Briefe an Friedrich August Wolf [Reprint 2013 ed.] 9783110865004, 9783110109252


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German Pages 635 [648] Year 1990

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Einleitung
Die Briefe
Anhang
Kommentar
Abkürzungsverzeichnis
Siglen der häufiger zitierten Literatur
Register
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Briefe an Friedrich August Wolf [Reprint 2013 ed.]
 9783110865004, 9783110109252

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Wilhelm von Humboldt Briefe an Friedrich August Wolf

Wilhelm von Humboldt

Briefe an Friedrich August Wolf textkritisch herausgegeben und kommentiert von Philip Mattson

(Im Anhang: Humboldts Mitschrift der Ilias-Vorlesung Christian Gottlob Heynes aus dem Sommersemester 1789)

w G_ DE

Walter de Gruyter · Berlin · New York 1990

Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft

Gedruckt auf säurefreiem Papier (alterungsbeständig — pH 7, neutral)

ClP-Titelaufnahme

der Deutschen

Bibliothek

Humboldt, Wilhelm von: Briefe an Friedrich August Wolf / Wilhelm von Humboldt. Textkrit. hrsg. u. kommentiert von Philip Mattson. (Im Anh.: Humboldts Mitschrift der Ilias-Vorlesung Christian Gottlob Heynes aus dem Sommersemester 1789). — Berlin ; New York : de Gruyter, 1990 ISBN 3-11-010925-5 NE: Wolf, Friedrich August [Adressat]; Mattson, Philip [Hrsg.]; Humboldt, Wilhelm von: [Sammlung]; Heyne, Christian Gottlob: [Ilias-Vorlesung] Humboldts Mitschrift der IliasVorlesung Christian Gottlob Heynes aus dem Sommersemester 1789

©

1990 by Walter de Gruyter & Co., D-1000 Berlin 30.

-

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Satz und Druck: Arthur Collignon GmbH, Berlin 30 Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer, Berlin 61

Für meine Töchter Theresa und Sara

Vorwort Das Zustandekommen dieser Edition hat freundliche und großzügige Unterstützung finanzieller, moralischer und wissenschaftlicher Art ermöglicht. Dank eines Stipendiums der Fritz Thyssen Stiftung (Köln) konnte das Gros der Arbeiten am Text und Kommentar durchgeführt werden, zu denen ein längerer Aufenthalt in Berlin zur Autopsie der Haupthandschrift und zur Durchsicht des Wolf-Nachlasses gehörte. Die Eigentümer der Briefhandschriften, die Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz (Berlin) und die Universität Jena, haben bereitwillig die Genehmigung zur Publikation der Hauptmasse der Briefe sowie von weiterem bisher ungedrucktem Material erteilt. Außerdem genehmigten folgende Stellen den Abdruck einzelner Briefe Humboldts an Wolf: Das Deutsche Literaturarchiv (Marbach a. N.) für Nr. 36; die Historical Society of Pennsylvania (Philadelphia) für Nr. 65; das Staatsarchiv Hamburg, Zweigstelle Altona, für Nr. 138. Die Heranziehung weiterer ungedruckter Quellen genehmigten auch Herbert A d a m f (Berlin), Ulrich von Heinz (Archiv Schloß Tegel, Berlin), Friedr. Vieweg & Sohn Verlagsgesellschaft mbH (Wiesbaden), die Universitätsbibliothek Bonn, die Stadt- und Landesbibliothek Dortmund, das Freie Deutsche Hochstift/Frankfurter Goethe-Museum, das Goethe- und SchillerArchiv (Weimar), die Akademie der Wissenschaften der D D R , Zentrales Archiv (Berlin), die Sächsische Landesbibliothek (Dresden), die Bibliothèque municipal (Nancy), das Archiv des Ministère des Relations extérieures (Paris) und — last but by no means least — die Biblioteka Jagiellonska (Krakau), in der sich Wolfs Brief-Nachlaß derzeit befindet. Allen genannten Personen und Stellen sei für finanzielle Unterstützung und publizistische Kooperation ganz herzlich gedankt. Für die Vermittlung der finanziellen Unterstützung sowie die geduldige Betreuung der Editionsarbeiten bin ich Andreas Flitner (Tübingen) außerordentlich verbunden. Schließlich gilt es, den beiden Helfern, die dem Nicht-Altphilologen zur Seite standen, gehörig zu danken. Erwin Arnold (München) hat den Briefkommentar durchgesehen und so manche Zusätze, insbesondere aus der Geschichte der klassischen Philologie, beigesteuert. Ulrich Proetel (Heidelberg) hat das gesamte Manuskript kritisch durchgesehen und wertvolle Verbesserungen und Zusätze geliefert. Wo dies durchführbar war, sind ihre Beiträge zum Kommentar gekennzeichnet; ihre Gesamtleistung geht aber darüber hinaus und war in jeder Hinsicht, auch im menschlichen Sinne, unschätzbar. Heidelberg, im Januar 1989

Ph. M .

Inhaltsverzeichnis Einleitung Die Briefe

1 19

Anhang

333

Kommentar

371

Abkürzungsverzeichnis

600

Siglen der häufiger zitierten Literatur

601

Register

606

Einleitung I. Humboldts Freundschaft mit Friedrich August Wolf Die Freundschaft zwischen Wilhelm von Humboldt und Friedrich August Wolf beginnt in den Mußejahren des jungvermählten Philhellenen Humboldt, der sich von einer vielversprechenden Laufbahn im preußischen Staatsdienst hatte beurlauben lassen, um seinen Studien zu leben, und endet erst mit Wolfs Tod im Jahre 1824, während der sogenannten „Altersmuße" des seit 1820 nicht mehr amtierenden Staatsministers Humboldt, die wiederum fast ausschließlich dem Sprachstudium gewidmet war. Schon dieser äußere Rahmen deutet das geistige Fundament der langen Freundschaft an: Für den vielseitig gelehrten und tätigen Humboldt stand nichts so eindeutig im Mittelpunkt des Interesses wie das Sprachstudium, und das Studium keiner Sprache war diesem wahrhaft universellen Linguisten von so zentraler Bedeutung wie das des Griechischen. So war es naheliegend für den jungen in Thüringen lebenden Landedelmann, eine engere Verbindung mit dem berühmten Professor der alten Literatur und Beredsamkeit an der Universität Halle einzugehen. Die Beziehung scheint am 2./3. August 1792 bei Humboldts Durchreise durch Halle ihren Anfang genommen zu haben. 1 Allerdings war dies wahrscheinlich nicht die erste Begegnung, denn Wolf war im Elternhaus von Humboldts Frau Caroline, im Haus des Kammerpräsidenten von Dacheröden in Erfurt, eingeführt 2 , und Humboldt 1

Humboldt reiste am 1. Aug. 1792 abends aus Berlin ab und wurde am 4. in Rudolstadt erwartet (vgl. unten, S. 378). Daß die Begegnung — oder jedenfalls die entscheidende — schon auf der Hinreise nach Berlin, am 17. Juli, stattfand, ist wenig wahrscheinlich, da Humboldt später berichtet, anläßlich dieser Begegnung ,den Tag in Halle' verbracht zu haben (Brief 5, Z. 11 =

im folgenden ,5/11'), während er an diesem Tag nur einige

Stunden des Abends in Halle gewesen sein kann (an Caroline, Merseburg, 17. 7. bzw. Coswig, 18. 7. 1792; SYDOW II 2, 6 -

Literaturangaben in KAPITÄLCHEN sind unten,

S. 601 verzeichnet). 2

Ein Abend als Ehrengast im Dacherödenschen Haus kurz vor der Heirat Humboldts und Carolines ist belegt, wo Wolf beim Abendessen den ganzen „Cirkel der Erfurtschen Gelehrsamkeit gesehen" hat (Wolf an Anna Henriette Schütz, Erfurt, 10. 5. 1791; REITER I 106; vgl. auch ebd. II 22). -

ARNOLDT (I 113) und nach ihm PATTISON (398) sowie

G. Lothholz (Das Verhältnis Wolfs und W. v. Humboldts

zu Göthe und Schiller (Fest-

Programm ... von dem Lyceum zu Wernigerode am 28. August 1863), S. 31) schließen aus der Verbindung Wolfs zum Dacherödenschen Hause gewiß irrtümlich, daß Humboldt bereits 1790/91 mit Wolf in näherer Verbindung stand, während man zu dieser Zeit höchstens von einer möglichen flüchtigen Begegnung ohne Folgen sprechen könnte.

2

Einleitung

berichtet über die Begegnung in Halle, er habe sich hierbei genauer mit Wolf verbunden 3 . Auffallend dabei ist aber, daß er sich etwa ein Jahr Zeit gelassen hatte, diesen Schritt zu tun, während es sonst seine Gewohnheit war, etablierte Gelehrte auf seinen Reisen ungeniert aufzusuchen. Außerdem lag das 1791 bewohnte Dacherödensche Gut Burgörner viel näher bei Halle als das Gut Auleben, das er inzwischen bezogen hatte. Vieles spricht dafür, daß das junge Ehepaar sich durch entsprechende Vorbereitung einer Verbindung mit Wolf erst würdig erweisen wollte (auch Caroline hatte inzwischen Griechisch zu lernen begonnen). Im Rückblick und aus der Sicherheit der seither geschlossenen Freundschaft heraus bedauerte Humboldt dieses Versäumnis: „warum mußte ich albernen Besorgnissen nachgeben?" (5/15). Jedenfalls stand die Begegnung, da sie nun endlich stattfand, offenbar unter einem günstigen Stern, denn beide scheinen sofort empfunden zu haben, daß diese Beziehung für sie von größter Bedeutung sein werde. Z w a r fehlen Wolfs Briefe an Humboldt aus dieser Periode, aber der zunehmend herzliche Ton in den Briefen Humboldts bezeugt, daß man bald eine Basis der gleichberechtigten gegenseitigen Hochachtung gefunden hatte. Bereits ein Vierteljahr nach der Begegnung in Halle kann Humboldt in wenigen Worten charakterisieren, wie seine Geistesart die Forscherpersönlichkeit Wolfs zu ergänzen vermag: Er selbst tauge zwar nicht zum ,Philologen von Metier', ihn habe aber seine „Individualität auf einen Gesichtspunkt des Studiums der Alten geführt, der minder gemein ist" (3/57 — 63). Der überraschende Besuch Wolfs in Auleben zu Weihnachten 1792 befestigte die Freundschaft in diesem Gefühl der gegenseitigen Ergänzung und lieferte auch den in späteren Krisenzeiten immer wieder benutzten Topos: die Erinnerung an die Gespräche in der ,Tafelbibliothek', wie Wolf bei diesem Besuch das Aulebener Speisezimmer, das gleichzeitig als Bibliothek diente, scherzhaft bezeichnete. Diese Gespräche — das beweist die wiederholte Berufung auf die Tafelbibliothek — hatten offenbar den Kristallisationspunkt dieser Verbindung gebildet. M a n muß sich nur vorstellen, was es dem jungen, fast ausschließlich 4 den Griechen lebenden Humboldt bedeutet haben muß, als der berühmteste deutsche Gräzist 5 unangemeldet bei ihm vorfuhr! „Wolf aus Halle ist seit 5 Tagen bei mir," schreibt er am 27. Dezember an Brinckmann, „und bleibt etwa noch 8 und da ist es ein Griechischtreiben den ganzen Tag, daß ich zu nichts andrem komme." 6 Die Begeisterung dieser Tage erzeugte wohl bei beiden Freunden die Stimmung des σ υ μ φ ι λ ο σ ο φ ε ΐ ν , das Wolf später in seiner „Darstellung der Alterthumswissenschaft" als Ideal aufstellen sollte 7 . Bei Humboldt fand diese 3 4

5

An Brinckmann, Auleben, 3 . 9 . 1 7 9 2 ; L E I T Z M A N N 1 9 3 9 , 2 2 . Die Schrift über die Grenzen der Wirksamkeit des Staates (vgl. zu 8 / 1 4 4 ) kam allerdings in diesen Jahren auch zustande. Die Freunde waren sich in ihrer Geringschätzung des gemeinsamen Lehrers Christian Gottlob Heyne offenbar rasch einig geworden.

6

LEITZMANN 1 9 3 9 ,

7

W O L F , K L . S C H R R . II 8 8 4 ; v g l . F U H R M A N N

48. 1 9 5 f.

Die Freundschaft H u m b o l d t / W o l f

3

Begeisterung und das hierbei gefestigte Bewußtsein des eigenen, ,minder gemeinen Gesichtspunkts' ihren unmittelbaren Niederschlag in der Schrift „Über das Studium des Alterthums, und des Griechischen insbesondere", die er in den folgenden Wochen ausgearbeitet hat. Noch ein Vierteljahrhundert später sagte Humboldt über diese Schrift rückblickend, sie sei „mit das Beste und Gedachteste, was ich je gemacht habe". 8 Dieser ,ganz andere Gesichtspunkt' muß es gewesen sein, der Humboldts Bekanntschaft für Wolf so fesselnd machte, denn er muß gespürt haben, daß Humboldts Sicht der Antike auch die seine zu ergänzen vermochte. In der Tat mangelte es Wolf nicht an Umgang mit Gleichinteressierten, zumal mit Leuten, deren Griechischkenntnisse denen Humboldts — nach eigenem Selbstverständnis — deutlich überlegen waren. Ganz anders Humboldt, dem es in dieser Periode, nach der Erkaltung der Freundschaften mit Forster und Dalberg und vor der engen Verbindung zu Schiller und der Bekanntschaft mit Körner, an einer geistigen Bezugsperson weitgehend fehlte, die zudem das Interesse an der Antike mit ihm hätte teilen können. In einer bekenntnishaften Passage schreibt er Wolf, dieser sei „der Einzige, der mich diese Freude eines mit unter wissenschaftlichen Briefwechsels genießen läßt, und es ist keiner Beschreibung fähig, was Sie mir dadurch geben" (8/88). Und es war zweifellos Humboldts Gewissenhaftigkeit und Eifer als Briefschreiber, die die Beziehung aufrechterhielt und ihn selbst in seiner Eigenständigkeit bestärkte. Schon im ersten, recht konventionell gehaltenen Brief erwähnt Humboldt sein Interesse für jene zwei Autoren, die ihn überhaupt am anhaltendsten beschäftigen sollten, Pindar und Aischylos, und dies, obwohl Wolf Humboldts Pindar-Übersetzungen anfangs wenig Begeisterung entgegengebracht zu haben scheint und Aischylos überhaupt ,perhorreszierte' (62/67). Zu einer logischen Krönung dieser Freundschaft in Form einer gemeinsamen Publikation ("Es könnte mir nichts so Frohes begegnen, als mit Ihnen zusammen vor dem Publikum zu erscheinen" — 62/120), etwa anläßlich der Agamemnon-Übersetzung, ist es allerdings nicht gekommen. Wolf hatte auch solche Wünsche gehegt, denn 1795 hat er Humboldt offenbar aufgefordert, den theoretischen Teil zu einer geplanten Neubearbeitung der Poetik des Aristoteles zu liefern (vgl. 42/39). Die Art, wie Humboldt dem Freund auseinandersetzt, wie ein solches Vorhaben an dieser Stelle falsch piaziert wäre, ist für den ganzen Briefwechsel charakteristisch. *

In Humboldts Briefen zeigt sich nämlich schon früh ein Gefühl der Selbständigkeit Wolf gegenüber, das im Verlauf der Freundschaft immer stärker wird. ,Warum leben wir nicht in einer Stadt?' fragt er Anfang 1794 den Freund (26/ 9), obwohl ihn nichts daran gehindert hätte, zu Wolf nach Halle zu ziehen, so wie er kurze Zeit später Schillers wegen tatsächlich nach Jena übersiedelte.

