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German Pages 230 Year 2014
Claudia Schirrmeister Bratwurst oder Lachsmousse?
Für Sargut S¸ ölçün
Claudia Schirrmeister (Dr. phil.), Kommunikationswissenschaftlerin, arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Duisburg-Essen.
Claudia Schirrmeister
Bratwurst oder Lachsmousse? Die Symbolik des Essens – Betrachtungen zur Esskultur
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Fakultät für Geisteswissenschaften, Universität Duisburg-Essen.
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Inhalt
Danksagung | 7 Einführung | 9 1 1.1 1.2
2 2.1
2.2
3 3.1
Essen: eine Lebensnotwendigkeit | 13 Essen als intime Handlung | 16 1.1.1 Der Geschmackssinn | 18 Essen als soziales Tun | 23 1.2.1 Der Tisch | 30 Die kulturelle Entwicklung der Essenszubereitung | 35 Vom Mittelalter zur Renaissance | 38 2.1.1 Die Gabel | 42 2.1.2 Das Kochbuch | 47 Von der Industrialisierung zur Gegenwart | 51 2.2.1 Fast Food | 61 2.2.2 Das Restaurant | 67 Die Symbolik des Essens | 73 Religiöse Bedeutungsprägungen des Essens | 75 3.1.1 Das Brot | 81 3.1.2 Mäßigung und Fasten | 83
3.2
Das Verhalten bei Tisch | 88
3.3 3.4
Die Kommunikation bei Tisch | 97 Essen als soziales Distinktionsmittel | 105 Das inszenierte Essen | 112 3.2.1
3.4.1 Der inszenierte Gegenstand „Speise“ | 118 Exkurs: Kannibalismus | 121 3.4.2 Der Koch als Inszenator | 123 3.4.3 Baustoff Zucker | 127 3.4.4 Abbildungen des Essens | 130 3.4.5 Die sprachliche Ebene: Speisebezeichnungen | 132 3.4.6 Das Essen als Inszenierungsrequisit | 137 3.4.7 Die Produktverpackung als Inszenierung | 142 3.5
Essen und Gesundheit | 149
3.5.1 3.5.2 3.5.3
Die historische Genese des Diskurses vom gesunden Essen | 151 Vegetarismus | 156 Gesundes Essen – heute | 159
3.6
Geschlechtsspezifische Aspekte des Essens | 166 3.6.1 Essen und Sexualität | 172
4 4.1 4.2 4.3 4.4
Die Schokolade | 175 Herkunft und Produktion der Schokolade | 176 Die Schokolade auf dem Weg nach Europa | 180 Schokolade und Religion | 184 Die Schokolade als Aphrodisiakum und Lebenselixier | 186 Schokolade und Gesundheit | 188 Die Schokolade auf dem Weg ins Volk | 192 Die Symbolik der Schokolade heute | 199
4.5 4.6 4.7
4.7.1 5
Die Schokolade als Lebensmittel für Frauen | 205
Essen heute – Schlussbetrachtungen | 207 Literatur | 213
Danksagung
Wertvolle Literaturhinweise verdanke ich Frau Dr. Eva Lipkowski, Herrn Professor Erhard Reckwitz und Herrn Professor Peter Ulrich Hein. Frau Mira C. Arora, M.A. danke ich sehr herzlich für ihr aufmerksames Auge beim Lektorat. Mein ganz besonderer Dank gilt Herrn Professor H. Walter Schmitz, der mit stets großem Interesse die Entstehung der Arbeit begleitet hat. Die Gespräche mit ihm haben die Arbeit ungemein bereichert. Claudia Schirrmeister
Essen, im Juli 2010
„[…] so gehe ich doch wieder nach Nizza, wo man mir genügend zu essen giebt, und alles hübsch mager gebraten, – während hier württembergisch gekocht wird. – Pardon! daß ich vom Essen rede.“ Friedrich Nietzsche, 1884
Einführung „Pardon! daß ich vom Essen rede“ – tatsächlich drängt es die Verfasserin des vorliegenden Buches wie den briefeschreibenden Nietzsche, der im südfranzösischen Menton über das schwere Essen klagt, zu einer Entschuldigung. Seit etwa den 1990er Jahren ist das gesellschaftliche Interesse an Themen rund um das Essen, Kochen und die Ernährung stetig gestiegen, der Markt erscheint nahezu überschwemmt mit entsprechenden Publikationen. Über 4400 Kochbücher, mehr als 320 Bücher, die sich mit Ernährung im Allgemeinen und Besonderen beschäftigen, bezeugen die große Popularität der Thematik und verstärken gleichzeitig das Interesse daran 1 . Eine Beschäftigung mit dem so zentral menschlichen, kulturspiegelnden und kulturstiftenden Thema „Essen“ aus einer geistes- oder gesellschaftswissenschaftlichen Perspektive ist jedoch keineswegs so häufig anzutreffen und wird, wie Harald Lemke (vgl. 2007a, 174) beF
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Die Zahlen nennen die über den Buchhandel lieferbaren Titel (Stand: März 2010).
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klagt, in den eigenen Kreisen selten ernst genommen – zu selbstverständlich und alltagsprofan erscheint der Untersuchungsgegenstand. Das stimmt in der Tat insofern, als das Essen eine für den biologischen Erhalt des Lebens notwendige Selbstverständlichkeit darstellt, die immerzu wiederholt werden muss. Essen ist daher sehr nah mit der Körperlichkeit des Menschen verbunden. Die Handlung des Essens und das Essen als (Nahrungs-)Gegenstand reflektieren sehr deutlich soziale und kulturelle Wirklichkeiten, der kleinen Gruppe und auch der gesamten Gesellschaft. Das Essen ist eben gerade deshalb als sozialer Seismograph zu betrachten, weil es vollkommen selbstverständlich zum Menschen gehört. „Bratwurst oder Lachsmousse?“ – dieser Titel, angelehnt an das Lied des deutschen Entertainers Harald Juhnke, „Barfuß oder Lackschuh?“, bezeichnet die verschiedenen symbolischen Mitteilungsgehalte von Speisen zwischen denen der Mensch wählen kann, um damit bestimmte Aussagen oder Bilder über sich an die Außenwelt auszusenden. Da ist einerseits die fettige, deftige Bratwurst aus Schweinefleisch, und andererseits das feine, zarte Lachsmousse, dessen Schreibweise allein nicht jedermann geläufig sein dürfte und das seinen Esser als Gourmet und Kenner erkennbar werden lässt. Denn die verschiedenen Ausprägungen des Essens als Handlung und als Gegenstand, die diversen symbolischen Bedeutungen des Essens darzulegen, ist eine Motivation dieser vorwiegend kommunikationssoziologisch ausgerichteten Abhandlung. Die Thematik birgt eine Vielfalt, die nur über thematisch ebenso vielfältige Literatur in den Blickpunkt zu bekommen ist, die von historischen bis zu ernährungswissenschaftlichen Untersuchungen reicht. Die Symbolik unseres Essens unter den primären Fragestellungen „Warum essen wir so, wie wir essen?“ und „Warum essen wir das, was wir essen?“ – und: „Was bedeutet es uns?“ – zu beleuchten, erfordert eine eklektische Auswertung und Zusammenführung der Erkenntnisse unterschiedlicher Wissenschaftsbereiche. Wegen des symbolorientierten Schwerpunktes bleiben allerdings weitere spezifische Aspekte des Essens wie ökonomische Auseinandersetzungen oder medizinische Analysen etwa im Hinblick auf Essstörungen weitgehend
E INFÜHRUNG
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unberücksichtigt. Die Betrachtung der Symbolik unseres Essens zentriert sich auf den westlichen Kulturraum, wenngleich zuweilen kontrastive Anmerkungen in Bezug auf andere Kulturen vorgenommen werden. Es sei vorsorglich erwähnt, dass dort, wo Hunger herrscht, viele Erwägungen dieses Buches natürlich völlig irrelevant und unpassend sind. „Unser Essen“ als Gegenstand und Handlung zeigt keine Einheitlichkeit, sondern ist als vielfältiger, sich immer weiter ausdifferenzierender Bereich zu begreifen. Dies trifft zum Teil auch auf vormoderne Zeiten zu, denn das Essen unterscheidet sich in einer Gesellschaft in seiner Erscheinung – Tischsitten oder vorhandene Lebensmittel und Speisen – stets durch das der Armen und das der Wohlhabenden, Reichen. Neben opulenten phantasievollen Essinszenierungen der mittelalterlichen Aristokratie existierte immer die hölzerne Schüssel mit Getreidebrei. Und beides findet sich mitunter heute als Zitat wieder, in mittelalterlichen Spiel- und Scheinwelten, in denen die vergangene Epoche – zeitlich und räumlich begrenzt – wieder gelebt wird. Die Vielfalt der Lebensstile und der sozialen Gruppen innerhalb der postmodernen Gesellschaft prägt viele Bedeutungsebenen des Essens aus; wir haben hier versucht, wesentliche Tendenzen aufzugreifen, ihre Entstehung und ihr Funktionieren zu beschreiben. Wir beginnen mit dem biologischen Zwang zum Essen und den physischen Voraussetzungen vor allem des Geschmackssinns, um nach diesen „fundamentalen“ Hinweisen zu den sozial gestalteten Ausprägungen des Essens zu kommen: Essen als grundsätzlich auch soziale Handlung, eingebettet in die historische und kulturelle Entwicklung des Essens bis in die Gegenwart. Der zweite Teil widmet sich vollständig der Darstellung der symbolischen Aspekte des Essens in ihren vielen Facetten: Religiöse Einflüsse, das Verhalten bei Tisch, Essen als Mittel der sozialen Distinktion, Inszenierungen von Mahlzeit und Speise, in Kunst und Sprache, Inszenierungen von Essprodukten, Essen und Gesundheit sowie geschlechtsspezifische (Aus-)Prägungen des Essens werden jeweils auch unter Rückbesinnung auf die Vergangenheit dargestellt, um Veränderungen, aber ebenso Konstanten und Traditionen
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zu erkennen. Gezeigt werden soll, dass das Essen des Menschen schon immer symbolische Bedeutungen besaß. Wie man isst, und was man isst, bleibt nicht nur bloße Handlung oder bloßes Nahrungsmittel, sondern trägt bestimmte Bedeutungen in sich, die sich verändern können, die sich jedoch stets über Kommunikation in der Gesellschaft, in einer Kultur oder in kleinen gesellschaftlichen Subgruppen verbreiten und in diesem Prozess mit der je spezifischen Symbolik belegt werden – sei sie langlebig oder kurzlebig. Essen kann dann seinerseits, dies soll ebenfalls deutlich werden, absichtsvoll als Kommunikationsmedium dienen. Aber auch ohne strategische, absichtsvolle Planung des Essverhaltens ist das Essen als Handlung und Gegenstand stets als gesellschaftlich-sozialer Spiegel zu beurteilen. Im letzten, vierten Teil werden alle Betrachtungen exemplarisch an einem „Essen“, an einem Nahrungsmittel und seiner Aufnahme, vorgeführt. Schokolade – auch sie seit einiger Zeit sprichwörtlich in aller Munde – wurde einerseits aufgrund ihrer Popularität ausgewählt, andererseits weil sie in bemerkenswerter Weise alle zuvor herausgearbeiteten symbolischen Qualitäten zeigt, womit sie sich für eine abschließende beispielhafte Betrachtung geradezu anbietet.
