Brennpunkte im deutschen internationalen Steuerrecht 9783504382421

Behandelt werden: Freytag: Grußwort Schönfeld: Umsetzung der neueren EuGH-Rechtsprechung in Deutschland Schmehl: Tend

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German Pages 200 Year 2010

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Brennpunkte im deutschen internationalen Steuerrecht
 9783504382421

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Jürgen Lüdicke (Hrsg.) Brennpunkte im deutschen Internationalen Steuerrecht

Forum der Internationalen Besteuerung

Band 36

Brennpunkte im deutschen Internationalen Steuerrecht EuGH-Rechtsprechung ·Internationales Steuerverfahrensrecht ·Internationale Personalentsendung · Entstrickung und Verstrickung · Business Restructuring und Funktionsverlagerung

Herausgegeben von

Prof Dr. JOrgen Uldicke Rechtsanwalt, Steuerberater International Tax Institute Universität Harnburg mit Beitragen von

Dr: Jens Schönfeld Prof. Dr. Arndt Schmehl Martin Reinhold Dr: Thomas Eisgruber Prof. Dr. Heinz-Kiaus Kroppen, LLM. Diskussionsteilnehmer

Hans-Henning Bernhardt Prof. Dr. Dletmar Gosch Dr. Friedrich LDschelder, LLM. Prof. Dr. Jürgen Lüdicke Dr: Carl Frledrich Vees und die Beitragsverfasser 2010

VerI~ Dr.OftoSchmidt

Köln

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abnrlbar.

VerlagDr. Otto SchmidtKG Gustav-Heinemann-Ufer 58, 50968 Köln Tel. 0221193738-01, Fax 02211937 38-943 [email protected] www.otto-schmidt.de ISBN 978-3-504-61536-9

©2010 by Verlag Dr. Otto Schmidt KG, Köln Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das verwendete Papier ist aus chlorfrei gebleichten Rohstoffen hergestellt, holz- und säurefrei, alterungsbeständig und umweltfreundlich. Einbandgestaltung nach einem Entwurf von: Jan P. Lichtenford Satz: A. Quednau. Haan Druck: Betz, Darmstadt Printed in Germany

Vorwort Die weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise bleibt nicht ohne Einfluss auf das internationale Steuerrecht. Neben spektakulären Entwicklungen wie dem von vielen Staaten koordinierten Kampf gegen sog. Steueroasen, der nicht ohne Auswirkungen auf die Rechtsstellung einzelner Steuerzahler bleiben wird, ist mit einem zunehmenden Verteilungskampf der Staaten untereinander um die Aufteilung der Besteuerungsgrundlagen zu rechnen. In diesem internationalen Umfeld war die 26. Hamburger Tagung zur Internationalen Besteuerung am 4. Dezember 2009 der Erörterung von „Brennpunkten im deutschen Internationalen Steuerrecht“ gewidmet. Michael Freytag, Finanzsenator der Freien und Hansestadt Hamburg, schlägt in seinem Grußwort den Bogen von der Steuergesetzgebung zur Ausgabenseite der staatlichen Haushalte. Jens Schönfeld beleuchtet aktuelle Aspekte der noch immer im Fluss befindlichen Rechtsprechung des EuGH zur Bedeutung der Grundfreiheiten im Bereich der direkten Steuern und namentlich ihrer Umsetzung in Deutschland. Arndt Schmehl befasst sich mit Hintergründen und Problembereichen der sich deutlich verstärkenden internationalen Zusammenarbeit der Staaten in Steuerverfahren. Martin Reinhold stellt Praxisprobleme der Besteuerung von grenzüberschreitend eingesetzten Arbeitnehmern im Lichte neuerer OECD-Entwicklungen und mangelnder Abstimmung nationaler Steuerrechte dar. Thomas Eisgruber zieht eine Zwischenbilanz der höchst kontroversen Diskussion um die Grundsätze zu Entstrickung und Verstrickung und versucht eine Zielbestimmung. Heinz-Klaus Kroppen setzt sich vor dem Hintergrund des OECD-Reports zum Business Restructuring mit dem derzeitigen Stand von Gesetzgebung und Verwaltungsäußerungen zur Funktionsverlagerung auseinander.

V

Vorwort

Der vorliegende Tagungsband enthält die Referate sowie die daran anschließenden Podiumsdiskussionen zwischen Hans-Henning Bernhardt, Dietmar Gosch, Friedrich Loschelder, Carl Friedrich Vees und den Referenten. Hamburg, im April 2010

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Prof. Dr. Jürgen Lüdicke

Grußwort Sehr geehrter Herr Professor Lüdicke, meine Damen und Herren, Zu Beginn der Veranstaltung möchte ich einer guten Tradition folgen und Ihnen gerne persönlich die Grüße des Hamburger Senats überbringen. Die Tagung Internationale Besteuerung ist ein echter Hochkaräter unter den steuerpolitischen und fachlichen Veranstaltungen in Hamburg. Ich freue mich deshalb sehr, dass wir Vertreter der steuerberatenden Berufe, der Finanzverwaltung, der Finanzgerichtsbarkeit und der Unternehmen hier unter dem Dach der Handelskammer versammeln können. Im Rahmen der Tagung wird beraten, wie wir ein hochkomplexes Regelwerk, das Politik, Steuerpolitik, Finanzpolitik und Haushaltswesen oft unmittelbar betrifft, besser gestalten können als bisher. Die Steuergesetzgebung insgesamt, das kann ich Ihnen als Mitglied des Bundesrats versichern, ist ein ausgesprochen schwieriges und dickes Brett, welches man lange bohren muss. Und es kommen trotz aller Anstrengungen nicht immer Ergebnisse dabei heraus, die alle Seiten gleichermaßen zufrieden stellen. Die Hamburger Steuerverwaltung ist gut aufgestellt. Wir sind als Stadtstaat zwar nur ein kleines Bundesland, aber als Zahler in den Länderfinanzausgleich ergreifen wir in Berlin regelmäßig das Wort. So haben wir die Möglichkeit, oft Schlimmeres zu verhindern, was uns in den meisten Fällen auch gelingt. Dass uns das nicht immer gelingt, liegt auch an den hochkomplexen Strukturen und den Egoismen verschiedener Interessensbeteiligter, die natürlich je nach eigener Sichtweise ihren Vorteil herausarbeiten wollen. Gleichwohl sind wir gezielt dabei, auch im Steuerrecht Hamburgs Position einzubringen. Wir sind ein unternehmensbezogener Standort. In Hamburg sind 125.000 Wirtschaftsunternehmen ansässig. Das bedeutet, die steuerlichen Auswirkungen betreffen unmittelbar die Bilanz dieser Unternehmen, betreffen damit auch unmittelbar das Steueraufkommen der Freien und Hansestadt Hamburg. Und das Steueraufkommen wiederum betrifft unmittelbar die politischen Handlungsmöglichkeiten einer Gebietskörperschaft. Die Gebietskörperschaften erleiden im Moment die VII

Grußwort

schlimmsten Steuerausfälle aller Zeiten, auch Hamburg: Wir waren noch 2007 und 2008 in einer so guten Verfassung, dass wir es durch gezielte Konsolidierung geschafft haben, keinen einzigen Cent neue Schulden mehr aufnehmen zu müssen und unsere Haushalte komplett aus eigener Kraft auszugleichen. Und zwar aus eigener Kraft! Ich betone das deshalb, weil in vielen veröffentlichten Statistiken immer wieder auch andere Bundesländer gezeigt werden, die auch einen ausgeglichenen Haushalt haben sollen. Das erreichen diese Bundesländer aber nur durch Milliardensummen aus dem Länderfinanzausgleich und durch Bundesergänzungszuweisungen. Und dann ist es keine Kunst mehr, einen ausgeglichenen Haushalt vorzulegen. Ganz aus eigener Kraft schaffen das nur ganz wenige. Das sind z. B. sympathische südliche Bundesländer und Hamburg. Leider sind wir wegen der internationalen Wirtschaftskrise im Moment von einem ausgeglichenen Haushalt ohne Nettokreditaufnahme weit entfernt. Zwar hatte Hamburg für 2009/2010/2011 bereits einen Doppelhaushalt ohne Neuverschuldung vorgelegt. Doch erhebliche Steuereinbrüche aufgrund der Krise bringen unsere Stadt in eine schwierige finanzielle Lage. In dieser eigentlich reichen Stadt mit gewöhnlich hohem Steueraufkommen rechnen wir mit Ausfällen bis 2013 in Höhe von 6 Milliarden Euro. Diese 6 Milliarden Euro waren bereits weitgehend verplant. Eine Gebietskörperschaft, egal ob Land oder Kommune, hat nun drei Möglichkeiten auf eine solche Entwicklung zu reagieren. Sie könnten theoretisch ein radikales Sparprogramm in Höhe der Steuerausfälle auflegen. Das ist, meine Damen und Herren, de facto unmöglich. Sie können nicht 6 Milliarden Euro einsparen, ohne Schulen zu schließen, Kindergärten zu schließen und den Straßenbau einzustellen. Das wäre für einen Wirtschaftsstandort ein unverantwortliches Verhalten, zumal der Staat, dann auch als Investor ausfallen würde. Wir sind als Stadt großer Investor in Hamburg, auch mit unseren 300 öffentlichen Unternehmen. Wir investieren jährlich 2 Milliarden Euro. Wir werden in dieser Krise nicht den Fehler machen, unsere Investitionen jetzt zurückzufahren. Im Gegenteil: Wir werden nicht nur trotz der Steuerausfälle unsere veranschlagten Investitionen in voller Höhe fahren, sondern wir werden – zusammen mit Bundeskonjunkturprogrammen – zusätzlich weitere 500 Millionen Euro auf den Weg bringen, um die Unternehmen zu stärken, die Wirtschaft anzukurbeln und Arbeitsplätze zu sichern. VIII

Grußwort

Eine weitere Möglichkeit, der Haushaltskrise zu begegnen, wäre eine umfangreiche Privatisierung öffentlichen Eigentums. Davor kann ich nur warnen. Wer Privatisierungen aus einer Kassennotlage heraus unternimmt, der begeht einen Fehler. Es gibt viele Beispiele für Gebietskörperschaften in der Bundesrepublik Deutschland, die sich in einer finanziell schwierigen Lage ihrer Vermögensposition entledigt haben. Der Effekt war ein kurzfristiges Strohfeuer im Haushalt durch die Einnahmen. Aber ohne einen grundlegend konsolidierten Haushalt ist ein solcher Effekt nicht von Dauer – und im nächsten Jahr haben sie erneut Haushaltslöcher. Doch dann haben Sie kein Tafelsilber mehr. Und sie können in ihrer eigenen Stadt nicht mehr gestalten, weil sie die Infrastruktur aus der Hand gegeben haben. Wir haben uns – als einziges Bundesland übrigens – für einen besonderen Weg entschieden und in Höhe der fehlenden 6 Milliarden Euro eine Nettokreditaufnahme als Sondervermögen auf den Weg gebracht. Dieses Sondervermögen ist zwar Teil des Gesamthaushaltes, wird aber insoweit separiert, als wir diese Neuverschuldung in dem Moment zurückzahlen, wenn die Steuereinnahmen durch Konjunkturerholung wieder nach oben gehen. Insofern ist in diesem Sondervermögen eine Tilgungsautomatik eingebaut. Die zweite eingebaute Schranke legt fest, dass wir sämtliche Zinsen für diese 6 Milliarden ab sofort durch aktuelle Sparmaßnahmen im Haushalt verdienen. So belasten wir nicht die Folgegenerationen und verhindern, dass unsere Kinder noch in Jahrzehnten mit den Folgen dieser Wirtschaftskrise zu kämpfen haben. Das ist ein sehr anspruchsvoller, ein sehr schwerer Weg, den wir dadurch flankieren, Herr Professor Lüdicke hat es eben angesprochen, dass der Hamburger Senat in der letzten Woche Sparmaßnahmen für die nächsten Jahre in Höhe von über 1 Milliarde Euro auf den Weg gebracht hat. Diese Maßnahmen werden so verträglich eingesteuert, dass eben nicht die Infrastruktur der Stadt leidet oder öffentliche Einrichtungen der Stadt geschlossen werden und auch dass der soziale Friede weiterhin erhalten bleibt. Und auch wenn manchmal der Eindruck erweckt wird, als wären Sparmaßnahmen schon ausgeschöpft, so gibt es doch immer wieder noch Möglichkeiten, intelligent einzusparen. Wir sind nach wie vor so aufgestellt in den öffentlichen Unternehmen und den Behörden, dass wir finanzielle Spielräume erwirtschaften können. Der Staat tut alles, um der Finanzkrise zu begegnen – hierzu gehört es, in einer solchen Notlage auch den Bürgerinnen und Bürgern Gebührenerhöhungen und IX

Grußwort

Fahrpreiserhöhungen zuzumuten. Dieser Beitrag, den jeder einzelne erbringen muss, lässt sich nicht vermeiden. Alles andere wäre eine unverantwortliche Politik zu Lasten der Zukunft. Insofern sehen Sie uns trotz der schweren Krise nach wie vor auf einem fiskalisch guten Weg. Für die Bundesebene mache ich mir hingegen Sorgen. Dor war für das Jahr 2010 eine relativ moderate Nettokreditaufnahme von 6 Milliarden Euro vorgesehen. Jetzt nimmt der Bund 86 Milliarden Euro auf. Das ist mittlerweile ein Volumen, das kaum noch zu beherrschen ist. Der Bund hat nicht die Vermögensreserven wie Hamburg. Wir haben hohe Vermögenswerte: Die Hälfte der Stadtfläche gehört der Stadt und den öffentlichen Unternehmen. Hier liegen erhebliche Reserven. Wir sind auch Inhaber des Baurechts und können aus jedem Acker gewissermaßen ein Wohngebiet machen und sozusagen stille Reserven damit schöpfen. Das kann der Bund nicht. Hamburg ist, wie eingangs erwähnt, an über 300 Unternehmen beteiligt, die überwiegend gut funktionieren. Aber in der Krise gibt es auch Abschreibungspositionen, die nicht vorausschaubar waren. Wir sind seit kurzer Zeit an Hapag Lloyd beteiligt. Und ausgerechnet jetzt haben wir die schwerste Schifffahrtskrise und müssen natürlich auch hier stabilisieren, und zusammen mit dem Bund und den Gesellschaftern das Unternehmen durch die Krise steuern. Von der HSH Nordbank ganz zu schweigen. Aber es sind auch klassische Unternehmen in der Hafenwirtschaft, die jetzt erheblich leiden. Hamburg hat als Exportstandort natürlich ein fiskalisches Problem, wenn ein Drittel des Containerumschlags wegbricht. Das merken wir über die eigenen Unternehmensbeteiligungen im Hamburger Hafen und ich merke es sehr massiv beim Steueraufkommen. Das Körperschaftsteueraufkommen, meine Damen und Herren, ist in diesem Jahr um 87 % eingebrochen. Das haben wir noch nie gehabt. Und Hamburg ist beim Körperschaftsteuervolumen eigentlich immer gut gefahren. Auch im Einkommensteuerbereich, im Lohnsteuerbereich gibt es erhebliche Einbrüche, wenngleich hier wieder zarte Pflanzen der Besserung zu erkennen sind. Nach 5 % Minus-Wachstum in 2009, einem Rekord in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, werden für das nächste Jahr 1,2 Prozentpunkte Wachstum angekündigt. Und das spielt dann natürlich auch in den Steuerschätzungen schon wieder eine erhebliche Rolle. Wir sind noch nicht durch die Krise, aber ich glaube, die konzertierten Maßnahmen zwischen Staat und Wirtschaft greifen. X

Grußwort

Wir sind Teil der internationalen Wirtschaft. Wir müssen sehen, dass wir deren Rahmenbedingungen, und damit schließt sich auch der Kreis zu Ihrer Tagung, so ausgestalten, dass sowohl Unternehmen als auch Staaten gut und vernünftig arbeiten können. Und ich sehe hier noch erheblichen Handlungsbedarf. Herr Professor Lüdicke hat ja einige Stichwort genannt. Hamburg ist auch beim Bürgerentlastungsgesetz bei der Krankenversicherung sehr engagiert gewesen. Dort haben wir versucht, die Regelung zu optimieren. Und nicht zuletzt aufgrund der von Hamburg ausgehenden Impulse wurde auch die Mantelkaufregelung in § 8c KStG insofern abgemildert, dass eine Sanierungsklausel hinzugefügt worden ist und diese bewirkt, dass eben bei Kapitalgesellschaften in Sanierungsfällen auch bei wesentlichen Anteilseignerwechseln die Verlustvorträge erhalten bleiben. Das hat natürlich für die betroffenen Unternehmen deutliche Auswirkungen. Wir werden uns auch zum Koalitionsvertrag im Bund einbringen. Es gibt einige Änderungen, die die neue Bundesregierung auf den Weg gebracht hat oder bringen möchte. Es beginnt mit dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz zum 1. Januar 2010, mit dem wir als Länder wegen der fehlenden ausreichenden Kompensation für uns nicht sehr glücklich sind. Der Bund darf nicht, ich habe das mal so genannt, sein Kotelett mit dem Fett der Länder braten. Mit unserem Geld werden Steuererleichterungen verteilt, ohne dass die Länder ausreichende Kompensation erhalten. Deshalb finden Sie im Moment auch in den Medien eine recht angeregte Auseinandersetzung quer durch alle Parteien. Jeder kämpft für seine Interessenlagen und der Bund muss hier natürlich nachliefern, auch für die weiteren Steuermaßnahmen. Es kann nicht sein, dass sich sozusagen die Versprechen des Bundes in der Kasse der Länder abspielen. Es muss hier ein fairer Interessenausgleich stattfinden. Und ich kann Ihnen versichern, es gibt dort im Moment sehr intensive Gespräche im Hintergrund. Wir versuchen, eine Lösung herbeizuführen. Und wir werden das, so denke ich, auch hinbekommen. Die Neuregelung der Funktionsverlagerung, auch ein Diskussionsthema heute Nachmittag, ist für den Forschungs- und Entwicklungsstandort Deutschland sehr wichtig. Wir werden dieses seit der Unternehmenssteuerreform sehr kontroverse Thema noch einmal gründlich durchleuchten, um so schädliche Auswirkungen, die es im Moment noch gibt, zu beseitigen und vor allen Dingen auch eine international abgestimmte Lösung auf den Weg zu bringen.

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Grußwort

Ein großes Augenmerk wird auch der Kampf gegen die internationale Steuerhinterziehung sein. Das ist ein entscheidender Punkt, besonders angesichts der Tatsache, dass die Staaten massiv in einen internationalen Wettbewerb um Besteuerungssubstrate eingetreten sind und auch die nationalen Haushalte, wie vorhin am Beispiel Hamburg geschildert, in der Krise an ihre Grenzen stoßen. Das sind bedeutsame Punkte, die Sie heute Nachmittag diskutieren werden. Wir werden Sie politisch begleiten und hoffen natürlich, das sage ich ganz offen, dass wir aus Veranstaltungen wie der heutigen einen Input in Richtung Politik bekommen. Ich kann Sie nur immer wieder ermuntern, auch den direkten Kontakt zur Legislative und zur Exekutive zu suchen. Deshalb ist es gut, dass Sie auch Vertreter aus den Finanzministerien eingeladen haben. Ich glaube, wir brauchen diesen Dialog noch mehr als bisher. Ich jedenfalls bin mit meiner Steuerverwaltung uneingeschränkt zu diesem Dialog bereit und wir halten keine Sonntagsreden, sondern wir möchten wirklich Nägel mit Köpfen machen. Ich danke in besondere Weise Herrn Professor Lüdicke stellvertretend für die Universität Hamburg, die in Zusammenarbeit mit der deutschen Vereinigung für Internationales Steuerrecht diese Tagung als ein wertvolles Forum der Auseinandersetzung mit Themen der internationalen Steuergesetzgebung erfolgreich auf den Weg bringt. Ich wünsche Ihnen allen angesichts der schwierigen Themenstellungen, die vor uns liegen, einen inspirierenden Tagungsverlauf, gute Diskussionen und vor allen Dingen wünsche ich uns allen eines: viele gute verwertbare Ergebnisse für die Praxis. Ich danke Ihnen. Dr. Michael Freytag Finanzminister der Freien und Hansestadt Hamburg

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Inhaltsverzeichnis* Seite

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grußwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Dr. Jens Schönfeld, Bonn Umsetzung der neueren EuGH-Rechtsprechung in Deutschland . . A. Wer setzt EuGH-Rechtsprechung um? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Wie wird EuGH-Rechtsprechung umgesetzt? . . . . . . . . . . . . . . . C. Ausgewählte Umsetzungsakte in Fällen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . D. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Prof. Dr. Jürgen Lüdicke, Hamburg (Diskussionsleitung) Umsetzung der neueren EuGH-Rechtsprechung in Deutschland . . Podiumsdiskussion Prof. Dr. Arndt Schmehl, Hamburg Tendenzen und Probleme der internationalen Zusammenarbeit im Steuerverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. Die unvermutete Rasanz der jüngeren Entwicklung . . . . . . . . . . B. Die aktuellen Tendenzen und ihre Probleme . . . . . . . . . . . . . . . . C. Der OECD-Standard der Zusammenarbeit und die neuen Vereinbarungen Deutschlands . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . D. Das Steuerhinterziehungsbekämpfungsgesetz . . . . . . . . . . . . . . . E. Fazit und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prof. Dr. Jürgen Lüdicke, Hamburg (Diskussionsleitung) Tendenzen und Probleme der internationalen Zusammenarbeit im Steuerverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Podiumsdiskussion Martin Reinhold, München Besteuerungsfragen bei internationaler Personalentsendung . . . . . . A. Der wirtschaftliche Arbeitgeber gem. Art. 15 Abs. 2 Buchst. b) des OECD-MA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ________________________

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* Ausführliche Inhaltsübersichten jeweils zu Beginn der Beiträge.

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Inhaltsverzeichnis

B. Berechung der 183 Tage nach der Neukommentierung des OECD-MA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Besteuerung von Sachbezügen im internationalen Kontext; hier: PKW-Besteuerung an Hand von einigen Beispielsländern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prof. Dr. Jürgen Lüdicke, Hamburg (Diskussionsleitung) Besteuerungsfragen bei internationaler Personalentsendung . . . . . . Podiumsdiskussion Dr. Thomas Eisgruber, München Entstrickung und Verstrickung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. Ausgangspunkt: Die Aufgabe der finalen Entnahmetheorie . . . B. Andere Ansätze bei übergehenden Betriebsstätten . . . . . . . . . . . C. Die Reaktion der Verwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . D. Versuch eines Überblicks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . E. Die maßgeblichen Vorschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prof. Dr. Jürgen Lüdicke, Hamburg (Diskussionsleitung) Entstrickung und Verstrickung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Podiumsdiskussion Prof. Dr. Heinz-Klaus Kroppen, LL.M., Düsseldorf Business Restructuring und Funktionsverlagerung . . . . . . . . . . . . . A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Begriff der Funktionsverlagerung/des Business Restructuring . C. Rechtsfolgen der Funktionsverlagerung/des Business Restructuring . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . D. Übertragung eines Geschäftswerts? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . E. Berücksichtigung von Handlungsalternativen . . . . . . . . . . . . . . . F. Atomisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . G. Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Prof. Dr. Jürgen Lüdicke, Hamburg (Diskussionsleitung) Business Restructuring und Funktionsverlagerung . . . . . . . . . . . . . Podiumsdiskussion

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Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Umsetzung der neueren EuGH-Rechtsprechung in Deutschland Dr. Jens Schönfeld Dipl.-Kaufmann, Rechtsanwalt, Fachanwalt für Steuerrecht, Flick Gocke Schaumburg, Bonn

Inhaltsübersicht A. Wer setzt EuGH-Rechtsprechung um? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 B. Wie wird EuGH-Rechtsprechung umgesetzt? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Umsetzung durch die Legislative . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Positive Gesetzesänderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Negative Gesetzesänderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Beachtung allgemeiner Rechtsgrundsätze . . . . . . . . . . 4. Jüngere legislative Umsetzungsakte im Überblick . . . . . II. Umsetzung durch die Exekutive . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Anwendung im Einzelfall durch Verwaltungsakt . . . . . . 2. Anwendung in allen Fällen durch Erlass . . . . . . . . . . . . . . 3. Nichtanwendung in allen Fällen durch Nichtanwendungserlass . . . . . . . . . . . . . . . a) Nichtanwendungserlass zu Betriebsstättenverlusten . . . . . . . . . . . . . . b) Nichtanwendungserlass zur Kapitalverkehrsfreiheit im Verhältnis zu Drittstaaten . . . . . . . . . . . .

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III. Umsetzung durch die Judikative . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 C. Ausgewählte Umsetzungsakte in Fällen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fall 1: „Der Wegzug des reichen Kapitalanlegers nach Belgien und dann in die Schweiz“ . . . . . . . . . . . . . . . Fall 2: „… oder zur schönen Tochter Liechtenstein“ . . . Fall 3: „… oder doch lieber auf die Insel“ . . . . . . . . . . . . . . . Fall 4: „Mehr als ein Leben lang“ . Fall 5: „Die ‚unselbständige‘ Finanzierungsgesellschaft“ . . . . . . . . . . . . . . . . Fall 6: „Die ‚vielfältige‘ Finanzierungsgesellschaft“ . . . . . Fall 7: „Fehlende Beherrschung mit Folgen“ . . . . . . . . . . . . . Fall 8: „Immer diese Nachweisprobleme“ . . . . . . . . . . . . . . Fall 9: „Probleme beim Informationsaustausch“ . . . . . . . . . Fall 10: „Die weltweite Kapitalverkehrsfreiheit“ . . . . . . .

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D. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 9

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Schönfeld – Umsetzung der neueren EuGH-Rechtsprechung in Deutschland

A. Wer setzt EuGH-Rechtsprechung um? Bei der Befassung mit der Thematik stellt sich zunächst die Frage: Wer setzt eigentlich EuGH-Rechtsprechung um? Anders als man vielleicht bei erster Betrachtung meint, ist dazu nicht nur die Legislative berufen. Vielmehr sind alle drei Gewalten zur Umsetzung der EuGH-Rechtsprechung verpflichtet. Warum? Der EuGH konkretisiert durch seine Rechtsprechung primäres und sekundäres Gemeinschaftsrecht.1 Das so konkretisierte Gemeinschaftsrecht begründet aufgrund des sog. Anwendungsvorranges zwar primär einen Rechtsanwendungsbefehl, der sich unmittelbar an die Exekutive und Judikative richtet. Zur Ermöglichung einer dem verfassungsrechtlichen Gebot des Vorbehaltes des Gesetzes genügenden Rechtsanwendung folgt aus dem Anwendungsvorrang des EU-Rechts aber zugleich ein Rechtsumsetzungsbefehl, der die Legislative betrifft.2

B. Wie wird EuGH-Rechtsprechung umgesetzt? I. Umsetzung durch die Legislative 1. Positive Gesetzesänderungen Die weitere Frage ist, wie die einzelnen Gewalten die EuGH-Rechtsprechung konkret umsetzen. Die Legislative kann einmal durch positive Gesetzesänderungen auf solche Entscheidungen des EuGH reagieren, die sich entweder speziell auf deutsch-steuerrechtliche Regelungen beziehen oder auf ausländische Vorschriften, die über ein vergleichbares deutschen Pendant verfügen. Ein Beispiel dafür ist die Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Cadbury Schweppes zur britischen Hinzurechnungsbesteuerung.3 Der deutsche Gesetzgeber nahm diese Entscheidung zum Anlass, im Rahmen der deutschen Hinzurechnungsbesteuerung für Zwischengesellschaften mit Sitz oder Geschäftsleitung in einem EU-/EWR-Staat die Möglichkeit des Gegenbeweises (einer tatsächlichen wirtschaftlichen Tätigkeit) in § 8 Abs. 2 AStG zuzulassen. ________________________ 1 Nachfolgend soll dabei ausschließlich die Rechtsprechung zu den bislang nur in Teilbereichen harmonisierten direkten Steuern betrachtet werden; die indirekten Steuern sind nicht Gegenstand des Beitrages. 2 Zum Problem vgl. Gosch, DStR 2007, 1553 ff.; Gosch, Ubg 2009, 73 ff. 3 EuGH v. 12.9.2006 – Rs. C-196/04 – Cadbury Schweppes, Slg. 2006, I-7995.

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Schönfeld – Umsetzung der neueren EuGH-Rechtsprechung in Deutschland

2. Negative Gesetzesänderungen Der Gesetzgeber kann aber auch durch negative Gesetzesänderungen auf EuGH-Entscheidungen reagieren. Das ist immer dann denkbar, wenn der EuGH eine nationale Vorschrift für vereinbar mit EU-Recht hält und der nationale Gesetzgeber dies durch eine ergänzende Regelung zusätzlich abzusichern sucht. Ein solcher Fall ist die Änderung des § 20 Abs. 2 AStG durch das JStG 2008: Der von § 20 Abs. 2 AStG i. d. F. vor Änderung durch das JStG 2008 ausgehende treaty override diente ursprünglich dazu, eine Umgehung der §§ 7 bis 14 AStG durch Zwischenschaltung einer ausländischen Betriebsstätte (anstelle einer ausländischen Kapitalgesellschaft) zu verhindern. Gesetzestechnisch wurde dies dadurch bewirkt, dass § 20 Abs. 2 AStG i. d. F. vor Änderung durch das JStG 2008 eine hypothetische Prüfung forderte: Die ausländischen Betriebsstätteneinkünfte mussten als Zwischeneinkünfte steuerpflichtig sein, falls die ausländische Betriebsstätte eine ausländische Gesellschaft i. S. von § 7 AStG wäre. Im Schrifttum wurde darin eine Beschränkung der Grundfreiheiten des EG-Vertrages (seit 1.12.2009: Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union, AEUV) gesehen.4 Das FG Münster legte diese Frage – in der Rechtssache Columbus Container Services – dem EuGH zur Vorabentscheidung vor.5 Der EuGH hielt die Regelung für vereinbar mit EU-Recht.6 Weil aber die Anwendung der §§ 7 bis 14 AStG nach Cadbury Schweppes beim Nachweis einer tatsächlichen Tätigkeit zu unterbleiben hat, bestand die Gefahr, dass aufgrund der ursprünglichen Regelungstechnik des § 20 Abs. 2 AStG i. d. F. vor Änderung durch das JStG 2008 die EU-Rechtswidrigkeit der §§ 7 bis 14 AStG und damit der gebotene Gegenbeweis in § 20 Abs. 2 AStG (mittelbar) hineinwirkt.7 Daher regelte der Gesetzgeber des JStG 2008, dass die oben beschrie________________________ 4 Vgl. grundlegend Seer, IStR 1997, 520 ff.; ferner Ribbrock, IStR 2005, 636 f.; Körner, IStR 2005, 637; Körner, IStR 2004, 697, 704 f.; Jacobs, Internationale Unternehmensbesteuerung, 2002, 524; Musil, Deutsches Treaty Overriding und seine Vereinbarkeit mit Europäischem Gemeinschaftsrecht, 2000, S. 119 ff.; Schaumburg, Internationales Steuerrecht, 1998, Rz. 10.295; Schollmeier, EWS 1992, 137, 141. 5 FG Münster v. 5.7.2005 – 15 K 1114/99, IStR 2005, 631. 6 EuGH v. 6.12.2007 – Rs. C-298/05 – Columbus Container Services, Slg. 2007, I-10451. 7 Vgl. Haun/Käshammer/Reiser, GmbHR 2007, 184 (188); Rainer/Müller, IStR 2007, 151 (152); Köhler/Eicker, DStR 2007, 331 (334); Wassermeyer/Schönfeld in Flick/ Wassermeyer/Baumhoff, § 20 AStG Rz. 151.5 ff.

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Schönfeld – Umsetzung der neueren EuGH-Rechtsprechung in Deutschland

bene hypothetische Prüfung „ungeachtet des § 8 Abs. 2“ AStG zu erfolgen hat. Da die Änderung aber gemäß § 21 Abs. 17 AStG erst für nach dem 31.12.2007 beginnende Wirtschaftsjahre gilt, bleibt es jedenfalls für § 20 Abs. 2 AStG i. d. F. vor Änderung durch das JStG 2008 bei den beschriebenen mittelbaren EU-Rechtswirkungen. Der BFH hat dies in der Causa Columbus Container Services am 21.10.2009 bestätigt und deutet dabei an, dass selbst die gegenwärtige Regelung nach wie vor mit EU-Recht kollidieren soll.8 3. Beachtung allgemeiner Rechtsgrundsätze Der Gesetzgeber reagiert aber nicht nur auf EuGH-Entscheidungen zu speziellen nationalen Steuerrechtsvorschriften. Er geht auch zunehmend dazu über, bei der Schaffung neuer Gesetze die vom EuGH erarbeiteten allgemeinen Rechtsgrundsätze zu beachten. Ein Beispiel dafür ist die Einbeziehung von EU-/EWR-Gesellschaften in den Anwendungsbereich von § 13b Abs. 1 Nr. 3 ErbStG n. F. Vor 20 Jahren wäre dies noch kaum denkbar gewesen, was aber auch zeigt, dass das EURecht als Teil der eigenen Rechtsordnung mittlerweile (weitgehend) akzeptiert ist. 4. Jüngere legislative Umsetzungsakte im Überblick Jedenfalls hat man zu konstatieren, dass die Rechtsprechung des EuGH zu den direkten Steuern in jüngster Vergangenheit einen erheblichen Einfluss auf die deutsche Steuergesetzgebung hatte. Einige Beispiele sollen das verdeutlichen: – Negative Einkünfte mit Auslandsbezug (§ 2a EStG) als Reaktion auf EuGH vom 29.3.2007:9 Danach verstößt die Verlustverrechnungsbeschränkung für Teilwertabschreibungen auf ausländische Anteile (§ 2a Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 EStG a. F.) gegen Art. 49 AEUV. Die Neuregelung beschränkt den Anwendungsbereich von § 2a EStG daher auf Drittstaatensachverhalte.

________________________ 8 BFH v. 21.10.2009 – I R 114/08, GmbHR 2010, 215. 9 EuGH v. 29.3.2007 – Rs. C-347/04 – Rewe Zentralfinanz, Slg. 2007, I-2647.

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– Abzug von Schulgeldzahlungen (§ 10 Abs. 1 Nr. 9 EStG) als Reaktion auf EuGH vom 11.9.2007:10 Danach verstößt die Beschränkung des Abzuges von 30 % des Schulgeldes auf inländische Privatschulen gegen Art. 21, 45, 49, 56 AEUV. Nach der Neuregelung werden Schulgelder privater Schulen im EU-/EWR-Raum (unter weiteren Voraussetzungen) zum Sonderausgabenabzug zugelassen, jedoch begrenzt auf maximal 5.000 Euro. – Steuerbegünstigung für ausländische Körperschaften (§ 5 Abs. 2 Nr. 2 KStG n. F.) sowie Abzug von Zuwendungen zur Förderung steuerbegünstigter Zwecke (§ 10b EStG i. V. m. § 51 Abs. 2 AO) als Reaktion auf EuGH vom 14.9.2006:11 Danach verstößt die generelle Ausnahme beschränkt Steuerpflichtiger von der Steuerbefreiung nach § 5 Abs. 1 Nr. 9 KStG gegen EU-Recht, allerdings soll ein struktureller Inlandsbezug EU-rechtlich zulässig sein. Nach der Neuregelung ist die Steuerbefreiung auch für EU-/EWR-Gesellschaften möglich, sofern natürliche Personen mit Wohnsitz oder gewöhnlichem Aufenthalt im Inland gefördert werden oder die Tätigkeit zumindest zum Ansehen der Bundesrepublik im Ausland beitragen kann. – Verluste beschränkt Steuerpflichtiger (§ 50 Abs. 1 Satz 2 EStG a. F.) als Reaktion auf EuGH vom 15.5.1997:12 Bis zum JStG 2009 war die Anwendung von § 10d EStG im Rahmen der beschränkten Steuerpflicht davon abhängig, dass entsprechende Unterlagen dazu im Inland aufbewahrt werden. Die Regelung ist nunmehr aufgehoben. – Mindeststeuersatz für beschränkt Steuerpflichtige (§ 50 Abs. 3 Satz 2 EStG a. F.) als Reaktion auf EuGH vom 11.6.2003:13 Danach verstößt ein nur für beschränkt Steuerpflichtige geltender Mindeststeuersatz von 25 % gegen EU-Recht, wenn dessen Anwendung zu einer höheren Steuer führt, als sich bei einer Anwendung des progressiven Steuertarifs zzgl. eines Betrages in Höhe des Grundfreibetrags ergäbe. Nach der Neuregelung ist die Anwendung des progressiver Tarifs vorgesehen (Berücksichtigung des Grundfreibetrages aber nur unter den Voraussetzungen von § 1 Abs. 3 EStG).

________________________ 10 EuGH v. 11.9.2007 – Rs. C-76/05 und C-318/05 – Schwarz et al., Kommission ./. Deutschland, Slg. 2007, I-6849, 6957. 11 EuGH v. 14.9.2006 – Rs. C-386/04 – Stauffer, Slg. 2006, I-8203. 12 EuGH v. 15.5.1997 – Rs. C-250/95 – Futura, Slg. 1997, I-2471. 13 EuGH v. 11.6.2003 – Rs. C-234/01 – Gerritse, Slg. 2003, I-5933.

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– Abgeltungswirkung für beschränkt Steuerpflichtige (§ 50 Abs. 5 Satz 1 EStG a. F.) als Reaktion u. a. auf EuGH vom 11.6.2003:14 Danach verstößt die auf beschränkt Steuerpflichtige begrenzte Abgeltungswirkung ohne Veranlagungsmöglichkeit (Bruttobesteuerung) gegen EU-Recht. Nach der Neuregelung besteht eine Veranlagungsoption (§ 50 Abs. 2 Satz 2 EStG mit Nettobesteuerung; ausgenommen Rechteverwertung). – Berücksichtigung von Betriebsausgaben/Werbungskosten beim Steuerabzug (§ 50a Abs. 3 EStG n. F.) als Reaktion auf EuGH vom 3.10.2006:15 Danach begründet die Bruttobesteuerung bei beschränkt Steuerpflichtigen auch im Rahmen des Steuerabzuges einen EURechtsverstoß, sofern bei unbeschränkt Steuerpflichtigen eine Nettobesteuerung zur Anwendung gelangt. Nach der Neuregelung können in unmittelbarem wirtschaftlichen Zusammenhang stehende Betriebsausgaben/Werbungskosten bei entsprechendem Nachweis durch EU-/EWR-Ansässige im Abzugsverfahren geltend gemacht werden (alternativ kann nach § 50a Abs. 2 EStG aus Vereinfachungsgründen ein Steuersatz von 15 % auf die Bruttobezüge angewandt werden). – Wegzugsbesteuerung (§ 6 Abs. 5 AStG n. F.) als Reaktion auf EuGH vom 11.3.2004:16 Danach verstößt die sofortige Besteuerung von stillen Reserven in Wertpapieren im Falle der Verlegung des steuerlichen Wohnsitzes innerhalb des EU-Raumes gegen EU-Recht. Nach der Neuregelung erfolgt zwar eine Festsetzung der Wegzugssteuer, aber zugleich eine zeitlich unbefristete und zinslose Stundung bis zur tatsächlichen Realisation der stillen Reserven.17 – Hinzurechnungsbesteuerung (§ 8 Abs. 2 AStG n. F.) als Reaktion auf EuGH vom 12.9.2006:18 Danach verstößt die Missbrauchstypisierung durch die (britische) Hinzurechnungsbesteuerung gegen EU-Recht, sofern nicht im Einzelfall der Gegenbeweis möglich ist, dass die ausländische Gesellschaft (sog. Controlled Foreign Company) eine „wirkliche wirtschaftliche Tätigkeit im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats entfaltet“. Nach der (deutschen) Neuregelung ist der Gegenbeweis für solche inländischen Anteilseigner zugelassen, ________________________ 14 15 16 17 18

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EuGH v. 11.6.2003 – Rs. C-234/01 – Gerritse, Slg. 2003, I-5933. EuGH v. 3.10.2006 – Rs. C-290/04 – Skorpio, Slg. 2006, I-9461. EuGH v. 11.3.2004 – Rs. C-9/02 – de Lasteyrie de Saillant, Slg. 2004, I-2409. Zur Kritik s. u. C. Fälle 1. bis 4. EuGH v. 12.9.2006 – Rs. C-196/04 – Cadbury Schweppes, Slg. 2006, I-7995.

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die allein oder zusammen mit anderen unbeschränkt Steuerpflichtigen beherrschend an EU-/EWR-Gesellschaften beteiligt sind.19 – Ausländische Familienstiftungen (§ 15 Abs. 6 AStG n. F.) als Reaktion ebenfalls auf EuGH vom 12.9.200620 sowie auf Vertragsverletzungsverfahren der Europäischen Kommission vom 23.7.2007:21 Die Zurechnung nach § 15 AStG verletzt EU-Recht, sofern nicht im Einzelfall der Nachweis möglich ist, dass die ausländische Familienstiftung keine rein künstliche Konstruktion zur Umgehung des deutschen Steuerrechts darstellt (EU-Kommission noch weitergehender). Nach der Neuregelung ist der Nachweis möglich, dass das Stiftungsvermögen von EU-/EWR-Stiftungen den in § 15 Abs. 2 und 3 AStG genannten Personen „rechtlich und tatsächlich entzogen ist“. – Treaty Override bei ausländischen Betriebsstätten (§ 20 Abs. 2 AStG n. F.) als Reaktion auf EuGH vom 6.12.2007:22 Danach verstößt der von § 20 Abs. 2 AStG ausgehende treaty override von DBABetriebsstättenfreistellung zu Anrechnungsmethode nicht gegen EURecht. Die Neuregelung in § 8 Abs. 2 AStG23 (Grundsätze aus Cadbury Schweppes) zur Hinzurechnungsbesteuerung würde aber aufgrund hypothetischer Prüfung des § 20 Abs. 2 AStG auf diese Regelung durchschlagen, so dass die Anwendung von § 8 Abs. 2 AStG innerhalb von § 20 Abs. 2 AStG ab WJ 2008 ausdrücklich ausgeschlossen ist.24

II. Umsetzung durch die Exekutive 1. Anwendung im Einzelfall durch Verwaltungsakt Auch die Exekutive, in unserem Fall also die Finanzverwaltung, geht zunehmend dazu über, die Rechtsprechung des EuGH bei der Rechtsanwendung zu beachten und damit umzusetzen. Dabei muss man allerdings Verständnis dafür haben, dass der einzelne Beamte eher zurückhaltend mit einer Nichtanwendung deutscher Steuergesetze umgeht (obwohl rechtlich der Anwendungsvorrang des EU-Rechtes auch die ________________________ 19 Gesellschafter i. S. von § 7 Abs. 6 AStG sind ausgenommen; zu Auslegungsproblemen sowie zur Kritik s. u. C. Fälle 5. bis 11. 20 EuGH v. 12.9.2006 – Rs. C-196/04 – Cadbury Schweppes, Slg. 2006, I-7995. 21 Aktenzeichen: 2003/4610. 22 EuGH v. 6.12.2007 – Rs. C-298/05 – Columbus Container, Slg. 2007, I-10451. 23 S. o. zur Hinzurechnungsbesteuerung. 24 S. ausführlich oben B. I. 2.

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Finanzverwaltung bindet). Gleichwohl kommen in der Praxis entsprechende Fälle vor, in denen im Einzelfall die EuGH-Rechtsprechung (auch ohne BMF- oder Länderschreiben) beachtet wird. Zu nennen ist hier z. B. die zinslose Stundung von Wegzugsteuer vor Anfügung von § 6 Abs. 5 AStG, also ohne entsprechende Rechtsgrundlage. Der BFH hat dieses Vorgehen akzeptiert, weil der Vertrauensschutz des Steuerpflichtigen in die Nichtanwendung nationaler Vorschriften nicht weiter gehen können soll als der vom EU-Recht vermittelte Schutz.25 Es spricht viel für diese Sichtweise. Der EuGH hat jedoch in anderem Zusammenhang (allerdings in älterer Rechtsprechung) angedeutet, dass eine Beschränkung der Grundfreiheiten nur durch verpflichtende Rechtsnormen beseitigt werden kann.26 Hierfür spricht, dass Steuerpflichtige anderenfalls von grenzüberschreitenden Aktivitäten (z. B. Wegzug) abgehalten werden würden, wenn die Rechtsfolgen ihres Handelns nicht im Zeitpunkt der Vornahme der Handlung feststehen. 2. Anwendung in allen Fällen durch Erlass In vielen Fällen setzt sich die Finanzverwaltung schließlich offen mit EuGH-Rechtsprechung auseinander und ordnet im Erlasswege (in aller Regel bis zur Schaffung einer gesetzlichen Regelung) an, dass die betreffende nationale Vorschrift unter Beachtung der EuGH-Rechtsprechung anzuwenden ist. Dazu gehören z. B. die BMF-Schreiben zur Zulassung des Gegenbeweises im Rahmen von § 15 AStG a. F. für ausländische Familienstiftungen27 sowie im Rahmen von §§ 7 bis 14 AStG a. F. für Zwecke der Hinzurechnungsbesteuerung.28 3. Nichtanwendung in allen Fällen durch Nichtanwendungserlass Letztlich reagiert die Finanzverwaltung in jüngster Zeit auch mit sog. „Nichtanwendungserlassen“. Dabei richten sich die Erlasse nicht un________________________ 25 Vgl. BFH v. 23.9.2008 – I B 92/08, BStBl. II 2009, 524; kritisch zu der Entscheidung z. B. Beiser, IStR 2009, 236; Häck in Haase, AStG/DBA, § 6 AStG Rz. 17 ff.; Intemann, NWB, Fach 2, Wegzugsbesteuerung, 10101; Wassermeyer, NJW 2009, 112; allerdings bestätigt durch BFH v. 25.8.2009 – I R 88, 89/07, IStR 2009, 895, m. Anm. Schönfeld. 26 Vgl. EuGH v. 8.5.1990 – Rs. 175/88 –, Biehl, Slg. 1990, I-1779, Rz. 18; bestätigt in EuGH v. 26.10.1995 – Rs. C-151/94 – Kommission vs. Luxemburg, Slg. 1995, I-3685, Rz. 18; v. 14.2.1995 – Rs. C-279/93 – Schumacker, Slg. 1995, I-225, Rz. 56 f. 27 BMF v. 14.5.2008, BStBl. I 2008, 638. 28 BMF v. 8.1.2007, BStBl. I 2007, 99.

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mittelbar gegen Entscheidungen des EuGH, aber doch zumindest mittelbar, indem unter Beachtung von EuGH-Rechtsprechung ergangene BFH-Entscheidungen mit einem Nichtanwendungserlass belegt werden. a) Nichtanwendungserlass zu Betriebsstättenverlusten So hat beispielsweise der BFH29 in konsequenter Anwendung der Rechtsprechung des EuGH in der Rechtssache Lidl Belgium30 entschieden, dass Verluste aus einer ausländischen Betriebsstätte, deren Einkünfte nach einem DBA im Inland steuerfrei gestellt sind, im Verlustentstehungsjahr mit inländischen Stammhausgewinnen verrechnet werden können, sofern und soweit der Steuerpflichtige den Nachweis erbringt, dass diese Verluste im Betriebsstättenstaat unter keinen Umständen verwertbar sind. Mit BMF-Schreiben vom 13.7.200931 wurde mit nicht wirklich überzeugender Begründung angeordnet, dass diese Urteilsgrundsätze nicht über den entschiedenen Einzelfall hinaus anzuwenden sind. Damit werden aber implizit die vom EuGH in der Rechtssache Lidl Belgium entwickelten Rechtsgrundsätze negiert – ein im Ergebnis nicht tragbares Ergebnis. b) Nichtanwendungserlass zur Kapitalverkehrsfreiheit im Verhältnis zu Drittstaaten Ähnlich liegt es mit dem BMF-Schreiben vom 21.3.200732 zur Rechtsprechung des BFH zur Anwendung der Kapitalverkehrsfreiheit im Verhältnis zu Drittstaaten. Hier hatte der BFH unter zutreffender Würdigung der bis dahin ergangenen EuGH-Rechtsprechung entschieden, dass die (damals auf ausländische Beteiligungserträge beschränkte) Schachtelstrafe des § 8b Abs. 5 KStG 2002 die Kapitalverkehrsfreiheit des Art. 63 AEUV im Verhältnis zum Nicht-EU-/EWR-Staat Südafrika verletzt.33 Die Finanzverwaltung hat sich dem nicht angeschlossen. Dabei ergab sich aus ständiger Rechtsprechung des EuGH, dass die Kapitalverkehrsfreiheit in einem ersten Prüfungsschritt nur dann hinter eine andere Grundfreiheit zurücktritt, wenn die konkrete nationale Vorschrift pri________________________ 29 30 31 32 33

BFH v. 17.7.2008 – I R 84/04, BStBl. II 2008, 630. EuGH v. 15.5.2008 – Rs. C-414/06 – Lidl Belgium, Slg. 2008, I-3601. BMF v. 13.7.2008, BStBl. I 2009, 835. BMF v. 21.3.2007, BStBl. I 2007, 302. BFH v. 9.8.2006 – I R 95/05, BStBl. II 2007, 279.

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mär die Beschränkung einer anderen Grundfreiheit zum Gegenstand hat.34 Im Schrifttum wurde demgegenüber – u. a. auch von Vertretern der Finanzverwaltung – teilweise geltend gemacht, dass es nicht auf den Gegenstand der beschränkenden Vorschrift ankomme, sondern auf den konkreten Sachverhalt. Liege im konkreten Sachverhalt z. B. aufgrund einer beherrschenden Beteiligung eine Niederlassungssituation vor, dann trete die Kapitalverkehrsfreiheit und damit der Drittstaatenschutz hinter die Niederlassungsfreiheit zurück.35 Bis zur Entscheidung des EuGH in der Rechtssache KBC Bank36 gab es dafür aber keinen wirklichen Rückhalt in der Rechtsprechung des EuGH. Zwar hat der EuGH nach der Prüfung der „Normenkonkurrenz“ teilweise in einem zweiten Prüfungsschritt auf den konkreten Sachverhalt abgehoben, jedoch nur im Sinne einer Verprobung der Richtigkeit des im ersten Prüfungsschritt gefundenen Ergebnisses am Sachverhalt.37 D. h. der EuGH hat letztlich geprüft, ob die Verdrängung der Kapitalverkehrsfreiheit aufgrund der Beschränkungsrichtung der konkreten Norm seine Bestätigung im konkreten Sachverhalt findet, ob also z. B. das Zurücktreten der Kapitalverkehrsfreiheit (hinter die Niederlassungsfreiheit) aufgrund einer Vorschrift, die eine Niederlassungssituation tatbestandlich voraussetzt (z. B. beherrschende Beteiligung), ihre Bestätigung im Sachverhalt findet, weil im konkreten Fall auch wirklich eine Niederlassungssituation (z. B. beherrschende Beteiligung) vorliegt. Erst in der Rechtssache KBC Bank38 stellt der EuGH die Normen- und Sachverhaltsprüfung scheinbar unabhängig nebeneinander, allerdings unter Hinweis auf Tz. 81 des Urteils vom 12.12.200639 und ohne zu erkennen, dass diese Entscheidung in Tz. 98 eine Verletzung der Kapitalverkehrsfreiheit bejaht. ________________________ 34 Vgl. z. B. EuGH v. 3.10.2006 – Rs. C-452/04 – Fidium Finanz AG, Slg. 2006, I-9521; v. 24.5.2007 – Rs. C-157/05 – Holböck, Slg. 2007, I-4051. 35 So z. B. Mitschke, FR 2009, 898; Musil, DB 2009, 1037. 36 EuGH v. 4.6.2009 – Rs. C-439/07 – KBC Bank, noch nicht in Slg. veröffentlicht, IStR 2009, 494, Rz. 70. 37 I. d. S. wohl EuGH v. 10.5.2007 – Rs. C-492/04 – Lasertec, Slg. 2007, I-3775, Rz. 23; v. 13.3.2007 – Rs. 524/04 – Test Claimants in the Thin Cap Group Litigation, Slg. 2007, I-2107, Rz. 32. 38 EuGH v. 4.6.2009 – Rs. C-439/07 – KBC Bank, noch nicht in Slg. veröffentlicht, IStR 2009, 494, Rz. 70. 39 EuGH v. 12.12.2006 – Rs. C-446/04 – Test Claimants in the FII Group Litigation, Slg. 2006, I-11753, Rz. 81.

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Das unabhängige Abstellen auf den Sachverhalt ist im Übrigen auch aus systematischen Gründen nicht gerechtfertigt. Denn die Fortbestandsgarantie des Art. 64 AEUV setzt genau diese Prüfung voraus40 und Art. 64 AEUV wäre daher überflüssig, wenn diese Prüfung bereits innerhalb von Art. 63 AEUV erfolgen müsste. Insoweit ist daher auch die nochmalige Entscheidung des BFH zu § 8b Abs. 5 KStG 2002 in der Sache nicht zu beanstanden, auch wenn sich aus Gründen der „Hygiene“ vielleicht eine klarstellende Vorlage an den EuGH angeboten hätte.41 Die Finanzverwaltung hat sich gegen diese Entscheidung jedenfalls mit der Verfassungsbeschwerde zur Wehr gesetzt.42 Möglicherweise legt das Bundesverfassungsgericht diese Frage dem EuGH zur Vorabentscheidung vor.

III. Umsetzung durch die Judikative Bereits jetzt schon vielfach erwähnt worden ist die Rolle der Judikative bei der Umsetzung von EuGH-Rechtsprechung. War es früher so, dass die Rechtsprechung dieser Verpflichtung in erster Linie durch Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH nachgekommen ist, so ist heute insbesondere beim I. Senat des BFH eine deutliche Tendenz dahin zu erkennen, die eigene Souveränität zu nutzen und ohne Vorlage an den EuGH auf Grundlage der „acte clair-Doktrin“43 selbst zu entscheiden, und zwar sowohl zugunsten als auch zuungunsten des Steuerpflichtigen. Diese Vorgehensweise ist sicherlich gerechtfertigt, weil die EuGHRechtsprechung der vergangenen 10 Jahre zu einer deutlichen Schärfung der Konturen des EU-Rechts und hier insbesondere der Grundfreiheiten geführt hat.

C. Ausgewählte Umsetzungsakte in Fällen Abschließend sollen Probleme und Detailfragen der Umsetzung der EuGH-Rechtsprechung im Rahmen der Wegzugs- und Hinzurechnungsbesteuerung anhand von kurzen Fällen dargestellt werden: ________________________ 40 EuGH v. 12.12.2006 – Rs. C-446/04 – Test Claimants in the FII Group Litigation, Slg. 2006, I-11753, Rz. 174 ff. 41 BFH v. 26.11.2008 – I R 7/08, IStR 2009, 244. 42 Az: 2 BvR 862/09. 43 EuGH v. 6.10.1982 – Rs. 283/81 – C.I.L.F.I.T., Slg. 1982, 3415.

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Fall 1: „Der Wegzug des reichen Kapitalanlegers nach Belgien und dann in die Schweiz“ Umzug 2009

Belgien Deutschland

Schweiz Wegzug 1998

Wesentliche Beteiligungen an deutschen Kapitalgesellschaften i.S. von § 17 EStG

Der in Deutschland seit über 20 Jahren wohnende Gustav hält – nach Lage der Dinge im „steuerrelevanten“ Umfang i. S. von § 17 EStG – Anteile an mehreren deutschen Kapitalgesellschaften. Nachdem ihm die deutsche Steuerfahndung zu nahe rückte, verzog er: zunächst nach Belgien (1998) und 11 Jahre später von dort weiter in die Schweiz (2009). Dort wohnt er jetzt vermutlich immer noch, Genaues ist aber nicht bekannt. Das FA nimmt steuerpflichtige Vorgänge gem. § 17 EStG i. V. m. § 6 AStG an und unterwarf Gustav der sog. Wegzugsteuer, wogegen er sich empört wehrt. Zu Recht? Der Fall ist der erst kürzlich veröffentlichen BFH-Entscheidung vom 25.8.200944 nachgebildet: Der I. Senat hatte bereits im Rahmen eines einstweiligen Rechtsschutzverfahrens für einen Wegzug nach Portugal zum alten Recht entschieden, dass der Anwendung von § 6 Abs. 1 AStG a. F. aus gemeinschaftsrechtlicher Sicht nicht die fehlende (geschriebene) Stundungsregelung des § 6 Abs. 5 AStG n. F. entgegensteht. Vielmehr genüge es den EU-rechtlichen Vorgaben, wenn die zuständige Finanzbehörde die im Wegzugszeitpunkt entstehende sog. Wegzugsteuer auch ohne Rechtsgrundlage stundet.45 Im vorliegenden Fall geht der BFH noch einen Schritt weiter: Auch einer Stundung bedürfe es nicht, wenn feststeht, dass diese später ohnehin zu widerrufen ist. Das ist letztlich konsequent, solange die Widerrufsgründe der Regelung in ________________________ 44 BFH v. 25.8.2009 – I R 88, 89/07, IStR 2009, 895. 45 BFH v. 23.9.2008 – I B 92/08, BStBl. II 2009, 524.

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§ 6 Abs. 5 Satz 4 AStG n. F. entsprechen und diese selbst nicht mit EURecht kollidieren (und negative Auswirkungen z. B. auf Säumniszuschläge und Zinsen während eines möglichen Stundungszeitraumes vermieden werden). Das ist vorliegend der Fall, weil Gustav nach seinem Wegzug nach Belgien weiter in die Schweiz verzogen ist, die nicht zum EU-/EWR-Raum gehört (vgl. § 6 Abs. 5 Satz 4 Nr. 4 AStG n. F.). Bemerkenswert ist allerdings, dass sich der I. Senat mit der Frage auseinandersetzte, inwieweit das zwischen der EU und der Schweiz abgeschlossene Freizügigkeitsabkommen46 eine Stundung (ggf. in entsprechender Anwendung von § 6 Abs. 5 AStG n. F.) der Wegzugsteuer erzwingt, weil das Freizügigkeitsabkommen den EU-Grundfreiheiten z. T. gleichwertige Freiheiten enthält. Das Gericht zog dies ausdrücklich in Erwägung, verneinte letztlich aber eine Anwendung des Abkommens damit, dass dieses erst nach dem streitgegenständlichen Wegzug zum 1. Juni 2002 in Kraft getreten ist. Vorliegend zieht Gustav jedoch im Jahre 2009 und damit nach Inkrafttreten des Freizügigkeitsabkommens in die Schweiz, was für eine Stundung der Wegzugsteuer (wie im Verhältnis zu EU-/EWR-Staaten) spricht. Für die Praxis bedeutet dies, dass man jedenfalls für Wegzüge in die Schweiz nach diesem Zeitpunkt eine Stundung der Wegzugsteuer in Erwägung ziehen kann (auch wenn das sicherlich nicht ohne Finanzrechtsstreit möglich sein wird).

