıcher. 3 verdirbet] erſtırbet. guoten fehlt. solden] ſolde Verschreibung?. 4 walde] welde̅. ouch] vıl. man siht in] vn̅ darzvͦ. 5 unde golt] vn̅ ín gẹͦlt. aller] alder. 6 dc dıenet ín vnde ſıht ma̅ ſı doch kleıneklıche zern. 8 sît] dc. der] dıe. 9 sumelîche] eteſlıche̅. 5 grebt. vn̅.
7 florn.
9 vn̅.
10–12 in C 10 an de̅ ich wa̅de er wolde vm/be ere entlıhe̅ ſın gvͦt· dıen kvnbhafte̅ / de̅ dıe rıcher gnde ſchuldıg ſínt· wır ſvln / de̅ arge̅ ıem klage̅· d unſ hıe lat ſín erger / kınt· / 10 Reimpunkt bei entlıhe̅ fehlt 1 sterben: Die hsl. Form kann sowohl regulär als 3. Pl. Konj. Präs. als auch md. bzw. mnd. als 3. Pl. Ind. Präs. verstanden werden (vgl. Mhd. Gram., § M 70 Anm. 9 und Mnd. Gram., § 416, § 419). Ich entscheide mich aufgrund des Ind. in den nachfolgenden Versen dafür, die hsl. Form als md./mnd. 3. Pl. Ind. Präs. zu lesen und normalisiere ſterben > sterbent. schade: ‚Schaden, Verlust, Nachteil, Verderben‘ rât werden: mit Gen. (des) ‚abhelfen, befreien von etwas‘ 2 ir: part. Gen. zu sumelîcher (‚mancher‘) 3 verderben: ‚unnütz werden, zunichtewerden‘, hier eher ‚verschwenden‘ nern: refl. ‚ernähren, nähren‘ 4 in: Wie lauten Numerus und Kasus des Pers.pron.: Akk. Sg. Mask. (‚man sieht ihn zudem Wälder roden, man sieht ihn Felder anlegen‘) oder Dat. Pl. Mask. (‚man sieht ihnen [= für sie] zudem Wälder roden, man sieht ihnen [= für sie] Felder anlegen‘)? Geht man von Mehrzahl aus, würde der Numerus im Übergang von V. 3 zu 4 unverhofft vom Sg. in den Pl. wechseln. Betrachtet man allein (!) V. 3 f., scheint in als Akk. Sg. hingegen sinnvoller, kohärenter aufgrund des Rel.pron. der
HMS 2: I,12 Sch 12
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(Nom. Sg. Mask.). Bezieht man jedoch wiederum V. 5 und 6 mit ein, so scheint der Pl. wahrscheinlicher (Begründung siehe Anm. zu V. 5 in). riuten: ‚reuten, ausreuten, urbar machen, roden‘ 5 in: Versteht man in als Pers.pron. (m. E. handelt es sich hier weder um eine Präp. noch um ein Adv.), schließt dieses (im Gegensatz zu V. 4) den Akk. Sg. aus, da das personale Obj. zu graben eher im Dat. stehen muss, in ist also als Dat. Pl. zu verstehen. Aufgrund des parallelen Satzbaus von V. 4 und 5 gehe ich davon aus, dass in bereits in V. 4 den Dat. Pl. bezeichnet, und übersetze dementspr. in beiden Versen mit ‚ihnen (= für sie)‘. gelt: ‚Bezahlung, Vergütung, Vergeltung, Ersatz‘ wazzer: M. E. sind hier noch allgem. Gewässer und deren Nutzung gemeint; aller wazzer ist Gen.attr. zu gelt. 6 snudelîche: Ich gehe bei hsl. ſnodelíchen von md. Senkung /u/ > /o/ aus, jedoch findet sich weder die hsl. noch die normal. Form in den einschlägigen WB. M. E. handelt es sich um eine Form, die mit adj. snudeleht, snudereht verwandt ist (vgl. HWB snudeleht), das wiederum zum Subst. sniudel, snûdære gehört (vgl. HWB sniudel), das so viel bedeutet wie ‚Schnaufer, alberner oder unverschämter Mensch, Tor‘. Das DWB vermerkt unter dem Lemma schnudelicht (sowie schnudelig, schnudlig, schnuddlig): ‚rotzig, schmierig, unsauber‘. Im vorliegenden Kontext bedeutet snudelîche wohl ‚dreist, (rotz-)frech‘, vielleicht auch etwas allgemeiner ‚schlampig‘. Moser/Müller-Blattau übersetzen mit ‚übermütig‘ (Moser/Müller-Blattau, S. 82). zern: mit Akk. d. S. (schatz) ‚auf-, verzehren, sich nähren von, verbrauchen‘ 7 (der) alten: Die hsl. Lesart alter scheint eine Verschreibung von alten (siehe C) zu sein. Da wê hier mit Gen.attr. steht (vgl. BMZ wê 1., d.), wie der Art. der anzeigt, ändere ich hsl. alter in alten. Von der Hagen und Schönbach folgen der Lesart von C und schreiben dementspr. der alten (vgl. HMS 2, S. 230 und Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 37). 8 verzîen (Kontr. zu verzîhen): mit Akk. d. S. (vil mit Gen.attr. der jungen) ‚abschlagen, versagen‘; gemeint ist, dass viele Junge knausrig sind und ihr Vermögen (im Gegensatz zu den Alten) anderen (z. B. den armen [V. 11]) versagen. 9 vür: hier positiv konnotiert (‚zum besten, für, um‘) 10 lîen (Kontr. zu lîhen): mit Akk. d. S. (ein guot) ‚leihen, auf Borg geben‘
40. Swa herren ſterben daz ıſt ſchade. Des mvͦchte doch wol werden rat.
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Übersetzung Wo auch immer Herren sterben, ist das ein Verlust; dem könnte dennoch sicher [abgeholfen werden, nur dass mancher von ihnen hier einen ganz und gar unnützen Erben [hinterlässt, der Besitz verschwendet, von dem viele anständige Menschen leben sollten. Man sieht, (wie man) für sie zudem Wälder rodet, man sieht, (wie man) für sie [breite Felder anlegt. 5 Man gräbt für sie (nach) Silber und Gold; die Straße und die Vergütung allen [Wassers, das ist ihnen zu Diensten; dabei sieht man sie das Vermögen überaus dreist [aufbrauchen. Weh mir, ach, (dass) die Alten verloren (sind), weil man so viele von den Jungen (ihre Gaben) versagen sieht! Und für immer ach darüber, dass ich zugunsten einiger so viel gebürgt habe! 10 Ich glaubte, dass er um der Ehre willen den Bedürftigen Vermögen leihen würde, denen die reichen Vornehmen Hilfe [schuldig sind! Ich werde den Schlimmen niemals beklagen, der uns hier ein schlimmeres Kind [hinterlässt.
Inhalt II,40 beschäftigt sich mit der selbstsüchtigen Verschwendungssucht junger Erben. Der Spruch setzt ein mit der Feststellung, dass der Verlust von hêrren (V. 1) verschmerzt werden könnte (vgl. V. 11), wenn sie keinen gar unnutzen erben (V. 2) zurücklassen würden. Denn dieser verschwendet den ererbten Besitz, von dem eigentlich vil der guoten liute (V. 3) leben sollten (vgl. V. 3). Der zweite Stollen führt nun Einzelbeispiele für diese Verschwendung an (vgl. V. 4 walde riuten, bûwen breitiu velt) und veranschaulicht zugleich, aus welchen Einnahmequellen sich das Vermögen der Erben zusammensetzt (vgl. V. 5 f. silber unde golt, diu strâze unde aller wazzer gelt, daz dienet in). Und obgleich all diese unterschiedlichen Ressourcen es ermöglichen würden, viele anständige Menschen zu nern (V. 2), verbrauchen die Erben den schatz vil snudelîchen (V. 6). Gerade um diesen Eigennutz und verantwortungslosen Umgang mit dem Eigentum eindringlich zu verdeutlichen, werden die einzelnen Einnahmequellen in den Versen 4 bis 6 so konkret genannt. Die Diskrepanz zwischen dem Zustand, wie er ist, und dem, wie er sein sollte, wird auf diese
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Weise nicht nur besonders eindringlich offenbart, sondern sorgt auch für Empörung über diesen rücksichtslosen Umgang mit dem Erbe. Diese Empörung zeigt sich schließlich im Abgesang, der die Klage über „Begleiterscheinungen“ der nichtsnutzigen Erben beinhaltet. Besonders das Sprecher-Ich tritt dabei hervor. Zunächst wird jedoch in einer Art laudatio temporis acti der Verlust der Alten beklagt (vgl. V. 7) angesichts der Jungen, die sich von Verantwortungsgefühl und einem angemessenen, pflichtbewussten Umgang mit ihrem Vermögen verabschiedet haben. Stattdessen geben sie dieses gedankenlos aus (vgl. V. 3–6) und enthalten es andererseits den armen (V. 11) vor (vgl. V. 8). Ab Vers 9 rückt nun der Sprecher stärker in den Blick. Hier beklagt er sein ganz persönliches Unglück, denn gerade zugunsten derjenigen Herren,519 die nur Nichtsnutze hinterlassen, hat er sich oft ausgesprochen (vgl. V. 9), und in Vers 10 f. wird auch gesagt, warum: ich wânde, daz er wolde umb êre lîen ein guot den armen, den die rîchen edelen helfe schuldec sint! Diese Aussage führt das näher aus, was bereits in Vers 3 angedeutet wird, wenn es heißt, dass sich vil der guoten liute nern [solden]. Der Besitz, der recht umfangreich zu sein scheint, wie die Verse 4 bis 6 zeigen,520 verpflichtet nämlich dazu, sich einerseits um die Menschen zu kümmern, die selbst nicht genug Vermögen besitzen (vgl. V. 8 und 11),521 und andererseits aber auch um diejenigen, die in Form von Rodung des Waldes oder Graben nach Bodenschätzen für den reichen Erben arbeiten (etwa die guoten liute aus V. 3). Da die Erben diesen Verpflichtungen jedoch nicht nachkommen, zieht das Sprecher-Ich die Konsequenz, dass es denjenigen nicht mehr beklagen wird, der uns hie lât ein bœser kint (V. 12), denn bei ihm kann es sich letztlich auch nur um einen bœsen (V. 12) handeln. Die Parallelüberlieferung weist einige entscheidende Varianten auf, die sich nicht unerheblich auf den Inhalt auswirken. Besonders relevant sind folgende Passagen: − Vers 3 ersterben statt verderben: In C lautet der erste Teil des Verses der guot erstirbet, was übersetzt wohl heißt ‚der Besitz erbt‘. Das Lexem ersterben bedeutet in der Regel ‚absterben, sterben‘, es kann allerdings auch ‚durch todes fall kommen, vererben‘ (HWB ersterben) heißen, allerdings steht es in dieser Bedeutung mit Präposition, was im vorliegenden Spruch
519 Die Wiederholung von sumelîche in Vers 9 stellt einen unmissverständlichen Rückbezug zu Vers 2 und den Strophenanfang her. 520 Schönbach meint in der Aufzählung von Vers 4 bis 6 zu erkennen, „daß der Dichter an einen großen Territorialherren denkt“ (Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 38). 521 Vers 11 formuliert dies ganz nachdrücklich: […], den die rîchen helfe schuldec sint.
40. Swa herren ſterben daz ıſt ſchade. Des mvͦchte doch wol werden rat.
−
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jedoch nicht der Fall ist. Nichtsdestotrotz würde ich angesichts des Kontextes eher von der Bedeutung ‚durch Erbschaft erhalten, erben‘ ausgehen. Dadurch erscheint die Lesart in C neutraler, weniger wertend als in J, weil gerade nicht auf die Verschwendung des Erbes abgehoben wird. Vers 6 kleineclîche statt snudelîche: Beide Lexeme sind selten, wobei das HWB unter kleineclîche den vorliegenden Spruch (nach C) als einzige Belegstelle für das Lexem anführt (snudelîche wird in den einschlägigen Wörterbüchern hingegen gar nicht aufgeführt). Interessant an dieser Variante in C ist nun, dass sie nicht die kopflose Verschwendung ankreidet, sondern vielmehr den Geiz der Erben,522 denn, laut HWB, heißt kleineclîche ‚wenig‘, die Jungen verbrauchen ihren Besitz also wenig, obgleich dieser, wie Vers 4 bis 6 veranschaulicht, recht üppig ist. Beide Lesarten beschreiben demnach einen unsachgemäßen Umgang mit Eigentum und Vermögen.
Historischer Hintergrund Schönbach hat die Überlegung angestellt, ob mit dem Gescholtenen Herzog Friedrich II. gemeint sein könnte,523 schränkt aber bzgl. der Deutung auf eine konkrete Person zugleich ein, dass es „kaum möglich sein [wird], […] eine bestimmte Wahl zu treffen“524. Vetter wendet gegen Schönbachs These ein, dass „Herzog Leopold allgemein beliebt [war] und als freigebig bekannt, so daß auf ihn z. 12 nicht gedichtet sein kann“525. M. E. enthält der Spruch schlicht kaum konkrete Indizien, die eine Personenbestimmung erlauben würden, und behandelt mit der Kritik an Geiz und Verschwendungssucht ohnehin eher Allgemeinplätze.
Inhaltliche Ähnlichkeit mit anderen Texten vgl. insgesamt: Jak 5,1–6 vgl. zu Vers 4 bis 6: Freidank 75,24–76,7: Tiuschiu lant sin roubes vol: 522 Hierzu passt dann auch die leicht variierte Version von Vers 12 in C: Statt bœse wurde dort arc gewählt (den argen, sîn erger kint), was sowohl ‚böse, übel‘ als auch ‚geizig, sparsam‘ heißen kann, und vor dem Hintergrund von Vers 6 und 8 wohl eher auf letztere Bedeutung hin ausgerichtet ist. 523 Vgl. Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 39. 524 Ebd., S. 38. 525 Vetter, S. 246.
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gerihte, voget, münze und zol, diu wurden ê durch guot erdâht, nû sint si gar ze roube brâht. swaz ie man guotes ûf geleit, ze bezzern die kristenheit, die hoehesten und die hêrsten, die brechent ez zem êrsten. Die fürsten twingent mit gewalt velt, stein, wazzer unde walt, dar zuo beidiu wilt unde zam; (Spiewok, S. 66) vgl. zu Vers 7 f.: Walther L 23,26 (hier V. 10 f.): die jungen hânt die alten sô verdrungen und spottent alse dar der alten (Schweikle: Walther, Bd. 1, S. 254) vgl. zu Vers 12: Walther L 23,11 (hier V. 4 f. und 9): die nû ze vollen bœse sint, gewinnent die noch bœser kint, (V. 4 f.); sam des bœsen bœser barn. (V. 9) (Schweikle: Walther, Bd. 1, S. 252)
Metrik A A A A 5 A A A A A 10 A A A
8ma 8ma 8mb 8mc 8mc 8mb 4md 6ke 8md 6ke 8mf 8mf
Swâ herren stérbent, dáz ist scháde; des mhte dóch wol wérden rat,
man grébet in sílber únde gólt; diu strazẹ undẹ áller wázzer gélt, sô we mir, we der álten verlórn,
woldẹ ein gúot den ármen, dén die rchen édelen hélfe schúldec sínt! ich wíl den bœ́sen níemer klágen, der úns hie lat ein bœ́ser kínt.
Literatur Gerdes: Beiträge, S. 92, 94, 176 und Anm. 4, 177 und Anm. 5, 179 und Anm. 4, 181 und Anm. 9, 184 Anm. 1, 185, 186 f., 197 • HMS 4, S. 521 • Kemetmüller, S. 30 f., 64, 67, 212 f. • Lamey, S. 7 • Leitzmann, S. 162 • Moser/Müller-Blattau, S. 79 f., 81 f. • Müller: politische Lyrik, S. 102 • Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 37–39 • Scholz: Reichsidee, S. 87 • Vetter, S. 246.
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41. So ſıch der lıb vuͦr wandelt hıe vnd daz dıe ſele von vns vert. (J40 N) So ſıch der lıb vuͦ r wandelt hıe vnd daz dıe ſele von vns vert. Vnde ſıe nícht hat des ſıe bedarb we daz der werlt ıe was / beſchert. Svlıch angıſt vnde ſulhe tzvͦ vuͦ r ſıcht man wol bedenken ſol Dıu werlt ín kranker vuͦ re lebet ſwer ez tze / rechte ır kennen kan. 5 Wıe ſıe nach tode lonet ẏn den daz guͦ t wıder erbet an. We daz dıv ſele nícht ſıppe hat. des wırt díe / helle leıder vol Nach tode ır nẏeman phlegen wıl. Sıen achten nícht den wíe ſıez guͦ t geteılen Dıe hette wılen do / ſıe lebte mage vnde vrıvnde vıl. 10 Wa ſẏnt ſıe nv dıe ſıe vuͦ r ſere heẏlen Er ıſt geſchen als uns geſcıcht wır borgen of / den leſten tac. Vnde ſetzen hıe dıe hohen phant dıe neman dort geloſen mac.
41. So ſıch der lıb vuͦr wandelt hıe vnd daz dıe ſele von vns vert.
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Sô sich der lîp verwandelt hie unt daz diu sêle von uns vert unde sie niht hât, des sie bedarf – wê, daz der werlt ie was beschert. solich angest unde solhe zuoversiht man wol bedenken sol! diu werlt in kranker vuore lebet, swer ez ze rehte erkennen kan: 5 wie sie nâch tôde lônet in, den daz guot wider erbet an! wê, daz diu sêle niht sippe hât, des wirt diu helle leider vol: nâch tôde ir nieman phlegen wil. sien ahtent niht, dan wie siez guot geteilent. diu hâte wîlen, dô sie lebte, mâge unde vriunde vil. 10 wâ sint sie nû, die sie vür sêre heilent? ir ist geschên, als uns geschiht: wir borgen ûf den lesten tac unde setzen hie diu hôhen phant, diu nieman dort gelœsen mac.
40N J, 32 [32] C, hsl. wurde Nr. 32 zweimal vergeben (C32 ist unikal, C32a entspricht J40N), wodurch die zuvor gestörte hsl. Strophenzählung wieder korrekt ist 1 hie] hat. daz] ſo. 2 hât, des] weıs wes. was] wart. 3 solhe] duͥ. man wol] d me̅ſche. 4 kranker] valſcher. ez] ſı. 5 in, den] dıe. (guot) hıe. 6 leider fehlt. 7 (nâch) dem. 8 sien ahtent] ſuͥ gahe̅. dan] wa̅. 9 ſı hete̅ wıle̅t do ſı lebte̅ mage vn̅ oͮch d fruͥnde vıl. 10 vür] vo̅. 11 ir] ın. borgen] ſpare̅ vnz. 12 unde] ſo. (setzen) wır. gelœsen] erloͤſen. 2 vn̅.
3 ſolh. vn̅.
4 lebt. 8 ſı dc.
11 geſchehe̅.
2 daz: Schönbach geht von Konjunktion aus und ergänzt enklitisch ‑s bei daz (vgl. Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 42), was vermutlich für die sêle stehen soll. M. E. ist daz hier jedoch nicht Konjunktion, sondern Pron. In Verbindung mit beschern könnte man daz mit ‚Schicksal‘ übersetzen. der werlt: Ich gehe davon aus, dass die Dat. Sg.endg. auf ‑e bereits hsl. aufgrund des Hiats (werldẹ ie) ausgefallen ist. Allerdings könnte es sich hier auch schlicht um die einsilbige Form des Dat. Sg. handeln (zur Konkurrenz von ein- und zweisilbigem Fem. vgl. Mhd. Gram., § M 19). was (beschert): In Anlehnung an die Lesart in C, in der es wart statt was heißt, übersetze ich ‚verhängt wurde‘ statt ‚verhängt war‘. 3 angest: Entspricht noch nicht unmittelbar nhd. ‚Angst‘, sondern beschreibt vielmehr „den zustand, in dem man sich von noth und gefahr umringt sieht“ (BMZ angest), also ‚Bedrängnis‘. zuoversiht: ‚gewisse Erwartung (von etwas Gutem oder Bösem), Hoffnung, Zuversicht‘; angesichts des warnenden Tonfalls von V. 3 bezieht sich zuoversiht – zusammen mit der angest – wohl eher auf das, was zu erwarten ist, nämlich etwas Unheilvolles. Ich neige zu einer etwas freieren Übersetzung ‚Aussichten‘ (vgl. dazu auch Gerdes: Beiträge, S. 108). 5 lônen: mit Dat. d. P. (in, den = Dat. Pl.); Schönbach ändert ohne Hinweis oder Begründung lônet zu lônent ab und übersetzt den Vers mit „an die der Besitz im Erbgang kommt, wie lohnen sie das ihren Vorgängern!“ (Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 43), was zwar vor dem Hintergrund der nachfolgen-
HMS 2: I,15 Sch 15
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den Verse kontextuell Sinn ergibt, aber in dieser Lesart weder in J noch in C überliefert ist: Beide Handschriften schreiben 3. Sg. Ind. Präs. lônet. Auch Vetter weist darauf hin: „2 ff. braucht man nicht so stark wie Sch. von C abzuweichen“ (Vetter, S. 247). wider: ‚wider, zurück‘, wörtlich also ‚(denen der Besitz) zurückgeerbt wird‘ ane erben: eigentlich ‚erben‘, ich übersetze freier ‚übergehen an‘ 6 hân: eigentlich ‚haben, besitzen‘, freier ‚kennen‘ 9 hân: Hsl. hette ist eine eher md. Form (vgl. Mhd. Gram., § M 113 Anm. 3 und 4). 10 heilen: ‚gesund machen, heilen; erretten‘ 11 borgen: mit ûf ‚vertrauen auf‘ oder ‚warten auf‘ der leste tac: ‚der Jüngste Tag‘, lest ist Superl. zu laz 12 setzen: hier ‚(ein-)setzen, hinterlegen‘
41. So ſıch der lıb vuͦr wandelt hıe vnd daz dıe ſele von vns vert.
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Übersetzung So, (wie) sich der Körper hier verwandelt, und dass die Seele von uns geht und sie nicht hat, was sie benötigt – ach, (dieses Schicksal) wurde von jeher [über die Welt verhängt. Solche Bedrängnis und solche Aussichten möge man genau bedenken! Die Welt lebt auf schlechte Art und Weise, wer auch immer in der Lage ist, es [richtig zu erkennen: 5 Wie sie nach dem Tod diejenigen belohnt, an die der Besitz übergeht! Ach, dass die Seele keine Verwandtschaft kennt, deswegen wird die Hölle leider [voll: Nach dem Tod will sich niemand ihrer annehmen. Sie [= die Erben] kümmert nichts, außer wie sie den Besitz aufteilen. Sie [= die Seele] hatte früher, als sie lebte, viele Verwandte und Freunde. 10 Wo sind sie jetzt, die sie vor Qual retten? Ihr ist widerfahren, was uns widerfährt: Wir vertrauen auf den Jüngsten Tag und hinterlegen hier die hohen Pfänder, die dort niemand auszulösen vermag.
Inhalt Der Spruch behandelt Bruder Wernhers zentrales Thema: das Verhältnis von Dies- und Jenseits. Dabei stehen zwei verschiedene Themenfelder im Fokus, die sich gegenseitig bedingen bzw. aufeinander aufbauen: Zunächst wird die unzureichende Vorbereitung der Seele auf das Jenseits thematisiert (vgl. V. 1 f.) und dazu aufgefordert bzw. ermahnt, solich angest unde solich zuoversiht genau zu bedenken (vgl. V. 3). Da die Seele nun angesichts eines wenig umsichtigen Lebensstils im Jenseits mit dem Schlimmsten rechnen muss, ist sie umso abhängiger davon, dass ihre Hinterbliebenen auf Erden für sie und ihr Heil beten mögen. Und hier knüpft nun der zweite Schwerpunkt des Spruches an: Das, was die Seele so dringend bräuchte, um gerettet zu werden, nämlich die sippe (V. 6) und deren Fürbitten, hat sie nicht (vgl. V. 6),526 es ist 526 Schönbach versteht Vers 6 differenzierter: „Verwandtschaft wird hier nur körperlich genommen […], nicht geistig, wie die Kirche sie für die Patenschaft postuliert. Demnach fehlt den Seelen eine Verwandtschaft, die nach dem Tode der Leiber imstande wäre, ihnen im Jenseits behilflich zu sein. Das ist aber gemäß der kirchlichen Lehre bloß dann möglich, wenn die Seele nur ins Fegefeuer gekommen ist, nicht aber in die Hölle, wie V. 6 besagt: aus deren Schmerzen (V. 10) kann keine Fürbitte, kein gutes Werk befreien. Wernher befindet sich hier im Banne volkstümlicher Vorstellungen, vermengt Hölle und Fegefeuer“ (Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 43). Ich folge eher Gerdes’ Auslegung der Passage: „Will man nicht mit Schönbach annehmen, daß Wernher das Fegefeuer mit der Hölle gleichsetzt, aus deren
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niemand da, der nach dem Tod für sie betet (vgl. V. 7).527 Stattdessen hat die Verwandtschaft nichts anderes im Sinn, als die Frage, wie das Erbe aufgeteilt werden soll (vgl. V. 8). Die sippe bzw. die Erben werden insofern recht negativ abgebildet und vorrangig in ihrer Gier nach dem irdischen Besitz beschrieben, wie schon der zweite Stollen zeigt: Vers 5 weist angesichts des Kontextes in makaberem Tonfall darauf hin, wie die Welt den Erben lônet, nämlich durch das guot, das er erhält, und zugleich bereitet Vers 5 Vers 8 vor, in welchem es schließlich um die Aufteilung des Erbes geht. Vers 4 wiederum veranschaulicht den Werte- und Moralverfall der Welt (vgl. V. 4 diu werlt in kranker vuore lebet), auf den dann Vers 6 anspielt, denn das Zusammenspiel aus schlechtem Lebenswandel vor dem Ableben und unfürsorglicher Verwandtschaft nach dem Tod führt letztlich dazu, dass diu helle leider vol [wirt] (V. 6). Diese Aussage beinhaltet zweierlei Dinge: Einerseits wird unmissverständlich festgehalten, wo die Seele enden wird in Anbetracht der vorliegenden Umstände, nämlich in der Hölle (oder im Fegefeuer), andererseits impliziert das Adjektiv vol das Ausmaß dieser unguten Entwicklung: Die kranke[r] vuore der Welt (vgl. V. 4) offenbart sich also in letzter Konsequenz durch die „übervolle“ Hölle. Der Spruch endet dementsprechend mit dem Hinweis, dass die Menschen (vgl. V. 11 wir – der Spruchdichter inkludiert sich ausdrücklich) Zeit ihres Lebens (vgl. V. 12 hie) kopflos und unbekümmert sind (vgl. V. 11 wir borgen ûf den lesten tac) und so viel Schuld anhäufen (vgl. V. 12 setzen hie diu hôhen phant), ohne dass sie diese im Jenseits (vgl. V. 12 dort) jemals begleichen könnten (vgl. V. 12 die Pfänder dort gelœsen).528 Auch in diesem Spruch mahnt Bruder Wernher also dazu, das Leben auf höhere „Güter“ auszurichten als nur auf Besitz und materielle Dinge, und zwar aus zweierlei Gründen: Zum einen wird ein unmoralisches Leben dazu führen, dass die Seele in die Hölle fährt – eine Warnung an das Publikum –, zum anderen trägt eine derart materialistische, kurzsichtige Lebensweise auch nicht zur Rettung der Seele verstorbener Angehöriger bei, man riskiert also nicht nur das eigene Seelenheil, sondern auch das der Verstorbenen.
Schmerzen keine Fürbitte befreien kann, so ist die Seele als im Fegefeuer befindlich zu denken, wäre demnach entweder aus der Qual des Fegefeuers oder vor der Pein der Hölle zu retten.“ (Gerdes: Beiträge, S. 109) 527 Besonders eindringlich wird die Diskrepanz zwischen dem Verhalten der Freunde und Verwandten zu Lebzeiten und demjenigen nach dem Tod in Vers 9 f. in der Frageform dargestellt. 528 Vgl. zu Vers 12 den nahezu identischen Wortlaut von II,22,12 nach der Lesart von C: wir setzen hie diu hôhe phant, diu nieman dort erlœsen mac (vgl. Anm. 303). Zum Gebrauch von phant vgl. außerdem II,20,4, wo der Körper das Pfand ist, das auf Erden zurückgelassen wird, und VI,70,6, wo die Wahrheit als Pfand dient.
41. So ſıch der lıb vuͦr wandelt hıe vnd daz dıe ſele von vns vert.
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Die Parallelüberlieferung enthält, abgesehen von inhaltlich eher unwesentlichen Unterschieden, einige Varianten, auf die hingewiesen werden sollte: Zunächst einmal heißt es in Vers 2 weiz (, wes) statt hât (, des). Die Lesart von J erscheint inhaltlich dramatischer, denn niht hât (= J) impliziert, dass die Seele nicht das vorweisen kann, was sie braucht, um in den Himmel zu kommen; sie hätte demnach bewusst und wider besseres Wissen gehandelt. In C hingegen besagt niht weiz lediglich, dass die Seele es wohl tatsächlich nicht besser wusste. Ebenfalls erwähnenswert ist die Varianz des Numerus in Vers 9 f.: Während in J nur von einer Seele die Rede ist, wechselt C in den Plural (vgl. V. 9 in C: sie heten, sie lebeten) und spricht von mehreren. Hier knüpft Vers 11 an, der in statt ir schreibt.529 Schließlich noch sparen (unz ûf ) statt borgen (ûf ) in Vers 11: Der Bedeutungsunterschied erscheint eigentlich eher unwesentlich, allerdings stellt sich die Frage, ob C (wir sparen unz ûf ) ganz wörtlich zu verstehen ist und tatsächlich Geld (oder andere Besitztümer) gespart wird? In welchem Zusammenhang stünden dann diu hôhen phant dazu? Wenn Geld gespart werden kann, ist es offensichtlich vorhanden, wieso sollten dann noch Pfänder hinterlegt, also (finanzielle) Schulden gemacht werden? Oder ist das zu wörtlich gedacht?
Historischer Hintergrund Meyer und Doerks haben sich dazu verleiten lassen, II,41 in „Wernhers höher[es] Alter“530 zu verlegen, denn „Besorgnis um das Seelenheil und der Gedanke an das jüngste Gericht liegen dem Greise näher, als dem Manne oder Jünglinge“531. Schönbach hat dieser Ansicht aufgrund mangelnder Indizien zu Recht widersprochen.532
Metrik A8ma 2A 8 m a 8mb A8mc
unde síe niht hat, des síe bedárf – wê, dáz der wérlt ie wás beschért. sólich ángest undẹ sólhe zúoversìht man wól bedénken sól! diu wérlt in kránker vúore lébet, swer éz ze réhtẹ erkénnen kén:
529 Gerdes interpretiert diesen Wechsel dergestalt, dass in C nun nicht mehr von der Seele, sondern von den Toten gesprochen werde. Vgl. Gerdes: Beiträge, S. 110. 530 Meyer, S. 105. 531 Doerks, S. 11. 532 Vgl. Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 43.
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A8mc A8mb A4md A6ke A8md 10 A 6 k e A8mf 2A 8 m f
Ton II, Korpus in J
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wê, dáz diu sele niht síppe hat, des wírt diu hélle léider vól: tôdẹ
unde sétzen híe diu hohen phánt, diu níeman dórt gelœ́sen mác.
Literatur Doerks, S. 11 • Gerdes: Beiträge, S. 91 Anm. 5, 96, 104, 107–110, 179 und Anm. 6, 181 und Anm. 4, 183 und Anm. 4 • Kemetmüller, S. 32 f., 41, 213 f. • Lamey, S. 8, 35, 37, 38 • Leitzmann, S. 160, 162 • Meyer, S. 105 • Moser/Müller-Blattau, S. 80, 82 • Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 42 f. • Vetter, S. 247.
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42. Da ıch eín lob ır nuwen ſol. daz ane dach ſo manígen tac. (J41 N, U) Da ıch eín lob ır nuwen ſol. daz ane dach ſo manígen tac. Geſtanden ıſt vnde ane bant. ía wen ıch ez eman rechte mac gerıchten alſ ob ſẏn / von ıvgent mẏt vlıze were vıl ſchone gephlogen Da ẏm dıe ſule ſín worden vul. Vnde daz dıe rennen ſínt vntzweẏ. 5 Vnd ez dıv ſcande / durch vlozzen hat da ſtet mẏn blıcken vuͦ r eẏn eẏ. ſwaz ıch ẏm nuwer nagele ſla wır ſín da míte doch gar betrogen So touch ez tzvͦ / ganzer ſtete nícht. da man ſıe ſol tzvͦ hohen eren phlıchten Den man von ıvgent vnz an ſín alter ẏmmer ín houbet ſchanden ſıcht. 10 Wıe / mvͦchte ıch den ín eren werche rıchten Vuͦ r war ſo ſult ır wızzen daz ez ſínt vuͦ r ſcamter koche kínt. Vnde ſcameloser mvͦter barn. / Dıe an tugenden ſo vuͦ r weıſet ſynt.
6 bei ſwaz scheint ursprünglich Majuskel 〈S〉 gestanden zu haben, die radiert wurde
42. Da ıch eín lob ır nuwen ſol. daz ane dach ſo manígen tac.
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Dâ ich ein lop erniuwen sol, daz âne dach sô manegen tac gestanden ist unde âne bant, jâ, wæn ich, ez ieman rehte mac gerihten, als ob sîn von jugent mit vlîze wære vil schône gephlogen. dâ im die siule sint worden vûl unde daz die rinnen sint enzwei 5 und ez diu schande durchvlozzen hât, dâ stêt mîn vlicken vür ein ei: swaz ich im niuwer nagele slâ, wir sint dâ mite doch gar betrogen. sô touc ez ze ganzer stæte niht, dâ man sie sol ze hôhen êren phlihten. den man von jugent unz an sîn alter iemer in houbetschanden siht, 10 wie möhte ich den in êren werke rihten? vür wâr, sô sult ir wizzen, daz ez sint verschamter koche kint unde schamelôser müeter barn, die an tugenden sô verweiset sint.
41N J 2 bant: hier ‚Querbalken‘, das Lexem ist in dieser Bedeutung lediglich im HWB belegt (mit Hinweis auf swV. verbanden: ‚mit Querbalken versehen‘) ieman: hier mit negativer Bedeutung (vgl. Mhd. Gram., § S 129) 3 rihten: Laut BMZ kommen mit Akk. d. S., „fast alle Bedeutungen des wortes in anwendung, stets mit grundlegung der ursprünglichen“ (BMZ rihte, III.). Diese ursprüngliche Bedeutung lautet ‚in rihte bringen, in rihte halten‘, hier so viel wie ‚zurecht- und fertig machen, er-, ein-, herrichten‘. sîn: Objektsgen. zu phlegen 4 rinne: ‚Dachtraufe, ‑rinne‘, aber auch ‚Wasserleitung, ‑rinne, ‑röhre‘, aufgrund des Pl. von rinne und enzwei wähle ich die zweite Variante. 5 vlicken: subst. ‚flicken, ausbessern‘ vür ein ei stên: Bildlich ‚das Geringste‘, dient also dazu, etwas Wertloses zu bezeichnen und insofern zur Verstärkung der Negation (zum bildlichen Ausdruck der Negation vgl. Mhd. Gram, § S 143, hier S. 389); ich drücke die Umschreibung durch eine vgl.bare nhd. Wendung aus. 6 slân (Kontr. zu slahen): Der Hauptsatz lautet wörtlich übersetzt ‚wir sind daran doch ganz und gar betrogen‘ und soll zum Ausdruck bringen, dass auch neue Nägel völlig nutzlos sind. Ich übersetze freier, um diese Bedeutung klarer wiederzugeben. 7 ganz: hier eher ‚unverbrüchlich‘ 8 Der Vers bezieht sich wohl auf die stæte in V. 7. 9 houbetschande: ‚Hauptschande, große Schande‘ 10 rihten: hier mit Akk. d. P. (den) und Präp. in ‚unterweisen, anweisen‘ 12 barn: ‚das Kind, sei es Sohn oder Tochter, in Beziehung auf den Vater oder die Mutter‘; Schönbach übersetzt die Formulierung schamelôser müeter barn mit „Hurenkinder“ (Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 64), was zwar etwas frei, aber kontextuell wohl treffend ist. verweisen: mit Präp. an ‚zum/zur Waisen werden, verwaisen‘, wörtlich ‚die mit Blick auf die Sittsamkeit derart verwaist sind‘, ich übersetze freier
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Übersetzung Dort, wo ich ein Lob erneuern soll, das so manchen Tag ohne Dach und ohne Querbalken dagestanden hat, fürwahr, so glaube ich, es kann [niemand (wieder) richtig herrichten, als wenn es von seiner Jugend an mit Sorgfalt sehr anständig [gepflegt worden wäre. Dort, wo an ihm die Pfosten faul geworden und die Wasserrohre auseinander[gebrochen sind 5 und die Schande (durch das Haus) hindurchgeflossen ist, da hilft mein [Ausbessern nicht die Bohne: Was auch immer ich ihm an neuen Nägeln einschlage, das ist doch ganz und gar [umsonst! Auf diese Art taugt es nicht für unverbrüchliche Dauer, wo man sie diese zu hohen Ehren verpflichten soll. Denjenigen, den man von Jugend an bis (ins) Alter stets in größter Schande [(leben) sieht, 10 wie könnte ich den in ehrenhaftem Handeln unterweisen? Wahrlich sollt ihr wissen, dass es die Kinder schamloser Köche und die Kinder schamloser Mütter sind, die keine Sittsamkeit besitzen!
Inhalt II,42 erinnert in der Wahl seiner Metaphorik aus dem Bereich des Hausbaus stark an II,37. Besonders die Wiederholung der Formulierung âne dach (hier V. 1, in II,37 V. 7) deutet auf eine Beziehung der beiden Sprüche hin. Doch dazu weiter unten mehr. Im Unterschied zu II,37 dient die Baumetaphorik im vorliegenden Spruch (V. 1–6) dazu, den Vorgang des Dichtens durch den Vergleich mit der Arbeit eines Baumeisters zu veranschaulichen. Besonders deutlich wird dies in den Versen 1, 5 und 6, in denen sich das Ich unmittelbar als Handwerker inszeniert (V. 1 Dâ ich ein lop erniuwen sol, V. 5 mîn vlicken, V. 6 swaz ich im niuwer nagele slâ).533 Im Zentrum dieses Spruches steht ein lop (V. 1), das der Sprecher erniuwen soll (vgl. V. 1), was aber angesichts des verheerenden Zustands, indem sich das Lob (bzw. die zu lobende Person) befindet, nahezu unmöglich ist. Ähnlich
533 Vgl. zu dem Autorkonzept des ,Dichter-Handwerkers‘ Anm. 478.
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einem Haus, das manegen tac (V. 1) ohne Dach und Querbalken dagestanden hat (vgl. V. 1 f.), ist auch bei einem Lob, das vergleichbar schlecht gepflegt wurde, nicht mehr viel zu retten, denn auch das Haus vermag niemand wieder vernünftig herzurichten (vgl. V. 2 f.), selbst wenn man sich von jugent mit vlîze anständig darum gekümmert hätte (vgl. V. 3). Der zweite Stollen führt die „Beweiskette“ für den Verfall des Hauses (bzw. des Lobs) fort, indem auf die morschen Pfosten und die defekten Wasserrohre hingewiesen wird (vgl. V. 6). Das Haus ist somit durch und durch baufällig. Und kein Wunder, immerhin [hât] ez diu schande durchvlozzen (V. 5) – wörtliche und übertragene Ebene vermischen sich hier ähnlich wie in Vers 1 –, so dass auch das Flickwerk des Sprechers absolut nutzlos ist (vgl. V. 5): Was auch immer er an neuen Nägeln hineinschlägt, es hilft nichts, ganz im Gegenteil, die Menschen werden durch die vermeintlichen Ausbesserungen geblendet und getäuscht (vgl. V. 7).534 Mit Einsetzen des Abgesangs geht der Spruch von der übertragenen Sprechweise im Rahmen der Hausbaumetaphorik über in eine unmittelbare Benennung des Gemeinten. Tatsächlich geht es ja nicht um die fragwürdige Sanierung eines Gebäudes, sondern um die eines Lobs. Und dementsprechend führt der Abgesang nun einzelne „Bauteile“ an, die für die „Haltbarkeit“ des Lobs unabdingbar sind, nämlich stæte (V. 7) und deren unmittelbare Verknüpfung mit hôhen êren (V. 8). Immerhin nützt die Beständigkeit eines Lobs nichts, wenn dieses nicht positiv gefüllt ist. Wird z. B. die List eines Menschen gelobt, so ist dies zwar ein Lob, aber inhaltlich doch eher zweifelhaft (natürlich immer abhängig vom Standpunkt des Betrachters), bezieht sich das Lob jedoch auf das hohe Ansehen einer Person, ist es auch inhaltlich positiv konnotiert. Neben der stæte und den hôhen êren, den „tragenden Wänden“ des Lobs, wird auf der anderen Seite aber auch der „Hauptschadstoff“ genannt, der das Lob angreift und zersetzt, nämlich die houbetschanden (V. 9), von denen in abgeschwächter Form bereits in Vers 5 die Rede war. Ähnlich wie das Haus, das tagaus, tagein ohne Dach und Querbalken dasteht und nicht wieder hergerichtet werden kann (vgl. V. 1–3), ist auch dem Lob bzw. dem zu Lobenden (vgl. V. 9 f. den) durch Unterweisung in êren werke nicht zu helfen (vgl. V. 10), wenn
534 Besonders auffällig ist Bruder Wernhers Verwendung der Nägel, die eingeschlagen werden: Hier ist diese Aussage positiv konnotiert, da die Nägel als Ausbesserung des heruntergekommenen Hauses (bzw. Lobs) zu verstehen sind, in IV,58 (v. a. V. 1 und 7 f.) hingegen werden Nägel (bzw. das Verb [ver-]nagelen) und Lob ebenfalls zusammen verwendet, allerdings ist das Bild des vernagelten Lobs (vgl. V. 1) in diesem Fall negativ gemeint, denn die Nägel sind keine „Sanierungsmaßnahme“, sondern sie sorgen überhaupt erst dafür, dass das Lob bzw. das Ansehen der betroffenen Person bedeutungslos wird.
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man ihn von jugent unz an sîn alter iemer in houbetschanden siht (V. 9).535 Auf dieses von Kindheit an verkommene Wesen spielen in den beiden bilanzierenden Schlussversen die Formulierungen verschamter koche kint (V. 11) und schamelôser müeter barn (V. 12) an, die beide an tugenden sô verweiset sint (V. 12). Warum ausgerechnet der koch und dessen Nachkommen als Negativbeispiel herhalten muss, erklärt sich evtl. aus dem Gebrauch von koch in koch in der hell, was als Umschreibung für den Teufel dient und dementsprechend negativ aufgeladen ist.536 Schönbach führt außerdem an, „daß im Mittelalter Köche und Küchenknechte sehr niedrig in Geltung standen“537. Abschließend sei noch auf die z. T. variierende Sprechperspektive aufmerksam gemacht: Grundsätzlich ist der Spruch geprägt von einem Sprecher, der sich regelmäßig in der 1. Sg. einschaltet (ich: V. 1, 2, 6, 10, mîn: V. 5). Darüber hinaus spricht das Ich jedoch in Vers 6 gleichzeitig auch aus der Gemeinschaft heraus (wir), und zwar genau an der Stelle, an der davon die Rede ist, dass die Gesellschaft von den nutzlosen „Flickversuchen“ in die Irre geführt (betrogen) wird. Mit der 1. Pl. signalisiert der Sprecher, dass auch er Leidtragender der negativen Entwicklung ist. Parallel zur „persönlichen“ und „kollektiven“ Sprechweise, die darauf hindeutet, dass der Übergang zwischen „Ich“ und „Wir“ durchlässig ist, beide im Grunde Teil eines Ganzen sind, stellt sich diesem Befund die Apostrophe in Vers 11 entgegen: sô sult ir wizzen. Der Sprecher fällt hier, am Strophenende, dem klassischen Ort für eine verallgemeinernde Sentenz oder einen belehrenden Ratschlag, heraus aus dem persönlichen Tonfall der vorausgegangenen Verse (er tritt nicht mehr unmittelbar durch Personalpronomen hervor) und wechselt stattdessen in eine eher außerhalb des Geschehens stehende, belehrende Sprechweise, wodurch er sich selbst nicht in den Kreis der zu Belehrenden einschließt, lediglich das Publikum (V. 11 ir) ist gemeint. Der Spruch stellt sich insgesamt überaus bildhaft und anschaulich dar – seien es die Anleihen aus dem Bereich des Hausbaus, die Vorstellung der sich beinahe materialisierenden schande, die das Haus durchvliuzet (vgl. V. 5), oder die Wendung (dâ stêt mîn vlicken) vür ein ei (V. 5) als bildliches Ausdrucksmit-
535 Die Frageform in Vers 9 f. impliziert übrigens, dass der Sprecher sich „in Unschuld wäscht“. Er fühlt sich nicht verantwortlich für die Verkommenheit des Angesprochenen, denn, wie er bereits in Vers 5 gesagt hat, selbst sein vlicken [stêt] vür ein ei – alles, was er sagen und tun könnte, würde am heruntergekommenen Ruf des Anderen auch nichts ändern, sondern vielmehr Blendwerk gleichkommen. Vgl. zu einer „Theorie des Lobs“ Gerdes: Beiträge, S. 158. 536 Vgl. HWB koch und DWB Koch. 537 Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 64.
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tel des Negierens – grundsätzlich scheint Bruder Wernher um ein Höchstmaß an Plastizität bemüht.
Historischer Hintergrund Aufgrund der inhaltlichen und wörtlichen Ähnlichkeiten zwischen II,37 und II,42 scheint eine Verbindung beider Sprüche nahezuliegen,538 allerdings ist Meyer sowie Schönbach wohl zuzustimmen, dass gerade die beiden Schlussverse (verschamter koche kint unde schamelôser müeter barn) gegen eine Deutung auf Herzog Friedrich II. sprechen, wie sie für II,37 naheliegt.539 Schönbach versucht die Parallelen beider Sprüche damit zu erklären, dass Wernher von einem nicht näher bekannten Herrn darum gebeten wird, dessen schlechten Ruf durch lobenden Gesang aufzubessern, was vom Dichter jedoch abgelehnt wird. „Er kleidet das, wohl nur auf eine zufällige Assoziation durch das Gedächtnis hin, in das Gleichnis von dem schlecht gebauten Hause […].“540 Die Ähnlichkeiten wären demnach als Bestandteil von Wernhers „Themenfundus“ zu verstehen, aus dem nach Bedarf geschöpft wird.
Inhaltliche Ähnlichkeit mit anderen Texten vgl. evtl. zu Vers 2 f.: Walther L 101,23 (hier V. 2): sît nieman dich gerihten mac. (Schweikle: Walther, Bd. 1, S. 226) vgl. zu Vers 1 bis 6: Walther L 24,33 (hier V. 10): mîn dach ist fûl, sô rîsent mîne wende, (Schweikle: Walther, Bd. 1, S. 236) Freidank 170,18 f.: het ich ein hûs für ungemach, dem lieze ich selten fûlen ’z dach (Spiewok, S. 146) vgl. zu Vers 6: Walther L 12,30 (hier V. 8): an welcher rede wir sn betrogen, (Schweikle: Walther, Bd. 1, S. 112)
538 Diese Position vertreten Doerks (vgl. S. 8) und Bartsch (vgl. Liederdichter, zweite Anm. auf S. 227). 539 Vgl. Meyer, S. 97 (für ihn spricht außerdem Vers 9 gegen „den bei seinem Tode verhältnismässig noch jungen Herzog“, S. 96 f.), Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 63 und darüber hinaus HMS 4, S. 521 und Gerdes: Beiträge, S. 23 und Anm. 6. 540 Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 63.
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Metrik A8ma A8ma A 8 2m b A8mc 5 A8mc A 8 2m b A4md A6ke A8md 10 A 6 k e A8mf 2A 8 m f
Dâ ích ein lóp erníuwen sól, daz ane dách sô mánegen tác gestánden íst undẹ ane bánt, jâ, wǽn ich, ez íeman réhte mác geríhten, áls ob sn von júgent mit vlze wǽre vil schone gephlógen. dâ ím die síule sint wórden vul unde dáz die rínnen sínt enzwéi und éz diu schánde durchvlózzen hat, dâ stet mîn vlícken vr ein éi: swaz ích im níuwer nágele sla, wir sínt dâ míte doch gár betrógen. sô tóuc ez ze gánzer stǽte níht, den mán von júgent unz án sîn álter íemer in hóubetschánden síht, möhtẹ unde schámeloser meter bárn, die an túgenden so verwéiset sínt.
Literatur Doerks, S. 8 • Gerdes: Beiträge, S. 23 und Anm. 6, 96 und Anm. 2, 98 Anm. 3, 156 und Anm. 3, 157 f., 168 Anm. 2, 174 und Anm. 1, 176 und Anm. 4, 177 und Anm. 1, 179 und Anm. 5, 181 und Anm. 5, 197, 202 und Anm. 1 • HMS 4, S. 521 • Kemetmüller, S. 5, 7, 13, 25, 74, 232 f. • Leitzmann, S. 164 • Meyer, S. 96 f. • Moser/Müller-Blattau, S. 80, 82 • Müller: politische Lyrik, S. 102 • Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 62–64 • Vetter, S. 263 • Yao, S. 154.
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43. Ez wolte eẏn affe vber eẏnen ſe. do kvnder wol geſwẏmmen nícht. (J42 N, U) Ez wolte eẏn affe vber eẏnen ſe. do kvnder wol geſwẏmmen nícht. her bat eẏne ſchorpen daz ſıe ẏn vuͦ rte als dıe abentıvre / gıcht. Ez ſatz ín of díe bulen ſẏn vnde vuͦ rt ín verre ín den tích. Do her quam mítten of den wach. Ez ſprach ıch wıl tzvͦ / grvnde gan. 5 Dvne gebıſt mẏr daz hertze dín oder ıch wıl dıch ır trínken lan. Der affe bot ẏm vuͦ r daz herzte ſíne lıde gar / gelıch Ez en wolte nícht wen daz hertze ſẏn. Daz ſchorpe vloz dem lande eẏn teıl tzvͦ nahe Der affe ſpranc vnz an daz / lant dar vmme quam dıe ſchorpe ín pẏn. 10 Daz ſult ır vuͦ r eẏn bıſpıl ouch vurfan Der keıſer der ıſt komen vz vnde ıſt / geſprvngen an den ſtat. Jr mete gerenden ſchorpelín her tuͦ t vch dar vmme an ſelde̅ mat.
43. Ez wolte ey˙n affe vber ey˙nen ſe. do kvnder wol geſwy˙mmen nícht.
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Ez wolde ein affe über einen sê, dô kunder wol geswimmen niht. er bat eine schorpen, daz sie in vuorte, als diu âventiure giht. ez sazt in ûf die bulen sîn unde vuort in verre in den tîch. dô er kam mitten ûf den wâc, ez sprach: ,ich wil ze grunde gân. 5 dûne gebest mir daz herze dîn oder ich wil dich ertrinken lân.ʻ der affe bôt im vür daz herze sîne lide gar gelîch, ez enwolde niht wan daz herze sîn. daz schorpe vlôz dem lande ein teil ze nâhe, der affe spranc unz an daz lant, dar umbe kam diu schorpe in pîn. 10 daz sult ir vür ein bîspel ouch vervân: der keiser, der ist komen ûz unde ist gesprungen an den stat; ir miete gernden schorpelîn, er tuot iuch dar umbe an sælden mat.
42N J 1 dô: Führt hier einen Gegensatz ein (‚aber, doch‘). kunder (< kunde er): zum enklitischen Pron. der 3. Pers. vgl. Mhd. Gram., § E 21, 2. und § M 41 Anm. 7 2 schorpe: ‚Schildkröte‘; Schönbach geht näher auf die Überlieferungslage des Lexems Schildkröte (bzw. schorpe) ein (vgl. Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 65 f.). 3 setzen: Ich ändere hsl. ſatz zu sazt. bule: ‚Rücken‘, das Lexem ist laut HWB und BMZ nur hier belegt. Lamey stellt die Überlegung an, dass bule „im Hinblick auf die Bannbule [sic!] gewählt, also eine Art Wortspiel beabsichtigt“ (Lamey, S. 20; vgl. auch Kern: Bîspel-Spruch, S. 67) sein könnte (Kaiser Friedrich II. wird im September 1227 von Papst Gregor IX. aufgrund des krankheitsbedingten Aufschubs seiner Kreuzfahrt exkommuniziert [vgl. Gebhardt, Bd. 6, S. 226]). Dieser Vermutung widerspricht Schönbach, „denn dann müßte es wenigstens heißen ûf die bulle sîn“ (Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 66, vgl. ebenfalls auf S. 66 die mögliche Herleitung von mlat. bula als Nebenform zu bulla). 4 wâc: hier ‚See, Teich‘ ez: schorpe flektiert z. T. nach zwei Genera: Während es in V. 2 noch Fem. ist, steht hier nun Neutr. gân: hier kontextbedingt freier übersetzt 5 dûne gebest mir daz herze dîn: exzipierende Konstruktion (‚es sei denn‘) (vgl. Mhd. Gram., § S 159) 6 vür: hier Stellvertretung bezeichnend (‚statt‘) lit: hier st. Mask. ‚Glied, Gliedmaße‘ gelîch: ‚gleichermaßen‘ 9 Ich übersetze den zweiten Teil des Verses etwas freier. 10 vervân: ‚geistig auffassen, aufnehmen, beurteilen, anrechnen‘; ich korrigiere den hsl. vorliegenden unreinen Reim (nâhe : vervân) nicht. 11 ûz komen: ‚aus-, heraus-, loskommen‘, hier ‚entkommen‘; Peter Kern sieht in ûz komen einen „terminus technicus für den Aufbruch zum Kreuzzug“ (Kern: Bîspel-Spruch, S. 63) und stützt diese These durch Belegstellen aus dem Rolandslied (vgl. ebd.). Ich halte gerade angesichts der Belege, die Kern nennt (vgl. Rolandslied, V. 177, 181 und 245 ff.), eine solche Auslegung nicht für unmöglich, da sich jedoch in den einschlägigen WB kein Nachweis finden lässt, der ûz komen unmissverständlich und mit einer gewissen Regelmäßigkeit als Wendung für den Auszug zur Kreuzfahrt ausweist, bin ich letztendlich doch zurückhaltend, was Kerns Übersetzungsvorschlag an-
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geht. stat: ‚Gestade, Ufer, Landeplatz‘ 12 miete gernde: ‚Lohn, Belohnung verlangend‘ schorpelîn: Der Diminutiv wird durch das Adj. ‚klein‘ ausgedrückt. mat tuon: ‚mattsetzen‘, wörtlich ‚er setzt euch dadurch in Bezug auf das Glück matt‘, ich folge Moser/MüllerBlattaus Übersetzung (vgl. Moser/Müller-Blattau, S. 82).
43. Ez wolte ey˙n affe vber ey˙nen ſe. do kvnder wol geſwy˙mmen nícht.
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Übersetzung Ein Affe wollte über einen See, aber er vermochte nicht gut zu schwimmen. Er bat eine Schildkröte, dass sie ihn (hinüber-)brächte, wie die Geschichte [erzählt. Sie setzte ihn auf ihren Rücken und trug ihn weit auf den Teich hinaus. Als er bis in die Mitte des Sees gekommen war, sagte sie: ,Ich werde bis auf den [Grund tauchen (und) 5 ich werde dich ertrinken lassen, es sei denn du schenkst mir dein Herz.ʻ Der Affe bot ihr statt des Herzens alle seine Gliedmaßen gleichermaßen, (aber) sie wollte nichts als sein Herz. Die Schildkröte schwamm ein wenig zu nah ans Ufer, der Affe sprang zum Leidwesen der Schildkröte bis aufs Land. 10 Das sollt ihr als Gleichnis verstehen: Der Kaiser ist entkommen und ans Ufer gesprungen; ihr lohnheischenden kleinen Schildkröten, er setzt euch, was das Glück betrifft, [matt.
Inhalt II,43 ist wohl einer der meist diskutierten bzw. am intensivsten untersuchten Sprüche Bruder Wernhers. Dies liegt zum einen an dem ausgeprägten bîspelCharakter und zum anderen an der Frage der historischen Einordnung, die speziell auf die beiden Schlussverse zurückgeht. Der Spruch kann in einen bîspel-Teil und einen bilanzierenden Schlussteil gegliedert werden, wonach das bîspel den Schwerpunkt ausmacht.541 Es reicht von Vers 1 bis 9. In sich lässt es sich nochmals grob in drei Teile untergliedern: − Vers 1 bis 3: Begegnung der „Akteure“ und Einsetzen der Handlung (der Affe setzt sich auf den Rücken der Schildkröte) − Vers 4 bis 7: Haupthandlung (inkl. Andeutung einer Klimax: die Schildkröte droht zu tauchen) − Vers 8 f.: Auflösen der Haupthandlung und Verlassen des bîspels Insgesamt folgen die Verse 1 bis 9 einem sukzessiven Handlungsverlauf und fallen in narrativer Hinsicht auch durch den Gebrauch von Inquit-Formel (vgl. V. 4 er sprach) und direkter Rede (vgl. V. 4 f.) auf. Da der Inhalt des bîspels
541 Vgl. zur inhaltlichen Struktur auch Yao, S. 67.
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selbsterklärend ist und letztlich kaum Verständnisschwierigkeiten bergen dürfte, werden die Verse im Einzelnen nicht detailliert von mir besprochen. Schönbach hat in seiner Ausgabe recht ausführlich die Quellenfrage des bîspels behandelt – v. a. vor dem Hintergrund von Vers 2: als diu âventiure giht –, wonach das sechste Kapitel im Buch ,Kalila und Dimna‘ (das wiederum auf das indische ,Pantschatantra‘ zurückgeht) als Hauptquelle zu sehen ist.542 Darin geht es, knapp umrissen, um einen gealterten und aus seinem Reich vertriebenen Affenkönig und eine (männliche) Schildkröte, die sich anfreunden, wodurch die Schildkröte anfängt, ihre Pflichten als Familienoberhaupt zu vernachlässigen. Als jedoch die eifersüchtige Ehefrau der Schildkröte ob der mangelhaften Versorgung krank wird, besteht die einzige Heilungsmöglichkeit (laut der Ehefrau) darin, das Herz eines Affen zu essen. Als die Schildkröte sich letztendlich dazu entschließt, dem Affen von der Notlage der Ehefrau und dem vermeintlich einzigen Heilmittel zu erzählen, setzen die beiden gerade über ein Gewässer über, wobei der Affe auf dem Rücken der Schildkröte sitzt. Aus Sicht des Affen besteht nun die lebensrettende List darin, vorzugeben, er
542 Vgl. dazu umfassend Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 66–73 sowie Kern: BîspelSpruch, S. 57 und Anm. 6 und Teschner, S. 98. Was die mögliche Übermittlung des Stoffes angeht bzw. die Frage, wie Bruder Wernher in dessen Kenntnis gelangt sein mag, verweist Schönbach zunächst auf Parallelen zum ‚Directorium vitae humanae‘ des Johann von Capua, das dieser wiederum aus einer hebräischen Bearbeitung des indischen ,Pantschatantra‘ erstellt hat (vgl. Geissler, S. 254–267). Darauf aufbauend stellt Schönbach die Vermutung an, dass Wernher aus zeitlichen Gründen zwar das ,Directorium vitae humanae‘ (2. Hälfte 13. Jh.) nicht gekannt haben kann, wohl aber, „daß Wernher die alte lateinische Übersetzung aus dem Hebräischen […] kannte und benutzte“ (Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 72; vgl. auch Kern: Bîspel-Spruch, S. 57). Und falls dies nicht der Fall gewesen sein sollte, so „bleibt immer noch die Möglichkeit, daß Wernher bei seinem eigenen Aufenthalte in Kleinasien oder sonst irgendwo mündlich die Geschichte […] kennen lernte“ (Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 72 f.). Sparmberg, Gerdes und nach ihm Thurnher sehen Schönbachs Quellenherleitung eher skeptisch: Es handele sich, laut Gerdes, lediglich um eine „vermutete (!) lateinische Vermittlung“ (Gerdes: Beiträge, S. 53) und „[d]ie Übereinstimmungen der späteren Übersetzung des Johannes von Capua mit Wernhers Geschichte sind so gering, daß Schönbach die Möglichkeit einräumen muß, Wernher habe die Fabel „bei seinem eigenen Aufenthalte in Kleinasien oder sonst irgendwo mündlich“ kennengelernt“ (ebd., S. 53 f.). Thurnher ergänzt, dass der Verweis auf eine âventiure nicht unweigerlich eine schriftliche Quelle voraussetzen müsse (vgl. Thurnher, S. 58). Und auch Yao erklärt, dass die Wendung als diu âventiure giht (V. 2) „nicht immer beim Wort zu nehmen ist“ (Yao, S. 71). Mit Blick auf Sparmberg ist noch zu sagen, dass dieser zwar Schönbachs Quelle als „eine ziemlich problematische lateinische Übersetzung von ,Kalila und Dimnah‘“ (Sparmberg, S. 19) versteht, andererseits aber für die kaum nachzuweisende „mündliche Übermittlung des Stoffes“ (ebd., S. 19) votiert (vgl. auch Teschner, S. 98 und Thurnher, S. 58). Auch Yao führt an, dass Wernher den Stoff „genauso gut aus mündlicher Tradition zur Kenntnis [hat] nehmen können“ (Yao, S. 71).
43. Ez wolte ey˙n affe vber ey˙nen ſe. do kvnder wol geſwy˙mmen nícht.
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habe sein Herz an Land gelassen, woraufhin die Schildkröte zurück gen Ufer schwimmt. Der Affe nutzt die Chance und rettet sich auf einen Baum.543 Es fallen deutliche Unterschiede zwischen Wernhers Spruch und dem ursprünglichen Fabelstoff auf, die vielleicht nicht nur durch den Zwang zur Kürze (Einstrophigkeit) bedingt sind. So wird u. a. der Affe in Wernhers Spruch nicht als vertriebener König inszeniert; die Freundschaft von Affe und Schildkröte bleibt unerwähnt; es wird kein Grund geliefert, wieso der Affe über den See möchte;544 die Forderung der Schildkröte nach dem Affenherz wird nicht erklärt und auch die List, mit der sich der Affe rettet, fehlt. Ob es sich bei diesen inhaltlichen Abweichungen um bewusste Tilgungen handelt oder Wernher schlicht lückenhafte Kenntnisse besaß, ist wohl nicht abschließend zu klären. Vermutlich hat Yao – wie vor ihm schon Kern – jedoch nicht unrecht, wenn er erklärt, dass II,43 „nur in solchen Handlungsteilen mit der Version Johanns von Capua überein[stimmt], die zu seinem Ziel, der Ausdeutung auf ein Zeitgeschehen, nötig sind und passen“545. Das bîspel erstreckt sich zwar nicht auf den gesamten Spruch – wodurch im Übrigen noch weniger Raum für etwaige Ausgestaltungen des Fabelstoffes bleibt –, aber doch auf neun von zwölf Versen. Die Auslegung des bîspels erfolgt wiederum in den beiden Schlussversen, wobei bîspel und Deutung mit der Aussage dar umbe kam diu schorpe in pîn in Vers 9 verbunden werden. Vers 10 markiert unmissverständlich den Übergang von erzählerischem bîspel zu realen Gegebenheiten, allerdings behalten die Verse 11 und 12 teilweise die Bildsprache des bîspels bei (vgl. V. 11 gesprungen an den stat [vgl. mit V. 9], 543 Zum Hintergrund des Fabelstoffes und der je nach Quelle z. T. etwas anders gestalteten Handlung bzw. unterschiedlichen Auswahl des Personals (Affe und Schildkröte, Affe und Krokodil, Skorpion und Schildkröte) vgl. Dicke/Grubmüller, S. 30 f., Hilka, S. 9 f., Geissler, S. 254–267 sowie das ,Pantschatantraʻ in der deutschen Übersetzung von Theodor Benfey (1859), 1. Teil, S. 223, 421–427 und 2. Teil, S. 285–289 (vgl. hier auch Benfey [1982], S. 317–332). 544 In der Fassung Johanns von Capua lockt die Schildkröte den Affen auf den See, indem sie ihm erzählt, auf der anderen Seite des Gewässers gebe es noch leckerere Fürchte als auf der hiesigen Seite (vgl. Geissler, S. 260 bzw. 261). 545 Yao, S. 72. Kern führt einen ausführlichen Vergleich zwischen der Fabel-Fassung nach Johann von Capua und dem bîspel Bruder Wernhers an, der gezielte (?) Eingriffe bzw. Änderungen Wernhers zutage fördert, die durch die historischen Ereignisse motiviert scheinen (vgl. Kern: Bîspel-Spruch, S. 64–66). Vgl. ebenfalls Teschner, S. 98–100. Zum abgeänderten Ende Wernhers (die Schildkröte scheint zufällig zu nah ans Ufer zu gelangen) erklärt Teschner, dass das „Fehlen dieser Pointe die Fabel des inneren Zusammenhangs [beraubt], ihr eigentlicher Sinn geht verloren“ (Teschner, S. 100). Vielmehr rücke das politische Ereignis, das kommentiert wird, in den Fokus, denn dieses „soll durch die Fabel erläutert werden. Zu diesem Zweck wird sie dem tatsächlichen Vorgang angepaßt“ (ebd., S. 101). Zu Wernhers Abweichungen vom ursprünglichen Fabelstoff vergleiche außerdem Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 72 und Sparmberg, S. 19.
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V. 12 schorpelîn). Vielleicht dient dies dazu, die Ausdeutung und Übertragung des bîspels auf die Realität zu vereinfachen.546 Vers 10 weist die vorausgegangenen Verse also explizit als das aus, was sie sind: ein bîspel (V. 10).547 Aufseiten des Publikums sollen keine Unklarheiten bestehen. Die ausdrückliche Kennzeichnung als bîspel und die Apostrophe an das Publikum animieren dieses zudem zum Nachdenken, zur Auseinandersetzung mit dem Gesagten. Vers 11 f. liefert daran anschließend die thematische Richtung, in die die Reflexion des Publikums gehen soll. Auch hier geht der Sprecher also auf Nummer sicher: Es sollen abschließend keine Missverständnisse vorliegen, auf wen das bîspel zu beziehen ist, nämlich auf den keiser (V. 11). Die drei Schlussverse nehmen demnach v. a. die Funktion einer Art „Hilfestellung“ für die Rezipienten ein.548
Historischer Hintergrund Die Forschung deutet II,43 mehrheitlich und wohl nicht zu Unrecht auf die glückliche Rückkehr Kaiser Friedrichs II. vom Kreuzzug aus Akkon im Juni 1229 sowie die Rückeroberung Siziliens, das von den Truppen des Papstes in
546 Grubmüller schließt sich Gerdes’ Standpunkt an, dass diese „bildhaften Elemente […] nicht als plane Beschreibung der Realität aufgefaßt werden dürfen“ (Grubmüller, S. 245), gleichzeitig warnt er aber auch davor, „wegen der bloßen Verwendung des Terminus bîspel zur Kennzeichnung der Fabelerzählung […] dieser den zu Tage liegenden aktuellen Bezug zugunsten einer Ausweitung auf ‚das Überzeitlich-Beispielhafte‘, auf den allgemeinen ‚Musterfall eines sittlich verwerflichen Vorgehens‘ abzusprechen“ (ebd.). 547 Zur Definition von bîspel vgl. de Boor (v. a. S. 16 f. und 23) und als Reaktion darauf Grubmüller, S. 32 f. und 245. Außerdem Kern: Bîspel-Spruch, S. 57 Anm. 10. Thurnher sieht in II,43 (und VI,69) durch Bruder Wernher gar „eine neue Gattung der mittelalterlichen Literatur geschaffen […] die politische Fabel“ (Thurnher, S. 64), denn „nirgends sind allgemeine Wahrheit und geschichtliches Ereignis in so zwingenden Zusammenhang getreten wie bei Bruder Wernher“ (ebd.). Für Teschner schließlich ist der Hinweis daz sult ir vür ein bîspel ouch vervân (V. 10) nur eine „formelhafte[n] Wendung“ (Teschner, S. 102), die zeige, dass sich Bruder Wernher „hinter der Anonymität des Exempels [verbirgt]“ (ebd.). 548 Gerdes meint dazu: „Es ist festzuhalten, daß der Dichter die ‚bîspel‘, durch die das Publikum sich verspottet wähnt, unter den Mitteln seiner erzieherischen Tätigkeit aufzählt.“ (Gerdes: Beiträge, S. 153) Und die erzieherische Aussage bestehe darin, „wie ein Fürst nicht sein soll: der enttäuschende Ausgang bestraft den, der sich mit Arglist einen Vorteil über den Kaiser verschaffen will“ (Gerdes: Zeitgeschichte, S. 129). Dies gelte jedoch nur dann, „[w]enn die schorpelîn die Fürsten meinen“ (ebd.).
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der Abwesenheit des Kaisers eingenommen worden war.549 „[D]ie “schorpelin” sind demnach die Päpstlichen“550. Speziell Schönbach bietet neben der Darstellung der Quellenlage des bîspels eine ausführliche Untersuchung der (möglichen) historischen Ereignisse, vor deren Hintergrund der Spruch entstanden sein könnte.551 Ich erlaube mir, bzgl. der Übertragung des bîspels auf die (potenziellen) realen Gegebenheiten die äußerst treffende Zusammenfassung von Ulrich Müller zu zitieren: Wie der Affe der Fabel unternahm Friedrich II. eine Seefahrt (= Kreuzzug); inmitten des Unternehmens ging Papst Gregor IX. (= Schildkröte) gegen den Kaiser vor, indem er Sizi-
549 Vgl. HMS 4, S. 526 f.; Meyer, S. 89; Lamey, S. 20; Doerks, S. 6; Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 75 und 79; Sparmberg, S. 19; Scholz: Reichsidee, S. 75 f.; de Boor, S. 15; Teschner, S. 100, 102; Müller: politische Lyrik, S. 96; Edwards, S. 307; Kern: Bîspel-Spruch, S. 58; Brunner: Bruder Wernher, Sp. 898, Yao, S. 73 f. Helga Reuschel und Eugen Thurnher weichen in ihrer historischen Auslegung von den oben genannten Beiträgen ab. Reuschel sieht den Spruch vor dem Hintergrund der „Anerkennung der Wormser Beschlüsse, die den Fürsten weitest gehende Landeshoheit sichern“ (Reuschel, Sp. 900), entstanden. Der Abfassungszeitpunkt läge demzufolge später, denn der Wormser Hoftag findet erst im Frühjahr 1231, die offizielle Anerkennung der Beschlüsse gar erst 1232 statt (vgl. Gebhardt, Bd. 6, S. 231 f.). Thurnher folgt Reuschel insoweit, als er die vorausgegangenen Deutungen ebenfalls verwirft, allerdings setzt er den Abfassungszeitpunkt noch später als Reuschel an: „Der Spruch ist aber nicht vor, sondern nach der Absetzung Heinrichs VII. entstanden. Er bezieht sich auf die Politik Friedrichs II. nach der Auseinandersetzung mit seinem Sohne, die bei der Reichsversammlung, welche der Kaiser auf 15. August 1235 nach Mainz berufen hatte, siegreich zu Tage trat.“ (Thurnher, S. 60) Was diese beiden Interpretationen m. E. auf leicht tönerne Füße stellt, ist der Umstand, dass sie die Bildsprache des bîspels völlig außer Acht lassen, obwohl die Bildhaftigkeit und Metaphorik von II,43 gerade den Eindruck erweckt, als sei das bîspel speziell aufgrund seiner bildlichen Vergleichbarkeit zu den historischen Gegebenheiten vom Dichter gewählt worden (vgl. kritisch zu Reuschel und Thurnher auch Kern: Bîspel-Spruch, S. 60–62 und Müller: politische Lyrik, S. 95). 550 Müller: politische Lyrik, S. 95. Schönbach hingegen sieht in den miete gernden schorpelîn (V. 12) die sich in Palästina befindenden deutschen Ritter, die der Kaiser um Hilfe im Kampf gegen die im heimischen Königreich eingefallenen päpstlichen Truppen bittet (vgl. Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 77 f.). Vgl. auch Gebhardt, Bd. 6, S. 230 und knapp umrissen Kern: Bîspel-Spruch, S. 58. Übrigens rührt die Besonderheit, dass hier ausgerechnet ein Affe stellvertretend für den Kaiser steht, wohl allein daher, dass der Fabelstoff dieses „Personal“ vorgibt. Normalerweise nimmt der Affe eine negative Rolle ein, da er als Verkörperung des Teufels gesehen wird (vgl. dazu etwa ,Physiologus‘: Maurer, S. 22–24, 79; Schröder: Millstätter Physiologus, S. 86 f., 203–206 und Schönberger, S. 86 f.; vgl. auch Hartung [2003], S. 49). 551 Vgl. Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 73–79.
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lien besetzen ließ […]552; doch durch seine unerwartete Landung ‚rettet‘ sich der Kaiser, und die der päpstlichen Partei angedrohte ,Matt-Setzung‘ wird bald Wirklichkeit.553
Obgleich ich mich grundsätzlich sowohl der Datierung als auch der historischen Einordnung anschließen würde, bleibt – neben der Möglichkeit von Peter Kerns Neuinterpretation von II,43 (siehe weiter unten) – in meinen Augen eine Frage unbeantwortet, die doch für den Entstehungsprozess des Spruches von zentraler Bedeutung ist: Wie ist Bruder Wernher an die Informationen über die Entwicklung der Ereignisse (Heimfahrt des Kaisers aus dem Heiligen Land, unerwartete Rückkehr in Sizilien, erfolgreiche Bekämpfung der päpstlichen Truppen) gelangt, und zwar angesichts des von Schönbach vermuteten Abfassungszeitpunkts „im Juli 1229 […], spätestens im August“554? Geht man davon aus, dass sich Bruder Wernher in Deutschland oder Österreich aufgehalten hat, ist zu fragen, wie schnell sich die politischen Ereignisse von Italien aus bis nach Deutschland herumgesprochen haben? Und: Wurden diese nur in gehobeneren gesellschaftlichen Kreisen verbreitet oder wusste der „kleine Mann“ (und der Fahrende) relativ zeitgleich darüber Bescheid? Schönbach begegnet diesen unklaren Fragen, indem er bzgl. der Ritter, die Kaiser Friedrich II. im Zuge seiner Landung in Apulien und der Rückeroberung des Königreichs für seine Sache zu gewinnen hofft, feststellt, „[d]aß es deutsche Herren waren, […] mochte Wernhern die Nachrichten besonders leicht zugänglich machen“555. Noch im selben Satz wendet er jedoch ein: „doch ist unter den fürstlichen Herren keiner, dessen persönliche Bekanntschaft mit Wernher sich nachweisen ließe.“556 Etwas später stellt er gar die Überlegung an, dass Wernher evtl. auch selbst am Kreuzzug von 1228 bis 1229 teilgenommen haben und auf diese Weise selbst Zeuge der Ereignisse geworden sein könnte,557 schränkt aber auch hier unmittelbar ein: Jedenfalls ist er aber dann doch nicht mit in Apulien und beim Siege des Kaisers gegenwärtig gewesen, weil er sonst die Pointe des Spruches, die sich wider die Habgier des deutschen Herren wendet, anders hätte gestalten müssen, angesichts der Belohnung, die Friedrich II. seinen Helfern zuteilte.558
552 Müller weist hier (u. a.) auf die Formulierung von Herta Gent hin, die Sizilien als Friedrichs „(Herz-) Land“ bezeichnet (Gent, S. 133), wodurch evtl. die Forderung der Schildkröte nach dem Herz des Affen erklärt werden könnte (vgl. Müller: politische Lyrik, S. 96). 553 Ebd. 554 Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 79. 555 Ebd., S. 78. 556 Ebd., S. 78 f. 557 Vgl. ebd., S. 79. 558 Ebd.
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Hier setzt Gerdes an, der angesichts dieser Feststellung erklärt: Wenn nicht einmal die Pointe des Spruches mit den historischen Vorgängen übereinstimmt, dann liegt der Schluß nahe, nicht Wernher sei mangelhaft informiert gewesen, sondern Schönbach habe falsch interpretiert.559
Gerdes, der übrigens eine eigene Datierung oder historische Einordnung weitgehend vermeidet,560 spricht sich vielmehr dagegen aus, den Spruch in seiner Bildlichkeit – nämlich Vers 11 der keiser […] ist gesprungen an den stat zusammen mit Lexemen aus dem Bereich der Gewässer (vgl. V. 1 sê, V. 2 tîch, V. 3 wâc und evtl. V. 4 ich wil ze grunde gân, V. 5 ich wil dich ertrinken lân) – allzu wörtlich zu nehmen,561 da „das enge Verharren im Vergleichsbild abwegig und als Deutungsgrundlage untauglich [ist]“562; die Forschung habe sich vielmehr zu einem „eilfertigen Zusammenwerfen von Vorstellungen des Gleichnisses mit solchen des Verglichenen“563 hinreißen lassen.564 M. E. ist diese Sichtweise im vorliegenden Fall (!) etwas zu kurz gedacht und ich würde Müller Recht geben, wenn er darauf hinweist, dass Gerdes „damit die vom Dichter in V. 11 gewählte Formulierung allzu unbedenklich weginterpretieren“565 will. Müller vermutet vielmehr, dass Gerdes‘ „Verharren im Vergleichsbild“ „ganz im Gegenteil vom Dichter selbst nahegelegt zu sein [erscheint] und man sich an das
559 Gerdes: Beiträge, S. 56. Darüber hinaus sehen auch Gent (vgl. S. 133), Thurnher (vgl. S. 59) und Kern (vgl. Bîspel-Spruch, S. 59 f.) Schönbachs Standpunkt eher kritisch. Gent scheint es sich jedoch etwas zu leicht zu machen, wenn sie überlegt: „Die Schwierigkeiten [von Schönbachs Deutung, Anm. d. Verf.] werden behoben, wenn man annimmt, daß Hs. J […] den Sinn der Strophe nicht mehr verstanden hat und die „miete gernden schorpelîn“ in den letzten Vers hineingebracht hat.“ (Gent, S. 133) 560 Er stellt auf der Grundlage von Helga Reuschels Überlegungen (vgl. Anm. 549 in dieser Arbeit) die Vermutung an, dass es sich bei den schorpelîn um (deutsche) Fürsten handeln könnte: „Die Spitze richtet sich dann gegen Fürsten, die aus den Schwierigkeiten des Kaisers in seiner Auseinandersetzung mit dem Papsttum und mit seinem Sohn König Heinrich Kapital zu schlagen versuchten und durch einen Erfolg des Kaisers das Nachsehen hatten.“ (Gerdes: Beiträge, S. 56, vgl. auch S. 73) 561 Er schreibt: „Die Formalanalyse ergibt, daß der Vergleich in die Ebene des Verglichenen sprachlich hinüberwirkt; woraus nicht folgt, daß die Ebene nicht sauber zu trennen, daß die Elemente des ‚bîspels‘ und seiner Auslegung gleichzusetzen wären!“ (ebd., S. 55) 562 Ebd. 563 Gerdes: Zeitgeschichte, S. 128. 564 Auch Shao-Ji Yao weist darauf hin, dass mit Blick auf „die Technik der Exemplifikation […] die beiden Vergleichsgegenstände jedoch nicht absolut isomorph [sind]“ (Yao, S. 74). 565 Müller: politische Lyrik, S. 96.
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‚Seebild‘ bei der Interpretation halten [sollte]“566. Ganz ähnlich sehen das auch Kiepe-Willms, Grubmüller und später Kern.567 Die, soweit ich sehen kann, jüngste Arbeit zu II,43 stammt von Peter Kern aus dem Jahr 1990. Sie arbeitet zunächst sämtliche bestehenden Deutungsansätze auf,568 verwirft diese aber allesamt569 und bietet abschließend eine eigene Auslegung an. Dabei geht Kern von der Formulierung der keiser, der ist komen ûz (V. 11) aus und nimmt speziell komen ûz in den Blick. Laut Kern liege „ein entscheidender Fehler“570 der übrigen Forschung darin, dass sie dies als „beliebige Phrase“571 verstünde, während Kern anhand von Belegstellen572 nachzuweisen meint, dass es „spätestens seit dem Rolandslied ein terminus technicus für den Aufbruch zum Kreuzzug“573 sei. Stellt man diese Bedeutung von ûz komen auch für Bruder Wernhers Spruch in Rechnung, dann wird erkennbar, daß der Satz Der keiser, der ist komen ûz keineswegs sein glückhaftes Entkommen aus Meer und Gefahr meint, sondern seinen Aufbruch zur Kreuzfahrt nach Palästina. Das heißt aber: Die Fabel ist nach der Anweisung Bruder Wernhers nicht nur hinsichtlich ihres Endes, sondern auch schon hinsichtlich ihres Anfangs als politisches bîspel zu lesen […]; vielmehr sind wir aufgefordert, das ganze Kreuzzugsunternehmen Friedrichs II., ausgespannt zwischen Ausfahrt und Rückkunft, in den Blick zu nehmen […].574
Unter dieser Vorgabe setzt Kern bei Müllers Entwurf des (bîspel-haften und „realen“) Handlungsverlaufs an (weiter oben im Text von mir bereits zitiert). Ich gebe hier stichpunktartig die wesentlichen Eckpunkte von Kerns Handlungsskizze wieder:
566 Ebd. 567 Vgl. Kiepe-Willms, S. 120; Grubmüller, S. 245 (und Anm. 546 in dieser Arbeit); Kern: Bîspel-Spruch, S. 62. 568 Kern macht insgesamt drei Forschungspositionen aus: 1. „die Fahndung nach ganz anderen historischen Bezugspunkten (fernab vom Kreuzzugsunternehmen); [= Reuschel und Thurnher, Anm. d. Verf.] 2. die These, Bruder Wernhers Spruch trage allgemein lehrhaften Charakter, er ziele gar nicht primär auf eine bestimmte aktuelle politische Situation; [= Gerdes, Anm. d. Verf.] 3. die Reduktion der politischen Auslegung allein auf den punktuellen Bezug zwischen Fabelschluß und Friedrichs unerwarteter Landung, der Rückzug also auf die vor Schönbach geltende Meinung. [= Gent, Edwards, Teschner, Anm. d. Verf.] Alle drei Positionen sind meiner Meinung nach nicht haltbar.“ (Kern: Bîspel-Spruch, S. 60) 569 Vgl. Anm. 568 sowie Kern: Bîspel-Spruch, S. 60 ff. (zu 1.), 62 f. (zu 2.) und 63 (zu 3.). 570 Ebd., S. 63. 571 Ebd. 572 Vgl. dazu ebd. sowie im Übersetzungsapparat unter ûz komen. 573 Ebd. 574 Ebd., S. 64.
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1.
Sowohl der Affe als auch Kaiser Friedrich II. wollen einen See/ein Meer überqueren.575 2. Die Unfähigkeit zu schwimmen, könnte auf Kaiser Friedrichs II. Krankheit anspielen, die ihn 1227 von der Kreuzfahrt abhält.576 3. Der Affe tritt seine Fahrt auf dem bulen der Schildkröte an, während „Friedrich II. Ende Juni 1228 seinen Kreuzzug als Gebannter“577 vollzieht.578 4. Den erfolglos angebotenen Gliedmaßen des Affen „entsprechen vielleicht die ergebnislosen Bemühungen des Kaisers, sich durch Ersatzleistungen vom Bann […] zu lösen“579. 5. Der Sprung des Affen ans rettende Ufer schließlich kommt der unerwarteten Rückkehr des Kaisers aus Palästina im Juni 1229 gleich.580 6. Und Vers 12 führt abschließend die „Konsequenzen der unerwarteten Rückkehr Friedrichs II. für die miete gernden schorpelîn“581 an: Der Kaiser tuot iuch dar umbe an sælden mat, er macht ihrem Glück also ein Ende und straft sie dadurch zugleich für ihre Parteinahme zugunsten des Papstes ab.582 (Kern hat m. E. durchaus Recht, wenn er noch darauf hinweist, dass „der Schlußsatz auch als Warnung an alle zu verstehen“583 ist.) Prinzipiell erscheint Kerns Auslegung, die auf einer Neuübersetzung von Vers 12 beruht, einigermaßen schlüssig und nachvollziehbar. Ich zögere deswegen ihr uneingeschränkt zuzustimmen, weil nicht zweifellos klar ist, ob ûz komen hier tatsächlich allein den Aufbruch zum Kreuzzug bezeichnen kann oder nicht doch auch eine Flucht oder Rettung gemeint sein könnte. Wie im Übersetzungsapparat bereits erwähnt, mag zwar das Rolandslied ûz komen in der spezifischen Bedeutung der Kreuzzugsausfahrt verwenden, dennoch führen die einschlägigen Wörterbücher einen derartigen Gebrauch nicht explizit auf. Falls ûz komen also neben ‚entkommen, davonkommen‘ auch speziell ‚zur Kreuzfahrt aufbrechen‘ bedeuten kann, so scheint dieser Gebrauch nicht derart etabliert oder verbreitet gewesen zu sein, dass er sich auch in anderen Texten
575 Vgl. ebd., S. 66. 576 Vgl. ebd. Zu den historischen Hintergründen vgl. Gebhardt, Bd. 6, S. 226. 577 Kern: Bîspel-Spruch, S. 67. 578 Vgl. zur möglichen Bedeutung von bule Lamey, S. 20, Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 66 sowie im Übersetzungsapparat unter bule. 579 Kern: Bîspel-Spruch, S. 67. 580 Vgl. ebd. 581 Ebd. 582 Vgl. ebd., S. 67 f. 583 Ebd., S. 68.
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widerspiegeln würde und somit anhand einer breiteren Anzahl von Belegstellen beweisen ließe. Auch bei diesem Spruch kann also der (historische) Hintergrund nicht letztgültig geklärt werden.
Metrik A8ma A8ma A8mb A8mc 5 2A 8 m c A8mb 2A 4 m d A6ke A8md 10 A 5 m (?) e A8mf A8mf
Ez wóldẹ ein áffẹ über éinen se, dô kúnder wól geswímmen níht. er bát eine schórpen, dáz sie ịn vúorte, áls díu aventìure gíht. ez sázt in uf die búlen sn unde vúort in vérre ín den tch. dûne gébest mír daz hérze dn oder ích wil dích ertrínken lan.‹ ez enwólde níht wan daz hérze sn. landẹ schorpẹ undẹ ir míete gérnden schórpeln, er túot iuch dar umbẹ an sǽ lden mát.
Literatur De Boor, S. 15 • Brunner: Bruder Wernher, Sp. 898 • Dicke/Grubmüller, S. 30 f. • Doerks, S. 6 • Edwards, S. 307 • Gent, S. 132 f. • Gerdes: Beiträge, S. 53–56, 73, 149, 153 und Anm. 4, 168 Anm. 2, 179 und Anm. 7, 181 und Anm. 5, 200 f., 205 f., 208 • Gerdes: Zeitgeschichte, S. 127–129 • Grubmüller, S. 32, 244 f. • HMS 4, S. 516 • Kemetmüller, S. 13, 56, 75 f., 233 • Kern: Bîspel-Spruch, S. 55–68 • Kiepe-Willms, S. 120 • Lamey, S. 14 f., 20 • Meyer, S. 89 • Moser/Müller-Blattau, S. 80 f., 82 • Müller: politische Lyrik, S. 95 f. • Nolte/Schupp, S. 48 f., 381 f. • Roethe, S. 264, 339 • Reuschel, Sp. 900 • Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 64–79 • Scholz: Reichsidee, S. 75 f. • Sparmberg, S. 19 f. • Teschner, S. 97–102 • Thurnher, S. 58–61 • Vetter, S. 263 • Wisniewski, S. 129 f. • Yao, S. 37, 67, 70–74, 76, 77.