1 Essen: eine Lebensnotwendigkeit Jedes Lebewesen braucht, um sein Leben erhalten zu können, die Zufuhr von – ganz allgemein gesprochen – Energien. Ohne das Einverleiben, das auf welche Weise sich auch immer vollziehende Zusichnehmen energieträchtiger Substanzen, erlischt das Leben. Die Art und Häufigkeit der Energieaufnahme zeigt nahezu unzählige Variationen: Die Qualle filtert permanent Plankton aus dem Wasser, das unverzüglich in den stielförmigen Magen gelangt; der Ringelnatter genügt alle paar Wochen eine Maus, die durch das Maul mit weit aufklappbaren Unterkiefer im ganzen hinuntergewürgt wird. Der Mensch bekommt seine Lebensenergien über die Tätigkeit des Essens, er steckt sich essbare Dinge, die bezeichnend auch „Lebensmittel“ genannt werden, in den Mund; oral gelangen folglich die energieenthaltenden und damit lebenserhaltenden Substanzen in den menschlichen Körper. Ist der Mensch zu dieser selbständigen Handlung der Nahrungsaufnahme aufgrund von Schwäche nicht fähig oder verhindern Erkrankungen des Verdauungssystems und seiner Organe die Aufnahme von Lebensmitteln, kann auf invasivem Wege „künstlich“ ernährt werden. Derjenige, der die Tätigkeit des Essens nicht mehr oder noch nicht kulturkonform beherrscht – der greise Mensch oder das kleine Kind – wird gefüttert. Abgesehen von Ersatzhandlungen anderer, wie Füttern oder künstlich ernähren, zeigt allein die selbständige Nahrungsaufnahme des Menschen sehr vielfältige Erscheinungsformen, ebenso gibt es sehr vielfältige Urteile darüber, was als essbar gilt und was nicht. Der prinzipielle Allesfresser „Mensch“ unterscheidet sich hier von vielen anderen lebenden Organismen. Seine
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Ortsungebundenheit korrespondiert mit der Eigenschaft, auf keine spezifische Nahrung angewiesen zu sein. Der Koalabär zeigt kaum Flexibilität, ohne das Einverleiben von Eukalyptusblättern geht er zugrunde, auch wenn er – zwangsweise – im deutschen Zoo sitzt. Jedoch ist das menschliche Verdauungssystem nicht in der Lage, tatsächlich alles unbeschadet zu sich zu nehmen, wie man es etwa landläufig dem des Eisbären nachsagt. Für den Organismus des Menschen existieren auch in der Natur tödliche und giftige Stoffe, wie zum Beispiel der Fliegenpilz, ungenießbare wie beispielsweise die Stinkmorchel und allgemein verträgliche und bekömmliche wie der Trüffelpilz. Dass an sich essbare Dinge nicht von jedem Menschen als essbar erachtet werden, hat diverse soziokulturelle und wirtschaftliche Ursachen, die sich typisch auf das menschliche Lebewesen beschränken und denen wir uns zunächst im wesentlichen widmen möchten. Der Eisbär kennt die – nennen wir sie pauschal – symbolische Ebene des Essens nicht; Robben frisst jeder Eisbär, ohne dass zuvor eine Reflexion über dieses Tun stattgefunden hätte 2 . Es ist ein naturgegebener Umstand, dass der Mensch energiespendende Nahrung zum Leben, zur Aufrechterhaltung der biologischen Funktionen seines Körpers benötigt. Dabei kann der Mensch, dessen Körper selbst zu fünfzig bis sechzig Prozent aus Wasser besteht, ohne zu sterben, eher eine gewisse Zeitlang auf festes Essen verzichten denn auf die Zufuhr von Flüssigkeiten: F
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„Nach zwei bis vier Tagen ohne Wasser oder durch Verluste von zehn bis fünfzehn Prozent kann die Niere keine Gifte mehr ausscheiden, das Blut wird immer dicker und schließlich kommt es zum tödlichen Kreislaufversagen“ (Gonder 2008: 72).
Als über sich selbst reflektierendes, kommunizierendes Lebewesen hat der Mensch die basalen Notwendigkeiten des Lebenserhalts, die für jeden gleichermaßen existenziellen und ständig wiederholungsbedürf-
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Dieses wissenschaftlich weithin akzeptierte Axiom sei hier übernommen.
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tigen, daher banalen Tätigkeiten des Essens und Trinkens, zeit seines Lebens und durch die Epochen hinweg beobachtet, hinterfragt und gedeutet. Im gegenwärtigen Zeitalter der Naturwissenschaften wird das Essen in Nährwerte, Brennstoffe, Vitamine, Spurenelemente usw. zerlegt und in entsprechend konstruierte Ernährungssysteme – als Teil des gesamten Weltsichtsystems – eingeordnet. Zuvor galt Jahrhunderte lang das humoralpathologische System der vier Körpersäfte, entwickelt von dem römischen Arzt Claudius Galen nach den Erkenntnissen der griechischen Medizinphilosophen Empedokles und Alkmaion, als Paradigma für die Klassifizierung und Beurteilung der Nahrung. Schon immer wurde offenbar das Essen, das, was man in den Körper hineingibt, nicht nur mit dem bloßen Erhalt des Lebens, sondern auch mit dessen Wohlbefinden in eine enge Verbindung gebracht. Welche Lebensmittel und wie viel von welchen Nährstoffen der Mensch zum Leben benötigt – darüber kann allerdings auch die moderne Ernährungswissenschaft keine verbindliche Aussage treffen (vgl. Gonder 2008: 15). Das gesicherte Wissen beschränkt sich auf Trivialitäten – Hungern führt zum Tode, ebenso der Verzehr von giftigen Substanzen – und gewonnene Erfahrungswerte: Dauerhafter Vitamin-C-Mangel löst die potentiell tödlich verlaufende Krankheit Skorbut aus. Es kursieren Mutmaßungen: Kleine Kinder, deren Organismus über eine längere Zeit hinweg Nährstoffe vorenthalten worden sind, sollen Verzögerungen in der Sprachentwicklung und niedrige IQ-Werte zeigen (vgl. Logue 1995: 230) 3 . Und schließlich kennt man Berichte über Personen, die bis zu fünfundfünfzig Jahre ohne Nahrung lebten, vielen konnte trotz strenger Beobachtung kein Betrug nachgewiesen werden (vgl. Zaunschirm 2008: 13). Hungern würde demnach also nicht zwangsläufig zum Tode führen? F
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Wobei in einer derart reduzierten Situation des Aufwachsens möglicherweise ebenfalls eine emotionale und intellektuelle Vernachlässigung des Kindes anzunehmen ist, die zumindest gleichermaßen eine rückständige Entwicklung auslöst.
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Allen Widersprüchlichkeiten und bloßen Vermutungen zum Trotz vertrauen viele Menschen Empfehlungen, wie man sich „gesund“ ernährt. Hierzu existiert wiederum eine sehr breite, inhaltlich sehr unterschiedliche Ratgeberliteratur; das Thema der gesunden Ernährung ist Gegenstand unzähliger medial verbreiteter Diskussionen und Reportagen und nimmt nicht selten einen doktrinären Charakter an. Tatsächlich aber scheint es die artgerechte, „passende“ Nahrung für den Menschen nicht zu geben, der Allesfresser verzehrt das, was er an seinem jeweiligen Lebensort findet: Der Küstenanwohner isst Fisch, während sich der im kargen Bergland Ansässige von Ziegenfleisch und den Produkten der Ziegenmilch am Leben erhält. Ähnlich dem Tier isst der frühzeitliche Mensch das, was er in seiner unmittelbaren Umgebung vorfindet; seit den Zeiten erster Wanderungen zeigt sich, dass er sich mit seiner Nahrungsauswahl an die jeweiligen Umwelten anzupassen vermag und eben nicht in der Nahrungsabhängigkeit etwa des Koalas verharrt. In modernen Zeiten der Mobilität auch der Nahrungsmittel gerät nahezu alles potentiell Essbare in die unmittelbare Reichweite des Menschen, und es wird offensichtlich, dass sein – nehmen wir den mitteleuropäischen Körper – Organismus vieles essen und vertragen, sprich zu lebenswichtiger Energie verarbeiten kann: vom Krokodilfleisch über Rochenflügel bis zur Litschi.
1.1 E SSEN
ALS INTIME
H ANDLUNG
Essen ist als unbedingt notwendige und gleichermaßen intime Handlung zu begreifen. Essen „bedeutet, einen Teil der Welt in den eigenen Körper aufzunehmen und ihn sich zu eigen zu machen“ (Harrus-Révidi 1998: 85). Schulz (vgl. 2007: 81) sieht zwischen Nahrungs- und Geschlechtstrieb, zwischen Essen und Sex, viele Parallelen, da beide den Grundzug des Verschlingens und des Sich-Einverleibens besitzen. Das Hinuntergeschluckte verbleibt – einmal abgesehen von unnatürlichen bzw. krisenhaften Situationen wie Erbrechen oder erzwungenem Hinauswürgen – im Körper. Alle anderen Kontakte und Bezie-
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hungen zur externen Welt scheinen weitaus weniger nachhaltig und nahe: Mit den Händen Berührtes kann losgelassen werden, der Blick kann abgewandt werden, um so das Gesehene nicht mehr zu sehen, das am Körper Befindliche, Kleidung oder Schmuck, kann abgelegt werden. Der das Essen aufnehmende Mund erweist sich als ein besonders empfindliches und empfindsames Organ, das etwa Temperaturen, Heißes, Kaltes sensibel registriert; gleiches gilt für die Wahrnehmung der Konsistenz von im Mund befindlicher Substanzen. Mit dem Mund formt der Mensch folglich nicht nur die seiner Spezies eigenen Sprachlaute, mittels derer er sozusagen von innen nach außen wirkend eine Beziehung zur Welt herstellt; der Mund schafft über das Essen zudem eine entgegengesetzte Beziehung zur Welt, nämlich von außen nach innen. Der Mensch erzeugt über die Esshandlung einen Kontakt zur externen Welt, die er auf diesem Wege in ihrer Materialität sinnlich erfährt. Das orale Erleben gehört wohl zu den ersten Erfahrungen des kleinen Kindes; in den ersten Tagen und Wochen seines Lebens versucht es, die Welt mit ihren Gegenständen quasi mit dem Mund zu begreifen – eine fundamentale Erfahrung. Mit dem Zusichnehmen von Dingen, Lebensmitteln stellt der Mensch offensichtlich eine sehr intime und persönliche Verbindung zur Welt her, die er sich auf diese Weise aneignet, sie zu seiner eigenen Welt macht. Essstörungen zeigen bezeichnenderweise eine tiefgehend wie auch immer gestörte Beziehung zur Welt an. Das besondere In-Beziehung-Treten mit dem Externen, diese eigene Erfahrung, die sich in der Esshandlung manifestiert, ist möglicherweise ein Grund dafür, weshalb die an sich banale, schlichtweg notwendige Handlung des Essens seit jeher und in wohl allen Kulturen mit Bedeutungen belegt und damit symbolisch überlagert wird – dies gilt sowohl für das Tun als auch für die Materie „Essen“. Mit dem Essen erfahre ich die Welt in transzendenter Weise, die Abhängigkeit des eigenen Lebens von der Welt wird, wenn man so will, passiv offenbar, während der Essende gleichzeitig aktiv in die Welt eingreift.