________________________ 46 AS 2002, 1527; BBl. 1999, 6128.

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Fall 2: „… oder zur schönen Tochter Liechtenstein“ Umzug 2009

Belgien Deutschland

Liechtenstein Wegzug 1998

Wesentliche Beteiligungen an deutschen Kapitalgesellschaften i.S. von § 17 EStG

Gustav aus Fall 1 soll nicht in die Schweiz, sondern nach Liechtenstein weiterziehen. Ändert sich etwas an dem dargestellten Ergebnis? Nach dem Wortlaut von § 6 Abs. 5 Satz 2 AStG dürfte das eigentlich nicht der Fall sein. Zwar handelt es sich bei Liechtenstein (anders als bei der Schweiz) um einen EWR-Staat. Auch dürfte mit der Ratifikation des am 2.9.2009 (voraussichtlich mit Wirkung ab dem 1.1.2010) unterzeichneten Abkommens über Informationsaustausch47 die notwendige Amtshilfe in Steuersachen gegeben sein. Allerdings verlangt § 6 Abs. 5 Satz 2 AStG zusätzlich die Beitreibungshilfe, die Liechtenstein nicht gegenüber Deutschland leistet. Ob die zwingende Beitreibungshilfe aber ein dem gemeinschaftsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgebot gerecht werdendes Erfordernis ist, steht auf einem anderen Blatt. Zwar gibt es ein nachvollziehbares Bedürfnis dafür, die Beitreibung des gestundeten Steueranspruches sicherzustellen. Im Falle der fehlenden Beitreibungshilfe kann diesem Erfordernis aber auch im Wege einer Sicherheitsleistung durch den Steuerpflichtigen entsprechend Rechnung getragen werden, vorliegend also durch Gustav. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass der I. Senat bereits in dem Beschluss vom 23.9.200848 angedeutet hat, die Gemeinschaftskonformität der Wegzugsbesteuerung aufgrund Stundungslösung zwar im Grundsatz zu akzeptieren, dass es aber im Einzelfall auch Fälle geben kann, in denen § 6 Abs. 1 AStG zu überschießenden und damit ________________________ 47 BR-Drucks. 165/10. 48 BFH v. 23.9.2008 – I B 92/08, BStBl. II 2009, 524.

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EU-rechtswidrigen Ergebnissen führt. Der Fall 2 könnte (ebenso wie die folgenden Fälle) genau so ein Fall sein.

Fall 3: „… oder doch lieber auf die Insel“ Umzug 2009

Belgien Deutschland

Besteuerung auf „remittance basis“ UK

Wegzug 1998

Wesentliche Beteiligungen an deutschen Kapitalgesellschaften i.S. von § 17 EStG

Gustav aus Fall 1 soll es schließlich nach Großbritannien ziehen, wo er auf sog. „remittance basis“ besteuert wird. Ändert sich nun etwas an dem dargestellten Ergebnis? Auch hier dürfte das nach dem Wortlaut von § 6 Abs. 5 Satz 1 AStG eigentlich nicht der Fall sein. Denn danach ist erforderlich, dass Gustav im Zuzugsstaat (hier: UK) „einer der deutschen unbeschränkten Einkommensteuerpflicht vergleichbaren Steuerpflicht“ unterliegt. Eine Besteuerung auf remittance basis ist der deutschen unbeschränkten Einkommensteuerpflicht aber nicht vergleichbar, weil grds. nur die nach UK tatsächlich zufließenden Einkünfte der britischen Besteuerung unterliegen. Warum jedoch die Besteuerung im Zuzugsstaat einen Einfluss auf die EU-rechtlich gebotene Stundung der Wegzugsteuer haben soll, dafür bleibt der Gesetzgeber jede Erklärung schuldig. Der EuGH dürfte dafür vermutlich kein Verständnis haben, zumal es (insbesondere im Detail) eher zufällig sein dürfte, dass ein ausländischer Staat eine der deutschen unbeschränkten Einkommensteuerpflicht vergleichbare Steuerpflicht praktiziert.

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Fall 4: „Mehr als ein Leben lang“ 2040

Tochter

Österreich Deutschland

2095

Enkel

USA

Wegzug 1998

Wesentliche Beteiligungen an deutschen Kapitalgesellschaften i.S. von § 17 EStG

Gustav aus Fall 1 zieht schließlich nach Österreich. Dort verstirbt er im Jahre 2040 im Alter von 75 Jahren und hinterlässt die GmbHAnteile seiner ebenfalls in Österreich lebenden Tochter. Diese verstirbt im Jahre 2095 im Alter von 90 Jahren und hinterlässt die GmbHAnteile ihrem in den USA lebenden Sohn. Was sind die deutschen ertragsteuerlichen Rechtsfolgen? Die im Wegzugszeitpunkt durchgeführte Stundung ist gemäß § 6 Abs. 5 Satz 4 Nr. 2 AStG zu widerrufen, weil der Enkel in einem Staat ansässig ist, der (jedenfalls nach gegenwärtigem Stand) nicht zum EU-/EWRRaum gehört. Gleichwohl kann man sich fragen, ob dadurch das gemeinschafts- oder verfassungsrechtliche Verhältnismäßigkeitsgebot gewahrt ist. Denn wenn aus verfassungsrechtlichen Gründen selbst die Strafe für den Mörder im Grundsatz nach 15 Jahren zur Bewährung auszusetzen ist, könnte das auch für einen Nachkommen gelten, der nach vielen Jahren einen wegzugsteuerbefangenen Anteil erbt. Die österreichische Wegzugsteuer wird jedenfalls nach 10 Jahren aufgehoben.

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Fall 5: „Die ‚unselbständige‘ Finanzierungsgesellschaft“ D-AG Deutschland Malta M-Ltd.

Einkünfte aus konzerninterner Finanzierung

Die deutsche D-AG gründet eine ausländische Gesellschaft auf Malta und stattet diese mit Eigenkapital aus, welches darlehensweise an Konzerntöchter weitergegeben wird. Die Gesellschaft verfügt über eine Sekretärin, die die Darlehen nach konkreten Vorgaben der deutschen Mutter vergibt. Greift § 8 Abs. 2 AStG? Zunächst stellt sich die Frage, ob der Gegenbeweis auch für Zwischeneinkünfte mit Kapitalanlagecharakter möglich ist. Diese Frage ist sowohl nach dem BMF-Schreiben vom 8.1.200749 als auch nach § 8 Abs. 2 AStG zu bejahen.50 Lediglich dann, wenn die Voraussetzungen von § 7 Abs. 2 AStG nicht erfüllt sind (also keine Inländerbeherrschung vorliegt), sondern eine Hinzurechnungsbesteuerung nur unter den Voraussetzungen von § 7 Abs. 6 AStG in Betracht kommt, werden die insoweit speziell in den Blick genommenen Zwischeneinkünfte vom Gegenbeweis ausgenommen.51 Die hiervon abweichende Auffassung im Schrifttum,52 die den Gegenbeweis generell für Zwischeneinkünfte mit Kapitalanlagecharakter ausgeschlossen sieht, findet weder eine Grundlage im BMF-Schreiben vom 8.1.200753 noch in § 8 Abs. 2 AStG. Sie würde auch in eklatantem Widerspruch zur Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Cadbury Schweppes54 stehen, in der gerade Einkünfte konzerninterner Finanzierungsgesellschaften in Frage standen. Auch ________________________ 49 BMF v. 8.1.2007, BStBl. I 2007, 99. 50 Vgl. z. B. Wassermeyer/Schönfeld in Flick/Wassermeyer/Baumhoff, § 8 AStG Rz. 450. 51 Vgl. dazu Fall 7. 52 Z. B. Kraft in Kraft, AStG, 2009, § 8 Rz. 790. 53 BMF v. 8.1.2007, BStBl. I 2007, 99. 54 EuGH v. 12.9.2006 – Rs. C-196/04 – Cadbury Schweppes, Slg. 2006, I-7995.

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der Entscheidung des BFH vom 21.10.200955 liegen schließlich konzerninterne Finanzierungseinkünfte eines belgischen Koordinierungszentrums zugrunde, ohne dass der BFH das Führen des Gegenbeweises in Zweifel gezogen hat. Weiterhin stellt sich (ungeachtet der problematischen Frage des Ortes der Geschäftsleitung) die Frage, ob die M-Ltd. einer tatsächlichen wirtschaftlichen Tätigkeit in Malta nachgeht. Dies setzt voraus, dass die ausländische Gesellschaft über ausreichend personelle und sächliche Ressourcen verfügt, um die konkrete vermögensverwaltende Tätigkeit im Aufnahmemitgliedstaat selbständig ausüben zu können. Das ist vorliegend aufgrund des engen Tätigkeitsrahmens eigentlich der Fall. Vorliegend würde eher mehr Substanz den Anstrich des Künstlichen geben. Andererseits wird der EuGH in der Rechtssache Cadbury Schweppes den Fall vor Augen gehabt haben, dass die Anlageentscheidungen in der Gesellschaft selbst getroffen werden; insoweit also ein lebendiges Unternehmen vorhanden ist. Das meint das Gericht wahrscheinlich mit „echter“ wirtschaftlicher Tätigkeit. Die Grenzen sind jedoch fließend. Ein entscheidendes Kriterium dürfte daher sein, ob die wirtschaftliche Kernfunktion (im Beispiel die Vermögensverwaltung) von der Gesellschaft selbst ausgeübt wird, was vorliegend nicht der Fall ist. Dies wird auch von der Gesetzesbegründung so gesehen.56 Der BFH mag zwar in früheren Entscheidungen weniger strengere Kriterien angelegt haben.57 Die Rechtsprechung ist allerdings auch nicht daran gehindert, auf Grundlage des Gleichbehandlungsgrundsatzes hinter den Substanzvorgaben des EuGH zurückzubleiben. Bei einer sachlich gerechtfertigten Differenzierung ist das aber nicht zwingend.58 Insoweit ist die weitere Entwicklung der Rechtsprechung insbesondere des I. Senates des BFH abzuwarten.

________________________ 55 BFH v. 21.10.2009 – I R 114/08, GmbHR 2010, 215. 56 Vgl. BT-Drucks. 16/6290. 57 Vgl. BFH v. 19.1.2000 – I R 94/97, BStBl. II 2001, 222; v. 19.1.2000 – I R 117/97, BFH/NV 2000, 824. 58 Dazu Gosch in Kirchhof, 9. Aufl., 2010, § 50d EStG Rz. 26.

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Fall 6: „Die ‚vielfältige‘ Finanzierungsgesellschaft“ D-AG Deutschland Malta M-Ltd.

Einkünfte aus konzerninterner Finanzierung

Einkünfte aus konzerninternen Dienstleistungen

Die M-Ltd. aus Fall 5 soll neben der zentralen Finanzierungsfunktion künftig auch Shared Service-Leistungen (z. B. Fibu, Debitorenüberwachung etc.) gegenüber Konzerntöchtern erbringen. Zur Ausübung letzterer Tätigkeiten soll die M-Ltd. allerdings über Büroräume und eigenes – einschließlich geschäftsleitendes – Personal verfügen. Der Geschäftsführer wird insoweit die Entscheidungen eigenverantwortlich treffen, die konzerninternen Darlehen wird er aber nach wie vor nach konkreten Vorgaben der deutschen Mutter vergeben (nachgebildet BTDrucks. 16/6290). Greift § 8 Abs. 2 AStG? Bei gemischten Tätigkeiten einer ausländischen Zwischengesellschaft stellt sich die Frage, ob der Gegenbeweis nach § 8 Abs. 2 Satz 1 AStG für jede Tätigkeit oder ganz allgemein für die Gesellschaft zu erbringen ist. Man könnte argumentieren, die Niederlassung in einem anderen EU-/EWR-Staat könne durch eine ausländische Gesellschaft nur in der Form eines einzigen Niederlassungsakts erfolgen. Es sei nicht denkbar, dass sich eine bereits in einem anderen Staat niedergelassene und dort tatsächlich tätige Gesellschaft bei Ausübung einer weiteren Tätigkeit nochmals in dem Aufnahmemitgliedstaat niederlasse. Nach § 8 Abs. 2 Satz 1 AStG hat der Steuerpflichtige allerdings nachzuweisen, dass „die Gesellschaft insoweit einer tatsächlichen wirtschaftliche Tätigkeit […] nachgeht“. Die Formulierung „insoweit“ spricht dafür, dass der Gesetzgeber für den Gegenbeweis eine segmentierende bzw. atomisierende Betrachtung für jede einzelne Tätigkeit und damit Einkunftsquelle fordert.59 Letztlich entspricht das auch der bisherigen Vorstellung des Aktiv-/Passivkataloges des § 8 Abs. 1 AStG, der eine Atomisierung ________________________ 59 Ebenso Köhler/Haun, Ubg 2008, 78 (80 f.).

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nach einzelnen Tätigkeiten verlangt, sofern keine zusammenfassende Betrachtung nach dem Grundsatz der funktionalen Betrachtungsweise möglich ist.60 Im Schrifttum werden EU-rechtliche Bedenken gegen die segmentierende Betrachtung erhoben.61 Allerdings kommt auch der EuGH in der Rechtssache Cadbury Schweppes zu dem Ergebnis, dass die Inanspruchnahme der Niederlassungsfreiheit neben einer tatsächlichen Ansiedlung der betreffenden Gesellschaft im Aufnahmemitgliedstaat kumulativ „die Ausübung einer wirklichen wirtschaftlichen Tätigkeit“ voraussetzt.62 Übt die ausländische Gesellschaft aber neben einer wirklichen wirtschaftlichen Tätigkeit eine unwirkliche (besser: künstliche) Tätigkeit aus, dann sind eben insoweit nicht die Voraussetzungen von Art. 49 AEUV gegeben. Dies spricht dafür, dass auch der EuGH einer segmentierenden Betrachtung nicht generell ablehnend gegenüber stehen wird. In der Praxis sollte deshalb sichergestellt werden, dass bei einer hypothetischen Selbständigkeit der einzelnen Tätigkeiten die wirtschaftliche Realität (ggf. unter Rückgriff auf die in Tz. 2 Satz 2 Buchst. A bis e des BMF-Schreibens v. 8.1.200763 genannten Kriterien) bejaht werden kann. Der betreffende passive Bereich muss mit entsprechender Substanz ausgestattet werden, d. h. eigenes Personal, welches im Organigramm entsprechend abgebildet ist, eigene Räumlichkeiten und eigenes Anlagevermögen. Hier kann man sich möglicherweise die „Teilbetriebsdefinition“ des UmwStG zu nutze machen. Man muss also gedanklich so tun, als wollte man den passiven Bereich (steuerlich zu Buchwerten) z. B. ausgliedern, so dass der betreffende Bereich für sich selbständig lebensfähig sein muss. Dem betreffenden Bereich wird man dann z. B. einen eigenen Buchungskreis und ein eigenes Anlagengitter zuordnen. Ob diese Voraussetzungen vorliegend für den Finanzierungsbereich gegeben sind, hängt entscheidend davon ab, inwieweit die konkreten Vorgaben der inländischen Muttergesellschaft noch Raum für selbständige Entscheidungen des Geschäftsführers der M-Ltd. lassen. Die Gesetzesbegründung verneint in diesem Fall jedenfalls die Annahme einer tatsächlichen wirtschaftlichen Tätigkeit. Sofern die Vorgaben noch aus________________________ 60 61 62 63

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Vgl. z. B. Lehfeldt in Strunk/Kaminski/Köhler, § 8 AStG Rz. 14. Grotherr, IWB Gruppe 1, Fach 3, 2259, 2263; Köhler/Haun, Ubg 2008, 78 (80 f.). EuGH v. 12.9.2006 – Rs. C-196/04 – Cadbury Schweppes, Slg. 2006, I-7995, Rz. 54. BMF v. 8.1.2007, BStBl. I 2007, 99.

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reichend Raum für eigene Entscheidungen lassen (z. B. weil es sich um bloße Richtlinien handelt), ist ferner darauf hinzuweisen, dass sich bei namhaften Vertretern im deutschen Schrifttum eine Tendenz abzeichnet, die insbesondere bei mobilen Finanzierungsfunktionen einen nur geringen Umfang an wirtschaftlicher Substanz als ausreichend erachtet.64 Das ist deshalb sachgerecht, weil es diesen Funktionen immanent ist, nur wenig Substanz zu erfordern. Insoweit könnte eher eine theoretisch mögliche „Überausstattung“ einer Finanzierungsgesellschaft mit Substanz künstliche Züge annehmen.

Fall 7: „Fehlende Beherrschung mit Folgen“

I-Plc Deutschland Irland

1%

99% I-Ltd.

Zwischeneinkünfte mit Kapitalanlagecharakter

An der irischen I-Ltd. sind die irische I-Plc zu 99 % und der deutsche A zu 1 % beteiligt. Die I-Ltd erzielt ausschließlich Zwischeneinkünfte mit Kapitalanlagecharakter i. S. von § 7 Abs. 6a AStG; sie erfüllt grds. auch die Aktivitätsvoraussetzungen von § 8 Abs. 2 AStG. Kann A den Gegenbeweis nach § 8 Abs. 2 AStG führen? Nach der eindeutigen Gesetzesformulierung in § 8 Abs. 2 Satz 1 AStG können nur diejenigen unbeschränkt Steuerpflichtigen den Gegenbeweis führen, die „im Sinne des § 7 Abs. 2 AStG an der Gesellschaft beteiligt sind“. I. S. d. § 7 Abs. 2 AStG sind unbeschränkt Steuerpflichtige an einer ausländischen Gesellschaft beteiligt, wenn ihnen allein oder (ggf. zufällig) zusammen mit Personen i. S. d. § 2 AStG am Ende des Wirtschaftsjahres der Gesellschaft, in dem sie die Einkünfte nach § 7 Abs. 1 AStG bezogen hat, mehr als 50 % der Anteile oder Stimmrechte ________________________ 64 So ausdrücklich Gosch in: Festschrift Reiß, 2008, 597, 608; in diese Richtung auch Schön in: Festschrift Reiß, 2008, 571, 589.

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an der ausländischen Gesellschaft zuzurechnen sind (sog. „Inländerbeherrschung“). Wird die Gesellschaft also nicht durch (ggf. mehrere) Inländer beherrscht, kommt § 8 Abs. 2 AStG nicht zur Anwendung. Das ist vorliegend der Fall, weil an der I-Ltd. nur unbeschränkt Steuerpflichtige im Umfange von 1 % und damit „nur“ i. S. von § 7 Abs. 6 AStG, nicht aber auch i. S. von § 7 Abs. 2 AStG beteiligt sind. Die Gesetzesbegründung führt für die Ausnahme von Beteiligten i. S. d. § 7 Abs. 6 AStG an, dass sich die Ausführungen des EuGH in der Rechtssache Cadbury Schweppes nur auf Fälle der Niederlassungsfreiheit beziehen, während im Rahmen von § 7 Abs. 6 AStG nur Kapitalverkehrsfreiheitsfälle denkbar seien, zu denen sich der EuGH nicht geäußert habe.65 Überzeugen kann das schon deshalb nicht, weil § 7 Abs. 2 AStG nicht die Beherrschung durch einen unbeschränkt Steuerpflichtigen fordert, sondern eine zufällige Inländerbeherrschung. Letztere führt aber nicht in jedem Fall zu der für die Niederlassungsfreiheit gebotenen Kontrolle durch eine Person.66 Hinzu kommt, dass aufgrund der Konvergenz der Grundfreiheiten kein Zweifel daran bestehen kann, dass sich Minderheitsgesellschafter i. S. d. § 7 Abs. 6 AStG auf den Schutz von Art. 63 AEUV berufen können, zumal diese in aller Regel größere Schwierigkeiten haben werden, auf die Geschicke der Gesellschaft Einfluss zu nehmen.67 Im Übrigen wäre es willkürlich, wenn jeder unbeschränkt Steuerpflichtige, der die Aktie einer ausländischen Publikums-AG erwirbt, der Gefahr einer Hinzurechnungsbesteuerung ausgesetzt wird, ohne auch nur in der Lage zu sein, seinen Erklärungspflichten nachkommen zu können.

________________________ 65 BT-Drucks. 16/6290. 66 Ebenso z. B. Köhler/Eicker, DStR 2007, 331 (332). 67 Ebenso z. B. Hammerschmitt/Rehfeld, IWB Gruppe 1, Fach 3, 2293 (2301).

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Fall 8: „Immer diese Nachweisprobleme“ Nachweis möglich

Nachweis nicht möglich D-AG Deutschland Irland

1%

99% I-Ltd.

Zwischeneinkünfte mit Kapitalanlagecharakter

Wie Fall 7, nur ist anstelle der I-Plc die deutsche D-AG beteiligt. Letztere kann aufgrund ihrer beherrschenden Stellung auch nur den Nachweis nach § 8 Abs. 2 AStG erbringen; dem A gelingt dies aufgrund mangelnder Informationen nicht. Findet gegenüber A die Hinzurechnungsbesteuerung statt? Nach § 8 Abs. 2 Satz 1 AStG haben die an der Gesellschaft beteiligten Steuerpflichtigen den Nachweis zu erbringen. Die entscheidende Frage ist daher vorliegend, ob man dem A den von der D-AG erbrachten Nachweis zurechnen kann. Dies wird man schon vor dem EU-rechtlichen Hintergrund des § 8 Abs. 2 AStG bejahen müssen. Denn steht fest, dass die betreffenden Einkünfte das Ergebnis einer tatsächlichen wirtschaftlichen Tätigkeit sind, dann liegt insoweit keine bloße künstliche Konstruktion vor und es besteht kein Bedürfnis für eine Hinzurechnungsbesteuerung. Mehr noch, es würde erheblichen EU-rechtlichen Bedenken begegnen, wenn einem Steuerpflichtigen, der z. B. aufgrund seiner geringen Beteiligungsquote nicht den Nachweis erbringen kann, Einkünfte hinzugerechnet werden, obwohl ein anderer Steuerpflichtiger den entsprechenden Nachweis erbracht hat. Dieses Ergebnis ist auch in verfahrensrechtlicher Hinsicht nicht zu beanstanden, weil die Feststellung der Besteuerungsgrundlagen gemäß § 18 Abs. 1 AStG (einheitlich) durch ein Feststellungsfinanzamt erfolgt. Die Informationen liegen dann also dem entsprechenden Finanzamt vor. Dem Vernehmen nach will die Finanzverwaltung im Falle einer Beteiligung eines Minderheitsgesellschafters neben einem beherrschenden Gesellschafter den erfolgreichen Nachweis durch den beherrschenden Gesellschafter ausreichen lassen. Im Ergebnis wird deshalb wohl ein erfolg23

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reich geführter Gegenbeweis (hier: durch D-AG) für alle Gesellschafter (hier: also auch für A) einheitlich gewürdigt.

Fall 9: „Probleme beim Informationsaustausch“ D-AG

FA

Deutschland Kein Informationsaustausch

Liechtenstein FL-GmbH

FA

Passive Einkünfte mit Voraussetzungen nach § 8 Abs. 2 AStG

Die deutsche D-AG ist zu 100 % an der liechtensteinischen FL-GmbH beteiligt. Letztere erzielt passive Einkünfte i. S. von § 8 Abs. 1 AStG, für die aber die D-AG die Voraussetzungen von § 8 Abs. 2 AStG nachweisen kann. Auf Grundlage des neu abgeschlossenen Abkommens zum Informationsaustausch bitte das Feststellungsfinanzamt die liechtensteinischen Behörden um entsprechende Auskunft. Daraufhin geschieht nichts. Sind die Voraussetzungen von § 8 Abs. 2 AStG erfüllt? Mit der Ratifikation des am 2.9.2009 (voraussichtlich mit Wirkung ab dem 1.1.2010) unterzeichneten Abkommens über Informationsaustausch68 besteht im Verhältnis zu Liechtenstein eine Rechtsgrundlage i. S. von § 8 Abs. 2 Satz 2 AStG über Amtshilfe in Steuersachen. Nach dem Wortlaut von § 8 Abs. 2 Satz 2 AStG genügt es aber nicht, dass die in § 8 Abs. 2 Satz 2 AStG genannten Rechtsgrundlagen zum umfassenden Auskunftsaustausch in Steuersachen bestehen. Entscheidend soll vielmehr sein, ob „Auskünfte erteilt werden“. Damit könnte die tatsächliche (und nicht nur rechtlich gebotene) Auskunftserteilung gemeint sein. Bei vielen Staaten bestehen aber erhebliche Defizite, was die tatsächliche Erteilung von Auskünften trotz bestehender Rechtsgrundlagen anbelangt. Die Ursachen hierfür mögen vielfältiger Natur sein (z. B. unzureichende Organisation der ausländischen Finanzverwal________________________ 68 BR-Drucks. 165/10.

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tung). Dies ändert jedoch nichts daran, dass in einem solchen Fall die Voraussetzungen von § 8 Abs. 2 Satz 2 AStG dem Wortlaut nach zweifelhaft sein können. Die Gesetzesbegründung zu § 8 Abs. 2 Satz 2 AStG69 deutet allerdings darauf hin, dass die tatsächliche Auskunftserteilung aufgrund der in § 8 Abs. 2 Satz 2 AStG genannten Rechtsgrundlagen zu unterstellen ist. Nach dem Willen des Gesetzgebers scheint es also nicht darauf anzukommen, ob der jeweilige Aufnahmemitgliedstaat tatsächlich auskunftsfreudig ist oder nicht. Das Abheben auf die tatsächliche Auskunftserteilung durch den Aufnahmemitgliedstaat würde auch erheblichen EU-rechtlichen Bedenken begegnen. Zwar hat der EuGH in der Rechtssache Cadbury Schweppes dem Umstand besondere Bedeutung beigemessen, dass die zuständigen nationalen Behörden die Möglichkeit haben, zur Überprüfung der im Rahmen des Gegenbeweises vorgelegten Beweise auf die Instrumentarien der EU-Amtshilferichtlinie oder der Auskunftsklausel des DBA zurückzugreifen.70 Allerdings hat der EuGH nicht verlangt, dass der Aufnahmemitgliedstaat der ausländischen Gesellschaft auch tatsächlich diese Informationen erbringt. Es genügt vielmehr die „Möglichkeit“ des Rückgriffes auf die genannten Auskunftsinstrumentarien. Es würde auch merkwürdig anmuten, wenn es dem Steuerpflichtigen zum Nachteil gereichen würde, wenn der Aufnahmemitgliedstaat (auf den der Steuerpflichtige keinerlei Einfluss hat!) seinen EU-rechtlichen Verpflichtungen aus der EU-Amtshilferichtlinie nicht nachkommt. Hier wird man verlangen müssen, dass sich Deutschland der Instrumentarien auf EU-rechtlicher Ebene bedient (z. B. Vertragsverletzungsverfahren), um den betreffenden Staat zur Einhaltung seiner Verpflichtungen aus der EU-Amtshilferichtlinie zu bewegen. Deutschland kommt insoweit kein Selbsthilferecht zu.71 Hinzu kommt, dass der Steuerpflichtige entsprechende Beweismittel beibringen muss, um den Gegenbeweis nach § 8 Abs. 2 Satz 1 AStG zu führen. Der fehlenden tatsächlichen Auskunftserteilung kann deshalb ohnehin nur dann eine Relevanz zukommen, wenn Zweifel an den beigebrachten Beweismitteln bestehen. Das dürfte aber nur in seltenen ________________________ 69 BT-Drucks. 16/6290. 70 EuGH v. 12.9.2006 – Rs. C-196/04 – Cadbury Schweppes, Slg. 2006, I-7995 – Rz. 71. 71 Zu dieser Diskussion im Rahmen der Rechtssache Cadbury Schweppes vgl. Schlussanträge des Generalanwalts Léger v. 2.5.2006 – Rs. C-196/04 – Cadbury Schweppes, Slg. 2006, I-7995, Rz. 58.

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Fällen eintreten, zumal die deutsche Finanzverwaltung über eigene Ermittlungsmöglichkeiten verfügt, die sie auch nach dem Wortlaut von § 8 Abs. 2 Satz 2 AStG („erforderlich“) zunächst ausschöpfen muss. In diesem Zusammenhang ist im Übrigen daran zu erinnern, dass es einen gemeinschaftsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz72 gibt, den der EuGH jüngst im Zusammenhang mit dem Auskunftsaustausch auf Grundlage der EU-Amtshilferichtlinie bestätigt hat.73 Vorliegend steht daher die Verweigerung des Informationsaustausches nicht entgegen, dass die D-AG den Gegenbeweis auf Grundlage von § 8 Abs. 2 AStG führen kann.

Fall 10: „Die weltweite Kapitalverkehrsfreiheit“

D-AG Deutschland Drittstaat

1%

99% KapG

Passive Einkünfte mit Aktivitätsvoraussetzungen nach § 8 Abs. 2 AStG

An der in einem Drittstaat ansässigen KapG sind die deutsche D-AG zu 99 % und der deutsche A zu 1 % beteiligt. Die KapG erzielt passive Einkünfte, für die der Nachweis nach § 8 Abs. 2 AStG jedoch nur deshalb nicht geführt werden kann, weil sie in einem Drittstaat ansässig ist. Schützt Art. 63 AEUV vor der Hinzurechnungsbesteuerung? Nach den obigen Ausführungen zum Konkurrenzverhältnis der Kapitalverkehrsfreiheit zu anderen Grundfreiheiten74 ist in einem ersten Prüfungsschritt zu klären, über welche Beschränkungswirkung die kon________________________ 72 Vgl. nur EuGH v. 13.12.2005 – Rs. C-411/03 –, Sevic Systems AG, Slg. 2005, I-10805, Rz. 29; v. 15.7.2004 – Rs. C-315/02 –, Lenz, Slg. 2004, I-7063, Rz. 27; v. 7.9.2004 – Rs. C-319/02 – Manninen, Slg. 2004, I-7409, Rz. 29. 73 EuGH v. 11.10.2007 – Rs. C-451/05 –, Elisa, IStR 2007, 894, Rz. 95 ff., m. Anm. Hahn. 74 S. o. B. II. 3. b).

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krete Norm verfügt. Überträgt man dies auf die §§ 7 bis 14 AStG, so ist entscheidend, ob diese primär eine Beschränkung der Kapitalverkehrsoder der Niederlassungsfreiheit bewirken. Bei der Beantwortung der Frage ist zu beachten, dass § 7 Abs. 1 i. V. m. Abs. 2 AStG eine zufällige Inländerbeherrschung als Tatbestandsvoraussetzung fordert. Die Regelung stellt nicht darauf ab, ob dem einzelnen Anteilseigner (ggf. zusammen mit nahestehenden Personen) die Möglichkeit der Kontrolle der ausländischen Gesellschaft zusteht. Konsequenterweise kann deshalb darin auch nicht in erster Linie eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit erblickt werden. Hier liegt auch der entscheidende Unterschied zur Entscheidung in der Rechtssache Cadbury Schweppes (in welcher der EuGH eine Prüfung der Kapitalverkehrsfreiheit verneinte75), weil nämlich nach britischem Recht eine Mindestbeteiligung durch den einzelnen Anteilseigner iHv 25 % erforderlich ist.76 Eine Verprobung dieses Ergebnisses anhand des Sachverhalt dürfte in einem zweiten Schritt eigentlich nicht erforderlich sein, weil das nur im Falle eines Zurücktretens der Kapitalverkehrsfreiheit hinter eine andere Grundfreiheit (hier: die Niederlassungsfreiheit) in einem zweiten Prüfungsschritt erfolgt.77 Stellt man mit der Rechtssache KBC Bank78 gleichwohl die Prüfung der Sachverhaltskonkurrenz unabhängig neben die Normenkonkurrenz, dann würde zumindest die D-AG als beherrschender Anteilseigner aus dem Schutzbereich der Kapitalverkehrsfreiheit ausscheiden. In einem dritten Prüfungsschritt müsste dann die Fortbestandsgarantie des Art. 64 AEUV geprüft werden. Hier ist zunächst darauf hinzuweisen, dass nach der Rechtsprechung von EuGH79 und BFH80 die Fortbestandsgarantie nicht für reine Portfoliobeteiligungen greift, vorliegend also nicht für A, so dass dieser in jedem Fall im Schutzbereich von Art. 63 AEUV verbleibt. Sofern man die D-AG nicht bereits im zweiten Prüfungsschritt (s. o.) aus dem Schutzbereich von Art. 63 AEUV herausnimmt, stellt sich die Frage, ob die §§ 7 bis 14 AStG bereits am ________________________ 75 76 77 78

EuGH v. 12.9.2006 – Rs: C-196/04 – Cadbury Schweppes, Slg. 2006, I-7995, Rz. 33. Vgl. Schönfeld, Hinzurechnungsbesteuerung, 2005, S. 579, m. w. N. S. o. B. II. 3. b). EuGH v. 4.6.2009 – Rs. C-439/07 – KBC Bank, noch nicht in Slg. veröffentlicht, IStR 2009, 494, Rz. 70. 79 EuGH v. 12.12.2006 – Rs. C-446/04 – Test Claimants in the FII Group Litigation, Slg. 2006, I-11753, Rz. 174 ff. 80 BFH v. 21.12.2005 – I R 4/05, BStBl. II 2006, 555.

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31.12.1993 bestanden. Der BFH hat dies für die §§ 7 bis 14 i. d. F. vor Änderungen durch das StSenkG/UntStFG bejaht.81 Im Schrifttum wird letztere Aussage jedenfalls bislang nicht geteilt.82 Vor dem Hintergrund der Entscheidung des EuGH vom 12.12.200683 erlangt diese Frage neue Brisanz. Der EuGH hat dort entschieden, dass vor dem 31.12.1993 erlassene Regelungen, die danach geändert wurden, gleichwohl unter Art. 64 Abs. 1 AEUV fallen können, wenn sie „im Wesentlichen mit der früheren Regelung übereinstimmen oder nur ein Hindernis, das nach der früheren Regelung der Ausübung der gemeinschaftsrechtlichen Rechte und Freiheiten entgegenstand, abmildern oder beseitigen“.84 Es erscheint aber sehr zweifelhaft, ob die zunächst durch das StSenkG und dann durch das UntStFG geänderten §§ 7 bis 14 AStG mit der ursprünglichen Regelung noch im Wesentlichen übereinstimmen. Denn anders als vor der Änderung bewirkt die Hinzurechnungsbesteuerung nicht nur eine zeitlich vorgezogene Besteuerung; sie wirkt vielmehr stets definitiv. Ihr ist die Aufgabe zugewachsen, über die Herstellung einer „ausreichenden“ ertragsteuerlichen Vorbelastung die Befreiung von ausländischen Dividendenbezügen gem. § 8b Abs. 1 KStG bzw. § 3 Nr. 40 Buchst. d EStG zu flankieren. Das ist eine Verschärfung gegenüber der bisherigen Rechtslage. Ob schließlich im vierten und letzten Prüfungsschritt im Verhältnis zu Drittstaaten auf der Rechtfertigungsebene ggf. andere (und im Ergebnis strengere) Maßstäbe angelegt werden können,85 wird man in jedem Einzelfall prüfen müssen. Insbesondere was den Informationsaustausch im Verhältnis zu Drittstaaten anbelangt, ist dabei darauf hinzuweisen, dass dieser z. B. im Verhältnis zu den USA auf Grundlage des DBA mitunter besser funktioniert als zu manchem EU-/EWR-Staat.

________________________ 81 BFH v. 21.12.2005 – I R 4/05, BStBl. II 2006, 555. 82 Vgl. z. B. Günkel/Lieber, IStR 2006, 459; Köhler/Eicker, DStR 2007, 331 (332); Rättig/Protzen, GmbHR 2003, 503; Schön in Festschrift Wassermeyer, 2005, 489 (494). 83 EuGH v. 12.12.2006 – Rs. C-446/04 – Test Claimants in the FII Group Litigation, Slg. 2006, I-11753. 84 EuGH v. 12.12.2006 – Rs. C-446/04 – Test Claimants in the FII Group Litigation, Slg. 2006, I-11753, Rz. 196. 85 So z. B. EuGH v. 12.12.2006 – Rs. C-446/04 – Test Claimants in the FII Group Litigation, Slg. 2006, I-11753 – insbes. Rz. 170 ff.

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D. Fazit Zusammenfassend kann danach Folgendes festgehalten werden: – Zur Umsetzung der EuGH-Rechtsprechung sind alle drei Gewalten berufen, also die Legislative, die Judikative und die Exekutive. – Die Legislative reagiert in erster Linie durch positive Gesetzesänderungen auf solche Entscheidungen des EuGH, die sich entweder speziell auf deutsch-steuerrechtliche Regelungen beziehen oder auf ausländische Vorschriften, die über ein vergleichbares deutschen Pendant verfügen. Daneben ist auch eine negative Gesetzesänderungen denkbar (z. B. § 20 Abs. 2 AStG i. d. F. des JStG 2008), durch die eine EU-rechtskonforme Vorschrift vor (mittelbaren) gemeinschaftsrechtlichen Einflüssen geschützt wird. Letztlich setzt der Gesetzgeber auch zunehmend allgemeine, vom EuGH entwickelte Rechtsgrundsätze um. Die Vielzahl von Gesetzesänderungen belegt dabei den zunehmenden Einfluss des EU-Rechts auf das nationale Recht. – Die Exekutive setzt teilweise EuGH-Rechtsprechung in einzelnen Fällen um, teilweise aber auch im Erlasswege für alle Fälle. In jüngerer Praxis wird den vom EuGH entwickelten und von den nationalen Gerichten angewandten Rechtsgrundsätzen aber auch teilweise die Anerkennung durch Nichtanwendungserlasse versagt. Beispiele hierfür sind die BFH-Entscheidungen zu ausländischen Betriebsstättenverlusten und zur Kapitalverkehrsfreiheit im Verhältnis zu Drittstaaten. – Die Judikative ist ihrer Verpflichtung zur Anwendung des EU-Rechts früher primär durch Vorabentscheidungsersuchen nachgekommen, heute wird auch vielfach die existente EuGH-Rechtsprechung unmittelbar angewandt und auf eine Vorlage verpflichtet. – Die Umsetzung der EuGH-Rechtsprechung führt aber in der Praxis auch zu (Folge-)Problemen im Detail, zu deren Behebung alle drei Gewalten aufgefordert sind.

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Umsetzung der neueren EuGH-Rechtsprechung in Deutschland Podiumsdiskussion Leitung Prof. Dr. Jürgen Lüdicke Rechtsanwalt, Steuerberater, International Tax Institute, Universität Hamburg Teilnehmer Hans-Henning Bernhardt Rechtsanwalt, Beiersdorf AG, Hamburg

Prof. Dr. Dietmar Gosch Vorsitzender Richter am Bundesfinanzhof, München

Dipl.-Kaufm. Dr. Jens Schönfeld Rechtsanwalt, Fachanwalt für Steuerrecht, Flick Gocke Schaumburg, Bonn

Dr. Carl Friedrich Vees Ministerialrat im Finanzministerium Baden-Württemberg, Stuttgart

Prof. Dr. Lüdicke Herr Vees, die Finanzverwaltung wurde als einer der Player genannt. Sie beeinflusst indirekt auch den zweiten Player, den Gesetzgeber. Aus der Mitte des Parlaments kommen selten Steuergesetze. Sie kommen meist aus der Mitte des BMF. Wie sieht es nach Ihrer Beobachtung in den Bundesländern aus? Ist die – etwas überspitzt gesprochen – mentale Sperre, die man in den letzten zehn Jahren manchmal gegenüber europarechtlichen Entwicklungen beobachten konnte, inzwischen einer vernünftigeren Herangehensweise gewichen? Sagt man: „Wir wollen den Binnenmarkt, wir wollen ihn politisch, wir wollen ihn auch für das Steuerrecht!“? Auch wenn die direkten Steuern Sache der Mitgliedstaaten sind und es insofern keine direkte Vereinheitlichung gibt, sollte man doch die indirekte Vereinheitlichung über die Anwendung der Grundfreiheiten nicht behindern, man darf nicht diskriminieren. Sehen Sie immer noch eine große Vorsicht oder ist man jetzt offener?

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Podiumsdiskussion – Umsetzung der neueren EuGH-Rechtsprechung in Deutschland

Dr. Vees Vielen Dank für diese Steilvorlage. Vielleicht vorab eine Bemerkung, sozusagen in eigener Sache. Jeder, der als Vertreter der Finanzverwaltung hier oben sitzt, stellt sich auf einen Tag ein, an dem er „gegrillt“ wird. Das ist klar. Prof. Dr. Lüdicke Der Hamburger Grill ist aber der schönste! Dr. Vees Vollkommen klar! Ich merke, wir nähern uns der Betriebstemperatur. Das ist in Ordnung. Haben Sie trotzdem Verständnis dafür, dass ich natürlich versuche, möglichst sachlich zu antworten, zumal die Diskussionsbeiträge hier auch festgehalten werden. Der EuGH hat das Steuerrecht erst später entdeckt. Ich glaube, wir hatten im Ertragsteuerrecht zunächst nur eine Entscheidung, in der Mitte der 80er Jahre. Bei der Umsatzsteuer ist es etwas anderes. Meiner Beobachtung nach hat die EuGH-Judikatur zum Ertragsteuerrecht dann ungefähr Mitte der 90er Jahre losgelegt. Es mag sein, dass es einige Jahre gedauert hat, bis die nationale Verwaltung, aber auch der nationale Gesetzgeber – und vielleicht gilt dies sogar für Teile der Steuerpflichtigen, der Bürger, der Beraterschaft – den Einfluss der EuGH-Rechtsprechung richtig einordnen konnte. Da mag für unsere Seite, Steuerverwaltung bzw. Steuergesetzgebung, auch eine Rolle spielen, dass wir natürlich versuchen, die Dinge auch unter Aufkommensgesichtspunkten zu sehen. Uns hat Schwierigkeiten bereitet und bereitet uns diese noch immer, dass der EuGH, wenn Sie so möchten, vornehmlich kassatorisch arbeitet und weniger rechtsfortbildend. Und wir waren von der Verfassungsgerichtsbarkeit her gewohnt, dass uns Hinweise gegeben werden, in welche Richtung wir uns fortentwickeln sollen. Und so war lange Zeit ein gewisser Verharrungszustand da. Ich will nicht sagen, dass es Ratlosigkeit war, aber doch eine Orientierungs- und Suchphase. Ich habe den Eindruck, aber das ist mein persönlicher Eindruck, dass wir inzwischen klarer sehen: Man reagiert zügiger auf die EuGH-Rechtsprechung und in manchen Fragen wartet man das Judiz gar nicht erst ab. Man studiert die Judikatur, die zu ausländischen Rechtsnormen ergeht, sehr viel aufmerksamer. Man prüft 32

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die Übertragbarkeit auf die entsprechende deutsche Norm und versucht, die Konsequenzen auszuleuchten. Bei der Frage der Konsequenzen für das deutsche Steuerrecht befinden wir uns dann oft in einem Diskussionsprozess. Herr Schönfeld hat dies sehr schön dargestellt. Sie sprachen von Grenzfällen, die in einer Diskussion zu erörtern sind. Das erleben wir in vielen Bereichen. Der Entwurf für ein EU-Vorgabenumsetzungsgesetz1 versucht jetzt, die Konsequenzen aus der Sache „Persche“2 zu ziehen. Wenn man sich den § 10b EStG in diesem Entwurf anschaut, muss man feststellen, dass er sich eigentlich fürchterlich liest. Aber niemand hat eine bessere Idee. Alle diese Normen, die wir EU-fest machen, lesen sich anschließend ganz fürchterlich. Das ist aber wohl nicht zu vermeiden. Wir versuchen diese Gratwanderung, einerseits die Steuerausfälle zu minimieren und andererseits den Grundfreiheiten gerecht zu werden. An dieser Stelle sei vielleicht noch ein anderer Aspekt angesprochen. Wie kann die Steuerverwaltung auf die EuGH-Rechtsprechung reagieren? Der EuGH legt nationale Rechtsvorschriften unmittelbar aus, d. h. sein Judiz wirkt unmittelbar in das deutsche geschriebene Recht hinein. Art. 20 Abs. 3 GG ist insoweit überschrieben. Jeder Finanzbeamte müsste sich überlegen, welche Auswirkungen ein EuGH-Urteil auf seine konkrete Veranlagungsfrage hat. Das können wir in einem geordneten Verwaltungsablauf aber nicht zulassen, d. h. in unserer Verwaltungshierarchie siedeln wir die Deutungshoheit oben an. Und wir werben um Verständnis dafür, dass nicht in jedem Einspruchsverfahren EuGH-rechtliche Grundsätze erörtert werden können. Jetzt habe ich ein bisschen allgemeiner geantwortet. Ich hätte noch Bemerkungen zu den Einzelfällen von Herrn Schönfeld. Prof. Dr. Lüdicke Vielen Dank dafür, dass Sie erst mal so allgemein geantwortet haben. Wir versuchen gleich noch eine zweite Runde zu einigen Einzelfragen.

________________________ 1 Gesetzentwurf der Bundesregierung „Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung steuerlicher EU-Vorgaben sowie zur Änderung steuerlicher Vorschriften“, BT-Drucks. 17/505. 2 EuGH v. 27.1.2009 – Rs. C-318/07 – Persche, FR 2009, 230.

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Herr Bernhardt, ist die Industrie jetzt mit der Umsetzung zufrieden? Besteht immer noch die Angst, dass es wie bei § 8a KStG damals ein Schuss ist, der nach hinten losgeht? Bernhardt Bevor ich das beantworte, lassen Sie mich noch eine Bemerkung vorweg machen. Da möchte ich an meinen Nachbarn anknüpfen, der so nett das Wort „gegrillt“ in die Debatte geworfen hat. In gewisser Weise ist man auch als betroffenes Unternehmen „der Gegrillte“. Ich glaube, da haben wir sehr viele gleiche Leidenserfahrungen. Man fragt sich gelegentlich, ob man der aktive Player in diesem Thema ist oder ob man mehr der Getriebene ist, der sozusagen vom Auf und Ab der Entwicklung der Rechtsprechung und der Reaktionen letztlich betroffen ist. Insbesondere ist man natürlich in der Situation, dass man gelegentlich „windfall profits“ einfährt, aber auf der anderen Seite bei längerfristigen Planungen und Gestaltungen auch das Entgegengesetzte durch Gegenreaktionen erleben kann. Letztlich ist es ein Gebiet, und das möchte ich einfach einmal so zusammenfassen, wo wir uns zumindest ähnlich wie die Verwaltung gar nicht wohlfühlen, weil wir nicht wissen, was am Ende des Tages auch durch Reaktionen der verschiedenen Seiten passiert. Das sind immer grenzüberschreitende Themen. Man muss es aus Gesamtkonzernsicht sehen. Ich bin mir nicht sicher, wie die Entwicklung weitergeht. Ihre Frage kann man letztlich weder mit einem klaren Ja oder mit einem klaren Nein beantworten. Prof. Dr. Lüdicke Vielen Dank. Herr Gosch, Sie wissen, wie es weitergeht. Aber die Frage ist, ob Sie es uns sagen dürfen. Prof. Dr. Gosch Sie haben völlig Recht, Herr Lüdicke: Die Rechtsprechung „grillt“ selbst. Sie wird nicht „fremdgegrillt“. Stichwort die Finanzverwaltung und der Gesetzgeber: Sie haben uns, Herr Schönfeld, die wechselseitigen Reaktionen dieser beiden Staatsgewalten auf die EuGH-Spruchpraxis schön gegenübergestellt. Dazu nur am Rande: In Hamburg und auch bundesweit wird derzeit lebhaft diskutiert, ob die Justiz als dritte Staatsgewalt sich nicht selbst adminis34

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trieren sollte, um ihre Eigenständigkeit hervorzuheben. Dazu mag man stehen, wie man will – Herrn Grotheer,3 den ich hier vor mir sitzen sehe, weiß ich als vehementen Befürworter dieser Idee. Bemerkenswert ist jedenfalls, dass die erste Gewalt praktisch keine eigene Administration hat, sondern letzten Endes von der zweiten Gewalt „administriert“ wird. Man sollte darüber nachdenken, ob das auf Dauer das Richtige und nicht mindestens so wichtig ist, wie die Eigenständigkeit der Justiz. Aber wie dem auch sei, Herr Schönfeld hat gesagt, es habe beim BFH eine „Ära Wassermeyer“ gegeben. Das mag so sein. Es mag aber auch sein, dass die unterschiedliche Vorgehensweise in der Sache und nicht in der Person begründet ist: Man hat in den letzten 10 Jahren seitens der Fachgerichte, auch seitens des BFH, vielleicht mehr an den EuGH vorgelegt als es scheinbar – das muss gar nicht unbedingt verifiziert sein – im Moment der Fall erscheint. Das hat aber seinen Grund. Dieser hängt damit zusammen, dass der EuGH mittlerweile doch etliche „Mauern“ gebaut und ein Fundament gegossen hat. Die vielen einschlägigen Judikate, denen wir uns ausgesetzt sehen, mögen für den Exegeten als „work in progress“ mitunter etwas verwirrend sein, sie lassen aber doch eine deutliche und klare Struktur erkennen. Auf dieser Basis baut die nationale Rechtsprechung auf. Auf dieser Basis lässt sich hier und da – und vor allem zunehmend – vor dem Hintergrund der sog. acte-clair-Doktrin entscheiden, und zwar durchaus selbst und „aus eigener Kraft“. Auch der BFH hat in diese Richtung zuletzt etliche Entscheidungen getroffen. Das hat naturgemäß den Nachteil, dass man von allen Seiten „Prügel kriegt“. Das gehört jedoch gewissermaßen zum Schicksal eines Richters. Aber wie gesagt, die feste, völlige Klarheit fehlt natürlich. Eine solche Klarheit haben wir, Herr Lüdicke, nicht und wir wissen auch nicht hundertprozentig, wo der Weg hingeht. Insofern muss man die Dinge weiter beobachten, und zugleich auch gewährleisten, dass durch ein solches nationales Durcherkennen auf der acteclaire-Basis keine „Versteinerung“ der EuGH-Rechtsprechung provoziert wird. Zur Nichtanwendung: Was mich ein bisschen irritiert, wenn ich mir die „Szene“ so angucke, ist, dass eben nicht nur BFH-Rechtsprechung, sondern dass im Ergebnis, wenn man so will, eigentlich auch schon die EuGH-Rechtsprechung zum Teil durch die Verwaltung nicht mehr an________________________ 3 Dr. Jan Grotheer, Präsident des Finanzgerichts Hamburg, Hamburg.

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gewandt wird. Sie haben das Beispiel genannt: „Lidl Belgium“.4 In jener Sache ist das Schlussurteil durch den BFH, durch den I. Senat ergangen.5 Das BMF will dieses Schlussurteil nicht anwenden,6 das aber nur formaliter, denn tatsächlich geht es um die Nichtanwendung bereits des vorangegangenen EuGH-Urteils. Ob das der Situation und den Anforderungen des Europa- und des Gemeinschaftsrechts hinreichend Rechnung trägt, da habe ich persönlich größte Bedenken. Prof. Dr. Lüdicke Vielen Dank. Das ist ein schönes Beispiel. Herr Vees, warum hat die Finanzverwaltung dieses Schreiben, von dem ja viele glauben, dass es eine Nichtanwendung des EuGH-Urteils ist, in dieser Form erlassen? Dr. Vees Mit diesem BMF-Schreiben haben wir zu der Frage der phasengleichen Berücksichtigung des Verlusts Stellung genommen. Das EuGH-Urteil hat sich in erster Linie damit auseinandergesetzt, ob der Verlust der luxemburgischen Betriebsstätte im deutschen Stammhaus zu berücksichtigen ist. Diese Frage hat der EuGH, so denke ich, zutreffend beantwortet. Mit der Frage der phasengleichen Berücksichtigung ging es in dem Nachfolgeverfahren beim BFH meiner Auffassung darum, zu welchem Zeitpunkt ein Verlusttransfer stattfinden soll. Aber das war eine Frage, die sich nach dem Judiz von Luxemburg zu „Lidl Belgium“7 gar nicht mehr stellte. Denn nachdem der EuGH in der mündlichen Verhandlung erfahren hatte, dass der in Luxemburg aufgelaufene Betriebsstättenverlust nach luxemburgischem Steuerrecht vorgetragen und später verrechnet worden war, war die erforderliche einmalige Verlustberücksichtigung eingetreten. Die EuGH-Rechtsprechung zur Verlustberücksichtigung ist meines Erachtens so zu verstehen, dass der EuGH Wert darauf legt, dass es eine Einmalberücksichtigung gibt. Er wendet sich sowohl gegen die Mehrfachberücksichtigung als auch gegen die Nichtberücksichtigung.

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EuGH v. 15.5.2008 – Rs. C-414/06 – Lidl Belgium, Slg. 2008, I-3601. BFH v. 17.7.2008 – I R 84/04, BStBl. II 2008, 630. BMF v. 13.7.2009, BStBl. I 2009, 835. EuGH v. 15.5.2008 – Rs. C-414/06 – Lidl Belgium, Slg. 2008, I-3601.

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Prof. Dr. Gosch Ich würde da nun doch unmittelbar widersprechen mögen, Herr Vees. Ich meine, dass es in dem BMF-Schreiben nicht nur um den Zeitpunkt der Verlustverrechnung, die sog. Phasengleichheit, geht, sondern dass sehr wohl über sämtliche rechtlichen wie auch tatsächlichen Maßgaben des Verlusttransfers eine Aussage getroffen wird, vor allem dazu, ob ein „Importstopp“ solcher Verlustabzugsbeschränkungen anzunehmen ist, die im anderen Vertragsstaat nach dessen Steuergesetzen bestehen. Das kommt in dem BMF-Schreiben aus meiner Sicht sehr deutlich zum Ausdruck. Wenn man der Finanzverwaltung Glauben schenken darf, läuft der Gedanke einer „Verlustfinalität“, so wie der EuGH sie in der Entscheidung „Lidl Belgium“8 angedacht hat, im Ergebnis leer. Prof. Dr. Lüdicke Meine Damen und Herren, da Sie das Schreiben nicht in den Unterlagen haben, lese ich die beiden Sätze aus dem BMF-Schreiben,9 um die es hier geht, vor: „Der EuGH stellt damit allein auf die rechtliche Möglichkeit der Verlustberücksichtigung im Betriebsstättenstaat ab. Ob tatsächlich ein Verlustabzug erfolgt bzw. der Steuerpflichtige diesen in Anspruch nimmt, ist dabei unerheblich.“ Herr Vees, das widerspricht auch nach meinem Verständnis dem, was Sie da hinein interpretieren. Ihre Interpretation halten wir alle für richtig. Ihre Interpretation des EuGH-Urteils scheint sich allerdings mit der Berliner Lesart nicht ganz zu decken. Vielleicht könnte man das als Anregung für die Außensteuerreferenten-Sitzung nehmen. Dr. Vees Ich habe leider diesen Erlass nicht da. Ich denke, Sie haben nicht die Sätze zitiert, in denen diese Phasengleichheit angesprochen wird. Prof. Dr. Lüdicke Das ist richtig.10 Über die Phasengleichheit wird hier nicht diskutiert, sondern es wird darüber diskutiert, dass mit diesen Sätzen für den an________________________ 8 EuGH v. 15.5.2008 – Rs. C-414/06 – Lidl Belgium, Slg. 2008, I-3601. 9 BMF v. 13.7.2009, BStBl. I 2009, 835.

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wendenden Verwaltungsbeamten und damit für den Unternehmer oder seinen Steuerberater der Eindruck erweckt wird, dass man in Berlin der Meinung ist, dass es auf die rechtliche Möglichkeit der Verlustnutzung im anderen Staat ankommt. Dr. Vees Da muss ich doch noch einmal nachfassen. Meinem Verständnis nach war bei der causa „Lidl Belgium“ die Frage der Endgültigkeit des Verlustes gar kein Thema. Prof. Dr. Lüdicke Ja. Dr. Vees Da sind wir uns einig. Aus Verwaltungssicht wurde die Frage der Endgültigkeit der Verlustberücksichtigung eher im Verfahren „Krankenheim Wannsee“11 entschieden. Denn dort legt der EuGH dar, dass der Investor, der sich mit einer Betriebsstätte in einem ausländischen Staat niederlässt, damit eine Investitionsentscheidung trifft, die auch die steuerrechtlichen Bedingungen des Betriebsstättenstaates berücksichtigt. Und wenn er dann z. B. wie im Sachverhalt von „Krankenheim Wannsee“12 in einen Staat wie Österreich zieht, in dem zur damaligen Zeit eine Subsidiaritätsklausel galt, wonach ein Betriebsstättenverlust vorrangig im Stammhausstaat berücksichtigt wird, dann ist das eine Bedingung, die er mit dieser Investitionsentscheidung akzeptiert hat. Und diese Überlegung lässt sich – so die Verwaltungsauffassung, aber ich weiß, dass das auch anders gesehen wird – z. B. auf die Frage übertra________________________ 10 Die Passage lautet: „Da erst im Rahmen des vorgenannten EuGH-Verfahrens bekannt wurde, dass in dem Streitfall „Lidl“ die im Inland zum Abzug beantragten Betriebsstättenverluste bereits in späteren Veranlagungszeiträumen im Betriebsstättenstaat berücksichtigt werden konnten, musste der BFH das Revisionsverfahren zur Aufklärung der erforderlichen Tatsachen an das zuständige Finanzgericht zurückverweisen. Aufgrund dessen können auch keine weiteren Rückschlüsse aus der Entscheidung des BFH – insbesondere auch nicht zu den Aussagen zum phasengleichen Verlustabzug (im Verlustentstehungsjahr) – in Bezug auf die Beurteilung in vergleichbaren Fällen gezogen werden.“, BMF v. 13.7.2009, BStBl. I 2009, 835. 11 EuGH v. 23.10.2008 – Rs. C-157/07 – Krankenheim Wannsee, IStR 2008, 769. 12 EuGH v. 23.10.2008 – Rs. C-157/07 – Krankenheim Wannsee, IStR 2008, 769.

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gen, ob das Steuerrecht im Betriebsstättenstaat eine Verlustvortragsregelung kennt, ob der Verlustvortrag zeitlich unbegrenzt ist oder wie viele Jahre er umfasst. Wenn man dann am Ende des Verlustvortragszeitraums angekommen ist und der Untergang des Verlustes droht, dann kommt es zum Lackmustest. Und da verstehen wir „Krankenheim Wannsee“13 in der Tat so, dass zu den Bedingungen, auf die sich der Investor einlässt, auch gehört, dass er in Kauf nehmen muss, bei Ende des Vortragszeitrahmens den Untergang des Verlustes ohne Transfer ins Stammland hinzunehmen. Das ist natürlich eine Frage, über die man streiten kann. Jedenfalls leitet die Verwaltung diese Lesart aus „Krankenheim Wannsee“14 ab und nicht aus „Lidl Belgium“.15 Prof. Dr. Gosch Es geht in diesem Zusammenhang in der Tat, Herr Vees, um zwei Auffassungen: Zum einen jene, ob die Sache „Krankenheim Wannsee“16 nur die Situation der Nachversteuerung des alten § 2a Abs. 3 EStG betrifft, also ein gesetzliches Spezifikum, und zwar vor dem besonderen Hintergrund, dass Österreich als anderer Mitgliedstaat in einer seinerseits gemeinschaftsrechtwidrigen Weise den Verlustabzug für Betriebstätten in Österreich beschränkt Steuerpflichtiger gesperrt hat. Diese Situation wird teilweise als so speziell angesehen, dass, so wird es im Schrifttum vertreten, die Aussage des EuGH allein auf diese Frage zugeschnitten und verengt sei. Die andere Meinung ist die Ihre, dass man sagt, die Aussage des EuGH sei zu verallgemeinern. Der BFH wird über diese Frage schon alsbald Gelegenheit haben zu entscheiden, nämlich in der Revision I R 23/09. Dort geht es um den Verlustabzug und die Vortragsbegrenzung, der in Luxemburg auf fünf Jahre begrenzt ist, und zwar in einer gemeinschaftsrechtsverträglichen Weise, nicht in einer gemeinschaftsrechtsunverträglichen. Prof. Dr. Lüdicke Vielen Dank. Ich denke, wir sollten hier keine zweite „Wannsee-Konferenz“ veranstalten. ________________________ 13 14 15 16

EuGH v. 23.10.2008 – Rs. C-157/07 – Krankenheim Wannsee, IStR 2008, 769. EuGH v. 23.10.2008 – Rs. C-157/07 – Krankenheim Wannsee, IStR 2008, 769. EuGH v. 15.5.2008 – Rs. C-414/06 – Lidl Belgium, Slg. 2008, I-3601. EuGH v. 23.10.2008 – Rs. C-157/07 – Krankenheim Wannsee, IStR 2008, 769.