8

An C a r o l i n e , L o n d o n , 2 1 . 4 . 1818 (SYDOW VI 181).

4

Einleitung

Bezeichnenderweise enthält der erste Brief aus Jena den Hinweis, daß nunmehr auch andere Fächer in den Mittelpunkt seines Interesses rückten (28/66). Die oft zitierten ,Belege' für Humboldts ständige Lektüre antiker Autoren, selbst bei den heterogensten Tätigkeiten, gehören auch hierher. Von Königsberg aus, wo er als Sektionschef für Kultus und öffentlichen Unterricht an sich reichlich Beschäftigung hatte, versichert er, „nie einen Tag, als mit Graecis oder Latinis" anzufangen (106/31), und aus dem Hauptquartier der Alliierten in Basel berichtet er, „viel Griechen und Römer" bei sich zu haben und darin „meist täglich" zu lesen (128/108). Diese Versicherungen stehen in starkem Kontrast zu den Fortschritts- und Lektüreberichten der ersten Jahre, aber so sind sie gar nicht gemeint. Sie fungieren primär als Trostworte für den Freund, von dem man sich entfernt hat, aber sie mußten in diesem die Erinnerung an die frühere intensive gemeinsame Beschäftigung mit antiken Autoren wachrufen. Über Wolfs Reaktion zur Entfernung des Freundes aus seinem unmittelbaren Bannkreis kann man nur mutmaßen. In seiner verächtlichen Bezeichnung Jenas als „litterärische Hansestadt" 9 mag auch eine Verbitterung über den dorthin gezogenen Freund mitschwingen. Auch läßt Wolfs Behauptung anläßlich der Anknüpfung der Freundschaft zu Goethe aufhorchen, er habe lange eines Freundes entbehrt, dem er alle Empfindungen hätte zeigen können. 10 Die erste ernsthafte Krise dieser Freundschaft rief Wolfs Ausfall gegen Herder hervor. Dieser hatte in seinem Aufsatz „Homer, ein Günstling der Zeit" in den Hören des Jahres 1795 Gedanken vorgetragen, durch die Wolf die ,Urheberschaft' der in seinen soeben erschienenen „Prolegomena ad Homerum" aufgestellten Thesen gefährdet sah. Hier geriet Humboldt in eine Zwickmühle zwischen Wolf und Schiller; es war schließlich Schillers Forderung, „dem ungeschliffenen Gesellen C · · ) die Meinung" zu sagen 11 , die sich durchsetzte: Unter Berufung auf die in diesen Briefen ebenfalls immer wieder toposartig apostrophierte Offenherzigkeit ergreift Humboldt für Herder (und Schiller) Partei, obwohl er selbst betont, daß er Herders Aufsatz eher schwach findet (45/67). Aber auch schon früher, in der souveränen Erwiderung auf Wolfs Kritik seiner Übersetzung des Agamemnon (Br. 28) zeigt sich Humboldt als der eigenständige Prosodist, von dessen gründlichen Metrikstudien die Briefe der ersten Periode erschöpfendes Zeugnis ablegen: Schon hier weiß er seine Übersetzungsprinzipien auch einem Manne von Wolfs Rang und persönlicher Autorität gegenüber zu verteidigen. *

Die „philologische Kärrnerarbeit" 12 , die das Gros der Briefe der dritten Periode dieses Briefwechsels, der Zeit der großen Auslandsreisen Humboldts (1797 — 1808), ausmacht, bedeutet keine Umkehr ins Gegenteil. Waren dies doch 9

Wolf an Voß, Halle, 1. 8. 1794 (REITER I 151).

10

Wolf an Goethe, Halle, 22. 6 . 1 7 9 5 (REITER I 172).

11

Schiller an Humboldt, Jena, 26. 10. 1795 (SEIDEL I 199).

12

So Stadler (zit. zu 4/11 -

S. 57); vgl. auch Howald (zit. zu 89/40) S. 51 f.

Die Freundschaft Humboldt/Wolf

5

selbstverständliche Gefälligkeiten — meistens mußte Humboldt nur vermitteln —, die er auch anderen Gelehrten wiederholt anbot und die sogar zu den Obliegenheiten des preußischen Residenten in Rom gehörten. Selbst die etwas mühsamen Vorverhandlungen bezüglich der Platon-Kollationen in Paris konnte Humboldt vor sich selbst mit der Hoffnung rechtfertigen, daß Wolf dadurch am Piaton werden könnte, was er dem Homer geworden war (77/98). Spätestens in dieser Periode wird aber auch die zunehmende Einseitigkeit dieser Freundschaft deutlich. Humboldts wiederholte Bitte um Auskünfte vor der geplanten Italienreise 1797 (66/60, 67/5, 68/19) ignoriert Wolf, und in diesen Jahren meldet er sich überhaupt nur dann, wenn er des ,Kärrners' bedarf. Ursache dafür mag letztlich nur seine hier vielzitierte ,Briefscheu' sein, die um so größer wurde, je weiter der Adressat sich von ihm entfernte: „das Schreiben wird mir immer saurer, indem es mich verdrießt, das hingeschriebene Wort so 3 bis 4 Wochen bis zu seinem Ziele herumgefahren zu wißen, während man im Geiste schon wieder 10 andere Briefe an denselben entworfen hat" 1 3 . Seine Enttäuschung über die Briefe Humboldts aus Italien bestätigt, daß Wolf an kulturhistorischen Betrachtungen weniger interessiert war als an handfesten, wissenschaftlich verwertbaren Informationen. Humboldts Schilderung dessen, was ihm Rom bedeutete („ich liebe nicht die in Häuser eingeschlossenen Götter { . . . ) . Unsere neue Welt ist eigentlich gar keine; sie besteht bloß in einer Sehnsucht nach der vormaligen": 91/34, 46), fertigt er kurz ab: „sein Briefwechsel hat bisher so wenig von dem gebracht < . · · ) ; w a s m a n v o n Rom und Italien her erwarten kann, da er dort Betrachtungen verfolgt, die man an jedem andern Orte ebenso gut verfolgen kann, politisch-historische zumal, wovon seine letztern Briefe voll waren" 1 3 . Humboldt hingegen zählt Wolf noch zu den drei wichtigsten Briefpartnern, als er die Reise antritt 1 4 , und später gesteht er, daß er ihm „trotz seines Stillschweigens nicht aufhören [könne], gut zu sein" 1 5 . »

Die schwerste Belastungsprobe dieser Freundschaft stellte jedoch jene Periode dar, in der Humboldt als Chef der Sektion für den Kultus und öffentlichen Unterricht im Preußischen Ministerium des Innern wirkte. In seinem Konzept eines reformierten Bildungswesens war für Wolf, gleichsam als Verkörperung des in ,Einsamkeit und Freiheit' wirkenden Gelehrten, eine Schlüsselrolle vorgesehen: Ohne feste akademische Verpflichtungen sollte er durch die Autorität seiner bisherigen und künftigen Leistungen einen entscheidenden Einfluß auf Schulund Universitätswesen ausüben. Dieser Plan mißlang. In den Verhandlungen

u

Wolf an Goethe, Halle, 28. 8. 1806 (REITER I 418).

14

Neben Schiller und Körner; merkwürdigerweise fehlt Goethes Name in dieser Aufzählung (67/25).

15

An Goethe, Paris, 18. 8. 1799 (GEIGER 85).

6

Einleitung

darüber wurde Wolf zum Inbegriff des eigensinnigen Gelehrten, vor dem er selbst Humboldts Amtsvorgänger gewarnt hatte: „ich ( . . . ) halte es für leichter als Fürst über 5 Millionen zu h e r r s c h e n , als 50 Gelehrte C · · ) z u r e g i e r e n " 1 6 . Humboldt hatte ähnliche Schwierigkeiten zwar vorausgesehen („Gelehrte dirigieren ist nicht viel besser, als eine Komödiantentruppe unter sich zu haben" 1 7 ); es muß aber für ihn besonders schmerzlich gewesen sein, seine Bemühung, den Freund an eine Stelle zu setzen, von der aus er nachhaltig auf das Unterrichtswesen Preußens hätte wirken können, letztlich an dessen Eitelkeit, Widerborstigkeit und der in seiner Berliner Periode sprichwörtlichen Arbeitsunfähigkeit scheitern zu sehen. Dem in Berlin versauernden, sich mit keiner Aufgabe zufrieden gebenden Freund ruft er zu: „Gedenken Sie Ihres Ruhms" (97/21) und „machen Sie ja, daß es nicht heiße, daß ich Sie ( . . . ) für die Wissenschaft unthätig machte" (97/34), aber die Mahnung verhallt ungehört. Die Geduld, mit der Humboldt dem Freund den Staatsratstitel, den dieser für die Leitung der Wissenschaftlichen Deputation gefordert hatte, auszureden versucht, und die Sonderbehandlung Wolfs durch Humboldt, die sich nicht zuletzt in einem geradezu fürstlichen Gehalt ausdrückte, fruchteten nichts: Es war Humboldt nicht gegönnt, dem älteren Freund auch Vorgesetzter zu werden. Er kannte aber andererseits Wolf gut genug, um zu wissen, daß diese ablehnende Haltung tief in seiner Persönlichkeit gegründet war. Es lag ihm fern, diesen Starrsinn als gegen die eigene Person gerichtet zu sehen. Die Schwierigkeit lag letztlich in der von Wolf selbst gewünschten Ungebundenheit sowie in seiner Unfähigkeit, sich unterzuordnen. Mark Pattisons Analyse der Grundhaltung Wolfs ist so scharfsinnig, daß sie in ihren wichtigsten Passagen hier im Wortlaut zitiert werden muß: Wolf had no self-knowledge. Far from having the perfectly-poised self-estimate of Goethe, he had not even the ordinary judgment of average men of the world. Long accustomed to feel himself the first man in a village, he thought he was to continue to hold the same place in Berlin. Impulsive and enthusiastic, his vanity and ambition ran away with him. He would not have a professorship. Well, he would have a professorship, but would not be tied to the duties of it like the other professors. He would hold his seat and pension in the Academy, but he would not be bound by the same obligations as the other academicians. The reason of this coquetry with duties which he could perform better than any one else, was that he secretly wished to be intrusted with functions which he could not perform at all. He wanted to enter the Government, of course in the department of Education. < · . . ) . An exceptional place was created for Wolf, in order to give play to his knowledge and experience in classical training. He was named Director of the Scientific Delegacy < · . . ) . But this did not please Wolf. Nothing would have pleased him, except being absolute. He did not understand being member of a consultative board. He had no deference for the opinions of others. He wanted to override his colleagues in the department, as he had overridden his colleagues at Halle. He spurned at official

16 17

An Beyme, Berlin, 19. 9. 1807 (REITER II 7). An Caroline, Erfurt, 16. 11. 1808 (SYDOW III 19).

Die Freundschaft Humboldt/Wolf

7

etiquette. Ich fahre in H[umboldts] Brief fort, bester Wolf, weil das Kind ihm keine Ruh ließ und er es nehmen mußte, um Sie zu bitten sich nicht vor dem Hospital zu scheuen, das Sie hier etablirt glauben werden, um uns bald zu besuchen. Von Leipzig aus räth Ihnen Humboldt nicht zu uns zu kommen. Die Zahl der Meilen wird ohngefähr, eine auf und ab gerechnet, dieselbe sein, aber Sie haben schlechtem Weg und wenn Sie Burgoerner, wie es zu fürchten ist, in einem Tage von Leipzig aus nicht erreichen können, sehr schlechtes Nachtquartier. Zögern Sie aber nicht, lieber Freund, denn wenn das Wetter so elend und unsre Kränklichkeit so bleibt so weiß Gott ob wir das Ende Januars hier erleben und nicht unsren Stab früher fortsezzen. Und wahrlich eine größere Aufheiterung könte uns nichts geben als Ihr Besuch. Das ist ein sehr wahres Wort, liebster Freund, und ich denke, Sie ersparen mir die Versicherung. Ich kann Ihnen nicht sagen, wie sehr ich mich Sie zu sehen sehne, und wäre nicht das Kranken hier so eingerissen, so wäre ich wohl schon bei Ihnen in Halle gewesen. Aber so kommen Sie erst, und kommen Sie recht bald. Vorauszubestimmen brauchen Sie nichts, das ist eine fatale Sache, und bei Ihrem Herkommen muß Ihnen alles lieb und froh seyn. Ueber Homer kann ich Ihnen bei meinem wüsten Kopfe heute nichts sagen. Nur herzlichen Dank für Ihren schönen lieben Brief. Die Homers Bogen lege ich bei. Verzeihen Sie nur die angestrichnen Verse. Ich hielt es für mein Eigenthum, da Sie mir nichts dazu gesagt. Sie können indeß auch die Strichelchen als eine Variantensnmmlung brauchen. (Fortsetzung von Caroline von Humboldt:> Nun, lieber Wolf, damit der Brief recht bunt sei, der Schluß von mir. Der Schluß ist aber wie der Anfang, bitte um Ihren lieben, lieben Besuch. Tausend Empfehlungen an Ihre Frau und Hannchen. Mit dem Philoctet ist es schlecht, sehr schlecht gegangen und Sie brauchen nicht besorgt zu sein daß zu viel geschieht. Adieu. Karoline H.