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1.1.1 Der Geschmackssinn Die orosensorische Erfahrung während des Essens beschränkt sich jedoch nicht auf Temperatur und Konsistenz; der wahrgenommene Geschmack der im Mund befindlichen Substanz prägt jede Esshandlung. Dabei gilt der Geschmackssinn als phylogenetisch ältester Sinn (vgl. Mellinger 2001: 60). Von Randow (2005: 80) klassifiziert das Schmecken als den intimsten Nahsinn, indem er Rousseau zitiert: „Tausend Dinge sind dem Getast, Gehör, Gesicht gleichgültig, fast nichts aber dem Geschmack“. Essen liefert folglich nicht nur die orale Erfahrung des Einverleibens einer Substanz durch den Mund, die Wahrnehmung des Geschmacks steht während der Esshandlung im Vordergrund. Dies gilt natürlich nur für einen Zustand der prinzipiellen Sättigung, ein Hungernder wird sich kaum auf das Geschmackserleben konzentrieren, obgleich er sicherlich Geschmack empfindet. Die Wahrnehmung von Geschmack entsteht in der Mundhöhle, wo Geschmacksrezeptoren, die in den vorwiegend auf der Zunge, vereinzelt auch am Gaumen und im Rachenraum angesiedelten Geschmacksknospen liegen, auf die im Mund gelösten Geschmacksstoffe der aufgenommenen Materie reagieren und diese Sinnesreize über das vegetative System an das Gehirn melden. Die Zunge eines erwachsenen Menschen trägt etwa 2000 bis 5000 Geschmacksknospen, die sich ihrerseits in der Mundhöhle und den sicht- und spürbaren „Noppen“, den Papillen, auf der Zungenoberfläche befinden. Die Zahl der Geschmacksknospen verringert sich mit zunehmendem Lebensalter. Der Geschmackssinn verändert sich also im Alter; um Salz zu schmecken, kann dann eine fünf- bis zehnfache Menge benötigt werden (vgl. Feyerbacher 2004: 184). Vor allem durch den Verlust der Geschmacksknospen in der Mundhöhle kann der Geruchssinn, der ebenfalls beim Essen aktiviert wird, keine Reize empfangen. Mund- und Nasenraum sind im Rachen miteinander verbunden, so dass mit dem Hinunterschlucken des Essens Rezeptoren der Riechschleimhaut beteiligt werden. Ein umfassendes und differenziertes Geschmackserleben entwickelt sich erst durch die Kombination dieser beiden Sinne. Die im
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Riechkolben des Gehirns ankommenden Signale leiten sich weiter zu Hirnregionen, die eine Kartographie von Emotionen und Erinnerungen entwerfen und speichern und die empfangenen Signale an bestimmte in der Vergangenheit erlebte Gerüche und Geschmacksbilder rückkoppeln. Das Geschmacks- und Geruchsempfinden wird mit den Erfahrungswerten des Individuums in Verbindung gebracht. Manch einer empfindet Ekel beim Riechen frisch gebratener Reibekuchen, weil er vielleicht noch kürzlich nach dem Verzehr von Reibekuchen erbrechen musste, während dem anderen buchstäblich das Wasser im Munde zusammenläuft, sich dessen Speichel schon auf das zu erwartende Essen und dessen Verdauung vorbereitet, weil dieser beim Riechen unweigerlich an die guten Reibekuchen in seinem Elternhaus denken muss. „Geschmack und Geruch sind also unwillkürlich konservative Sinne, welche Gegenwart und Vergangenheit miteinander vergleichen und in Bezug setzen“ (Till et al. 1993: 8). Die kartographische Hirnstruktur nutzt insbesondere der Koch für sein Handwerk, er hat „bereits eine Geschmacksidee im Sinn noch vor jeder Wahrnehmung“ (Lemke 2007a: 171). Auch der französische Gastrosoph Brillat-Savarin (1962: 27) wusste dem Geruchssinn im Kontext des Essens eine wichtige Funktion zuzuweisen, denn bei unbekannten Nahrungsmitteln „übernimmt die Nase immer die Rolle eines vorgeschobenen Wachtpostens“ und trifft damit eine Selektion dessen, was als schmackhaft angenommen und also gegessen werden kann. Überdies wirken in der Esssituation neben dem Geschmackssinn die außerhalb des Mundraumes stattfindende olfaktorische Wahrnehmung, der akustische und der visuelle Sinn. Der Geruch der Speise auf dem Teller, ihr Aussehen und die Geräusche – sei es der mediengenutzte „Blub“ der in den Spinat geschütteten Milch, das Knacken beim Abbrechen eines Stücks Schokolade von der Tafel oder das Krachen beim Schneiden kross gegrillter Haxenschwarte – tragen zum gesamten Esserlebnis bei. Da die mediale Werbung für Lebensmittel(-produkte) die Sinneswahrnehmungen des Geschmacks und Geruchs nicht vermitteln kann, ist sie auf die Reizung anderer Sinne angewiesen. Der visuelle Sinn bekommt eine primäre Aufmerksamkeit, aber vor allem werden Geschichten erzählt, worauf
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weiter unten noch einzugehen sein wird. Auch wenn wir den Käse XY noch nie gegessen oder gerochen haben oder in der Hand hielten, glauben wir bei geglückter Werbebotschaft zu wissen, dass er gut schmeckt und unserem Leben einen Mehrwert bescheren wird. Die physischen Organe und Rezeptoren im Mund registrieren zusätzlich Konsistenzen des Gegessenen, z.B. weich oder hart, und haptische Qualitäten wie samtig und Grade an Feuchtigkeit, saftig, trocken, strohig (vgl. Wagner 2009: 136). Gilt der Geschmack als ein sehr früh vorhandener Sinn – bereits das Ungeborene im Mutterleib beginnt mit dem Schmeckenlernen (vgl. Gonder 2008: 29) – so nimmt er doch auf der klassischen Werteskala des Aristoteles in Konkurrenz mit anderen Sinnen einen hinteren Platz ein; hier steht das Sehen als Erkenntnis bringender Sinn an erster Stelle. Gerade die unmittelbare Nähe des Wahrgenommenen, die damit einhergehende Subjektivität und Distanzlosigkeit zum Objekt lässt den Geschmackssinn als minderwertig erscheinen. In der Vermittlung zwischen der Außenwelt und dem Sinneserleben scheint der Geschmackssinn keine interpretative, sozusagen geistige Arbeit zu benötigen, wenn er diese nicht gar verhindert, so die antike Philosophie. Der Mensch, zwangsläufig passiv, hat keine andere Wahl, als das im Mund Befindliche zu schmecken. Das Prädikat der Minderwertigkeit haftet dem Geschmackssinn seit der Antike an, dem Postulat der objektiven Welterkenntnis setzt der Geschmack eine subjektive Sinneswahrnehmung entgegen, welche bis heute in der westlichen Kultur wenig Prestige besitzt. Dazu trägt sicherlich die ebenso kulturphilosophisch verwurzelte Beurteilung des Essens an sich bei; der menschliche Geist wird über die „niederen“ physischen Bedürfnisse und Notwendigkeiten gestellt. Die Natur des Menschen, wozu der Zwang zur Nahrungsaufnahme zweifellos gehört, tritt hinter dem wertvollen Vernunftwesen, der Ratio des Menschen, in den Hintergrund. Fortgesetzt wird dieses ursprünglich Platonische Denken in den christlichen Religionen, in denen Askese im Gegensatz zur Völlerei ein hohes Ansehen besitzt. Den eigenen Körper mit dem Geist, der eigenen Ratio zu bezwingen, ist die eigentlich wertgeschätzte Leistung des Menschen. So kommt es, dass der
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„Vielfraß“ weitaus weniger Sympathien erhält als der seine Triebe zu regeln und zu drosseln Wissende. In diesem Kontext wird selbst das Kochen, die Zubereitung des Essens, eher mit einer handwerklichen Tätigkeit assoziiert, denn als Kochkunst mit Malerei oder Bildhauerei verglichen, weil letztere gewissermaßen auf einer Distanz in der Wahrnehmung der Außenwelt beruhen. Aufgrund der Interpretation und Auseinandersetzung mit der Welt entsteht etwas Neuartiges, Eigenes – diese Beurteilung wird dem Kochen zumeist versagt. Die ernährungsphysiologische These, die Fähigkeit des Menschen, den süßen Geschmack als positiv und den bitteren als negativ für den eigenen Körper zu erkennen, sei angeboren, weckt Skepsis. Zwar bescheren in der Tat süß schmeckende Substanzen dem Körper hochwertige Nährstoffe wie Kohlenhydrate und lösen eine Erhöhung des stimmungsaufhellenden Serotoninspiegels im Gehirn aus, bitter Schmeckendes wird demgegenüber mit Adjektiven wie giftig oder ungenießbar belegt, dass jedoch eine Bedeutungszuweisung genetisch vorhanden ist, scheint fraglich und eher darauf zurückzuführen zu sein, was der menschliche Geschmack anhand der im Gehirn vorgefundenen Kartographie als angenehm oder unangenehm empfindet. Die Zuweisungspaare „süß – angenehm“ und „bitter – unangenehm“, die der Säugling schon der Außenwelt zu signalisieren vermag, in dem er selig an der Flasche nuckelt oder sie schreiend der Bezugsperson vor die Füße wirft, gründen sich nach unserem Verständnis nicht auf eine Bedeutungsvergabe, die der Mensch erst individuell allmählich erwirbt. Im Geschmackssinn überlagern sich damit „biologische Determination, kulturelle Prägung und individuelles Empfinden“ (Wagner 2009: 135). Die Sinneseindrücke des Menschen und deren Umsetzung im Gehirn scheinen überdies noch recht wenig erforscht. Der gesunde Mensch ist in der Lage, mithilfe der Geschmacksknospen auf der Zunge und in der Mundhöhle fünf Geschmäcke zu registrieren und zu unterscheiden: süß, sauer, salzig, bitter und umami; letzterer bezeichnet die „brühig-fleischige Note herzhafter Gerichte“ (Gonder 2008: 26). Im Jahr 2002 erst wurde ein spezifischer Geschmacksrezeptor für umami, das Lemke (vgl. 2007a: 164) „würzig“ nennt, entdeckt. Honi-
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kel (vgl. 2005: 187) übersetzt das Wort japanischen Ursprungs recht allgemein mit „schmackhaft“. Die unterschiedlichen Übersetzungen zeigen die Schwierigkeiten, die sich generell und zwangsläufig ergeben, will man versuchen, Sinnesempfindungen zu beschreiben bzw. in Sprache zu fassen. Für „umami“ hat sich in der deutschen Sprache offenbar (noch) kein Pendant etabliert (vgl. Wagner 2009: 136). Wenn der Mensch isst, nimmt er mit dem Mund folglich nicht nur Materie auf, die sein biologisches Leben erhält und deren Nährstoffe ihm Energie zuführen, über den Geschmacks- und Geruchssinn und ihre enge Verbindung mit den Erfahrungen – soziokultureller und individueller Prägung – bekommt das Gegessene einen Bedeutungscharakter. „Der Mensch füllt sich […] nicht einfach den Magen, er ißt Sinn und Bedeutung“ (Engelbrecht 1999: 11). Essen kann zum Genuss, Nahrung bzw. zubereitete Speisen können als schmackhaft oder nicht schmackhaft empfunden werden. Dabei setzt der jeweilige kulturelle Kontext, in dem der Mensch lebt, ihm feste Markierungen dafür, was als allgemein schmackhaft gilt und was nicht. Diese Rahmenbedingungen werden in den einzelnen sozialen Gruppen noch weiter differenziert, schließlich existiert ebenfalls die ganz individuelle Geschmacksebene, besser gesagt „Erfahrungsebene“ des Einzelnen. Oftmals wird ein Essen bzw. ein Nahrungsmittel präferiert, nicht weil es dem Einzelnen gut schmeckt, sondern weil sein Verzehr dem kulturellen bzw. gesellschaftlichen Geschmack entspricht. Das Auslösen von Genuss hat dann nichts mehr mit dem Essen an sich zu tun, sondern resultiert aus der symbolischen Bedeutung dieses Essens. Bevor wir dieses Phänomen einer näheren Betrachtung unterziehen, beschäftigen wir uns mit einigen weiteren Grundstrukturen unseres Essens und stellen im Folgenden die soziale Komponente der Esshandlung heraus.