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Bernhardt Ich würde vielleicht gerne noch einmal auf zwei Fälle eingehen, die von Herrn Schönfeld vorgetragen wurden. Und zwar sind das die Fälle 5 und 6, in denen es um die Fragestellung geht, wie viel Substanz man eigentlich bei Finanzierungsgesellschaftsaktivitäten in der jeweiligen sehr interessanten Konstellation braucht. Sonst lernt man immer, möglichst viel Substanz, und hier der Aspekt nun: zu viel Substanz kann schädlich sein. Gewisse Bandbreiten sind uns klar, wir wissen, wo die Fragestellung liegt. Das halte ich für einen sehr interessanten Aspekt, insbesondere im Zusammenhang mit der Frage der Segmentierung und der getrennten Betrachtung. Da weiß ich nicht, wie Ihre Sicht aus der Verwaltungsseite dazu ist, Herr Vees. Prof. Dr. Lüdicke Ich glaube, Herr Vees, die Frage ist deswegen schon interessant, weil man, wenn man diese Segmentierung letztlich in der Weise von Seiten der Finanzverwaltung durchführen will, dass man sagt, wir gucken doch wieder nur auf die Sekretärin, die diese Darlehen verwaltet. Dann fragt man sich, ob man eine solche Darlehensverwaltung überhaupt im Ausland mit gewünschter steuerlicher Wirkung durchführen kann. Dann sind wir bei dem Punkt, den Herr Schönfeld anführte. In dem „Cadbury Schweppes-Fall“17 war es jedenfalls so. Wie sieht das die Verwaltung? Dr. Vees Vielleicht schalte ich einen Gedanken vor. Herr Schönfeld hat diese Vorgriffsregelung zur Ergänzung des § 8 Abs. 2 AStG angesprochen, in der wir damals gesagt haben, bei Zwischeneinkünften mit Kapitalanlagecharakter ist der Entlastungsbeweis nicht eröffnet. Und vielleicht darf ich nochmal diesen Erlass zitieren, weil ich denke, dass es dort auf ein Wort ankommt. Wir haben damals gesagt, der Entlastungsbeweis, d. h. die Ausstiegsmöglichkeit besteht nicht für Zwischeneinkünfte, die nur aufgrund des § 7 Abs. 6 AStG hinzurechnungspflichtig sind. D. h. wenn ich Zwischeneinkünfte mit Kapitalanlagecharakter erziele, dabei aber eine beherrschende Beteiligung habe, dann ist mir die Möglichkeit des Entlastungsbeweises eröffnet. Wenn ich allerdings, weil ich eine ________________________ 17 EuGH v. 12.9.2006 – Rs. C-196/04 – Cadbury Schweppes, Slg. 2006, I-7995.

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Splitterbeteiligung habe, nur nach § 7 Abs. 6 AStG in die Hinzurechnung komme, dann – so unsere Logik damals und die halte ich auch für richtig – bin ich nicht mehr im Anwendungsbereich der Niederlassungsfreiheit – und nur die war ja in „Cadbury Schweppes“18 angesprochen – und habe deshalb nicht die Möglichkeit des Gegenbeweises. Wenn wir jetzt mit diesem Vorverständnis in den Mischfall gehen. Er ist, Herr Schönfeld hat es auf dem Chart angemerkt, aus der Bundestags-Drucksache,19 d. h. aus der Gesetzesbegründung übernommen. Der Fall wird in der Gesetzesbegründung so gelöst, dass man segmentiert, dass man abgrenzt. Man stellt dann fest, dass in dieser ausländischen Einheit zwei Aufgaben erledigt werden, nämlich einmal Buchführung, Debitoren- und Kreditorenverwaltung und daneben die Finanzierungsaufgabe. Das Beispiel ist dabei modellhaft so gebildet, dass die Finanzierungstätigkeit von einer weisungsabhängigen Sekretärin erledigt wird. Damit ist keine angemessene Personalausstattung vorhanden und ein Escape nicht möglich. Wir müssen also bei dieser Auslandseinheit diese zwei Bereiche gesondert prüfen. So ist es in der Gesetzesbegründung gelöst und das halte ich auch für richtig. Frage beantwortet? Prof. Dr. Lüdicke Teils, teils aus meiner Sicht. Zunächst einmal, wenn da wirklich nur eine Sekretärin ist, kann man sich schon fragen, wo eigentlich der Ort der Geschäftsleitung ist. Aber das ist vielleicht eine andere Frage, die wir hier nicht diskutieren müssen. Was ich interessant finde, ist, dass Sie meine Vermutung, was damals in dem BMF-Schreiben geregelt war, bestätigt haben. Und das ist ein etwas generellerer Punkt. Deswegen möchte ich den nochmal herausgreifen. Sie haben gesagt, mit „Cadbury Schweppes“20 ist ein Fall der Niederlassungsfreiheit entschieden worden, weil diese irischen Cadbury-Gesellschaften zu 100 % zum Konzern dazugehörten. Und das BMF war nicht bereit, das auf eine Situation der Kapitalverkehrsfreiheit zu übertragen. Nun frage ich mich, warum kann man das nicht übertragen? Denn die ________________________ 18 EuGH v. 12.9.2006 – Rs. C-196/04 – Cadbury Schweppes, Slg. 2006, I-7995. 19 BT-Drucks. 16/6290, S. 93. 20 EuGH v. 12.9.2006 – Rs. C-196/04 – Cadbury Schweppes, Slg. 2006, I-7995.

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Niederlassungsfreiheit schützt die 100 %-Beteiligung und die Kapitalverkehrsfreiheit die 5 %- oder die 10 %- oder auch die 1 %-Beteiligung, mit dem gleichen Schutzstandard und auch mit dem gleichen Rechtfertigungsstandard. Wieso kann man das nicht übertragen? Oder möchte man sich gern nochmal verurteilen lassen unter Art. 63 AEUV (ehemals Art. 56 EG)? Prof. Dr. Gosch Ich würde Ihnen vollkommen zustimmen, Herr Lüdicke. Man befindet sich beim Drittstaatensachverhalt sofort in der „Sphäre“ Kapitalverkehrsfreiheit. § 7 Abs. 6 AStG erfordert lediglich eine 1 %-Beteiligung, es genügt also ein bloßer Streubesitz. Damit wäre die Kapitalverkehrsfreiheit einschlägig. Ist der betreffende Anteilseigner tatsächlich zu einem höheren Prozentsatz beteiligt, sagen wir zu 30 oder 40 %, dann stellt sich das Problem, ob infolge dieser tatsächlichen Verhältnisse die Niederlassungsfreiheit als vorrangiges Freiheitsrecht anzusehen ist, oder aber, ob der Normtelos – bei § 7 Abs. 6 AStG also das 1 %-Beteiligungserfordernis – den Ausschlag gibt. Ob bei einem tatsächlich „sicheren Einfluss“ auf die Beteiligungsgesellschaft die Niederlassungsfreiheit stets vorgeht, erscheint derzeit angesichts neuerer Entscheidungen des EuGH doch recht diffus. So recht weiß im Moment niemand so ganz genau, wo der Weg langgeht. Einerseits stellt der EuGH alle fünf Grundfreiheiten des Vertrages auf eine gleichberechtigte Stufe. Andererseits scheint ihm die Drittstaatenwirkung der Kapitalverkehrsfreiheit denn doch ein Dorn im Auge zu sein und er „rudert“ nun gewissermaßen über die besagte Verdrängungsthese zurück. Wo aber liegen dafür die Grenzen, was sind die Erfordernisse? Das zum einen. Geht man aber davon aus, dass auch Kapitalanlagegesellschaften nach Maßgabe der Kapitalverkehrsfreiheit geschützt sind, dann besteht aus meiner Sicht kein Grund, diesen die Gegenbeweismöglichkeit – den Motivtest – vorzuenthalten. Und ich meine auch, dass die Substanzanforderungen, die an eine solche Gesellschaft zu stellen sind, entsprechend reduziert werden müssen. Eine Kapitalanlagegesellschaft braucht eben nicht 20, 30 oder 100 Leute, um ihrer Aufgabe nachzugehen. Sie braucht einen „Entscheider“ und sie braucht vielleicht noch eine Hilfskraft, aber sie muss nicht unbedingt eine „Mannschaft“ haben, denn die Substanz, die nötige „Manpower“, ist sozusagen unternehmenszweckbedingt zu vermindern. Der BFH hat in diesem Sinne auch schon in dieser Weise erkannt, allerdings in ande42

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rem Zusammenhang: bei § 50d Abs. 1a EStG a. F. und konkret bei den sog. „Dublin Docks“,21 und in ähnlicher Weise in der sog. „Delaware“Entscheidung.22 Prof. Dr. Lüdicke Wenn man sieht, was Sie mit fünf Personen im I. Senat alles bewerkstelligen, ist klar, dass man in so einer Gesellschaft weniger Leute braucht. Herr Schönfeld, ein ganz kurzes Schlusswort. Mit Blick auf die Uhr möchte ich die Diskussionsrunde beenden. Ich habe keinen Zweifel, dass das Europarecht auch bei künftigen Tagungen wieder auf dem Programm stehen wird. Dr. Schönfeld Herzlichen Dank. Die Herren auf dem Podium haben soweit alles gesagt. Ich habe die Hoffnung, dass insbesondere die Finanzverwaltung künftig noch offener mit der EuGH-Rechtsprechung umgeht, und ich bin gespannt, wie der BFH in der Zukunft entscheiden wird.

________________________ 21 BFH v. 19.1.2000 – I R 94/97, BStBl. II 2001, 222; v. 19.1.2000 – I R 117/97, IStR 2000, 182; bestätigt durch BFH v. 25.2.2004 – I R 42/02, BStBl. II 2005, 14. 22 BFH v. 20.3.2002 – I R 63/99, BStBl. II 2003, 50.

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Tendenzen und Probleme der internationalen Zusammenarbeit im Steuerverfahren Prof. Dr. Arndt Schmehl Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Finanz- und Steuerrecht, Universität Hamburg

Inhaltsübersicht A. Die unvermutete Rasanz der jüngeren Entwicklung . . . . . . . . . . I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Der status quo ante und das Motiv der Fairness im Steuerwettbewerb . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die kritisierten Defizite der internationalen Zusammenarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Die aktuellen Tendenzen und ihre Probleme . . . . . . . . . . . . . . . . I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Der steuer- und wirtschaftspolitische Antrieb der internationalen Verfahrenskooperation . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Verbindung der Steuerwettbewerbsdebatte mit der Finanzkrise . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Mittel zur „Einebnung des Spielfelds“ . . . . . . . . . . . a) Einleitung . . . . . . . . . . . . b) Entfaltung internationalen Druckpotentials . . . . . c) Verbreiterung der Legitimitätsbasis der Zielsetzung . . . . . . . . . . . . . . . d) Relativierung des verfahrensrechtlichen Territorialprinzips . . . . . . . . . . . . e) Erhöhte Verfahrenspflichten bei zwischen-

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staatlichen Kooperationsmängeln . . . . . . . . . . . . . . aa) Besondere Verfahrenspflichten bei wirtschaftlichen Außenbeziehungen als internationale Sanktionsdrohung . . . . . . . . . . . bb) Nationale Gesetzgebungsmacht als Instrument eines intergouvernementalen Netzes . . . . . . . . cc) Monitoring, schwarze und graue Listen . . . . 3. Der Fall UBS/USA/Schweiz und seine rechtliche Resonanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Ein großer Fall als Katalysator? . . . . . . . . . . . . . . . b) Steuerverfahrensrechtliche Implikationen . . . . . c) Finanzmarktrechtliche Implikationen . . . . . . . . . . d) Zwischenbilanz zur Frage dauerhafter rechtlicher Nachwirkungen des Falles . . . . . . . . . . . . . III. Rechts- und verfassungspolitische Fixpunkte und Entwicklungen . . . . . . . . . . . . . 1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . 2. Anforderungen des Gleichheitssatzes . . . . . . . . . . . . . .

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Schmehl – Internationale Zusammenarbeit im Steuerverfahren 3. Anforderungen des Schutzes der persönlichen Sphäre . . . . 60 4. Kompetenz für die Definition des rechtsstaatlichen Schutzniveaus . . . . . . . . . . . 61 5. Auswirkungen auf das Verhältnis von Verfahrensrecht und materiellem Recht . . . . 61 C. Der OECD-Standard der Zusammenarbeit und die neuen Vereinbarungen Deutschlands . . . . . . I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Einzelfallbezogenheit des Verfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . III. Erstreckung auf unilaterale Besteuerungsfragen und Entkoppelung von der Strafbarkeit IV. Das Kriterium „voraussichtlich erheblich“ . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Zuständigkeit für die Wahrung der Verhältnismäßigkeit . . . . . VI. Verändertes Gewicht von Steuergeheimnis, Datenschutz und Rechtsschutz . . . . . . . . . . .

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D. Das Steuerhinterziehungsbekämpfungsgesetz . . . . . . . . . . . . 68 I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 II. Gesetzesinhalt . . . . . . . . . . . . . 68

III. Zu den Weichenstellungen auf der Grundsatzebene . . . . . . . . . 1. Verbindung erhöhter Mitwirkungspflichten mit steuerlichen Nachteilen als Sanktion . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Kriterien und Zuständigkeit für die Eröffnung des Anwendungsbereichs der Regelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Delegation des erstmaligen Anwendungszeitpunkts auf die Verordnungsebene . . . . . . . . . . . . b) Die Feststellung mangelnder Kooperativität eines bestimmten Staates als zweite Stufe der Aktivierung des Normmantels . . E. Fazit und Ausblick . . . . . . . . . . . . I. Status quo nach dem Jahr 2009 II. Der Trend zur Verringerung der mediatisierenden Wirkung einer Auslandsberührung auf die Rechtsbeziehung zwischen Staat und Steuerpflichtigen . . . III. Der Trend zur Änderung des materiellen Rechts mit dem Ziel der Verringerung des Informationsbedarfs . . . . . . . . .

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A. Die unvermutete Rasanz der jüngeren Entwicklung* I. Einleitung „The era of bank secrecy is coming to an end.“ So verkündete es OECD-Generalsekretär Angel Gùrria vor rund drei Monaten, im Sep________________________ * Um Aktualisierungen bis zum 20. Januar 2010 ergänzte Langfassung des am 4. Dezember 2009 gehaltenen Vortrags. Die Vortragsform wurde weitgehend beibehalten. – Der Autor ist Geschäftsführender Direktor des Seminars für Finanz- und Steuerrecht der Fakultät für Rechtswissenschaft der Universität Hamburg. E-Mail [email protected], Website: http://www.oefsr.uni-hamburg.de.

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tember 2009.1 Bemerkenswert ist nicht zuletzt, dass die Formulierung kaum wie eine bloße Feststellung, sondern fast sogar wie die Verkündigung wirkt, eine langjährige Verheißung gelange nun endlich zu ihrer ersehnten Erfüllung. Die internationale Zusammenarbeit im Steuerverfahren ist in diesem Jahr auch aus anderen Gründen sicherlich ein „Brennpunkt im Internationalen Steuerrecht“. Dass die Entwicklung der internationalen Zusammenarbeit im Steuerverfahren jetzt in zehn Monaten weiter vorangeschritten sei als zuvor in zehn Jahren, ist mittlerweile schon zu einem stehenden Ausdruck geworden. Doch ist es eigentlich berechtigt, die Entwicklung fast wie eine Sensation zu handeln, oder ist diese Einschätzung teils nur Ausdruck einer je nach Perspektive als mehr oder weniger nützlich angesehenen Öffentlichkeitsarbeit? Werfen wir also im Dezember einen näheren Rück- und Ausblick auf die zu beobachtenden und zu erwartenden Tendenzen und deren Probleme, um sie jenseits der oft bestimmenden Tageshektik in den Zusammenhang zu stellen.

II. Der status quo ante und das Motiv der Fairness im Steuerwettbewerb Eine Aufnahme des status quo ante zeigt zunächst, dass schon seit langem wesentliche Regeln über den Informationsaustausch2 in Kraft und eine Bewegung zu ihrem Ausbau in Gang gesetzt worden war. So ist dies für die EU zu beobachten. Es besteht seit 1977 die AmtshilfeRichtlinie3 auf dem Gebiet der Steuern, für die Mehrwertsteuer besteht die weiter gehende Verordnung von 2003,4 und infolge der Zinsricht________________________ 1 Zitiert nach der OECD-Presseerklärung anlässlich des G20-Gipfels in Pittsburgh v. 25.9.2009. Vgl. auch den Fortschrittsbericht des OECD Global Forum „Tax Cooperation 2009 – towards a level playing field“. 2 Als eingehende Monographien zum Themenkreis siehe v. a. Tegtmeyer, Zwischenstaatliche informationelle Unterstützung in Steuersachen mit Nicht-EU-Staaten, 2006; Hendricks, Internationale Informationshilfe im Steuerverfahren: Grundlagen, Systematik und Grenzen der informationellen zwischenstaatlichen Rechts- und Amtshilfe, 2004. 3 Richtlinie 77/799/EWG v. 19.12.1977, ABl. L 336 v. 27.12.1977; zuletzt geändert durch Richtlinie 2006/98/EG v. 20.11.2006, ABl. EU L 363 v. 20.12.2006. 4 Verordnung (EWG) Nr. 1798/2003 v. 7.10.2003, ABl. EU L 264 v. 15.102003; zuletzt geändert durch Verordnung (EG) Nr. 143/2008, ABl. EU L 44 v. 20.2.2008.

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linie5 von 2003 als weiterem Pfeiler hat beispielsweise jeder Mitgliedstaat die Pflicht, über Zinszahlungen aus seinem Gebiet an Ansässige anderer Mitgliedstaaten zu informieren oder stattdessen (so Belgien, Luxemburg, Österreich) eine Quellensteuer zu erheben und abzuführen.6 Werden ferner die Abkommensmuster der OECD als, wie sie es für sich in Anspruch nehmen, Ausdruck gemeinsamer Überzeugung zumindest der OECD-Staaten gesehen, so ergibt sich auch dort ein erheblicher Bestand. Das OECD-Musterabkommen sieht bereits traditionell die Vereinbarung vor, dass die zuständigen Behörden der Vertragsstaaten Informationen austauschen, die zur Durchführung des Abkommens („kleine“ Auskunftsklausel) oder zudem zur Verwaltung oder Anwendung des rein innerstaatlichen Steuerrechts („große“ Auskunftsklausel) „erforderlich“ oder, nach der heutigen Formulierung, „voraussichtlich erheblich“ sind (Art. 26 Abs. 1 OECD-MA). 1977 wurde der Auskunftsverkehr bei der großen Klausel zusätzlich von der Abkommensberechtigung der Person abgekoppelt. 2000 wurde das Muster auf Steuern jeder Art und Bezeichnung erstreckt. 1998 hatte die OECD in ihrem Report Harmful Tax Competition: An Emerging Global Issue den Mangel an wirksamem Informationsaustausch als eines der Schlüsselkriterien zur Bestimmung schädlicher Praktiken nationaler Steuerpolitik identifiziert. 2000 benannte sie Gebiete mit geringem Informationsaustausch als „unkooperativ“ und, soweit sie dies mit vergleichsweise sehr niedrigen Steuersätzen verbanden, als tax havens; dies führte zur Liste der „Steueroasen“. Diesen Staaten und Gebieten sollte ab 2002 ein vergleichsweise niedrigschwelliger Zugang zum Kreis der als hinreichend kooperativ anerkannten Staaten eröffnet werden. Als solchen legte die Group on Effective Exchange of Information unter Beteiligung einer Reihe bis dahin „unkooperativer“ Staaten selbst das Muster für Abkommen über den Informationsaustausch in Steuersachen, Tax Information Exchange Agreements (TIEA), vor. 31 Staaten verpflichteten sich dazu, sich daran zu orientieren. ________________________ 5 Richtlinie 2003/48/EG v. 3.6.2003, ABl. EU L 157/38 v. 26.62003, zuletzt geändert durch Richtlinie 2006/98/EG v. 20.11.2006, ABl. EU L 363 v. 20.12.2006. 6 Zur außerdem bestehenden zwischenstaatlichen Rechtshilfe in Steuerstrafsachen siehe den instruktiven Überblick im BMF-Schreiben v. 16.11.2006, IV B I – S 1320 – 66/06, BStBl. I 2006, 698.

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2005 wurde in Art. 26 des OECD-Musterabkommens die Stoßrichtung nunmehr ausdrücklich verankert, wonach Informationen, die sich bei Dritten – Banken und anderen Finanzinstituten, Beauftragten, Bevollmächtigten, Treuhändern – befinden, nicht von vornherein außer Reichweite bleiben dürfen. Nach einer kontinuitätsorientierten Lesart war diese Ausrichtung schon zuvor im Text enthalten, aber zu wenig bemerkt worden, nach der anderen Lesart hatte sie bis dahin gefehlt. Was die Formen und Anlässe des Auskunftsverkehrs angeht, behielt das DBA-Muster einen Vorsprung gegenüber dem TIEA-Muster, indem dieses auf Auskünfte auf Ersuchen abstellt, während das Musterabkommen auch automatischen und spontanen Informationsaustausch als Vereinbarungsmöglichkeiten vorsieht.

III. Die kritisierten Defizite der internationalen Zusammenarbeit Inwiefern kann nun trotz all dieser Vorarbeiten von einer rasanten Entwicklung gerade erst 2008 und 2009 die Rede sein? Die am deutlichsten kritisierten Lücken waren dadurch verblieben, dass die zuvor beschriebenen Anläufe nur Vorbereitungsmaßnahmen blieben oder allenfalls zu soft law führten, denn eine ganze Reihe relevanter Akteure hatten weder den einen noch den anderen OECD-Standard in einer nennenswerten Zahl von Abkommen unterzeichnet. In anderen Staaten fehlte es zwar am Abkommensnetz nicht grundsätzlich, aber es waren insbesondere hinsichtlich eigener Ermittlungspflichten unter Einbeziehung von Informationen, die bei Dritten vorliegen, starke Vorbehalte vereinbart worden, die Bestand hatten. So wurde oft Amtshilfe nur sehr zurückhaltend vereinbart, nämlich nur durch die kleine Auskunftsklausel mit dem Zweck der Vermeidung der Doppelbesteuerung und nicht als allgemeines Mittel zur Verwirklichung von Steueransprüchen des anderen Vertragsstaates, und nur unter Anwendung des Grundsatzes der Inländerbehandlung, der insbesondere das jeweils einzelstaatliche Niveau des Bankgeheimnisses betrifft. Ist ein ebenes Spielfeld – auch dieses, das level playing field ist dank des OECD-Jargons Teil des Debattenwortschatzes geworden – nach den Vorstellungen eines Teils der Teilnehmer am Steuerwettbewerb nur auf der Grundlage von Informationsaustausch herzustellen, so spielten andere auf Zeit, um die bisherigen Unebenheiten des Spielfelds noch nutzen zu können. Zugleich wurde die Bedeutung des Informationsaustausches als positiver oder negativer Standortfaktor teilweise erst deutlich ins Bewusstsein gehoben, was das Zeitspiel noch zu verlängern drohte. 49

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B. Die aktuellen Tendenzen und ihre Probleme I. Einleitung Die Untersuchung der aktuellen Tendenzen und ihrer Probleme soll dazu dienen, den Sinn der im Werden begriffenen rechtlichen Regelungen und ihre Bedeutung zu erfassen und Einschätzungen über das Wahrscheinliche der weiteren Entwicklung zu erleichtern. Im Folgenden gilt es daher, das „Set“ zu analysieren, auf derzeit der Film der internationalen Zusammenarbeit im Steuerverfahren „produziert“ wird.

II. Der steuer- und wirtschaftspolitische Antrieb der internationalen Verfahrenskooperation 1. Die Verbindung der Steuerwettbewerbsdebatte mit der Finanzkrise Die bei diesem Film eingesetzten Motive wurzeln, wie aufgezeigt, zuerst im Bestreben nach dem Ausschluss schädlicher Wirkungen des Steuerwettbewerbs oder, positiv gewendet, nach der Verwirklichung von Fairnessregeln im Steuerwettbewerb. Nach dem OECD-Report von 19987 wurde es zunehmend zum Konsens, dass Transparenz und Informationsaustausch Bedingungen hierfür sind. Zu konstatieren ist aber auch, dass diese Debatte alleine bis dahin keineswegs stark genug war, um den beschriebenen Knoten zu lockern. Der offenbar notwendige, verstärkende Impuls kam von 2008 an nicht allein aus dem Inneren des Steuerthemas, sondern ging von der Finanzkrise aus. Diese löste bei Weitem nicht alle, aber doch einige Bremsen eines Zuges zur Regulierung. Dafür ausschlaggebend sind mindestens zwei Verbindungen: Die erste besteht darin, dass viele der typischen Steueroasen ihre besondere Attraktivität speziell auf Finanzmarktakteure, darunter oft Nichtbanken wie Zweckgesellschaften, beziehen und dies erst auf einer Kombination geringer Besteuerung mit geringer Regulierung und geringer Transparenz beruht (Secrecy Jurisdictions).8 Die G20 griffen diese ________________________ 7 OECD, Harmful tax competion: An emerging global issue, Paris 1998. 8 Wird die Transparenz von Bankgeschäften nach der jeweiligen Gesetzeslage übrigens mit einer Gewichtung des Umfangs internationaler Finanzgeschäfte in dem Land kombiniert, wie es das „Tax Justice Network“, eine sich insbesondere für die Interessen der Entwicklungsländer verwendende NGO, in seinem Financial Secrecy

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Verbindung auf, indem sie die OECD-Standards zum steuerlichen Informationsaustausch schon im November 2008 zu einem Baustein der Integrität der Finanzmärkte erklärten. Die zweite Verbindung zur Finanz- und Wirtschaftskrise liegt, als weiterer Motor der Entwicklung, darin, dass in ihrer jetzigen zweiten Phase nach Ende der größten Krisenzuspitzung der Druck auf die klassischen Steuerstaaten, ihre Steueransprüche auch realisieren zu können, anhaltend groß bleibt und wächst, je mehr die Finanzkrise auch Wirtschaftsund, infolge der auf sie bezogenen staatlichen Maßnahmen, Haushaltskrisen nach sich zieht. 2. Die Mittel zur „Einebnung des Spielfelds“ a) Einleitung Der steuerliche Informationsaustausch reist also als Waggon des Zuges zur Finanzmarktregulierung mit. Er könnte mit dessen Schwung aber, jedenfalls soweit es um die Verwirklichung von berechtigten Steueransprüchen geht, auch noch weiter fahren, wenn der Schub der Finanzkrise als dahinter gespannte Lokomotive nachlässt. Folgende steuerund wirtschaftspolitische Bezugspunkte sind kennzeichnend: b) Entfaltung internationalen Druckpotentials Erstens war und ist es ein mitbestimmender Faktor, dass sich von Ende 2008 an eine Art harter Kern von knapp 20 Staaten zusammenfand, der in der Steuerfrage vorangehen wollte, darunter Frankreich und Deutschland. Sie nahmen die OECD-Standards zum Ausgangspunkt, um OECDMitglieder und Nichtmitglieder zu einem mit dem Anspruch auf Neutralität und Transparenz verbundenen, multilateralen Prozess aus Monitoring und Peer-Review in Bezug auf diese Standards für alle Jurisdiktionen aufzufordern, mittels dessen die wirksame Umsetzung jener Standards weltweit sichergestellt werden sollte. c) Verbreiterung der Legitimitätsbasis der Zielsetzung Zweitens wurden die Legitimitätsdefizite, die Einrichtungen wie OECD, G20 und G8 in den Augen vieler ihr nicht zugehöriger Staaten auf________________________ Index vorsieht, so fanden sich der US-Bundestaat Delaware, die Schweiz und Luxemburg auf den ersten drei Plätzen (vor den Cayman Islands), was einen zumindest interessanten Denkanstoß gibt.

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weisen, teils dadurch verringert, dass beispielsweise auch der UNExpertenausschuss für internationale Zusammenarbeit in Steuerangelegenheiten für seine Arbeiten an einem Verhaltenskodex (Code of Conduct on Cooperation in Combating International Tax Evasion) mehr Aufmerksamkeit erhielt. Er legte mit dem Begriff tax evasion zugleich ein weit gefasstes Zielfeld seiner Aktivitäten zu Grunde, das in Bezug auf vom nationalen Recht getroffene Unterscheidungen, etwa zwischen Ordnungswidrigkeit und Straftat, bewusst unscharf gehalten ist, und stellte die Notwendigkeit verstärkter Kooperation in den Kontext eines Globalisierungsfolgenrechts und internationaler Gerechtigkeit auch aus Sicht wirtschaftlich schwacher Regionen. d) Relativierung des verfahrensrechtlichen Territorialprinzips Drittens konnte, vor allem von den Vereinigten Staaten von Amerika, der Zugang zum jeweils nationalen Kapitalmarkt als Eingangspforte eingesetzt und teils mit der steuerlichen Kooperation verknüpft werden. Auf diesem Weg wird eine Expansion jeweils einzelstaatlicher Rechtsvorstellungen unter partieller Überwindung der Restriktionen durch das verfahrensmäßige Territorialitätsprinzip9 erreicht, indem Regierungen unmittelbar mit Privatunternehmen eine steuerliche Kontrolle derjenigen Kunden vereinbaren, die steuerlich in dem Staat ansässig sind. Die Kundenbeziehung wird zu einer Brücke der Implementation des internen Rechts im Ausland. Dies spiegelt den vielzitierten Effekt der Globalisierung, die Abhängigkeit von Unternehmen und Wirtschaftstätigkeit von örtlichen Bindungen zu verringern: Dessen zweite Seite ist es dann, die mediatisierende Wirkung der Auslandsberührung zu verringern, indem mehr unmittelbare Beziehungen zwischen Staaten und Privaten ohne Rücksicht auf die territoriale Zuordnung der wirtschaftlichen Transaktionen entstehen. Dies wird im Verhältnis der US-Steuerbehörden zu auch im Ausland tätigen Banken praktiziert. Für die Abgrenzung der Geltung der Verfahrensrechte kommt damit letztlich die Definition eines Marktraumes als Kriterium zum Zuge und drängt das Abstellen auf die Gebietszuordnung des Geschäftsvorfalls und des in das Verfahren einbezogenen Geschäftspartners des Steuerpflichtigen insoweit zurück. Darin liegt eine ________________________ 9 Zum Spannungsverhältnis von verfahrensbezogener Territorialität und materielle grenzüberschreitenden Steueransprüchen Staringer, Steuervollzug bei grenzüberschreitenden Sachverhalten, DStJG 31 (2008), S. 135 (136).

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Relativierung der Möglichkeit zur Geltendmachung von jeweils nationalen Vertraulichkeitsnormen sowie auch von mangelnder Kooperationsfähigkeit oder -bereitschaft von Staaten. Es liegt die Diskussion nicht mehr völlig fern, dass sich solche Ansätze zum Wandel auch im materiellen Steuerrecht entwickeln könnten. e) Erhöhte Verfahrenspflichten bei zwischenstaatlichen Kooperationsmängeln aa) Besondere Verfahrenspflichten bei wirtschaftlichen Außenbeziehungen als internationale Sanktionsdrohung Viertens schließlich wurden von dem bereits genannten kleineren, aber wichtigen Kreis von Staaten Sanktionsdrohungen konkret formuliert, und zwar auch unter Berufung auf den Schutz der eigenen Besteuerungsbasis gegenüber intransparenten Rechtsordnungen als Legitimationsgrund.10 Als solche Maßnahmen werden insbesondere höhere Quellensteuern bei Zahlungen in unkooperative Gebiete, die Versagung des Abzugs bei Betriebsausgaben an dort ansässige Empfänger, die Kündigung von Doppelbesteuerungsabkommen bei mangelndem Auskunftsaustausch, höhere Offenlegungspflichten zur Meldung von Transaktionen bei Beteiligung undurchsichtiger Rechtsordnungen, die Versagung der Steuerbefreiung für Beteiligungsgewinne sowie Aufforderungen an Finanzinstitute, ihre Anlagestrategie in Bezug auf die Beteiligung solcher Standorte zu überprüfen, in Betracht gezogen. bb) Nationale Gesetzgebungsmacht als Instrument eines intergouvernementalen Netzes Entsprechende Regelungen, die sich nun in Steuergesetzen – so in Deutschland im Steuerhinterziehungsbekämpfungsgesetz und der zugehörigen Verordnung11 – finden, haben einige bemerkenswerte recht________________________ 10 Siehe zusammenfassend hierzu insbes. das Schlussdokument der Zweiten Konferenz zum Kampf gegen internationalen Steuerbetrug und Steuerhinterziehung durch mehr Transparenz und effektiven Auskunftsaustausch für Steuerzwecke in Berlin v. 23. Juni 2009, http://www.bundesfinanzministerium.de/nn_82/DE/Wirt schaft__und__Verwaltung/Internationale__Beziehungen/220609__Steuerkonferenz __anl__de.pdf (zuletzt abgerufen am 10.4.2010). 11 Gesetz zur Bekämpfung der Steuerhinterziehung (Steuerhinterziehungsbekämpfungsgesetz) v. 29.7.2009, BGBl. I 2009, 2302; Steuerhinterziehungsbekämpfungsverordnung (SteuerHBekV) v. 18.9.2009, BGBl. I 2009, 3046.

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liche Eigenschaften. So werden sie zwar rein national getroffen, sind aber international veranlasst und stellen Mittel eines informellen Regulierungs-Vereinbarungsnetzes von Regierungen – kaum von Parlamenten, auch wenn diese innerstaatlich zuständig sind und daher „mitmachen“ – dar. Sie erweisen sich zudem als Ausdruck eines bestimmten instrumentellen Verständnisses des Einsatzes von Gesetzgebungsbefugnissen, was einiges von deren teils ungewöhnlicher, auch den Schritt zum „Ob“ der Anwendung stark auf die Exekutive verlagernder Konstruktion erklärt: Diese Gesetzesnormen sind von vornherein nicht unbedingt darauf angelegt, wirklich zur Anwendung zu kommen, sondern setzen nationale Rechtsetzungsmacht zuerst einmal vorrangig als Druckmittel, in diesem Fall mit dem Ziel der internationalen Maßstabsharmonisierung, ein. Dieser Hintergrund vermag aber nicht rechtsstaatliche Standards zu verringern. So bewirkt das Versprechen, ein Gesetz möglichst erst nicht anwenden zu wollen, nicht schon dessen durchgängige Relativierung. cc) Monitoring, schwarze und graue Listen Wesentliche Dienste bei diesem Vorgehen der genannten Staatengruppe leisteten bekanntlich eine „schwarze Liste“, auf denen die aus Sicht der anderen als nicht kooperationsbereit geltenden Staaten und Gebiete geführt wurden, und eine umfangreichere „graue Liste“ der sich kooperationsbereit erklärenden, aber den Standard noch nicht hinreichend implementierenden Gebiete. Das letztgenannte Kriterium wurde an einer naturgemäß politisch „gegriffenen“ Zahl festgemacht, nämlich dem Abschluss von wenigstens zwölf mindestens dem TIEA-Standard entsprechenden Informationsaustauschabkommen. Unter den „Grauen“ fanden sich damit anfangs etwa auch die Schweiz, Österreich, Luxemburg und Belgien. Erst das Zusammenspiel der hier genannten Mittel brachte offenbar wirklich Bewegung. Die Zahl der von den „grau gelisteten“ Staaten abgeschlossenen Abkommen wuchs erst 2009 praktisch Tag für Tag,12 obwohl das Monitoring und die Arbeit mit Listen dem Grunde nach schon seit mehreren Jahren von der OECD betrieben worden waren.

________________________ 12 Der aktuelle Stand war und ist im Internet mitzuverfolgen, vgl. http://www.oecd. org/tax/progressreport.

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3. Der Fall UBS/USA/Schweiz und seine rechtliche Resonanz a) Ein großer Fall als Katalysator? Als Katalysator in Bezug auf die Entwicklung in der Schweiz, die in diesem Zusammenhang schon für sich alleine gewichtig ist und darüber hinaus eine Orientierungsfunktion für andere einnimmt, wird vielfach dem die Schweizer Bank UBS, betreffenden, spektakuläre Züge annehmenden Fall beigemessen. Der Sachverhalt betraf die Verifizierung der Art der Beteiligung US-amerikanischer Steuerpflichtiger an OffshoreGesellschaften, die allem Anschein nach auch unter Mitwirkung der Schweizer Bank eingerichtet worden waren. In dem ausgesprochen wendungsreich verlaufenden, steuer-, straf- und zivilrechtliche Ebenen parallel führenden Fall wurde neben anderen Abreden im August 2009 auch die Herausgabe von Daten der Bank in Bezug auf 4450 US-Ansässige vereinbart. Die Aufmerksamkeit für den Vorgang erklärt sich nicht allein aus Zuspitzungen bis hin zu einer angenommenen Gefährdung der Funktionsfähigkeit der Bank durch mögliche Strafzahlungen und den damit verbundenen Vertrauensverlust und Kundenrückzug, sondern auch daraus, dass er sich um typische Probleme des Zugriffs auf steuerlich relevante Daten, die bei Dritten – Banken – anfallen, dreht. Zum Aufruf kam damit die Frage des Verhältnisses der Steuerordnungen im Hinblick auf das „klassische“ Argument, ein einzelstaatliches Bankkundengeheimnis nur nach den Maßgaben zu durchbrechen, die auch im jeweils innerstaatlichen Recht gelten. b) Steuerverfahrensrechtliche Implikationen Die US-amerikanische Seite verfolgte insbesondere den Vorwurf, Mitarbeiter der Bank hätten zur Steuerhinterziehung durch mehrere tausend US-Steuerpflichtige beigetragen. Zu blitzartiger Berühmtheit gelangte nicht zuletzt ein ehemaliger Mitarbeiter der Privatkundenbetreuung der Bank, der sich in einem Ermittlungsverfahren in Florida dahin einließ, dass es ein darauf gerichtetes, allgemein angewendetes Geschäftsschema gegeben habe. Im Einzelnen zweifelten die Steuerbehörden die Richtigkeit der Angaben in Steuerformularen mit Blick darauf an, ob US-ansässige Personen wirtschaftlich Berechtigte an bestimmten Offshore-Gesellschaften waren oder nicht. Herausverlangt wurden in einem Amtshilfegesuch an die Schweiz die Namen der Gesellschaften und ihrer wirtschaftlich 55

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Berechtigten, Kontounterlagen, Korrespondenz und andere relevante Belege. Die Bank hatte aufgrund einer Vereinbarung mit dem US-Internal Revenue Service IRS den Status eines Qualified Intermediary erhalten. Ein solcher erlangt einerseits Betätigungsrechte am US-Kapitalmarkt und übernimmt andererseits erhöhte Pflichten. Dazu gehört, dass Kunden den qualifizierten Finanzintermediär, wenn eine Quellensteuer bei Dividenden und Zinsen vermieden werden soll, ermächtigen, ihre Identität den Steuerbehörden offenzulegen. Die Eidgenössische Steuerverwaltung EStV hielt das beschriebene Gesuch des US-IRS nach dem Informationsaustausch-Artikel 26 des schweizerisch-amerikanischen Doppelbesteuerungsabkommens für berechtigt. Das Bundesverwaltungsgericht13 entschied auf einen hiergegen eingelegten Rechtsbehelf zwar nur über die Kosten, nachdem die Daten in dem vorgelegten Sachverhalt inzwischen schon unter Bezug auf die später noch zu erwähnende14 finanzmarktrechtliche Grundlage „ausgeliefert“ worden waren. Es urteilte aber zu Lasten der Beschwerdeführer und mit einer ausführlichen Begründung, die das Amtshilfegesuch für formal und inhaltlich begründet erklärt, obwohl dieses nur die Art und Weise des möglichen Steuerbetrugs beschrieben hatte, aber keine Namen enthielt. Das Gesuch bezog sich vielmehr auf die noch unbestimmte Vielzahl von natürlichen Personen, die in den Vereinigten Staaten unbeschränkt steuerpflichtig waren und unter möglicher Mitwirkung der Bank die fraglichen Gesellschaften errichtet hatten. Darin sieht das Gericht keine unzulässige Beweisausforschung, sondern erachtet hinreichende Anhaltspunkte für Steuerbetrug als gegeben an. Zum einen, so das Gericht, sei angesichts des Abkommenszwecks, dem Steuerbetrug beizukommen, der Verdacht der Straftat nicht mit dem – nicht zu verlangenden – Verdacht der konkreten Täterschaft einer bestimmten Person zu verwechseln. Zum anderen basiere das Qualified Intermediary-Verfahren auf Vertrauen, indem es das Ziel habe, die Steuerpflichtigen ohne weitere staatliche Kontrollen zur Erfüllung ihrer Steuerpflicht zu bringen und dieser im Gegenzug nicht über eigene Kontrollmöglichkeiten bei den einzelnen Steuerpflichtigen verfüge. Für die ausreichende „gewisse Wahrscheinlichkeit“ des Steuerbetrugs ge________________________ 13 Bundesverwaltungsgericht, Abt. I, Urteil v. 5.3.2009, A-7342/2008 und A-7426/ 2008. 14 B. II. 3. c).

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nüge es dann, wenn aufgrund widersprüchlicher aktiver Angaben der Steuerpflichtigen Anhaltspunkte dafür bestünden, dass eine OffshoreGesellschaft nur als Tarngesellschaft fungiere. Damit ist jedenfalls offenkundig geworden, dass Kundenbeziehungen zu Schweizer Banken sich nicht lückenlos staatlicher Einsichtnahme verschließen. Durch einen Vergleich mit den USA wurden zudem ähnliche Wünsche anderer Staaten geweckt. Im unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit Finanz- und der UBS-Krise änderte der Schweizer Bundesrat denn auch seine abkommenspolitische Position und strebt nunmehr an, den neuen OECD-Standard anzunehmen und die Amtshilfe nicht mehr nur bei Verdacht des strafrechtlichen Steuerbetruges, sondern auch schon beim Verdacht der lediglich als Verwaltungsunrecht bewerteten Steuerhinterziehung zu leisten.15 Indes kann die Schweiz weiterhin darauf verweisen, dass in den UBS-Verfahren wegen des Qualified Intermediary-Status der UBS besondere rechtliche Bedingungen halten und somit insbesondere geltend machen, dass echte „fishing expeditions“ weiterhin nicht ermöglicht werden, da die Schweiz Abkommen, die dies ändern würden, weiterhin nicht abschließen werde. Es kommt daher, nachdem das Bankkundengeheimnis durchaus auch von der Rechtsprechung keineswegs etwa „geknackt“ wurde, maßgeblich auf die Verhandlungen an. In diesen wird die Schweiz auch ihrerseits Entgegenkommen der Abkommenspartner erwarten. c) Finanzmarktrechtliche Implikationen Die zweite rechtliche Schiene des UBS-Falles dürfte sich als die für den steuerverfahrensrechtlichen Zusammenhang vergleichsweise rechtlich weniger nachhaltige erweisen, obwohl sie situativ enorme Relevanz entfaltete. Sie sei zuerst in groben Zügen geschildert: Unter der Androhung hoher Strafzahlungen an die USA und der Befürchtung, dies könne zusätzlich unkontrollierte Rückzüge verunsicherter Kunden auslösen, verglich die Bank sich mit der amerikanischen Seite und gab im Einklang mit einer Anordnung der eidgenössischen Finanzmarktaufsicht FINMA bereits im Februar 2009 Daten zu zunächst etwa 300 Kunden an die US-Steuerbehörde heraus. Die FINMA sah die Ausnahme vom Bankkundengeheimnis als berechtigt an, weil sie für die Bank in der beschriebenen Lage eine erforderliche Schutzmaßnahme zur Abwendung von existenzgefährdenden Liquiditätsengpässen der Bank darstelle. ________________________ 15 Näher dazu unter C.

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Das Bundesverwaltungsgericht der Schweiz erließ hier auf Eingabe von Betroffenen eine einstweilige Anordnung zu deren Gunsten.16 Jedoch waren Teile der Daten schon weitergegeben worden, was teils sogar den öffentlichen Vorwurf einer „Nacht-und-Nebel-Aktion“ auslöste. Das Gericht verneinte inzwischen, im Januar 2010, auch im weiteren Verfahren die Rechtmäßigkeit der aufsichtsbehördlichen Maßnahme.17 Es beschreibt ausführlich den Schutz der Kundendaten und betrachtet die Befugnisse der Finanzmarktaufsicht zum Schutz der Liquidität der Bank unter anderem deshalb nicht als ausreichende Grundlage der Datenweitergabe, weil anhand der Norm nicht vorherzusehen gewesen sei, dass sie die Rechtsgrundlage zu einer Maßnahme dieser Art bieten könnte. Ferner sei es vorrangig und im konkreten Fall möglich gewesen, stattdessen das steuerliche Amtshilfeverfahren behördlich voranzutreiben, statt die Datenherausgabe als bankenrechtliche Notmaßnahme zu verfügen. Habe die Maßnahme hingegen auf die Notstandsverfassung gestützt werden sollen, so sei jedenfalls nur die Regierung zuständig gewesen, nicht aber die Finanzmarktaufsicht. Diese bisherige Rechtsprechung kann als Votum dafür gelesen werden, dass die steuerverfahrensrechtliche Regelung und deren internationale Aushandlung für den Informationsaustausch jedenfalls vorwiegend ausschlaggebend bleiben und die finanzmarktrechtliche Dimension dies bislang nicht in den Grundzügen umstürzt. Die gerichtlichen Entscheidungen zeigen jedenfalls an, dass die steuerverfahrensrechtliche Regelung selbst unter erheblichen finanziellen Gefahren für die Bank grundsätzlich nicht durch bankenrechtliche Zugriffsoptionen überholt wird, für deren im Raum stehenden Einsatz als Vehikel der steuerlichen Informationsgewinnung darin durchaus bisher eine recht weitgehende Absage liegt. Das letzte Wort ist indes schon deshalb nicht gesprochen, weil über die Berufung der FINMA durch das Bundesgericht zu entscheiden bleibt.18 d) Zwischenbilanz zur Frage dauerhafter rechtlicher Nachwirkungen des Falles In einer vorläufigen, frühen Zwischenbilanz wird angesichts dieser Befunde gesagt werden können, dass der UBS-Fall – einerseits – zu Recht ________________________ 16 Bundesverwaltungsgericht, Abt. II, Beschluss (superprovisorische Zwischenverfügung) v. 20.2.2009. 17 Bundesverwaltungsgericht, Abt. II, Urteil v. 5.1.2010, B-1092/2009. 18 Bundesverwaltungsgericht, Abt. II., Urteil v. 5.1.2010, B-1092/2009.

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als aufwühlend wahrgenommen wurde. Er hat das mit der internationalen Finanzmarktverflechtung und der Verantwortlichkeit von Finanzmarktakteuren verbundene Druckpotential und die Implikationen der Vergabe eines besonders qualifizierten Status an Finanzintermediären unmittelbar durch die Staaten aufgezeigt, die einen zusätzlichen Zugangsweg des besteuerungsberechtigten Staates zu Informationen über Steuerpflichtige herstellen und zugleich bestehende abkommensrechtliche Zugangswege verbreitert. Angestoßen wurde außerdem eine Verfeinerung der Diskussion darüber, welche Angaben in einem Amtshilfegesuch bereits ausreichend sein können, um dessen Umsetzung auch ohne Namens- und Kontennennung in Gang zu bringen. Ferner hat die Situation wohl auch einen gewissen Einfluss auf die Abkommenspolitik der Schweiz gehabt, die ihrerseits nicht ohne Belang für die Verhandlungslage anderer Staaten ist. Somit beeinflusst der Fall das internationale Steuerverfahrensrecht durchaus auch auf längere Sicht. Er hat dessen gewohnte Welt – andererseits – nicht grundsätzlich aus den Angeln gehoben, da die Verweise sowohl von der steuer- wie auch von der finanzmarktrechtlichen Seite aus weiterhin auf die maßgebliche Bedeutung der internationalen Vereinbarungen des steuerlichen Auskunftsverkehrs zurückführen.

III. Rechts- und verfassungspolitische Fixpunkte und Entwicklungen 1. Einleitung Bevor angesichts dieser Einschätzung zur Betrachtung der Abkommensentwicklung übergegangen werden soll, sind die rechts- und verfassungspolitischen sowie verfassungsrechtlichen Leitplanken19 in Erinnerung zu rufen. Vier für den vorliegenden Zusammenhang relevante seien vor allem genannt: 2. Anforderungen des Gleichheitssatzes Ein Fixpunkt von besonderer Bedeutung bleibt, dass der Gleichheitssatz neben der Gleichheit vor dem Gesetz auch eine gleichheitskonforme tatsächliche Verwirklichung des Steueranspruchs verlangt. Die genauen Folgen dieser auf den ersten Blick klaren Grundlage bleiben allerdings teils erst noch auszubuchstabieren, vor allem da die Wirklichkeit des ________________________ 19 Die FINMA entschied sich im Januar 2010 für die Einlegung des Rechtsmittels.

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Steuervollzugs teils unausweichlich auf ein Art Pragmatismus angewiesen ist, für den das auf gesetzlicher Ebene eher „idealistisch“ als pragmatisch denkende Steuerverwaltungsrecht nur teilweise bereits gut ausgeformte rechtliche Gefäße aufweist. Die Gleichheitsforderung richtet sich auch an die Abkommenspolitik. Bei zunehmender Globalisierung erfordert dies zunehmende Aktivitäten des Steuerstaats. Es ist absehbar, dass das Verfahren eher zunehmend der materiellen Anknüpfung des Steueranspruchs folgen und das Gewicht der Sonderbeziehung des einzelnen Steuerpflichtigen zum jeweils inhaltlich zuständigen Fiskus damit stärker abbilden dürfte als bisher. Dem Einwand zwischenstaatlicher Abgrenzungen von hoheitlichen Durchsetzungsbefugnissen geht relatives Gewicht verloren, soweit es nicht um den inhaltlichen Grund der zwischenstaatlichen Abgrenzung der Besteuerungsrechte geht. 3. Anforderungen des Schutzes der persönlichen Sphäre Der zweite Punkt betrifft die Wahrung der Verhältnismäßigkeit gegenüber dem Schutz persönlicher Freiheiten angesichts der beschriebenen Entwicklung. Dem Steuerverfahrensrecht muss es im Blick auf den Informationsverkehr zumal um den Schutz der informationellen Selbstbestimmung und anderer Grundrechte der Persönlichkeitssphäre gehen, aber auch die direkt auf die wirtschaftliche Betätigung bezogenen Grundrechte können, etwa was wirtschaftlich relevante Geschäftsinformtionen angeht, tangiert sein. Das Verhältnismäßigkeitsprinzip streitet dem Grundsatz nach für einen Vorrang der Informationsgewinnung beim Steuerpflichtigen selbst vor der Informationsgewinnung bei nicht beteiligten Dritten, insbesondere den Vertragspartnern des Steuerpflichtigen. Es trägt andererseits nicht den absoluten Schutz bestimmter Beziehungen zu Dritten. Auch bei diesen besteht ferner eine Grenze der Zumutbarkeit bei der Einbeziehung in Kontrollaufgaben. Ein schlechter Zustand wäre beispielsweise eine Verbindung von weitgehend unbeschränktem Zugriff auf Informationen bei Dritten ohne effektiven Rechtsschutz und ohne Verbindung mit einer angemessenen Zweckgebundenheit der Informationen und Daten bei der Behörde, so dass beispielsweise ein Rückzug des Bankgeheimnisses die Bedeutung des Steuergeheimnisses verstärkt.20 ________________________ 20 Vgl auch Schmehl, Staatswissen und Steuerverwaltung, in: Spiecker gen. Döhmann/Collin (Hrsg.), Generierung und Transfer staatlichen Wissens im System des Verwaltungsrechts, 2008, S. 270 ff.

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4. Kompetenz für die Definition des rechtsstaatlichen Schutzniveaus Es ist – drittens – nicht zu übersehen, dass die genannten Probleme auf eine Grundfrage im internationalen Verhältnis verweisen, nämlich darauf, von welchem der beteiligten Staaten das jeweils geltende Rechtsstaatsniveau definiert und umgesetzt wird. Ein Rechtsstaat, erst recht ein selbstbewusster, wird vielfach für sich reklamieren, insbesondere ein vertretbares Verständnis von Verhältnismäßigkeit anzubieten. Auffassungen von der für richtig gehaltenen rechtlichen Verfasstheit der Wirtschaft müssen auch nicht deckungsgleich sein, um als gleichermaßen legitim gelten zu können. Auch dies kann Regeln betreffen, die das inländische Niveau des Schutzes der Daten- und Informationssphäre gewährleisten, wenn daran Steuerausländer oder ausländische Gläubigerstaaten beteiligt sind.21 Die Besteuerungszuständigkeit eines anderen Staates allein wird weder abkommenspolitisch noch rechtlich ausreichen, um zu begründen, dass derjenige Staat, der für den Rechtsrahmen der primären wirtschaftlichen Transaktion beispielsweise in der Kunden-Bank-Beziehung zuständig ist, seine hierfür aufgestellten Bedingungen ganz zurückzieht oder gar zurückziehen müsste. Allerdings geht die oben beobachtete Tendenz dahin, die Vorstellungen des steuerlich betroffenen Staates daran stärker als bisher zu beteiligen. Deshalb sind die wegen ihrer anfänglichen Unverbindlichkeit eventuell noch belächelten Debatten über Kriterien schädlicher Instrumente im Steuerwettbewerb und die Forderung des level playing field bedeutsam, befindet sich doch auf diese Weise eine Rechtsüberzeugung im Werden, welche die Vorstellung nationaler Souveränität zunehmend koordinativ einhegt. 5. Auswirkungen auf das Verhältnis von Verfahrensrecht und materiellem Recht Viertens besteht angesichts der drei vorgenannten Aspekte eine wechselseitige Beziehung von materiellem Recht und Verfahrensrecht,22 die durch die Internationalisierung der Sachverhalte verstärkt deutlich ________________________ 21 Dissertationen auf diesem Themenfeld von Duhnkrack, Grenzüberschreitender Steuerdatenschutz: Reichweite und Grenzen der internationalen Auskunftserteilung durch deutsche Finanzbehörden, 1989; Eilers, Das Steuergeheimnis als Grenze des internationalen Auskunftsverkehrs, 1987. 22 Instruktiv Drüen, Inanspruchnahme Dritter für den Steuervollzug, DStJG 31 (2008), S. 167 (169 ff.).

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gemacht wird: Es wird angesichts von Verfahrensschwierigkeiten der Durchsetzung abgewogen, inwieweit einem sehr scharf an einer individuellen Messung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit orientierten materiellen Steuerrecht der Vorzug gegeben wird oder inwieweit steuerpolitische Entscheidungen stattdessen zugunsten eines Steuerrechts fallen, das vor allem aufgrund geringerer Informationsbasis einfacher vollziehbar ist,23 das dafür aber einem weniger differenzierten Leistungsfähigkeitsverständnis folgt. Ein hochgradig einzelfallbezogenes Steuerrecht entfaltet auch einen eminenten Informationshunger, belegt damit eine Vielzahl von wirtschaftlichen Transaktionen mit steuerlich begründeten Informationskosten und entsprechenden rechtlichen Eingriffen und kann seine unbestreitbaren Gleichheitsvorteile im Vollzug teilweise wieder einbüßen. Ein allzu starkes Offenkundigwerden einer Differenz von Recht und Implementation kann ferner die Legitimität, wenigstens aber die Akzeptanz des Rechts schwächen. Bei grenzüberschreitenden Sachverhalten steht dies angesichts der damit verbundenen besonderen Informationsprobleme stärker vor Augen. Es gilt auch umgekehrt: Soll ein besonders stark differenziertes Steuersystem rechtlich wie faktisch „gerettet“ werden, bedarf es aus binnenrechtlicher Sicht eines weit gehenden Ausbaus der Informationsgewinnung bei grenzüberschreitenden Sachverhalten.

C. Der OECD-Standard der Zusammenarbeit und die neuen Vereinbarungen Deutschlands I. Einleitung Bei einer Betrachtung des vielzierten OECD-Standards wird zuerst dessen Charakter als ein Mindeststandard deutlich, der zur Akzeptanz der Regeln beitragen soll. Angesichts der in dem soeben (B. III.) aufgezeigten Feld bestehenden, unterschiedlichen Möglichkeiten, die Rechte im Informationsverkehr auszubalancieren, ist dies für den aktuellen Zweck auch das angemessene Mittel. Was kennzeichnet diese Mindestgemeinsamkeiten, auf die sich die Staatenwelt derzeit zunehmend verständigt?

________________________ 23 Zu einer Orientierung des materiellen Steuerrechts an der Vermeidung von Vollzugsdefiziten auch Staringer, Steuervollzug bei grenzüberschreitenden Sachverhalten, DStJG 31 (2008), S. 135 (147 f.).

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II. Einzelfallbezogenheit des Verfahrens Was das Verfahren angeht, so ist schlicht, aber deutlich zu konstatieren, dass dem Standard bereits dasjenige Auskunftsverfahren genügt, das nach den bisherigen Erfahrungen als das am wenigsten praktikable gilt, nämlich die Auskunft auf Ersuchen. Auch an einer Dezentralisierung der Kommunikationszuständigkeiten und damit an der Herstellung von Nähe unmittelbar zwischen den auf beiden Seiten handelnden lokalen Behörden als einem Weg zur Effektivierung fehlt es bisher weitgehend. Sind Spontanauskünfte, die Kontrollmitteilungen ähneln, und automatische Auskünfte in Massenfällen durchaus organisierbar, so setzt das einzelfallbezogene Ersuchen größere rechtliche und sprachliche Kenntnisse und Fertigkeiten sowie personelle Ressourcen beim anfragenden Staat voraus. Diese lassen sich ausbauen, doch bleibt die Annahme plausibel, dass das Mitziehen für die Behörden nicht leicht ist. Es stellt hohe Anforderungen an die fachliche Kompetenz und die Verwaltungskraft schon des anfragenden Staates. Das Kalkül, wonach bereits die Möglichkeit der Auskunft den Druck zur Steuerehrlichkeit immerhin erheblich erhöht, bleibt allerdings berechtigt, und auch operative Wirksamkeit ist dem Verfahren auf Ersuchen nicht etwa abzusprechen, zumal in Verbindung mit den im Folgenden zu nennenden Gesichtspunkten.

III. Erstreckung auf unilaterale Besteuerungsfragen und Entkoppelung von der Strafbarkeit Zu den effektuierenden Aspekten gehört es, dass eine Beschränkung auf die Zwecke eines Doppelbesteuerungsabkommens dem Standard nicht entspricht. Ausgeschlossen wird der Informationsaustausch allerdings, soweit die Informationen einer Besteuerung dienen würden, die einem gültigen Doppelbesteuerungsabkommen selbst zuwiderliefen. Ferner schließt der Standard aus, dass die Amtshilfe auf ein nach dem Verständnis des jeweiligen internen Rechts strafbares Verhalten beschränkt wird. Dies ist im Vergleich zur bisherigen Situation ein weiterer erheblicher Schritt. Zu den „Klassikern“ der Rechtslage rechnete bis dahin etwa die traditionelle Haltung der Schweiz, eine Aufhebung dieser Vertraulichkeit nur beim Verdacht einer Straftat als verhältnismäßig zu betrachten und folglich in Fortführung der Wahrung des jeweils inländischen Schutzniveaus auch bei der Verfolgung ausländi63

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scher Steueransprüche nur in diesem Umfang mitzuwirken. Wer aber ohne weitere Umstände vorsätzlich oder fahrlässig, etwa durch die Nicht-Deklaration von Einkünften, eine falsche Steuerveranlagung bewirkt, begeht nach Schweizer Recht eine Steuerhinterziehung,24 die, auch wenn sie im Abschnitt über „Steuerstraftaten“ des Bundesgesetzes steht, noch vorwiegend im Zusammenhang eines Verfahrensverstoßes gesehen und als Verwaltungsunrecht bewertet wird. Ein Steuervergehen mit möglicher Gefängnisstrafe ist hingegen erst der Steuerbetrug, der voraussetzt, dass für die Steuerhinterziehung gefälschte, verfälschte oder inhaltlich unwahre Urkunden wie Geschäftsbücher, Bilanzen, Erfolgsrechnungen oder Lohnausweise und andere Bescheinigungen Dritter zur Täuschung gebraucht werden.25 Diese Differenz hatte die Schweizerische Eidgenossenschaft in ihren Amts- und Rechtshilfeabkommen bisher auch für den Fall abgesichert, dass die Tat nicht in der Schweiz begangen wurde, bis hin zum Zinsbesteuerungsabkommen mit den EU-Staaten, das ebenfalls diese Regelung enthält.