74

Brief 19

5. Dezember 1793

ich am liebsten von Ihnen höre, ist, daß ich auf gutem Wege bin. Wer es aufrichtig mit Sich meynt, kann schwerlich mehr von sich selbst zugeben. Die Idee Ihres Homers (denn Ihre Bearbeitung ist so ein Ideal, daß man davon wohl den Ausdruck Idee platonice brauchen kann, gegen dessen Entweihung Kant so sehr eifert) erfüllt mich ganz. Es ist in jeder Rücksicht ein großes Werk, und muß ein Canon alles Edirens werden. Zugleich wird es dann ein Canon der feineren grammatischen Kenntniß seyn, und es wird endlich einmal einen Autor geben, aus dem man Beweisstellen in solchen Dingen wird citiren können, ohne zu fürchten, falsche Lesarten und Fehler statt Zeugen der Wahrheit zu finden. Der Gedanke über die Urheber der Homerisch genannten Gedichte beschäftigt mich in eben dem Grade mehr, als er dem Horizont meiner Kenntnisse und Beurtheilung näher liegt. Ich werde den ganzen Homer jetzt hintereinander durchlesen, ohne mich zu praeoccupiren, bloß als hätte ich einen solchen Gedanken gehört, auf meine Empfindungen merken, und Ihnen diese en gros sagen. Das Détail kann ich erst Ihrem künftigen Détail hinzu- oder entgegensetzen. Die Arbeit mit dem Hesiodus fange ich heute an. Ich liefere alle Woche 50 Verse, mehr oder weniger. Zu soviel haben Sie ja wohl nebenher Zeit. Sie müßten nun erstlich sich über meine Ideen erklären, nur mit Ja, Nein. Denn da ich mir was ich Ihnen schreibe notire, so ist ein kurzes Beziehen darauf hinlänglich. 2., die Verse selbst, auch die von mir nicht berührten, durchgehn. Wie ich dann Ihre Briefe bekomme, notire ich Ihre resultate zum Text und so hätten Sie am Ende einen schon einmal ganz von Ihnen revidirten Text. Doch ich beginne, und thue bloß, als wäre ich in die Nothwendigkeit versetzt, die εργα abdrucken zu lassen. V. 1. 2. werden also so: Μ. ΠιερίηΟεν, ά. κλείουσαι, Δεύτε, Δί' έννέπετε, σφέτερον πατέρ', ύμνείουσαν Die Interpunction V. 2. habe ich darnach gemacht, daß Sie ενν. und ύμν. zusammennahmen. V. 3. οντε statt öv τε (in Loesner.) und am Ende ein kleines Punctum. φατοί τε V. 4. klammere ich ein. 1., wegen der Wiederholung, die mir aber unbedeutend scheint. 2., wegen des Zusammenhangs. Soll der Vers bleiben, so muß, wie Graeuius auch will, er für sich heißen: nob. ignob.

Brief 20

20. Dezember 1793

77

sunt louis m. vol. nicht aber mit δντε δια zusammengenommen werden, und so ein Zwischensatz stört v. 3. und 5. Aufs mindeste machte ich Parenthese (— — )[.] V. 5. Sie schreiben ρέα. Doch geht die Synizesis der langen und kurzen Silbe nicht an? Denn Schol. des Hephaestion giebt sie ausdrücklich (p. 79.) zu und citirt II. XXIV. 769. δδ^ρων η cet. und doch ist prima in δαηρ lang Ii. III. 180. XIV. 156. (Denn XXIV. 762. kann auch synizesis seyn.) V. 6. hinter αδηλον άέξει· ([nicht] .)[.] V. 7. hinter κάρφει, wegen der Länge des Satzes, wenn alles unmittelbar von Ζεύς abhängen soll. V. 11. wird also abgesetzt. — 15. σ. οϋ. τ. φ. βροτός, denn hier muß der Leser inne halten, und da machen Sie doch den acut. V. 15. am Ende ein (,) und ebenso — 16. hinter βουλησιν,. — 17. streiche ich das (,) hinter έτέρην weg. Es ist von Einer Eris die Rede, und alles gehört zusammen. Muß έρεβεννή, den acut bekommen? — 19. möchte ich wieder γαίης τ'έν ρίζησι einführen, damit man es recht eng mit κ. άνδρ. zusammennimmt. Aber sonst heißt ja Wurzeln der Erde, unter der Erde? — 20. Des Metrums wegen, άπάλαμον obgleich Hephaest. p. 5. auch Beispiele von verkürzten Silben vor μν, selbst im Hexameter anführt. — 21. Comma hinter χατίζων. Alium intuens, diuitem scilicet. — 22. Kein Comma hinter φυτεύειν, das mit dem Folgenden genau zusammenhängt. Mit V. 21 — 23. habe ich jetzt eine andre Meynung. Ich glaube weder an ούτος noch eine Ellipse hinten, sondern nehme ίδών absolut für „sieht" mit ausgelassenem έστν. Der Zusammenhang ist dann sehr gut: „welche zur Arbeit erweckt. (V. 20.) Denn der Müssige sieht auf den „Reichen, welcher et cet." Daher möchte ich [(a]ber die Hiate? Doch wußten sie ja ein ε'ΐξας im Homer[)] V. 23. hinter θέσθαι ein völliges Punkt. Und ζηλοΐ von neuem angehn lassen. V. 24. klammere ich ein. 1., Das τε in V. 23. bezieht sich auf και V. 25. V. 24. stört also. 2., Die Folge des Beneidens wird viel schlagender. 3., der Vers hinkt sehr. Vorzüglich die gute Eris. V. 28. Muß nicht μή δέ getrennt erscheinen? — 30. Zöge ich ώρη vor. Der Arme hat keine Sorge um andrer Zank, ist nicht so gut, als er hat keine Zeit dazu.

78

Brief 21

ca. 21. Dezember 1793

V. 31. Muß φτινι nicht Ein Wort seyn. - 32. ώραΐος — τον γ. φ. Δ. άκτήν - in Parenthesen. - 34. Hinter άλλοτρίοις ein Colon. Das δεύτερον bleibt mir unverständlich. - 39. τήνδε. Das έθέλουσι δικάσσαι ist höchst sonderbar. Indeß ists doch wohl nicht anders zu erklären, als: έθέλοντες έδίκαζον, volentes i. e. (oder vielmehr soll seyn) pro lubitu. V. 40. hinter νήπιοι (,) nicht Colon. - 48. muß es άγκυλομήτης oder άγκυλόμητις heißen? - 49 — 53. fällt mir nichts ein. Hier haben Sie mein N i c h t s . Denn darauf möchte das W a h r e hinauskommen. Der Kürze habe ich mich möglichst befleißigt. Daher manchmal der Ton ex cathedra. Meine Frau grüßt Sie herzlich, und dankt noch innigst für die schönen Tage. Hannchen, die wir sehr grüßen, hat ein Etui für die Stricknadeln hier gelassen, das mit nächster Gelegenheit, auch wenn Sie wollen, mit der Post, überkommen soll. Ihrer Frau Gemahlin unsre herzlichste Empfehlung. Den Larcher vergessen Sie doch nicht? Hätten Sie wohl Dorvills vannus critica? Zum Heph. brauchte ich sie wohl. Adieu, liebster Freund! Ewig Ihr Humboldt. ( ΐ . S . ) Das Hausexemplar?

21.

Burgörner, ca. 21. Dezember

1793

Der mit Ihnen neulich gegangene Bote hat Meckeln nicht gefunden, und Meckel hat auch mit der Post nicht geantwortet. Darum und weil meine arme Frau, die Sie beide herzlich grüßt, wieder Fluß hat, kommt, dieser Bote. Sonst ist nichts. Adieu. Einen langen Brief [an] S[ie] h[a]b[e] i[ch] gestern zur Post geschickt. I[hr H.]

22.

[Burgörner,] 30. Xbr. [17]93. Nur mit zwei Worten lassen Sie mich Ihnen, liebster Freund, für die glücklichen Tage danken, die Sie mir in Halle geschenkt haben, und

Brief 23

1. Januar 1794

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Ihnen von meiner Frau Befinden und meiner Ankunft Nachricht geben. Ich kam so eben am Abend recht glücklich und wohl, in vielen schönen Erinnerungen, die mich auf dem Wege freundlich begleitet hatten, hier an. Meine Frau fand ich diesen Tag recht wohl. Indeß hatte sie doch während meiner Abwesenheit ein Paarmal Krampf gehabt, vorzüglich Donnerstag. Jetzt ist es besser. Von wissenschaftlichen Dingen heute nur zwei Kleinigkeiten. Sie trugen mir auf eine Stelle, die Eust. citirt in den Ol[ympicis] zu suchen. Es sollte das Participium statt des verbi stehen. Ich habe gestern Abend die ganzen Ol. durchgelesen, aber es giebt keine solche Stelle, obgleich manche, wo die Constr. des Participa, weil das verbum entfernter ist, Schwierigkeiten machen kann. Ich wünschte aber das Citat zu besitzen. Es ist möglich, daß eine Variante oder wenigstens Eust. Meinung über eine schwierige Stelle dadurch klar wird, was sich bei einem aufmerksameren Lesen vielleicht findet. Einen Hexameter, der τ r ^ sich mit αλλα τεον anfängt, giebt es wirklich im Heph. aber nicht von Homer sondern der Praxilla. Die Vannus habe ich doch vergessen. Wollten Sie mir sie und den folgenden Theil des Larcher schicken, so wäre es mir herzlich lieb. Denn die Melpomene wird bald zu Ende gehen. Da ich hier außer den Briefen, die ich in Halle nicht schrieb, noch mehrere andre zu schreiben habe, die heute fort müssen, so muß ich hier schließen. Empfehlen Sie uns Ihrer Frau Gemahlin, der ich noch meinen wärmsten Dank für alle gütige Freundschaft wiederhole. Ihre lieben Kinder umarmen Sie von mir. Ihr Humboldt. Die Hunde, wenn die race acht ist, sind Windspiele vom Stamm der in Sanssouci begrabenen, wie 200 unsre. — Wenn Sie Meckeln sehen, sagen Sie ihm doch, meine Frau wäre viel besser, als neulich, als er hier gewesen, und würde ihm, vor unsrer Abreise, noch einmal selbst schreiben. W e n i g s t e n s noch Einen Brief erhalten Sie gewiß von mir von hier aus. 205 (Randschriftlich, auf erstem Blatt:) Ich lege einen Brief von Schneider bei, den ich mir zurück erbitte. Er ist sehr höflich, wofür ich Ihnen danke. Seine emend, scheinen mir gewagt. Soll ich um seine Randglossen bitten? (Am Kopf des ersten Blattes, verkehrt:) Die Ode miserarum cet. theilen 210 die lat. Grammat. in Strophen von 3 Versen l s t e 3 Ionici 2

te

3

3 4 obgleich ex — anim. getheilt wird. Marius Victorinus. p. 2567. 2568. 215 und 2618. Plotius. p. 2660. Fortunatianus. p. 2704. Hephaest. citirt von Alcaeus nur Einen Vers von 4 Ionicis. Hat nun Bentley Recht oder muß er den Lat. folgen? te

26.

BOerner, [19. - ]21. Jan. [17]94.

Herzlichen Dank, liebster Freund, für Ihren lieben Brief, der mir, abgerechnet, daß Sie ihn in einer trüben Stunde geschrieben zu haben schienen, herzliche Freude gemacht hat. Wohl sind Collationiren und 5 Thauwetter zwei Dinge, die einem die Stimmung sehr verderben können, aber erwehren Sie Sich dennoch dieser schlimmen Einflüsse. Freilich ist es hier leichter Rath zu geben, als zu befolgen, um so mehr, da ich Ihnen in Halle kaum einen Menschen anzugeben weiß, dessen Gesellschaft Sie mehr als zerstreuen könnte. Warum leben wir nicht in Einer Stadt, io liebster Freund? Dann wollte ich suchen, Ihnen solche Stunden zu verplaudern, und wenn es mir gelänge, so wäre der Gewinnst doppelt für uns beide. Sie wünschen noch die Blätter beantwortet, die Sie Ihrem vorletzten Briefe beigelegt hatten, und ich hatte es mir auch so auf alle Fälle schon vorgenommen. Da es nicht viel ist, was ich darauf zu sagen i5 habe, da alles mir sehr deutlich, und mehr als das, befriedigend war, so will ich es diesem Briefe beifügen.