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Unikal in C 44. Ich han ſo vıl geſvnge̅ dc ma̅ger nv geſwuͤre wol (C18, U) Ich han ſo vıl geſvnge̅ dc ma̅ger nv geſwuͤ /re wol· ıch hete gar geſvnge̅ vs ıch ha̅ noh / ganze wínkel vol· der kvnſt duͥ reht an / ſınge̅ zímt· als ıch ſı brı ̅ge vuͥr· ıch wolde / e gar ſwıge̅ e ıch nıem me geſvnge níht· 5 (e) dc / ıch ſchande alſo vſwıge dleıd alzevıl ge/ſchıht· vn̅ dc ıch míne̅ ſvͤſſen ſprvch an val/ſcher mılte flvr· dvrh vorhte manıg ſwı//ge̅ mvͦs· d oͮch dvr loſen lop de̅ arge̅ ſínget· / de̅ ſelbe̅ wırt zelone kvme eín danke̅ vn̅ eı ̅ / valſcher gruͦ s· 10 ſw tore̅ froıt vn̅ ır gemvͦte / rınget· ıch bín vıl dıke alſam gefroͤıt dar / nach zetrure̅ mır geſchach do mır nıht / bc gelonet wart vn̅ ıch doch lob mıt truͥwe̅ / ſprach· /
5 e interlinear nachgetragen
44. Ich han ſo vıl geſvnge̅ dc ma̅ger nv geſwuͤre wol.
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Ich hân sô vil gesungen, daz manger nû geswüere wol, ich hæte gar gesungen ûz – ich hân noch ganze winkel vol der kunst, diu reht an singen zimt, als ich sie bringe vür. ich wolde ê gar swîgen, ê ich niemer mê gesünge niht, 5 ê daz ich schande alsô verswîge, der leider al ze vil geschiht, unt daz ich mînen süezen spruch an valscher milte vlür. durch vorhte maneger swîgen muoz, der ouch durch lôsen lop den argen singet; dem selben wirt ze lône kûme ein danken und ein valscher gruoz, 10 swer tôren vreut und ir gemuote ringet. ich bin vil dicke alsam gevreut, dar nâch ze trûren mir geschach, dô mir niht baz gelônet wart und ich doch lop mit triuwen sprach.
18 [17] C davor: 17 [16] C = 22 J danach: 19 [18] C = 39 J 2 ûz: hier ‚zu Ende‘ 4 niemer … niht: Die Negationen heben sich nicht auf, sondern stellen eine für die Verneinung im Mhd. typische Häufung dar (vgl. Mhd. Gram., § S 145). Dennoch erschiene eine positive Aussage in diesem Kontext logischer: ‚Ich wollte eher gänzlich schweigen, ehe ich jemals mehr/wieder singen würde, ehe dass ich Schändliches derart verschweigen würde, von dem leider allzu viel geschieht, …‘. Schönbach erscheint die Formulierung ebenfalls unlogisch, so dass er folgendermaßen eingreift: Ich wolde gar ê swîgen und niemer ê gesunge lobes iht (Schönbach, 3. Stück bzw. 140 Bd., S. 36). Nolte/Schupp folgen seiner Lesart (Nolte/Schupp, S. 256), wohingegen von der Hagen handschriftengetreu abdruckt (vgl. HMS 2, S. 229) und übersetzt: „[…]; er will eher gänzlich schweigen, als nicht mehr singen, und eher die nur zu häufige Schande rügen, […]“ (HMS 4, S. 522). Obgleich Schönbachs Konjektur nachvollziehbar ist, behalte ich die hsl. Fassung bei, übersetze aber etwas freier, indem ich auf das einleitende ê des Nebensatzes verzichte. 6 süeze: Die Geminate der hsl. Form ſvͤſſen entspricht dem ursprünglichen Doppelfrikativ, der auf germ. /t/ zurückgeht (mhd. süeze < ahd. suozi [auch s[w]uozssi]). Soweit anhand des Œuvres Bruder Wernhers ersichtlich, ist für C charakteristisch, dass gerade nach Langvokal oder Diphthong nicht degeminiert wird, so finden sich neben hsl. ſvͤſſen auch Formen wie z. B. bvͤſſe (C4,3), ſtraſſe (C14,2) oder heiſſen (C24,8). Die Wendung süezer spruch findet sich auch in II,45,10. Gerdes weist darauf hin, dass die Formulierung an die Tradition der sog. Blümer erinnere, allerdings „weder Wernhers Stil noch eine stilische Reflexion in die Richtung des Blümens [weisen]“ (Gerdes: Beiträge, S. 148) und die süezen sprüche daher „entweder allgemein ästhetisch ,die Sinne erfreuende Gedichte‘ oder […] ,freundliche, sanfte Worte‘“ (ebd.) meinen (zum sog. Blümen
HMS 2: I,11 Sch 11
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Ton II, Unikal in C
vgl. Boesch, S. 202 f.). Ich gebe diese Bedeutungsnuancen durch zwei Lexeme wieder (‚anmutig, freundlich‘). verliesen: hier mit r-Schwund im Nebenton vor /l/ (vgl. Mhd. Gram., § L 90 Anm. 2) und hsl. fehlender Kennzeichnung des Umlauts im Konj. Prät. (vgl. Mhd. Gram., § L 36) 8 lôsen: hier subst. ‚schmeicheln, heucheln‘ 10 swer: Der verallgem. Charakter des Rel.pron. erscheint mir hier mit Blick auf die Übersetzung wenig sinnvoll, weswegen ich es lediglich mit ‚der‘ wiedergebe. vreun (vgl. auch V. 11): Hier liegt die kontr. Form von vreuwen vor, so dass in der 3. Sg. Ind. Präs. (bzw. im Part. [V. 11]) das Flexiv entgegen der regulären Normalisierungsvorgaben lediglich auf ‑t endet. ringen: tr. hier ‚bewegen‘; vielleicht könnte hsl. rınget auch mit dem Verb ringern (‚leichter, machen, erleichtern‘) in Verbindung gebracht werden? 11 bin gevreut – geschach: Die Tempora sind inkongruent, eigentlich müsste es was gevreut heißen. Schönbach (und nach ihm Nolte/Schupp, S. 256) greifen dementspr. ein (vgl. Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 36).
44. Ich han ſo vıl geſvnge̅ dc ma̅ger nv geſwuͤre wol.
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Übersetzung Ich habe so viel gesungen, dass mancher jetzt sicher schwören würde, ich hätte ganz und gar zu Ende gesungen – ich habe noch ganze Ecken voll an Kunst, die wahrlich zu singen geziemt, wie ich sie vortrage. Ich wollte eher gänzlich schweigen, ja würde ich künftig niemals mehr singen, 5 ehe dass ich Schändliches, von dem leider allzu viel geschieht, derart [verschweigen würde und ich meinen anmutigen und freundlichen Spruch an unaufrichtige [Freigebigkeit verschwendete. Aus Angst muss mancher schweigen, der auch um des Schmeichelns willen den Geizigen ein Lob(-lied) singt; demselben widerfährt kaum ein Dankeschön und (nur) ein unaufrichtiger Gruß [als Lohn, 10 der Narren erfreut und ihr Herz bewegt. Ich bin war sehr oft genauso erfreut, danach widerfuhr mir Kummer, als ich nicht besser entlohnt wurde und ich doch aufrichtig Lob sprach.
Inhalt II,44 ist zentral auf das Sprecher-Ich ausgerichtet. Dieses präsentiert sich hier sowohl in seiner Rolle als Sänger und Künstler584 als auch in der als Mahner und Erzieher. Veranschaulicht werden beide Rollen anhand des Gegensatzes von singen und swîgen. Dementsprechend lässt sich zunächst der Aufgesang auch inhaltlich in seine beiden Stollen unterteilen, wonach sich der erste Stollen auf das Singen und dessen Stellenwert für den Sprecher konzentriert,585 der zweite Stollen hingegen das Schweigen (oder Verstummen) und seine Begleitumstände in den Blick nimmt.586 Zunächst zum ersten Stollen: Das Singen, das hier unmissverständlich mit der kunst in Verbindung gebracht wird (vgl. V. 2 f.),587 erhält beinahe einen drohenden Charakter, denn das Ich spricht davon, dass es ungeachtet der Erwartungen mancher, es müsste angesichts dessen, dass es schon sô vil gesungen hat (V. 1), ûz gesungen haben (V. 2), nach wie vor ganze winkel vol der kunst (V. 2 f.) besitzt, von der zu singen gut ansteht (vgl. V. 3), und zwar 584 585 vür. 586 587
Vgl. zu Selbstwahrnehmung der Lieddichter Gerdes: Beiträge, S. 145–148. Vgl. V. 1 gesungen, (V. 2 gesungen ûz ist negierend,) V. 3 an singen zimt, evtl. V. 3 bringe Vgl. V. 2 gesungen ûz, V. 4 swîgen, niemer mê gesünge niht, V. 5 verswîge, V. 7 swîgen. Das Lexem kunst erscheint bei Wernher nur hier und in III,54,1 sowie VII,73,3.
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Ton II, Unikal in C
gut ansteht, wie das Ich es tut (vgl. V. 3).588 Neben der hohen Produktivität, auf die Vers 1 hinweist, kommt damit zum Ausdruck, dass es nicht nur immer noch Grund zum Singen gibt und das Ich von seinem künstlerischen Repertoire her problemlos in der Lage ist, dies zu leisten, sondern außerdem, dass die Art und Weise, wie es dies tut – seine Kunstfertigkeit also –, dem Anlass absolut angemessen ist. Aus Sicht des Ich besteht also keinerlei Grund, warum es gar gesungen ûz haben sollte (vgl. V. 2): Gerade jetzt, da sich mancher so sicher ist, dass das Ich endgültig verstummen müsste (vgl. V. 1 f.), macht der Sprecher deutlich, dass das Gegenteil der Fall ist. Wieso dies ausdrücklich betont wird, erhellt sich vor dem Hintergrund des zweiten Stollens. Denn hier wird nun gezeigt, dass es dem Ich nicht, wie man im ersten Stollen noch meinen könnte, ausschließlich oder vorrangig um die Kunst an sich geht, sondern sie dient als Hilfsmittel, die schande […], der leider al ze vil geschiht (V. 5), anhand des Singens aufzuzeigen und ihr erzieherisch entgegenzuwirken. Außerdem wird auch verständlich, warum sich mancher geradezu wünschen mag, dass der Sprecher aufhört zu singen, denn mit dem Gesang ergeht eben auch überall dort eine Anklage gegen unanständiges Verhalten, wo es angebracht ist. Der zweite Stollen hebt auf die Ehrenhaftigkeit und Unbestechlichkeit des Sprechers ab: Bevor es so weit kommt, dass er die schande, die in der Welt ist, verschweigt (vgl. V. 1 f.) und seinen süezen spruch589 (V. 6) an unaufrichtige Freigebigkeit (sprich: „Bestechungsgeld“) verliert (vgl. V. 6), würde er eher gar nichts mehr sagen/singen, sondern lieber verstummen (vgl. V. 4). Im Anschluss an dieses Bekenntnis wird mit Einsetzen des Abgesangs eine Art Gegenpart zum Ich dargestellt, wodurch die Ehrenhaftigkeit des Sprechers noch zusätzlich betont wird: Erneut geht es, ähnlich wie in Vers 1, um einen nicht näher bestimmten Anderen (V. 7 maneger), der sich gerade nicht so vorbildlich verhält wie das Sprecher-Ich. Vielmehr macht dieser alles verkehrt: Er lässt sich einschüchtern und bleibt aus Angst stumm (vgl. V. 7). Gleichzeitig bedenkt er jedoch den argen (V. 8) mit einem Lob, um sich bei diesem einzuschmeicheln (vgl. V. 8); er handelt also nicht integer, sondern gibt letztlich seine Unabhängigkeit und Neutralität auf, wohl in der Hoffnung, entsprechend entlohnt zu werden (hier klingt die Bestechlichkeit wieder an). Dass seine opportunistischen Bemühungen jedoch völlig nutzlos sind, zeigt Vers 9: Das Einzige, was ihm zuteilwird, ist kûme ein danken und ein valscher gruoz
588 Zur „Richtigkeit dieser Kunst“ (Gerdes: Beiträge, S. 147), die durch reht in Vers 2 angedeutet wird, vgl. ebd. 589 Vgl. zur Wortwahl süezer spruch den Übersetzungsappart von II,44,6.
44. Ich han ſo vıl geſvnge̅ dc ma̅ger nv geſwuͤre wol.
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(V. 9).590 Statt der erhofften materiellen Entlohnung dankt ihm der Besungene es also auf dieselbe Art, wie er besungen wurde – mit Unaufrichtigkeit (vgl. V. 9 ein valscher gruoz). Es nützt also weder etwas, einen argen zu besingen (vgl. V. 8), noch tôren zu erfreuen und ihr Gemüt zu bewegen (vgl. V. 10), denn es wirft keinen Lohn ab und schadet zudem dem eigenen Ruf als Sänger. Interessant ist nun, dass die Schlussverse nicht, wie man vielleicht argumentativ bzw. in erzieherischer Hinsicht erwarten würde, belegen, dass im Gegensatz zum Auftreten des Anderen aus Vers 7 bis 10 die Integrität des Sprechers entsprechend honoriert würde, sondern auch seine „Strategie“ ist nicht von Erfolg gekrönt (vgl. V. 12 dô mir niht baz gelônet wart), obwohl er lop mit triuwen sprach (V. 12).591 Während der Spruch bis in den Abgesang hinein von seiner Grundhaltung her eher positiv konnotiert ist (die kämpferische, unbestechliche Haltung des Sprechers, der sich nicht davon abbringen lassen will, seine Kunst zu verbreiten und im Zuge dessen mahnend und erzieherisch Einfluss zu nehmen), schlägt er in den beiden Schlussversen unerwartet um und vermittelt abschließend eine eher kontraproduktive Botschaft: ,Selbst wenn du ein Lob mit triuwen aussprichst, bringt dir das höchstens so viel ein, wie einem unaufrichtigen Opportunisten: kûme ein danken und ein valscher gruoz (V. 12).‘592
Historischer Hintergrund Schönbach sieht den Spruch in Wernhers „höherem Alter verfaßt“593, da der Tenor der Strophe – ähnlich wie bei Walthers sog. Alterston (L 66,21) –, davon zeuge, dass Wernher „mit der Zeit und den Menschen schon lange nicht mehr zufrieden gewesen sein [muß]“594 und er dementsprechend „wenig ehrlich zu loben, viel zu tadeln“595 finde. Diese „Datierung“ ist natürlich kaum stichhaltig 590 Anton E. Schönbach sieht in dem valschen gruoz einen „gute[n] Empfang, der enttäuscht, auf den kein Geschenk folgt, ähnlich wie valschiu milte, bei der nichts herauskommt“ (Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 37). 591 Widersprüchlich an dieser Schilderung ist Folgendes: Wird das Lob mit triuwen (V. 12) ausgesprochen, kann wohl davon ausgegangen werden, dass das Lob berechtigt ist und der Gepriesene tatsächlich positiv hervorsticht. Da das Lob hier jedoch gerade nicht belohnt bzw. nicht baz belohnt (vgl. V. 12) wird (baz bezieht sich wohl auf den zuvor genannten Lohn [vgl. V. 9 kûme ein danken und ein valscher gruoz]), kann es mit der Vorbildlichkeit des Gelobten doch nicht so weit her sein. Er hatte das Lob also genau genommen gar nicht verdient. 592 Zu einer „Theorie des Lobs“ vgl. Gerdes: Beiträge, S. 158 f. 593 Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 37. 594 Ebd. 595 Ebd.
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am Text zu belegen. Kann nicht auch ein jüngerer Mensch mit den Menschen und der Zeit unzufrieden sein?
Inhaltliche Ähnlichkeit mit anderen Texten vgl. zu Vers 1: Walther L 66,21 (hier V. 7): wol vierzig jâr hab ich gesungen unde mê (Schweikle: Walther, Bd. 2, S. 442) Walther L 72,31 (hier V. 2): nû wíl ich singen aber als ê (Schweikle: Walther, Bd. 2, S. 168)
Metrik A A A A 5 A A A A A 10 A A A
8ma 8ma 7 (!) m b 8mc 8mc 7 (!) m b 4md 6ke 8md 6ke 8mf 8mf
Ich han sô víl gesúngèn, daz mánger nu geswere wól,
ê dáz ich schándẹ also verswge, der léider ál ze víl geschíht, durch vórhte máneger swgen múoz, kûmẹ dickẹ
Literatur Edwards, S. 307 • Gent, S. 18 • Gerdes: Beiträge, S. 32 Anm. 2, 145, 146–148, 156, 158, 174 und Anm. 4, 177 und Anm. 1, 179 und Anm. 4, 181 und Anm. 5 • HMS 4, S. 522 • Kemetmüller, S. 29 f., 62, 80, 212 • Lamey, S. 6, 43 • Meyer, S. 91 • Nolte/Schupp, S. 256 f., 439 • Roethe, S. 194 • Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 36 f. • Strasser, S. 241 • Vetter, S. 246.
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45. Nv ıſt dc rıch vn̅ oͮch duͥ lant vıl gar an ıvnge hre̅ kome̅ (C20, U) Nv ıſt dc rıch vn̅ oͮch duͥ lant· / vıl gar an ıvnge hre̅ kome̅· d alte̅ wır/de vn̅ oͮch ır zuht· da hant ır wund vo̅ vno/me̅· nv wuͥnſche̅t dc d megde kínt vgeſſe ır / mıſſetat· nv wbent ab dıe ıvnge̅ ſo· dc wır / dıe alte̅ mvͦſſe̅ klage̅· 5 da vo̅ dc ma̅ ſı ſıht bı / gvͦte vn̅ oͮch an wdekeıt zergan· nv wıſſe̅t / doch dc es den edelen rıche̅ nıht wol ſtat nah / lobe ır etelıches mvͦt· ſo vaſte ſtrebt als ıch / ıv wıl beſcheıde̅. dc er nıht ands bete me· / wa̅ habe dín lob la mır mín gvͦt· 10 d wıl / ſıch mıne̅ ſvͤſſe̅ ſpruͥche̅ leıde̅ vıl gar dıe / wıle vnz ıch erſıhe wıeſ ím an wdekeít / ergat· dar nah ſo ſínge ıch lıhte eín lob dc / nahe bı de̅ ſchelte̅ ſtat· /
45. Nv ıſt dc rıch vn̅ oͮch duͥ lant vıl gar an ıvnge hre̅ kome̅
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Nû ist daz rîch und ouch diu lant vil gar an junge hêrren komen. der alten wirde und ouch ir zuht dâ hânt ir wunder von vernomen; nû wünschet, daz der megde kint vergezze ir missetât! nû werbent aber die jungen sô, daz wir die alten muozen klagen 5 dâ von, daz man sie siht bî guote und ouch an werdecheit zergân. nû wizzet doch, daz ez den edelen rîchen niht wol stât. nâch lobe ir etelîches muot sô vaste strebt, – als ich iu wil bescheiden –, daz er niht anders bæte mê wan: ,habe dîn lop, lâ mir mîn guot!ʻ 10 der wil sich mînen süezen sprüchen leiden vil gar, die wîle, unz ich ersihe, wiez im an werdecheit ergât; dar nâch sô singe ich lîhte ein lop, daz nâhe bî dem schelten stât.
20 [19] C davor: 19 [18] C =39 J danach: 21 [20] C = 61 J 3 maget: hier Gen. Sg. Fem. ir (missetât): Gemeint sind junge hêrren (V. 1), nicht die maget. 4 werben: hier ‚benehmen, tätig sein, handeln‘ muozen: zur grafischen Form der Hs. vgl. süeze im Übersetzungsappart von II,44,6 5 bî (guote): hier konzessiv ‚trotz‘ an (werdecheit): ‚an, in‘, etwas freier ‚in Bezug auf, mit Blick auf‘ 7 ir: Gen.attr. zu etelîches, was wiederum Gen.attr. zu muot ist, ir etelîches muot also wörtlich ‚das Wesen irgendeines der ihren‘ etelîch: ‚irgendein‘ 10 süeze sprüche: vgl. hierzu den Übersetzungsapparat von II,44,6 leiden: hier mit refl. Akk. (sich) ‚leid, verhasst machen, verleiden‘ 12 lîhte: M. E. ist V. 12 als Warnung oder gar Drohung zu verstehen, so dass lîhte hier gerade nicht ‚vielleicht, möglicherweise‘ meint, sondern vielmehr ‚leicht, problemlos‘. nâhe stân bî: statt ‚nahe stehen bei‘ etwas freier übersetzt ‚nahe kommen‘
HMS 2: I,13 Sch 13
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Ton II, Unikal in C
Übersetzung Jetzt sind das Reich und auch die Länder komplett an junge Herren [übergegangen. Über die Würde der Alten und auch ihren Anstand habt ihr Wunderbares [gehört; jetzt wünscht (euch), dass der Sohn der Jungfrau ihr Vergehen vergessen möge! Die Jungen verhalten sich jetzt jedoch derart, dass wir die Alten beklagen [müssen, 5 (und zwar deswegen, weil) man sie [= die Jungen] an Ansehen und auch trotz [Besitz zugrunde gehen sieht: Jetzt wisst aber, dass dies es den edlen Mächtigen nicht gut ansteht. Das Wesen eines manchen von ihnen trachtet so stark nach Ruhm – wie ich euch erzählen möchte –, dass er um nichts anderes mehr bitten würde als: ,Behalte dein Lob, lass mir [mein Eigentum!ʻ 10 Der möchte sich meinen anmutigen und freundlichen Sprüchen ganz und gar [verhasst machen, solange, bis ich sehe, wie es ihm mit dem Ansehen ergeht; danach singe ich leicht ein Loblied, das dem Tadel nahe kommt.
Inhalt II,45 ist eine Laudatio temporis acti, in der Jung und Alt im Aufgesang einander gegenübergestellt werden und im Abgesang speziell die negative Entwicklung, zu der es unter den junge[n] hêrren (V. 1) gekommen ist, in den Blick genommen wird. Besonders kritisch gesehen wird an den Jungen, die nun die Herrschaft über daz rîch und diu lant (V. 1) übernommen haben, ihr Verfall hinsichtlich wirde und zuht (beides V. 2) – für beides waren die Alten hingegen bekannt (vgl. V. 2). Um die Glaubwürdigkeit dieser Aussage zu untermauern, richtet sich der Sprecher damit an die Zuhörerschaft: ,Von wirde und zuht der Alten hânt ir wunder von vernomen (V. 2), ihr könnt meine Haltung also sicher nachvollziehen und bestätigen.‘ Und diese Einbeziehung des Publikums wird bis zum Ende des Aufgesangs fortgesetzt (vgl. V. 3 nû wünschet, V. 6 nû wizzet). Die Apostrophe scheint aber nicht allein dazu zu dienen, die Zuhörer über die gegenwärtigen Missstände zu belehren, sondern dadurch wird zugleich angedeutet, dass ir (V. 2) letztlich persönlich involviert und betroffen seid, da es hier um eure junge[n] hêrren (V. 1) geht. Andererseits versteht auch der Sprecher sich als Teil dieser „Leidensgemeinschaft“, denn er spricht ausdrücklich davon, daz wir die alten muozen klagen (V. 4).
45. Nv ıſt dc rıch vn̅ oͮch duͥ lant vıl gar an ıvnge hre̅ kome̅
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Worin besteht aber nun das beklagenswerte Verhalten der Jungen, dass sogar gehofft werden muss, daz der megde kint (= Jesus) vergezze ir (= die jungen Herren) missetât (V. 3)? Wie es die Eingangsverse bereits andeuten, besteht das Vergehen der jüngeren Generation zum einen darin, dass sie es an wirde und zuht fehlen lässt, zum anderen (gewissermaßen als Folge dessen) richtet sie ihren muot nicht auf lop (vgl. V. 7 und 9), also öffentliche Anerkennung und Wertschätzung, sondern allein auf Besitz (vgl. V. 9).596 Besitzgier bzw. Geiz und Materialismus verdrängen somit ehrenwerte Gesinnung und moralischen Anstand (vgl. V. 2 wirde und zuht) und lassen vergessen, dass auch das lop einen Beitrag zur Herrschaftslegitimität leistet. Dieser Umstand wird jedoch völlig von der Sorge verdrängt, dass der Sänger für sein Lob eine Entlohnung einfordern könnte (vgl. V. 9). Ab Vers 10 nimmt der Spruch eine etwas andere Richtung: Hat sich das Sprecher-Ich bereits in dem Einschub in Vers 8 (als ich iu wil bescheiden)597 von dem zuvor eher kollektiven Standpunkt (vgl. V. 4 wir) gelöst, so erscheint es in den letzten drei Versen endgültig losgelöst von der übrigen Gemeinschaft. Vielmehr steht es nun in seiner Funktion als Sänger/Künstler im Mittelpunkt. Dieser formuliert abhängig vom Auftreten und Handeln des Herrschenden Lob oder Tadel. Und in dieser Rolle als kritischer Kommentator kommt ihm eine gewisse Macht zu, denn es liegt in seiner Hand, ob ein lop nicht schnell einmal zu einem schelten wird (vgl. V. 12). Und an diese Macht erinnern nun die Schlussverse. Denn mag etelîche[r] (V. 7) von den Jungen auch zunächst keinen Wert darauf legen, in den süezen sprüchen (V. 10) des Sprechers positive Erwähnung zu finden, sich sogar unbeliebt und verhasst bei diesem machen (vgl. V. 10), so wird er für dieses unbedachte Benehmen dann die Rechnung bekommen, wenn sich mit Blick auf seine werdecheit (V. 11) eine bestimmte Entwicklung abzeichnet (vgl. V. 11), eine negative nämlich, denn dies wird der Sprecher zur Kenntnis nehmen und sich vorbehalten, statt eines Lobs eine Rüge auszusprechen. Alles in allem tritt das Ich, v. a. in den Schlussversen, überaus selbstbewusst auf, was hier Rückschlüsse auf die Selbstwahrnehmung speziell als Sänger zulässt. Der Dichter nimmt sich in seinem Wirken (Kommentierung von gesellschaftlichen Entwicklungen und Fehlverhalten der Herrschenden) nicht als völlig ohnmächtig oder ausgeliefert wahr (zumindest nicht hier!), sondern 596 Die Verse 7 und 8 sind natürlich ironisch zu verstehen, denn der muot (V. 7) der Jungen ist ja gerade nicht um lop bemüht, schon gar nicht vaste (V. 8)! Bruder Wernher übt übrigens auch an anderer Stelle immer wieder Kritik an einer ungesunden Fokussierung auf rein Materielles (vgl. z. B. II,24,3; II,33; II,36; II,40; II,41,8; VI,72). 597 Zur Rolle des Dichters als Erzieher, die hinter dieser Formulierung hervorscheint, vgl. Gerdes: Beiträge, S. 154.
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Ton II, Unikal in C
als wertende Instanz, die dank der Kunst durchaus in der Lage ist, mehr oder weniger unmittelbar auf Veränderungen zu reagieren.
Historischer Hintergrund In der Forschung wurden die junge[n] hêrren (V. 1) auf König Heinrich (VII.), Herzog Friedrich II. von Österreich und Steiermark und Herzog Otto II. von Bayern bezogen.598 Bei der Datierung ist – ausgehend von Vers 1 – demnach der Tod Herzog Leopolds VI. († 28. Juli 1230 in San Germano) einerseits und Herzog Ludwigs I. von Bayern († 15. September 1231, Attentat in Kelheim) andererseits zu berücksichtigen. Nimmt man noch König Heinrich (VII.) in den Blick, der ab dem Jahreswechsel 1228/29 endgültig die Verantwortung über die Regierungsgeschäfte übernommen hat,599 so ergibt sich, dass der Spruch evtl. zum Anfang der 1230er Jahre (1231 oder 1232) abgefasst worden sein könnte.600
Inhaltliche Ähnlichkeit mit anderen Texten vgl. zu Vers 3: Walther L 10,9 (hier V. 1): […] der mégde kint (Schweikle: Walther, Bd. 1, S. 218) vgl. zu Vers 4: Walther L 23,26 (hier V. 10 f.): die jungen hânt die alten sô verdrungen und spottent alse dar der alten (Schweikle: Walther, Bd. 1, S. 254) vgl. zu Vers 8: Walther L 25,11 (hier V. 2): als ich ez iu bescheiden wil, (Schweikle: Walther, Bd. 1, S. 260) Walther L 22,33 (hier V. 7): diu réde wil í dir baz bescheiden: (Schweikle: Walther, Bd. 1, S. 250)
598 Vgl. HMS 4, S. 517; Meyer, S. 92; Lamey, S. 23; Doerks, S. 7; Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 40; Vetter, S. 246 (er ergänzt zu der Reihe junger Herren noch Wenzel I., der seit 1230 böhmischer König ist); evtl. Gent, S. 69; Müller: politische Lyrik, S. 90; Edwards, S. 306 f. 599 Vgl. Gebhardt, Bd. 6, S. 227. 600 Zur Datierung vgl.: „nach 1231 oder 1232“ (Doerks, S. 7); Schönbach spricht von der Ermordung Herzog Ludwigs I. 1231 und meint, dass II,45 „[n]icht lange darnach“ entstanden sein werde (Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 40); „wohl 1230/31“ (Gent, S. 69); „kurz nach 1231“ (Kemetmüller, S. 32); „ca. 1231“ (Müller: politische Lyrik, S. 90; er schränkt ein: „Sicher ist diese Datierung […] jedoch nicht.“); wohl um 1230 (vgl. Edwards, S. 306 f.).
45. Nv ıſt dc rıch vn̅ oͮch duͥ lant vıl gar an ıvnge hre̅ kome̅
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Metrik A A A A 5 A A A A A 10 A A A
8 2m a 8 2m a 7 (!) m b 8 2m x (?) 8 m x’ (?) 7 (!) m b 4mc 6kd 8mc 6kd 8 m b (?) 8 m b (?)
wirdẹ vergezzẹ nû wérbent áber die júngen so, daz wír die álten múozen klágen guotẹ nû wísset dóch, daz éz den édelen rchen níht wol stat. lobẹ daz ér niht ánders bǽte me wan: ‚hábe dîn lóp, la mir mn gúot!‹ vil gár, die wlẹ, unz ích ersíhe, wiez ím an wérdechèit ergat; singẹ, lîhtẹ
Literatur Brunner: Bruder Wernher, Sp. 899 • Doerks, S. 7 • Edwards, S. 307 • Gent, S. 69 • Gerdes: Beiträge, S. 77, 98 Anm. 3, 147 f., 154 und Anm. 5, 155, 156 und Anm. 3, 162 und Anm. 1, 165 Anm. 2, 174 und Anm. 1, 177 und Anm. 1 und 5, 179 und Anm. 4, 181 und Anm. 7, 184 Anm. 1, 185, 186, 189 • HMS 4, S. 517 • Kemetmüller, S. 6, 26, 29, 31 f., 213 • Lamey, S. 8, 23 • Meyer, S. 92 • Müller: politische Lyrik, S. 90 • Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 39 f. • Strasser, S. 241 • Vetter, S. 246.
Ton III Der dritte Ton Bruder Wernhers enthält insgesamt elf Sprüche (III,46–III,56), wobei C keine unikalen Sprüche überliefert. Was seine metrische Form angeht, so liegt auch hier Kanzonenform zugrunde. Analog zu Ton II wurde, in leicht abgewandelter Form, mit Schweifreim aab bba gearbeitet. Metrische Formel:601 Aufgesang: 7ma 7ma 7mb / 7mb 7mb 7ma // Abgesang: 4mc 3md 7mc 5md 8me 8me
601 Vgl. andererseits RSM 2,1, S. 303 (hier Ton II). Zur Melodie vgl. Brunner: Spruchsang, S. 428, 486; Brunner: Töne, S. 52 f.; Taylor, S. 102 f.; Spechtler: Bruder Wernher, Bd. II, S. 24; Holz/Saran/Bernoulli, Bd. I, S. 23 f. und Bd. II, S. 4 f.; Rettelbach, S. 86.
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Ton III, Korpus in J
Korpus in J 46. Ich weız der herren manígen ob ıch // het ır eẏnes guͦt. (J43) Ich weız der herren manígen ob ıch // het ır eẏnes guͦ t. Jch welt ouch ver/re baz wen er vuͦ r ſcanden ſẏn be huͦ t. / Jch welt ouch baz dıe ſele vuͦ r des / tıvbels bande̅ neren. Jch wolt ouch / varendez guͦ t durch got vnd ouch vm / ere tzeren. 5 Ich wolt ouch valſcher eıde / nícht von hertzen vıl geſweren. / Kegen vrívnde wolt ıch dul dıch / ſín. kegen vıenden hoch gemvͦt. Ich / wolt ouch rechter vuͦ re phlegen. Vnde / wolte valſche lan. Vnrecht gewẏnnen // guͦ t. Des wolt ıch mích vıl gar ır we/gen. 10 Mıch duchte daz were allez wol / getan. Jch wolt ouch hazzen valſchen / rat den ſchalke Den lıvten tzvͦ oren / tragen. Da von dıe herren worden / wert wıe lutzel ſıes ín nv vuͦ r geſagen. /
4 Die Lombarden sind hier insgesamt nicht korrekt gesetzt: Regulär stünde Lombarde in Vers 4, 7, 9 und 11. Auf die hier vorliegenden Unregelmäßigkeiten deutet auch die durchgestrichene Lombarde in Vers 5 hin sowie die in Vers 4 vor Jch schwach erkennbaren Umrisse einer I-Lombarde. 11 Lombarde bei Den falsch gesetzt, während bei Jch lediglich Majuskel steht.
46. Ich weız der herren manígen ob ıch // het ır ey˙nes guͦt.
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Ich weiz der hêrren manegen. ob ich hæt ir eines guot, ich wolt ouch verre baz wan er vür schanden sîn behuot. ich wolt ouch baz die sêle vür des tiuvels banden nern. ich wolt ouch varndez guot durch got und ouch umb êre zern. 5 ich wolt ouch valscher eide niht von herzen vil geswern. gegen vriunde wolt ich gʼduldec sîn, gegen vîenden hôchgemuot. ich wolt ouch rehter vuore phlegen unde wolde valsche lân. unreht gewinnen guot, des wolt ich mich vil gar erwegen. 10 mich diuhte, daz wære allez wol getân. ich wolt ouch hazzen valschen rât, den schalke den liuten ze ôren tragen. dâ von die hêrren würden wert, wie lützel siez in nû vür gesagen.
43 J, 9 C, 1 A 1 ob ich hæt] vn̅ hete ıch C. 2 ouch verre fehlt C. wan er fehlt C. ouch fehlt A. wan] danne A. 4 varndez] varnde CA. ouch umb êre zern] ere bc vzern C. durch got und ouch umb êre zern] vmbe ere vn̅ och dvr got verzern A. 5 niht fehlt C. vil geswern] luͥzel ſwn C. wolt] enwolde A. ouch fehlt A. 6 gegen vriunde wolt ich g’dultec sîn] gedultıg ſın gege̅ fruͥnde̅ vn̅\gedvltıc geın den fruͥnden ſın CA. 8 vn̅ wolte dıe valſche̅ lan\vn̅ och dıe valſchen lan CA. 9 erwegen] bewege̅\bewegen CA. 10 diuhte] dvnket CA. 11 valschen] boͤſ e̅ C. den schalke] dıe ſchalke\den ſchal (Verschreibung?) CA. tragen] traget aus Reimzwang C. valschen fehlt A. den liuten ze ôren] zer lvͤten oren A. 12 dâ von] da mıte C. wie lützel siez in nû vür gesagen] ſwıe luͥtzel mans ın vor geſaget\wıe lvzzels ıme des vor geſagent CA. 1 obe A. hete A. 2 wolde\wolte CA. 3 wolde CA. de CA. 9 wolde CA. 11 wolde CA. zorn C.
4 wolde C.
5 wolde C.
6 geın A.
7 wol-
1 ir eines guot: guot ist das Obj. im Akk. und ir eines Gen.attr. zu guot 2 wellen: Die hsl. Form welt (vgl. auch V. 3) deutet auf mnd. Einfluss hin (vgl. Dietl, S. 18 und Mnd. Gram., § 447). ouch: Im Unterschied zu ouch in den nachfolgenden Versen dient ouch hier nicht dazu, einen neuen Satz beizufügen (also im Sinne von ‚auch, außerdem, zudem‘), sondern m. E., um den neuen Satz dem vorigen stärker entgegenzustellen (‚aber auch, dagegen, anderseits, dennoch‘). 4 varndez guot: Gemeint ist der bewegliche Besitz, der vergänglich ist. 5 valscher eide: Objektsgen. zu swern 6 gʼduldec: ge-Präfix hier entweder aus metr. Gründen getilgt oder/und auf mnd. Einfluss zurückzuführen (vgl. Mnd. Gram., § 221, VI. und § 423). 8 Das Bezugswort zum Adj. valsch (nämlich vuore) ist hier ausgespart. 9 erwegen: hier mit
HMS 2: II,1 Sch 17
422
Ton III, Korpus in J
refl. Akk. (mich) und Gen. (des) ‚auf etwas verzichten, sich von etwas zurückbewegen, es auf-, preisgeben‘ 10 wol getân: ‚gut, richtig gehandelt‘ 11 tragen: Aufgrund des Reimzwangs (tragen : [ge-]sagen) steht hier die md. Flexionsendg. der 3. Pl. Ind. Präs., die regulär eigentlich tragent lautet. 12 vür (ge-)sagen: ‚vorhersagen, prophezeien‘; hsl. vuͦr geſagen entspricht hier m. E. tatsächlich der regulären Form der 3. Pl. Konj. Präs. und nicht md. 3. Pl. Ind. Präs. (wie etwa hsl. tragen in V. 11).
46. Ich weız der herren manígen ob ıch // het ır ey˙nes guͦt.
423
Übersetzung Ich kenne manchen unter den Herren. Wenn ich den Besitz von einem von [ihnen besäße, würde ich dagegen weit besser vor Schande bewahrt sein als er. Ich würde zudem die Seele besser vor den Fesseln des Teufels schützen. Ich würde außerdem beweglichen Besitz um Gottes und des Ansehens willen [verbrauchen. 5 Ich würde überdies von Herzen keine unaufrichtigen Eide schwören. Freunden gegenüber würde ich geduldig sein, Feinden gegenüber stolz. Ich würde darüber hinaus für eine anständige Lebensweise sorgen und (die) schlechte sein lassen. Auf unrechte Weise Besitz zu erwerben, davon würde ich mich gänzlich [fernhalten. 10 Ich würde meinen, das wäre alles richtig gehandelt. Auch würde ich den hinterhältigen Ratschlag verabscheuen, den böse Kerle den [Menschen einflüstern. Dadurch würden die Herren angesehen, wie selten sie ihnen das (auch) [prophezeien mögen.
Inhalt III,46 ist eine geschickt konzipierte Tugendlehre, die speziell auf die herrschenden hêrren (V. 1) ausgerichtet ist.602 Indem der Sprecher aufzählt, was er tun würde, hätte er Vermögen (vgl. V. 1), befände er sich also in der Position eines hêrren, wird einerseits impliziert, dass das reale Verhalten der hêrren gerade nicht dem gleichkommt, was der Sprecher proklamiert (vgl. V. 2 baz wan er und V. 3 baz), die hêrren leben nicht, wie es der Sprecher täte, und werden insofern für ihre Lebens- und Verhaltensweise kritisiert. Zum anderen birgt diese Kritik aber eben auch eine Chance, die Chance nämlich, sich und sein Benehmen zu verändern, zu verbessern, denn der Sprecher zählt ja bewusst die wesentlichen Aspekte auf, die einen idealen Herrscher ausmachen. Diese lassen sich drei verschiedenen Bereichen zuordnen: 1. moralische oder sittliche Vorbildlichkeit: − vür schanden sîn behuot (V. 2) − die sêle vür des tiuvels banden nern (V. 3)
602 Interessant, dass ausdrücklich das guot als Ausgangspunkt des Herrschaftsanspruchs genannt wird.
424
2.
3.
Ton III, Korpus in J
− rehter vuore phlegen (V. 7) − valsche [vuore] lân (V. 8) Vorbildlichkeit im Umgang mit materiellen Gütern: − varndez guot durch got und ouch umb êre zern (V. 4) − vil gar erwegen, unreht gewinnen guot (vgl. V. 9) Vorbildlichkeit in der zwischenmenschlichen Interaktion: − valscher eide niht von herzen vil geswern (V. 5) − gegen vriunde […] gʼduldec sîn, gegen vîenden hôchgemuot (V. 6) − hâzzen valschen rât (V. 11)
Diese thematischen Schwerpunkte sind jedoch nicht jeweils blockweise arrangiert, sondern abwechselnd angeordnet (Reihenfolge: 1), 2), 3), 1), 2), 3)). Gerade aufgrund dieser inhaltlich heterogenen Struktur löst sich die Grenze zwischen Auf- und Abgesang auf,603 denn abgesehen von den Versen 1, 10 und 12, die eine eher übergeordnete Funktion einnehmen,604 ist der Spruch sowohl inhaltlich als auch formal zusammengehörig: Durch die Anapher ich wolt (vgl. V. 2–5, 7 und 11) und die leicht variierte Wiederholung wolt ich (vgl. V. 6 und 9) bzw. wolde (vgl. V. 8) im Versinnern werden all diejenigen Verse, die auf inhaltlicher Ebene Bestandteil der hypothetischen Überlegung des Sprechers sind, auch formal als Einheit gekennzeichnet.605 Bleibt noch ein Wort zum Schlussvers zu verlieren, der den Bogen zurück zum Strophenanfang schlägt: Er bringt für alle, die es evtl. nach wie vor nicht verstanden haben sollten, noch einmal unmissverständlich zum Ausdruck, worin für die hêrren der Wert des zuvor Gesagten liegt: dâ von die hêrren würden wert. Also erst, wenn sie den vom Sprecher aufgezählten „Richtlinien“ gerecht werden, sind sie ihrer Position würdig, und zwar unabhängig davon, ob schalke (V. 11) sie etwas Anderes weismachen wollen (vgl. V. 12). Einmal mehr richtet Bruder Wernher hier seinen kritischen Blick auf üble, hinterhältige Ratgeber, durch die die Herren zu unangemessenem Verhalten verleitet werden.606 Gleichzeitig werden aber auch die Herren in die Kritik einbezogen, denn sie lassen es ja überhaupt erst zu, von den schalke[n] negativ beeinflusst zu werden. Abgesehen von Handschrift J ist III,46 auch noch in A und C überliefert. Die Varianten beschränken sich jedoch vorrangig auf eher unwesentliche Lexem603 Vgl. dazu auch Gerdes: Beiträge, S. 179 und Anm. 7. 604 Vers 1 gibt einleitend das Thema vor, das dann für nahezu alle nachfolgenden Verse gültig ist (Ausnahme: Vers 10 und 12); Vers 10 ist eine Art Zwischenbilanz und Vers 12 bildet das abschließende Fazit. 605 Vgl. zur Anapher Roethe, S. 309 und Gerdes: Beiträge, S. 175. 606 Vgl. dazu z. B. II,21,9 (in der Lesart von C) sowie weiterführend Anm. 279.
46. Ich weız der herren manígen ob ıch // het ır ey˙nes guͦt.
425
varianten sowie Wortumstellungen, die inhaltlich kaum ins Gewicht fallen. Die einzigen Textstellen, auf die m. E. hingewiesen werden sollte, sind das fehlende wan er (V. 2) in C, wodurch der Gegensatz zwischen dem vom Sprecher angestrebtem Handeln und dem unangemessenen Verhalten der gegenwärtigen Herren weniger stark verdeutlicht wird, und das Fehlen des Adjektivattributs valsch (valscher rât) in A in Vers 11. Dadurch wird der rât, den die schalke geben, weniger eindeutig als schlechter, abzulehnender Ratschlag klassifiziert.
Historischer Hintergrund Obgleich eine historische Einordnung von III,46 m. E. kaum möglich ist und aller Voraussicht nach auch nicht vorausgesetzt werden muss, um den Spruch umfassend zu verstehen, nimmt Ferdinand Lamey eine Datierung vor, wonach der Spruch „die Erfahrungen der Jahre 1236/37 [zusammenfasst]“607. Diese Datierung begründet er damit, dass sich „[f]asst zu jeder Zeile […] ein Spruch jener Jahre vergleichen [lässt]“608. Schönbach hat zu Recht darauf hingewiesen, „daß auch die angezogenen Sprüche nicht sicher datiert werden können“609, so dass Lameys „Kartenhaus“ zusammenbricht und für III,46 keine konkrete historische Einordnung vorgenommen werden kann.
Metrik A7ma A7ma A7mb A7mb 5 A7mb 2A 7 m a A 4 2m c 2A 3 m d 7 2m d 10 A 5 m d A 8 2m e A 8 2m e
Ich wéiz der herren mánegen. ób ich hǽ t ir éines gúot,
gegen vríunde wólt ich gʼdúldec sn, gegen venden hochgemúot. unde wólde válsche lan. únreht gewínnen gúot, des wólt ich mích vil gár erwégen. wærẹ ich wólt ouch házzen válschen rat, den schálke den líuten zẹ oren trágen. dâ vón die herren wrden wért, wie ltzel siez ín nû vr geságen.
607 Lamey, S. 27. 608 Ebd. Gemeint sind die Sprüche VI,72 (im Vgl. zu V. 1 und 4), II,21 (im Vgl. zu V. 5), VI,67 und II,28 (im Vgl. zu V. 6), VI,69 und VI,70 (im Vgl. zu V. 7 und 8) und II,21,9 (im Vgl. zu V. 11) (vgl. Lamey, S. 27). 609 Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 46.
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Ton III, Korpus in J
Literatur Gerdes: Beiträge, S. 23 und Anm. 5, 50, 89 Anm. 1, 90 f., 163, 175, 179 und Anm. 7, 181 und Anm. 5, 185 • HMS 4, S. 521, 523 • Kemetmüller, S. 33 f., 64, 77, 215 • Lamey, S. 27, 30 • Roethe, S. 309 • Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 45 f. • Strasser, S. 240.
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Ton III, Korpus in J
47. Mır ıſt eín lob ır luſchen deme ıch doch vıl dıcke tzvͦ. (J44, U) Mır ıſt eín lob ır luſchen deme / ıch doch vıl dıcke tzvͦ. Mıt / guͦ ten ſpruchen blete Jch wene ích ez ẏmmer me getvͦ. Daz ıch mẏn / lob vntzvnde da man ez ır leſchen / lat Eẏn mílter man der ſolte vn/gerne volgen ſcalkes rat. 5 Da von eín lob ırleſchet. (?) Daz ín gantzer / wırde ſtat. Sıe ne raten anders / nícht den abent vnde den morgen / vruͦ Nıcht wen da laſter von ge/ſcıcht. Daz ratent ſıe vıl gar Eẏn / wıb dıe míſſeraten hat dıe ne gan / ırer tochter nícht. 10 Daz ſıe ane var / mít wıllen wol gevar Sıe ſeít ır // vıl der mere vuͦ r wıe ſıe ín ır ıvgende / habe gevarn. Sam tuͦ t eín ſcalc dem / herren ſẏn den er vuͦ r tugenden wıl / bewarn /
2 Punkt vor Jch fehlt 5 Punkt vor Daz nur schwach erkennbar, evtl. radiert
47. Mır ıſt eín lob ır luſchen deme ıch doch vıl dıcke tzvͦ.
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Mir ist ein lop erloschen, deme ich doch vil dicke zuo mit guoten sprüchen blæte; ich wæne, ich ez iemer mê getuo, daz ich mîn lop enzünde, dâ man ez erleschen lât. ein milter man, der solde ungerne volgen schalkes rât, 5 dâ von ein lop erlischet, daz in ganzer wirde stât. siene râtent anders niht den âbent unde den morgen vruo, niht wan dâ laster von geschiht, daz râtent sie vil gar. ein wîp, diu misserâten hât, diune gan ir tohter niht, 10 daz sie âne vâr mit willen wol gevar; sie seit ir vil der mære vür, wie sie in ir jugende habe gevarn. sam tuot ein schalc dem hêrren sîn, den er vür tugenden wil bewarn.
44 J 2 blæjen: hier intr. ‚blasen‘, gemeint ist Glut (= Lob), die durch Hineinblasen daran gehindert wird, zu verglühen; wörtlich ‚zu dem ich doch sehr oft mit anständigen Sprüchen blies‘ iemer mê: Hier als Ausdruck der Verneinung zu verstehen (vgl. Mhd. Gram., § S 147, 1.). 9 Inkongruenz des Genus (wîp – diu) misserâten: ‚einen falschen, bösen Rat erteilen‘ 10 âne vâr: feste Wendung ‚ohne böse Absicht, aufrichtig‘ mit willen: feste Wendung ‚aus freien Stücken, gern‘ varn: hier intr. ‚ergehen‘, (präfigierte) 3. Sg. Konj. Präs. hier aus Reimzwang (gevar : gar) apokopiert 11 vür sagen: eigentlich ‚vorhersagen, voraussagen‘, hier aber wohl eher ‚aufsagen, erzählen‘ mære: hier ‚Geschichte, Märchen‘ (negativ konnotiert) varn: hier ‚leben, handeln‘
HMS 3: III,2 Sch 64
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Ton III, Korpus in J
Übersetzung Mir ist ein Lob verglüht, das ich doch sehr oft mit anständigen Sprüchen durch Blasen anfachte; ich glaube, ich werde es [niemals mehr tun, dass ich mein Lob entzünde, wo man es verglühen lässt. Ein freigebiger Mann sollte (nur) widerwillig dem Rat eines Bösen folgen, 5 dadurch erlischt ein Lob, das sich in vollkommenem Ansehen befindet. Sie raten am Abend und am frühen Morgen nichts anderes, nichts als das, woraus Schande resultiert, das raten sie inständig. Eine Frau, die einen schlechten Rat erteilt hat, die missgönnt ihrer Tochter, 10 dass es ihr [= Tochter] ohne böse Absicht (und) aus freien Stücken gut ergehen [mag; sie erzählt ihr viele Märchen, wie sie [= Mutter] in ihrer Jugend gehandelt habe. Genauso handelt ein Böser gegenüber seinem Herrn, den er vor herausragenden [Qualitäten bewahren möchte.
Inhalt In III,47 stehen das Lob sowie die bösen Ratgeber, durch deren Einflüsterungen das Lob gemindert wird, im Zentrum. Bruder Wernher arbeitet hierbei einmal mehr mit verschiedenen belehrenden Beispielen zur Veranschaulichung des Sachverhalts und dessen Kritikpunkten. Der Spruch gliedert sich dementsprechend in drei bzw. vier Teile: Die Verse 1 bis 3 formulieren den thematischen Ausgangspunkt des Spruches:610 Der Sprecher berichtet bildhaft von einem Lob, das er unermüdlich vorbrachte (vgl. V. 1 f.), das ihm letztlich aber doch erloschen (V. 1) ist und das er nicht gedenkt, wieder zu entfachen (vgl. V. 2 f.). Interessant ist die Bildsprache: Es hat den Sprecher einige Anstrengung gekostet, das Lob überhaupt aufrechtzuerhalten, ja musste er es geradezu „päppeln“ (vgl. V. 1 f. deme ich doch vil dicke mit guoten sprüchen blæte), wie man ein Feuer vorsichtig „unterhalten“ muss, das dabei ist zu erlöschen. Wie konnte es aber so weit kommen, dass das Lob überhaupt verglüht ist? Was ist mit erleschen lân in Vers 3 gemeint? Diese Frage wird im weiteren Verlauf am Beispiel eines milte[n] man[nes] (vgl. V. 4–8) veranschaulicht: Ein Lob, das doch eigentlich in ganzer 610 Oder mit Gerdes umgekehrt formuliert: In den ersten drei Versen „beginnt Wernher mit dem faktischen Ergebnis, ihm sei ,ein lop erloschen‘, und geht dann den Ursachen nach“ (Gerdes: Beiträge, S. 203).
47. Mır ıſt eín lob ır luſchen deme ıch doch vıl dıcke tzvͦ.
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wirde stât (V. 5), also ursprünglich völlig zu Recht ausgesprochen wurde, verglüht nämlich dann, wenn ein milter man schalkes rât folgt (vgl. V. 4). Denn durch den Ratschlag des Hinterhältigen wird der Freigebige zum laster (V. 6) verleitet, so dass nichts zu loben übrig bleibt – dâ von ein lop erlischet (V. 5). Dieses Exempel beinhaltet gleich mehrere entscheidende Aspekte: Zunächst deutet das Adjektiv milte (V. 4) darauf hin, dass der man, der ursprünglich wohl gerade wegen seiner milte rühmenswert war, aufgrund der permanenten Einflüsterungen (vgl. V. 6 und 8) der schalke dem laster verfallen ist, und dieses besteht wohl darin, dass er sich nicht mehr durch Freigebigkeit positiv hervortut. Der Sprecher kritisiert hier zum einen also indirekt den Geiz mancher Herren, darüber hinaus werden aber auch die negativen Folgen betont, die mit falschen Ratgebern einhergehen. Speziell zu diesem Kritikpunkt fällt der scharfe Tonfall auf, der zum einen durch den Hinweis in Vers 6 (siene râtent anders niht den âbent unde den morgen vruo) und zum anderen durch die sinngemäße Wiederholung in Vers 8 (daz râtent sie vil gar) erzeugt wird. Man gewinnt beinahe den Eindruck, als sei das Thema ,falsche Ratgeber‘ ein wunder Punkt des Sprechers bzw. Dichters – was verständlich wird, wenn man bedenkt, dass dem Dichter aufgrund einer negativen Beeinflussung des potenziellen Gönners ein existenzieller Lohn vorenthalten bleiben kann. Das Beispiel des freigebigen Mannes, der durch schalkes rât zum laster verführt wird, scheint dem Dichter zu Veranschaulichungszwecken jedoch nicht auszureichen. Infolgedessen verschärft er das Ganze, indem er in den Versen 9 bis 11 noch ein weiteres, drastischeres Exempel anführt. Die Rolle des falschen Ratgebers nimmt hierbei ein wîp (V. 9) ein und die des milte[n] man[nes] die tohter (V. 9) der Frau. Die missgünstige Mutter (vgl. V. 9) erzählt der Tochter Lügengeschichten über ihre eigene Jugend (vgl. V. 11), um die Tochter, der alles wie von selbst gelingt und die zudem frei von Hinterhältigkeit ist (vgl. V. 10), von ihrem guten Weg abzubringen. Dank dieses zweiten Beispiels wird die Kritik an falschen Ratgebern noch einmal intensiviert, denn der Vergleich mit einer derartig neidischen, hinterhältigen Mutter (und der Unschuld und Unwissenheit der Tochter [= der milte man]) verdeutlicht, wie ernst der Sprecher dieses Thema nimmt. Vers 12 schließlich ist als vierter Teil des Spruches zu sehen, denn er gehört nicht mehr unmittelbar zu den Versen 9 bis 11, sondern schlägt inhaltlich den Bogen zurück zum Beispiel in Vers 4 bis 8. Dabei benutzt er dank des einleitenden vergleichenden sam (V. 12) die Intensität des zweiten Exempels (Mutter und Tocher) zur Veranschaulichung des ersten (das verglühende Lob). Die rhetorisch gekonnte Verwendung des Begriffs bewarn (V. 12) in einem negativen Kontext (statt vor laster soll der hêrre hier vor tugenden bewahrt werden)611 611 Vgl. dazu auch Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 80.
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Ton III, Korpus in J
bildet den krönenden Abschluss eines Spruches, der einen äußerst kritischen Blick auf schalkes rât und das damit einhergehende Vergehen des Ansehens wirft.
Historischer Hintergrund Lamey scheint – analog zu III,46 – den Spruch in die Zeit nach 1236/37 einzuordnen, wofür sich jedoch keinerlei Indizien finden lassen.612
Inhaltliche Ähnlichkeit mit anderen Texten vgl. zu Vers 1 evtl.: ,Parzival‘ 350,3: sost al mîn prîs verloschen gar. (Knecht/Schirok, S. 354) vgl. zu Vers 6: Walther L 114,11 (hier V. 3): twingent abent unde morgen, (Schweikle: Walther, Bd. 2, S. 234)
Metrik A7ma A7ma A7mb A7mb 5 A7mb 2A 7 m a A4mc A3md A7mc 10 A 5 m d A8me A8me
demẹ mit gúoten sprchen blǽ tẹ; ich wǽnẹ, ich ez íemer me getúo, soldẹ siene ratent ánders níht den abent únde den mórgen vrúo,
ein wp, diu mísseraten hat, diune gán ir tóhter níht, daz síe âne var mit wíllen wól gevár; sie séit ir víl der mǽ re vr, wíe sie ín ir júgende hábe gevárn. sam túot ein schálc dem herren sn, den ér vür túgenden wíl bewárn.
Literatur Dorninger, S. 30 • Gerdes: Beiträge, S. 50 und Anm. 1, 147 Anm. 3, 156 und Anm. 3, 157, 176 und Anm. 4, 179 und Anm. 6, 182 und Anm. 1, 203 • HMS 4, S. 522 • Kemetmüller, S. 5, 13, 77, 78, 80, 81, 233 • Lamey, S. 7, 8, 9, 28, 30 • Roethe, S. 305 • Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 79 f. • Strasser, S. 244 • Vetter, S. 263.
612 Vgl. Lamey, S. 27 f. und als Gegenposition dazu Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 80.
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Ton III, Korpus in J
48. Ich hete eín ſpil ſo guͦt daz ıch gewẏnnnes mích vuͦr ſach. (J45, U) Ich hete eín ſpil ſo / guͦ t daz ıch gewẏnnnes mích vuͦ r / ſach. Jch leıte da ſteẏne. Vnde ouch / gebot alſo ıch ez von holtze brach. / Jch leıte e̋. wıllıchlıche da des holtzes / eẏnen ſpan Ich was ſo vro ıch wan/te daz ſpil gewunnen ſolte han. 5 Jch / wolte ez me vuͦ r boten han do wart / ez vnder ſtan. Ez nam vuͦ r luſtıchlı/chen abe daz ıch von tzorne ſprach. / Nv wes vnſelde of geſelt. wıe han / ıch guͦ t vuͦ r lorn. Daz hete ıch mír / vnde mẏnen kẏnden an mẏn hus / getzelt. 10 Jch hete eſ tuſent eẏde wol / geſworn Swenne ıch da leíte mẏn / gebot ez were eín ſpıl gewunnen / gar. Swenne ıch ez me vuͦ r bẏeten / wıl ſo wılle ıch nemen der bvnde war. /
2 Vnde evtl. nur mit Minuskel statt Majuskel 10 bei eſ scheint bei 〈ſ 〉 radiert worden zu sein
48. Ich hete eín ſpil ſo guͦt daz ıch gewy˙nnnes mích vuͦr ſach.
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Ich hâte ein spil sô guot, daz ich gewinnes mich versach. ich leite dâ steine unde ouch gebot: alsô ich ez von holze brach, ich leite ie willeclîche dâ des holzes einen spân. ich was sô vrô, ich wânde, daz spil gewunnen solde hân; 5 ich wolde ez mê verboten hân, dô wart ez understân, ez nam verlusteclîchen abe, daz ich von zorne sprach: ,nû wis unsælde ûf geselt! wie hân ich guot verlorn!ʻ daz hâte ich mir unde mînen kinden an mîn hûs gezelt. 10 ich hæte es tûsent eide wol gesworn, swenne ich dâ leite mîn gebot, ez wære ein spil gewunnen gar. swenne ich ez mê verbieten wil, sô wile ich nemen der bünde war.
45 J 1 versehen: refl. mit Gen. d. S. (gewinnes) ‚rechnen auf, Zuversicht haben, erwarten‘ 2 brechen: tr. hier ‚(ab-)schaben‘, das Gebot wird anhand von Holzspänen angezeigt (vgl. dazu Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 83) 3 willeclîche: ‚willig, gut-, bereit-, freiwillig, gern‘ 5 verbieten: hier ‚(ein Gebot) erhöhen; überbieten‘, wörtlich ‚ich wollte es höher erhöht haben‘ understân: tr. hier wohl ‚abwehren, verhindern‘ 7 ûf: eigentlich ‚auf, hinauf, in die Höhe‘, ich übersetze mit ‚hinzu‘ 8 Es ist nicht sicher, ob die direkte Rede bis V. 8 oder sogar noch weiter reicht. 9 hûs: hier ‚Haushalt‘ 10 es: adv. Gen., semantisch Gen. der Relation ‚in Bezug auf‘ (vgl. Mhd. Gram., § S 75) 12 verbieten: hier ‚ein höheres Gebot als der Gegner abgeben‘ bunt: ‚eine Reihe von Steinen nebeneinander im Brettspiel‘ (vgl. HWB bunt) bzw. ‚der Bund im Brettspiel‘ (vgl. BMZ bunt); bleibt in der Übersetzung als Terminus technicus stehen
HMS 3: III,3 Sch 65
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Ton III, Korpus in J
Übersetzung Ein Spiel lief so gut für mich, dass ich erwartete zu gewinnen. Ich legte dort die Steine und (machte) auch einen Einsatz: So, wie ich es vom [Holz abschabte, legte ich dort bereitwillig je einen Holzspan hin. Ich war so froh, (denn) ich glaubte, das Spiel gewonnen zu haben; 5 ich war dabei, einen höheren Einsatz zu machen, da wurde es verhindert, es wurde verlustreich weniger, so dass ich zornerfüllt sagte: ,Jetzt kommt das Pech hinzu! Wie habe ich Geld verloren!ʻ Das hatte ich für mich und meine Kinder (schon) zu meiner Haushalt(-skasse) [gezählt. 10 Ich hätte darauf gut und gerne tausend Eide geschworen, dass, wann auch immer ich mein Gebot dort abgab, es ein ganz und gar [gewonnenes Spiel war. Wann auch immer ich meinen Einsatz noch erhöhen werde, werde ich auf die [bünde achtgeben.
Inhalt III,48 fällt aufgrund des narrativen Charakters auf, durch den der Spruch wie eine Art einstrophiges Erzähllied wirkt. Es liegt sowohl ein sukzessiver Handlungsverlauf vor, der in eine Nacherzählung eingebettet ist (vgl. V. 1–11), als auch direkte Rede (vgl. V. 7 f.) zusammen mit der Inquit-Formel ich […] sprach (V. 6). Wovon erzählt der Spruch nun konkret? Das Sprecher-Ich, das im Zentrum steht und dank der ungewöhnlich häufigen „Selbstnennungen“613 auffällig stark präsent ist,614 schildert, wie es beim Brettspiel615 so sicher war zu gewinnen (vgl. V. 1, 4), dass es nicht nur seinen 613 ich taucht insgesamt an fünfzehn Stellen im Text auf (vgl. V. 1–6 und V. 8–12 [z. T. Mehrfach„nennung“ in einem Vers], besonders prägnant in anaphorischer Form [vgl. V. 1–5]); ansonsten enthält der Spruch noch mich (V. 1), mir (V. 9) und mîn bzw. mînen (zweimal V. 9 und 11). Vgl. dazu auch Yao, S. 169 und 170 (hier: „Sie [die Dichter, Anm. d. Verf.] haben die Ich-Erzähltechnik verwendet, auf dass die Erzählungen wie Berichte über persönliche Erlebnisse aussähen.“). 614 Vgl. dazu Teschner, S. 71 f. 615 Laut Schönbach handelt es sich hierbei um „eine Partie Puff […]; sonst ,Langer Puff‘, auch ,Trik-Trak‘ genannt“ (Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 81, zum Spielablauf des Puffs vgl. ausführlich S. 81 f.). Vgl. dazu DWB Buf, Puf, 3): „von alters her erscheint das wort beim
48. Ich hete eín ſpil ſo guͦt daz ıch gewy˙nnnes mích vuͦr ſach.
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Einsatz machte (vgl. V. 2 f., 11), sondern übermütig wurde und diesen sogar erhöhen wollte (vgl. V. 5). Das Spiel wendete sich jedoch in diesem Moment zu seinen Ungunsten (vgl. V. 6 f.) und sein ursprüngliches Gebot nam verlusteclîchen abe (V. 6). Dieser (Geld-)Verlust erzürnt den Sprecher sehr (vgl. V. 6 von zorne; vgl. auch V. 7 f.), da er den sicher geglaubten Gewinn in Gedanken bereits für seinen Haushalt (bestehend aus ihm und seinen Kindern, vgl. V. 9) einge- bzw. verplant hatte (vgl. V. 9). Zum Abschluss dieser Nacherzählung beteuert der Sprecher, dass er (damals!), als er sein Gebot abgab, hundertprozentig sicher war – er hæte es tûsent eide wol gesworn (V. 10) –, dass das Spiel so gut wie gewonnen gewesen wäre (vgl. V. 11). Mit dieser Aussage endet der Rückblick auf das verlorene Spiel und Vers 12 stellt den Versen 10 und 11, die wie eine Art Fazit aus damaliger Sicht erscheinen, ein Schlussfazit aus heutiger Sicht gegenüber. Dieses zeugt angesichts des Abstands, den das Ich zu dieser Erfahrung mittlerweile gewonnen hat, von einer gewissen Einsicht in die eigenen Fehler: Künftig wird das Ich die bünde und somit den Spielverlauf besser im Blick behalten, bevor es sein Gebot abgibt bzw. erhöht.616 Welche Botschaft soll III,48 vermitteln? Geht es – wörtlich genommen – tatsächlich nur um einen guten Ratschlag für ein Brettspiel?617 Oder dient die „Erzählung“ von dem verlorenen Spiel vielmehr als Veranschaulichung eines tiefergehenden Sachverhalts, wie wir es regelmäßig bei Bruder Wernher finden? Anton E. Schönbach schlussfolgert, dass der Spruch entweder als allgemeine Warnung zu verstehen ist618 oder aber er bietet damit ein Gleichnis und meint dabei einen Fürsten, den er nicht zu nennen wagt (Herzog Friedrich den Streitbaren? Dann wären die bünde dessen verbundene Gegner,
würfelspiel, einen puf werfen bedeutet gleiche zahlen auf zwei oder mehr würfel werfen, einen pasch werfen.“ Und weiter unten unter 3): „doch die benennung buf scheint daher zu rühren, dasz die fallenden würfel das bret stoszen, schlagen, einen buf geben.“ Wieso Schönbach ausgerechnet von diesem Spiel ausgeht, erläutert er nicht näher, allerdings ist ihm wohl zuzustimmen, denn in anderen Textbelegen, die speziell das BMZ unter dem Lemma bunt (st. Mask.) aufführt, tritt das Lexem bunt in der vorliegenden Bedeutung zusammen mit wurf und buf auf (vgl. BMZ bunt, 4.). 616 Schönbach versteht den Schlussvers nicht als in der gegenwärtigen Rückschau formuliert, sondern zu der Nacherzählung gehörig, die seiner Lesart zufolge mit Vers 12 in der Gegenwart angekommen ist. Er übersetzt: „Tausend Eide hätte ich da gewiß geschworen, so oft ich meinen Einsatz hinlegte, daß mein Spiel bereits vollauf gewonnen sei. Wenn ich jemals noch den anderen überbiete, dann muß ich auf die Bünde (besser) acht geben.“ (Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 81) 617 Schönbach dazu: „Schwerlich hat Wernher diesen Spruch […] verfaßt, um bloß eine Puffpartie zu beschreiben […].“ (Ebd., S. 83) 618 Vgl. ebd.
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die er besser zu beachten hätte: 1232. 1236), der waghalsig das nahezu gewonnene Spiel in Gefahr bringt.619
Speziell die zweite Überlegung erscheint sehr spekulativ und sollte wohl mit einer gewissen Vorsicht betrachtet werden. Yao wirft schließlich die Überlegung auf, dass es bei III,48 um eine persönliche Klage des Dichters [geht], in der er seine künstlerische Karriere mit einer Würfelpartie verglich. Der Gegner in der Trik-Trak-Partei [sic!] ist dann einer seiner Konkurrenten. Als Bruder Wernher anfangs einigermaßen erfolgreich war, setzte er Reputation, auf das [sic!] seine Familie angewiesen war, aufs Spiel. Warum auch immer hat er dem Konkurrenten gegenüber auf einen Schlag an Beliebtheit beim Publikum bzw. an Gunst der Herren verloren, die den Bünden entsprechen würden.620
Diese Deutung vermag mich zwar nicht ganz zu überzeugen, allerdings ist Yao zuzustimmen, wenn er sagt, dass es sich bei derartigen Schilderungen „[i]n Wirklichkeit […] um fiktive Darstellungen [handelt], die realistische Szenen simulieren“621.
Historischer Hintergrund Die Formulierung in Vers 9 (daz hâte ich mir unde mînen kinden an mîn hûs gezelt) hat Lamey zu der Vermutung verleitet, „[d]ass Br. W. verheiratet war“622, Vers 9 evtl. also wörtlich zu nehmen und Bruder Wernher tatsächlich als Familienoberhaupt eines Haushalts zu sehen sei. Dieser Ansicht hat Schönbach zwar zu Recht widersprochen, allerdings mit einer – für Schönbach nicht untypischen – kaum wissenschaftlichen Begründung: „Auf sein eigenes Lebensschicksal […] wird er kaum angespielt haben: das wäre ihm schlecht gelungen.“623 Statt von der Schilderung eines biografischen Erlebnisses auszugehen, ist das Ich dieses Spruches wohl eher dem lyrischen Ich, dem Erzähler-Ich oder, mit Joachim Teschner gesprochen, dem Ich aus der IchParabel vergleichbar.624 Es ist also fiktiv und darf nicht vor einem biografischen Hintergrund gesehen werden. 619 Ebd. 620 Yao, S. 170. 621 Ebd. 622 Lamey, S. 11. Außerdem nimmt Lamey erneut eine Datierung für nach 1236/37 vor (analog zu III,46; III,47; III,49 u. a.) (vgl. ebd., S. 27 f.). 623 Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 83. 624 Vgl. Teschner, S. 72. Er schreibt mit Blick auf III,48: „Ich-Parabeln dieser Art und von diesem Rang sind wertvolle Einzelstücke, sie verschwinden in der Masse des Überlieferten.“ (ebd.)
48. Ich hete eín ſpil ſo guͦt daz ıch gewy˙nnnes mích vuͦr ſach.
439
Dennoch fällt die Wortwahl der Formulierung auf, denn der Hinweis auf Kinder ist „eine für einen Spruchdichter sehr ungewöhnliche Wendung“625, deren Gebrauch jedoch laut Teschner vor dem Hintergrund der „materielle[n] Sicherung seiner Existenz“626 evtl. dadurch zu erklären ist, dass sie „dem Verlangen nach Lohn einen besonderen Nachdruck [verleiht]“627.
Inhaltliche Ähnlichkeit mit anderen Texten vgl. zur Würfelspielmetaphorik: Walther L 80,3: Sich wolte ein ses gesibent hân ûf einen hohvertígen wân: sus strebte ez sêre nâch der übermâze. swér der mâze brechen wil ir strâze, dém gevellet lîhte ein enger pfat. hôhvértic ses, nû stât gedrîet! dir was zem sese ein velt gefrîet, nû smiuc dich an der drîen stat. (Schweikle: Walther, Bd. 1, S. 298)
Metrik A A A A 5 A A A A A 10 A A A
7ma 7ma 7mb 7mb 7mb 7ma 4mc 3m d 7mc 5md 8me 8me
625 Ebd., S. 70. 626 Ebd. 627 Ebd.
hâtẹ ich léite dâ stéine undẹ óuch gebót: alsộ ích ez von hólze brách, leitẹ ich wás sô vro, ich wande, daz spíl gewúnnen sólde han; woldẹ ez nám verlústeclchen ábe, daz ích von zórne sprách:
daz hatẹ ich mír unde mnen kínden án mîn hus gezélt. hætẹ swennẹ, wærẹ swennẹ ích ez me verbíeten wíl, sô wílẹ ich némen der bnde wár.
440
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Literatur Gerdes: Beiträge, S. 30 Anm. 1, 174 und Anm. 7, 175 f., 178 und Anm. 3, 179 und Anm. 5, 181 und Anm. 8 • HMS 4, S. 522 • Kemetmüller, S. 77, 78, 90, 233 • Lamey, S. 7, 11, 28, 30, 31 • Roethe, S. 305 • Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 80–83 • Teschner, S. 69– 73 • Vetter, S. 263 • Yao, S. 169–171.
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49. Ich bín getruwer manígen man den er ẏm ſelber ſẏ. (J46, U) Ich bín getruwer manígen man den / er ẏm ſelber ſẏ. Den ıch wol gantzer / eren gvnde. Vnde daz er were vrẏ. / Vuͦ r ſvnden vnde vuͦ r ſchanden. Des / gan er ẏm ſelber nícht. Swer mích / da vmme hazzet daz ıſt gar von / valſcher phlıcht. 5 Owe waz des an / tugendeloſen ſcalken nv geſcıcht. / Sıe wenet ıch ſıe durch ır guͦ t ſı gar / mít loſen bẏ | Des eẏner ſyme kínde / gan. kegen den er truwe hat Gan / ıch den ouch wol guͦ tes des mvt nẏ // mıt mẏr began. 10 Der ſvnden der ıe wıb / mẏt manne begat der ſol mír deſte / holder ſẏn Sínt vnſe ſıppe ıſt vz ge/tzelt. Swer daz durch ſẏne vntugen/de lat der ſı dem tíubel of geſelt
1 statt Initiale nur Lombarde 2 Vnde evtl. nur mit Minuskel statt Majuskel 6 statt Reimpunkt vertikaler Strich 7 statt Lombarde bei Des nur Majuskel 10 Reimpunkt fehlt; wahrscheinlich, weil Vers 11 eigentlich mit Lombarde einsetzen müsste 11 Lombarde bei der fehlt, dafür bei Sint falsch gesetzt
49. Ich bín getruwer manígen man den er y˙m ſelber ſy˙.
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Ich bin getriuwer manegem man, dan er im selber sî; dem ich wol ganzer êren gunde unde daz er wære vrî vür sünde unde vür schande, des gan er im selber niht. swer mich dâ umbe hazzet, daz ist gar von valscher phliht. 5 ôwê, waz des an tugendelôsen schalken nû geschiht! sie wænent, ich sî durch ir guot in gar mit lôsen bî. des einer sîme kinde gan, gegen dem er triuwe hât, gan ich dem ouch wol guotes, des muoter nie mit mir began 10 der sünden, der ie wîp mit manne begât. der sol mir deste holder sîn, sint unser sippe ist ûz gezelt. swer daz durch sîne untugende lât, der sî dem tiuvel ûf geselt.
46 J 2 ganzer êren: Objektsgen. zu gunnen 3 vür: hsl. md. mit Dat., in der Normal. zurückgenommen und regulär mit Akk.; in Verbindung mit dem Adj. vrî (V. 1) ‚frei von etwas, es nicht besitzend‘ 4 von: hier kausal ‚von, durch, vor, wegen, aus, die Ursache oder den Urheber, den Grund anzeigend‘ phliht: hier ‚Dienst; Verpflichtung‘ (oder allgem. ‚Sitte, Art und Weise‘); zusammen mit dem Adj.attr. valsch (wörtlich ‚falsche Verpflichtung, unaufrichtiger Dienst‘) ist entweder wertend ‚Verlogenheit, Falschheit, Unaufrichtigkeit‘ gemeint (vgl. auch Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 84) oder eher neutral und etwas freier übersetzt ‚Irrtum, Fehleinschätzung‘. Ich wähle die neutralere Auslegung, da das Verb wænen (V. 6) zusammen mit der Aussage von V. 6 eher auf eine irrtümliche Unterstellung, also ein Fehlurteil, hindeutet. 5 des: attr. Gen. zu waz (bezieht sich inhaltlich zurück auf sünde und schande in V. 3) 6 Die Inkongruenz des Numerus (hsl. Sıe wenet) wurde, um Missverständnissen vorzubeugen, in der Normal. korrigiert. sî: hsl. ſıe Nbf. zu sî (1. Sg. Konj. Präs.) in: Die hsl. Lesart ſı (Akk. Pl. der 3. Pers.) resultiert aus bî + Akk. (also bî sie mit lôsen sîn) (im Md. steht nicht selten Akk. statt Dat.) und wird in der Normal. zurückgenommen durch regulär bî + Dat. (also bî in mit lôsen sîn). lôse: ‚Leichtfertigkeit, Leichtsinn‘, gemeint ist hier wohl ‚Gedankenlosigkeit, ein fehlender kritischer Blick‘ 9 guotes: Objektsgen. zu gunnen 10 der sünden: Objektsgen. zu beginnen (V. 9) (eigentlich ‚beginnen, anfangen‘, hier m. E. eher umschreibend, so dass ich freier übersetze mit ‚begehen‘) 11 sippe: ‚Sippe, Verwandtschaft‘ ûz gezelt sîn: ‚zu Ende sein‘; da es dem Sprecher-Ich hier gerade darum geht, dass zwischen ihm und dem Anderen keine Verwandtschaft (= sippe) wie zwischen Eltern und Kind (vgl. V. 7–9) vorliegt, erscheint die Bedeutung ‚zu Ende sein‘ etwas unlogisch, denn es bestand ja nie eine Verwandtschaft, die beendet werden könnte (unabh. davon, ob man Verwandtschaftsverhältnisse überhaupt beenden kann). Ich verstehe ûz gezelt sîn im Sinne von ‚begrenzt‘ oder ‚nicht existierend‘ und übersetze etwas freier ‚wir sind nicht verwandt‘.
HMS 3: III,4 Sch 66
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Übersetzung Ich bin manchem Mann gegenüber loyaler, als er sich selbst gegenüber ist; demjenigen, dem ich gut und gerne vollkommenes Ansehen gönnen würde und [dass er frei sei von Sünde und von Schande, der gönnt sich das selbst nicht. Wenn einer mich dafür hasst, geschieht das ganz und gar aus einem Irrtum [heraus. 5 Ach, was davon jetzt bei ungesitteten Bösen der Fall ist! Sie glauben, ich sei aufgrund ihres Vermögens ganz und gar unkritisch ihnen [gegenüber. Was einer seinem Kind gönnt, dem er sich verbunden fühlt, gönne ich gut und gerne auch demjenigen an Gutem, dessen Mutter nie mit mir 10 die Sünden beging, die stets Frau mit Mann begeht. Derjenige muss mir umso gewogener sein, denn wir sind nicht verwandt. Jeder, der das aufgrund seiner Verkommenheit unterlässt, der sei dem Teufel [hinzugesellt.
Inhalt III,49 soll „den Herrn zur Ausübung der Standespflichten antreiben“628, dabei kombiniert der Spruch Belehrung mit Kritik: Der erste Stollen nennt vorab diejenigen Aspekte, die für einen respektablen, würdigen Lebensstil unabdingbar sind, nämlich ganze[r] êren (V. 2) zu besitzen und vrî vür sünde unde vür schande (V. 2 f.) zu sein. Gleichzeitig enthalten dieselben drei Verse aber auch den Hinweis darauf, dass manege[r] man (V. 1) gerade nicht auf derart ehrenwerte Weise lebt, denn er ist sich selbst gegenüber nicht loyal (vgl. V. 1) und missgönnt sich ein Leben in Ansehen und frei von Sünde und Schande (vgl. V. 2 f.). Interessant ist die Position, die der Sprecher hier einnimmt: Er stellt sich als wohlwollender gegenüber manegem man (V. 1) dar, als der es sich selbst gegenüber ist, wodurch der Sprecher und seine Absichten als lauter und hehr markiert werden. Und auch im weiteren Verlauf des Spruches sucht der Sprecher die Aufrichtigkeit seiner Belehrung anschaulich zu betonen: Anhand des Vergleichs der uneingeschränkten Elternliebe und ‑treue dem eigenen Kind gegenüber (vgl. V. 7–9) mit der Ergebenheit des Sprechers gegenüber dem Herrn wird seine Haltung gar mit der tiefgreifendsten aller zwischenmenschli628 Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 84.
49. Ich bín getruwer manígen man den er y˙m ſelber ſy˙.
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chen Beziehung gleichgesetzt; der Sprecher kann es also nur ehrlich und gut meinen.629 Und auch Vers 11 hebt auf die Uneigennützigkeit des Sprechers ab, denn darin erklärt er, dass man ihm gegenüber gerade aufgrund der Tatsache, dass er so ergeben und wohlwollend ist, obwohl er und der Andere noch nicht einmal miteinander verwandt sind (im Unterschied zu Eltern und Kind), deste holder (V. 11) sein müsse. Die Beweggründe des Sprechers, manege[n] man (V. 1) indirekt zu ehrenwertem Benehmen zu ermahnen, sind also aufrichtig. Dass dies deswegen so nachdrücklich betont wird, ist durch den zweiten Stollen zu erklären: Daraus geht hervor, dass die Position des Sprechers falsch eingeschätzt und deswegen kritisch gesehen wird, man ihn gar dâ umbe hazzet (V. 4) und seine Ergebenund Aufrichtigkeit in Zweifel zieht. Auf die Belehrungen des Sprechers wird keinen Wert gelegt, ganz im Gegenteil: Man geht davon aus, dass er sich durch ir guot (V. 6) bei ihnen einschmeicheln möchte (vgl. V. 6).630 Die Lauterkeit seiner Motive wird demnach in ihr Gegenteil verkehrt: Nicht Aufrichtigkeit, sondern Opportunismus, Eigennutz und Heuchelei werden ihm unterstellt. Diesen Vorwurf versucht der Sprecher zu entkräften, wenn er im Anschluss daran seine Position ausgerechnet mit der triuwe und dem Wohlwollen (vgl. V. 9 gan ich dem ouch wol guotes) gleichsetzt, die Eltern für ihr Kind empfinden. Die Aussage in Vers 9 f. (des muoter nie mit mir began der sünden, der ie wîp mit manne begât)631 wirkt etwas unmotiviert, ist jedoch wohl vor dem Hintergrund von Vers 7 bis 9 und 11 zu sehen: Der Sprecher unterstreicht gerade mit dem Hinweis auf die Liebe der Eltern seine uneingeschränkte Ergeben- und Aufrichtigkeit. Genauso, wie diese ihrem Kind nur das Beste wünschen, gönnt er dies auch dem Angesprochenen – obwohl er mit diesem nicht einmal verwandt ist (vgl. V. 11)! Den Abschluss des Spruches bildet ein generalisierendes Fazit (vgl. swerder-Konstruktion), in dem all diejenigen, die angesichts ihrer untugende (V. 12, vgl. dazu analog V. 5 tugendelôs) nicht willens sind, dem Sprecher ihr Wohlwollen entgegenzubringen, dem tiuvel ûf geselt (V. 12) sein mögen. Dabei fällt auf, dass der Sprecher, der in den vorausgegangenen Versen durchgehend präsent ist, hier nun unsichtbar bleibt – entweder, weil er angesichts der Schärfe der Aussage lieber im Hintergrund bleiben möchte, oder, weil der ver629 Obwohl Bruder Wernher in einem anderen Spruch, nämlich III,47,9–11 (die missgünstige Mutter), zeigt, dass das Verhältnis zwischen Eltern und Kind nicht unweigerlich über jeden Zweifel erhaben sein muss. 630 Zum Vorwurf der Schmeichelei vgl. auch Anm. 197. 631 Meyer meint vor dem Hintergrund der Frage, ob der Titel ,Bruder‘ auf ein Dasein als Mönch hindeute, dass gerade die Verse 9 und 10 „sich im Munde eines Mönches nicht ganz gut ausnehmen“ (Meyer, S. 79).
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allgemeinernde Tonfall eine unmissverständliche Gültigkeit des Gesagten vermittelt. Vielleicht gehen auch beide Überlegungen Hand in Hand.
Historischer Hintergrund Auch III,49 wird von Lamey auf nach 1236/37 datiert,632 ohne dass es dafür stichhaltige Indizien gäbe.633
Inhaltliche Ähnlichkeit mit anderen Texten vgl. zu Vers 11: ,Dietrichs Flucht‘ V. 2809 und 3857: Diu sippe, diu ist ouz gezelt (Lienert/Beck, S. 89) Diu sippe, diu ist ouz gezelt (Lienert/Beck, S. 119)
Metrik A7ma A7ma A7mb A7mb 5 A7mb A7ma A4mc 2A 3 m d A7mc 10 A 5 m d A8me A8me
Ich bín getríuwer mánegem mán, dan ér im sélber s; dem ích wol gánzer eren gúndẹ unde dáz er wǽ re vr vür snde únde vür schánde, dés gan ér im sélber níht. ôwe, waz dés an túgendelosen schálken nu geschíht!
gegen dém er tríuwe hat, gan ích dem óuch wol gúotes, des múoter níe mit mír begán der snden, dér ie wp mit mánne begat. sippẹ swer dáz durch snẹ untúgende lat, der s dem tíuvel uf gesélt.
Literatur Gerdes: Beiträge, S. 91 und Anm. 3, 153, 156 und Anm. 1, 164 und Anm. 4, 174 und Anm. 4, 177 und Anm. 1, 178 und Anm. 3, 179 und Anm. 4, 181 und Anm. 6, 197 • HMS 4, S. 522 • Kemetmüller, S. 13, 77, 78, 89, 234 • Lamey, S. 8, 28, 30 • Leitzmann, S. 164 • Meyer, S. 79 • Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 83 f.
632 Vgl. Lamey, S. 27 f. 633 Vgl. dazu auch Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 84.
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50. Des rẏnes ſite wıſte ıch wol. Vnde was mẏr lange kvnt. (J47, U) Des rẏnes ſite wıſte ıch wol. / Vnde was mẏr lange kvnt. / Daz ſıe ıres hares ſo wol phlegen. Des / vntgıltet ſere ır mvnt. Jr tugent ıſt / kranc ır mílte ıſt ıvnc daz han ıch / wol geſen Man mvͦz dıe hoen her/ren vmme eín ezzen ſere vlen. 5 Er mvͦz / gar geluckích ſín ſwem da ſol guͦ t / geſchen. Sıe ſínt ſo mílte ſam eẏn / grozer ſtarker ſcafe hvnt Swem / ıch da klagete mẏne not. Vnde mẏ/ne hertzeleít Der ıach her wıder / Er were ſelber vıl nach hvngers tot. / 10 Mıt armer hocvart ſínt ſıe vıl ge/meıt Ir gabe vnde ouch ıres kurtz / gewandes wıl ıch ẏmmer me vn/pern. Jr aller lıb ıſt alſo vnreẏne daz / ſıe wollen keẏner eren gern. /
9 Punkt vor Er fehlt
50. Des ry˙nes ſite wıſte ıch wol. Vnde was my˙r lange kvnt.
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Des Rînes site wiste ich wol unde was mir lange kunt. daz sie ir hâres sô wol phlegent, des entgiltet sêre ir munt. ir tugent ist kranc, ir milte ist junc, daz hân ich wol gesên. man muoz die hôen hêrren umbe ein ezzen sêre vlên; 5 er muoz gar gelückec sîn, swem dâ sol guot geschên. sie sint sô milte sam ein grôzer, starker schâfehunt. swem ich dâ klagete mîne nôt unde mîne herzeleit, der jach her wider, er wære selber vil nâch hungers tôt. 10 mit armer hôchvart sint sie vil gemeit: ir gâbe unde ouch ir kurz gewandes wil ich iemer mê enbern, ir aller lîp ist alsô unreine, daz sie wellent keiner êren gern.
47 J 2 ir hâres: Objektsgen. zu phlegen des: Objektsgen. zu entgelten munt: Da munt hier vor dem Hintergrund von V. 4 und 9 zu sehen ist, übersetze ich nicht wörtlich mit ‚Mund‘, sondern mit ‚Magen‘. 3 kranc: Entweder ‚schwach, kraftlos‘ oder bewusst negativ konnotiert ‚wertlos, gering, schlecht‘, beides ergibt hier m. E. Sinn. junc: eigentlich ‚jung‘, hier ist jedoch eher ‚schwach, gering‘ gemeint 10 hôchvart: Hsl. 〈c〉 für /ch/ (hocvart) geht wohl auf Verschreibung zurück. gemeit: ‚lebensfroh, freudig, froh, vergnügt‘ 12 lîp: Ich übersetze hier mit ‚Leben‘, allerdings ist auch lîp als Personenumschreibung (‚sie‘) oder evtl. ‚Körper‘ denkbar.