IV. Das Kriterium „voraussichtlich erheblich“ Ausdrücklich halten die dem Muster folgenden neuen Abkommen fest, dass der sachliche Anwendungsbereich nur davon abhängt, dass die verlangten Informationen für die Festsetzung und Erhebung der genannten Palette von Steuern, welche die wesentlichen im internationalen Wirtschaftsverkehr relevanten Bereiche umfassen muss, foreseeably relevant sind. Die voraussichtliche Erheblichkeit ist eine maßgebliche Stellschraube, zumal sie zugleich entscheidend dafür ist, wie viel die ersuchende Behörde bereits vorher mit eigenen Mitteln in Erfahrung gebracht haben muss, um zulässig im Ausland anfragen zu können. Grundsätze des einzelstaatlichen Rechts können nur teilweise als Auslegungshilfe herangezogen werden, da die Begriffe und die einzelstaatlich verfügbaren alternativen Informationsquellen abweichen. Die bereits zitierte Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts der Schweiz zum US-Auskunftsersuchen ohne konkrete Namensnennung im UBSFall26 zeigt beispielhaft die Schwierigkeiten auf, hat aber für die Zukunft und den allgemeinen Fall nur begrenzte Aussagekraft, weil sie ________________________ 24 Art. 175 Schweizer Bundesgesetz über die direkte Bundessteuer. 25 Art. 186 Schweizer Bundesgesetz über die direkte Bundessteuer. 26 S. o. B. II. 3. b).

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einerseits auf einer früheren Rechtslage beruht und andererseits auch maßgeblich auf das Qualified-Intermediary-Verfahren abstellt. Die Formulierung „voraussichtlich relevant“ ist in Art. 26 des Musterabkommens seit Jahren enthalten, aber nicht vollständig ausgedeutet und unterliegt letztlich vor allem der jeweiligen bilateralen Vereinbarung und deren Auslegung. Hierzu lassen sich aber Eckpunkte formulieren: So liegt der Zweck des Maßstabs „voraussichtlich erheblich“ nach der Haltung des OECD-Musterkommentars darin, für einen Informationsaustausch im weitest möglichen Umfang zu sorgen27; das Kriterium soll sich dabei nur im Sprachgebrauch von dem vorher verwendeten „erforderlich“ unterscheiden. Jede bilaterale Vereinbarung des Kriteriums wird außerdem in allen Fällen nur so zu verstehen sein, dass jedenfalls echte Fischzüge, fishing expeditions, ausgeschlossen bleiben. Vorherige Gewissheit darüber, etwas zu finden, kann das Kriterium „voraussichtlich erheblich“ andererseits auch nicht verlangen. So wird insbesondere die Frage gestellt, ob hierfür konkrete Namen notwendig sind und ob stattdessen etwa die Schilderung der Umstände, sei es auch eines bestimmten wahrscheinlichen, das in anderen Fällen bekannt gewordenen Verhaltensmodells, genügt. Die neuen Abkommen sehen hierzu vor, dass unter anderem „die Identität der Person, der die Ermittlung oder Untersuchung gilt“, schriftlich im Ersuchen angegeben werden muss. Jedoch muss „Identität“ nicht den Namen bedeuten – so jedenfalls ausdrücklich nicht nach der Einigung beispielsweise im Protokoll Deutschland/Liechtenstein, wonach Einvernehmen darüber besteht, dass „zur Bestimmung der Identität des Steuerpflichtigen eine Namensnennung nicht erforderlich ist, sofern sich diese aus anderen Anhaltspunkten bestimmen lässt.“28 Wird demnach auf die Bestimmbarkeit abgestellt, so kann also auch die Entdeckung eines bestimmten verallgemeinerungsfähigen Verhaltensmusters ein ausreichender Anlass sein, wenn sich aus einem Zusammenhang mit anderen Angaben eine hinreichende Wahrscheinlichkeit ergibt, dass eine bestimmte Stelle über die Angaben verfügt und anhand ihrer Daten die Identität bestimmen kann. Dies ist anhand einer Kontonummer, aber auch von Adressen, Zahlungsvorgängen oder Ähnlichem möglich. ________________________ 27 OECD-MK zu Art. 26, Ziff. 5. 28 Abkommen zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung des Fürstentums Liechtenstein über die Zusammenarbeit und den Informationsaustausch in Steuersachen v. 2.9.2009, Protokoll, Ziffer 2.

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Es muss demnach ferner nicht unbedingt feststehen, bei welchem Finanzinstitut beispielsweise die Angaben vorhanden sind. Zwar ist die ungezielte Beweissuche ausgeschlossen und wäre es unzulässig, nach allgemeinen Abgrenzungskriterien wie etwa der Guthabenhöhe vorzugehen. Andererseits erscheint es nicht von vornherein ausgeschlossen, zulässigerweise beispielsweise bei zwei unterschiedlichen Banken oder in zwei unterschiedlichen Staaten suchen zu lassen, wenn konkrete Hinweise dafür bestehen, dass entweder da oder dort die Informationen zu finden sein müssen. Fraglich ist schließlich, ob im Vorfeld auch allgemeine Informationen über bestimmte Steuerpraktiken ausgetauscht werden können. Die Abkommen stehen nicht entgegen, da die Anforderung zur Identitätsangabe einer bestimmten Person nicht auf diese Konstellation zu erstrecken ist. Dass das Kriterium „voraussichtlich erheblich“ also durch die Kombination unterschiedlichster Anhaltspunkte erfüllt werden kann, schließt es aus, einzelne Sachverhaltsangaben zu nennen, die auf jeden Fall bei jedem Ersuchen gegeben sein müssen. In dem Tatbestand ist eine in der Tendenz weite Auslegung angelegt, zugleich aber wird die Priorität der eigenen Ermittlung des ersuchenden Staates festgehalten. Letztlich zielt die Regelung damit auf das Vorliegen eines vernünftigen, sowohl inhaltlichen als auch verfahrensmäßigen Anlasses für das Ersuchen in Bezug auf konkrete Fälle und verlangt verfahrensmäßig, diese Gründe transparent und nachprüfbar zu machen, was nach den Abkommen dann in einzelnen Punkten abzuarbeiten ist. Ein der Rechtsgewissheit dienliches Judiz ist hier bislang schwer zu entwickeln, insbesondere da praktische Übersichten und Systematisierungen etwa nach der Art von ausdifferenzierten, nützlicherweise womöglich sogar länderbezogen gebildeten Fallgruppen bislang „mangels Masse“ ausbleiben, fehlt es doch an einer breiten Informationsbasis über Verwaltungsentscheidungen und sind Gerichtsentscheidungen zu selten, um solche größeren Bögen aus ihnen abzuleiten.

V. Zuständigkeit für die Wahrung der Verhältnismäßigkeit Wie steht es um die weitere Grundfrage der Zuständigkeit für das anzuwendende Verständnis von Verhältnismäßigkeit? Nach der Grundregel des Standards bleiben die persönlichen Rechte und Sicherheiten der Gesetze oder der Verwaltungspraxis der ersuchten Vertragspartei anwendbar. Das dortige Schutzniveau schlägt also prinzipiell durch: Es 66

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wird nicht verlangt, dass Auskünfte oder Informationen zu beschaffen sind, die der ersuchte Staat für eigene Besteuerungszwecke nicht beschaffen könnte. Eine wichtige Spezialregelung geht allerdings vor und enthält das Verbot, ein bestimmtes Argument als tragfähig anzuerkennen. Die Begründung der Ablehnung der Auskunftserteilung darf demnach nicht darin bestehen, dass der Inhaber der Informationen die Eigenschaft einer Bank, eines Treuhänders oder von Ähnlichem hat. Bankinformationen und Informationen über die Eigentumsverhältnisse an Gesellschaften und anderen Rechtsträgern sowie die Gründer und Begünstigten von Stiftungen, Trusts und ähnlichen Rechtsträgern müssen in jedem Fall zur Verfügung stehen. Dies gilt auch dann, wenn dies nach internem Recht bisher nicht möglich ist. Insofern ist in der Tat das eingangs zitierte Wort von einem Ende der Ära des Bankgeheimnisses im internationalen steuerlichen Auskunftsverkehr durchaus berechtigt.

VI. Verändertes Gewicht von Steuergeheimnis, Datenschutz und Rechtsschutz Indes verändert sich durch den Wandel auch das Ergebnis des notwendigen Austarierens mit dem Schutz informationeller Selbstbestimmung und der wirtschaftlichen Betätigung. Dies bedeutet dann neben der Wahrung des Schutzes von Sonderbeziehungen wie etwa der AnwaltMandanten-Kommunikation vor allem die Geheimhaltung und steuerbezogene Zweckbindung der Verwendung der erlangten Angaben bei den Behörden. Der Fokus wechselt insoweit vom Bankgeheimnis zum Steuergeheimnis: Es wird nicht vergessen werden dürfen zu prüfen, ob insbesondere die ausschließliche Verwendung der Angaben zu Steuerzwecken in dem ersuchenden Land tatsächlich sichergestellt ist. Durchbrechungen des Steuergeheimnisses, wie sie auch nach den Öffnungsklauseln von § 30 Abs. 4 Nr. 5 AO gegeben sein können, wären dann beispielsweise auch nicht ohne Abkommensverstoß auf Angaben zu erstrecken, die auf einer strengeren Abkommensgrundlage gewonnen wurden. Rechtsschutzmöglichkeiten und, damit eng verbunden, Benachrichtigungen über getroffene Maßnahmen sowie der Datenschutz sind von erheblichem Belang für die rechtsstaatliche Qualität und Haltbarkeit der Verfahrensweise. Ausführliche und aufmerksame Regelungen über Datenschutz, Informationsverkehr und Benachrichtigungen in der Abkommenspraxis, wie sie im vorliegenden Beispiel das Proto67

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koll zum liechtensteinisch-deutschen Abkommen enthält,29 zeigen an, dass sich die Vertragsparteien dessen bewusst sind.

D. Das Steuerhinterziehungsbekämpfungsgesetz I. Einleitung Als neuer Komplex von Rechtsnormen ist aus dem hier zu betrachtenden Zeitraum neben den unter C. beschriebenen Abkommen 2009 insbesondere das Steuerhinterziehungsbekämpfungsgesetz30 mit der zugehörigen, die Funktionalität erst herstellenden, Steuerhinterziehungsbekämpfungsverordnung31 hervorgegangen. Da es diese unilateralen Regelungen einerseits darauf anlegen, erfolgreich den internationalen Verhandlungsdruck zu erhöhen und sodann möglichst nicht selbst angewendet zu werden,32 andererseits aber geltendes Recht sind und Fragen grundsätzlicher Art aufwerfen, erscheint es angemessen, sich in dem hier gegebenen Rahmen hinsichtlich der Einzelheiten zwar kurz zu fassen (II.),33 aber einige Probleme auf der Grundlagenebene anzusprechen (III.).

II. Gesetzesinhalt Der instrumentelle Kern des Gesetzes ist es, in den Fällen der Berührung von Staaten und Gebieten, die als nicht hinreichend kooperativ betrachtet werden, erhöhte Mitwirkungs-, Nachweis- und Aufklärungspflichten aufzustellen und bei deren Nichterfüllung steuerlich negative Folgen vorzusehen.34 ________________________ 29 Abkommen zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung des Fürstentums Liechtenstein über die Zusammenarbeit und den Informationsaustausch in Steuersachen v. 2.9.2009, Protokoll, Ziffer 3. 30 Gesetz zur Bekämpfung der Steuerhinterziehung (Steuerhinterziehungsbekämpfungsgesetz) v. 29.7.2009, BGBl. I 2009, 2302. 31 Steuerhinterziehungsbekämpfungsverordnung (SteuerHBekV) v. 18.9.2009, BGBl. I 2009, 3046. 32 S. o. B. II. 2. b) und e). 33 Berichte über das Gesetz u. a. bei Podewils, DStZ 2009, 686 ff.; Sinz/Kubaile, IStR 2009, 401 ff.; Worgulla/Söffing, FR 2009, 545 ff.; Schmittmann, StuB 2009, 605 ff.; Geurts, DStR 2009, 1883 ff. 34 Näher insbes. der Regierungsentwurf des Steuerhinterziehungsbekämpfungsgesetzes, BT-Drs. 16/13106 sowie der Steuerhinterziehungsbekämpfungsverordnung, BR-Drs. 681/09.

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Ob ein Staat oder Gebiet als in diesem Sinne nicht-kooperativ gilt, macht § 90 Abs. 2 Satz 3 AO n. F. daran fest, dass kein Abkommen entsprechend Art. 26 OECD-MA 2005 geschlossen wurde oder der Staat oder das Gebiet keine Auskünfte in einem vergleichbaren Umfang erteilt oder keine Bereitschaft zu einer entsprechenden Auskunftserteilung besteht. Die betroffenen Regelungsbereiche sind vor allem die Angemessenheit der Geschäftsbeziehungen zwischen nahestehenden Personen und der Gewinnabgrenzung zwischen unselbständigen Unternehmen, die Berechtigung von Abkommens- oder Richtlinienvorteilen bei wesentlicher Beteiligung an Gesellschaften sowie der Zugang zu Informationen über Kapitalerträge des Steuerpflichtigen, die bei Dritten vorliegen. Die verlangte Mitwirkung besteht je nachdem in ausgebauten Nachweis- und Dokumentationspflichten, der Abgabe einer Versicherung an Eides Statt oder der Abgabe einer Einwilligung in die Erforschung des Sachverhalts durch die Finanzbehörden bei Dritten. Die Sanktionen bei Nichterfüllung sind insbesondere die Versagung der Anwendung von steuersenkend wirkenden Tatbeständen oder die Schätzung von Besteuerungsgrundlagen. Das Konzept wirft die im Folgenden zu behandelnden zwei Grundfragen auf.

III. Zu den Weichenstellungen auf der Grundsatzebene 1. Verbindung erhöhter Mitwirkungspflichten mit steuerlichen Nachteilen als Sanktion Die erste Frage besteht darin, ob eine Verbindung erhöhter Mitwirkungspflichten mit der Versagung der Anwendung bestimmter steuerlicher Regelungen überhaupt verfassungskonform möglich ist. Diese Möglichkeit ist zu bejahen, jedenfalls soweit der Steuerpflichtige die negative Folge noch selbst abwenden könnte; sie unterliegt allerdings noch erheblichen auszuleuchtenden Verhältnismäßigkeitsfragen in einigen der Tatbestände. 2. Kriterien und Zuständigkeit für die Eröffnung des Anwendungsbereichs der Regelungen a) Die Delegation des erstmaligen Anwendungszeitpunkts auf die Verordnungsebene Die zweite Frage richtet sich auf die Kriterien und die Kompetenz für die Bestimmung des Status eines Staates oder Gebiets als nicht hin69

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reichend kooperativ, von der die Anwendung der Regelungen abhängt. Das Steuerhinterziehungsbekämpfungsgesetz enthält insoweit eine zunächst etwas ungewöhnlich wirkende Klausel, indem es die Bundesregierung ermächtigt, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates den Zeitpunkt der erstmaligen Anwendung der mit steuerlichen Nachteilen gekoppelten Neuregelungen (§§ 90 Abs. 2 Satz 3, 47a, 162 Abs. 2 Satz 3, 193 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 3 AO) zu bestimmen (Art. 97 § 22 Abs. 2 EGAO n. F.). Die Regelung gibt der Exekutive jedenfalls faktisch zusätzliche Flexibilität in der Abstimmung auf die außen- und wirtschaftspolitischen Bedingungen und Wirkungen. Bedeutete die Norm daher zugleich, was wegen des Einsatzzwecks des Gesetzes als Druckreserve in Abkommensverhandlungen nicht fern läge, eine echte rechtliche Delegation der Entscheidung darüber, ob das Gesetz letztlich überhaupt zur Anwendung kommt, so geriete es allerdings wegen der Auswirkungen auf die Steuerpflichtigen in ein allzu großes Spannungsverhältnis mit dem Vorbehalt des Gesetzes. Der Wortlaut, der nicht vom Ob der Anwendung, sondern nur von deren erstmaligem Zeitpunkt spricht, und die Begründung, derzufolge der Bundesregierung damit die Befugnis übertragen werden soll, mit Zustimmung des Bundesrates „die Regelungskomplexe […] nach den jeweiligen Erfordernissen aufeinander abzustimmen“,35 sprechen aber dafür, die Norm so auszulegen, dass sie einen Aufschub der Anwendbarkeit lediglich übergangsweise zu dem in der Begründung genannten Zweck zulässt. b) Die Feststellung mangelnder Kooperativität eines bestimmten Staates als zweite Stufe der Aktivierung des Normmantels Zur Aktivierung des Normmantels bedarf es allerdings eines zweiten Schritts, nämlich der Beurteilung eines Staates oder Gebietes als nicht kooperativ. Auch hier ist die Kompetenzverteilung im Hinblick auf eine denkbare eigenständige Rolle der Exekutive und deren mögliche Inanspruchnahme durch das BMF fraglich. Die anzuwendenden Kriterien sind unmittelbar gesetzlich definiert, jedoch in einer erheblich unbestimmten und auf die Verwaltungspraxis und die abkommenspolitische Lage abstellenden Weise, soweit festgestellt werden muss, ob „Auskünfte in einem vergleichbaren Umfang erteilt“ und auch „keine Bereitschaft zu einer entsprechenden Auskunftserteilung besteht“ (§ 90 ________________________ 35 Entwurf (der Bundesregierung) eines Steuerhinterziehungsbekämpfungsgesetzes, BT-Drs. 16/13106, S. 13.

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Abs. 2 Satz 3 AO n. F.). Die „Vergleichbarkeit“ und die „Bereitschaft“ sind dabei nicht nur offene Begriffe, sondern können auch Tatsachenfeststellungen voraussetzen, die schwierig zu erlangen sind, und Einschätzungen verlangen, die erwägungsoffen erscheinen. Die verfassungsrechtliche Haltbarkeit der Regelung hängt demnach davon ab, ob die Gründe für diese Unbestimmtheit in Verbindung mit deren Begrenzungen als ausreichend angesehen werden. Dies ist nicht von vornherein eindeutig, könnte doch etwa eine Liste, zumal bei einer Entscheidung dieses nicht unerheblichen Gewichts, durchaus auch vom Parlament selbst beschlossen und aktuell gehalten werden. Andererseits ist neben den damit verbundenen Praktikabilitätsproblemen nicht zu verkennen, dass den verfahrensrechtlichen Regelungen bereits eine materielle Steuerpflicht grundsätzlich vorausliegt und sie somit nicht ganz allein im Raum stehen, was ihre eigenständige Bedeutung immerhin etwas relativiert. Zudem stellt sich die Frage auch nicht völlig anders als die generelle Frage danach, inwieweit eine Parlamentarisierung im internationalen Steuerrecht gefordert werden kann. Schließlich kommt die überzeugende Auslegungsoption hinzu, die Regelung nicht als Delegation der Entscheidung an die Exekutive, sondern als gerichtlich überprüfbare Definition durch den Gesetzgeber zu verstehen.36 Unter dieser Voraussetzung spricht letztlich mehr dafür, dass die verfassungsrechtlichen Anforderungen noch gewahrt sind. Eine Weitergabe auch dieser Entscheidung an die Exekutive allein – obwohl sie der mit dem Ziel der wirksamen Drohgebärde verbundenen instrumentellen Funktionsweise des Gesetzes wohl noch besser entspräche – wäre hingegen letztlich nicht zulässig. Eine grundsätzlich zu Recht auf Klarheit gerichtete Grundlage, die zugleich noch nicht alle Fragen beantworten kann, stellt für die Praxis ________________________ 36 Die Äußerung der Bundesregierung in der Begründung der Steuerhinterziehungsbekämpfungsverordnung, wonach das BMF zur Gewährleistung von Rechtssicherheit und Einheitlichkeit der Verwaltungspraxis mit Zustimmung der obersten Finanzbehörden der Länder sowie im Einvernehmen mit dem Auswärtigen Amt und dem Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie nicht kooperierende Jurisdiktionen in einem im BStBl. bekannt zu gebenden Schreiben veröffentlichen wird (BR-Drs. 681/09, S. 5), ist zwar teils in die Richtung der Inanspruchnahme einer konstitutiven, abschließenden Kompetenz verstanden und jedenfalls entsprechend kritisiert worden (so auch im Beschluss des Bundesrates, BR-Drs. 681/09, der eine parlamentarische Grundlage und wenigstens die Beteiligung des Bundesrates fordert), enthält aber keine ausdrücklich dahin gehende Aussage.

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die vom BMF veröffentlichte Auslegung der Klausel von der „fehlenden Bereitschaft zur entsprechenden Auskunftserteilung“, auf die es oft ankommen dürfte, dar: Demnach ist das Kriterium dann gegeben, wenn nach förmlicher Aufforderung keine Bereitschaft gezeigt wird, Rechtsgrundlagen für einen entsprechenden Austausch mit Deutschland zu schaffen.37 Angesichts der vielfach erheblichen steuerlichen Folgen und der heikel bleibenden Grundfragen hätte es durchaus auch Vorteile, wenn es zu einer Anwendung der neuen Regelungen nicht oder nur in wenigen Fällen kommen würde. Im Januar 2010 gab das BMF in dem genannten Schreiben denn auch bekannt, dass die Anwendungsvoraussetzungen seines Erachtens derzeit bei keinem Staat oder Gebiet vorliegen.38 Nach der hier vertretenen Auffassung ist dies allerdings weder in positiver noch negativer Hinsicht abschließend konstitutiv. Es ist an dieser Stelle nicht der Ort, die demnach interessant bleibende Frage zu prüfen, inwieweit die Auffassung, wonach derzeit alle Staaten und Gebiete der Welt sich gegenüber Deutschland hinreichend kooperativ im Sinne des Gesetzes verhalten, eigentlich wirklich zutrifft.

E. Fazit und Ausblick I. Status quo nach dem Jahr 2009 Im Fazit auf die Eingangszitate zurückkommend, kann zum einen gesagt werden, dass an der Feststellung eines Endes einer Ära des Bankgeheimnisses etwas dran ist, soweit man dieses bisher als im internationalen Verhältnis unverbrüchlich betrachtet hatte. Die rechtsstaatlichen Garantien verschieben sich zum Steuergeheimnis. Zum anderen trifft auch die Feststellung enormer Fortschritte binnen weniger Monate zu, wenngleich sie daneben selbstverständlich auch mit politischer Kommunikation zu tun hat und der Test der Belastbarkeit der neuen Rechtsgrundlagen auf breiter Basis noch aussteht. Die Erfolgsaussichten für diesen Test sind gemischt: Auf der Basis des Verfahrens auf Ersuchen kann sich die Lage nun genau in dem Maße verändern, wie eine hohe Professionalisierung auf der anfragenden und eine große Kooperativität auf der angefragten Seite zusammenkommen. Das internationale ________________________ 37 BMF v. 5.1.2010 über nicht kooperierende Gebiete, IV B 2 S 1315/08/10001-09 (2009/0816912), BStBl. I 2010, 19. 38 BMF v. 5.1.2010, BStBl. I 2010, 19.

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Steuerverfahrensrecht tritt jedenfalls stärker als bisher aus dem Schatten des materiellen Rechts. Es ist ein noch nicht ausreichend konturiertes Gebiet, von dem zunehmend39 zu sprechen sein wird.

II. Der Trend zur Verringerung der mediatisierenden Wirkung einer Auslandsberührung auf die Rechtsbeziehung zwischen Staat und Steuerpflichtigen Letzteres dürfte allerdings nicht allein am Ende der Entwicklung stehen, denn die nach näherem Hinsehen zu erkennenden Schwierigkeiten verfestigen den Eindruck, dass durch die Weiterentwicklung des rein zwischenstaatlichen Informationsaustauschs doch mit weiterhin auf herkömmliche Art konstruierten Mitteln gekämpft wird. Diese erreichen zwar den anderen Staat und zunehmend auch Informationen bei Dritten in diesem anderen Staat. Es bleiben ihnen aber Grenzen dadurch gezogen, dass das wirtschaftliche Geschehen von einer einzelstaatlichen Administrationsstruktur strukturell abweicht. Wenn Auslandsaktivitäten zu einer grundsätzlichen Zwischenschaltung des anderen Staates führen, erweist sich dies als erhebliches Informationshindernis. Es besteht daher ein Trend zum Abbau dieser Mediatisierung. Ein Instrument, das diesen Aspekt bisher bereits am ehesten realistisch reflektiert, ist die oben beschriebene, von den USA ausgehende Verpflichtung von Finanzintermediären auf einen besonderen Rechte- und Pflichtenstatus. Doch auch der 2009 vorgelegte Vorschlag der EU-Kommission für eine neue EU-Richtlinie über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden im Bereich der Besteuerung40 deutet eine gewisse Unmittelbarkeit der Anknüpfung der Rechte- und Pflichtenbeziehung an den einzelnen Steuerpflichtigen neben einer Adressierung der rein zwischenstaatlichen Ebene jedenfalls als Möglichkeit an, indem er als Gründe für die Notwendigkeit eines, so wörtlich, „völlig neuen Ansatzes“ ausdrück________________________ 39 Siehe die Beiträge zum Thema „Mutual tax assistance“ der Konferenz der European Association of Tax Law Professors 2009. Ausführliche wissenschaftliche Arbeiten in deutscher Sprache aus jüngerer Zeit sind eher vereinzelt; hervorzuheben aber u. a. Tegtmeyer, Zwischenstaatliche informationelle Unterstützung in Steuersachen mit Nicht-EU-Staaten, 2006; Hendricks, Internationale Informationshilfe im Steuerverfahren: Grundlagen, Systematik und Grenzen der informationellen zwischenstaatlichen Rechts- und Amtshilfe, 2004. 40 Vom 2.2.2009, KOM (2009), 29 endg.

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lich direkt die Globalisierung, die Internationalisierung der Finanzinstrumente und die Mobilität der Steuerpflichtigen nennt. Auf dieser Basis kann sich eine solche Entwicklung zunehmend auch gegenüber dem Steuerwettbewerbskontext verselbstständigen, was dann folgerichtig ist. Im Einzelnen strebt dieser Richtlinienentwurf an, die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden im Bereich der Besteuerung insbesondere durch die Definition gemeinsamer Verfahrensregeln, Formulare, Formate und Informationsaustauschwege und die Teilnahme von Behörden eines Mitgliedstaates an Ermittlungen im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaates mit denselben Befugnissen zu verbessern, die Berufung auf das Bankgeheimnis als alleinigen Ablehnungsgrund für eine grenzüberschreitende Zusammenarbeit nicht mehr zuzulassen und eine Meistbegünstigungspflicht der Mitgliedstaaten einzuführen, das Ausmaß der von ihnen mit einem Drittland vereinbarten Zusammenarbeit auch den Mitgliedstaaten einzuräumen.

III. Der Trend zur Änderung des materiellen Rechts mit dem Ziel der Verringerung des Informationsbedarfs Wie die EU-Kommission in dem genannten Richtlinienentwurf feststellt, ist ein einzelner Staat nicht in der Lage, sein internes Steuersystem, insbesondere bei den direkten Steuern, ohne Informationen aus anderen Staaten zu verwalten. Dies bleibt auch dann ein mit zunehmender internationaler Wirtschaftsverflechtung zunehmend bedeutsames Thema, wenn sowohl die hergebrachten Instrumente der Zusammenarbeit der Steuerbehörden ausgebaut als auch neue, insbesondere eine direkte Anknüpfung an die Steuerpflichtigen betonende und nutzende Mittel, entwickelt werden. Es ist daher wahrscheinlich, dass neben diesen beiden noch ein dritter Weg beschritten werden wird, nämlich den für diese Entwicklungen erst ursächlichen Informationsbedarf von vornherein zu senken. Die veränderten Rahmensetzungen und Zwänge würden sich dann gerade in denjenigen Staaten, die richtigerweise für die Globalisierung offen sein wollen, in Richtung eines inhaltlich veränderten Steuersystems auswirken, das für seine Verwaltung mit weniger individuellen, differenzierten und schwer gewinnbaren Informationen auszukommen versucht und das insoweit teilweise auch ein „einfacheres“ Steuerrecht ist. Es ist daher naheliegend, künftig insbesondere die Wechselbeziehung zwischen materiellem Recht und Verfahrensrecht noch stärker ins Blickfeld zu rücken. 74

Tendenzen und Probleme der internationalen Zusammenarbeit im Steuerverfahren Podiumsdiskussion Leitung Prof. Dr. Jürgen Lüdicke Rechtsanwalt, Steuerberater, International Tax Institute, Universität Hamburg Teilnehmer Hans-Henning Bernhardt Rechtsanwalt, Beiersdorf AG, Hamburg Prof. Dr. Dietmar Gosch Vorsitzender Richter am Bundesfinanzhof, Hamburg

Prof. Dr. Arndt Schmehl Universität Hamburg Dipl.-Kfm. Dr. Jens Schönfeld Rechtsanwalt, Fachanwalt für Steuerrecht, Flick Gocke Schaumburg, Bonn

MR Dr. Carl Friedrich Vees, Finanzministerium Baden-Württemberg, Stuttgart

Prof. Dr. Lüdicke Vielen Dank, Herr Schmehl. Sie haben die Ereignisse der letzten 12 bis 18 Monate in einen globalen Zusammenhang gestellt. In diesem Zusammenhang stellen sich viele Fragen, auch zum zuletzt von Ihnen genannten Steuerhinterziehungsbekämpfungsgesetz1 und der zugehörigen Verordnung.2 Aber ich möchte mit einer ganz allgemeinen Frage an Sie, Herr Bernhardt, anfangen: Viele sind von verschiedenen Entwicklungen der letzten Monate überrascht worden, auch in diesem Bereich. Ich denke, es kann kein Zweifel bestehen, dass Herumtricksen mit Steueroasen, mit ________________________ 1 Gesetz zur Bekämpfung der Steuerhinterziehung (Steuerhinterziehungsbekämpfungsgesetz) v. 29.7.2009, BGBl. I 2009, 2302. 2 Steuerhinterziehungsbekämpfungsverordnung (SteuerHBekV) v. 18.9.2009, BGBl. I 2009, 3046.

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fehlender Informationsgewährung an die jeweils zuständige Steuerverwaltung nicht geht. Hierüber wird auch in der Industrie Einigkeit bestehen. Aber wie werden die Gefahren für Kollateralschäden gesehen, dass nämlich durch den internationalen Informationsaustausch, durch den Druck auf verschiedene Staaten und durch den Druck auf verschiedene Staaten immense Mitwirkungspflichten geschaffen werden, die möglicherweise bei normal organisierten Unternehmen gar nicht notwendig sind, um dort etwas herauszufinden? Und wie wird andererseits in der Industrie die Gefahr beurteilt, dass möglicherweise die neue Ära des Steuergeheimnisses sich zunächst nur auf einige Staaten beschränkt und nicht von jeder ehemaligen Steueroase gleich in unserem Sinne praktiziert wird? Bernhardt Dazu will ich gerne etwas sagen. Das ist ein ganzer Strauß an Fragestellungen. Zunächst ist natürlich festzuhalten und daran besteht kein Zweifel, dass die Industrie sich an die rechtlichen Vorschriften hält. Das steht außerhalb jeder Diskussion. Das war aber auch immer schon so. Dass man die Grenzen nicht ankratzt, ist selbstverständlich. Sodann würde ich das Thema auch nicht nur auf steuerrechtliche Informationen und deren Austausch beschränken. Das geht viel weiter: sämtliche Fragen, die im weitesten Sinne um diesen Bereich liegen, wie z. B. Meldevorschriften im Zusammenhang mit der Terrorismusbekämpfung, Statistiken für Zollbehörden und andere Behörden. Das Steuerrecht ist im Grunde genommen nur ein Teilaspekt, der natürlich in dieser Tagung besonders interessiert, aber – wie gesagt – es geht viel weiter. Man erlebt das täglich. Ich bin in unserem Hause für Recht und Steuern verantwortlich. Wir müssen für Deutsche, die in unseren ausländischen Gesellschaften in Boards unterschiedlicher Struktur sitzen, persönliche Auskünfte in erheblichem Umfang geben, um den lokalen Behörden erklären zu können, wer derjenige ist, der hinter dieser Gesellschaft steht, wer dort agiert. Das ist nur ein kleiner Beispielfall. Am Ende ist es ein ganzes Bündel an Aktivitäten, das täglich auf Unternehmen einwirkt. Sie haben den Punkt selbst schon genannt. Der Umfang der Vorschriften, die zu beachten sind, ist enorm. Man läuft Gefahr, dass man irgendwo unbeabsichtigt an die Grenzen gerät, dass man viele Themen überhaupt nicht richtig mitbekommt und dann auch nicht ausreichend und zeitig informiert und unter Umständen gegen Vorschriften verstößt. Das ist ein deutliches Risiko. Es ist letzt76

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lich auch ein Thema der personellen Kapazitäten in unseren Unternehmen. Das, was man im Headquarter an Personen und an Funktionalitäten vorhalten muss, steigt. Wir haben es hier mit einem Teilaspekt des generellen Themas Compliance zu tun, das an Bedeutung rapide wächst. Wenn ich jetzt ein wenig zum steuerrechtlichen Teil zurückkomme: Das Thema Steuerhinterziehungsbekämpfungsgesetz3 wollten wir in der zweiten Runde besprechen, wenn ich Sie richtig verstanden habe. Dann waren das zunächst die beiden Aspekte, die hier genannt worden sind. Und ich glaube, es ist wirklich so, dass das Verfahrensrecht deutlich in den Vordergrund getreten ist, oder wie es so schön gesagt wurde: ‚aus dem Schatten des materiellen Rechts herausgetreten ist‘. Ich sehe das in der eigenen täglichen Praxis. Wir beschäftigen uns nicht nur in Deutschland, sondern in vielen anderen Ländern vermehrt mit verfahrensrechtlichen Fragen. Das war früher deutlich weniger der Fall. Die materiellen Fragen der Diskussion standen auch mit der Steuerverwaltung in den verschiedenen Ländern eindeutig im Vordergrund. Verfahrensrecht spielt jetzt eine große Rolle, und auch grenzüberschreitender Austausch von Informationen ist ein Thema geworden. Ob wir zu einer neuen Ära des Steuergeheimnisses kommen oder ob eine solche beginnen sollte, da habe ich Zweifel. Bei der Fülle der Vorschriften, die im Raume stehen, habe ich Bedenken. Ich sage das nicht bezogen auf Deutschland, denn die Frage war weiter gefasst. In welchen Ländern kann man darauf vertrauen und wie stellt man am Ende auch sicher, dass nicht Informationen, die deutlich über das, was für das Steuerrecht erforderlich ist, hinaus generiert und weitergegeben werden? Mit den neuen technischen Möglichkeiten hat das Ganze eine andere Dimension bekommen, auch durch den „Digitalen Datenzugriff“. Vergleichbare Verhältnisse sind in vielen Ländern in der Zwischenzeit etabliert und führen dazu, dass im Zuge der Generierung von steuerlichen Informationen letztlich auch Geschäftsgeheimnisse tangiert werden. Prof. Dr. Lüdicke Vielen Dank, Herr Bernhardt. Herr Vees, als Finanzminister Steinbrück durch die Welt zog, um andere Staaten zum Mitmachen aufzufordern, wurde der deutschen Finanzverwaltung in Presse vorgeworfen, sie habe nur ganz wenige – wenn ich mich richtig erinnere, war es nur eine ________________________ 3 Steuerhinterziehungsbekämpfungsgesetz v. 29.7.2009, BGBl. I 2009, 2302.

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zweistellige Zahl – von Informationsersuchen ins Ausland gestellt. Ist die Finanzverwaltung einem erhöhten Informationsverkehr organisatorisch und personell gewachsen? Herr Schmehl hatte bereits die Problematik der Fremdsprachen angesprochen. Mit der Schweiz und mit Liechtenstein geht es natürlich auf Deutsch, aber darüber hinaus geht es nicht auf Deutsch. Sie werden möglicherweise selber mehr Anfragen stellen wollen. Sie müssen dann aber auch damit rechnen, dass aus dem Ausland Anfragen kommen. Kann das in einer rechtsstaatlichen Weise bewältigt werden? Dr. Vees Natürlich haben wir den Anspruch, dass wir das rechtsstaatlich bewältigen. Es gibt verschiedene Konstellationen. Wir haben in BadenWürttemberg den unmittelbaren Auskunftsaustausch zwischen den Finanzämtern im Rheintal mit den französischen Finanzämtern. Auf deutscher Seite sitzen Beamte, die Französisch können. Auf der französischen Seite sitzen Ansprechpartner, die Deutsch sprechen. Auf diese Weise bemühen wir uns, dieses Sprachproblem ganz pragmatisch in den Griff zu bekommen. Das kann natürlich kein flächendeckendes Konzept sein, sondern nur mit ausgewählten Staaten praktiziert werden. Wir arbeiten deshalb darüber hinaus an der Elektronifizierung des Auskunftsverkehrs. Da ist daran gedacht, dass man eine allgemeingültige Maske am PC ausfüllt, die der eingebende Bearbeiter in seiner Sprache bearbeitet und am anderen Ende kommt es in der anderen Sprache übersetzt raus. Prof. Dr. Lüdicke Das kennen wir von Google. Dr. Vees Fragen Sie mich nicht, bis wann wir das haben werden, aber dennoch: Ich denke, wir können auch eine größere Anzahl von Auskunftsverfahren abwickeln. Vielleicht noch ein Gedanke zur Abrundung. Wenn mehr Möglichkeiten für den Erhalt von Auskünften bestehen, dann werden wahrscheinlich auch mehr Ersuchen ins Ausland gestellt werden. Ich weiß aus unserer baden-württembergischen Verwaltung, dass wir beispielsweise Ersuchen in die Schweiz in der Vergangenheit fast nicht mehr gestellt 78

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haben, weil wir wussten, dass die Chance, eine Antwort zu erhalten, gering war. Wenn sich dies ändern sollte, werden auch die ausgehenden Auskunftsersuchen zunehmen. Aber ich denke, dass wir auch eine zunehmende Anzahl von ausgehenden Ersuchen bewältigen können. Prof. Dr. Lüdicke Wird denn beispielsweise im Einzelfall, wenn solch ein Ersuchen kommt, darüber nachgedacht werden, ob Geschäftsgeheimnisse des deutschen Unternehmens zur Debatte stehen? Ich denke, es wird der Industrie jedenfalls ein Anliegen sein, dass im Einzelnen darüber nachgedacht wird. Dr. Vees Für eingehende Ersuchen aus dem Ausland haben wir in unserem Merkblatt zum Auskunftsaustausch festgehalten, dass wir zunächst dem Betroffenen rechtliches Gehör geben. Denn wie in dem Referat dargestellt, kommt der Rechtsstaatlichkeitsmaßstab des ersuchten Staates zur Anwendung. Damit ist der Betroffene auf dem Laufenden und ist handlungsfähig. Prof. Dr. Lüdicke Herr Gosch, das wird dann gegebenenfalls auch bei Ihnen landen. Da ist die eine Frage: Wie wird die Finanzgerichtsbarkeit mit einem möglicherweise anschwellenden Auskunftsverkehr umgehen? Die zweite Frage, die mich in dem Zusammenhang interessieren würde: Herr Schmehl hatte die Entscheidung des Schweizerischen Bundesgerichts erwähnt. Sofern die Abkommen im Bereich des Verfahrensrechts (Art. 26 OECD-MA) halbwegs gleichmäßig, also ohne große Abweichungen abgeschlossen werden, wird es eine denkbare internationale Auslegung geben. Wird von der Gerichtsbarkeit zumindest faktisch erwartet werden, dass man in diesen Bereichen auch die höchstrichterlichen Entscheidungen anderer Staaten vermehrt zur Kenntnis nimmt? Prof. Dr. Gosch Zum ersten: Dass der „Informationshunger“ – und damit auch übrigens die Transparenz und die Aushöhlung irgendwelcher individueller Geheimnisse – zunehmen wird, das haben wir gerade plastisch verdeutlicht bekommen. Wenn man nur noch die Formulare in den PC eingibt 79

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und das dann in einer anderen Sprache „rausgeht“, das spricht dann für sich. Wie die Rechtsprechung auf solche Muster reagieren wird? Der I. Senat ist zuständig für den Auskunftsverkehr in internationalen Zusammenhängen, also § 117 AO und den DBA (Art. 26 OECD-MA). Die einschlägigen Verfahren sind meist Eilverfahren, es geht also um den Rechtsschutz in einem Verfahren über einstweilige Anordnungen. Der Senat muss dann unterscheiden zwischen den eingehenden Auskunftsersuchen und den ausgehenden, nur bei ersterem lässt sich innerstaatlich reagieren und etwas in die Wege leiten. Wenn ein Auskunftsersuchen an die Bundesrepublik Deutschland, an deren Finanzverwaltung, gestellt wird und sodann der betreffende Steuerpflichtige über dieses Ersuchen in Kenntnis gesetzt und ihm Gehör gewährt wird, dann will er häufig die Auskunftserteilung verhindern. Das probate Mittel dafür ist die einstweilige Anordnung. Ähnlich liegen die Dinge bei sog. Spontanauskünften, bei denen die Ämter aus „eigener Kraft“ von sich aus im Rahmen des internationalen Informationsaustauschs tätig werden. Die Rechtsprechung reagiert auf derartige Informationsweitergaben eher zurückhaltend. Es existiert bisher allerdings auch praktisch keine Erfahrung über die einschlägige Judikatur der anderen Staaten. Folglich lässt sich auch der Grundsatz der Entscheidungsharmonie nur schwer umsetzen. Auf der anderen Seite wird in den relativ wenigen Fällen, die den I. Senat bisher erreicht haben, ganz konkret auf den Einzelfall geschaut: Es wird der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz angewendet, die Erforderlichkeit, die Geeignetheit – das sind alles Kriterien, die in Rede stehen. Der Rechtsschutz wird mit hohem Maße gewährleistet. Ich nehme auch an, dass das in anderen Staaten bei ausgehenden Auskunftsersuchen nicht minder sein wird. Dass es so schnell funktioniert, dass man jedenfalls beim Einhalten eines rechtsstaatlichen Standards blitzschnell die Auskünfte wechselseitig erteilt, ist aus meiner Sicht nicht zu erwarten. Man wird mit gewisser Wahrscheinlichkeit auch die andere Gerichtspraxis im Auge behalten, aber bisher gibt es keine Erfahrung. Vielleicht noch ein Aspekt, den ich anbringen will: Was für mich gewissermaßen als „Muster“ sichtbar wird, ist der Umstand, dass in vielerlei Normen gesagt wird, dass der Schutz nur dann angeboten wird, wenn von dem anderen Staat Auskunft erteilt wird. Stichwort ist das der Gegenseitigkeit. Das findet sich neuerdings in der Drittstaatenklausel des § 2a Abs. 2a EStG, gleichermaßen in § 6 AStG, in § 8 Abs. 2 80

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AStG. Herr Schönfeld hat das vorhin dargestellt. Es ist schon eine sehr bedenkliche Entwicklung, dass man jenseits der Mitwirkungsverpflichtungen wegen Obliegenheiten des Steuerpflichtigen diesem einen Schaden im weitesten Sinne, einen Steuernachteil, zufügt, und das davon abhängig macht, ob ein anderer Staat bereit ist, ein Auskunftserteilen zu ermöglichen. Mit anderen Worten: Jenseits der Einflussmöglichkeit des Steuerpflichtigen wird ein Steueranspruch konstituiert oder eine Begünstigung versagt. Dies scheint ein Muster zu sein, das neuerdings Schule macht, auch gerade hier in dem neuen Verordnungsgesetz.4 Ich meine, da sollte man auch unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten schon einmal nachfragen und genauer hinschauen. Prof. Dr. Lüdicke Dann fragen wir doch Herrn Vees: Die Diskussion gibt es schon länger. Es gibt auch einige materiell-rechtliche Vorschriften, bei denen es auf Gegenseitigkeit ankommt, z. B. beim Vorsteuerabzug unter Drittstaatlern. In dem Zusammenhang wurde in der Literatur einmal der Ausdruck verwendet, dass der Steuerpflichtige quasi als „staatliche Geisel“ genommen wird, um ein Verhalten eines anderen Staates, auf das dieser Steuerpflichtige natürlich keinen Einfluss hat, zu erzwingen. Ist das das neue Muster? Dr. Vees Dazu möchte ich gerne etwas sagen, zumal Herr Gosch auch den § 6 Abs. 5 AStG und den § 15 Abs. 6 AStG ansprach. Ich denke, man muss zwei Dinge auseinanderhalten: einmal das Streben nach der Verbesserung der Auskunftsvereinbarungen, nicht zuletzt durch diese Drohkulisse des Steuerhinterziehungsbekämpfungsgesetzes, und zum andern die Passage zu den Auskunftsrechten, die in neuerer Zeit in bestehende Rechtsnormen eingeflochten worden sind, um diese auf den EU-Raum zu erweitern, z. B. § 6 Abs. 5 AStG oder § 15 Abs. 6 AStG. Ich denke, dieser in die Rechtsnormen eingeflochtene Bezug auf die Auskunftsrechte geht zurück auf die Entscheidung des EuGH „de Lasteyrie ________________________ 4 Steuerhinterziehungsbekämpfungsgesetz v. 29.7.2009, BGBl. I 2009, 2302; Steuerhinterziehungsbekämpfungsverordnung (SteuerHBekV) v. 18.9.2009, BGBl. I 2009, 3046.

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du Saillant“.5 Denn danach darf eine Besteuerung der stillen Reserven nicht im Zeitpunkt des Grenzübertritts des Anteilseigners vorgenommen werden, sondern erst beim Außenumsatz nach Wegzug, wenn der Wegzug in einen EU-Mitgliedstaat oder einen EWR-Staat erfolgt, mit dem Auskunfts- und Beitreibungsrechte bestehen. Denn der deutsche Besteuerungsanspruch lebt nach dem Grenzübertritt fort, wie wenn ein Umzug innerhalb des Inlands stattgefunden hätte, d. h. wenn mit dem Inland vergleichbare Vollzugsrechte bestehen. Deshalb war es richtig, dass in § 6 Abs. 5 AStG auch auf die Auskunfts- und Beitreibungsrechte abgestellt wird. In § 15 Abs. 6 AStG hat man dann nur an die Auskunftsrechte angeknüpft, nicht an die Beitreibung. Das ist auch sinnvoll, denn bei den Familienstiftungen gibt es einen inländischen Steueranspruch. Da braucht man nicht im Ausland beizutreiben. Das wäre im Übrigen noch ein Nachtrag zu einem Ihrer Fälle, dem Liechtenstein-Fall mit § 6 Abs. 5 AStG. Ich glaube, diese Anknüpfung an Auskunft und Beitreibung in § 6 Abs. 5 AStG bzw. § 18 Abs. 6 AStG erfolgt zu Recht und sie ist etwas ganz anderes als das, was mit dieser „Drohkulisse Steuerhinterziehungsbekämpfungsgesetz“ beabsichtigt ist. Bei diesem Gesetz geht es allein darum, Steueransprüche, die niemand in Abrede stellt, besser verfolgen zu können. Es war vorhin immer wieder die Rede davon, dass im Rahmen der Globalisierung die Staaten um Steuersubstrat ringen. Das ist natürlich richtig. Aber das ist nicht der Fokus des Steuerhinterziehungsbekämpfungsgesetzes. In den Fällen des Steuerhinterziehungsbekämpfungsgesetzes gibt es gar keinen Zweifel über die Zuweisung von Besteuerungsrechten. Das Beispiel der schweizerischen UBS zeigt dies. Dort ging es um Kapitaleinkünfte. Da ist die Rechtslage des Besteuerungsrechts klar. Das Steuerhinterziehungsbekämpfungsgesetz widmet sich der Frage, wie man von den entsprechenden Einkünften Kenntnis erhält. Prof. Dr. Lüdicke Darf ich nochmal nachfragen? Zunächst zur Mitwirkung des ausländischen Staates: Der EuGH stellt darauf ab, dass mit dem anderen EUoder EWR-Mitgliedstaat eine entsprechende Vereinbarung besteht. Aber wir haben auch den Aspekt diskutiert, ob es dann darauf ankommen ________________________ 5 EuGH v. 11.3.2004 – Rs. C-9/02 – Hughes de Lasteyrie du Saillant, EuGHE 2004, I-2431.

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darf, ob dieser andere Staat auch wirklich mitmacht und sich daran hält. Ich kann mich darauf einrichten, dass ich Geschäfte nur mit solchen Staaten mache, mit denen solche Vereinbarungen existieren; das mag schädlich fürs Geschäft sein, aber ich weiß es dann jedenfalls vorher. Aber ob die Staaten zum Schluss wirklich die Auskunft geben, darauf hat doch der einzelne Steuerpflichtige keinen Einfluss. Und ich glaube, das ist der Punkt, der eben im Wesentlichen angesprochen worden war. Dr. Vees Da versuche ich auch zweigeteilt zu antworten. Erster Teil: Steuerhinterziehungsbekämpfungsgesetz. Es ist unsere gemeinsame Hoffnung, dass niemals ein Staat als unkooperativ identifiziert wird und in der hier vorgesehenen Weise in einem Schreiben im Bundessteuerblatt als solcher benannt wird. Erst wenn es soweit käme, wüsste ich, dass die Geschäftsbeziehung zu diesem Staat besonderen Regeln unterfallen kann. Der zweite Teil: § 6 Abs. 5 AStG. Da hat Herr Schönfeld in einem Fall mit Liechtenstein darauf abgestellt, dass es in § 6 Abs. 5 AStG heißt „Auskünfte erteilt werden“. D. h. die Formulierung dort könnte die Frage aufwerfen, ob es auf die abstrakte Möglichkeit oder darauf ankommt, ob tatsächlich Auskünfte erteilt werden, d. h. wie die Praxis aussieht. Da kann ich zur Erläuterung nur mitteilen, wie diese Formulierung damals zustande kam. Wir wissen, dass es neben den Auskunftsrechten nach dem DBA – kleine und große Auskunftsklauseln – auch die Auskunftsrechte nach der EG-Amtshilferichtlinie gibt. Da gibt es nach Art. 8 EG-Amtshilferichtlinie vergleichbar mit manchen DBA-Klauseln die Möglichkeit des nationalen Vorbehalts. Es könnte die Situation eintreten, dass man mit einem ausländischen Staat eine Auskunftsvereinbarung schließt, diese aber aufgrund eines nationalen Vorbehalts praktisch leer läuft. In diesen Fall wollte man die Stundungsmöglichkeit des § 6 Abs. 5 AStG nicht geben. Nun stellt sich die Frage, und das haben Sie mit Ihrem Beispiel auf die Spitze getrieben, was passiert, wenn ein Auskunftsersuchen gestellt wird und aus Liechtenstein keine Antwort kommt. Ich kann es Ihnen nicht abschließend beantworten. Wenn eine Reihe von Ersuchen unbeantwortet bleiben, wird man die gesamte Vereinbarung in Frage stellen müssen. Und entweder man kann dann mit dem ausländischen Staat zu einem neuen modus vivendi kommen oder man muss die Vereinbarung verändern. Natürlich gehen wir davon aus, 83

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dass die Vereinbarung, die mit Liechtenstein abgeschlossen ist, eine ist, die zu Auskünften führt und damit die Stundung gewährt werden kann. Dr. Schönfeld Wenn ich darauf gerade antworten darf: Ich stelle mir den Fall vor – und ich glaube, der ist nicht unrealistisch –, dass sie zum Beispiel Italien als Partnerstaat haben. In diesem Fall werden sie wahrscheinlich keine Information bekommen. Andererseits z. B. die USA, Drittstaat, eigentlich „böser Staat“, von denen werden sie vielleicht mehr Informationen erhalten als sie eigentlich haben wollen. Wenn die Italiener Ihnen demgegenüber auf Grundlage der Amtshilferichtlinie keine Antwort geben, dann kann es nicht sein, dass der Steuerpflichtige dafür bestraft wird. Das mildere Mittel ist dann das Vertragsverletzungsverfahren. Dann mögen sie vor den EuGH ziehen, mögen sich bei der Kommission darüber beschweren, dass hier im Grunde die EG-Amtshilferichtlinie nicht eingehalten wird. Aber ich glaube, den Steuerpflichtigen zu bestrafen, das geht nicht. Dr. Vees Zwingen Sie mich bitte nicht zur Lösung von Einzelfällen und machen mich dann später zum Kronzeugen, wenn irgendetwas schiefgeht. Aber ich denke, da muss der Verhältnismäßigkeitsmaßstab eine Rolle spielen. Und es kommt auch heute schon vor, dass ein Auskunftsersuchen gestellt wird und nicht gleich eine Antwort kommt. Dann wird gemahnt und auf Antwort gedrungen. Sollte man feststellen, dass es sich um ein systematisches Verhalten handelt, müsste man dies zum Gegenstand entsprechender Gespräche machen. Man würde versuchen, auf die Einhaltung geschlossener Vereinbarungen hinzuwirken. Prof. Dr. Gosch Ich wollte zu diesem Bereich nur noch ganz konkret zwei Fragen stellen. Die eine betrifft die besagte Liste, diese graue und schwarze Liste, die es scheinbar gegeben hat, die es aber, wenn ich das richtig sehe, faktisch gar nicht mehr gibt. Mir ist jedenfalls berichtet worden, die Liste sei derzeit „leer“, so dass wir von daher sozusagen über eine Phantomliste reden können. Momentan gibt es – glaube ich – keinen einschlägigen „amtlich“ kooperationsunwilligen Staat. Jene Staaten, um die es anscheinend ging, haben sich der deutschen Drohgebärde ge84

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beugt und sich bereit erklärt, mit dem deutschen Fiskus zusammenzuarbeiten. Trifft das zu, Herr Schönfeld? Sodann – zweiter Punkt – habe ich Probleme mit der rechtsstaatlichen „Unterfütterung“ der besagten Liste. Mit dieser Liste wird für den Steuerpflichtigen ein faktisches Kontrahierungsverbot geschaffen; ohne Schaden kann er mit Geschäftspartnern aus jenen Staaten letztlich keine Geschäfte betreiben, er wird sich davor hüten. Die Frage, die sich angesichts dessen stellt, ist die: Kann es sein, dass dem Fiskus kraft Ermächtigung die Handhabe gegeben wird, derart Weitreichendes zu bestimmen? Ich halte das rechtsstaatlich für fragwürdig. Prof. Dr. Lüdicke Herr Vees, das BMF-Schreiben, das in der amtlichen Begründung zu der Verordnung angekündigt worden ist, werden wir das jemals sehen? Sie sagten jetzt, Ziel ist natürlich, dass es das nicht gibt. Wenn es das Schreiben tatsächlich nicht gibt, hat das Gesetz dann keine Wirkung? Dr. Vees Das Gesetz hat natürlich seine Wirkung. Man könnte mal bei den Kollegen in Berlin nachfragen, wie viele ausländische Delegationen in letzter Zeit zu Verhandlungen dagewesen sind. Und wenn man den BMF-Newsletter verfolgt, dann stellt man fest, dass eine Vereinbarung z. B. mit Liechtenstein geschlossen worden ist. Das hätte vor anderthalb Jahren keiner so richtig für möglich gehalten. Aber Liechtenstein ist nicht alleine, es wurden auch Vereinbarungen mit Guernsey, Bermudas, Zypern oder Gibraltar geschlossen. Prof. Dr. Lüdicke Aber das Problem für die Industrie ist doch ein anderes. Da will man mit jemandem in irgendeinem Staat einen Vertrag schließen. Und dazu möchte man rechtsstaatlich verlässlich wissen, ob diese Regelungen, deren tieferer Sinn teilweise ohnehin nur schwer zu erschließen ist, in dem konkreten Fall anwendbar sind oder nicht. Meine Frage ist: Kann man sich, solange es das BMF-Schreiben nicht gibt – und man muss ja wohl nicht diesen Newsletter abonnieren – darauf verlassen, dass man sozusagen ungestraft von dem Steuerhinterziehungsbekämpfungsgesetz kontrahieren kann?

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Dr. Vees Der Newsletter ist übrigens kostenlos. Prof. Dr. Lüdicke Das ist nicht der Punkt. Kann man sich darauf verlassen, dass diese Regeln, solange es das BMF-Schreiben nicht gibt, für mich keine Anwendung finden? Oder gibt es jetzt im Hintergrund eine Regelung, die niemand anwenden will, weil alle hoffen, dass alle Staaten und Inseln Gutmenschen werden, aber was niemand nicht so richtig weiß, weshalb der BFH es dann in 10 Jahren richten muss? Das darf in einem Rechtsstaat nicht sein. Dr. Vees Im Moment geht man davon aus, dass diese Liste keinen Staat nennt. Prof. Dr. Gosch … eben ein „Phantomgesetz“. Dr. Vees Phantomgesetz gefällt mir natürlich nicht so sehr. Dafür haben Sie sicher Verständnis. Man muss natürlich sehen: Wir als Staat Deutschland haben in der Vergangenheit schon mehrere Anläufe unternommen, die Auskunftssituation zu verbessern. Der erste Ansatz war, dass man OECD-weit entsprechende Regeln findet. Das wurde vorhin beschrieben. Der zweite Ansatz war, dass man innerhalb der EU Regeln findet, z. B. die Zinsrichtlinie. Beides hat nicht so richtig zum Erfolg geführt. Schließlich hat man sich jetzt des letzten Mittels erinnert, das man hat: eines nationalen Gesetzes. Und die Vereinbarungen, die man abgeschlossen hat, zeigen, dass es etwas bewegt hat. Und selbstverständlich wird die Identifikation eines Staates als unkooperativ die ultima ratio sein. In der Begründung zur Verordnung wird ausgeführt, dass man zunächst versucht, mit dem anderen Staat in Verhandlungen zu kommen. Denn in der Tat, das Steuerhinterziehungsbekämpfungsgesetz ermöglicht letztlich den Eingriff in grundlegende Spielregeln unseres Steuerrechts, wie Versagen des Betriebsausgabenab86

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zugs, des Werbungskostenabzugs, der Kapitalertragsteuerentlastung, vorausgesetzt, der inländische Steuerpflichtige kommt den erhöhten Mitwirkungspflichten nicht nach. Prof. Dr. Gosch Wenn es aber dann doch dazu kommt, welche Konsequenzen hat das dann: In § 4 SteuerHBekV6 wird die Anwendung von § 8b Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 KStG ausgeschlossen, nicht aber jene von § 8b Abs. 3 KStG. Heißt das, dass Gewinnminderungen, die mit entsprechenden Kapitalanteilen verbunden sind, nach wie vor nicht abzugsfähig sind, das, obschon die positiven Wirkungen des § 8b Abs. 1 und 2 KStG ausgespart bleiben? Dem reinen Regelungswortlaut nach verhält es sich so, und auch die Rechtssystematik widerspricht dem keineswegs, weil § 8b Abs. 1 und 2 KStG einerseits und § 8b Abs. 3 KStG anderseits zwar aufeinander abgestimmt sein mögen, jedoch keineswegs zwingend wechselseitig angeordnet werden müssen. Dann haben Sie, wenn es so käme, den Abzugsausschluss und gleichzeitig die Freistellungsversagung. Dr. Vees Bevor es soweit kommt, kann ich das abwenden, indem ich als Steuerpflichtiger erhöhten Mitwirkungspflichten nachkomme. Ich muss dann eine Dokumentation anlegen, wie sie bislang mit nahestehenden Personen verlangt wird. Aber, wie gesagt, man glaubt eigentlich nicht wirklich, dass es mal zu diesem Fall kommt. Wenn es dann doch einmal soweit kommen sollte, werden wir eventuelle Zweifelsfragen zu § 8b KStG entscheiden. Prof. Dr. Lüdicke Herr Schmehl, wie beurteilen Sie als Ordinarius für Öffentliches Recht die Gegenstände unserer Diskussion in den letzten Minuten unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten? Prof. Dr. Schmehl Ich habe schon in meinem Vortrag gesagt, dass ich das rechtsstaatliche Qualitätsniveau der Stelle, an der festgelegt wird, wer zu den Verdäch________________________ 6 Steuerhinterziehungsbekämpfungsverordnung (SteuerHBekV) v. 18.9.2009, BGBl. I 2009, 3046.