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Brief 26

19. Januar 1794

Vorzüglich danke ich Ihnen für die metrica. Der Unterschied, den Sie zwischen dem Homer, und den Tragikern festsetzen, leuchtet mir erstaunlich ein, wenn ich gleich nicht selbst ihn mir so deutlich gedacht hatte. Am meisten hat mich das befriedigt, was Sie von der Position, und den Gründen des Unterschiedes der Rom. und Griechischen GramW

matik in diesem Punkt sagen. Was aber von βλοσυρωπις, ηνιν, zu halten ist, wüßte ich lieber von Ihnen. In der vannus muß über den ersteren Fall etwas vorkommen, bei Gelegenheit, daß Pauw auch am Ende der Füße, wie hier, Silben durch Caesur lang werden läßt. Eine unerhörte Meynung, da der Grund der Caesur doch wohl darin liegt, daß eine Endsilbe, die mit keiner folgenden verknüpft wird, ihre wahre Quantitaet minder hören läßt, und der Ton allemal im Aufschritt des Fußes (wie Sie vom ganzen Verse sehr richtig bemerken, und wie bei Hephästion ein oder zweimal, jedoch nur nebenher, die Anfangssilbe jedes Verses als communis vorgestellt wird) gehoben wird, so wie er am Ende desselben natürlich sinkt. Was ich also wissen möchte, wäre nun, ob Sie jene Stellen den Versen, wo Trochaeen vorkommen, beizählen? Daß Sie sagen „lma in φίλος ist allerdings lang" hat mich gewundert. Ich habe sie für anceps und öfter kurz gehalten. Cf. - οι φίλος ηεν. II. α. 381. Ουδε φίλος - II. ω. 775. Φιλε κασιγνητε - II. δ. 155. Ihr Urtheil über die Aeneide hat mich sehr aufmerksam gemacht, und wenn ich, nach mehr Leetüre, sichrere Kenntniß über Gr. Sitten habe, will ich dieß einmal zum Probirstein meiner Kenntniß machen. Ueber II. VIII. 213. bin ich ganz gegen Voß und Koppen, Ihrer Meynung. Es ist ganz offenbar, daß zwischen Mauer und Graben ein, wenn gleich kleiner Platz war. Nur halte ich έκ νεών nicht bloß, wie Sie sagen auf Homerische Weise, sondern wirklich nothwendig hinzugesetzt. Ohne diesen Zusatz war die respekt. Lage des Grabens und Walls nicht bestimmt. Nun weiß man, daß auf die Schiffe der Wall, und dann der Graben folgte. Mehr weiß ich jetzt nicht, und auch mit Fleiß will ich heute nur noch Eine Kleinigkeit hinzusetzen, damit ich Sie nicht überlade, da ich noch sehr auf eine Antwort auf meinen letzten Brief hoffe. Diese Kleinigkeit betrift die Endsilben. Sie wissen selbst Dawes Meynung über die Pindarischen. Ich habe nunmehr genau verglichen, und es ist richtig, daß, nimmt man alle Regeln an, die in Einer Zeile gelten (Position - folgende Aspirata — Vocal der einer langen Silbe folgt — ) im Ganzen nur sehr wenig Abweichungen von einer durchgängigen Gleichheit vorkommen [(]denen auch wohl noch abzuhelfen ist[)]. Nimmt man sie nun aber als gültig an, und beachtet man sie als wichtig

Brief 26

19. Januar 1794

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bei Festsetzung des metri, so muß man eine Menge (wenn nicht alle) Verse anders constituiren, als der Metricus, Hephästion und alle viri dodi; und zugleich widerspricht man der Meynung des gesammten Alterthums. Da auch in den noch übrigen Stücken griech. Musik, immer, wo eine kurze Endsilbe ist, eine Pause den Takt schließt, so scheint dieß der Gleichgültigkeit der Endsilben die Krone aufzusetzen. Dennoch ist die Bemerkung im Pindar sonderbar, und kann nicht Zufall seyn. Auch kann man nicht sagen, die Abtheilung der Verse ist durchgängig falsch, und die scheinbaren Endsilben sind wahre Mittelsilben. Denn es müßten doch nun in der Mitte gleichgültige Silben vorkommen, welche die wahren Endsilben wären. Ich bin daher auf eine Mittelmeynung gekommen. Beim Declamiren blieb die Stimme allemal auf dem Ende des Verses schweben. Die Endsilbe wurde also immer, wie sie auch an sich seyn, oder dem metrum nach, erfordert werden mochte, lang ausgesprochen. Daher war sie für den Dichter gleichgültig und der Leser verschafte ihm hierin eine Freiheit, die er sonst nicht hatte. Allein der aufmerksame Dichter kam doch dem Leser zu Hülfe, und setzte öfter eine lange Silbe ans Ende. Zur Unterstützung dieser bloßen Hypothese dienen vielleicht folgende Gründe: 1., der Natur der Sache nach verweilt man am Ende des Verses. 2., Pindar hat soviel mehr lange als kurze Endsilben, daß nach einer zwar bloßen, aber gar nicht ohngefähren Schätzung unter 4 Versen 3 lange und nur 1 eine kurze Endsilbe hat. 3., Marius Victorinus sagt ausdrücklich: quia omnis depositio recipit moram. p. 2569. 4., Dawes behauptet daß alle Endsilben der ganzen Strophe, wegen der dort nöthigen Pause als lang angesehen werden müssen, und es ist richtig, daß Pindar bei diesen Endsilben mehr variirt, als bei den andern, woraus ich schließen möchte, daß er, da hier an sich eine größere Pause ist, es weniger nöthig hielt, zu Hülfe zu kommen. Sehr dawider aber ist: 1., das Wörtertheilen, das kaum ein Einhalten erlaubte. 2., daß Pindar ebensogenau auch die kurzen Endsilben beobachtet. Sind hier nun alle diese Verse falsch abgetheilt? oder hielt ers für nöthig, wenn er nicht überall sich den Zwang langer Endsilb. auferlegen wollte, doch Gleichförmigkeit zu beobachten, um den Leser gleich in der 1. Str. zu avertiren, wo er Schwebung hinzuthun müsse, oder wie sonst? 3., sagt auch Mar. Victorinus p. 2505. 2506. daß die Musiker die kurzen Endsilben lieben. Aber ist sein Zeugniß über M u s i k geradehin gültig? Sie schienen mir neulich über die Eintheilung und Benennung der Silbenmaaße ein wenig cavalièrement, verzeihen Sie den Ausdruck der verletzten Silbenmajestät, zu reden, als wenn sie entweder so leicht, oder nicht so wichtig wäre. Aber Bentleys Abhandlung hat mich doch noch mehr in der Meynung bestätigt,

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Brief 2 6

daß derselbe muß[.] Z .

19. J a n u a r 1794

Vers

anders abgetheilt ganz anders gelesen werden www — ist so — |— ein Jamb. so — ein Troch. Im lstn Fall muß ich mit Bentley so — w w w — | — w w w — im andern — w w w — - w w w — accentuiren und loo lesen. Um nun Verse zu bestimmen, die, bloß auf die Silben gesehen, 2 Abtheilungen erlauben, glaube ich, muß man mehr Dinge, im Pindar namentlich das metrum der übrigen Verse der Strophe hinzunehmen. So fand ich neulich — w | — w I w | — w —[.] Dieß kann ein Antispasticum Glyconium oder ein Troch. dim. brachycat. seyn. Ich fand es in 2 Oden, in einer wo ios sehr viel Antispasten vorkamen, in der andern, wo sehr viel Trochaeen. In der erstem würde ich — w — w|w — | w — in der letztern — w| — ww| — w | — lesen. Aber was sagen Sie, daß ich Sie nun auch mit bloßen Muthmaßungen und Einfällen plage. Doch brauchen Sie ja nur ein C[orrecte] oder N[on] no L[icet] dazu zu machen, um mich ganz ab- oder zur weiteren Nachforschung zu verweisen. Ihre letzten Papiere erfolgen hier. Mehr habe ich jetzt nicht. Sie haben ja immer alle mit meinen Briefen zurückempfangen. Aber wie es mit den Papieren über Hesiodiis ist, die ich noch habe und behalte, weiß ich lis nicht. Auf meine Sachen über die lstn 50 Verse der έργα schickten Sie mir Papiere, die ich auch noch in guter Verwahrung habe, aber bloß lateinische und offenbar ä l t e r e . Gleich darauf kam ich nach Halle. Dort sagten Sie mir, es hätten auch n e u e über mein scriptum dabei gelegen, und ich glaubte, ich hätte es übersehen. Ich fand aber gleich bei no meiner Rückkunft, daß nichts als jene älteren, angekommen war. Wie ist es denn nun? Schrieben Sie wirklich zu jenem Briefe etwas? und blieb es vielleicht bei Ihnen liegen? Die Hesiod. Papiere, die ich nun habe, erhalten Sie auch bald. Ihr Exemplar hat mir viel Freude gemacht. Schicken Sie es jetzt lieber 125 so in 3 Heften. Ich danke herzlich und meine Frau auch. Den Larcher brauchte ich freilich täglich. Denn seitdem Reitz den Borheck verlassen hat, ist er toll mit Druckfehlern. Ich bin bei keinem Capitel sicher. Die accente weiß er gar nicht mehr zu setzen, und wirklich nicht Einmal sondern oft kommen Fälle, wie folgender δύναμαί μιν ζ. Β. 130 vor. Indeß warte ich natürlich gern, bis Sie ihn entbehren können. Dann aber bitte ich Sie, mir ihn und nur noch hieher zu schicken, so wie ich Sie recht sehr bitte, mir noch hieher zu schreiben. Denn da das Wetter sich so geändert hat, sind nun unsre Beschlüsse folgende. 25. reisen wir nicht, allein sobald wieder Frost einfällt, benutzen wir ihn gleich, und 135 geschieht dieß in den nächsten 14 Tagen und darüber nicht, so reisen

Brief 27

2. Februar 1794

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wir auf alle Fälle zwischen dem 8 und 16 tn Febr. wo wieder guter Mondschein ist. Denn e n t w e d e r guten Weg oder Mondschein müssen wir haben. Sagen Sie mir doch ob ich mir Schneiders Marginalien ausbitten soll. Beck hab' ich nicht gelobt, man darf < · . . ) in der Regel nie. Meine Frau grüßt Sie herzlich und wir beide alle die Ihrigen. Adieu! Ihr Hum (Randschriftlich:> Meine Abreise erfahren Sie auf alle Fälle sogleich, als sie gewiß festgesetzt ist.

27.

Erfurt, 2 . [ - 3 . ] Februar 1794.

Wir sind den 28 stn vorigen Monats hier glücklich angekommen, liebster Freund, und wenn ich auch unter einer noch größeren Menge gesellschaftlicher Zerstreuungen, als uns je sonst hier empfiengen, weder Zeit noch Stimmung habe, einen eigentlichen Brief an Sie zu schreiben, so wollte ich Ihnen doch von unsrer glücklichen Ankunft mit ein Paar Worten Nachricht geben. Die größre Störung dießmal hier rührt von unsrer dießmaligen Art zu wohnen her. Es war bei meinem Schwiegervater für uns beide zu eng, da jetzt seine Schwester mit ihren 2 Töchtern bei ihm ist. Meine Frau wohnt also nur allein bei ihm, und mich hat der Koadjutor zu sich ins Haus genommen. Sie können leicht denken, wie viel, oder vielmehr wie alle Zeit da durch Hin und Herlaufen u.s.w. verloren geht. Aber auf der andern Seite ists mir doch auch angenehm. Mein Zimmer ist von dem gewöhnlichen Wohnzimmer des Koadjutors bloß durch einen schmalen Gang getrennt, und so kommt er sehr oft des Tages, vorzüglich des Abends zu mir, und dieß so häufige Zusammenseyn, da ich auch alle Mittag mit ihm esse, und außerdem das öftre Alleinseyn ist in der That, vorzüglich wenn nicht eben vom wilden [Thymian] die Rede ist, sehr interessant. Bei manchen Schwächen ist er doch immer ein sehr edler, und ganz origineller Charakter, und bei mancher Unbestimmtheit seiner Ideen, und mancher Verwirrung in Kenntnissen, doch ein sehr genievoller, und fast mit allen Fächern der Wissenschaft bekannter, mit vielen vertrauter Kopf. Meine arme Frau, die in Burg Oerner die letzte Zeit, und auch auf der Reise noch sehr gesund, wenigstens für ihre Umstände war, leidet

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Brief 28

8. März 1794

schon seit den paar Tagen hier sehr am Magen, woran das viele Schwärmen und Essen wohl Schuld sein mag. Sie weiß nicht daß ich Ihnen jetzt schreibe. Aber ich grüße Sie und die Ihrigen recht herzlich von ihr in ihrer Seele. Leben Sie nun recht wohl. 12. dieses bin ich u n s t r e i t i g in Jena. Meine adresse beim HofCommissarius Voigt schrieb ich Ihnen doch schon! Adieu tausendmal! Ihr Humboldt. S.y Stellen Sie Sich vor. Der Coadjutor will absolut genaue Nachrichten über das Silphium haben, und ich suche daher schon seit ein Paar Tagen den Dioscorides, Plinius, Strabo, Galenus cet. durch.

28.

Jena, 8.[ —10.] März, 1794. Schon längst, liebster theuerster Freund, hätten Sie einen Brief von mir erhalten, aber die Umstände fügten sich so sonderbar, daß ein schnelleres Antworten mir zur wahren Unmöglichkeit wurde. Ein mit mancher andern Kränklichkeit verbundnes Zahngeschwür meiner Frau nöthigte mich, meinen Aufenthalt in Erfurt um ganze 14 Tage zu verlängern, und so kam ich erst den 25. pr. hier an. Zwei Tage darauf erhielt ich Ihren lieben Brief, und seitdem ist meine Antwort theils durch die Zerstreuung der ersten Tage an einem neuen Orte, theils durch einen Besuch meines Bruders, der noch bei mir ist, theils endlich auch durch das Zögern des Fiedler, da ich doch den Plato mitschicken wollte, verspätet worden. Meine Frau war bei unsrer Ankunft hier recht wohl für ihren jetzigen Zustand und ihre Kräfte überhaupt, die [sie] denn freilich ganz frei von Beschwerden kaum Einen Tag seyn lassen. Aber gerade diese vergangene Nacht hatte sie einen großen Schrecken, von dem ich fast fürchte, daß er sie einige Tage krank macht. Stellen Sie Sich nur vor, liebster Freund, unser gesundes starkes Mädchen, das noch gestern Abend, bis auf ein wenig Katharr ganz munter und wohl war, bekam auf einmal diese Nacht, als meine Frau noch dazu sie bei sich im Bette hatte den Jammer, und obgleich er nicht lang anhielt, auch Stark, den wir augenbliklich rufen ließen, versicherte, daß die Sache nichts auf sich habe, und das Kind, den nunmehr stärker ausgebrochnen Husten und Katharr abgerechnet, munter und wohl ist; so können Sie