HMS 3: III,5 Sch 67
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Übersetzung Die rheinische Lebensweise kannte ich genau und war mir lange bekannt. Dass sie ihre Haare so gut pflegen, dafür bezahlt schmerzlich ihr Magen. Ihre Sittsamkeit ist wertlos, ihre Freigebigkeit gering, das habe ich genau [gesehen. Man muss die hohen Herren gewaltig um eine Mahlzeit anflehen; 5 derjenige muss ganz und gar gesegnet sein, dem es dort gut ergehen mag, sie sind so freigebig wie ein großer, kräftiger Schäferhund. Wem auch immer ich dort meine Not und meinen Herzenskummer klagte, der entgegnete, er wäre selbst dem Hungertod nahe. 10 In (ihrem) erbärmlichen Hochmut sind sie sehr vergnügt: Auf ihre Gaben und auch auf ihre kurzen Kleider werde ich künftig immer [verzichten, ihrer aller Leben ist so verkommen, dass sie nicht beabsichtigen, nach Ansehen [zu streben.
Inhalt In III,50 wird, anders als sonst, die fehlende milte an einer konkreten Personengruppe festgemacht:634 den Rheinländern (vgl. V. 1).635 Diese werden aufgrund ihrer Lebensweise (vgl. V. 1 [d]es Rînes site) vom Sprecher verurteilt, der über ihre site nicht nur schon lange Bescheid weiß (vgl. V. 1), sondern er hat sich davon auch mit eigenen Augen ein Bild machen können (vgl. V. 3). Über die Glaubwürdigkeit und den Wahrheitsgehalt des Gesagten soll bzw. kann demnach kein Zweifel bestehen. Die Kritik des Sprechers an den Rheinländern richtet sich zwar vorrangig auf ihre mangelhafte Freigebigkeit, beinhaltet aber auch andere Bereiche, die eindeutig zu beanstanden sind. So wird im ersten Stollen neben ihrer schwachen Freigebigkeit (vgl. V. 3 ir milte ist junc) auch ihre dürftige Sittsamkeit (vgl. V. 3 ir tugent ist kranc) beklagt und dass sie sich stattdessen durch ihre Eitelkeit hervortun (vgl. V. 2 daz sie ires hâres sô wol phlegent).
634 Gerdes weist darauf hin, dass es „kein einziges Beispiel für eine persönliche Schelte oder Zurechtweisung [gibt], wie sie von seiten Walthers Philipp, Otto, Gerhart Atze oder der Abt von Tegernsee erfahren haben“ (Gerdes: Beiträge, S. 197). 635 Vgl. eingehender zu den Rheinländern und deren Gebaren Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd, S. 86.
50. Des ry˙nes ſite wıſte ıch wol. Vnde was my˙r lange kvnt.
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Nachdem der erste Stollen alles beinhaltet, was für das Verständnis des Spruches relevant ist (V. 1 Einleitung und Benennung der kritisierten Personengruppe, V. 2 f. Aufzählung des zu beanstandenden Fehlverhaltens), konzentrieren sich der zweite Stollen sowie die ersten drei Verse des Abgesangs auf das „Zentrum“ des Fehlverhaltens: die mangelhafte milte. Zunächst wird diese in einem eher allgemeinen Rahmen beschrieben (vgl. V. 4 man muoz, V. 5 er muoz, swem), wobei der Fokus nicht auf eine monetäre Entlohnung ausgerichtet ist, sondern auf die Beschenkung (sprich: Gastfreundschaft) in Naturalien: man muoz […] umbe ein ezzen sêre vlên (V. 4). Die milte bekommt somit einen recht existenziellen Hintergrund. Zusätzliche Dramatik erhält das Gesagte zudem durch den Vergleich der milte der hôen hêrren (V. 4) mit der eines grôze[n], starke[n] schâfehun[des] (V. 6): Dieser wird mit Blick auf sein Fressen wohl kaum bereit sein zu teilen und ähnlich verhält es sich mit den Rheinländern. Derjenige also, dem es bei ihnen sol guot geschên, muoz gar gelückec sîn (vgl. V. 5). Im Anschluss an diese nähere Beschreibung rücken nun das Ich, seine nôt (V. 7) und sein herzeleit (V. 8) in den Blick: Egal, wem es Not und Kummer klagt, es bekommt von dem Anderen zur Antwort, dass auch dieser vil nâch hungers tôt sei (V. 9). Es ist m. E. nicht ganz klar, ob die Klage des Ich über die mangelhafte Versorgung auf den Geiz der Rheinländern zurückzuführen ist, es sich bei dem Anderen also auch um einen zu Entlohnenden handelt und die Rheinländern zu knausrig sind, eine Mahlzeit zu verschenken, oder ob sich Vers 9 vielmehr auf einen Rheinländer bezieht und der Vers zum Ausdruck bringen will, dass schlicht nichts da ist, was verteilt werden könnte, und zwar unabhängig davon, ob ein Fremder wie der Sprecher um Lohn bittet oder ein Einheimischer.636 Tendenziell erscheint m. E. die erste Auslegung denkbarer, da zum einen in Vers 4 ausdrücklich die hôen hêrren kritisiert werden, ein klassisches Kennzeichen eines Scheltspruchs aufgrund mangelhafter milte also, und zum anderen die Wahl des Lexems gâbe in Vers 11 ebenfalls in diese Richtung deutet. Andererseits ist Gerdes, der für die zweite Interpretation plädiert, insofern zuzustimmen, als sich die in Vers 2 angesprochene Vernachlässigung des leiblichen Wohls auf die Rheinländer insgesamt zu beziehen scheint, zumindest wird keine konkretere Differenzierung der Personengruppe vorgenommen (vgl. V. 2 sie, ir und auch V. 3 zweimal ir; erst in V. 4 werden die hôen hêrren in den Fokus genommen). Grundsätzlich kann unabhängig davon, welcher Deutung man zuneigt, mit Blick auf die Verse 7 bis 9 festgehalten werden, dass der
636 Gerdes geht davon aus, dass sich Vers 7 bis 9 auf die Rheinländer insgesamt bezieht (vgl. Gerdes: Beiträge, S. 196).
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beschriebene Zustand allein dadurch eine gewisse Dramatik erhält, dass die Notlage des Sprechers kein individueller Einzelfall zu sein scheint, sondern auch andere, evtl. sogar viele, betroffen sind (vgl. das verallgemeinernde swem in V. 7). Die drei Schlussverse schließen den Spruch inhaltlich ab, indem sie die Kritikpunkte, die zu Beginn im ersten Stollen genannt wurden, wieder aufgreifen. Zunächst ist in Vers 10 in Anlehnung an die in Vers 2 beschriebene Eitelkeit von der arme[n]637 hôchvart die Rede, die sie (gemeint sind wohl die hôen hêrren [V. 4]) vil gemeit (V. 10) sein lässt. Vers 11 nimmt ein letztes Mal die milte in den Blick, indem der Sprecher erklärt, künftig auf ihre Geschenke stets zu verzichten – dies ist wohl ironisch zu verstehen, schließlich wurde ihm bisher ja gar nichts zuteil, wieso sollte sich dies in der Zukunft ändern –, und im letzten Vers wird, parallel zu Vers 3 (ir tugent ist kranc), nochmals die Verkommenheit ihres Lebens sowie ihr fehlendes Bemühen um êre zum Ausdruck gebracht. Der Tonfall wird also auch am Ende der Strophe nicht versöhnlicher, sondern bleibt bis zuletzt scharf und anklagend.638
Historischer Hintergrund Die Aussage daz hân ich wol gesên (V. 3) ist in der Forschung vermutlich nicht zu Unrecht übereinstimmend als Hinweis verstanden worden, Bruder Wernher sei tatsächlich selbst im Rheinland gewesen,639 obwohl dies natürlich nicht mit letzter Gültigkeit bewiesen werden kann. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Aussage in Vers 3 wörtlich zu verstehen ist, leitet sich nicht nur von der relativen geografischen Nähe zum bayerisch-österreichischen Raum640 und somit 637 Die Wortwahl scheint wohlüberlegt und ist äußerst clever: In einem Spruch, der sich zentral mit der milte bzw. deren Ausbleiben beschäftigt, wird das Adj. arm nicht etwa in seiner materiellen Bedeutung (‚arm, ärmlich, bedürftig‘) verwendet, sondern auf eine immaterielle Sache bezogen, nämlich auf die Superbia, die Todsünde des Hochmuts und der Eitelkeit also. Gerade in diesem sündhaften Irrglauben sind die Betroffenen arm und erbärmlich. Geht man übrigens davon aus, dass in diesem Spruch nicht der Mangel an Lebensmitteln an sich gemeint ist, sondern stattdessen die Knausrigkeit kritisiert wird, gesellt sich zur Superbia noch die Avaritia, der Geiz. 638 Gerdes weist nicht zu Unrecht darauf hin, dass Wernher – „[w]enn Wernher diese schlechte Erfahrung gemacht hat“ (Gerdes: Beiträge, S. 196) – „mit Sicherheit nicht ‚die hôhen hêrren‘ persönlich wissen lassen [hat], sie seien ‚sô milte sam ein grôzer starker schâfehunt‘ […], sondern sein Urteil […] einem Publikum nicht unmittelbar Betroffener vorgetragen“ (ebd.) hat. 639 Vgl. Meyer, S. 82; Lamey, S. 6, 11 und 28; Doerks, S. 4; Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 86. 640 Immer vorausgesetzt, dies war der zentrale Aufenthaltsraum Bruder Wernhers.
50. Des ry˙nes ſite wıſte ıch wol. Vnde was my˙r lange kvnt.
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der Machbarkeit der zu bewältigenden Reisestrecke ab, sondern sie ist m. E. allein aufgrund dessen hoch, dass Bruder Wernher hier überhaupt so konkret wird und eine Region und deren Bewohner benennt. Wieso hätte er dies tun sollen, wenn er weder je negative Erfahrungen im Rheinland gemacht hätte noch überhaupt je dort gewesen wäre? Sich willkürlich und unbegründet eine Personengruppe auszusuchen und diese scharf zu kritisieren, erscheint gerade vor dem Hintergrund, dass ein voraussichtlich fahrender Sangspruchdichter sehr darauf bedacht gewesen sein mag, potenzielle Gönner nicht vorschnell zu verprellen, eher unwahrscheinlich.
Inhaltliche Ähnlichkeit mit anderen Texten vgl. insgesamt Marner XI,2: Wie höfsche liute habe der Rîn, daz ist mir wol mit schaden kunt: ir hûbe, ir hâr, ir keppelîn erzeigent niuwer fünde funt. Krist in helfe, sô si niesen! Ez mac wol curteis povel sîn. pittit mangier ist in gesunt. stat ûf, stat abe in wehset wîn, in dienet ouch des Rînes grunt. ich wil ûf si gar verkiesen. Der Nibelunge hort lît in dem Lurlenberge in bî: in weiz ir niender einen, der sô milte sî, daz er den gernden teile mite von sîner gebe. die wîle ich lebe, sîn vrî vor mir. ir muot der stât ûf solhen site: nû gip dû mir, sô gibe ich dir. sine wellent niht verliesen. (Strauch, S. 97)641 vgl. zu Vers 10: Freidank 29,6: Armiu hôchvart ist ein spot, (Spiewok, S. 24)
641 Vgl. dazu auch Meyer, S. 82 und Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 86 f.
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Metrik A7ma 3A 7 m a A7mb A7mb 5 7mb A7ma A4mc 2A 3 m d A7mc 10 A 5 m d A8me A8me
Des Rnes síte wístẹ ich wól unde wás mir lánge kúnt. sêrẹ ir túgent ist kránc, ir míltẹ ist júnc daz han ich wól gesen. umbẹ
swem ích dâ klágete mne not unde mne hérzeléit, der jách her wíder, ér wære sélber víl nâch húngers tot. gâbẹ, undẹ ir áller lp ist álsộ unréinẹ, daz sie wéllent kéiner eren gérn.
Literatur Doerks, S. 4, 12 • Gerdes: Beiträge, S. 174 und Anm. 7, 179 und Anm. 5, 181 und Anm. 5, 196 • HMS 4, S. 520 • Kemetmüller, S. 5, 32, 36, 62, 77, 79, 93, 234 • Lamey, S. 6, 11, 28, 29, 30, 31 • Meyer, S. 82 • Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 85–87 • Strasser, S. 241 • Vetter, S. 263.
456
Ton III, Korpus in J
51. Ich weız eẏn wıb vnde eẏnen man. ſolte ıch dıe tzwe geſen. (J48, U) Ich weız eẏn wıb vnde eẏnen man. / ſolte ıch dıe tzwe geſen. Daz ıch ır / tzvͦ manne. vnde ſín tzvͦ wıbe. mvͦſ/te ıen. Des were genvͦch vromeden / vnde ır beıden kínden not Ez lac / hıe vur ıch wene eín man ıch ne / weız wíe lange tot. 5 Den hıez got / ſelber of ſtan. Vnde machete vz / ſteẏn̅ e brot. La herre got der wun/der eẏnez an dıſen tzwen geſchen // Daz vz dem manne werde eín wıb. / Vnde vz dem wıbe eẏn man Vnde / ſıch vuͦ r wandele vnde vuͦ r kere / alſo ır beíder lıb. 10 Sín ellen manlıch / hertze nẏe gewan Eẏn wíbín wıb. / eín mennẏn man. dıe tzemen wol / eẏn ander bẏ. Eín mennẏn wıb. / eẏn wıbín man. dıe ſolten ſín wol / eẏn ander vrẏ. /
6 La evtl. nur mit Minuskel statt Majuskel
51. Ich weız ey˙n wıb vnde ey˙nen man. ſolte ıch dıe tzwe geſen.
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Ich weiz ein wîp unde einen man, solde ich diu zwei gesên, daz ich ir ze manne unde sîn ze wîbe müeste jên; des wære genuoc vremeden unde ir beiden kinden nôt. ez lac hie vür, ich wæne, ein man, ichne weiz wie lange, tôt, 5 den hiez got selber ûf stân unde machete ûz steinen brôt. lâ, hêrre got, der wunder einez an disen zwein geschên, daz ûz dem manne werde ein wîp unde ûz dem wîbe ein man unde sich verwandele unde verkêre alsô ir beider lîp. 10 sîn herze manlich ellen nie gewan. ein wîbîn wîp, ein mennîn man, diu zemen wol ein ander bî; ein mennîn wîp, ein wîbîn man, diu solden sîn wol ein ander vrî.
48 J 1 zwei: Hsl. tzwe ist charakteristisch für das Md. (vgl. Mhd. Gram., § M 60 Anm. 1); da hier Neutr. (wîb) und Mask. (man) bezeichnet werden, steht in der Normal. die neutrale Flexion (vgl. Mhd. Gram., § M 60 und § S 137, 2. a)). 2 modal(-konsekutiver) Adverbialsatz (‚in der Weise, dass ich …‘) (vgl. Mhd. Gram., § S 178) ir und sîn: Objektsgen. zu jên jên (Kontr. zu jehen): ‚jemandem etwas zugestehen, beilegen, zu eigen geben, anrechnen‘ 3 des wære genuoc […] nôt: Das Subst. nôt bedeutet in Verbindung mit tuon, sîn oder werden ‚notwendig sein, nötig haben‘ und steht in dieser Konstellation häufig mit Dat. (vremeden, ir beiden kinden) und Gen. (des) (vgl. HWB nôt). Dass nôt nicht, wie sonst üblich, unmittelbar bei des wære genuoc steht, hat vielleicht einen metr. Hintergrund, denn nôt bildet das Reimwort zu tôt. Mit V. 3 soll wohl zum Ausdruck gebracht werden, dass sowohl die Kinder des besagten Paares (vgl. V. 1 f.) als auch Fremde dem Sprecher in seiner Feststellung (vgl. V. 2 daz ich ir ze manne unde sîn ze wîbe müeste jên) nacheifern sollten. Um der besseren Verständlichkkeit willen, übersetze ich etwas freier. Schönbach hingegen versteht den Vers anders. Er greift in die hsl. Lesart ein, ändert in des wære vremeden genuoc (Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 87) und übersetzt: „daran hätten Fremde zu viel und für die Kinder der beiden wäre es ein Unglück“ (ebd., S. 88). vremeden: zur hsl. Schreibung vromeden vgl. den Übersetzungsapparat zu II,35,2. 4 tôt ligen: ‚verstorben, gestorben sein‘ 10 herze manlich ellen: Die Wortstellung der Hs. – ellen manlıch hertze – erscheint mir nicht sinnvoll, der Vers hieße übersetzt: ‚sein Mut errang nie ein männliches Herz‘. Aber ist nicht viel eher gemeint, dass sein weibisches Auftreten zeigt, dass sein Herz (er selbst also) nie männlichen Mut besaß? Ich stelle dementspr. um.
HMS 3: III,6 Sch 68
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Ton III, Korpus in J
Übersetzung Ich kenne eine (solche) Frau und einen (solchen) Mann, dass ich, wenn ich die [beiden sehen sollte, sie zum Mann und ihn zur Frau erklären müsste; (auch) die Kinder der beiden und Fremde sollten besser zu diesem Schluss [kommen. Es war hier ehemals, glaube ich, ein Mann gestorben, ich weiß nicht, wie lange [(schon), 5 den hieß Gott selbst auferstehen und (er) machte aus Steinen Brot. Lass, Herr Gott, eines der Wunder gegenüber diesen beiden geschehen, so dass aus dem Mann eine Frau werde und aus der Frau ein Mann und sich auf diese Weise ihre beiden Körper verwandeln und ins [Entgegengesetzte kehren mögen. 10 Sein Herz erwarb nie männlichen Mut. Eine weibliche Frau, ein männlicher Mann, die passen gut und gerne zueinander; eine männliche Frau, ein weiblicher Mann, die sollten sehr wohl getrennt [voneinander sein.
Inhalt In III,51 nimmt Wernher die beiden Geschlechter und die gesellschaftliche Rolle, der sie gerecht werden sollen, in den Blick. Während in I,6 und III,47 noch in erster Linie ein eher negatives Frauenbild transportiert wird (im einen Spruch wird von einer streitsüchtigen Ehefrau, im anderen von einer missgünstigen Mutter erzählt), verteilt sich die Kritik in III,51 auf Mann und Frau. Der Sprecher berichtet im ersten Stollen davon, dass er eine Frau und einen Mann kenne (vgl. V. 1), bei denen man, wenn man sie sehen sollte, sie für einen Mann und ihn für eine Frau halten müsste (vgl. V. 2). Für den Sprecher ist diese Verkehrung der natürlichen Ordnung derart abstoßend oder unschicklich, dass er Gott dazu auffordert, der wunder einez an disen zwein (V. 6) geschehen zu lassen, so dass die Frau wieder Frau und der Mann wieder Mann sei (vgl. V. 7–9). Dass dies notwendig ist, soll wohl Vers 10 veranschaulichen, demzufolge sîn herze manlich ellen nie gewan (gemeint ist der wîbîn man). Um zu unterstreichen, dass Gott tatsächlich dazu in der Lage ist, dieses Wunder zu vollbringen, wird in Vers 4 f. die durch Gott bewirkte Erweckung des Lazarus642 sowie die Verwandlung von Steinen zu Brot ange642 Vgl. Joh 11,39–44.
51. Ich weız ey˙n wıb vnde ey˙nen man. ſolte ıch dıe tzwe geſen.
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führt.643 Auch hier arbeitet Bruder Wernher also zu Veranschaulichungs- bzw. Argumentationszwecken mit dem Exempel als Hilfsmittel. Die beiden Schlussverse bringen die Kernaussage des Spruches abschließend auf den Punkt, indem einerseits auf die Angemessenheit und Zugehörigkeit von wîbîn wîp und mennîn man abgehoben wird (vgl. V. 11), während sich andererseits ein mennîn wîp und ein wîbîn man in ihrer Widernatürlichkeit nicht auch noch zusammentun sollten (vgl. V. 12). Der Spruch fordert also dazu auf, seinen natürlichen bzw. kreatürlichen Platz in der Schöpfung zu kennen und sich auch an diesen zu halten. Besonders auffällig an III,51 ist die z. T. parallele und zugleich antithetische Struktur mancher Verse (vgl. V. 7 f. [mit chiastischen Elementen] und V. 11 und 12). Dadurch wird auch auf formaler Ebene die „Verkehrung des Normalzustandes“ (männliche Frau – weiblicher Mann), die ja als Störung der Ordnung, als Durcheinander verstanden wird, widergespiegelt.
Inhaltliche Ähnlichkeit mit anderen Texten vgl. zu Vers 2 und 7–12: Meißner II,9 (hier V. 3 und 11–13): ein menlich man, ein wiblich wib diz merken sol: […] Wie stunde, daz ein wib worde zu dem manne, unde úz dem wibe ein man? men spreche danne: ‚her weichlinc, ir sit ein man mit wibes muͦt.‘ (Objartel, S. 174) vgl. zu Vers 4 f.: Joh 11,1 und 11,44 vgl. zu Vers 5: Mt 4,3; Lk 4,3 vgl. zu Vers 11 und 12: Walther L 80,19 (hier V. 2): manlîchiu wîb, wîblîche man, (Schweikle: Walther, Bd. 1, S. 300)
Metrik A7m 7m A7m A7m 5 A7m A7m
a a b b b a
undẹ, soldẹ dáz ich ír ze mánnẹ unde sn ze wbe meste jen; des wǽ re genúoc vrémeden úndẹ ir béiden kínden not. ez lác hie vr, ich wǽ nẹ, ein mán, ichne wéiz wie lánge, tot, den híez got sélber uf stan unde máchẹte ûz stéinen brot lâ, herre gót, der wúnder éinez an dísen zwéin geschen,
643 Schönbach dazu: „Die Wunder bestehen in der Veränderung: Totes zu Lebendem, Unorganisches zu Organischem.“ (Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 88 f.)
460
A4mc A3md 2A 7 m c 10 A 5 m d A8me A8me
Ton III, Korpus in J
werdẹ undẹ, wîbẹ unde sích verwándele únde verkerẹ also ir béider lp.
ein ménnîn wp, ein wbîn mán, diu sólden sn wol ein ánder vr.
Literatur Doerks, S. 2 • Dorninger, S. 30–32, 33 • Gerdes: Beiträge, S. 24 Anm. 2, 88, 178 und Anm. 3, 179 und Anm. 6, 181 und Anm. 8, 184 Anm. 1, 185 • HMS 4, S. 522 f. • Kemetmüller, S. 34, 79, 234 • Lamey, S. 11, 30, 31 • Roethe, S. 305 • Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 87–89 • Yao, S. 202.
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Ton III, Korpus in J
52. Lobete ıch dıe rıchen boſen vn̅ ır ſvndıchlıchez guͦt. (J49, U) Lobete ıch dıe rıchen boſen vn̅ / ır ſvndıchlıchez guͦ t. Wa we/re denne komen hín myn vnvuͦ r/tzageter mvͦt. Jch wılle ẏn nach / ır wırde gerne ſíngen mẏnen ſanc / Vnde wılle mít lobe dıe mílten / kronen ſvnder valſchen wanc. 5 Dıe / hoch gelobeten bıderben ſvlen mír / des ẏmmer wızzen danc. Daz ıch / mẏn lob ẏm gar vuͦ r ſage ſwer / leſterlıchen tuͦ t Waz ſol ır lıb. / Waz ſol ır leben. Waz ſol ẏn rıcher / hort. Ich meẏne dıe nach ſvnden / vnde nach houbet ſcanden ſtreben. / 10 Dıe ſelben ſín vuͦ r lorn hıe vn̅ dort. / Ir eren gerenden mẏnnet got vn̅ / lazent blıben werenden haz. Sıt / des gewís daz got guͦ ter mílter / lıvte nẏe vuͦ r gaz. /
52. Lobete ıch dıe rıchen boſen vn̅ ır ſvndıchlıchez guͦt.
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Lobete ich die rîchen bœsen und ir sündeclîchez guot, wâ wære danne komen hin mîn unverzageter muot? ich wile in nâch ir wirde gerne singen mînen sanc unde wile mit lobe die milten krônen sunder valschen wanc. 5 die hôch gelobeten biderben suln mir des iemer wizzen danc, daz ich mîn lop im gar versage, swer lesterlîchen tuot. waz sol ir lîp? waz sol ir leben? waz sol in rîcher hort? ich meine, die nâch sünden unde nâch houbetschanden streben. 10 die selben sint verlorn hie unt dort. ir êren gernden minnet got unt lâzet blîben wernden haz! sît des gewis, daz got guoter, milter liute nie vergaz!
49 J 2 mîn unverzageter muot: wörtlich ‚zuversichtliche, tapfere Gesinnung‘, ich übersetze etwas freier 3 nâch: hier ‚gemäß‘ (vgl. BMZ nâch, 4.) 4 wanc: bildlich ‚Unstetigkeit, Untreue, Zweifel‘ 5 des: Objektsgen. zu danc wizzen 7 soln: der Dat. d. P. ist hier (im Ggs. zu V. 8 [in]) ausgespart, ‚nützen‘ 9 streben: Aufgrund des Reimzwangs (leben : streben) steht hier die md. Flexionsendg. der 3. Pl. Ind. Präs., die regulär eigentlich strebent lautet.
HMS 3: III,7 Sch 69
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Ton III, Korpus in J
Übersetzung Wenn ich die reichen Bösen und ihr sündhaftes Vermögen preisen würde, wo wäre dann meine Zuversicht hingekommen? Ich werde für sie ihrem Ansehen gemäß bereitwillig meinen Gesang vortragen und werde die Freigebigen durch Lobpreisung ohne unaufrichtige Treulosigkeit [krönen. 5 Die hochgelobten Tüchtigen sollen mir dafür stets danken, dass ich mein Lob jedem ganz und gar verweigere, der Schändliches tut. Was nützt ihr Körper? Was nützt ihr Leben? Was nützt ihnen ein kostbarer Schatz? Ich denke an (diejenigen), die nach Sünden und großer Schande trachten; 10 dieselben sind hier und dort verloren. Ihr, die ihr nach Ansehen verlangt, liebt Gott und lasst beständige [Feindseligkeiten bleiben! Seid dessen gewiss, dass Gott tüchtige, freigebige Menschen niemals vergessen [hat!
Inhalt Dieser Spruch beschäftigt sich mit der Frage nach der Angemessenheit eines Lobs, indem er zwischen solchen Personen differenziert, die aufgrund ihres Handelns Lob verdienen, und solchen, die es deswegen gerade nicht tun.644 Dass der Sprecher nicht bereit ist, unverdientes Lob auszusprechen, verdeutlicht zunächst der erste Stollen: Die rîchen bœsen und ihr sündeclîchez guot (beides V. 1) werden nâch ir wirde (V. 3) besungen, d. h. genau so, wie sie es angesichts ihres öffentlichen Auftretens und Handelns verdient haben. Das Lob ist gewissermaßen leistungsabhängig,645 und zwar auf zweierlei Art: Um die Herren mit einem Lob bedenken zu können, müssen sie zunächst einem gewissen „Standard“ gerecht werden, und dieser „Standard“ konzentriert sich hier verstärkt auf eine „Leistung“, die die Herren im Anschluss an die Lobpreisung erbringen müssen, nämlich für das Lob materiell zu danken. Die milte spielt somit eine zentrale Rolle, wenn es darum geht, einen lobenswerten Herrn von einem schimpfenswerten zu unterscheiden. Dies wird in III,52 immer wieder durch die entgegengesetzte Beschreibung bzw. Anrede der guten (= milten) und schlechten (= kargen) Herren veranschaulicht: So werden auf
644 Vgl. zu diesem Thema sowie zu dem Vorwurf der Schmeichelei Anm. 197. 645 Vgl. dazu auch Gerdes: Beiträge, S. 157.
52. Lobete ıch dıe rıchen boſen vn̅ ır ſvndıchlıchez guͦt.
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der einen Seite die Geizigen als rîche[n] bœse[n] mit sündeclîche[m] guot (beides V. 1) bezeichnet, die es dadurch, dass sie nâch sünden unde nâch houbetschanden streben (V. 9) und lesterlîchen tuo[n] (V. 6), nicht anders verdient haben, als dass der Sprecher ihnen sein Lob vorenthält (vgl. V. 6). Dies ist aber weitaus weniger schlimm als der Umstand, dass sie sint verlorn hie unt dort (V. 10). All ihr Dasein und ihr Vermögen nützt ihnen gar nichts (vgl. V. 7 f.), denn sie sind nicht in der Lage, es angemessen und mit Blick auf das Jenseits fruchtbar zu machen. Auf der anderen Seite befinden sich die Freigebigen, deren Vortrefflichkeit dadurch zum Ausdruck gebracht wird, dass der Sprecher sie mit lobe […] krônen (V. 4) möchte. Sie werden also – zumindest verbal – über alle anderen erhoben, wobei sich der Sprecher dafür natürlich von den hôch gelobeten birderben (V. 5) erhofft, dass sie ihm des iemer wizzen danc (V. 5). Neben dieser verbalen Überhöhung durch Lobpreisung stellt das Ich den milten aber auch noch eine andere, weit kostbarere Belohnung für ihre Großzügigkeit in Aussicht: sît des gewis, daz got guoter, milter liute nie vergaz (V. 12). Während die Geizigen also sowohl hie als auch dort (beides V. 10) sint verlorn (V. 10), wartet auf die Freigebigen im Jenseits der göttliche Lohn für ihr irdisches Verhalten (vgl. V. 12). Zusammen mit Vers 11, der dazu auffordert Gott zu lieben und von andauernder Feindseligkeit abzulassen, besteht darin die abschließende Ermahnung oder Belehrung des Spruches: Gottes- und Nächstenliebe werden dazu führen, dass Gott gerade guote[r], milte[r] liute (V. 12) nicht vergessen wird, also genau diejenigen, die sowohl von ihrem Wesen her anständig (= guot) als auch in materieller Hinsicht gut (= milte) sind. Natürlich wird es dem Sprecher (bzw. Dichter) hier wohl nicht allein darum gehen, die Zuhörer über die Rettung ihres Seelenheils zu belehren, sondern – im persönlichen Interesse – auch um die Ermutigung zur Freigebigkeit.
Inhaltliche Ähnlichkeit mit anderen Texten vgl. zu Vers 4: Walther L 40,19 (hier V. 6): und mit lobe gekrœnet, (Schweikle: Walther, Bd. 2, S. 358) Walther L 89,7 (hier V. 7): ob dû mir sîst mit triuwen stæte sunder wanc. (Schweikle: Walther, Bd. 2, S. 240) vgl. zu Vers 7 f.: Walther L 43,1 (hier V. 4): […] waz sol den selben guot? (Schweikle: Walther, Bd. 2, S. 88) Walther L 112,10 (hier V. 1 f.): Waz sol lieblîch sprechen? waz sol singen? waz sol wîbes schœne? waz sol guot? (Schweikle: Walther, Bd. 2, S. 98)
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Ton III, Korpus in J
Metrik 2A 7 m a A7ma A7mb 2A 7 m b 5 A7mb A7ma A 4 2m c A3md A 7 2m c 10 A 5 m d A8me A8me
Lobetẹ wâ wǽ re dánne kómen hín mîn únverzàgeter múot? wilẹ unde wíle mit lóbe die mílten kronen súnder válschen wánc. die hoch gelóbẹten bidérben suln mír des íemer wízzen dánc, daz ích mîn lóp im gár verságe, swer lésterlchen túot.
ich méine, díe nâch snden únde nâch hóubetschànden strében. die sélben sínt verlórn híe unt dórt. sît dés gewís, daz gót gúoter, mílter líute níe vergaz!
Literatur Doerks, S. 12 • Gent, S. 18 • Gerdes: Beiträge, S. 24 Anm. 2, 90 Anm. 2, 91 und Anm. 3 und 5, 92 Anm. 9, 96 und Anm. 1, 147 und Anm. 1, 156, 157, 174 und Anm. 6, 178 und Anm. 3, 179 und Anm. 5, 181 und Anm. 3 • HMS 4, S. 521 • Kemetmüller, S. 79 f., 235 • Lamey, S. 7, 28, 30, 31 • Roethe, S. 305 • Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 89 f. • Strasser, S. 240, 241.
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Ton III, Korpus in J
53. Ez geſchet vıl dıcke an maníger ſtat. daz wıb gewaltes phlıget. (J50) Ez geſchet vıl dıcke an ma/níger ſtat. daz wıb gewal/tes phlıget. Vnde doch vıl ſelten / wıb dem manne ſtrıtes ane geſı/get. Eín menlıch man der vnder // ſtvnde des gewaltes vıl Er ſpre/che vrouwe du ne ſolt tvͦn nıcht / anders denne ıch wıl. 5 la mír mít / dır gelıche tzehen ín der eren tzıl. / Tuſtu des nícht. Jch wene mannes / tzorn of dır gelıget Eẏn wıb dıe / guͦ te wıtze hat. Dıe teıle ẏrem ma̅/ne míte So daz ſıe mít ẏres wẏ/bes mvͦte gebe truwen rat. 10 Vn̅ wen/de ıren mvͦt of reẏner wıbe ſıte. / An hoem lobe lobe eyn werd man / mít guͦ ter kívſche eín reÿnez wıb. / Der name ır orden wol an tzemet / vnde wırt gelobet ır beẏder lıb. /
11 lobe fälschlicherweise durchgestrichen? Das erste lobe ist Subst. (Dat. Sg. Neutr.) und das zweite, durchgestrichene ist (theoretisch) das finite Verb (3. Sg. Konj. Präs.).
53. Ez geſchet vıl dıcke an maníger ſtat. daz wıb gewaltes phlıget.
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Ez geschiht vil dicke an maneger stat, daz wîp gewaltes phliget unde doch vil selten wîp dem manne strîtes ane gesiget. ein menlich man, der understüende des gewaltes vil. er spræche: ,vrouwe, dûne solt tuon niht anders danne ich wil! 5 lâ mir mit dir gelîche ziehen in der êren sil! tuostû des niht, ich wæne, mannes zorn ûf dir geliget!ʻ ein wîp, diu guote witze hât, diu teile ir manne mite, sô daz sie mit ir wîbes muote gebe triuwen rât 10 unt wende ir muot ûf reiner wîbe site. an hôem lobe ein werder man, mit guoter kiusche ein reinez wîp – der name ir orden wol an zimet unde wirt gelobet ir beider lîp.
50 J, 10 C 1 Ez geschiht] Wan ſıht. 2 vn̅ dc ır ſelte̅ wıbe̅ man ır ſtrıtes an geſıget. 3 menlich] me̅nín. 4 er] d. ne fehlt. tuon niht anders danne] nıht ands tuͦn wa̅ dc. 5 mir] mıch. 6 Vers fehlt in C komplett. 7 hât] habe. 9 alſo dc ım ın wıbes gvͤte gebe getruͥwe̅ rat. 10 dc er ſıch we̅de an wdeklıche ſıtte. 11 an hôem lobe] ı ̅ hohe̅ mvͦt. werder] me̅nın. mit guoter] ı ̅ ſuͤſſer. 12 an zimet] gezímt. wirt] ıſt. 1 ma̅ger.
12 vn̅. gelobt.
2 vil selten: Litotes 3 understân: hier ‚abwehren, verhindern; bestehen, bekämpfen‘ des gewaltes: Gen.attr. zu vil, wörtlich ‚(ein) Vieles/(eine) Menge der Macht/Herrschaft‘ 5 lân (Kontr. zu lâzen): mit Dat. d. P. ‚überlassen‘ gelîche: ‚auf gleiche Weise, nach gleichem Maß‘, hier wohl ‚zu gleichen Teilen‘ sil: Die hsl. Lesart tzıl bereitet grundsätzlich Auslegungsschwierigkeiten: Soll damit ein Ziel (also ein Endpunkt des Ansehens) gemeint sein, zu dem Mann und Frau hinziehen? Oder handelt es sich hierbei vielmehr um eine Verschreibung von sil (‚Seil, Riemen, bes. Riemenwerk, Geschirr für Zugvieh‘), wie es in C steht (vgl. auch Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 47 f.)? HWB und BMZ führen weitere Belege an, in denen sil zusammen mit ziehen verwendet wird, so dass die Möglichkeit eines Missverständnisses recht wahrscheinlich ist. Ich greife in der Normal. dementspr. ein. 6 tuostû (< tuost dû): zur Enklise des Pers.pron. vgl. Mhd. Gram., § E 21, 2. des: Gen.attr. zu niht ligen (mit sw. Präs.!): statt ‚liegen‘ im Sinne von ‚über jemanden kommen, hereinbrechen‘ freier übersetzt 7 Inkongruenz des Genus (wîp – diu) (vgl. auch V. 8 diu) 8 In V. 8 ist das Akk.obj. zu teilen mite, durch das ein Rückbezug zu guote witze in V. 7 hergestellt würde, ausgespart. Ich ergänze es in der Übersetzung. 9 V. 9 ist ein adv. Nebensatz mit modal(-konsekutiver) Bedeutung, wobei die Satzgrenze ([,] sô[,] daz) zwischen übergeordnetem Satz und Nebensatz unsicher ist (vgl. Mhd. Gram., § S 178). 10 ûf reiner wîbe site: das Gen.attr. (reiner wîbe) steht nicht im Sg., sondern im Pl., eigentlich also ‚auf die Lebensweise vollkommener Frauen‘ 12 orden: hier ‚Stand, Art‘
HMS 2: II,2 Sch 18
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Ton III, Korpus in J
Übersetzung Es passiert mancherorts sehr oft, dass die Frau Macht ausübt und die Frau dennoch nie dem Mann gegenüber einen Streit gewinnt. Ein männlicher Mann, der würde viel (dieser) Macht eindämmen, er würde sagen: ,Herrin, du sollst nichts anderes tun, als das, was ich will! 5 Überlass mir, mit dir zu gleichen Teilen im Geschirr des Ansehens zu ziehen! Tust du nichts davon, glaube ich, dass dich der Zorn des Mannes trifft.ʻ Eine Frau, die einen umsichtigen Verstand besitzt, die möge (diesen) mit ihrem Mann teilen, (und zwar) in der Weise, dass sie in ihrer weiblichen Gesinnung treuen Rat gebe 10 und (andererseits) ihre Gesinnung vollkommener, weiblicher Lebensweise [zuwende. In hohem Ansehen ein edler Mann, in vornehmer Sittsamkeit eine vollkommene [Frau – diese Attribute sind ihrem Stand angemessen und sie werden (dadurch) beide [gepriesen.
Inhalt Beinahe im unmittelbaren Anschluss an III,51, in dem die Widernatürlichkeit von mennîn wîp und wîbîn man behandelt wird, diskutiert auch III,53 die Rollen, die Mann und Frau (von der Gesellschaft) zugewiesen werden. Speziell der Gehorsam und die Unterordnung der Frau unter den Mann rücken hier in den Fokus. Dementsprechend führt Vers 1 f. dieses Thema ein, indem festgehalten wird, daz wîp gewaltes phliget unde doch vil selten wîp dem manne strîtes ane gesiget. Die Frau fällt also aus ihrer Rolle heraus, obwohl sie dabei wenig bis keine Aussicht auf Erfolg hat, da der Mann letztlich doch als „Sieger“ aus Streitigkeiten hervorgeht. Wichtig ist hierbei die Einleitung von Vers 1: Ez geschiht vil dicke an maneger stat. Sowohl das verallgemeinernde, unspezifische ez geschiht (in C leicht variiert: man siht) als auch die bewusste räumliche und zeitliche Unbegrenztheit (vil dicke, an maneger stat) sollen Allgemeingültigkeit der nachfolgenden Aussage erzeugen, indem impliziert wird, dass das Gesagte generell bekannt und v. a. anerkannt ist.646 Dies ist wohl
646 Dieser Eindruck wird übrigens auch dadurch unterstrichen, dass der Sprecher im gesamten Spruch eine unsichtbare Größe bleibt. Das Gesagte soll nicht als spezifischer Einzelfall verstanden werden, sondern als allgemeines Phänomen, das somit auch eine grundsätzliche Belehrung erforderlich macht.
53. Ez geſchet vıl dıcke an maníger ſtat. daz wıb gewaltes phlıget.
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auch der Grund dafür, dass die eigentliche (An-)Klage, nämlich über die Aufmüpfigkeit der Frau gegenüber dem Mann, nur in Vers 1 f. Erwähnung findet, in den anschließenden Versen jedoch nicht etwa anhand konkreter Beispielen veranschaulicht wird. Stattdessen geht der Spruch unmittelbar in die Belehrung von Mann (vgl. V. 3–6) und Frau (vgl. V. 7–10) über. Zunächst richtet sich der Fokus auf den Mann: Die männlichen Rezipienten werden durch die Erklärung, dass ein menlich man […] understüende des gewaltes vil (V. 3), dazu animiert, dieser Vorgabe nachzueifern, denn dann sind auch sie ein menlich Mann. Und wie verhält sich ein solcher Mann nun konkret? Er erklärt seiner Frau, dass sie sich nicht über ihn erheben dürfe, sondern gemäß seinen Anweisungen handeln müsse (vgl. V. 4). Zudem mögen sie beide gemeinsam um ihr Ansehen bemüht sein (vgl. V. 5). Und abschließend droht er der Frau Gewalt an, für den Fall, dass sie nicht so handelt, wie er es anmahnt (vgl. V. 6). Es ist interessant, dass Bruder Wernher gerade für die Verse 4 bis 6 auf narrative Elemente (Inquit-Formel [V. 4], direkte Rede [V. 4–6]) zurückgreift. So wird der ideale Mann nicht sachlich beschrieben, sondern er wird gewissermaßen zum Leben erweckt und kommt selbst zu Wort. Die narrative Ausrichtung dieser Verse scheint dazu zu dienen, einen belehrenden Tonfall zu vermeiden, stattdessen wird die Aufforderung zu angemessenem männlichen Verhalten in ein (fiktives) Beispiel eingebunden. Dadurch kommt die Belehrung spielerischer daher. Im Anschluss an die indirekte Unterweisung des Mannes folgt diejenige der Frau: Hier arbeitet Bruder Wernher jedoch nicht mit narrativen Mitteln, sondern erzeugt zwischen Rezipienten und Gesagtem durch den generalisierenden Tonfall (vgl. V. 7 ein wîp, diu, V. 8 diu, V. 9 sie) eher Distanz anstatt Nähe und Identifikation. Mit Blick auf die Frau soll wohl unmissverständlich klar sein, dass es sich hier um eine Belehrung handelt. Diese ist analog zur vorausgegangenen Handlungsaufforderung gegenüber dem Mann zu sehen, denn auch die Frau hat einer bestimmten Rolle gerecht zu werden: Sie soll nicht nur gehorsam sein, sondern ihre guoten witze (V. 7) ihrem Mann zum Vorteil gereichen lassen, indem sie ihm mit triuwe[m] rât[e] (V. 9) zur Seite stehen und ansonsten ihren Sinn auf reiner wîbe site (V. 10) richten möge (vgl. V. 10). Die Aufgaben bzw. Rollenverteilung ist also eindeutig definiert, wird jedoch, um Missverständnissen vorzubeugen, in den bilanzierenden Schlussversen nochmals formuliert: Während der Mann sich auf die Außenwahrnehmung konzentrieren und auf seinen Ruf achten möge (vgl. V. 11 an hôem lobe), soll die Frau den Fokus auf ihr Innenleben richten und dafür Sorge tragen, dass sie sich in guoter kiusche (V. 11) befindet. Nur, wenn diese Kriterien erfüllt
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Ton III, Korpus in J
sind, werden Mann und Frau ihrem Wesen gerecht und ist ihnen Lob sicher (vgl. V. 12). Die beiden Schlussverse stehen im Wechselspiel mit den ersten zwei Versen des Spruches: Während sich der Strophenanfang auf die realen Zustände konzentriert, die gerade keine gute Entwicklung nehmen, stellt der Spruch diesem Negativtrend am Ende der Strophe das Ideal gegenüber und verdeutlicht auf diese Weise, wie es eigentlich sein sollte. Aufgrund einiger zentraler Varianten erhält die Lesart von III,53 in C eine deutlich andere Ausrichtung, die thematisch stärker in die Nähe von III,51 rückt. So ist in Vers 2 in C nicht davon die Rede, dass vil selten wîp gegenüber dem Mann einen Streit gewinnt, sondern davon, dass der Mann nicht in der Lage ist, sich gegenüber der streitsüchtigen Frau durchsetzen, da er ein wîbîn man ist.647 Bereits zu Beginn des Spruches zeigt sich, dass dieser in C in eine ganz andere Richtung geht: Die Rolle von Mann und Frau wird nicht zu gleichen Teilen untersucht, sondern die Kritik an der mangelhaften Rollenkonformität konzentriert sich verstärkt auf den Mann. So spielt Vers 11 auf das Vokabular in Vers 2 an, indem dem realen wîbîn man der ideale mennîn man gegenübergestellt wird, der sich durch den getriuwen rât (V. 10 in C) der Frau auf die werdeclîche sitte (V. 10 in C) besinnt – nicht die Frau, sondern der Mann wird in C in Vers 10 also zu einer Gesinnungsänderung aufgefordert! Abschließend ist noch auf das Fehlen des sechsten Verses in C hinzuweisen. Dadurch erscheint das Gesagte des Mannes (in J V. 4–6) deutlich versöhnlicher, da die Gewaltandrohung fehlt. Während der Spruch in J also beide Geschlechter, tendenziell jedoch eher die Frau, die ja gewaltes phliget (V. 1), kritisch in den Blick nimmt (vgl. dazu die Varianten in V. 2, [fehlender V. 6], V. 10 und V. 11), konzentriert sich die Lesart von C stärker auf den Mann, der seiner Rolle als mennîn man (V. 11) nicht gerecht wird.
Inhaltliche Ähnlichkeit mit anderen Texten vgl. thematisch: Walther L 80,19 (hier V. 2): manlîchiu wîb, wîblîche man, (Schweikle: Walther, Bd. 1, S. 300) Meißner II,9 (hier V. 3–13): ein menlich man, ein wiblich wib diz merken sol: Her sol sie meistern libes und guͦtes,
647 Schönbach schreibt dazu: „J versteht die Pointe des Spruches nicht und ändert deshalb V. 2 ins Gegenteil.“ (Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 47)
53. Ez geſchet vıl dıcke an maníger ſtat. daz wıb gewaltes phlıget.
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sie si ein warterinne sines muͦtes. her si der man, sie si daz wib, daz vuͤget wol. Ouch sol er sie erlichen halten. sie ne sol ane sinen rat nicht tuͦn, daz ist ir guͦt. So mügen sie an vreuden alten. ein wiblich wib irs mannes willen billich tuͦt. Wie stunde, daz ein wib worde uz dem manne, unde úz dem wibe ein man? men spreche danne: ‚her weichelinc, ir sit ein man mit wibes muͦt.‘ (Objartel, S. 174) Gervelin I,8 (hier V. 1 f. und 9 f.): Ein menlich wib, ein wiplich man, er habe die ſpille unt ſie daz ſwert, der ſchande ſie im vil wol gan; […] wibes ſwertes ſlak, mannes ſpinnen hat ſelten pris bejaget; ſie man und wib, er niht ein wib unt ſi vor ir verzaget. (HMS 3, S. 37) vgl. zu Vers 11 in C: Walther L 36,21 (hier V. 8): dîn kleiner lîp mit süezer kiusche in úmbevie, (Schweikle: Walther, Bd. 1, S. 202)
Metrik 2A 7 2m a 2A 7 2m a A7mb A7mb 5 A7mb A 7 2m a A4mc A 3 2m d A7mc 10 A 5 2m d A8me A8me
Ez geschíht vil díckẹ an máneger stát, daz wp gewáltes phlíget, unde dóch vil sélten wp dem mánne strtes áne gesíget. er sprǽche: ,vróuwe, dune solt túon niht ánders dánnẹ ich wíl!
teilẹ wendẹ lobẹ, kiuschẹ der námẹ ir órden wól an zímet undẹ wírt gelóbet ir béider lp.
Literatur Doerks, S. 2 • Dorninger, S. 32, 33 • Gerdes: Beiträge, S. 24 Anm. 2, 88, 179 und Anm. 4, 181 und Anm. 8, 184 Anm. 1, 185 • HMS 4, S. 522 • Kemetmüller, S. 13, 34, 77, 79, 90, 215 f. • Lamey, S. 11, 31 • Nolte/Schupp, S. 288 f., 488 • Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 47 f. • Vetter, S. 247.
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Ton III, Korpus in J
54. Swa man den kvnſten rıchen varenden man vngerne ſícht. (J51 N, U) Swa man den kvnſten rıchen varenden man vngerne ſícht. Als ích beſcheíden wıl da hat man lıchte an ſchanden / phlícht. Der ſchírge ıſt boſe nachgebuͦ r ſwa dıeb gehuſet hat Swa daz der dıeb ín dıebes wıſe bı den lıvten gat. 5 Vnde / er gedenket dan an ſẏne groze mẏſſetat. her gedenket were gerıchtes vnde ouch der ſchırge nícht So welt ıch ſín eín vrıer / dıeb. vnde ſtelen mẏr genvͦc waz wuͦ rre were mír neman holt. Vnde wer ıch neman lıeb. 10 Mır dıente doch der acker vnde díe / phluͦ c Dem dínge tuͦ t eyn ſcalc gelıch. Der gote vnd ouch ſıch ſelben ſtílt. Vnde ıſt dar vmme neman holt wen der mẏt ẏm dıe / dıvbe hılt
54. Swa man den kvnſten rıchen varenden man vngerne ſícht.
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Swâ man den künsten rîchen varnden man ungerne siht, als ich bescheiden wil, dâ hât man lîhte an schanden phliht. der scherge ist bœse nâchgebûr, swâ diep gehûset hât. swâ daz der diep in diebes wîse bî den liuten gât 5 unde er gedenket dan an sîne grôze missetât, er gedenket: ,wære gerihtes unde ouch der scherge niht, sô wolt ich sîn ein vrîer diep unde steln mir genuoc. waz würre, wære mir nieman holt unde wær ich nieman liep? 10 mir diente doch der acker unde die phluoc.ʻ dem dinge tuot ein schalc gelîch, der gote und ouch sich selben stilt unde ist dar umbe nieman holt, wan der mit im die diube hilt.
51N J 2 phliht hân: hier wohl ‚sich verpflichten, sich beteiligen, (be-)treiben, pflegen‘ 3 scherge: ‚Gerichtsdiener‘, in J hyperkorrigiert zu ſchírge (vgl. auch V. 6). Yao geht näher auf die gesellschaftliche Rolle des schergen ein und erklärt: „Zur Zeit Bruder Wernhers, also in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts, dürfte mit Scherge noch eine Gerichtsperson in relaltiv angesehener Stellung gemeint sein.“ (Yao, S. 130) gehûsen: ‚sich niederlassen, hausen‘ 4 gân: im weiteren Sinne ‚sich begeben, auftreten, erscheinen, geschehen‘ 6 gerihtes: Gen.attr. zu niht, wörtlich ‚(ein) Nichts des Gerichtes‘ 7 wellen: hier futur. ausgerichtet; die hsl. Form welt deutet auf mnd. Einfluss hin (vgl. Dietl, S. 18 und Mnd. Gram., § 447). 9 werren: ‚im Weg sein, hemmen, Schaden/Not/Verdruss bereiten‘, hier freier ‚stören, ausmachen‘ 12 diube: ‚gestohlene Sache, Diebesgut‘ heln: ‚geheim halten, verstecken, verbergen‘
HMS 3: III,9 Sch 70
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Ton III, Korpus in J
Übersetzung Wo auch immer man den an Kunstfertigkeit reichen fahrenden Mann (nur) [widerwillig sieht, wie ich berichten werde, dort pflegt man leicht schändliches Treiben. Der Gerichtsdiener ist überall dort ein übler Nachbar, wo sich der Dieb [niedergelassen hat. Wo auch immer sich der Dieb auf diebische Weise unter die Menschen begibt 5 und er dann an seine große Schandtat denkt, überlegt er: ,Wenn weder das Gericht noch der Gerichtsdiener wären, würde ich ein freier Dieb sein und mir reichlich stehlen. Was störte (es mich), wenn mir niemand gewogen und ich niemandem wichtig [wäre? 10 Mir wären dennoch Acker und Pflug zu Diensten.ʻ Dementsprechend handelt ein Böser, der Gott und auch sich selbst bestiehlt und darum niemandem gewogen ist, außer demjenigen, der mit ihm das [Diebesgut versteckt.
Inhalt In III,54 klagt der Sprecher (oder Dichter) die Hinterhältigkeit und Rücksichtslosigkeit von diebischem Verhalten an. Er tut dies, indem auf die Anschaulichkeit648 eines Gleichnisses zurückgegriffen wird.649 Im Zentrum steht dabei ein diep (u. a. in V. 3), der die Menschen hintergeht (vgl. V. 4) und sich vorstellt, dass er sich in einem rechtsfreien Raum ohne geriht oder scherge (vgl. V. 3 und 6) befände, in dem er dann als vrîer diep (V. 7) tun und lassen könnte, was er wollte (vgl. V. 8). Entscheidend ist, dass es diesen Dieb nicht kümmert, ob ihm jemand gewogen oder er für jemanden wichtig ist (vgl. V. 9), denn für ihn spielt allein der materielle Nutzen, den er aus Menschen und Gegenständen für sich ziehen kann, eine Rolle. Er ist also nicht an einem ideellen und zwischenmenschlichen „Mehrwert“ interessiert, sondern allein an dem sächlichen Gewinn, den er durch andere Menschen erzielen kann. Und wenn dies nicht reicht, bleibt ihm aus seiner Sicht immer noch der acker unde die phluoc (V. 10). 648 Auch hier liegen die klassischen narrativen Kennzeichen vor: sukzessiver Handlungsverlauf, direkte Rede und Inquit-Formel. 649 Vgl. zur inhaltlichen Struktur Yao, S. 129 f.
54. Swa man den kvnſten rıchen varenden man vngerne ſícht.
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Die Schlussverse übertragen das Gleichnis (vgl. V. 3–10) auf den Bereich, auf den die Anklage des Spruches eigentlich abzielt: Ein schalc (V. 11) verhält sich genauso rücksichtslos und eigennützig wie der Dieb (vgl. V. 11 und 12) und merkt dabei nicht, dass er nicht nur Gott bestiehlt, sondern auch sich selbst (vgl. V. 11). Denn auf lange Sicht gesehen, muss es aufgrund dieses rücksichtslosen Verhaltens ein schlimmes Ende mit dem diep bzw. schalc nehmen – spätestens im Jenseits werden sie für ihre irdische missetât (V. 5) bezahlen müssen. Was genau der schalc tut, das ihn so vergleichbar mit dem Dieb macht, bleibt der Spruch schuldig, allerdings ist der schalc wohl mit denjenigen gleichzusetzen, über die sich der Sprecher zu Beginn der Strophe beschwert: Er erklärt, dass all diejenigen, denen die Anwesenheit eines künsten rîchen varnden man[nes] (V. 1) zuwider ist (vgl. V. 1), allzu leicht schändlichem Treiben nachhängen (vgl. V. 2). Hier spricht unmissverständlich der fahrende Dichter, der sich über die Ablehnung, die er z. T. erfährt – und zwar völlig zu Unrecht schließlich ist er an künsten rîch! –, beschwert und für den dieses Verhalten nur damit zu erklären ist, dass es um die Moral derjenigen, die ihn zurückweisen, nicht sonderlich gut bestellt sein kann. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass die Anwesenheit eines kunstfertigen Fahrenden nicht nur ein Zeichen für die Sittsamkeit des jeweiligen Ortes und dessen Menschen ist, sondern dieser Fahrende durch seine Kunst auch aktiv dazu beiträgt, das „sittliche Gleichgewicht“ aufrechtzuerhalten.650 Und in diesem Punkt wird er mit dem scherge[n], der für die Einhaltung von Recht und Ordnung zuständig ist, vergleichbar. Das Gleichnis des Mittelteils ist demnach folgendermaßen auf Strophenanfang und ‑ende zu übertragen:651 Das Indefinitpronomen man aus Vers 1 und 2 bezieht sich auf dieselbe Person, mit der auch der schalc aus Vers 11 gemeint ist. Dieser Person wird vorgeworfen, sich wie ein Dieb zu verhalten (vgl. V. 11). Und da sie zudem die Anwesenheit des Sängers ablehnt (vgl. V. 1), erzeugt sie – im übertragenen Sinne – den rechtsfreien Raum, den sich der Dieb wünscht. Hierbei ist m. E. nicht mit Sicherheit zu sagen, ob es bei dem Vergleich von Dieb und man lediglich um das verbrecherische und somit unmoralische Verhalten an sich geht (vgl. V. 2 man [hât] lîhte an schanden phliht) oder tatsächlich das diebische Auftreten gemeint ist. Worin bestünde aber im letzteren Fall die diube (V. 12) des schalkes? Stiehlt er gerade, indem er sein Eigentum nicht mit anderen teilt, also nicht milte ist? Schönbach zieht die Kernaussage des Spruches aus Vers 11:
650 Für Gerdes „[droht] von der ,kunst‘ das Sittengericht“ (Gerdes: Beiträge, S. 156). 651 Vgl. dazu auch ebd., S. 204.
478
Ton III, Korpus in J
Gott hat dem reichen, vornehmen Herrn viel Gut anvertraut, aber nur zum zweckgemäßen Verwalten und Genießen. Wer Gottes Absichten damit nicht erfüllt, verfährt wie ein Dieb und wird des Diebes Strafe leiden.652
Historischer Hintergrund Die Formulierung aus Vers 1 (den künsten rîchen varnden man) scheint auf Bruder Wernhers persönlichen, biografischen Hintergrund hinzudeuten,653 obgleich sie andererseits (bewusst?) eher generalisierend gehalten ist, denn es ist lediglich von de[m] künsten rîchen varnden man die Rede, der nicht in eine unmittelbare Beziehung zum Sprecher-Ich gesetzt wird. Vielmehr entsteht durch das eingeschobene als ich bescheiden wil (V. 2) und dem ansonsten verallgemeinernden Tonfall der Verse 1 und 2 (vgl. das Indefinitpronomen man) der Eindruck, als wäre der Sprecher nur das „Medium“, das zwischen der Beschreibung der Lebensumstände eines Fahrenden und dem Publikum vermittelt.
Inhaltliche Ähnlichkeit mit anderen Texten vgl. zum Dieb in Vers 4 bis 10: Freidank 46,23–48,8 (hier v. a. 47,10: Der diep ist boese nâhe bî; sîn nâchgebûr wirt selten frî.) (Spiewok, S. 38)
Metrik A7ma A7ma A7mb A7mb 5 A7mb 2A 7 m a
lîhtẹ schergẹ undẹ er gedénket: ,wǽre geríhtes únde óuch der schérge níht,
652 Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 91. Vgl. dazu auch Gent: „Aber Furcht will hier der scherge einjagen denen, die ihr Gut, das von Gott kommt, unzweckmäßig verwalten […].“ (Gent, S. 19) Und Gerdes: „ebenso hat der Geizige Grund zur Furcht vor dem richtenden Dichter, weil er den Besitz „stiehlt“, zu dessen Austeilung Gottes Gebot ihn verpflichtet […].“ (Gerdes: Beiträge, S. 203) 653 Vgl. dazu Lamey, S. 6; Roethe, S. 194; Gerdes: Beiträge, S. 145.
54. Swa man den kvnſten rıchen varenden man vngerne ſícht.
A4mc 2A 3 m d A7mc 10 A 5 m d A8me A8me
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unde stéln mír genúoc. waz wrre, wǽre mir níeman hólt unde wǽr ich níeman líep? mir díente dóch der ácker únde die phlúoc.ʻ gotẹ undẹ
Literatur Doerks, S. 12 • Gent, S. 19 • Gerdes: Beiträge, S. 92 Anm. 5, 145, 154 Anm. 5, 156, 178 und Anm. 3, 179 und Anm. 7, 182 und Anm. 1, 203, 204 • HMS 4, S. 522 • Kemetmüller, S. 80, 94, 235 • Lamey, S. 6, 8, 28, 31 • Roethe, S. 194, 340 • Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 90 f. • Vetter, S. 263 • Yao, S. 37, 125, 129 f., 132, 201.
480
Ton III, Korpus in J
55. Ich mvͦz vıl dıcke an maníger ſtat des guͦtes armer ſín. (J52 N, U) Ich mvͦz vıl dıcke an maníger ſtat des guͦ tes armer ſín. So tvnt ouch mír dıe mılten herren dıcke ır helfe ſchín. Den / ſpreche ıch dar nach als ıch ſol vnz an mẏnes endes tzıl Da bı duldıch von boſen lıvten ſpottes altzvͦ vıl. 5 Jch kome / tzvͦ manígem herren derz mẏr wol ír bíeten wıl. So ſtent dıe oren drívſel hínder mẏr vnde ſpotten mẏn Swıe gerne / ıch ſvnge guͦ ten ſanc. der dvnket ſıe eẏn wícht Sus wenen ſıe lıeben ſıch vnde mache̅t mẏr dıv gabe kranc. 10 Swer / mẏr ſus gebe der gıt mẏr danne nıcht So ſẏn ouch mẏne gedanken ſo vnde hete der herre mẏlten mvͦt. Er lieze / es durch dıe ſcalke nícht. her ne gebe mẏr durch ſíne tugende guͦ t
55. Ich mvͦz vıl dıcke an maníger ſtat des guͦtes armer ſín.
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Ich muoz vil dicke an maneger stat des guotes armer sîn, sô tuont ouch mir die milten hêrren dicke ir helfe schîn. den spreche ich dar nâch, als ich sol unz an mînes endes zil. dâ bî dult ich von bœsen liuten spottes al ze vil: 5 ich kome ze manegem hêrren, derz mir wol erbieten wil, sô stênt die ôrendriusel hinder mir unde spottent mîn. swie gerne ich sunge guoten sanc, der dunket sie ein wiht. sus wænent sie lieben sich unde machent mir die gâbe kranc: 10 swer mir sus gæbe, der gît mir danne niht. sô sint ouch mîne gedanken sô: unde hæte der hêrre milten muot, er lieze ez durch die schalke niht, erne gæbe mir durch sîne tugende guot.
52N J 1 des guotes: Gen. zu arm, wörtlich ‚des Vermögens ärmer‘ (vgl. zum Gen. bei Adj. Mhd. Gram., § S 84), ich übersetze freier 2 sô: Zeigt hier einen Gegensatz an (,während‘). ouch: hier zur Verstärkung des Gegensatzes von V. 1 und 2 (,doch‘) 3 mînes endes (zil): Der Gen. scheint hier dazu zu dienen, den Grad des Abschlusses (ausgedrückt durch zil) zu intensivieren, und kommt dadurch dem genitivus hebraicus nahe (vgl. Mhd. Gram., § S 83). Wörtlich übersetzt, hieße es ‚bis zum Ende meines Endes‘. 5 Nolte/Schupp übersetzen – wohl aufgrund des in V. 6 einleitenden sô – konditional (vgl. Nolte/Schupp, S. 97), was mir kontextuell sinnvoll erscheint. Allerdings ist Verbzweitstellung (hinter dem Subj.) in uneingeleiteten konditionalen Nebensätzen eher untypisch für das Mhd. (vgl. Mhd. Gram., § S 157). erbieten: ‚erbieten, erweisen, darreichen‘, ich übersetze mit ‚schenken‘ 6 ôrendriusel: ‚Ohrenbläser, der sich bei andern durch Ohrenbläserei einzuschmeicheln sucht‘ 8 ein wiht: ‚etwas Geringfügiges, was gar nicht in Betracht kommt, etwas Untaugliches, Unnützes, Vergebliches‘ 11 unde: markiert den konditionalen Nebensatz und wird nicht übersetzt (vgl. Mhd. Gram., § S 157 Anm. 1) 12 erne gæbe mir durch sîne tugende guot: hat trotz der Negationspartikel keine verneinende Bedeutung (vgl. Mhd. Gram., § S 145)
HMS 3: III,10 Sch 71
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Ton III, Korpus in J
Übersetzung Ich muss sehr oft mancherorts ohne Lohn sein, während mir die freigebigen Herren doch oft ihre Hilfe erweisen. Über die würde ich danach sprechen, wie ich bis zu meinem Lebensende muss. Währenddessen erdulde ich allzu viel Hohn von üblen Menschen: 5 Wenn ich zu manchem Herrn komme, der es [= Vermögen bzw. Lohn] mir [bereitwillig schenken möchte, dann stehen diejenigen, die ihm die Ohren vollblasen, hinter mir und spotten [über mich. Wie begierig ich auch immer darauf sein mag, anständigen Gesang vorzutragen, erscheint der ihnen wertlos. Auf diese Weise glauben sie, sich beliebt zu machen, und schmählern mir den [Lohn: 10 Jeder, der mich auf diese Weise beschenken würde, der gibt mir dann [nichts. So sehen auch meine Gedanken folgendermaßen aus: Wenn der Herr eine [freigebige Gesinnung hätte, ließe er um der Bösen willen nicht davon ab, mir aufgrund seiner Anständigkeit [Lohn zu geben.
Inhalt In III,55 beklagt der Sprecher die Beeinflussbarkeit milte[r] hêrren (V. 2). Diese haben eigentlich vor, ihm gegenüber großzügig zu sein (vgl. V. 5), lassen sich jedoch von bœsen liuten (V. 4), von ôrendriusel[n]654 (V. 6), beschwatzen und zuungunsten des Sprechers beeinflussen (vgl. V. 4–6). Deswegen muss der Sprecher, wie er zu Strophenbeginn erklärt, vil dicke an maneger stat des guotes armer sîn (V. 1); und dies völlig zu Unrecht, denn die Absichten des Sprechers sind integer, wie er in Vers 7 f. bekräftigt: Es drängt ihn danach, guoten sanc zu singen. Dies machen die bœsen liute[n] (V. 4), die ôrendriusel (V. 6), die schalke (V. 12) jedoch zunichte, indem sie den Sang des Ich als wertlos abtun (vgl. V. 8) und dementsprechend auch auf die Herren einwirken. Die
654 Schönbach stellt die Überlegung an, dass es sich bei diesen ôrendriusel[n] um „die höfischen Kleriker in der Umgebung fürstlicher Herren“ (Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 92) handeln könnte. Gerdes stimmt „Schönbachs einleuchtender Vermutung“ (Gerdes: Beiträge, S. 165) zu. Zum teilweise existenzbedrohenden Verhältnis von Wander- bzw. Berufsdichtern und Mendikantenpredigern vgl. Kästner.
55. Ich mvͦz vıl dıcke an maníger ſtat des guͦtes armer ſín.
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Absicht hinter diesem Vorgehen zeigt der Sprecher anschließend auf: Indem die schalke den sanc des Sprechers (des Konkurrenten?) abwerten, glauben sie nicht nur, sich bei den Herren beliebt zu machen (vgl. V. 9), sondern sie sorgen vor allen Dingen auch dafür, dass die gâbe (V. 10), die der Sprecher für seinen sanc erhält, entgegen der Erwartungen derart gering ausfällt (vgl. V. 9 f.), als hätte er gar nichts erhalten (vgl. V. 10). Die helfe der vermeintlich freigebigen Herren, von der in Vers 2 die Rede ist, ist mit Blick auf den gesamten Spruch also eher ironisch zu sehen, denn dem Ich wird ja angesichts der Wankelmütigkeit der Herren nicht wirklich geholfen, ganz im Gegenteil: Sein Lohn fällt zu Unrecht geringer aus, als er sollte. Auf eine derartige Behandlung reagiert der Sprecher indirekt in Vers 3: den spreche ich dar nâch, als ich sol. Fällt die helfe also groß aus, wird dies sein sanc genauso widerspiegeln, wie wenn die helfe kaum oder gar nicht vorhanden ist. Diese unterschwellig angedrohte Schelte aufgrund mangelnder Freigebigkeit ist charakteristisch für die Sangspruchdichtung. Besonders elegant ist sie jedoch im vorliegenden Fall formuliert,655 denn sie birgt neben der angedrohten Schelte zugleich auch die Aussicht auf Lob – immer abhängig davon, wie die helfe ausfällt. Die Drohung zu Beginn des Spruches wird am Strophenende durch eine Belehrung ergänzt. Auch hier geht Bruder Wernher geschickt vor, denn diese Belehrung besitzt gerade keinen Drohcharakter, sondern setzt auf positive Anreize, indem der hêrre (V. 11) mit Schlüsselbegriffen wie milte[r] muot (V. 11) und tugen[t] (V. 12) dazu animiert werden soll, sich durch die schalke (V. 12) nicht beirren zu lassen, sondern dem Sprecher guot (V. 12) zu geben. Vers 12 schlägt aufgrund des Lexems guot außerdem den Bogen zurück zu Vers 1 (des guotes armer sîn). Interessant daran ist jedoch nicht nur der wörtliche Bezug, sondern die Gegenüberstellung von Realität und Fiktion: Vers 1 f. schildert die negative Lage, in der sich der Sprecher gegenwärtig befindet: Er wird nicht angemessen entlohnt und muss materiell umso ärmer dastehen. Zu diesem negativen Ist-Zustand wird in den Schlussversen ein positiver Soll-Zustand entworfen. Dessen hypothetischer Charakter (vgl. V. 11 sint […] mîne gedanken sô, Verwendung des Konjunktivs hæte [V. 11], lieze [V. 12], gæbe [V. 12]) hebt zum Abschluss des Spruches noch einmal ausdrücklich hervor, wie es sein sollte, aber eben leider nicht ist. 655 Schönbach scheint dies etwas anders zu sehen: „Ein wahrer Bettelspruch, der recht deutlich zeigt, um wie viel tiefer schon Wernher steht als Walther. Die Klage über die schlimmen Berater des vornehmen Herrn […] ist doch armselig […].“ (Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 92) Schönbach scheint es hier aber wohl um den gesellschaftlichen Rang Bruder Wernhers zu gehen (er ist arm, armselig), weniger um eine Abwertung in ästhetischer Hinsicht. Im Vergleich zu Walther ist Wernhers „standing“ gewissermaßen weniger solide.
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Ton III, Korpus in J
Hannes Kästner führt in seiner Untersuchung zur Konkurrenzsituation von Mendikantenpredigern und Wanderdichtern am Beispiel Friedrichs von Sonnenburg vor, in welche existenzbedrohende Lage die fahrenden Sänger im Verlauf des 13. Jahrhunderts durch das Aufkommen ebenfalls umherziehender, predigender Bettelmönche geraten.656 Im Zentrum dieser Bedrohung steht die von den Bettelmönchen als sündhaft diffamierte Entlohnung der Wanderdichter: Ein Almosen sei allein den Bedürftigen, Notleidenden und freiwillig Armen (also den Bettelmönchen) vorzubehalten. Indem das Beschenken oder Entlohnen von Spielleuten demnach als sündhaft gebrandmarkt wird, weil es „nur der Lohn für die Befriedigung weltlichen Ruhmes und weltlicher Vergnügungssucht“657 sei, müssen die fahrenden Sänger befürchten, dass sich bisherige oder künftige Gönner von ihnen abwenden werden. Vor diesem Hintergrund ist vielleicht auch die in III,55 beschriebene Konkurrenzsituation zu sehen. Darauf deutet auch der parallele Gebrauch von ôrendriusel bei Friedrich von Sonnenburg (siehe unten) hin.
Inhaltliche Ähnlichkeit mit anderen Texten vgl. zu Vers 6 bis 9: Friedrich von Sonnenburg 37: Nu sage an oren druosel wanne vülstu dinen sac? Din zunge dorret swan si niht getriegen noch gelellen mac! möhtu doch viren einen tac den selber got gebot! Ich sage dir orenslupfel waz dir doch ze jungst geschiht, swanne ein herre sprichet: „stant hin dan, du valscher boesewiht, jone hoeret dich min ore niht!“ so stestu schamerot. So wirt din vederlesen swach und wenken reht alsam din tritelvuoz, din obedach, din zunge diu wirt lam; So kumt ein schur unde ouch ein hagel daz boeset dines mundes gelt – noch volge mir geselle, vriunt, und buwe ein brettervelt! (Masser, S. 25 f.) Reinmar von Zweter 203,10: Spot, Unkust, Ôrendrus und Vâr: (Roethe, S. 512)
656 Vgl. Kästner. 657 Ebd., S. 224.
55. Ich mvͦz vıl dıcke an maníger ſtat des guͦtes armer ſín.
485
Metrik A A A A 5 A A A A A 10 A A A
7m 7m 7m 7m 7m 7m 4m 3m 7m 5m 8m 8m
a a b b b a c d c d e e
Ich múoz vil díckẹ an máneger stát des gúotes ármer sn, dickẹ den spréchẹ ich dár nâch, áls ich sól unz án mînes éndes zíl. ich kóme ze mánegem herren, dérz mir wól erbíeten wíl, sô stent die orendrìusel hínder mír unde spóttent mn. gernẹ sus wǽ nent sie líeben sích unde máchent mír die gabe kránc: swer mír sus gǽ be, der gt mir dánne níht. sô sínt ouch mne gedánken so: unde hǽ te der herre mílten múot, er líezẹ ez dúrch die schálke níht, erne gǽbe mir dúrch sîne túgende gúot.
Literatur Doerks, S. 12 • Gerdes: Beiträge, S. 50 und Anm. 1, 147 und Anm. 1 und 3, 156, 157 und Anm. 3, 162 und Anm. 1, 165, 174 und Anm. 1, 179 und Anm. 6, 181 und Anm. 5 • HMS 4, S. 522 • Kemetmüller, S. 80 f., 235 • Lamey, S. 7, 9, 28, 30, 31 • Leitzmann, S. 164 • Nolte/Schupp, S. 96, 396 • Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 91 f. • Strasser, S. 239, 244.
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Ton III, Korpus in J
56. Nv merket wer den kargen klage ſwen er geſcaffet daz. (J53 N, U) Nv merket wer den kargen klage ſwen er geſcaffet daz. Daz ẏm ſín wıb vnd ouch ſín kynt vm ırge ſín gehaz. Sıe gvnnen / ẏm des todes wol dıe mage ſprechent ouch Daz er ín ín den ougen ſẏ vıl gar eẏn ſwínde rouch. 5 Vnde tzvͦ allen tzıten bı den / lıvten eẏn vuͦ r ſchamter gouch. So ſprechent ouch der ſẏne vıl er truwen lerez vaz So ſíngent ouch der pfaffen vıl. der wıder / míſſe of ín So vluͦ chent wıtewen vnde weıſen daz ıſt des tívbels ſpıl. 10 Wa wıl der tzage mẏt ſẏme guͦ te hín So ſchıltet / ín dıe varende dıet vnde dankent ẏm dıe armen nícht. Owe dır ırge daz du bıſt der boſeſte val von dır geſcícht.
56. Nv merket wer den kargen klage ſwen er geſcaffet daz.
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Nû merket, wer den kargen klage, swen er geschaffet daz, daz im sîn wîp und ouch sîn kint umb erge sint gehaz. sie gunnen im des tôdes wol; die mâge sprechent ouch, daz er in in den ougen sî vil gar ein swinde rouch 5 unde ze allen zîten bî den liuten ein verschamter gouch. sô sprechent ouch der sîne vil: ,er triuwen lærez vaz!ʻ sô singent ouch der phaffen vil der widermisse ûf in; sô vluochent witewen unde weisen: ,daz ist des tiuvels spil!ʻ 10 ,wâ wil der zage mit sîme guote hin?ʻ, sô schiltet in diu varnde diet unt dankent im die armen niht. ôwê, dir erge, daz dû bist! der bœseste val von dir geschiht.
53N J 1 geschaffen: ‚machen, bewirken, ins Werk setzen, schaffen‘; Schönbach versteht den ersten Vers als Anweisung Bruder Wernhers gegenüber einem Sangeskollegen, „wie er es anzustellen habe, wenn er beauftragt wird, für einen mächtigen, aber kargen Herrn die Totenklage […] zu verfassen“ (Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 93), und übersetzt: „Nun behalte, wer einen verstorbenen Kargen beklagen soll, folgendes, wenn er seinen Auftrag ausführt“ (ebd.). Gerdes folgt ihm in dieser Interpretation (vgl. Gerdes: Beiträge, S. 197 f.). Bei dieser Auslegung stehen wer und er in Relation zueinander, ich würde er jedoch eher auf den kargen beziehen, wofür bereits Dietlind Gade 2003 in ihrer Miszelle zu Recht plädiert hat (vgl. Gade, S. 145 f.). 2 erge: ‚Kargheit, Geiz‘, in J hyperkorrigiert zu irge (vgl. auch V. 12) 3 des tôdes: Objektsgen. zu gunnen 4 swinde: ‚scharf, schlimm‘, auch ‚stark, heftig‘ 5 gouch: ‚Tor, Narr, Dummkopf, Gauch‘ 8 widermisse: ‚Gegenmesse‘, „welche von den Priestern zum Unheil des Verstorbenen zelebriert“ (Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 94) wird. Das Lexem ist laut HWB nur hier überliefert (vgl. HWB widermisse). Vgl. auch Anm. 659 dieser Arbeit. 11 varnde diet: ‚das fahrende Volk, die Fahrenden‘ 12 val: ‚(Ab-)Sturz, Niederlage, Verderben, Untergang‘
HMS 3: III,11 Sch 72
488
Ton III, Korpus in J
Übersetzung Jetzt achtet darauf, wer einen Geizigen beklagen soll, wann auch immer dieser [(es) schafft, dass ihn seine Frau und auch sein Kind aufgrund des Geizes verabscheuen. Sie gönnen ihm den Tod von Herzen; die Verwandten sagen ebenfalls, dass er für sie ganz und gar wie brennender Rauch in den Augen sei 5 und unter Menschen stets ein unverschämter Dummkopf. So sagen auch viele seiner Verwandten: ,Er ist hinsichtlich Loyalität leer wie ein [Fass!ʻ Derart singen auch Geistliche viele Gegenmessen auf ihn. Dementsprechend fluchen Witwen und Waisen: ,Das ist das Spiel des Teufels!ʻ 10 ,Wo möchte der Elende mit seinem Vermögen hin?ʻ, so tadelt ihn das fahrende Volk und die Bedürftigen danken ihm nicht. Weh, über dich, Geiz, dass du existierst! Durch dich kommt es zum schlimmsten [Absturz!
Inhalt III,56 zeigt die negativen Folgen auf, die ein Leben in übermäßiger erge (V. 2 und 12) für den kargen (V. 1) mit sich bringt. Anstatt beklagt zu werden, [sint] im sîn wîp und ouch sîn kint […] gehaz (V. 2) und gunnen im des tôdes wol (V. 3). Der Spruch macht jedoch bei Frau und Kind und deren Abneigung gegenüber dem Familienoberhaupt nicht halt, sondern nutzt sowohl den zweiten Stollen als auch nahezu den gesamten Abgesang, um weitere Personengruppen anzuführen, die nur wenig Mitleid mit dem kargen (V. 1) verspüren. Neben Frau und Kind lassen auch die übrigen Verwandten (vgl. V. 3–6), die Geistlichen (vgl. V. 7 f.), Witwen und Waisen (vgl. V. 9 f.) und auch das fahrende Volk und die Bedürftigen (vgl. V. 11) kein gutes Haar an dem Geizhals.658 Bruder Wernher arbeitet hier, wie auch in einer Vielzahl anderer Sprüche, mit überaus anschaulichen Bildern und Beschreibungen. So schmerzt der Mann die mâge wie brennender Rauch in den Augen (vgl. V. 4) und ist ihrem Vorwurf zufolge triuwen lærez vaz (V. 6). Die phaffen (V. 7) singen wiederum vil der widermis-
658 Es scheint so, als sei Bruder Wernher darum bemüht, ein möglichst breites Spektrum an Personen abzubilden, um das drastische Ausmaß der gesellschaftlichen Zurückweisung des Geizigen zu veranschaulichen.
56. Nv merket wer den kargen klage ſwen er geſcaffet daz.
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se659 ûf in (V. 8), die witewen unde weisen (V. 9) verfluchen ihn gar und glauben, der Teufel habe hier die Finger mit im Spiel (vgl. V. 9), „denn wo will der schlechte Kerl mit seinem Gut sonst hinfahren (als zur Hölle)?“660. Auch die Verwendung von direkter Rede (vgl. V. 6, 9 f.) trägt zur Anschaulichkeit bei und bewirkt eine Dynamisierung des Spruches in Richtung Erzähllied. Es liegt auf der Hand, dass es in III,56 darum geht, das Publikum (vgl. V. 1 Nû merket) zur Freigebigkeit zu animieren. Dies geschieht hier jedoch nicht durch positive Anreize (z. B. den Hinweis auf Zugewinn von Ansehen durch milte), sondern durch die Darstellung eines Negativbeispiels, das als abschreckende Warnung vor allzu großer (k)erge zu verstehen ist.661 Der Schlussvers fasst dementsprechend auch noch einmal die Folgen der (personifizierten) erge für den Menschen prägnant zusammen: der bœseste val von dir geschiht (V. 12). Und in der Tat könnte dieser val nicht schlimmer aussehen: Die Familie weist den kargen nach seinem Tod zurück und denkt gar, dass ihm der Tod recht geschehe, fahrendes Volk und bedürftige Menschen schimpfen wiederum über ihn und seinen Geiz und sogar die Geistlichen können kein Verständnis für ihn aufbringen, sondern lassen ihn stattdessen fallen und singen Gegenmessen auf ihn. Speziell der letzte Punkt dürfte Warnung genug vor übertriebenem Geiz sein, aber auch die Vorstellung, dass nach dem Tod niemand zurückbleibt, der für das Heil der Seele des Verstorbenen betet, muss aus mittelalterlicher Sicht beängstigend sein. So besteht keine Rettung vor dem tiefen val im Jenseits (Fegefeuer oder gar Hölle), welcher der „Lohn“ für die irdische Knausrigkeit ist.662
659 Schönbach schreibt zu dem Lexem widermisse: „Wir kennen Totenmessen im Mittelalter, welche mißbräuchlich für lebende Personen gelesen wurden, um sie zu schädigen und einem früheren Ende zuzuführen. […] Dagegen ist meines Wissens nicht überliefert, daß im Mittelalter Messen zu dem Zwecke gelesen wurden, um für die Seele des Verstorbenen eine härtere als die von Gott für sie bestimmte Strafe zu erwirken. Weil aber das Zeugnis Wernhers für einen derartigen abergläubischen Mißbrauch der Meßinstitution bisher das einzige bekannte ist, deshalb braucht es noch nicht falsch zu sein: Priester, welche Mordmessen gegen Lebende lasen, wären auch imstande gewesen, an die Möglichkeit von feindseligen Messen wider Verstorbene zu glauben.“ (Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 94) In der Tat war das sog. Mord- oder Totbeten lange Zeit weit verbreitet unter den Christen, und zwar trotz der heidnischen Wurzeln und obwohl es vonseiten der Kirche verboten war (vgl. dazu Franz, S. 98– 100). Ob man diesen abergläubischen Brauch, der auf lebende Personen angewendet wurde, ebenfalls auf Tote übertrug, kann aber auch ich nicht mit Sicherheit sagen. 660 Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 94. 661 Vgl. dazu Gerdes: Beiträge, S. 197 f. 662 Vgl. dazu auch Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 94 und Gerdes: Beiträge, S. 96 und Anm. 1.
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Ton III, Korpus in J
Historischer Hintergrund Lamey stellt die Vermutung an, dass sich III,56 „möglicher Weise auf den im Anfange des Jahres 1242 erfolgten Tod des Grafen Albrecht von Bogen beziehen [könnte]“663, weil dieser nach seinem Tod kaum betrauert worden sei. Für diese Interpretation fehlen m. E. Indizien, die eine relativ sichere Personendeutung sowie Datierung zulassen würden. Schönbach ist zuzustimmen, wenn er sagt, dass eine historische Einordnung „schon deshalb nicht zu beweisen [ist], weil […] der Spruch einen wirklichen Todesfall nicht voraussetzt, sondern bloß fingiert“664.
Inhaltliche Ähnlichkeit mit anderen Texten vgl. zu Vers 6 (und insgesamt): Ps 31,13 f.
Metrik A7ma A7ma A7mb A7mb 5 2A 7 m b A7ma A4mc A3md A7mc 10 A 5 m d A8me A8me
Nû mérket, wér den kárgen kláge, swen ér gescháffet dáz,
zẹ
widermissẹ sô vlúochent wítewen únde wéisen: ,daz íst des tíuvels spíl!ʻ ,wâ wíl der záge mit sme gúote hín?ʻ, ôwe, dir érge, dáz dû bíst! der bœ́ seste vál von dír geschíht.
Literatur Dorninger, S. 30 • Gade, S. 143–146 • Gerdes: Beiträge, S. 93 und Anm. 5, 96 und Anm. 1, 149 und Anm. 3, 155 und Anm. 1, 174 und Anm. 3, 176 und Anm. 3, 178 und Anm. 3, 179 und Anm. 7, 181 und Anm. 4, 197 f., 208 • HMS 4, S. 522 • Kemetmüller, S. 81, 236 • Lamey, S. 7, 8, 28, 30, 31 • Roethe, S. 305 • Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 93 f.
663 Lamey, S. 28. 664 Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 94.
Ton IV Ton IV sind insgesamt drei Sprüche zuzuordnen (IV,57–IV,59). Mit Blick auf das Reimschema sind Ton II und Ton IV (aab ccb) identisch, weichen in der Wahl der Kadenzen und v. a. auch in der Hebungs- bzw. Taktzahl der einzelnen Verse aber deutlich voneinander ab. Metrische Formel:665 Aufgesang: 7ma 7ma 8kb / 7mc 7mc 8kb // Abgesang: 4md 6ke 7md 6ke 7mf 7mf
665 Vgl. andererseits RSM 2,1, S. 303 (hier Ton III). Zur Melodie vgl. Brunner: Spruchsang, S. 429, 486; Brunner: Töne, S. 53 f.; Taylor, S. 103 f.; Spechtler: Bruder Wernher, Bd. II, S. 28; Holz/Saran/Bernoulli, Bd. I, S. 26 f. und Bd. II, S. 5 f.; Rettelbach, S. 86.
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Ton IV, Korpus in J
Korpus in J 57. Nv merket wa eẏn blẏnder get. Vuͦrluſet er den knecht. (J54) Nv merket wa eẏn blẏn/der get. Vuͦ rluſet er den knecht. / Jm ıſt dıe ruwe an tzweren vuͦ zen / ſam dıe ſtraze ſlecht. Jm ıſt dıe tıe/fe alſam der vort. Swen er dem / wazzer nahet.| Jm ıſt dıe dẏnſter // nacht gelıche lecht. Alſam der tac. / 5 Wen er ne wederz ane wıſel nícht / ır kennen mac. Er ſtruchet bı dem / ſvnnen ſchẏne ob er tzvͦ balde gahet. / Des ne mac ıch ẏm gewízen nícht. / Ez ıſt ſo maníger blẏnt mít lıechten / ougen| Der wol das vngeverte bı der / rechten ſtraze ſıcht. 10 Vnde ırre vert / vuͦ r ſchanden ſvnder lougen.| Wır leíen / haben den wıſel vuͦ r lorn der vnſer / ſolte phlegen. Wer grıfen ſelber nach // den phade̅ wír ſtruchen bı den wegen. /
Überall dort, wo regulär Lombarde stehen müsste (vgl. V. 4, 7, 9 und 11), steht hsl. nur Majuskel. 3 sowohl Reimpunkt als auch senkrechter Strich am Versende 8 statt Reimpunkt senkrechter Strich am Versende 10 neben Reimpunkt steht evtl. auch hier senkrechter Strich am Versende
57. Nv merket wa ey˙n bly˙nder get. Vuͦrluſet er den knecht.
493
Nû merket, wâ ein blinder gêt, verliuset er den kneht: im ist diu riuwe an zweien vüezen sam diu strâze sleht, (?) [C: dem sint die rûchen vür antwerc alse die strâzen sleht] im ist diu tiefe alsam der vurt, swen er dem wazzer nâhet, im ist diu dinster naht gelîche lieht alsam der tac, 5 wan er newederz âne wîsel niht erkennen mac; er strûchet bî dem sunnenschîne, ob er ze balde gâhet. desne mac ich im gewîzen niht. ez ist sô maneger blint mit liehten ougen, der wol daz ungeverte bî der rehten strâze siht 10 unde irre vert vür schanden sunder lougen. wir leien haben den wîsel verlorn, der unser solde phlegen. wir grîfen selber nâch den phaden, wir strûchen bî den wegen.