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tigen gehört oder wer nicht, für optimierungsbedürftig hielte, ohne dass dabei etwas an dem Druckpotenzial des Gesetzes verloren hätte gehen müssen. Das finde ich in der Tat eine problematische Regelung. Wobei man sagen muss, es ist auch ein ganz ungewöhnlicher Fall. Schon von der Grundkonzeption her ist das Gesetz ganz ungewohnt in der Hinsicht, als dass alles das, was drinsteht, so ausgeklügelt es dann auch sein mag, eigentlich nach dem Willen des Gesetzgebers möglichst nicht zur Anwendung kommen soll. Und das ist schon faszinierend. Wie man diese Besonderheit sozusagen rechtsstaatlich in die Argumentation einpflegt, müssen wir erst noch lernen. Das ist tatsächlich auch ein Problem. Zwei kleine Punkte noch: Entscheidend, wenn man nach den letzten Punkten sucht, um die es sich dreht, wird dann immer wieder die Frage sein, wie wir diese Vertrauenswürdigkeit anderer Staaten „definieren“ können. Darum wird sich vieles drehen. Das ist auch der Dreh- und Angelpunkt um die Standardfindung. Da ist mein zusammenfassender Punkt ganz in Übereinstimmung mit Vielem von dem, was auch gesagt wurde. Das ist eine neue Architektur, die da auftritt und die uns vor allen Dingen auch nicht nur dazu zwingen wird, mehr über das Verfahrensrecht nachzudenken, sondern auch mehr in andere Rechtsordnungen hineinzuschauen. Denn in der Tat kann die abgehende Auskunft nach außen natürlich unter dem Aspekt der nicht nur informationellen Selbstbestimmung, sondern auch der wirtschaftlichen Freiheit problematisch sein. Und wir müssen auch nicht nur in diese Richtung schauen, sondern auch überlegen, dass etwa eine Öffnungsklausel wie diejenige, die am Ende von § 30 AO steht, in dem Zusammenhang eigentlich nicht akzeptabel ist. Wenn Auskünfte, die an uns gegeben werden, drohen, für alle möglichen anderen Zwecke außerhalb der Besteuerung auch gebraucht zu werden, dann wäre das beispielsweise nicht abkommenskonform, so dass man da auch eine neue Differenzierung reinbekommt. Die auf diese Art und Weise gewonnenen Auskünfte unterliegen nicht den gleichen Möglichkeiten, die trotz § 30 AO bestehen, mit den Informationen auch anderes anzustellen. Prof. Dr. Lüdicke Vielen Dank. Herr Gosch hat noch ein kleines Schlusswort.

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Prof. Dr. Gosch Ich wollte sagen, dass Herr Schmehl einem Kulturverfall vorgebeugt hat. Ich habe gestern in der Süddeutschen Zeitung gelesen, dass PowerPoint dumm mache. Man verlerne zu reden und zuzuhören, man konsumiere nur noch Präsentationen. Ihnen, Herr Schmehl, ist gelungen, dass man wieder zugehört hat. Prof. Dr. Lüdicke Dafür danken wir Herrn Schmehl.

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Besteuerungsfragen bei internationaler Personalentsendung Martin Reinhold Siemens AG, München Inhaltsübersicht A. Der wirtschaftliche Arbeitgeber gem. Art. 15 Abs. 2 Buchst. b) des OECD-MA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . II. Arbeitgeber i. S. des Art. 15 Abs. 2 Buchst. b) OECD-MA . . III. Auslegung der OECD des Begriffs wirtschaftlicher Arbeitgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Auslegung nach dem OECD-Musterkommentar . . 2. Ergänzung durch das Business and Industry Advisory Committee der OECD . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Veröffentlichungen von Beratungsgesellschaften . . . . . . V. Beispielhafte Veröffentlichungen der Finanzverwaltungen . . 1. Bundesministerium für Finanzen . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Finanzverwaltung in Großbritannien . . . . . . . . . . . . . . . 3. Finanzverwaltung in Italien . VI. Gerichtsentscheidungen im Ausland; hier Indien . . . . . . . . .

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VII. Eigene praktische Erfahrungen 99 VIII. Liegt eine Verpflichtung zum Lohnsteuerabzug vor? . . . . . . . 99 IX. Zusammenfassung . . . . . . . . . . 99 B. Berechung der 183 Tage nach der Neukommentierung des OECDMA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . II. Neukommentierung der Ermittlung der 183 Tage im OECD-Musterkommentar . . . III. Auswirkungen . . . . . . . . . . . . IV. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Besteuerung von Sachbezügen im internationalen Kontext; hier: PKW-Besteuerung an Hand von einigen Beispielsländern . . . . . . . I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . II. Bewertung eines Nutzungsvorteils bei Firmenwagengestellung . . . . . III. Fallbeispiele zur PKWBesteuerung: . . . . . . . . . . . . . IV. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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A. Der wirtschaftliche Arbeitgeber gem. Art. 15 Abs. 2 Buchst. b) des OECD-MA I. Allgemeines Um das Problem des wirtschaftlichen Arbeitgebers besser verstehen zu können, möchte ich die Gelegenheit nutzen, zunächst einen Fall aus der Praxis vorzustellen: 91

Reinhold – Besteuerungsfragen bei internationaler Personalentsendung

Beispiel Drei Geschäftsführer einer deutschen Gesellschaft sind zugleich leitende Angestellte der französischen Muttergesellschaft. Sie sind in beiden Unternehmen unstrittig integriert. Die Gehaltskosten werden im Rahmen eines Umlagesystems zwischen den beiden Gesellschaften in dem Verhältnis aufgeteilt, in dem die Geschäftsführer einen entsprechenden Wertbeitrag für die jeweilige Gesellschaft erbringen. Dies entspricht in etwa auch dem Umfang ihrer Tätigkeiten für die jeweilige Gesellschaft. Der erste Geschäftsführer beantragt bei seinem Wohnsitzfinanzamt wegen des vorhandenen wirtschaftlichen Arbeitgebers in Frankreich die Steuerfreistellung nach dem DBA in Deutschland. Das Wohnsitzfinanzamt sieht darin kein Problem und stellt unmittelbar den Arbeitslohn entsprechend den Tätigkeitstagen in Frankreich von der deutschen Besteuerung nach dem DBA frei. Der zweite Geschäftsführer beantragt ebenfalls bei seinem Wohnsitzfinanzamt die Steuerfreistellung und erklärt die gleiche Situation. Das Wohnsitzfinanzamt lehnt jedoch die Steuerfreistellung ab. Er ist gezwungen, ein finanzgerichtliches Verfahren zu starten, mit dem er sich gegen diese Entscheidung des Finanzamtes mittels Klage wendet. Genau diese Klage vor dem Finanzgericht Baden-Württemberg1 ist im Jahr 2003 erfolgreich gewesen. Das Finanzgericht hat dem Geschäftsführer zugestimmt und den Arbeitslohn in Deutschland entsprechend den Tätigkeitstagen in Frankreich anteilig freigestellt. Die Finanzverwaltung ist gegen diese Entscheidung in die Revision gegangen, welche dann vom BFH2 als unbegründet abgewiesen wurde. Der dritte Geschäftsführer hat ebenfalls bei seinem Wohnsitzfinanzamt die Steuerfreistellung nach dem DBA wegen des wirtschaftlichen Arbeitgebers in Frankreich beantragt. Das Wohnsitzfinanzamt hat die Steuerfreistellung wie beim zweiten Geschäftsführer abgelehnt. Auch er erhob gegen diese Entscheidung des Finanzamtes Klage vor dem Finanzgericht. Das Finanzgericht München3 entschied jedoch nicht wie das Finanzgericht Baden-Württemberg, son________________________ 1 FG Baden-Württemberg v. 11.4.2003 – 9 K 53/97, EFG 2004, 708. 2 BFH v. 28.1.2004 – I R 64/03, nicht veröffentlicht. 3 FG München v. 22.11.2007, 11 K 1523/04, nicht veröffentlicht.

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dern lehnte die Steuerfreistellung mangels Nachweises einer Kostenbelastung in Frankreich ab. Der Geschäftsführer ist gegen dieses Urteil mit einer Nichtzulassungsbeschwerde beim BFH vorgegangen, diese wurde jedoch vom BFH4 als unbegründet abgewiesen. Nun hatte der BFH im Rahmen der Revision und der Nichtzulassungsbeschwerde in gleichgelagerten Fällen unterschiedlich entschieden. Dies kann sowohl an der unterschiedlichen Zusammensetzung der Senate liegen, als auch daran, dass die Materie durchaus unterschiedlich betrachtet werden kann.

II. Arbeitgeber i. S. des Art. 15 Abs. 2 Buchst. b) OECD-MA Art. 15 Abs. 2 Buchst. b) OECD-MA weist dem Tätigkeitsstaat das Besteuerungsrecht zu, wenn die Vergütung von oder für einen Arbeitgeber gezahlt wird, der im Tätigkeitsstaat ansässig ist. Wer ist nun der Arbeitgeber i. S. d. Art. 15 Abs. 2 Buchst. b) OECD-MA? Keine einfache Frage, es kann sich dabei um den arbeitsvertraglichen Arbeitgeber (der formale Arbeitgeber) oder um den wirtschaftlichen Arbeitgeber handeln. Folgt man dem Wortlaut des Art. 15 Abs. 2 Buchst. b) OECD-MA, so stellt sich heraus, dass es sich um zwei verschiedene Arbeitgeber handeln kann. Zunächst wird der Arbeitgeber beschrieben, der die Vergütung zahlt. Dies bezieht sich eindeutig auf einen zahlenden Arbeitgeber und vermutlich auch auf einen die Betriebsausgabe buchenden Arbeitgeber. Letzteres ist insbesondere vor dem Hintergrund verbundener Unternehmen eher fraglich, da ansonsten der Arbeitgeber in der Lage sein könnte, hinsichtlich der Verbuchung die Besteuerungsrechte als Folge aus dem DBA zu steuern. Es darf auch nicht vergessen werden, dass eine Nachweisführung des jeweiligen Arbeitnehmers, ob die Betriebsausgaben tatsächlich gebucht wurden, durchaus schwierig sein dürfte. Der zweite Teil des Art. 15 Abs. 2 Buchst. b) OECD-MA spricht von einem Arbeitgeber, für den die Vergütung gezahlt wurde. Dies bezieht sich wohl nicht auf den formal zahlenden Arbeitgeber, sondern eher auf einen, der die Vergütung trägt und vermutlich auch als Betriebsausgaben bucht (bzgl. letzteren s. Hinweis oben). Dieser Teil des Art. 15 ________________________ 4 BFH, Beschluss v. 7.10.2008, I B 1/08, juris.

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Reinhold – Besteuerungsfragen bei internationaler Personalentsendung

Abs. 2 Buchst. b) OECD-MA deutet eher auf einen wirtschaftlichen Test der Arbeitgeberfrage hin. Der Begriff des Arbeitgebers ist, anders als der Begriff der Betriebsstätte, grundsätzlich im DBA nicht definiert. Die Rechtsprechung legt den Begriff dahingehend aus, dass zwei Voraussetzungen erfüllt sein müssen: – der Arbeitgeber muss in dem Entsendungsstaat ansässig sein,5 und – der Arbeitgeber trägt die Vergütungen für die ihm geleistete unselbständige Arbeit wirtschaftlich. Der Hauptanwendungsbereich dieser Regel dürfte bei Entsendungen an Tochtergesellschaften liegen, wenn die Mitarbeiter in die Organisation der jeweiligen Tochtergesellschaft eingegliedert werden und die Vergütung von dieser Gesellschaft getragen wird. Ein Ruhensvertrag mit der deutschen Gesellschaft und die Weiterzahlung von Euro-Beträgen im Inland, z. B. zur Aufrechterhaltung der Sozialversicherung, stehen dem nicht entgegen. Das Besteuerungsrecht fällt nur dann dem Tätigkeitsstaat vom ersten Tage an zu, wenn die Auslandsgesellschaft de facto Arbeitgeber des Mitarbeiters ist, d. h. es darf sich nicht um Tätigkeiten für die Muttergesellschaft (z. B. Kontrollfunktion für den Hauptgesellschafter) handeln. Zweck dieser Vorschrift ist es, dass der Staat, in dem die vorübergehende Tätigkeit des Mitarbeiters ausgeübt wird, auf sein Besteuerungsrecht nur dann verzichtet, wenn der gezahlte Arbeitslohn den seiner Steuerhoheit unterliegenden Gewinn des Betriebes nicht gemindert hat. Nicht um einen ausländischen Arbeitgeber handelt es sich, wenn der von der ausländischen Gesellschaft getragene Arbeitslohn Preisbestandteil einer Lieferung oder Werkleistung (Service-Vertrag) der inländischen Gesellschaft darstellt. Der Mitarbeiter ist dann im Interesse der

________________________ 5 Die Voraussetzung der Ansässigkeit kann nur durch eine natürliche bzw. juristische Person erfüllt werden. Somit kann nach Auffassung des BFH ein Arbeitgeber niemals nur eine Betriebsstätte sein. Der Arbeitgeber ist dort ansässig, wo er unbeschränkt steuerpflichtig ist.

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inländischen Gesellschaft zur Erfüllung der werkvertraglichen Pflichten bei der ausländischen Gesellschaft tätig.6 Soweit die Vergütungen für den im ausländischen Staat tätigen Mitarbeiter von einem in diesem Staat ansässigen Arbeitgeber getragen werden, so steht diesem Staat das Besteuerungsrecht für den Arbeitslohn zu, der für die Tätigkeit in diesem Staat gezahlt wird. Durchaus kann auch ganz formal lediglich der arbeitsvertragliche Arbeitgeber in Betracht kommen. Aus der Praxis sind hierbei insbesondere die Länder Rumänien, Pakistan und Österreich bekannt. Diese Auslegung ist jedoch vor dem Hintergrund des Wortlauts des OECD-MA nicht ohne Weiteres nachvollziehbar.

III. Auslegung der OECD des Begriffs wirtschaftlicher Arbeitgeber 1. Auslegung nach dem OECD-Musterkommentar Der OECD-Musterkommentar zu Art. 15 Abs. 2 Buchst. b) OECD-MA geht zunächst davon aus, dass der Grundsatz substance over form gelten soll. Es sind bei der Bestimmung des Arbeitgebers insbesondere die folgenden Fakten und Umstände zu betrachten, die ein Vorliegen eines wirtschaftlichen Arbeitgebers identifizieren sollen: – In welches Unternehmen ist der Arbeitnehmer integriert? Indizien könnten die Organisationsstruktur als auch die faktische Integration des Arbeitnehmers in den Betrieb sein. – Wer ist berechtigt, dem Arbeitnehmer Anweisungen zu geben? Hierbei kann es sich sowohl um die fachliche als auch die disziplinarische Weisungsberechtigung handeln. – Wer trägt unmittelbar das Risiko der Arbeitsergebnisse? – Wer profitiert unmittelbar von den Arbeitsergebnissen? – Wer stellt die Arbeitsmittel, die für die Arbeit notwendig sind?

________________________ 6 In diesen Fällen ist zu prüfen, ob ggf. die inländische Gesellschaft im ausländischen Staat eine Betriebsstätte begründet oder der Mitarbeiter sich mehr als 183 Tage im ausländischen Staat aufhält.

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2. Ergänzung durch das Business and Industry Advisory Committee der OECD Weil letztendlich die Auslegung des Art. 15 Abs. 2 Buchst. b) OECDMA und damit die Bestimmung des wirtschaftlichen Arbeitgebers derart schwierig ist, hat das Business and Industry Advisory Committee der OECD (BIAC) der OECD die Empfehlung gegeben, in Art. 15 Abs. 2 OECD-MA klare Regelungen zur Definition des Arbeitgebers einzuführen oder, sofern dies nicht möglich ist, ähnliche Regelungen wie in Art. 15 Abs. 4 des DBA zwischen Deutschland und Österreich auch im Musterabkommen vorzusehen.7 Ob der wirtschaftliche Arbeitgeber oder der arbeitsvertragliche Arbeitgeber i. S. d. Art. 15 des DBA zwischen Deutschland und Österreich gegeben ist, ist jedoch auch hier für den Fall des Arbeitnehmerverleihs gem. Art. 15 Abs. 3 des DBA zwischen Deutschland und Österreich umstritten. Österreich geht davon aus, dass diese Vorschrift in allen Fällen des Arbeitnehmerverleihs Anwendung finden soll. Deutschland ist hingegen der Auffassung, dies gilt nur in den Fällen des gewerblichen Arbeitnehmerverleihs. Das heißt, dass beispielsweise in den Fällen der konzerninternen Überlassung der wirtschaftliche Arbeitgeber zum Tragen kommen dürfte.8

IV. Veröffentlichungen von Beratungsgesellschaften Wie sieht es nun mit Veröffentlichungen seitens größerer Beratungsgesellschaften aus? Wir schauen uns dazu zunächst einmal die Veröffentlichungen seitens PWC9 und KPMG10 in den Ländern Italien und Russland an. In Italien ist PWC der Auffassung, dass der wirtschaftliche ________________________ 7 Art. 15 Abs. 4 DBA Deutschland-Österreich hat folgenden Wortlaut: „Für Zwecke dieses Artikels gilt die Arbeit im anderen Vertragsstaat nur dann als ausgeübt, wenn die Vergütungen in Übereinstimmung mit diesem Abkommen im anderen Vertragsstaat besteuert worden ist.“ 8 Dies ergibt sich aus Tz. 2.3 (Abkommenskonforme Behandlung von internationaler Arbeitskräfteüberlassung) des Erlasses des österreichischen BMF v. 30.11. 2006 – GZ BMF-010221/0187-IV/4/2006 – Zusammenfassung der im Ergebnisprotokoll vom 21./27.3.2006 abgestimmten Auslegungsfragen zum DBA-Deutschland, BGBl. III Nr. 182/2002. 9 Infos über Länder siehe auch: http://www.pwc.com/us/en/hr-international-assign ment-services/publications/index.jhtml. 10 Infos über Länder siehe auch http://www.kpmg.com/Global/en/IssuesAndInsights/ ArticlesPublications/PYIT/Pages/Planning-your-international-transfer-2009.aspx.

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Arbeitgeber keine Anwendung findet. KPMG ist der Meinung, der wirtschaftliche Arbeitgeber findet Anwendung. In Russland tätigt lediglich KPMG öffentlich eine Aussage und gibt an, es gäbe seitens der russischen Behörden keine klare Auskunft. Bei anderen Beratungsgesellschaften findet sich wenig Information bezüglich der Definition bzw. der Anwendung von bzw. des wirtschaftlichen Arbeitgebers in anderen Ländern.

V. Beispielhafte Veröffentlichungen der Finanzverwaltungen 1. Bundesministerium für Finanzen Die deutsche Finanzverwaltung nimmt im BMF-Schreiben v. 14.9.2006 ausführlich zu der Definition des wirtschaftlichen Arbeitgebers Stellung.11 Problematisch ist im BMF Schreiben vor allem die Vereinfachungsregel,12 nach der man davon ausgehen kann, dass eine Integration in das aufnehmende Unternehmen nicht stattfindet, wenn die Entsendung nicht länger als drei Monate dauert. Diese Regel ist löblich, weil sie einer Vereinfachung dienen kann. Leider findet sich jedoch im spiegelbildlichen Anwendungsbereich des anderen Staates keine vergleichbare Regelung. In den Fällen, in denen man weiterhin von einer Integration in Deutschland und nicht im Ausland ausgeht, läuft man daher Gefahr, in eine garantierte Doppelbesteuerung zu kommen, denn im Ausland würde man den wirtschaftlichen Arbeitgeber annehmen. Gleichfalls kann im umgekehrten Inbound-Fall durch diese Vereinfachungsregel eine ständige doppelte Nichtversteuerung provoziert werden. Eine Korrektur nach § 50d EStG wird regelmäßig nicht erfolgen, da § 50d Abs. 8 und 9 EStG nur bei unbeschränkt Steuerpflichtigen greift und bei Aufenthalten von bis zu drei Monaten von einer beschränkten Steuerpflicht auszugehen sein dürfte. Das Ergebnis der Vereinfachungsregel dürfte damit sehr fraglich sein.

________________________ 11 BMF v. 14.9.2006 – IV B 6 – S 1300 – 367/06, BStBl. I 2006, 532, Tz. 4.3 (Artikel 15 Abs. 2 Buchst. b OECD-MA – Zahlung durch einen im Tätigkeitsstaat ansässigen Arbeitgeber). 12 BMF v. 14.9.2006 – IV B 6 – S 1300 – 367/06, BStBl. I 2006, 532, Tz. 4.3.3.2.

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2. Finanzverwaltung in Großbritannien Die Finanzverwaltung in Großbritannien (Her Majesty’s Revenue Office) hat eine der dem deutschen BMF-Schreiben vergleichbare Vereinfachungsregel aufgenommen.13 Es wird davon ausgegangen, dass eine Integration in das aufnehmende Unternehmen dann nicht stattfindet, wenn es sich um eine Tätigkeit von bis zu 60 Tagen handelt (60-dayrule). Auch diese Vereinfachungsregel könnte zum Tragen kommen, sofern sie im Ausland jeweils spiegelbildlich angewendet würden. 3. Finanzverwaltung in Italien In Italien gibt es eine offizielle Auskunft seitens der Finanzverwaltung an die dortigen Wirtschaftsverbände Assonime. Danach ergibt sich folgendes Bild: Die 183-Tage-Regel soll dann anwendbar sein, wenn der ausländische Arbeitgeber auch der Leistungserbringer ist und nicht nur – vergleichbar mit dem Verleiher – für die Auswahl des Personals verantwortlich ist und die Gehaltskosten als abzugsfähige Betriebskosten behandelt werden. Dies bedeutet, dass Italien durchaus den wirtschaftlichen Arbeitgeber anwendet. Denn sollte der Arbeitgeber vergleichbar mit einem Verleiher lediglich für die Auswahl des Personals verantwortlich sein, so kommt die 183-Tage-Regel nicht zur Anwendung, sondern es ist der wirtschaftliche Arbeitgeber anzuwenden.

VI. Gerichtsentscheidungen im Ausland; hier Indien Auch ausländische Gerichte hatten sich bereits mit der Frage des wirtschaftlichen Arbeitgebers auseinanderzusetzen. So hat das Bangalore Tribunal im Fall IDS Software Solutions (India) Private Limited („IDSI“)14 entschieden, dass die Gesellschaft, die die Leistung des Arbeitnehmers kontrolliert und entsprechende Anweisungen gibt, der wirtschaftliche Arbeitgeber ist. Es hat weiterhin entschieden, dass die entsprechende Verrechnung von Gehaltskosten unter einem Entsendevertrag des Arbeitnehmers keine Vergütung für technische Services darstellt und somit nicht der indischen Quellensteuer unterliegt. ________________________ 13 Hinweis zur Regelung der britischen Finanzverwaltung unter http://www.hmrc. gov.uk/bulletins/tb68.htm#c. 14 http://www.taxand.com/files/bmr420taxedgefeb4.pdf http://deloitte.12hna.com/newsletters/2009/WTA/a090206_6.pdf.

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VII. Eigene praktische Erfahrungen Weitere eigene praktische Erfahrungen haben ergeben, dass immer mehr Länder den wirtschaftlichen Arbeitgeber anerkennen. Lediglich einige Ex-GUS-Staaten folgen teilweise einem noch sehr formalen Ansatz und betrachten den arbeitsvertraglichen Arbeitgeber als entscheidend. Wenn der ausländische Staat dem wirtschaftlichen Arbeitgeberansatz jedoch nicht folgt, werten sie den Personalverleih oder den konzerninternen Personalverleih als die Erbringung von Dienstleistungen/technische Dienstleistungen, welche zum Teil in den Ländern dann auch ggf. dem Quellensteuerabzug für Corporate Income Taxes unterliegen.

VIII. Liegt eine Verpflichtung zum Lohnsteuerabzug vor? Ist der wirtschaftliche Arbeitgeber zum Lohnsteuerabzug verpflichtet? In Deutschland ist in § 38 Abs. 1 Satz 2 EStG geregelt, dass der inländische Arbeitgeber i. S. d. § 38 Abs. 1 Satz 1 EStG in den Fällen der Arbeitnehmerentsendung auch das in Deutschland ansässige aufnehmende Unternehmen ist, das den Arbeitslohn für die ihm geleistete Arbeit wirtschaftlich trägt. Hier ist der wirtschaftliche Arbeitgeberansatz gesetzlich fixiert worden und führt dazu, dass der wirtschaftliche Arbeitgeber auch den Lohnsteuerabzug tätigen soll. Nach meiner Auffassung ist dieser Ansatz nicht vertretbar, da nach § 38 Abs. 1 Satz 1 EStG bei Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit die Einkommensteuer durch Abzug vom Arbeitslohn erhoben wird. Der wirtschaftliche Arbeitgeber ist jedoch regelmäßig nicht der den Lohn auszahlende Arbeitgeber. Insoweit stellt sich die Frage, wie jemand anderes verpflichtet werden kann, Lohnsteuer abzuziehen, der selbst nicht den Lohn auszahlt. Entsprechend sehen andere Länder die Lohnsteuerabzugsverpflichtung grundsätzlich nur bei den arbeitsvertraglichen Arbeitgebern. Lediglich in der Schweiz vermögen einige Kantone in das lokale Gesetz eine Abzugsverpflichtung auch für den wirtschaftlichen Arbeitgeber hineinzuinterpretieren.

IX. Zusammenfassung Der wirtschaftliche Arbeitgeber ist im Ausland kein unbekanntes Vehikel mehr. Der wirtschaftliche Arbeitgeber wird auch in den aufstrebenden Wirtschaftsnationen (developing countries) angewandt. Um Unsicherheiten zu vermeiden, bietet sich eine Versetzung des Arbeit99

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nehmers an die ausländische Gesellschaft an (host based delegation). Insbesondere bei kurzen Versetzungen (short term delegations) birgt der wirtschaftliche Arbeitgeber jedoch die Gefahr, dass Steuerpflichten des Arbeitnehmers bzw. Lohnsteuerabzugsverpflichtungen des Arbeitgebers übersehen werden. Insbesondere in Zeiten der Finanzkrise kann der wirtschaftliche Arbeitgeber als eine Einnahmequelle (cash cow) der Finanzverwaltung angesehen werden. Es gebietet sich daher, die Definition zur Identifizierung des wirtschaftlichen Arbeitgebers klarer zu regeln.

B. Berechung der 183 Tage nach der Neukommentierung des OECD-MA I. Allgemeines Nach Art. 15 Abs. 1 OECD-MA hat grundsätzlich der Tätigkeitsstaat das Besteuerungsrecht für Einkünfte aus unselbständiger Tätigkeit (Tätigkeitsortprinzip). Von dieser Grundregel beinhaltet Art. 15 Abs. 2 OECD-MA eine Ausnahme für kurzzeitige Tätigkeiten im anderen Vertragsstaat (Kurzzeitausnahme). Das Besteuerungsrecht verbleibt beim Ansässigkeitsstaat, wenn die folgenden drei Voraussetzungen kumulativ erfüllt sind: 1. Der Arbeitnehmer hält sich im Tätigkeitsstaat nicht länger als 183 Tage innerhalb eines Zeitraumes von 12 Monaten, der während des betreffenden Steuerjahres beginnt oder endet, auf und 2. die Vergütungen werden von einem Arbeitgeber oder für einen Arbeitgeber gezahlt, der nicht im Tätigkeitsstaat ansässig ist, und 3. die Vergütungen werden nicht von einer Betriebsstätte getragen, die der Arbeitgeber im Tätigkeitsstaat hat. Die Ermittlung der 183 Tage unterliegt verschiedensten Interpretationen. Eine einheitliche Definition der Zählweise schlägt das BMF vor und gibt dabei auch Beispiele für die konkrete Berechnung.15 ________________________ 15 BMF v. 14.9.2006 – IV B 6 – S 1300 – 367/06, BStBl. I 2006, 532, Tz. 34 ff.

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II. Neukommentierung der Ermittlung der 183 Tage im OECDMusterkommentar Die Anwendung der 183-Tage-Regelung bereitet der Praxis immer wieder Probleme. Bei der Zählweise stellt sich stets die Frage, welche Tage einzubeziehen sind. Insbesondere bei der Frage, ob alle Tage in den 12 Monatszeitraum fallen, oder nur die Tage, in denen der Arbeitnehmer nicht im Tätigkeitsstaat ansässig ist, wurde bisher teilweise uneinheitlich ausgelegt. Im Rahmen der Neufassung des OECD-MA wurde 2008 auch eine Ergänzung im Musterkommentar zum Art. 15 Abs. 2 Buchst. a) OECDMA aufgenommen. Entsprechend der Neukommentierung sind Tage, in denen ein Steuerpflichtiger im Staat der Arbeitsausübung ansässig ist, nicht in die Berechnung der 183-Tage-Frist einzubeziehen. Die Auslegung der deutschen Finanzverwaltung geht aber immer noch von der bisherigen Definition aus. Danach waren bei der Ermittlung der 183 Tage in den 12-Monatszeitraum alle Tage der physischen Präsenz zu berücksichtigen. Dies bedeutet, dass alle Tage im Tätigkeitsstaat für die 183 Tage zählen, unabhängig von der Ansässigkeit des Arbeitnehmers. War die physische Präsenz größer als 183 Tage, so bekam der Tätigkeitsstaat das Besteuerungsrecht für alle Tätigkeitstage in diesem Staat in diesem Zeitraum. Zu den unterschiedlichen Ansichten des OECD-Musterkommentars und des BMF ein vereinfachtes Beispiel:

Nicht im Tätigkeitsstaat ansässig

15 Feb

28 Feb

1 Juni

31 Dez 214 Tage

Dienstreise 14 Tage

Delegation start Ansässigkeit im Tätigkeitsstaat

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Lösung BMF und OECD MA-Kommentar bisher: 228 Tage physische Anwesenheit, auf Ansässigkeit kommt es nicht an.

➔ Der Tätigkeitsstaat bekam das Besteuerungsrecht für das erdiente Arbeitseinkommen auch während der Dienstreise im Februar. Lösung nach OECD-Musterkommentar 2008: Nur die 14 Tage der physischen Präsenz außerhalb des Zeitraums der Ansässigkeit im Tätigkeitsstaat zählen zu den Tagen im Tätigkeitsstaat.

➔ Das Besteuerungsrecht für die Dienstreise bleibt im bisherigen Ansässigkeitsstaat.

III. Auswirkungen Durch die unterschiedliche Interpretation bei der Ermittlung der 183-Tage-Frist kann es zu einer Doppelbesteuerung bzw. einer Nichtbesteuerung von Gehaltseinkünften kommen. Im Rahmen einer Doppelbesteuerung ist diese zurzeit wohl nur über ein Verständigungsverfahren vermeidbar. Bei einer Nichtbesteuerung könnte die deutsche Finanzverwaltung aus § 50d Abs. 9 Satz 1 Nr. 1 EStG im Falle einer unbeschränkten Steuerpflicht in Deutschland ein Besteuerungsrecht in Deutschland ableiten.

IV. Fazit Zur Vermeidung einer unsymmetrischen Besteuerung ist eine enge Abstimmung zwischen den Beratern für die in- und ausländischen Steuererklärungen zwingend notwendig. Solange von der deutschen Finanzverwaltung keine Stellungnahme zu der Neukommentierung des OECD-Musterkommentars vorliegt, sollte man ggf. im Vorfeld mit ihr abstimmen, nach welcher Vorgehensweise (Ermittlung der 183-TageFrist entsprechend Neukommentierung OECD-MA oder BMF-Schreiben) weiter verfahren werden soll.

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C. Besteuerung von Sachbezügen im internationalen Kontext; hier: PKW-Besteuerung an Hand von einigen Beispielsländern I. Allgemeines Die Besteuerung von Sachbezügen unterliegt regelmäßig im nationalen Steuerrecht eigenen und durchaus unterschiedlichen Regelungen. Beispielsweise wird der Wert von übertragenen Aktien im nationalen Steuerrecht teilweise nach folgenden Kriterien bemessen: – – – – – –

Börseneröffnungskurs am Tag des Erwerbs Börsenschlusskurs am Tag des Erwerbs Durchschnittlicher Börsenkurs des Monats des Erwerbs Niedrigster Börsenkurs am Tag des Erwerbs Niedrigster Börsenkurs am Tag der Übertragung …

Eine gleichwertige Besteuerung von Aktien in verschiedenen Ländern ist daher schwierig.

II. Bewertung eines Nutzungsvorteils bei Firmenwagengestellung Insbesondere bei der Bewertung des Nutzungsvorteils von Firmenwagen zu privaten Zwecken gehen die nationalen steuerlichen Regelungen ebenfalls eigene Wege. Deutschland: Basis ist der Bruttolistenpreis im Zeitpunkt der Erstzulassung: – 1 % davon für private Nutzung; – 0,03 % je Entfernungskilometer für Fahrten Wohnung-Arbeitsstätte; – 0,002 % für steuerpflichtige Familienheimfahrten im Rahmen der doppelten Haushaltsführung; – insgesamt jedoch max. die Kosten für das Fahrzeug. Alternativ: Fahrtenbuch und Kosten im Verhältnis zueinander. Schweiz: Die Schweiz ermittelt im Gegensatz zu Deutschland den Wert der privaten Nutzung an Hand des tatsächlichen Kaufpreises und nicht an 103

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einem fiktiven Bruttolistenpreis, der in der Regel von keinem Kunden gezahlt wird und auch die Wertermittlung von Gebrauchtfahrzeugen nicht abdeckt. Deswegen pauschaliert die Schweiz den Nutzungsvorteil in Höhe von 0,8 % des Kaufpreises/Monat. Italien: Der italienische Fiskus verlässt sich auf statistisch ermittelte Werte, die den Kostenanteil des Fahrzeugs repräsentieren sollen. Besteuert werden sollen 30 % der Kosten pro Jahr. Der Kostenwert wird durch den italienischen Automobilclub festgestellt. Die statistischen Kosten basieren auf einem Gesamtnutzungsumfang von 15.000 km pro Jahr. Dies entspricht einer durchschnittlichen Nutzung eines Fahrzeugs. Großbritannien: In Großbritannien will man der Umweltverschmutzung auch mittels der Besteuerung der privaten PKW-Nutzung entgegentreten. Dazu besteuert man den Nutzungsvorteil an Hand des durch die Regierung vorgegebenen/festgestellten CO²-Werts. Dieser CO²-Wert kann aus den Fahrzeugpapieren abgelesen werden. Es gilt: Je höher der Wert desto höher die Besteuerung. Die höchste Besteuerung erfolgt bei Eingabe keines Wertes. Dies dürfte insbesondere dann der Fall sein, wenn das Fahrzeug außerhalb Großbritanniens zugelassen ist und nicht über die in Großbritannien festgestellten und erforderlichen CO²- Werte verfügt. Der Fiskus hat in Großbritannien einen Online-Vorteilsrechner zur Verfügung gestellt, mit Hilfe dessen jeder seinen Vorteil ermitteln kann: http://cccfcalculator.hmrc.gov.uk/CCF0.aspx Tschechische Republik: Die Tschechische Republik ermittelt im Gegensatz zu Deutschland den Wert der privaten Nutzung ebenfalls anhand des tatsächlichen Kaufpreises und nicht an einem fiktiven Bruttolistenpreis. Deswegen pauschaliert die Tschechische Republik den Nutzungsvorteil in Höhe von 1 % des Kaufpreises/Monat und mindestens 1000 CZK. In den beiden folgenden Ländern werden die tatsächlichen Kosten betrachtet: Spanien: Spanien pauschaliert den privaten Nutzungsanteil in Höhe von 20 %. Der entsprechende Anteil an den tatsächlichen Bruttokosten bildet dann den zu versteuernden Betrag. 104

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Russland: In Russland geht der Fiskus ganz genau vor. Es gilt, dass die anteiligen Kosten, die auf die private PKW-Nutzung entfallen, besteuert werden. Dazu ist es jedoch notwendig, dass ein Fahrtenbuch geführt wird.

III. Fallbeispiele zur PKW-Besteuerung: Was bedeutet dies nun für die Besteuerungspraxis bei internationaler Personalentsendung? Sollten Mitarbeiter international tätig sein, so sollte von der Gewährung von Sachbezügen zur Vereinfachung bzw. zur Handhabbarkeit der Lohnbesteuerung abgesehen werden. Zur Verdeutlichung dienen die beiden folgenden Beispielsfälle: Fall 1 Ein Mitarbeiter eines deutschen Unternehmens hat seitens seines Arbeitgebers einen Firmenwagen zur privaten Nutzung überlassen bekommen. Der Mitarbeiter ist grundsätzlich in Deutschland bei seinem Arbeitgeber tätig. Teilweise wird er jedoch zusätzlich in den Betriebsstätten des Arbeitgebers in der Schweiz, in Italien und in Großbritannien tätig. Was bedeutet dies für die Besteuerung der privaten Nutzung des Firmenwagens in den Ländern, in denen er zusätzlich aufgrund des Betriebsstättenvorbehalts steuerpflichtig wird? – Für die Schweiz muss der Arbeitgeber anteilig die Nutzung in Höhe von 0,8 % des Kaufpreises pro Monat versteuern. – In Italien ist für dieses Fahrzeug, das ihm überlassen wurde, zunächst einmal der Kostenwert, der durch den italienischen Automobilclub festgestellt wurde, zu ermitteln. 30 % von diesem sind dann pauschal für die Privatnutzung anzusetzen. – In Großbritannien ist im Fahrzeugschein nach einem entsprechenden CO²-Wert, festgestellt durch die englischen Behörden, zu suchen. Da dieser nicht zu finden sein wird, muss ein Nullwert eingegeben werden, welcher zu einer entsprechend hohen Versteuerung führt. Fall 2 Ein indischer Mitarbeiter bekommt in Indien einen indischen Tata zur Verfügung gestellt, den er auch privat nutzen kann. Er wird für ein ¾-Jahr nach Deutschland entsandt und soll hier tätig werden. Aufgrund der Überschreitung der 183-Tage-Frist wird er in Deutsch105

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land steuerpflichtig, sein Fahrzeug wird weiterhin in Indien durch seine Ehefrau privat genutzt. Es ist in Deutschland für die Besteuerung ein inländischer Bruttolistenpreis für das Fahrzeug festzustellen. Es ist klar, dass in Deutschland kein indischer Tata hergestellt bzw. vertrieben wird. Dies hat die Finanzverwaltung dahingehen berücksichtigt, dass in solchen Fällen der Wert geschätzt wird. Wie soll man nun schätzen, wenn es dieses Fahrzeug definitiv nicht auf dem deutschen Markt gibt? Man kann sich im Internet einen indischen Tata (http://www. tatacarsworldwide.com/products/indica.asp) anschauen und versuchen, dieses Fahrzeug mit einem deutschen Fahrzeug zu vergleichen. Mit viel Phantasie lässt sich ein Suzuki als vergleichbares Fahrzeug identifizieren, aber leicht ist dieses Problem nicht zu lösen. Man wird im Zweifel mit der deutschen Finanzverwaltung die Schätzbasis im Rahmen einer Verständigungsvereinbarung verbindlich festlegen müssen.

IV. Fazit Weil die steuerliche Bewertung des Nutzungsvorteils der Firmenwagengestellung bei international tätigen Arbeitnehmern nicht nur aufwendig, sondern zum Teil auch schwierig ist, sollte diese eher vermieden werden. Wird dem Arbeitnehmer lediglich eine Geldbetrag zur Anmietung eines Fahrzeuges (Car-Allowance) gezahlt, fallen die dargestellten Bewertungsprobleme nicht an.

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Besteuerungsfragen bei internationaler Personalentsendung Podiumsdiskussion Leitung Prof. Dr. Jürgen Lüdicke Rechtsanwalt, Steuerberater, International Tax Institute, Universität Hamburg Teilnehmer Hans-Henning Bernhardt Rechtsanwalt, Beiersdorf AG, Hamburg

Prof. Dr. Dietmar Gosch Vorsitzender Richter am Bundesfinanzhof, München

Dr. Friedrich Loschelder, LL.M. Richter am Finanzgericht, Hamburg

Martin Reinhold Siemens AG, München

Dr. Carl Friedrich Vees Ministerialrat im Finanzministerium Baden-Württemberg, Stuttgart

Prof. Dr. Lüdicke Herr Reinhold, vielen Dank. Ich glaube, dass wir über die von Ihnen dargestellten Besteuerungsfolgen der Dienstwagennutzung im Wesentlichen nur den Kopf schütteln können. Ich weiß aber nicht, ob wir hier sehr viel systematisch diskutieren können außer vielleicht der Frage, wie es in Zukunft möglich werden könnte, dass zwischen den Ländern mehr koordiniert wird, mindestens innerhalb der Europäischen Union. Da könnte ich mir sogar eine gewisse Kompetenz der EU-Kommission vorstellen. Mir scheint, dass solche Regeln das grenzüberschreitende unternehmerische Tätigwerden im Binnenmarkt schon behindern. Das klang jedenfalls eben so. Ich denke, dass wir bei den beiden Themen, die Sie zuerst und zuletzt angesprochen haben – wirtschaftlicher Arbeitgeberbegriff und dann die Frage der Auslegung der 183-Tage-Regelung – zum einen interessante praktische Detailfragen haben, zum anderen aber auch Fragen, die die Bedeutung des Art. 15 Abs. 2 OECD-MA im 107

Podiumsdiskussion – Besteuerungsfragen bei internationaler Personalentsendung

Kern betreffen; nämlich die Frage, was diese Regelung eigentlich bewirken soll. Warum macht die Vorschrift das Besteuerungsrecht des Tätigkeitsstaates gerade von den drei Fallgruppen abhängig, die in den Unterbuchstaben a, b und c geregelt sind und von denen Sie zwei behandelt und den dritten angesprochen haben, nämlich den Betriebsstättenfall? Oder allgemeiner ausgedrückt: Warum wird, wenn man von der 183-Tage-Regelung absieht, bei den beiden anderen Bestimmungen die Besteuerung des Arbeitnehmers von Verhältnissen des Arbeitgebers abhängig gemacht, die der Arbeitnehmer mit Sicherheit nicht beeinflussen und möglicherweise nicht einmal kennen kann? Wo wird das Gehalt zum Beispiel gebucht? Wo wird es letztendlich als Betriebsausgabe abgezogen? Diese grundsätzliche Frage möchte ich voranstellen und würde gerne alle drei Podiumsdiskutanten fragen, ob das noch als ein zeitgemäßes Konzept angesehen wird, an dem von allen Beteiligten (OECD, deutsche Finanzverwaltung, möglicherweise zum Schluss auch die Rechtsprechung) immer weiter herumgefeilt wird, mit immer mehr Detailregelungen. Müsste man nicht vielmehr grundsätzlich fragen, ob das überhaupt ein richtiges und zeitgemäßes Konzept ist? Wer will anfangen? Dr. Vees Alphabetisch. Prof. Dr. Lüdicke Wir losen auch den Startbuchstaben nicht aus. Bernhardt Das wirft mich in die Schulzeit zurück, da war ich immer der erste im Alphabet in der Klasse und kam auch immer als erster dran. Aber Spaß beiseite. Ich glaube, man muss sicherlich zwei Punkte unterscheiden: Einmal die Frage, wie umfangreich die Probleme im Unternehmen wirklich sind, und zweitens die Frage nach dem grundsätzlichen Konzept. Die wirtschaftliche Dimension, also die Anzahl der über die Grenzen bewegten Personen ist sehr geschäftsmodellbezogen zu sehen. Das Geschäftsmodell, das Siemens betreibt, ist sehr stark projekt- und anlagenbaubezogen. Das führt zu erheblich mehr Fällen, in denen Personal108

Podiumsdiskussion – Besteuerungsfragen bei internationaler Personalentsendung

entsendungen auch kurzfristig vorkommen. Unser Geschäftsmodell, Produktion und Vertrieb von Produkten, ist eher langfristig orientiert. Die Anzahl der Personalentsendungen ist auch größenordnungsmäßig im Konzern gesehen deutlich geringer. Wir haben im Wesentlichen Fälle, bei denen die Entsendung über einen Zeitraum von wenigstens drei Jahren stattfindet und bei denen am Ende die Mitarbeiter richtig in den jeweiligen Staat und in die Tochtergesellschaft überwechseln, d. h. Wohnsitzverlegung. Sie werden normaler Arbeitnehmer im jeweiligen Land und letztlich als ‚host based‘ behandelt. Damit verringern Sie – das ist keine rechtliche Antwort, sondern eine rein pragmatische – die Anzahl der potenziellen Fälle, in denen es Schwierigkeiten geben kann. Soviel zur Frage: Wo fallen derartige Konstellationen an? Jetzt zu der generellen Frage, die Sie gestellt haben. Wenn man sich vor Augen führt, dass Organisationen, gerade in Europa, immer mehr grenzüberschreitend tätig werden und die klassischen Aufteilungen – Entsendung zu rechtlich selbständigen Tochtergesellschaften, die exklusiv einen Markt bearbeiten – immer weniger werden, werden natürlich andere Fragen zu klären sein. Dies gilt insbesondere für Organisationen, die projektorientiert sind, also in Dienstleistungsbereichen, aber auch für Vertriebsstrukturen, die die nationalen Grenzen verwischen. Sie sprachen insbesondere Europa an, wo diese Regelung naheliegend ist – da werden die Probleme deutlich zunehmen. Das sehen wir auch bei uns. Wir werden uns auch sicherlich in diese Richtung weiterentwickeln, so dass also die klassischen Angänge immer weniger von der Anzahl her werden. Damit würde es in der Tat wesentlich einfacher, nicht nur, was die steuerrechtliche Abwicklung anbelangt. Für Mitarbeiter lässt sich dann sicherer eine Guideline schaffen, die dem Mitarbeiter deutlich erklärt, was passiert, was ihn erwartet, mit welchen Leistungen er rechnen kann. Damit baut man Komplexität ab. Europa ist ein Markt. Es erscheint schon etwas kurios, wenn man sich heute mit den verschiedenen Angängen, wie wirtschaftlicher oder arbeitsrechtlicher Arbeitgeber, behelfen muss oder mit diversen Angängen der Dienstwagenbesteuerung hantiert. Das ist im Grunde genommen schon ein Anachronismus. Dr. Vees Ich kann Art. 15 Abs. 1 und Abs. 2 OECD-MA durchaus eine Logik entnehmen. Ich denke, man kann nicht davon sprechen, dass dieser Zuweisungsartikel anachronistisch ist. Meines Erachtens bringen diese 109

Podiumsdiskussion – Besteuerungsfragen bei internationaler Personalentsendung

Regelungen zum Ausdruck, dass grundsätzlich dem Tätigkeitsstaat das Besteuerungsrecht gegeben wird und dann unter gewissen eingrenzenden Umständen ausnahmsweise dem Ansässigkeitsstaat das Besteuerungsrecht für den Arbeitslohn zugewiesen wird – aber nur, wenn kumulativ die drei Bedingungen vorliegen, die man als „Montageklausel“ bezeichnen kann. Diese Montageklausel besteht zusammengefasst darin, dass der Arbeitnehmer nur kurz im anderen Staat ist und der Arbeitslohn nicht einer Einheit im Betriebsstättenstaat belastet wird. Ich denke, in diesem Korrespondenzprinzip zwischen Betriebsausgabenabzug und Lohnversteuerung liegt auch die Logik dieser Regelung. Und vor dem Hintergrund dieses Korrespondenzprinzips hat, denke ich, auch der wirtschaftliche Arbeitgeber seine Berechtigung. Zur zweiten Frage: 183-Tage-Regelung. Da kann ich nur berichten, dass diese Divergenz zwischen der OECD-Lesart und unserem 183-TageSchreiben vom September 2006, also dem BMF-Schreiben zur Besteuerung des Arbeitslohns,1 erkannt ist. Wir schreiben dieses BMF-Schreiben regelmäßig fort und stehen gerade wieder vor einer Aktualisierung. Wir sammeln derzeit die Punkte, von denen wir glauben, dass sie geändert werden müssen. Und noch im Januar wird die Arbeitsgruppe zum ersten Mal zusammenkommen. Da ist dieser Punkt dabei, wir wollen das in einen Gleichklang bringen. Prof. Dr. Lüdicke Was im Grundsatz zu begrüßen ist, was aber dann gleich wieder Probleme mit sich bringt, wenn ein Steuerpflichtiger sich auf den Standpunkt stellt, dies sei schon immer Inhalt des Art. 15 Abs. 2 OECD-MA gewesen und er fordere dies nun auch für die Vergangenheit. Soll der rückwirkend richtig sein – auch für andere Steuerpflichtige zu deren Nachteil? Ich nehme an, dass in dem Schreiben nur für die Zukunft geregelt werden soll, dass man sich dieser neuen Lesart anschließt, auch wenn sich das einzelne DBA nicht geändert hat. Prof. Dr. Gosch Sie sprechen ein altbekanntes Problem an, dasjenige nach dem statischen oder dem dynamischen Verständnis bei Anwendung von OECDMusterkommentierungen. Ich will nicht verhehlen, auch die Spruchpraxis des BFH ist da nicht immer ganz stringent verfahren. Im Grund________________________ 1 BMF v. 14.9.2006, BStBl. I 2006, 532.

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satz wird das statische Verständnis verfochten, aber es gibt sicher hier und da „Ausreißer“, wo man vielleicht nicht so ganz so scharf wie geboten hingeschaut hat. Aber im Prinzip, wie gesagt, bleibt es dabei, dass dasjenige gilt, was im Zeitpunkt des Abschlusses des DBA in Rede stand. Im Übrigen, Herr Vees hat das gesagt, haben wir hier einen Widerpart zwischen dem Verwurzelungsgedanken des Ansässigkeitsprinzips in Abs. 1 Satz 1 des Art. 15 OECD-MA. Eben dieser Gedanke findet sich auch im Abs. 2 wieder, dort allerdings kombiniert mit dem Korrespondenzprinzip. Vor diesem Hintergrund gerät man in gewisse Kollision und muss besondere Obacht über die Wahrnehmung des Besteuerungsrechts im anderen Staat geben. Das kann zur doppelten Nichtbesteuerung oder zur doppelten Besteuerung führen. Noch kurz zum Gesichtspunkt „wirtschaftlicher Arbeitgeberbegriff“: Wenn ich das hier Revue passieren lasse – Herr Reinhold hat das sehr schön dargestellt –, dann ist im Grundsatz der wirtschaftliche Arbeitgeberbegriff der richtige. Aber vielleicht hat die Norm mehr den Einzelfall im Auge gehabt. Der BFH hat im Jahre 2005 in einer Entscheidung2 – sie betraf ein deutsches Unternehmen, das einen spanischen Manager in eine wiederum spanische Tochtergesellschaft entsandt hatte – den Begriff des wirtschaftlichen Arbeitgebers in Richtung des arbeitsrechtlichen Arbeitgeberbegriffs modifiziert, jedenfalls durch das Erfordernis einer Eingliederung, einer Weisungsgebundenheit ergänzt. Dadurch sind gewisse Grauzonen entstanden. Noch deutlicher wird dieser Schritt hin zu einer „Verrechtlichung“ des wirtschaftlichen Arbeitgeberbegriffs beim klassischen Arbeitnehmerverleiher, dem die „Verleihung“ als Dienstleistung obliegt. Bei einem solchen Verleiher gehört das zum Unternehmenszweck. Die Weiterbelastung des Lohnaufwands auf den Entleiher führt nicht unbedingt dazu, dass dieser zum abkommensrechtlichen Arbeitgeber wird, nur weil er im Ergebnis den Lohnaufwand wirtschaftlich trägt. Trotzdem bleibt es dabei, dass der Arbeitnehmerverleiher der Arbeitgeber i. S. d. Art. 15 Abs. 2 OECD-MA ist. Prof. Dr. Lüdicke Sie haben den Arbeitnehmerverleih angesprochen. Herr Vees, in diversen neuen DBAs findet sich eine Regelung ähnlich wie diejenige in Art. 15 Abs. 3 DBA-Österreich. Dafür gibt es wohl gute Gründe. Es geht ________________________ 2 BFH v. 23.2.2005 – I R 46/03, BStBl. II 2005, 547.

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im Prinzip zunächst um die Frage: Darf der Tätigkeitsstaat besteuern oder darf er das nicht? Interessanterweise knüpfen die deutschen DBA aber auch im Methodenartikel an diese Regelungen zum Arbeitnehmerverleih an. Wir gewähren normalerweise den Arbeitnehmern für die Tätigkeit im anderen Staat die Freistellung. Aber den Arbeitnehmerverleih-Arbeitnehmern gewähren wir das nicht. D. h. selbst wenn sie im anderen Staat aufgrund dieser Sonderklausel tatsächlich besteuert werden, was ja der Sinn der Klausel ist, gewähren wir ihnen keine Freistellung. Das ist ein weiterer Fall, bei dem die Besteuerung der Arbeitnehmer in irgendeiner Form in Abhängigkeit vom Arbeitgeber, vom Tätigkeitsverhältnis abhängt, ohne dass man darin einen tieferen Sinn erkennen könnte. Denn wenn der Arbeitnehmer im anderen Staat besteuert ist, ist letztlich gleichgültig, aus welchem Grund. Warum stellt man ihn dann nicht frei? Eine Frage an den Steuerpolitiker. Dr. Vees Allein, dass jemand im anderen Staat besteuert wird, muss noch nicht zur Freistellung durch uns führen. Prof. Dr. Lüdicke Aber das ist die allgemeine Abkommenspolitik bei Art. 15 OECD-MA. Natürlich muss es das nicht, aber warum gibt es diese Ausnahme? Dr. Vees Sonst gelte das Recht des ersten Zugriffs. Das kann nicht sein. Prof. Dr. Lüdicke Nein, das ist ein Fall, in dem der Arbeitnehmer nach dem Arbeitnehmerverleihartikel im anderen Staat auch aus deutscher Überzeugung zu Recht besteuert wird. Wir wenden einfach nur die Anrechnungsmethode an und nicht die Freistellungsmethode. D. h. wir unterscheiden wieder verschiedene Arten von Arbeitnehmern. Das war auch mein Angang bei dem ersten Punkt: Warum unterscheiden wir die Arbeitnehmer nach Kriterien, die sie häufig nicht beeinflussen können, zumal sie diese Kriterien unter Umständen nicht einmal nachweisen können? Herr Reinhold hat das Beispiel gebracht. Man stelle sich vor, Herr Loschelder, es klagt ein Arbeitnehmer gegen seinen Steuerbescheid. 112

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Das Finanzamt behauptet, in Deutschland sei der Arbeitslohn von einem Arbeitgeber als Betriebsausgabe geltend gemacht worden. Der Arbeitnehmer bestreitet mit Nichtwissen, der Arbeitgeber pocht auf Einhaltung des Steuergeheimnisses. Was machen Sie da? Dr. Loschelder Das ist eine Frage der Beweislastverteilung. Prof. Dr. Lüdicke Ja. Dr. Loschelder Ich fürchte, das lässt sich so allgemein nicht beantworten. Es kommt auf die jeweilige Konstellation an bzw. auf die Ausgangsfrage, um die gestritten wird. Beruft sich ein in Deutschland ansässiger Steuerpflichtiger darauf, dass er seine Tätigkeit nicht in Deutschland ausübt, trifft ihn insoweit die Beweislast. Beruft sich demgegenüber das Finanzamt auf die für den deutschen Fiskus günstige Regelung des Art. 15 Abs. 2 OECD-MA, trägt grundsätzlich das Finanzamt die Beweislast. Ich kann dabei als Richter – systemimmanent – zu ganz unterschiedlichen Entscheidungen kommen. Entscheidend ist auch hier letztlich die Frage, wer sich auf eine für ihn günstige Regelung beruft und ob der Betreffende das Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen auch nachweisen kann. Ist das nicht der Fall, würde ich zu seinen Lasten entscheiden müssen. Reinhold Vielen Dank erst einmal. Ich finde es wunderbar, dass wir so interessiert daran diskutieren. Aber ich bin auch etwas überrascht, dass wir uns so ein bisschen an Tatsachen festhalten und ich stelle mir die Frage, ob das wirklich so sein muss. Wir stellen auf die Finanzverwaltung ab. Betriebsausgabenabzug und Lohnversteuerung müssen irgendwo korrespondieren. Ich glaube, das war Sinn und Zweck des DBAs. Haken. Aber sich jetzt daran festzuhalten, ob es tatsächlich so gebucht wurde, muss ich ganz ehrlich sagen, da kriege ich schon ein komisches Gefühl. Und es zeigt meines Erachtens die Gesetzgebungssystematik, dass es so 113

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wie die bisherige Rechtsprechung sein soll. Wenn wir zwischen verbundenen Unternehmen die gebuchten Betriebsausgaben nicht richtig und ordentlich zuordnen, kommt der Fiskus relativ schnell und sagt: „Moment mal, Du kannst hier nicht einfach Betriebsausgaben buchen, die Dir nicht gehören bzw. andersrum. Das hättest Du eigentlich ausbelasten müssen.“ D. h. man schaut eher dahin, wer denn die Ausgaben hätte tragen müssen. Meines Erachtens hat das auch der BFH in dem von Herrn Gosch erwähnten Fall des berühmten großen Managers, der nach Spanien gegangen ist, gemacht. Ich glaube, in der Literatur wird er auch manchmal als „Lopez-Fall“3 erwähnt. Was ist da passiert? Der hat BFH gesagt, das ist alles ganz gut und schön. Natürlich war er für Spanien zuständig. Aber dieses große Gehalt, was er von der Muttergesellschaft gezahlt bekommen hat, brauchte er für seine Tätigkeit in Spanien gar nicht. Man hat gesagt, der wirtschaftliche Arbeitgeber Spanien entsteht nur in dem Umfang wie er vergleichbar in Spanien als Manager hätte verdienen müssen. Auch hier hat man eine wirtschaftliche Komponente herangezogen und nicht geschaut, wie die Mutter den Lohn entsprechend verbucht hat. Ich bitte diesen Punkt doch nochmal genauer zu betrachten. Meines Erachtens kann man nur zu einem wirtschaftlichen Gedanken kommen. Denn ich erwähne nochmal: Es kann doch gar nicht sein, dass der Arbeitgeber im Zweifel Besteuerungsrechte durch Buchungen steuert. Prof. Dr. Lüdicke Das heißt aber dann im Ergebnis, dass das zum Schluss der Betriebsprüfung beim Arbeitgeber für angemessen gehaltene Honorar der Besteuerung des Arbeitnehmers noch nachträglich zugrunde gelegt werden müsste: § 175 AO mit allen Nachweisproblemen? Herr Bernhardt, Sie erschaudern. Bernhardt Wir ziehen uns da Probleme an Land, die ich nicht haben möchte. Prof. Dr. Lüdicke Herr Vees, möchten Sie die haben? ________________________ 3 BFH v. 23.2.2005 – I R 46/03, BStBl. II 2005, 547.