Brief 28

8. März 1794

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Sich doch den Schrekken meiner armen Frau denken, der sich nicht sowohl in dem Augenblick selbst, wo sie sehr gefaßt schien, als nachher durch Fieber und Mattigkeit äußerte. Indeß hoffe ich sollen diese üblen Folgen bald vorübergehen, und ich bitte Sie also recht sehr nicht besorgt zu seyn. Stark giebt übrigens für die Gesundheit im Ganzen, und die Niederkunft, die sie Anfang May's oder Ende April erwartet, recht sehr gute Hofnung. Jetzt indem ich dieß schreibe liegt meine Frau auf dem Bett, um den verlornen Schlaf der Nacht wieder einigermaaßen einzubringen. Aber Ihr Kränkeln, lieber Freund, wird mir immer bedenklicher, und nun gar Lähmungen oder doch etwas Aehnliches. Ich bitte Sie recht herzlich und dringend, entreißen Sie Sie gleich nach Ostern dem Homer, und machen Sie den Sommer über eine Reise, aber eine weitere und zerstreuendere, als eine nach Karlsbad oder Dresden ist. Thun Sie das nicht — und beinah fürchte ich es, da ich von dem Ruf nach Kiel nichts mehr höre, Sie in Halle ein neues Quartier nehmen, und auch das Jubilaeum, das Sie sonst eher weggetrieben hätte, wie mir Schütz sagt, unterbleibt — thun Sie, sage ich, das nicht, so laufen Sie wirklich Gefahr, Sich durch noch schlimmeres, vielleicht auch gefährlicheres Krankseyn Sich Ihren Beschäftigungen, Ihren Freunden, und der Wissenschaft zu entziehen. Ist einmal die Iliade fertig, so können Sie ja auf Ihren Lorbeern fürs erste ruhen, und über die übrigen Verhältnisse, die Sie etwa hindern könnten, wird es Ihnen ja möglich seyn, Sich hinwegzusetzen. Jena gefällt uns bis jetzt sehr gut, wenn nicht, weil wir viel finden, doch weil wir wenig fordern. Wir wohnen still und ländlich in einem Gartenhause. Unser Quartier ist so klein, daß wir nur gerade Platz und auch kein Kämmerchen übrig haben, aber bequem genug und durch Lage und Garten angenehm. Umgang wird meine Frau außer einigen wenigen, die zu uns kommen können (und wovon ich mir bis jetzt nur zwei wünsche, einen M. Grosse und einen Sohn des Pempelforther Jacobi) nicht haben. Ich außerdem auch nur wenig, von Zeit zu Zeit Schütz, der überaus freundschaftlich ist, Hufeland, Paulus & cet. Aber Sie wissen es am besten; am Umgang liegt uns sehr wenig, und wenn, wie es so gut als gewiß ist, Schiller Ostern kommt, so ist auch diesem Mangel, wenn es einer ist, ganz abgeholfen. Nur Büchercommunication ist hier klein. Indeß hat doch die Universitaetsbibliotheck Einiges, einiges Schütz und andre, und so geht es auch hierin wenigstens so mittelmäßig. Gethan habe ich seit BOerner so gut als — nichts. Das Repertorium über die Pindarischen Silbenmaaße habe ich vollendet und damit eine so

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Brief 28

8. M ä r z 1794

mühselige, so silbenstechende und mir sonst so wenig angemessene (aber nun zur Uebersetzung und Bearbeitung des Pindar einmal unentbehrliche) Sache, daß ich schwerlich je wieder eine ähnliche unternehme. Seit ich aber hier bin arbeite ich viel. Ich habe mir vorgenommen, hier, wo ich mannigfaltigeren Umgang und Bücher aus mehr Fächern habe, einige ältere Studien mehr wieder aufzunehmen, einige Ideen, die ich lange habe, auszuarbeiten. So komme ich auf Philosophie, Politik, Aesthetik ernsthafter zurük. Daß die Griechen darüber nicht vernachlässigt werden, versteht sich von selbst. In diesen beschäftige ich mich zunächst mit der Ausgabe der Uebers. der IV. Pyth.[,] den Untersuchungen über die Rhythmik und dem Lesen des Sophocles. Aber in der Manier mache ich, nach Ihrem Rath, mehrere Aenderungen, arbeite schneller, schneide einige unnütze und weitläuftige Arbeiten ab, kurz bekämpfe mit mehr Liberalität den Hang zur Pedanterie, ohne doch an der Klippe der Ungründlichkeit zu scheitern. Mein Bruder empfiehlt sich Ihnen unbekannterweise auf das hochachtungsvollste, und freut sich im Voraus, wenn Sie seine Arbeit über die Webereien im Mscr. durchlesen wollen. Das meiste Neue glaubt er über den radius sagen zu können. Ueber Ihre Anzeige, für die ich herzlich danke, urtheile ich nicht, wie Sie. Sie ist sehr gut und schön geschrieben. Bescheiden ist sie, aber ich gestehe, ich liebe die Bescheidenheit auch in dem, der mit der größesten Gewißheit reden kann, wo sie nur nicht der Sache schadet, und das glaube ich hier nicht. Aber geseufzt habe ich bei dem Bogen Ihres Homers und möchte seufzen so oft ich ihn ansehe. Ich kann mir den Gedanken nicht nehmen, daß Sie ihm einen Theil Ihrer Gesundheit aufgeopfert haben, und so lieb mir der göttliche Sänger ist, so sind doch Sie mir so unendlich lieber! Jetzt ein Paar Worte auf Ihren Zettel, der hiebei erfolgt: ad 1., Unter 5 Malen, als wie oft Ατρευς und seine deriuata im Pindar vorkommt ist prima 3mal ungezweifelt lang: Ol. XIII. 81. lsthm. V. 48. VIII. 111. und zweimal kurz Pyth. XI. 47. Ol. IX. 107. Ueber Ατρεϊδης belehren Sie mich aber doch nun. In Bruncks Note (ad Apoll. Rhod. I. 58.[)] schrekt mich der Eustathius. Im Pindar kommt die Form zweimal vor. Pyth. XI. 47. und lsthm. VIII. 111. In Pyth. XI. 47. ist nemlich das Silbenmaaß eigentlich: Dieß nennt der Metr[icus] und Pauw ein Periodicum ex Jambis & Trochaeis, und wenn gleich die Conversion, die zum Periodicum

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8. März 1794

nothwendig ist, hier nicht geht, so ists doch ein Asynartetum dim. bracbycat. 105

et Trochaico w



ι

w



dim. w

ι



ex

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Jámbico

brachycat. μ



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ι



ι

θ α ν ε μεν αυ[-]τος ή[-]ρως α[-]τρειδας Hiezu hatte ich vorigen Sommer zum Pauw die Worte geschrieben: ,,Ατρεϊδας ist nicht nöthig indem dort ebensogut (in loco impari in Trochaico) ein Spondeus stehn kann und mir diese Diaeresis nie vorgekommen ist." no Der ersten Meynung bleibe ich noch. Aber wegen der letztern Eustathius! Doch haben Sie ihn ja niedergeworfen, nur um die Gründe bitte ich, da Ihr so grundvoller Homer so g r ü n d e l o s erscheint. In Isthm. VIII. 111. ist das Sylbenmaaß das herrliche Pindaricum, was wir nur zweimal in seinen Oden haben W I W I w — s 115 γεφύρωσε τ' ατρεαδαι[-]σι ν ο σ τ ο ν Dem Metr[icus] nach kann hier statt des Choriamben ein Molossus stehen. Dann gienge ατρειδαισι auch hier an, und wirklich ist in derselben Ode 67. —των η κ ο υ — noch ein molossus der aber durch —των εσακου — oder — των ακοη — emendirt wird. Und freilich findet sich der 120 Molossus in Choriambischen Versen gewiß nur selten und ich erinnere es mich nur in den freiem Lateinern, Terenz, Ihren Tusculanen. Hephaestion berührt den Fall nicht. Marius Victorinus p. 2533. sagt: raro recipit Molossum. Was halten Sie aber von ατρεαδαις? Was übrigens die Vocale ante mutam cum liquida betrift, so werde 125 ich noch künftig eigends untersuchen, ob Pindar in ihrer Quantitaet gewisse Regeln [befolgt], wie die Tragiker und Aristophanes (wie ich aus Morell sehe) thun sollen. ad 2., erwarte ich eine Antwort von Ihnen. In dem Heynischen (incl. Oxfordschen) Pindar sind die Fälle, wo solche Silbe ohne ν έφελκ[υστι130 κόν] lang seyn muß, noch ziemlich häufig. Aber auf der andern Seite haben Schmid und hernach die Oxforder schon viele ν appingirt. Pauw thut dieß allemal, wo die Silbe nicht auch kurz seyn darf, und selbst da hie und dort. Glauben Sie, daß es gut wäre, einmal alle Fälle im Pindar zusammenzusuchen, und aus den Varianten zu sehen, ob die besten 135 Codices das ν oft fehlen lassen, wie ich glaube? Oder ist die Sache schon sonst entschieden? ad 3., ob Pauw wegen πηνεϊον Recht oder Unrecht hat, glaube ich, können nur die besten Codices beweisen. Haben alle[,] wie er sagt πη νειον und hat Schmid die Diaeresis gemacht (wovon Heyne und die Oxforder mo kein Wort sagen) so möchte ich glauben, er hätte Recht. Denn daß Pindar

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Brief 2 9

23. März 1794

Versfüße auf erlaubte Weise verwechselt, ist mir gewiß und diese Aenderung ist ganz gewöhnlich. Sonst aber ist die vollkommene Gleichheit immer im Pindar häufiger, und diese diaeresis ja wohl gewöhnlich? Adieu Liebster, bester Freund. Verzeihen Sie meinem Kopfschmerz 145 und meiner Zerstreuung diese Flüchtigkeit. Sagen Sie mir bald nur was Sie machen! Adieu! H. (Randschriftlich.·) Am Abend. Meine Frau ist jetzt besser und das Kind, außer dem Husten, der es incommodirt, recht wohl. 150 (Am Rande und — verkehrt — am Kopf des zweiten Blattes, von Alexander von Humboldts Hand:) Es ist freilich viel gewagt, Ihnen Durchsicht solch einer jugendlichen Arbeit zuzumuthen. Was ich nur wünschte hat Wilhelm gleich als Bitte ausgedrükt. Das mag er verantworten. Auch glaub' ich nicht so wohl den radius (κερκις) als vielmehr 155 den pecten ξανιον (das bisweilen sogar mit plectrum verglichen wird und was die neueren Kommentatoren bald mit radius verwechseln, bald gar durch Lade! übersezen) deutlich erklären zu können. Der pecten scheint s o — - — r - ^ S j s o ausgesehen zu haben. Wenn die Weberinnen bei ihren stehenden ιστοις besondern beim χιτων αρραφης um den Stuhl 160 herumgingen und den radius (ein bloßer Stab mit umwikkelten Fäden) sakkartig einflochten, so ergriffen sie den pecten und schlugen den Einschlag damit zusammen. Da s[ich] historisch erweisen läßt, daß die haute lisse Weberei (welche unter Karl Martell durch die Sarazenen nach Spanien kam) ein Vaterland mit der altgriech. hat, da der pecten noch 165 jezt im Orient so aussieht und sich alles was Pollux vom Weben sagt nach dieser Hypothese faßlich und klar ist, so ist sie wenigstens w a h r s c h e i n l i c h . (Zum Lemma herumgingen (Z. 160) merkt Wilhelm am unteren Rande an:> Zum Herumgehn gehört im Pindar Pyth. IX. 33. 34. ιστών παλιμβάμους όδούς et Schol. ad h[unc] l[ocum\. Da aber der 170 Schol. sagt: αϊ γαρ όρθαί ύφαίνουσαι so scheinen andre auch sitzend gewebt zu haben, wovon mein Bruder auch Spuren hat, und worauf sich, wie er mir dictiret „die insubula oder insilia (Lucrez) beziehen"[.] (Am Kopf des Schlußblattes, verkehrt:> Noch hat mein Bruder Mumienleinwand untersucht, die er auch beschreiben wird.

29. Jena, 23.[-24.] März, 1794. „Besser wenig, als nichts" denk' ich, liebster Freund, und da mir durch mancherlei Dinge Zeit zu Vielem abgeht; so will ich Ihnen doch

Brief 30

28. April 1794

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in zwei Worten sagen, daß wir jetzt sämmtlich wohler sind, als bei meinem letzten Briefe, daß uns Jena noch recht gut, und noch besser der schön beginnende Frühling behagt. Möchte doch es bei Ihnen auch so seyn und möchten vorzüglich erst alle Homerische Sorgen Sie verlassen haben. Sagen Sie mir bald ein Wort davon. Die eigentliche Veranlassung dieser Zeilen, theurer Freund, war, Ihnen mein neuestes Machwerk, die 1. Pyth. mitzutheilen. Ich habe sie schnell vollendet; ich hoffe, es soll einzelnen Stellen nicht geschadet haben; und das G a n z e hat sicher dadurch an Einheit gewonnen. In den vielen schwierigen Stellen der Ode werden Sie mich fast immer auf dem alten (VorVossischen) hie und da auf dem Vossischen, seltner auf einem eignen Wege finden. Sie wissen, daß ich eine ProbeOde drucken lassen wollte. Ich bestimme diese dazu. Sie thäten mir eine große Liebe, wenn Sie mir Ihr flüchtiges Urtheil über die Uebersetzung, und Ihre Meynung über jene Bestimmung zur ProbeOde sagten, mir aber diese Abschrift, da ich sie brauche, in 14 Tagen zurückschickten. Meine Frau grüßt Sie und die Ihrigen mit mir auf das freundschaftlichste. Adieu. Ewig Ihr Humboldt.

30.

Jena, 28. April, [17]94.