54 J, 14 [13] C 1 Nû fehlt. wâ] war. gêt] ge. 2 de̅ ſınt dıe ruche̅ fuͥr antwerk alſe dıe ſtraſſe̅ ſleht. 3 swen] wıl. nâhet] nahe̅. 4 gelîche lieht alsam der tac] gelıch als dlıehte tag. 5 wan er newederz] der enweds. 6 dem sunnenschîne] d ſvnne̅ ſchín. ob] wıl. gâhet] gahe̅. 7 ne fehlt. 9 bî der rehten strâze] bı ım vf d ſtraſſe̅. 10 vür] ın. 11 den wîsel] dıe wıſel. der] dıe. solde] ſolte̅. 12 wir grîfen selber] nv grife̅ ſelbe. 3 als.
10 vn̅.
11 ha̅. florn.
2 zweien: M. E. handelt sich bei hsl. tzweren um eine Verschreibung des Zahlworts zwei im Dat. an (zweien vüezen): hier ‚auf, mit‘ V. 2 ergibt in der Lesart nach J weder im Gesamtzusammenhang noch in sich rechten Sinn. Was ist hier mit riuwe gemeint und was hat diese mit der strâze zu tun? Wie V. 3 f. zeigt, geht es in V. 2 bis 4 darum, zum Ausdruck zu bringen, wie hilflos der Blinde ohne seinen Diener ist. Dies wird anhand von antithetischen Wortpaaren veranschaulicht, nämlich tiefe und vurt (V. 3) sowie dinster naht und tac (V. 4). V. 2 scheint ursprünglich ebenfalls nach diesem Muster angelegt gewesen zu sein, worauf die Lesart von C hindeutet: Hier werden den geraden Straßen (die strâzen sleht) wohl die noch ungebahnten Wege (die rûchen vür antwerc) gegenübergestellt (dies erinnert an Lk 3,4 f.). [C: antwerc: ‚Maschine (v. a. für die Belagerung)‘ oder auch das durch solches Arbeiten Hervorgebrachte. Hier ist wohl der noch wilde (vgl. rûch), ungebahnte Weg gemeint, wobei rûch entweder substantiviert ist oder aber sein subst. Bezugswort ist ausgespart. Schönbach greift in die Lesart von C ein und macht daraus dem sint die rûhen vüere entwerh alsam die strâzen sleht (Schön-
HMS 2: III,1 Sch 19
494
Ton IV, Korpus in J
bach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 48) und vermerkt dazu: „die rûhen vüere entwerh 2 bezeichnen dasselbe wie 9 daz ungeverte bî der strâzen, nämlich die ungebahnten, rauhen, nur zufällig betretenen Strecken querfeldein neben oder bei den wirklichen Straßen.“ (ebd.) Obgleich Schönbach mit dieser Auslegung inhaltlich in dieselben Richtung geht wie ich, bin ich nicht sicher, ob seine Eingriffe in die Hs. wirklich notwendig oder gerechtfertigt sind. Auch Leitzmann hat seine Schwierigkeiten mit Schönbachs Konjektur: „Aber wie soll vüere, sei es nun Singular oder Plural, grammatisch aufzufassen sein? Ich sehe keine Möglichkeit. Das ursprünglich vom Dichter gemeinte ist ohne Zweifel rûhe vürhe [vurch: ‚Furche (mit dem Pflug gezogene Vertiefung), einer Furche vergleichbare Vertiefung‘, Anm. d. Verf.] gewesen […].“ (Leitzmann, S. 162) Auch von dieser Auslegung bin ich nicht absolut überzeugt. Zwar würde das Subst. vurch kontextuell passen, die Frage ist jedoch, ob man bei hsl. fuͥr – und darauf aufbauend bei hsl. antwerk für entwerch (< twerch: ‚quer, nicht gerade‘) – wirklich von einer Verschreibung auszugehen hat? Kann fuͥr nicht auch vür (zeitl. ‚vor‘) meinen? Also vür antwerc = ‚vor der Einebnung oder Bahnung‘? Schönbach (und ihm wohl folgend auch Leitzmann) geht von entwerch aus, wodurch der Eingriff bei hsl. fuͥr notwendig wird (entwerch ist in diesem Fall prädikativ verwendetes Adj.). Obgleich die hsl. Lesart von C, wie sich gezeigt hat, Schwierigkeiten bereitet, behalte ich diese bei und greife nicht, wie etwa Schönbach oder Leitzmann, in die Hs. ein. Da diese Lesart m. E. aber prinzipiell immer noch nachvollziehbarer erscheint als die Lesart in J, gebe ich C im inhaltlichen Kommentar den Vorzug.] 3 vurt (mhd. Mask.): ‚Furt, seichte Stelle im Gewässer‘ 4 dinster: ‚finster, düster‘ lieht: zur hsl. Form lecht (〈ê〉 [bzw. /ê/] für /ie/) vgl. Mnd. Gram., § 110 5 neweder: ‚keines von beiden‘ wîsel: ‚Führer, Anführer‘ 7 gewîzen: verstärktes wîzen, ‚vorwerfen‘ 8 lieht: eigentlich ‚hell, strahlend‘, hier als Pendant zu blint ‚sehend‘ 9 ungeverte: ‚ungebahnter Weg, unwegsame Gegend‘ 10 irre varn: ‚wovon abkommen‘ sunder lougen: feste Wendung ‚führwahr, unbestreitbar, tatsächlich‘ 12 grîfen: intr. mit nâch ‚tasten‘
57. Nv merket wa ey˙n bly˙nder get. Vuͦrluſet er den knecht.
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Übersetzung Jetzt achtet darauf, wo ein Blinder geht, wenn er den Diener verliert: Für ihn ist die Reue auf zwei Füßen gut und recht wie die Straße gerade, (?) [C: Für den sind die zugewachsenen, (noch) vor der Bearbeitung (stehenden) (Wege) genauso gerade wie die Straßen,] für ihn ist die Tiefe (das Gleiche) wie die Untiefe, wann auch immer er sich dem [Wasser nähert, für ihn ist die finstere Nacht gleich hell wie der Tag, 5 weil er keines von beidem ohne Führer zu erkennen vermag; er strauchelt bei Sonnenschein, wenn er zu schnell eilt. Deswegen vermag ich ihm nichts vorzuwerfen. Es ist so manch einer mit sehenden Augen blind, der das unwegsame Gelände neben der geraden Straße gut erkennt 10 und aufgrund schändlichen Treibens in der Tat (vom rechten Weg) abkommt. Wir Laien haben den Anführer verloren, der sich um uns kümmern sollte; wir tasten selbst nach den Trampelpfaden, wir stolpern auf den Wegen.
Inhalt Der Spruch behandelt die Rolle, die der wîsel (V. 5 und 11) gegenüber den leien (V. 11) einnimmt.666 Zur Veranschaulichung bemüht Bruder Wernher ähnlich, wie er es auch in II,26,3–6 tut, die Figur des blinde[n] (V. 1) und seines kneht[es] (V. 1).667 Im Zentrum steht die Abhängigkeit und Hilflosigkeit des Blinden, verliuset er den kneht (V. 1), für die Vers 2 bis 4 (V. 2 nach Lesart in C!) anschauliche Beispiele anführt: Der Blinde vermag weder den Trampelpfad von der geraden Straße (vgl. V. 2 in C) oder die tiefe (V. 3) von der vurt (V. 3) zu unterscheiden noch die finstere Nacht vom hellen Tag (vgl. V. 4). Und da er âne wîsel (V. 5) völlig hilflos ist (vgl. V. 4), stolpert er natürlich trotz Sonnenscheins, sobald er es zu eilig hat (vgl. V. 5). Aber dies vermag der Sprecher dem Blinden nicht vorzuwerfen (vgl. V. 7), schließlich trägt der Blinde keine
666 Analog zu III,56 setzt übrigens auch IV,57 mit einer Apostrophe an das Publikum ein: Nû merket. Diese dient nicht nur dazu, Aufmerksamkeit einzufordern, sondern ist auch Signalgeber für eine nachfolgende Belehrung. 667 Yao weist IV,57 in seiner Untersuchung zum Exempelgebrauch in der Sangspruchdichtung als Gleichnis aus, „dessen Nutzanwendung im geistlich-moralischen, womöglich auch kirchenpolitischen Bereich liegt“ (Yao, S. 74, vgl. auch S. 37). Zum Vergleich von II,26 und IV,57 vgl. Anm. 358 und ebd., S. 126 f.
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Ton IV, Korpus in J
Schuld an diesen Umständen. Anders sieht es jedoch mit denjenigen aus, die blint mit liehten ougen (V. 8) sind. Diese sind sehr wohl in der Lage, daz ungeverte bî der rehten strâze (V. 9) zu erkennen, kommen aber dennoch vür schanden (V. 10) vom rechten Weg ab (vgl. V. 10). Wie diese Übertragung vom Blinden auf manege[n] (V. 8) zeigt, kommt es ab Vers 7 bzw. 8 zu einer Vermischung der Bildsprache aus Vers 3 bis 6 mit realen Bezügen, wobei diese jedoch (noch) recht allgemein gehalten sind (vgl. V. 7 f. ez ist sô maneger […], der). Der Hilflosigkeit des körperlich Blinden wird die moralische oder geistliche668 Blindheit des fahrlässig Handelnden gegenübergestellt. Aber nicht nur die Blindheit wird auf die Realität übertragen, sondern auch der kneht findet seine Entsprechung, nämlich in dem wîsel (V. 11).669 Auffällig ist, dass in beiden Fällen das Verb verliesen verwendet wird (vgl. V. 1 verliuset er den kneht, V. 11 wir leien habent den wîsel verlorn), wodurch die Vergleichbarkeit von exemplarischer Veranschaulichung und realen Gegebenheiten zusätzlich unterstrichen wird. Ab Vers 11 tritt der Exempel- bzw. Gleichnischarakter der vorausgegangenen Verse noch stärker zurück und das Geschehen wird greifbarer, realer, denn während die Verse 7 bis 10 personell noch allgemein und unspezifisch (vgl. V. 7 f. maneger – der) sind, wird in den beiden Schlussversen nun eine konkrete Personengruppe benannt: wir leien (V. 11, auch in V. 12 wir). Erst jetzt wird also deutlich, auf welche Problematik das Gleichnis der ersten Strophenhälfte sowie die Überleitung in Vers 7 bis 10 hinaus will: Der Sprecher klagt über den Zustand fehlender (geistlicher) Führung670 und weist darauf hin, dass wir leien (V. 11) dadurch blind nach den Wegen suchen und ins Stolpern geraten (vgl. V. 12).671 Interessant ist der Wortlaut von Vers 11: Womit oder
668 „[...] d. h. diejenigen, die theologisch gebildet sind, aber von den richtigen Wegen abweichen und irrtümlich die Wege der Schande einschlagen.“ (ebd., S. 74) 669 Teschner weist zu Recht darauf hin, dass wir in der Zugehörigkeit von kneht und wîsel „eine Umwertung und Steigerung des ursprünglichen Begriffes “kneht” [erkennen], der zunächst zum Blindenführer avanciert […], um dann in der Auslegung als geistlicher Führer der Laien apostrophiert zu werden“ (Teschner, S. 131 f.). Und der Terminus wîsel „macht darüber hinaus deutlich, daß das in die Irre gehen nicht nur wörtlich, sondern vor allem metaphorisch gemeint ist“ (ebd., S. 132). 670 Die Vorstellung, dass die Gläubigen ohne geistliche Führung hilflos wären, thematisiert auch I,1, in dem es ähnlich wie in IV,57 heißt: wir wæren doch verirret gar, hæte wir der phaffen niht (I,1,11). 671 Auch hier ist, analog zu verliesen, auf lexikalischer Ebene der parallele Gebrauch des Verbs strûchen (vgl. V. 6 und 12) auffällig; das Stolpern des Blinden und das der führerlosen Laien wird als vergleichbar angesehen. Teschner versteht Vers 12 überraschenderweise als „Rat“ (ebd., S. 133) Bruder Wernhers: „Er fordert die Laien zur Selbsthilfe auf. Wenn die Geistlichkeit versagt, sollen sie sich selbst ihren Weg zum Seelenheil ,ertasten‘.“ (ebd.) Und weiter
57. Nv merket wa ey˙n bly˙nder get. Vuͦrluſet er den knecht.
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wodurch haben die Leien den Führer, der sich ja um sie kümmern sollte, verloren? Und lässt diese Formulierung eine nähere historische Einordnung zu? Dazu weiter unten mehr. Mit Blick auf die Parallelüberlieferung in C fällt neben Vers 2, auf den bereits im Übersetzungsapparat ausführlich eingegangen wurde, v. a. Vers 11 durch Varianten auf, die sich deutlich von der Lesart in J unterscheiden: Der kleine, aber feine Unterschied zwischen J und C in Vers 11 ist der Numerus des Lexems wîsel. Während es in J im Singular verwendet wird, steht es in C im Plural. Dadurch erscheint die Lesart von C unspezifischer, allgemeiner. Da in J der Singular steht, kann unterstellt werden, dass es sich nicht nur um eine grundsätzliche Klage über mangelhafte Führung handelt wie in C, wo Führer an sich gemeint sind, sondern dass der Spruch auf die fehlende Anleitung eines ganz bestimmten (An-)Führers abzielt. Die historische Einordnung der Lesart von C scheint somit aufgrund ihres verallgemeinernden Duktus deutlich schwieriger – wenn überhaupt möglich – als diejenige von J.
Historischer Hintergrund Speziell Vers 11 und seine Formulierung wir leien habent den wîsel verlorn wurde in der Forschung rege diskutiert. Im Mittelpunkt steht dabei natürlich zunächst die Frage, welche Rückschlüsse die Aussage wir leien auf Bruder Wernhers biografischen Hintergrund zulässt. Ist sie wirklich wörtlich zu verstehen – Und warum sollte sie das nicht sein? –, so kann gemutmaßt werden, dass es sich bei Bruder Wernher höchstens um einen Laienbruder gehandelt haben kann, kaum jedoch um einen „echten“ Mönch.672 Für die historische Einordnung viel entscheidender ist jedoch der wîsel, den die Laien verloren haben. Wie weiter oben bereits erwähnt, unterscheiden
unten auf derselben Seite schreibt er: „aus der konkreten Situation des Blinden, der seinen Führer verloren hat, wird die ganz konkrete, einzig mögliche Folgerung gezogen: er muß sein Schicksal in die Hand nehmen und sich seinen Weg ertasten“ (ebd.). Yao geht in eine ähnliche Richtung wie Teschner: „[...] wir finden uns ohne das vorhandene Establishment allein geistlich nicht zurecht; so lasst uns denn nach den ungebahnten, unebenen oder engen Pfaden tasten, d. h. mit solchen Personen vorliebnehmen, die eigentlich geistlich nicht zuständig sind.“ (Yao, S. 77) M. E. ist Vers 12 eher als eine Art resignierender Tatsachenbericht zu verstehen. 672 In diese Richtung argumentieren: HMS 4, S. 516; Meyer, S. 79; Lamey, S. 5; evtl. Doerks, S. 2; Kemetmüller, S. 89; Gerdes: Beiträge, S. 135 f. Vgl. dazu auch das Kapitel ,Bruder Wernher‘ (hier ,Stand‘) in der vorliegenden Arbeit.
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Ton IV, Korpus in J
sich die beiden Überlieferungsquellen im Numerus des Lexems. Schönbach diskutiert ausführlich, warum aus seiner Sicht der Plural in C mit Blick auf die Datierungsfrage logischer ist,673 und setzt, nachdem er die Lesart von J verworfen hat, ausgehend von C den Spruch „in den Frühling und Anfang des Sommers 1246“674. Wieso die Überlieferung in J Schönbach zufolge weniger Gültigkeit besitzen soll, erschließt sich mir nicht. Und mir mag auch nicht recht einleuchten, inwiefern Lameys Deutung, wonach die Abfassung in die Zeit der 673 Zunächst schließt Schönbach Lameys Deutung (wîsel = Papst, siehe weiter unten im Fließtext) mit der vielleicht etwas zu pedantischen, aber dennoch nicht unzutreffenden Begründung aus, dass der wîsel, würde er für den Papst stehen, nicht nur der Führer der Laien, sondern auch der der Geistlichen wäre, Wernhers Text wäre insofern ungenau (vgl. Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 49). Im Anschluss daran plädiert er in mir nicht nachvollziehbarer Weise dafür, dass „die leien einen Hinweis auf die phaffen [fordern], daher ist der von C gebotene Plural notwendig“ (ebd., S. 50). Der laut Schönbach ausschlaggebendste Grund zugunsten der Lesart von C basiere jedoch auf Vers 6 in I,1 (wer wîset uns, ob wir mit sênden ougen werden blint?): Da dort von den phaffen die Rede ist, „[sind] [d]ie wîsel also auch hier die phaffen“ (ebd.). Der Verlust der wîsel (= phaffen) ergebe sich nun aus deren zunehmendem moralischen Verfall, wodurch wiederum der Unmut des Volkes geweckt werde (vgl. ebd., S. 50 f.). Diese kritische Volksstimmung gegenüber der Geistlichkeit, die Schönbach zufolge im Zuge der Absetzung Kaiser Friedrichs II. durch Innozenz IV. auf dem Konzil in Lyon (26. Juni bis 17. Juli 1245) noch zusätzlich befördert wurde, bilde demnach den Ausgangspunkt für IV,57 (vgl. ebd.). Dass der Spruch in der Lesart von C die Geistlichen an sich bezeichnet und diese insofern eine Art Gegenpol zu den Laien bilden, erscheint mir sinnvoll und auf der Hand zu liegen, deswegen jedoch die Lesart in J völlig in Abrede zu stellen, halte ich für falsch. Vetter stimmt Schönbach zwar zu, dass die Sprüche I,1 und IV,57 „[f]ormell und inhaltlich“ (Vetter, S. 247) deutliche Parallelen aufweisen und deswegen „annähernd in dieselbe zeit“ (ebd.) verlegt werden sollten, weist allerdings auf einen entscheidenden Fehler Schönbachs hin: Während Schönbach IV,57 nämlich ins Jahr 1246 datiert, setzt er in seinem Kommentar zu I,1 den Abfassungszeitpunkt auf „etwa 1240 oder bald darnach“ (Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 12). „Somit würden sich die beiden sprüche bei seiner [Schönbachs, Anm. d. Verf.] datierung also doch nicht auf dieselbe sache beziehen.“ (Vetter, S. 247) Da aber auch Vetter eine enge Verbindung der Strophen zueinander sieht, datiert er IV,57 analog zu I,1 früher, nämlich auf „sommer 1239“ (ebd.), und erklärt, „daß […] in den jahren 1239/40 der boden für derartige sprüche da war“ (ebd.). Der Überlegung, dass der Konflikt zwischen Kaiser Friedrich II. und Papst Gregor IX., der auch die zweite Exkommunikation Friedrichs II. am 20. März 1239 beinhaltet und in dessen Zuge die Zeit der Propaganda auf beiden Seiten einsetzt (vgl. Gebhardt, Bd. 6, S. 256–259), den geeigneten Entstehungshintergrund bilde, um davon sprechen zu können, den bzw. die wîsel verloren zu haben, stehe ich eher zurückhaltend gegenüber. Wenn überhaupt kommt aufgrund des Numerus von wîsel dafür nur die Lesart von C infrage. Grundsätzlich wurde bei der Gegenüberstellung von I,1 und IV,57 übrigens weder von Schönbach noch von Vetter bedacht, dass I,1 nur in J überliefert ist. Bei ihrer historischen Einordnung ziehen sie also einen unikal in J überlieferten Spruch heran, um die Datierung der Lesart eines in C überlieferten Spruches zu untermauern, ignorieren dabei jedoch die Lesart desselben Spruches aus J. 674 Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 51.
57. Nv merket wa ey˙n bly˙nder get. Vuͦrluſet er den knecht.
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Vakanz des päpstlichen Stuhles675 falle,676 nur aufgrund der Tatsache unwahrscheinlich sei, dass Bruder Wernher ungenau ist, wenn er lediglich von den leien, nicht aber auch von den Geistlichen spricht (Schönbach besteht darauf, dass der Papst der wîsel beider Gruppen ist und somit auch beide Erwähnung finden müssten)677. Grundsätzlich bietet sich die Formulierung wir leien habent den wîsel verlorn doch geradezu dazu an, den Spruch in die Zeit zu datieren, in der die Laien tatsächlich ohne ihren obersten geistlichen Führer auf Erden sind, nämlich zwischen den 10. November 1241 und den 25. Juni 1243, als der päpstliche Stuhl unbesetzt ist. Eine andere Datierung, die der Schönbachs sehr nahe kommt, wirft Henry Doerks auf: Er hält es für möglich, dass sich der Spruch auf die „Wirren“678 von „1244 oder anfang 1245 bis 17. Juli“679 beziehen könnte, erläutert dies jedoch nicht näher. Im Grunde liegen mit der Überlieferung in J und C – wie übrigens bei vielen anderen mehrfach überlieferten Strophen auch – zwei letztlich gleichwertige Lesarten vor, die aufgrund der minimalen Varianz im Numerus eines Wortes eine unterschiedliche Ausrichtung erhalten: Im einen Fall scheint sich der Spruch bzw. der elfte Vers auf eine ganz konkrete historische Person, nämlich den Papst (bzw. dessen Fehlen), zu beziehen, im anderen steht hingegen die Geistlichkeit an sich im Zentrum, wodurch die Datierungsfrage m. E. schwerer zu beantworten ist.
Inhaltliche Ähnlichkeit mit anderen Texten vgl. insgesamt: Spr 4,26 f. vgl. zu Vers 2 in C: Lk 3,4 f.; Mt 3,3; Joh 1,23 vgl. zu Vers 11 (wir leien): Walther L 34,24 (hier V. 9): des mugen wir túmbe leien wol verzagen. (Schweikle: Walther, Bd. 1, S. 172)
675 Papst Gregor IX. stirbt am 22. August 1241 und auch sein Nachfolger Papst Cölestin IV. stirbt nur zwei Wochen nach seiner Wahl, nämlich am 10. November 1241. Im Anschluss daran ist der päpstliche Stuhl für eineinhalb Jahre unbesetzt, denn erst am 25. Juni 1243 kommt es zur Wahl von Papst Innozenz IV. 676 Vgl. Lamey, S. 29. 677 Vgl. dazu Anm. 673. 678 Doerks, S. 9. Gemeint sind hier die sich zuspitzenden Spannungen zwischen der kaiserlichen und der päpstlichen Partei, die am 17. Juli 1245 auf dem Konzil in Lyon in die Absetzung Kaiser Friedrichs II. durch Innozenz IV. münden (vgl. Gebhardt, Bd. 6, S. 269–273). 679 Doerks, S. 9.
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Metrik A7ma A7ma A8kb A7mc 5 A7mc A8kb 2A 4 m d A6ke A7md 10 A 6 k e A 7 2m f A 7 2m f
riuwẹ [C: dem sínt die ruchen vr antwérc álse die strazen sléht] tiefẹ
sunnenschînẹ desne mác ich ím gewzen níht: ez íst sô máneger blínt mit líehten óugèn, undẹ wir léien hábent den wsel verlórn, der únser sólde phlégen. wir grfen sélber nach den pháden, wir struchen b den wégen.
Literatur Doerks, S. 9 • Gent, S. 70 • Gerdes: Beiträge, S. 55, 59 Anm. 4, 130, 131 und Anm. 3, 136, 141 f., 175 und Anm. 2, 179 und Anm. 5, 203, 205 Anm. 3, 209 • HMS 4, S. 516, 518 • Kemetmüller, S. 5, 6, 34–36, 37, 58, 61, 89, 216 • Lamey, S. 5, 29, 31 • Leitzmann, S. 162 • Meyer, S. 79 • Müller: politische Lyrik, S. 102 • Roethe, S. 305, 339 • Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 48–52 • Teschner, S. 130–134 • Vetter, S. 247 Yao, S. 37, 67, 74–77, 126 f., 129, 158, 200.
•
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Ton IV, Korpus in J
58. Swes lob vuͦr negelt wírt Daz nícht eín meíſter buͦzen kan. (J55) Swes lob vuͦ r negelt wírt / Daz nícht eín meíſter buͦ zen / kan. Der wellet (?) an den eren daz vıl / lıchte eín kvndıch man. an ſẏner / wırde eẏn ſtruchen ſpuret vn̅ ouch / eín hẏnkent ſcíere Dar nach eẏn / vallen des er ſıch nẏmmer me ſıt / ır holt. 5 Ob man ſẏnen eít tzvͦ breche̅ / wıl. Daz er vngerne dolt. Jr ſínt ın / mẏme lobe me erhvnken danne / vıere Der ſtarke nagele ſínt ge/ſlagen hín durch dıe tugent vnde / anderthalb vuͦ r tzwıcket Ez ıſt / ouch war ıch ne kan v̎. weız got / anders nícht geſagen. 10 Waz man / mít ſwínden worten da gebıcket. / Sıe ſínt an gantzer wírde vnde / an den eren gar vuͦ r lamet. phrvt / vmme dıe anderen dıe ſıch haben an / eren ſus vuͦ r ſcamet /
1 Punkt vor Daz fehlt 2 wellet: Korrektur bei 〈w〉 (zuvor wurde radiert, 〈w〉 anschließend nachgetragen; man könnte es auch als 〈n〉 lesen)
58. Swes lob vuͦr negelt wírt Daz nícht eín meíſter buͦzen kan. (J55)
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Swes lop vernegelt wirt, daz niht ein meister büezen kan, der wile an den êren, daz vil lîhte ein kündec man an sîner wirde ein strûchen spürt und ouch ein hinken schiere, dar nâch ein vallen, des er sich niemer mê sît erholt. 5 ob man sînen eit zerbrechen wil, daz er ungerne dolt. ir sint in mîme lobe mê erhunken danne viere: der starken nagele sint geslagen hin durch die tugent unde anderthalp verzwicket. ez ist ouch wâr, ichne kan iu, weiz got, anders niht gesagen: 10 waz man mit swinden worten dâ gebicket, sie sint an ganzer wirde unde an den êren gar verlamet. prutz, umbe die andern, die sich habent an êren sus verschamet!
55 J, 31 [30] C C komplett Swes lob alſo vnagelt wırt dc nıht eı ̅ / meıſt bvͤſſen kan· dc nímt an dıen ere̅ / abe dc lıhte ein kv̍ndıg man· ſín hınke̅ an / der wırde ſpuͥrt dar nach eín ſtruche̅ ſchıere· / vn̅ nach dem ſtruche eín valle̅ deſ es lıhte / niem ſıch erholt· 5 als ma̅ dıe níete níeten / ſol dc (?) es vnſanfte dolt· ír ıſt da her ı ̅ mıne̅ / lobe vdorbe̅ mır wol vıere· dıen ſtarke na/gel ſınt geſlage̅· hín dvr dıe tvge̅t vn̅ an/dthalp vzwıket· ıch kan uͥch ands nıht / von ın geſagen· 10 ſwc ma̅ mít arge̅ ſprıv/che̅ vf ſı gebıket· ſo ſınt ſı doch antvgen/de̅· (?) gar erlamt· tpruͥtſch vnd dandn dıe / ſıch hant an wdekeıt vſchamt· / Die Tinte ist bei diesem Spruch z. T. verblasst bzw. materialbedingt (Abnutzung?) schlecht lesbar. Dies gilt v. a. für dc in Vers 5 und an tugenden in Vers 11. 1 vernagelen: Das HWB führt unter dem Lemma die Bedeutungen ‚mit Nägeln beschlagen‘ bzw. bildlich ‚mit einem Nagel durchschlagen, durchnageln‘ an (vgl. HWB vernagelen). Allerdings würde ich mich Schönbach anschließen, der sich mit Blick auf den vorliegenden Kontext dafür ausspricht, dass hier eben nicht ‚durchnageln‘ usw. gemeint ist, sondern tatsächlich ‚vernageln‘, also Nägel falsch einschlagen (vgl. Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 54). büezen: ‚(aus-)bessern, gut machen‘ 2 wellen: Die hsl. Form welt deutet auf mnd. Einfluss hin (vgl. Dietl, S. 18 und Mnd. Gram., § 447). 3 hinken: Hsl. hẏnkent scheint versehentlich als Verb (3. Pl. Ind. Präs.) verstanden worden zu sein. 4 des: Objektsgen. zu
HMS 2: III,3 Sch 21
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Ton IV, Korpus in J
erholn 5 zerbrechen: bildlich ‚verletzen, übertreten, nicht halten‘; vgl. zur Lesart von V. 5 auch den Kommentar zu IV,58 7 der starken nagele: part. Gen. in Verbindung mit sîn, dessen Bezugswort (z. B. iht oder vil) ausgespart ist, wörtlich ‚von den massiven Nägeln sind (mehrere) durch die Tugend geschlagen worden‘ (vgl. Mhd. Gram. § S 74 b)); die hsl. Endg. von starc ist nicht nachvollziehbar: Aufgrund des best. Art. wäre mit der sw. Flexion zu rechnen (starken), aber selbst wenn das Adj. hier trotz des best. Art. st. flektiert, hieße der Gen. Pl. Mask. starker – die Lesart der Hs. bleibt also unklar. Wurde schlicht der Nasalstrich über dem auslautenden 〈e〉 vergessen? 8 verzwicken: hier ‚festklemmen, befestigen mit zwecken (= Nagel aus Holz oder Eisen, Bolzen)‘ 10 swinde: ‚schnell, gewitzt‘ oder ‚scharf, böse, schlimm‘ bicken: ‚stechen, picken‘ 11 verlamen: ‚ganz lam werden, erlahmen‘ 12 prutz: Interjektion, die wohl so viel wie ‚Pfui!‘ bedeutet
58. Swes lob vuͦr negelt wírt Daz nícht eín meíſter buͦzen kan. (J55)
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Übersetzung (Jeder, bei) dessen Lob (man sich) vernagelt, so dass es nicht (einmal) ein Meister [auszubessern vermag, der will in Bezug auf das Ansehen, dass ein kluger Mann in seiner Würde sehr leicht ein Straucheln verspürt und zudem sogleich ein [Hinken, danach einen Sturz, von dem er [= der kluge Mann] sich fortan niemals mehr [erholt. 5 Wenn man seinen Eid verletzen möchte, gestattet er das (nur) widerwillig. Von ihnen haben in meinen Lob(-sprüchen) mehr als vier angefangen zu hinken: Die massiven Nägel wurden durch die Tugend geschlagen und auf der anderen Seite vernietet. Und wahr ist es, ich vermag euch, weiß Gott, nichts anderes zu berichten: 10 Was man (auch) mit scharfen Worten dort (auf ihnen) herumhackt, sie sind in Bezug auf unversehrtes Ansehen und Ehre ganz und gar lahm [geworden. Pfui, zu den anderen, die mit Blick auf das Ansehen derart schamlos geworden [sind!
Inhalt Im Zentrum von IV,58 steht das öffentliche Ansehen, welches, wird es von dem Gepriesenen nicht angemessen gepflegt, leicht in sein Gegenteil umschlagen und den ehemals Vorbildlichen zu Sturz bringen kann, so dass nicht einmal ein meister vermag, den Vorbildlichen und sein Ansehen zu rehabilitieren.680 Einmal mehr verwendet Bruder Wernher eine konkrete Bildsprache, um eher abstrakte, nicht greifbare Zusammenhänge plastisch darzustellen. In diesem Fall wird das Handwerk des Hufschmieds bemüht, indem das Verb vernagelen (vgl. V. 1) bzw. die starken nagele681 (V. 7), die eingeschlagen (vgl. V. 7) und
680 Schönbach äußert hinsichtlich des Hinweises auf den meister die Überlegung, dass sich Bruder Wernher mit dieser Aussage „eine Möglichkeit aufgetan hätte, den Tadel (gegen eine angemessene Spende) zurückzunehmen und das frühere Lob in seiner Geltung wieder herzustellen. Es mag sein, daß ich mich irre und daß diese Einschaltung nur das Lob als irreparabel darstellen soll, doch fürchte ich, daß ich recht behalte“ (Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 55). M. E. kann anhand des Textes nicht klar entschieden werden, ob sich Wernher mit dem Verweis auf den meister tatsächlich eine „Hintertür“ offenhalten möchte oder nicht. 681 Vgl. zu dem Bild des vernagelten Lobs bzw. der Verwendung der starken nagele auch II,42,6 sowie Anm. 534.
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anderthalp verzwicket682 (V. 8) werden, herangezogen wird: Vernagelt sich der Hufschmied beim Beschlagen des Pferdes, schlägt er also die Nägel falsch ein, so fängt das Pferd früher oder später an zu hinken (vgl. V. 3), gerät schließlich ins Stolpern (vgl. V. 3) und stürzt am Ende (vgl. V. 4).683 Im übertragenen Sinne ergeht es demjenigen, dessen lop vernegelt wirt (V. 1), mit seiner wirde (V. 3): Auch diese verspürt bald, nachdem ein Lob unsachgemäß ausgesprochen wurde, ein strûchen unde ouch ein hinken schiere, dar nâch ein vallen (V. 3 f.). Zwischen der Quelle der verwendeten Bilder (nämlich dem Beruf des Hufschmieds) und dem Bereich, auf den die Bilder übertragen werden (die öffentliche Reputation also), besteht m. E. jedoch ein kleiner, aber entscheidender Unterschied, bei dem nicht sicher ist, ob sich Bruder Wernher dieser Unstimmigkeit bewusst war oder sie gar gezielt beibehalten hat. Es handelt sich dabei um die Frage nach dem Vorsatz: Während dem Hufschmied wohl kaum unterstellt werden kann, dass er es gezielt darauf anlegt, ein Pferd falsch zu beschlagen, zielt das vermeintliche Lob des Sprechers hingegen gerade darauf ab, den Gepriesenen zu kompromittieren. Dies macht der Sprecher in Vers 6 unmissverständlich deutlich: Er hat dank seines Lobs bereits mehr als vier von ihnen im übertragenen Sinn zum Hinken gebracht (vgl. V. 6), und zwar indem die massiven Nägel durch die (vermeintliche) tugent (V. 8) geschlagen und auf der anderen Seite vernietet wurden (vgl. V. 7 f.). Von wem genau spricht das Ich hier jedoch? Mit dieser Frage ist der Rezipient – zumindest in der Lesart von J – vom Strophenbeginn an bis Vers 6 und schließlich noch einmal in Vers 11 konfrontiert. Zunächst entsteht der Eindruck, es gäbe einerseits einen Unbekannten, nämlich den, dessen lop vernegelt wirt (V. 1), und andererseits einen künde[gen] man (V. 2). Auf diesen man scheint es der Unbekannte abgesehen zu haben, denn er möchte ihn hinsichtlich seines Ansehens zu Fall bringen (vgl. V. 2 an den êren und V. 3 an sîner wirde). Bis einschließlich Vers 4 scheint diese Auslegung in sich stimmig zu sein, ab Vers 5 ergeben sich jedoch die ersten Verständnisschwierigkeiten: Wessen eit ist hier gemeint – der des Unbekannten oder der des umsichtigen Mannes? Da der Vers negativ konnotiert ist und der Unbekannte zuvor bereits als durchtrieben dargestellt wird, deutet es eher darauf hin, dass es der Unbekannte ungerne dolt (V. 5), wenn man ihm den Gehorsam verweigert und seinen eit zerbrechen wil (V. 5). Um was für einen eit es sich dabei überhaupt handelt, bleibt jedoch völlig unklar. Schönbach sieht Vers 5 vor dem Hinter-
682 Die Hufeisen werden mit Nägeln auf der Unterseite des Pferdehufs befestigt, wobei die Nagelspitzen, die auf der anderen Seite des Hufes herausragen, umgebogen und abgezwickt werden. 683 Vgl. dazu Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 54.
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grund der Lesart in C (als man die niete nieten sol, daz ez unsanfte dolt, ‚wenn man die breit geschlagenen Nägel vernieten soll, erduldet es [das Lob, Anm. d. Verf.] das nur mühevoll‘) und schreibt über Vers 5 in J, dass dieser „natürlich ganz töricht“684 sei. Zugleich versucht Schönbach jedoch dadurch einen Sinn herzustellen, indem er von einer Verschreibung des Verses in J ausgeht, wonach dieser eher sîne niet zerbrechen statt sînen eit zerbrechen heißen müsste.685 ob man sîne niete zerbrechen wil würde sich dann auf den klugen Mann beziehen und bedeuten, dass dieser es aufgrund der Schmerzen nur schwer erträgt, wenn man versucht, sein Ansehen von den Nägeln zu befreien. Auf inhaltlicher Ebene birgt dieser Eingriff in die Überlieferung von J durchaus einen gewissen Reiz, da sich speziell der Begriff niet problemlos in den Kontext einfügen, das spezifische Vokabular sogar noch erweitern würde. Prinzipiell erscheint eine Verschreibung, etwa hervorgerufen durch zu eng beschriebene Zeilen und einen Buchstabendreher (sîne niet > sîneneit), durchaus denkbar, allerdings bliebe dabei unklar, wieso die ursprüngliche (?) handschriftliche Lesart sîne niet und nicht, wie für den Akkusativ Plural zu erwarten wäre, sîne niet-e geheißen hätte? Bedeutet dies, dass die Flexionsendung des Akkusativ Plural bei niet irgendwann im Entstehungsprozess der Handschrift ausgefallen ist – aus welchen Gründen auch immer? Oder wurde in der bereits falsch verstandenen Lesart sînen eit (< sînen eite < sîne niete) das ursprünglich noch vorhandene ‑e (eite statt niete) getilgt, da man basierend auf dem Lexem eit nicht mehr von Akkusativ Plural, sondern Akkusativ Singular ausging? Ich vermag hier keine Entscheidung zu treffen. Auch in der weiter oben aufgeworfenen Frage nach der Bezugsperson, über die das Ich hier spricht, würde die konjizierte Lesart von Vers 5 (ob man sîne niete zerbrechen wil, daz er ungerne dolt.) nur auf den ersten Blick zur Klärung beitragen, denn genau genommen ist ja nicht das Ansehen des künde[gen] man[nes] (V. 2) vernagelt, sondern das des Unbekannten (vgl. V. 1). sîne niete müsste demnach eigentlich auf den Unbekannten bezogen werden. Da jedoch in den vorausgehenden drei Versen vom öffentlichen Niedergang des künde[gen] man[nes] (V. 2) die Rede ist, fällt es schwer zu glauben, dass in Vers 5 auf einmal wieder der Unbekannte aus Vers 1 im Zentrum stehen soll. Und auch mit Blick auf den weiteren Verlauf des Spruches bleibt die Bezugsperson unklar. Noch dazu wechselt in Vers 6 der Numerus, so dass nun nicht mehr nur von einer Person auszugehen ist, sondern von mehreren (vgl. V. 6 ir). Bei dieser Personengruppe handelt es sich nun um Menschen, die aufgrund des vermeintlichen Lobs des Sprechers (nämlich der swinden worte[n] [V. 10])
684 Ebd. 685 Vgl. ebd.
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in ihrem Ansehen (ihre tugent wird mit Nägeln beschlagen, vgl. V. 7 f.) zum Hinken gebracht wurden (vgl. V. 6).686 Und der Sprecher liefert im Anschluss an diese Schilderung auch eine Begründung für sein Handeln: waz man mit swinden worten dâ gebicket, sie sint an ganzer wirde unde an den êren gar verlamet (V. 10 f.). Das heißt, sobald man sie mit swinden worten etwas piesackt, kommt hinter angeblicher wirde und êre ihr wahres Gesicht zum Vorschein. Und um den Eindruck zu vermeiden, er würde vorschnell oder gar gehässig handeln, betont der Sprecher gegenüber dem Publikum zudem, dass er, selbst wenn er versuchen würde, ein anderes Urteil über die Beschuldigten zu fällen, dazu nicht im Stande wäre, da diese ihm gar keine andere Möglichkeit lassen, als derart negativ über sie zu sprechen (vgl. V. 9).687 Dementsprechend scharf ist der Schlussvers formuliert, der den Verkommenen ihren adäquaten Platz in der Gesellschaft zuweist, nämlich bei denjenigen, die sich habent an êren sus verschamet (V. 12). In der Rückschau auf den gesamten Spruch fällt gerade vor dem Hintergrund der ungeklärten Bezugsperson(en) auf, dass die Strophe inhaltlich in zwei Versblöcke unterteilt ist, deren Übergang – wohl eher ungewollt – etwas „holprig“ ausfällt. So sind die Verse 1 bis 5 und 6 bis 12 in sich mehr oder weniger kohärent, zusammengenommen laufen jedoch ein bzw. zwei „Fäden“ ins Leere,688 wodurch der Spruch zwar insgesamt nicht unverständlich wird, den Rezipienten m. E. jedoch dennoch mit ein paar Ungereimtheiten zurücklässt. Wirft man nun einen Blick auf die Überlieferung in C, so reicht im Grunde eine minimale Variante, um den Spruch einleuchtender erscheinen zu lassen. Der entscheidende Unterschied besteht in Vers 2 (und daran anschließend in Vers 4 und 5), wo es nämlich nicht der, sondern daz heißt, der Satz bezieht sich demnach nicht wie in J auf denjenigen, dessen Lob vernagelt wird, sondern auf das Lob selbst! Dies hat zur Folge, dass nicht mehr unweigerlich von zwei Personen, nämlich einem Unbekannten und dem umsichtigen Mann, ausgegangen werden muss, sondern vielmehr das Lob des künde[gen]
686 Vgl. zur Formulierung mê […] danne viere ebd. 687 Vgl. zur Formulierung ichne kann iu […] anders niht gesagen Gerdes: Beiträge, S. 154 und Anm. 4. 688 Ich denke dabei an die Frage nach der Rolle, die der Unbekannte gegenüber dem klugen Mann spielt. Wie weiter oben im Fließtext gezeigt, ist deren Verhältnis zueinander nicht völlig nachvollziehbar dargestellt. Darüber hinaus bleibt m. E. auch unklar, wen der Sprecher in Vers 6 genau meint? Bezieht er sich auf Personen wie den Unbekannten oder auf solche wie den klugen Mann? Oder ist das eher von sekundärer Bedeutung, da im Endeffekt ohnehin beide ihr Ansehen verlieren?
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man[nes] vernagelt wird. Indem die Folgen eines „vernagelten Lobs“ nun gerade an einem künde[gen] Mann veranschaulicht werden, erhält die Warnung vor der Vernachlässigung des eigenen öffentlichen Ansehens zusätzliche Dramatik, denn es bedeutet, dass selbst Umsichtigkeit und Klugheit nicht automatisch vor einem solchen Schicksal bewahren. Übrigens fällt zudem auf, dass die Chronologie des Niedergangs (genauer: des Sturzes) in C logischer angeordnet ist: Zunächst beginnt das Lob zu hinken und erst dann kommt es ins Stolpern (in J ist es umgekehrt). Auf die deutliche Varianz des fünften Verses im Vergleich zur Lesart in J wurde bereits weiter oben eingegangen. Des Weiteren ist auf Vers 6 hinzuweisen, in dem speziell die Verwendung des Verbs verderben statt (er-)hinken auffällt. Dadurch wird der Rückbezug auf die Bildsprache der Verse 3 und 4 weniger deutlich hergestellt, als dies in der Lesart von J der Fall ist. Zuletzt noch Vers 10: In ihm ist statt von den swinden worten von den argen sprüchen die Rede. Anton E. Schönbach vermengt in gewohnt „souveräner“ Manier die beiden Lesarten zu swinden sprüchen und schreibt angesichts der Doppeldeutigkeit seiner Version: Beschwörungsformeln (unzählige nagelsegen in den Roßarzneibüchern) für das lahmende Pferd und Sprüche der fahrenden Sänger, die das kranke Lob der Herren gesund machen sollen.689
Speziell im vorliegenden Kontext haben die Sprüche jedoch die genau umgekehrte Wirkung: Sie machen das Lob nicht gesund, sondern sie sorgen überhaupt erst dafür, dass das vermeintlich gesunde Lob krank wird. Und wieso Schönbach es grundsätzlich für nötig hält, in die Lesart von C einzugreifen, erschließt sich mir nicht. Denn auch bei den argen sprüchen kann wohl von einer Doppeldeutigkeit, wie Schönbach sie annimmt, ausgegangen werden. Eine Erklärung für die Konjektur bleibt er, wie nicht selten, schuldig.
689 Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 55.
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Ton IV, Korpus in J
Metrik A7ma A7ma A8kb A7mc 5 2A 7 m c A8kb A 4 2m d A6ke A 7 2m d 10 A 6 k e A 7 2m f A 7 2m f
lîhtẹ wirdẹ dar nach ein vállen, des ér sich níemer me st erhólt.
der stárken nágele sínt geslágen hin dúrch die túgent undẹ ánderthàlp verzwíckèt. ez íst ouch war, ichne kán iu, wéiz got, ánders níht geságen: wirdẹ, undẹ prutz, úmbe die ándern, díe sich hábent an eren sús verschámet!
Literatur Gerdes: Beiträge, S. 23 und Anm. 7, 24 Anm. 2, 60 und Anm. 6, 98 Anm. 3, 147 Anm. 3, 154 und Anm. 4, 157 f., 176 und Anm. 4, 178 Anm. 3, 179 und Anm. 7, 181 und Anm. 6 • Kemetmüller, S. 37, 217 • HMS 4, S. 521 f., 523 • Lamey, S. 31 • Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 53–55 • Vetter, S. 248.
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Ton IV, Korpus in J
59. Eẏn dínc wonet genvgen lıvten bẏ. Daz nícht an eren vrvmt. (J56) Eẏn dínc wonet genvgen / lıvten bẏ. Daz nícht an eren / vrvmt. Vnde dar tzvͦ an ſelícheít. / Vıl ſelten wol bekvmt. Ez blıbet gar / vıl vnderwegen daz an vns armen / wırret. (Man gıcht der eẏne ſẏ getruwe vnde habe der vuͦ ge nícht) 5 Man gıcht der ander habe / an ſvnden vnde an ſcanden phlıcht. / Der drítte eẏn weẏních wol getzo/gen. Dıe drẏ ſínt gar vuͦ r ẏrret. / Man gıcht der vıerde ſẏ eín degen. // des lıbes. (?) vnde eẏn arger tzage / des guͦ tes Man gıcht der vıvnfte / kvme ſẏnes lıbes ſchone phlege̅ / 10 Vnde ſẏ da bẏ vıl gar vuͦ r ſcampt / des mvͦtes Man gıcht der ſexſte / mẏnne got dıe wıle ıſt gar vuͦ r/lorn. Get ez von hertzen nícht / vnde an der tugende hat vuͦ r korn /
2 Vnde evtl. nur mit Minuskel statt Majuskel 4 Der gesamte Vers ist unterhalb des Schriftblocks (linke Spalte) nachgetragen, wobei ein Verweiszeichen, das sich sowohl bei dem Nachtrag als auch im Fließtext befindet, die Stelle anzeigt, an der der Nachtrag eingefügt gehört. 8 Punkt nach lıbes nur schwach erkennbar
59. Ey˙n dínc wonet genvgen lıvten by˙. Daz nícht an eren vrvmt. (J56)
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Ein dinc wonet genuogen liuten bî, daz niht an êren vrumt unde dar zuo an sælecheit vil selten wol bekumt. ez blîbet gar vil under wegen, daz an uns armen wirret: man giht, der eine sî getriuwe unde habe der vuoge niht; 5 man giht, der ander habe an sünden unde an schanden phliht; der dritte ein wênec wol gezogen; die drî sint gar verirret. man giht, der vierde sî ein degen des lîbes unde ein arger zage des guotes; man giht, der vünfte kunne sînes lîbes schône phlegen 10 unde sî dâ bî vil gar verschamt des muotes; man giht, der sehste minne got – diu wîle ist gar verlorn, gêt ez von herzen niht unde ander tugende hât verkorn.
56 J, 29 [28] C 1 Ein dinc wonet genuogen] Eın lob ıſt maníge̅. 2 vn̅ oͮch zekrank wırde dort an ſelekeıte kvmt. 3 da níht belıbet vnderwege̅ ſwas an vns alle̅ wırret. 4 wa̅ ſeıt vo̅ eıme er ſı getruͥwe·vn̅ anderre vuͦge nıht. 5 d and hat mıt kv̍ndekeıt gege̅ valſcher fuͦge pflıht. 6 drî fehlt. gar] da mıtẹ. 7 giht] ſeıte. 9 giht] ſeıt. (kunne) wol. sînes lîbes] ſın ſelbes. 10 verschamt des] vſcha̅tes. 11 giht] ſeıt. gar] oͮ ch. 8 vn̅.
10 vn̅. 12 vn̅.
2 vil selten: Litotes bekomen: Evtl. aufgrund des Reimzwangs (vrumt : bekumt) endet die 3. Sg. Ind. Präs. des stV. bekomen hsl. auf ‑t statt ‑et. 3 under wegen blîben: ‚unterlassen werden, unterbleiben‘; wie V. 4–12 zeigt, sind hiermit Handlungen und Eigenschaften gemeint, die dem Menschen abgehen. Und dadurch schadet (wirret) er sich. werren: hier intr. mit Dat., unpersönl. Subj. und Präp. an ‚Verdruss/Schaden/Not bereiten‘ (vgl. BMZ werren, II. 1. b)) 4 unde: Ist hier – wie in V. 8 – adversativ zu verstehen (‚und doch, indessen, gleichwohl, aber‘). 5 phliht hân: hier wohl ‚sich verpflichten, sich beteiligen, betreiben‘ 6 ein wênec wol gezogen: Während ich diese Textstelle (speziell ein wênec) als Litotes auffassen würde, übersetzt Schönbach: „ein dritter allerdings höfisch erzogen, allein gar zu wenig“ (Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 52). 8 unde: vgl. V. 4 ein arger zage des guotes: Sowohl das HWB als auch das BMZ führen diese Belegstelle an und übersetzen zage in diesem Kontext mit ‚Knicker‘ (vgl. HWB und BMZ zage), also ‚Geizhals‘. 9 vünf: die hsl. Form vıunf(te) ist Nbf. zu vünf kunnen: Da hsl. kume das finite Verb ist, die Verben kûmen (‚trauern, wehklagen‘) und kumen/komen kontextuell jedoch auszuschließen sind, gehe ich hier von einer Verschreibung von kunnen (3. Sg. Konj. Präs.) aus. sînes lîbes: Objektsgen. zu phlegen 10 des muotes: adv. Gen., semantisch Gen. der Relation (vgl. Mhd. Gram., § S 75), wörtlich ‚schamlos in Bezug auf die Gesinnung‘ 12 ander: hier im Akk. Pl. Fem. endungslos (vgl. Mhd. Gram., § M 53) Subj. er (= der Sechste) ausgespart verkiesen: ‚nicht beachten, verschmähen‘
HMS 2: III,2 Sch 20
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Ton IV, Korpus in J
Übersetzung Eine Sache ist vielen Menschen eigen, die dem Ansehen nicht nützt und darüber hinaus der Glückseligkeit nie gut tut. Es wird ganz und gar viel unterlassen, das uns Erbarmenswerten Schaden [bereitet: Man sagt, der eine sei loyal und besitze doch keinen Anstand; 5 man sagt, der zweite habe Anteil an Sünde und Schande, der dritte (sei) überhaupt nicht gut erzogen; die drei sind völlig in die Irre [geführt. Man sagt, der vierte sei ein Held im Einsatz seines Lebens, hinsichtlich seines Besitzes hingegen ein schlimmer [Geizhals; man sagt, der fünfte verstünde es, (auf) (sein Äußeres) auf geziemende Weise [achtzugeben, 10 sei dabei (aber) ganz und gar schamlos gesinnt; man sagt, der sechste liebe Gott – diese Zeit ist ganz und gar vertan, wenn es nicht von Herzen kommt und (er) andere Tugenden verschmäht [hat.
Inhalt In IV,59 holt Bruder Wernher zu einem „moralischen Rundumschlag“ aus, indem er die unterschiedlichsten Verfehlungen hinsichtlich Einstellung und Benehmen aufzählt und aburteilt. Ausgangspunkt ist [e]in dinc (V. 1), daz niht an êren vrumt (V. 1) und an sælecheit vil selten wol bekumt (V. 2). Das dinc ist demnach negativ konnotiert, da es sowohl dem Ansehen als auch dem persönlichen Glück abträglich ist, und es macht zudem vor genuogen liuten (V. 1) nicht halt. Dabei kann es die unterschiedlichsten Formen annehmen, wie der Spruch ab Vers 4 veranschaulicht: mangelnder Anstand (vgl. V. 4), Verkommenheit und Sittenverfall (vgl. V. 5), fehlende Erziehung (vgl. V. 6), Geiz (vgl. V. 7 f.), Eitelkeit bzw. eine Diskrepanz zwischen Innerem und Äußerem (vgl. V. 9 f.) sowie heuchlerische Gottesliebe und fehlende Tugenden (vgl. V. 11 f.). Indem Bruder Wernher den unspezifischen Begriff dinc wählt, ermöglicht er es, diesen auf jede erdenkliche moralische Verfehlung zu beziehen, und macht durch das Anführen einer Vielzahl von Beispielen deutlich, dass sich letztlich niemand von dieser Anklage völlig ausnehmen kann. Dies schließt auch den Sprecher mit ein (vgl. V. 3 uns armen), denn auch er zählt sich zu denjenigen, denen das Unterbleiben bestimmter Verhaltensweise und
59. Ey˙n dínc wonet genvgen lıvten by˙. Daz nícht an eren vrvmt. (J56)
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Eigenschaften (veranschaulicht in Vers 4 bis 12) schadet (vgl. V. 3). Interessant an den Beispielen, die in Vers 4 bis 12 aufgezählt werden, ist, dass sie z. T. ein differenziertes Bild des Menschen wiedergeben:690 So ist der eine (V. 4), dem es an vuoge (V. 4) mangelt, nicht nur schlecht, denn er besitzt durchaus Loyalität (vgl. V. 3 sî getriuwe). [D]er vierde (V. 7) andererseits ist zwar mit Blick auf sein Eigentum ein Geizhals (vgl. V. 8), ansonsten jedoch heldenhaft (vgl. V. 7 f.) – was er an Wagemut zu viel gibt, gibt er an Vermögen gewissermaßen zu wenig. Oder der vünfte, der hinsichtlich der Pflege seines Äußeren (vgl. V. 9) durchaus Vorbildfunktion haben könnte, würde er nur genauso viel Sorgfalt darauf verwenden, auch sein Inneres rein zu halten (vgl. V. 10). Und dass sich der sehste (V. 11) mit seiner Gottesliebe auf dem richtigen Weg befindet, dürfte klar sein – nur müsste es ihm noch gelingen, es mit dieser auch wirklich ehrlich zu meinen. Der Mensch wird hier, obgleich es in dem Spruch ja um die Anklage von moralischem Verfall geht, also nicht als durch und durch schlecht oder unverbesserlich dargestellt. In der Parallelüberlieferung von IV,59 ist ein Unterschied in Vers 1 von zentraler Bedeutung: Statt dinc heißt es in C lop, wodurch der Spruch eine völlig andere Ausgangslage erhält. Es geht nun nicht darum, auf moralische Verfehlungen des Menschen hinzuweisen und diese durch Beispiele zu konkretisieren, sondern in C wird das Lob kritisiert, das ungerechtfertigt ist und voreilig ausgesprochen wird. Vor diesem Hintergrund erhält auch das zwiespältige Bild, das vom Menschen gezeichnet wird, eine andere Bedeutung: Während sich in J der Fokus des Spruches verstärkt auf die negativen Eigenschaften richtet und die positiven eher nur ein willkommener Nebeneffekt sind, ist es in C eher umgekehrt: Hier wird kritisiert, dass sich das Lob undifferenziert allein auf die positiven Seiten des Menschen konzentriert, ohne die negativen zu berücksichtigen.
Metrik A7ma 7ma A8kb A7mc 5 A7mc A8kb A 4 2m d A6ke
Ein dínc wonẹt genúogen líuten b, daz níht an eren vrúmt únde dar zúo an sǽlechèit vil sélten wól bekúmt. ez blbet gár vil únderwègen, daz án uns ármen wírrèt: man gíht, der éine s getríuwẹ unde hábe der vúoge níht; habẹ, undẹ der dríttẹ ein wenec wól gezógen, die dr sint gár verírrèt; des lbes úndẹ ein árger záge des gúotès;
690 Schönbach schreibt dazu: „Der Spruch zeugt von beachtenswerter Klugheit, er handelt über gemischte Charaktere.“ (Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 53)
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10
A 7 2m d 2A 6 k e A7mf A7mf
Ton IV, Korpus in J
unde s dâ b vil gár verschámt des múotès; wîlẹ gêt éz von hérzen níht undẹ ánder túgende hat verkórn.
Literatur Gerdes: Beiträge, S. 24 Anm. 2, 89, 91 Anm. 5, 92, 149 Anm. 1, 151 Anm. 1, 174 und Anm. 4, 177 und Anm. 1, 179 und Anm. 4, 182 und Anm. 3, 185 • Kemetmüller, S. 37, 64, 216 f. • Leitzmann, S. 162 • Nolte/Schupp, S. 204 f., 427 • Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 52 f. • Vetter, S. 248 • Yao, S. 153.
Ton V Unter Ton V überliefert J sechs Strophen (V,60–V,65) und C eine unikale (V,66). Auch hier folgt das Reimschema im Aufgesang dem Muster des verschränkten Reims abc abc. Metrische Formel:691 Aufgesang: 6ma 8kb 7mc / 6ma 8kb 7mc // Abgesang: 4md 4ke 6md 6ke 7mf 9mf
691 Vgl. andererseits RSM 2,1, S. 303 (hier ebenfalls Ton V). Das RSM weist für Vers 11 statt meiner sieben Hebungen bzw. Takte acht auf. Es ist zwar richtig, dass für Vers 10 speziell in V,66 ein dreisilbiger Auftakt erforderlich ist, um tatsächlich nur sieben, keine acht Hebungen bzw. Takte zu erhalten, andererseits liegen in den übrigen sechs Sprüchen dieses Tons definitiv nur sieben, statt acht Hebungen bzw. Takte vor (zumindest nach handschriftlicher Lesart). Ein ähnliches Bild ergibt sich auch nach Schönbachs Lesart; einzige Ausnahme bildet hier jedoch Vers 10 in V,62 (vgl. Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 71 f.), der aufgrund von Schönbachs Eingriff in die handschriftliche Lesart eine zusätzliche Hebung bzw. Takt erhält. Zur Melodie vgl. Brunner: Spruchsang, S. 431, 486 f.; Brunner: Töne, S. 55; Taylor, S. 104 f.; Spechtler: Bruder Wernher, Bd. II, S. 32; Holz/Saran/Bernoulli, Bd. I, S. 27 f. und Bd. II, S. 6 f.; Rettelbach, S. 87.
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Ton V, Korpus in J
Korpus in J 60. Ich buwe eẏn hus dar ẏnne wıl geſẏnde weſen. (J57, U) Ich buwe eẏn hus dar ẏnne wıl ge/ſẏnde weſen. Der tzadel vnd der / tzwíbel ſínt mít here da vuͦ r ge/ſezzen. Der mangel vnde werfet / ſo gewaltıchlıchen da ẏn. Nu ratent / lıebe vrıvnt wıe ıch mvͦge geneſen. / 5 Vntugent vnde der herren erge / dıe habent ſıch vuͦ r mezzen. Daz // ſıe mír tzvͦ eẏner ſẏten wenden ſpıſe / vnde ouch den wẏn. So blet / tzvͦ der drítten ſıten dar. Vntruwe / vnde ır geſẏnde. Dar tzvͦ bẏn ıch / ín der vuͦ r ſcanden echte gar. 10 Dıe reche / ſínt tzvͦ der vıerden ſıten ſwẏnde. / Sıt mıch vntugende mít ẏr her / alſo beſezzen hat. Vnde mıch vuͦ r/terben wıl daz wende der herren tugent den ız leſterlıchen ſtat. /
60. Ich buwe ey˙n hus dar y˙nne wıl geſy˙nde weſen.
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Ich bûwe ein hûs, dar inne wil gesinde wesen. HMS 3: V,1 Sch 73 der Zadel unt der Zwîvel sint mit here dâ vür gesezzen unde der Mangel wirfet sô gewalteclîchen dâ în. nû râtet, liebe vriunt, wie ich müge genesen. 5 Untugent unde der hêrren Erge, die habent sich vermezzen, daz sie mir ze einer sîten wenden spîse unde ouch den wîn. sô blæt ze der dritten sîten dar Untriuwe unde ir gesinde, dar zuo bin ich in der verschanden æchte gar: 10 die recken sint ze der vierden sîten swinde. sît mich Untugende mit ir her alsô besezzen hât unde mich verderben wil, daz wende der hêrren tugent, den ez lasterlîchen stât!
57 J 1 bûwen: hier ‚bewohnen‘ hûs: Schönbach spricht sich dafür aus, dass hier weniger von einem Haus als vielmehr von einer Burg die Rede ist (vgl. Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 95). Diese Überlegung ist aufgrund des Belagerungszustands, der geschildert wird, durchaus logisch, allerdings tendiere ich aufgrund der auch an anderer Stelle verwendeten Hausmetapher (vgl. I,15; II,37 und II,42), v. a. jedoch aufgrund des Verbs bûwen (V. 1) dazu, hûs auch hier mit ‚Haus‘ zu übersetzen. gesinde: Angesichts des feindlichen Auftretens des gesindes gegenüber dem Ich ist unklar, warum hier keine andere Umschreibung (z. B. neutraler liute) für die Gruppe der Belagerer gewählt wurde. Immerhin verhält diese sich nicht wie von Gefolgsleuten oder Dienerschaft zu erwarten wäre. 2 zadel: ‚Gebrechen, Entbehrung, Mangel bes. an Lebensmitteln‘ hier als Personifikation verwendet sint gesezzen: Da im Mhd. die „Differenzierung des passivischen Geschehens als Vorgang und als Zustand nicht konsequent durchgeführt [ist]“ (Mhd. Gram., § S 24), kann hier nicht eindeutig gesagt werden, ob die Einrichtung des Belagerungszustands durch Zadel und Zwîvel bereits abgeschlossen oder noch im Gange ist. 3 unde (wirfet): Fungiert hsl. entweder als nebenordnende Konjunktion und ist insofern versehentlich nicht an den Versanfang gesetzt worden (hsl. werfet wäre dann 3. Sg. Ind. Präs. mit md. Senkung /i/ > /e/) oder aber unde sollte ursprünglich, analog zu der Zadel unt der Zwîvel, zwei Aufzählungsglieder verbinden, wobei jedoch das zweite fehlt. Dies würde allerdings bedeuten, dass hsl. werfet auf ‑ent oder zumindest mit md. Form auf ‑en enden müsste. Von der Hagen bringt eine dritte Möglichkeit ins Spiel, indem er mangel nicht als Subst., sondern als Verb versteht und für V. 3 schreibt: der mangel(t) unde wirfet so gewalteklich[en] da(r)in (HMS 3, S. 19). Es wird aber nicht ganz klar, wer mit der gemeint ist, auf wen sich also von der Hagens zwei Verben mangeln und werfen beziehen. Schönbach geht in eine ähnliche Richtung wie von der Hagen: Er versteht V. 3 auf Zadel und Zwîvel
520
Ton V, Korpus in J
bezogen und ändert ihn dementspr. ab zu die mangent unde werfent sô gewalteclîchen drîn (Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 95). Als problematisch erscheint mir hierbei nicht nur der schwerwiegende Eingriff in die hsl. Lesart, sondern auch der Umstand, dass das Verb mangen, wie Schönbach selbst festhält, „bisher unbelegt“ (ebd., S. 96) ist. Das HWB vermerkt zu dem Lemma mangen ‚auf der mangen pressen, glätten‘ und in den Nachträgen zum HWB wird als einzige Belegstelle der manget und wirfet angeführt (was an von der Hagen erinnert, genau genommen aber nicht seiner Version entspricht) und mangen als ‚schleudern‘ verstanden. Dadurch bleibt zum einen nach wie vor offen, was das Bezugswort von der ist, und zum anderen bezieht sich das HWB hier nicht auf eine hsl. Lesart. 4 râten: Die hsl. Form ratent entspricht regulär der 3. Pl. Ind. Präs., allerdings erscheint dieses Flexiv im Wmd. auch für die 2. Pl. Ind. Präs. (vgl. Mhd. Gram., § M 70 Anm. 8). Aufgrund des apostrophierenden, appellierenden Charakters gehe ich von 2. Pl. Ind. Präs. aus und ändere hsl. ratent zu râtet. 5 vermezzen: refl. ‚sich etwas bestimmt vornehmen, fest zu etwas entschlossen sein‘ 6 wenden: hier mit Dat. d. P. (mir) ‚wegnehmen, ‑schaffen‘; Schönbach übersetzt „abwendig machen, die Zufuhr abschneiden“ (ebd.), was ebenfalls denkbar ist. 7 blæjen: intr. ‚blasen‘; Schönbach geht davon aus, dass „auch hier eine besondere Tätigkeit der belagernden Feinde bezeichnet“ (ebd., vgl. auch S. 95) wird, kann aber nicht genau sagen, worum es sich dabei handeln könnte. 9 verschant: adj. Part. zu verschenden, ‚entehrt, mit Schande befleckt‘ æhte: hier ‚feindliche Verfolgung, Strafe‘ 10 recke: Hsl. steht der Nom. Pl. des sw. Mask. ohne ‑n (vgl. II,26,1). Wurde der Nasalstrich über dem 〈e〉 vergessen? Hsl. 〈ch〉 für /kk/ deutet auf mnd. Einfluss hin (vgl. Mnd. Gram., § 336). swinde: ‚gewaltig, heftig, behände, ungestüm‘ 11 her: Das Flexiv ‑e des Dat. Sg. Neutr. fehlt hsl. evtl. aufgrund des Hiats (herẹ alsô). besitzen: ‚umstellen, belagern‘
60. Ich buwe ey˙n hus dar y˙nne wıl geſy˙nde weſen.
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Übersetzung Ich lebe in einem Haus, in das Gefolgsleute hineinwollen. Die Entbehrung und der Zweifel haben sich davor mit einem Heer [niedergelassen und der Mangel schleudert dort (Geschosse) mit solcher Gewalt hinein. Jetzt beratet (mich), werte Freunde, wie ich mit dem Leben davonzukommen [vermag. 5 Das Laster und der Geiz der Herren sind fest dazu entschlossen, mir auf einer Seite Nahrung und auch Wein wegzunehmen. Währenddessen bläst dort auf der dritten Seite die Treulosigkeit und ihr Gefolge. Darüber hinaus werde ich völlig entehrend verfolgt: 10 Die Kämpfer sind auf der vierten Seite ungestüm. Da mich das Laster mit seinem Heer derart belagert hat und mich zugrunde richten möchte, möge das die Vortrefflichkeit der Herren, um [die es schändlich steht, verhindern!
Inhalt Im vorliegenden Spruch zeigt Bruder Wernher einmal mehr seine Fähigkeit, einen abstrakten Sachverhalt durch eine anschauliche Bildsprache zu verdeutlichen. Im Zentrum steht dabei die Klage des Sprechers über den Sittenverfall, der sich auf unterschiedlichste Art und Weise im Verhalten ihm gegenüber äußert. Die einzelnen Laster und Entgleisungen werden dabei als Personen inszeniert, die das hûs (V. 1) des Sprechers belagern und angreifen. Neben dem Bild des Hauses, das auch an anderer Stelle bei Bruder Wernher begegnet,692 ist der Spruch geprägt von Kriegsmetaphorik. So haben sich der Zadel unt der Zwîvel (V. 2) vor dem Haus mit here (V. 2) niedergelassen (vgl. V. 2), während es gleichzeitig vom Mangel[e] (V. 3) unter heftigem Beschuss steht (vgl. V. 3). Untugent und der hêrren Erge stehlen unterdessen ze einer sîten (V. 6) Nahrung und Wein des Sprechers (vgl. V. 5 f.),693 während die Untriuwe (V. 8) samt 692 Vgl. I,15; II,37 und II,42. 693 Interessant an den Versen 2 bis 6 ist die Chronologie der genannten Laster: Zunächst werden unterschiedliche Formen bzw. Bezeichnungen für Mangelerscheinungen genannt (vgl. V. 2 Zadel, Zwîvel und V. 3 Mangel) und im Anschluss daran folgen untugent und erge, durch die einerseits der Mangel überhaupt erst in die Welt kommt und die andererseits auch noch dasjenige gierig an sich ziehen, das Linderung verschaffen könnte – nämlich spîse unde ouch den wîn (V. 6).
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Ton V, Korpus in J
ihrem Gefolge ze der dritten sîten (V. 7) gegen das Haus des Sprechers „anbläst“ (vgl. V. 7 f.). [Z]e der vierden sîten (V. 10) bedrängen den Sprecher zu guter Letzt die recken (V. 10) auf stürmische Art und Weise (vgl. V. 9 f.). Der Sprecher befindet sich also in einem nahezu ausweglosen Belagerungszustand durch die Untugende mit ir her (V. 11). Seine einzige Hoffnung besteht darin, dass diejenigen Herren, den ez lasterlîchen stât (V. 12), sich auf ihre tugent besinnen und die untugende (V. 11) davon abhalten, den Sprecher zu verderben (V. 12). Obgleich die Anklage als Individualfall dargestellt wird, indem sich explizit der Sprecher als Betroffener inszeniert (vgl. ich [V. 1, 4 und 9], mir [V. 6], mich [V. 11 und 12]), ist dies wohl weniger ein Zeichen dafür, dass der Sprecher (oder Dichter) sämtliche der geschilderten Anfeindungen persönlich erfahren hat. Es geht vielmehr darum, die moralische Fehlentwicklung insgesamt an einer „konkreten“ Person zu veranschaulichen. Dass dabei auch Untugenden kritisiert werden, durch die auch der Sprecher (oder Dichter) einen Nachteil erfahren haben mag (wie v. a. durch der hêrren erge [V. 5]), steht dabei nicht im Widerspruch zu einer an die Gesellschaft als solche gerichteten Anklage von Sitten- und Moralverfall. Dank des Kriegsvokabulars und der Personifizierungen erhält das Ganze zudem zusätzliche Dramatik, denn es wirkt nicht nur plastischer, sondern der Vormarsch des Lasters erscheint dadurch umso bedrohlicher.
Historischer Hintergrund Lamey stellt die Überlegung an, dass die Formulierung [i]ch bûwe ein hûs (V. 1) „vielleicht auf die Gründung eines Hausstandes bezogen werden darf“694, was jedoch eher abwegig ist, da es sich hier wohl um eine metaphorisch, nich biografisch zu verstehende Aussage handelt. Darüber hinaus datiert Lamey ausgehend von seiner These, dass Bruder Wernher „nie in 2 verschiedenen Tönen zu gleicher Zeit gedichtet [hat]“695, V,60 in die Zeit „zwischen 1230– 35“696, obwohl der Spruch „keinen historischen Anhalt“697 liefert. Ich stimme
694 695 696 697
Lamey, S. 11, vgl. auch S. 27. Ebd., S. 22. Vgl. auch den Exkurs dazu im Kapitel ,Töne‘ dieser Arbeit. Ebd. Ebd.
60. Ich buwe ey˙n hus dar y˙nne wıl geſy˙nde weſen.
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mit Schönbach darin überein, dass eine zeitliche Einordnung des Spruches unmöglich ist, da keinerlei zeitgeschichtliche Anspielungen vorliegen.698 Abschließend sei noch der Vollständigkeit halber auf die Deutung Cyril Edwards hingewiesen, der aus unerfindlichen Gründen in dem Spruch eine Klage auf den Tod Ludwigs I. von Bayern sieht.699 Eine Begründung für diese These bleibt er schuldig.
Inhaltliche Ähnlichkeit mit anderen Texten vgl. zu Vers 1 f. Tannhäuser XII,3 (hier v. a. V. 21 und 25): Ich denke, erbûwe ich mir ein hûs · nâch tumber liute râte · […] der Zadel und er Zwîvel sint mîn stætes ingesinde · […] (Cammarota, S. 132)700
Metrik A 6 2m a A8kb 7mc A 6 2m a 5 A8kb A7mc A4md A4ke A6md 10 A 6 k e A7mf 3A (?) 9 m f
bûwẹ der Zádel únt der Zwvel sínt mit hére dâ vr gesézzèn únde der Mángel wírfet so gewálteclchen dâ n, nû ratet, líebe vríunt, wíe ich mge genésen. Untúgent únde der herren Érge, die hábent sích vermézzèn, zẹ, spîsẹ, undẹ sô blǽ t ze der drítten sten dár untriuwẹ, undẹ die récken sínt ze der víerden sten swíndè. sît mích Untúgende mít ir hér also besézzen hat undẹ mich verdérben wíl, daz wénde der herren túgent, dén ez lásterlchen stat!
698 Vgl. Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 95. An dieser Stelle spricht auch er sich übrigens gegen Lameys Vermutung aus, Bruder Wernher könnte einen eigenen Hausstand gegründet haben. Auch Yao bezweifelt die Möglichkeit einer historischen Einordnung von V,60 (vgl. Yao, S. 154). 699 Vgl. Edwards, S. 307. 700 Im Kommentar der Tannhäuser-Edition heißt es zu XII,3: „Im übrigen sollte noch vermerkt werden, daß diese Verse mit der Einleitung eines Spruchs von Bruder Wernher verknüpft werden können“ (Cammarota, S. 194).
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Ton V, Korpus in J
Literatur Edwards, S. 307 • Gerdes: Beiträge, S. 179 und Anm. 4, 181 und Anm. 3, 202 • HMS 4, S. 522 • Kemetmüller, S. 13, 81, 236 • Lamey, S. 6, 8, 11, 22, 26, 27 • Leitzmann, S. 164 • Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 95 f. • Strasser, S. 241 • Vetter, S. 263 • Yao, S. 154.
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Ton V, Korpus in J
61. Ich bín des graben kvmfte vro von oſterberc. (J58, U) Ich bín des graben kvmfte vro von / oſterberc. So vro daz mír ſorge / von den vreuden ſínt vuͦ r ſwnden. // gar ſıt ıch (den) tugende̅rıchen wol geſvn/den han geſen Her werket wol / mít tzuchten werdıchlıche werc. / 5 Er ıſt an tugenden vnde an rechter / mílte vunden. Des hore ıch ẏm dıe / wıſen vnde dar tzvͦ dıe beſten ıen. / Ir ſtıget of an werdıcheít. So ſıcht / man manígen ſígen Ich bín gewe/ſen da man der herren ſtrıte ſtreít. / 10 Da horte ıch ſín tzvͦ guͦ te ſelten ſwí/gen Sie íent er ſı ſvnder meíl vuͦ r / allen valſche vrẏ. Vnde ín dem mvn/de nícht wen eẏner tzvngen phle/gen ſo hat vıl maníger drẏ. /
3 den interlinear nachgetragen
61. Ich bín des graben kvmfte vro von oſterberc.
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HMS 3: V,2 Ich bin des grâven künfte vrô von Ôsterberc, Sch 74 sô vrô, daz mir sorge von den vreuden sint verswunden gar, sît ich den tugenden rîchen wol gesunden hân gesên. er wirket wol mit zühten werdeclîchiu werc, 5 er ist an tugenden unde an rehter milte vunden; des hœre ich im die wîsen unde dar zuo die besten jên. er stîget ûf an werdecheit, sô siht man manegen sîgen. ich bin gewesen, dâ man der hêrren strîte streit, 10 dâ hôrte ich sîn ze guote selten swîgen. sie jênt, er sî sunder meil, vür allem valsche vrî unde in dem munde niht wan einer zungen phlegen, sô hât vil maneger drî.
58 J 1 künfte: Gen. zu vrô (bei dem wiederum das Gen.attr. des grâven steht), wörtlich ‚der Ankunft (des Grafen) froh‘ (vgl. zum Gen. bei Adj. Mhd. Gram., § S 84) 2 sorge: stsw. Fem. flektiert hier st. von: hier kausal ‚durch, wegen‘ 3 sît: Da sowohl die temporale als auch die kausale Auslegung Sinn ergibt, übersetze ich mit ‚nachdem‘, das nhd. z. T. auch noch kausal verwendet wird, um die im Mhd. changierende Bedeutung beizubehalten. gesunt: bezogen auf den tugenden rîchen (Akk. Sg. Mask.) mit entspr. Akk.endg. (vgl. Mhd. Gram., § S 104 [hier zum Objektsakk., S. 359]) 6 des: Objektsgen. zu jên (Kontr. zu jehen) 7 ûf stîgen: eigentlich ‚aufsteigen, sich erheben‘, ich übersetze freier ‚zunehmen‘ 8 sîgen: eigentlich ‚sich senken, niederfallen, sinken‘, ich übersetze freier ‚abnehmen‘ 10 selten: Litotes swîgen: mit Gen. (sîn) ‚von etwas, zu etwas schweigen‘ 11 meil: ‚sittliche Befleckung, Sünde, Schande‘ 12 phlegen: mit Gen. (einer zungen), eigentlich ‚betreiben, üben, tun‘, ich übersetze freier ‚(mit einer Zunge) sprechen‘
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Übersetzung Ich bin froh über die Ankunft des Grafen von Osterberg, so froh, dass mir die Sorgen durch die Freuden ganz und gar vergangen sind, nachdem ich den an Tugenden Reichen wohlauf gesehen habe. Er vollbringt gut mit Anstand ehrenvolle Taten, 5 er ist bekannt für herausragende Qualitäten und wahre Freigebigkeit; das höre ich die Klugen und außerdem die Vornehmsten über ihn sagen. Sein Ansehen nimmt zu, (das Ansehen von) manch (anderem) sieht man hingegen abnehmen. Ich war (dort), wo man den Disput der Herren ausfocht, 10 dort hörte ich ihn nie zu guten (Dingen) schweigen. Sie sagen, er sei ohne Sünde, frei von jedem Falsch und spreche nur mit einer Zunge, während manch einer mit dreien spricht.
Inhalt Bei V,61 handelt es sich um ein klassisches Herrscher- bzw. Herrenlob. Im Zentrum steht dabei der Graf von Ôsterberc (V. 1), auf den weiter unten im Rahmen der historischen Einordnung des Spruches näher eingegangenen werden wird. Im ersten Stollen erfolgt zunächst die Nennung des anschließend zu lobenden Herrn sowie das demonstrative In-Erscheinung-Treten des Sprechers, indem dieser den persönlichen Zugewinn an Freude und Sorglosigkeit (vgl. V. 2) ausdrücklich mit dem Gelobten in Verbindung bringt (vgl. V. 3). Damit soll sichergestellt werden, dass der Gelobte auch weiß, an wen er gegebenenfalls seinen Dank (sprich: Lohn) zu richten hat. Im Anschluss daran folgt in den Versen 4 bis 8 eine genauere Beschreibung des tugenden rîchen (V. 3), in der zentrale Herrschertugenden und ‑qualitäten nicht fehlen dürfen: So vollbringt er mit zühten werdeclîchiu werc (V. 4), befindet sich an tugenden unde an rehter milte (V. 5) und nimmt ganz grundsätzlich an werdecheit (V. 7) zu. Die inhaltliche Zusammengehörigkeit dieser Verse wird durch die z. T. anaphorischen Verse (er + finites Verb, vgl. V. 4, 5 und 7) unterstrichen. Eine besondere Rolle spielt Vers 6: Die Glaubwürdigkeit und der Wahrheitsgehalt des Gesagten soll durch den Verweis auf allgemein anerkannte Autoritäten, nämlich die wîsen unde dar zuo die besten (V. 6), zusätzlich gestützt werden.701 Die Verse 9 und 10 sind schließlich als eine Art konkretes Einzelbeispiel für die 701 Vgl. dazu Anm. 235 und zur Berufung auf Ohren- bzw. Augenzeugen speziell im Zusammenhang mit einem Lob Gerdes: Beiträge, S. 157.
61. Ich bín des graben kvmfte vro von oſterberc.
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Vorbildlichkeit des Grafen zu verstehen, wonach er sich, analog zu Vers 4, durch sein Handeln bzw. Auftreten für das Gute stark macht. (Worauf genau sich der hêrren strîte (V. 9) beziehen könnte, wird weiter unten erläutert.) In den beiden Schlussversen dient abschließend, wie in Vers 6, der Verweis auf die Meinung Dritter (hier unspezifisch sie [V. 11]) zur Bestätigung und Untermauerung des eigenen Standpunktes. Mit seiner anschaulichen Ausdrucksweise – die Aufrichtigkeit des Grafen wird dadurch beschrieben, dass er, im Gegensatz zu anderen, nur mit einer Zunge spricht – entspricht Vers 12 ganz der für Bruder Wernher charakteristischen Art der Darstellung. Interessant an der Beschreibung der Doppelzüngigkeit anderer ist, dass es nicht genug ist, diese durch zwei Zungen zu umschreiben, sondern es ist gleich von drei Zungen die Rede. Die Verlogenheit wird also über die Maßen betont.
Historischer Hintergrund Die breite Mehrheit der Forscher vermutet hinter dem Grafen von Ôsterberc (V. 1) Graf Heinrich I. (um 1170 bis 1241) oder dessen Bruder Rapoto II. (um 1164 bis 1231) von Ortenberg bzw. Ortenburg, wobei die Tendenz eher zu Heinrich I. geht.702 Dabei handelt es sich um ein Grafengeschlecht aus Bayern, das auf die Grafen von Sponheim zurückgeht und sich seit ungefähr 1130 von Ortenburg nennt.703 Außerdem stellt dieses Geschlecht zwar von 1123 bis 1279 auch den Herzog von Kärnten, darf aber nicht mit einem zweiten Grafengeschlecht von Ortenburg aus Kärnten verwechselt werden!704 Darüber hinaus hat v. a. Lamey ausgehend von Vers 3 und Vers 9 versucht, eine Datierung vorzunehmen. Die Aussage dâ man der hêrren strîte streit (V. 9) 702 Vgl. HMS 4, S. 519 und Anm. 6 (1. Teil!); Meyer, S. 83 f.; Lamey, S. 21; Doerks, S. 3; Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 97 f. und 99 f. Zwar ist bei Ulrich von Liechtenstein ebenfalls von einem Ortenburg die Rede (und zwar im Zusammenhang mit dem Turnier zu Friesach, vgl. L 65,24; L 81,17 und L 86,27 [vgl. Spechtler: Ulrich von Liechtenstein, Str. 189,8; 253,1 und 274,3]), aber dieser Graf Hermann I. von Ortenburg († 19. Mai 1265) scheint deswegen unwahrscheinlich, da bei Ulrich auf dessen unmilde hingewiesen wird (vgl. Spechtler: Ulrich von Liechtenstein, Str. 189,7 f.: dar chom, der milte nie gewan, von Ortenburc grave Herman), was im Gegensatz zu unserer Aussage in Vers 5 steht (an rehter milte vunden) (vgl. HMS 4, S. 519; Meyer, S. 83). Meyer weist jedoch darauf hin, dass „es freilich keine Unmöglichkeit [ist], dass ein und derselbe Herr sich dem einen Sänger günstig und dem anderen ungünstig erwies“ (Meyer, S. 83 f.). Übrigens gehört Hermann I. nicht demselben Grafenschlecht von Ortenburg an, dem Heinrich I. und Rapoto II. zugehören (vgl. Schwennicke, Bd. 12, Tafel 34 und Bd. 4, Tafel 118)! 703 Vgl. Schwennicke, Bd. 4, Tafel 118 und einführend Köbler, S. 458 und Störmer: Ortenberg, Sp. 1481 f. 704 Vgl. Schwennicke, Bd. 12, Tafel 34 und einführend Dopsch, Sp. 1482 f.
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deutet er auf die Friedensverhandlungen zwischen Papst Gregor IX. und Kaiser Friedrich II. 1230 in San Germano, die u. a. durch das Einwirken deutscher Reichsfürsten, nämlich etwa den Grafen Heinrich I. und Rapoto II. von Ortenburg, am 28. August 1230 schließlich zu einem Erfolg führen.705 Der explizite Hinweis auf den guten Gesundheitszustand des Grafen in Vers 3 wäre damit auf dessen unversehrte Rückkehr von den Verhandlungen aus Italien zu deuten706 und der Abfassungszeitpunkt von V,61 läge somit nach dem 28. August 1230.707 Im Unterschied zu dieser weit verbreiteten historischen Deutung des Spruches erscheint Horst Brunner die Umdeutung von Ôsterberc zu Ortenberg „nicht gerechtfertigt“708. Er weist auf „die Osterburg (zwischen Meiningen und Themar)“709 hin, die „einer der Verwaltungsmittelpunkte der Grafschaft Henneberg [war]“710, und sieht V,61 somit (analog zu II,38) auf „Poppo VII. oder sein[en] Sohn Heinrich III. (gest. 1262)“711 bezogen. Dank dieser Auslegung muss zwar nicht in den handschriftlichen Text eingegriffen werden (oſterberc > Ortenberg), allerdings stellt sich die Frage, in welchem Zusammenhang der ausdrückliche Hinweis auf die Gesundheit des Grafen zu sehen ist, wenn nicht von einer beschwerlichen, gefährlichen Reise desselben auszugehen ist? Brunner schreibt dazu lediglich: „[D]er Spruch besagt, daß der Graf von dort [der Osterburg, Anm. d. Verf.] zurückgekehrt sei (vielleicht zur Henneburg)“712. Was meint aber der hêrren strîte (V. 9), wenn man Brunners Auslegung folgt und somit nicht an die Verhandlungen zwischen Papst und Kaiser in Italien denkt? Ist diese Formulierung nicht zu speziell, um lediglich als Lob des schlichtenden Auftretens eines Grafen gemeint zu sein? Erst wenn auf diese Fragen eine befriedigende Antwort gefunden wird, kann geklärt werden, ob
705 Vgl. Gebhardt, Bd. 6, S. 230 f. 706 Vgl. Lamey, S. 21 f. Herzog Leopold VI. von Österreich, der sich ebenfalls unter den vermittelnden Reichfürsten befindet, stirbt am 28. Juli 1230, kehrt also im Gegensatz zu dem grâven […] von Ôsterberc (V. 1) nicht mehr wohlbehalten in die Heimat zurück. Der explizite Hinweis auf die gesunde Rückkehr bzw. den guten Gesundheitzustand könnte vor diesem Hintergrund zu sehen sein. 707 Da der Zeitpunkt der Rückkehr Graf Heinrichs I. – soweit ich sehe – nirgends urkundlich erwähnt wird, Heinrich I. jedoch zusammen mit Herzog Bernhard II. von Kärnten in San Germano gewesen sei und dieser wiederum im November 1230 zurück in Kärnten war, präzisiert Lamey den möglichen Entstehungszeitpunkt dementsprechend noch deutlicher (vgl. Lamey, S. 21). Zu Herzog Bernhard II. in San Germano vgl. Lechner, S. 216. 708 Brunner: Bruder Wernher, Sp. 899. 709 Ebd., Sp. 898 f. Vgl. auch Patze, S. 332 und Hess, S. 536. 710 Brunner: Bruder Wernher, Sp. 899. 711 Ebd., Sp. 898. 712 Ebd., Sp. 899.