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Dr. Vees Nein, natürlich nicht. Diese Frage des wirtschaftlichen Arbeitgebers ist auch nur eine, die uns bei diesen Entsendungen im Konzern beschäftigt. Wir wissen nur zu gut, dass es noch weitere Auslegungsprobleme gibt. Wir prüfen derzeit, welche Punkte wir noch für die Überarbeitung des bereits angesprochenen BMF-Schreibens zur Besteuerung des Arbeitslohns vorschlagen. Da geht es einmal um die Zuordnung von Aufwand, von Werbungskosten. Andererseits geht es um die Zuordnung von Entgelt, weil in diesen Entsendungsfällen verschiedene Arten von Gehaltszusatzleistungen gewährt werden, die durch die Entsendung verursacht sind, dann aber auch für eine Inlandstätigkeit Nutzen abwerfen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass diese Fälle keine Solitäre, keine Einzelfälle sind, sondern es hiervon Hunderte oder gar Tausende gibt. Erst diese Woche haben wir uns in Stuttgart allein für die Fälle in BadenWürttemberg z. B. die Frage gestellt, wie wir mit den fraglichen Fällen umgehen, bis das 183-Tage-Schreiben aktualisiert ist. Sollen wir diese Fälle alle offen halten? Ist das vertretbar? Sollen wir sie bearbeiten mit der Folge, dass die Steuerpflichtigen Einspruch einlegen? Sollen wir dann AdV gewähren? Wissen wir, wann das BMF-Schreiben aktualisiert sein wird? Diese praktischen Fragen beschäftigen uns genauso wie Sie und wir versuchen einen Weg zu finden, der praktikabel und trotzdem noch rechtsstaatlich vertretbar ist. Prof. Dr. Lüdicke Unsere guten Wünsche sind bei Ihnen. Das war eine Steilvorlage für Herrn Loschelder, der noch einen ganz interessanten Aspekt hat, der über die bisherige Diskussion hinausgeht, den wir Ihnen aber auf keinen Fall vorenthalten wollen. Dr. Loschelder Herr Vees hat den Aspekt der Zusatzleistungen des Arbeitgebers in Zusammenhang mit Arbeitnehmerentsendungen angesprochen. Da gibt es eine interessante Problematik, die den ganzen internationalen Fragen, die bisher angesprochen worden sind, vorgelagert ist. Wenn ich einen solchen Fall prüfe, dann prüfe ich zuerst einmal, ob nach inländischen Maßstäben überhaupt Arbeitslohn vorliegt. Ausgangspunkt meiner Prüfung ist dabei die Überlegung, dass die Arbeit115

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nehmerentsendung fast ausschließlich den Interessen des Arbeitgebers dient. Es geht dem Arbeitgeber beispielsweise darum, verstärkte Kontrolle über Konzerngesellschaften auszuüben, den Informationsfluss zwischen Gesellschaften zu verbessern, um Wissenstransfer oder einfach nur darum, die Unternehmenskultur des Mutterhauses stärker in andere Konzerngesellschafte einzubringen. Ich möchte das Problem an einem Beispielsfall verdeutlichen: Sie haben vielleicht die Entscheidung des Bundesfinanzhofs, des VI. Senats, vom Mai 2009 zu Zukunftssicherungsleistungen eines inländischen Arbeitgebers4 verfolgt. Der Ausgangsfall war so: Eine schwedische Muttergesellschaft entsendet Arbeitnehmer in eine deutsche Tochtergesellschaft. Die Arbeitnehmer werden im Inland sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Zusätzlich zum Lohn und zu den Sozialversicherungsbeiträgen im Inland zahlt der deutsche Arbeitgeber regelmäßig Beiträge an eine schwedische Versicherungsgesellschaft. Diese zusätzlichen Leistungen haben den Zweck, Versorgungslücken auszugleichen, die mit der Entsendung entstehen, weil die Versorgungsansprüche, die der entsandte Arbeitnehmer im Inland erwirbt, hinter denen zurückbleiben, die er – als Arbeitnehmer des Mutterhauses – im Ausland (ohne Entsendung) erworben hätte. Die Zusatzleistungen des Arbeitgebers gleichen also nur den Nachteil aus, den der Arbeitnehmer erleidet, weil er sich ins Ausland hat entsenden lassen. Wir haben damit folgende Grundkonstellation: Der Arbeitnehmer nimmt einen Nachteil im Interesse seines Arbeitgebers in Kauf. Der Arbeitgeber leistet etwas, nur um diesen Nachteil auszugleichen. In anderem Zusammenhang hat der Bundesfinanzhof in solchen Fällen Arbeitslohn verneint. Ich spreche von der Unterscheidung zwischen Arbeitslohn einerseits und sonstigen Leistungen im überwiegend eigenbetrieblichen Interesse des Arbeitgebers andererseits. Nehmen Sie zum Beispiel die Entscheidung des Bundesfinanzhofs zur Übernahme von Verwarnungsgeldern durch den Arbeitgeber bei einem Paketzustelldienst aus dem Jahr 2005.5 Solche Leistungen im überwiegend eigenbetrieblichen Interesse des Arbeitgebers sind kein Arbeitslohn. In dem jetzt entschiedenen Fall zu § 3 Nr. 62 EStG ist diese Frage gar nicht aufgeworfen worden, weder vom VI. Senat des Bundesfinanz________________________ 4 BFH v. 28.5.2009 – VI R 27/06, BStBl. II 2009, 857. 5 BFH v. 7.7.2004 – VI R 29/00, BStBl. II 2005, 367.

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hofs noch von der Vorinstanz. Wir hatten in Hamburg vor zwei Jahren einen vergleichbaren Fall und wir haben uns mit der Problematik des § 3 Nr. 62 EStG gar nicht erst befasst. Wir sind nämlich zu dem Ergebnis gekommen, dass schon kein Arbeitslohn vorliegt, und haben den Rechtsstreit auf diese Weise gütlich beigelegt. Das Ergebnis halte ich nach wie vor für richtig. Prof. Dr. Lüdicke Vielen Dank. Womit dieser gütlich beigelegte Rechtsstreit, der naturgemäß nicht in die publizierten Analen eingegangen ist, jetzt publik geworden ist; sehr interessant. Möglicherweise hat sich der VI. Senat, haben sich die Parteien lange über den § 3 Nr. 62 EStG und über spannende europarechtliche Fragen Gedanken gemacht, die vielleicht gar nicht aufgekommen wären, hätten sie diese von Herr Loschelder angesprochene Frage, ob es denn überhaupt Arbeitslohn ist, vorab geklärt. Prof. Dr. Gosch Ein Hinweis: Ich hatte vorhin gesagt, die drohende doppelte Nichtbesteuerung oder die Doppelbesteuerung wird zum Teil – und Herr Reinhold hat das ja erwähnt – durch treaty overriding aufgefangen. Ein Beispiel ist gerade bezogen auf Arbeitnehmer § 50d Abs. 8 EStG. Danach muss die Lohnbesteuerung im Ausland nachgewiesen werden, um in den Vorteil der abkommensrechtlich vereinbarten Freistellung zu gelangen. Oft wird dem Arbeitnehmer ein solcher Nachweis kaum oder gar nicht möglich sein. Ob das trotzdem „trägt“, darüber wird der BFH demnächst in einer anhängigen Revision entscheiden müssen.6 Schon jetzt lässt sich aber sagen: Es ist sicherlich eine ungute Entwicklung, die mit Gewissheit auch durch dadurch bedingt ist, dass Art. 15 Abs. 2 OECD-MA das maßgebliche Besteuerungsregime davon abhängig macht, wer denn nun im Ergebnis der Arbeitgeber im Abkommenssinne ist. Prof. Dr. Lüdicke Interessant ist an dem § 50d Abs. 8 EStG auch noch, steuerpolitisch gesehen, dass man im Grunde Arbeitnehmer, die in DBA-Partnerstaaten, wenn ich das so nennen darf, schlechter behandelt als Arbeit________________________ 6 Aktenzeichen I R 66/09 (gegen FG Rheinland-Pfalz, EFG 2009, 1649).

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Podiumsdiskussion – Besteuerungsfragen bei internationaler Personalentsendung

nehmer, die in Nicht-DBA-Staaten tätig sind, aber unter den Auslandstätigkeitserlass7 fallen. Da kommt es nämlich zur doppelten Nichtbesteuerung und dieselbe scheint auch den Fiskus nicht zu stören, ganz im Gegenteil: Es ist positiv so im BMF-Schreiben8 geregelt. Dr. Vees Nur eine Bemerkung. Der Auslandstätigkeitserlass ist die Ausnahme. Man darf nicht die Regel an der Ausnahme messen. Prof. Dr. Gosch Es schadet aber sicher nicht, wenn man dann den Art. 3 GG trotzdem berücksichtigt. Dr. Vees Aber auch bei Art. 3 GG muss das Vergleichspaar stimmen.

________________________ 7 BMF v. 31.10.1983, BStBl. I 1983, 470. 8 BMF v. 21.7.2005, BStBl. I 2005, 821.

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Entstrickung und Verstrickung Dr. Thomas Eisgruber Ministerialrat im Bayerischen Staatsministerium der Finanzen, München

Inhaltsübersicht A. Ausgangspunkt: Die Aufgabe der finalen Entnahmetheorie . . . . . . 119 B. Andere Ansätze bei übergehenden Betriebsstätten . . . . . . . . . . . I. Die Betriebsstätten-Verwaltungsgrundsätze . . . . . . . . . . . II. SEStEG (§§ 4 Abs. 1 Satz 3, 4g, 6 Abs. 1 Nr. 4 EStG, 12 KStG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Authorised OECD Approach . IV. § 1 AStG . . . . . . . . . . . . . . . . . V. § 6 Abs. 5 EStG . . . . . . . . . . .

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C. Die Reaktion der Verwaltung . . . 124 D. Versuch eines Überblicks . . . . . . 124 I. Unterscheidung zwischen „Überführung“ und „Übertragung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . 124

II. Die im Urteil„nicht getroffenen“ Aussagen . . . . . . . . . . . . 125 III. Was heißt eigentlich „Realisation“ bei der Gewinnabgrenzung? . . . . . . . . . . . . . . 126 IV. Das Verhältnis der in Frage stehenden Werte . . . . . . . . . . 128 E. Die maßgeblichen Vorschriften . I. Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die SEStEG-Regeln (§§ 4 Abs. 1 Satz 3, 4g, 6 Abs. 1 Nr. 4 EStG und 12 KStG) . . . . III. § 6 Abs. 5 EStG . . . . . . . . . . . IV. § 1 Abs. 1 und 3 AStG . . . . . . V. Authorised OECD Approach . VI. Grundfreiheiten nach dem Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union . . . . VII. Ein zarter Ordnungsversuch . VIII. Eine Zielbestimmung . . . . . .

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A. Ausgangspunkt: Die Aufgabe der finalen Entnahmetheorie Ausgangspunkt meiner Überlegungen ist das Urteil des BFH vom 17.7.2008,1 mit dem die Rechtsprechung die finale Entnahmetheorie aufgegeben hat. Im zugrunde liegenden Sachverhalt ging es um eine in Deutschland ansässige Person, die in Österreich an einer Personengesellschaft – mit ________________________ 1 BFH v. 17.7.2008 – I R 77/06, BStBl. II 2009, 464.

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ausschließlicher Betriebsstätte vor Ort – beteiligt war und alle Anteile einer Kapitalgesellschaft besaß, die ihrem inländischen Betriebsvermögen zuzuordnen war. Das Besteuerungsrecht für Gewinne aus Veräußerung von Anteilen an dieser Kapitalgesellschaft2 lag nach Art. 13 Abs. 5 OECD-MA bei Deutschland. Diese Anteile wurden nun in die Personengesellschaft eingebracht, was unstreitig dazu führte, dass das Besteuerungsrecht auf Österreich überging. Die Finanzverwaltung wollte in Anbetracht dieses Übergangs die stillen Reserven aufdecken und besteuern, während der Steuerpflichtige auf die Fortführung der Buchwerte bestand. Das Finanzgericht Düsseldorf3 ging davon aus, dass mit der Übertragung ein Veräußerungsgewinn realisiert wurde. Der BFH hielt hingegen die Revision für überwiegend begründet. Maßgeblich für das Urteil waren vor allem zwei Gesichtspunkte. Der erste4 davon – ob die Fiktion eines Teilbetrieb nach § 16 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 Halbsatz 1 EStG, wenn eine Beteiligung am gesamten Nennkapital besteht, auch im Rahmen des § 24 UmwStG Gültigkeit besitzt, was verneint wurde – ist für die Problematik der Entstrickung unerheblich und bleibt daher im Weiteren unerörtert. Der zweite, hier entscheidende Urteilsgrund5 war, dass die Überführung eines Wirtschaftsgutes in eine ausländische Betriebsstätte keine Entnahme ist und auch nicht wie eine solche behandelt wird. Damit wurde die finale Entnahmetheorie, ein seit den 1970er Jahren bestehendes Rechtsinstitut,6 aufgegeben. Die Aufgabe dieses Rechtsinstituts wurde damit gerechtfertigt, dass die Überführung kein Realisationstatbestand sei. Insbesondere handele es sich um keine Entnahme. Letzteres ist natürlich unstreitig richtig, sonst hätte es auch gar keiner Theorie einer finalen Entnahme bedurft. Die Begründung, dass es an einer Rechtsgrundlage fehle, wenn man be-

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Eine Inc. mit Sitz in den USA. FG Düsseldorf v. 12.5.2006 – 18 K 5588/03 F, EFG 2006, 1438. BFH v. 17.7.2008 – I R 77/06, BStBl. II 2009, 464, Rz. 31, 32. BFH v. 17.7.2008 – I R 77/06, BStBl. II 2009, 464, Rz. 42–44. BFH v. 16.7.1969 – I 266/65, BStBl. II 1970, 175; v. 28.4.1971 – I R 55/66, BStBl. II 1971, 630.

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achtet, dass es um ein jahrzehntelang angewandtes Rechtsinstituts geht,7 überzeugt mich nicht. Die Aufgabe des Rechtsinstituts wurde aber auch darauf gestützt, dass es gar keinen finalen Grund einer Besteuerung gäbe, da das Besteuerungsrecht an den in Deutschland entstandenen stillen Reserven durch die Übertragung auf die österreichische Personengesellschaft nicht verloren gegangen sei,8 das Rechtsinstitut daher „auf einer unzutreffenden Beurteilung der Abgrenzung zwischen den inländischen und den ausländischen Einkünften und der Wirkungen der abkommensrechtlichen Freistellung“9 beruhe. Dabei geht der erkennende Senat vom Gedanke einer aufgeschobenen Gewinnrealisation aus.10 Grundfall dieser Überlegung ist, dass das Stammhaus ein Gut produziert, das dann in die ausländische Betriebsstätte überführt wird (Innentransaktion). Dort fallen weitere Kosten (z. B. Vertriebskosten) an. Anschließend wird das Produkt veräußert und ein Veräußerungserlös erzielt (Außentransaktion). Der durch die Außentransaktion realisierte Gesamtgewinn (Veräußerungserlöse abzüglich Produktions- und Vertriebskosten) wird dann entsprechend der Kostenteile zwischen Stammhaus und Betriebsstätte aufgeteilt. Einer Vorabbesteuerung der Innentransaktion bedarf es daher für die Wahrung des deutschen Besteuerungsrechts nicht. Die Entscheidung erging zum Rechtsstand 1995. Für die Bewertung ist deshalb auch zu beachten, dass seither die Rechtslage nicht mehr iden________________________ 7 BFH v. 30.5.1972 – VIII R 111/69, BStBl. II 1972, 760; v. 16.12.1975 – VIII R 3/74, BStBl. II 1976, 246; v. 24.11.1982 – I R 123/78, BStBl. II 1983, 113; v. 19.2.1998 – IV R 38/97, BStBl. II 1998, 509. 8 So auch die nahezu einhellige Auffassung der Literatur, vgl. jeweils m. w. N. Schaumburg, Internationales Steuerrecht, Rz. 18.44; Wassermeyer, in Wassermeyer/ Andresen/Ditz, Betriebsstättenhandbuch, Rz. 3.11; Buciek, in Flick/Wassermeyer/ Kempermann, DBA Deutschland/Schweiz, Art. 7 Rz. 461; Schröder/Strunk, in: Mössner u. a., Steuerrecht international tätiger Unternehmen, Rz. C 104; Hidien, in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, § 49 EStG Rz. D 3110, 3126, 3146; Kumpf/Roth, in Herrmann/Heuer/Raupach, § 49 EStG Rz. 303; Kroppen, in Gosch/Kroppen/ Grotherr, Art. 7OECD-MA Rz. 151 f.; Kessler/Huck, StuW 2005 S. 193 (195); Rödder/Schumacher, DStR 2006, 1481 (1482 f.); a. A. Weber-Grellet, in Schmidt, § 5 EStG Rz. 661. 9 BFH v. 17.7.2008 – I R 77/06, BStBl. II 2009, 464, Rz. 43. 10 Grundlegend wohl von Wassermeyer entwickelt; siehe dazu Wassermeyer in Wassermeyer/Andresen/Ditz, Betriebsstättenhandbuch, Rz. 3.11.

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tisch ist. So wurde 1999 § 6 Abs. 5 EStG11 eingeführt, der seinerseits einige Änderungen erfuhr, und 2006 wurde in § 4 Abs. 1 Satz 3 EStG12 geregelt, dass „einer Entnahme für betriebsfremde Zwecke … der Ausschluss oder die Beschränkung des Besteuerungsrechts der Bundesrepublik Deutschland hinsichtlich des Gewinns aus der Veräußerung oder der Nutzung eines Wirtschaftsguts gleich[steht]“.

B. Andere Ansätze bei übergehenden Betriebsstätten I. Die Betriebsstätten-Verwaltungsgrundsätze Die Verwaltung hatte die finale Entnahmetheorie in den Betriebsstätten-Verwaltungsgrundsätzen13 umgesetzt. Danach ist die Überführung in eine ausländische Betriebsstätte, deren Gewinne steuerfrei gestellt werden (Freistellungsbetriebstätte), eine Entnahme. Diese wird – wie inländische Entnahmen – mit dem Teilwert bewertet. Die Besteuerung dieser Entnahme wird aber grundsätzlich bis zur Veräußerung aufgeschoben. Dafür wird ein Merkposten gebildet, der spätestens nach 10 Jahren gewinnwirksam aufgelöst wird. Darin liegt letztlich eine – wenn auch zeitlich begrenzte – Umsetzung des Gedankens einer aufgeschobenen Besteuerung.

II. SEStEG (§§ 4 Abs. 1 Satz 3, 4g, 6 Abs. 1 Nr. 4 EStG, 12 KStG) Das SEStEG14 bietet für die Problematik das Zusammenwirken eines ganzen Kanons von Regelungen an. Auch hier wird die Überführung eines Wirtschaftsguts ins Ausland als Entnahme behandelt, jetzt aber mit gesetzlicher Grundlage in § 4 Abs. 1 Satz 3 EStG. Für Körperschaften wird allerdings in § 12 KStG eine Veräußerung fingiert, da das Rechtsinstitut der Entnahme auf Körperschaften nicht anwendbar ist. Auslöser ist nun aber nicht nur die Überführung in eine Freistellungsbetriebsstätte. Da bereits die Beschränkung des Besteuerungsrechts für ________________________ 11 StEntlG 1999/2000/2002 v. 24.3.1999, BGl. I 1999, 402. 12 SEStEG v. 7.12.2006, BGBl. I 2006, 2782, berichtigt BGBl. I 2007, 68. 13 Betriebsstätten-Verwaltungsgrundsätze v. 24.12.1999, BStBl. I 1999, 1076; geändert durch die BMF-Schreiben v. 20.11.2000, BStBl. I 2000, 1509; v. 29.9.2004, BStBl. I 2004, 917 und v. 25.8.2009, BStBl. I 2009, 888. 14 SEStEG v. 7.12.2006, BGBl. I 2006, 2782, berichtigt BGBl. I 2007, 68.

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den Tatbestand ausreicht, ist auch die Überführung in eine Anrechnungsbetriebsstätte entnahmegleich. Neu ist, dass nicht mehr der Teilwert, sondern gemäß § 6 Abs. 1 Nr. 4 EStG der gemeine Wert anzusetzen ist. Und für Übergänge innerhalb der Europäischen Union bestimmt § 4g EStG, dass – auf Antrag – ein Ausgleichsposten gebildet und über 5 Jahren ratierlich – spätestens bei der Veräußerung – aufgelöst wird.

III. Authorised OECD Approach Der Authorised OECD Approach (AOA)15 betrachtet die Betriebsstätte gegenüber dem Stammhaus als „Functionally Separate Entity“.16 Überführungen zwischen diesen so getrennten Einheiten werden wie eine Veräußerung (Dealing)17 behandelt. In Folge dessen kommt der Fremdvergleichspreis zum Ansatz.

IV. § 1 AStG § 1 AStG18 setzt voraus, dass an eine nahe stehende Person etwas übertragen wird. Dieser Akt zwischen zwei Personen wird dann wie eine Veräußerung (also auch als Dealing) behandelt. Entsprechend kommt wieder der Fremdvergleichspreis zum Ansatz, der aber über § 1 Abs. 3 Sätze 9 ff. AStG bei Funktionsverlagerungen „als Ganzes“ betrachtet und als über die Summe der Einzelveräußerungspreise hinausgehendes Transferpaket bewertet wird.

V. § 6 Abs. 5 EStG § 6 Abs. 5 EStG setzt zwei Betriebsvermögen voraus, die derselben Person zuzurechnen sind. Wird nun ein Wirtschaftsgut von einem Betriebsvermögen in das andere übertragen, schreibt die Norm zwingend den Buchwertansatz vor, sofern die Besteuerung der stillen Reser________________________ 15 Report on the Attribution of Profits to Permanent Establishments; endgültige Version vom 17.7.2008. 16 Report on the Attribution of Profits to Permanent Establishments B-1, Sec. 9. 17 Report on the Attribution of Profits to Permanent Establishments B-3 v, Sec. 36– 41. 18 Insbesondere nach der Änderung durch das Unternehmensteuerreformgesetz 2008 v. 14.8.2008, BGBl. I 2007, 1912.

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ven sichergestellt ist. Im Zeitpunkt der Verabschiedung dieser Vorschrift fehlte es an einer Sicherstellung nur beim Übergang in eine Freistellungsbetriebsstätte. Nur dann ist demgemäß der gemeine Wert anzusetzen. Bei Übergängen in ein Nicht-DBA-Land oder in eine Anrechnungsbetriebsstätte wirkt das Welteinkommensprinzip fort, so dass es zu keiner Gewinnauswirkung durch den Übergang kommt.

C. Die Reaktion der Verwaltung Die Verwaltung will das Urteil über den Einzelfall hinaus nicht anwenden.19 Das Schreiben stützt sich dabei auf drei Argumente: – Die Einführung der Neuregelungen durch das SEStEG sei nur eine Klarstellung zum geltenden Recht gewesen. Das ist insofern „unscharf“, als zumindest die Schädlichkeit der bloßen Beschränkung des Besteuerungsrechts, also auch der Übergang in eine Anrechnungsbetriebsstätte kein Fall der finalen Entnahmetheorie war.20 – Desweiteren entspräche eine Auslegung des Abkommensrechts unter Annahme einer finalen Entnahme den OECD-Grundsätzen und internationaler Praxis. Ein gewichtiges Argument in einer globalisierten Welt, in der rein nationale Lösungsansätze zum Scheitern verurteilt sind. – Und zu guter Letzt geschehe die Nichtanwendung „im Vorgriff auf mögliche gesetzliche Regelungen“. Das könnte in Anbetracht des Wahlausgangs möglicherweise überholt sein, unabhängig von der Frage, ob und wie weit die gesetzliche Festschreibung der bisherigen Verwaltungsauffassung wirken mag.

D. Versuch eines Überblicks I. Unterscheidung zwischen „Überführung“ und „Übertragung“ In Anbetracht der Vielfalt der Lösungsmöglichkeiten und der trotz des BFH Urteils21 fortbestehenden Unsicherheit der Rechtslage ist es rat________________________ 19 Vgl. BMF-Schreiben v. 20.5.2009, BStBl. I 2009, 671. 20 Vgl. BFH v. 16.7.1969 – I 266/65, BStBl. II 1970, 175; v. 28.4.1971 – I R 55/66, BStBl. II 1971, 630; v. 30.5.1972 – VIII R 111/69, BStBl. II 1972, 760; v. 16.12.1975 – VIII R 3/74, BStBl. II 1976, 246; v. 24.11.1982 – I R 123/78, BStBl. II 1983, 113. 21 BFH v. 17.7.2008 – I R 77/06, BStBl. II 2009, 464.

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sam, sich zunächst einen Überblick über die Problembereiche zu verschaffen. Dabei ist zunächst grundsätzlich zwischen Überführung und Übertragung zu unterscheiden.22 Bei der Überführung wird ein Wirtschaftsgut aus dem Stammhaus in die Betriebsstätte desselben Steuerpflichtigen verbracht. Das Wirtschaftsgut verbleibt also im Betrieb, es wird nur „betriebsintern“ örtlich verlagert. Da das Wirtschaftsgut das Betriebsvermögen nicht verlässt, liegt keine „Normalentnahme“ vor, es kann sich nur um die Fiktion der Entstrickungsentnahme handeln. Da keine zweite Person betroffen ist, fehlt es an einer nahe stehende Person im Sinne des § 1 AStG, der hier nicht zur Anwendung kommen kann. Bei der Übertragung geht ein Wirtschaftsgut von einem Betriebsvermögen in ein anderes über. Ein „betriebsübergreifender“ Tatbestand wird verwirklicht. Da das Wirtschaftsgut das bisherige Betriebsvermögen verlässt, liegt zumindest auch eine Normalentnahme vor. § 1 AStG kann als konkurrierende Norm angesprochen sein. Voraussetzung hierfür ist aber ein Rechtsträgerwechsel auf eine nahe stehende Person.

II. Die im Urteil„nicht getroffenen“ Aussagen Dass die Entscheidung keine endgültige Klarheit für die Rechtslage bringt, liegt auch daran, dass einige Fragen offen geblieben sind. So legt die Entscheidung nicht den konkreten Maßstab der Aufteilung fest. In Betracht kommt zum einen, dass die aufgeschobene Gewinnrealisierung durch einen Merkposten in der Höhe der Differenz eines Fremdvergleichspreises zum Buchwert wie in den Betriebsstättenverwaltungsgrundsätzen im Zeitpunkt der Innenrealisation bemessen wird.23 Weder ausgeschlossen noch gegenüber einem Merkposten präferiert wird eine Aufteilung im Verhältnis der Wertschöpfungsbeiträge im Zeitpunkt der Außenrealisation.24 Die Lösungen können im Einzelfall betragsmäßig weit auseinanderliegen. Offen ist auch, da die Entscheidung auf das Fehlen einer Rechtsgrundlage abstellt, welche Auswirkung die nachträglich verabschiedeten ________________________ 22 Hruschka, Grenzüberschreitender Betriebsvermögenstransfer, Kölner Tage Konzerngestaltungen, S. 4. 23 Jacobs, Internationale Unternehmensbesteuerung, V. Teil, 3. Kap., D. III. 1. b). 24 Jacobs, Internationale Unternehmensbesteuerung, V. Teil, 3. Kap., C. I. 1.

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Sonderregelungen des § 6 Abs. 5 EStG haben. Und natürlich kann das Urteil keine Antwort darauf geben, welche Bedeutung sich für die Neuregelungen im Rahmen des SEStEG ergeben.

III. Was heißt eigentlich „Realisation“ bei der Gewinnabgrenzung? Immer wieder wird dabei im Schrifttum betont, dass auf keinen Fall eine Besteuerung vor einer Realisation zulässig sei.25 Für die Verteilung von stillen Reserven scheint aber der Begriff der Realisation einer spezifischen Klärung bedürftig. Was etwa passiert bei Wertschwankungen nach der Überführung? Wenn der Wert des Wirtschaftsgutes zunächst fällt, im Zeitpunkt der Veräußerung aber über dem Wert bei Überführung liegt, ist fraglich, was sich nun bei der Veräußerung realisiert. Wem steht das Besteuerungsrecht für die Differenz zwischen Übergangswert und Niederstwert in der Betriebsstätte zu? Realisiert sich ein Verlust, wenn der Wert in der Zwischenzeit unter dem Buchwert lag? Wie wäre der Nachweis für die Zwischenwerte zu führen?26 Was passiert bei einem endgültigen Untergang des Wirtschaftsguts? Zwar ist einerseits eindeutig, dass die Zerstörung der stillen Reserven keine Realisation derselben ist. Andererseits ist der Verlust der zunächst vorhandenen stillen Reserven der ausländischen Betriebsstätte zuzurechnen. Wenn ein Fahrzeug mit stillen Reserven ins Ausland verbracht wird und dort vor einem geplanten Verkauf durch einen Unfall zerstört wird, verhindert ein ausschließlich dem Ausland zuzurechnendes Ereignis die Realisation.27 Setzt eine Realisation eine Veräußerung voraus oder gibt es auch eine mittelbare Realisation durch den Einsatz des Wirtschaftsguts? Die Absetzungen für Abnutzungen verteilen den Aufwand für die Anschaffung eines zur Gewinnerzielung eingesetzten Wirtschaftsgutes auf ________________________ 25 Ditz, IStR 2009, 115 (120); Kessler/Kröner/Köhler, Konzernsteuerrecht, § 8 Rz. 43; Jacobs, a. a. O., V. Teil, 3. Kap., D. III. 2; jeweils unter Hinweis auf europarechtliche Bedenken. 26 Hierzu insgesamt Jacobs, Internationale Unternehmensbesteuerung, V. Teil, 3. Kap., B. I. 3. 27 Zu den unterschiedlichen Verteilungskonzepten Rose, DStR 2008, 2389 (2391 ff.).

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einzelne Wirtschaftsjahre, zeichnen also den Verbrauch der Kosten nach. Soweit im Zeitpunkt der Übertragung stille Reserven vorhanden sind, verbrauchen sich auch diese durch die Abnutzung beim betrieblichen Einsatz. Bei einem Erwerb eines ganzen Betriebs wird als Kaufpreis in der Regel der in Zukunft erwartete abgezinste Gewinn bezahlt. Dieser wird dann auf die einzelnen Wirtschaftsgüter verteilt. Die stillen Reserven eines Wirtschaftsgutes weisen aus diesem Blickwinkel betrachtet den Teil des künftigen Gewinns aus, der durch die Nutzung dieses Wirtschaftsgutes (also sozusagen „aus ihm“) entsteht. Realisieren sich dann nicht auch durch die (Ab-)Nutzung des Wirtschaftsguts die vorhandenen stillen Reserven?28 Ergibt sich nicht zumindest eine Realisation – oder zumindest ein realisationsähnlicher Tatbestand – im Wege einer Kostenzuordnung? Entwickelt das Stammhaus ein immaterielles Wirtschaftsgut, das anschließend in die ausländische Betriebsstätte überführt wird und dort für die Erzielung von Gewinnen eingesetzt wird, wurden diese sofort abziehbaren Aufwendungen zwar im Inland erbracht, aber ausschließlich von der ausländischen Betriebsstätte veranlasst. Sie müssten daher aufgrund der Nutzung dieser Betriebsstätte zugerechnet werden.29 Da die Aufwendungen bisher den inländischen Gewinn gemindert haben, müsste diese Nutzung nun die bisherige Wirkung auf den inländischen Gewinn rückgängig machen. Zumindest in Höhe der Aufwendungen (unter Außerachtlassung dabei evtl. entstandener stiller Reserven) hätte dies eine Steuerwirkung zur Folge. Ob dem in Deutschland entstehenden Steueranspruch eine Steuerminderung im Ausland gegenübersteht, ist aber ungewiss, insbesondere dann, wenn die ausländische Betriebsstätte im Zeitpunkt der Aufwendungen noch gar nicht bestanden hat. Denn der Zeitpunkt, in dem die Aufwendungen entstanden sind, wird nicht dadurch verändert, ob der Nutzen daraus im Stammhaus oder in der Betriebsstätte gezogen wird. ________________________ 28 In diesem Sinne wohl auch Jacobs, Internationale Unternehmensbesteuerung, V. Teil, 3. Kap., C. I. 1. „Der Ertrag gilt bei mehrperiodig nutzbaren Anlagen, Dienstleistungen oder Nutzungen als realisiert, wenn die entsprechenden Leistungen verzehrt wurden. Hilfsweise erscheint auch die gleichmäßige Verteilung der stillen Reserven über die Nutzungsdauer des Wirtschaftsguts zulässig.“ 29 Zu den Abgrenzungsprinzipien bei Anwendung der direkten Methode Jacobs, Internationale Unternehmensbesteuerung, V. Teil, 3. Kap., C. I. 1; vgl. auch Hruschka/Lüdemann, IStR 2005, 78 ff.

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IV. Das Verhältnis der in Frage stehenden Werte Den Überblick soll eine Betrachtung der möglichen Bewertungsmaßstäbe abschließen, um das Verhältnis von Buchwert, Teilwert, gemeinem Wert, Fremdvergleichspreis und Transferpaketbewertung für den Regelfall abzuklären. Ausgangspunkt ist als regelmäßig niedrigster Wert der Buchwert, der sich durch die Anschaffungskosten abzüglich etwaiger Absetzungen für Abnutzung ermittelt.30 Der Teilwert (§ 6 Abs. 1 Nr. 1 Satz 3 EStG) unterscheidet sich strukturell davon durch die seit der Anschaffung oder Herstellung eingetretenen Preissteigerungen.31 Zu welchem Preis könnte man jetzt dieses Wirtschaftsgut erwerben? Der gemeine Wert (§ 9 Abs. 2 BewG) enthält darüber hinaus auch noch die Gewinnerwartungen, die in dem Einzelwirtschaftsgut liegen.32 Dabei wird vorliegend die umsatzsteuerliche Problematik ausgeblendet, die darin besteht, dass der gemeine Wert dem Grunde nach an sich auch die Umsatzsteuer enthalten müsste, bei vorsteuerberechtigten Unternehmen die Umsatzsteuer aber gerade nicht wertbildend ist. Der Fremdvergleichspreis ermittelt sich aus dem dealing at arm’s length-Prinzip. Im Ergebnis bestehen dabei regelmäßig keine Unterscheide zum gemeinen Wert.33 Etwas anderes gilt aber für die Transferpaketbewertung, die nicht mehr nur das einzelne Wirtschaftsgut betrachtet, sondern die Gewinnerwartung aus dem Gesamtpaket. Die maßgeblichen stillen Reserven erhöhen sich deshalb um den auf das Transferpaket entfallenden Anteil am Firmenwert.34 ________________________ 30 § 6 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 EStG. 31 Fischer in Kirchhof § 6 EStG Rz. 83 („aktueller kosten- und preisorientierter Sachwert“). 32 Ausschlaggebend ist der Absatzmarkt (Sailer Khuepach in Herrmann/Heuer/ Raupach § 6 EStG Rz. 1197). 33 Sailer Khuepach, in Herrmann/Heuer/Raupach § 6 EStG Rz. 1197, geht unter Berufung auf das BFH v. 17.10.2001 – I R 1003/00, BStBl. II 2004, 171, davon aus, dass der Fremdvergleichspreis vom gemeinen Wert zu unterscheiden wäre. Wassermeyer, IStR 2008, 176 (178), sieht den Unterscheid darin, dass die „Definition des gemeinen Wertes auf den ‚gewöhnlichen Geschäftsverkehr‘ abstellt“, während der Fremdvergleich „immer auf die Umstände des Einzelfalles“ zielt. 34 Siehe dazu den nachfolgenden Beitrag von Kroppen.

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E. Die maßgeblichen Vorschriften I. Überblick Bevor ein Ordnungsversuch für diese unübersichtliche Rechtslage unternommen wird, sind die maßgeblichen Vorschriften wertend zu prüfen.

II. Die SEStEG-Regeln (§§ 4 Abs. 1 Satz 3, 4g, 6 Abs. 1 Nr. 4 EStG und 12 KStG) Die Regelungen aufgrund des SEStEG35 haben als Tatbestandsmerkmal den Ausschluss oder die Beschränkung des Besteuerungsrechts hinsichtlich der Veräußerung oder Nutzung eines Wirtschaftsgutes, betreffen also die Überführung eines Wirtschaftsgutes in eine nicht inländische Betriebsstätte desselben Betriebs.

III. § 6 Abs. 5 EStG Bei § 6 Abs. 5 EStG geht es um die Überführung eines Wirtschaftsgutes in ein anderes Betriebsvermögen desselben Steuerpflichtigen. Die Norm gilt dann, wenn es sich dabei entweder um eine Entnahme oder um einen entgeltlichen Übergang gegen Gesellschaftsrechte handelt. Die Vorschrift ändert nicht die abstrakte Rechtsfolge, sondern nur die Bewertung des Wirtschaftsgutes. Grundsatz ist dabei die Fortführung des Buchwerts mit der Folge, dass der Übergang ohne Gewinnwirkung bleibt.

IV. § 1 Abs. 1 und 3 AStG § 1 AStG setzt tatbestandlich eine Einkünfteminderung aus einer Geschäftsbeziehung mit einer nahe stehenden Person voraus. Wie diese Einkünfteminderung eintritt, regelt die Vorschrift nicht.36 Sie setzt in einem Vergleichssachverhalt einen gewinnwirksamen Tatbestand voraus, für den sie auch keine eigenständige Rechtsfolge, sondern nur den ________________________ 35 SEStEG v. 7.12.2006, BGBl. I 2006, 2782, berichtigt BGBl. I 2007, 68. 36 Es ist aber allgemeine Auffassung, dass sich die Art der Gewinnminderung durch den Fremdvergleich ergibt, vgl. Wassermeyer in Flick/Wassermeyer/Baumhoff, § 1 AStG Rz. 252). Insoweit kommt ihm nicht nur für die Höhe, sondern bereits dem Grunde nach Maßstabscharakter zu.

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Ansatz des Fremdvergleichspreises bestimmt. Sie ist in den Fallkonstellationen mit konkurrierenden Vorschriften nach § 1 Abs. 1 Satz 3 (nur) eine weitergehende Berichtigung „neben den Rechtsfolgen der anderen Vorschriften“, verstärkt also eine anderweitig bereits angeordnete Gewinnkorrektur. In Anbetracht der heftigen Kontroversen, die die Gesetzesänderung durch das Unternehmensteuerreformgesetz 2008 ausgelöst hat, geht es eigentlich nur37 um eine Bewertungsvorschrift.

V. Authorised OECD Approach Der Authorised OECD Approach (AOA) unterscheidet nicht zwischen Überführungen und Übertragungen, da er eine Betriebsstätte als functionally separate entityund damit wie eine eigenständige Tochtergesellschaft betrachtet. Bei einer Qualifikation des Übergangs als Tatbestandsmerkmal mit der Rechtsfolge eines dealings würde man aber nicht beachten, dass der AOA von der Existenz eines DBA ausgeht. Dieses kann aber niemals aus sich heraus einen Steueranspruch begründen, sondern begrenzt ihn vielmehr.38 Ein Ansatz, der über eine innerstaatliche gesetzliche Grundlage hinausgeht, rechtfertigt sich nicht aus dem AOA. Zudem ist die OECD kein innerstaatliches Gremium mit Gesetzgebungskompetenz. Allerdings wird das vereinbarte DBA parlamentarisch verabschiedet. Es ist unter diesen Voraussetzungen deshalb denkbar, dass zumindest Teile der OECD-Überlegungen damit in das deutsche Recht inkorporiert werden.

VI. Grundfreiheiten nach dem Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union Wie der AOA bieten die europäischen Grundfreiheiten keine Rechtsgrundlage für eine Besteuerung.39 Vielmehr begrenzen sie den Besteue________________________ 37 Soweit die Vorschrift einen Sachverhalt betrifft, für den keine konkurrierende Norm Anwendung findet. 38 Report on the Attribution of Profits to Permanent Establishments B-2 Sec 12. 39 Dementsprechend lautet die in etlichen Entscheidungen des EuGH sich wiederfindende Eingangsformulierung: Die direkten Steuern fallen nach ständiger Rechtsprechung zwar in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten, doch müssen diese ihre Befugnisse unter Wahrung des Gemeinschaftsrechts ausüben und deshalb insbesondere jede Diskriminierung auf Grund der Staatsangehörigkeit unterlassen“

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rungszugriff, soweit er zu einer Ungleichbehandlung gegenüber einem entsprechenden rein inländischen Sachverhalt führt. Diese Ungleichbehandlung bedarf dann einer Rechtfertigung. Die europäischen Grundfreiheiten enthalten keine Ausgleichsvorschriften zwischen den betroffenen Fisci, auch nicht zugunsten der Steuerpflichtigen. Aus ihnen ergibt sich daher bei Verstrickungen keine Pflicht zum Ansatz eines gemeinen Werts. Denn der Ansatz eines gemeinen Wertes hätte der Steuerpflichtige auch nicht bekommen, wenn er das Wirtschaftsgut in eine andere inländische Betriebsstätte (oder im Ausland in eine andere ausländische) überführt hätte. Den Ansatz des gemeinen Werts bestimmt nach dem SEStEG § 4 Abs. 1 Satz 7 EStG, aber nur wenn dessen Voraussetzungen erfüllt sind. Und da die Norm Steuerpflichtige gegen staatliche Eingriffe, nicht aber die Einhaltung von zwischenstaatlichen Vereinbarungen schützt, bieten sie keinen Schutz vor einem treaty override.

VII. Ein zarter Ordnungsversuch Nach soviel Analyse sei der Versuch erlaubt, in diese unübersichtliche Gesamtlage ein wenig Ordnung zu bringen. Bei konkurrierenden Normen ist zunächst zu prüfen, welche Norm einschlägig ist. Beim Übergang eines Wirtschaftsgutes vom Sonderbetriebsvermögen in das Gesamthandsvermögen einer Personengesellschaft ist innerstaatlich § 6 Abs. 5 EStG die speziellste Vorschrift.40 Sie geht den allgemeineren Entnahmeregeln vor und verdrängt diese. Sofern man darauf abstellt, dass § 4 Abs. 1 Satz 3 EStG spezieller ist für die Frage, ob die Gefahr des Verlusts von Besteuerungssubstrat besteht, ist dem entgegenzuhalten, dass § 6 Abs. 5 EStG gerade diese Problematik erkennt und regelt, wenn auch weniger weitgehend als § 4 Abs. 1 Satz 3 EStG. Für die Frage, welche Norm einschlägig ist, kommt es aber nicht darauf an, welche Vorschrift die weitestgehende Rechtsfolge hat, sondern welche Norm den spezifischeren Sachverhalt regelt. Für den Wechsel in ________________________ etwa EuGH v. 11.8.1995 – Rs. C-80/94 – Wielockx, Slg. 1995, I-2493, Rn. 16, v. 27.6.1996 – Rs. C-107/94 – Asscher, Slg. 1996, I-3089, Rn. 36 und v. 8.3.2001 – Rs. C-397/98 und C-410/98 – Metallgesellschaft u. a., Slg. 2001, I-1727, Rn. 37. 40 Zur Einführung der Norm als kodifizierte Ausnahme zum (finalen) Entnahmebegriff vgl. Werndl, in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, § 6 EStG Rz. L 1 (Stand: Oktober 2004).

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das Betriebsvermögen einer ausländischen Personengesellschaft ist § 4 Abs. 1 Satz 3 EStG daher gar nicht einschlägig.41 § 1 AStG setzt zwei Dinge voraus: – es bedarf einer Geschäftsbeziehung zu einer nahe stehenden Person und – es muss aufgrund einer anderen Vorschrift eine Berichtigung der üblichen Rechtsfolge vorliegen. Eine nahestehende Person ist immer ein Dritter. Das wirft die Frage nach dem Verhältnis des AStG zum Verständnis der Personengesellschaft im deutschen Recht auf. Für die Behandlung der Personengesellschaft als nahestehende Person spricht zum einen, dass es derzeit eine Entwicklung weg von der Gleichstellungsthese gibt und die Personengesellschaft nicht mehr „nur transparent“ betrachtet wird. Zudem ist der Begriff der„Geschäftsbeziehung“ kein Terminus des innerstaatliche Rechts und damit unabhängig vom System der Besteuerung der Personengesellschaft.42 Andererseits tritt § 1 AStG neben anderen einschlägigen Vorschriften hinzu, um weitergehend zu berichtigen. Das heißt, berichtigen die einschlägigen Vorschriften gerade nicht, wird § 1 AStG verdrängt oder er kommt, präziser ausgedrückt, gar nicht erst zur Anwendung. § 1 AStG „schlägt nicht alles“ (und er ergänzt auch nicht immer).43 § 6 Abs. 5 EStG regelt den Übergang zwischen verschiedenen Betriebsvermögen, setzt also mehrere Betriebe voraus44 – insoweit gilt wieder das deutsche Verständnis der Personengesellschaft –, während § 4 Abs. 1 Sätze 3 und 7 EStG und § 12 KStG die Überführung von Wirtschaftsgütern innerhalb desselben Betriebsvermögens betrifft. Die Vorschriften schließen sich deshalb gegenseitig aus. Ebenso kann § 1 AStG die Vorschrift des § 4 Abs. 1 Satz 3 EStG nicht ergänzen im Sinne einer weitergehenden Berichtigung, da die ausländische Betriebsstätte keine „nahe stehende Person“ im Sinne des AStG ________________________ 41 A. A. Glanegger, in: Schmidt, EStG, Kommentar, 28. Aufl., 2009, § 6 EStG Rz. 510. 42 Vgl. auch Tz. 1.4.3. im BMF-Schreiben vom 14.5.2004 IV B 4 – S 1340-11/04 (BStBl. I 2004 Sondernummer 1) – Anwendungserlass (AEAStG). 43 Vgl. insgesamt hierzu Kaminski, in: Strunk/Kaminski/Köhler, Außensteuergesetz, – Doppelbesteuerungsabkommen, Loseblattkommentar, 19. Aktualisierung, § 1 AStG Rz. 49 ff. 44 Fischer, in: Kirchhof, EStG, Kommentar, 8. Aufl, 2008, § 6 EStG Rz. 186.

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ist. Der eine solche Auffassung stützende AOA wirkt nur auf das DBA, nicht auf das innerstaatliche Recht. Bei der Überführung mehrere Wirtschaftsgüter in eine ausländische Betriebsstätte gibt es daher keine Transferpaketbewertung. Soweit § 6 Abs. 5 EStG zwingend den Buchwert vorschreibt, also etwa bei der Überführung in eine Anrechnungsbetriebsstätte, gilt § 1 AStG daneben nicht. Denn § 1 AStG berichtigt nur „weitergehend“. Die zwingende Fortführung des Buchwert nach § 6 Abs. 5 EStG ist gerade keine Berichtigung und nimmt § 1 AStG damit den Ansatz. Andererseits können § 6 Abs. 5 EStG und § 1 AStG sich durchaus einander ergänzen, soweit das andere Betriebsvermögen einem Rechtsträger zuzuordnen ist, zu dem eine Geschäftsbeziehung bestehen kann. Für den Ansatz eines gemeinen Werts bei einer Überführung in das Inland hilft ausschließlich § 4 Abs. 1 Satz 7 EStG. Im Verstrickungsfall kommt § 1 AStG nie zur Anwendung. Auch die europäischen Grundfreiheiten helfen im Regelfall nicht, da es an einer Schlechterstellung gegenüber Verlagerungen im Inland oder innerhalb des Auslands fehlt, denn bei Überführungen in ein anderes inländisches Betriebsvermögen desselben Steuerpflichtigen gilt immer der Buchwertansatz, da in diesen Fällen die Besteuerung der (nun im Inland befindlichen) stillen Reserven nicht gefährdet ist. Zu guter Letzt bleibt festzustellen, dass § 4 Abs. 1 Satz 3 EStG nicht in Altjahre zurückwirkt. Es gibt für die Übergangszeit daher keine Entstrickung bei Verlagerungen in eine Anrechnungsbetriebsstätte. Für Überführungen in eine Freistellungsbetriebsstätte ist zugunsten des Steuerpflichtigen in jedem Fall die Merkpostenmethode nach den Betriebsstätten-Verwaltungsgrundsätzen anzuwenden.45 Offen bleibt, welche Rechtsfolgen sich ergeben, wenn nach zehn Jahren immer noch keine Realisierung erfolgt ist, weil dann nach der Rechtsprechung (mangels fiktiver Entnahmetheorie) keine Rechtsgrundlage für einen Realisationstatbestand vorliegt.

________________________ 45 Betriebsstätten-Verwaltungsgrundsätze v. 24.12.1999, BStBl. I 1999, 1076; geändert durch die BMF-Schreiben v. 20.11.2000, BStBl. I 2000, 1509; v. 29.9.2004, BStBl. I 2004, 917 und v. 25.8.2009, BStBl. I 2009, 888.

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VIII. Eine Zielbestimmung Der Ordnungsversuch zeigt vor allem das Fehlen einer in sich schlüssigen Gesamtsystematik in diesem Bereich. Er befriedigt daher allenfalls als Analyse des Bestehenden, nicht aber als Gesamtansatz. Um diesen zu erreichen, bleiben daher als Zielbestimmungen Wünsche und Anregungen: – Es zeigt sich, dass ein Auseinanderfallen der Rechtsauffassungen zwischen den obersten Bundesorganen zu keinen sinnvollen Ergebnissen führt. Der BFH und das BMF müssen zusammenwirken, um hier eine Perspektive zu entwickeln. – Langjährige Rechtsinstitute sollten von der Rechtsprechung daher nicht aufgegeben werden. Denn die der bestehenden Rechtsprechung folgende Gesetzgebung baut auf solchen Instituten auf und wird ohne systematischen Halt, wenn ein solches Institut nicht mehr fortbesteht. – Die OECD-Ansätze binden faktisch die Verwaltung von Bund und Ländern international, für die Rechtsprechung fehlt eine solche Bindung. Dieser Unterschied bleibt eine stete Gefahr für ein Auseinanderfallen von Verwaltung und Rechtsprechung. Es wäre deshalb sinnvoll, die allgemein geltenden Grundsätze der OECD in nationales Recht umzuformen, damit sie innerstaatlich Anwendung finden können. – Eine Symmetrie zwischen Entstrickung und Verstrickung wird aufgrund der divergierenden Ausgangssituation nie ganz erreichbar sein. Je geringer aber die Unterschiede der Rechtsfolgen sind, umso höher wird die Akzeptanz der gesetzlichen Regelungen und ihrer Anwendung national und international sein.

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Entstrickung und Verstrickung Podiumsdiskussion Leitung Prof. Dr. Jürgen Lüdicke Rechtsanwalt, Steuerberater, International Tax Institute, Universität Hamburg Teilnehmer Hans-Henning Bernhardt Rechtsanwalt, Beiersdorf AG, Hamburg

Prof. Dr. Dietmar Gosch Vorsitzender Richter am Bundesfinanzhof, München

Prof. Dr. Heinz-Klaus Kroppen, LL.M. Rechtsanwalt, Steuerberater, Deloitte & Touche GmbH, Düsseldorf

Dr. Friedrich Loschelder, LL.M. Richter am Finanzgericht, Hamburg

Dr. Carl Friedrich Vees Ministerialrat im Finanzministerium Baden-Württemberg, Stuttgart

Prof. Dr. Lüdicke Herr Eisgruber, vielen Dank! Ihr zarter Ordnungsversuch ist mit Abstand die zarteste Versuchung, seit es Entstrickung gibt. Meine Damen und Herren, gleichwohl ist es ein ernstes Thema – leider. Es wird uns noch eine ganze Weile beschäftigen. Herr Eisgruber hat recht klar gemacht, dass die Gesetzeslage alles andere als übersichtlich und alles andere als konsistent ist. Vielleicht sollten wir mit der Diskussion der Rechtsprechung und Rechtsentwicklung anfangen. Dr. Loschelder Vor einigen Jahren hat Professor Söhn einmal in einem ganz anderen Zusammenhang sinngemäß geschrieben, es komme gelegentlich vor, dass das Gesetz klüger sei als der Gesetzgeber.1 Wenn ich mir § 4 Abs. 1 ________________________ 1 Vgl. Söhn, Entfernungspauschale ohne Aufwendungen?, FR 2001, 950 (952).

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Satz 3 EStG anschaue, gerade auch vor dem Hintergrund der Entscheidung des Bundesfinanzhofs zur Aufgabe der „Theorie der finalen Entnahme“ vom 17. Juli 2008,2 dann frage ich mich, ob das nicht auch auf diese Vorschrift zutrifft. § 4 Abs. 1 Satz 3 EStG lautet: „Einer Entnahme für betriebsfremde Zwecke steht der Ausschluss oder die Beschränkung des Besteuerungsrechts der Bundesrepublik Deutschland hinsichtlich des Gewinns aus der Veräußerung oder der Nutzung eines Wirtschaftsguts gleich“. Das ist schon eine seltsame Vorschrift in § 4 EStG, vor allem dann, wenn man nachliest, was damit bezweckt werden soll; Herr Eisgruber hat das sehr anschaulich geschildert. Erfasst werden soll mit der gesetzlichen Fiktion einer Entnahme die Überführung eines Wirtschaftsguts in eine ausländische Betriebsstätte des Steuerpflichtigen, wenn entweder der Gewinn der ausländischen Betriebsstätte aufgrund eines Doppelbesteuerungsabkommens von der inländischen Besteuerung freigestellt ist oder aber die ausländische Steuer im Inland anzurechnen ist. Nun schaue ich mir wieder § 4 Abs. 1 Satz 3 EStG an und stelle fest: das ist dort eigentlich gar nicht geregelt. Auch fällt es mir schwer, die Reaktion der Finanzverwaltung zu verstehen. In dem Nichtanwendungserlass3 zu dem bereits angesprochenen BFH-Urteil vom 17. Juli 2008 heißt es: „Der BFH hat die jahrzehntelang von Rechtsprechung und Verwaltung angewendete sog. Theorie der finalen Entnahme ausdrücklich aufgegeben. Er begründet seine geänderte Rechtsauffassung im Ergebnis mit einer geänderten Auslegung des Abkommensrechts, wonach die Überführung eines Wirtschaftsguts usw.“ Aus diesem Schreiben spricht eine gewisse Verwunderung der Verwaltung, die auch in dem Vortrag von Herrn Eisgruber zum Ausdruck gekommen ist, wenn er meint, man solle doch althergebrachte Rechtsinstitute nicht einfach so über den Haufen werfen. Ist diese Verwunderung berechtigt? Ich meine: nein! Ich gehe in der Tat, wie Herr Gosch das gesagt hat, ganz unbefangen an diese Thematik heran und versuche, die ganze Entwicklung aus heutiger Sicht nachzuvollziehen. Ich habe zu diesem Zweck ein Buch zur Hand genommen, das ich sehr schätze, nämlich „Bilanz- und Unternehmenssteuerrecht“4 von Frau KnobbeKeuk. Darin finden Sie genau dieses Problem – in der 9. Auflage von ________________________ 2 BFH v. 17.7.2008 – I R 77/06, BStBl. II 2009, 464. 3 BMF v. 20.5.2009, BStBl. I 2009, 671. 4 Knobbe-Keuk, Bilanz- und Unternehmenssteuerrecht, Köln 1993.

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1993 – ganz konkret mit einer dezidierten Aussage beschrieben. Wenn ich darf, lese ich das einfach mal vor; ich könnte es nicht besser ausdrücken. Da heißt es: „Hinsichtlich des vom inländischen Unternehmen in die ausländische Betriebsstätte überführten Wirtschaftsguts hat der ausländische Staat aber nur das Recht, die während der Dauer der Zugehörigkeit des Wirtschaftsguts zur ausländischen Betriebsstätte entstandenen stillen Reserven zu besteuern. Für die zuvor gebildeten stillen Reserven verbleibt das Besteuerungsrecht beim inländischen Fiskus. Da das Wirtschaftsgut auch nach der Überführung in die ausländische Betriebsstätte weiterhin Betriebsvermögen des Hauptbetriebs bleibt, besteht auch gar keine fiskalische Notwendigkeit, die stillen Reserven in diesem Zeitpunkt steuerlich zu erfassen. Die bei der Überführung vorhandenen stillen Reserven sind festzuhalten; der inländische Fiskus greift auf sie zu, wenn sie – sei es durch die laufende Nutzung, sei es durch die Veräußerung – aufgelöst werden.“5 Nun könnte man sicherlich sagen: Gut, das hat sich eine Professorin 1993 gedacht und sie war eben ihrer Zeit in vielen Dingen weit voraus. Sie zitiert aber auch noch andere Quellen; und das Bemerkenswerte daran ist, dass sie auf ein Schreiben des BMF aus dem Jahr 1990 verweisen kann,6 in dem genau diese Auffassung ebenfalls wiedergegeben wird. Also: So erstaunlich und so neu ist das, was der Bundesfinanzhof in seinem Urteil vom 17.7.20087 gemacht hat, letztlich nicht. Ich möchte noch einen letzten Punkt aufgreifen, und zwar im Hinblick auf den Nichtanwendungserlass zu diesem Urteil.8 Darin rechtfertigt die Verwaltung ihren Standpunkt (unter anderem) mit einem Hinweis auf die Gesetzesbegründung des SEStEG. Allerdings gibt es nach meinem Verständnis zum SEStEG9 keine Gesetzesbegründung. Es gibt lediglich eine Begründung zum Regierungsentwurf.10 Und wir haben heute schon darüber gesprochen: Im Zweifel handelt es sich dabei um die Begründung der Finanzverwaltung aus dem betreffenden Referen________________________ 5 6 7 8 9

Knobbe-Keuk, Bilanz- und Unternehmenssteuerrecht, Köln 1993, S. 276. BMF v. 12.2.1990, BStBl. I 1990, 72. BFH v. 17.7.2008 – I R 77/06, BStBl. II 2009, 464. BMF v. 20.5.2009, BStBl. I 2009 S. 671. Gesetz über steuerliche Begleitmaßnahmen zur Einführung der Europäischen Gesellschaft und zur Änderung weiterer steuerrechtlicher Vorschriften (SEStEG) v. 7.12.2007, BGBl. I 2006, 2782 = BStBl. I 2007, 4. 10 BR-Drucks. 542/06.

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tenentwurf. Ich kann aber bei der Auslegung des § 4 Abs. 1 Satz 3 EStG den Wortlaut dieser Regelung niemals mit einem Hinweis auf die Begründung zum Regierungsentwurf aushebeln. Prof. Dr. Lüdicke Vielen Dank, Herr Loschelder. In der Tat, Herr Eisgruber, auch für mich ist es etwas eigenartig darauf zu verweisen, dass der Bundesfinanzhof vor einigen wenigen Jahren eine Rechtsprechung aus den 70er Jahren gekippt, aufgehoben, geändert hat. Es war seither schlicht kein Fall zu entscheiden. Zwischendurch gab es kein anderes Urteil, das sich in irgendeiner Form positiv oder negativ zu diesem Thema geäußert hat. Der BFH kann sich nicht äußern, wenn er inzwischen vielleicht aufgrund der Lektüre des Entstrickungsschreibens von 1990,11 das Herr Loschelder erwähnt hat, oder des Buches von Frau Knobbe-Keuk12 oder des Betriebsstättenerlasses vom 24. Dezember 199913 in anderer Besetzung des Senats zu besseren Erkenntnissen gekommen ist. Und wenn dann nach 20 oder 30 Jahren der erste Fall kommt und anders entschieden wird, dann wird er anders entschieden. Ich hatte durchaus mit Absicht Herrn Loschelder, der in jeder Hinsicht unbeteiligt war, gebeten aus seiner richterlichen Sicht dazu Stellung zu nehmen. Auch ich denke, dass man diese Abläufe zur Kenntnis nehmen muss. Die Finanzverwaltung kann dem Gesetzgeber jederzeit etwas vorschlagen, was er dann beschließt oder nicht beschließt. Aber der Bundesfinanzhof kann sich nur zu irgendetwas äußern, wenn ein passender Fall zur Entscheidung ansteht. Herr Bernhardt, was wünscht sich die Wirtschaft oder wo sind die Sorgen und Nöte? Bernhardt Sorgen und Nöte sind vielfältig. Insbesondere im Hinblick auf langfristige Gestaltungsüberlegungen muss Klarheit bestehen, wo die Reise hingehen kann, ganz besonders unter dem Gesichtspunkt, mit den richtigen Normen geplant und gearbeitet zu haben. Das ist eigentlich aus ________________________ 11 BMF v. 12.2.1990, BStBl. I 1990, 72. 12 Knobbe-Keuk Bilanz- und Unternehmenssteuerrecht, Köln 1993. 13 BMF v. 24.12.1999, BStBl. I 1999, 1076, zuletzt geändert durch BMF-Schreiben v. 25.8.2009, BStBl. I 2009, 888.