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ALS SOZIALES
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Der Soziologe und Philosoph Georg Simmel (1858-1918) analysiert in seinem erstmals 1910 erschienenen Aufsatz „Soziologie der Mahlzeit“ den sozialen Charakter des gemeinsamen Essens. „Daß gemeinsame Mahlzeiten bei allen Völkern und zu allen Zeiten als ein menschenverbindendes Mittel angesehen worden sind, hat seinen tiefen Sinn in der menschlichen Natur selbst“ – so erklärte einige Jahrzehnte zuvor der Philosoph Johann Jacob Wagner (1775-1841; zit.n. Anthus 1962: 129) die Sozialität des Essens; Simmel versucht nun, die Rolle der „menschliche Natur“ in dieser Hinsicht zu präzisieren. Der Zwang zum Essen, das „primitiv Physiologische“, wie Simmel (1993a: 205) ihn ganz in aristotelischer Tradition bezeichnet, betrifft jeden Menschen. Diese selbstverständlich-natürliche Tatsache eint die Menschen auf einer rudimentären Ebene: „Von allem nun, was den Menschen gemeinsam ist, ist das Gemeinsamste: daß sie essen und trinken müssen“ (Simmel 1993a: 205). Diesem Gemeinsamen stellt er in der ihm eigenen dialektischen Perspektive die unbedingte Individualität des Essens gegenüber, denn „was der einzelne ißt, kann unter keinen Umständen ein anderer essen“ (ebd.). Die extrem individuelle Handlung muss jeder ausführen, so dass gerade diese Gemeinsamkeit für die Zusammenkunft und Vereinigung auch vollkommen unterschiedlicher Personen eine Basis bietet und zum sozialen Miteinander animiert. In der Situation der Mahlzeit vereinigen sich sozusagen Individuelles und Gemeinsames. Das gemeinsame Essen übt eine „ungeheure sozialisierende Kraft“ (a.a.O.: 206) aus, die einerseits die Essenden als Gruppe nach innen zusammenfügt und andererseits nach außen abgrenzt. Mary Douglas (1997: 41) unterscheidet zwischen der sozialen Bedeutung der Mahlzeit und des Umtrunks, wie wir in diesem Kontext „drinks“ übersetzen möchten: „The meal expresses close friendship. Those we only know at drinks we know less intimately“. Zumindest verbindet diejenigen, die eine Mahlzeit teilen, wenn schon keine sozial intime, so doch eine – in welcher Hinsicht auch immer – besondere Beziehung. Mit offen-
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sichtlichen Feinden isst man nicht zusammen, dies zeigen eindrucksvoll Simone Signoret und Jean Gabin in dem Film „Le Chat“, wo sie als verfeindetes Ehepaar an zwei hintereinander platzierten Tischen jeder für sich allein essen. Die in Gegenwart von anderen gemeinschaftlich vollzogenen Esshandlungen verlangen einige wenige, aber doch grundsätzliche wirkende Anpassungen bzw. Unterwerfungen, damit das Essen als „Mahlzeit“ bezeichnet werden kann: Der einzelne muss sich von seinen eigenen spezifischen Bedürfnissen zugunsten einer überindividualisierten regulierten Form des Essens distanzieren. Er muss die vereinbarte Zeit der Mahlzeit einhalten, muss sich eventuell vorhandenen Rangfolgen – wer nimmt zuerst, was und wie viel vom gemeinsamen Essen? – beugen. Das eigene natürliche Essbedürfnis wird so in künstliche, soziokulturell geprägte Formen gelenkt. Man teilt Zeit und Raum und, soweit das Essen nicht bereits portionsweise auf Tellern angerichtet ist, die auf dem Tisch befindlichen Speisen. Je näher Personen zusammenrücken, umso strenger und differenzierter wird sich das Handlungsschema darstellen, das jedem (wissenden) Anwesenden Sicherheit bietet und die Situation vor dem Chaos bewahrt. Zwei gleich sortierte Fleischplatten auf dem Tisch reduzieren insofern die Komplexität der Handlungen, des Zureichens, der Auswahl der Stücke als nicht um ein großes Stück, dessen Aufteilung und Austeilung auch noch auf den entlegendsten Teller „gerungen“ werden muss. Das ursprünglich bäuerliche Essen aus einer Schüssel verlangt daher weit mehr Rücksichtnahme auf die Mitessenden als das Essen vom eigenen Teller. Will der einzelne also an der Tischgemeinschaft festhalten, an der gemeinsamen Mahlzeit teilhaben, muss er sich den gesetzten Regeln unterwerfen 4 . Kleine Kinder und Fremde werden mehr oder weniger F
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„Mahlzeit“ beinhaltet, wie erwähnt, das Teilen von Zeit, die während des Essens verstreicht, aber sie benötigt auch Zeit zur Vorbereitung, da die Mahlzeit gemeinhin mit der Zubereitung von Gekochtem, Warmem assoziiert wird. Auf diesen Bedeutungszusammenhang verweisen schon Stam-
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behutsam in die existierende Ordnung eingewiesen: „Nein, den Pudding isst Du erst am Schluss“, „Nein, da sitzt immer Tante Elsbeth, nehmen Sie den Stuhl rechts daneben“. In der Zusammenkunft zum gemeinsamen Essen entfaltet sich „die Überwindung des bloßen Naturalismus des Essens“ (Simmel 1993a: 211), der ohne formelle Auflagen die schlichte Sättigung verkörpert. Jede formale Einschränkung des Esstriebes ist als rationale, gewollt-gesetzte Distanzierung und Steuerung zu betrachten, als eine typisch menschliche, nämlich soziokulturell motivierte Veränderung der kruden Nahrungsaufnahme. Da alle Menschen essen müssen, und dies prinzipiell auf die gleiche Weise, indem sie Nahrung mit der Hand in den Mund stecken, wächst bei einer solchen profanen allgemeinen Tätigkeit der Wunsch nach Differenzierung – hinsichtlich der Form der Ausführung: Wie esse ich? und hinsichtlich des Nahrungsmittels: Was esse ich? Vor dem Hintergrund von Simmels Analysen wird überzeugend verständlich, weshalb sich die banale Tätigkeit des Essens als Feld sozialer und individueller Distinktionen geradezu anbietet, worüber noch eingehender zu sprechen sein wird. „Die Fremdheit beginnt bei Tische“, schreibt Waldenfels (2008: 58) und meint damit die Unterwerfung unter das formale Regelwerk, das zum Funktionieren des gemeinsamen Essens konstitutiv ist; dies gilt für die kleine Tischgemeinschaft zu zweit ebenso wie für die vertraute Familienmahlzeit oder große Bankette. Selbst das orgiastische Gelage überzieht ein Geflecht von Regeln, und sei es dies, dass die sonst herrschenden Formalitäten außer Kraft gesetzt sind – es darf (und soll) gesudelt werden. Abgesehen von ausdifferenzierten Tischzuchten und elaborierten Regelwerken ist bereits das bloße Platznehmen und Platzbehalten eine Begrenzung des eigenen Verhaltens zugunsten der Gemeinschaft. Lina Morgenstein, eine Begründerin der Volksküchen, in denen Proletariern
messprachen, in denen Mahlzeit mit „ein Feuer anzünden“ übersetzt werden kann, wie Lévi-Strauss (vgl. 2000: 431) bemerkt.
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ein warmes Essen bereitet und verköstigt wurde, legt im Jahr 1866 in den Richtlinien das Verhalten der Essenden in den Speisesälen fest: „Nach dem Essen ist längerer Aufenthalt in den Volksküchen nicht gestattet, um für die neu Hinzukommenden freie Plätze zu erhalten. Die Kopfbedeckung wird an die rings im Lokal angebrachten Haken gebracht, auch darf keine laute Unterhaltung geführt und vor allem nicht geraucht werden“ (zit.n. Kleinspehn 1987: 311).
Dort, wo sich Fremde zum Essen zusammenfinden, müssen sozusagen übergeordnete Verordnungen gesetzt werden, um einen reibungslosen Ablauf des Essens zu gewährleisten. Mit der familiären Situation der gemeinsamen Mahlzeit hat die Massenverköstigung kaum etwas zu tun, jedoch teilen Menschen auch hier Zeit und Raum, um gleichzeitig ihr Essen einzunehmen. Ihre soziale Schichtzugehörigkeit liefert jedem von ihnen den Zugang zu den Volksküchen, zu dem gemeinsamen Essen mit an sich fremden Personen. Sich zum gemeinsamen Essen zusammenzufinden, ist stets eine Form des sozialen Ausdrucks – sowohl nach innen als auch nach außen. Nach innen verbindet das Essen, die gemeinschaftlich ausgeführten Handlungen des Essens, die Essenden. Des Tisches verwiesen zu werden stellt eine schmerzliche Erfahrung des sozialen Ausschlusses dar und wird vor allem bei Kindern als Bestrafung genutzt, oft für ein Verhalten, das den bei Tisch geltenden Regeln widersprochen hat. Nicht mitessen zu dürfen gilt als deutliches Zeichen der sozialen Ausgrenzung und Geringschätzung, des Nichtdazugehörens. Ebenso verwerflich ist es, als eigentliches Mitglied bei einer Mahlzeit zu fehlen – ein Affront gegen die Gemeinschaft. Newby (1983: 33) charakterisiert anhand seiner durchgeführten Feldstudie des US-amerikanischen Farmerlebens dieses Vergehen als „cardinal sin“, denn: „The consumption of food thus kept the body and some of the family together“ (ebd., Hervorheb. i.O.).
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Die Tischgemeinschaft schottet sich für die Zeit des gemeinsamen Essens gewissermaßen von der Außenwelt ab; selbst bei Zusammenkünften, die ausschließlich dem Zwecke des Essens dienen oder sich durch das Essen erst ergeben, wie etwa das gemeinsame Essen an langen Holztischen bei Stadtfesten, wird der neu hinzukommende Esser üblicherweise die bereits Essenden fragen, ob er sich denn dazu setzen dürfe. Dem gemeinsamen Essen mit anderen können jedoch, und dies ist meist der Fall, weitere Motive als die der Sättigung und Nahrungsaufnahme zugrunde liegen. Die Esshandlung selbst wird dann zum – allerdings notwendigen – Vehikel für andere Belange: das Bekunden von Versöhnung, Kommunikationsplattform in der Familie oder philosophisch-politischer Austausch wie beim griechischen Symposion, einer frühen institutionalisierten Form des gemeinsamen Essens und Trinkens. Bis auf die Anwesenheit für Unterhaltung sorgender Tänzerinnen und Musikerinnen blieben Frauen vom Symposion ausgeschlossen 5 . Viele größere Essgemeinschaften mit geselligem Charakter werden von Personen begleitet, die aufpassen, dass die Geselligkeit, die Leichtigkeit des Miteinanders, die Freude an der Kommunikation mit den Tischgenossen nicht schwindet. Der Symposarch nahm während des Symposions diese koordinierende Aufgabe wahr, später trugen die Tafelherren die Verantwortung für das Gelingen des gemeinsamen Essens; heute noch sitzt der allein erscheinenden Person zuweilen der Tischherr bzw. die Tischdame buchstäblich zur Seite. Da Essen offenbar soziales und kommunikatives Miteinander fördert – sicher auch, weil es außerordentlich schwer fällt, aus einer Tischgemeinschaft auszubrechen und sie ohne einen allgemein akzeptierten Grund zu verlassen –, nutzte man im Athen des 5. Jahrhunderts v. Chr. die Gelegenheit, indem man die fünfzig Prytanen, welche als Bürger die Stadt repräsentierten, zum gemeinsamen Essen nahe der Agora verpflichtete (vgl. Hirschman 1997: 25). So urteilt auch OttoF
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Im antiken Griechenland aßen Männer und Frauen grundsätzlich getrennt, anders als in Rom.
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meyer (1993b: 223), der auf die gegenseitige soziale Kontrolle der Essenden in der Gemeinschaft verweist: „Der Mensch soll gesellig sein und auch gesellig essen. Wenn er sich aus der Eßgemeinschaft absichtsvoll davonstiehlt oder dem gemeinsamen Tisch fernbleibt, um einsam dem Essensgenuß zu frönen, dann handelt er asozial und wird schuldig“.
Als gemeinschaftsstabilisierender und gemeinschaftsbestätigender Akt lässt sich das gemeinsame Essen in der Tafelrunde des König Artus zusätzlich beispielhaft benennen. Die Mahlzeit ist hier als „ein integrativer Bestandteil der Freundschaft“ (Hirschfelder 2005: 108) und des besonderen Vertrauens zu sehen. Üblicherweise saßen die mittelalterlichen Souveräne am Tisch abseits, geradezu um physisch zu zeigen, dass sie qua ihres Amtes bzw. ihrer Person mit niemandem etwas gemeinsam haben, womit die gemeinschaftsstiftende Wirkung des gemeinsamen Essens sozusagen ex negativo herausgestellt wird. Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein war jedoch der allein oder abseits essende Esser unbekannt. Die Mahlzeit blieb über viele Jahrhunderte in Europa ein fester Bestandteil der Familie, die Mahlzeiten strukturierten den Tag – „Punkt 12 gibt es Mittagessen!“ –; heranwachsende Familienmitglieder lernten während der Mahlzeiten Disziplin, Rücksichtnahme und Selbstkontrolle. Die Achtung der sozialen Rangfolge wurde in der Familie besonders deutlich: Wer bekommt zuerst, wer zuletzt seine Essportion auf den Teller?, Wer initiiert das Tischgebet?, Wer beendet die Mahlzeit? Die Mahlzeit fungierte als sozialer „Ordnungsfaktor“ (Fichtner 2004: 164), für den es im familiären Kontext nach dem weitgehenden Wegbrechen des gemeinsamen Essens keinen Ersatz gab und gibt. Der einsame Esser in modernen Zeiten isst zweckgerichtet – zur Sättigung. In Deutschland essen lediglich fünf Prozent der Familien regelmäßig gemeinsam zu Mittag; siebzig Prozent finden sich zu einer gemeinsamen Mahlzeit pro Woche zusammen (vgl. a.a.O.: 161). Die findet vor allem am Abend statt, weil die unterschiedlichen Tagesabläufe der Familienmitglieder tagsüber kaum gemeinsame „freie“ Zeiten
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zulassen. Immer noch wird allerdings dem gemeinsamen Essen ein hoher sozial-kommunikativer Bedeutungsgehalt bescheinigt, wie Gonder (vgl. 2008: 34) aus dem seinerzeit aktuellen Ernährungsbericht der Deutschen Gesellschaft für Ernährung berichtet. Ein gewisses Moment der Gleichheit besitzt trotz aller internen sozialen Rangunterschiede jede Tischgesellschaft: Jeder Anwesende vollzieht in gleichzeitiger Teilung des Raumes und der Zeit die gleiche Handlung. Die Zugangsberechtigung stellt jedoch einen wesentlichen sozialen Filter dar, nicht jeder lässt jeden an seinen Tisch. Die Mahlgemeinschaft der Epikureer im 3. Jahrhundert v. Chr. ist hier eine revolutionäre Ausnahme: Gesellschaftliche Minderheiten und ausländische Fremde durften an der Mahlgemeinschaft gleichberechtigt teilnehmen, wobei die wohlhabenden Mitglieder die Speisen für die mittellosen mitfinanzierten. Die Gleichheit vor dem Gesetz („Isonomía“) wurde damit gleichermaßen zum Prinzip des Gastmahls erhoben. Ähnlich äußert sich Grimod de la Reynière (zit.n. Schraemli 1949: 69) im 19. Jahrhundert: „Vor Gesetz und bei Tische müssen alle gleiche Rechte, gleiche Pflichten haben. Die Tafel macht uns alle gleich“. Das gemeinsame Mahl findet mit dem Abendmahl – Jesus und seine Jünger kommen am Abend vor seiner Kreuzigung zum Essen zusammen – in der christlichen Kultur seine Ausprägung par excellence. Über das gemeinsame Zusichnehmen von Fisch, Brot und Wein wird in der Mahlsituation und darüber hinaus gehend symbolisch eine gegenseitige Verpflichtung und Bindung hergestellt. Über die Nahrungsmittel Brot und Wein hat jeder Christ bis in die heutige Zeit an Jesus und seiner Glaubenslehre Anteil, über das kirchliche Abendmahl anerkennt und bestätigt der Gläubige seine Bindung zu ihm und vereinigt sich mit ihm. Ob der Leib und das Blut Christus’ tatsächlich in Brot und Wein gegenwärtig, wie dies die Metaboliker behaupten, oder ob sie lediglich symbolisch auf seinen Körper verweisen, wird in den Lehren der katholischen und evangelischen Theologien unterschiedlich betrachtet. Im Laterankonzil von 1215 setzt sich die These der Metaboliker durch, die auch heute noch in der katholischen Religion Gültigkeit besitzt. Die ersten Christen vereinten im gemeinsamen Mahl das
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Essen zur Ernährung – man kann annehmen, dass eine tatsächliche Mahlzeit stattfand – und die damit notwendige Zusammenkunft Stärkung der inneren Einheit als Glaubensgruppe. Ab dem 3. Jahrhundert diente das Essen ausschließlich symbolischen Zwecken, es wurde reduziert auf ein Stück vom Laib gebrochenes Brot und einen Schluck Wein aus dem Kelch. Die frühen, im ersten Jahrtausend gebackenen Opferbrote besaßen häufig eine Ringform, ohne Anfang und Ende symbolisierten sie die Ewigkeit des göttlichen Lebens. Seit spätestens dem 11./12. Jahrhundert ersetzen Hostien – „hostia“ (lat.) bedeutet „Opfertier“ – das Brotstück. Hostien sind seither aus feinstem Weizenmehl mit Wasser gebacken; weiß, rund, flach und mit eventuell eingeprägten Symbolen ähneln sie einer Backoblate. Allein sie in der sogenannten „Augenkommunion“ visuell wahrzunehmen, bestätigt die Verbindung zu Gott – der Verzehr ist nicht unbedingt notwendig.