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es sich – Brunners Interpretation zufolge! – im vorliegenden Text um Vater (Poppo VII., † 1245) oder Sohn (Heinrich III., † 1262) handelt. Da aber eine konkrete personelle Ausdeutung gegenwärtig nicht möglich scheint, muss insgesamt offen bleiben, ob in V,61 vom Grafengeschlecht der von Hennebergs (= Brunner) oder doch von dem der von Ortenberg/-burg (= von der Hagen, Meyer, Lamey, Doerks, Schönbach) die Rede ist. Somit bleibt auch die Frage nach dem Abfassungszeitpunkt unbeantwortet. Abschließend sei noch mit Blick auf Brunners Deutung die kritische Frage aufgeworfen, ob von Ôsterberc in Vers 1 tatsächlich nur als räumliche Angabe zu verstehen sein kann, die darüber Auskunft gibt, von wo der Graf zurückgekehrt ist? Die entscheidende Frage scheint mir zu sein, ob von Ôsterberc (V. 1) hier das Adelsgeschlecht bezeichnet, dem der Graf zugehört, oder aber, ob es – wie Brunner meint – lediglich als Ortsangabe zu verstehen ist. Grundsätzlich hinterfragt werden sollte dabei, ob es wirklich denkbar ist, dass Wernher einen Spruch auf den Grafen von Henneberg verfasst, wie Brunner meint, anstatt diesen jedoch namentlich zu nennen, um unmissverständlich klar zu machen, auf wen sich das Lob des Spruches bezieht, lediglich den Namen einer Burg anführt, die Teil des Herrschaftsgebietes des besagten Grafen ist? Auf diese Weise würde er die Anzahl derer, die tatsächlich verstehen, wer hier gelobt wird, auf diejenigen beschränken, die wissen, welchen Besitzungen die Burg Osterburg angehört und welches Grafengeschlecht dieses Gebiet wiederum innehat. Andererseits ließe evtl. gerade dieser Umstand Rückschlüsse auf den Ort der Aufführung sowie deren Publikum zu. Zuletzt sei noch der Vollständigkeit wegen auf eine Überlegung Hans Vetters hingewiesen: Dieser merkt an, dass dadurch, dass – zumindest aus Sicht der Mehrheit der Forschung – eine historische Deutung nur durch einen Eingriff in den handschriftlichen Text möglich scheine, nämlich Osterberg > Ortenberg, man diese Konjektur evtl. auch an anderer Stelle vornehmen und statt von grâven (V. 1) von edelen sprechen könnte. Denn ein Adelsgeschlecht von Osterberg existiere durchaus im bayerisch-österreichischen Raum.713 Vetter scheint sich in dieser Annahme auf Schönbach zu stützen.714 Dieser zieht
713 Vgl. Vetter, S. 264. 714 Vgl. Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 97 f. Schönbach baut wiederum auf von der Hagen auf (vgl. HMS 4, S. 519 und Anm. 6 [2. Teil!]). Tatsächlich existiert in Schwaben eine Burg Osterburg, die „im Mittelalter zusammen mit Weiler den Herren von Rechberg [gehörte]“ (Köbler, S. 460), von denen „sich eine eigene Linie Rechberg auf O. und Wolfenstall [abzweigte]“ (ebd.), was in dieselbe Richtung zu weisen scheint wie von der Hagens Überlegungen (vgl. HMS 4, S. 519 Anm. 6 [2. Teil!]). Ein Geschlecht von Rechberg zu Hohenrechberg zu Osterberg lässt sich jedoch unter Schwennickes Stammtafeln nur für das 16. Jahrhundert nachweisen (vgl. Schwennicke, Bd. 5, Tafel 93).
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ein solches Geschlecht ebenfalls in Erwägung, kommt aber – dank der Mithilfe des Landesarchiavars August von Jaksch in Klagenfurt – letztendlich doch zu dem Schluss, dass nicht von dem Grafengeschlecht Osterberg, sondern Ortenberg auszugehen sei.715 Generell erscheint mir eine handschriftliche Ungenauigkeit von Ôsterberc für Ortenberg eher wahrscheinlich als von grâven für edelen.
Inhaltliche Ähnlichkeit mit anderen Texten vgl. zu Vers 6: Walther L 114,17 (hier V. 1): Sît daz im die besten jâhen, (Schweikle: Walther, Bd. 2, S. 236) Walther L 71,19 (hier V. 1): ‚Ich hœ́re ime maniger êren jehen, (Schweikle: Walther, Bd. 2, S. 182) vgl. zu Vers 7: Walther L 85,1 (hier V. 3): daz iuwer lob da enzwischen stîget unde sweibet hô. (Schweikle: Walther, Bd. 1, S. 212) vgl. zu Vers 12: Walther L 12,30 (hier V. 12): zwô zungen stânt unébne in éinem munde. (Schweikle: Walther, Bd. 1, S. 112) Walther L 29,4 (hier V. 8): zwô zungen hât ez, kalt und warm, die ligent in sîme rachen (Schweikle: Walther, Bd. 1, S. 140) ,Tristan‘ V. 4608 f.: daz ich zwelf zungen trüege in mîn eines munde, (Krohn, S. 282)
Metrik A6ma 8kb 2A 7 m c A6ma 5 A8kb A7mc A4md A4ke A6md 10 A 6 k e 7mf A9mf
gar, sît ích den túgenden rchen wól gesúnden han gesen. er íst an túgendèn úndẹ an réhter mílte vúndèn, des hœ́rẹ ich ím die wsen únde dar zúo die bésten jen. sô síht man mánegen sgèn. ich bín gewésen, dâ mán der herren strte stréit, hôrtẹ undẹ ín dem múnde níht wan éiner zúngen phlégen, sô hat vil máneger dr.
715 Vgl. Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 99 f.
61. Ich bín des graben kvmfte vro von oſterberc.
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Literatur Brunner: Bruder Wernher, Sp. 898 f. • Doerks, S. 3 • Gerdes: Beiträge, S. 83, 94 f., 149 und Anm. 1 und 3., 150, 157 und Anm. 4, 174 und Anm. 2, 179 und Anm. 4, 192 und Anm. 3 • HMS 4, S. 519 • Kemetmüller, S. 5, 82 f., 87, 236 • Lamey, S. 7, 8, 9, 21 f., 26 • Meyer, S. 83 f. • Müller: politische Lyrik, S. 97 f. • Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 96–100 • Strasser, S. 239, 240 • Vetter, S. 264.
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62. Ich bẏn des edelen werden kvnínges mílte vro. (J59) Ich bẏn des edelen werden kvnínges / mílte vro. Da ẏnne er lebet vn̅da / bẏ phlıget ſo. (?) tugentlıcher guͦ te. des / ſẏn lob von ſculden ho ín al der werl /de ſtat Des edelen keıſers kẏnt / wılle ıch v̎. pruben ſo. 5 eín walt von / tugenden vnde von rechter mílte bluͦ te. / Der kvnde halb ez nícht ge/tragen dıe tugent dıe er begat Er / ıſt alſam eín reẏne berender bovm. / Der obız mít wıllen reret Er aller / mílte ıſt kegen der ſíne gar eẏn / trovm. 10 Sín hant vıl manígem ſẏ/ne gulde meret Noch ıamert mıch / daz ıch des eẏne nẏe kegen ẏm ge/noz. Ez en ırret ſín mílte nícht wen/ne mẏn vnſelde ıſt leıder altzvͦ groz. /
2 nach ſo scheint ein Punkt radiert worden zu sein
62. Ich by˙n des edelen werden kvnínges mílte vro.
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Ich bin des edelen werden küneges milte vrô, dâ inne er lebet unt dâ bî phliget sô tugentlîcher güete. des sîn lop von schulde hô in al der werlde stât. des edelen keisers kint wile ich iu prüeven sô: 5 ein walt von tugenden unde von rehter milte blüete, der künde halbes niht getragen die tugent, die er begât. er ist alsam ein reine bernder boum, der obez mit willen rêret. ir aller milte ist gegen der sînen gar ein troum: 10 sîn hant vil manegem sîne gülde mêret. noch jâmert mich, daz ich des eine nie gegen im genôz; ez enirret sîn milte niht, wanne mîn unsælde ist leider al ze grôz.
59 J, 23 [22] C 2 dâ] dar. 3 da vo̅ ſın lob vo̅ ſchulde̅ ſtıget vn̅ hohe ſtat. 4 wile ich iu prüeven sô] dıe ſol man prıſen ſo. 5 vn̅ ſtvͤnde eın gantzer walt vo̅ tvgende̅ vn̅ ín mılter blvͤte. 6 halbes niht getragen] níe mer volletrage̅. 7 reine bernder] reín bnde. 11 noch] des. daz] wa̅. des] d. 12 es ırret oͮch ſín mılte níht wan mín vnſelde duͥ ıſt alzegros. 1 edeln.
2 lebt. vn̅. pflıgt.
4 edeln. 6 tugende. 7 als. 8 obs.
10 ſın.
3 von schulde: feste Wendung ‚aus zureichendem Grund, mit Recht‘ 4 kint: Aufgrund des Pers.pron. (er) der nachfolgenden Verse übersetze ich hier mit ‚Sohn‘. prüeven: hier ‚dartun, schildern, beschreiben‘ 5 rehter milte: Gen.attr. zu bluot 6 halbes: adv. Gen. ‚halb‘; ich schließe mich Schönbachs Änderung halb ez > halbes an (vgl. Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 71): Da die tugent bereits Akk.obj. zum finiten Verb ist, schließe ich halb-ez hierfür aus, obgleich die hsl. Endg. ‑ez evtl. auf Akk. hindeutet. begân: hier ‚vollführen, zeigen, erkennen lassen‘ 7 bernde: adj. Part. Präs. von bern (‚hervorbringen, zum Vorschein bringen‘) 8 mit willen: feste Wendung ‚aus freien Stücken, gern‘ rêren: tr. ‚fallen lassen‘ 9 gegen: mit Dat. (der sînen), ‚gegenüber, im Vergleich zu‘; für das Poss.pron. sîn steht hsl. in Verbindung mit gegen und dem best. Art. nicht die sw. (sînen), sondern die st. Flexion. troum: Bezeichnet hier das Vergängliche, Nichtige. 10 sîn hant: Pars pro toto, ‚er‘ gülde: hier ‚Einkommen‘ 11 noch: Hiermit wird die Fortdauer von einem Zeitpunkt in der Vergangenheit bis heute ausgedrückt, also ‚bis jetzt noch, noch immer‘ (vgl. BMZ noch, 1. a.). geniezen: intr. mit Gen. (des) ‚Nutzen, Freude woran haben‘ 12 irren: tr. ‚stören, (be-)hindern‘ wanne: beschränkt den vorausgehenden positiven Hauptsatz, ‚aber, gleichwohl‘
HMS 2: V,3 Sch 31
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Übersetzung Ich bin froh über die Freigebigkeit des edlen, ehrenwerten Königs, mit der er lebt und mit der er eine so tugendvolle Güte zeigt. Deswegen ist sein Ruhm zu Recht groß in der ganzen Welt. Den Sohn des edlen Kaisers möchte ich euch folgendermaßen beschreiben: 5 Ein Wald der herausragenden Qualitäten und der Blüte wahrer Freigebigkeit wüsste nicht halb (so viel) Vortrefflichkeit zu zeigen, wie er [= der Sohn] sie [erkennen lässt. Er ist wie ein Baum, der Makellosigkeit hervorbringt, der Obst bereitwillig fallen lässt. Ihrer aller Freigebigkeit ist im Vergleich zu seiner ganz und gar wertlos: 10 Er vergrößert manchem sein Einkommen. Bis jetzt noch bekümmert es mich, dass ich allein davon bei ihm nie einen Nutzen [hatte; das behindert seine Freigebigkeit nicht, aber mein Unglück ist leider allzu groß.
Inhalt Ähnlich dem vorausgehenden Spruch handelt es sich auch bei V,62 um ein Herrscherlob, wobei nun jedoch eine etwas „prominentere“ Person im Mittelpunkt steht, nämlich der deutsche König (vgl. V. 1 und 4). Um welchen es sich dabei genau handeln könnte, wird weiter unten diskutiert. Analog zu V,61 wird im ersten Stollen zunächst auf die Person hingewiesen, die gelobt werden soll. Eine weitere Gemeinsamkeit der beiden Sprüche ist die Präsenz des Sprechers, wenngleich diese in V,62 nicht so ausgeprägt ist wie im ersten Stollen des vorherigen Spruches (vgl. V,61: Ich [V. 1], mir [V. 2], ich [V. 3] und V,62: Ich [V. 1]). In beiden Fällen nimmt das Personalpronomen Ich jedoch als erstes Wort des Spruches eine klar exponierte Position ein. Darüber hinaus steht bereits in den ersten drei Versen diejenige Herrschertugend im Fokus, auf die auch im Folgenden immer wieder eingegangen werden wird: die milte (V. 1). So werden des Königs tugentlîche[r] güete (V. 2) und sîn lop (V. 3), die beide überaus positiv hervorgehoben werden, unmittelbar mit seiner Freigebigkeit in Verbindung gebracht (vgl. V. 1–3). In den Versen 4 bis 10 folgt ein ausführliches, „blumiges“ Lob des Königs,716 in dem neben dem zweimaligen Hinweis auf seine tugenden (vgl.
716 Schönbach erläutert die verwendeten Bilder z. T. (vgl. Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 72).
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V. 5 ein walt von tugenden, V. 6 die tugent) auch seine reine717 (vgl. V. 9 er ist alsam ein reine bernder boum) betont wird. Außerdem ist erneut die milte zentraler Bestandteil des Lobs: des edelen keisers kint718 (V. 4) ist von rehter milte blüete (V. 5) und im Vergleich zu dessen Freigebigkeit ist [i]r aller milte […] gar ein troum (V. 9). Überschwänglicher kann das Lob eines Herrschers kaum ausfallen! Doch dieser feierlichen Stimmung wird mit den beiden Schlussversen ein unerwartetes Ende bereitet: Hier tritt der Sprecher, der in den Versen 5 bis 10 unsichtbar geblieben ist, wieder in Erscheinung (der Kreis zwischen Stropheneingang und ‑ende schließt sich also) und weist darauf hin, dass er allein nie einen Nutzen von der milte des Königs hatte (vgl. V. 11), obwohl dieser unabhängig von diesem Umstand großzügig auftritt (vgl. V. 12 ez enirret sîn milte niht). Dennoch ist und bleibt das Unglück des Sprechers groß (vgl. V. 12). Die Schlussverse beinhalten somit zugleich Lob und Schelte (oder zumindest eine Einschränkung des Lobs). Mit Blick auf den gesamten Spruch bedeutet dies, dass sich das Gesagte leicht paradox darstellt: Einerseits wird nahezu die komplette Strophe darauf verwendet, die beispiellose Großzügigkeit des Königs herauszustreichen, andererseits wird sie in Vers 11 f. in Abrede gestellt, da der Sprecher nie etwas von dieser Freigebigkeit zu spüren bekommen hat. Indem er andeutet, dass dies der milte des Königs keinen Abbruch tue (vgl. V. 12), scheint er die indirekte Anklage zwar entschärfen zu wollen (frei nach dem Motto: ,Es liegt nicht an ihm, sondern an mir.‘),719 dennoch hinterlässt das abschließende wanne mîn unsælde ist leider al ze grôz einen bitteren Beigeschmack, da die Unschuld des Königs am Unglück des Sprechers nicht zweifelsfrei erwiesen scheint. Abgesehen von inhaltlich gleichwertigen Varianten (z. B. V. 3, 5 oder 6) fällt in C v. a. die Lesart von Vers 4 auf: des edelen keisers kint, die sol man prîsen sô. Neben dem Indefinitpronomen man, das anstelle des persönlicheren ich (inkl. der Apostrophe an das Publikum [iu]) steht, ist der in J und C unterschiedliche Numerus des Lexems kint von entscheidender Bedeutung. Durch den Plural in C ist der unmittelbare Bezug zwischen erstem Stollen und Vers 4 bis 10 im Unterschied zu J nur bedingt gegeben. Die Ausführungen des Mittelteils beziehen sich Vers 4 zufolge vielmehr auf (männliche) Nachkommen des Kaisers an sich. Interessanterweise ist jedoch entgegen dem Plural in Vers 4 in den 717 Zum Verhältnis von milte und reine vgl. Anm. 405. 718 Die synonyme Umschreibung (des edelen keisers kint) hebt die gesellschaftlich und machtpolitisch herausragende Stellung des Gelobten noch zusätzlich hervor, indem sie denjenigen nennt, von dem der Angesprochene abstammt, nämlich vom Kaiser selbst. Vgl. zu der Formulierung des edelen keisers kint auch II,39,4 (eines küneges kint). 719 Vgl. Lamey, S. 21.
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nachfolgenden Versen auch in C nur von einer Person die Rede (vgl. V. 6 die er begât, V. 7 Er ist, V. 9 gegen den sînen, V. 10 sîn hant, V. 11 gegen im, V. 12 sîn milte), was wiederum zu dem einen König passt, auf den sich der erste Stollen bezieht.
Historischer Hintergrund Hinsichtlich der Deutung des Königs herrscht – m. E. zu Recht – keine endgültige Sicherheit in der Forschung: Während von der Hagen, Meyer, Doerks und auch Vetter den Spruch auf König Konrad IV. beziehen,720 der Spruch demnach während dessen Regierungszeit 1237 bis 1251 abgefasst worden sein muss, wobei Meyer darauf hinweist, dass der Entstehungszeitpunkt „nicht zu früh“721 gewesen sein könne, „weil er sonst noch nicht Manchem sein Gut gemehrt hätte (Z. 10)“722, sieht Lamey den Spruch nicht auf Konrad IV., sondern auf Heinrich (VII.) gedichtet und setzt die Abfassung ins Jahr 1230.723 Eine Begründung liefert Lamey jedoch nicht, er weist lediglich darauf hin, dass „[e]s bekannt [ist], dass an dem Hofe des jungen Königs [= Heinrich (VII.), Anm. d. Verf.] die Sänger gastliche Aufnahme fanden“724. Dieses Argument lässt wiederum Schönbach zu Recht nicht gelten, weil über beide Könige gesagt werden könne, „daß sie den fahrenden Sängern […] geneigt waren“725. Und da die Strophe darüber hinaus keine stichhaltigen Indizien enthalte, die den Ausschluss eines der beiden Söhne Kaiser Friedrichs II. zulasse, lässt Schönbach eine endgültige Auslegung offen.726 Ich schließe mich diesem Urteil an. 720 Vgl. HMS 4, S. 517; Meyer, S. 98; Doerks, S. 9; Vetter, S. 249 f. Begründet wird diese Deutung u. a. damit, dass Heinrich (VII.) – im Gegensatz zu Konrad IV. – zu häufig neben Lob auch Tadel zuteilwerde (vgl. Doerks, S. 9). Darüber hinaus wird II,26 herangezogen, in dem ebenfalls die milte König Konrads IV. gepriesen wird (vgl. v. a. V. 7 f. und 12) (vgl. HMS 4, S. 517 und Meyer, S. 98). Vetter schließlich geht (wohl aufgrund von V. 10) davon aus, dass Bruder Wernher sich bei der Abfassung des Spruches „in der nähe des königs aufgehalten haben [muß]“ (Vetter, S. 249), da König Heinrich (VII.) sich jedoch im Unterschied zu König Konrad IV. „fast nur in Deutschland [aufhielt]“ (ebd.), ist laut Vetter eher davon auszugehen, dass V,62 mit Blick auf Konrad IV. gedichtet wurde (vgl. ebd., S. 250). 721 Meyer, S. 98. 722 Ebd. Vetter datiert den Spruch „in die jahre nach 1246“ (Vetter, S. 250). 723 Vgl. Lamey, S. 21. Scholz folgt Lamey in dieser Auslegung, allerdings aus anderen Gründen: Er sieht V,62 in Verbindung mit II,39, den er auf König Heinrich (VII.) verfasst glaubt (vgl. Scholz: Reichsidee, S. 27). 724 Lamey, S. 21. 725 Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 73. 726 Vgl. ebd. Ähnlich auch Brunner: Bruder Wernher, Sp. 899.
62. Ich by˙n des edelen werden kvnínges mílte vro.
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Inhaltliche Ähnlichkeit mit anderen Texten vgl. zu Vers 5 bis 8: Mt 7,17 Walther L 20,31 (hier V. 7–14): des fürsten milte ûz Oesterrîche frit, dem sezen regen gelîche, beide liute unde daz lant. érst ein schœne wolgezieret heide, dar ábe man bluomen brichet wunder. und bræche mir ein blat dar under sn vil milterîchiu hant, sô möhte ich loben die süezen ougen weide. (Schweikle: Walther, Bd. 1, S. 234) ,Parzival‘ V. 613,9: er was ein quecprunne der tugent, (Knecht/Schirok, S. 617) ,Parzival‘ V. 613,17–19 : sîn prîs hôch wahsen kunde, daz dʼandern wâren drunde, ûz sînes herzen kernen. (Knecht/Schirok, S. 617) Metrik A6ma A8kb 7mc A6ma 5 A8kb A7mc 2A 4 m d A4ke A6md 10 A 6 k e A7mf 9mf
Ich bín des édelen wérden kneges mílte vro, dâ ínnẹ er lébet unt da bî phlíget sô túgentlcher getè. des édelen kéisers kínt wilẹ ích iu preven so: ein wált von túgendèn únde von réhter mílte bletè, der knde hálbes níht getrágen die túgent, die ér begat. er ịst alsám ein réine bérnder bóum, der óbez mit wíllen rerèt. ir áller míltẹ ist gégen der snen gár ein tróum: sîn hánt vil mánegem sne glde merèt. noch jamert mích, daz ích des éine níe gegen ím genoz; éz enírret sîn mílte níht, wanne mn unsǽldẹ ist léider ál ze groz.
Literatur Brunner: Bruder Wernher, Sp. 899 • Edwards, S. 307 • Doerks, S. 9 • Gent, S. 151 • Gerdes: Beiträge, S. 60 Anm. 1, 70 und Anm. 1, 83 f., 164, 179 und Anm. 6, 181 und Anm. 3, 191 und Anm. 1, 193 • HMS 4, S. 517 • Kemetmüller, S. 13, 44 f., 221 • Lamey, S. 21, 45 • Leitzmann, S. 163 • Meyer, S. 98 • Müller: politische Lyrik, S. 98 • Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 71–73 • Scholz: Reichsidee, S. 27 • Strasser, S. 239 • Vetter, S. 249 f.
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Ton V, Korpus in J
63. Ivnc. vnde alt. rıche. vnde arm. helfet mít mír klagen. (J60, U) Ivnc. vnde alt. rıche. vnde arm. / helfet mít mír klagen. Des vurſten // tot vz beẏerlant. Wer ſol vns nv / ır gezzen. der grozen truwe. Dıe / man ſtetıchlıchen an ẏm vant. / Dem keıſer vnde dem kvnínge / ıſt hulfe an ẏm ır ſlagen. 5 Er kvnde / daz rıche alſo berıchten vnde alſo / beſetzen. Daz ez ane alle werre / ſtvnt vber alle dıvdıſche lant Daz / lant vber mere were gar v er lorn. / Wenne ſẏne ſtarken rete Der ba/bes vnde der keıſer hetten grozen / tzorn. 10 Dıe ſvne machte her mẏt / truwen ſtete Er ſchuͦ f ouch daz / der kvnínc blıeb an ſẏner rechten / e. Alſo er ez geſcaffen habe got gebe / daz ez ẏm dort baz erge. /
1 statt Initiale nur Majuskel
7 beim Präfix ver- wurde zwischen 〈v〉 und 〈er〉 etwas radiert
63. Ivnc. vnde alt. rıche. vnde arm. helfet mít mír klagen.
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Junc unde alt, rîche unde arm, helfet mit mir klagen des vürsten tôt ûz Beierlant! Wer sol uns nû ergetzen der grôzen triuwe, die man stæteclîchen an im vant? dem keiser unde dem künege ist helfe an im erslagen: 5 er kunde daz rîche alsô berihten unde alsô besetzen, daz ez âne alle werre stuont über elliu diutschiu lant. daz lant über mere wære gar verlorn wanne sîne starken ræte. der bâbes unde der keiser hâten grôzen zorn, 10 die suone machte er mit triuwen stæte. er schuof ouch, daz der künec bleip an sîner rehten ê. alsô er ez geschaffen habe, got gebe, daz ez im dort baz ergê!
60 J 5 berihten: ‚etwas zurechtmachen, in Ordnung bringen, ordnen, einrichten‘ besetzen: Kann sowohl für das swV. besetzen (‚besetzen, namentl. mit Menschen, niederlassen‘) stehen als auch für das stV. besitzen (mit md. Senkung /i/ > /e/, ‚in Besitz nehmen, einnehmen; belagern‘). Da der Kontext hier m. E. nicht negativ konnotiert ist, behalte ich die hsl. Lesart bei und gehe von sw. besetzen aus. Schönbach dazu: „besetzen vornehmlich: für das Gericht durch Ernennung von Richtern sorgen“ (Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 103). Zwar führt das HWB unter dem Lemma besetzen u. a. auch die Bedeutung ‚ein Gericht zusammensetzen, Gericht halten‘ an (vgl. HWB besetzen), aber die im HWB hierzu aufgelisteten Textbelege deuten darauf hin, dass das Verb in dieser Bedeutung in der Regel in Verbindung mit dem Lexem reht oder einem anderen juristischen Terminus steht, was hier jedoch nicht der Fall ist. 6 werre: ‚Störung, Not, Schaden, Bedrängnis, Streitigkeiten, Krieg‘, Nolte/Schupp übersetzen âne alle werre mit ‚unangefochten‘, was ich als sehr treffend empfinde. 7 über: hier ist die Überschreitung über eine (räuml.) Linie hinaus gemeint 8 wanne: mit Nom. (sîne starken ræte), finites Verb ausgespart, ‚wäre nicht gewesen‘ (vgl. HWB wan) 9 hân: Hsl. hetten ist eine eher md. Form (vgl. Mhd. Gram., § M 113 Anm. 3 und 4). zorn: hier ‚Streit‘ 11 blîben: zur hsl. Form blıep statt regulär bleip vgl. die Erläuterungen zu trîben in I,10,3 rehte ê: ‚rechtmäßige, gesetzliche Ehe‘ 12 Der voluntative Konj. des Hauptsatzes geht aufgrund von Attraktion auch auf den kausalen Nebensatz über (vgl. Mhd. Gram., § S 185, 2. b)). In der Übersetzung wähle ich statt des Konj. jedoch den Ind.
HMS 3: V,4 Sch 75
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Ton V, Korpus in J
Übersetzung Jung und Alt, Reich und Arm, helft mit mir den Tod des Herzogs von Bayern zu betrauern! Wer wird uns jetzt für die große [Treue, die man immerzu an ihm vorfand, entschädigen? Dem Kaiser und dem König wurde in ihm ein Helfer erschlagen: 5 Er verstand es, das Reich dergestalt zu ordnen und zu verwalten, dass es völlig unangefochten allen deutschen Ländern vorstand. Das Land jenseits des Meeres [= das Heilige Land] wäre ganz und gar verloren, wären seine beeindruckenden Ratschläge nicht gewesen. Der Papst und der Kaiser befanden sich in großem Streit, 10 er sorgte (dank seiner) Aufrichtigkeit für eine dauerhafte Versöhnung. Er erreichte auch, dass der König an seiner rechtmäßigen Ehe festhielt. Weil er das geschafft hat, gebe Gott, dass es ihm dort besser ergehe!
Inhalt Bei diesem Spruch handelt es sich um eine Totenklage auf den vürsten […] ûz Beierlant (V. 2) (zum historischen Hintergrund siehe weiter unten). Ähnlich dem Herrscherlob wird gleich zu Beginn des Spruches neben der thematischen Ausrichtung (vgl. V. 1 f.: helfet mit mir klagen des vürsten tôt = Totenklage) auch die Person genannt auf die sich der Spruch bezieht. Diese Information ist, wie beim Herrscherpreis, Grundvoraussetzung dafür, dass das Gesagte zur vollen Geltung kommt und sich der Zweck, der sich aus Sicht des Dichters hinter der Abfassung eines solchen Spruches verbirgt, auch erfüllt (beim Herrscherlob z. B. der Erhalt von Lohn). Darüber hinaus werden die Zuhörer durch die Apostrophe in Vers 1 (helfet mit mir klagen) zur aktiven Trauerarbeit aufgefordert und zugleich wird durch den Gebrauch der 1. Plural (vgl. V. 2 uns) das Ausmaß des Verlusts gesteigert, indem der Tod des vürsten als für die Gemeinschaft insgesamt folgenreich dargestellt wird. Welche Konsequenzen mit dem Tod einhergehen, wird anhand der nachfolgenden Verse 4 bis 11 deutlich. Sie enthalten unterschiedliche Beispiele für die vorbildliche helfe (V. 4) des vürsten gegenüber dem keiser unde dem künege (V. 4) und dokumentieren somit gleichzeitig, welche Vorzüge die Gesellschaft durch seinen Tod für immer verliert. Dazu gehört neben dem Wissen um die Einrichtung einer wehrhaften Ordnung und Verwaltung im Landesinneren (vgl. V. 5 f.) auch die Fähigkeit zur erfolgreichen politischen und strategischen Beratung (vgl. V. 7 f.) sowie das Vermitteln zwischen Papst und Kaiser (vgl. V. 9 f.) oder die umsichtige Einflussnahme in
63. Ivnc. vnde alt. rıche. vnde arm. helfet mít mír klagen.
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eher „tagespolitischen“ Angelegenheiten (vgl. V. 11). Angesichts eines Lebens, das derart im Dienste der Gesellschaft steht bzw. stand, kann dem Verstorbenen zum Abschluss der Strophe nur gewünscht werden, daz ez im dort baz ergê (V. 12). Gott möge ihm also im Jenseits den Lohn für seine Verdienste im Diesseits gewähren. Auch hier spielt somit die bei Bruder Wernher immer wieder aufscheinende Überzeugung von der Wechselwirkung zwischen diesseitigem Handeln und jenseitigen Konsequenzen hinein.
Historischer Hintergrund Hinter dem vürsten […] ûz Beierlant (V. 2) wird einhellig Herzog Ludwig I. von Bayern vermutet, der am 15. September 1231 auf der Kelheimer Donaubrücke von einem Unbekannten ermordet wurde.727 Die Forschung geht davon aus, dass der Spruch „unter dem unmittelbaren Eindruck dieses Ereignisses gedichtet worden [ist]“728. Laut Schönbach ist deswegen von dieser engen zeitlichen Verquickung von Ermordung und Abfassung auszugehen, weil dadurch das z. T. als unverdient angesehene Lob des Herzogs erklärt werden könnte,729 denn die grôze[n] triuwe, von der im dritten Vers die Rede ist, hat Ludwig I. nicht immer gegenüber Heinrich (VII.) und Kaiser Friedrich II. walten las-
727 Vgl. HMS 4, S. 517; Meyer, S. 89; Lamey, S. 21; Doerks, S. 6; Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 101; Pinnow, u. a. S. 30; Vetter, S. 264; Gent, u. a. S. 99; Scholz: Reichsidee, S. 18; Kemetmüller, S. 84; Gerdes: Beiträge, u. a. S. 77; Müller: politische Lyrik, S. 98; Brunner: Bruder Wernher, Sp. 899. 728 Meyer, S. 89. Vgl. auch Doerks, S. 6; Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 101; Vetter, S. 264; Kemetmüller, S. 84; Müller: politische Lyrik, S. 98. 729 Vgl. Meyer, S. 90; Lamey, S. 21; Doerks, S. 6; Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 101 und 102. Müller meint dazu, dass dieses überschwängliche Lob „[n]icht weiter auffällig ist“ (Müller: politische Lyrik, S. 99), immerhin handele es sich um einen „Totenpreis (!)“ (ebd.). Und auch Pinnow weist darauf hin, dass „[d]ie Quellen, die uns von Ludwigs Untreue berichten, ihrem Charakter nach nicht geeignet [sind], dieser Angabe Gewicht zu verleihen“ (Pinnow, S. 33 f.). Nachdem er nämlich die Notae S. Emmerani (vgl. ebd., S. 34 f.), das Zeugnis der Annales Scheftlarienses (vgl. ebd., S. 35) sowie die Ausführungen des Conr. de Fab. (vgl. ebd., S. 35 f.) analysiert hat, kommt Pinnow zu dem Schluss, dass „nur die Angabe der Ann. Scheftl. […] subjektiver Färbung weniger verdächtig“ (ebd., S. 34) zu sein scheine, während die anderen beiden Quellen dadurch befangen seien, dass sie „die Anschauung des Königs“ (ebd.) bzw. „die des Abtes Konrad [wiedergeben]“ (ebd.) würden. Mit Blick auf Pinnows Untersuchung sollte jedoch erwähnt werden, dass er V,63 vorrangig als historische Quelle ansieht und den darin geäußerten bzw. angedeuteten Sachverhalten dementsprechend historische Glaubwürdigkeit unterstellt. So schreibt er abschließend über Bruder Wernher: „Für uns sind seine Angaben aus dem Grunde besonders wertvoll, dass sie uns Veranlassung geben, das durch der Parteien Hass verzerrte Charakterbild des Baiernherzogs richtig zu stellen […].“ (ebd., S. 41)
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Ton V, Korpus in J
sen.730 Geht man also davon aus, dass sich Bruder Wernher bei Abfassung der Strophe noch unter dem Einfluss der „Plötzlichkeit und Furchtbarkeit“731 der Ermordung befunden hat, so ist eher nachzuvollziehen, warum er keine „ruhige Einschätzung des Verstorbenen“732 vorgenommen hat. Übrigens ist es auffällig, dass Bruder Wernher den Mord bzw. den möglichen Mörder mit keinem Wort erwähnt, wie man es vielleicht erwarten würde. Einzig das Verb erslahen in Vers 4 deutet darauf hin, dass es sich bei dem Tod des Herzogs um keinen natürlichen gehandelt haben mag. Müller merkt hierzu an, dass Vers 4 jedoch „nicht unbedingt [Hervorhebung im Original] auf einen Mord hinweisen [muß], sondern „erslahen“ auch nur ‚niederschlagen‘ […] bedeuten [kann]“733. Dies mag in der Sache zwar richtig sein, erscheint mir mit Blick auf den vorliegenden Fall aber doch etwas zu pedantisch: Der Hinweis auf des vürsten tôt ûz Beierlant (V. 2) zusammen mit dem Verb erslahen impliziert nicht nur eine Gewalteinwirkung von außen, sondern dass diese zudem tödlich für den Herzog ausging. Als weitere Erklärung für das übermäßige Lob Herzog Ludwigs I. führt Schönbach die Überlegung an, dass der Spruch vielleicht auch im Auftrag Herzog Friedrichs II. von Österreich zu sehen sein könnte, der evtl. durch einen lobenden Nachruf auf Ludwig I. bei dessen Sohn Herzog Otto II. eine Verbesserung des schwierigen Verhältnisses zwischen Österreich und Bayern herbeizuführen suchte.734 Dieser Deutungsvorschlag wurde jedoch m. E. nicht zu Unrecht von der übrigen Forschung abgelehnt,735 da es keinerlei Anzeichen dafür gibt, dass sich Bruder Wernher zu besagter Zeit (also um 1231) in Diensten Friedrichs des Streitbaren befunden hat. Zudem räumt Schönbach selbst ein, dass er nicht glaube, „daß man am Babenberger Hofe dem Bruder Wernher eine wichtige diplomatische Rolle zumutete“736. Abschließend sei noch eine Übersicht über die im Mittelteil des Spruches anzitierten historischen Gegebenheiten ergänzt (ich erlaube mir hier, z. T. auf Müller zurückzugreifen, der die Erkenntnisse knapp, aber treffend zusammengefasst hat): 730 So geht Heinrich (VII.) etwa 1229 militärisch gegen Ludwig I. vor, weil er u. a. vermutet, dass Ludwig I. mit den lombardischen Städten im Bunde ist (vgl. Gebhardt, Bd. 6, S. 228 f.). 731 Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 102. 732 Ebd., S. 101. 733 Müller: politische Lyrik, S. 99. Übrigens findet auch Gent es bemerkenswert, dass Bruder Wernher nicht auf den Akt der Ermordung selbst eingeht (vgl. Gent, S. 145 f.). 734 Vgl. Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 104 f. 735 Vgl. Pinnow, S. 31 Anm. 1; Vetter, S. 264; Gerdes: Beiträge, S. 190; Gerdes: Zeitgeschichte, S. 148. 736 Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 105.
63. Ivnc. vnde alt. rıche. vnde arm. helfet mít mír klagen.
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Vers 4 bis 6: Mit der helfe, die der Herzog König und Kaiser angedeihen lassen hat, ist die Zeit vom Sommer 1226 bis zum Jahreswechsel 1228/29 gemeint, in der Kaiser Friedrich II. den Herzog von Bayern als Vormund einsetzt bis Heinrich (VII.) die Amtsgeschäfte übernimmt.737 Vers 7 f.: Die Verse „beziehen sich entweder auf 1221, wo Herzog Ludwig im Auftrage des Kaisers ein Heer ins Heilige Land führte, an der unglückseligen Expedition nach Damiette teilnahm, aber durch den Waffenstillstandsvertrag mit Sultan el-Khamil noch Schlimmeres verhütete, oder auf die diplomatische ‚Rückendeckung‘ für Friedrich II. vor dessen eigenem Kreuzzug (1227/28)“738. Vers 9 f.: Diese Verse „spielen entweder auf den oben erwähnten, auf päpstlichen Wunsch durchgeführten Kreuzzug von 1221 (Meyer, Schönbach)739 an oder auf den Friedensschluß von San Germano […] 1230, bei dessen Verhandlung Ludwig zwar entgegen kaiserlichem Wunsch nicht anwesend war, aber unter den 33 vom Papst ausgesuchten Bürgen erscheint […]“740. Vers 11: Hintergrund ist die Absicht Heinrichs (VII.), sich von seiner Frau Margarete scheiden zu lassen.741 Von diesem Vorhaben abgebracht, hat ihn wohl maßgeblich Abt Konrad von St. Gallen.742 Von einer Einflussnahme Ludwigs I. von Bayern ist nichts bekannt, Schönbach überlegt jedoch, ob Wernher hier Kenntnisse hatte, die sich schlicht nicht bis heute erhalten haben könnten.743
737 Vgl. Gebhardt, Bd. 6, S. 223–227. Diese Deutung findet sich auch bei: Meyer, S. 89; Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 103; Müller: politische Lyrik, S. 98. 738 Müller: politische Lyrik, S. 98. 739 Vgl. Meyer, S. 89; Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 103. 740 Müller: politische Lyrik, S. 98 f. Letztere Position vertritt von der Hagen (vgl. HMS 4, S. 517). 741 Vgl. HMS 4, S. 517; Meyer, S. 90; Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 103; Müller: politische Lyrik, S. 99. Schönbach hält fest, dass Heinrich (VII.) dies wohl „zwischen dem Tode Herzog Leopolds am 28. Juli 1230 und der Ermordung Herzog Ludwigs von Bayern am 15. September 1231 betrieben haben [muß]“ (Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 104). 742 Vgl. Gebhardt, Bd. 6, S. 233. 743 Vgl. Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 103 f. Und auch Pinnow mag Wernhers Hinweis auf das Eingreifen Ludwigs I. den Wahrheitsgehalt nicht gänzlich absprechen (vgl. Pinnow, S. 29–41).
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Ton V, Korpus in J
Inhaltliche Ähnlichkeit mit anderen Texten vgl. zu Vers 7: Freidank 155,8 f.: si sprechent: „aleiz unde rît in din lant hin über mer.“ 744 (Spiewok, S. 130)
Metrik 6 2m a A8kb A7mc A 6 2m a 5 A8kb A7mc A4md 2A 4 k e A6md 10 A 6 k e A7mf A9mf
Júnc undẹ ált, rîchẹ únde árm, helfet mít mir klágen
dem kéiser únde dem knegẹ ist hélfẹ an ím erlságen: er kúnde daz rchẹ also beríhten úndẹ also besétzèn, daz éz ânẹ álle wérre stúont über élliu díutschiu lánt. daz lánt über mérẹ wære gár verlórn wanne sne stárken rǽ tè. der babes únde der kéiser haten grozen zórn,
also er éz gescháffen hábe, got gébe, dáz ez ím dort báz erge!
Literatur Brunner: Bruder Wernher, Sp. 899 • Doerks, S. 6 • Gent, S. 99, 145 f. • Gerdes: Beiträge, S. 77 f., 177 und Anm. 1, 179 und Anm. 4, 190 f. • Gerdes: Zeitgeschichte, S. 148 • HMS 4, S. 517 • Kemetmüller, S. 31, 51, 83–86, 87, 92, 237 • Lamey, S. 8, 20, 26 • Meyer, S. 89 f. • Müller: politische Lyrik, S. 98 f. • Nolte/Schupp, S. 78 f., 390 f. • Pinnow, S. 29–41 • Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 100–105 • Scholz: Reichsidee, S. 18 • Vetter, S. 264.
744 Im Gegensatz zu V,63,7 ist hier gerade nicht das Heilige Land gemeint. Angesprochen werden vielmehr die Kreuzfahrer, die zurück in ihre Heimat kehren sollen.
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Ton V, Korpus in J
64. Owe dır werlt owe ẏm der dır volgen mvͦz. (J61) Owe dır werlt owe ẏm der / dır volgen mvͦz. Dın lon íſt / valſch du gís den angel nach der / ſuͦ ze ẏmmer. Du tzuhes mír den / halm alſo eẏner ıvngen katzen vor. / Ich habe an dẏnen wec geſetzet / mẏnen vuͦ z. 5 Ez ne wılle got ıch we/ne daz ıch dır langer (volge) nẏmmer. Du / treıſt vntruwe vnde allen haz of dí/me rucke empor Dín leben ıſt ſam eín rıcher trovm. Der nach dem ſla/fe vuͦ r ſwíndet Dv has ín mẏnen / mvnt geſtecket eẏnen tzovm. 10 Der / mích der wıtze nahen hat vuͦ r blẏn/det Nacket wart ıch tzvͦ dír geborn / vnde ſcheıde ouch bloz von dır. Eẏn / lẏnín tuͦ ch vuͦ r mẏne ſcame vnde an/ders nícht gıs du tzvͦ none mẏr. /
5 volge interlinear nachgetragen
64. Owe dır werlt owe y˙m der dır volgen mvͦz.
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Ôwê, dir werlt, ôwê, im, der dir volgen muoz, dîn lôn ist valsch, dû gîst den angel nâch der süeze iemer. dû ziuhest mir den halm alsô einer jungen katzen vor. ich habe an dînen wec gesetzet mînen vuoz; 5 ezne wile got, ich wæne, daz ich dir langer volge niemer. dû treist untriuwe unde allen haz ûf dîme rücke empor. dîn leben ist sam ein rîcher troum, der nâch dem slâfe verswindet. dû hâst in mînen munt gestecket einen zoum, 10 der mich der witze nâhen hât verblindet. nacket wart ich ze dir geborn unde scheide ouch blôz von dir; ein lînin tuoch vür mîne schame unde anders niht gîst dû ze nône mir.
61 J, 21 [20] C 1 Ôwê] So we. ôwê] ſo we. 2 valsch] krank. nâch der süeze iemer] iem nach d ſvͤſſe. 3 in C mit V. 6 getauscht (vgl. J24/C38). 4 habe an] han ın. 5 es we̅de got vo̅ hímle ſo wene ıch dır volge̅ mvͤſſe. 6 in C mit V. 3 getauscht (vgl. J24/C38). dín vor dû (Versehen?). haz] valſch. dîme] dıne̅. 7 leben] lon. sam] als. 8 verswindet] ſwı ̅det. 9 gestecket einen] geſtríket dıne̅. 10 da vo̅ mı ̅ lıp ın dıner lere erblındet. 11 nacket wart ich ze dir geborn] ze dır ıch nakent wart geborn. 12 ze nône] zelone. 3 (= 6 in C) als. 6 (= 3 in C) vn̅. 11 vn̅. 12 vn̅. 1 volgen: im Sinne von ‚befolgen, Folge leisten, gehorchen‘ 2 angel: Neben ‚Stachel (z. B. einer Biene)‘ auch in der Bedeutung ‚Fischangel‘ belegt, allerdings deutet diu süeze hier eher auf eine Insektenmetaphorik hin (also ‚Stachel‘). Der Stachel „meint das schmerzliche Ende weltlicher Annehmlichkeit“ (Gerdes: Beiträge, S. 120), d. h. auf Schönes folgt unweigerlich Schmerzhaftes. 10 erblinden: mit Gen. (der witze) ‚blind werden, erblinden‘ 12 (vür mîne) schame: Hier kann entweder ‚Schamgefühl, Schamhaftigkeit‘ gemeint sein oder jedoch körperlich die ‚Schamgegend, Geschlechtsteile‘. Abhängig davon, wie man schame versteht, bekommt auch vür eine andere Bedeutung: ‚für (oder gegen) meine Scham‘ oder ‚vor meine Scham, zum Schutz meiner Scham‘ nône: eigentlich ‚die neunte Stunde des Tages, Mittag (der Tag von sechs Uhr an gerechnet), und der um diese Zeit in den Klöstern abgehaltene Gesang‘, hier jedoch ‚der Himmelfahrtstag (weil Christus um diese Stunde gen Himmel gefahren sein soll)‘
HMS 2: V,1 Sch 29
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Ton V, Korpus in J
Übersetzung Ach, (schlimm) für dich, Welt, ach (schlimm) für ihn, der dir folgen muss! Deine Entlohnung ist betrügerisch, du lässt dem Süßen immer den Stachel [folgen. Du ziehst den Grashalm wie bei einer jungen Katze vor mir her. Ich habe meinen Fuß auf deinen Weg gesetzt; 5 wenn Gott es nicht möchte, glaube ich, dass ich dir nicht mehr länger folgen [werde. Du hebst Untreue und jegliche Feindseligkeit auf deinem Rücken empor. Dein Leben ist wie ein kostbarer Traum, der nach dem Schlaf vergeht. Du hast ein Zaumzeug in meinen Mund geschoben, 10 das mich an meinen Verstand beinahe blind gemacht hat. Nackt wurde ich in dich hineingeboren und gehe auch nackt von dir; ein Leinentuch zum Schutz meiner Scham und nichts sonst schenkst du mir [zum Himmelfahrtstag.
Inhalt V,64 behandelt das von und in der Welt hervorgerufene Leid des Sprechers bzw. aller Menschen.745 Laut Gerdes zeige die Formulierung in Vers 1 ôwê, im, der dir volgen muoz, dass Bruder Wernher bzw. das Ich hier nicht nur für sich allein, sondern „für jeden, der der Welt ,volgen muoz‘“746 spreche. Und tatsächlich lässt der allgemeine Tonfall des ersten Verses vermuten, dass das anschließend Gesagte auf alle Menschen zu beziehen ist; dennoch fällt auf, dass abgesehen von Vers 1 im Rest des Spruches nicht mehr explizit auf die Gemeinschaft angespielt wird, der Fokus vielmehr ausschließlich auf das Ich gerichtet ist.747 Zur Steigerung und Dramatisierung der (An-)Klage wird die Welt personifiziert und den gesamten Spruch über apostrophiert.748 Dadurch entsteht der
745 Vgl. dazu auch V,65. 746 Gerdes: Beiträge, S. 122. 747 Überall dort, wo die „Interaktion“ zwischen Welt und Mensch beschrieben wird, wird ausschließlich das Ich als Leidtragender angeführt (vgl. ich [V. 4, zweimal 5, 11], mir [V. 3 und 12], mînen [V. 4, 9 und 12], mich [V. 10]); auf die Gesellschaft an sich – z. B. umschrieben durch das indefinite man – wird nirgends hingedeutet. 748 Vgl. dû (V. 2, 3, 6, 9 und 12), dir (zweimal V. 1, 5, zweimal 11), dîn (V. 2, 4 und 7), dîme (V. 6). Zur personifizierten Frau Welt vgl. Stammler, u. a. S. 35–40 und 41–46.
64. Owe dır werlt owe y˙m der dır volgen mvͦz.
551
Eindruck, dass es allein in der Hand der Welt – nicht etwa in der der Menschen – liegt, dass es dem Sprecher (bzw. den Menschen) besser ergeht. Die Welt wird demnach nicht nur als aktiv, sondern sogar bewusst negativ agierend dargestellt.749 Dabei werden vom Sprecher – in Wernhers gewohnt plastischer Darstellungsweise –750 die unterschiedlichsten Beispiele genannt, die seine Klage in Vers 1 (Ôwê, dir werlt, ôwê, im, der dir volgen muoz) rechtfertigen sollen:751 Von der unaufrichtigen Entlohnung, die letztlich nur dazu dient, den Sprecher an der Nase herumzuführen (vgl. V. 2 f.),752 über untriuwe (V. 6) und haz (V. 6) bis hin zu trügerischen Verlockungen (vgl. V. 9 f.).753 Besonders augenscheinlich hebt der Sprecher dabei immer wieder darauf ab, dass ihm beinahe keine andere Wahl gelassen werde, als der Welt zu folgen bzw. Folge zu leisten (vgl. V. 1, 3 und 9 f.). Zwar deutet er in Vers 4 f. an, dass er vorhat, sich der Welt zu widersetzen,754 allerdings wirken die anschließenden Schilderungen des Leidgeprüften eher resignierend denn aufbegehrend. Dies kommt in den Schlussversen am deutlichsten zum Tragen: In einer abschließenden Bilanz bringt der Sprecher das Gesagte dadurch auf den Punkt, dass er den Umstand, [n]acket wart ich ze dir geborn unde scheide ouch blôz von dir (V. 11), als eine Art Beweis für die ultimative Schlechtigkeit der Welt wertet. Die Nacktheit wird hier nämlich nicht als Zeichen der Reinheit oder Unverfälschtheit angesehen, sondern als Hinweis auf Ausgeliefertsein, Armut und Machtlosigkeit.755 Und da dieser Zustand von Geburt an bis zum Tod des Sprechers währt, er also in der Phase dazwischen scheinbar keine Gelegenheit erhält, an diesem
749 Vgl. V. 2 dû gîst den angel nâch der süeze iemer, V. 3 dû ziuhest mir den halm alsô einer jungen katzen vor, V. 9 dû hâst in mînen munt gestecket einen zoum. 750 Vgl. V. 2 dû gîst den angel nâch der süeze iemer, V. 3 dû ziuhest mir den halm alsô einer jungen katzen vor, V. 6 dû treist untriuwe unde allen haz ûf dîme rücke empor, V. 7 f. dîn leben ist sam ein rîcher troum, der nâch dem slâfe verswindet, V. 9 f. dû hâst in mînen munt gestecket einen zoum, der mich der witze nâhen hât verblindet. 751 Schönbach führt Bibelstellen an, die er zu V,64 in Beziehung setzt (vgl. Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 56 f.). 752 Zur Bedeutung der süeze vgl. eingehender Gerdes: Beiträge, S. 120 f.; zum Bild der Katze bzw. den Verführungen, denen der Sprecher hinterherläuft (vgl. auch V. 7 f.), vgl. ebd., S. 121 f. 753 Vgl. zu Vers 9 f. auch II,30 (v. a. V. 1 f. und 12), in dem troum und slâf den Sprecher ebenfalls täuschen und in die Irre führen. 754 Was genau ist hier gemeint? Spielt der Sprecher auf seinen (baldigen?) Tod an, der als eine Art Befreiung zu verstehen wäre, solange Gott ihn (vorerst) nicht verhindert? Oder bedeutet es, dass der Sprecher gedenkt, sein Schicksal endlich selbst in die Hand zu nehmen, und der Welt nicht mehr länger gestatten will, ihn zu täuschen und ihm Kummer zu bescheren? Gerdes schreibt dazu lediglich: „Er ist auf den Weg der Welt […] geraten (4) und wird der Welt Folge leisten müssen (5).“ (Gerdes: Beiträge, S. 121) 755 Vgl. dazu auch VI,72,5: sie scheident von der werlte blôz zuo (von) gote hin.
552
Ton V, Korpus in J
Umstand etwas zu ändern (vgl. V. 12), erscheint das Leid noch erdrückender, denn es dauert ein Leben lang. Die Parallelüberlieferung weist einige Varianten auf, die V,64 z. T. eine andere Richtung geben. Am entscheidendsten sind m. E. die Varianten der Verse 2 (kranc statt valsch), 7 (lôn statt leben) und 12 (ze lône statt ze nône). Sie alle konzentrieren sich thematisch auf den lôn, den der Sprecher erhält bzw. gerade nicht erhält. Indem die Entlohnung in Vers 2 kranc, also gering, ausfällt und in Vers 7 darüber hinaus der lôn auf den Traum beschränkt bleibt, also nicht echt, nur fiktiv ist, ergänzen die beiden Verse sich inhaltlich, wie es in J aufgrund des Lexems leben in Vers 7 nicht möglich ist. Die Lesart von C läuft somit auf eines der zentralen Themen der Sangspruchdichtung hinaus: das Verlangen nach Lohn. Im vorliegenden Fall bleibt dieser aus. Nun ja, nicht ganz: Immerhin bekommt der Sprecher nach seinem Tod ein lînîn tuoch […] ze lône (V. 12). Ein Beleg dafür, wie kranc der Lohn der Welt tatsächlich ausfällt. Aufgrund der Wiederholung des Lexems lôn in den Versen 2, 7 und 12, also über den gesamten Spruch hinweg, erscheint die Lesart von C inhaltlich kohärenter, während J das Augenmerk auf die Darstellung der unterschiedlichsten Ausprägungen der Verkommenheit der Welt richtet. Des Weiteren ist noch auf die Verse 6 und 10 hinzuweisen: In Vers 6 schreibt C valsch statt haz, so dass hier nicht die Vielfalt der Schlechtigkeit hervorgehoben wird, also untriuwe und haz, sondern in erster Linie Unaufrichtigkeit und Treulosigkeit benannt werden (untriuwe und valsch). Vers 12 schließlich unterscheidet sich deutlicher von der Lesart in J: dâ von mîn lîp in dîner lêre erblindet. Entscheidend ist der Gebrauch von lîp statt witz. Während es in J darum geht, dass das Zaumzeug, das die Welt dem Sprecher angelegt hat, ihn hinsichtlich seines Verstandes beinahe blind gemacht hat – gemeint ist wohl, dass er nahezu keinen eigenen Gedanken mehr fasst, da er von dem Zaum der Welt gelenkt wird –, ist C etwas freier zu verstehen. Hier wird der Sprecher als Person756 blind durch die lêre der Welt, also durch deren An- oder Unterweisung dank des Zaumzeugs.
Inhaltliche Ähnlichkeit mit anderen Texten vgl. zu Vers 1: Walther L 21,10 (hier V. 1 und 10): Sô we dir werlt, […] (V. 1); wê dir, […] (V. 10) (Schweikle: Walther, Bd. 1, S. 240) 756 Ich verstehe mîn lîp als Umschreibung für die Person, also ‚ich‘, da m. E. weder ‚Körper‘ noch ‚Leben‘ in Kombination mit lêre sinnvoll erscheint. Es geht m. E. auch in C weniger um
64. Owe dır werlt owe y˙m der dır volgen mvͦz.
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Walther L 122,4 (hier V. 4): ouwê werlt, […] (Schweikle: Walther, Bd. 2, S. 398) vgl. zu Vers 7 f.: Job 20,8; Jes 29,8 Walther L 75,17 (hier V. 6 f.): dô ích sô wunneclîche was in troume rîche. (Schweikle: Walther, Bd. 2, S. 282) vgl. zu Vers 9: Jes 30,28 und 37,29; Job 30,11; Hes 29,4 und 38,4; 2. Kön 19,28 Walther L 37,24 (hier V. 1): Tumbiu werlt, ziuch dînen zoum, […] (Schweikle: Walther, Bd. 1, S. 206) vgl. zu Vers 11: Job 1,21; Pred 5,14; 1. Tim 6,7; Ps 49,18 Walther L 67,8 (komplett, hier v. a. aber V. 3): wir scheiden alle blôz von dir, (Schweikle: Walther, Bd. 2, S. 444) Freidank 177,1 f.: Zer werlde komen wir âne wât; in swacher wât ouch sie uns lât. (Spiewok, S. 150) vgl. zu Vers 12: Winsbeke 3,9 f.: dir volget niht wan alsô vil, ein lînîn tuoch vür dîne scham. (Frischeisen, S. 142) Freidank 177,2–4: Zer werlde komen wir âne wât; in swacher wât ouch sie uns lât. Zer werlde ich blôzer komen bin, diu lât mich ouch niht füeren hin. (Spiewok, S. 150) Regenbogen VI,3 (V. 9): ein linin tuoch ja so wol her! (HMS 3, S. 354)
Metrik A6ma A8kb A7mc A6ma 5 2A 8 k b A7mc A4md A4ke A6md 10 A 6 k e 7mf A9mf
alsộ habẹ ezne wíle gót, ich wǽ ne, daz ích dir lánger vólge níemèr. untriuwẹ, undẹ, rückẹ dîn lében ist sám ein rcher tróum, der nach dem slafe verswíndèt.
nácket wárt ich ze dír gebórn unde schéidẹ ouch bloz von dír; schamẹ, undẹ
die reine körperliche Blindheit, sondern um die Unfähigkeit des Menschen, mit all seinen Sinnen (inkl. des Verstandes) sehen zu können.
554
Ton V, Korpus in J
Literatur Doerks, S. 2 • Gerdes: Beiträge, S. 24 Anm. 2, 119–123, 125, 127, 133, 151 Anm. 2, 174 und Anm. 3, 179 und Anm. 4, 181 und Anm. 8, 183 und Anm. 4, 199 • HMS 4, S. 522 • Kemetmüller, S. 5, 41, 220 f. • Lamey, S. 26, 27 • Meyer, S. 78 • Nolte/Schupp, S. 146 f., 411 f. • Roethe, S. 305 • Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 65 f. • Vetter, S. 248.
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Ton V, Korpus in J
65. So we mẏr armen we daz ıch ſo rechte weız. (J62 N, U) So we mẏr armen we daz ıch ſo rechte weız. Wenıch quam vnde wer ıch bẏn vnde waz ıch werden mvͦze. Dar an ſoldıch / gedenken wol daz wer der ſele heıl Nv ıſt des lanc daz ıch mích des von kẏnde vleız. 5 Nach al der werlde lone dıe hat / mích ín ır ſuͦ ze. Dar an gewıſet daz ıch han mẏt manígen ſvnden teıl Ich han leıder | (?) (gar) vıl vuͦ r born. Des guͦ ten daz ıſt mẏn / vorchte Vnde weız ouch wol ıch han vuͦ r ſchuldet ſẏnen tzorn. 10 Der mích vnde al dív werlt vz níchte worchte | Mır ne kome / helfe ıch bín vuͦ r lorn ín lange werende leıt. Roſe ane dorn nv troſte mích deſ ıſt mẏr not vnde al der krıſtenheít. /
7 nicht sicher, ob hinter leıder bewusst ein Strich gesetzt wurde oder ob es lediglich ein Versehen ist; gar interlinear nachgetragen
65. So we my˙r armen we daz ıch ſo rechte weız.
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Sô wê, mir armen, wê, daz ich sô rehte weiz, wan ich kam unde wer ich bin unde waz ich werden müeze! dar an solt ich gedenken wol, daz wær der sêle heil. nû ist des lanc, daz ich mich des von kinde vleiz 5 nâch al der werlde lône. diu hât mich in ir süeze dar an gewîset, daz ich hân mit manegen sünden teil. ich hân leider gar vil verborn des guoten, daz ist mîn vorhte, unde weiz ouch wol, ich hân verschuldet sînen zorn, 10 der mich unde al die werlt ûz nihte worhte. mirne kome helfe, ich bin verlorn in lange werndiu leit. rôse âne dorn, nû trœste mich! des ist mir nôt unde al der kristenheit.
62N J 2 wan: gekürzt aus wannen, ‚woher‘ 4 1. des: adv. Gen., semantisch Gen. der Relation ‚in Bezug (dar-)auf‘ (vgl. Mhd. Gram., § S 75) 2. des: Objektsgen. zu vlîzen von kinde: ‚von Kindheit an‘ vlîzen: Die Sache oder Person, auf die das Bemühen gerichtet ist, wird entweder im Gen. oder durch Präp. bezeichnet (vgl. HWB und BMZ vlîzen). Im vorliegenden Fall ist m. E. nicht ganz klar, ob vlîzen sowohl den Gen. (V. 4 des) als auch Präp. (V. 5 nâch) bei sich führt. Wörtlich hieße es dann ‚Es dauert in Bezug darauf jetzt (schon) lange an, dass ich mich von Kindheit an darum bemüht habe um den Lohn der ganzen Welt‘. (Oder ist nâch adv. zu verstehen, und zwar räuml. im übertragenen Sinne: Das, worum sich das Ich seit seiner Kindheit bemüht hat [nämlich daran zu denken, woher es kam, wer es ist und was aus ihm werden soll], wird dem Lohn der Welt nachgeordnet, das Ich bemüht sich also um diesen noch mehr als um die [Vor-]Sorge für sein Seelenheil.) 6 dar an gewîset: wîsen kann hier entweder als ‚weisen, führen, lenken, leiten‘ verstanden werden, also etwa ‚dorthin gelenkt‘ (= ‚dazu gebracht‘), oder als ‚an-/unterweisen, belehren, unterrichten‘, also ‚darin unterwiesen‘ teil hân: eigentlich ‚teilhaben, Anteil haben‘, ich übersetze hier freier ‚(Sünden) begehen‘ 7 verbern: ‚unterlassen, bleiben lassen‘, hier mit Gen. d. S. (des guoten), wobei ver-bern regulär eigentlich mit Akk. steht und en-bern mit Gen. 9 verschulden: ‚verdienen, verschulden‘ 11 mirne kome helfe: exzipierende Konstruktion (‚es sei denn‘) (vgl. Mhd. Gram., § S 159) lanc: Aufgrund des Kontextes übersetze ich hier mit ‚ewig, endlos‘. 12 nôt sîn: mit Dat. d. P. (mir) und Gen. (des) ‚ich habe etwas nötig‘
HMS 3: V,6 Sch 76
558
Ton V, Korpus in J
Übersetzung Oje, über mich Armen, oje darüber, dass ich so genau weiß, woher ich kam und wer ich bin und was aus mir werden soll! Daran sollte ich gut und gerne denken, das wäre ein Segen für die Seele. Es dauert in Bezug darauf jetzt (schon) lange an, dass ich mich von Kindheit an [um den Lohn der ganzen Welt bemüht habe. 5 Die hat mich mit ihrer Süße dazu gebracht, dass ich viele Sünden begangen habe. Ich habe leider überaus viel Gutes unterlassen, das ist meine Sorge, und (ich) weiß auch genau, dass ich dessen Zorn verdient habe, 10 der mich und die ganze Welt aus Nichts heraus geschaffen hat. Ich bin verloren in ewig andauerndem Leid, es sei denn, mir wird geholfen. Rose ohne Dorn(en), tröste mich jetzt! Das habe ich und die ganze Christenheit [nötig!
Inhalt V,65 ähnelt von seiner Ausrichtung her V,64, denn auch hier steht das Sprecher-Ich im Mittelpunkt – sogar noch ausdrücklicher, als dies in V,64 der Fall ist. Es liegt kein Vers vor, in dem das Ich nicht unmittelbar in Erscheinung treten würde.757 Die inhaltliche Nähe der beiden Sprüche geht so weit, dass einzelne Schlagwörter aufgegriffen werden (so v. a. der werlde lône und ir süeze [beides V. 5])758 und auch der Stropheneingang beider Sprüche ähnlich ist: Ôwê, dir werlt, ôwê, im, […] (V,64) – Sô wê, mir armem, wê, daz ich […] (V,65). Inhaltlich knüpft V,65 beinahe nahtlos an V,64 an: Dieser endet mit dem wenig tröstlichen Blick auf den Tod und die Art, wie die Welt den Menschen bzw. dessen leibliche Hülle aus dem Diesseits verabschiedet – beinahe nacket (V,64,11), nur mit einem lînin tuoch[e] (V,64,12) bekleidet. Der erste Stollen von V,65 führt dieses Thema nun fort, allerdings nicht auf körperlicher, sondern auf seelischer Ebene. Der Sprecher ist verzweifelt über den Umstand, daz ich sô rehte weiz, wan ich kam unde wer ich bin unde waz ich werden müeze (V. 1 f.), 757 Vgl. ich (V. 1, dreimal 2, 3, 4, 6, 7, 8 und 11), mîn (V. 8), mir (V. 11 und 12), mich (V. 4, 5 und 12). 758 Es fällt auf, dass der werlde lône in V,64 (v. a. in C) negativ, die süeze hingegen positiv konnotiert ist, während es in V,65 eher umgekehrt ist: Einerseits scheint der lôn erstrebenswert zu sein, andererseits verführt die süeze der Welt zu sündhaftem Verhalten. Vgl. zum weltlichen Lohn Gerdes: Beiträge, S. 127.
65. So we my˙r armen we daz ıch ſo rechte weız.
559
wobei die Dramatik, die durch die Interjektionen in Vers 1 erzeugt wird, durch die repititive Aneinanderreihung der drei w-Sätze in Vers 2, noch gesteigert wird.759 Woher rührt nun diese Verzweiflung des Sprechers? Wenn ihn das Wissen um die eigene Herkunft, die eigene Identität und die persönliche Aussicht auf das Leben nach dem Tod bekümmert (vgl. V. 2) und er in Vers 3 signalisiert, dass er dies alles um des Heils der Seele willen hätte bedenken sollen, dann meint er damit, dass er sehenden Auges in sein Verderben gegangen ist bzw. geht, denn sein lasterhaftes Leben – beschrieben in Vers 4 bis 10 – wird im Jenseits die entsprechende Strafe nach sich ziehen (vgl. V. 11 verlorn in lange werndiu leit). Während der Sprecher in V,64 an seinem Unglück also unschuldig ist oder sich selbst zumindest so inszeniert, besteht in V,65 kein Zweifel daran, dass allein der Sprecher für seine bedrückenden Aussichten verantwortlich ist. So blickt er im Mittelteil der Strophe äußerst selbstkritisch auf sein sündhaftes Leben zurück (vgl. v. a. V. 4–6 und 9) und gibt außerdem zu verstehen, dass er durchaus weiß, wie er es hätte besser machen können (indem er sich nämlich darauf konzentriert hätte, Gutes zu tun [vgl. V. 7 f.]).760 Seine Schuld erscheint also noch größer, da er wider besseres Wissen gehandelt hat. Und all dies ist auch der Grund, weswegen er den zorn (V. 9) Gottes verschuldet (V. 9) hat.761 Der Sprecher macht sich demnach nichts vor, was seine eigene Lage angeht: Wenn ihm nicht geholfen werden sollte, ist er verlorn in lange werndiu leit (V. 11). Seine Verzweiflung gipfelt in der an Maria gerichteten Bitte um Trost und Beistand.762 Und da letztlich alle Menschen sündhaft sind bzw. nur allzu leicht den irdischen Versuchungen erliegen, bezieht der Sprecher die gesamte Christenheit in seine Bitte mit ein (vgl. V. 12). Mit den beiden Schlussversen (speziell mit Vers 11) werden die Sorge und Aussichtslosigkeit des ersten Stollens auf eindringliche Weise bestätigt. Der Spruch schlägt abschließend also den Bogen zurück zum Anfang der Strophe, wobei der Mittelteil (V. 4–10) auch weggelassen werden kann, ohne dass die übrigen Verse (V. 1–3 und V. 11 f.) dadurch unverständlich würden, Strophenanfang und ‑ende nehmen vielmehr nicht nur formal, sondern auch inhaltlich eine Klammerfunktion ein. 759 Schönbach führt vor dem Hintergrund von Vers 2 nachfolgende „volkstümliche[n] Sentenz“ (Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 105) an: „Ich leb und weiß nit wie lang, Ich stirb und weiss nit wann, Ich far und weiß nit wohin: mich wundert, dass ich froelich bin“ (ebd.). 760 Vgl. zur Analyse des Mittelteils auch Gerdes: Beiträge, S. 127. 761 Analog zu II,34,11 f. beschreibt Bruder Wernher Gott hier ebenfalls als strafende Instanz, wobei der Wortlaut der Passage in II,34 derjenigen in V,65 nicht unähnlich ist: ich vürhte sêre unde wirt im zorn, den slegel wirfet er uns her abe (II,34,12). 762 Vgl. dazu Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 105 und Gerdes: Beiträge, S. 127 sowie BMZ dorn, 1. a.
560
Ton V, Korpus in J
Historischer Hintergrund Aufgrund der Aussage in Vers 4 (nû ist des lanc, daz ich mich des von kinde vleiz) ist evtl. davon auszugehen, dass der Spruch entstanden ist, als sich Bruder Wernher bereits in fortgeschrittenerem Alter befunden hat.763
Inhaltliche Ähnlichkeit mit anderen Texten vgl. zu Vers 1 f.: Freidank 18,18 f.: Ichn weiz selbe niht ze wol, wer ich bin und war ich sol; (Bezzenberger, S. 84) vgl. zu Vers 12: Walther L 19,5 (hier V. 9): rose âne dórn, […] (Schweikle: Walther, Bd. 1, S. 86)
Metrik A6ma 8kb A7mc A6ma 5 A8kb A7mc 4md A4ke 2A 6 m d 10 A 6 k e 2A 7 m f 9mf
wán ich kám unde wér ich bín unde wáz ich wérden mezè!
nâch ál der wérlde lonè. diu hat mich ín ir sezè dar án gewset, dáz ich han mit mánegen snden téil. ích hân léider gar víl verbórn des gúoten, daz íst mîn vórhtè, unde wéiz ouch wól, ich han verschúldet snen zórn, undẹ mirne kóme hélfẹ, ich bín verlórn in lánge wérndiu léit. rosẹ âne dórn, nû trœ́ste mích! des íst mir not undẹ ál der krístenhéit.
Literatur Doerks, S. 11 • Gerdes: Beiträge, S. 24 Anm. 2, 125–127, 133, 176 und Anm. 4, 177 und Anm. 1, 179 und Anm. 4, 181 und Anm. 4, 183 und Anm. 4 • HMS 4, S. 522. • Kemetmüller, S. 86, 237 • Lamey, S. 9, 22 f., 26, 27 • Leitzmann, S. 164 • Nolte/ Schupp, S. 148 f., 412 • Meyer, S. 106 • Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 105 f. Vetter, S. 265.
•
763 Vgl. auch Meyer, S. 105 und 106; Lamey, S. 23; Doerks, S. 11; Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 105 f.; Kemetmüller, S. 86.
562
Ton V, Unikal in C
Unikal in C 66. Als ıema̅ kvmt d vo̅ d ſtırmarke vert (C22, U) Als ıema̅ kvmt d vo̅ d ſtırmarke vert· / ob er den tugentrıche̅ ſehe vo̅ orte vn̅ / ob er ſı geſvnt vn̅ oͮch mıt froͤıde̅ lebe· ſı ſpre/che̅t alle er ſı d ſchande̅ gar vhert· 5 vn̅ dc / nv luͥ zel ıema̅ lebt dſıch ım des genehe· / dc er ſo wılleklıche als er nah hohe̅ eren / ſtrebe· ald oͮch geſvnt mıt froͤıde̅ ſı· ſo wır/de ıch vro d mere· dar nah zehant ſo wont / mır ſa eín trure̅ bı· 10 des ıch vıl lıhte vn̅ oͮch / vıl ſanfte enbe· vn̅ dc nu luͥzel ıema̅ lebt / dıe vrı als er von ſchande̅ ſín· dvínde ıch / leıder fv̍nfe níht vo̅ vnglant zebge vnz / an den rín· /
66. Als ıema̅ kvmt d vo̅ d ſtırmarke vert
563
Als ieman kumt, der von der Stîrmarke vert, ob er den tugentrîchen sæhe von Orte und ob er sî gesunt und ouch mit vreuden lebe – sie sprechent alle, er sî der schanden gar verhert 5 unt daz nû lützel ieman lebt (?), der sich im des genæhe, daz er sô willeclîche als er nâch hôhen êren strebe – ald ouch gesunt mit vreuden sî, sô wirde ich vrô der mære. dar nâch zehant sô wont mir sâ ein trûren bî, 10 des ich vil lîhte und ouch vil sanfte enbære. unt daz nû lützel ieman lebt, die vrî als er von schanden sîn, der vinde ich leider vünfe niht von Ungerlant ze berge unz an den Rîn.
22 [21] C davor: 21 [20] C = 61 J danach: 23 [22] C = 59 J Zum Modus in V. 1–7: Die konditionalen Nebensätze (V. 3, 7) stehen im Konj. Präs. (vgl. Mhd. Gram., § S 192, 4.), wobei unklar ist, wieso dieser nicht auch im einleitenden Als ieman kumt steht (vgl. hierzu evtl. Mhd. Gram., § S 192, 3.). Der Konj. Prät. von sehen (V. 2) geht wohl auf Reimzwang zurück (sæhe : genæhe), denn analog zu V. 3 und 7 wäre auch in V. 2 Konj. Präs. (sehe) zu erwarten. Der Konj. Präs. in V. 4–6 schließlich kommt durch indirekte Rede zustande und ist aufgrund des parenthetischen Charakters dieser Verse unabhängig von dem Modus der übrigen Verse zu sehen (zu hsl. lebt [V. 5] vgl. leben [V. 5]). Mit Blick auf die Übersetzung behalte ich nur den Konj. Präs. der indirekten Rede bei und wechsele in den übrigen Versen in den Ind. Präs. 4 verhert: Part. Prät von verhern, mit Gen. d. S. (der schande) ‚berauben‘ bzw. ‚beraubt‘ 5 lützel: Litotes leben: Aufgrund der indirekten Rede müsste hier analog zu den finiten Verben sî (V. 4), genæhe (V. 5) und strebe (V. 6) eigentlich Konj. Präs. lebe stehen. 7 gesunt mit vreude sî: Ich übersetze etwas freier mit ‚sich in guter Gesundheit befinden‘. 8 Unklar ist, wieso vrô hier prädikativ zu werden und nicht wesen verwendet wird. Aufgrund von werden erhält die Aussage eine potenziell futurische Ausrichtung, die V. 9 f. jedoch nicht fortführt. 9 bî wonen: wörtlich ‚beiwohnen, dabei sein, mit sein‘, hier freier übersetzt ‚empfinden‘ 10 sanfte: hier ‚mit geringer Mühe, bequemlich, leicht‘ enbern: mit Gen. (des) ‚ohne etwas sein, entbehren, worauf verzichten‘ 11 lützel: hier zusammen mit ieman m. E. keine Litotes die: Inkongruenz des Numerus zwischen Bezugswort (lützel) ieman und Rel.pron. die; evtl. ist dies auf den Reimzwang von sîn : Rîn zurückzuführen (der Sg. [lützel ieman…, der vrî als er von schanden] ist käme hierfür nicht infrage). Hsl. ſín kann übrigens die md. Form der 3. Pl. Ind. Präs. oder aber regulär 3. Pl. Konj. Präs. sein (vgl. Mhd. Gram., § M 107). 12 ze berge: ‚hinauf, aufwärts‘
HMS 2: V,2 Sch 30
564
Ton V, Unikal in C
Übersetzung Wenn jemand eintrifft, der aus der Steiermark kommt, (und) wenn er den tugendvollen Herrn von Ort sieht und wenn dieser gesund ist und auch unbeschwert lebt – sie sagen alle, er sei der Schande ganz und gar beraubt 5 und dass gegenwärtig niemand lebe, der ihm darin nahekomme, dass er so bereitwillig wie er um hohes Ansehen kämpfe – oder sich auch in guter Gesundheit befindet, dann werde ich mich über diese Nachricht freuen. Sofort danach empfinde ich sodann eine Traurigkeit, 10 auf die ich sehr leicht und auch absolut mühelos verzichten könnte. Und (selbst) wenn nun wenige leben, die so frei von Laster sein mögen wie er, von denen finde ich von Ungarn hinauf bis an den Rhein leider keine fünf.
Inhalt V,66 fügt sich in die Reihe derjenigen Sprüche des fünften Tones, die einen konkreten Herrn preisen. In diesem Fall geht es um einen von Orte (V. 3) (zum historischen Hintergrund siehe weiter unten). Dem Sprecher geht es um die Gesundheit und die Stimmungslage des Herrn, denn er erklärt, dass es ihn freuen würde (vgl. V. 8), wenn ihm jemand, der von der Stîrmarke vert (V. 1), berichten könnte, dass er sî gesunt und ouch mit vreuden lebe (V. 3).764 Warum er darüber froh wäre, verdeutlicht die Parenthese in Vers 4 bis 6. In ihr erfolgt das eigentliche Lob des Herrn – er ist frei von Schande (vgl. V. 4) und kein anderer kommt ihm in seinem Streben nach hohem Ansehen nahe (vgl. V. 5 f.) –, wobei dieses jedoch nicht, wie vielleicht zu erwarten wäre, vom Sprecher artikuliert wird, sondern von einer nicht greifbaren oder näher bestimmbaren Gruppe (vgl. V. 4 sie).765 Dies hat zwar einerseits zur Folge, dass – aus Sicht des Sprechers bzw. Dichters – ein möglicher Dank für das Lob (theoretisch) keinen konkreten Empfänger besitzt, andererseits wird das Lob durch diese Verallgemeinerung (vgl. V. 4 sie sprechent alle) gesteigert, da es allgemein anerkannte Tatsachen wiedergibt. Grundsätzlich auffällig ist der Umstand, dass Bruder Wernher das Lob als eine Art Nebensächlichkeit aus764 Der Inhalt der Verse 3 und 7 erinnert an V,61,3: sît ich den tugenden rîchen wol gesunden hân gesên, wobei die beiden Sprüche jedoch nicht auf denselben Herrn Bezug nehmen. 765 Hierin unterscheidet sich V,66 evtl. von den anderen Lobsprüchen (z. B. V,61 und V,62), in denen der Sprecher keinen Zweifel daran lässt, dass er der Initiator des Lobs ist. Allerdings tritt das Ich in V,66 auch nicht völlig in den Hintergrund (vgl. V. 8, 9 und 12).
66. Als ıema̅ kvmt d vo̅ d ſtırmarke vert
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zeichnet, indem er es in eine Parenthese „einschließt“. Soll damit signalisiert werden, dass das Gesagte zwar erwähnt werden sollte, andererseits aber eine doch so weit verbreitete Tatsache ist, dass man eigentlich nicht mehr ausführlich darauf einzugehen braucht? Dass es sich bei den Versen 4 bis 6 tatsächlich nur um einen Einschub handelt, wird spätestens mit Vers 7 deutlich. Dieser weist eine derart große Ähnlichkeit zu Vers 3 auf, dass davon auszugehen ist, dass diese Wiederholung vorrangig dazu dient, dem Rezipienten wieder ins Gedächtnis zu rufen, wo der Spruch vor dem Einschub stehengeblieben war. Darüber hinaus impliziert der erneute Wunsch, der von Orte (V. 3) möge gesunt mit vreuden (V. 7) sein, eine besondere Fürsorge, die der Sprecher gegenüber dem Gepriesenen an den Tag legt – ob nun ehrlich empfunden oder bedingt durch die Hoffnung auf Lohn sei einmal dahingestellt. Der Sprecher selbst tritt erst in Vers 8 unmittelbar in Erscheinung, hier nun allerdings unzweifelhaft als Lobender: Er erklärt, dass ihn die Nachricht von der Gesundheit und freudigen Stimmung des Herrn freuen würde (vgl. V. 8). Die Gefühlslage des Ich wird also von der des Herrn abhängig gemacht. Dies bedeutet für das Ich jedoch nicht nur Freude, sondern auch Leid, wie die abschließenden Verse (v. a. V. 9) deutlich machen: Der Umstand, daz nû lützel ieman lebt, die vrî als er von schanden sîn (V. 11), stimmt den Sprecher traurig (vgl. V. 9), worauf er gut und gerne verzichten könnte (vgl. V. 10). Dieser Kummer des Sprechers kommt einer weiteren Steigerung des Lobs gleich: Wo der Sprecher auch war – von Ungerlant ze berge unz an den Rîn (V. 12) –766, er hat leider keine fünf anderen Männer ausfindig machen können (vgl. V. 12), die dem von Orte (V. 3) gleichkämen.
Historischer Hintergrund Hinter dem von Orte (V. 3) aus der Stîrmarke (V. 1) verbirgt sich ein Hartnid bzw. Hertnid von Ort(e). Da sich jedoch wohl gleich drei von Orte mit dem Namen Hartnid/Hertnid urkundlich belegen lassen, alle jedoch zeitlich versetzt, herrscht in der Forschung Uneinigkeit darüber, um welchen der drei es sich am ehesten handeln könnte. Was noch erschwerend hinzu kommt, ist der Umstand, dass es mir – im Gegensatz zu Anton E. Schönbach – anhand der weiterführenden Sekundärliteratur nicht gelungen ist, die drei besagten Hart-
766 Schönbach fragt sich, ob „man im Mittelalter Ungarn für ein Tiefland gehalten und gemeint [hat], es ginge von da nach dem Rhein aufwärts ze berge“ (Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 67). Vgl. eingehendere Überlegungen dazu ebd., S. 67 f.
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nids zeitlich klar voneinander zu trennen. So ist der Name Hartnid von Ort767 – ohne (!) den Zusatz I., II. und III. o. Ä. – in Andreas von Meillers Regesten bzw. in Albert von Muchars Geschichte des Herzogtums Steiermark insgesamt von den Jahren 1137 bis 1260 belegt. Die einzige sichere Aussage, die ich dabei zu treffen vermag, ist die, dass Hartnid II. (?) im Jahr 1245 im Gefängnis gestorben ist,768 so dass sich alle namentlichen Erwähnungen, die sich nach 1245 finden, auf Hartnid III. (?) beziehen müssen. Dieser findet sich bei Muchar erstmals im Jahr 1258 und anschließend noch einmal im Jahr 1260,769 wobei Schönbach darauf hinweist, dass eben jene Urkunde, die Hartnid III. (?) 1260 als Zeuge unterzeichnet haben soll, „eine Fälschung“770 sei. Dennoch vertritt Schönbach die Ansicht, dass Hartnid III. (?) (und mit ihm die Familie von Ort) bald nach 1260 gestorben sein muss, womit er wohl nicht ganz falsch liegen mag, denn unter den Edlen, die als Zeugen des Gerichtstages König Ottokars II. in Graz am 10. Dezember 1262 genannt werden, fehlt Hartnids III. (?) Name,771 was bei solchen urkundlich bezeugten Ereignissen in den Jahren bzw. Jahrzehnten zuvor nicht der Fall ist. Darüber hinaus deutet auf Hartnids III. (?) Tod auch hin, dass für den 25. Juli 1263 festgehalten ist, dass König Ottokar II. „die, vom Hartnid von Ort erledigte Vogtei […] selbst übernehmen, führen und Niemandem Andern zu Lehen übertragen wolle“772. Während also die beiden jüngeren Hartnids (nämlich II. [?] und III. [?]) zumindest mit Blick auf ihren Todeszeitpunkt ungefähr eingeordnet werden können, muss ich mich mit Blick auf den ältesten Hartnid auf die Erkenntnisse Schönbachs stützen, wonach Hartnid I. (?) „schon 1170 in einer Urkunde genannt [wird]“773 und bei Ulrich von Liechtenstein im Zusammenhang mit dem Turnier zu Friesach Erwähnung
767 Es werden unterschiedliche Schreibungen des Namens verwendet: Hartnid de Horte, Hartnidus de Orte, Hartnidus de Orth, Harthnidus de Orthe, Hartnid von Ort sowie Hertnidus de Ort, Hernidus de orth und Hertnidus de Orte (vgl. Muchar, Bd. 5 sowie das Namensregister bei Meiller, S. 336). 768 Vgl. Muchar, Bd. 5, S. 189. 769 Vgl. ebd., S. 272 und 285. 770 Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 71. 771 Vgl. Muchar, Bd. 5, S. 295 und Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 71. 772 Muchar, Bd. 5, S. 295. 773 Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 69; vgl. auch Steir. Urkundenbuch, S. 7 (in den Nachträgen zum ersten Band). Wie passen dazu aber die Belege von 1137 und 1141 in Meillers Regesten (vgl. Meiller, S. 24, Abschnitt 2 und S. 28, Abschnitt 24)? Beziehen sich diese auf einen vierten, noch älteren Hartnid? In diese Richtung deutet Brunners Artikel im Verfasserlexikon, in dem er zu V,66 schreibt: „Hartnit IV. gest. 1230? Hartnit V., gest. 1245?“ (Brunner: Bruder Wernher, Sp. 898) Brunner geht somit nicht nur von einem vierten Hartnid aus, sondern sogar von insgesamt fünf Grafen von Ort mit dem Namen Hartnid.
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findet774. Sein Todesjahr wird von Schönbach auf den „Spätsommer 1229“775 gelegt. Daraus ergibt sich nun folgendes Bild: – Hartnid I. (?): *vor 1170 (?), † Spätsommer 1229 (?) – Hartnid II. (?): *k. A., † April oder Mai 1245 – Hartnid III. (?): *k. A., † bald nach 1260 (?) Während sich die älteren Untersuchungen auf Hartnid II. (?) zu konzentrieren scheinen776 – dies lässt sich nicht immer genau sagen, da hier z. T. nicht zwischen den einzelnen Hartnids unterschieden wird –777, geht Schönbach davon aus, dass nur Hartnid I. (?) infrage kommen könne, da Hartnid II. (?) aufgrund seines gewalttätigen, kompromisslosen Auftretens, für das ihn schließlich Herzog Friedrich II. zu einer Gefängnisstrafe verurteilt,778 unmöglich mit einem derartigen Lob bedacht worden sein könne.779 Hartnid III. (?) andererseits sei auszuschließen, weil er „über die Zeit des Bruder Wernher“780 hinausfalle. Demzufolge datiert Anton E. Schönbach V,66 auf „weder lange vor 1229, noch lange nach 1229“781. Dieser Auslegung widerspricht Vetter.782 Er hält „den bezug auf Hertnid III. für wahrscheinlicher als den auf Hertnid I.“783, da „[a]us den jahren vor dem tode Hertnids I.“784 nicht bekannt sei,
774 Vgl. L 66,11; L 81,20; L 85,17 (vgl. Spechtler: Ulrich von Liechtenstein, Str. 192,5; 253,4 und 269,2). Vgl. dazu außerdem Muchar, Bd. 5, S. 101. 775 Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 69. Schönbach verweist darauf, dass sich eine Urkunde vom 4. März 1229 noch auf Hartnid I. beziehe, während sich in einer Urkunde vom 14. September 1229 bereits sein Sohn zu Wort melde. Darauf aufbauend setzt Schönbach seine Datierung an. 776 Vgl. HMS 4, S. 519; Meyer, S. 84; Lamey, S. 22; Doerks, S. 3. 777 Lamey macht keinen Unterschied zwischen Hartnid I. (?) und dessen Sohn Hartnid II. (?): Er verweist auf Zeugnisse aus dem Jahr 1186 (= Hartnid I. [?]), legt den Tod Hartnids andererseits aber ins Jahr 1244 (= Hartnid II. [?]) (vgl. Lamey, S. 22). Auf diese Unstimmigkeiten weist auch Schönbach hin (vgl. Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 69). Edwards spricht aus unerfindlichen Gründen von „Hartnit IV. von Orte […] der vor 1230 starb“ (Edwards, S. 306), und bringt somit nicht nur noch einen vierten Hartnid ins Spiel (vgl. dazu auch Anm. 773 in dieser Arbeit), sondern scheint vor allen Dingen dessen Lebensdaten mit denen Hartnids I. (?) durcheinanderzubringen. 778 Vgl. Muchar, Bd. 5, S. 187–189; Meiller, S. 180, Abschnitt 145. 779 Vgl. Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 71. 780 Ebd. 781 Ebd. 782 Auch Müller hält Schönbachs Argumentation für den Ausschluss von Hartnid II. (?) und III. (?) für „fragwürdig“ (Müller: politische Lyrik, S. 96). 783 Vetter, S. 249. 784 Ebd.