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meiner Sicht der Hauptpunkt. Da wäre Klarheit wirklich sehr von großer Hilfe. Prof. Dr. Lüdicke Vielen Dank. Herr Vees, wo kommt die Klarheit her? Es ist offensichtlich, dass in dem Bereich Klarheit geschaffen werden muss. Sie existiert objektiv nicht. Dr. Vees Zum Stichwort „Klarheit“: Zunächst möchte ich mir doch erlauben zu sagen, dass die Klarheit vor der Entscheidung I R 77/0614 natürlich größer war. Wir hatten bei den Normen, die Herr Eisgruber vorgestellt hat – nämlich § 4 Abs. 1 Satz 3 und § 6 Abs. 5 EStG sowie § 1 AStG – nicht diese Konkurrenzprobleme zu lösen, mit denen wir jetzt durch die Entscheidung I R 77/06 konfrontiert sind. Hinzu kommt, dass das gesamte SEStEG-Gesetzesvorhaben auf die finale Entnahmelehre aufgebaut hatte. Das ist jetzt wenigstens zum Teil in Frage gestellt. Das trägt natürlich nicht zur Rechtsklarheit bei. Ich möchte zu einem Punkt von Herrn Loschelder noch etwas sagen. Warum kann man die Gesetzesbegründungen zum SEStEG nicht als Auslegungshilfe heranziehen? Das SEStEG ist ein Änderungsgesetz zum EStG, zum KStG usw. Die Begründung einer Gesetzesänderung, d. h. für das ändernde Gesetz, findet sich immer im Gesetzentwurf. Und das ist entweder der Fraktionsentwurf oder der Regierungsentwurf. Vielleicht habe ich Sie an der Stelle auch falsch verstanden, aber für mich war eigentlich klar, dass ich Ausführungen aus der Gesetzesbegründung jederzeit als Auslegungshilfe heranziehen kann. Höchstinteressant, wenn ich das noch sagen darf, fand ich die Frage von Herrn Eisgruber, welche die vorrangige Norm im Bereich der Mitunternehmerschaft ist – § 6 Abs. 5 oder § 4 Abs. 1 Satz 3 EStG bzw. § 1 AStG. Auf den ersten Blick würde ich das Problem so formulieren: Wir haben es mit einer grenzüberschreitenden Überführung eines Wirtschaftsguts innerhalb der Mitunternehmerschaft zu tun. Legen wir den Akzent auf die Mitunternehmerschaft, dann ist § 6 Abs. 5 EStG die speziellere Norm, legen wir den Akzent auf das Merkmal „grenzüberschreitend“, dann sind wir wohl bei § 4 Abs. 1 Satz 3 EStG oder § 1 ________________________ 14 BFH v. 17.7.2008, I R 77/06, BStBl. II 2009, 464.

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AStG. Da möchte ich mich nicht festlegen, vielleicht ist eher § 4 Abs. 1 Satz 3 EStG einschlägig. D. h. wir müssen uns entscheiden, welchen Aspekt wir als die gewichtigere Anknüpfung wählen. Ich war bis jetzt immer der Auffassung, dass § 4 Abs. 1 Satz 3 EStG vorgeht. Aber ich gebe zu, auch die Lösung über den Vorrang von § 6 Abs. 5 EStG lässt sich hören. Dr. Loschelder Vielleicht habe ich mich nicht klar genug ausgedrückt. Eine Gesetzesbegründung ist nach meinem Verständnis eine vom Gesetzgeber als solchem abgegebene und autorisierte Begründung. In Bezug auf das SEStEG liegt uns aber mit der amtlichen Begründung des Regierungsentwurfs nur die Rechtsmeinung eines Akteurs im Gesetzgebungsverfahren vor. Das belegt lediglich, wie die Bundesregierung bzw. derjenige, der den Entwurf für die Bundesregierung gefertigt hat, die Vorschrift verstanden haben möchte. Und nun sind wir bei einem Punkt, der meines Erachtens ganz wesentlich ist: Steuerrecht ist Eingriffsrecht. Grundlage und Umfang des Eingriffs müssen sich aus dem Gesetz ergeben. Ich muss daher immer von dem Wortlaut des Gesetzes ausgehen, und ich habe regelmäßig schon Schwierigkeiten, den Wortlaut eines Gesetzes mit dem Argument aus den Angeln zu heben, der historische Gesetzgeber habe etwas anderes gewollt, wenn sich das im Wortlaut nicht niedergeschlagen hat. Umso weniger kann ich dies unter Berufung auf die Auffassung eines vorgelagerten Akteurs im Gesetzgebungsverfahren tun. Das ist es, was ich meinte. Prof. Dr. Gosch 1970 war auch ich noch nicht dabei, Herr Loschelder. Aber wie dem auch sei: Herr Eisgruber, Sie haben das natürlich wie gewohnt nett dargestellt. Ihr Verständnis der Dreiteilung der Gewalten irritiert mich jedoch. Sie können doch nicht mir nichts, dir nichts auf einem Urteil aus dem Jahre 1970 aufbauen und die gesamt nachfolgende Entwicklung schlicht ausblenden. Das wäre, ich sage das jetzt ganz bewusst, doch höchst fahrlässig. Es gab und gibt gegen diese Rechtsprechung seit jeher und allerorten Kritik ohne Ende, auch von Seiten ‚weitsichtiger‘ Vertreter der Finanzverwaltung. Das kann doch nicht schlicht ignoriert werden. Und es kann auch nicht sein, dass dem BFH, dessen Aufgabe es ja ist, das Verwaltungshandeln zu überprüfen und an den Gesetzen zu messen, jetzt vorzuhalten, er möge doch bitteschön 140

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„Spur halten“ und alles und wider besseren Wissens so belassen, wie es einmal in ferner Vergangenheit judiziert worden ist. Ähnliches hat im Schrifttum und in der mündlichen Verhandlung vor dem BFH seitens des BMF schon Herr Mitschke verlautbart; der BFH möge zugunsten der Verwaltung Vertrauensschutz gewähren. Dazu findet sich denn auch eine explizite und natürlich verwerfende Äußerung in dem Urteil I R 77/06.15 Vertrauensschutzgewährung durch ein Gericht in Anbetracht einer Rechtsprechungsänderung kann naturgemäß nie zugunsten der Verwaltung oder des Gesetzgebers erfolgen. Eine andere Frage ist, ob man diesen Weg, dass man nämlich in der letzten juristischen Sekunde vor der Entstrickung noch den Zugriff auf die stillen Reserven sicher stellen kann, ob man diesen Weg, dieses abkommensrechtliche Verständnis, als das richtige erachtet. Das war und ist sicherlich nicht über jeden Zweifel erhaben und man muss die Erkenntnisse des BFH dazu nicht teilen. Aber auf dieser Erkenntnis bauen mittlerweile auch andere Entscheidungen fest auf, etwa jene zu der Wegzugsbesteuerung nach § 6 AStG bei natürlichen Personen. Auch dort gilt: In der letzten juristischen Sekunde darf der Wegzugsstaat zugreifen und das Wegzugssubstrat besteuern. Sicher, es gibt Stimmen, die darin einen Verstoß gegen den „Geist“ eines DBA sehen. Ich habe jedoch keine Bedenken, dass der vom BFH eingeschlagene Weg in rechtstechnischer und rechtsdogmatischer Sicht gut gangbar ist. Und das hat dann die Konsequenz, dass die Theorie der finalen Entnahme keinen positiv-rechtlichen Bestand haben kann. Möglicherweise – ich lasse das mal so im Raum stehen – können auf dieser Basis keine anderen Antworten auch für die Frage nach der sog. finalen Betriebsaufgabe gegeben werden. Auch bei dem Freiberufler, dem Gewerbetreibenden, der seine Praxis, seinen Betrieb ins Ausland verlegt, wird faktisch nichts „aufgegeben“, sondern eben schlicht „verlegt“. Es ist mir im Moment kein Grund ersichtlich, weshalb hier ein Steuerzugriff im Umsiedlungszeitpunkt erfolgen müsste: Die spätere tatsächliche Aufgabe des Betriebs kann bezogen auf die stillen Reserven bis zum Wegzugszeitpunkt veranlassungsgerecht durchaus nachwirkend besteuert werden, nunmehr naturgemäß nicht mehr über die unbeschränkte, sondern jetzt über die beschränkte Steuerpflicht. So gesehen stellen die Neuregelungen, die das SEStEG gebracht hat, hier wie dort aber keine bloßen „Klarstellungen“ dar, es handelt sich vielmehr um echte Neuregelungen. ________________________ 15 BFH v. 17.7.2008 – I R 77/06, BStBl. II 2009, 646.

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Prof. Dr. Kroppen Vielleicht gestatten Sie mir auch noch die eine oder andere Anmerkung. Ich kann nicht umhin, gerade wo Herr Gosch noch einmal das Thema „Klarstellung“ erwähnt hat, erneut kurz eine Fragestellung anzusprechen, die mich auch beschäftigt. Ich habe den Begriff „Klarstellung“ immer so verstanden, dass nur etwas klargestellt werden kann, was vorher unklar war. In diesem Zusammenhang bin ich Herrn Loschelder für seinen Hinweis sehr dankbar, dass Steuerrecht Eingriffsrecht ist. Es muss deshalb nach meiner Auffassung als solches aus sich heraus klar und verständlich sein. Wenn man dann irgendetwas klarstellen muss, dann war es vorher offensichtlich nicht klar und verständlich und deshalb erfüllte es nicht die Anforderungen, die an Eingriffsrecht zu stellen sind. Drei Anmerkungen zu dem Fall, den wir diskutiert haben: Einmal glaube ich, dass die Aufgabe der finalen Entnahmetheorie zwangsläufig war. Man muss sich gar nicht nur auf Frau Knobbe-Keuk berufen. Ich bin auch schon eine Reihe von Jahren im Steuerbereich tätig und ich weiß, dass mehrere Mitglieder des I. Senats wiederholt deutlich angedeutet haben, dass, wenn ein Fall zu ihnen kommen würde, diese Theorie wohl keinen Bestand haben würde. Dass die Entwicklung deshalb so überraschend für die Beteiligten war, kann ich daher nicht erkennen, auch wenn ich natürlich den Vortrag von Herrn Eisgruber humoristisch sehr beeindruckend fand. Aber dass die Entscheidung so eine Überraschung gewesen sein soll, stimmt aus meiner Sicht nicht. Was ich mich allerdings bei der Entscheidung gefragt habe und dazu habe ich bisher relativ wenig Diskussion gesehen: Die ganze Entscheidung basiert auf der Annahme, dass es hier zu einer Überführung der Beteiligung in die ausländische Betriebsstätte gekommen ist, sonst müsste man sich die ganzen Fragen hinsichtlich der Aufdeckung der stillen Reserven gar nicht stellen, die hier diskutiert worden sind. Ich hatte dazu immer noch eine Vorfrage gehabt, die bis jetzt nicht richtig beantwortet wurde. Es gibt ja auch eine Rechtsprechung des BFH, die sagt, dass Beteiligungen zwischen Stammhaus und Betriebsstätte nach bestimmten Kriterien zugeordnet werden und dabei kommt man in der Regel dazu, dass Beteiligungen, wenn sie nicht unmittelbar dem Zweck der Betriebsstätte dienen, dem Stammhaus zuzuordnen sind. So habe ich mich bei der aktuellen Entscheidung gefragt, wieso es überhaupt zu ihr gekommen ist, weil ich nach der BFH-Rechtsprechung die Beteiligung dem Stammhaus zugeordnet hätte. Dann hätte man gar keine 142

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Überführung und das Problem wäre nicht entstanden. Ich habe aber auch keine detaillierten Kenntnisse, wie der Sachverhalt genau war. Das war für mich aber immer eine Vorfrage, die offen blieb. Dann noch ein dritter Punkt, der bei Herrn Eisgruber bereits anklang, aber mir nicht deutlich genug war. Man muss bei all diesen Fällen sehr deutlich zwischen der Abkommensebene und der Ebene des nationalen Steuerrechts unterscheiden. Es entspricht der Rechtsprechung und ist auch meine Auffassung, dass Deutschland selbstverständlich im Augenblick der Überführung in die ausländische Betriebsstätte ein Besteuerungsrecht in Höhe der bis dahin angesammelten stillen Reserven hat und dass Deutschland deshalb auch gar nichts verloren gehen kann. Allerdings ist die entscheidende Frage, ob Deutschland dieses Besteuerungsrecht nach nationalem Recht wahrnimmt. Dazu gibt es bestimmte Regeln, z. B. Realisierungstatbestände, die festlegen, ob und in welcher Höhe wir ein durch DBA eingeräumtes Besteuerungsrecht wahrnehmen. In einer solchen nationalen Regelung könnte man m. E. auch festlegen, dass eine Zerstörung oder die reguläre Abschreibung eine Besteuerung auslösende Umstände seien. Das alles kann man im nationalen Recht regeln. Die Problematik ist aus meiner Sicht daraus entstanden, dass Deutschland – anders als andere Länder – sein Besteuerungsrecht eben nicht ausreichend, vielleicht nicht umfassend genug, geregelt hat und dann versucht wurde, dies im Erlasswege zu regeln. Hier hat der BFH aus meiner Sicht völlig zu Recht gesagt, dass es so nicht geht. Solche Dinge, solche einschneidenden Rechtsfolgen, müssen im Gesetz geregelt werden. Prof. Dr. Gosch Kurz darauf direkt erwidert: Die Frage nach der tatsächlichen, funktionalen Zuordnung, in diesem Fall der Beteiligung des Wirtschaftsgutes zu der Betriebsstätte oder dem sog. Stammhaus, das ist eine Frage, die sich natürlich in erster Linie und vorrangig stellt. Und die hat sich der BFH auch gestellt. Sie wurde in dem Sinne beantwortet, dass die Beteiligung aufgrund der tatsächlichen Gegebenheiten der österreichischen KG zuzuordnen war. Aber wie gesagt, diese Frage ist unbestritten. Da sind wir uns völlig einig. Noch vielleicht ein zweiter Hinweis: In diesem Zusammenhang ist mit einer gewissen Berechtigung angemerkt worden, in jenem Streitfall

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I R 77/0616 sei doch ein Realisationsakt gegeben gewesen. Das liege auf der Hand, sei es dort doch um zwei selbständige Personengesellschaften – einer deutschen und einer österreichischen KG – gegangen, nicht nur um die Überführung eines Wirtschaftsgutes vom Stammhaus in die Auslandsbetriebsstätte. Das ist naturgemäß völlig richtig und bedarf keiner Diskussion. Der BFH hat die Dinge in diesem Punkt allerdings an einer ganz anderen Stelle „aufgehängt“: Ausgangspunkt war der alte Mitunternehmererlass.17 Aus diesem Hintergrund war zu entscheiden. Dieser Erlass ließ aber die Buchwertfortführung ohne weiteres zu, aus Sicht des BFH auch für die Überführung eines Wirtschaftsguts zwischen zwei Schwester-Personengesellschaften. Und diese Erlassgrundsätze waren dann gleichermaßen und übereinstimmend anzuwenden, gleichviel, ob beide Gesellschaften inländische sind oder aber eine der beiden eine ausländische. Dementsprechend heißt es in der Entscheidung auch: „Die Anwendung dieser Grundsätze gebietet nichts anderes.“ Und dann erst gelangt man (gewissermaßen inzidenter) zu den einschlägigen Überlegungen zum Abkommensrecht. Noch ein weiteres: Die Fragen, die offen geblieben sind, Herr Eisgruber, diese Fragen mussten offen gelassen werden; sie waren schlicht nicht entscheidungserheblich. Das betrifft insbesondere die Frage nach den Maßstäben einer späteren Ergebniszuordnung und Ergebnisaufteilung. Wenn Sie mich persönlich fragen, würde ich das nach Veranlassungsbeiträgen wechselseitig gegeneinander abgrenzen. Und ein Letztes. Die Frage, ob die nunmehrige Regelung in § 4 Abs. 1 Satz 3 EStG vollen Umfangs dem Rechnung trägt, was die Gesetzgebung oder die Verwaltung gewollt haben, ermöglicht zumal einem Richter natürlich nur eine Prognose. Ich selbst tue mich schwer damit, das zu bejahen: Einen Besteuerungsausschluss kann ich in der beschriebenen Situation nicht erkennen. Im Gegenteil; der Zugriff ist de lege lata gesichert, jedenfalls auf jene stillen Reserven, die bis zur Entstrickung anfallen und um die es auch bei § 4 Abs. 1 Satz 3 EStG allein geht. Und eine Beschränkung setzt eigentlich bei einer Verminderung des inländischen Steuerertrags infolge Anrechnung ausländischer Steuern an. Andere Beschränkungen, etwa faktische, administrative Vollzugs- oder Durchsetzungshindernisse oder ähnliches, sind nicht gemeint. Beschränkungen, die darin liegen, dass der deutsche Fiskus ________________________ 16 BFH v. 17.7.2008 – I R 77/06, BStBl. II 2009, 646. 17 BMF v. 20.12.1977, BStBl. I 1978, 8.

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seine Probleme damit haben kann, im Ausland einen späteren tatsächlichen Realisationsakt ad infinitum nachzuverfolgen, stellen keine Beschränkung im Sinne des Gesetzes dar. Eine andere Möglichkeit, das, was gewollt ist, einigermaßen „rechtsfest“ zu formulieren, finden wir in § 6 Abs. 5 EStG: „… wenn die Besteuerung [der stillen Reserven] sichergestellt ist …“. Das ist neutraler ausgedrückt und trifft das, was offenbar gemeint ist, ersichtlich besser. Vielleicht hilft das auch bei Ihrer „Soufflierarbeit“, Herr Eisgruber, in Richtung klarstellender Gesetzgeber weiter. Prof. Dr. Lüdicke Vielen Dank, Herr Gosch. Das waren recht klare Worte. Im Anschluss daran die Frage an Herrn Vees, wie es jetzt weitergeht. Wir haben das BMF-Schreiben18 vom 20. Mai diesen Jahres, in dem ganz zum Schluss steht: „Im Vorgriff auf mögliche gesetzliche Regelungen“ – eines aus damaliger Sicht noch zu wählenden Bundestages (!) – „sind für Überführungen und Übertragungen von Wirtschaftsgütern vor Anwendung der Entstrickungsregelungen im SEStEG die Grundsätze des BFH-Urteils über den entschiedenen Einzelfall hinaus nicht anzuwenden.“ Das laufende Steuerjahr ist in drei bis vier Wochen zu Ende, einen Gesetzentwurf, der irgendetwas in dieser Hinsicht regelt, gibt es nicht. Im Vorgriff auf welche gesetzliche Regelung soll das eigentlich für das laufende Kalenderjahr 2009 nicht angewendet werden. Sie wollen doch bitte nicht noch später ein Gesetz rückwirkend wegen verworrener Rechtslage machen? Prof. Dr. Gosch Die Mehrmütterorganschaft „lässt grüßen“. Da stand das auch drin … Prof. Dr. Lüdicke Das ist aber vom BFH goutiert worden … Dr. Vees Ich denke, es ist inzwischen allgemeine Auffassung, dass man durch eine gesetzliche Änderung reagieren muss. Aber ich sehe noch nicht ab, wie diese gesetzliche Änderung aussehen wird. Es hat da eine ganze ________________________ 18 BMF v. 20.5.2009, BStBl. I 2009, 671.

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Kaskade von Arbeitsgruppen und Unterarbeitsgruppen gegeben, die auch Papiere erarbeitet haben. Der Prozess kam dann etwas ins Stocken, weil verschiedene maßgeblich Beteiligte auf Seiten der Verwaltung mit vordringlicheren Arbeiten beschäftigt waren. Ich meine nicht mich, ich selbst war in diesen Arbeitsgruppen nicht drin. Es mag natürlich bedauerlich sein, dass seit diesem Nichtanwendungserlass so viel Zeit vergangen ist und noch immer keine Tendenz, keine Lösung absehbar ist. Die Verwaltung ist an der Sache dran, sie ist dabei, dem Gesetzgeber einen Vorschlag zu machen. Aber die Diskussion heute zeigt ja auch, dass man da eine Gesetzesänderung nicht eben mal so aufschreibt. Die Thematik ist extrem vielschichtig. Allein diese Beispiele, die Herr Eisgruber aufgezeigt hat, zeigen dies, z. B. die Frage der Wertveränderungen nach dem Überführungszeitpunkt. Ich kann mich erinnern, welche Mühe wir hatten, um allein diese Frage für die Regelung des § 6 AStG zu lösen und die Regelung zu formulieren. Vielleicht liegt das Problem auch darin, dass die Entstrickungsproblematik jetzt allein unter dem DBA-Blickwinkel betrachtet wird. Für die Entscheidung I R 77/0619 kann man das sicher so sagen. Als aber § 4 Abs. 1 Satz 3 und das SEStEG entworfen worden sind, hat man dies meiner Erinnerung nach weniger unter dem DBA-Fokus getan, sondern man hat versucht „de Lasteyrie du Saillant“20 und die Fusionsrichtlinie umzusetzen. Die Herausforderung bestand darin, dass man einerseits davon ausging, dass die Entstrickung genau wie die Überführung ins Privatvermögen zu einer Schlussbesteuerung führt; soll heißen, dass die Beendigung des steuerrechtlichen Zugriffs zu einer Schlussbesteuerung führt. Andererseits aber sah man sich EU-rechtlich an dieser Schlussbesteuerung gehindert. Man hat dann der Fusionsrichtlinie entnommen, dass eine Schlussbesteuerung zulässig ist, es sei denn, es wird eine inländische Betriebsstätte fortgeführt. Und man hat „de Lasteyrie du Saillant“21 entnommen, dass im Privatvermögen eine Stundungslösung möglich ist. Man hat dann weiter überlegt, dass diese Stundungslösung im Betriebsvermögen nicht handhabbar ist, weil es hierfür erforderlich wäre, eine Vielzahl von Wirtschaftsgütern, die da verbracht werden, nachzuverfolgen und auch ihre Wertentwicklung nachzuvollziehen. ________________________ 19 BFH v. 17.7.2008 – I R 77/06, BStBl. II 2009, 464. 20 EuGH v. 11.3.2004 – Rs. C-9/02 – Hughes de Lasteyrie du Saillant, EuGHE 2004, I-2431. 21 EuGH v. 11.3.2004 – Rs. C-9/02 – Hughes de Lasteyrie du Saillant, EuGHE 2004, I-2431.

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Und so kam es, dass man für das Betriebsvermögen zunächst keine Stundungsregel vorsah und § 4g EStG erst während der Beratung des Bundestagsfinanzausschusses nachgeschoben wurde. Es mag sein, dass der Blickwinkel DBA und der Blickwinkel EU-Recht zu unterschiedlichen Folgerungen führen und man jetzt versuchen muss, diese zwei Blickwinkel zusammenzuführen. Prof. Dr. Gosch Wobei, Herr Vees, die Begriffe „Ausschluss“ und „Beschränkung“ des Besteuerungsrechts doch abkommensrechtlich zu verstehen sein dürften. Oder etwa nicht? Dr. Vees Das ist aber eine Diktion, die sich in der Diskussion auf der Grundlage der Fusionsrichtlinie entwickelt hat. Herr Eisgruber hat ja den Authorized OECD Approach (AOA) erwähnt. Das Problem ist, dass die Verselbständigung der Betriebsstätte auf OECD-Ebene Allgemeingut geworden ist. OECD-Partnerländern können uns diese Verselbständigung deshalb in Verständigungsverfahren entgegen halten. Deshalb müssen wir einen Weg suchen, wie wir diese Verselbständigung der Betriebsstätte im nationalen Recht umsetzen. Und da bietet sich § 1 AStG natürlich an. Prof. Dr. Lüdicke Ich wollte gerade sagen, Sie dürfen vor allen Dingen nicht den Fehler machen, dass Sie hinterher nur in DBA-Fällen den AOA anwenden und in den Nicht-DBA-Fällen alles irgendwie ganz anders ist. Das kann im nationalen Recht nicht sein. Prof. Dr. Haarmann22 Kurz zu meiner Sicht: Als ich mit dem Steuerrecht begann, war dies Ende der 70er Jahre: Meine Erinnerung ist die, dass wir irgendwann in den 80er oder Anfang der 90er Jahre eine Entscheidung des FG Kassel23 hatten. Diese Entscheidung sprach sich für die sog. aufgeschobene Ge________________________ 22 Prof. Dr. Wilhelm Haarmann, Haarmann Partnerschaftsgesellschaft, Frankfurt am Main. 23 Hessisches FG v. 19.12.1990 – 1 K 115-116/86, EFG 1991, 359.

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winnverwirklichung aus, wie sie dann auch im Betriebsstättenerlass24 im Prinzip dargestellt wurde. Es war nicht so, wie Herr Eisgruber sagte, dass die im Erlass vorgesehene 10-Jahres-Regelung eine Billigkeitslösung war, damit man den Entstrickungsgewinn nicht sofort versteuern musste. Es war umgekehrt. Die aufgeschobene Gewinnverwirklichung war von der Finanzverwaltung als die im Prinzip theoretisch richtige Lösung angesehen, die natürlich in der Praxis teilweise zu Problemen führte. Deshalb durfte man – alternativ – auch sofort realisieren. Das war die Historie zu diesem Thema und dementsprechend war vielleicht der Weg von 1970 bis heute nicht ganz so, wie Sie ihn so humorvoll dargestellt haben, Herr Eisgruber. Prof. Dr. Lüdicke Vielen Dank, insbesondere nochmal an Herrn Eisgruber. Meine Damen und Herren, ich habe nach der Diskussion wenig Zweifel, dass wir uns hier in spätestens drei Jahren wieder über Entstrickung und Verstrickung unterhalten werden.

________________________ 24 BMF v. 24.12.1999, BStBl. I 1999, 991, zuletzt geändert durch BMF v. 25.8.2009, BStBl. I 2009, 888.

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Business Restructuring und Funktionsverlagerung Prof. Dr. Heinz-Klaus Kroppen, LL.M. Rechtsanwalt und Steuerberater, Düsseldorf

Inhaltsübersicht A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 B. Begriff der Funktionsverlagerung/ des Business Restructuring . . . . . 151 C. Rechtsfolgen der Funktionsverlagerung/des Business Restructuring . . . . . . . . . . . . . . . 154

D. Übertragung eines Geschäftswerts? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 E. Berücksichtigung von Handlungsalternativen . . . . . . . . . . . . 160 F. Atomisierung . . . . . . . . . . . . . . . 163 G. Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165

A. Einleitung Wenn man die zurzeit umfassend geführte Diskussion zur Funktionsverlagerung betrachtet, könnte man den Eindruck gewinnen, es handele sich überwiegend um ein steuerliches Thema. Dies ist mitnichten der Fall. Die meisten Restrukturierungsvorgänge sind betriebswirtschaftlich oder operativ begründet und haben zunächst einmal mit Steuern nichts zu tun. Es gibt verschiedene Themen, die hierbei im Vordergrund stehen, unter anderem die Präsenz auf lokalen Märkten. In der Praxis kommt es sehr oft vor, dass man zunächst einen ausländischen Markt, z. B. in Asien, von Deutschland aus bzw. durch eine deutsche Gesellschaft erschließt. Wenn dann das Geschäft läuft, wird oft eine lokale Tochtergesellschaft gegründet, um dem dortigen Markt näher zu sein. Dies hat ausschließlich operative Hintergründe. Die Kunden werden dann von der lokalen Gesellschaft übernommen und aus diesem Vorgang kann sich eine Problematik in Bezug auf die steuerliche Thematik der Funktionsverlagerung ergeben. Ein weiteres wichtiges Thema ist die Errichtung effizienter Konzernstrukturen und der einfache Zugang zu Produktionsfaktoren. Heute gibt es in Deutschland fast keine Aluminiumindustrie mehr. Das ist dadurch mitbegründet, dass – auch im Vergleich mit wesentlichen anderen Ländern – der Strom in Deutschland sehr teuer ist. Daher ist es sehr 149

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häufig dazu gekommen, dass entsprechende Fabrikationen hier im Inland aus wirtschaftlichen Gründen geschlossen werden mussten, da sie nicht mehr rentabel waren. Die Aktivitäten wurden dann im Ausland fortgesetzt. Unter Umständen entstehen daraus aber auch steuerliche Fragestellungen. Schließlich spielt im Augenblick auch die Kostensenkung durch Nutzung des internationalen Lohn- und Gehaltsgefälles wieder eine große Rolle. Ereignisse der letzten Tage machen zudem deutlich, dass auch Wechselkursunterschiede an Bedeutung zunehmen und deshalb z. B. Daimler darüber nachdenkt, die neue C-Klasse in den USA fertigen zu lassen. Das ist sicherlich wirtschaftlich begründet und hat zunächst mit Steuerrecht überhaupt nichts zu tun. Trotzdem können solche Vorgänge unter Umständen steuerliche Rechtsfolgen auslösen. Steuerliche Probleme in diesem Zusammenhang sind allerdings kein deutsches Phänomen, sondern ein Phänomen, das wir im Augenblick bei allen wesentlichen Industrieländern und deren Steuerverwaltungen feststellen. Dies liegt darin begründet, dass es unterschwellig und teilweise auch offen artikuliert die Befürchtung gibt, dass es zur Verlagerung von steuerpflichtigem Substrat ins Ausland kommt und dass der lokale Fiskus leer ausgeht. Dieses Thema wird auf internationaler Ebene so wichtig genommen, dass sich die OECD damit intensiv befasst und zunächst eine gemeinsame Arbeitsgruppe aus Mitgliedern der Arbeitsgruppen I (zuständig für das Musterabkommen) und VI (zuständig für Verrechnungspreise) gebildet hat, um das Thema zu studieren.1 Ein entsprechender Diskussionsentwurf wurde im September 2008 mit einer Konsultationsfrist bis zum 19. Februar 2009 vorgelegt.2 Die OECD hat umfangreiche Stellungnahmen erhalten und es gab vor noch nicht ________________________ 1 Tz. 9 f. des OECD Diskussionsentwurfs v. 19.9.2008 „TRANSFER PRICING ASPECTS OF BUSINESS RESTRUCTURINGS: DISCUSSION DRAFT FOR PUBLIC COMMENT 19 SEPTEMBER 2008 TO 19 FEBRUARY 2009“, siehe http://www. oecd.org/document/7/0,3343,en_2649_34897_41328775_1_1_1_1,00.html unter http://www.oecd.org/dataoecd/59/40/41346644.pdf Stand 5.1.2010, siehe auch http://www.oecd.org/document/7/0,3343,en_2649_34897_41328775_1_1_1_1,00.html unter http://www.oecd.org/document/11/0,3343,en_2649_37989760_38087051_1_ 1_1_1,00.html, beide Stand 5.1.2010; die Frist lief am 19.2.2009 ab. 2 OECD Diskussionsentwurf v. 19.9.2008 „TRANSFER PRICING ASPECTS OF BUSINESS RESTRUCTURINGS: DISCUSSION DRAFT FOR PUBLIC COMMENT 19 SEPTEMBER 2008 TO 19 FEBRUARY 2009“, siehe http://www.oecd.org/ document/7/0,3343,en_2649_34897_41328775_1_1_1_1,00.html unter http://www. oecd.org/dataoecd/59/40/41346644.pdf, Stand 5.1.2010.

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Kroppen – Business Restructuring und Funktionsverlagerung

allzu langer Zeit eine Konferenz der OECD, auf der man sich auch noch einmal mit dem Thema befasst hat.3 Was im weiteren Fortgang aus diesem Bericht wird, bleibt abzuwarten.

B. Begriff der Funktionsverlagerung/des Business Restructuring Bevor man sich mit einigen Teilproblemen beschäftigt, gilt es zunächst, die Begrifflichkeiten zu klären, also was überhaupt eine Funktionsverlagerung ist bzw. wann ein Business Restructuring vorliegt. Das Thema Funktionsverlagerung ist ja, zumindest was die gesetzlichen Grundlagen angeht, relativ neu und man hätte deshalb sicherlich annehmen können, dass der Gesetzgeber den Begriff zunächst einmal definiert. Im Gesetz hat er einen solchen Definitionsversuch auch durch den Klammersatz in § 1 Abs. 3 AStG kenntlich gemacht. In Paragraph 1 Abs. 3 Satz 9 AStG findet man vor dem Klammerzusatz die Ausführung, dass die Verlagerung einer Funktion einschließlich dazugehöriger Chancen und Risiken und der mit übertragenen oder überlassenen Wirtschaftsgüter eine Funktionsverlagerung ist. Das ist deshalb nicht ganz unproblematisch, weil die Definition im Grunde genommen sagt: „Wird eine Funktion verlagert, ist das eine Funktionsverlagerung.“4 Man kann sicherlich nicht sagen, dass diese Aussage von vorneherein falsch ist, aber die Formulierung macht nicht genau deutlich, um welche Problematik es geht. Deshalb bleibt es unvermeidbar, dass man sich mit der Gesetzesbegründung beschäftigt.5 Diese besagt, dass die Funktion ein organischer Teil eines Unternehmens ist6 und ein Teilbetrieb nicht notwendig sei. Dies ist ein wichtiger Hinweis. Es gibt klassischerweise die Übertragung einzelner Wirtschaftsgüter, die normalerweise zu einer Einzelbewertung dieser Wirtschaftsgüter führt, und daneben die Übertragung eines Betriebes oder Teilbetriebes, was bewertungstechnisch zu einer Gesamtbewertung führt. Hier geht es um etwas, das man Funk________________________ 3 Konferenz vom 9.-10.6.2009, siehe http://www.oecd.org/document/21/0,3343,en_ 2649_33753_43033621_1_1_1_1,00.html; Agenda unter http://www.oecd.org/ dataoecd/16/1/42978814.pdf; Liste der Teilnehmer siehe unter http://www.oecd. org/dataoecd/58/38/43035317.pdf, jeweils Stand 5.1.2010. 4 Schreiber in Kroppen (Hrsg.) Handbuch Internationale Verrechnungspreise, Teil I, FVerlV, Anm. 45, 47; Wassermeyer, Funktionsverlagerung – Statement, FR 2008, 67. 5 BT-Drucks. 16/4841, 84 ff. v. 27.3.2007. 6 BT-Drucks. 16/4841, 86.

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tionsverlagerung nennt und das irgendwo dazwischen zu liegen scheint. Es geht nicht nur um bloße Einzelwirtschaftsgüter, es handelt sich aber, wie die Gesetzesbegründung deutlich macht, auch noch um keinen Teilbetrieb. Deshalb steht der Gesetzgeber vor der Problematik, ob die Einzelbewertung gilt oder eher eine Gesamtbewertung oder ob es vielleicht einen völlig neuen Bewertungsansatz geben muss. Dieses Problem muss gelöst werden und ich komme darauf später noch zurück. Neben dem Gesetz und seiner Begründung gibt es als weitere Rechtsquelle die Funktionsverlagerungsverordnung.7 Diese Verordnung enthält ebenfalls eine Definition. Danach ist eine Funktion eine Geschäftstätigkeit aus der Zusammenfassung gleichartiger betrieblicher Aufgaben, die von bestimmten Stellen oder Abteilungen eines Unternehmens erledigt werden.8 Der veröffentlichte Erlassentwurf vom 19.9.20089 gibt uns dazu eine Reihe von Beispielen. Er sagt, dass man hierbei an Forschung & Entwicklung, Geschäftsleitung, Materialbeschaffung, Lagerhaltung, Produktion etc. denken kann. Wenn man dies alles betrachtet, kann man als Zwischenergebnis festhalten, dass die Definition extrem weit gefasst ist.10 Sie erfasst jegliche Verlagerung betrieblicher Aufgaben. Diese Definition ist meines Erachtens zu weit und bedarf der Einschränkung. Hierzu kann man wiederum die Gesetzesbegründung heranziehen, um zu verstehen, was der Gesetzgeber im Sinn hatte, als er die Regelung geschaffen hat. Dort steht: „Sicherstellung der Besteuerung in Deutschland geschaffener Werte, wenn immaterielle Wirtschaftsgüter und Vorteile, Know-how usw. ins Ausland verlagert werden“.11 Dem Gesetzgeber ging es offensichtlich darum, dass z. B. immaterielle Wirtschaftsgüter, deren Schaffung in Deutschland Aufwand verursacht hat, nicht ohne steuerliche Folgen ins Ausland verlagert werden können.12 ________________________ 7 BGBl. I 2008, 1680 ff. = BStBl. I 2009, 34 ff. 8 § 1 Abs. 3 Satz 9 AStG i. V. m. § 1 Abs. 1 Satz 1 FVerlV. 9 Entwurf eines BMF-Schreibens (Verwaltungsgrundsätze – Funktionsverlagerungsverordnung) zur Funktionsverlagerungsverordnung v. 17.7.2009 – IV B 5, Tz. 2.1.1. 10 Schreiber in Kroppen (Hrsg.) Handbuch Internationale Verrechnungspreise, Teil I, FVerlV, Anm. 45, 47; Wassermeyer, Funktionsverlagerung – Statement, FR 2008, 67 f. 11 BT-Drucks. 16/4841, 84; zur Einschränkung der Geschäftsvorfälle, die formal unter § 1 Abs. 2 Satz 1 FVerlV fallen auch BR-Drucks. 352/08, 16; der Verordnungsgeber betont nachdrücklich die Fremdvergleichs- und Europarechtskonformität des Gesetzesänderung und der Verordnung, BR-Drucks. 352/08, 1, 9 f. 12 Z. B. Günkel, WPg 2008, Supplement, 72 (75).

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Vor diesem Hintergrund sollte die reine Änderung einer Aufgabenwahrnehmung ohne den Übergang irgendwie gearteter immaterieller Werte nicht ausreichen, um zu den Rechtsfolgen einer Funktionsverlagerung zu kommen.13 Dies ergibt sich auch aus dem Rechtsgedanken von § 2 Abs. 2 FVerlV. Im Gegensatz zum deutschen Recht spricht der OECD-Bericht nicht von einem Transfer of Functions, sondern von Business Restructuring. Allerdings räumt der Bericht ein, dass es dafür keine rechtlich oder generell akzeptierte Definition gibt.14 Das ist wohl die freundliche Umschreibung dafür, dass man sich zwischen den Staaten nicht darauf einigen konnte, was eigentlich genau erfasst werden sollte. Deshalb hat man nun gesagt, dass es um die grenzüberschreitende Verlagerung von Funktionen, Wirtschaftgütern und/oder Risiken innerhalb einer Unternehmensgruppe geht.15 Zudem wird noch ausgeführt, dass unter Umständen, also offensichtlich nicht zwingend, die Übertragung wertvoller immaterieller Wirtschaftsgüter umfasst sei.16 Offensichtlich hat die OECD also einen etwas anderen Ansatz, nämlich stärker darauf abzustellen, ob es zu einer Änderung der Risikostruktur kommt,17 während in Deutschland entscheidend ist, ob immaterielle Wirtschaftsgüter übergehen. Meines Erachtens ist die deutsche Regelung vorzugswürdig. Die Auferlegung einschneidender Rechtsfolgen kann nur dann überhaupt gerechtfertigt sein, wenn es um Verlagerungen wesentlichen immateriellen Substrats geht. Dass sich nur die Risikowahrnehmung im Unternehmen ändert, ist als Basis für eine Schlussbesteuerung ungeeignet.

________________________ 13 Kroppen in Kroppen (Hrsg.) Handbuch Internationale Verrechnungspreise, Teil I, FVerlV, Anm. 114; ebenfalls für eine Auslegung entgegen dem Wortlaut Haas, Ubg 2008, 517 (523); für eine Herleitung aus § 1 Abs. 7 Satz 2 FVerlV Schreiber, Ubg 2008, 433 (436), so auch Kroppen in Kroppen (Hrsg.) Handbuch Internationale Verrechnungspreise, Teil I, FVerlV, Anm. 114. 14 Tz. 2 des OECD Diskussionsentwurfs v. 19.9.2008, Fundstelle siehe Fn. 1. 15 Tz. 18.2, 46 des OECD Diskussionsentwurfs v. 19.9.2008, Fundstelle siehe Fn. 1. 16 Tz. 18.4, 71 ff. intangible assets werden nicht ausschließlich, sondern neben tangible assets und ongoing concern genannt, ähnlich Tz. 214 ff. des OECD Diskussionsentwurfs v. 19.9.2008, Fundstelle siehe Fn. 1. 17 Tz. 18.1, 19 ff. des OECD Diskussionsentwurfs v. 19.9.2008, Fundstelle siehe Fn. 1, ebenso Anm. 6.14; 6.22 der OECD-Verrechnungspreisgrundsätze 1995.

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C. Rechtsfolgen der Funktionsverlagerung/des Business Restructuring Neben der Frage, wann eine Funktionsverlagerung bzw. ein Business Restructuring vorliegt, ist eine Analyse der Rechtsfolgen von entscheidender Bedeutung. Nach den deutschen Rechtsgrundsätzen muss zweistufig geprüft werden. Zunächst ist festzustellen, ob es uneingeschränkt und eingeschränkt vergleichbare Vergleichswerte gibt.18 Diese Formulierung ist schwer verständlich, besagt aber im Kern nicht viel mehr, als dass auf der ersten Stufe nach den bekannten Verrechnungspreismethoden zunächst geprüft werden muss, ob es einen Vergleichspreis oder Vergleichswert für eine solche Funktionsverlagerung gibt.19 Wenn man mit den herkömmlichen Methoden der Verrechnungspreisbestimmung Anhaltspunkte für Vergleichswerte finden kann, entsteht ganz normal bei mehreren Vergleichswerten eine Bandbreite oder eine eingeschränkte Bandbreite. Der steuerlich angemessene Wert muss sich dann innerhalb der Bandbreite bewegen. Die Finanzverwaltung räumt aber selbst ein, dass es in der Regel sehr schwierig werden wird, solche Werte zu ermitteln,20 weil es so viele Transferpaketübertragungen oder so viele Funktionsverlagerungen unter fremden Dritten gar nicht gibt.21 Darum möchte die Finanzverwaltung für den Regelfall etwas anwenden, was

________________________ 18 Vgl. § 1 Abs. 3 Sätze 1–4 AStG. 19 Vgl. § 1 Abs. 3 Satz 1 und 2 AStG; zur Prüfung der einzelnen Stufen Günkel, WPg 2008, Supplement, 72 (75). 20 Entwurf eines BMF-Schreibens (Verwaltungsgrundsätze – Funktionsverlagerung) v. 17.7.2009 – IV B 5 Tz. 2.2.1.2.; Schwenke in Lüdicke (Hrsg.), Düsseldorfer Forum der Internationalen Besteuerung 2008, Band 33, 115 (125); BR-Drucks. 352/08, 15. 21 IDW S 5, Tz. 21; der HFA des IDW hat sich mit Verabschiedung des IDW S 5 für einen selbstständigen Bewertungsstandard für immaterielle Vermögenswerte entschieden, vgl. Beyer/Mackenstedt, Wpg. 2008, 338 (342, 349); die in IDW S 5 aufgeführten drei Verfahren (marktpreisorientiertes, barwertorientiertes und kostenorientiertes Verfahren) gelten für die dort aufgeführten Bewertungsanlässe als grundsätzlich abschließend, andere Verfahren daher als prinzipiell ungeeignet, Beyer/Mackenstedt, Wpg. 2008, 338 (343).

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man den hypothetischen Fremdvergleich22 nennt. Auf Basis dieses hypothetischen Fremdvergleichs ist dann für eine geschehene Funktionsverlagerung ein sog. Einigungsbereich23 zu bestimmen. Dabei muss man beachten, dass hier die Terminologie eine andere ist. Man redet hier nicht mehr von Bandbreiten, wie bei den existierenden Vergleichswerten, sondern über einen Einigungsbereich. Dies ist sehr wichtig für die Rechtsfolgen. Die Finanzverwaltung ist nämlich der Auffassung, dass sie unterschiedliche Rechtsfolgen daran knüpfen kann, je nachdem, ob eine Bandbreite oder ein Einigungsbereich vorliegt. Wie ermittelt man den Einigungsbereich für eine Funktionsverlagerung? Dieser ergibt sich aus dem Mindestpreis des Leistenden und dem Höchstpreis des Leistungsempfängers für die Verlagerung der Funktion.24 Alles, was dann mit dieser Funktion zusammenhängt, betrachtet man insgesamt als Transferpaket, ohne dass die einzelnen Bestandteile genau identifiziert werden müssen.25 Die Bewertung soll grundsätzlich anhand des übergegangenen Gewinnpotentials in seiner Gesamtheit mittels ertragswertorientierter Methoden durchgeführt werden.26 Das klingt sehr stark nach einer Unternehmensbewertung, wenn man es mit dem vergleicht, was der IDW in IDW S 1 festgelegt hat.27 Nach der Vorstellung der ________________________ 22 § 1 Abs. 3 Satz 5 AStG; § 2 Abs. 1 Satz 2 FVerlV; Denkmodell, das auf Wassermeyer in Schaumburg (Hrsg.), Internationale Verrechnungspreise zwischen Kapitalgesellschaften, Köln 1994, 127 (135) zurückgeht und bei dem das Sollverhalten des ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters durch Nachdenken ermittelt wird. 23 § 1 Abs. 3 Satz 6 AStG, § 2 Abs. 1 Satz 2 FVerlV. 24 § 1 Abs. 3 Satz 6 AStG, § 2 Abs. 1 Satz 2 FVerlV. 25 § 1 Abs. 3 Satz 9 AStG i. V. m. § 1 Abs. 3 FVerlV; vgl. Entwurf eines BMFSchreibens „Verwaltungsgrundsätze – Funktionsverlagerung“ v. 17.7.2009 – IV B 5, Tz. 2.2.1.2. 26 § 3 Abs. 2 FVerlV; nach dem Gesetz zur Umsetzung steuerlicher EU-Vorgaben sowie zur Änderung steuerlicher Vorschriften, BT-Drucks. 107/10, Art. 9a, S. 4 v. 5.3.2010 sind nach § 1 Abs. 3 Satz 10, 3. Alt. AStG Einzelverrechnungspreise dann anzuerkennen, wenn der Steuerschuldner zumindest ein darin enthaltenes „wesentliches immaterielles Wirtschaftsgut“ genau bezeichnet, so § 1 Abs. 3 Satz 10 AStG n. F.; vgl. Beschlussempfehlung des Finanzausschusses v. 3.3.2010, S. 8. 27 IDW Standard: Grundsätze zur Durchführung von Unternehmensbewertung, IDW S 1 i. d. F. v. 18.10.2005, WpG 2005, 1303 ff. auch unter http://www.idw.de/idw/ portal/d374802/index.jsp Stand 11.1.2010; zuvor IDW Standard: Grundsätze zur Durchführung von Unternehmensbewertung, IDW S 1 i. d. F. v. 28.6.2000, WpG 2000, 825 ff. regelt das sog. Ertragswertverfahren (Ertragswerte nach der traditionellen deutschen Art sowie Discounted-Cash-Flow-Verfahren).

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Finanzverwaltung muss deshalb Folgendes getan werden: Die Ertragswertänderungen vor und nach der Übertragung sowohl auf Seiten des abgebenden Unternehmens als auch auf Seiten des übernehmenden Unternehmens müssen ermittelt werden, was unter Umständen quasi zu vier Unternehmensbewertungen führen kann. Böse Zungen behaupten deshalb, dass dies ein Beschäftigungsprogramm für Wirtschaftsprüfungsgesellschaften sei.28 Wenn der Einigungsbereich zwischen dem Mindestpreis und dem Höchstpreis ermittelt wurde, wird es in der Praxis oft so sein, dass die Ergebnisse relativ deutlich auseinander liegen. Deshalb stellt sich die interessante Frage, was denn eigentlich der angemessene Preis zwischen diesen beiden Eckpunkten ist. Man wird davon ausgehen können, dass der Betriebsprüfer hier in der Regel zu einem anderen Ergebnis kommen wird als der Steuerpflichtige, so dass man vermuten kann, dass es in der Mehrzahl der Fälle zu der gesetzlichen Regelung kommt, dass im Zweifel der Mittelwert anzuwenden ist (§ 1 Abs. 3 Satz 7 AStG). Des Weiteren besagt die gesetzliche bzw. die Rechtsverordnungsregelung noch, dass das Gewinnpotential die erwarteten Reingewinne nach Steuern sind. Die internationale Brisanz dieser Regelung zeigt sich, wenn man sich einen Fall vorstellt, bei dem es zu einer Funktionsverlagerung kommt, für die sich die Ertragskraft gar nicht massiv verändert, sondern es nur Unterschiede im Steuersatz gibt, weil die Funktion in ein Land mit niedrigen Steuersätzen verlagert wird. Dann entsteht rein aus der Tatsache, dass unterschiedliche Steuersätze existieren, ein Einigungsbereich. Man würde dann über die Gesetzesmechanik die Hälfte dieses Steuervorteils ins Inland holen, also in Deutschland besteuern. Es kann kaum erwartet werden, dass sich der andere Staat in einem entsprechenden Verfahren zur Vermeidung der Doppelbesteuerung der deutschen Regelung anschließen wird. Die Problematik der Doppelbesteuerung bzw. der Vermeidung der Doppelbesteuerung ist darüber hinaus noch viel eklatanter bei dem Thema der Standortvorteile und Synergieeffekte. Diese würden nach § 3 Abs. 2 FVerlV in das Gewinnpotential hinein gerechnet. Wenn man der Rechenlogik des Gesetzes folgt, würden deshalb mindestens 50 % dieser Vorteile ins Inland gezogen und hier besteuert.29 Auch hier kann erwartet werden, dass ________________________ 28 Kroppen in Kroppen (Hrsg.), Handbuch Internationale Verrechnungspreise, Teil I, FVerlV, Anm. 135; vgl. auch Baumhoff/Ditz/Greinert, DStR 2007, 1649 (1652). 29 So auch Schwenke in Lüdicke (Hrsg.), Düsseldorfer Forum der Internationalen Besteuerung 2008, Band 33, 115 (125).

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viele Länder mit entsprechend vorteilhaften Rahmenbedingungen damit ein Problem haben werden. Dabei muss man bedenken, dass diese Länder im Rahmen der Vermeidung der Doppelbesteuerung die Aktivierung und Abschreibung ihres eigenen, aber in Deutschland besteuerten Standortvorteils zulassen müssten und diese Abschreibung dann ihr Steueraufkommen entsprechend reduzieren würde. Man kann deshalb davon ausgehen, dass, wenn die ersten Fälle in den Betriebsprüfungen auftauchen, sehr interessante Gespräche mit den ausländischen Finanzverwaltungen folgen werden, in denen es schwer werden wird, eine Einigung zu erzielen. Warum ist der deutsche Gesetzgeber trotz dieser Probleme diesen Weg gegangen? Das ist relativ offen aus den Begründungen zum Gesetz und der Verordnung zu entnehmen. Man will, obwohl man deutlich gesagt hat, dass kein Teilbetrieb oder Betrieb übertragen wird, trotzdem zur Erfassung eines anteiligen Geschäftswerts kommen und genau das führt zu den relativ hohen Werten im Vergleich zu einer Einzelbewertung.30 Daneben will man sicherlich selbstgeschaffene immaterielle Wirtschaftsgüter vollständig erfassen. Diese haben ja oft den Nachteil, dass sie bilanziell nicht ersichtlich, aber trotzdem vorhanden sind und man hat die Befürchtung, dass diese sonst ohne Rechtsfolgen ins Ausland übertragen werden. Durch den ganzheitlichen Bewertungsansatz sind diese aber mit ihrem Wert in der Bewertung immer automatisch enthalten und können deshalb nicht der Besteuerung entzogen werden. Was sagt der OECD-Bericht zu der Frage der Rechtsfolgen? Die Aussagen sind eher enttäuschend. Der im Augenblick vorliegende Berichtsentwurf ist, was die konkreten Rechtsfolgen angeht, äußerst unpräzise.31 Er enthält allerdings eine Aussage, die im Hinblick auf die deutsche Rechtslage ganz interessant ist. Er führt nämlich aus: „Das Gewinn-/ Verlustpotential ist kein Wirtschaftsgut und dessen Übertragung verlangt keine Kompensation per se“.32 Das scheint zumindest im Ansatz eine andere Denkweise zu sein, als sie der deutschen Gesetzgebung zu Grunde liegt. Ein weiterer wichtiger Punkt für die Bewertung ist gemäß ________________________ 30 BT-Drucks. 16/4841, 84 ff.; BR-Drucks. 352/08, 2. 31 Tz. 194 ff. „Recognition of the actual transactions undertaken“, Tz. 99 ff. „Indemnification of the restructured entity for the detriments suffered as a consequence of the restructuring“ und Tz. 123 „Remuneration of post-restructuring controlled transactions“ des OECD Diskussionsentwurfs v. 19.9.2008, Fundstelle siehe Fn. 1. 32 Tz. 18.2, 64 des OECD Diskussionsentwurfs v. 19.9.2008, Fundstelle siehe Fn. 1.

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OECD-Bericht, welche realistisch verfügbaren Alternativen dem Übertragenden zur Verfügung standen.33 Insgesamt ist die Rechtsfolgenseite aber im OECD-Bericht im Augenblick relativ unklar und es gilt, die weitere Entwicklung des Berichts abzuwarten.

D. Übertragung eines Geschäftswerts? Nach der Darstellung des Umfangs und der Rechtsfolgen der Funktionsverlagerungen und des Business Restructuring soll nun kurz auf drei grundsätzliche Fragestellungen eingegangen werden. Zunächst stellt sich die Frage, ob es bei Vorgängen der beschriebenen Art zum Übergang eines Geschäftswerts kommt. Dazu folgendes Beispiel, welches sehr stark an den OECD-Report angelehnt ist:34 Die Gesellschaft M1 übt innerhalb eines Konzerns eine Produktionsfunktion in Deutschland aus. Diese Produktionsfunktion wird wegen der zu erwartenden Lohnkostenvorteile auf die Gesellschaft M2 in Polen übertragen, das heißt, die Produktion wird in Deutschland geschlossen und an M2 in Polen übertragen. Das geschieht in der Form, dass einige der Maschinen verkauft, dass immaterielle Wirtschaftsgüter übertragen und wesentliche Kunden dann von Polen aus bedient werden. Auch wenige zentrale Mitarbeiter werden von M1 zu M2 entsandt, um beim Aufbau der neuen Produktion zu helfen. Es stellt sich nun die Frage, ob in einer solchen Konstellation, und das ist offensichtlich die Vorstellung des deutschen Gesetzgebers und wohl auch die der OECD, ein Geschäftswert übergeht. Nach der deutschen Grundkonzeption auf Basis der Gesamtbewertung von Transferpaketen basierend auf den zukünftigen Gewinnpotentialen kommt es sowohl bei dem abgebenden als auch bei dem aufnehmenden Unternehmen zur Berücksichtigung eines Geschäftswerts bei der Ermittlung des Einigungsbereichs. Dies ergibt sich daraus, dass man auf beiden Seiten eine Art Unternehmensbewertung vornimmt, die ja in der Regel einen Geschäftswert umfasst.35 Dieses Ergebnis wird von den Befürwortern der ________________________ 33 Tz. 65 des OECD Diskussionsentwurfs v. 19.9.2008, Fundstelle siehe Fn. 1. 34 Tz. 94 des OECD Diskussionsentwurfs v. 19.9.2008, Fundstelle siehe Fn. 1. 35 Beachte aber § 1 Abs. 3 Satz 10, 3. Alt. AStG i. d. F. des Gesetzes zur Umsetzung steuerlicher EU-Vorgaben sowie zur Änderung steuerlicher Vorschriften; danach soll es bei Benennung eines wesentlichen immateriellen Wirtschaftsguts zu einer Einzelbewertung kommen, die naturgemäß keinen Geschäftswert beinhaltet.

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deutschen Regelung damit begründet, dass in einem solchen Fall mehr übertragen werde als Einzelwirtschaftsgüter, nämlich eine bestehende und funktionierende Organisationseinheit.36 Diese bestehende und funktionierende Organisationseinheit kreiere einen Mehrwert, der über den Wert der Einzelwirtschaftsgüter hinausgehe.37 Wenn man sich den Vorgang aber auf Basis des Fremdvergleichsgrundsatzes anschaut, dann setzt dieser Ansatz voraus, dass genau das Transferpaket, welches beim Abgebenden wegfällt, auch beim Übernehmer ankommt. Dies ist jedoch zweifelhaft. Es ist nämlich in der Regel so, und dies zeigt der Beispielfall anschaulich, dass das Transferpaket nicht beim Übernehmenden ankommt. Wird nämlich eine Fabrik geschlossen, wird die funktionierende Organisationeinheit ja gerade zerstört.38 Ein wichtiger Teil der Organisationseinheit ist z. B. die eingearbeitete Belegschaft. In dem beschriebenen Fall wird jedoch das Gros der Mitarbeiter entlassen und deshalb kann man schlechterdings nicht sagen, dass eine funktionierende Organisationseinheit von dem übertragenden Unternehmen auf das übernehmende Unternehmen übergeht.39 In Wirklichkeit wird eine neue Produktion aufgebaut, neue Mitarbeiter werden eingestellt, neue Genehmigungen werden organisiert, man kümmert sich um die Stromversorgung und den Wasseranschluss. Also all das, was vorher reibungslos „lief“ und was im bestehenden Unternehmen den Mehrwert ausgemacht hat, wird nicht übertragen, sondern neu geschaffen. Das bedeutet, dass die Nämlichkeit des Bewertungsobjekts bei einer Funktionsverlagerung verloren geht, weil das Bewertungsobjekt, welches im Inland wegfällt, niemals im Ausland ankommt.40 Es ist nicht auf beiden Seiten der Transaktion gleich und deshalb ist unter Fremdvergleichsgesichtspunkten die Bewertung, so wie sie im § 1 Abs. 3 AStG steht, nicht tragfähig. Das ergibt sich daraus, dass sich ja auch in der Rechtsprechung nunmehr durchsetzt, dass der Art. 9 der DBA deutschen

________________________ 36 BT-Drucks. 16/4841, 86, BR-Drucks. 220/67; Frotscher, FR 2008, 49 (52 f.); Schreiber, Ubg 2008, 433, (435). 37 BT-Drucks. 16/4841, 86, BR-Drucks. 220/67. 38 Kroppen in Kroppen (Hrsg.), Handbuch Internationale Verrechnungspreise, Teil I, FVerlV, Anm. 131. 39 Kroppen in Kroppen (Hrsg.), Handbuch Internationale Verrechnungspreise, Teil I, FVerlV, Anm. 131; Schreiber, Ubg 2008, 433 (435). 40 So auch Haas, Ubg 2008, 517 (522).

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nationalrechtlichen Vorschriften eine Schranke setzt.41 Dies gilt auch für die Regelungen zur Funktionsverlagerung, weil sich die Finanzverwaltung immer wieder darauf berufen hat, dass die Regelung kein Treaty Override wäre, sondern in vollem Einklang mit dem international anerkannten Fremdvergleichsgrundsatz stehe.42 Wenn sich also im Einzelfall herausstellt, dass die Regelung nicht kompatibel mit dem Fremdvergleichsgrundsatz ist, muss dieser vorgehen.