1.2.1 Der Tisch Wenn man Essen als soziales Tun begreift, sich den entstehenden und bestätigenden internen Zusammenhalt der Essenden und die Strukturen von Essgemeinschaften näher in Augenschein nimmt, wird das konkrete Terrain, auf und an dem sich das alles vollzieht, implizit mitgedacht: der Tisch. Natürlich existieren kulturspezifisch andere Essorte, an denen Menschen das Essen (gemeinsam) einnehmen, im westlichen Kulturkreis versammeln sich die Esser an einem Tisch sitzend. Die Sprache reflektiert diesen Umstand; die Wendung „zu Tisch gehen“ ist gleichbedeutend mit „zum Essen gehen“. „Tisch“ und „Essen“ werden in vielen Kontexten, die sich auf Esssituationen beziehen, synonym verwendet. In der Antike und im Mittelalter bestand der Esstisch aus einer auf Böcken gelegten Platte, so dass nach dem Essen mühelos im wahrsten Sinne des Wortes die „Tafel aufgehoben“ werden konnte. Bis ins 18. Jahrhundert hinein bleibt der Esstisch eine provisorische Einrichtung, Tische mit festen Tischplatten waren vor allem in den großzügigen
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Räumlichkeiten des Adels zu finden. Als Ort der Begegnung und Kommunikation zeigte und zeigt der Tisch soziale Hierarchien: Der Vater sitzt „vor Kopf“, die Kinder sind womöglich an einem eigenen Tisch ausgelagert worden. Der Tisch bietet die Möglichkeit, „Ehrenplätze“ für besondere Personen bereit zu halten, bleibt ein Platz am Tisch frei, signalisiert dies das Fehlen eines der Essgemeinschaft angehörigen Menschen. Es bleibt – zuweilen mit Absicht, etwa wenn ein Todesfall eingetreten ist – eine sichtbare Lücke am Tisch und damit ebenso in der Gemeinschaft. Seit der Antike ist dieses Ritual der sozialen Anerkennung fehlender Personen bekannt, das für den sozusagen unfreiwillig Wegbleibenden reserviert ist. Der mutwillig Wegbleibende hinterlässt in gleicher Weise eine räumliche Lücke, sie bezeugt jedoch, wie zuvor erwähnt, das skandalöse Verhalten der nicht erschienenen Person. Nicht nur die Sitzordnung am Tisch symbolisiert Rangfolgen und spezifische soziale Situationen, das Möbel „Tisch“ selbst verleiht mit seiner Form den an seiner Tafel essenden Personen eine besondere Bedeutung. Im „Dürnitz“, einem Speisesaal, wie er noch heute in traditionellen Colleges und Refektorien der Klöster zu finden ist, steht die Haupttafel, an der die Höhergestellten der Gemeinschaft essen, auch räumlich erhöht auf einer Estrade. Der Überblick und damit die Kontrolle der anderen Essenden sind, wie bei der „vor Kopf“ sitzenden Person eines normalen Esstisches, gewährleistet. Runde Tische ohne Kopfseiten und Mitten, verhindern die räumliche Heraushebung von Status, sie sind gerade aufgrund dieser Eigenschaft nicht immer gefragt. Ein gleiches Vis-à-vis aller am Tisch Sitzenden trägt einen demokratischen Aspekt in sich, der ebenfalls zur Geselligkeit beiträgt. Auf Kreuzfahrtschiffen und in Ferienclubanlagen, deren Organisatoren Unterhaltung und Spaß herstellen (müssen), benutzt man runde Tische eben aus diesen Gründen der formlosen Gleichheit. Jeder ist jedem gleich nah. Im privaten exklusiven Speisezimmer zu essen, war in früheren Zeiten dem Adel und (groß-)bürgerlichen Haushalten vorbehalten, denen, die über den entsprechenden räumlichen Platz verfügten. Das „triclinium“ diente wohlhabenden Römern als separates Esszimmer, es
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war zugleich ein wichtiger sozialer Ort, der auch für Gastmähler reserviert wurde. Einen eigenen Essraum zu besitzen, galt stets als größter Luxus (vgl. Ottomeyer 1993c: 249). Ausgehend von England wurden separate Speisezimmer erst um 1850 in Deutschland en vogue. Simmel (vgl. 1993a: 209) empfiehlt für das Interieur des Esszimmers ruhige und gedämpfte Farben, nichts soll die Aufmerksamkeit vom Tisch ablenken oder gar provozierend wirken. Gemälde sollen mit den Portraits von Familienangehörigen Verlässlichkeit und Vertrautes abbilden, damit auch in der Betrachtung der Bilder keine Unruhe oder Konzentration ausgelöst wird, die den Blick zu lange vom Esstisch wegführt. Alle Hinweise zielen darauf ab, das gemeinsame Essen ins Zentrum der sozialen Situation zu stellen. Ähnlich äußert sich der deutsche Gastrosoph Eugen Baron Vaerst (1851: 131), der Spiegel und Uhren aus dem Speisezimmer verbannt wissen wollte – „nur nüchtern besieht man sich im Spiegel, und dem Glücklichen schlägt keine Uhr“. Er bevorzugt Gemälde, die ihrerseits Essbares als Motiv abbilden. GastrospohenKollege Anthus (vgl. 1962: 96) schlägt Gemälde vor, die das Essen nicht explizit zeigen, sondern lediglich darauf hindeuten, wie Gärten oder Jagden. Schopenhauers Ansicht (zit.n. Bourdieu 1987: 759), gemalte Gerichte und Mahlzeiten erzeugten „eine Aufregung des Willens“ unterstützt Anthus’ Rede. Die künstlerische Wiedergabe von Speisen und Nahrungsmittel ist jedoch als solche sehr populär: Seit der Renaissance jedoch haben sich Nature-morte-Motive als Gegenstand der Malerei durchgesetzt; die Prunkstillleben der Niederländer bestimmen das 17. Jahrhundert, die Darstellung von Nahrungsmitteln wird Hauptthema des Bildes. Nach 1950 verschwindet in Deutschland der Wunsch nach dem exklusiven Esszimmer wieder aus den Bedürfnissen der Allgemeinheit und verbleibt als elitäres Privileg. Die zeitlichen Arbeitsbedingungen begannen sich nach dem Zweiten Weltkrieg immer durchgreifender auf die Institution des gemeinsamen Familienessens auszuwirken, dass sich in seiner Häufigkeit reduzierte. Wenige Jahre später wird man das großbürgerlich-traditionelle Esszimmer auch aus ideologischen Grün-
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den abgelehnt haben. Dem Verschwinden des privaten Essraumes folgte das Verschwinden des exklusiven Esstisches, das Fichtner (2004: 161) beklagt: „[…] ein einst versichernder stabiler Ort, ein Schauplatz gemeinsamer, familiärer Erlebnisse, eine wichtige Bühne unserer sozialen Urerfahrungen. Unser Essen verliert seinen Ort, seine Zeit, seine klar umgrenzte, unteilbare Sphäre“.
Waren ursprünglich der wärmende Herd und der Esstisch die Zentren eines Heimes, so sind dies heute viele kleinere Tische. Kleine Tische in Wohnküchen, Klapptische in engen Küchen, Tische mit Sitzbankecke – der rustikale „Herrgottswinkel“ – haben die Esstafel in den Haushalten als alltägliches Essterrain abgelöst. Aber auch am traditionellen Esstisch haben sich derweil im Alltag die sozialen Prioritäten verschoben. Die Essenden sitzen sich kaum noch gegenüber. Im Mittelalter saß man an der Tafel bei Festmählern nebeneinander, um sich die freie Sicht auf Tanz- und Musikdarbietungen zu verschaffen – heute liegt der Grund des Nebeneinanders oder der fehlenden körperlichen Zugewandtheit im Vorhandensein des Fernsehbildschirms.
2 Die kulturelle Entwicklung der Essenszubereitung Kommen wir von der Betrachtung der physiologischen Grundlagen, der sozialen Bedeutung des Essens und seiner Räumlichkeit zur kulturhistorischen Entwicklung. Sie bietet viele Ansätze und Beispiele der Entstehung vielfältiger symbolischer Bedeutungen unseres Essens. Claude Lévi-Strauss definiert anhand der Zubereitungsweise des Essens die Grenzlinie zwischen Natur bzw. Natürlichem und Kultur. Kultur stellt sich in diesem Kontext da ein, wo der Mensch mittels eines Mediums in die Abläufe der Natur eingreift und sie so verändert. Er stoppt gewissermaßen den natürlichen Fortgang der Dinge. „Die Achse, welche das Rohe und das Gekochte vereint, ist ein Charakteristikum der Kultur, diejenige, welche das Rohe und das Gekochte verbindet, ein Charakteristikum der Natur, da das Kochen die kulturelle Transformation des Rohen vollendet, so wie die Fäulnis seine natürliche Transformation ist“ (LéviStrauss 2000: 191).
Mit Hilfe des Feuers, das ein solches Medium darstellt, findet die Verarbeitung des Rohen statt, es wird kultiviert. „Roh“ im Sinne von „naturbelassen“, „ungeschliffen“ oder „ungehobelt“ dient bezeichnenderweise als Metapher für unbearbeitete Milch, Diamanten und insbesondere als Eigenschaft unzivilisierter, unhöflicher Menschen, während „ausgekochte“ Personen alle Raffinessen des kulturell gelernten Verhaltens erworben haben und es perfekt beherrschen. Lévi-Strauss (vgl.