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Ton V, Unikal in C
daß br. W. in Steiermark sich aufgehalten hat und über die dortigen verhältnisse so aufgeklärt war. Eine enge beziehung zu diesem herrn setzt aber der spruch voraus. In der regierungszeit Hertnids III. dürfen wir br. W. eine gründliche kenntnis der österreichischen länder viel eher zumuten; […].785
Und Schönbachs Argument, Hartnid III. (?) sei nach Wernhers Zeit einzuordnen, hält Vetter nicht zu Unrecht entgegen, dass Wernher „1251 noch dichtete“786, was Schönbach eigentlich selbst hätte wissen können, immerhin datiert er z. B. I,12 auf die Jahre 1250/51. Problematisch an Vetters Deutung ist – und dies gesteht er selbst ein –, dass er nicht weiß, „von wann der ruhm Hertnids III. datiert“787. Dies hat zur Folge, dass der Abfassungszeitpunkt nicht näher eingegrenzt werden kann788 als auf die Zeitspanne zwischen etwa 1245 (Tod Hartnids II. [?]) und bald nach 1260.
Inhaltliche Ähnlichkeit mit anderen Texten vgl. zu Vers 12: Walther L 56,38 (hier V. 1 f.): Von der Elbe unz an den Rîn únde wíder únz in Ungerlant, (Schweikle: Walther, Bd. 2, S. 162)
Metrik A6ma A 5 (?) k b A 7 2m c A6ma 5 A8kb A 7 2m c A4md A4ke A6md 10 A 6 k e 3A 7 m f A9mf
785 786 787 788
Ortẹ allẹ willeclîchẹ wirdẹ lîhtẹ, sanftẹ vindẹ, bergẹ
Ebd. Ebd. Ebd. Darauf weist auch Kemetmüller hin (vgl. Kemetmüller, S. 44).
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Literatur Brunner: Bruder Wernher, Sp. 898 • Doerks, S. 3 • Edwards, S. 306 • Gerdes: Beiträge, S. 60 Anm. 1, 83, 149 und Anm. 3, 157 Anm. 4, 174 und Anm. 3 und 5, 177 Anm. 7, 179 und Anm. 4, 181 und Anm. 5, 192 und Anm. 2, 193 • Gerdes: Zeitgeschichte, S. 150 f. • HMS 4, S. 519 • Kemetmüller, S. 42–44, 87, 221 • Lamey, S. 7, 10 f., 22789 • Meyer, S. 82 f., 84 • Müller: politische Lyrik, S. 96 f. • Roethe, S. 340 • Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 67–71 • Vetter, S. 249.
789 Lamey bringt z. T. die Spruchzählungen durcheinander: Statt C22 schreibt er z. T. C21 (vgl. Lamey, S. 7 und 10).
Ton VI In Ton VI überliefert J insgesamt fünf Sprüche (VI,67–VI,71), C lediglich ein Unikat (VI,72). Was die Bauform angeht, so liegt zwar ebenfalls Kanzonenform vor, allerdings weicht der Aufbau der beiden Stollen des Aufgesangs klar von dem der vorausgegangenen Töne ab, die entweder durch verschränkten Reim (Ton I und V sowie anschließend die Töne VIII und IX) oder durch Schweifreim (Ton II, III und IV) verbunden sind. Im Vergleich dazu erscheint die Reimbindung des sechsten Tones – wie die von Ton VII – komplexer. Die Stollen weisen Kreuzreim auf, wobei jedoch der zweite und vierte Vers eines jeden Stollens einen Reim des jeweils anderen Stollens aufgreift abac dcdb. Metrische Formel:790 Aufgesang: 4ma 6kb 4ma 6kc / 4md 6kc 4md 6kb // Abgesang: 4me 6kf 4me 8kf 8mg 7mg
790 Vgl. andererseits RSM 2,1, S. 303 (hier ebenfalls Ton VI). Das RSM führt für Vers 13 statt meiner acht Hebungen bzw. Takte nur sieben Hebungen bzw. Takte an, wofür ich keine Erklärung habe. Zwar erscheint speziell VI,67 in Vers 13 insofern unregelmäßig, als hier tatsächlich nur sieben Hebungen bzw. Takte vorliegen, alle übrigen Sprüche von Ton VI weisen jedoch in jedem Fall acht Hebungen bzw. Takte auf, und zwar sowohl nach Lesart der Handschrift als auch nach der von Schönbach. Zur Melodie vgl. Brunner: Spruchsang, S. 432, 487; Brunner: Töne, S. 55 f.; Taylor, S. 106 f.; Spechtler: Bruder Wernher, Bd. II, S. 36; Holz/Saran/Bernoulli, Bd. I, S. 29 f. und Bd. II, S. 7 f.; Rettelbach, S. 86.
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Ton VI, Korpus in J
Korpus in J 67. Swer ſıch mẏt vremden lıvten wıl (J63) Swer ſıch mẏt vremden / lıvten wıl bewerren. Der ſol ſvͦnen / mít den kvnden. Wıl er der vıen/de machen vıl. Daz ſchadet ẏm ob / er vuͦ ret vrıvnde veıle. 5 Nv mer/ket an den von oſterlant. wıe dem / gelvngen ſẏ an ſẏme teıle. Do er / an den vıende̅ nícht ne vant. Do / ſolt er an den vrívnden han ır vun/den. Mẏn rat den wıſen wol be/haget. 10 Man ſol den vrívnt tzvͦ // grozen noten behalten Swer / vıende vlíut vnde vrıvnde ıaget. ſol / dem gelíngen des mvͦz (ouch) gelucke (ſere) wal/ten. Vvıe ob der vrıvnt tzvͦ vıende wırt. / vnde tzvͦ (den) vremeden ſwert. / Da ſcıcht eín klemme da von ẏm vn/ſelde wırt beſchert /
1f. Reimpunkt irrtümlich nach bewerren, statt nach wıl gesetzt? Infolge dessen auch Majuskel bei Der falsch gesetzt? 7 Oberhalb von er wurde eine Neume radiert; hier wurde vielleicht nachträglich versucht, den Vers metrisch zu glätten, indem statt eines zweisilbigen Auftaktes (Dô er) durch Aphärese ein einsilbiger hergestellt wird (Dô ẹr). 12 ouch interlinear nachgetragen (zuerst zwischen des und muͦz, dort aber radiert), ſere ebenfalls interlinear nachgetragen; beide Nachträge sind wohl aus metrischer Sicht zu sehen, denn dank der beiden zusätzlichen Lexeme (noch dazu einmal einsilbig, einmal zweisilbig) kommt der Vers auf die insgesamt acht erforderlichen Hebungen bzw. Takte. 13 den interlinear nachgetragen; ob dieser Nachtrag ebenfalls metrisch begründet ist, ist nicht ganz klar, da das Metrum des Verses grundsätzlich unregelmäßig erscheint (regulär hat Ton VI in Vers 13 acht Hebungen bzw. Takte, in VI,67 jedoch nur sieben).
67. Swer ſıch my˙t vremden lıvten wıl.
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Swer sich mit vremden liuten wil bewerren, der sol süenen mit den kunden. wil er der vîende machen vil, daz schadet im, ob er vüeret vriunde veile. 5 nû merket an dem von Ôsterlant, wie dem gelungen sî in sîme teile: dô er an den vîenden niht ne want, dô solt er an den vriunden hân erwunden. mîn rât den wîsen wol behaget: 10 man sol den vriunt ze grôzen nœten behalten. swer vîende vliut unde vriunde jaget, sol dem gelingen, des muoz ouch gelücke sêre walten. wie, ob der vriunt ze vîende wirt unde ze den vremeden swert? dâ g’schiht ein klemmen, dâ von im unsælde wirt beschert.
63 J, 34 C 4 schadet im] krenket ın. 5 merket] ſeht. 6 sî in sîme] ıſt zeſíne̅. erwunden] ſın erwı ̅den. 9 mîn rât] mıt rate.
7 ne want] erwant. 8 hân
7 dor. 10–14 in C 10 wa̅ ſol zenot dıe ku̅de̅ fruͥn/de behalte̅· ſw vıe̅de fluͥhet fruͥnde ıaget· // ob de̅ gelınget wol dc mvͦs vıl gar geluͥke / walde̅· ıſt dc dfruͥnt zevıende wırt vn̅ vnd / zvͦ de̅ froͤmde̅ ſwt· da wırt eín kle̅men dc / ır eıme vnſelde wırt beſchert· / 2 bewerren: ‚verwirren, verwickeln‘ (vgl. auch verwerren: ‚entzweien‘), hier freier ‚sich anlegen‘ süenen: ‚zur Sühnung bringen, versöhnen, ausgleichen‘ 4 veile (vüeren): hier ‚das, was man wagt oder preisgibt‘ 5 dem: Ich gehe bei hsl. den von Dat. Sg. Mask. aus, wobei das /m/ im Auslaut zu /n/ wurde. 6 teil: hier st. Mask. ‚derjenige Teil, der bei Verteilung eines Ganzen einem zufällt‘, also allgem. ‚Teil, Anteil, Eigentum‘, hier ist das Land gemeint 7 winden: ‚das Ende finden, aufhören‘; zu hsl. anlautendem 〈v〉 für /w/ vgl. Mhd. Gram., § L 84 8 erwinden: mit Präp. an ‚ablassen von‘ 11 vliut: Inf. vlien (Kontr. zu vliehen) jagen: ‚verfolgen, (nach-)jagen‘ 12 walten: mit Gen. (des) hier ‚sich annehmen, sorgen für, pflegen‘ Über die Übersetzung bzw. Bedeutung von V. 11 und 12 herrscht in der Forschung z. T.
HMS 2: VI,2 Sch 34
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Ton VI, Korpus in J
Uneinigkeit: Die Mehrheit der Arbeiten zu diesem Spruch führt keine unmittelbare Übersetzung an, Gerdes übersetzt „wer gejagt von Feinden seinerseits Freunde jagt und gleichwohl gut davonkommt, muß schon sehr viel Glück haben“ (Gerdes: Beiträge, S. 62 f.). Dieser Auslegung widerspricht Strasser, da dies eine „völlig abwegige Übersetzung“ (Strasser, S. 247 Anm. 55) sei. Für sie bringen besagte Verse vielmehr zum Ausdruck, dass der Versuch, „in Notzeiten die kunden vriunde zu erhalten trachten […] Glück [bringt]“ (ebd., S. 247). Sie scheint die Verben vliehen und jagen hier positiv konnotiert zu verstehen: ‚Wer auch immer vor Feinden flüchtet, sich also von ihnen fernhält, und stattdessen Freunde verfolgt, also loyal ist und nicht von ihnen ablässt, dem winkt das Glück, wenn er in diesem Verhalten erfolgreich ist.‘ Zwar scheint der Text eine derartige Auslegung ebenfalls zuzulassen, dennoch tendiere ich eher zu Gerdes‘ Deutung, und zwar aufgrund dessen, weil in dem konditionalen Nebensatz suln und nicht sîn/wesen als finites Verb steht. Dieses suln impliziert (zusammen mit dem konditionalen Charakter), dass für den Erfolg Glück vorausgesetzt werden muss, und nicht umgekehrt, das Glück aus dem Erfolg hervorgeht, wie Strasser meint. Abschließend sei noch eine weitere Überlegung bzgl. der Bedeutung von V. 11 in den Raum gestellt: Wäre es auch denkbar, dass hier die Subst. vîende und vriunde vertauscht wurden? Dass es also swer vriunde vliut unde vîende jaget heißen muss? Diese Lesart würde statt des negativen Verhaltens gegenüber Freunden und Verwandten analog zu V. 1 f. eher dasjenige gegenüber den Feinden stärker in den Blick nehmen. 13 swern ze: mit Dat. (den vremeden) ‚sich eidlich verbinden, verschwören‘ 14 g’schiht: ge-Präfix hier entweder aus metr. Gründen getilgt oder/und auf mnd. Einfluss zurückzuführen (vgl. Mnd. Gram., § 221, VI. und § 423); um der besseren Verständlichkeit willen ergänze ich die gekürzte Form g’- in der Normal. klemmen: Ich gehe nicht von st. Fem. (vgl. hsl. klemme [< klemde ‚Klemmung, Einengung’]), sondern von st. Neutr. (klemmen) aus, da die Form des unbest. Art. ein statt einiu heißt. Dementspr. ergänze ich bei hsl. klemme in der Normal. das auslautende ‑n. (Wurde hier vielleicht hsl. der Nasalstrich vergessen?) Mit klemmen (wörtlich ‚das Einzwängen, Einklemmung‘) ist wohl so etwas wie ‚Bedrängen, Beengtheit, Klemme‘ gemeint.
67. Swer ſıch my˙t vremden lıvten wıl.
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Übersetzung Jeder, der sich mit ausländischen Menschen anlegen möchte, der soll sich mit den Einheimischen versöhnen. Wenn er sich viele Feinde machen möchte, schadet ihm das, wenn er Freunde preisgibt. 5 Jetzt seht bei dem aus Österreich, wie es dem in seinem Land ergangen ist: Als er gegenüber den Feinden kein Ende fand, da hätte er von den Freunden ablassen sollen. Mein Ratschlag gefällt den Klugen mit Sicherheit: 10 Man soll den Freund in großer Not behalten! Jeder, der vor Feinden flüchtet und Freunde jagt, dessen muss sich auch das Glück, wenn der Erfolg haben soll, übermäßig [annehmen. Wie (ist es), wenn der Freund zum Feind wird und sich mit den Fremden [verschwört? Dort sitzt er in der Klemme, wodurch ihm Unglück zuteilwird.
Inhalt In VI,67 tritt der Sprecher in der Rolle des Ratgebers oder Erziehers auf. Der Fokus richtet sich dabei auf das korrekte Verhalten Freunden gegenüber.791 Mit Blick auf den Aufbau des Spruches erfolgt in den Versen 1 bis 4 zunächst eine allgemeine Belehrung, die dann anschließend durch ein konkretes Beispiel (vgl. V. 5–8) veranschaulicht wird. Daraufhin folgt ab Vers 9 bis zum Ende der Strophe eine zweite Belehrung, in der sowohl der Ratschlag zu Beginn des Spruches als auch das Beispiel des Mittelteils noch einmal gebündelt werden. Die inhaltliche Struktur lehnt sich somit an der formalen an, indem die beiden Stollen genauso wie der Abgesang thematisch jeweils eigenständige Einheiten bilden: − Vers 1 bis 4: Der Spruch kommt ohne Umschweife gleich zu Beginn zur Sache: Es wird davon abgeraten, seine Freunde zugunsten von Fremden zu vernachlässigen (vgl. V. 1 f.), da dies zur Folge haben wird, dass man dann, wenn es darauf ankommt – nämlich, wenn man sich mit Feinden konfrontiert sieht –, keinerlei Unterstützung hat, da man die Freunde ver-
791 Zur Rolle, die das Thema Freundschaft bei Bruder Wernher einnimmt, vgl. die Textbelege in Anm. 389.
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grault hat (vgl. V. 3 f.). Die Belehreung ist sehr allgemein(-gültig) gehalten, was zum einen dadurch unterstrichen wird, dass die Person des Sprechers im Hintergrund bleibt, es also zu keiner Personalisierung kommt, und zum anderen durch den Gebrauch der generalisierenden swer-der-Konstruktion in den ersten beiden Versen. Vers 5 bis 8: An die Belehrung der Eingangsverse schließt zur Verdeutlichung – und wohl auch zur Abschreckung – ein konkretes Beispiel an. Dieses lässt dank der einleitenden Apostrophe an das Publikum (vgl. V. 5 nû merket) keinen Zweifel an der belehrenden Ausrichtung des Gesagten. Darüber hinaus nennt es die Person, die sich gerade nicht an den Rat des Sprechers gehalten hat, nämlich den von Ôsterlant (vgl. V. 5). Das Fehlverhalten dieser Person besteht darin, dass sie sich sowohl mit Feinden als auch mit Freunden anlegt und selbst dann nicht von den Freunden ablässt, wenn sie mit den Feinden eigentlich schon genug „beschäftigt“ wäre (vgl. V. 7 f.). Vers 9 bis 14: Der Abgesang bildet Resümee des zuvor Gesagten und „Schlusswort“ zugleich. Eine besondere Rolle spielt hierbei die Person des Sprechers: Dieser bleibt, abgesehen von der Apostrophe in Vers 5, im gesamten Spruch unsichtbar, einzig hier, zu Beginn der Schlussbelehrung, tritt er hervor, indem er das Nachfolgende unmissverständlich als mîn rât (V. 9) kennzeichnet. Auffällig daran ist, dass er im Gegensatz zu der ansonsten diskreten Zurückhaltung hier umso selbstbewusster auftritt: mîn rât den wîsen wol behaget (V. 9). Zur Bestätigung der Integrität und Berechtigung des Ratschlags verweist der Sprecher also auf die wîsen, deren Autorität anerkannt ist und außer Frage steht. Dass diesen sein Ratschlag sogar wol behaget (V. 9) und der Sprecher es hier nicht scheut, sich selbst indirekt zu loben, zeugt von einem mehr als gesunden Selbstvertrauen. Nach der Einleitung in Vers 9 folgt in Vers 10 zunächst die Belehrung – man sol den vriunt ze grôzen nœten behalten –, der dann in den letzten vier Versen durch zwei unterschiedliche, negativ konnotierte Szenarien zusätzlich Nachdruck verliehen werden soll: Zunächst warnt Vers 11 f. davor, dass schon eine gehörige Portion Glück notwendig sei (vgl. V. 12), um darin erfolgreich zu sein, vor Feinden davonzulaufen und zugleich Freunde zu verfolgen (vgl. V. 11), und im Anschluss daran beschreiben die Verse 13 und 14 zum Abschluss der Strophe noch einmal auf abschreckende Weise, was passiert, wenn ein Freund zum Feind wird und sich mit Fremden verbündet: Statt Unterstützung und Vertrauen, durch die der Einzelne in einer Freundschaft stark und frei in seinem Handeln wird, widerfährt ihm ein klemmen (V. 14), das statt des gelückes (V. 12) unsælde (V. 14) mit sich bringt.
67. Swer ſıch my˙t vremden lıvten wıl.
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Die Parallelüberlieferung in C weicht v. a. im zweiten Teil der Strophe z. T. etwas von der Lesart in J ab: Bis einschließlich Vers 9 fällt C nicht durch inhaltlich relevante Varianten auf, die in J und C divergierenden Lexeme sind in ihrer Bedeutung vielmehr als gleichwertig anzusehen. So weisen etwa schaden (in J) und krenken (in C) in Vers 4 beide auf den selbst verursachten Schaden bzw. die selbst verursachte Schwächung hin. Und auch die beiden Lexeme merken (in J) und sehen (in C) im fünften Vers sind äquivalent: Das Publikum wird apostrophiert und zur Aufmerksamkeit aufgefordert. Ab Vers 10 setzen die Fassungen in J und C jedoch etwas andere Akzente: So wird etwa in Vers 10 in C das Gewicht weniger stark auf die nôt gelegt (in J: ze grôzen nœten – in C: ze nôt), als vielmehr auf die Rolle, die die vriunde (in C im Plural) spielen und die durch das Attribut kunde betont wird. Dies wiederum vergrößert zugleich das Ausmaß des Verlusts dieser Freunde. Während Vers 11 in beiden Handschriften weitgehend identisch ist, unterscheidet sich Vers 12 in C dahingehend von J, dass er ohne das Hilfsverb suln konstruiert ist. Impliziert die Verbindung aus gelingen und suln in J lediglich die Möglichkeit des Gelingens, nicht aber, dass dieses tatsächlich bereits eingetreten ist, so erscheint der Satz bzw. dessen Aussage in C aufgrund dessen, dass gelingen das finite Verb ist, weniger unwahrscheinlich. Es ist beinahe so, als sei es nur eine Frage der Zeit, bis dem gelinget wol (V. 12 in C). J birgt im Gegensatz dazu stärker den Duktus des Eventuellen, was durch den konditionalen Charakter des (uneingeleiteten) Nebensatzes noch verstärkt wird. Mit Blick auf die Schlussverse 13 und 14 beschränkt sich die Varianz lediglich auf die Lexemebene, hinsichtlich des Aussagegehalts weichen beide Lesarten hingegen kaum voneinander ab: Grundsätzlich geht es darum, eine hypothetische Frage (in J) bzw. Aussage (in C) einzuleiten. Womit ein weiterer Unterschied zwischen J und C genannt wäre: J formuliert Vers 13 als Frage, deren Ende zudem mit dem Versende zusammenfällt. In C bilden Vers 13 und 14 dagegen eine syntaktische Einheit, die nicht in Frageform konstruiert ist, sondern in Aussageform. J erscheint hier somit etwas kommunikativer, indem die Frageform den Dialogcharakter (und somit evtl. die Aufführungssituation) etwas stärker andeutet. Dessen ungeachtet gehen die Schlussverse in beiden Handschriften inhaltlich jedoch in dieselbe Richtung: Die Verkehrung eines Freundes in einen Feind, der sich zudem mit Fremden zusammentut, kann nicht ohne bittere Konsequenzen bleiben.
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Ton VI, Korpus in J
Historischer Hintergrund Unter dem von Ôsterlant (V. 5) wird einhellig Herzog Friedrich II. von Österreich und Steiermark verstanden,792 wobei sich der Spruch auf die Auseinandersetzungen zwischen Herzog Friedrich II. und seinen Nachbarn Ungarn und Böhmen sowie Kaiser Friedrich II. bezieht. Im Zusammenhang mit diesem Konflikt (und aus anderen Gründen) wenden sich in den Jahren 1236 bis 1239 viele österreichische Adlige und Gefolgsleute von Herzog Friedrich II. ab und seine Handlungen haben im Sommer 1236 schließlich seine Ächtung zur Folge.793 Der Entstehungszeitpunkt des Spruches wird demnach in das Jahr 1236 gelegt.794 Obgleich VI,67 unzweifelhaft diese historischen Ereignisse zugrunde gelegt werden können, weist Lamey darauf hin, dass der Spruch dennoch keinen „direkte[n] Vorwurf“795 an den Herzog enthalte, sondern „der Tadel […] in der Form allgemein gültiger Lebensregeln ausgesprochen“796 werde, weil Wernher in Friedrich „den angestammten Herrscher [ehrte]“797 und diesem gar „persönlich zu Dank verpflichtet sein [mochte]“798. Und: Dass er dennoch ein offenes Auge für des Fürsten Unrecht behält und seiner Ueberzeugung lauten Ausdruck zu geben wagt, ist der deutlichste Beweis für die Unbestechlichkeit und Unerschrockenheit von Br. W. Charakter.799
Gent und später auch Gerdes stimmen zumindest dem zuerst genannten Punkt zu: Bruder Wernher sagt gerade nichts über die konkreten politischen Hintergründe, „sondern verkündet ganz einfach, daß es verderbenbringend ist und sich rächt, wenn man die „kunden vriunde jaget“ und es dafür mit den „vremeden“ hält“800. Auf diese Weise erscheint das Gesagte scheinbar als all792 Vgl. HMS 4, S. 518; Meyer, S. 95; Lamey, S. 24 f. und 27; Doerks, S. 7; Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 79 f.; Vetter, S. 252; Gent, S. 125; Kemetmüller, S, 50; Scholz: Reichsidee, S. 40; Gerdes: Beiträge, S. 61 und 63; Gerdes: Zeitgeschichte, S. 125; Müller: politische Lyrik, S. 99; Strasser, S. 246; Knapp, S. 284. Man beachte außerdem die Zusammenhänge zwischen II,28 und VI,67. 793 Vgl. einführend Gebhardt, Bd. 6, S. 121, 251 f. sowie 260. 794 Vgl. Meyer, S. 95; Doerks, S. 8; Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 80; Gent, S. 125; Kemetmüller, S, 50; Gerdes: Beiträge, S. 63; Müller: politische Lyrik, S. 99; Knapp, S. 284. 795 Lamey, S. 25. 796 Ebd. 797 Ebd. 798 Ebd. 799 Ebd. 800 Gent, S. 125.
67. Swer ſıch my˙t vremden lıvten wıl.
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gemeine Lehre, „die auf verschiedene vergangene wie zukünftige Fälle angewendet“801 und Herzog Friedrich II. lediglich „als bestätigendes Beispiel für die Richtigkeit der vorgetragenen Wahrheit“802 verstanden werden kann.
Inhaltliche Ähnlichkeit mit anderen Texten vgl. Freundschaft bei Walther: L 30,29 (hier v. a. V. 1 f.): Swer sích des stæten friundes dur bermuot behêret und ér den sînen durch des frömden êre unêret, (Schweikle: Walther, Bd. 1, S. 146) evtl. L 104,23 (hier V. 6): […] und mich sô vil an frömede liute lâze. (‚[…] auf fremde Leute verlasse‘) (Schweikle: Walther, Bd. 1, S. 314)
Metrik A A A A 5 A A A A A 10 A A A A A
4ma 6kb 4ma 6kc 4md 6kc 4md 6kb 4 2m e 6kf 4 2m e 8kf 7 (?) m g 7mg
daz schádet ím, ob er veret vríunde véilè. nû mérket án dem von Osterlánt, ẹr
man sól den vríunt ze grozen nœ́ten beháltèn. swer vende vlíut unde vríunde jáget, wie, ób der vríunt ze vende wírt unde zé den vrémeden swért?
Literatur Doerks, S. 7 f. • Gent, S. 125 • Gerdes: Beiträge, S. 61–63, 64 und Anm. 5, 68, 73, 149 Anm. 7, 154 und Anm. 3, 177 und Anm. 1, 179 und Anm. 4, 182 und Anm. 2, 206 • Gerdes: Zeitgeschichte, S. 122, 124 f. • HMS 4, S. 518803 • Kemetmüller, S. 23, 34, 49 f., 222 • Knapp, S. 284 • Lamey, S. 24 f., 26, 27 • Meyer, S. 95 • Müller: politische Lyrik, S. 99 f. • Roethe, S. 37, 339 • Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 79 f. • Scholz: Reichsidee, S. 40 f. • Strasser, S. 246 f. • Vetter, S. 251 f.
801 Gerdes: Zeitgeschichte, S. 122. 802 Gerdes: Beiträge, S. 206. 803 Von der Hagen verwendet versehentlich (?) die falsche Strophennummer: Statt VI,2 schreibt er VI,1 (vgl. HMS 4, S. 518).
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68. Nıeman ſol guͦt vuͦr mír vuͦr ſparn. (J64, U) Nıeman ſol guͦ t vuͦ r mír vuͦ r/ſparn. Sınt daz ıch gedenke / vıl der ıare. han ıch der lande vıl / durch varen. So ken ıch ouch der / dorfe deſte mere 5 Ich kan ouch deſ/te baz geſagen. Wa mít d man / vuͦ r luſet wırde vnde ere. Swar / ıch daz índert mvͦz vuͦ r dagen. / Daz vromet vuͦ r ſcanden nícht / kegen eẏme hare Ich wıl ouch / vnvuͦ r worfen ſẏn. 10 Dıe wıle vnde / ıch geroren mac dıe tzvngen So // tvn ıch mít geſange ſchín. Ob ıch / eín ſchelten pruben kan. den alten / vnde den ıvngen Ich meẏne dıe al/ten dıe mít ſcanden haben gelebet / von kíndes ıvgent. Dar tzvͦ meẏn / ıch dıe ívngen dıe da waſſen ane / tugent /
6 Wa evtl. nur mit Minuskel statt Majuskel; bei vuͦr luſet evtl. auch vuͦr luͦſet möglich zu D korrigiert
10 Dıe
68. Nıeman ſol guͦt vuͦr mír vuͦr ſparn.
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Nieman sol guot vür mich versparn, sint daz ich gedenke vil der jâre. hân ich der lande vil durchvarn, sô ken ich ouch der dorfe deste mêre; 5 ich kan ouch deste baz gesagen, wâ mit der man verliuset wirde unde êre; swâ ich daz indert muoz verdagen, daz vrumet vür schanden niht gegen eime hâre. ich wil ouch unverworfen sîn: 10 die wîle unde ich gerüeren mac die zungen, sô tuon ich mit gesange schîn, ob ich ein schelten prüeven kan den alten unde den jungen. ich meine die alten, die mit schanden habent gelebet von kindes jugent, dar zuo mein ich die jungen, die dâ wahsent âne tugent.
64 J 1 vür (mich): regulär mit Akk., md. auch wie hsl. mit Dat. versparn: ‚sparen, schonen‘ 2 sint daz: In der Regel hat ein durch sît/sint daz eingeleiteter Nebensatz temporale oder kausale Bedeutung (vgl. Mhd. Gram., § S 173, 10., § S 176, 1.), in manchen Fällen kann er jedoch auch konzessiven Charakter annehmen (vgl. Mhd. Gram., § S 176, 1.). Ich gehe im vorliegenden Fall davon aus, dass sich V. 2 auf den vorausgehenden Vers bezieht. Aber wie ist sint daz dann zu verstehen: temporal, kausal oder konzessiv? ‚Niemand soll Vermögen für mich schonen, seitdem/weil/obwohl ich an die vielen Jahre denke‘? Wenn mit versparn auf Mildtätigkeit angespielt wird, erscheint mir eine kausale Interpretation am sinnvollsten, da mit der zeitl. Anspielung vil der jâre zusammen mit dem hier wohl rückwärtsgewandten gedenken (‚sich erinnern, gedenken‘) auf die Zeitspanne des Sängerdienstes angespielt wird und gerade diese als Begründung dafür dienen soll, den Sprecher zu entlohnen. Etwas freier übersetzt, hieße es dann ‚Niemand soll meinetwegen Vermögen zurückhalten, weil ich mich an die vielen Jahre erinnere (nämlich diejenigen, in denen ich emsig gesungen habe).‘ 8 gegen (eime hâre): Übereinstimmung ausdrückend ‚so viel wie‘, wörtlich ‚das nützt gegen Schande nicht so viel wie ein Haar‘ (zum bildlichen Ausdruck der Negation vgl. Mhd. Gram, § S 143, hier S. 389) 9 unverworfen: ‚nicht verdächtig (von Zeugen)’; Lamey greift in die hsl. Lesart ein und schreibt unervorhten (‚furchtlos‘), um auf diese Weise eine Beziehung zu VI,71,1–4 herstellen zu können (vgl. Lamey, S. 25). Schönbach und Gent folgen ihm darin kommentarlos (vgl. Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 88 und Gent, S. 18). Leitzmann erklärt m. E. völlig zu Recht, dass „durchaus keine Nötigung [vorliegt], Lameys Änderung […] aufzunehmen“ (Leitzmann, S. 163). Auch Gerdes behält das hsl. unverworfen bei (vgl. Gerdes: Beiträge, S. 156 Anm. 5). 10 die wîle unde: Als Einleitung von Temporalsätzen fungiert der adv. Akk. die wîle (vgl. Mhd. Gram., § S 173, 12.); wieso hsl. Die zu D korrigiert wurde ist unklar
HMS 2: VI,6 Sch 38
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(vgl. auch II,38,7). Da der Akk. von wîle + best. Art. als feste Wendung fungiert, mache ich die hsl. Korrektur rückgängig und schreibe die. 11 schîn tuon: ‚zu erkennen geben, zeigen, beweisen‘ 12 prüeven: hier ‚erkennen, wahrnehmen, bemerken‘
68. Nıeman ſol guͦt vuͦr mír vuͦr ſparn.
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Übersetzung Niemand soll für mich Vermögen schonen, denn ich erinnere mich an die vielen Jahre. Habe ich viele Länder durchreist, so kenne ich auch umso mehr Dörfer; 5 ich bin auch umso besser in der Lage zu berichten, wodurch der Mensch Würde und Ansehen verliert; wo auch immer ich das irgendwo verschweigen muss, nützt das gegen Schande nicht im Geringsten. Ich werde zudem nicht unter Verdacht geraten: 10 Solange ich meine Zunge zu rühren vermag, offenbare ich mit Gesang, wenn ich (bei) den Alten und den Jungen (etwas) Tadelnswertes zu erkennen [vermag. Ich denke an die Alten, die von Kindheit an in Schande gelebt haben, außerdem denke ich an die Jungen, die dort ohne Anstand aufwachsen.
Inhalt VI,68 ist vorrangig auf den Sprecher ausgerichtet, nahezu jeder Vers enthält das Personalpronomen ich. Im Mittelpunkt steht dabei die Selbstwahrnehmung des Sprechers als mahnendes, erzieherisches Korrektiv der Gesellschaft. Und wie auch in II,44 spiegelt der Spruch zudem das Bedürfnis wider, das eigene künstlerische Handeln als integer und unkorrumpierbar herauszustreichen. Der Sprecher (bzw. Dichter) erscheint dementsprechend selbstbewusst und fordert gleich zu Beginn dazu auf, ihm gegenüber bloß nicht sparsam zu sein (vgl. V. 1). Diese Aufforderung zur milte setzt den Maßstab, an dem sich der Sprecher und seine Kunst messen lassen müssen, hoch an, was beim Rezipienten natürlich eine gewisse Erwartungshaltung weckt. Dass er „sein Geld wert“ ist, wird im ersten Stollen zunächst anhand der Erfahrungen, die der Sprecher nicht nur über die Jahre (vgl. V. 2), sondern auch dank seines Daseins als Fahrender gesammelt hat (vgl. V. 3 f.), verdeutlicht:804 Er hat so viel erlebt und so viel gesehen, dass er denkt, sich ein objektives und differenziertes Urteil von der Welt und den Menschen bilden zu können. So kann er durchaus be-
804 Schönbach stellt die Überlegung an, dass der Hinweis auf die Dörfer in Vers 3 vielleicht so verstanden werden könne, dass Wernher „auch gelegentlich seine Kunst unter die reichen Bauern getragen [hat]“ (Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 89).
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rechtigt von sich behaupten, dass [i]ch ouch deste baz gesagen [kan], wâ mit der man verliuset wirde unde êre (V. 5 f.). Dieser selbstbewusste Hinweis auf die eigene Urteilsfähigkeit soll keinen Zweifel daran lassen, dass die fachliche Meinung des Sprechers von Gewicht ist, so dass es überall dort, wo dem Sprecher untersagt wird, die Menschen über wirde unde êre (V. 6) zu belehren, umso schlimmer steht, denn das erzwungene Schweigen ist alles andere als hilfreich gegen die Schande (vgl. V. 8). Der Abgesang stellt dem Redeverbot des zweiten Stollens nun die unerschütterliche Beteuerung des Sprechers gegenüber, sich gar nicht erst dem Verdacht der Bestechlichkeit auszusetzen (vgl. V. 9), sondern Jung und Alt so lange durch Gesang zu tadeln (vgl. V. 11 f.), bis er nicht mehr in der Lage ist, seine Zunge zu rühren (vgl. V. 10). Entgegen aller „Maulkörbe“, die man ihm verpassen mag, bleibt er also standhaft. Und wie zum Beweis endet der Spruch mit ein[em] schelten (V. 12), indem der Sprecher genau sagt, an welche Alten und Jungen er denkt, nämlich diejenigen, die von Kindheit an in Schande gelebt haben (vgl. V. 13), und diejenigen, die âne tugent aufwachsen (vgl. V. 14). Interessant ist übrigens, dass der Sprecher (bzw. Dichter) ausdrücklich sagt, dass das Fehlverhalten mit gesange (V. 11) aufgedeckt wird. Der Gesang, das Wirken als Künstler also, erhält somit explizit auch einen moralischen und erzieherischen Anspruch. Ja, der Gesang wird beinahe als „Waffe“ gesehen, die den Sittenverfall nicht nur aufzeigt (vgl. V. 10–12), sondern ihm zugleich auch vorbeugen soll, wie der zweite Stollen impliziert. Wirft man in der Rückschau noch einmal einen Blick auf die indirekte Forderung nach Lohn in Vers 1, so soll diese im Verlauf des Spruches zum einen durch die Integrität und Unbestechlichkeit des Sprechers (bzw. Dichters) gerechtfertigt werden, zum anderen durch erfahrungsbedingte Objektivität und Differenziertheit, mit denen der Sprecher die Menschen und ihr Verhalten zu beurteilen vermag.
Historischer Hintergrund Speziell die Verse 2 bis 4 deuten darauf hin, dass der Spruch zu einem Zeitpunkt entstanden ist, als Bruder Wernher bereits in höherem Alter war. In diese Richtung gehen auch die Überlegungen von Meyer, Lamey und Doerks.805 805 Vgl. Meyer, S. 77; Lamey, S. 6; Doerks, S. 11. Die von Lamey angeblich vorgenommene Datierung auf das Jahr 1236, die von Schönbach (und anschließend Kemetmüller) kritisiert wird (vgl. Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 89; Kemetmüller, S. 53), vermag ich in Lameys Text nicht ausfindig zu machen.
68. Nıeman ſol guͦt vuͦr mír vuͦr ſparn.
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Inhaltliche Ähnlichkeit mit anderen Texten vgl. zu Vers 1: Ulrich von Liechtenstein L 65,16: der guot von eren nie verspart [bezogen auf den grâven Meinhart] (Spechtler: Ulrich von Liechtenstein, Str. 188,8) vgl. zu Vers 2 f.: Walther L 56,30 (hier V. 1): Ich hân lande vil gesehen (Schweikle: Walther, Bd. 2, S. 160)
Metrik
A A 5 A A A A A 10 A A A A A
4ma 6kb 4ma 6kc 4 2m d 6kc 4 2m d 6kb 4me 6kf 4me 8kf 8 2m g 7 2m g
Níeman sol gúot vür mích verspárn,
wirdẹ, undẹ daz vrúmet vür schánden niht gégen eime harè. wîlẹ, undẹ ob ích ein schélten preven kán den álten únde den júngèn. ich méine die álten, díe mit schánden hábent gelébet von kíndes júgent,
Literatur Doerks, S. 11 • Gent, S. 18 • Gerdes: Beiträge, S. 147 Anm. 1, 154 und Anm. 4, 155, 156 und Anm. 5, 159 Anm. 1, 174 und Anm. 2, 176, 179 und Anm. 7, 180 und Anm. 3, 181 und Anm. 7 • HMS 4, S. 521 • Kemetmüller, S. 4, 53, 80, 87, 224 • Lamey, S. 6, 8, 25, 43 f. Leitzmann, S. 163 • Meyer, S. 77, 114 • Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 89 f. • Vetter, S. 253.
•
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69. Swelıch herre ez mít den vurſten hat. (J65) Swelıch herre / ez mít den vurſten hat. Jn / dem gelıche als erz mít truwen / meẏne. Vnde of ín prubet valſchen / rat. Dıe hat ſıch tzvͦ des wolbes art / geſellet 5 Swen er (da) nach den man/ne gat. tzvͦ holtze vnde anders / nícht. wan ob er vellet. Tzvͦ hant / ſo wírt dem wolbe gach. Wıe er / of ẏm kvm mít lıſten der vnreẏne. / Ir vurſten ſet den vuͦ zen vuͦ r. 10 Daz / ír vch vuͦ r den valſchen wol behuͦ /ten Dıe man an wolbes wẏſe / ſpuͦ r. Daz vnder ſtet e. daz der / valſch bı v̎ begẏnne bruͦ ten Von / eẏnen halme wírt eẏn vívr vnt/zvndet. Der ez nícht vnder ſtat. Da / von eín hus vntbrẏnnet. Daz ez / an dıe ſchure gat. /
4 Dıe zu D korrigiert 5 da interlinear nachgetragen worden zu sein
8 nach lıſten scheint ein Punkt radiert
69. Swelıch herre ez mít den vurſten hat.
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Swelich hêrre ez mit den vürsten hât in dem gelîche, als erz mit triuwen meine, unde ûf in prüevet valschen rât, der hât sich ze des wolves art gesellet. 5 swen er dâ nâch dem manne gât ze holze unde anders niht, wan ob er vellet, zehant sô wirt dem wolve gâch, wie er ûf im kum mit listen, der unreine. ir vürsten, sêt den vüezen vür, 10 daz ir iuch vür den valschen wol behüeten, die man an wolves wîse spür! daz understêt, ê daz der valsch bî iu beginne brüeten! von einem halme wirt ein viur enzündet – der ez niht understât –, dâ von ein hûs enbrinnet, daz ez an die schiure gât.
65 J, 35 C C komplett Swelh fuͥrſte nach de̅ keıſer gat· de̅ ge/lıch als ern mıt truͥwe̅ meíne· vn̅ vf / ın pruͤuet valſche̅ rat· d hat ſıch zım ı ̅ wol/ves wıſ geſellet· 5 d ſlıchet ın de̅ walde nach / de̅ man ıſt dc er ſtruchet ald er vellet· zeha̅t / ſo wırt de̅ wolue gach· dc er vf ím gelıge / der valſche vnreíne· her keıſer ſeht zem / vuͦſſe vuͥr· 10 ır ſult uͥh hínde̅ wol mít wıt/zen hvͤte̅· d uͥch ın wolfes orde̅ ſpuͥr· dc vnd /ſtet enzıt e dc der valſch begı ̅ne bruͤten· vo̅ / eıne̅ halme kumt eín fuͥr· dníht ſín zuͥn/de̅ vndſtat· da vo̅ eín hvs enbrínnet gar / vn̅ an dıe ſchuͥre̅ gat· / 5 Reimpunkt nach nach fehlt 1 hân: tr. ‚halten, behandeln, sich verhalten, betragen‘ 2 meinen: hier ‚eine Gesinnung gegen jemanden in wohlwollender Weise haben‘ 3 ûf: hier mit Dat. (in) ‚für (sie)‘ prüeven: ‚liefern, geben‘, hier etwas freier ‚sich überlegen, aushecken‘ 4 art: ‚Abkunft, Herkunft‘, hier ‚Sippe, Sippschaft‘ gesellen: refl. ‚sich freundschaftlich verbinden, sich gesellen (mit zuo)‘ 5 dem manne: nâch fordert den Dat., deswegen ändere ich hier hsl. den > dem. Handelt es sich bei der hsl. Form um einen nicht untypischen md. Akk.gebrauch? Oder wird schlicht auslautend /m/ > /n/? gân: Ich übersetze aufgrund des Kontextes etwas freier. 6 holz: ‚Wald,
HMS 2: VI,3 Sch 35
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Gehölz‘ 7 gâch werden: ‚Eile haben, mit Eifer streben‘ 8 ûf im komen: wörtlich wohl ‚auf ihm zu liegen kommen‘, bei kum ist das ‑e (Aus metr. Gründen?) bereits hsl. elidiert mit listen: ‚auf schlaue Weise‘ 10 behüeten: Dis hsl. Form behuͦten (regulär behüetet) geht entweder auf Reinzwang zurück (behüeten : brüeten) oder/und ist als mnd. Form der 2. Pl. Ind. Präs. zu sehen (vgl. Mnd. Gram., § 416 und § 419). 11 wîse: ‚Art und Weise‘ spürn: hier ‚wahrnehmen, erkennen‘; ähnlich wie bei behüeten ist das Flexiv dem Reimzwang (vür : spür) untergeordnet, statt 3. Sg. Ind. Präs. spürẹt steht spür. 12 understên: tr. hier ‚zustande bringen, bewirken, erreichen‘, etwas freier ‚gewährleisten, sorgen für‘ der valsch: Hier kann entweder in Anlehnung an die valschen aus V. 10 von einer Person die Rede sein (im Unterschied zu V. 10 nun jedoch im Sg.) oder aber statt eines hinterhältigen Menschen nistet sich eine Sache, nämlich der ‚Betrug, Verrat‘, ein. Ich halte beide Möglichkeiten für legitim und entscheide mich aufgrund des divergierenden Numerus zwischen valschen in V. 10 und valsch in V. 12 für letztere Bedeutung. beginnen: Steht hier im Konj. Präs. um den „prospektivfuturisch[en]“ (Mhd. Gram., § S 185 c)) Charakter des abhängigen Satzes auszudrücken. 13 der ez niht understât: Hierbei handelt es sich von der Form her zwar um einen Relativsatz, funktional ist er jedoch mit dem Bedingungssatz im konditionalen Satzgefüge gleichzusetzen (vgl. Mhd. Gram., § S 168). 14 enbrinnen: ‚in Brand geraten‘ daz: konsekutiv ‚so dass, mit der Folge, dass‘
69. Swelıch herre ez mít den vurſten hat.
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Übersetzung Jeder Herr, der sich den Fürsten gegenüber so verhält, als sei er treu gesinnt, und sich (doch) für sie einen schlechten Ratschlag überlegt, der hat sich zur Sippe des Wolfes gesellt. 5 Immer dann, wenn er dort dem Mann in den Wald hinterherschleicht – und (dies) aus keinem anderen Grund, als für den Fall, dass dieser hinfällt –, drängt es den Wolf sofort (dazu), wie er, der Hinterhältige, sich auf schlaue Weise auf ihn stürzen (kann). Ihr Fürsten, schaut, wohin Ihr Euren Fuß setzt, 10 auf dass Ihr Euch anständig vor den Hinterlistigen, die man an der Art des Wolfes erkennt, hütet! Sorgt dafür, ehe der Verrat anfängt, bei Euch zu nisten! Ein Feuer wird durch einen Grashalm entfacht – wenn man es nicht verhindert –, dadurch gerät ein Haus in Brand, mit der Folge, dass (das Feuer) auf die Scheune [übergreift.
Inhalt VI,69 ist als Warnung vor hinterhältigen Herren zu verstehen. Hierbei greift Bruder Wernher zu Veranschaulichungszwecken einmal mehr auf ein Exempel zurück, das im vorliegenden Fall um den Wolf als Sinnbild von Verschlagenheit und Bösartigkeit kreist (vgl. V. 8 mit listen, der unreine).806
806 Es ist interessant, dass Wernher hier den Wolf und nicht den Fuchs wählt (wie in I,7), der ja, wie etwa der ,Reinhart Fuchs‘ von Heinrich dem Glîchezâre zeigt, noch weitaus hinterlistiger und v. a. cleverer als der Wolf ist. Der Wolf impliziert im Unterschied zum Fuchs jedoch neben der Verschlagenheit auch eine Bedrohung auf körperlicher Ebene, um die es Bruder Wernher hier zu gehen scheint. Schönbach geht ausführlich auf die damals wohl verbreitete Befürchtung ein, dass der Wolf nur darauf warte, dass der Mensch stürze, um sich dann auf ihn zu werfen (vgl. Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 81–83). Dabei beschreibt Schönbach auch die Vorstellung, dass man sich vor dem Wolf versuchte zu schützen, indem man rückwärtsging (vgl. ebd.; vgl. dazu auch III.A.42 [hier V. 9–11] im ,Buch der Natur‘ Konrads von Megenberg [vgl. Luff/Steer, S. 173]). Hierauf wendet Müller zu Recht ein, dass „[n]ichts dagegen in der Strophe davon [steht], daß man rückwärts gehen müsse, um sich vor dem Wolf zu schützen: dies hat erst Schönbach […] aus seinen vielen Parallelstellen hineininterpretiert“ (Müller: politische Lyrik, S. 100; vgl. auch Gerdes: Beiträge, S. 58). Strasser folgt Schönbach übrigens in seiner Deutung (vgl. Strasser, S. 244). Neben Schönbach behandelt auch Teschner die bîspel-haften Elemente des Spruches eingehender (vgl. Teschner, S. 120–123).
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Der Spruch lässt sich in vier Abschnitte unterteilen, die sich an der metrischen Struktur orientieren.807 Demnach stellt der erste Stollen zunächst die Ausgangslage der „Handlung“ sowie die beiden Protagonisten (bzw. Kontrahenten) vor: Einem nicht näher bestimmten Herrn (verallgemeinert: swelh-derKonstruktion [vgl. V. 1 und 4]) werden Fürsten gegenübergestellt, die ebenfalls nicht konkreter beschrieben werden (vgl. V. 1). Im Anschluss daran wird geschildert, wie der hêrre (V. 1) vorgibt, es aufrichtig mit den Fürsten zu meinen (vgl. V. 2), ihnen aber gleichzeitig einen valschen rât (V. 3) erteilt (vgl. V. 3). Ausgehend von diesem Verhalten des Herrn bildet der vierte Vers schließlich den Höhepunkt des ersten Stollens, da nun dank des Rückgriffs auf eine aussagekräftige Figur wie den Wolf das wahre Gesicht des Herrn offenbart wird.808 Die Demaskierung erfolgt somit durch die Maskierung, die wiederum Ausgangslage des zweiten Stollens ist. Hier geht es nämlich nun darum, den in Vers 4 aufgestellten Vergleich des Herrn mit des wolves art (V. 4) zu begründen. Bewerkstelligt wird dies im Rahmen der bîspel-haften Schilderung, wie der Wolf neben dem Mann im Wald herschleicht (vgl. V. 5 f.), in der Hoffnung, dass dieser hinfällt (vgl. V. 6), damit sich der Wolf sofort auf ihn stürzen kann (vgl. V. 7 f.). Anhand dieser „Erzählung“ wird nicht nur die Ahnungslosigkeit und das Ausgeliefertsein des Mannes (= die Fürsten des ersten Stollens) deutlich, sondern vor allen Dingen das Ausmaß der Hinterhältigkeit und Niedertracht des Herrn, der in Gestalt des Wolfes (abgesehen von den listen [V. 7]) jeden menschlichen Zug verloren hat und stattdessen wie ein Raubtier über seine Beute herfällt. Und obgleich mit Einsetzen des Abgesangs die eher narrative Ebene des zweiten Stollens verlassen wird, bleiben die bildhaften Elemente der Verse 5 bis 8 z. T. erhalten (vgl. sêt den vüezen vür [V. 10], brüeten [V. 12]).809 Der Fokus wechselt nun jedoch von dem Hinterhältigen auf dessen Opfer: So rät die Sprecherinstanz, die ansonsten unsichtbar bleibt, den Fürsten, darauf zu achten, wo sie ihre Füße hinsetzen (vgl. V. 9), um sich auf diese Weise vor den valschen (V. 10), [d]ie man an wolves wîse spür (V. 11), zu hüten (vgl. V. 10). Denn hat sich deren Verrat (vgl. V. 12 der valsch) erst einmal bei einem eingenistet (vgl. V. 12 brüeten), wird man ihn nicht mehr wieder los. Dementsprechend kann die Lehre, die in den beiden Schlussversen formuliert wird, zusammengefasst werden unter dem Motto: ,Wehret den Anfängen!‘ 807 Yao gliedert IV,69 in drei Teile: Promythion (V. 1–4), Exempel (V. 5–8) und Auslegung (V. 9–14) (vgl. Yao, S. 125). 808 Bruder Wernher behandelt das Thema der unaufrichtigen Ratgeber auch an anderer Stelle (vgl. III,46,11; III,47 [komplett]), aber im Unterschied dazu, verwendet er in VI,69 nicht den Begriff schalc, um die Hinterhältigkeit der entsprechenden Personen zu unterstreichen, sondern den Vergleich mit dem wolf. 809 Vgl. auch Gent, S. 124.
69. Swelıch herre ez mít den vurſten hat.
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Denn brennt erst einmal ein einzelner Gras- bzw. Strohhalm (vgl. V. 13), so ist es von dort nicht mehr weit, bis auch das Haus und die Scheune in Flammen stehen (vgl. V. 14). Bemerkenswert ist, dass Wernher hier ein Bild (der sich einnistende Wolf/Herr) durch ein anderes (das sich ausbreitende Feuer) veranschaulicht, noch dazu durch eines, das inhaltlich komplett gelöst ist vom Rest des Spruches. Die Parallelüberlieferung in C weicht abgesehen von inhaltlich verwandten und gleichwertigen Varianten810 m. E. nicht signifikant von der Lesart in J ab811 – mit einer entscheidenden Ausnahme: Anstatt von einem hêrren und von vürsten ist in C von einem vürste und dem keiser (vgl. V. 1 und 9) die Rede. Während J also als generelle Belehrung zu verstehen ist, die zur besseren Anschaulichkeit das Verhalten irgendeines Herrn gegenüber irgendwelchen Fürsten aufführt, besitzt C einen historischen Hintergrund. J erscheint im Gegensatz dazu also ent- oder umaktualisiert.812
Historischer Hintergrund Bei der Frage nach der historischen Einordnung hat bereits die inhaltliche Analyse gezeigt, dass sich die Lesart in J kaum dazu anbietet, in einen histori810 Vgl. z. B. Vers 2 ern statt erz, Vers 5 der slîchet in dem walde nâch statt swen er dâ nâch dem manne gât oder Vers 11 in wolves orden statt an wolves wîse. 811 Eugen Thurnher sieht in der Lesart von J hingegen einen „schwerwiegende[n] Eingriff“ (Thurnher, S. 63) und geht sogar so weit zu sagen, „[d]ie Fabel bleibt, aber sie hat ihren tieferen Sinn verloren“ (ebd.), was ich überhaupt nicht nachvollziehen kann. Die Fabel selbst ist in beiden Fassungen (zumindest inhaltlich) identisch, lediglich das Personal variiert, der Sinn bleibt demnach völlig intakt. Und auch die Ansicht, „[d]ie beiden Schlußverse werden [in J, Anm. d. Verf.] zu einer allgemeinen Lebenslehre“ (ebd.), impliziert, dass dies in C gerade nicht der Fall wäre, Vers 13 und 14 vielmehr mit der vorausgehenden Schilderung irgendwie inhaltlich verknüpft wären, was jedoch ebenfalls nicht der Fall ist. Sowohl in C als auch in J nehmen die beiden Schlussverse die Funktion einer „allgemeinen Lebenslehre“ (ebd.) ein, um mit Thurnhers Formulierung zu sprechen. Die Motivation von Thurnhers Überlegungen scheint darauf zurückzugehen, dass er anhand der Varianten versucht nachzuweisen, dass die Änderungen in J nicht vom Schreiber stammen, sondern „die Hand des Dichters“ (ebd.) verrieten und als „Ausdruck der Wandlung“ (ebd.) Wernhers zu verstehen seien (vgl. dazu auch Edwards, S. 313 f.). Diesen Überlegungen kann ich mich nicht anschließen. 812 Vgl. dazu das Kapitel ,Zur Anordnung der Sprüche‘, hier v. a. Anm. 109. Schönbach schreibt zu den Unterschieden zwischen J und C: „J hat den Spruch durchgreifend umgestaltet, indem es ihn ins allgemeine wendet, die Fürsten anspricht statt den Kaiser, und dadurch die Möglichkeit eines historischen Bezuges abschneidet.“ (Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 81) Ähnlich äußert sich Bartsch (vgl. Bartsch: Untersuchungen, S. 96–98). Als Reaktion auf diese Position vgl. Kern: Entaktualisierung, S. 161 sowie Müller: politische Lyrik, S. 87.
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schen Kontext gestellt zu werden, die Lesart in C hingegen schon.813 Hier haben sich in der Forschung zwei bzw. drei Positionen herausgebildet:814 1. Bruder Wernher warnt mit VI,69 vor Herzog Friedrich II. von Österreich und Steiermark.815 2. Kaiser Friedrich II. wird vor Herzog Otto II. von Bayern gewarnt.816 3. Der Spruch erlaubt angesichts fehlender Hinweise auf den vürsten bzw. der bewusst allgemein gehaltenen Färbung keine historische Deutung.817 Die Vertreter der ersten Interpretation gehen davon aus, dass dem Spruch das eigensinnige Verhalten Herzog Friedrichs II. gegenüber Kaiser Friedrich II. zugrunde gelegt werden muss, das im Sommer 1236 schließlich zur Ächtung des Herzogs führt.818 Der Spruch wäre somit gegen Herzog Friedrich II. gerichtet. Sowohl Meyer als auch Lamey begründen den allgemeinen Tonfall (vgl. V. 1 swelh vürste) damit, dass Bruder Wernher sich zum Entstehungszeitpunkt in Österreich befunden habe – „vielleicht in Wien selbst lebte“819 – und demnach „seine Warnung etwas vorsichtig ausspricht und nicht mit dem Namen des betreffenden Fürsten herausplatzt“820. Schönbach hält diese Auslegung für „schlechterdings unmöglich“821 und begründet dies damit, dass „[w]enn irgend ein deutscher Fürst Wernhers Landesherr war, […] es Herzog Friedrich [war]“822. Wernher hätte dann jedoch mit Sicherheit keinen Spruch auf Friedrich verfasst, der „von seltener Härte und
813 Zum inhaltlichen Unterschied der Sprüche vgl. auch Kern: Entaktualisierung, S. 160–162. 814 Von der Deutung Reuschels, die ohne weitere Erklärung davon ausgeht, dass bei dem Spruch „wohl an die Gegenkaiser der 1240er Jahre gedacht“ (Reuschel, Sp. 901) sei, sehe ich ab. 815 Vgl. Meyer, S. 94 f.; Lamey, S. 23; Doerks, S. 7; Brunner: Bruder Wernher, Sp. 899. 816 Vgl. Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 83 f.; Vetter, S. 252 (Vetter begründet ausführlich, warum aus seiner Sicht Herzog Friedrich II. [vgl. Position 1)] eher nicht infrage komme); Kemetmüller, S. 51 (seltsamerweise widerspricht sich Kemetmüller, indem er VI,69 an zwei Stellen anführt, die Herzog Friedrich II. [also Position 1)] und nicht Kaiser Friedrich II. und Herzog Otto II. behandeln [vgl. Kemetmüller S. 23 und 29]); Kern, S. 160 f. 817 Vgl. Teschner, S. 122; Gerdes: Beiträge, S. 59; Gerdes: Zeitgeschichte, S. 123; Müller: politische Lyrik, S. 100. Herta Gent fällt theoretisch ebenfalls in diese Gruppe, denn für sie ist nicht entscheidend, wer konkret gemeint sei, sondern „daß der Dichtersänger das weltliche Oberhaupt überhaupt warnt“ (Gent, S. 125). 818 Vgl. einführend Gebhardt, Bd. 6, S. 251 f. Lamey datiert den Spruch vor die Ächtung Herzog Friedrichs II. (vgl. Lamey, S. 23). 819 Lamey, S. 23. 820 Meyer, S. 95. 821 Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 83. 822 Ebd.
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Schroffheit“823 geprägt ist, wie es in VI,69 der Fall sei. Statt Herzog Friedrich II. sieht Schönbach Herzog Otto II. von Bayern als Vorlage für den Wolf und glaubt den Spruch im „Sommer 1235“824 entstanden. Er begründet dies folgendermaßen: Herzog Otto II. von Bayern scheint den Verdacht, Kaiser Friedrich II. wäre in die Ermordung von Ottos Vater, Herzog Ludwig I., am 15. September 1231 verwickelt gewesen, nie ganz verloren zu haben.825 So geht er nach dem Tod seines Vaters zur kaiserlichen Partei auf Abstand. Gerade der Bruch zwischen Kaiser Friedrich II. und seinem Sohn König Heinrich (VII.), in dem die seit 1232 zunehmende Verschlechterung ihres Verhältnisses gipfelt,826 führt dazu, dass sich Otto II. (am deutlichsten im Jahr 1235) dem Kaiser wieder annähert, denn auch er befindet sich in einer angespannten Beziehung zu König Heinrich (VII.). Und genau hier setzt, laut Schönbach, der Spruch an, indem nämlich der Kaiser davor gewarnt wird, Otto II. angesichts seines in der Vergangenheit z. T. distanzierten Auftretens allzu vertrauensselig gegenüber zu sein.827 Die schlechte Beziehung wiederum, die zwischen Herzog Otto II. und Herzog Friedrich II. herrscht und 1233 in einen offenen Konflikt übergegangen ist,828 ist für Schönbach ein weiterer Grund, hinter dem Wolf in VI,69 Otto und nicht Friedrich zu vermuten, denn Herzog Friedrich II. muss die Annäherung seines Kontrahenten Otto II. an Kaiser Friedrich II. sehr misstrauisch beäugt haben, und wenn Bruder Wernher in einem Augenblicke, wo dem Herzog Friedrich Gefahr drohte, sich an das Reichsoberhaupt mit einem Spruche wendet, der die schlimme politische Kombination [nämlich die Aussöhnung Kaiser Friedrichs II. und Herzog Ottos II., Anm. d. Verf.] zerstören soll, so handelt er im deutlichsten Interesse des Herzogs von Österreich; […].829
Schönbach nimmt somit genau die entgegengesetzte Haltung zur ersten Position ein: Wernher verfasst VI,69 nicht gegen, sondern gerade zugunsten Herzog Friedrichs II. Bleibt noch die These, dass der Spruch auf keine bestimmte Person gedeutet werden könne, wie von der dritten Forschergruppe angenommen wird. Hier
823 824 825 826 827 828 829
Ebd. Ebd., S. 84. Vgl. Riezler, S. 647–651; Störmer: Otto II., S. 673–674. Vgl. einführend Gebhardt, Bd. 6, S. 237–243. Vgl. Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 83 f. Vgl. Riezler, S. 647–651. Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 84.
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muss differenziert werden zwischen denjenigen, die eine historische Einordnung schlicht für unmöglich halten,830 und denjenigen, die aufgrund des verallgemeinernden Tonfalls gar nicht erst davon ausgehen, dass es Bruder Wernher auf eine solche Einordnung angelegt hat.831 Während Müller die Festlegung auf einen der beiden möglichen Herzöge aufgrund fehlender mehr oder weniger handfester Hinweise für nicht möglich hält, vertritt Teschner die Ansicht, dass Schönbachs „außerordentlich komplizierte historische Erklärung“832 zeige, „daß hinter den bildlichen Umschreibungen der eigentliche, womöglich gemeinte politische Sachverhalt nicht mehr oder nur noch mit Mühe auszumachen“833 sei. Dieser Position kann ich nicht so recht zustimmen. Einerseits erscheint aus meiner Sicht Schönbachs Herleitung keineswegs „außerordentlich kompliziert“, andererseits halte ich es für zu schnell geschossen, davon auszugehen, dass man aus der Lesart von VI,69 in C „nicht mehr oder nur noch mit Mühe“ den historischen Kontext herauslesen könne. Dies mag vielleicht aus heutiger Sicht so sein, aber, wer weiß, wie es bei einem zeitgenössischen Zuhörer war, der unmittelbar mit dem tagespolitischen Geschehen in Berührung stand. Überträgt man die Sachlage nämlich auf das politische Kabarett unserer Zeit, so fällt auf, dass es manchmal nur einer kleinen Anspielung oder eines einzelnen Wortes bedarf, um beim Rezipienten die unmittelbare Verknüpfung mit einer bestimmten Person, einem speziellen politischen Ereignis oder sogar einer ganzen Ereigniskette hervorzurufen.834 Diese Anspielung oder dieses Wort und der damit einherge830 Vgl. Teschner, S. 122; Müller: politische Lyrik, S. 100. 831 Vgl. Gerdes: Beiträge, S. 59; Gerdes: Zeitgeschichte, S. 123. Thurnher geht zwar, wie in Anm. 811 gezeigt, mit seiner Überlegung in eine ganz andere Richtung, stimmt aber Gerdes’ Ansatz zu (vgl. Thurnher, S. 63). 832 Teschner, S. 122. 833 Ebd. 834 Wenn etwa im Jahr 2010 ein Kabarettist das harmonische und professionelle Verhalten von Politikern aufs Korn nehmen will, braucht er im Grunde nur einen Satz zu formulieren, der das Wort „Gurkentruppe“ oder „Wildsau“ enthält, und schon wird bei Zuhörern, die einigermaßen über die Tagespolitik informiert sind, eine Assoziation zur schwarz-gelben Koalition bzw. – sogar noch genauer! – zum „Geplänkel“ zwischen FDP und CSU erzeugt. Diese Anspielung dürfte in spätestens ein paar Jahrzehnten nur noch von „Eingeweihten“ verstanden werden. Ein noch „prominenteres“ Beispiel ist die Wendung „11. September“: Hier dürfte es zwar weitaus länger dauern, bis keine breite Mehrheit mehr über die Hintergründe dieser Bezeichnung Bescheid weiß, aber spätestens, wenn eine Zeitspanne von rund 800 Jahren zwischen das Ereignis und die Gegenwart getreten ist (wie dies aus heutiger Sicht mit Blick auf Bruder Wernhers Werk der Fall ist), dürften nur noch die Historiker von morgen wissen, worauf dieses Datum anspielt und welche zentrale Rolle es im 21. Jahrhundert eingenommen hat. Im Unterschied zu dem Wort „Gurkentruppe“ ist aber übrigens die Wahrscheinlichkeit, dass ein Datum falsch oder gar nicht mehr verstanden wird, geringer, denn es impliziert automatisch, dass es lediglich stellvertretend für ein Ereignis steht. „Gurkentruppe“ oder „Wildsau“ hinge-
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hende Subtext wird in, sagen wir, 50 bis 100 Jahren vermutlich nur noch bedingt wahrgenommen oder verstanden. Nehmen wir also an, VI,69 ist tatsächlich gemäß Schönbachs These im Sommer 1235 in Österreich entstanden und vorgetragen worden, dann ist die Vermutung, dass das österreichische Publikum835 eben keine allzu große Mühe hatte, in dem Wolf Herzog Otto II. von Bayern zu identifizieren, m. E. nicht derart abwegig, wie Teschner glauben machen möchte. Gerdes’ Standpunkt ist hingegen eine gewisse Berechtigung nicht abzusprechen: Er hebt den generalisierenden Charakter des Spruches hervor (z. B. swelh-der-Konstruktion im ersten Stollen sowie fehlende konkrete Indizien auf den Fürsten) und schlussfolgert daraus, dass „die Strophe eine gerade nicht nur für einen Spezialfall geltende Warnung des Kaisers“836 enthalte und somit ein bestimmtes Ereignis durchaus den „Anstoß zur Abfassung“837 geliefert haben mag, der Spruch aber nichtsdestotrotz von diesem zeitgeschichtlichen Vorfall abrücke und ins Allgemeine gewendet werde. Gerdes‘ Argumentation ist nachvollziehbar und im Grunde nicht zu widerlegen, zugleich schließt sie eine historische Einordnung oder zumindest deren Versuch m. E. aber auch nicht aus. Dass diese nicht nur möglich, sondern zudem berechtigt ist, legt die ausdrückliche Ausrichtung des Spruches auf den Kaiser nahe. Die Nennung in Vers 1 zusammen mit der Apostrophe in Vers 9 bis 12 erscheint mir – gerade vor dem Hintergrund, dass VI,69 als Warnung formuliert ist – schlicht zu bemerkenswert, als dass es Wernher hier „nur“ um einen allgemeinen Ratschlag an den Kaiser ginge. So neige ich der Interpretation von Schönbach zu, halte aber v. a. auch Müllers Bedenken hinsichtlich der endgültigen Festlegung auf einen der beiden Herzöge für berechtigt.
gen besitzt neben der übertragenen noch eine wörtliche Bedeutung, so dass der Aussagegehalt des Lexems ab dem Moment, ab dem die übertragene Bedeutung nicht mehr verstanden wird, auf seine wörtliche „zurückfällt“, wodurch genau diejenige Situation entsteht, in die wir z. T. geraten, wenn wir uns mit mittelalterlichen Texten befassen: Wir können von der wörtlichen Bedeutung nicht mehr abstrahieren, da uns die notwendigen Hintergrundinformationen fehlen, die mit dem Sachverhalt, auf den das jeweilige Lexem anspielt, in der Vergangenheit einhergingen. 835 Ich gehe einmal davon aus, dass Wernhers Publikum tagespolitisch vorgebildet war, d. h. über die wesentlichen Entwicklungen sowie „parteipolitischen“ Strömungen und Konflikte Bescheid wusste. 836 Gerdes: Zeitgeschichte, S. 123. 837 Gerdes: Beiträge, S. 59.
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Inhaltliche Ähnlichkeit mit anderen Texten vgl. zu Vers 2: Walther L 74,20 (hier V. 8): seht mne triuwe, dáz ich ez meine. (Schweikle: Walther, Bd. 2, S. 278) Walther L 71,19 (hier V. 6): nû vürhte aber ích, daz erz mit valsche meine. (Schweikle: Walther, Bd. 2, S. 182) vgl. zu Vers 5–8: Konrad von Megenberg ,Buch der Natur‘ III.A.42 (hier V. 21 f.): Wenn er auf laub get, ſo macht er ſein claen nazz mit der zungen, daz er iht rauſch vnd in die hunt iht hoͤrn. (Luff/Steer, S. 172) vgl. zu Vers 13 f.: Jak 3,5
Metrik 2A 4 m a A6kb A4ma A6kc 5 A 4 m a (?) A6kc A 4 m x (?) 2A 6 k b A4me 10 A 6 k f A4me A8kf A8mg A7mg
hêrrẹ gelîchẹ undẹ
holzẹ, undẹ
von éinem hálme wírt ein víur enzndet – dér ez niht únderstat –,
Literatur Brunner: Bruder Wernher, Sp. 899 • Edwards, S. 313 f. • Doerks, S. 7 • Gent, S. 124 f. • Gerdes: Beiträge, S. 33 und Anm. 1, 50, 56–59, 73, 177 und Anm. 1, 179 und Anm. 4, 181 und Anm. 9, 191, 203 und Anm. 1, 204, 205 und Anm. 3, 208 • Gerdes: Zeitgeschichte, S. 122 f. • HMS 4, S. 517 f. • Kemetmüller, S. 6, 23, 29, 34, 50 f., 74, 86, 223 • Kern: Entaktualisierung, S. 160 f. • Lamey, S. 23, 26, 27 • Meyer, S. 94 f. • Müller: politische Lyrik, S. 100 • Roethe, S. 264 • Reuschel, Sp. 900 f. • Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 80–84 • Scholz: Reichsidee, S. 88 • Strasser, S. 244 • Teschner, S. 120–123 • Thurnher, S. 61–64 • Vetter, S. 252 f. • Yao, S. 37, 110, 125, 130–133, 201, 202.
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70. Eẏn wort der keẏſer otte ſprach. (J66) Eẏn wort der keẏſer otte / ſprach. Daz ıch vnz an mẏn / ende wıl behalten. klaget ẏm eẏn / valſcher ungemach. Des truwe er / ín vnde vzen (wol) ır kante. 5 Er ſagete / mır ıſt vmme dıch. Des ſetz ıch mẏ/ne warheıt dır tzvͦ phande. Rechte / als dır ıſt vmme mích. Der ſtete // ſul wır kegen eín ander walten. / Eẏn valſcher vrıvntmít worten / klaget. 10 ob ſẏneme lıeben vrívnt / ıcht leıdes wẏrret Vvıl er gelou/ben des er ſaget. So ıſt er mít des / valſchen mannes rede gar vuͦ r ẏr/ret Vvır wıllen daz der geloube / ſẏ. Ane guͦ te werc vıl gar eín wícht. / Als ıſt eín valſcher man mẏt rede / an den ſẏn vrívnt nẏcht huͦ lfe / ſıcht. /
4 wol interlinear nachgetragen
70. Ey˙n wort der key˙ſer otte ſprach.
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Ein wort der keiser Otto sprach, daz ich unz an mîn ende wil behalten: klaget im ein valscher ungemach, des triuwe er in unde ûzen wol erkande, 5 er sagete: ,mir ist umbe dich, des setz ich mîne wârheit dir ze phande, rehte, als dir ist umbe mich. der stæte suln wir gegen ein ander walten.ʻ ein valscher vriunt mit worten klaget, 10 ob sîneme lieben vriunt iht leides wirret. wil er gelouben des er saget, sô ist er mit des valschen mannes rede gar verirret. wir wellen, daz der geloube sî âne guotiu werc vil gar ein wiht; als ist ein valscher man mit rede, an dem sîn vriunt niht helfe siht.
66 J, 33 C 3 klaget] klagte.
4 in unde ûzen] vſſe vn̅ ínne. 5 er sagete] do ſprach er. 9 worten] valſche.
3 íme. 6 ſetze. 10–14 in C 10 ſwc ſı/ne̅ ſtete̅ fruͥnde leıdes wırret· wıl er geloͮ/be̅ ſwc er ſaget· ſo wırt d ſtete fruͥnt an / ſine̅ troſte gar vırret· wa̅ ſeıt dc d geloͮ/be ſı gar ane gvͤtuͥ wk eın nıht· als ıſt / mıt rede eín fruͥnt de̅ ma̅ nıht an dhelfe / ſıht· / 3 klagen: Analog zu erkennen (V. 3) und sagen (V. 5) ist auch für klagen Ind. Prät. anzusetzen (vgl. die Lesart in C). Das auslautende ‑e ist wohl aufgrund des Hiats (klagetẹ im) bereits hsl. ausgefallen. 6 wârheit: hier ‚das gegebene Wort‘ 8 walten: mit Gen. (der sælde) hier ‚treiben, üben, tun‘ 10 leides: Gen.attr. zu iht, wörtlich ‚(ein) Etwas des Kummers‘ (ver-)werren: hier ‚durcheinanderbringen, verstören, bekümmern, bedrücken‘ 11 des: Ist hier Bezugswort und Relativum zugleich, wobei derjenige Kasus steht, den der übergeordnete Satz fordert (Objektsgen. zu gelouben) (vgl. Mhd. Gram., § S 166, 1.). 13 ein wiht: ‚etwas Geringfügiges, was gar nicht in Betracht kommt, etwas Untaugliches, Unnützes, Vergebliches‘ 14 helfe: Hsl. huͦlfe entspricht der md. Form hulfe.
HMS 2: VI,1 Sch 33
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Übersetzung Der Kaiser Otto sagte etwas, das ich bis an mein Lebensende (in Erinnerung) behalten werde: Wenn ihm ein Hinterhältiger Kummer klagte, über dessen innere und äußere Aufrichtigkeit er genau Bescheid wusste, 5 (dann) sagte er: ,Mir ist es um dich (bestellt), dafür gebe ich dir mein Wort als Unterpfand, genau, wie es dir um mich (bestellt) ist. (Dies) mögen wir auf Dauer (so) halten.ʻ Ein treuloser Freund beklagt mit Worten, 10 wenn seinen guten Freund ein Kummer bedrückt. Wenn der glauben will, was er [= der treulose Freund] sagt, so wird er durch die Worte des unaufrichtigen Mannes völlig in die Irre geführt. Wir möchten, dass der Glaube ohne gute Taten ganz und gar wertlos ist; genauso ist es mit den Worten eines unaufrichtigen Mannes, den sein [Freund nicht helfen sieht.
Inhalt Auf den ersten Blick ist nicht ganz klar, auf was VI,70 hinaus möchte: Während sich der Aufgesang in erster Linie damit beschäftigt, dass Gleiches mit Gleichem vergolten wird (vgl. v. a. V. 5, 7 und 8), rückt in den Versen 9 bis 12 das Verhältnis zwischen valsche[m] und liebe[m] vriunt (vgl. V. 9 und 10) sowie die Gefahr von zu großer Vertrauensseligkeit (vgl. V. 11 f.) in den Blick. Von den beiden Schlussversen knüpft schließlich Vers 14 an die vriunt-Thematik der Verse 9 bis 12 an und präzisiert diese z. T.: Die Worte, mit denen ein valscher (V. 9) Freund den Kummer des anderen beklagt (vgl. V. 9 f.), werden in Vers 14 wieder aufgegriffen (vgl. rede V. 14)838 und dahingehend verurteilt, dass diese Worte in einer Freundschaft völlig nutzlos seien, wenn ihnen keine Taten folgten. Und diese Erkenntnis stellt das Bindeglied zwischen Vers 13, der eigentlich zu einem komplett anderen Thema springt, nämlich dem Verhältnis von geloube[n] (V. 13) und guot[en] werc (V. 13), und Vers 14 dar, denn weder
838 Die Zusammengehörigkeit von Vers 14 und 9 bis 12 zeigt sich auch in der folgenden, beinahe wörtlichen Wiederholung: mit des valschen mannes rede in Vers 12 und ein valscher man mit rede in Vers 14.
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der Glaube noch der Freund haben einen Nutzen, wenn sich ihre Hilfe nur durch Worte, nicht durch Taten äußert.839 Wie aber passt dies nun alles zusammen? Das Bindeglied zwischen dem Aufgesang (v. a. V. 3–8) und den ersten vier Versen des Abgesangs ist wohl ein valscher (V. 3),840 wobei in Auf- und Abgesang jedoch nicht von derselben Person die Rede zu sein scheint, sondern wohl ein hinterhältiger Mensch an sich gemeint ist. Der Aufgesang leitet zunächst mit dem Hinweis ein, dass die nachfolgende Aussage von keiser Otto (V. 1) stamme (vgl. V. 1) und der Sprecher, der ansonsten nicht in Erscheinung tritt, sie Zeit seines Lebens nicht vergessen werde (vgl. V. 2). Weder Vers 1 f. noch die Inquit-Formel in Vers 5 sind m. E. jedoch wörtlich zu verstehen: Bruder Wernher wird weder Ohrenzeuge dieser Aussage gewesen sein, noch wird er sie irgendwo gelesen haben. Vers 1 f. und Vers 5 sollen vielmehr die Glaubwürdigkeit und den Wahrheitsgehalt des Gesagten unterstreichen. Im Anschluss daran wird das Szenario entworfen, vor dessen Hintergrund die Äußerung Kaiser Ottos (vgl. V. 5–8) zu sehen ist: Wenn ihm ein valscher (V. 3), dessen vermeintliche triuwe (V. 4) Otto durchschaut (vgl. V. 4), sein Leid klagt, so verhält sich Otto ihm gegenüber auf dieselbe Art und Weise, wie dieser Hinterhältige gegenüber Otto auftritt. Was genau damit gemeint ist, zeigt der Abgesang: Dann nämlich, wenn die Situation umgekehrt ist und einem valsche[n] (V. 9) Freund Kummer geklagt wird (wie es dieser zuvor gegenüber Otto getan hat), tritt dieser falsche Freund weder hilfreich noch aufrichtig gegenüber dem Klagenden auf, ganz im Gegenteil: Der liebe[n] vriunt (V. 10) wird vielmehr getäuscht und in die Irre geführt, wenn er auf die Worte des Verlogenen vertraut (vgl. V. 11 f.).841 Solange sich also die Hilfe des falschen Freundes nur in Worten und nicht in Taten äußert (vgl. V. 14), ist sie ebenso vil gar ein wiht (V. 3) wie der Glaube, dem nicht durch guotiu werc (V. 13) Ausdruck verliehen wird.842 839 Wie das modale als zu Beginn von Vers 14 zeigt, dient der Schlussvers dazu, Vers 13 zu veranschaulichen. 840 Die Wiederholung des Wortes valsch (sowohl in subst. wie adj. Gebrauch) bestätigt dies, denn sie zieht sich durch alle Inhaltsabschnitte des Spruches hindurch: ein valscher in Vers 3 des Aufgesangs, ein valscher vriunt (V. 9) sowie des valschen mannes rede (V. 12) im Versblock 9 bis 12 und zuletzt ein valscher man (V. 14) in den Schlussversen. 841 Ob das Verb gelouben in Vers 11 und das Subst. geloube in Vers 13 bewusst gewählt wurde, um Vers 13 noch klarer mit dem Rest der Strophe zu verknüpfen, ist nicht ganz klar. 842 Die Verwendung des Verbs wellen (V. 13) erscheint im vorliegenden Kontext etwas ungewöhnlich: Die Aussage, dass der Glaube ohne gute Taten ganz und gar nutzlos sei, ist doch weniger eine Frage des Wollens als vielmehr des Meinens oder Denkens, also ‚Wir meinen/ denken, dass der Glaube ohne gute Taten nichts nützt‘. Der Gebrauch von wellen erweckt hier den Eindruck, als ob die Menschen es zwar gerne so hätten, der Glaube aber tatsächlich auch ohne gute Taten wertvoll ist. Dabei geht es in dem Spruch ja gerade darum zu zeigen, dass
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Die Parallelüberlieferung in C enthält v. a. im Abgesang ab Vers 9 einige Varianten, die von der Lesart in J deutlich verschieden sind. Zunächst einmal fällt der unterschiedlich starke Gebrauch des Lexems valsch (sowohl als Adjektiv als auch als Substantiv) auf. Während C in Vers 9 die worte[n] durch valsch ersetzt (also ‚Ein treuloser Freund beklagt mit Treulosigkeit‘), ist weder in Vers 12 noch in Vers 14 das Adjektiv valsch enthalten, stattdessen heißt es: sô wirt der stæte vriunt an sînem trôste gar verirret (V. 12) und als ist mit rede ein vriunt, den man niht an der helfe siht (V. 14). Die inhaltliche Zusammengehörigkeit, die in J aufgrund der regelmäßigen Wiederholung von valsch843 erzeugt wird, liegt in C somit weniger deutlich vor. Dies wird andererseits dadurch kompensiert, dass in C der vriunt stärker in den Vordergrund rückt (vgl. V. 9, 10, 12 und 14), indem dieser zum einen den valschen man aus J (vgl. V. 12 und 14) ersetzt und zum anderen der stæte[n] vriunt in Vers 10 und 12 wörtlich wiederholt wird.
Historischer Hintergrund Es stellt sich die Frage, wieso Bruder Wernher hier ausgerechnet auf keiser Otto (V. 1) zurückgreift und welcher Kaiser Otto damit überhaupt gemeint ist. Dass die Entstehung in den Zeitraum von Kaiser Ottos IV. Regentschaft, also zwischen 1209 bis 1218 fällt, wie von der Hagen für möglich hält,844 ist m. E. eher auszuschließen. Zwar kann vielleicht davon ausgegangen werden, dass Bruder Wernher zu diesem Zeitpunkt schon dichtete, da die Sprüche VII,73, VIII,74, IX,75 und IX,76 mal mehr, mal weniger klar auf eine Entstehung im Jahr 1217 hindeuten, aber die Frage ist doch, wenn wir Vers 1 f. wörtlich verstehen, ob Bruder Wernher überhaupt je die Möglichkeit hatte, Ohrenzeuge von Kaiser Otto IV. zu werden? Denn „weder ist Otto IV. in den Jahren 1214–1218 im südlichen Deutschland gewesen, noch sind wir berechtigt anzunehmen, unser Dichter habe sich zu jener Zeit in nördlichen Gebieten aufgehalten“845. DarüWorte allein eben nicht ausreichen! Dass wellen hier eher ungeeignet ist, deutet übrigens auch die Lesart in C an, in der statt wellen die Wendung man seit steht. 843 Vgl. Anm. 840. 844 Vgl. HMS 4, S. 516. 845 Doerks, S. 2. Vgl. dazu auch Gebhardt, Bd. 6, S. 187 f. Trotz des oben zitierten Einwands geht auch Doerks von Otto IV. aus (vgl. Doerks, S. 2: „wahrscheinlich Otto IV.“); ebenso Meyer, S. 78 („eine Aeusserung Otto’s (wohl des Vierten)“). Für beide liegt der Abfassungszeitpunkt jedoch nicht zu Lebzeiten Ottos. Kemetmüller hält die Festlegung auf eine Person für „unsicher“ (Kemetmüllser, S. 49). Aus Lameys Überlegungen geht wiederum nicht eindeutig hervor, ob er hinter besagtem Kaiser ebenfalls Otto IV. oder aber einen anderen, früheren vermutet. Er schreibt, dass Bruder Wernher „an die Worte Kaiser Ottos [erinnert], der zu den Heuchlern, die er durchschaute, zu sagen pflegte: […]“ (Lamey, S. 23).
70. Ey˙n wort der key˙ſer otte ſprach.
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ber hinaus scheint die Äußerung aus Vers 1 f., wonach Bruder Wernher (bzw. der Sprecher) Ohrenzeuge gewesen sei, eher rhetorisch motiviert zu sein, wie weiter oben im Text bereits angemerkt wurde. Schönbach bietet eine Lösung für die Unklarheiten bzgl. des zitierten Kaiser Ottos an: Er weist darauf hin, „daß der keiser Otto der Volksüberlieferung Otto der Große ist, der mit seinem Nachfolger Otto II. zusammengeworfen wurde“846, und führt zur Untermauerung dieser These historische Quellen an. Diese sollen als Nachweis dafür dienen, dass der Ausspruch mir ist umbe dich rehte, als dir ist umbe mich sinngemäß „auf Kaiser Otto II. oder dessen legendarischen Vertreter Otto den Großen“847 hindeutet. Insofern könnte Schönbach mit seiner Position evtl. nicht ganz falsch liegen.848 Wie stark die Vorstellung, dass Otto II. bzw. Otto der Große mit der Ansicht, Gleiches mit Gleichem zu vergelten, in Verbindung gebracht wird, im 13. Jahrhundert (noch?) verbreitet ist, wage ich allerdings nicht zu sagen. Worin Schönbach in jedem Fall zuzustimmen ist, ist seine Feststellung, dass „[d]er Spruch in seinem Wortlaute keinen Anhaltspunkt [bietet], ihn auf bestimmte Verhältnisse zu beziehen“849, wie Lamey dies tut. Dieser glaubt ihn nämlich vor der Ächtung Herzog Friedrichs II. entstanden, also vor Juni 1236.850
Inhaltliche Ähnlichkeit mit anderen Texten vgl. zu Vers 5: Walther L 49,12 (hier V. 9 f.): daz sprichet: ‚mir ist umbe dich rehte als dir ist umbe mich.‘ (Schweikle: Walther, Bd. 2, S. 334) vgl. zu Vers 6: Walther L 82,3 (hier V. 4): dem setze ich mîne wârheit des ze pfande: (Schweikle: Walther, Bd. 1, S. 306) vgl. zu Vers 13: Freidank 35,22 f.: [Guoter gloube und reiniu werc diu swendent der sünden berc, (Bezzenberger, S. 99) 846 Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 78. 847 Ebd., S. 79. Für die historischen Quellen vgl. ebd. S. 78. 848 Seinen Hinweis, ein historisches Zeugnis, das die Aussage in Vers 5 und 7 ausdrücklich mit Kaiser Otto IV. in Verbindung bringe, sei ihm nicht bekannt (vgl. ebd., S. 78), halte ich hingegen doch für etwas zu dünn, um schlagend zu sein. Schönbach kann wohl kaum für sich beanspruchen, sämtliche Zeugnisse Kaiser Ottos IV. zu kennen. 849 Ebd., S. 79. 850 Vgl. Lamey, S. 23. Auch Brunner geht in diese Richtung (vgl. Brunner: Bruder Wernher, Sp. 899).
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Ton VI, Korpus in J
vgl. zu Vers 9–14: ,Parzival‘ V. 675,17–20: der getriwe ist friundes êren vrô: der ungetriwe wâfenô rüefet, swenne ein liep geschiht sînem friunde und er daz siht. (Knecht/Schirok, S. 679)
Metrik A4ma A6kb 2A 4 m a A6kc 5 A4md A6kc 4md A6kb A 4 2m e 10 A 6 k f A 4 2m e A8kf A8mg 3A (?) 7 m g
klaget ím ein válscher úngemách, triuwẹ, undẹ er ságete: ,mír ist úmbe dích, rehtẹ der stǽte súln wir gégen ein ánder wáltèn.ʻ ob sneme líeben vríunt iht léides wírrèt.
wir wéllen, dáz der gelóube s âne gúotiu wérc vil gár ein wíht; redẹ
Literatur Brunner: Bruder Wernher, Sp. 899 • Doerks, S. 2 • Gerdes: Beiträge, S. 93 und Anm. 3, 94, 149 und Anm. 1, 178 und Anm. 3, 179 und Anm. 4, 181 und Anm. 9, 185 • HMS 4, S. 516, 523 • Kemetmüller, S. 34, 49, 222 • Lamey, S. 8, 23, 26, 27 • Meyer, S. 78 • Müller: politische Lyrik, S. 102 • Nolte/Schupp, S. 148 f., 412 • Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 78 f. • Vetter, S. 251.
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Ton VI, Korpus in J
71. Sıt ıch nícht grozer dorfer han. (J67 N) Sıt ıch nícht grozer dorfer han. Noch der guͦ ten ſtete ín wíten landen. So bín ıch doch der ſorge ír lan. Daz ıch durch vorchten / neman durbe dıene 5 Vven wer ıch herre ín oſterlant. E. ıch vuͦ r luͦ re dıe guͦ ten ſtat tzvͦ wene. Jch welte e. rıten of den ſant. / Tzvͦ nẏvrenberc da mıch dıe lıvte ır kanden An metze were mẏr nícht tzvͦ vıl. 10 Tzvͦ rıten nach des werden kvnínges hulden. / Der mír tzvͦ traffe ſchıez eẏn tzıl. Daz welt ıch holn e. ıch vuͦ r lure drẏ lant von mẏnen ſchulden | Sulde. vnde ſchade ſecht dıe / beıde mvͦcht ich verre baz vuͦ r tragen. Wen dıv werden dıeneſt man dıe kvnd ıch nẏmmer vuͦ llen klagen.