E. Berücksichtigung von Handlungsalternativen Ein weiteres Grundproblem im Zusammenhang mit dem Thema Funktionsverlagerung bzw. Business Restructuring ist, ob und wie Handlungsalternativen für die steuerliche Beurteilung eine Rolle spielen. Sowohl der OECD-Bericht als auch die deutschen Vorstellungen gehen für die Frage, ob ein bestimmtes Geschäft überhaupt anzuerkennen ist, und wenn es anzuerkennen ist für die Bestimmung des Werts, davon aus, dass man berücksichtigen müsse, welche Handlungsalternativen die Steuerpflichtigen hatten.43 Es ist jedoch zweifelhaft, ob ein solcher Ansatz mit verfassungsrechtlichen Grundsätzen in Einklang zu bringen ist und ob er insbesondere dem Leistungsfähigkeitsprinzip entspricht.44 Dazu folgendes Beispiel: Die in Deutschland ansässige A AG entschließt sich aufgrund ungewisser Marktentwicklung, ihre Produktion auf die Tochtergesellschaft B in Polen zu übertragen. Dies geschieht in der Form, dass sie die wesentlichen Risiken aus der zukünftigen Geschäftstätigkeit auf die polnische Tochtergesellschaft überträgt und im Gegenzug für die an diese überlassene Technologie eine Lizenz von 5 % vom Umsatz erhält, was dem ________________________ 41 FG Köln v. 22.8.2007 – 13 K 647/03, EFG 2008, 161; Kroppen in Kroppen (Hrsg.), Handbuch Internationale Verrechnungspreise, Teil I, FVerlV, Anm. 111; vgl. zum Meinungsstand und zur vorgenannten Entscheidung Eigelshoven in Vogel/Lehner, DBA, Art. 9 OECD-MA, Rz. 18 ff., 27; Baumhoff/Greinert, IStR 2008, 353 (357); Eigelshoven/Nientimp, DB 2003, 2307 (2309); eine höchstrichterliche Entscheidung steht allerdings noch aus, da es bislang an der Entscheidungserheblichkeit der Frage fehlte. In Ansehung des Streitstands in der Literatur: BFH v. 9.11.2005 – I R 27/03, BStBl. II. 2006, 564 = BFH/NV 2006, 995. 42 § 1 Abs. 3 Satz 13 AStG; BT-Drucks. 16/4841, 84 f.; BR-Drucks. 352/08, 1 f., 9 f. 43 § 3 Abs. 2 und § 7 FVerlV; BR-Drucks. 352/08, 18, 21 ff.; z. B. Tz. 25 f. des OECD Diskussionsentwurfs v. 19.9.2008, Fundstelle siehe Fn. 1. 44 Kroppen in Kroppen (Hrsg.), Handbuch Internationale Verrechnungspreise, Teil I, FVerlV, Anm. 132.

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Fremdvergleich entspricht. Die polnische Gesellschaft führt das Geschäft fort und verkauft die Produkte an die OEM. Schon in den alten Verwaltungsgrundsätzen zur Einkünfteabgrenzung von 1983 ist der Ansatz der Finanzverwaltung zu finden, dass in einem solchen Fall ein anderer Sachverhalt angenommen wird als derjenige, der tatsächlich umgesetzt worden ist.45 Obwohl es sich um einen Eigenproduzenten im Ausland handelt, wird die Besteuerung auf Basis der Annahme vorgenommen, es handele sich um eine verlängerte Werkbank.46 Die Frage, ob diese alternative Betrachtung eigentlich sachgerecht ist, stellt sich auch vermehrt im Zusammenhang mit Funktionsverlagerungen, bei deren Beurteilung auch häufig auf Handlungsalternativen abgestellt wird. Der OECD-Bericht erwähnt solche Handlungsalternativen an mehreren Stellen.47 Bei der Entscheidung, ob dies sachgerecht ist, sollte man zuerst daran erinnern, dass die OECDLeitlinien zu den Verrechnungspreisen von 1995 in den Tz. 1.36 ff. bestimmen, dass die Finanzverwaltung mit der Ausnahme von, vereinfacht gesprochen, Missbrauchsfällen, von dem verwirklichten Sachverhalt ausgehen soll und nicht von irgendeinem fiktiven Sachverhalt, der an dessen Stelle gesetzt wird. Insofern hatte die OECD – zumindest in den Leitlinien – einen ganz anderen Ausgangspunkt. Im Übrigen ist es im Leben immer so, dass man Handlungsalternativen hat. Man stelle sich einmal vor, man habe 20.000 Euro zur Anlage zur Verfügung. Dann stellt sich die Frage, ob man in festverzinsliche Wertpapiere oder in Aktien oder z. B. in einen Immobilienfonds investieren möchte. Es besteht also eine ganze Reihe von Handlungsalternativen. Das heißt aber nicht, dass solche Handlungsalternativen auch der Besteuerung zu Grunde gelegt werden dürfen. Man stelle sich weiter vor, in dem Beispielfall hätte man sich entschlossen, in Aktien zu investieren, dann käme es zu einem Börsencrash und es entstünden erhebliche Verluste und Dividenden würden nicht gezahlt. Im Rahmen einer Steuerprüfung wird der Sachverhalt untersucht und der Prüfer macht geltend, man ________________________ 45 BMF-Schreiben v. 23.2.1983 – IV C 5 - S-1341 - 4/83, BStBl. I 1983, 218, Tz. 2.1.2., weitere Anwendbarkeit bestätigt durch BMF-Schreiben v. 29.3.2007 „Schreiben zur Eindämmung der Normenflut“ IV C 6 – O – 1000/07/0018, BStBl. I 2007, 369. 46 BMF-Schreiben v. 23.2.1983 – IV C 5 - S-1341 - 4/83, BStBl. I 1983, 218, Tz. 3.1.3 Beispiel 3; Kroppen in Kroppen (Hrsg.), Handbuch Internationale Verrechnungspreise, Band I, W Rn. 32 ff. 47 Ein Beispiel dafür findet sich in Tz. 25 f. des OECD Diskussionsentwurfs v. 19.9.2008, Fundstelle siehe Fn. 1.

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hätte sich besser für festverzinsliche Wertpapiere entscheiden sollen und will – ungeachtet der tatsächlichen Investition – auf Basis der Handlungsalternative besteuern. Jeder würde wohl zustimmen, dass diese Vorgehensweise völlig absurd und undenkbar ist. Aber nichts anderes geschieht, wenn man, wie es die deutsche Finanzverwaltung oder der OECD-Bericht wollen, auf Basis von Realistically Available Options (realistisch verfügbaren Handlungsalternativen) besteuert. In diesem Fall ist die Vorgehensweise letztlich vergleichbar. Ein Steuerpflichtiger stand vor einer bestimmten Entscheidung, hat sich entschieden und die Finanzverwaltung will jetzt bei der Besteuerung einen anderen Sachverhalt zu Grunde legen. Dies ist äußerst bedenklich. Die Wahl einer Alternative im Entscheidungszeitpunkt hängt von der persönlichen Zukunftserwartung und der Risikobereitschaft des Handelnden ab. Wüsste man aber, wie sich die Zukunft entwickelt, gäbe es sicherlich unter verschiedenen Handlungsalternativen nur eine wirtschaftlich sinnvolle. Da dies aber keiner weiß, ist jede Entscheidung mit Unsicherheiten behaftet und deshalb kann niemand im Entscheidungszeitpunkt genau sagen, ob im Beispiel die Handlungsalternative 1 (verlängerte Werkbank) oder die Alternative 2 (Eigenfertiger) für den Steuerpflichtigen vorteilhafter ist. Wenn es zu einer Wirtschaftskrise kommt, ist ein fester stetiger Lizenzbetrag deutlich besser, da sich die geschäftlichen Verluste dann in Polen beim Lizenzfertiger realisieren. Umgekehrt mag in Boomzeiten die verlängerte Werkbank vorteilhafter sein. Aber dies weiß man im Entscheidungszeitpunkt eben nicht. Daher ist die bloße Tatsache, dass es Alternativen gibt, für die Besteuerung irrelevant. Man braucht vielmehr Kriterien, nach denen ausnahmsweise eine Handlungsalternative der Besteuerung zu Grunde gelegt werden darf. Dazu ist in der Betriebswirtschaftslehre die Theorie der sog. „dominanten Alternative“ entwickelt worden.48 Nur eine dominante Alternative kann für die Besteuerung eine Rolle spielen. Eine dominante Alternative ist eine Alternativhandlung, die unter jeder gedachten Zukunftsentwicklung zu einem für den Handelnden besseren Ergebnis führt als die Alternative, die tatsächlich gewählt wurde. In einem solchen Fall hätte die Finanzverwaltung das Recht, korrigierend einzugreifen, denn es wurde eine Alternative gewählt, die bei jeder denkbaren Zukunftsentwicklung zu einem schlech________________________ 48 Schneider, Investition, Finanzierung und Besteuerung, 7. Aufl. Wiesbaden 1992, 452 f.

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teren Ergebnis führt. Bei einem solchen Verhalten kann man wohl argumentieren, dass der Grund dafür im Gesellschafterinteresse gelegen haben muss. Aber nur dann, wenn sich eine solche dominante Alternative wirklich identifizieren lässt, darf man diese für die Besteuerung berücksichtigen. Es ist nicht ausreichend, schlicht zu fragen, ob es eine realistische Alternative gab, um diese dann der Besteuerung zu Grunde zu legen.

F. Atomisierung Ein weiteres, allerdings eher deutsches Problem, ist die Frage, wann die Schwelle zu einer steuerlich relevanten Funktionsverlagerung überschritten wird. Dies wird unter dem Stichwort „Atomisierung“ diskutiert.49 Dazu folgender Beispielfall: Der Reifenhersteller A produziert Reifen aller Größen für verschiedene Automobilhersteller und auch für Privatkunden. Er stellt zudem zahlreiche Reifenmodelle verschiedener Größen für die Autos des Herstellers B her. Hersteller B eröffnet ein neues Werk in Polen für den Kleinwagen Maus und verlangt von A, dass ein bestimmter Reifen der Größe 155/70 R 13, der zur Erstausstattung des Maus gehört, zukünftig in Polen in der Nähe der Autofabrik hergestellt wird, damit dieser „justin-time“ an das Band geliefert werden kann. Daraufhin gibt A die Produktion des Reifens mit dieser Größe für den Maus im Inland auf und lässt den Reifen bei der Tochtergesellschaft C in Polen fertigen. Für die dabei benutzte Reifentechnologie wird eine marktübliche Lizenz von C gezahlt und C erwirtschaftet einen Reingewinn nach Steuern in Höhe von Euro 10 Mio. in Polen. Die Frage ist, ob das, was hier verlagert wird, nämlich die Produktion eines Reifens einer bestimmten Größe für ein Modell eines Herstellers, schon eine Funktionsverlagerung ist. Die Finanzverwaltung bejaht das. Der veröffentlichte Erlassentwurf vertritt hierbei eine extreme Atomisierung der Definition der Funktion, so dass auch ein kleiner Teil einer Funktion, z. B. ein kleiner Teil einer Produktion, schon eine vollständige Funktion für die Anwendung der Rechtsfolgen der neuen gesetzlichen Regeln darstellen kann. Eine solche Betrachtungsweise würde ________________________ 49 Entwurfs eines BMF-Schreibens (Verwaltungsgrundsätze – Funktionsverlagerung) v. 17.7.2009 – IV B 5, Tz. 2.1.1.

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dazu führen, dass man es im alltäglichen Geschäftsverkehr mit unzähligen Funktionsverlagerungen zu tun hätte. Da diese gemäß § 3 Abs. 2 GAufzV als außergewöhnliche Geschäftsvorfälle definiert sind, unterlägen unzählige Funktionsverlagerungen den verschärften Dokumentationspflichten. Dies wäre von den Steuerpflichtigen gar nicht mehr zu bewältigen. Abgesehen von diesen praktischen Problemen widerspricht die Atomisierung dem Willen des Gesetz- und Verordnungsgebers, wie er sich aus der historischen Entwicklung ergibt. Vor der endgültigen Fassung der Funktionsverlagerungsverordnung gab es verschiedene Vorentwürfe. In dem Entwurf vom 17.12.200750 stand noch, dass die Rechtsfolgen anwendbar seien auf eine Funktionsverlagerung und auf die Verlagerung von Teilen einer Funktion. Dazu besagte die damalige Begründung zu diesem Verordnungstext, dass eine teilweise Funktionsverlagerung z. B. dann vorliegt, wenn statt eines Gesamtvertriebs der Vertrieb eines Produktes verlagert wird. Nach heftiger Kritik aus der Wirtschaft wurde im endgültigen Text dieser Teil sowohl in der Verordnung als auch in der Begründung gestrichen.51 Daraus muss für den Rechtsanwender folgen, dass man an der bisher vertretenen Auffassung nicht mehr festhalten will. Im Übrigen ergibt sich das gleiche Ergebnis auch aus § 1 Abs. 1 Satz 2 FVerlV und der Gesetzesbegründung zu § 1 Abs. 3 AStG. Beide verlangen für eine Funktion den organischen Teil eines Unternehmens, allerdings ohne dass ein Teilbetrieb vorliegen muss. Je mehr man aber atomisiert und dann nur noch kleine Teilchen betrachtet, desto weiter weg bewegt man sich von dem, was man einen organischen Teil nennen könnte. Deshalb ist m. E. das Gesetz und die Funktionsverlagerungsverordnung so zu lesen, dass man zwar keinen Teilbetrieb im steuerlichen Sinne mit all seinen komplizierten Voraussetzungen braucht, aber dass doch etwas vorliegen muss, was in die Nähe eines Teilbetriebs kommt. Nur dann kann es überhaupt gerechtfertigt sein, auch einen Geschäftswert zu erfassen, da nur etwas, was einem Teilbetrieb nahe kommt, überhaupt einen Geschäftswert haben kann. ________________________ 50 Wortlaut § 1 Abs. 2 S. 2 des Entwurfs einer FVerlV v. 17.12.2007„Eine Funktionsverlagerung kann auch vorliegen, wenn das übernehmende Unternehmen die Funktion nur zeitweise oder nur teilweise übernimmt“. 51 Vgl. Wortlaut des § 1 Abs. 2 Satz 2 des Entwurfs einer FVerlV vom 18.3.2008, „Eine Funktionsverlagerung kann auch vorliegen, wenn das übernehmende Unternehmen die Funktion nur zeitweise übernimmt“.

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G. Ausblick Die vorstehenden Ausführungen haben gezeigt, dass die Diskussion über Funktionsverlagerungen und Business Restructurings längst nicht abgeschlossen ist. Insbesondere sind die endgültigen Verwaltungsgrundsätze zu dem Thema bisher nicht veröffentlicht. Insofern muss man also auf der deutschen Seite genau beobachten, wie sich die Dinge weiter entwickeln. Das gilt gleichermaßen für den OECD-Bericht. Dieser liegt nach wie vor nur in Entwurfsform vor und hier wird es demnächst einen neuen Entwurf geben. Der endgültige OECD-Bericht ist deshalb von großer Bedeutung, weil die OECD-Auffassung in Verständigungsund Schiedsverfahren sehr oft zur Grundlage von Einigungen gemacht wird. Man muss sicherlich nicht Prophet sein, um vorherzusagen, dass die Zahl solcher Verfahren gerade auch zu dem hier dargestellten Thema zunehmen wird. Deutschland führt die Statistik52 mit 526 offenen Verfahren im Jahr 2007 deutlich vor den USA (500 offene Fälle), einer wesentlich größeren Wirtschaftsmacht, an, wobei England 106 und Frankreich 233 offene Fälle haben. Wenn Deutschland weiter mit so komplexen und streitanfälligen Regelungen wie zur Funktionsverlagerung voranschreitet, werden wir in Kürze sicherlich 1.000 offene Verfahren haben.

________________________ 52 Statistik der OECD, Stand 11.1.2010 unter http://www.oecd.org/document/7/ 0,3343,en_2649_37989739_43754119_1_1_1_1,00.html.

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Business Restructuring und Funktionsverlagerung Podiumsdiskussion Leitung Prof. Dr. Jürgen Lüdicke Rechtsanwalt, Steuerberater, International Tax Institute, Universität Hamburg Teilnehmer Hans-Henning Bernhardt Rechtsanwalt, Beiersdorf AG, Hamburg

Prof. Dr. Dietmar Gosch Vorsitzender Richter am Bundesfinanzhof, München

Prof. Dr. Heinz-Klaus Kroppen, LL.M. Rechtsanwalt, Steuerberater, Deloitte & Touche GmbH, Düsseldorf

Dr. Friedrich Loschelder, LL.M. Richter am Finanzgericht, Hamburg

Dr. Carl Friedrich Vees Ministerialrat im Finanzministerium Baden-Württemberg, Stuttgart

Prof. Dr. Lüdicke Herr Kroppen, vielen Dank. Ich denke, wir haben einige Themen. Ich nehme mal direkt den letzten Punkt auf, dass die endgültige Funktionsverlagerungsverordnung1 noch nicht veröffentlicht ist und man auf der deutschen Seite genau beobachten muss, wie sich die Dinge weiter entwickeln, da der Entwurf des Schreibens2 zurückgezogen ist. Daher zunächst eine Faktenfrage an Herrn Vees: Es gab nach der Bundestagswahl eine Neubesetzung an der Spitze des BMF. So etwas hat üblicherweise weitere Folgen. Wie ist der Zeitplan? Das wird sicher zunächst ________________________ 1 Verordnung zur Anwendung des Fremdvergleichsgrundsatzes nach § 1 Abs. 2 des Außensteuergesetzes in Fällen grenzüberschreitender Funktionsverlagerungen (FVerlV) v. 12.8.2008, BGBl. I 2008, 1680. 2 Entwurf des BMF-Schreibens „Grundsätze der Verwaltung für die Prüfung der Einkunftsabgrenzung bei nahestehenden Personen in Fällen von grenzüberschreitenden Funktionsverlagerungen“ – (Verwaltungsgrundsätze Funktionsverlagerung) v. 17.7. 2009.

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dann mit den Ländern abgestimmt, wenn der Entwurf des BMF-Schreibens, möglicherweise die Verordnung geändert werden soll. Wann wird man weiteres sehen? Dr. Vees Zunächst: Herr Kroppen sagt, der Entwurf sei zurückgezogen worden. Das ist vielleicht nicht so ganz die richtige Wortwahl. Dieses BMFSchreiben ist fertig gestellt. Die Arbeiten sind aus unserer Sicht zu Ende gekommen. Wir hätten es jetzt veröffentlichen können, wenn nicht im Koalitionsvertrag der Auftrag formuliert wäre, die Funktionsverlagerung im Hinblick auf Deutschland als Standort für Forschung und Entwicklung zu überdenken. Der Koalitionsvertrag sieht zudem vor, dass dies unverzüglich passieren soll. Alle die Punkte, die im Koalitionsvertrag mit diesem Wort „unverzüglich“ o. ä. versehen waren, sind im Wachstumsbeschleunigungsgesetz aufgegriffen worden – bis auf die Funktionsverlagerung. Jetzt kann man natürlich sagen, vielleicht liegt das daran, dass man diesen Auftrag nicht unbedingt auf gesetzlicher Ebene umsetzen muss, sondern möglicherweise nur auf Verordnungsebene oder auf Ebene des BMF-Schreiben. Meiner Einschätzung nach wird im Moment aber noch darüber nachgedacht, wie dieser Passus zu verstehen ist und wie man ihn umsetzt. Prof. Dr. Lüdicke Hoffentlich muss später nicht die Rechtsprechung auch noch auslegen, was in Koalitionsverträgen steht. Ich schließe eine zweite Frage an: Wenn wir zu Diskussionszwecken einmal unterstellen, dass noch etwas überarbeitet wird, wird man dann das OECD-Papier zum Business Restructuring abwarten oder bleibt es dabei, dass man hier vorpreschen will? Dr. Vees Ich habe mich schon immer gegen dieses Wort „Vorpreschen“ gewehrt. Ich habe versucht, anhand dieses Discussion Drafts des OECD Transfer Pricing Forums nachzuvollziehen, ob denn tatsächlich so große Differenzen festzustellen sind. Da stößt man z. B. auf die Tz. 46 und dort heißt es:

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„Business restructurings involve transfers of functions, assets and/or risks with associated profit/loss potential …“3 Da steckt also durchaus der Gedanke von Gewinnpotenzial und Verlustpotenzial drin. Jetzt können wir lang darüber diskutieren, ob der OECD-Entwurf signifikant von dem abweicht, was im nationalen Recht geregelt wurde. Klar scheint mir zu sein, dass beide Regelungen in dieselbe Richtung gehen. Unabhängig davon, ob man nun die deutsche Regelung als von der OECD-Regelung gedeckt hält, sind wir gehalten, § 1 Abs. 3 AStG und die Verordnung4 mit Verwaltungsanweisungen zu konkretisieren. Abwarten würde bedeuten, dass man eine Hängepartie verlängert. Prof. Dr. Lüdicke Gut, eine Alternative wäre vielleicht gewesen, überhaupt erst mal zu warten, bis die OECD fertig ist. Herr Kroppen hat dargestellt, dass noch Vieles im Fluss und in der Diskussion ist. Herr Loschelder, das „Ausfüllen“ von Gesetzen und Verordnungen mit BMF-Schreiben nimmt ein ungeahntes Ausmaß an. Wir haben immer mehr Gesetze, bei denen durchaus zum Vorteil der Steuerpflichtigen das eine oder andere im BMF-Schreiben geregelt wird. Wie gehen Sie damit als Richter um? Wenn ein Finanzamt sich nicht daran hält, was ja gelegentlich vorkommt, solche Fälle sind schon bei der Gerichtsbarkeit gewesen, hat der Steuerpflichtige dann überhaupt eine Chance auf verlässlichen Rechtsschutz? Dr. Loschelder Zunächst einmal bin ich froh, dass es wahrscheinlich noch eine Weile dauern wird, bis wir uns gerichtlich damit werden auseinandersetzen müssen. Es bleibt noch Zeit, zu lesen und zu lernen. Auf der anderen Seite werden wir, wenn dann tatsächlich etwas gerichtlich zu entscheiden sein wird, uns zügig damit befassen, schon deshalb, weil wir inzwi________________________ 3 Discussion Draft On The Transfer Pricing Aspects of Businiess Restructuring, 19 September 2008 – 15 February 2009, Tz. 46 Anfang. 4 Verordnung zur Anwendung des Fremdvergleichsgrundsatzes nach § 1 Abs. 2 des Außensteuergesetzes in Fällen grenzüberschreitender Funktionsverlagerungen (FVerlV) v. 12.8.2008, BGBl. I 2008, 1680.

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schen mit den durchschnittlichen Verfahrenszeiten unter 12 Monaten liegen. Was den Rechtsschutz des Bürgers angeht: Es wird immer wieder die Frage nach der Verbindlichkeit von Verwaltungsvorschriften, wie etwa BMF-Schreiben, aufgeworfen. Es wird eine Unterscheidung zwischen norminterpretierenden und normkonkretisierenden Vorschriften gemacht mit dem Versuch, den normkonkretisierenden Verwaltungsvorschriften – und diesen Fall haben wir wohl hier vorliegen – eine Außenwirkung zuzusprechen, die auch für die Gerichte verbindlich sein soll. Das hätte natürlich in dem Fall, den Sie ansprechen, für den Bürger die positive Wirkung, dass er sich auf die jeweilige Verwaltungsvorschrift berufen könnte. Ich halte diese Unterscheidung gleichwohl nicht für tragfähig. Das Bundesverfassungsgericht hat das in anderem Zusammenhang – in Bezug auf Verkehrserfassungssysteme5 – gerade noch einmal bestätigt: Mit Verwaltungsvorschriften wirken vorgesetzte Behörden auf ein einheitliches Verfahren oder eine einheitliche Gesetzesanwendung der untergeordneten Behörden hin. Sie sind kein Gesetz und können nur Gegenstand, niemals Maßstab der richterlichen Kontrolle sein. Der einzige Weg, dass sich ein Steuerpflichtiger darauf berufen könnte, wäre daher über eine Selbstbindung der Verwaltung, also dadurch, dass die Vorschriften dauerhaft und in vielen Fällen entsprechend angewendet werden. Prof. Dr. Lüdicke Herr Bernhardt, Funktionsverlagerung, Business Restructuring – wie schaut die Industrie auf den derzeit in Deutschland erreichten Stand, wenn ich das mal so nennen darf? Bernhardt Sie haben vorhin hierzu schon eine Eröffnungsbemerkung gemacht. Vor drei Jahren haben wir genau an diesem Ort über dieses Thema gesprochen. Und wenn ich so zurückblicke, dann sind wir fast wieder an demselben Punkt angekommen. Damals hat Herr Naumann auf meine Frage,6 warum er denn nicht warten wolle bis die OECD den entsprechen________________________ 5 BVerfG v. 11.8.2009 – 2 BvR 941/08, NJW 2009, 3293. 6 Bernhardt in Lüdicke (Hrsg.), Besteuerung von Unternehmen im Wandel, Köln 2007, S. 209.

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den Bericht vorlegt, gesagt,7 man könne nicht weiter abwarten, es gäbe so viele dringende Fälle, die einer Lösung bedürften. Deswegen müsse Deutschland vorangehen. Er hat auch noch dazu gesagt, und das war sehr interessant, dass er letztlich davon ausgehe, dass es einen Gleichklang geben wird zwischen dem, was Deutschland regeln wird und dem, was der OECD Restructuring Report letztlich sagen wird. Wir sehen, dass das so nicht gekommen ist. Soweit der kurze Rückblick. Wo stehen wir aus grundsätzlicher Sicht? Ich will jetzt gar nicht auf die vielen Details eingehen, die hier noch zu besprechen sind, wo die vielen Abgrenzungsthemen liegen, sondern nochmal zu dem Punkt zurückkommen, wo es am meisten drückt. Einen Punkt möchte ich ganz deutlich herausstellen. Das klang so auch ein wenig bei Ihnen durch, Herr Vees. Wir müssen jetzt erst einmal auslegen, was im Koalitionsvertrag wirklich steht, was eigentlich mit der Ausrichtung der Regelung zur Funktionsverlagerung im Hinblick auf den Forschungsstandort Deutschland gemeint ist. Ich glaube, da müssen wir aufpassen, dass wir nicht ein neues Thema, und dann in falscher Richtung, eröffnen. Was wir meinen oder genauer gesagt, was die Koalition damit meint, ist sicherlich Folgendes: Es hat sich gezeigt, dass die große Unsicherheit bei der Prüfung, ob Funktionsverlagerungen vorliegen, letztlich dazu führen wird, dass um Deutschland ein Bogen geschlagen wird. Wenn ich mit einer neuen Technologie starte, dann vorsichtigerweise nicht mehr in Deutschland und auch nicht mehr mit der Entwicklung. Ich werde von vornherein ins Ausland gehen, weil ich am Ende des Tages nicht weiß, ob ich anderenfalls nicht Funktionsverlagerungen in Hülle und Fülle habe. Also lasse ich es lieber gleich und gehe nach draußen. Das ist im Grunde genommen der Grundgedanke. Das Thema Forschungsstandort steht hier nur pars pro toto für das grundsätzliche Problem, ob wir uns eines Tages volkswirtschaftlich „ins Knie schießen“. Das ist die Grundproblematik und die werden wir natürlich mit einer Fülle von Auslegungsregelungen nicht vernünftig klären. Das Grundproblem bleibt. Und das ist unsere größte Sorge. Natürlich gibt es jetzt einige Klärungen, was als Funktionsverdoppelung gilt oder nicht. Aber am Ende sind wir nicht viel weiter gekommen. Ich glaube, dieses hervorragende Beispiel von ________________________ 7 Naumann in Lüdicke (Hrsg.), Besteuerung von Unternehmen im Wandel, Köln 2007, S. 209 f.

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Herrn Kroppen zur Atomisierung zeigt ganz besonders deutlich, was uns da blüht: nämlich wirklich diese tausendfachen vielen kleinen Funktionsverlagerungen, die keiner mehr im Griff hat. Denn es ist meist nicht so, dass ganz einfach eine Produktion, ein abgeschlossener Teil über die Grenze geht. Produktionen sind überregional organisiert, sind letztlich auch, wenn Sie so wollen, atmende Organismen, in denen viele kleine Veränderungen stattfinden, die sich in der Summe wertmäßig oft ausgleichen. Das ist das größte Problem, dass Sie nachher in einer Fülle von Tatbeständen stecken und im Einzelnen prüfen und dokumentieren müssen, ob das, was ich jetzt gerade im Produktionsverbund eines Konzerns in Europa an kleinen Dingen verändere, jeweils eine Funktionsverlagerung ist. Das kann kein Mensch im Griff haben, geschweige denn dokumentieren. Dr. Vees Ich hatte um’s Wort gebeten, weil es mich danach drängt, zu den ganzen Punkten, die von Herr Kroppen hier angesprochen wurden, etwas zu sagen. Natürlich können wir jetzt nicht alles nochmal vom Grundsatz her neu beleuchten. Aber vielleicht seien mir doch einige Hinweise erlaubt. Herr Bernhardt, ich verstehe, was Sie meinen. Auf der anderen Seite muss man doch sagen, dass § 1 Abs. 3 AStG schon Gesetz ist. Die gesetzliche Regelung zur Funktionsverlagerung ist schon verabschiedet. Sie muss schon seit 2008 angewandt werden. Wenn man jetzt sagt, wir sollen noch warten, bis die OECD soweit ist, dann müsste man das Gesetz aussetzen oder abschaffen. Diese Alternative steht meines Erachtens im Moment nicht im Raum. Ich bin Herrn Kroppen sehr dankbar, dass er § 1 Abs. 3 AStG insgesamt beleuchtet hat, so dass man auch sieht, dass dort nicht nur die Funktionsverlagerung geregelt ist. Der Absatz fängt, Sie haben es dargestellt, mit der Bewertungskaskade an, die vom unmittelbaren Vergleich über den mittelbaren Vergleich zum hypothetischen Vergleich übergeht. Erst in Satz 9 kommt die Funktionsverlagerung zur Sprache. Und dort ist nur geregelt, dass beim hypothetischen Fremdvergleich für die Bewertungsmethode die Besonderheit gilt, dass ein Transferpaket zu bilden ist, wenn es um eine Funktionsverlagerung geht.

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Ich darf vielleicht noch auf zwei Dinge hinweisen, auf die ich in dem Referat noch gewartet hatte. Zum einen möchte ich darauf hinweisen, dass es bei der gesamten Thematik der Funktionsverlagerung um den Fremdvergleich und um einen Verrechnungspreis geht. Das sind doch Dinge, mit denen wir schon seit Jahr und Tag umgehen. Stichwort: „Handlungsalternative“: Sie haben, Herr Kroppen, das sehr schön dargestellt. Aber man muss doch sehen, dass die Handlungsalternative schon immer eine legitime Überlegung im Rahmen des Fremdvergleichs war. Stichwort „Doppelbesteuerung“: Wir haben bei Verrechnungspreisen stets die Gefahr einer Doppelbesteuerung und damit die Frage, ob man sie im Verständigungsverfahren beseitigen kann. Zum anderen möchte ich auf die Frage der Atomisierung der Funktion eingehen. Das ist bestimmt nicht unproblematisch. Aber dieses Beispiel einer neu erbauten Fabrik für die Herstellung nur eines bestimmten Reifentyps gibt hierfür doch nicht viel her. Wenn auf diese neue Fabrik Chancen und Risiken übergehen, werden Risikoüberlegungen angestellt, da werden Ertragsüberlegungen angestellt. Da werden Beratungsund Entscheidungsvorlagen an die Geschäftsführung angefertigt. Die Ermittlung der Chancen und Risiken und die Dokumentation darf da kein Problem sein! Herr Kroppen, wenn Sie sagen, das ist doch ganz gut, wenn die Anfangsverluste in Polen anfallen, da muss man doch sehen, dass es im Falle der Funktionsverlagerung typischerweise darum geht, dass diese Anfangsverluste nicht anfallen, weil die neue Fabrik das im Inland aufgebaute know-how zu fremdunüblichen Bedingungen zur Verfügung gestellt bekam. Werden keine wesentlichen immateriellen Wirtschaftsgüter übertragen oder überlassen, kann man nach der Einzelwirtschaftsgutbewertung vorgehen. Sie haben es gesagt, Sie haben sich auf § 2 Abs. 2 der Verordnung bezogen. Man könnte es auch aus § 1 Abs. 3 Satz 10 2. Var. AStG ableiten. Wir brauchen die Transferpaketbewertung nicht, wenn nur unbedeutende immaterielle Wirtschaftsgüter übertragen oder überlassen werden. Wenn aber wesentliche immaterielle Wirtschaftsgüter übertragen oder überlassen werden, dann kommt es oftmals gar nicht erst zu Anfangsverlusten. Ich muss mich bremsen. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass man bei diesem Thema nicht vorsichtig genug sein kann. Ich möchte auch dafür werben, dass wir mit weniger Emotion und mit etwas mehr Ruhe vorgehen und dass wir uns darauf besinnen, dass es letztlich um eine be-

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sondere, betriebswirtschaftlich basierte Bewertungsmethode zur Ermittlung eines Verrechnungspreises geht. Prof. Dr. Kroppen Es wird Sie nicht wundern, dass ich vielem von dem, was Herr Vees gesagt hat, nicht zustimmen kann. Ich glaube, es führt zu weit, wenn ich jetzt noch einmal auf jedes Detail eingehe. Worum geht es im Kern? Ich denke, wir sind uns einig, dass im Mittelpunkt der ganzen Diskussion die wesentlichen immateriellen Wirtschaftsgüter stehen, weil es ohne Übertragung wesentlicher immaterieller Wirtschaftsgüter schon per definitionem keine Funktionsverlagerung mit den entsprechenden Rechtsfolgen geben kann. Die Frage ist damit, und deshalb ist es auch wichtig, was in dem Koalitionsvertrag steht, wann es gerechtfertigt ist, die klassische Methode zur Nutzung immaterieller Wirtschaftsgüter – die Lizenz – anzuwenden. Kein Mensch wird behaupten, dass, wenn im Inland geschaffene immaterielle Wirtschaftsgüter im Ausland genutzt werden, das umsonst ist. In der Vergangenheit ist hier die klassische Methode gewesen, für diese Nutzung eine Lizenzgebühr zu verlangen. Diese Lizenzgebühr kann auf Basis verschiedener Verrechnungspreismethoden bestimmt werden. Die entscheidende Frage ist: Wann kippt das Ganze in eine Funktionsverlagerung mit einem Transferpaketansatz, bei der man in einer ganz anderen Bewertungssystematik ist? Einer Bewertungssystematik, bei der Standortvorteile im Inland besteuert werden, die im Ausland entstehen, und wo die Ausländer sagen werden, dass dies ihre Rahmenbedingungen sind, die sie gerne besteuern würden. Wann ist also die Grenze überschritten, dass gerechtfertigt sein kann, im Inland zu besteuern? Genau da beginnen die Probleme: Wenn man anfängt, das Ganze immer kleinteiliger zu betrachten, zu atomisieren, dann kann in Deutschland gar nicht mehr geforscht werden, weil die klassische Methode zur Nutzung inländisch kreierter Forschungsergebnisse im Ausland, die Lizenz, völlig ausgeschlossen wäre und man ständig nur noch in der Bewertung von Transferpaketen denken würde, die zwangsläufig – das ist ja gerade der Sinn der ganzen Regelung – im Ergebnis zu deutlich höheren Werten führen würde. Das muss man klar erkennen: Wenn man sich die Bewertungsmethodik anschaut, dann ist diese an eine Unternehmensbewertung angelehnt. Wenn man dann noch im Zweifel von einem unbegrenzten Bewertungszeitraum ausgeht, kommt es zu dem bekannten Hockeystick-Effekt 174

Podiumsdiskussion – Business Restructuring und Funktionsverlagerung

und die Werte gehen richtig hoch. Wenn man das mit einer normalen Lizenz vergleicht, kommt man zu völlig anderen Ergebnissen. Deshalb steht dieses Problem zu Recht im Koalitionsvertrag, weil es für meine Begriffe ein weiterer Sargnagel für den Investitions- und Forschungsstandort Deutschland ist, wenn getätigte Forschungsinvestitionen nicht mehr zu vernünftigen Bedingungen im Konzern auch im Ausland genutzt werden können. Dr. Welling8 Herr Vees, eine ganz kurze Anmerkung wegen der Emotionalität des Themas. Es ist klar, wenn so ein Prozess über drei oder vier Jahre läuft und in der ein oder anderen Situation immer wieder kleine Verschärfungen dazukommen, dann ist der Steuerpflichtige natürlich gehalten, sich am Gesetzestext zu orientieren. Er ist dazu allerdings nicht in der Lage. Warum ist er nicht in der Lage? Weil es bislang keine Ausführungsbestimmungen zur Funktionsverlagerung gibt, obwohl die Regelung seit dem 1.1.2008 in Kraft ist. Dies ist auf den Umstand zurück zu führen, dass die Finanzverwaltung selbst nicht weiß, was unter dem Begriff der Funktion zu verstehen ist. Die schädliche Konsequenz für das Investitionsverhalten hat Herr Bernhardt bereits angesprochen. Wenn ich nicht weiß, was eine Funktion ist, daran jedoch eine Rechtsfolge knüpfe, habe ich nicht die Möglichkeit, einem ausländischen Investor aufzuzeigen, wie er sein Investitionsverhalten in Deutschland steuern kann. Die Situation lässt sich sicherlich nicht mit einem Erlassentwurf lösen, indem ich beispielsweise durch die USA reise und mit einem Erlassentwurf wedele und sage, es hat sich durch ein verwaltungsinterne Anweisung einiges geändert. Damit werden Sie dem Investor sicherlich kein deutliches Signal geben. Aber das war eigentlich nur eine Vorbemerkung. Mir ging es eigentlich um die Handlungsalternativen, die Sie genannt haben, Herr Kroppen, da würde ich Ihnen zustimmen. Man kann ja nicht das Investitionsverhalten eines Steuerpflichtigen im Nachhinein unmittelbar selbst dadurch steuern, dass andere Handlungsalternativen aufgezeigt werden. Besondere Bedeutung gewinnt hier die dominante Handlungsalternative mit Blick auf die Atomisierung der Funktionsverlagerung, die Sie auf einem weiteren Chart darstellen. Ich glaube, dass diese beiden Punkte ganz ________________________ 8 Berthold Welling, BDI, Berlin.

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eng miteinander verzahnt sind: Atomisierung auf der einen Seite und Handlungsalternative auf der anderen Seite. Denn die Handlungsalternative bezieht sich immer auf die Alternativen innerhalb eines Gesamtkonzepts. Wenn allerdings der Funktionsverlagerungsbegriff so eng gefasst ist, dass er atomisiert ist, dann habe ich keinen Spielraum mehr auszuweichen und auf eine dominante Handlungsalternative zu verweisen. In diesem Zusammenhang sehe ich die sog. dominante Handlungsalternative kritisch. Das in der gebotenen Kürze. Prof. Dr. Frotscher9 Herr Kroppen, als ich Ihre Kritik an den Handlungsalternativen gehört habe, hatte ich den Eindruck, dass Sie ein Problem aufwerfen, das gar nicht vorhanden ist. Nachdem ich Herrn Vees gehört habe, muss ich sagen, dieses Problem ist doch vorhanden. Ich bin eigentlich ein großer Befürworter der Handlungsalternativen, weil dies genau die Art ist, wie Parteien bei Verhandlungen im Arm’s-Lengths-Verhältnis denken. Um ein Beispiel zu nennen: Wenn ich heute, sagen wir mal, ein Haus oder ein Grundstück verkaufen will, dann prüfe ich, was für Alternativen ich habe. Die Alternativen für mich wären etwa ein Verkauf an A oder B oder oder Bestellung eines lebenslangen Wohnrechts oder ähnliches. Die Entscheidung treffe ich danach, welche Alternative, die ein Vertragspartner zu akzeptieren bereit ist, die für mich günstigste ist. Entsprechend muss auch der steuerliche Verrechnungspreis unter Berücksichtigung der jeder Vertragspartei zur Verfügung stehenden Alternativen bestimmt werden. Das Problem dabei ist, glaube ich, dass der Begriff der Handlungsalternativen von der Finanzverwaltung falsch gesehen wird. Ihr Beispiel mit der verlängerten Werkbank zeigt das ganz typisch. Die Entscheidung, ob ein Unternehmen das wirtschaftliche Risiko einer Produktion auf eigene Rechnung nehmen will oder ob es lieber lizensiert und eine Lizenzzahlungen einnimmt, diese Entscheidung geht die Finanzverwaltung überhaupt nichts an. Ich sage das ganz bewusst so scharf. Eine solche Entscheidung ist eine strategische Entscheidung des Unternehmers, die nur der Steuerpflichtige zu treffen hat und die die Finanzverwaltung auch nicht zu hinterfragen hat. Um dies auf Ihr Beispiel von der verlängerten Werkbank anzuwenden: Ein deutscher Unter________________________ 9 Prof. Dr. Gerrit Frotscher, Steuerrecht, Universität Hamburg, IIFS.

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nehmer, der mit der inländischen Eigenproduktion gerade Break Even operiert, hätte die Alternativen entweder so weiter zu produzieren ohne große Gewinnchancen, er könnte Rationalisierungen durchzuführen, um einen angemessenen Gewinn zu erzielen, oder er könnte die Produktion ganz einstellen. Das sind die ihm zur Verfügung stehenden Alternativen, und nur diese Alternativen können für die Bewertung der Funktionsverlagerung zugrunde gelegt werden. Die Verlagerung der Produktion in ein anderes Land auf der Basis der verlängerten Werkbank mit der Folge, die Standortvorteile des Auslandes im Inland zu erfassen, ist aus tatsächlicher und rechtlicher Sicht keine mögliche Alternative, weil Deutschland diese Standortvorteile nicht hat und sie deshalb für das Unternehmen nicht zur Verfügung stehen. Wenn die Schließungsalternative ausgeklammert wird, hätte der inländische Unternehmer nur die Möglichkeit, zu rationalisieren und damit auf lange Sicht eine moderate Kapitalverzinsung zu erreichen. Wenn dieser Gewinn nach Abzug der Rationalisierungskosten, sagen wir, 5 Mio. Euro pro Jahr beträgt, dann ist für diesen Unternehmer die realistische Alternative: Schließung mit Schließungskosten und künftigen Gewinn von Null oder Rationalisierung mit künftigem Gewinn von 5 Mio. Euro pro Jahr, niemals aber die, sagen wir, 50 Mio., die bei einer Verlagerung der Produktion in ein Land mit niedrigerer Kostenstruktur erwirtschaftet werden könnten. Die Alternative für ein im Inland operierendes Unternehmen ist immer nur das, was das deutsche Unternehmen in Deutschland realisieren könnte. Wenn also die Alternative für das deutsche Unternehmen in meinem Beispiel ein Gewinn von 5 Mio. Euro durch Rationalisierung ist, dann muss das Entgelt für die Verlagerung der Produktion ins Ausland auf dieser Basis errechnet werden, aber unter keinen Umständen auf der Basis eines Gewinns, den das ausländische Unternehmen machen kann. Diese Alternative steht dem deutschen Unternehmen nicht zur Verfügung. Prof. Dr. Lüdicke Vielen Dank, Herr Frotscher. Ich glaube, das ist ein ganz entscheidender Punkt. Herr Kroppen, ich hatte Sie eben so verstanden: Sie haben in Abrede gestellt, dass – jedenfalls in den Normalfällen der Funktionsverlagerung – im Ausland das ankommt, was hier weggeht. Sie haben gesagt, die Finanzverwaltung tut im Grunde gedanklich so, als ob wir letztlich eine Betriebsübertragung hätten. Betriebsübertragung heißt going concern. Es gibt einen Betrieb, es wechselt der Eigentümer, aber 177

Podiumsdiskussion – Business Restructuring und Funktionsverlagerung

der Betrieb bleibt der gleiche. Und genau das passiert eben nicht. Dazu würde ich gern nochmal Herrn Vees fragen, ob die Finanzverwaltung der Meinung ist, dass die Übertragung des fortgeführten Betriebs auf einen anderen Eigentümer, bei der selbstverständlich der Betrieb mit allem Goodwill usw. übergeht, wirklich genau das gleich ist wie die Schließung eines Betriebes hier und der Neuaufbau – eventuell mit den gleichen Kunden und mit sonst irgendwas, auch mit Know-how – in Polen, wo aber im Grunde, wie Herr Kroppen es dargestellt hat, vom Strom- und Wasseranschluss bis zu workforce etc. alles neu geschaffen werden muss. Dr. Vees Herr Kroppen, Sie hatten diesen Gedanken mit dem Stichwort der „Nämlichkeit“ bezeichnet. Ich habe da bislang viel – wie soll ich sagen – einfacher strukturiert gedacht. Das muss ich einräumen. Grundlage ist für mich der Fremdvergleich. Ich frage mich, was würde ein fremder Dritter, ein Interessent, bezahlen, wenn ich ihm dies und das und jenes überlasse/übertrage. Da kommt einer und sagt zu mir: „Ich würde gerne das Know-how und die Maschinen usw. zur Fertigung des Reifens 155, 165 bis 195 von Dir kaufen. Was brauche ich dafür?“ Der kommt nicht mit einer Einkaufsliste zu mir, auf der die einzelnen Positionen aufgeführt sind, sondern sagt: „Ich möchte von Dir dazu instand gesetzt werden, dass ich diese Sache xy in eigener Regie produzieren kann, und zwar vom ersten Tag an, ohne Anfangsverluste. Gib mir auch noch Deine Kundenkartei und schick mir noch ein paar Mitarbeiter mit, die meine neuen Angestellten einlernen.“ Und dann gehen meine Mitarbeiter zu dem Interessenten und sagen dem, was er braucht, welche Genehmigungen er braucht, wie er den Produktionsablauf zu organisieren hat, d. h. wo er einen Wasseranschluss braucht, wo er Strom braucht, wie er die Halle aufbauen muss, damit die Lieferanten mit ihren Lastwagen an der Rampe auf der einen Seite anfahren können und auf der anderen Seite der Halle dann die fertigen Produkte abgeholt werden können. Da brauche ich einen Produktionsfachmann, der weiß, wie ein Produktionsablauf organisiert wird, wie der Materialstrom läuft, wie der Ausschuss minimiert werden kann usw. Das alles kauft er bei mir. Und da frage ich ihn: „Was bist du bereit zu bezahlen?“ und überlege mir, was ich haben will. In so einer Situation denkt doch keiner der Beteiligten über die Nämlichkeit nach.

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Podiumsdiskussion – Business Restructuring und Funktionsverlagerung

Prof. Dr. Kroppen Herr Vees, Sie haben sehr schön einen Teil meiner Vorurteile, die ich insbesondere bei dem Thema Fremdvergleich habe, bestätigt. Was haben wir denn hier als Problem? Wir befinden uns nicht im tatsächlichen Fremdvergleich und können uns nicht auf empirische Daten stützen. Wir wenden vielmehr einen hypothetischen Fremdvergleich an. Und genau das, was Sie gerade vorgetragen haben, passiert in Betriebsprüfungen. Der Betriebsprüfer behauptet immer, dass sein Ergebnis dem hypothetischen Fremdvergleich entspricht, weil sich fremde Dritte in dieser Weise verhalten würden und deshalb alles eindeutig sei. Ich sage Ihnen aber, der Steuerpflichtige sagt genau das Gegenteil. Er würde, bezogen auf unseren Beispielfall, sagen, dass aus seiner Sicht der Fremdvergleich so zu führen ist, dass der Empfänger niemals für irgendwas zahlen würde, was er gar nicht bekommt. Der Empfänger bekommt bestimmte Einzelwirtschaftsgüter, die er im Rahmen seines Unternehmens nutzt. Was er gerade nicht bekommt, ist der Geschäftswert, der über die einzelnen Wirtschaftsgüter hinausgeht. Die bestehende Organisationseinheit wird nicht übertragen, sondern zerstört. Deshalb würde mein hypothetischer Fremdvergleich zu einem anderen Ergebnis führen als ihr hypothetischer Fremdvergleich, nämlich dass ich die Organisationseinheit gerade nicht bezahle, sondern nur für die einzelnen Bestandteile. Ihr hypothetischer Fremdvergleich kommt zu einer ganz anderen Lösung und am Ende, und das war immer meine Grundkritik am hypothetischen Fremdvergleich, sagt uns Herr Gosch, was richtig ist, weil der noch viel besser hypothetisch denken kann als wir beide zusammen. Und das hat mit Rechtssicherheit überhaupt nichts mehr zu tun. Prof. Dr. Kaminski10 Herr Vees, Ihr gesamtes Gedankengut bricht zusammen, wenn Sie den § 1 Abs. 1 Satz 2 AStG einbeziehen. Sie fingieren die vollständige Kenntnis über den Dritten, die fremde Dritte nicht haben. Und wenn Sie Ihren Gedankengang, den Sie eben darstellten, anwenden, dann dürften Sie das nicht ins Gesetz schreiben bzw. der Gesetzgeber hätte es nicht ins Gesetz schreiben dürfen. Das zeigt doch, dass Sie viel mehr wollen und viel mehr machen, als das, was Sie uns geschildert haben. ________________________ 10 Prof. Dr. Bert Kaminski, Lehrstuhl für Betriebswirtschaftliche Steuerlehre, Helmut-Schmidt-Universität, Hamburg.

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Podiumsdiskussion – Business Restructuring und Funktionsverlagerung

Deswegen meine ich, dass ein Unterschied ab 2008 besteht. Deswegen ist es auch nicht richtig, wenn gesagt wird, wir haben vorher nichts anderes gemacht. Wir haben vorher die Geschäftschancenlehre gehabt und jetzt einen ganz anderen Ansatz, nämlich die Fiktion der vollständigen Kenntnis. Und wenn Sie den anwenden, kommen sie zu völlig anderen Ergebnissen. Prof. Dr. Lüdicke Herr Gosch, Sie haben jetzt die vollständige Kenntnis und das Schlusswort. Prof. Dr. Gosch Aber nur das! Im Koalitionsvertrag steht, dass von treaty overriding möglichst Abstand zu nehmen ist. Und deshalb meine ich, muss man sich auch die Frage stellen, ob der Fremdvergleichsbegriff, der Dreh- und Angelpunkt zu sein scheint, zum Art. 9 OECD-MA „passt“ oder aber ob die nationale Regelung hier die abkommensrechtliche „überschreibt“, im Ergebnis also ein „faktisches treaty override“ ist. Ich würde letzteres durchaus bejahen: Mit § 1 Abs. 3 Satz 9 AStG sollen tatbestandlich letztlich Gewinnerwartungen, Hoffnungen erfasst und der Verrechnungspreisbildung unterworfen werden. Wir haben es also, wenn man so will, mit einer Art der Sollbesteuerung zu tun, die weit darüber hinausgeht, was der hypothetische Fremdvergleich eigentlich leisten kann. Im Ergebnis entspricht die Regelungslage nicht einem Fremdvergleich, es wird gerade nichts „fremdverglichen“, sondern es werden Soll-Parameter vorgegeben, die ein Fremdhandeln, das so niemals in der Wirklichkeit auftaucht, zu simulieren und positiv-rechtlich festzulegen. Es geht also um einen gesetzlich angeordneten Fremdvergleich. Das ist aber kein Fremdvergleich mehr, sondern das ist ein Kunstgebilde. Und noch zur „Atomisierung“: Auch die Transferpaketübertragung setzt immer eine Geschäftsbeziehung im Sinne des § 1 Abs. 1 und 4 AStG voraus. Eine solche Beziehung wird konkretisiert. Ausgangspunkt für eine Geschäftsbeziehung i. S. d. § 1 Abs. 1 AStG ist der Verrechnungspreis. Wenn man sich das vor Augen führt, das muss auch der einzelnen „Funktion“ eine ganz konkrete Geschäftstätigkeit mit Aufwand und Ertrag zugeordnet werden können. Nichts anderes folgt auch aus § 1

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Podiumsdiskussion – Business Restructuring und Funktionsverlagerung

Abs. 1 der Funktionsverlagerungsverordnung.11 Legt man diese Regelungsvorgabe zugrunde, steht die „Atomisierung“ der Funktionen doch auf recht tönernen Füßen. Prof. Dr. Lüdicke Meine Damen und Herren, ich hoffe, dass wir die richtigen Themen hatten, die richtigen Diskussionen geführt haben und im Sinne des Grußwortes von Herrn Freytag auch die Steuerpolitik ein bisschen weiterbringen, wenn sie denn bereit ist, die Ergebnisse der Tagung auch zur Kenntnis zu nehmen. Die 27. Hamburger Tagung zur Internationalen Besteuerung findet wie in jedem Jahr am ersten Freitag im Dezember statt, also am 3. Dezember 2010. Wir würden uns freuen, Sie wiederzusehen.

________________________ 11 Funktionsverlagerungsverordnung (FVerlV) v. 12.8.2008, BGBl. I 2008, 1680.

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Stichwortverzeichnis 183-Tage-Regelung – Auslegung 107 – Divergenz 110 – Neukommentierung 101 Acte clair-Doktrin 11, 35 Amts- und Rechtshilfeabkommen – Schweiz 63 f. Amtshilfegesuch 56, 59 Arbeitgeber – Arbeitnehmerverleiher 111 – arbeitsvertraglich 93 – Kurzzeitausnahme 100 – Steuergeheimnis 113 – Tätigkeitsstaat 93 – Vereinfachungsregel 97 – wirtschaftlich 91, 107, 110 f. Arm’s-Length-Verhältnis 176 Auskunftsverfahren 63 – Anzahl 78 – Gegenseitigkeit 80 – Merkblatt 79 – rechtliches Gehör 79 – Spontanauskunft 80 – Verhältnismäßigkeit 84 Außensteuergesetz 123, 129 Authorized OECD Approach 123, 130, 147 Bankgeheimnis 67, 72 – Schweiz 57 f. Betriebsstätten-Verwaltungsgrundsätze 122 Betriebsstättenverlust 8 Betriebsübertragung 177 Bruttobesteuerung 5 Buchwertfortführung 144

Bundesfinanzhof – Delaware 43 – Dublin Docks 43 – Einstweiliger Rechtsschutz 12 – internationaler Auskunftsverkehr 80 – Lopez-Fall 114 – Gleichbehandlungsgrundsatz 18 – Theorie der finalen Entnahme 136 – Verhältnismäßigkeitsgrundsatz 80 – Vertrauensschutz 7, 141 – Vorabentscheidungsersuchen 29 – Zukunftssicherungsleistung 116 Bundesfinanzministerium – Auslandstätigkeitserlass 118 – Betriebsstättenerlass 138, 148 – Entstrickungsschreiben 138 – Mitunternehmererlass 144 – Nichtanwendungserlass 8 ff., 29, 36, 137, 146 Business Restructuring 153 – Gewinn-/Verlustpotential 157 – realistically available options 162 – Risikostruktur 153 Digitaler Datenzugriff 77 Doppelbesteuerungsabkommen – Auskunftsklausel 25 Drittstaatenklausel 80 Entstrickung 120 – Doppelbesteuerungabkommen 146 183

Stichwortverzeichnis

– Gewinn 148 – Schlussbesteuerung 146 – stille Reserve 137, 141, 143 EU-/EWR-Gesellschaften 4, 5, 6 EU-Vorgabenumsetzungsgesetz 33 Europäischer Gerichtshof – Cadbury Schweppes 2 ff., 17 ff., 22 ff., 40 – Columbus Container Services 3, 7 – De Lasteyrie du Saillant 6, 81 f., 146 – Ertragsteuerrecht 32 – Futura 5 – Gerritse 5 – KBC Bank 10, 27 – Kommision ./. Deutschland 4 – Krankenheim Wannsee 38 f. – Lidl Belgium 9, 36 ff. – Persche 33 – Rewe Zentralfinanz 4 – Schwarz et. Al 4 – Skorpio 6 – Stauffer 5 – Test Claimants in the FII Group Litigation 10, 27 f. – Vertragsverletzungsverfahren 84 Finanzierungsgesellschaft 19, 21 Firmenwagen 103 ff. Fremdvergleich 178 ff. Funktionsverlagerung 149 ff. – Atomisierung 163 – Ausführungsbestimmungen 175 – Begriff 175 – Dokumentation 172 f. – dominante Handlungsalternative 162, 175 184

– Einzelwirtschaftsgutbewertung 173 – Forschung 171 – Fremdvergleich 173 – Funktionsverdopplung 171 – Funktionsverlagerungsverordnung 152, 167, 181 – ganzheitlicher Bewertungsansatz 157 – Gewinnpotential 156 – Handlungsalternative 160, 173 – hypothetischer Fremdvergleich 155 – immaterielles Wirtschaftsgut 127, 155, 173 – Koalitionsvertrag 168 – Konzernstruktur 149 – Organisationseinheit 159 – Transferpaket 155 – treaty override 160 – Verrechnungspreis 173 Gemeinschaftsrecht – Amtshilfe 14 – Amtshilferichtlinie 25, 83 f. – Anwendungsvorrang 2, 7 – Beitreibungshilfe 14 – Fortbestandsgarantie 10, 27 – Freizügigkeitsabkommen 13 – Fusionsrichtlinie 146 – Informationsaustauschabkommen 14, 24 ff. – Rechtsanwendungsbefehl 2 – Rechtsumsetzungsbefehl 2 – Verhältnismäßigkeit, siehe dort – Zinsrichtlinie 86 Geschäftswert 179 Gesetzesvorbehalt 2 Gewinnabgrenzung 126

Stichwortverzeichnis

Gewinnrealisation 121 – aufgeschobene 148 Gleichheitssatz 59 Grundfreibetrag 5 Grundfreiheiten 130 f. – Konkurrenz 10 – Konvergenz 22 Grundsatz der funktionalen Betrachtungsweise 20 Hinzurechnungsbesteuerung 2, 6 ff., 17, 22 ff., 28 Hockeystick-Effekt 174 Hypothetischer Fremdvergleich – Einigungsbereich 155 Informationelle Selbstbestimmung 60, 88 – Schutzniveau 61, 65 f. Informationsaustausch 47, 49, 51 – grenzüberschreitend 76 – Geschäftsgeheimnis 77 – Schweiz 55 Inländerbeherrschung 22, 27 Jahressteuergesetz 2008 3, 29 Kapitalverkehrsfreiheit 41 – Drittstaaten 9 ff. , 26 ff., 42 – Kapitalanlagegesellschaft 42 Kooperativität 70 f. Liste – grau 53 – schwarz 53 Lizenzgebühr 174 Minderheitsgesellschafter 22 ff. Mindeststeuer 5 Mitwirkungspflicht 69, 76

Montageklausel 110 Niederlassungsfreiheit 22, 40 f. – Drittstaaten 9 ff. – Remittance basis 15 OECD-Musterabkommen 48 – Artikel 26 OECD-MA 65 – Auskunftsklausel 48 OECD-Musterkommentar – Rückwirkung 111 Personalentsendung – Dauer 108 f. – Korrespondenzprinzip 110 f. – Treaty override 117 – Zuatzleistung des Arbeitgebers 115 Sachbezüge – Besteuerung 103 Sanktion 53 SEStEG 137, 139, 145 Steuergeheimnis 67, 72 Steuerhinterziehungsbekämpfungsgesetz 53 f., 68, 75 – Anwendungszeitpunkt 69 f. – Regelungsgehalt 68 Steuerhinterziehungsbekämpfungsverordnung 68, 75 Steueroase 48 Steuerpflicht – beschränkt 5, 141 – unbeschränkt 6, 15, 21 f., 141 Steuersenkungsgesetz 28 Steuerwettbewerb 50, 74 Stille Reserven 120 Tätigkeitsortprinzip 100 185

Stichwortverzeichnis

Territorialprinzip 52 – verfahrensrechtlich 52 Theorie der finalen Entnahme 139 – Aufgabe 119 – Nichtanwendungserlass 124 Treaty override 3, 7, 117, 160, 180 UBS 55 ff. Unternehmenssteuerfortentwicklungsgesetz 28 Veranlagungsoption 5 Verhältnismäßigkeit 60 – Gemeinschaftsrecht 16 – Verfassungsrecht 16 Verlust – Abzug 39 – endgültige Verlustberücksichtigung 38 – Finalität 37 – Phasengleichheit 37 – Vortrag 39 – Vortragsbegrenzung 39

186

Vermögensverwaltung 18 Verrechnungspreismethode 154 – Bandbreite 154 – Verständigungsverfahren 173 Verwaltungsvorschriften – Verbindlichkeit 170 Wegzugsbesteuerung 6 f., 11 ff., 141 – Gemeinschaftsrechtskonformität 14 – Österreich 16 Wirtschaftsgut – Bewertungsmaßstab 128 – immaterielles 127 – Überführung 122, 124 f., 129 – Übertragung 124 f. – Untergang 126 – Wertschwankung 126 Zwischeneinkünfte – Kapitalanlagecharakter 17, 21, 40 Zwischengesellschaft 19