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2000: 434) spricht von „verdorbenen“ Charakteren, den Naturen wurde offenbar keine kulturelle Veredelung zuteil. In den von Lévi-Strauss untersuchten Mythen der südamerikanischen Ureinwohner stört der Einsatz des Feuers zum Kochen die zuvor ganz natürliche Beziehung zwischen Himmel und Erde. Das auf Steine gelegte Fleisch garte in der Sonne, kein Medium bzw. Hilfsmittel veränderte oder durchbrach den natürlichen Vorgang 6 . Die erste zweckgerichtete Benutzung des Feuers für die Zubereitung von Essbarem soll etwa vor 500 000 Jahren und im Zeitalter des Neandertalers ca. um 300 000 v. Chr. (vgl. Tannahill 1973: 25) geschehen sein. Das Verzehrte – Fleisch und Pflanzen – erhielt durch das Erhitzen eine weichere Konsistenz, so dass sich allmählich die mächtigen Mahlzähne des Menschen zurückbilden konnten. Langfristig trug dieser physische Vorgang zur Entwicklung einer artikulierten Sprache bei (vgl. Engelbrecht 1999: 10). Kochen als nach einem Plan ablaufende kulturelle Handlung trennt den Menschen vom Tier, bestimmt ihn als Kulturwesen im Gegensatz zum Natur- und Instinktwesen der Kreatur. Der Gebrauch des Feuers gilt als Beweis seiner handwerklichen Fähigkeit, des Handelns nach Plan mit rationaler Überlegung. Eine erdteilübergreifende prähistorische Zubereitungsweise von Essen ist das Kochen im Erdofen: In eine etwa zwanzig Zentimeter tiefe Grube legte der Mensch die zu garenden Nahrungsmittel, darüber trug er eine Schicht im Feuer erhitzter Steine auf, die ihrerseits mit Flachs, Blättern, Kräutern oder Gras abgedeckt wurde und die Grube nach außen verschloss. Man darf vermuten, dass die hinzugefügten Kräuter (auch) aus Geschmacksgründen beigelegt wurden. Später – etwa um 5000 v. Chr. – nutzte man ebenfalls Wasser als zur Garung behilfliches Mittel, das in mit Steinen ausgelegte Erdgruben gefüllt F
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Noch heute werden in den USA bei einem Strandpicknick Muscheln auf heißen Steinen gebacken; dieses „clambake“ dient jedoch vornehmlich Unterhaltungszwecken. Eine Variation des Alltäglichen will auch der Restaurateur erreichen, der Fleischstücke, gebraten auf einem „heißen Stein“ serviert.
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wurde. Im Feuer erhitzte Steine, die beigefügt wurden, erhöhten die Temperatur des Wassers, so dass in der Kachel-/Erdgrube befindliches Essen im warmen Wasser garen konnte. Durch das Erhitzen der Nahrungsmittel wurden Krankheitserreger abgetötet; manches Giftige wandelte sich zum Genießbaren. Bevor der Mensch über lodernde Feuerflammen tönerne oder metallene Kessel zu hängen wusste, nutzte er tierische Magenbeutel oder andere tierische und pflanzliche Hohlkörper, wie Schildkrötenpanzer oder Bambusrohre für die Essenzubereitung. Mit dem Sesshaftwerden des Menschen (etwa um 12 000 v. Chr.) begannen nicht nur Ackerbau und Viehzucht, auch feste Kochplätze konnten nun installiert werden. Der Mensch isst das, was ihm der Lebensraum bietet, und wählt die Nahrung in seiner Umgebung so aus, dass sein Körper in der jeweiligen Region zu überleben vermag: In kalten und feuchten Gebieten nahm er vor allem fettes Fleisch von Tieren zu sich, die in seiner Umgebung lebend dieses auch für ihn notwendige Fett lieferten, ein Beispiel ist der Walfang bei den Inuit. Der in wärmeren Erdzonen lebende Mensch bevorzugte fettarme Speisen, denen er jedoch scharfe Gewürze beimischte. Das ausgelöste Schwitzen sorgte für eine Abkühlung des Körpers. Diese Esstraditionen werden immer noch praktiziert, wenngleich Heizung und Klimaanlage den Menschen vor seiner schutzlosen Preisgabe an die klimatischen Zustände bewahrt, er also ein „passendes“ Essen kaum noch benötigte. Mit der Sesshaftigkeit stellte sich zugleich die Abhängigkeit von den am Ort vorzufindenden Nahrungsmitteln ein, der Nomade kann seinem Essen sozusagen hinterherziehen. In den antiken Hochkulturen wurden in Anbetracht der Rauch- und Geruchsentwicklung des offenen Herdfeuers häufig Küche und Haus räumlich getrennt voneinander angelegt. Den Wert, den man dem Herdfeuer zumaß, spiegelt sich in den Göttinnen Hestia in Griechenland und Vesta in Rom, die eigens für den Erhalt des Herdfeuers zu-
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ständig waren 7 . In Griechenland wurde zudem der göttlichen Muse der Kochkunst, Gastrea, gehuldigt. Die Zubereitung des Essens besaß offensichtlich einen hohen Stellenwert. In Griechenland gab es, so wird berichtet (vgl. Tannahill 1973: 81) bis Mitte des 5. Jahrhunderts v. Chr. zwischen Armen und Reichen keinen grundsätzlichen Unterschied in der Ernährung. Das römische Volk musste sich im Alltag hingegen überwiegend mit Brot und dickem Mehlbrei, „puls“, zufrieden geben, während wohlhabende Personen zwischen allerlei Delikatessen wählen konnten. Zubereitet wurden die Speisen mit einer scharfen und salzigen Gewürzpaste, „garum“ oder „liquamen“, die aus kleinen marinierten Fischen bestand. Hoch in der Beliebtheit stand ebenso das „Silphium“, ein aus Nordafrika stammendes Kraut. Die Essenszubereitung galt als ehrbare Arbeit; Kochen wurde in der Antike insgesamt als Kulturtechnik überaus geschätzt. Bei der vorhandenen Vorliebe für ausgiebiges Essen scheint dieses Werturteil nur allzu nachvollziehbar. Die Kultur der antiken Gastmahle, die sowohl bei den Griechen als auch bei den Römern für das gemeinschaftliche Leben einen wichtigen Rang einnahm, wird uns später noch eingehender beschäftigen. F
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Betrachten wir die Entwicklung unserer Esskultur während des europäischen Mittelalters, fällt die allmähliche Verfeinerung und Differenzierung hinsichtlich der Speisen und auch des Tischverhaltens auf. Das Mittelalter zeichnet sich durch das Vorherrschen krasser Gegensätze aus: Während der Adel auch wegen seiner exklusiven Fischund Jagdrechte im Überfluss schwelgte, den er bei Gastmählern und Festen eindrucksvoll zur Schau zu stellen verstand, aß das gemeine 7
Natürlich bedeutete das Herdfeuer auch Wärme, seine Flammen mochten ebenfalls wilde Tiere ferngehalten haben. Es war in vielerlei Hinsicht zum Überleben notwendig geworden.
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Volk vor allem Getreidebrei, Mus und Grütze. Helles Brot aus fein gemahlenem Weizen war dem Adel vorbehalten – die gesellschaftliche Position einer Person ließ sich sicher an der Farbe seines Brotes erkennen. Die soziale Markierung und Stigmatisierung über die Farbe des Brotes war von überragender Bedeutung und erlangte in der Französischen Revolution mit der Forderung „gleiches Brot für alle“ gesellschaftspolitische Relevanz. Ein anderer Gegensatz bestand in der Trennung zwischen Alltags- und Festspeisen. An Festtagen – abgesehen von Sonntagen bescherte das Jahr von April bis Oktober 36 Feiertage (vgl. Kleinspehn 1987: 76) – herrschte Völlerei, hier aß auch das „einfache“ Volk Fleisch, es bewegte sich folglich zwischen Zeiten des Schmauses und des Hungers. Mit der sich durchsetzenden Christianisierung in der fränkischen Zeit entwickelt sich zudem der Kontrast zwischen einerseits dem Fasten und der Mäßigung beim Essen und andererseits dem Überfluss bei Festen und im aristokratischen Alltagsleben. Hohes Prestige besaßen exotische Gewürze, welche in reichen Haushalten großzügige Verwendung fanden: „Man beschenkt einander mit Gewürzen wie mit Juwelen, man sammelt sie wie Kostbarkeiten, und man benutzt sie für Speisen“ (Schivelbusch 2003: 53). Kreuzfahrer schufen den Zugang zur Gewürzstraße, Pfeffer, Kümmel, Anis, Mohn, Zimt, Nelken und andere „Sendboten aus einer sagenhaften Welt“ (Schivelbusch 2003: 54) wurden in Venedig, dem europäischen Umschlagplatz für Gewürze, gehandelt. Es war lukrativ, aber gefährlich, Gewürze zu fälschen: 1499 ließ der Nürnberger Rat einem Safranfälscher beide Augen ausstechen (vgl. Diehl 2003: 198). Mögen hier vornehmlich wirtschaftliche Gründe zur Sanktionierung vorgelegen haben, so lieferte in anderen Zusammenhängen durchaus die Bewahrung der Nahrungsmittelreinheit das Motiv für drakonische Strafen: Schlecht erging es etwa der Person, deren gebrautes Bier säuerte. Im Jahr 1423 wurde die erste „Bierhexe“ verbrannt, und noch bis ins 17. Jahrhundert hinein wurden Frauen der Verhexung des Bieres angeklagt. Biersuppe war lange Zeit, noch bis Ende des 18. Jahrhunderts, in ländlichen Gebieten Deutschlands ein essentieller Bestandteil des Frühstücks. Die Herstellung des „flüssigen Brotes“, das man als normales Nahrungs-
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mittel betrachtete und folglich noch im 17. Jahrhundert wie selbstverständlich Kindern reichte, lag in der Verantwortung der Hausfrau. Brotbacken, Schlachten und eben das Bierbrauen gehörten zum häuslichen Umfeld und wurden von Frauen erledigt 8 . Frauen war der Genuss von Gewürzen jedenfalls untersagt, er galt als nicht zuträglich für die weibliche Gesundheit. Neben dem hohen symbolischen Wert nutzten die Gewürze bei der Essenszubereitung auch insofern, als sie den Verzehr selbst verdorbener Nahrungsmittel ermöglichten, indem sie den üblen Geschmack überdeckten. Der mittelalterliche Mensch kannte Konservierungsmethoden wie Räuchern, Trocknen und Pökeln. Das Einsalzen von Essbarem diente schon im alten Ägypten zum längeren Erhalt der Lebensmittel. Salz und Zucker, der von Kreuzfahrern zunächst „indisches Salz“ genannt wurde, waren äußerst kostbar und fanden daher nur sparsam oder in wohlhabenden Häusern Verwendung. Die Mehrzahl der gebackenen Kuchen im Mittelalter enthielt keinen Zucker, heute noch kennen wir Aschkuchen und Brioches als Überreste dieser Zeit. Bis ins 13. Jahrhundert waren Herde so gut wie unbekannt, über Feuerstellen und in große offene Kamine hing man Kessel oder spießte Fleisch auf eine waagerechte drehbare Stange. In diesen „schwarzen Küchen“ wurden Schlachttiere im Ganzen gebraten, man benötigte Vorschneider und Tranchiermeister, die das Fleisch bei Tisch in portionsgerechte Stücke schnitten, „tranchierten“. Die Tradition des Tranchierens stammt aus dem antiken Rom, wo freigelassene Sklaven diese Aufgabe übernahmen. Im Mittelalter oblag das Tranchieren jungen Edelmännern, es galt als Kunstfertigkeit wie Tanzen oder Fechten. Besonderes Prestige erwarb derjenige, dem es gelang, das Tier zeremoniell in der Luft zu zerteilen. Das Tranchieren folgte einem Regelwerk und wurde mit speziellen Messern, den „Présentoirs“, ausgeführt. F
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Die Erfindung der Braukunst geht zurück auf die Ackerbaukulturen des Vorderen Orients im 8. Jahrtausend; in Ägypten, wo Bier zur täglichen Nahrung gehörte, wurden Brauereien staatlich überwacht. Bierhäuser fungierten hier häufig gleichzeitig als Bordelle (vgl. Spode 1999: 34).