71. Sıt ıch nícht grozer dorfer han.
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Sît ich niht grôzer dorfer hân noch der guoten stete in wîten landen, sô bin ich doch der sorge erlân, daz ich durch vorhten nieman durfe diene. 5 wan wær ich hêrre in Ôsterlant, ê ich verlüre die guoten stat ze Wiene, ich wolde ê rîten ûf den Sant ze Nürenberc, dâ mich die liute erkanden. an Metze wære mir niht ze vil, 10 ze rîten nâch des werden küneges hulden. der mir ze Trappen schiez (?) ein zil, daz wolt ich holn, ê ich verlüre driu lant von mînen schulden. schulde unde schade, seht, die beide möht ich verre baz vertragen, wan die werden dienestman, die kunt ich niemer vollen klagen.
67N J, 37 C 1 Sît] Ob. 2 der guoten] vıl der groſſen. 3 der sorge] deſ. (sorge) wol. 4 dc ıch durh vorhte luͥtzel ıema̅ dıene. 5 wan wær] we ab. 9 mıch duͥhte an mezzen nıht zevıl. 10 werden küneges] rıche̅ keıſers. 11 schiez] ſtıeze. 6 vlur. 8 zenvͤrnbg.
12 wolde. vlur.
12–14 in C dc wolde ıch holn e ıch vlur zweı lant / an míne ſchulde· ıch wıl d wıte̅ lande vn̅ / oͮ ch des groſſen gelteſ gar gedage̅· dıe ede/len dıeneſtman dıe wolde ıch nıem me v/klagen· / 1 sît: Sowohl die kausale als auch die adversative Bedeutung ergibt in V. 1–4 Sinn, da es im weiteren Verlauf des Spruches jedoch gerade um das Verhältnis von Herzog Friedrich II. zu seinem Lehnsherrn, dem König bzw. Kaiser, geht und Herzog Friedrich II. in der Tat Herr über Dörfer und Länder ist, ist sît m. E. kausal zu verstehen, denn nur dann entfaltet die hypothetische Überlegung in V. 5–12 ihre ganze Wirkung: ‚Weil ich kein Landesherr bin (wie Herzog Friedrich II.), muss ich auch meinen Lehnsherrn nicht fürchten (wie Friedrich II. es momentan muss). Nehmen wir jedoch einmal an, ich wäre Landesherr, dann…‘. Die adversativ/konzessive Bedeutung hingegen würde m. E. in eine andere Richtung weisen und den Fokus nicht auf Herzog Friedrich II. und sein (Dienst-)Verhältnis zu Kaiser Friedrich II. richten, sondern auf (unfreie) Personen (wie das Sprecher-Ich) am unteren Rand der Gesellschaft. Für diese wäre der Umstand, dass sie niemandem aus Angst zu Diensten sein müssen, obwohl sie kein Landesherr sind, zwar eine bemerkenswerte Feststellung, dennoch passt dieser Gedankengang m. E. nicht in den Gesamtkontext von VI,71, denn dadurch würde impliziert, dass Landesher-
HMS 2: VI,5 Sch 37
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Ton VI, Korpus in J
ren gerade nicht in einem Lehnsverhältnis stehen und insofern auch ohne Furcht sein können. Dies ist bei Herzog Friedrich II. aber eben nicht der Fall und darauf hebt der Spruch ja gerade ab. 3 doch: drückt hier keinen Gegensatz aus, sondern ‚auch‘ erlân: mit Gen. d. S. (der sorge) ‚erlassen‘ 4 nieman: Hier ist hsl. wohl ein Fehler unterlaufen: Damit das erlân der sorge aus V. 3 Sinn ergibt, müsste es hier eigentlich ieman statt hsl. neman heißen (vgl. Lesart in C). dienen: Wohl aufgrund des Reimzwangs (diene : Wiene) steht hier der Inf. ohne ‑n. 7 wellen: Die hsl. Form welte deutet auf mnd. Einfluss hin (vgl. Dietl, S. 18 und Mnd. Gram., § 447). (der) Sant: Die Gegend von Neumarkt, Roth, Pleinfeld, Weißenburg bis gegen Nürnberg (vgl. sant [st. Mask.] in BMZ und HWB); darüber hinaus ist hier die sandige Fläche gemeint, die als Kampf- und Turnierplatz diente. 8 Nürenberc: Hsl. nẏvrenberc (< nüerenberc < nuorenberc) deutet auf die im Md. im 11./12. Jahrhundert erfolgte Monophthongierung von u. a. /üe/ > /ǖ/ hin (vgl. Mhd. Gram., § E 34, 3.2. und § L 50). 9 vil: Hier ist die räuml. Distanz gemeint, deswegen übersetze ich freier ‚weit‘. 11 ze: regulär mit Dat. (Trappen), md. z. T. mit Akk. (hsl. traffe) Trappen: Gemeint ist hier Trapani in Sizilien (vgl. C: zetrappē). Schönbach versucht, die hsl. Lesart traffe damit zu erklären, dass „vielleicht die bei Grenzbestimmungen vorkommende Trave im Sinn [lag] oder es ist die Schreibung einfach zu beurteilen wie die falsch verschobenen Konsonanten im ,missingsch‘ (z. B. pfeitsche = peitsche)“ (Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 86). schiezen: Bei schiez (3. Sg. Konj. Präs.) ist das ‑e der Endg. elidiert (Hiat). Müsste hier nicht statt Konj. Präs. analog zu V. 12 ff. Konj. Prät. (schüzz[e]) stehen? 12 holn: hier ‚erwerben und mit sich fortführen‘ Die Aussage der mir ze Trappen schiez ein zil, daz wolt ich holn dient dazu, die grenzenlose Unermüdlichkeit, mit der der Sprecher um die Gunst des Königs (bzw. Kaisers) werben würde, zu verdeutlichen. Kein Weg wäre ihm zu weit, weder eine Stadt im Westen des Reiches noch eine ganz im Süden könnte seine Bemühungen verringern. Die Übersetzung bereitet m. E. einige Schwierigkeiten, und zwar nicht nur aufgrund der unklaren Bedeutung des zils (Ist tatsächlich ein Ziel gemeint, auf das geschossen wird, oder eher ein geografisches Ziel? Oder ganz anders: Ein zeitl. Ziel, also ‚Terminʼ? Vgl. BMZ zil), sondern auch dank der Verben schiezen und holn. Und nicht zuletzt deswegen, weil in V. 13 ja gerade nicht der Sprecher, sondern der, also irgendein anderer, Agens ist. Es heißt also nicht, ‚würde ich in Trapani auf ein Ziel schießen, würde ich das holen bzw. mit mir führen‘, sondern ‚würde mir einer in Trapani auf ein Ziel schießen, würde ich das holen‘. Damit holn hier Sinn ergibt, muss das zil m. E. als Preis, als Gegenstand, den es zu gewinnen gilt, verstanden werden, denn eine Zielscheibe führt man wohl kaum mit sich, nachdem man erfolgreich auf sie geschossen hat (zumindest nicht, wenn ‚holen‘ eine derart große Entfernung impliziert, wie im vorliegenden Fall). Gemeint ist in diesem Sinne also, dass der Sprecher, wenn einer in Trapani auf ein Ziel schösse, dieses (den Gewinn also) holen würde. Die Sekundärliteratur schweigt sich hinsichtlich der Übersetzung des Verses übrigens elegant aus, so dass keine Alternativvorschläge herangezogen werden können. Die Lesart in C, in der es stôzen statt schiezen heißt, ist im Gegensatz zu J ürigens deutlich unproblematischer: zil meint hier einen geografischen Endpunkt, der festgesetzt (stôzen: hier ‚stecken, setzen‘) und erreicht (holn) wird, also etwas freier übersetzt: ‚Wenn man mir Trapani als Ziel festsetzen würde, würde ich das erreichen, ehe ich…‘. 13 schulde: im Anschluss an die Lombarde 〈S〉 wurde wohl 〈ch〉 vergessen vertragen: ‚bis ans Ende tragen: ertragen, erdulden‘ 14 wan: hier negative Beschränkung eines positiven Satzes ‚ausgenommen, außer, nur nicht‘
71. Sıt ıch nícht grozer dorfer han.
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Übersetzung Weil ich weder große Dörfer besitze noch edle Städte in fernen Ländern, so bleibt mir auch die Sorge erspart, dass ich aus Angst jemandem zu dienen brauche. 5 Wenn ich aber Landesherr von Österreich wäre, ehe ich die herrliche Stadt Wien verloren hätte, wäre ich eher zum Sand bei Nürnberg geritten, wo mich die Menschen erkannt hätten. An Metz wäre mir nichts zu weit, 10 um um der Gunst des Königs willen hinzureiten. Wer mir in Trapani auf ein Ziel schösse, das wollte ich holen, ehe ich drei Länder durch meine Schuld verloren hätte. Schuld und Schande, schaut, diese beiden könnte ich weit besser ertragen, nur die vortrefflichen Dienstmänner, die wüsste ich niemals ausreichend zu [beklagen.
Inhalt VI,71 richtet sich unverkennbar an Herzog Friedrich II. von Österreich und Steiermark bzw. gegen seine Herrschaftspolitik. Dies wird nicht nur aufgrund der historischen Anspielungen in Vers 5 bis 14 deutlich, sondern auch dank der Parallele zwischen VI,71,5 (wan wær ich hêrre in Ôsterlant) und VI,67,5 (nû merket an dem von Ôsterlant) – in beiden Fällen ist Herzog Friedrich II. gemeint. Eine genauere zeitgeschichtliche Einordnung der Verse 5 bis 14 erfolgt weiter unten. Der Spruch besteht aus einem Einleitungsteil, der den ersten Stollen umfasst, und einem hypothetischen Gedankengang, der den gesamten übrigen Spruch einnimmt. Der Wortlaut der Einleitung (speziell V. 1 f.) erinnert z. T. an VI,68,3 f., wo der Sprecher ebenfalls von Dörfern und Ländern spricht,851 allerdings gehen die beiden Textpassagen insofern inhaltlich in eine andere Richtung, als es in VI,68,3 f. gerade darum geht, dass der Sprecher die Dörfer und Länder tatsächlich bereist und gesehen hat, während er sich in VI,71,1 f. von Dörfern und Städten eher distanziert: Er hebt hervor, dass er weder grôze[r] dorfer (V. 1) noch guote[n] stete in wîten landen (V. 2) besitze (vgl. V. 1 f.). Und genau das ist das Entscheidende: Gerade weil er für derartige 851 VI,68, 3 f.: hân ich der lande vil durchvarn, sô ken ich ouch der dorfe deste mêre.
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Ton VI, Korpus in J
Besitztümer keine Verantwortung innehat, braucht er sich auch nicht, wie Herzog Friedrich II., vor einem Dienstherrn zu fürchten.852 In den Versen 5 bis 14 nimmt der Sprecher nun jedoch einmal an, er wäre anstelle Friedrichs II.:853 Wie würde sich sein Verhalten nun von dem des Herzogs unterscheiden? Zunächst einmal würde der Sprecher, bevor er es so weit kommen lassen und Wien verlieren würde, auf den Sand nach Nürnberg reiten,854 wo neben Turnieren auch Reichstage855 abgehalten wurden.856 Und wenn dies nichts helfen würde, wären ihm weder Metz als westlichster Punkt des Kaiserreiches noch die sizilianische Hafenstadt Trapani im äußersten Süden zu weit, ehe er sowohl die Gunst des Königs (historisch korrekterweise des Kaisers, vgl. Lesart von C) als auch die driu lant (hier müsste eigentlich von zwei Ländern die Rede sein, nämlich Österreich und Steiermark) durch eigene Schuld verlieren würde (vgl. V. 9–12).857 Während der Sprecher jedoch in der Lage wäre, das eigene Verschulden und den entstandenen Schaden hinzunehmen (vgl. V. 13), wäre es ihm unmöglich, die werden dienestman jemals voll und ganz zu verschmerzen (vgl. V. 14). Den krönenden Abschluss des Spruches bildet also das Bekenntnis zu den Gefolgsleuten und somit die indirekte Aufforderung des Sprechers zu mehr Bescheidenheit und der Einschränkung der eigenen Machtbestrebungen zugunsten der dienstman (V. 14).858 852 Schönbach liest die Passage etwas anders: „Mit Stolz hebt Wernher hier […] hervor, daß er nicht aus Furcht diene (er stand also im Dienste eines Herrn), was sogar der Herzog von Österreich tun müsse.“ (Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 87) 853 Zum Stilmittel eines solchen fiktiven Gedankengangs vgl. Gerdes: Beiträge, S. 66 und Zeitgeschichte, S. 126. 854 Nähere Erläuterungen zu ûf den sant ze Nürenberc (V. 7 f.) finden sich bei Schönbach (vgl. Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 87). 855 Herzog Friedrich II. weigert sich mehr als einmal, Kaiser Friedrichs II. Ruf zu Reichstagen u. Ä. Folge zu leisten. So etwa zum Reichstag in Ravenna, November 1231/32, sowie nach Aquileia, wohin ihn Kaiser Friedrich II. daraufhin beruft. Auch in Augsburg erscheint er nicht, als Kaiser Friedrich II. im Juni 1236 sein Heer zum Zug in die Lombardei sammelt. 856 Sowohl Meyer als auch Kemetmüller weisen zudem darauf hin, dass Kaiser Friedrich II. sich im Juni 1235 in Nürnberg aufgehalten habe (vgl. Meyer, S. 96; Kemetmüller, S. 52), vielleicht ist Vers 7 f. also auch ein Querverweis in diese Richtung. 857 Vgl. zu den geografischen Angaben Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 87 f. 858 Schönbach verleiten die beiden Schlussverse zu folgender Überlegung: „Beachtenswert scheint hier überhaupt die nachdrückliche Erwähnung der Dienstmannen: sie bezeugt neuerdings, daß Bruder Wernher zu den Ministerialen von Österreich und Steiermark während gewisser Zeiten seines Lebens in einem engeren Verhältnisse gestanden haben muß.“ (ebd., S. 88) Und Gent geht noch weiter und sieht in Vers 13 f., „wie Gewalt und Ansehen des weltlichen Oberhaupts den Fürsten gegenüber sinkt“ (Gent, S. 134). Gerdes schreibt dazu: „Freilich fällt auf, daß der Dichter einige Male objektiv im Interesse der österreichischen Dienstmannen spricht“ (Gerdes: Beiträge, S. 81), er führt jedoch neben VI,71 kein weiteres Beispiel für diese „einige[n] Male“ an (vgl. ebd., S. 81 Anm. 2).
71. Sıt ıch nícht grozer dorfer han.
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Der Sprecher erscheint hier insgesamt auffällig selbstbewusst, es findet sich nahezu kein Vers, in dem er nicht persönlich in Erscheinung tritt, was angesichts der Kritik, die er unmissverständlich gegenüber der Politik Herzog Friedrichs II. formuliert, doch bemerkenswert ist. Andererseits ist gerade diese überdeutliche Präsenz des Sprechers auch der Grund, warum die Kritik indirekt zugleich abgemildert wird, denn die Einleitung in Vers 5 (wan wær ich hêrre in Ôsterlant) sowie das ständige verweisen darauf, was ich tun würde, wenn ich Herr über Österreich wäre,859 impliziert, dass der Sprecher hier lediglich seine Meinung wiedergibt, also theoretisch eine von vielen. Außerdem erscheint das Gesagte dadurch beinahe wie ein wohlwollender Ratschlag: ,Ich an deiner Stelle hätte so und so gehandelt, aber das ist nur meine Meinung.‘ Die Parallelüberlieferung fällt durch zahlreiche Varianten auf, von denen die einen mehr, die anderen weniger stark ins Gewicht fallen: − Vers 2: Indem in C grôz statt guot steht, besteht zwischen Vers 1 und 2 eine größere Parallelität (V. 1: grôzer dorfer und V. 2: vil der grôzen stete). − Vers 3: Das Fehlen von der sorge in C lässt den Vers weniger dramatisch erscheinen. − Vers 4: In C steht ieman statt nieman. Wie im Übersetzungsapparat bereits angesprochen, gehe ich davon aus, dass es in J zu einem Versehen oder Missverständnis gekommen ist, denn Vers 4 ergibt für sich genommen in der Lesart von J durchaus Sinn, liest man ihn jedoch zusammen mit Vers 3, so kommt es zu einer doppelten Verneinung durch der sorge erlân und nieman. Der Lesart von C ist hier m. E. der Vorzug einzuräumen. − Vers 10: Ob nun von des werden küneges (in J) oder des rîchen keisers hulden (in C) die Rede ist, macht natürlich mit Blick auf die historische Einordnung einen deutlichen Unterschied. Die Lesart von C ist vor dem Hintergrund, dass der Spruch voraussichtlich in das Jahr 1237 zu datieren ist (siehe weiter unten), zeitgeschichtlich logischer, denn Herzog Friedrich II. befindet sich nicht mit einem König (nämlich Heinrich [VII.]) im Konflikt, sondern mit einem Kaiser (nämlich Friedrich II.). Zudem hat sich Heinrich (VII.) bereits im Sommer 1235 seinem Vater unterworfen und aufgrund des fehlenden Rückhalts unter den deutschen Adligen seine Herrschaftsrechte als König eingebüßt – von des werden küneges hulden in J kann 1237 also eigentlich keine Rede mehr sein.860
859 Vgl. V. 6 ê ich verlüre, V. 7 ich wolde ê rîten, V. 9 an Metzen wære mir niht ze vil, V. 12 daz wolt ich holn, ê ich verlüre, V. 13 die beide möht ich verre baz vertragen, V. 14 die kunt ich niemer vollen klagen. 860 Vgl. Gebhardt, Bd. 6, S. 242 f.
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Ton VI, Korpus in J
Vers 11: Auf die deutlich weniger problematische Lesart von C (stôzen statt schiezen) wurde im Übersetzungsapparat bereits eingegangen. Vers 12: C schreibt zwei lant statt driu lant, was zeitgeschichtlich ebenfalls sinnvoller erscheint, schließlich herrscht Herzog Friedrich II. über die Herzogtümer Österreich und Steiermark. Welches dritte Land sollte sonst noch gemeint sein?861 Vers 13: Dieser Vers unterscheidet sich in C grundlegend von J (und umgekehrt). Er lautet: ich wil der wîten lande und ouch des grôzen geltes gar gedagen (‚ich werde über die großen Länder und auch über das erhebliche Eigentum862 ganz und gar schweigen‘). Während J viel allgemeiner bleibt und lediglich von Schuld und Schaden spricht, ist C aufgrund der neuerlichen Anspielung auf die Länder und den großen Besitz deutlich konkreter. Darüber hinaus beteuert der Sprecher in J, dass er Schuld und Schaden leichter vertragen könnte, während in C von gedagen die Rede ist. In beiden Handschriften dient Vers 13 ungeachtet der Unterschiede jedoch dazu, die werden (in J) bzw. edelen (in C) Gefolgsleute herauszuheben, denn weder in C noch in J sieht sich der Sprecher im Stande, diese jemals verschmerzen zu können.
Historischer Hintergrund Wie weiter oben bereits festgestellt, handelt es sich bei VI,71 um einen Spruch, der unzweifelhaft auf Herzog Friedrich II. von Österreich und Steiermark gedichtet ist. Was die Datierung angeht, so ist die entscheidende Frage, wie Gerdes gezeigt hat,863 ob man den Konjunktiv Präteritum der Verse 5 bis 14 als Irrealis der Gegenwart oder aber der Vergangenheit auffasst. Im ersten Fall ist das Schlimmste – die Einnahme Wiens, die Erklärung der Herzogtümer Österreich und Steiermark als reichsunmittelbare Gebiete sowie der Abfall der österreichischen und steirischen Ministerialen –864 noch nicht eingetreten, der Spruch müsste also noch vor der Eroberung Wiens entstanden sein (Wien wird im April 1237 von Kaiser Friedrich II. zur Reichsstadt erklärt) und die Verse 5
861 Schönbach mutmaßt, dass drei „wohl als formelhafte Zahl für zwei geschrieben [ist], ein klarer Beweis, wie weit J schon von den historischen Verhältnissen des Spruches entfernt war“ (Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 86). 862 Gerdes schreibt hierzu, dass damit wohl „die Einkünfte, die Wien aufbringt“ (Gerdes: Beiträge, S. 67) gemeint sind. Vgl. auch Schönbach: „der grôze gelt V. 13 wird von ihr [der Stadt Wien, Anm. d. Verf.] kommen […].“ (Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 88) 863 Vgl. Gerdes: Beiträge, S. 67 f. 864 Vgl. Gebhardt, Bd. 6, S. 251 f.
71. Sıt ıch nícht grozer dorfer han.
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bis 14 wären als Warnung oder vorbeugender Ratschlag zu verstehen. Im zweiten Fall ist der Konflikt bereits, wie oben beschrieben, eskaliert und der fiktive Gedankengang wäre rückblickend gemeint, der Abfassungszeitpunkt läge also nach April 1237. Die Forschung hat sich mehrheitlich für die letztere Lesart entschieden und den Spruch ins Jahr 1237 datiert,865 wobei zunächst Schönbach und anschließend Vetter eine zeitliche Präzisierung vornehmen: Während Schönbach davon ausgeht, dass VI,71 am ehesten im „Sommer und Herbst 1237“866 gedichtet ist, geht Vetter noch einen Schritt weiter und legt den Zeitpunkt auf „bald nach anfang april 1237“867, da die Entstehung unmittelbar nach Wiens Erhebung zur Reichsstadt erfolgt sein müsse. Außerdem überlegt Vetter, dass Wernher „damals vermutlich in Wien selbst [war]; denn die wirkung der kaiserlichen erklärung reichte nicht weit über Wien hinaus“868. Dieser Hinweis ist durchaus berechtigt und lässt evtl. tatsächlich Rückschlüsse auf Bruder Wernhers möglichen Aufenthaltsort zu, allerdings nur dann, wenn einigermaßen sicher nachgewiesen werden kann, wie weit (und auch wie schnell) sich die Entwicklung der Ereignisse herumgesprochen hat. Eine andere Position bzgl. des Abfassungszeitpunktes nimmt Manfred Scholz ein. Er liest den Konjunktiv Präteritum nicht ohne Weiteres als Irrealis der Vergangenheit, sondern weist darauf hin, dass speziell Vers 6 die Möglichkeit enthalte, „dass die Besetzung noch verhindert werden kann, wenn der Herzog noch um ,des rîchen keiser [sic!] hulden‘ nachsuchen würde“869. Daher geht Scholz davon aus, dass VI,71 „noch vor der Einnahme Wiens (1237)“870 gedichtet sein könnte. In der Frage, ob die Verse 5 bis 14 zukunftsgewandt oder rückblickend zu verstehen sind, scheint mir Gerdes‘ Hinweis die Entscheidung zugunsten des Letzteren herbeizuführen: Ob der Verlust Wiens, der Herzogtümer und der Ministerialen nur droht oder bereits eingetreten ist, läßt die Strophe sprachlich nicht eindeutig erkennen […]. Sachlich ist jedoch wenig wahrscheinlich, daß Wernher […] den tatsächlichen späteren Verlauf der Dinge so zutreffend hätte beschreiben können.871
865 Vgl. HMS 4, S. 518; Meyer, S. 96; Lamey, S. 24 f.; Doerks, S. 8; Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 86 f. und 88; Vetter, S. 253; Gent, S. 134; Kemetmüller, S. 52; Heinzle, S. 18 (laut Heinzle zeige der Spruch, dass Wernher den „Verlust der beiden Herzogtümer […] als verdiente Strafe“ [Heinzle, S. 18] ansehe). 866 Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 88. 867 Vetter, S. 253. 868 Ebd. 869 Scholz: Reichsidee, S. 41. 870 Ebd. 871 Gerdes: Zeitgeschichte, S. 126.
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Ton VI, Korpus in J
Metrik A4ma 6kb A4ma A6kc 5 A4md A6kc A4md A6kb A4me 10 A 6 k f A4me A8kf 8 2m g 2A 7 2m g
stetẹ sorgẹ hêrrẹ ê ích verlre die gúoten stát ze Wíenè, woldẹ liutẹ an Métze wǽ re mir níht ze víl, ze rten nach des wérden kneges húldèn. daz wólt ich hóln, ê ích verlre driu lánt von mnen schúldèn. schúldẹ unde scháde, séht, die béide mht ich vérre báz vertrágen,
Literatur Doerks, S. 3 • Edwards, S. 306 • Gerdes: Beiträge, S. 60 Anm. 1, 83, 149 und Anm. 3, 157 Anm. 4, 174 und Anm. 3 und 5, 177 Anm. 7, 179 und Anm. 4, 181 und Anm. 5, 192 und Anm. 2, 193 • Gerdes: Zeitgeschichte, S. 150 f. • HMS 4, S. 519 • Heinzle, S. 18 • Kemetmüller, S. 42–44, 87, 221 • Lamey, S. 7, 10 f., 22872 • Meyer, S. 82 f., 84 • Müller: politische Lyrik, S. 96 f. • Roethe, S. 340 • Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 67–71 • Vetter, S. 253.
872 Lamey bringt z. T. die Spruchzählungen durcheinander: Statt C22 schreibt er z. T. C21 (vgl. Lamey, S. 7 und 10).
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Ton VI, Unikal in C
Unikal in C 72. Wıe wírt derríchen arge̅ rat (C36, U) Wıe wírt derríchen arge̅ rat· ſı welle̅t vuͥr / noh hınd ſıch gedenke̅ vor gotte ıſt groſ / ır mıſſetat· vn̅ ſınt oͮch vo̅ d wlte hıe be/ſchvlte̅ 5 ſı ſcheıde̅t vo̅ d wlte blos vo̅ gote / hın· ſo hant ſı weder hıe noch dort vgulte̅· / wıe truͥget den ſín krank ſín· der ſıch de̅ / tuuel (?) lat alſo beſchrenke̅· dc er zeſame̅ / hordet gvͦt 10 dc vf ın wuͦ cht ſv̍nde vn̅ da / bı (?) ſchande (?)· wıe we dc ande̅ ende tuͦ t ſwe̅/ne ers berınpfen (?) mvͦſ vn̅ er de̅ kvmb ger/ne wande· ſo hat er ſıch vſvmet gar ſín / ſpetuͥ ruͥwe ím kleıne frvmt· ſwe̅ne er / ín zer helleporte vuͥr ſínen meıſt kvmt· /
1 bei derríchen interlinear nachgetragenes 〈r〉 schwach erkennbar 8 tuuel schlecht lesbar, da die Tinte z. T. ausgeblichen ist 10 bı schlecht lesbar, da die Tinte stark ausgeblichen; ſchande schlecht lesbar, auch hier ist die Tinte z. T. ausgeblichen 12 berınpfen schlecht lesbar, ebenfalls ausgeblichene Tinte
72. Wıe wírt derríchen arge̅ rat
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Wie wirt der rîchen argen rât? sie wellent vür noch hinder sich gedenken. vor gote ist grôz ir missetât unt sint ouch von der werlte hie beschulten. 5 sie scheident von der werlte blôz zuo von gote hin, sô hânt sie weder hie noch dort vergulten. wie triuget den sîn kranker sin, der sich den tiuvel lât alsô beschrenken, daz er zesamen hordet guot, 10 daz ûf in wuochert sünde unt dâ bî schande. wie wê daz an dem ende tuot! swenne erz berinphen muoz und er den kumber gerne wande, sô hât er sich versûmet gar. sîn spætiu riuwe im kleine vrumt, swenne er în zer helleporte vür sînen meister kumt.
36 C davor: 35 C = 65 J danach: 37 C = 67 J 1 arc: Das hier subst. Adj. kann sowohl ‚böse, schlimm‘ wie auch ‚geizig‘ heißen. Angesichts des Kontextes, der auf das Anhäufen von Besitz und dessen negative Folgen ausgerichtet ist, übersetzte ich mit ‚geizig‘. rât: hier ‚Abhilfe, Befreiung von etwas‘, rât werden: mit Gen. (der rîchen argen) ‚(ab-)helfen‘ 4 beschelten: ‚durch Tadel oder Schmähung herabsetzen, verkleinern‘; das Part. Prät. des stV. lautet regulär bescholten, allerdings kann es bei Verben der AR IIIb wie hsl. auch mit /u/ stehen (vgl. Mhd. Gram., § M 78 Anm. 2). 5 von gote hin: Die hsl. Lesart vo̅ d wlte und blos vo̅ gote hın erscheint in ihrer Logik fehlerhaft: Entweder man scheidet von der Welt oder man scheidet von Gott, beides zusammen ergibt hier keinen Sinn, da ja gerade durch die beiden Pole werlt – got der Gegensatz von Diesseits und Jenseits aufgezeigt werden soll. Indem man von der Welt scheidet, verlässt man das Diesseits und fährt in diesem Fall zu Gott auf. Oder ist hier tatsächlich gemeint, dass man sowohl von der Welt als auch von Gott scheidet und somit zur Hölle fährt, worauf der tiuvel in V. 8 und übrigens auch die mangelnde Buße in Dies- und Jenseits (vgl. V. 7) hindeuten könnten? Aber in diesem Fall erschiene das Lokaladv. hin unsinnig. Müsste es dann nicht von gote her heißen? Oder ist hin hier allein dem Reim geschuldet (hin : sin)? Ich bin unschlüssig und greife in den normal. Text ein, indem ich zu zuo gote hin korrigiere, die hsl. Lesart jedoch durchgestrichen aufführe. Schönbach – dem Nolte/Schupp folgen (vgl. Nolte/Schupp, S. 206) – greift in die hsl. Lesart ein und schreibt für V. 5: si scheident von der werlte hin (Schönbach, 3. Stück
HMS 2: VI,4 Sch 36
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Ton VI, Unikal in C
bzw. 140. Bd., S. 85). Ein tiefgreifender Eingriff, den ich für nicht gerechtfertigt halte. 6 vergelten: zum Wurzelvokal im Part. Prät. vgl. V. 4 beschelten 8 tiuvel: Falls es sich bei der hsl. Form tuuel nicht um eine Verschreibung handelt, bei der lediglich das übergeschriebene 〈i〉 vergessen wurde, liegt hier mit tûvel entgegen der alem. Prägung von C eine eher für das Md. typische Form vor. Natürlich immer vorausgesetzt, die an dieser Stelle aufgrund der z. T. ausgeblichenen Tinte schlecht lesbare Hs. schreibt überhaupt tuuel und nicht ein völlig anderes Lexem. beschrenken: hier ‚betrügen, überlisten‘ der sich den tiuvel lât alsô beschrenken: ‚der sich (durch) den Teufel derart beschränken lässt‘ – damit ist gemeint, dass der Teufel dafür verantwortlich ist, dass der Blick manches Menschen (des Gierigen bzw. Geizigen nämlich) allein auf Materielles (vgl. V. 9) beschränkt ist und nicht auf das große Ganze (nämlich Dies- und Jenseits) gerichtet wird. 9 zesamen horden: zusammengefasst in ‚anhäufen‘ 10 ûf: hier wohl ‚einen räuml. Endpunkt ausdrückend‘ wuochern: tr. ‚als Frucht hervorbringen, tragen‘ 12 berinphen: ‚zu etwas die Stirn runzeln‘, sowohl HWB als auch BMZ führen für dieses Lexem nur sehr wenige Belegstellen an, die m. E. nicht mit absoluter Sicherheit aufzeigen, ob berinphen auch mit Gen. stehen kann. Es ist also durchaus möglich, dass es in V. 12 er-s statt er-z heißen muss. Da es in C keine feste grafische Kennzeichnung des Gen. zu geben scheint, trägt auch die hsl. Schreibung kaum zur Klärung bei. Ich wähle die Lesart mit Akk. (erz). wenden: ‚rückgängig machen, abwenden, wehren, hindern, verhindern‘, m. E. ist sowohl ‚rückgängig machen‘ als auch ‚verhindern‘ möglich, einmal ist das irdisch bereits verursachte Leid gemeint, das andere Mal das Leid, das im Diesseits noch bevorsteht. Aufgrund der spæten riuwe in V. 13, die sich eben gerade auf das unrühmliche Leben rückbezieht, übersetze ich wenden mit ‚rückgängig machen‘. 13 versûmen: refl. ‚säumen, saumselig sein, sich verspäten‘ kleine: Litotes 14 helleporte: ‚Höllenpforte‘
72. Wıe wírt derríchen arge̅ rat
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Übersetzung Wie wird den reichen Geizigen geholfen? Sie wollen weder voraus- noch zurückdenken. Vor Gott ist ihr Vergehen groß und auch hier auf der Welt befinden (sie) sich in der Kritik. 5 Wenn sie die Welt nackt hin zu Gott verlassen, dann haben sie weder hier noch dort gebüßt. Wie täuscht denjenigen sein schwacher Verstand, der sich (durch) den Teufel derart überlisten lässt, dass er Besitz anhäuft, 10 so dass bei ihm die Sünde und dazu die Schande gedeihen. Wie schmerzlich das am Ende ist! Wann auch immer er darüber die Stirn runzeln muss und das Leid allzu [gern rückgängig machen würde, (so) ist er (dafür) ganz und gar zu spät. Seine späte Reue nützt ihm gar nichts, wann auch immer er zur Höllenpforte hinein vor seinen Meister tritt.
Inhalt In VI,72 führt Bruder Wernher eindringlich die Folgen von Geiz und übermäßiger Besitzgier vor Augen.873 Dabei teilt er den Spruch in zwei Teile, wobei der erste Teil (vgl. V. 1–6) zunächst die Lage beschreibt, in der sich die rîchen argen (V. 1) allgemein befinden, und der zweite Abschnitt (vgl. V. 7–14) einen Einzelnen aus dieser Gruppe in den Blick nimmt, um an diesem die schrecklichen Folgen eines derartigen Verhaltens zu verdeutlichen. Der erste Teil setzt ein mit der Frage, wie den rîchen argen (V. 1) geholfen werden wird, und impliziert damit, dass es fraglich ist, ob ihnen überhaupt zu helfen ist. Wie schwierig sich dies nämlich angesichts ir missetât (V. 3) darstellt, zeigen die Verse 2 bis 6: Sie haben ihr Leben weder umsichtig noch vorausschauend geführt (vgl. V. 2) und für ihr Fehlverhalten weder hie noch dort (V. 6) Verantwortung übernommen (vgl. V. 6).874 Ab hier geht der Spruch nun von der Beschreibung der unspezifischen Allgemeinheit aller rîchen argen
873 Schönbach verweist auf das Gericht über die Reichen im Brief des Jakobus (Jak 5,1–6) (vgl. Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 85). 874 Vers 5 erinnert in seiner Wortwahl (sie scheident von der werlte blôz zuo von gote hin) an Vers 11 in V,64: nacket wart ich ze dir geborn unde scheide ouch blôz von dir.
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Ton VI, Unikal in C
(V. 1) über in den Einzelfall, wobei die beschriebene Person jedoch auch nur exemplarisch zu sehen ist, sie kann nicht konkret festgemacht werden. Während die Verse 2 bis 6 noch Gott und das Jenseits als eine Art Gegenpol zum irdischen Leben verstehen (vgl. V. 3 vor gote, V. 5 zuo von gote hin), tritt Gott ab Vers 7 zurück und der tiuvel (V. 8) nimmt seinen Platz ein. Dadurch wird signalisiert, dass in Anbetracht eines Lebenswandels, wie ihn die rîchen argen (V. 1) an den Tag gelegt haben, nach dem Tod keinerlei Hoffnung auf Gnade oder Schonung besteht. Kern der Anklage des zweiten Abschnitts ist die Besitzgier, zu der sich mancher durch den Teufel verleiten lässt (vgl. V. 7– 9). Das Anhäufen von Besitz hat wiederum zur Folge, dass auch sünde und schande (beides V. 10) Früchte tragen und sich bei dem Gierigen vermehren (vgl. V. 10).875 Dadurch verschlimmert sich natürlich auch die Strafe, die nach dem Tod wartet (vgl. V. 11). Aber selbst wenn dies dem Betroffenen bewusst wird (vgl. V. 12) und er den kumber gerne wande (V. 12), so kommt diese Einsicht, diese Reue zu spät und nützt ihm überhaupt nichts mehr (vgl. V. 13), sein Schicksal ist vorgezeichnet und unabwendbar: Er wird în zer helleporte vür sînen meister (V. 14) treten müssen. Interessant ist, dass meister hier nicht für eine positiv konnotierte Autorität steht, sondern der Teufel gemeint ist.876 Dadurch erfährt nicht nur die „Qualität“ seiner Fähigkeiten eine gewisse Auszeichnung (er ist meisterhaft in dem, was er tut), sondern zugleich sagt die Wortwahl auch etwas über die Rolle des Gierigen aus: Er ist gewissermaßen der „Lehrling“ des Teufels und eifert diesem somit nach. Welche Motivation hinter diesem Spruch steckt, dürfte klar sein: Zwar deutet lediglich die Formulierung der rîchen argen in Vers 1 den Geiz dieser Besitzgierigen an, aber dies reicht aus, um den Spruch als Anklage fehlender Großzügigkeit aufzufassen. Denn der Umstand, dass die gesamte Strophe darauf abzielt, den Vermögenden in seiner Gier und Sündhaftigkeit abzustrafen, verdeutlicht zum einen, dass der Gierige seinen Besitz gerade nicht zum Wohle der Gesellschaft einsetzt, und zum anderen, dass sich speziell die Reichen ein solches Verhalten nicht zum Vorbild nehmen sollten. Die Folgen werden ja zur Genüge beschrieben. 875 Zu dem Wortpaar sünde und schande vgl. Gerdes: Beiträge, S. 91 Anm. 3. 876 Positiv wird meister in den Sprüchen I,17,3 (unt nieman des sîn [= Gott, Anm. d. Verf.] meister ist unt nie sîn meister wart), II,25,8 in der Lesart von C (!) (daz hœren wir von der wîsen meister lêre) und IV,58,1 (Swes lop vernegelt wirt, daz niht ein meister büezen kan) verwendet, negativ hingegen in I,2,10 (swen sie der hellescherge hin vür sînen meister twinget), der dem vorliegenden Vers zumindest im Wortlaut sehr ähnlich ist. Übrigens fällt auf, dass der Teufel durchaus der meister eines Menschen sein kann (vgl. VI,72,14), Gott hingegen nicht, wie I,17,3 deutlich macht: Gott ist in seinem Wesen als Schöpfer, als meister unerreichbar und nimmt insofern auch einen anderen Rang ein, als der Teufel. Vgl. zu meister generell Gerdes: Beiträge, S. 150 f.
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Inhaltliche Ähnlichkeit mit anderen Texten vgl. insgesamt: Jak 5,1–6 vgl. zu Vers 5: Walther L 67,8 (komplett, hier v. a. aber V. 3): wir scheiden alle blôz von dir, (Schweikle: Walther, Bd. 2, S. 444) Freidank 177,1 f.: Zer werlde komen wir âne wât; in swacher wât ouch sie uns lât. (Spiewok, S. 150) vgl. zu Vers 6: Walther L 16,8 (hier V. 7): wol im dort, der hie vergalt! (Schweikle: Walther, Bd. 2, S. 472) vgl. zu Vers 7: Walther L 14,14 (hier V. 3): triuget dar an mich mîn sin, (Schweikle: Walther, Bd. 2, S. 54) vgl. zu Vers 12 (berinphen): Walther L 75,25 (hier V. 7): des rimpfet sich vil manic brâ. (Schweikle: Walther, Bd. 2, S. 248) vgl. evtl. zu Vers 14 (helleporte): Mt 16,18; Jes 38,10
Metrik A A A A 5 A A A A A 10 A A A A
4ma 6kb 4ma 6kc 6 (?) m d 6kc 4md 6kb 4me 6kf 4me 8kf 8 2m g 7 2m g
gotẹ
sündẹ swennẹ riuwẹ swénnẹ er n zer héllepòrte vür snen méister kúmt.
Literatur Edwards, S. 307 • Gerdes: Beiträge, S. 91 und Anm. 3 und 5, 96 und Anm. 1, 117 Anm. 1, 151 Anm. 1, 178 und Anm. 3, 179 Anm. 7, 181 Anm. 4 • HMS 4, S. 523 • Kemetmüller, S. 14, 34, 51, 223 • Lamey, S. 7, 8, 27 • Nolte/Schupp, S. 204 f., 427 • Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 85 • Strasser, S. 241 • Vetter, S. 253.
Ton VII Ton VII, der mit VII,73 lediglich einen Spruch enthält, lehnt sich mit seinem Reimschema an Ton VI an. Dementsprechend liegt mit abac dbdc’ (der c-Reim ist unrein) auch hier eine komplexere Struktur des Aufgesangs vor, die neben dem Kreuzreim auch Elemente des verschränkten Reims beinhaltet. Metrische Formel:877 Aufgesang: 4ma 3mb 4ma 6kc / 4md 3mb 4md 6kc’ // Abgesang: 5me 6kf 6me 6kf 8mg 11mg
877 Vgl. andererseits RSM 2,1, S. 303 (hier ebenfalls Ton VII). Dass das RSM für Vers 14 lediglich zehn Hebungen bzw. Takte ansetzt, liegt an der Lesart dieses Verses in Schönbachs Ausgabe (vgl. Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 1), auf der die Untersuchung des RSM beruht. Der Handschrift zufolge liegen hier jedoch elf Hebungen bzw. Takte vor.
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Ton VII, Unikal in C
Unikal in C 73. Swe̅ne ıch vo̅ akers kvm gewa̅t (C30, U) Swe̅ne ıch vo̅ akers kvm gewa̅t· her ín / d tuͥtſche̅ habe· mı ̅ kvnſt erſchıllet ın / dv̍ lant· das eteſlıch wol da vuͥr geſwuͤ re· 5 d / nıht vor ſchande̅ ıſt bewart· ſo mvͤze ıch críſ/tes grabe· níem geleıſte̅ mıne vart· ob ıch / dıe ſelbe̅ nıht mít ſchelte̅ ruͤ ge· dıe wıle / ſo gıbe ıch ín alle̅ vrıde· 10 dc ıch ír laſt offenb / geſínge· vn̅ weıs doch wol ſolt ma̅ mıch loͤ/ſen vo̅ der wıde· dc ıch nıht mag vlaſſen / ald ıch betwínge· vn̅ weı doch wol e ıch eın / arge̅ zage̅ getwu̅ge vf mılte̅ mvͦt· dc ıch / mıt ríeme̅ lıeht twunge eıne̅ ſteın dc ma̅ / ım an d ader lıeſſe blvͦt· /
73. Swe̅ne ıch vo̅ akers kvm gewa̅t
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Swenne ich von Âkers kum gewant HMS 2: VII,1 Sch 39 her in der tiutschen habe, mîn kunst erschillet in diu lant, daz eteslîcher wol dâ vür geswüere, 5 der niht vür schanden ist bewart. sô müeze ich kristes grabe nie mêr geleisten mîne vart, ob ich die selben niht mit schelten rüege! die wîle sô gibe ich in allen vride, 10 daz ich ir laster offenbær gesinge. unt weiz doch wol, solt man mich lœsen von der wide, daz ich niht mac verlâzen, ald ichs betwinge; unt weiz doch wol, ê ich ein argen zagen getwünge ûf milten muot, daz ich mit riemen lîhter twünge einen stein, daz man im an der âder [lieze bluot.
30 [29] C davor: 29 [28] C = 56 J danach: 31 [30] C = 55 J 1 komen: bereits hsl. ist – aus metr. Gründen? – der ə-Laut der 1. Sg. Ind. Präs. apokopiert 2 habe: hier wohl ‚Hafen‘ 3 in diu lant: Ich gehe hier mit Schönbachs Interpretation; er übersetzt freier mit ‚weit und breit‘ (vgl. Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 5). 4 dâ vür swern: ‚dagegen schwören‘, gemeint ist damit wohl, einen Eid gegen das vom Sprecher Gesagte abzulegen, eidlich zu geloben, dass der Sprecher mit seiner Schelte die Unwahrheit spricht. 6 müezen: hier ‚dürfen‘ 8 rüegen: ‚tadeln, anklagen, vorwerfen‘, ich übersetze etwas freier mit ‚bloßstellen‘. Die Frage, ob rüege im Ind. oder Konj. Präs. steht, ist m. E. nicht endgültig zu beantworten, da die Wahl des Modus (nicht zuletzt im Konditionalsatz) im Mhd. noch keinen festen Regeln unterliegt (vgl. dazu Mhd. Gram., § S 183, § S 185, 2. d), § S 191 und § S 192). Da der Modus in Obersatz und abh. Satz tendenziell jedoch identisch ist, übersetze ich rüege mit Konj. 9 die wîle: ‚die Zeit hindurch, solange, währenddessen‘, d. h. während das Ich unterwegs zum Grab Christi ist 10 offenbær(e): ‚offen gezeigt, deutlich, sichtbar; öffentlich‘ 11 wit: st. Fem., ‚Strang aus gedrehten Baumzweigen zum Binden und Hängen‘ 12 verlâzen: Hier handelt es sich um die durch Präfix verstärkte Form von lâzen (vgl. BZM verlâzen), die hier absol. ‚unterlassen‘ bedeutet. Zur grafischen Form der Hs. (vgl. auch V. 14 hsl. lieſſe) vgl. süeze in II,44,6. ald: Fungiert hier als Einleitung zu einem exzipierenden Nebensatz (vgl. Mhd. Gram., § S 174 Anm. auf S. 419), also ‚es sei denn, ich erzwinge es‘. Ich
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Ton VII, Unikal in C
übersetze zum besseren Verständnis freier. betwingen: Kann es sein, dass das Obj. fehlt? In der Bedeutung ‚erzwingen, zwingen, nötigen‘, die m. E. hier gemeint ist, steht das Verb in der Regel mit einem Gen.obj. (vgl. BMZ betwingen, 4. b.), das hier jedoch fehlt. Schönbach geht ebenfalls von ‚(er-)zwingen‘ aus und ergänzt enklitisch ‑s beim ersten ich des Verses (vgl. Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 1), was m. E. nicht ganz korrekt ist, denn das Gen.obj. muss wenn dann beim zweiten ich stehen, also: ald ich-s betwinge. In diesem Sinne füge ich im normal. Text das Gen.obj. hinzu. 13 wizzen: Die hsl. Lesart weı scheint mir nur durch eine Verschreibung erklärbar. getwingen (vgl. auch V. 14): hsl. fehlt die Kennzeichnung des Umlauts im Konj. Prät. (vgl. Mhd. Gram., § L 36) milter muot: wörtlich ‚freigebige Gesinnung‘ 14 lîhte: die hsl. Lesart mit Diphthong ie ist Nbf. zu lîhte
73. Swe̅ne ıch vo̅ akers kvm gewa̅t
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Übersetzung Sobald ich von Akkon aus her in den Hafen der Deutschen komme, erklingt meine Kunst weit und breit, so dass mancher bestimmt dagegen einen Eid ablegen würde, 5 der in Schande lebt. So dürfte ich meine Fahrt zum Grab Christi künftig niemals durchführen, wenn ich eben jene nicht durch Tadel bloßstellen würde! Solange lasse ich sie alle (damit) in Frieden, 10 dass ich ihre Schande offen besinge. Und dennoch weiß (ich) genau, dass ich, (selbst wenn) man mich vom Strang [befreien sollte, es nicht unterlassen kann, es sei denn, ich zwinge mich dazu; und weiß dennoch genau, ehe ich einen geizigen Bösewicht zur Freigebigkeit [zwingen würde, würde ich leichter einen Stein (durch das Einschnüren) mit Riemen (dazu) [bringen, dass man Blut aus seinen Adern (fließen) lassen könnte.
Inhalt VII,73878 ist ausgerichtet auf die Rolle des Sprechers (bzw. Dichters) als Künstler und dessen Selbstverständnis als moralisches Gewissen der Gesellschaft. Als Gegenpol dienen auch hier Menschen, die einen lasterhaften Lebensstil haben (vgl. V. 5 der niht vür schanden ist bewart) bzw. geizig sind (vgl. V. 13 ein argen zagen). So berichtet der Sprecher davon, dass seine Kunst, sein Gesang also, weit und breit zu hören sei (vgl. V. 3), wann auch immer er von Akkon879 in den Hafen der Deutschen gelange (vgl. V. 1 f.). Dabei entfaltet sein Gesang eine derartige Wirkung, dass sich mancher, der niht vür schanden ist
878 Lamey „möchte […] die Aechtheit des Spruches […] zwar nicht geradezu in Abrede stellen, dazu reichen die Kriterien nicht hin, aber doch als zweifelhaft bezeichnen“ (Lamey, S. 13). Er begründet seine Zweifel an der Echtheit zum einen mit der „für Br. W. ganz unzulässliche[n] Assonanz geswüere : rüege (4 : 8)“ (ebd., S. 12), zum anderen mit der metrisch bedingten „isolierte[n] Stellung“ (ebd.) sowie der Position des Spruches in der Handschrift (vgl. ebd., S. 13). Schönbach steht diesen Überlegungen skeptisch gegenüber (vgl. Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 2) und auch ansonsten wurde Lameys These nicht weiterverfolgt. 879 Akkon ist eine Hafenstadt im Norden Israels, die im Mittelalter aufgrund ihrer Meeranbindung für die Kreuzfahrer (aber auch für die Araber) von strategischer Bedeutung war.
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Ton VII, Unikal in C
bewart (V. 5), davon bedroht fühlt, und zwar so sehr, dass er gegen das, wovon der Sprecher singt, einen Eid ablegen würde, also schwören würde, dass das Gesungene nicht der Wahrheit entspricht (vgl. V. 4). Indem der Sprecher auf die Verfehlungen und das Laster eteslîcher (V. 4) hinweist, stellt er also eine Bedrohung für deren öffentliches Ansehen dar, der sie durch Beteuerung des Gegenteils versuchen entgegenzuwirken. Die Kunst erscheint somit einmal mehr als „Waffe“ gegen moralisches Fehlverhalten und Sittenlosigkeit,880 wobei gerade die Formulierung mîn kunst erschillet in diu lant (V. 3) die Fähigkeit verdeutlichen soll, mit der die Kunst auch räumliche „Hindernisse“ überwindet, sie breitet sich ungehindert aus. Während die Verse 1 bis 5 die Situation beschreiben, die durch die Anwesenheit des Sprechers bzw. durch dessen Gesang erzeugt wird, steht in den Versen 9 und 10 gerade seine Abwesenheit im Mittelpunkt. Solange er nämlich nicht zugegen, sondern zum Grab Christi unterwegs sei (vgl. V. 6 f.), lasse er die Lasterhaften in Frieden und singe nicht von der Schande derer, die sich unverkennbar schuldig machen würden (vgl. V. 9 f.). Seine Abwesenheit bedeutet jedoch nicht, dass das Engagement des Sprechers als gesellschaftlicher Mahner nachlassen würde, ganz im Gegenteil: Er beteuert, dass er von dieser Aufgabe nur dann ablassen könnte, wenn er sich selbst dazu zwingen würde (vgl. V. 12); denn selbst dann, wenn ihn allein der Verzicht darauf vom Strang befreien und ihm das Leben retten würde (vgl. V. 11), müsste er seiner Rolle als gesellschaftliches Korrektiv nachkommen.881 Beinahe im selben Atemzug wird diese Unermüdlichkeit und Aufopferungsbereitschaft jedoch getrübt, denn er schränkt leicht resigniert und verbittert ein, dass auch noch so große Anstrengungen einem argen zagen (V. 13) gegenüber diesen nicht zu Freigebigkeit verleiten würden (vgl. V. 13), es einem vielmehr eher gelingen würde, einen Stein zum Bluten zu bringen (vgl. V. 14).882 Den ungewöhnlichen883 „erzählerischen“ Ausgangspunkt des Spruches bildet die Pilgerfahrt des Sprechers (oder Dichters?) zum Grab Christi,884 wobei der 880 Vgl. dazu auch II,44 (kunst in V. 3) und III,54 (kunst in V. 1). 881 Vgl. dazu Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 5. 882 Zum Bild des blutenden Steins vgl. ebd. 883 Stackmann schreibt: „Dieser Spruch ist insofern so bemerkenswert, als er zweierlei nebeneinander zeigt, was man meist scharf zu trennen pflegt: das aktuelle politische Thema und die zeitlos-allgemeine Tugendmahnung.“ (Stackmann: Mügeln, S. 107) Allerdings handelt es sich hier nicht einfach nur um ein politisches Thema (nämlich das Kreuzzugsunternehmen), sondern eine stark religiöse Komponente spielt außerdem noch mit hinein: Das Grab Christi als höchstes Ziel eines Christen und im vorliegenden Fall sogar als Lohn für die Mühen des Sprechers (vgl. V. 6–8). 884 Die Pilgerreise ist hier übrigens nicht als Bußfahrt des Sprechers zu verstehen, sondern, wie die Verse 6 bis 8 zeigen, als Lohn für seine unermüdlichen Bemühungen um die sittlich-
73. Swe̅ne ıch vo̅ akers kvm gewa̅t
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Spruch hier jedoch etwas missverständlich formuliert ist, was zu zweierlei Auslegungen geführt hat: Der Spruch wurde entweder im Heiligen Land gedichtet und vorgetragen, wie Schönbach annimmt, oder aber Wernher hat, wie Vetter hingegen meint, die Strophe verfasst, noch bevor er den europäischen Kontinent verlassen hat (natürlich immer vorausgesetzt, die Pilgerfahrt hat tatsächlich stattgefunden und ist nicht fiktiv zu verstehen!). Vetter zufolge ist der Spruch „eine letzte drohung […] unmittelbar vor der abfahrt in den orient“885 an die in Deutschland zurückbleibenden lasterhaften Geizhälse (,Wartet nur ab! Wenn ich wieder zurück bin aus Akkon, dann helfen euch keine Beteuerungen, denn dann werde ich gnadenlos aufzeigen, wer in Schimpf und Schande lebt!‘). Hieran fügen sich die Verse 9 und 10 inhaltlich übergangslos an (,Bis dahin aber lasse ich euch in Frieden und singe nicht von eurer offensichtlichen Verkommenheit!‘). Und auch der Mittelteil bestehend aus den Versen 6 bis 8 stellt, Vetters Interpretation zufolge, keinerlei Verständnisprobleme dar: Der Sprecher befindet sich unmittelbar vor dem Aufbruch zur Pilgerreise, wendet sich ein letztes Mal drohend an sein Publikum (bzw. eine bestimmte Gruppe darunter) und bekräftigt nun das Gesagte dadurch, dass er mit Blick auf das Ziel seiner Reise erklärt, wenn er aufhören würde, die Lasterhaften offen zu tadeln, dann hätte er es auch nicht verdient, die Reise zum Grab Christi anzutreten (vgl. V. 6–8). Im Vergleich zu Vetters Interpretation macht Schönbach m. E. bei der Interpretation von VII,73 den entscheidenden Fehler, dass er – salopp formuliert – das Pferd von hinten aufzäumt. Er ist so sehr darauf konzentriert, dem Spruch einen historischen Hintergrund zuzuweisen, dass er mögliche inhaltliche Ungereimtheiten gar nicht mehr wahrzunehmen scheint. Er geht nicht von der Interpretation des Textes aus, sondern man hat beinahe den Eindruck, als interpretiere er den Text basierend auf dem gewünschten historischen Hintergrund. Der Hauptunterschied zu Vetters Deutung ist, dass Schönbach die Verse 1 bis 5 nicht als Drohung, also nicht auf die Zukunft ausgerichtet sieht, sondern wörtlich versteht. Dementsprechend könne der Spruch zum einen aufgrund von Vers 2 nicht in Deutschland verfasst worden sein, denn der Sprecher erkläre hier, dass er jetzt erst zurückkehre. Da er aber auf der anderen Seite betone, dass er von Akkon komme, könne zum anderen auch das nicht der Entstehungsort sein.886 Und so schlussfolgert Schönbach: moralische Läuterung seiner Mitmenschen. Anders ist dies in II,35,12. Hier ist ebenfalls von einer Pilgerfahrt zum Grab Christi die Rede, allerdings behandelt der Spruch den Konflikt zwischen Kaiser Friedrich II. und Papst Gregor IX. (sowie dem Lombardenbund) und endet mit dem Vers: sô suln wir prüeven eine vart vür sünden hin ze gotes grabe. Diese Reise ist demnach als läuternde Bußübung aufzufassen. 885 Vetter, S. 253. 886 Vgl. Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 3.
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Ton VII, Unikal in C
Es muß ein Platz durch der Tiutschen habe bezeichnet sein, der von Akkon aus leicht zugänglich war, wohin man während eines längeren Aufenthaltes in Akkon wiederholt gelangen konnte. Nur bei dem Zuge Kaiser Friedrichs II. nach dem heil. Lande 1228/9 bietet sich, soweit ich sehe, eine Gelegenheit, auf welche diese Worte des Spruches passen. […] Damals konnte man Jaffa wirklich der Tiutschen habe nennen. Am 18. Februar 1229 war die Befestigung dieser Hafenstadt vollendet […]. Am 17 März ist der Kaiser in Jerusalem eingezogen, und mit ihm die deutschen Kreuzfahrer […].887
Schönbachs Interpretation mag logisch erscheinen, wenn man nur die Verse 1 bis 5 für sich allein betrachtet, fügt man jedoch die anschließenden Verse 6 bis 10 hinzu, so entstehen aus meiner Sicht folgende Schwierigkeiten: 1. Versteht man den Spruch in Vers 1 f. wörtlich, bedeutet dies, dass der Sprecher zurückkommt von seiner Pilgerreise.888 Derjenige, der niht vür schanden ist bewart (V. 5), darf sich jetzt also nicht mehr sicher fühlen, denn das „moralische Gewissen“ ist zurück. Wenn der Sprecher aber nun zurück ist, wie kann er dann ein paar Verse weiter unten davon sprechen, dass er in allen vride [gibe] (V. 9), solange er nicht da sei, sondern auf dem Weg zum Grab Christi? 2. Und wie passt nach Schönbachs Deutung die Chronologie der Ereignisse insgesamt zusammen? Zuerst erklärt der Sprecher, er käme von Akkon und sei im Begriff deutschen Boden zu betreten. Aufgrund der Nennung der Stadt Akkon, die ja Teil des Heiligen Landes ist, muss der Rezipient glauben, der Sprecher habe das Grab Christi, das für einen Christen wohl die Hauptursache für eine Reise nach Palästina sein muss, bereits besucht. Im Anschluss daran erklärt der Sprecher nun jedoch, dass er die Fahrt zur Grabstätte nur dann unternehmen dürfe, wenn er nicht aufhöre, moralische Verfehlungen anzuklagen. Hierdurch muss gerade der entgegengesetzte Eindruck entstehen, dass nämlich die Reise doch noch nicht an ihrem Ziel angekommen ist, im Grunde noch gar nicht angetreten wurde. Aufgrund dieser Ungereimtheiten, für die Schönbach m. E. keine zufriedenstellenden Antworten anbietet, schließe ich mich Vetters Position an. Da der Spruch Missverständnisse jedoch geradezu zu provozieren scheint, bin ich nicht sicher, ob mit Vetters Auslegung bereits das letzte Wort gesprochen ist.
887 Ebd. 888 Das einleitende swen impliziert andererseits aufgrund seines verallgemeinernden Charakters, dass eben kein konkreter Zeitpunkt genannt wird, sondern dass der Augenblick der Rückkehr des Sprechers vielmehr irgendwann in der Zukunft liegt. Auch dies spricht also eher gegen Schönbachs These.
73. Swe̅ne ıch vo̅ akers kvm gewa̅t
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Mit Blick auf die Kreuzzugsthematik, in die VII,73 eingebettet ist, nimmt der Spruch eine zwiespältige Rolle ein. Wie schon Wentzlaff-Eggebert festgestellt hat, steht die Auseinandersetzung des Ich mit den argen zagen (V. 13) „in keinem inneren Zusammenhang mit der Kreuzfahrt“889. Das Kreuzfahrtthema bildet vielmehr eine Art Hintergrund, vor dem das eigentliche Thema abgehandelt wird: Der Sänger als Mahner und sein Verhältnis zu geizigen Herren. Hierbei dient gerade das Motiv der Trennung und das Wechselspiel von Heimat (und Daheimgebliebenen) und Fremde bzw. Ferne als Grundlage für die Selbstinszenierung des Ich. Obwohl der Spruch das Kreuzzugsthema also eher instrumentalisiert und an ihm vorbeischreibt, bleibt es unabhängig davon doch dem Tenor des traditionellen Kreuzlieds treu. Die Kreuz- bzw. Pilgerfahrt wird als erstrebenswert dargestellt (vgl. V. 6–8) und das Kreuzzugsunternehmen grundsätzlich auch nicht kritisiert oder infrage gestellt (vgl. auch VIII,74 und IX,76). Lässt diese Erkenntnis Rückschlüsse auf die Entstehungsphase des Spruches zu? Ein eher kritischer Umgang mit der Kreuzzugsunternehmung in der deutschen Lyrik kommt erst im frühen 13. Jahrhundert auf.890 VII,73 ist evtl. zur Zeit des sog. fünften Kreuzzugs (1217–19) entstanden (siehe Kapitel ,Historischer Hintergrund‘), zu einer Zeit also, als die Kreuzzugsbegeisterung bereits nachgelassen hat und die Kreuzzugsbewegung auch in der deutschen Kreuzugslyrik zunehmend kritisch gesehen wird.891 Beinahe im Widerspruch zu dem in VII,73 eher indirekt behandelten Kreuzzugsthema, in das die „Haupthandlung“ eingebettet ist, stehen die für Kreuzlieder ungewöhnlich konkreten Ortsangaben des Spruches (vgl. V. 1 von Âkers, V. 2 in der tiutschen habe). Welche Rückschlüsse lassen sie auf eine reale Pilgerfahrt sowie auf das Verhältnis von Sprecher-Ich und Dichter zu? Die ältere Forschung hat – wie in den meisten anderen Sprüchen auch – nicht zwischen Sprecher und Dichter differenziert und ist davon ausgegangen, dass Bruder Wernher hier von seiner eigenen Pilgerfahrt berichtet.892 Die jüngere Forschung ist bereits etwas vorsichtiger und scheint dementsprechend allzu leichtfertige Gleichsetzungen von Sprecher-Ich und Dichter zu meiden.893 Wenngleich ich mit Blick auf Formulierungen wie sô suln wir prüeven eine vart vür sünden hin ze gotes grabe in II,35,12 oder den Text von IX,76 ebenfalls zurückhaltend bin, was übereifrige biografische Ausdeutungen angeht, so 889 Wentzlaff-Eggebert, S. 305. 890 Vgl. ebd., S. 234; Müller: Kreuzzugslyrik, S. 70; Bültmann, S. 238, 244 f. 891 Vgl. Wentzlaff-Eggebert, S. 213–218; Böhmer, S. 16, 33 f.; Müller: Kreuzzugslyrik, S. 70–76. 892 Vgl. HMS 4, S. 517; Meyer, S. 82 und 88; Doerks, S. 4; Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 3–5; Vetter, S. 254. 893 Dies scheint mir insgesamt bei Kemetmüller, Gerdes und Müller der Fall zu sein.
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Ton VII, Unikal in C
scheinen mir jedoch derartige Überlegungen bei VII,73 weniger abwegig. Gerade die konkreten geografischen Angaben der ersten Verse lassen aufhorchen. Nicht, weil sie nur demjenigen bekannt gewesen sein konnten, der auch tatsächlich als Kreuz- oder Pilgerfahrer unterwegs war, sondern vielmehr aus eher pragmatischen Gründen: Warum hätte Bruder Wernher in Ich-Form derart konkret über etwas schreiben sollen, wenn er darin nicht selbst in irgendeiner Form involviert war? Im Gegensatz dazu bleibt nämlich etwa Walther in seinem sog. Palästinalied (L 14,38) recht unspezifisch, was die Örtlichkeit angeht, wenn er bzw. der Sprecher sagt: daz réine lant und ouch die erde (Str. 1, V. 3) oder ez íst geschehen, des ich ie bat: ích bin kommen an die stat, da got menischlîchen trat (Str. 1, V. 5–7).894 Und auch in seinem Kreuzlied (L 76,22) oder seiner Kreuzzugsaufforderung (L 13,5) bleibt er relativ ungenau, was die Verortung des Gesagten angeht.895 Zwar sind Verweise des Sprecher-Ich auf konkrete Orte sowie die Beteuerung, dort Augen- bzw. Ohrenzeuge geworden zu sein, ein gern gewähltes Stilmittel, um die Glaubwürdigkeit und den Wahrheitsgehalt der eigenen Aussage zu verstärken, oder aber, um den Grad des vermeintlich individuellen Erlebnisses zu intensivieren. Dennoch scheinen mir die Ortsangaben im vorliegenden Spruch gerade keine derartige Funktion zu haben. Im Grunde dienen sie gar keinem übergeordneten Zweck; der Sprecher verfolgt keine erzieherische Absicht mit ihnen oder setzt sie aus anderen strategischen Gründen ein, sondern sie sind m. E. tatsächlich nichts anderes als Ortsangaben.
Historischer Hintergrund Während die ältere Forschung bei der Datierungsfrage keine allzu detaillierten Angaben macht, sondern „lediglich“ mit Jahreszahlen – nämlich 1228 und
894 Beide Zitate Schweikle: Walther, Bd. 2, S. 468. 895 In dem Kreuzlied wird Walther einzig dank der Nennung des Namens Jerusalem (vgl. L 78,4 [hier V. 11], ebd., S. 462) konkreter (was aber ebenfalls immer noch recht allgemein ist), ansonsten bleibt er mit Umschreibungen wie wir gérn ze den swébenden ünden (V. 10 in L 76,22, ebd., S. 458), daz hêrebernde lant (V. 16 in L 76,22, ebd., S. 458) oder erlœsen wir daz grap (V. 20 in L 77,4, ebd., S. 460) eher in dem allgemeinen, umschreibenden Duktus der Kreuzzugsdichtung. Eine oberflächliche Einsicht in andere Lieder dieser Gattung zeigt, dass auch Dichter wie Friedrich von Hausen, Hartmann von Aue oder Albrecht von Johansdorf vorrangig mit gattungseigenen Themen wie Abschied (scheiden, varn), Kreuznahme oder dem Hinweis auf Kreuz und Grab arbeiten. Lediglich Albrecht von Johansdorf verweist an einer Stelle ebenfalls auf Jerusalem (vgl. V. 2 in MF 89,21 [vgl. MF, S. 185]).
73. Swe̅ne ıch vo̅ akers kvm gewa̅t
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1229 – aufwartet,896 geht Schönbach so weit, die mögliche Entstehungsphase bis auf den Tag genau anzugeben. Dementsprechend müsse VII,73 „zwischen dem 15. November 1228 und dem 18. März 1229 abgefaßt sein“897. Er begründet dies zum einen damit, dass Freidank in seinen Schilderungen über Akkon898 den schlechten Zustand der Kreuzfahrer zu Beginn ihres Aufenthalts in Jaffa – „die erste Woche nach dem 15. November“899 – beschreibt (v. a. den Hunger, an dem gelitten wird)900, Bruder Wernher dies in VII,73 hingegen nicht tue, was bedeuten müsse, dass sich der Zustand mittlerweile gebessert habe und deswegen nicht mehr erwähnenswert sei.901 Zum anderen verweist Schönbach darauf, dass Kaiser Friedrich II. von Jaffa aus am 17. März 1229 in Jerusalem einzieht, d. h. jetzt habe Bruder Wernher die Möglichkeit das Grab Christi zu besuchen, so dass der Spruch nach dem 17. bzw. 18. März aufgrund der Verse 6 bis 8 nicht mehr verfasst worden sein könne.902 Vetter hingegen setzt den Spruch deutlich früher als Schönbach und vor einem anderen Hintergrund an. Er legt der Pilgerfahrt den Kreuzzug Herzog Leopolds VI. von Österreich von 1217 bis 1219 zugrunde.903 Ich erlaube mir direkt aus Vetters Begründung zu zitieren: Wie ich glaube, schließt z. 2 einen deutschen hafen nicht aus und vermute, daß br. W. Triest damit bezeichnen will […]. Von hier ging auch der kreuzzug von 1202–4 aus und Leopold wird auch von hier aus 1217 nach Spalato gelangt sein […]. Im kreuzzug von 1217 war das nächste ziel der fahrt Akkon, was auch für Wernhers gegenüberstellung von der Tiutschen habe und Akkon und eine beziehung der stelle auf diesen kreuzzug spricht. […] Ich setze also den spruch an auf juli-august 1217.904
Kemetmüller neigt dazu, sich Vetters Interpretation und somit auch seiner historischen Einordnung anzuschließen. Er weist darauf hin, dass dadurch
896 Meyer und Doerks gehen von dem Kreuzzug Kaiser Friedrichs II. aus, der in den Jahren 1228 bis 1229 stattgefunden hat (vgl. Meyer, S. 82 und 88; Doerks, S. 6). Auch Wisniewski geht in diese Richtung (vgl. Wisniewski, S. 129). 897 Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 3. 898 Vgl. Spiewok, Str. 154, 18–164, 2. 899 Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 4. 900 Vgl. Spiewok, Str. 159. 901 Vgl. Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 5. 902 Vgl. ebd., S. 3. 903 Vgl. Vetter, S. 254. Auch Lamey setzt VII,73 als Wernhers „Jugenddichtung vor dem Kreuzzug 1217“ (Lamey, S. 20) an. 904 Vetter, S. 254. Übrigens hat Vetter nichtsdestotrotz Zweifel, ob Wernher tatsächlich in Palästina war: „Einen beweis dafür, daß er den kreuzzug wirklich ausgeführt hat und im hl. lande gewesen ist, geben seine sprüche, wie ich glaube, nicht. Unmöglich oder nur unwahrscheinlich ist eine solche fahrt allerdings nicht.“ (ebd., S. 265)
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Ton VII, Unikal in C
nicht nur „[m]anche Unklarheit“905 aufgelöst werde, sondern auch die Datierungsgründe von VIII,74 sowie IX,75 und IX,76, mit denen VII,73 inhaltlich verwandt ist, „insgesamt erhärtet [werden]“906. Und auch Müller scheint eher zu Vetter zu tendieren, da die Formulierung kume gewant … her (V. 1 f.) darauf hinweise, dass das Gesagte als „vor [Hervorhebung im Original] einer Abreise in den Orient aufzufassen“907 sei. Ich schließe mich ebenfalls Vetters Auslegung an, allerdings mit folgender Einschränkung: Wenn der Spruch von Bruder Wernher vor seinem Aufbruch zur Kreuzfahrt verfasst worden ist, muss er – entgegen Vetters Datierung – wohl noch vor Juli bzw. August 1217 gedichtet worden sein, denn Herzog Leopold VI. kommt bereits Ende Juli, Mitte August 1217 in Spalato (kroatisch Split) an. Das bedeutet, er muss bereits im späten Frühjahr (?) 1217 von Deutschland aus aufgebrochen sein.908
Inhaltliche Ähnlichkeit mit anderen Texten vgl. zur Kreuzfahrt nach bzw. über Akkon: Freidank 154,18–164,2 (Spiewok, S. 130–140) vgl. zu Vers 3 (erschellen): Walther L 18,15 (hier V. 13 f.): […] sîns hornes duz erhelle im únd erschelle im wol nâch êren. (Schweikle: Walther, Bd. 1, S. 102) Walther L 77,4 (hier V. 19): manic lób dem kriuze erschillet. (Schweikle: Walther, Bd. 2, S. 460) vgl. zu Vers 11: Walther L 101,23 (hier V. 13): doch weiz ich wol, […] (Schweikle: Walther, Bd. 1, S. 226) Walther L 12,18 (hier V. 1 f.): Hêr keiser, swenne ir tiutschen fride machet stæte bî der wide, (‚Herr Kaiser, wenn Ihr deutschen Frieden dauerhaft machet mit Hilfe des Stranges‘) (Schweikle: Walther, Bd. 1, S. 108)
905 Kemetmüller, S. 54. 906 Ebd. 907 Müller: politische Lyrik, S. 101. Brunner glaubt ebenfalls eher an die frühere Datierung (vgl. Brunner: Bruder Wernher, Sp. 898). 908 Vgl. Röhricht, S. 24 f.; Mayer, S. 259; Powell, S. 117 und 128. Von Spalato aus fährt er dann übrigens ohne Verzögerung bis nach Akkon weiter, das er – nach nur 16tägiger Fahrt – Anfang September 1217 erreicht; die Rückkehr nach Deutschland wird er im Mai 1219 antreten.
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Metrik A A A A 5 A A A A A 10 A A A A A
4ma 3 2m b 4ma 6kc 4md 3 2m b 4md 6 k c‘ 5 2m e 6kf 6 2m e 6kf 8mg 11 m g
swennẹ
müezẹ
gibẹ
daz ích niht mác verlazen, ald íchs betwíngè; unt wéiz doch wól, ê ích ein árgen zágen getwngẹ ûf mílten múot,
Literatur Brunner: Bruder Wernher, Sp. 898 • Doerks, S. 4, 6 • Edwards, S. 306 • Gent, S. 18 • Gerdes: Beiträge, S. 146 Anm. 2, 147 und Anm. 1, 154 f., 156 f., 174 und Anm. 7, 176 und Anm. 3, 178 und Anm. 3, 179 und Anm. 5, 180, 181 und Anm. 5 • HMS 4, S. 517 • Kemetmüller, S. 48, 53 f., 55, 56, 57, 76, 224 • Lamey, S. 12 f., 20 • Meyer, S. 82, 88 • Müller: politische Lyrik, S. 101 • Nolte/Schupp, S. 94 f., 395 • Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 1–5 • Stackmann, S. 107 • Strasser, S. 241 • Vetter, S. 253 f. • Wentzlaff-Eggebert, S. 305 • Wisniewski, S. 128 f.
Ton VIII Ähnlich wie Ton VII enthält auch der achte Ton nur einen unikalen Spruch aus C (VIII,74), dessen Aufbau abc ab‘c (b reimt unrein)909 dem verschränkten Reim entspricht.910 Auffallend ist, dass diejenigen Verse der Stollen, die symmetrisch sein müssten, z. T. in ihrer Hebungs- bzw. Taktzahl voneinander abweichen. Bedauerlicherweise liegt kein weiterer Spruch Bruder Wernhers vor, der diese metrische Form aufweist, so dass nicht überprüft werden kann, ob das eher unregelmäßig erscheinende Metrum von VIII,74 tatsächlich beabsichtigt oder im Zuge des Überlieferungsprozesses zustande gekommen ist. Aufgrund der klaren Abweichungen von den übrigen Tönen Wernhers ist m. E. aber in jedem Fall von einem eigenständigen Ton auszugehen. Metrische Formel:911 Aufgesang: 7ma 6kb 7mc / 7ma 7kb’ 9mc // Abgesang: 4md 6ke 4md 7ke 7mf 7mf
909 Vgl. dazu kêren im Übersetzungsapparat. 910 Zum metrischen Verhältnis von Ton VIII und dem Spruch Ich minne in mînem muote ein dinc … (C, fol. 70r), der innerhalb des Œuvres Werners von Teufen (C, fol. 69r–70r) überliefert ist, vgl. u. a. Kornrumpf/ Wachinger, S. 395 f. 911 Vgl. andererseits RSM 2,1, S. 304 (hier Ton IX). In Vers 10 weist das RSM im Vergleich zu meiner metrischen Formel eine Hebung bzw. einen Takt weniger auf, was damit zusammenhängt, dass die Ausgabe von Schönbach zugrunde gelegt wird (vgl. Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 73). In dieser enthält Vers 10 statt der handschriftlichen 13 nur elf Silben. Wie hingegen die von meiner metrischen Analyse abweichenden Hebungs- bzw. Taktzahlen von Vers 3, Vers 5 und Vers 6 im RSM zu erklären sind (Vers 3 und 6 acht Hebungen bzw. Takte, Vers 5 sechs Hebungen bzw. Takte), ist mir unklar.
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Ton VIII, Unikal in C
Unikal in C 74. Sv̍ſa wıe wu̅neklıch der vſ oͤſtrıche vert (C32, U) Sv̍ſa wıe wu̅neklıch der vſ oͤſtrıche / vert· ſıt er ſıch dvr des obſte̅ kuͥní/ges ere· lıbeſ vn̅ wıbes gvͦteſ dar zvͦ d / kınde hat bewege̅· dc er da her behalte̅ // hat· wıe ſchone er dc nv zert· 5 mıch wu̅ dt / ſwe̅ne der kuͥnıg hın gege ſahſen keret· vn̅ / er gege̅ akers vert· welh da vdıene̅ mvge / bc d ſelden ſege̅· dc ıſt eın ſelıklıchuͥ vart dıe / got mıt hvndt tvſent lone̅ gıltet· ſwelh ma̅ / ſín gvͦt dar vf erſpart· 10 d dvnket mıch eı ̅ / goͮch ſw ın darvmbe ſchıltet· het ıch getruͥ/wet ſolh dínge an de̅ vo̅ oſtlant· deſt war / ım wer mın ſchelte̅ huͥte vn̅ ıem vnbeka̅t· /
74. Sv̍ſa wıe wu̅neklıch der vſ oͤſtrıche vert
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Siusâ, wie wunneclîch der ûz Œsterrîche vert, sît er sich durch des obersten küneges êre lîbes unt wîbes, guotes dar zuo der kinde hât bewegen. daz er dâ her behalten hât, wie schône er daz nû zert! 5 mich wundert, swenne der künec hin gegen Sahsen kêret (?) und er gegen Âkers vert, welher dâ verdienen muge baz der sælden segen? daz ist ein sæleclîchiu vart, die got mit hundert tûsent lônen giltet, swelh man sîn guot dar ûf erspart. 10 der dunket mich ein gouch, swer in darumbe schiltet. hæt ich getriuwet solher dinge an dem von Ôsterlant, dest wâr, im wær mîn schelten hiute und iemer unbekant.
32 [31] C davor: 31 [30] C = 55 J danach: 32a! [32] C = 40 J 1 siusâ: Die Interjektion, die von ihrer Endg. her der 2. Sg. Imp. ähnelt, die zur Verstärkung auf ‑â endet (vgl. Mhd. Gram., § M 70 Anm. 10), geht aus dem swV. sûsen, siusen hervor, das so viel bedeutet wie ‚sausen, brausen, rauschen, summen, zischen, knirschen, knarren‘. Das DWB vermerkt unter dem Lemma sausen: „1) die grundbedeutung von sausen scheint der laut des windes oder des vom winde bewegten meeres, der bäume u. s. w. zu sein, wo wir jetzt rauschen, brausen, pfeifen, heulen u. a. als synonym gebrauchen“ (DWB sausen). Im vorliegenden Kontext steht siusâ wohl für einen anerkennenden Pfiff, was schriftlich etwa durch ‚hui‘ ausgedrückt werden könnte. Schönbach meint zudem, „daß sûsâ gerne gebraucht wird, wenn Pracht des Erscheinens und Auftretens bezeichnet werden soll“ (Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 77). 2 sît: M. E. kann hier nicht eindeutig gesagt werden, ob die Konj. kausaler oder temporaler Natur ist. Um das Changieren zwischen den Bedeutungen zu veranschaulichen, übersetze ich mit ‚nachdem‘. 3 bewegen: Das stV. kann refl. mit Gen. sowohl ‚sich entschließen zu‘ als auch ‚verzichten auf‘ heißen. Aufgrund der Formulierungen durch des obersten küneges êre (V. 2) und daz er dâ her behalten hât (V. 4) gehe ich von der zweiten Bedeutung aus. Mit Blick auf den lîp, der in V. 3 genannt wird, ist wohl gemeint, dass der ûz Œsterrîche (V. 1) bereit ist, sein Leben für des obersten küneges êre (V. 2) zu riskieren. 5 gegen: bei hsl. gege wurde evtl. der Nasalstrich vergessen kêren: Die hsl. Form (3. Sg. Ind. Präs.) erzeugt nicht nur einen unreinen Reim (vert : kêret), sondern erscheint auch von ihrem Modus her problematisch. Müsste hier nicht Konj. Präs. stehen (kêre)? Schönbach ändert dementspr. ab (vgl. Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 73), wie es vor ihm bereits von der Hagen und Lachmann getan haben (vgl. HMS 2, S. 234; Kraus: Walther, S. 218).
HMS 2: V,4 Sch 32
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Ton VIII, Unikal in C
8 (die got mit hundert tûsent) lônen giltet: Bei lônen handelt es sich m. E. nicht um das Subst., da der Dat. Pl. Mask. mit Umlaut steht (lœnen) und dieser in C in der Regel gekennzeichnet wird (im Ggs. zu J). Wenn hier jedoch der Inf. steht (zum Inf. ohne ze vgl. Mhd. Gram., § S 34, 1.), wie passt das (finite) Vollverb gelten (‚zurückzahlen, zurückerstatten, vergelten, entschädigen‘) dazu? Beide drücken etwas Ähnliches aus, so dass eher zu erwarten gewesen wäre, dass eines der beiden zusammen mit einem Modalverb steht (z. B. wil oder wirde). Geht die zusätzlich bzw. evtl. unnötige Verwendung von gelten etwa auf Reimzwang zurück (giltet : schiltet)? Aufgrund der ähnlichen Bedeutung fasse ich lônen und gelten in ‚entlohnen‘ zusammen. 9 dar ûf: hier ist die vart gemeint 11 getriuwen: hier mit Gen. (‚solher dinge‘) und Präp. (an) ‚(zu-)trauen‘
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Übersetzung Hui, wie freudig der aus Österreich reist, nachdem er um der Ehre des obersten Königs willen (seinem) Leben sowie Frau, Besitz und Kindern entsagen möchte. Das, was er (an Besitz) bisher zurückgehalten hat, wie tugendhaft verbraucht er [das jetzt! 5 Ich frage mich, wann auch immer sich der König gegen Sachsen wendet und er gegen Akkon zieht, welcher (von beiden) dort mehr vom segensreichen [Glück zu verdienen vermag? Das ist eine gesegnete Ausfahrt, die Gott mit Hunderttausend entlohnt, für jedermann, der seinen Besitz dafür aufspart. 10 Wer auch immer ihn dafür tadelt, scheint mir ein Narr zu sein. Wenn ich dem aus Österreich solche Dinge zugetraut hätte, das ist wahr, wäre ihm mein Tadel heute und künftig immer unbekannt.
Inhalt VIII,74 ähnelt in seiner Kreuzfahrtthematik und z. T. auch in seinem Aufbau VII,73. Allerdings konzentriert sich der Spruch weniger auf den Sprecher (dieser tritt nur an vier Stellen in Erscheinung: V. 5 mich, V. 10 mich, V. 11 ich, V. 12 mîn) als vielmehr auf den ûz Œsterrîche (V. 1) und dessen Fahrt ins Heilige Land. Der Spruch setzt zunächst mit einem überschwänglichen Lob desjenigen ein, der die Kreuzfahrt unternimmt (hier ist wohl Herzog Leopold VI. von Österreich gemeint, vgl. dazu weiter unten), wobei besonders dessen Aufopferungsbereitschaft herausgehoben wird: Er ist nicht nur bereit, auf dasjenige, was er dâ her behalten hât (V. 4), zu verzichten, nämlich auf Frau und Kinder sowie auf seinen Besitz und sogar auf sein Leben (vgl. V. 3), sondern er setzt dieses auch bereitwillig für das Kreuzzugsunternehmen (vgl. V. 4) ein, zeigt sich also großzügig (v. a. aus materieller Sicht). Und dies alles durch des obersten küneges êre (V. 2)! Das Bild, das hier von Leopold VI. entworfen wird, zeugt aufgrund seiner Idealität von großem Vorbildcharakter. Denn es werden zwei zentrale Aspekte transportiert, die nicht nur für einen Herrscher, sondern vor allen Dingen für einen Christen absolut erstrebenswert sind: Zum einen wird die Selbstlosigkeit Leopolds VI. betont. Er lässt nicht nur seine Familie freiwillig zurück, sondern er verzichtet zudem auf die Annehmlichkeiten, die ihm sein Besitz verschafft, und begibt sich stattdessen auf eine lange und gefährli-
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Ton VIII, Unikal in C
che Reise, bei der nicht sicher ist, ob er lebend von ihr nach Hause zurückkehren wird.912 Zum anderen hebt Vers 5 noch einmal ausdrücklich den materiellen Aspekt dieser Selbstlosigkeit hervor: Leopold VI. zert (V. 4) seinen Besitz nicht einfach nur, sondern er tut dies schône (V. 4), auf anständige, zuvorkommende Weise also. Unverkennbar wird hier auf die milte, die Herrschertugend schlechthin, angespielt. Auf dieses Lob folgt in Vers 5 f. – ähnlich, wie dies übrigens bei VII,73,6– 8 der Fall ist – ein Einschub, in welchem sich der Sprecher ironisch fragt, ob die Sachsenfahrt des Königs (vgl. V. 5) oder doch eher Leopolds VI. Kreuzfahrt Richtung Akkon (vgl. V. 6) baz der sælden segen (V. 6) zu verdienen vermag.913 Auch diese rhetorisch zu verstehende Frage hat die Funktion des Lobens, denn beide angeführten Ausfahrten sind derart ehrenwert, dass man durch sie den Segen der Glückseligkeit erlangen kann. (Auf die Frage, welche Sachsenfahrt und welcher König gemeint sein könnten und warum dieses Ereignis hier Erwähnung findet, wird weiter unten im Kapitel ,Historischer Hintergrund‘ eingegangen.) Die an den Einschub anschließenden Verse 7 bis 9 knüpfen inhaltlich – zumindest theoretisch – an den Viererversblock des Strophenanfangs an, indem nun der göttliche Lohn der sæliclîch[en] vart (V. 7) in Aussicht gestellt wird. Denn derjenige, der all sein Vermögen für diese Ausfahrt aufspart (vgl. V. 9) – und zu Unrecht von Narren dafür kritisiert wird (vgl. V. 10) –, der wird von Gott mit hundert tûsent (V. 8) dafür entlohnt. Was genau mit diesen Hunderttausend gemeint ist, bleibt unklar, da der Lohn jedoch von Gott persönlich kommt, handelt es sich wohl nicht um etwas Vergängliches in Form von irdischem Besitz, sondern wohl eher um einen himmlischen Lohn, der dann im Jenseits auf die Person wartet.914 Die Besonderheit der Verse 7 bis 9 besteht nun in der Doppeldeutigkeit, die sie aufgrund des vorgeschalteten Einschubs gewinnen. Denn darin ist von zwei Ausfahrten die Rede, der Sachsenfahrt und der Kreuzfahrt, so dass sich die sælclîchiu vart (V. 7), von der in den Versen 7 bis 9 die Rede ist, sowohl auf die eine als auch auf die andere beziehen kann. 912 Wentzlaff-Eggebert schreibt hierzu: Es „fehlt jeder Hinweis auf ein ritterliches Ideal, das durch diese Fahrt erfüllt würde. Der Akzent liegt auf dem völligen Verzicht des Kreuzfahrers auf diesseitige Werte, auf die Bindungen an Familie, Besitz und Leben.“ (WentzlaffEggebert, S. 304) 913 Vers 6 kann nicht mit endgültiger Sicherheit ausschließlich auf Leopold VI. bezogen werden, da konkrete Hinweise auf ihn (wie z. B. in Vers 1 der ûz Œsterrîche) fehlen. Das Personalpronomen er (V. 6) hinterlässt somit einen gewissen Interpretationsspielraum. 914 Gerdes meint dazu: „Besonders die breit ausgeführte Lohnverheißung führt mich zu der Vermutung, der Spruch wolle nicht nur den Herzog, sondern im Herzog zugleich das Vorbild preisen und ein Unternehmen zur Nachahmung empfehlen […].“ (Gerdes: Beiträge, S. 191) Vgl. außerdem Gerdes: Zeitgeschichte, S. 148.