Verzeihen Sie mir ja, liebster Freund, daß ich Ihren mir so angenehmen Brief erst so spät beantworte. Allein in Jena hier giebt es doch hie und da eine Störung mehr, als in BurgOerner, und da ich Sie selbst mit Homericis so beschäftigt weiß, so ists mir immer, als störte ich Sie mit Episteln. Ihre Anmerkungen zu der Ode, von denen ich einige gewiß benutze, haben mir viel Freude gemacht, vorzüglich auch darum, weil es mir lieb war einige Stellen, wo ich von den VV. DD. abgegangen bin, durch Ihr Urtheil bestätigt zu sehen. In Ihr Urtheil im Ganzen, gestehe ich offenherzig, kann ich nicht einstimmen. Ich halte die Uebersetzung wenigstens für meine beste, und der Gedanke, damit vor dem Publicum zu erscheinen, ist mir noch nicht ganz vergangen. Ich sage Ihnen das ebenso offenherzig, als ich Ihnen, mein Inniglieber, für Ihre Offenheit danke. Was Ihre einzelnen Anmerkungen betrift, so fürchte ich sie nicht. Eben weil es nur einzelne sind, läßt sich das, was Sie tadeln ausmerzen und

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verbessern. Das thue ich auch gewiß an mehr als Einer Stelle. Mit einigen aber kann ich nicht übereinstimmen, und hoffentlich sehn wir uns ja bald einmal wieder, um Gründe gegen Gründe zu wechseln. Muthloser macht es mich, daß ich aus Ihrem Briefe schließe, daß auch das Ganze Ihnen nicht gefallen hat. Flecken lassen sich auswischen; aber solche rac&ca/Gebrechen sind und bleiben radical. Und mir selbst waren matte Uebergänge und holprichte Stellen hie und da an der Ode fatal, und sind es zum Theil noch. Deswegen, aber eigentlich durch Ihr Urtheil bewogen, habe ich den Druck der Probe, den ich sonst gleich besorgt hätte, wenigstens bis Michaelis hinausgeschoben. Theils wird bis dahin mir das Ding zur besseren Beurtheilung fremder; theils ists ja möglich, ich übersetze bis dahin eine, die besser geräth. Nur über zwei Dinge noch eine Bemerkung und dann genug davon! Sie fragen: wird den Musen irgendwo die Harfe so beigelegt, daß sie spielen? Aber, wenn Sie nicht die Schwierigkeit in der Gattung des Instruments suchen (Harfe) kommen nicht Musen, mit Saiteninstrumenten in der Hand auf Gemmen unzählichemale vor, und soll das nicht eignen Gebrauch anzeigen. Ist das aber nicht, sollte nicht begleitender Schmuck ebenso vage als σύνδικον κτέανον seyn? Daß ich den Typhoeus freilich sonderbar ein kriechendes Ungeheuer nenne, haben Sie aus seiner Lage auf dem Bauch unter dem Aetna hergeleitet. Allein ich bin durch eine Stelle im Strabo l[iber] 16. wo es heißt, daß einige glaubten, er sey eine Schlange gewesen, und vorzüglich durch eine Gemme in den pierres gravées du Cabinet du Duc d'Orléans darauf gekommen, in der er wirklich statt der Füße Schlangengewinde hat. Sie wünschen etwas über meinen hiesigen Aufenthalt zu hören, und ich kann Ihnen mit Wahrheit sagen, daß ich noch mit keiner Stadt so zufrieden gewesen bin. Die Gegend ist so sehr schön, und Gesellschaft brauche ich so gut, als gar nicht zu sehen, ohne darum mit den Leuten auf üblem Fuß zu stehen. Dabei sind mir doch einige Männer hier wirklich interessant, Schütz, Hufeland, Paulus, und diese kann ich gerade alle ohne alle gêne genießen. An Büchern ist auch wenigstens nicht eben Mangel und überdieß brauche ich jetzt wieder nicht sonderlich viele. Denn ich muß Ihnen nun offenherzig gestehen, daß Philosophie und Politik der Philologie wieder viel Raum abgenommen haben. Indeß geschieht doch etwas Griechisches täglich. Stellen Sie Sich vor schon im Herbst haben mir S[chütz] und H[ufeland] angeboten, mit an der ALZ. zu recensiren. Allein der nach Auleben addressirt gewesene Brief hat sich verloren. Jetzt habe ichs angenommen, jedoch mir vorbehalten nur äußerst wenige, und bloß mir selbst interessante Bücher zu nehmen. Nur

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um nicht gleich anfangs so ekel zu scheinen, habe ich unbedeutende übernommen, und werde in wenigen Tagen ein halb Dutzend Ree. vom Stapel gehen lassen. Meine Frau, die Sie herzlich grüßt, erwartet ihre Niederkunft jetzt täglich. Ihr Befinden ist. doch meist leidlich. Gut kann man freilich eigentlich nicht sagen. Desto muntrer ist unsre Kleine. Die Entbindung melde ich Ihnen so schnell, als möglich. Empfehlen Sie uns Ihrer Frau Gemahlin und grüßen Sie innigst Ihre lieben Mädchen. Leben Sie wohl, theurer lieber Freund, und schicken Sie mir bald den Rest der Ilias der mir dadurch doppelt willkommen seyn soll, daß ich Sie davon frei und ungebunden weiß. Ewig Ihr H. (P. S.} Der Larcher erfolgt anbei. Wir sind aber schon in 2 Tagen noch mit dem ganzen Vater der Geschichte fertig und ich danke also für die Folge. Schütz hat den Larcher auch und hat ihn mir geliehen. Sie haben noch Reinholds Vorstellungsvermögen von mir. Könnte ichs wohl zurückerhalten? (Randschriftlich:> Auf den Herodot denke ich lasse ich für meine Frau die anabasis und dann — wenn der Thucydides noch zu schwer ist — Xen. Griech. Gesch. folgen.

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Jena, 30. May, [17]94. Schon längst, liebster Freund, hätte ich Ihren herzlichen, uns so willkommenen Brief beantwortet, wenn nicht mein Schwiegervater und Schwager die ganze vergangene Woche bei mir zugebracht hätten, und ich dadurch gänzlich in der Ordnung meiner gewöhnlichen Beschäftigungen gestört worden wäre. Verzeihen Sie also, daß Sie erst jetzt unseren innigsten Dank für Ihre liebevolle Theilnahme empfangen; gewiß ist er aber darum nicht minder lebhaft und aufrichtig. Ganz unsern und Ihren freundschaftlichen Wünschen gemäß, geht es mit meiner Frau recht gut, und sie ist sehr wohl und munter, auch wenigstens bei weitem nicht so entkräftet, als wir es fürchteten. Der kleine Junge gedeiht auch. Wir nennen ihn Wilhelm, und es fehlt Ihnen also kein Datum mehr zur Dedication. Die Schwester wundert sich höchlich über ihn, und weist oft mit Fingern auf ihn. Das Mädchen wird jetzt täglich lieber und unterhaltender. Nur mit dem Sprechen will es gar noch nicht fort. Sie

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30. Mai 1794

sagt kaum mehr, als im Winter in BOerner. - Mit Ihrer Lage, theurer Freund, bin ich gar nicht zufrieden. Ihnen dieß gerade zu zu sagen, müssen Sie schon meiner Freundschaft erlauben. Sie verließen Ihr Haus ja, weil es zu eng war, und nun haben Sie ein noch engeres. Ich sehe Sie also in Gedanken im Herbst wieder ausziehn, und wieder neue Störung und Mühseligkeit erdulden. Wenn Sie nur indeß erst mit dem Homer fertig sind. Aus dem Bogen, der in Ihrem letzten Brief lag sehe ich doch daß damals χ schon angefangen war. Sie vergessen doch nicht mir, sobald der Druck fertig ist, alle mir noch fehlende Bogen zu schicken, und meine Frau wartet auch ungeduldig auf ihr schönes Exemplar. Ich habe jetzt 1 B[ogen] Prolegomena] und vom Text B. A — Q. incl. und vom 2 tn Th. B. O. Die Prot, haben mir große Freude gemacht, und mit ungeduldiger Sehnsucht sehe ich der Folge entgegen. Sie sind vortreflich geschrieben, und setzen die höchsten Grundsätze der Krit. nicht nur sehr klar, sondern auch so bestimmt, als bisher noch nirgends geschehen war, aus einander. Vom Text habe ich neulich etwa 10 Bücher in Ihrer neuen Ausgabe gelesen. Ich bin auf zwei Kleinigkeiten im Druck gestoßen, die Sie aber gewiß schon bemerkt haben VII. 385. Ατρείοη und 403. υιες ohne Spiritus und Accent. — Der Morgenstern erfolgt anbei zurück. Ich habe ihn ganz und mit allen beweisenden Noten, die mir manchmal zu gehäuft scheinen, gelesen, und er hat mir viel Vergnügen gemacht. Auch bin ich nicht Ihrer minder lobenden Meynung. Das Plat. System scheint mir von den Seiten, welche die Schrift behandelt, nicht bloß richtig, sondern auch in Piatos Geist dargestellt. In der Hauptidee, dem Zweck der Republik, war ich — wir sprachen ja auch schon davon — schon vorher der Meinung des Vfs. .

Sie sehen, mein theurer Freund, daß ich gerade nur die Hälfte Ihrer mir zugestandnen 3 Wochen gebraucht habe. Gleich nach Ankunft Ihres Briefs habe ich mich an Ihr Werk gemacht, ihm 3 — 4 Tage gewidmet, und es so sorgfältig geprüft, als mir möglich war. Auch hätten Sie schon am vergangenen Posttag diese Antwort erhalten, wenn nicht die Gesundheit meines kleinen Jungen mich da am Schreiben verhindert hätte. Wir haben ihm nemlich am 15. huj. die Blattern abermals (ich glaube Sie wissen, daß es schon im Herbst zweimal vergeblich geschah) einimpfen lassen, und da fiel gerade der Ausbruch in den Anfang dieser Woche. Um diese Zeit der Erwartung pflegt man wohl nicht recht rein gestimmt zu seyn für ruhige Untersuchung, und auch ich war es nicht, so gut alles übrigens gieng. Das Kind hat etwa ein 30 Blattern, und befindet sich gesund und munter. Was aber Ihre Bogen betrift, so habe ich mir, um meiner Sache gewißer < ! ) zu seyn, alle Begriffe und Gefühle zurückgerufen, die das Lesen Homers und das Zurückgehn in dieß heroische Zeitalter sonst in mir weckte. So habe ich Ihre Arbeit erst einmal im Zusammenhang gelesen, und alles, was Sie sagen, ruhig auf mich einwirken lassen. Dann habe ich sie noch einmal vorgenommen, einzelne Argumente geprüft, und bei dieser Gelegenheit hie und da nachgeschlagen, und ganze Homerische Stücke wiedergelesen. Das Resultat dieser Prüfung ist nach allem diesem denn doch das, wenn Sie es einmal so kurz ausgedrückt verlangen, daß ich überzeugt bin. Indeß hat bei mir dieß keins Ihrer Argumente einzeln bewirkt, gegen jedes, glaube ich, ließen sich mancherlei Einwendungen machen; aber ich halte es nicht für möglich, daß jemand, der jene Zeiten nur ohne Vorurtheil kennen gelernt hat, sich der vereinten Stärke aller widersetze. Ebendarum aber wird es, um überzeugt zu werden, immer nöthig seyn, sein gesundes Gefühl zu Hülfe zu nehmen, den Tact, d. h. hier, die Stimmung, die der Geist durch ein richtiges Studium der Homerischen Zeit erhält, mitrichten zu lassen. Gegen einen trocknen Streiter, der nicht eher nachgiebt, bis er per reductionem ad absurdum aus jedem Schlupfwinkel vertrieben ist, werden Sie schwerlich viel ausrichten. Ich sage dieß nicht, als würde Ihnen an der Ueberzeugung eines solchen auch nur überhaupt viel gelegen seyn, sondern bloß, um Ihnen die Totalwirkung zu zeigen, die Ihre Schrift, meines Erachtens, machen wird. Die Disposition Ihrer Argumente, glaube ich, ist Ihnen vortreflich gelungen. Vorzüglich haben Sie

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wohl gethan, alles auf illud posse (S. CXII.) zusammenzudrängen. Diese Gründe sind, diejenigen, welche am meisten eines strengen Beweises fähig sind, und haben Sie diese festgesetzt, so ist es nun an Ihren Gegnern, nicht an Ihnen, mit den Schwierigkeiten der Meynung fertig zu werden. Den Beweis, daß die Schreibkunst nicht früher, als in den von Ihnen bestimmten Perioden in Griechenland gebräuchlich gewesen ist, halte ich für mathematisch hinreichend. Gegen diese Gründe läßt sich nichts aufbringen, und ich habe den Scharfsinn bewundert, mit dem Sie die einzelnen Momente gefunden, und vor allem auch gestellt haben. Was Sie von den Rhapsoden sagen, wird weniger Anfechtung finden, aber dennoch ist die Sache bis jetzt nie in ein solches Licht gesetzt worden, und es ist Ihnen außerordentlich gut gelungen, ein Gemähide zu entwerfen, das den Leser gerade in den rechten Standpunkt für die folgenden Untersuchungen versetzt. Auf beiden zusammengenommen ruht nun die Hauptstärke Ihrer Beweise. Gegen diese ist mir eine einzige Einwendung eingefallen, die ich hier berühre, nicht als schiene sie auch m i r wichtig, sondern weil sie Ihnen möglicherweise und nicht ohne Schein gemacht werden könnte. Ich nehme an, wie es gewiß ist, die Rhapsoden sangen nur bei einzelnen festlichen oder andern Gelegenheiten, nur kürzere, leicht zu umfassende Stücke. Aber, da die Rhapsoden allen Stoff aus der Tradition entlehnten, so konnten sie kein Stück wählen, das nicht mit andern, vorhergehenden und nachfolgenden Begebenheiten, zusammengehangen hätte, und da sie sich mit jedem Stück, weil sie es in sich aufbewahren mußten, anhaltend zu beschäftigen gezwungen waren, so mußte ihnen der Kreis, aus dem sie es genommen, vorzüglich lebhaft vorschweben, und die Arbeit ihnen in diesem leichter werden. Hatten sie nun etwas getroffen, das gerade gefiel, so war die Idee leicht, an dieß etwas andres zu knüpfen, das auch in der Geschichte damit zusammenhing. Sie hatten dabei wenigstens schon den Vortheil, daß der Leser mit dem Süjet bekannter, und aus der Erinnerung des vorigen Stücks sein Interesse dafür gewonnen war. Homer möchte also zuerst nur den Zank zwischen Achill und Agamemnon gesungen haben, bis zur Entschließung des ersteren nicht mehr zu fechten. Nehmen Sie an, die Neugier zu wissen, was jetzt aus den Griechen geworden sey, habe ihn bewogen, die Geschichte ein andresmal weiterfortzusetzen, so machte dieß mit dem Vorigen schon ein größeres Ganze aus. Die Art zu detailliren, wie sich dieß habe weiter fortspinnen können, erlassen Sie mir gewiß, und werfen mir wohl nur die Frage auf, warum es bei Hectors Bestattung schon aufhöre? Dieß ist freilich kitzlich genug und wird nicht mehr als Vermuthungen zulassen, etwa daß mit Hectors Tod Iliums Schiksal schon vollkommen entschieden war u.s.f. Dieß wäre der erste Schritt. Lassen Sie uns jetzt auch den zweiten thun.