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Tranchieren wurde noch bis ins 18. Jahrhundert an deutschen Universitäten gelehrt. „Trincirbücher“ erschienen zuerst in Italien (vgl. Bäumler 1993b: 143), dem klassischen Land der Tranchierkunst. Es gehörte zum Regelwerk, sich selbst das „schlechteste“ Stück zu reservieren, die anderen Teile verteilten die „Aufschneider“ nach der Rangfolge der Anwesenden. Bis heute ist das Zerteilen von großen insbesondere knochenhaltigen Fleischstücken, wie z.B. Geflügel, Männern vorbehalten, gleich, ob es in der Küche oder am Esstisch stattfindet 9 . Die Anwesenheit von Tranchiermeistern und den Essensablauf begleitenden Truchsessen deutet die zunehmende Individualisierung der Essweise an, die sich zunächst als soziales Distinktionsmittel des Adels vom gemeinen Volk etablierte. Es gibt ein eigenes Essterrain am Tisch, ein eigener Stuhl statt zusammenhängender Bänke. Eine dunkle Scheibe altbackenes Brot diente als Untersatz für die eigentliche Speise, nach dem Essen wurde sie entweder selbst verzehrt oder den Dienstboten oder Hunden überlassen. Später folgten Holzbrettchen und schließlich Teller als Unterlage, die gleichzeitig den jeweiligen Essbereich markierten und gegenüber anderen absteckten. Dennoch ist es noch bis ins 16. Jahrhundert nicht ungewöhnlich, zumindest zu zweit einen Teller und einen Becher gemeinsam zu benutzen. Ein persönliches Eigentum stellte das Messer dar, das mit dem Dolch am Hosengürtel getragen wurde. Mit ihm holte man Speisen von Platten zu sich auf den Teller oder eine andere Unterlage, indem man mit der Messerspitze hineinpiekste, schnitt man mundgerechte Stücke und führte sie aufgespießt zum Mund. Gegessen wurde abgesehen vom Messer mit den Fingern und mit Holzlöffeln, die ebenfalls mit anderen Tischgenossen geteilt wurden; im 15. Jahrhundert kamen Löffel aus Silber auf. Mit dem Bestreben, sich von den unteren Schichten sozial zu distanzieren, verbreiteten sich seit etwa dem 12. Jahrhundert Tischzuchten, zunächst verschriftlicht von Klerikern in lateinischer Sprache, die in den nachfolgenden Jahrhunderten weitere Verfeinerungen erfuhren. Als Spiegel F
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In China wird die Peking-Ente heute am Tisch vor den Augen der Gäste vom Mundschutz tragenden Kellner zerteilt.
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der neuen Zeit ist die Tischzucht des Erasmus von Rotterdam berühmt geworden. Zwar bereits im Altertum bekannt, setzten sich im 15. Jahrhundert Servietten an wohlhabenden Tischen durch, sie dienten als Ersatz für das bis dahin übliche Abwischen der Hände an Rockärmeln und Tischtüchern, wobei das Auflegen von Tischtüchern in Deutschland offenbar nicht sehr gebräuchlich war. An einem Tisch ohne Tischtuch zu speisen bezeichnete man als „à allemande“ (vgl. Ottomeyer 1993c: 254). Schon 1560 empfiehlt die Tischzucht, das Messer nicht mit der Spitze auf Mitessende zu richten, was von einer gewissen Sensibilität und damit von einer Distanzierung gegenüber dem anderen zeugt. Als Bestandteil des heutigen Bestecks hatte es die Gabel besonders schwer, angenommen zu werden.
2.1.1 Die Gabel Der Ursprung der Gabel wird im byzantinischen Kulturkreis vermutet; im Jahr 995 soll die griechische Prinzessin Argillo bei ihrem Hochzeitsessen in Venedig eine Gabel benutzt haben (vgl. Bäumler 1993b: 144). Im 15. Jahrhundert setzte sich die Gabel in Italien durch, von dort aus holte sie Katharina von Medici anlässlich ihrer Vermählung mit Heinrich II. im Jahr 1533 an den Pariser Königshof. Hier erreichte die Gabel allerdings nur zögerlich Akzeptanz, und erst in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts erlahmte der Widerstand des Adels gegen das neue Gerät bei Tisch. Noch Ludwig XIV. weigerte sich angeblich, mit der Gabel zu essen und verbot die Benutzung auch den Angehörigen seiner Tischgemeinschaft (vgl. Imbach 2008: 190). In Deutschland verging eine besonders lange Zeit, bis sich die Gabel 10 in der OberF
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10 Das Wort „Gabel“ (von althochdt. „gabala“, verwandt mit altind. „gabhasti“ = Deichsel) war in der Bedeutung von Heu- und Mistgabel oder Wagengabel in Deutschland schon länger geläufig. Das lat. Wort „furca“ findet sich wieder im engl. „fork“, frz. „fourchette“ und ital. „forchetta“ für
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schicht etablieren konnte – das gemeine Volk aß weiterhin mit Händen und mit Löffeln Brei und Mus. Die Gabel galt mit ihren Zinken als Symbol des Teufels, zu dessen Bild die zweizinkige Forke gehörte. So sei es ein Zeichen der Verhöhnung Gottes, Essgabeln zu benutzen, wie Hildegard von Bingen (vgl. Spode 1994: 22) warnte. Der Klerus predigte von den Kanzeln herab gegen den Hochmut: „[…] eine Beleidigung Gottes sei die Scheu davor, seine Gaben mit den Fingern anzufassen“ (Storfer 1989: 63). Und Martin Luther gar soll Angst davor gehabt haben, sich mit den Zinken der Gabel zu stechen (vgl. Schürmann 1994: 76). Vor diesem religiösen Hintergrund konnte sich der Gebrauch der Gabel schließlich erst im Laufe des 18. Jahrhunderts, und hier zunächst als Luxusgegenstand der Oberschicht, ausbreiten. Sicherlich zwang auch die Mode mit den voluminösen Halskrausen dazu, beim Essen Geräte zu benutzen, welche die Gefahr des Kleckerns reduzierten. Die sich verändernde Speisenzubereitung erhöhte ebenso den Bedarf an entsprechenden Esswerkzeugen. Geschnetzeltes Fleisch in Soßen oder Gemüsestücke ließen sich einfacher mit der Gabel aufnehmen als sie mit der Messerspitze, dem Löffel oder mit den Händen zum Mund zu führen. Da man nun die Spitzen der Gabelzinken nutzte, wurde die Spitze des Messers allmählich abgerundet; das Aufnehmen von Fleischstücken besorgte man fortan mit der Gabel. Mit dem Gebrauch von Essbestecken bei Tisch erhielten die zuvor benötigten kleinen Handwaschbecken lediglich einen zeremoniellen schmückenden Charakter. Das Benutzen von Essbesteck verschafft, wie Simmel (1993a: 207f.) ausführt, eine Distanz zum Essen:
„Gabel“. Im Deutschen ist das Wort „Forke“ in der Bedeutung von Heuund Mistgabel gebräuchlich, keineswegs in der Bedeutung des Besteckteils „Gabel“. Die etymologische Gemeinsamkeit mit den romanischen Sprachen hinsichtlich der Existenz des deutschen Wortes zeigt die semantischen Unterschiede, die sich deutlich auf die kulturell unterschiedlichen Entwicklungen zurückführen lässt.
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„Das Essen aus der Hand hat etwas entschieden Individualistischeres als das mit Messer und Gabel, es verknüpft den Einzelnen unmittelbarer mit der Materie und ist die Äußerung der reservelosen Begierde. Indem das Eßgerät diese letztere in eine gewisse Distanz rückt, wird eine gemeinsame, den Zusammenschluß mehrerer begünstigende Form über den Vorgang gelegt, wie sie bei dem Essen aus der Hand gar nicht besteht“.
Das gemeinsame Essen wird durch das Ausschalten der nahen Körperlichkeit zu den Nahrungsmitteln aus Simmels Sicht sozusagen erst möglich, womit er die kulturelle Zivilisation der westlichen Hemisphäre über die soziale Gemeinschaftsbildung beim Essen per se zu stellen scheint. Eine kulturchauvinistische Perspektive, denn in Afrika und Indien gilt die Gabel bis in die Gegenwart als genussfeindlich; was jedoch gemeinsames Essen nicht verhindert. Nicht nur die Gabel, auch das Messer war und ist von Tabus umgeben. Noch in vorindustrieller Zeit ein Messer mit der Schärfe nach oben auf den Tisch zu legen, verhieß Unheil und zeugte von schlechten Manieren, denn „oben“ wohnt Gott und die gerichtete Klinge könnte die Engel verletzen (vgl. Schürmann 1994: 82). Das unserem Kulturkreis fremde Esswerkzeug, das Stäbchen, zeigt im Gegensatz zu den metallenen martialischen Geräten einen völlig anderen, nämlich friedvollen Charakter, wie Barthes (1989: 56) trefflich analysiert: „niemals sticht, schneidet, spaltet, verletzt das Stäbchen, es hebt nur auf, es wendet und bewegt“. Die Einstellung zum Essen reflektiert diese Haltung, denn es wird nicht als Beute betrachtet, der man Gewalt antut. Die im Mittelalter einsetzende Verstädterung zog die Überwachung und Regelung der Lebensmittelherstellung nach sich. Wer die Regeln missachtete, hatte drakonische Strafen zu fürchten. Der Städter konnte sich nicht mehr selbst mit (allen) Nahrungsmitteln versorgen, er war auf den Erwerb seines Essens aus externer – sozusagen professioneller – Hand angewiesen. Die Lebensform in der Stadt zwingt ihre Bewohner dazu, auf die eigene Herstellung von Nahrung zu verzichten, die nun von speziell befugten Zünften – allen voran dem Bäcker und dem
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Schlachter – übernommen werden. Der einzelne musste folglich sein Essen erwerben und sich damit in eine Abhängigkeit eben gegenüber jenen Berufen begeben. Besonders das Schlachten von Tieren unterlag einem strengen Regelwerk. Seit dem 14. Jahrhundert existiert die Institution des Schlachters; zwischen Aufzucht und Tötung des Tieres wird eine räumliche und personelle Trennung errichtet. In Paris etwa durfte der Laie nur am Seineufer oder vor den Stadtmauern schlachten, ansonsten fand die Schlachtung in speziellen Schlachterläden statt. Das Schlachtmonopol bescherte den Schlachtern Reichtum und Macht, das Handwerk wurde üblicherweise vom Vater auf den Sohn vererbt. Das Fleisch wurde durch Trocknen, Räuchern oder Einsalzen konserviert, in frischem Zustand war es lediglich in der Schlachtzeit zwischen Michaelis, dem 29. September, und Weihnachten für die ländliche und städtische Unterschicht verfügbar. Aufgrund des Futtermangels in der kalten Jahreszeit konnte man eine große Anzahl von Vieh nicht überwintern lassen. In der Renaissance verfeinerten sich neben den Tischsitten auch die Essmaterialien, wie Geschirre, Bestecke, Stoffe. Ihr Besitz und das Wissen um ihre Verwendung entfernte die Oberschicht in sozialer Hinsicht zunehmend weiter von dem einfachen Volk. Frankreich, das nach Italien die kulturelle Führungsposition in Europa eingenommen hatte, avancierte, was die französische Sprache, die Tischkultur und Verhaltensregeln angeht, zum Vorbild für Aristokratie und wohlhabendes Bürgertum. Mit Katharina von Medicis aus Italien mitgebrachten Köchen begann der Ruhm der französischen Küche, breitete sich die Verfeinerung und Verklärung von allem das Essen Betreffende in ganz Europa aus. Das Essen, die Speisen an sich, und ihre Zubereitung und Darbietungsweise bei Tisch erlangte allmählich große Relevanz. „Essen war […] nicht nur mit der Notwendigkeit der individuellen Reproduktion, der Sättigung, verbunden, sondern bedeutete auch die lustvolle Überschreitung von Alltäglichkeit, bedeutete Geselligkeit und die Erhöhung des gesell-
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schaftlichen Status entsprechend der Größe des Festmahls“ (Kleinspehn 1987: 83, Hervorheb. i.O.).
Der Landadel lebte die Freude an der Botanik aus; durch Kreuzungen entstanden neue Züchtungen, welche die Speisenauswahl bereicherte: Kennt man im Jahr 1539 beispielsweise sieben Pflaumenarten, steigerte sich die Vielfalt im Jahr 1623 auf sechzehn (vgl. Blond 1965: 236). Bald sollten in gläsernen Gartenhäusern, den Orangerien, exotische Früchte und Pflanzen wuchern. Stundenlang andauernde Mahlzeiten und eine Fülle an Speisen und Getränken kennzeichneten Wohlstand; parallel hierzu musste man die arme Bevölkerung in den Städten mit Hilfsmaßnahmen vor dem Hungertod bewahren – zwei Essenswelten, die nichts miteinander gemeinsam hatten. Vergoldete Bestecke, Tischgegenstände als schmückende Zeugnisse erlesener Handwerkskunst und das um 1700 in Europa genutzte Porzellan überboten sich in Dekor und Form. Nun gab es sogar in Deutschland Konfektgabeln – „Pironen“ –, die zumeist zweizinkigen Gabeln aus Italien dienten zum Aufnehmen feiner Pralinés. In Gold und mit Edelsteinen besetzt zierten sie herrschaftliche Esstafeln. Seit dem 18. Jahrhundert kannte man in Deutschland Zuckerzangen. Obgleich Zucker noch bis ins 19. Jahrhundert hinein zu hohen Preisen angeboten wurde, erfreute man sich seit Beginn des 17. Jahrhunderts an Zuckerwerk. Im verspielten Rokoko ermöglichte der Zucker die Herstellung graziler und fragiler Formen und stellte in wohlhabenden Haushalten eine wesentliche Ingredienz kunstvoller Süßspeisen und Dekorationsgegenständen dar. Die im Mittelalter so kostbaren Gewürze verloren nach dem Verlust des Gewürzmonopols an Portugal zunächst in Italien, dann in Frankreich ihren bisherigen Wert und kamen aus der Mode. In den Besitz von Gewürzen zu gelangen, verursachte angesichts mittlerweile eingeschliffener Transportwege keine kostspieligen Schwierigkeiten mehr, der Markt war gesättigt, der Nimbus der Gewürze büßte seinen Glanz ein. Nach den neuen Prestigeträgern, den sogenannten Kolonialwaren Zucker, Kaffee, Tee und Kakao, strebte
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bald derjenige, der seinen gesellschaftlich Rang zur Schau stellen wollte. Die zunehmende Bedeutung der Art und Weise der Essenszubereitung löste das Bedürfnis nach der Dokumentation von Kochanleitungen aus, den Genuss mittels Rezepten wiederholbar zu machen.