74. Sv̍ſa wıe wu̅neklıch der vſ oͤſtrıche vert
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Beide Fahrten eröffnen somit nicht nur die Aussicht auf der sælden segen (V. 6), sondern darüber hinaus auch auf den göttlichen Lohn. Die beiden Schlussverse runden den Spruch schließlich inhaltlich ab, indem sie wieder zum Ausgangspunkt zurückkehren: dem von Ôsterlant (V. 11). Hierbei fällt jedoch auf, dass der Tonfall deutlich gedämpfter daherkommt, als dies im Stropheneigang der Fall ist. Dies liegt an der eher selbstkritischen Haltung des Sprechers. Er gesteht ein, dass er Herzog Leopold VI. solhe[r] dinge (V. 11) nicht zugetraut (vgl. V. 11), sondern ihn vielmehr getadelt habe (vgl. V. 12). Wenn er es besser gewusst hätte, wäre Leopold VI. dieses schelten nie widerfahren (vgl. V. 12). Obgleich die Schlussverse sowohl, was den Anlass des Tadels angeht, als auch mit Blick auf die genaue Bedeutung von solher dinge (V. 11) recht diffus bleiben, meinen u. a. von der Hagen als auch Doerks, dass sich die Reue des Sprechers auf seine falsche Einschätzung hinsichtlich der milte Leopolds VI. bezieht.915 Doerks übersetzt dementsprechend: „Hätte ich das dem Herrn von Österreich zugetraut, d. h. hätte ich geahnt, daß er zu einem so löblichen Zwecke spare, so hätte ich mein Schelten unterlassen.“916 Diese Deutung mag zwar allzu verführerisch sein, da sie einmal mehr die milte in den Fokus rückt, die zudem in Vers 4 betont wird, da sich aber weder in Vers 11 noch in Vers 12 ein konkreter Hinweis auf eine derartige Interpretation findet, neige ich hier eher zu Zurückhaltung. Grundsätzlich geht aus den Versen m. E. nämlich nicht hervor, ob der Herzog den wie auch immer gearteten Tadel, den er durch den Sprecher erfahren hat, tatsächlich verdient hatte bzw. hat, oder ob dieser allein aufgrund der Fehleinschätzung des Herzogs durch den Sprecher zustande gekommen ist.917 Mit Blick auf das Kreuzzugsthema weist VIII,74 in dieselbe Richtung wie VII,73: Die Kreuzfahrt wird als erstrebenswertes Unternehmen dargestellt und dank des überschwänglichen Lobs des Herzogs als nachahmenswert markiert. Auch hier erscheint der Kreuzzug somit nicht in einem nachdenklichen oder gar kritischen Licht. Besonders herauszuheben ist, dass die Kreuzfahrt unzweifelhaft als etwas angesehen wird, das von Gott belohnt wird (vgl. V. 8).918 915 Vgl. HMS 4, S. 516; Doerks, S. 4; Lamey, S. 15; Gerdes: Beiträge, S. 82 und 191; Gerdes: Zeitgeschichte, S. 147. Wentzlaff-Eggebert hebt hervor, dass „[a]us der Perspektive des fahrenden Dichters gesehen die Kreuzfahrt das einzige Unternehmen [ist], das auch die fehlende „milte“ eines Fürsten rechtgertigen kann“ (Wentzlaff-Eggebert, S. 304). 916 Doerks, S. 4. 917 Auch Gerdes weist auf diese Restunsicherheit hin (vgl. Gerdes: Beiträge, S. 155). 918 Ganz anders geht etwa Neidhart mit der Frage nach dem Lohn Gottes um: „[…] der Kreuzzug bringt nur Ärger, Verachtung und Todesgefahr – von Gott und seinem Lohn ist überhaupt nicht mehr die Rede“ (Müller: Kreuzzugslyrik, S. 75). Vgl. zum Lohn-Gedanken auch Wentzlaff-Eggebert, S. 220 f.
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Historischer Hintergrund Eine zeitgeschichtliche Einordnung des Spruches scheint, ähnlich, wie dies bei VII,73 der Fall ist, nicht ohne genaueres Hinsehen möglich zu sein. Zwar herrscht hinsichtlich der Person ûz Œsterrîche (V. 1) zu Recht Einigkeit darüber, dass es sich wohl nur um Herzog Leopold VI. von Österreich handeln kann,919 demgegenüber bereitet jedoch die Auslegung von Vers 5 (swenne der künec hin gegen Sahsen kêret) Schwierigkeiten. Voraussetzung für eine einigermaßen sinnvolle Deutung ist ein Zeitraum, in dem sowohl eine Sachsenfahrt vom deutschen König unternommen wurde als auch eine Kreuzfahrt von Herzog Leopold VI. Da Letzterer insgesamt zwei Kreuzfahrten unternommen hat, kommt aufseiten des Herzogs einerseits das Jahr 1212 als Entstehungszeit infrage, andererseits die Jahre 1217 bis 1219.920 Bei der Festlegung auf einen der beiden Zeiträume kommt nun die zeitliche Fixierung der Sachsenfahrt ins Spiel. Diese hat in der Forschung für einige Diskussionen gesorgt, da man sich z. T. nicht einig war, ob mit dem künec nun Friedrich II. oder aber sein Sohn Heinrich (VII.) gemeint ist. Je nachdem, für welchen der beiden man sich entscheidet, versteht man unter der Fahrt gegen Sahsen (V. 5) 1. die Auseinandersetzung zwischen Friedrich II. und seinem welfischen Kontrahenten Otto IV. von Braunschweig. Diese führt im Spätsommer 1217 zu einer Heerfahrt, die Friedrich II. zur Unterstützung des Erzbischofs Albrecht von Magdeburg führt, gegen den Otto IV. zu Felde zieht.921 2. den Konflikt zwischen König Heinrich (VII.) bzw. den norddeutschen Großen (allen voran Graf Heinrich von Schwerin) und dem dänischen König Waldemar II. Dieser Konflikt soll u. a. auf dem Hoftag zu Bardowick im September 1224, zu dem sich wohl auch König Heinrich (VII.) begeben hat, endlich geschlichtet werden (was jedoch scheitern wird).922 Während Meyer (der wiederum Lachmann folgt) und wohl auch Schönbach sich für die Datierung 1224 aussprechen – und somit auch die Kreuzfahrt Herzog Leopolds VI. auf dieses Jahr verlegen –,923 gehen alle übrigen Untersu-
919 Vgl. HMS 4, S. 516; Meyer, S. 86; Lamey, S. 15; Doerks, S. 2 und 4 f.; Vetter, S. 250; Gent, S. 97 f.; Kemetmüller, S. 47; Scholz: Reichsidee, S. 18 und 76; Gerdes: Beiträge, S. 81; Gerdes: Zeitgeschichte, S. 147; Müller: politische Lyrik, S. 97; Edwards, S. 306. 920 Vgl. Zeißberg, S. 388–391. 921 Vgl. Hucker, S. 427. Ebenso Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 74 f.; Doerks, S. 5. 922 Vgl. einführend Gebhardt, Bd. 6, S. 217–219. 923 Vgl. Kraus: Walther, S. 217 f.; Meyer, S. 86; Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 76 und 77. Zu Schönbachs „Verteidigung“ muss darauf hingewiesen werden, dass er eine klare
74. Sv̍ſa wıe wu̅neklıch der vſ oͤſtrıche vert
645
chungen hingegen von dem früheren Entstehungszeitpunkt aus, also Sommer und Herbst 1217.924 Auch mir erscheint diese Datierung logischer, und zwar aus folgenden Gründen: Zum einen ist m. E. auszuschließen, dass sich die Kreuzfahrt Herzog Leopolds VI. hier auf das Kreuzzugsunternehmen Kaiser Friedrichs II. aus den Jahren 1224/25 bezieht, wie von Meyer angenommen wurde.925 Dieser Kreuzzug mag vielleicht 1224/25 geplant worden sein, allerdings wird er daraufhin immer wieder verschoben, so dass sich Kaiser Friedrich II. schließlich erst 1228/29 auf den Kreuzzug begibt. Dass es sich bei der Kreuzfahrt, von der in VIII,74 die Rede ist, jedoch nicht nur um eine geplante, sondern um eine tatsächlich bereits angetretene Ausfahrt Herzog Leopolds VI. handelt, implizieren die Vers 1 bis 4 (v. a. V. 4).926 Darüber hinaus erscheint mir die Deutung von Vers 5 als Hinweis auf den Konflikt zwischen dem Staufer Friedrich II. und dem Welfen Otto IV. nicht nur aus zeitlichen Gründen treffender als die alternative Interpretation, sondern auch aus inhaltlichen: „Es wird also das feindliche Unternehmen gegen Sachsen dem feindlichen gegen Akkon entgegengestellt.“927 Geht man bei dem künec (V. 5) nämlich von Heinrich (VII.) aus, so spricht man ihm gerade vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung zwischen dem deutschen Reich und dem dänischen König Waldemar II. m. E. eine zu große Rolle zu. Immerhin stehen in besagten Streitigkeiten statt Heinrich (VII.) viel eher die norddeutschen Fürsten im Zentrum der Auseinandersetzung. Und sie sind es schließlich auch, die Waldemar II. im Sommer 1227 die endgültige Niederlage zufügen.928
Festlegung auf einen Entstehungszeitpunkt bis zuletzt vermeidet. Er scheint lediglich zu 1224 zu tendieren. In der übrigen Sekundärliteratur entsteht entgegen dieser Tatsache jedoch z. T. der Eindruck, als schließe Schönbach die frühere Abfassung um 1217 komplett aus. 924 Vgl. HMS 4, S. 516; Lamey, S. 15 und 17; Doerks, S. 4 f.; Vetter, S. 250 f.; Gent, S. 97 f.; Kemetmüller, S. 46 und 47; Scholz: Reichsidee, S. 76; Müller: politische Lyrik, S. 97; Edwards, S. 306; Brunner: Bruder Wernher, Sp. 898. 925 Vgl. Meyer, S. 86 f. Doerks hat Meyers Argumentation umfassend durchleuchtet und widerlegt (vgl. Doerks, S. 4 f.). 926 Meyer hingegen meint, dass Vers 4 voraussetze, „dass der Kreuzzug […] der Vergangenheit angehörte, als Wernher diesen Spruch dichtete“ (Meyer, S. 86). Lamey dazu: „Wenn K. Meyer behauptet, aus z. 4 gehe hervor, dass der Kreuzzug Herzog Leopolds der Vergangenheit angehöre, so ist mir dies rein unbegreiflich.“ (Lamey, S. 15) Mir auch. 927 Kemetmüller, S. 48. Schönbachs Ansicht, dass es kaum anzunehmen sei, „daß die Sachsenfahrt Friedrichs dem Kreuzzuge so sichtlich nachgestellt werde, wie es in dem Spruche geschieht“ (Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 75), überzeugt übrigens weder Vetter (vgl., S. 251) noch mich. 928 Vgl. Gebhardt, Bd. 6, S. 217–219 (hier v. a. 219).
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Ton VIII, Unikal in C
Zuletzt sei noch kurz auf folgende Überlegung Schönbachs eingegangen: Fällt der Spruch in das Jahr 1217, dann ist die Lücke zwischen den übrigen datierbaren Sprüchen Wernhers gegen Ende der zwanziger Jahre und diesem ersten sehr groß; dürfen wir ihn 1224 ansetzen, dann wird sie viel kleiner.929
Zunächst einmal ist eine mögliche zeitliche Lücke unter den datierbaren Sprüchen kein Argument gegen die frühere Datierung von VIII,74. Darüber hinaus zieht Schönbach bei seiner Vermutung den voreiligen Schluss, dass für die Sprüche, die er ins „Ende der zwanziger Jahre“ setzt, z. T. nicht auch andere, frühere Datierungen infrage kommen. So legt es z. B. die große inhaltliche Nähe der Sprüche VII,73 und VIII,74 nahe, dass sie in demselben Zeitraum gedichtet wurden, was durch die Bestimmung ihrer möglichen historischen Hintergründe bestätigt wird – beide sind wohl im späten Frühjahr bzw. Sommer und Herbst 1217 entstanden.
Inhaltliche Ähnlichkeit mit anderen Texten In der Forschung wurde die inhaltliche Nähe von Bruder Wernhers Spruch VIII,74 und Walthers Spruch L 36,1930 diskutiert. Besonders ähnlich sind sich m. E. Wernhers Verse 1 bis 4 und 9 und Walthers Verse 1 und 2. In der Frage, wer hier von wem „abgeschrieben“ hat, vgl. Kraus: Walther, S. 217; Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 76 f.; Vetter, S. 251; Kemetmüller, S. 14; ausführlicher Gerdes: Beiträge, S. 81 f.; Müller: politische Lyrik, S. 97.
Metrik A7ma A6kb 7 2m c A7ma 5 A 7 k b’ A 9 2m c A4md A6ke A4md
Siusa, wie wúnneclch dér ûz Œ́sterrche vért, sît ér sich dúrch des óbersten kneges erè lbes unt wbes, gúotes dar zúo der kínde hat bewégen. schônẹ mich wúndert, swénne der knec hín gegen Sáhsen kerèt und ér gegen Akers vért, welher da verdíenen múge báz der sǽlden ségen?
929 Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 76. 930 Vgl. Schweikle: Walther, Bd. 1, S. 186. Im Kommentar zu diesem Spruch schreibt Schweikle: „In beißender Ironie […] wird der offensichtlichen Knausrigkeit des österreichischen Adels vor und nach dem Kreuzzug (1217/19, wonach die Strophe auf 1219 datiert werden kann) die milte Leopolds seit seiner Rückkehr gegenübergestellt und dem Adel zur Nachahmung empfohlen.“ (Schweikle: Walther, Bd. 1, S. 424)
74. Sv̍ſa wıe wu̅neklıch der vſ oͤſtrıche vert
10
A7ke A7mf A7mf
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dingẹ hiutẹ
Literatur Brunner: Bruder Wernher, Sp. 898 • Doerks, S. 2, 4 f. • Edwards, S. 306 • Gent, S. 97 f. • Gerdes: Beiträge, S. 81 f., 155, 168, 176 und Anm. 4, 179 und Anm. 6, 191 • Gerdes: Zeitgeschichte, S. 147 f. • HMS 4, S. 516 • Kemetmüller, S. 14, 46–48, 53, 54, 55, 56, 57, 87, 221 f. • Kraus: Walther, S. 217 • Lamey, S. 13 f., 15, 17 f. • Meyer, S. 86 f. • Müller: politische Lyrik, S. 97 • Schönbach, 3. Stück bzw. 140. Bd., S. 73–77 • Scholz: Reichsidee, S. 18, 76 f. • Vetter, S. 250 f. • Wentzlaff-Eggebert, S. 304.
Ton IX Von den drei in Handschrift A unter dem Namen Bruder Wernher überlieferten Sprüchen sind zwei nicht nur unikal (IX,75 und IX,76), sondern auch in einem eigenen Ton verfasst. Die beiden Strophen sind in einer klassischen Kanzonenform gedichtet, deren Aufgesang durch verschränkten Reim abc abc verbunden ist. Metrische Formel:931 Aufgesang: 4ka 4mb 7mc / 4ka 4mb 7mc // Abgesang: 4md 3me 6md 5me 8me
931 Vgl. andererseits RSM 2,1, S. 304 (hier Ton VIII).
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Ton IX, Unikal in A
Unikal in A 75. Ich wıl dem cruce ſıngen (A2, U) Ich wıl / dem crvce ſıngen vn̅ dem der dran dıe marter leıt ıch han der werlde vf / kranken lon geſvngen leıder vıl. wıe mac mır baz gelıngen 5 an langer / wernder ſelekeıt wes ſol och der gedıngen han der vert dar ıch da wıl nv / ſchaffe eın ıegeſlıch wıſe man dc ſın der engel pflege ſwıe vıl der tıevel / danne valſcher lıſte kan 10 der engel wert ın doch der ſlehten wege der ſchvͤ/het alles vngeverte ſtıge ſtraz. vn̅ och dıe ſtege.
Nur der erste Spruch des Œuvres (A1 = III,46) beginnt mit Initiale, ansonsten steht Lombarde.
75. Ich wıl dem cruce ſıngen
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Ich wil dem kriuze singen unt dem, der dran die marter leit. ich hân der werlde ûf kranken lôn gesungen leider vil. wie mac mir baz gelingen 5 an langer, wernder sælecheit? wes sol ouch der gedingen hân, der vert, dar ich dâ wil? nû schaffe ein iegeslich wîse man, daz sîn der engel phlege; swie vil der tiuvel danne valscher liste kan, 10 der engel wert in doch der slehten wege – der schiuhet allez ungeverte –: stîge, strâz und ouch die stege.
2A davor: 1 A = 43 J, 9 C danach: 3 A = unikal 1 singen: hier mit Dat. (dem kriuze) ‚singen von/über‘ 3 ûf kranken lôn: wörtlich ‚in der Hoffnung/Erwartung auf geringen Lohn‘ 5 langiu, werndiu sælecheit: Die beiden Adj. spielen wohl auf das ewige Heil an. 6 gedingen: ‚das zuversichtliche Erwarten‘ 7 wîse: hier ungeachtet des unbest. Art. ein sw. flektiert (vgl. Mhd. Gram., § S 101, § S 102 c)) 9 tiuvel: hsl. tıevel entspricht der frk. Form des Adj. tief (vgl. Mhd. Gram., § L 48 Anm. 1) valscher liste (st. Mask.): Gen.attr. zu vil, wörtlich ‚(ein) Vieles der hinterhältigen Listen/Täuschungen‘ 10 wern: mit Dat. (der slehten wege) ‚abwehren, fernhalten, (ver-)hindern‘ sleht: ‚gerade, eben‘ 11 schiuhen: ‚scheuen, aus dem Weg gehen, meiden‘ ungeverte: ‚Reisebeschwerde; unwegsame Gegend, Unwegsamkeit‘ stec: hier ‚schmaler Weg‘
HMS 2: VIII,1 Sch 40
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Ton IX, Unikal in A
Übersetzung Ich möchte von dem Kreuz singen und von demjenigen, der daran die Marter erlitt. Ich habe leider häufig in der Hoffnung auf geringen Lohn für die Welt gesungen. Wie vermag es mir besser 5 hinsichtlich langem (und) andauerndem (Seelen-)Heil zu ergehen? Worauf soll auch der die Hoffnung setzen, der dorthin geht, wo ich hin möchte? Nun möge ein jeder kluge Mensch darauf hinwirken, dass der Engel sich seiner annehme; egal, auf wie viele hinterhältige Täuschungen sich der Teufel dann versteht, 10 der Engel hält ihn dennoch von den geraden Wegen fern – er [= der Engel] meidet (nämlich) jede Unwegsamkeit –: Pfade, Straßen und [auch schmale Wege.
Inhalt IX,75 ist ein Spruch mit klar religiösem Einschlag, wobei der Blick auf das Leben nach dem Tod von zentraler Bedeutung ist. Die Strophe setzt ein mit dem Hinweis des Sprecher-Ich, sich mit seinem Gesang dem Kreuz und Jesus Christus zuzuwenden (vgl. V. 1 f.), nachdem ihm das Besingen der Welt nur kranken lôn (V. 2) eingebracht habe.932 Der Sprecher geht jedoch nicht näher auf diese schlechte irdische Entlohnung ein, sondern richtet seinen Blick stattdessen auf den überirdischen Lohn (vgl. V. 4 f.) und die Frage, wie es ihm nach dem Tod ergehen mag (vgl. V. 6). Auch hier stehen also das Jenseits und die diesseitige Vorbereitung darauf im Zentrum des Spruches. Dementsprechend will der zweite Teil des Spruches (ab V. 7) den umsichtigen Rezipienten (vgl. ein iegeslich wîse man [V. 7])933 zu einem gottesfürchtigen Leben anleiten, damit er sich der Fürsorge des Engels sicher sein kann (vgl. V. 7 f.). Denn dann wird dieser den Teufel, egal, wie groß dessen Hinterlist
932 Wentzlaff-Eggebert versteht Vers 3 anders: „Der Dichter wendet sich von der Welt ab, der er für „kranken lôn“ mit seiner Kunst gedient hat. Die Kreuzfahrt fordert diese Entscheidung. Wer diese gefährliche Fahrt unternimmt, darf keinerlei Hoffnung auf diesseitige Dinge setzen.“ (Wentzlaff-Eggebert, S. 305) 933 Das Attribut wîse (V. 6) ist geschickt gewählt: Indem der Sprecher an alle wîse[n] man appelliert, werden sich viele angesprochen fühlen wollen. Umgekehrt zeugt aber auch eine demütige und sittsame Lebensweise von wîsheit.
75. Ich wıl dem cruce ſıngen
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auch sein mag (vgl. V. 9), davon abhalten, die slehten wege (V. 11), auf denen der Mensch sich befindet, zu kreuzen. Auch im vorliegenden Spruch versucht Bruder Wernher, so anschaulich wie möglich zu arbeiten. So zieht er das Bild der geraden Wege – ganz konkret: stîge, strâz und stege (V. 11) – heran, um die weltlichen Verlockungen, mit denen der Teufel den Menschen vom rechten Weg abringen möchte, zu beschreiben.934 Der Engel wiederum tritt gleichsam als Beschützer auf, der den Teufel abwehrt, bevor dieser den Weg des Menschen überhaupt betreten kann. Natürlich aber nur dann, wenn der Mensch zuvor eine fromme Lebensführung unter Beweis gestellt und sich somit den Schutz des Engels verdient hat. Denn es wird ja explizit darauf hingewiesen, dass der Engel das ungeverte (V. 11) meidet (vgl. V. 11). Dies unterstreicht noch einmal, dass er sich nur der Wege – und somit Menschen – annimmt, die geradlinig (also anständig und aufrichtig) sind. Auf diese Weise werden Teufel und Engel klar als Kontrahenten ausgewiesen. Auf die Frage, ob es sich bei den unikal in A überlieferten Sprüchen IX,75 und IX,76 um ein zweistrophiges Lied handelt, wird im Kommentar zu IX,76 näher eingegangen.
Historischer Hintergrund Auch die Überlegungen hinsichtlich des möglichen Entstehungshintergrunds werden im Kommentar von IX,76 im Unterkapitel ,Historischer Hintergrund‘ erläutert.
Inhaltliche Ähnlichkeit mit anderen Texten Zur Diskussion über die Parallelen zwischen Walthers Kreuzliedern und IX,75 und IX,76 vgl. Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 8; Vetter, S. 255; Kemetmüller, S. 56. vgl. zu Vers 6 (gedingen hân): Walther L 10,33 (hier V. 7): dér sî vil die dár ûf iezuo haben gedingen. (‚derer seien viele, die eben jetzt darauf ihre Hoffnung setzen‘) (Schweikle: Walther, Bd. 1, S. 222) 934 Udo Gerdes schreibt zu der Bildsprache: „Daß die Gefahren als Anschläge des Teufels bezeichnet werden, zwingt jedoch nachgerade dazu, die ebenen Wege und die Unwegsamkeit im übertragenen Sinne aufzufassen, wie es die Bibel und in einem anderen Spruch (19)
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Ton IX, Unikal in A
Walther L 123,13 (hier V. 1–4): Wie sol ein man, der niuwan sünden kan, hân guot gedingen óder gewínnen hôhen muot? (Schweikle: Walther, Bd. 2, S. 438) vgl. zu Vers 8: Walther L 24,18 (hier V. 7): als ir der heilig engel pflæge (Schweikle: Walther, Bd. 1, S. 258) vgl. zu Vers 10 f.: Walther L 113,23 (hier V. 3 f.): krumbe wege, die gent bî allen strâzen, dâ vor got behüete mich. (Schweikle: Walther, Bd. 2, S. 216) Walther L 8,4 (hier V. 20): stge und wege sint in genomen: (Schweikle: Walther, Bd. 1, S. 74)
Metrik A A A A 5 A A A A A 10 A A
4ka 4mb 7mc 4ka 4mb 7mc 4md 3 2m e 6md 5 2m e 8 2m e
werldẹ
nû scháffẹ ein íegeslich wse mán,
Literatur Brunner: Bruder Wernher, Sp. 898 • Doerks, S. 4, 6 • Gent, S. 97 • Gerdes: Beiträge, S. 23 und Anm. 5, 24, 32, 119 Anm. 2, 128–132, 134, 147 und Anm. 1, 149 Anm. 6, 174, 176 und Anm. 3, 178 und Anm. 3, 179 und Anm. 4 • HMS 4, S. 517, 523 • Kemetmüller, S. 36, 48, 54, 55–57, 224 • Lamey, S. 6, 8, 12, 17 • Meyer, S. 82, 88 f. • Müller: politische Lyrik, S. 102 • Nolte/Schupp, S. 14 f., 372 • Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 6–8 • Scholz: Reichsidee, S. 77 • Vetter, S. 254 f. • Wentzlaff-Eggebert, S. 305.
[= IV,57, Anm. d. Verf.] auch Wernher tun. Im geistlichen Zusammenhang bedeutet das die Gefahr des Abirrens vom Weg Gottes, bezogen auf den Kreuzzug den Verlust der rechten, gottbezogenenen Haltung, welche […] die Kreuzzugspropaganda immer wieder zur Voraussetzung der Sündenvergebung und des Lohngewinns erklärt.“ (Gerdes: Beiträge, S. 130)
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Ton IX, Unikal in A
76. Ze troſte wart unſ allen (A3, U) Ze troſte wart vnſ al/len vo̅ eıner maget eın kınt geborn der ıſt sın ſelbes vater vn̅ ıſt och / ſın ſelbes kınt wır waren gar vͦvallen (?) 5 der ewıchlıch verluſt verlorn / wır waren ın der vınſt mıt geſehenden ovgen blınt. wır ſın vo̅ ıme ze / lıehte kom̅ ſwer dc behalten wıl. der helfe rechen dc ıme ıſt ſın lant ge/nom̅ 10 ſın crvz vn̅ och ſın grab des ıſt zevıl den gar verworhten dıe da mıt / vnſ haben zeleıde ır reızen ſpıl. /
4 Unsicher, ob bei vͦvallen wirklich ein 〈o〉 übergeschrieben steht.
76. Ze troſte wart unſ allen
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Ze trôste wart uns allen von einer maget ein kint geborn, der ist sîn selbes vater und ist ouch sîn selbes kint. wir wâren gar vervallen, 5 der êweclîch verlust verlorn. wir wâren in der vinster mit gesehenden ougen blint. wir sint von ime ze liehte komen! swer daz behalten wil, der helfe rechen, daz ime ist sîn lant genomen, 10 sîn kriuz und ouch sîn grap; des ist ze vil den gar verworhten, die dâ mit uns habent ze leide ir reizenspil!
3A davor: 2 A = unikal danach: Œuvre Leutholds von Seven in A 3 der: Inkongruenz des Genus (ein kint – der) 4 vervallen: ‚durch Fallen zugrunde gehen, verkommen, verderben‘, das HWB vermerkt zudem speziell auch ‚in Schuld oder Sünde geraten‘ 5 êweclîch: hsl. ewıchlıch (〈ch〉 für /g/) ist für das Alem. nicht untypisch (vgl. Mhd. Gram., § E 30, 4., § L 72, 2. [letzter Absatz oberhalb von Anm. 2]) verlust (st. Fem.): hier ‚Verderben‘, der Dat. Sg. steht hier ohne auslautendes ‑e verliesen: hier ‚(dem ewigen Verderben) hingeben‘ 7 von (ime): hier kausal ‚von, durch, wegen, die Ursache oder den Urheber, den Grund anzeigend‘ liehte: ‚Helligkeit, Glanz‘ 8 behalten: ‚in Obhut haben, bewahren, rein erhalten‘ 10 des: attr. Gen. zu vil, wörtlich ‚(ein) Vieles dessen/davon‘, gemeint ist das in V. 9 f. Gesagte, nämlich das Land, das Kreuz und das Grab Christi (vgl. auch Schönbach: „das alles ist zu viel für die gänzlich Verdammten, die da zum Leid für uns ihr böse verlockendes Spiel betreiben.“ [Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 7]) 11 (den) verworhten (vgl. swV. verwirken bzw. adj. Part. Prät. verworht): ‚die Verdammten, Verfluchten, Verdorbenen‘, gemeint sind hier die nicht-christlichen Araber reizenspil: ‚verlockendes Spiel, Verlockung‘ (vgl. dazu auch ebd., S. 8)
HMS 2: VIII,2 Sch 41
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Übersetzung Als Trost wurde für uns alle von einer Jungfrau ein Sohn geboren, der ist sein eigener Vater und auch sein eigenes Kind. Wir waren ganz und gar verkommen, 5 dem ewigen Verderben hingegeben. Wir waren in der Finsternis mit sehenden Augen blind. Wir sind durch ihn ins Licht gelangt! Jeder, der das bewahren möchte, der möge vergelten helfen, dass ihm sein Reich geraubt wurde, 10 sein Kreuz und auch sein Grab; das (alles) ist zu viel für die ganz und gar Verdammten, die zu (unserem) Leidwesen dort mit uns ihr [verlockendes Spiel treiben!
Inhalt Bei IX,76 handelt es sich zweifellos um ein (einstrophiges) Kreuzlied mit propagandistischer Ausrichtung. Die Strophe ist dabei in drei Abschnitte zu unterteilen:935 Die Verse 1 bis 3 bilden das „Fundament“ des Spruches, indem sie dessen Thema vorgeben. Auf eher sachliche Art und Weise gibt zunächst Vers 1 f. die Information wieder, dass ze trôste uns allen von einer maget ein kint geborn [wart] (V. 1 f.). Diese Angabe signalisiert, dass es im weiteren Verlauf um Jesus Christus gehen wird. Darüber hinaus wird jedoch anhand der Wendung uns allen ze trôste auch auf das Opfer, das Jesus den Menschen gebracht hat, und somit auch auf die Schuld, in der sich die Menschen ihm gegenüber befinden, angespielt. Der Trinitätsgedanke, der in Vers 3 wiedergegeben wird, bestätigt noch einmal ausdrücklich, von wem hier die Rede ist, wobei jedoch mit Blick auf den gesamten Spruch auffällt, dass Jesus nie direkt mit Namen genannt wird, sondern lediglich anhand von Umschreibungen wie in Vers 1 bis 3 oder durch Personalpronomen (vgl. ime [V. 7 und 9]; vgl. auch V. 9 sîn lant, V. 10 sîn kriuz und sîn grap) bezeichnet wird.
935 Vgl. zum Aufbau auch Wentzlaff-Eggebert, S. 220 f., 224 f. und 305 f. Häufig spielt bei einem derartigen Aufbau auch die Beschreibung des Kreuzestods mit hinein, wie er etwa in II,23,1–4, II,35,9 oder IX,75,1 f. geschildert bzw. angedeutet wird.
76. Ze troſte wart unſ allen
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Im Mittelteil (vgl. V. 4–7)936 rückt nun das Verhältnis zwischen Jesus und den Menschen näher in den Blick. Es wird kein Zweifel daran gelassen, dass der Mensch ohne Jesus dem êweclîch[en] verlust[e] (V. 5) anheimgefallen wäre (vgl. V. 4 f.), erst durch Christus ist er ze liehte komen (V. 7). Anhand weniger Verse, eindringlicher Schlagwörter (vgl. V. 4 verfallen sîn, V. 5 êweclîch verlust) und dem Gegensatz von Dunkelheit und Licht (vgl. V. 6 f.) bereitet der zweite Abschnitt prägnant auf, was der Mensch Jesus Christus tatsächlich zu verdanken hat. Um den psychologischen Druck, der in Vers 1 f. (uns allen ze trôste) und Vers 4 bis 7 zwar indirekt, aber doch bewusst aufgebaut wird, abbauen zu können, bietet der Sprecher nun im Schlussteil (vgl. V. 8–11) das ideale „Ventil“ an: swer daz behalten wil, der helfe rechen, daz ime ist sîn lant genomen, sîn kriuz und ouch sîn grap (V. 8–10). Durch die Kreuznahme erhält der Christ demnach die Möglichkeit, „die Rettung aus der Finsternis in das Licht […] d. h. die Erlösung von den Sünden, sich zu bewahren, ja sie als Lohn erst eigentlich zu gewinnen“937. Und als ob dies noch nicht Grund genug wäre, der Kreuzzugsaufforderung nachzukommen, schließt der Spruch mit dem agitatorischen Hinweis auf die verworhten (V. 11), die Nichtchristen also, und deren bösartiges reizenspil (V. 11). Laut Schönbach soll mit dem reizenspil zum Ausdruck gebracht werden, „daß die Heiden den Besitz Jerusalems und seiner Heiligtümer frevelhaft dazu benutzen, die Christen anzulocken und zu verderben“938. Und der Besitz bzw. die Heiligtümer werden im Spruch ja in der Tat ausdrücklich aufgezählt: sîn lant (V. 9), sîn kriuz (V. 10) und sîn grap (V. 10). Analog zu VII,73 und VIII,74 ist die Kreuzzugsthematik auch in IX,76 eher traditionell aufbereitet. Der Spruch ist völlig frei von Skepsis an der Kreuzzugsunternehmung – ganz im Gegenteil IX,76 ruft vielmehr aktiv zur Beteiligung am Kreuzzug auf. Wie weiter unten im Kapitel zum historischen Hintergrund geschildert, scheint eine endgültige Bestimmung der Entstehungszeit nicht möglich. Tendenziell rückt m. E. jedoch auch hier eher die Kreuzfahrt Herzog Leopolds VI. von 1217–19 in den Blick. Wentzlaff-Eggebert geht hingegen von 1227 und dem Zug Kaiser Friedrichs II. 1228/29 aus. Da zu dieser Zeit ein deutlich kritischerer Umgang mit dem Kreuzzugsunternehmen vorherrscht, kommt Wentzlaff-Eggebert zu dem Schluss, dass IX,76 versucht, „neues Verständnis für ein altes hohes Ideal zu erwecken“939. 936 Die Zusammengehörigkeit der Verse 4 bis 7 wird nicht nur inhaltlich, sondern auch auf formaler Ebene dank der anaphorischen Verseingänge widergespiegelt (vgl. V. 4 wir wâren, V. 6 wir wâren, V. 7 wir sint). 937 Gerdes: Beiträge, S. 131. 938 Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 8. Vgl. dazu auch Gerdes: Beiträge, S. 131 f. 939 Wentzlaff-Eggebert, S. 306.
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Ton IX, Unikal in A
In der überwiegend älteren Forschung wird mehrheitlich davon ausgegangen, dass es sich bei den beiden Sprüchen IX,75 und IX,76 um ein zweistrophiges Kreuzlied handelt.940 Begründet wird dies zuerst von Schönbach, der zum einen auf die singuläre Stellung der beiden Sprüche sowohl im Hinblick auf ihre Überlieferung (unikal in A) als auch ihre metrische Form (kürzere Verse als sonst üblich bei Wernher) hinweist,941 zum anderen die Sprüche auch auf inhaltlicher Ebene für kohärent hält.942 Auf diese Argumentation baut später Gerdes auf, indem er auch in der Versanzahl eine „metrische Sonderstellung“943 von IX,75 und IX,76 ausmacht: [...] alle anderen Strophen Wernhers haben zwölf oder vierzehn Verse, diese beiden hingegen elf. Daraus ergibt sich ein unter Wernhers Abgesängen ungewöhnliches Reimschema und, bei den vorherrschend kurzen Versen, eine Gesamthebungszahl, die von der aller übrigen Strophen gewaltig abweicht.944
Weder diese metrischen Überlegungen noch die übrigens auch von Gerdes vertretene These, die Sprüche würden auch auf inhaltlicher Ebene korrespondieren,945 vermögen zu überzeugen. Dass die beiden Strophen formal gesehen eine Sonderstellung einnehmen, muss noch kein Argument dafür sein, dass sie auch inhaltlich zusammengehörig sind. Schließlich bilden etwa auch die siebzehn Sprüche des ersten Tones keine Liedeinheit, nur weil sie metrisch identisch sind. Da uns zudem in A lediglich drei Sprüche von Bruder Wernher überliefert sind, wäre es durchaus möglich, dass IX,75 und IX,76 nicht die einzigen, in diesem Metrum verfassten Sprüche waren. Weil nun jedoch nur diese zwei auf uns gekommen sind, scheint die Versuchung, diese als Lied aufzufassen, in der Forschung recht groß zu sein. Ich rate hier eher zu Zurückhaltung, denn die inhaltlichen Unterschiede wiegen m. E. zu schwer, als dass man sie einfach wegwischen könnte. Zentral erscheint mir neben den divergierenden Themenschwerpunkten946 v. a. auch die in beiden Strophen völlig 940 Vgl. HMS 4, S. 523; Lamey, S. 12 und 14; Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 6 und 7; Gerdes: Beiträge, S. 128; Müller: politische Lyrik, S. 102; Wentzlaff-Eggebert, S. 305. 941 Vgl. Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 6. 942 Er schreibt: „40, 1 [= IX,75,1, Anm. d. Verf.] bezeichnet entschieden den Beginn, 41, 8 ff. [= IX,76,8 ff., Anm. d. Verf.] bildet einen passenden Schluß.“ (Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 7) 943 Gerdes: Beiträge, S. 128. 944 Ebd. 945 Vgl. ebd., S. 128 f. 946 Während sich IX,75 einerseits auf die Frage nach einer angemessenen Entlohnung konzentriert und andererseits einen Appell zu einer frommen, gottgefälligen Lebensweise formuliert, ist IX,76 unmissverständlich als Kreuzzugsaufruf zu verstehen (wenngleich nicht unbedingt aus politischen, sondern aus religiösen Gründen).
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unterschiedlich angelegte Sprecher-Rolle zu sein. Während der Sprecher zumindest im ersten Teil von IX,75 nämlich in erster Linie für sich als Einzelperson spricht und sich vorrangig mit seiner eigenen Situation auseinandersetzt (vgl. ich [V. 1, 3] und mir [V. 4]), tritt er in IX,76 grundsätzlich nur aus dem Kollektiv heraus in Erscheinung (vgl. uns [V. 1 und 11] und wir [V. 4, 6 und 7]). Es geht ihm hier nicht nur um seine persönlichen Anliegen, sondern um die Situation im Heiligen Land und deren Folgen für die Christenheit insgesamt. Eine Verbindung zwischen diesen beiden Ausrichtungen herzustellen, durch die die Sprüche auch tatsächlich eine gewisse Kohärenz aufweisen, erscheint mir eher schwierig. Vetter geht zwar nicht ganz so weit, dass er die Möglichkeit eines zweistrophigen Liedes völlig in Abrede stellen möchte, aber auch er tritt eher zögerlich auf, da „der übergang von 40 [= IX,75, Anm. d. Verf.] zu 41 [= IX,76, Anm. d. Verf.] etwas unvermittelt ist“947.
Historischer Hintergrund Mit Blick auf eine zeitgeschichtliche Einordnung ähnelt die Forschungsdiskussion zu IX,75 und IX,76 derjenigen von VIII,74: Während der eine Teil der Forscher davon ausgeht, dass die beiden Sprüche im Vorfeld des Kreuzzugs von Kaiser Friedrich II. 1228/29 entstanden sind,948 setzt der andere die Abfassung „auf die zeit kurz vor dem aufbruch herzog Leopolds april-august 1217“949. Kernstreitpunkt ist Vers 3 in IX,75: ich hân der werlde ûf kranken lôn gesungen leider vil. Laut Meyer verbiete gerade die Formulierung vil gesungen es, „[d]ie betreffenden Sprüche auf den Zug Herzog Leopolds zu beziehen“950, denn dies impliziere, dass Wernher bereits vor 1217 eine gewisse Anzahl an Sprüchen gedichtet haben müsse.951 Da nun die ältere Forschung Wernhers letztdatierbaren Spruch (I,12) auf das Jahr 1266 ansetzt, erscheint ihr dieser Zeitraum von Wernhers möglicher Dichtertätigkeit als zu lang, um realistisch zu sein (setzen wir willkürlich 1210 als Beginn seines Schaffens an, so hätte er bis 1266 rund 56 Jahre gewirkt).952 Diese Problematik entsteht jedoch nicht, wenn man, wie dies in jüngeren Forschungsbeiträgen geschehen ist, I,12 nicht 947 Vetter, S. 254. 948 Vgl. HMS 4, S. 517; Meyer, S. 88; Doerks, S. 6; Schönbach,4. Stück bzw. 150. Bd., S. 8. 949 Vetter, S. 254. Vgl. außerdem Lamey, S. 16 f.; Gent, S. 97; Kemetmüller (zögerlich), S. 57. 950 Meyer, S. 88. Ähnlich Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 8. 951 Vgl. Meyer, S. 88. Meyer geht davon aus, dass Wernhers Tätigkeit als Dichter „erst 1220 oder kurz vorher“ (ebd.) einsetzt. 952 Vgl. ebd. und Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 8.
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auf 1266, sondern früher, nämlich auf 1250/51, ansetzt (die genaue Begründung siehe Kommentar zu I,12). Dadurch verkürzt sich der Zeitraum zwischen Wernhers Dichten vor 1217, erneut rein hypothetisch ab 1210, und 1250/51 auf rund 40 Jahre. Es muss dieser Datierung zufolge also nicht mehr von einem für die damalige Zeit unrealistischen „Höchstalter“ Bruder Wernhers ausgegangen werden.953 Insofern kann der Haupteinwand, der gegen die frühe Datierung der beiden Strophen spricht, entkräftet werden. Grundsätzlich sei bei der Frage nach dem Entstehungszeitpunkt darauf hingewiesen, dass ich die Datierung – speziell von IX,76 – auf 1217 für nicht völlig abwegig halte, problematisch daran ist jedoch, dass für diese Datierung beide Sprüche herangezogen werden müssen (IX,75,3: zeitliche Einordnung; IX,76,8–11: historisch-politische Einordnung), man also unweigerlich von einem zweistrophigen Lied ausgehen muss. Da ich die Überlegung, dass IX,75 und IX,76 Bestandteile eines Liedes sind, weiter oben verworfen habe und IX,75 m. E. aufgrund der fehlenden Indizien kaum historisch eingeordnet werden kann (im Gegensatz zu IX,76 [vgl. V. 8–11]), neige ich zur Vorsicht, was die Datierung von IX,76 auf das Jahr 1217 angeht. Das Argument, die beiden Strophen könnten oder müssten aufgrund ihrer metrischen Parallelität in einem gemeinsamen Zeitraum entstanden sein, erscheint mir zu spekulativ, um überzeugen zu können. Bleibt noch eine andere Frage, die im Zusammenhang mit IX,75 und IX,76 diskutiert wurde: War Bruder Wernher tatsächlich selbst in Palästina? Meyer und Doerks sehen in den beiden Sprüchen einen nicht immer nachvollziehbaren Beweis für Bruder Wernhers Reise ins Heilige Land.954 Lamey meint ausgehend von IX,75,3 gar, dass Wernher an einem Kreuzzug teilgenommen hat.955 Vetter und Gerdes sprechen sich indessen gegen eine solche Teilnahme aus. Vetter, weil sich dafür keine Belege finden lassen,956 Gerdes, weil „der Verdacht der Rollenaussage“957, also die lediglich fiktive Äußerung eines Sprechers, der getrennt vom Dichter zu sehen ist, zu naheliegend sei.958 Zwar würde ich Gerdes mit Blick auf IX,75 (v. a. V. 6) und IX,76 zustimmen, allerdings sehe ich diese Trennung zwischen Sprecher und Dichter
953 Auch Kemetmüller argumentiert auf diese Weise (vgl. Kemetmüller, S. 57). Vgl. dazu auch das Kapitel ,Ort und Zeit‘ (v. a. Anm. 9) in der vorliegenden Arbeit. 954 Vgl. Meyer, S. 82 und 88; Doerks, S. 4. 955 Vgl. Lamey, S. 6. 956 Vgl. Vetter, S. 255. 957 Gerdes: Beiträge, S. 132. 958 Vgl. ebd.
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speziell mit Blick auf VII,73 nicht ebenso klar gegeben, wie ich weiter oben im Kapitel zum historischen Hintergrund von VII,73 erläutert habe.
Inhaltliche Ähnlichkeit mit anderen Texten Zur Diskussion über die Parallelen zwischen Walthers Kreuzliedern und IX,75 und IX,76 vgl. Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 8; Vetter, S. 255; Kemetmüller, S. 56. vgl. zu Vers 1 f.: Walther L 15,6 (hier V. 5): daz ein magt ein kint gebar, (Schweikle: Walther, Bd. 2, S. 468) vgl. zu Vers 3: Walther L 19,5 (hier V. 2): von éiner maget, die er ím ze muoter hât erkorn, (Schweikle: Walther, Bd. 1, S. 86) Walther L 26,3 (hier V. 7): fron krist, váter und sún, dîn geist berihte mîne sinne: (Schweikle: Walther, Bd. 1, S. 156) Walther L 36,21 (hier V. 5): er íst dîn kint, dîn vater únde dn schepfǽrè. (Schweikle: Walther, Bd. 1, S. 202) vgl. zu Vers 6: Walther L 123,27 (hier V. 9): ich was mit gesehenden ougen blint (Schweikle: Walther, Bd. 2, S. 440) vgl. zu Vers 9: Walther L 76,22 (hier V. 8): hilf réchen disiu leit! (Schweikle: Walther, Bd. 2, S. 458) Walther L 10,9 (hier V. 1 f.): Rich, herre, dich und dîne muoter, der mégde kint, an dén, die iuwers erbelandes viende sint, (Schweikle: Walther, Bd. 1, S. 218)
Metrik A A A A 5 A A A A A 10 A A
4ka 4mb 7mc 4ka 4mb 7mc 4 2m d 3me 6 2m d 5me 8me
von éiner máget ein kínt gebórn,
wir waren ín der vínster mít geséhenden óugen blínt. wir sínt von íme ze líehte kómen! imẹ den gár verwórhten, díe dâ mít uns hábent ze léidẹ ir réizenspíl!
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Literatur Brunner: Bruder Wernher, Sp. 898 • Doerks, S. 6 • Gent, S. 97 • Gerdes: Beiträge, S. 23 und Anm. 5, 24, 39 Anm. 4, 128–132, 134, 174 und Anm. 2, 176 und Anm. 3, 177 und Anm. 1 und 5, 178 und Anm. 3, 179 und Anm. 4, 181 und Anm. 3 • HMS 4, S. 517, 523 • Kemetmüller, S. 48, 54, 55–57, 225 • Lamey, S. 12, 14 • Meyer, S. 88 f. • Müller: politische Lyrik, S. 102 • Schönbach, 4. Stück bzw. 150. Bd., S. 6–8 • Scholz: Reichsidee, S. 77 • Vetter, S. 254 f. • Wisniewski, S. 128 • Wentzlaff-Eggebert, S. 305.
Teil III: Anhang
Melodien aus der Jenaer Liederhandschrift
Melodien aus der Jenaer Liederhandschrift Ton I
Quelle: Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek Jena (ThULB), Ms. El. f. 101, fol. 7v
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Anhang
Quelle: Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek Jena (ThULB), Ms. El. f. 101, fol. 8r
Melodien aus der Jenaer Liederhandschrift
Ton II
Quelle: Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek Jena (ThULB), Ms. El. f. 101, fol. 9r
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Anhang
Quelle: Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek Jena (ThULB), Ms. El. f. 101, fol. 9v
Melodien aus der Jenaer Liederhandschrift
Ton III
Quelle: Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek Jena (ThULB), Ms. El. f. 101, fol. 12v
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Anhang
Quelle: Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek Jena (ThULB), Ms. El. f. 101, fol. 13r
Melodien aus der Jenaer Liederhandschrift
Ton IV
Quelle: Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek Jena (ThULB), Ms. El. f. 101, fol. 14r Die letzte Notenzeile von Ton IV befindet sich auf fol. 14v (siehe Abb. zu Ton V).
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Anhang
Ton V
Quelle: Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek Jena (ThULB), Ms. El. f. 101, fol. 14v
Melodien aus der Jenaer Liederhandschrift
Quelle: Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek Jena (ThULB), Ms. El. f. 101, fol. 15r
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Anhang
Ton VI
Quelle: Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek Jena (ThULB), Ms. El. f. 101, fol. 15v
Melodien aus der Jenaer Liederhandschrift
Quelle: Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek Jena (ThULB), Ms. El. f. 101, fol. 16r
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Anhang
Sprücheverzeichnis 1. Uvır lan dıe phaffen ſyn vůr tan. (J1, U) 64 72 2. DEr ban vnde echte ſẏnt eẏn tot. (J2, U) 78 3. Owe der werlde werdıcheít. (J3) 86 4. Eẏn rechter babes der ſolte vůr geben. (J4, U) 96 5. Man ſeıt daz neman edele en ſy. (J5) 104 6. Mır tůt vıl maníger alſo eẏn wıb. (J6) 110 7. Ez wenet maníger daz er ſẏ. (J7) 116 8. Uvıe ſol eín ſínger ſıch bewarn. (J8, U) 122 9. Uvıe ſwert man nv der herren rat. (J9) 128 10. Eẏn pulber wılen wart gebrant. (J10, U) 136 11. Der herren gůt vnde herren name̅. (J11 N, U) 142 12. Ich han geklaget vnde klag ez an. (J12 N, U) 150 13. Ich han durch tzucht vıl tzuchtelıch. (J13 N, U) 156 14. Swer ſẏnen vrıvnt vůr ſůchen ſol. (J14 N, U) 162 15. Swer ſẏne ruwe anz ende lat. (J15 N) 168 16. Owe daz maníger valſchen mv̊t. (J16 N, U) 174 17. Sıt got vs ſíner hantgetat (C16, U) 182 18. Nv ſcouwet an den ſvmer guͦt. Wıe er alder werlde vreude gıt. (J17) 190 19. Owe der maníchvalten not. Dıe al der werlde kvmftıch ıſt. (J18) 198 20. Dıv ſele ıſt luter alſo eẏn glas. So ſıe der touf erwaſchen hat. (J19, U) 204 21. Unſe herre hete adame geben Jn paradẏſe wunne vıl. (J20) 214 22. Owe da míte wír ſẏnt geborn. Vnde alſo mvͦz ez enden ſıch. (J21) 224 23. Got vuͦr der werlde míſſetat. Von dorne er eẏne kronen truͦc. (J22) 236 24. Der gevatter vnde der vole tzan. Tzvͦ grozen noten ſínt tzvͦ ſwach. (J23) 246 25. Nv ſcouwet wel eẏn ſvnder art. Der ſtork ır kennet ſẏne tzıt. (J24) 256 26. Genvge herre ſín geſwachet So daz ıch (es) ín vuͦr gan (J25) 264 27. Ich han der ſwaben wírdıcheít. Jn vremden landen víl geſen. (J26) 272 28. So ſtarken man ích nẏe geſach. Jch wene er ín der ſı bekant. (J27) 29. Getruwer vrıvnt vuͦr ſuͦchtez ſwert. Dıe tzwıe(ne) ſínt ín noten guͦt. (J28, U) 282 288 30. Trovme hant mír vıl gelogen. Vnz her alle mẏne tage. (J29, U) 31. Uver helfet mír an ſẏner ſtat. Des helfe mír was vıl gereıt. (J30, U) 296 32. Nv ratent alle dıe nv leben. Vnde ouch bẏ guͦten wítzen ſẏnt. (J31, U) 302 33. Dıv ſcande ſtıget vnde velt. Jn dırre werlde an ſelden (durch helfe) / kvͦr. (J32, U) 310 34. Eẏn vuler apfel ſmecket nícht. Vnde ıſt tzvͦ horde gar vnwert. (J33, U) 316 35. Gregoríus babes geıſtlıcher vater. Wache vnde brích abe dínen ſlaf. (J34) 324 36. S we dır guͦtes rıcher man. An truwen vnde an eren kranc. (J35, U) 336 37. Swer koſtelıch eín hoez hus. von holtze wol vntworfen hat. (J36) 342 38. Eẏn edel grave wol geborn. der wont ín oſter vranken lant. (J37 N, U) 350 39. Ich gan dem edelen kvnınge wol daz ẏm ſẏn dínc tzuͦr wunſch ırge. (J38 N, U) 356 40. Swa herren ſterben daz ıſt ſchade. Des mvͦchte doch wol werden rat. (J39 N) 366 41. So ſıch der lıb vuͦr wandelt hıe vnd daz dıe ſele von vns vert. (J40 N) 374 42. Da ıch eín lob ır nuwen ſol. daz ane dach ſo manígen tac. (J41 N, U) 382 43. Ez wolte eẏn affe vber eẏnen ſe. do kvnder wol geſwẏmmen nícht. (J42 N, U) 390 44. Ich han ſo vıl geſvnge̅ dc ma̅ger nv geſwuͤre wol (C18, U) 404 45. Nv ıſt dc rıch vn̅ oͮch duͥ lant vıl gar an ıvnge hre̅ kome̅ (C20, U) 412 46. Ich weız der herren manígen ob ıch // het ır eẏnes guͦt. (J43) 420
Sprücheverzeichnis
47. Mır ıſt eín lob ır luſchen deme ıch doch vıl dıcke tzvͦ. (J44, U) 428 48. Ich hete eín ſpil ſo guͦt daz ıch gewẏnnnes mích vuͦr ſach. (J45, U) 434 49. Ich bín getruwer manígen man den er ẏm ſelber ſẏ. (J46, U) 442 50. Des rẏnes ſite wıſte ıch wol. Vnde was mẏr lange kvnt. (J47, U) 448 51. Ich weız eẏn wıb vnde eẏnen man. ſolte ıch dıe tzwe geſen. (J48, U) 456 52. Lobete ıch dıe rıchen boſen vn̅ ır ſvndıchlıchez guͦt. (J49, U) 462 53. Ez geſchet vıl dıcke an maníger ſtat. daz wıb gewaltes phlıget. (J50) 468 54. Swa man den kvnſten rıchen varenden man vngerne ſícht. (J51 N, U) 474 55. Ich mvͦz vıl dıcke an maníger ſtat des guͦtes armer ſín. (J52 N, U) 480 56. Nv merket wer den kargen klage ſwen er geſcaffet daz. (J53 N, U) 486 57. Nv merket wa eẏn blẏnder get. Vuͦrluſet er den knecht. (J54) 492 58. Swes lob vuͦr negelt wírt Daz nícht eín meíſter buͦzen kan. (J55) 502 59. Eẏn dínc wonet genvgen lıvten bẏ. Daz nícht an eren vrvmt. (J56) 512 60. Ich buwe eẏn hus dar ẏnne wıl geſẏnde weſen. (J57, U) 518 61. Ich bín des graben kvmfte vro von oſterberc. (J58, U) 524 62. Ich bẏn des edelen werden kvnínges mílte vro. (J59) 532 63. Ivnc. vnde alt. rıche. vnde arm. helfet mít mír klagen. (J60, U) 538 64. Owe dır werlt owe ẏm der dır volgen mvͦz. (J61) 546 65. So we mẏr armen we daz ıch ſo rechte weız. (J62 N, U) 554 66. Als ıema̅ kvmt d vo̅ d ſtırmarke vert (C22, U) 560 67. Swer ſıch mẏt vremden lıvten wıl (J63) 570 68. Nıeman ſol guͦt vuͦr mír vuͦr ſparn. (J64, U) 578 69. Swelıch herre ez mít den vurſten hat. (J65) 584 70. Eẏn wort der keẏſer otte ſprach. (J66) 596 71. Sıt ıch nícht grozer dorfer han. (J67 N) 604 72. Wıe wírt derríchen arge̅ rat (C36, U) 614 73. Swe̅ne ıch vo̅ akers kvm gewa̅t (C30, U) 622 74. Sv̍ſa wıe wu̅neklıch der vſ oͤſtrıche vert (C32, U) 636 75. Ich wıl dem cruce ſıngen (A2, U) 648 76. Ze troſte wart unſ allen (A3, U) 654
679
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Anhang
Die Zählung(en) der Sprüche auf einen Blick Sch959
HMS
RSM
hsl. Zählung960
Ton I
I,1 I,2 I,3 I,4 I,5 I,6 I,7 I,8 I,9 I,10 I,11 I,12 I,13 I,14 I,15 I,16 I,17
42 43 25 44 22 26 23 45 27 46 47 48 49 50 28 51 24
I,1 (HMS 3) I,2 (HMS 3) IV,4 (HMS 2) I,4 (HMS 3) IV,1 (HMS 2) IV,5 (HMS 2) IV,2 (HMS 2) I,8 (HMS 3) IV,6 (HMS 2) I,10 (HMS 3) I,11 (HMS 3) I,12 (HMS 3) I,13 (HMS 3) I,14 (HMS 3) IV,7 (HMS 2) I,16 (HMS 3) IV,3 (HMS 2)
Wern/4/8 Wern/4/9 Wern/4/4 Wern/4/10 Wern/4/1 Wern/4/5 Wern/4/2 Wern/4/11 Wern/4/6 Wern/4/12 Wern/4/13 Wern/4/14 Wern/4/15 Wern/4/16 Wern/4/7 Wern/4/17 Wern/4/3
J1, U J2, U J3 (C24, T2) J4, U J5 (C12) J6 (C25) J7 (C15) J8, U J9 (C26) J10, U J11 N, U J12 N, U J13 N, U J14 N, U J15 N (C28) J16 N, U C16, U
Ton II
II,18 II,19 II,20 II,21 II,22 II,23 II,24 II,25 II,26 II,27 II,28 II,29 II,30 II,31 II,32 II,33 II,34 II,35
9 3 52 1 4 10 6 16 8 14 5 53 54 55 56 57 58 2
I,9 (HMS 2) I,3 (HMS 2) II,3 (HMS 3) I,1 (HMS 2) I,4 (HMS 2) I,10 (HMS 2) I,6 (HMS 2) I,16 (HMS 2) I,8 (HMS 2) I,14 (HMS 2) I,5 (HMS 2) II,12 (HMS 3) II,13 (HMS 3) II,14 (HMS 3) II,15 (HMS 3) II,16 (HMS 3) II,17 (HMS 3) I,2 (HMS 2)
Wern/1/9 Wern/1/3 Wern/1/17 Wern/1/1 Wern/1/4 Wern/1/10 Wern/1/6 Wern/1/16 Wern/1/8 Wern/1/14 Wern/1/5 Wern/1/18 Wern/1/19 Wern/1/20 Wern/1/21 Wern/1/22 Wern/1/23 Wern/1/2
J17 (C13) J18 (C3) J19, U J20 (C1) J21 (C4) J22 (C17) J23 (C6) J24 (C38) J25 (C8) J26 (C27) J27 (C5) J28, U J29, U J30, U J31, U J32, U J33, U J34 (C2)
959 Sch: Anton E. Schönbach; HMS: Friedrich Heinrich von der Hagen; RSM: Repertorium der Sangsprüche und Meisterlieder des 12. bis 18. Jahrhunderts (Hrsg.: Horst Brunner und Burghart Wachinger) 960 N: Nachtrag; U: Unikat
Die Zählung(en) der Sprüche auf einen Blick
Sch
HMS
RSM
hsl. Zählung
II,36 II,37 II,38 II,39 II,40 II,41 II,42
59 7 60 61 12 15 62
II,19 (HMS 3) I,7 (HMS 2) II,21 (HMS 3) II,22 (HMS 3) I,12 (HMS 2) I,15 (HMS 2) II,25 (HMS 3)
Wern/1/24 Wern/1/7 Wern/1/25 Wern/1/26 Wern/1/12 Wern/1/15 Wern/1/27
J35, U J36 (C7) J37 N, U J38 N, U J39 N (C19) J40 N (C32) J41 N, U
II,43 II,44 II,45
63 11 13
II,26 (HMS 3) I,11 (HMS 2) I,13 (HMS 2)
Wern/1/28 Wern/1/11 Wern/1/13
J42 N, U C18, U C20, U
Ton III
III,46 III,47 III,48 III,49 III,50 III,51 III,52 III,53 III,54 III,55 III,56
17 64 65 66 67 68 69 18 70 71 72
II,1 (HMS 2) III,2 (HMS 3) III,3 (HMS 3) III,4 (HMS 3) III,5 (HMS 3) III,6 (HMS 3) III,7, (HMS 3) II,2 (HMS 2) III,9 (HMS 3) III,10 (HMS 3) III,11 (HMS 3)
Wern/2/1 Wern/2/3 Wern/2/4 Wern/2/5 Wern/2/6 Wern/2/7 Wern/2/8 Wern/2/2 Wern/2/9 Wern/2/10 Wern/2/11
J43 (C9, A1) J44, U J45, U J46, U J47, U J48, U J49, U J50 (C10) J51 N, U J52 N, U J53 N, U
Ton IV
IV,57 IV,58 IV,59
19 21 20
III,1 (HMS 2) III,3 (HMS 2) III,2 (HMS 2)
Wern/3/1 Wern/3/3 Wern/3/2
J54 (C14) J55 (C31) J56 (C29)
Ton V
V,60 V,61 V,62 V,63 V,64 V,65 V,66
73 74 31 75 29 76 30
V,1 V,2 V,3 V,4 V,1 V,6 V,2
Wern/5/4 Wern/5/5 Wern/5/3 Wern/5/6 Wern/5/1 Wern/5/7 Wern/5/2
J57, U J58, U J59 (C23) J60, U J61 (C21) J62 N, U C22, U
Ton VI
VI,67 VI,68 VI,69 VI,70 VI,71 VI,72
34 38 35 33 37 36
VI,2 VI,6 VI,3 VI,1 VI,5 VI,4
2) 2) 2) 2) 2) 2)
Wern/6/2 Wern/6/6 Wern/6/3 Wern/6/1 Wern/6/5 Wern/6/4
J63 (C34) J64, U J65 (C35) J66 (C33) J67 N (C37) C36, U
Ton VII
VII,73
39
VII,1 (HMS 2)
Wern/7/1
C30, U
Ton VIII
VIII,74
32
V,4 (HMS 2)
Wern/9/1
C32, U
Ton IX
IX,75 IX,76
40
VIII,1 (HMS 2) VIII,2 (HMS 2)
Wern/8/1 Wern/8/2
A2, U A3, U
Ton II
41
(HMS (HMS (HMS (HMS (HMS (HMS (HMS
3) 3) 2) 3) 2) 3) 2)
(HMS (HMS (HMS (HMS (HMS (HMS
681
682
Anhang
Abkürzungsverzeichnis Abb. abh. absol. Adj., adj. Adj.attr. Adj.endg. Adv., adv. Adv.endg. Affr. ahd. Akk. Akk.endg. Akk.gebrauch Akk.obj. Alem., alem. allgem. (Silben-)Anl., anl. Anm. Anm. d. Verf. AR Art. Attr., attr. (Silben-)Ausl., ausl.
Abbildung abhängig absolut Adjektiv, adjektivisch Adjektivattribut Adjektivendung Adverb, adverbial Adverbendung Affrikate althochdeutsch Akkusativ Akkusativendung Akkusativgebrauch Akkusativobjekt Alemannisch, alemannisch allgemein (Silben-)Anlaut, anlautend Anmerkung Anmerkung der Verfasserin Ablautreihe Artikel Attribut, attributiv (Silben-)Auslaut, auslautend
Bair., bair. Bd. bes. best. Bl., Bll. Br. W. Bsp. bzgl. bzw.
Bairisch, bairisch Band besonders bestimmt Blatt, Blätter Bruder Wernher Beispiel bezüglich beziehungsweise
ca. Cod.
circa Codex
Dat. Dat.obj. dementspr. d. h. Dichtg. d. P. d. S.
Dativ Dativobjekt dementsprechend das heißt Dichtung der Person der Sache
Abkürzungsverzeichnis
ebd. eigentl. Endg. entspr. evtl.
ebenda eigentlich Endung entsprechend eventuell
f., ff. Fem. Flexionsendg. Frgmt. frk. futur.
folgende, fortfolgende Femininum Flexionsendung Fragment fränkisch futurisch
Gen. Gen.attr. Gen.obj. germ. ggf. Ggs. gr. Gram.
Genitiv Genitivattribut Genitivobjekt germanisch gegebenenfalls Gegensatz groß Grammatik
handwerkl. heil., hl. hess. Hs., hsl.
handwerklich heilig hessisch Handschrift, handschriftlich
i. d. R. Imp. Ind. Inf. inl. inkl. intervokal. intr.
in der Regel Imperativ Indikativ Infinitiv inlautend inklusive intervokalisch intransitiv
Jh. jmd.
Jahrhundert jemand
k. A. kl. Konj. Kons. Kontr., kontr.
keine Angabe klein Konjunktiv Konsonant Kontraktion, kontrahiert
Leiths. Lhs.
Leithandschrift Liederhandschrift
683
684
Anhang
Mask. Md., md. m. E. metr. mfrk. Mhd., mhd. mind. mlat. mnd. Ms.
Maskulinum Mitteldeutsch, mitteldeutsch meines Erachtens metrisch mittelfränkisch Mittelhochdeutsch, mittelhochdeutsch mindenstens mittellateinisch mittelniederdeutsch Manuskript
namentl. Nbf. nd. Neutr. nhd. Nom. nord. Normal., normal. Normalmhd., normalmhd. Nr.
namentlich Nebenform niederdeutsch Neutrum neuhochdeutsch Nominativ nordisch Normalisierung, normalisiert Normalmittelhochdeutsch, normalmittelhochdeutsch Nummer
o. Ä. Obd., obd. Obj. Objektsakk. Objektsgen. Omd., omd.
oder Ähnliches Oberdeutsch, oberdeutsch Objekt Objektsakkusativ Objektsgenitiv Ostmitteldeutsch, ostmitteldeutsch
part. Partizip Pers. persönl. Pers.pron. Pl. Pl.form poss. Poss.pron. Präp. Präs. Präs.form Prät. prakt. Pron. Pronominalobj.
partitiv Partizip Person persönlich Personalpronomen Plural Pluralform possessiv Possessivpronomen Präposition Präsens Präsensform Präteritum praktisch Pronomen Pronominalobjekt
Abkürzungsverzeichnis
räuml. refl. Rel.pron. Rel.satz
räumlich reflexiv Relativpronomen Relativsatz
s. S. sächl. Schwäb. Sg. Sg.endg. sog. Sp. spätmhd. St. st. steir. stm. Str. stV. stsw. s. u. Subj. Subst., subst. Superl. swf. swV. sw.
siehe Seite sächlich Schwäbisch Singular Singularendung sogenannt Spalte spätmittelhochdeutsch Sankt stark steirisch starkes Maskulinum Strophe starkes Verb stark-schwach siehe unten Subjekt Substantiv, substantivisch Superlativ schwaches Femininum schwaches Verb schwach
tr.
transitiv
u. Ä. u. a. unbest. unpers. urspr. usw., u. s. w. uvm.
und Ähnliches unter anderem unbestimmt unpersönlich ursprünglich und so weiter und viele(s) mehr
V. v. a. vgl. vgl.bar
Vers vor allem vergleiche vergleichbar
WB wirtschaftl. Wmd.
Wörterbuch wirtschaftlich Westmitteldeutsch
685
686
Z. (und z.) z. z. B. zeitl. z. T.
Anhang
Zeile zum zum Beispiel zeitlich zum Teil
Verzeichnis abgekürzt zitierter Literatur
687
Verzeichnis abgekürzt zitierter Literatur ATB BLVS BMZ
DWB Euph GAG HMS
HWB LexMa LThK
MF
MTU PBB RömHM RSM
VL
2
VL
VSWG ZfdA ZdfPh
Altdeutsche Textbibliothek Bibliothek des literarischen Vereins in Stuttgart Mittelhochdeutsches Wörterbuch. Mit Benutzung des Nachlasses von Georg Friedrich Benecke. Ausgearb. von Wilhelm Müller und Friedrich Zarncke. 3 Bd.e in 4 Teilbd.en. Leipzig 1854–1866. Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. 16 Bd.e in 32 Teilbd.en. Leipzig 1854–1961 (Quellenverzeichnis Leipzig 1971). Euphorion. Zeitschrift für Literaturgeschichte Göppinger Arbeiten zur Germanistik Minnesinger. Deutsche Liederdichter des zwölften, dreizehnten und vierzehnten Jahrhunderts […]. Hrsg. von Friedrich Heinrich von der Hagen. 4 Bd.e in 3 Teilbd.en. Neudr. der Ausg. 1838. Aalen 1963. Lexer, Mathias: Mittelhochdeutsches Handwörterbuch. 3 Bd.e. Leipzig 1872– 1878. Lexikon des Mittelalters. 10 Bd.e. Hrsg. und Berater Robert-Henri Bautier et al. München 1980–1999. Lexikon für Theologie und Kirche. Begr. von Michael Buchberger. Hrsg. von Walter Kasper et al. Sonderausg. (Durchges. Ausg. der 3. Aufl. 1993–2001). 11 Bd.e. Freiburg i. Br. 2006. Des Minnesangs Frühling. Unter Benutzung der Ausgaben von Karl Lachmann und Moritz Haupt, Friedrich Vogt und Carl von Kraus bearb. von Hugo Moser und Helmut Tervooren. I. Texte. 38., erneut rev. Aufl. Stuttgart 1988. Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters (Paul und Braunes) Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur Römische historische Mitteilungen Repertorium der Sangsprüche und Meisterlieder des 12. bis 18. Jahrhunderts. Hrsg. von Horst Brunner und Burghart Wachinger. 16 Bd.e. Tübingen 1986–2009. Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Unter Mitarbeit zahlreicher Fachgenossen hrsg. von Wolfgang Stammler (ab Bd. 3 hrsg. von Karl Langosch). 5 Bd.e. Berlin, Leipzig 1933–1955. Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon […]. 2., völlig neu bearb. Aufl. unter Mitarbeit zahlreicher Fachgelehrter. Hrsg. von Kurt Ruh et al. (ab Bd. 9 hrsg. von Burghart Wachinger). 14 Bd.e. Berlin, New York 1978–2008. Vierteljahresschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur Zeitschrift für deutsche Philologie. Berlin
688
Anhang
Literaturverzeichnis Wörterbücher HWB
BMZ
DWB
Online unter: http://woerterbuchnetz.de/Lexer/ (Stand: 2009/10) Online unter: http://woerterbuchnetz.de/BMZ/ (Stand: 2009/10) Online unter: http://woerterbuchnetz.de/DWB/ (Stand: 2009/10)
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Literaturverzeichnis
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690
Anhang
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Anhang
Register Personen Albert Beha(i)m 69, 76, 133 Anm. 218, 321 Anm. 442 Albrecht von Bogen 490 Albrecht von Magdeburg, Erzbischof 644 Anselm von Justingen 211 Bernhard II. von Kärnten, Herzog 530 Anm. 707 Castell/Kastell, Graf 12, 353 und Anm. 486, 354 Cölestin IV., Papst 92, 499 Anm. 675 Elisabeth von Thüringen 324 Friedrich der Streitbare Siehe Friedrich II., Herzog Friedrich II., Kaiser 10 Anm. 16, 11, 12, 13, 21, 69 und Anm. 130, 91 und Anm. 157, 92 und Anm. 163, 93 und Anm. 165 und 170, 133 Anm. 218, 196 Anm. 265, 211, 212, 226, 230, 231, 232, 260, 278 Anm. 383, 321 Anm. 442, 327, 331 und Anm. 461 und 462, 332 und Anm. 466, 333, 347 und Anm. 482, 360, 361, 391, 396, 397 und Anm. 549, 398 und Anm. 552, 400 und Anm. 568, 401, 498 Anm. 673, 499 Anm. 678, 530, 538, 543, 545, 578, 592 und Anm. 816, 593, 607, 610 Anm. 855 und 856, 611, 612, 629 Anm. 884, 630, 633 und Anm. 896, 644, 645 und Anm. 927, 659, 661 Friedrich II., Herzog 9, 10, 11, 12, 13, 133 Anm. 218, 144 und Anm. 224, 145 Anm. 226, 146, 147, 154, 278 und Anm. 383, 347 und Anm. 482, 371, 387, 416, 437, 544, 567, 578, 579, 592 und Anm. 816 und 818, 593, 603, 607, 608, 609, 610 und Anm. 855, 611, 612 Gregor IX., Papst 12, 92, 133 Anm. 218, 196 Anm. 266, 324, 327, 329 Anm. 455, 331 und Anm. 462, 332, 333 Anm. 469, 391, 397, 498 Anm. 673, 499 Anm. 675, 530, 629 Anm. 884 Gregor X., Papst 324 Hartnid von Ort (I., II., III.), Graf 13, 565, 566 und Anm. 767 und 773, 567 und Anm. 775 und 777 und 782, 568
Heinrich I. von Ortenburg, Graf 529 und Anm. 702, 530 und Anm. 707 Heinrich III. von Henneberg 530 f. Heinrich VI., Kaiser 361 Heinrich (VII.), König 11, 12, 76, 120, 196 Anm. 265, 211 und Anm. 286, 212 und Anm. 292, 261 und Anm. 363 und 365, 270, 331 Anm. 461, 360, 361, 362 und Anm. 508 und 515, 363, 397 Anm. 549, 399 Anm. 560, 416, 538 und Anm. 720 und 722, 543, 544 Anm. 730, 545 und Anm. 741, 593, 611, 644, 645 Heinrich Raspe, Gegenkönig 69, 126, 260, 261 und Anm. 365 Heinrich von Schwerin, Graf 644 Hermann I. von Ortenburg, Graf 529 Anm. 702 Honorius III., Papst 331 und Anm. 461, 333 Anm. 469 Innozenz IV., Papst 91 und Anm. 157, 92 und Anm. 161 und 163, 93, 498 Anm. 673, 499 Anm. 675 und 678 Konrad von St. Gallen, Abt 543 Anm. 729, 545 Konrad IV., König 11, 260, 261 und Anm. 363 und 365, 361, 538 und Anm. 720 Konrad von Hochstaden, Erzbischof 261 Anm. 365 Leopold VI., Herzog 9, 10, 12, 13, 21 Anm. 50, 371, 416, 530 Anm. 706, 545 Anm. 741, 633, 634, 641, 642 und Anm. 913, 643, 644, 645 und Anm. 926, 646 Anm. 930, 659, 661 Ludwig I., Herzog 12, 13, 33, 416 und Anm. 600, 523, 543 und Anm. 729, 544 und Anm. 730, 545 und Anm. 741 und 743, 593 Otto II., Kaiser 603 Otto II., Herzog 12, 13, 148, 416, 544, 592 und Anm. 816, 593, 595 Otto IV., Kaiser 21, 602 und Anm. 845, 603 Anm. 848, 644, 645 Otto von Botenlauben 354 und Anm. 487
Register
Ottokar II., Herzog bzw. König 11, 144 Anm. 224, 148, 566 Poppo VII. von Henneberg, Graf 12, 353 und Anm. 486, 354 und Anm. 487 und 489, 530, 531 Rapoto II. von Ortenburg, Graf 529 und Anm. 702, 530
699
Saladin, Sultan 306, 307 und Anm. 416 Waldemar II., König 644, 645 Wenzel I., König 11, 148, 416 Anm. 598 Wilhelm III. und IV. von Heunburg, Graf 11, 305, 306, 307, 308 Wilhelm von Holland, Gegenkönig 260, 261 und Anm. 365
Autoren Albrecht von Johansdorf 632 Anm. 895 Biterolf 339 f. Meister Boppe 38 Frauenlob 38 Freidank 94, 101, 108 f., 115, 160 f., 166, 178 Anm. 250, 202 f., 243, 279, 286, 340, 371 f., 387, 453, 478, 546, 553, 560, 603, 621, 633, 634 Friedrich von Hausen 632 Anm. 895 Friedrich von Sonnenburg 38, 484 Der Goldener 38 Gottfried von Straßburg Siehe Tristan Der Guotære 322 Hans Folz 23 Anm. 56 Hartmann von Aue 632 Anm. 895 Heinrich der Glîchezâre 114, 589 Anm. 806 Heinrich von dem Türlin 129 Heinrich Wittenwîler 286 f. Hrabanus Maurus 200 Anm. 268 Hugo von Fouilloy 200 Anm. 268 Hugo von Trimberg 101 Isidor von Sevilla 200 Anm. 268 Johann von Capua 394 und Anm. 542, 395 und Anm. 544 und 545 Konrad von Megenberg 200 Anm. 268, 589 Anm. 806, 596 Konrad Nachtigall 23, 24 Der Litschauer 301 Ludwig Tieck 270 Lupold Hornburg 23 Marner 453
Meißner 309, 459, 472 f. Meister Stolle 38 Regenbogen 340, 553 Reinmar von Zweter 89 Anm. 152, 232 f., 233, 259 Anm. 360, 363, 484 Robyn 22, 23 Rumelant von Sachsen 279 Sigeher 233 Spervogel 270 Stricker 20 Anm. 44 Tannhäuser 523 und Anm. 700 Thomasîn von Zerklære 101 Ulrich von Liechtenstein 307 und Anm. 423, 529 Anm. 702, 566, 567 Anm. 774, 585 Valentin Voigt 23, 25 Vinzenz von Beauvais 200 Anm. 268 Walther von der Vogelweide 20, 21, 32 Anm. 79, 70, 76 f., 120, 139 Anm. 223, 145 Anm. 226, 154 f., 161, 172, 178 Anm. 250, 187, 221, 232, 233, 240 Anm. 328, 243, 253, 270, 279, 286, 294, 300, 308 f., 315, 322, 334 und Anm. 473, 340, 347, 363 und Anm. 518, 364, 372, 387, 409, 410, 416, 432, 439, 450 Anm. 634, 459, 465, 472, 473, 483 Anm. 655, 499, 532, 539, 552 f., 560, 568, 579, 585, 596, 603, 621, 632 und Anm. 895, 634, 646 und Anm. 930, 653 f., 663 Winsbeke 187, 340, 553 Wolfram von Eschenbach Siehe Parzival
Werke Buch der Natur 589 Anm. 806, 596 Daz buoch von dem übeln wîbe 107
Dietrichs Flucht 446 Directorium vitae humanae 394 Anm. 542
700
Anhang
Kalila und Dimna 394 und Anm. 542 Die Krone 129 Pantschatantra 394 und Anm. 542, 395 Anm. 543 Parzival 172, 315, 432, 539, 604 Passional 322 Phantasus 270 Physiologus 114 Anm. 193, 201 Anm. 268, 218 Anm. 299, 248 und Anm. 338 und 339, 250 Anm. 344 und 346, 251, 397 Anm. 550
Reinhart Fuchs 113 Anm. 187, 114 f. und Anm. 195, 115 Anm. 196, 589 Anm. 806 Der Renner 101 Der Ring 286 f. Rolandslied 391, 400, 401 Tristan 532 Diu übel Adelheit 107 Der Welsche Gast 101
Bibelbezüge Hes 29,4 553 Hes 38,4 553 Jak 3,5 596 Jak 5,1–6 371, 621 Jer 8,7 253 Jes 29,8 553 Jes 30,28 553 Jes 38,10 621 Jes 40,31 253 Job 1,21 553 Job 15,34 166 Job 20,26 166 Job 20,8 553 Job 21,26 203 Job 30,11 553 Joh 1,23 499 Joh 10,12 f. 333 Joh 11,1 459 Joh 11,39 322 Joh 11,44 459 Joh 19,25–27 179 2. Kön 19,28 553 1. Kor 15,52 221 Lk 3,4 f. 499 Lk 4,3 459 Lk 21,15 f. 322 Mose 2,17 212 Mose 3,18 f. 203
Mose 3,3 212 Mt 3,3 499 Mt 4,3 459 Mt 7,15 333 Mt 7,17 539 Mt 13,25 333 Mt 16,18 621 Mt 24,7 322 Mt 24,29 322 Mt 24,31 221 Offb 8,1 f. 221 Offb 8,7 322 Offb 8,10 322 Offb 8,12 322 Pred 4,3 161 Pred 5,14 553 Ps 20,10 166 Ps 31,13 f. 490 Ps 49,18 553 Ps 103,5 253 Spr 4,26 f. 499 Spr 10,8 243 Spr 12,4 243 Spr 12,18 f. 243 Spr 16,24 243 Spr 25,19 243 Spr 30,18 f. 253 1. Tim 6,7 553
Sprüche I,1 30 und Anm. 72, 64–71, 76, 496 Anm. 670, 498 Anm. 673
I,2 72–77, 620 Anm. 876 I,3 78–85
Register
I,4 10 Anm. 16 und 17, 11 Anm. 18, 12, 16 Anm. 25, 86–94, 327, 328 Anm. 452, 329 Anm. 455 I,5 96–102 I,6 104–109, 458 I,7 19 Anm. 41, 107, 110–115, 589 Anm. 806 I,8 16 Anm. 25, 17 Anm. 29, 116–121, 285 Anm. 389 I,9 16 Anm. 25, 90 Anm. 154, 122–127, 209 Anm. 279 I,10 12, 19 Anm. 41, 128–134, 541 I,11 136–140 I,12 9 Anm. 12, 11, 142–149, 151, 215, 359 Anm. 495, 661 f. I,13 150–155, 285 Anm. 389 I,14 153 Anm. 235, 156–161, 285 Anm. 389 I,15 19 Anm. 41, 20 Anm. 46, 153 Anm. 253, 162–167, 193, 218 Anm. 297, 338 Anm. 474, 345, 519, 521 Anm. 692 I,16 16 Anm. 25, 168–173 I,17 20 Anm. 46, 174–180, 193, 338 Anm. 474, 620 Anm. 876 II,18 19 Anm. 41, 30 Anm. 72, 182–188 II,19 20 Anm. 46, 113 Anm. 188, 190–197, 201, 242 Anm. 332, 285 Anm. 389, 338 Anm. 474 II,20 19 Anm. 41, 20 Anm. 46, 113 Anm. 188, 198–203, 207, 338 Anm. 474, 378 Anm. 528 II,21 11, 31 Anm. 73, 51 Anm. 109, 51 Anm. 112, 204–213, 218 Anm. 297, 219, 220 Anm. 303, 424 Anm. 606, 425 Anm. 608 II,22 19 Anm. 41, 20 Anm. 46, 113 Anm. 188, 214–222, 378 Anm. 528 II,23 11 und Anm. 18, 31 Anm. 73, 113 Anm. 188, 224–234, 278 Anm. 383, 311, 328 Anm. 452, 329 Anm. 455, 330, 360 und Anm. 499, 658 Anm. 935 II,24 31 Anm. 73, 108 Anm. 184, 153 Anm. 235, 236–244, 251, 415 Anm. 596 II,25 19 Anm. 41, 153 Anm. 235, 181 Anm. 254, 246–254, 620 Anm. 876 II,26 11, 19 Anm. 41, 215, 256–262, 266, 275, 495 und Anm. 667, 520, 538 Anm. 720 II,27 19 Anm. 41, 31 Anm. 73, 153 Anm. 235, 264–271
701
II,28 9 Anm. 12, 11, 19 Anm. 41, 266, 272– 280, 285 Anm. 389, 425 Anm. 608, 578 Anm. 792 II,29 282–287, 344 II,30 288–294, 551 Anm. 753 II,31 209 Anm. 279, 285 Anm. 389, 296– 301 II,32 10 Anm. 15, 11, 21, 193 Anm. 261, 302–309 II,33 113 Anm. 188, 242 Anm. 332, 310–315, 415 Anm. 596 II,34 16 Anm. 25, 19 Anm. 41, 153 Anm. 235, 285 Anm. 389, 316–323, 559 Anm. 761 II,35 9 Anm. 12, 11 und Anm. 18, 12, 16 Anm. 25, 19 Anm. 41, 20 Anm. 46, 51 Anm. 112, 324–334, 457, 628 Anm. 884, 631, 658 Anm. 935 II,36 90 Anm. 154, 108 Anm. 184, 113 Anm. 188, 243 Anm. 332, 336–340, 415 Anm. 596, II,37 19 Anm. 41, 164 Anm. 239, 342–348, 384, 387, 519, 521 Anm. 692 II,38 10 Anm. 15, 12, 21, 350–355, 530, 582 II,39 12, 228 Anm. 308, 299 Anm. 405, 311, 356–364, 537 Anm. 718, 538 Anm. 723 II,40 19 Anm. 41, 366–372, 415 Anm. 596 II,41 19 Anm. 41, 20 Anm. 46, 113 Anm. 188, 201 Anm. 270, 220 Anm. 303, 285 Anm. 389, 374–380, 415 Anm. 596 II,42 16 Anm. 25, 19 Anm. 41, 164 Anm. 239, 345 und Anm. 478, 346 Anm. 479, 382–388, 505 Anm. 681, 519, 521 Anm. 692 II,43 11 Anm. 18, 12, 19 Anm. 41, 164 Anm. 239, 390–402 II,44 118 Anm. 197, 119 Anm. 199, 181 Anm. 254, 404–410, 413, 583, 625, 628 Anm. 880 II,45 12, 181 Anm. 254, 405, 412–417 III,46 30 Anm. 72, 209 Anm. 279, 285 Anm. 389, 420–426, 432, 438 Anm. 622, 590 Anm. 808 III,47 19 Anm. 41, 108, 209 Anm. 279, 428– 432, 438 Anm. 622, 445 Anm. 629, 458, 590 Anm. 808 III,48 19 Anm. 41, 434–440
702
Anhang
III,49 118 Anm. 197, 119 Anm. 199, 209 Anm. 279, 438 Anm. 622, 442–446 III,50 448–454 III,51 106 Anm. 182, 107, 108 Anm. 184, 456–460, 470, 472 III,52 20 Anm. 46, 113 Anm. 188, 118 Anm. 197, 243 Anm. 332, 462–466 III,53 100 Anm. 179, 106 Anm. 182, 107, 108 Anm. 184, 193 Anm. 261, 468–473 III,54 16 Anm. 25, 19 Anm. 41, 209 Anm. 279, 407 Anm. 587, 474–479, 628 Anm. 880 III,55 16 Anm. 25, 17 Anm. 29, 113 Anm. 190, 172 Anm. 249, 209 Anm. 279, 480–485 III,56 108 Anm. 184, 486–490, 495 Anm. 666 IV,57 13, 14, 19 Anm. 41, 30 und Anm. 72, 67 Anm. 123, 215, 259 Anm. 357 und 358, 492–500, 654 Anm. 934 IV,58 16 Anm. 25, 19 Anm. 41, 259 Anm. 360, 385 Anm. 534, 502–510, 620 Anm. 876 IV,59 243 Anm. 332, 512–516, V,60 10 Anm. 15, 19 Anm. 41, 30 Anm. 72, 33, 164 Anm. 239, 257, 285 Anm. 389, 518–524 V,61 10 Anm. 15, 153 Anm. 235, 526–533, 536, 564 Anm. 764 und 765 V,62 19 Anm. 41, 361, 517 Anm. 691, 534– 539, 564 Anm. 765 V,63 12, 33 Anm. 86, 129, 540–546
V,64 19 Anm. 41, 33, 259 Anm. 357, 293 Anm. 398 und 399, 548–554, 558 und Anm. 758, 559, 619 Anm. 874 V,65 20 Anm. 46, 33, 321 Anm. 440, 550 Anm. 745, 556–560, V,66 13, 21, 517 Anm. 691, 562–569 VI,67 9 Anm. 12, 12, 16 Anm. 25, 30 Anm. 72, 90 Anm. 154, 153 Anm. 235, 278 Anm. 383, 285 Anm. 389, 425 Anm. 608, 571 Anm. 790, 572–579, 609 VI,68 351, 580–585, 609 und Anm. 851 VI,69 9 Anm. 12, 11 Anm. 18, 13, 19 Anm. 41, 51 Anm. 109 und 112, 164 Anm. 239, 329 Anm. 454, 396 Anm. 547, 425 Anm. 608, 586–596 VI,70 201 Anm. 270, 285 Anm. 389, 378 Anm. 528, 425 Anm. 608, 598–604 VI,71 9 Anm. 12, 13, 581, 606–614 VI,72 16 Anm. 25, 20 Anm. 46, 113 Anm. 188, 415 Anm. 596, 425 Anm. 608, 551 Anm. 755, 616–621 VII,73 9 Anm. 13, 13, 21 und Anm. 50, 407 Anm. 587, 602, 624–635, 641, 642, 643, 644, 646, 659, 663 VIII,74 4 Anm. 7, 9 Anm. 13, 12, 21 und Anm. 50, 602,, 631, 634, 638–647, 659, 661 IX,75 9 Anm. 9 und 13, 13, 21 Anm. 50, 22, 153 Anm. 235, 602, 634, 650–654, 658 Anm. 935, 660 und Anm. 942 und 946, 661, 662, 663 IX,76 9 Anm. 13, 13, 16 Anm. 25, 21 und Anm. 50, 22, 602, 631, 634, 656–664