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30. Januar 1795

Homer konnte mit der Zeit darauf kommen, die Aufmerksamkeit der Zuhörer schon bei einem Gesang auf den folgenden zu spannen, und so war es möglich, daß nach und nach schon ein gewisses Ganze hervorkam. Allein ich fühle sehr wohl alle die Unwahrscheinlichkeiten, welche dieser Einfall hat, und werde durch ihn nur auf etwas andres geleitet, daß mir wichtig und wahrscheinlich zugleich dünkt, womit Sie aber gewiß auch selbst einig seyn werden. Homer kann nemlich in der That Verfasser der meisten einzelnen in der II. und Od. enthaltenen Stücke seyn, nur daß er sie einzeln und abgesondert dichtete. Schon die frühern Homeriden können sich einen gewissen Cyclus beim Vortrag seiner Gedichte angewöhnt haben, so daß dadurch bald längere, bald kürzere Ganze entstanden sind. Aus mehreren von diesen kann Pisistratus, oder wer es gewesen seyn mag das Ganze, wie wir es besitzen, zusammengefügt haben. Hiebei würde ich nun vorzüglich darauf Gewicht legen, daß schon Homer den Zusammenhang mehr vorbereitet haben kann, als man vielleicht annimmt. Denn ich halte es für unmöglich, daß ein Genie, wie das seinige, wenn es mehrere Stücke desselben Süjets behandelt, diese nicht, ohne es sogar zu wollen, fester in einander verschmelzen sollte. Hier wäre nun der Versuch wichtig, zu bestimmen, was nach andern Gründen der Kritik, als der Zusammenhang an die Hand giebt, nicht für Homerisch angesehen werden kann, um zu finden, wieviel ungezweifelt Homerisches übrig bliebe. In diesem Theil, gestehe ich, hätte ich mehr Ausführlichkeit gewünscht, ob ich gleich nicht entscheiden mag, ob es, wenn man doch sicher auftreten, nicht harioliren will, möglich war, viel mehr zu leisten. Nur habe ich einiges vermißt, was ich mich aus Ihren Gesprächen erinnere. Ζ . E. vom veränderten Gebrauch des Artikels, dem plötzlichen Wechsel der Beinamen ζ. B. des Jupiter, und was Sie mir einmal von dem guten Zusammenhange, und dem gleichen Ton in den ersten 7 — 8 Büchern der Ilias sagten. Endlich dürfte Ihr Argument gegen die 6 letzten Bücher der Ii. manchen Widerspruch finden. Mir selbst scheint Hectors Tod (denn die Bestattung überlasse ich Ihnen eher) dem Z o r n so unpassend nicht anzugehören. Patroklos Tod war schlechterdings eine Folge dieses Zwists, und daß Achill seinen Freund ungerochen lassen sollte, war einem Homerischen Griechen ebenso unerträglich, als einem Musiker die fehlende Schlußquinte bei einem angeschlagnen Accord ist. Soviel vom Inhalt. Die Diction habe ich nicht genug bewundern können. Es herrscht nicht nur durch das Ganze eine so große Leichtigkeit und Grazie, sondern auch die höheren Foderungen des Styls einer geschmackvollen Behandlung, und einer geistreichen Verarbeitung der großen Masse gelehrter Kenntnisse, die darin sichtbar ist, sind in hohem Grade erfüllt. Der Gelehrsamkeit und dem Scharfsinn geht ein gewisser leitender und

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sichtbarlich durch das Studium der Alten genährter Geist zur Seite. Ich weiß keine philologische Schrift, die diesen Untersuchungen gleich käme, nur mit den Lessingischen glaube ich hie und da Aehnlichkeit der Manier bemerkt zu haben. Sie sehn, daß ich zu einer Wärme hingerissen worden bin, der ich mich um so sichrer überlasse, als ich weiß, daß ich bei Ihnen von jedem Verdacht auch der k l e i n s t e n Uebertreibung bei Aeußerung eines solchen Urtheils frei bin. Auch bin ich überzeugt, wird das Publicum nicht anders urtheilen. Ueber dieß aber noch ein Wort. Der Ort, wo diese Untersuchungen stehen, Prolegomena zu einer kritischen Ausgabe, ist ihnen nicht recht günstig. Die meisten philologen von profession haben keinen Sinn dafür, und die Leute von Geschmack und Geist, die jenes nicht sind, werden durch die Idee, viel von Dingen zu hören, die sie nicht verstehn, abgeschreckt. Ich hielte es für sehr gut, wenn ein deutscher Auszug aus der Geschichte des Homerischen Textes in irgend einem beliebten Journal besorgt würde. Die Ideen sind zu wichtig, um nicht völlig allgemein bekannt zu werden. Die ALZ. könnte hiezu beitragen. Aber Schütz wirds recensiren wollen, und darüber wirds nie recensirt werden. — Mit meiner Arbeit war ich wirklich an einen Abschnitt gekommen. Sie werden im 2 tn Stük der Hören eine Abhandlung finden: Ueber den Geschlechtsunterschied, und dessen Einfluß auf die organische Natur, die mich[,] so kurz sie ist, sehr viel Vorarbeit gekostet hat. Ihr werden noch einige andre nachfolgen. — Ich habe diesen Brief noch einen Posttag länger müssen liegen lassen. Der kleine Junge ist recht wohl, und die Blattern fangen an abzutrocknen. Meine Frau, die das Lateinische der Kinder wegen wieder hat aufgeben müssen, die ich aber mit Ihren Ideen bekannt gemacht, dankt Ihnen sehr dafür, und grüßt freundschaftlichst. Tausend Empfehlungen an die Ihrigen. H. 2. F[ebruar 17]95.

Ich sagte Ihnen, liebster Freund, daß ich seit einigen Wochen viel arbeitete, dießmal aber ists nicht innerhalb des Gebiets des Alterthums, Ich bin bei einer philosophischen Arbeit, die mich sehr interessirt, und

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16. Juli 1796

wenn mir der jetzige Versuch gelingt, mich in ein weites Feld führen dürfte. Ich habe schon so oft von Planen gesprochen, daß ich mir auch fest vorgenommen habe, diesen nur erst nach seiner Ausführung anzumelden. Indeß sind in der That doch schon einige Bogen wirklich geschrieben, und bis zum Herbst denke ich mit dem Büchlein fertig zu seyn, um den Winter zu seiner Ausfeilung anzuwenden, und es im Frühjahr oder Sommer in die Welt zu befördern. In Graecis muß ich offenherzig gestehn nicht viel gethan zu haben. Mit meiner Frau lese ich jetzt abwechselnd den Pindar und Euripides, Wir sind jetzt beim Rhesus, der mich so einfältig er ist, doch nicht wenig interessirt. V. 351—354. ist eine hübsche und soviel ich weiß sonst nirgend vorkommende Vorstellung von der Liebe eines Flußgotts, die mir aber neuer scheint, als die Zeit, in die auch Beck das Stück versetzt. V. 171. "Ιλιος ist ja wohl auch außer beim Homer ungewöhnlich. Wegen seiner Schlechtigkeit würde ich indeß dem Euripides das Stück nicht absprechen. Erinnern Sie Sich an die Alceste, Hippolytus und so viele andre wirklich abgeschmackte Dinge in diesem ewigen Moralisten. Da das Stück doch wohl nicht lange nach ihm fällt, so zeigt es zugleich wieviel auch das Atheniensische Publicum sich gefallen lassen mußte. Die Böttigerschen Schriften und Wielands Museum habe ich ihrer Existenz nach zuerst aus Ihrem Briefe kennen gelernt, und nicht gesehn, nicht einmal den Hermann de metris. Spalding, mit dem ich einzig über solche Dinge communiciren könnte, lebt jetzt wieder wie die Dioskuren, bald innerhalb, bald außerhalb der Mauern, und ist für mich völlig unsichtbar. Jetzt leben Sie herzlich wohl, mein theurer lieber Freund, und lassen Sie unsern Briefwechsel nicht wieder so ins Stocken gerathen. Meine herzlichsten Empfehlungen an die Ihrigen, Voß und Reichardt. Ihr H. (Randschriftlich:> Was wird Clotildis zu ihrem geschlagnen Helden sagen? Jetzt kann sie nur Threnos anstimmen. Auch mag sie sich vor der Rache des ó ξίφος in Acht nehmen.

52. Berlin, 16. Jul. [17]96. Ich habe sehr, liebster Freund, über die neidische Feder lachen müssen, die mir Ihr letzter Brief beilegt. Ich will versuchen, ob ich Sie heute mit

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16. Juli 1796

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einer tugendhafteren um Verzeihung bitten kann. Die Stelle, die mir Schneider in den Georgias nannte, soll (ich bin schlecht im Virgil bewandert) vom Verbrennen der Olivenbäume handeln. Dieß habe ich mit Fleiß vorausgeschickt, damit diese ominösen Worte nicht wieder in die Dämmerung des Endes meines Briefes kämen, wo die Wärme des freundschaftlichen Schreibens den Vorsatz des deutlichen Schreibens verdrängt. Herzlichen Dank, mein Lieber, für ihre freundschaftlichen Anerbietungen für unsern Besuch in Halle; möchte ich nur erst die Zeit wissen, wo ich sie werde benutzen können. Aber mein Aufenthalt wächst hier noch immerfort. Meine arme Mutter ist jetzt nun in der That, nach dem Ausspruch aller Aerzte, ihrem Tode um Wochen nah, und die Größe dessen, was sie leidet, macht das Herannahen dieses Zeitpunkts wirklich wünschenswerth. Unter diesen Umständen, sehn Sie, können wir uns nicht von hier entfernen, und da wir nachher auch noch etwa 4 Wochen hier zu thun haben, so kann der Tag, wo wir uns wiedersehn, so herzlich wir es auch anders wünschten, doch noch um 8 — 10 Wochen fern seyn. Wir leben jetzt hier völlig einsam und ungestört. Außerdem, daß ich freilich sehr sehr häufig den halben Tag bei meiner Mutter in Tegel verbringe, bin ich die andere Hälfte desto freier. Aber in Graecis loben sie meinen Fleiß ohne mein Verdienst. Meine jetzige Arbeit entfernt mich vom eigentlichen Lesen gar sehr und außer der Gewohnheit, die ich aber auch mein ganzes Leben hindurch nicht werde abkommen lassen, täglich etwas mit meiner Frau zu lesen, geschieht nichts. Meine jetzige Arbeit wird Sie wundern, sie wird Ihnen aber auch nur ein bloßer unausgeführter Plan scheinen, wie so viele bisherige. Dem will ich nun zwar, um mir hernach kein dementi zu geben, nicht ausdrücklich widersprechen, aber versichern kann ich Ihnen dennoch, daß ich alle mögliche und die ernsthaftesten Vorkehrungen getroffen habe, daß es dießmal nicht abermals so gehe. Durch einen wahren salto mortale bin ich von den ältesten zu den neuesten Zeiten übergesprungen, von den Griechen und Römern zu Franzosen und Engländern. Es hat mir lange in vielfacher Rücksicht ein Bedürfniß geschienen, unsere Zeit i. e. das achtzehnte Jahrhundert darzustellen, und ausführlich zu charakterisiren. Diesem Gedanken bin ich jetzt mehr nachgegangen, und habe eine eigne Schrift unter dem Titel ohngefähr: Ueber die philosophische Schilderung und Würdigung des Charakters eines bestimmten Zeitalters; als eine Einleitung zu einer Charakteristik des 18. saec. angefangen. In dieser will ich die Erfordernisse, Schwierigkeiten und den Plan einer solchen Charakteristik auseinandersetzen.

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2. August 1796

Ob ich die Charakteristik selbst je ausführen werde, lasse ich dahingestellt seyn; daß ich aber viele zu ihr gehörige Grundideen in dieser Einleitungsschrift vortragen werde, ist gewiß. Diese soll Ostern oder Michaelis 1797. gewiß erscheinen. Sie werden den Plan bedenklich finden, wegen meiner ausschließlichen Bekanntschaft mit den Alten und meiner Unwissenheit in allem Neuen. Aber die erstere ist mir zu diesem Unternehmen nothwendig. Denn meine Methode der Schilderung der Neuern macht eine durchgehende Parallele mit den Alten nothwendig, und ich bin vielmehr nun besser fähig, diese anzustellen, da ich die Alten frei und unabhängig studirt habe. Die Unwissenheit muß sich in meinem Alter immer mit Ernst abhelfen lassen, und ich arbeite mächtig daran. Denken Sie also ja nicht daß ich den Alten absterbe. Die Philologie bleibt mir gleich wichtig, und ich bitte Sie, mich ja immer als einen ausschließlichen Schüler dieses Fachs zu betrachten. Vielmehr werde ich Ihnen bald mit vielen Fragen über allerlei Materien kommen, da ich nun gezwungen bin, aus meiner bisherigen Leetüre Resultate zu ziehen. Von meinem Vorhaben sagen Sie sonst niemand. Das Liebste wäre mir jetzt, wenn Sie mir recht viel Einwürfe dagegen machten, und mir viel Fragen vorlegten. Ich will gewiß recht schnell, ausführlich und deutlich antworten. Meine Frau grüßt Sie herzlich. Von ganzer Seele Ihr Humboldt.

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Berlin, 2. Aug. [17]96.

Heute nur zwei Worte, liebster Freund, zur Ankündigung eines s c h n e l l e n Entschlusses. Ich reise morgen mit meiner Frau und meinem ältesten Kinde [ü]ber Stettin, Stralsund, Rügen, Rostock, Wisfmar], Lübeck nach Eutin und von da über Ploen nach [Ha]mburg. Die Lust, Voß in Eutin, und Jacobi, [der je]tzt in Wandsbeck ist, zu besuchen, sind die Haupt[t] riebfedern dieser Reise. Am 7. 7br. sind wir wieder hier, und bald nachher sehn wir uns, hoffe ich gewiß. Ich freue mich unglaublich auf Voß. Ich denke er ist durch Sie bereits vorbereitet, mich freundlich aufzunehmen. Könnte ich nicht einen Brief von Ihnen bei ihm finden? Machen Sie dieß doch ja. Ich bin bis zum 24stn Aug. spätestens da. Den 20stn komme ich hin.

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Die Vorbereitungen zur Reise lassen mir heute nicht mehr Zeit. Es thut mir leid, daß ich mich so schnell zur Reise entschloß, daß ich Ihnen vorher nichts davon schreiben konnte. Tausendmal adieu! Ihr Humboldt.

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Berlin, 20[.] 7br. [17]96.

Wie herzlich habe ich mich gesehnt, lieber theurer Freund, Ihnen wieder und recht ausführlich zu schreiben. Ihr Brief, den ich durch Voß in Eutin erhielt, schien mir in einer so trüben Stimmung geschrieben und Voß sagte mir ein Gleiches von dem seinigen. Aber unterwegs führte ich ein so zerstreutes und zugleich beschäftigtes Leben, daß ich zu keiner ruhigen Stimmung kommen konnte. Jetzt seit dem 17tn Abends bin ich wieder hier, und eile um so mehr gleich den ersten Posttag zu benutzen, als mich noch außerdem Ihr wichtiger und freundschaftlicher Brief über Ihren Ruf von neuem dazu einladet. Dieser Brief, ich läugne es nicht, hat mich im eigentlichsten Verstände erschreckt. Zwar hörte ich schon in Eutin und Hamburg so dunkel und von fern das Gerücht von Ihrem Ruf. Aber ich hielt es nur erst für die entferntere Correspondenz darüber, von der ich schon wußte; daß es so weit damit gediehen sey, und daß Sie selbst beinah Ihren Entschluß gefaßt haben, ließ ich mir nicht einfallen. Daher, ich wiederhole es noch einmal, hat mich Ihr Brief erschreckt. Der Gedanke, Sie aus unsrer Nähe zu verlieren, und Sie noch dazu in das unruhige Holland hin verschlagen zu sehen, ist mir unerträglich, und Sie glauben es mir gewiß, unendlich schmerzhaft. Aber freilich kann ich Ihren Entschluß nicht misbilligen. Die Entscheidung der Sache, da Sie meine Meynung zu wissen wünschen, ist, dünkt mich sehr einfach, es kommt alles auf Einen Punkt an: ist Holland in der Lage, daß Sie auf eine ungestörte Thätigkeit, und auf einen ruhigen Genuß Ihrer unverkürzten Einkünfte zählen können, oder nicht? Ist das erstere, so ist, das muß ich selbst, so sehr auch die Neigung meines Herzens dagegen spricht, gestehen, keine Wahl. Die Stelle ist zu vortheilhaft, die Muße selbst, die sie verspricht, zu reizend, und die Nähe wahrhaft wichtiger Bibliotheken zu einladend, als daß Sie anstehn sollten, das Anerbieten mit ofnen Armen anzunehmen. Wie aber wenn Holland

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20. September 1796

noch viel politische Stürme zu iiberstehn hat, wenn Papiergeld eingeführt wird, wenn Ihre Einkünfte wie ζ. B. la Grange's in Paris auf einige Louisd'ors zusammenschmelzen? Und was ist nun das Wahrscheinlichere? Ruhnkenius beruhigt Sie hierüber sehr. Allein Ruhnkenius ist bekanntermaaßen, wie die meisten dortigen Gelehrten ein Patriot, und sieht die Revolution vielleicht aus Partheigeist mit zu günstigen Augen an. Ein hiesiger Kaufmann, der so eben aus Holland zurückkommt, hat, wie ich höre, gerade das Gegentheil gesagt. Alles sey in der äußersten Gährung, ein Convent existire nur dem Namen nach, Beurnonville und die Franzosen wären allein Herren und Meister. Allein dieser Mensch ist nicht von der Art, daß man seiner Einsicht großes Gewicht beilegen kann, und für sich sehr aristokratisch gesinnt. Er kann daher höchstens nur Zweifel erwecken. Was das Schlimmste ist, so, dünkt mich, ist jetzt niemand in der Lage, den Erfolg irgend mit Sicherheit prophezeien zu können. Die Sachen stehn zu sehr auf dem Spiel. Daß schon jetzt ein, aber noch sehr widersprochnes Project von Papiergelde in Holland ist, hörte ich bereits in Hamburg. Was sollen Sie nun aber thun? Der bedenklichste Umstand scheint mir, daß der größte Theil Ihrer Einkünfte ex aerario publico, worunter ich doch die Casse des Convents verstehe, fließen soll. Der UniversitätsCasse ist, glaube ich, sichrer zu trauen, wie auch die Umstände sich ändern möchten. Wäre es thunlich, hier eine beträchtliche (so nenne ich aber nur eine von 600 r.) Gehaltsvermehrung zu erhalten, so riethe ich Ihnen geradezu ab. Aber nach dem, was mir Spalding (denn ich bin, was ich hier beinah zum erstenmal ernstlich bedaure, außer aller Connexion) sagt, sollen die SchulCassen und dergleichen höchstens das Vi jener Summe vermögen. Nun sind freilich jene Aussichten zu gut, und um ganz offenherzig zu seyn, wie Sie mir ein Paarmal schrieben, so sind Sie nicht in der Lage, solche Aussichten zu vernachlässigen. Nur die fatale Ungewißheit. Wäre vielleicht noch das möglich, es durch Ruhnkenius dahin zu bringen, daß die Stelle bis nach dem Frieden unbesetzt bliebe, und Sie erst dann sie anzutreten brauchten? Es ist sehr schwer hier zu einem Resultate zu kommen, da der Hauptpunkt sich so wenig berechnen läßt. Vielleicht ist es hier der Fall, etwas zu wagen, vielleicht auch nicht — auf alle Fälle glaube ich müssen Sie Sich, mein lieber theurer Freund, hier einer Divinationsgabe anvertrauen, die Sie ja sonst so treu begleitet. Das Beste, was der Dritte bei Gelegenheiten dieser Art thun kann, ist, scheint es mir, alle möglichen Momente der Ueberlegung herbeizuführen. Darum nur lassen Sie mich noch Folgendes hinzusetzen. Sie haben mir

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oft gesagt, daß Sie zum eignen schriftstellerischen Arbeiten eines äußern Anstoßes bedürfen, daß Sie es sogar gern sehen, wenn die ersten Bogen einer Schrift schon unter der Presse sind. Haben Sie wohl den langsamen und schlechten G a n g des Buchhandels dort bedacht? Wie wird es seyn, wenn, was Ihnen hier dringendes Bedürfniß war, Ihnen nun eine Schwierigkeit wird. Auch das müssen Sie nicht vergessen, daß Sie dort genöthigt sind, Ihre Sachen alle in Deutschland drucken zu lassen, und daß Sie dieß, bei Ihrem treflichen Streben nach Korrektheit ungern thun. Wollten Sie auch dort unter Ihren Augen drucken lassen, so kennen Sie die dortigen Honorare. Alsdann verlieren Sie wieder einen sehr beträchtlichen Theil Ihrer Einkünfte. — Endlich wie werden Ihnen die Menschen gefallen? Die in Halle sind freilich auch nicht sonderlich. Aber es scheint mir doch immer mehr Fleisch von unserm Fleisch und Bein von unserm Bein. Gegen H o l l ä n d e r , ich läugne es nicht, habe ich eine gewisse Abneigung. D a s soll mich indeß nicht hindern, Sie, wenn Sie noch nach Leyden gehen sollten, gewiß dort zu besuchen. Sie wissen ich gehöre zu den wandernden Freunden, die man überall sichrer, als in ihrer Heimath findet. Also noch einmal: glauben Sie auf den Zustand in Holland, insofern er Ihre künftige äußre Existenz angeht, vertrauen zu können, so nehmen Sie den Ruf an. Haben Sie Mistrauen, so legen Sie auch in die Wagschale der übrigen abrathenden Gründe, mehr Gewicht, und schlagen Sie ihn aus. Ueber das, was ich, unabhängig von Privatinteresse für die Wissenschaft wünschen soll, bin ich in hohem Grade zweifelhaft. Auf der einen Seite ist es ein reizender Gedanke, daß S i e in der N ä h e von Hülfsmitteln seyn sollen, mit denen schon so mittelmäßige Menschen, als ζ. B. Brunck, oder doch so langsame, als die Holländer, soviel geleistet haben. — Aber auf der andern sind auch Reisen nach Paris und London kostbar, Ihre Stelle ist zwar gut, aber Leyden auch vielleicht theuer. Und nun, wie wenn Mangel an ordentlichem Bücherverkehr, politische Unruhen, wenn auch Sie nicht geradezu dabei litten, Entfernung von allen Ihren ehemaligen Freunden, und Abneigung gegen die dortigen, Ihnen bis jetzt ganz unbekannten Sitten und Lebensart Ihnen die Stimmung und den frohen Muth raubten, der zum Arbeiten immer erfodert wird? Dieß, Lieber, prüfen Sie wohl. Dieß können schlechterdings nur Sie beurtheilen. Daß Sie nicht mit H o f m a n n gesprochen, billige ich nicht. Ist denn ein Sprechen gleich ein Sollicitiren, und sollte nicht Ihre Delicatesse, gar keine Schritte für sich zu thun, zu weit getrieben seyn? Ich gestehe Ihnen frei, daß ich es Ihnen sehr verdenken würde, wenn Sie, im Fall Sie den Ruf nicht annehmen sollten, ihn nicht wenigstens benutzten, um hier gleich etwas (wenn auch nur eine Kleinigkeit) mehr, und eine sichre Versprechung auf

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Brief 54

20. September 1796

das nächste vacante Gehalt zu erhalten, und wenn Sie nicht auch Hofmann deshalb in Ihr Interesse zögen. Sie können mir zutrauen, daß ich Ihnen keinen nur irgend unedlen Schritt anrathen werde. Aber ich sehe auch schlechterdings nichts darin, daß Sie Sich an einen Mann wenden, der ein Freund Ihres Chefs ist, der mit Ihnen und mit dem Sie immer in gutem Verständniß gewesen sind, und den Sie ja gar nicht bitten, sondern dem Sie nur Bedingungen bekannt machen, ohne deren Erfüllung Sie Halle verlassen müßten. Hofmann sieht doch immer zu gut ein, wie wenig, wenn Sie weg sind, in Halle zurückbleibt, um nicht, selbst ohne persönliche Rücksicht auf Sie, sich thätig zu verwenden. Jetzt noch einige Worte von Voß. Wir waren fünf Tage in Eutin, und den ganzen Tag bei ihm. Wir haben ihn außerordentlich liebgewonnen, und auch ihm schienen wir zu gefallen. Leider war er nur und ist noch an Ohrensausen, das ihn sehr incommodirt, krank. Dieß stört das Gespräch etwas, doch nicht sehr. Ich habe mit ihm über die interiora seiner Eigenthümlichkeiten äußerst frei, und ohne allen Rückhalt gesprochen, ob ich gleich, wie Sie wissen, gar kein eigentlicher Anhänger seiner sogenannten (denn er widerspricht dem Ausdruck) Neuerungen bin. Ich bin über nichts fast eigentlich einig mit ihm geworden, aber ich habe auch nur gesucht, mich ganz und gar in seine Gesichtspunkte zu versetzen, und dieß ist mir, glaube ich, in hohem Grade gelungen. Ich glaube ihn jetzt zu verstehen, und doch ist dieß nicht leicht. Wenigstens ists nicht leicht, bis es einem gelingt, in den Mittelpunkt aller seiner Ansichten einzudringen. Denn es ist eine überaus merkwürdige Einheit in seinem Wesen, seinen Gedanken und seinen Arbeiten. Meine vorigen Ideen über ihn habe ich sehr berichtigt. Ich habe ihn ungleich feiner, zarter und ich möchte sagen poetischer gefunden, als ich mir vorgestellt hatte. Ueber Sie haben wir, wie Sie leicht denken können, unendlich oft gesprochen, er liebt und achtet Sie unendlich. Mit Ihren Prolegg. ist er, wie Sie auch wissen, nicht einig. In diesem Punkt, gestehe ich Ihnen, begreife ich ihn noch nicht recht. Er meynt noch, Homer möge dennoch wohl geschrieben haben, Fugen findet er nirgends, die Arbeit der Verbindung der einzelnen Gesänge hält er für so schwierig, daß er meynt, Sie hätten den Homer, der nemlich nun der Verbinder sey, nur um einige Jahrhunderte weiter vorgerückt. Ich hätte mich gern mit ihm hierüber tief eingelassen. Allein theils ist es schwer mit ihm streiten, da er so leicht schweigt, ohne überzeugt zu seyn, und anderntheils muß ich auch sagen, daß meiner Ueberzeugung nach, die Sache noch nicht so daliegt, daß sie sich durchstreiten läßt — den einzigen Punkt ausgenommen, daß Homer nicht geschrieben haben kann, was ich für ausgemacht halte. Uebrigens glaube

Brief 55

18. Oktober 1796

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ich sind die Gründe, die Ihre Prolegomena angeben, alle noch so, daß sie nach individuellen Verschiedenheiten mehr oder minderen Eindruck machen. Der cardo rei liegt meines Erachtens allein darin, daß in der Ilias wirkliche Verschiedenheiten des Stils, der Sprache u.s.f. seyn sollen. Bei diesen glaube ich, hätten Sie anfangen müssen; jetzt getraue ich mir zwar immer den Gegner bestreiten, nie aber ihn besiegen zu können. Ihre literarischen Briefe will er, sobald es sein Kopf erlaubt, noch einmal prüfend durchlesen, und dann Ihnen seine Bemerkungen schicken. Den vorzüglichsten und vortheilhaftesten Eindruck auf uns hat Voß Charakter und häusliches Leben gemacht. Er ist im genauesten Verstände des Worts brav und edel und in so hohem Grade noch außerdem liebenswürdig. Auch die Frau hat uns sehr gefallen, und sie gewinnt immer, je länger man sie sieht. Klopstock ist noch immer äußerst angelegentlich mit Ihren prolegg. beschäftigt. Es war das Erste, worüber er mit mir sprach. Er ist schlechterdings und durchaus Ihrer Meynung, die er noch durch eigne Einfälle erweitert. So hält er, ich glaube nicht sehr glücklich, in II. α. είς κοιρανος εστω für ein Einschiebsel der Pisistratiden. Auch mit den literarischen Briefen ist er zufrieden, und lobt vorzüglich den Stil. Die Recension von Voß Homer habe ich erst einmal und noch nicht einmal ganz gelesen. Sie enthält gewiß sehr viel Wahres, und manches ist mir wie aus der Seele geschrieben. Aber vieles halte ich auch für übertrieben, den Ton hier und da für unbescheiden und muthwillig, und der Hauptgesichtspunkt, aus dem der Recensent (W. Schlegel) den Homer ansieht, scheint mir doch wieder verfehlt. Bisher hat man den armen Homer wie einen modernen Dichter behandelt; jetzt wird man bald anfangen ihn nicht mehr für einen Dichter zu erklären. Der Recensent scheint mir schon von dieser Seite viel zu weit zu gehen. Alles was nur nach Kunst aussieht, soll nicht homerisch sondern gleich alexandrinisch seyn. Und wo ist denn der künstliche Versbau der Alexandriner? Etwa bei Apollonius? Ueber den Versbau des angeblich stolzeren Virgilischen und des Homerischen Hexameters scheint der Recensent auch wunderbare Eingebungen zu haben. Ich habe den Hexameter in der Aeneis und den Georgiken immer für ächt und bloß homerisch gehalten.