2.1.2 Das Kochbuch Als zumindest einen der Autoren des ältesten erhaltenen Kochbuchs nimmt man den römischen Repräsentanten avancierter Kochpraxis, Marcus Gavius Apicius, an. 478 Rezepte, die meisten Apicius zugeschrieben, sind in der Sammlung, deren Titel sich mit „De re coquinaria“ allgemein durchgesetzt hat, überliefert. Entstanden ist sie vermutlich in der Zeit von 25 v. Chr. bis 42 n. Chr. (vgl. Lemke 2007b: 59). Wie bereits erwähnt, wussten wohlhabende Römer Gastmähler und gutes Essen überaus zu schätzen, was die Existenz des Rezeptbuches erklärt. Die älteste erhaltene Abschrift stammt aus einem deutschen Kloster in Fulda und wurde im 9. Jahrhundert angefertigt. Das älteste bekannte arabische Kostbuch aus dem 10. Jahrhundert informierte zugleich über die Benimmregeln bei Tisch. Im Jahr 1390 erschien ein Kochbuch, das eine zeitgemäße gewürzlastige Zubereitung von Speisen empfahl. Taillevent, der zu Ruhm gelangte Küchenmeister Karls IV. von Frankreich, mit bürgerlichem Namen Guillaume Tirel (etwa 1314-1395), zeichnete als sein Verfasser. Zu den ersten gedruckten Rezeptsammlungen gehörten auch Kochbücher wie die „Küchenmeisterey“ aus Nürnberg von 1485. Der Humanist Bartolomeo Sacchi (1421-1481) alias „Platina de Cremona“ und „Platina Cremonensis“, späterer päpstlicher Bibliothekar, verfasste das 1487 11 in italienischer Sprache gedruckte Rezeptbuch „De honesta voluptate (et valitudine)“, das – typisch für die Zeit der Renaissance – Kochkunst als Teil der medizinischen Heilkunst verstand. 1542 folgte die ÜberF
11 Lemke (vgl. 2007b: 345) nennt 1474 als Erscheinungsjahr.
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setzung ins Deutsche und der Druck in Augsburg. Das einflussreiche Werk zur hedonistischen Philosophie des Essens erfuhr innerhalb von hundert Jahren dreißig Neuauflagen. Der recht große Zeitraum, der bis zur deutschen Übersetzung vergeht, ist ein Indiz dafür, dass in Deutschland gutes Essen und die Reflexion über das Essen nicht die Priorität besaßen, wie dies in Italien und Frankreich der Fall war. Im 16. und 17. Jahrhundert erfolgte durch die Verschriftlichung von Kochrezepten eine gewisse Normierung, einerseits hinsichtlich der praktischen Essenszubereitung, andererseits im Hinblick auf die entstehende Textsorte „Kochrezept“ 12 , doch erst 1845 prägte Henriette Davidis in ihrem Buch mit dem Titel „Praktisches Kochbuch für die gewöhnliche und die feine Küche“ die unpersönliche Formel „man nehme“. Im Laufe des 18. Jahrhunderts sprachen die Autoren nicht mehr ausschließlich Dienstboten als Adressaten der Kochanweisung an, sondern wählten eher unpersönliche Anreden, da zu dieser auch die bürgerliche Hausfrau selbst häufig am Herd stand. Ein gewisser Respekt, den die Sprache auszudrücken hatte, wurde notwendig. Im englischsprachigen Kochbuch von Isabella Beeton aus dem Jahre 1861 wurden zum ersten Mal Mengen und Kochzeiten formuliert. Diese Angaben wurden zuvor, wenn überhaupt, nur sehr grob mitgeteilt. Im 19. Jahrhundert verbreitete sich das Kochbuch in untere Gesellschaftsschichten; es gab nun Kochbücher, die sich mit dem Etikett des sparsamen Essens explizit an proletarische Haushalte richteten. Davidis trennt 1845 bezeichnenderweise, wie gesehen, bereits im Titel zwischen „gewöhnlichen“ und „feinen“ Speisen. Sich selbst zu Fachmännern – Gastrosophen und Gourmets – ernennende Feinschmecker verfassen Abhandlungen zur Esskultur, wobei ein deutscher Vertreter, Karl Friedrich von Rumohr (1785-1843), in seinem Kommentar zu Kochbüchern 1822 chauvinistisch schreibt (1966: 34): „Die neueren deutschen Kochbücher sind leider meist bloße Nachäffungen der französischen, wie dies schon ihre barbarische, unnötigerweise durchaus französische Nomenklatur beweist“. Die F
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12 Vgl. hierzu die Analysen von Cölfen (2007, 85ff.).
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jahrhundertealte französische Leitkultur wurde offensichtlich nicht oder nicht mehr von jedermann begrüßt. Trotz aller Verfeinerung und Strukturierung der Essenszubereitung sowie dem Aufkommen von Tischzuchten blieb die Küche, der Ort der Speisenherstellung, lange Zeit „schwarz“ – voller Rauch und Ruß. Bis ins 13. Jahrhundert waren Herde unbekannt, und erst in den 1860er Jahren kamen zuerst in Amerika, dann in England in Fabriken produzierte transportable eiserne Herde auf, die sich schließlich auch in den Haushalten des deutschen Mittelstands durchsetzten. Die Feueröffnungen ließen sich mit exakt passenden Herdplatten abdecken, so dass sich die Rauchentwicklung eindämmen ließ und die Küche „hell“ blieb. Dies ermöglichte das Aufstellen von (besserem) Mobiliar und Geschirr. Die Küche konnte als Raum bzw. bewohnbare Stube genutzt werden. Zuvor versuchte man in den wohlhabenden Häusern den Rauchabzug über kunstvoll gekachelte Kamine zu leiten; in den meisten Küchen aber verwandelte das offene Herdfeuer die meist fensterlose Kammer in einen rauchigen und schmutzigen Platz, der besonders im Sommer dem Küchenvolk unerträgliche Temperaturen bescherte. Seit dem 17. Jahrhundert häuften sich Klagen über Rauch und Gestank, zudem verlangte das Herdfeuer Holz, das vor allem in den Städten knapp wurde. Spezielle Hilfsgeräte wie Zangen, Schaufeln, Blasebalge zum Anfachen und Bearbeiten der Glut durften in keiner Küche fehlen. Angesichts der Örtlichkeit ist es kaum verwunderlich, dass Kochen allgemein nicht als kunstvolle Tätigkeit, sondern als derbes Handwerk beurteilt wurde – eine Einschätzung, gegen die die Gastrosophen des 18. und 19. Jahrhundert vehement zu Felde zogen. Im 19. Jahrhundert wurde die Esskultur in zwei Punkten entscheidend verändert. 1804 entwickelte der Zuckerbäcker Nicolas-François Appert (1750-1841) ein Verfahren zur Konservierung von Fleisch, Gemüse und pflanzlichen Substanzen durch Hitzesterilisation, die sich auf die Erfindung des Dampfkochtopfes (1681) von Denis Papin gründete. Seine Erfindung kam nicht nur dem gemeinen Volk zugute, das bis dato seine Lebensmittel haltbar machte, indem sie getrocknet, ein-
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gesalzen, gegärt, gezuckert oder geräuchert wurden, vor allem profitierten die kasernierten Soldaten der seit 1793 einsetzenden französischen Levée en masse von der neuen Konservierungsmethode. Die Versorgung gigantischer Heere konnte auf diese Weise sichergestellt werden. Die blecherne Konservenbüchse gilt beim Militär seither als „eiserne Reserve“. Seit dem Jahr 1810 gibt es – zunächst in England – Blechdosen, ab 1870 fanden sie allgemein große Verbreitung. Wenig später, 1876, folgte eine weitere kulturverändernde Erfindung: Carl von der Linde baute die erste Kältekompressionsmaschine, aus der der Haushaltskühlschrank hervorgehen sollte. Allerdings hielt der Kühlschrank ebenso wie der Gas- oder Elektroherd erst nach dem Ersten Weltkrieg vereinzelt Einzug in die städtischen Wohnungen; nach dem Zweiten Weltkrieg konnten sich die Geräte in den Küchen flächendeckend durchsetzen. Zuvor gelang es Graf Rumford in der Wende zum 19. Jahrhundert, einen Herd zu fertigen, dessen Feuer eine spezielle Konstruktion so regulierte, dass die Hitze zumindest einigermaßen variiert werden konnte. Rumfords Motiv lag in der möglichst kostengünstigen Verköstigung einer großen Masse von Armen in den Städten, was eben auch einen möglichst geringen Verbrauch von Brennmaterialien beinhaltet. Die „Rumfordsche Suppe“ ernährte in den Volksküchen täglich über tausend Personen; der Herd, auf dem sie zubereitet wurde, löste jedoch eine Revolution in der Kochpraxis aus. Die regulierbare Hitzekonstruktion des Herdes erlaubte es seinem kochenden Besitzer, neue Zubereitungsweisen umzusetzen und neue Gerichte wie Soufflés herzustellen. Fleisch zu essen war im 19. Jahrhundert keine so große Ausnahme auf dem Speiseplan wie zuvor. In Paris besorgte der erste zentrale Schlachthof „La Villette“, welcher 1867 eröffnet wurde, die Fleischlieferung für eine rasant wachsende Stadtbevölkerung. Alle Fleischer wurden verpflichtet, dort zu schlachten. Der Fleischkonsum des Menschen wird thematisiert. In dieser Zeit formierten sich, gestützt auf die Thesen Rousseaus, der sich gegen die Tötung von Tieren einerseits und gegen den Unterschied in der Ernährung zwischen Arm und Reich an-
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dererseits ausspricht, Bewegungen von Vegetariern. 1847 gründete sich im englischen Manchester die erste vegetarische Gesellschaft; 1892 wurde der Vegetarier-Bund Deutschland ins Leben gerufen. Fleischesser werden hier als grausame, blutrünstige Personen diffamiert. Man setzt sich, wenn auch weniger aus vegetarischer Perspektive mit dem Essen von Fleisch auseinander, dabei wird Fleischessen stets mit Wildheit und kultureller bzw. individueller Nicht-Zivilisiertheit assoziiert. Carl Caspari zieht in seinem 1825 erschienenen „Handbuch der Diätetik für alle Stände“ eine Parallele zwischen der Wildheit der Völker und ihrem Fleischkonsum (zit.n. Kleinspehn 1987: 271f., Hervorheb. i.O.): „Die rohesten unter ihnen, welche sogar Menschenfleisch genießen, zeichnen sich durch die höchste Grausamkeit und besonderen Mangel an intellektuellen Fähigkeiten aus, weniger finden wir dies schon bei denen, welche von Thieren leben, und am wenigsten Roheit und am meisten Seelenfähigkeiten besitzen die Menschen, welche sich einer gemischten Nahrung aus Fleisch und Vegetabilien bedienen. Es muß daher für uns Regel seyn, nicht bloß Fleisch zu unserer Nahrung zu wählen“.
2.2 V ON ZUR
DER I NDUSTRIALISIERUNG G EGENWART
Im Zeitalter der Industrialisierung vollzog sich insbesondere hinsichtlich der Essenszeiten ein großer Bruch zur bisherigen Vergangenheit. Da Wohnort und Arbeitsstätte nicht mehr eins waren oder zumindest nah beieinander lagen, bestimmte das Regelwerk der Lohnarbeit die Zeiten, an denen gegessen werden durfte. Das gemeinsame Mittagessen im Kreise der Familie konnte lediglich an Sonntagen stattfinden; die kurze Mittagspause ließ dem Arbeiter für einen Gang an den häuslichen Esstisch meist keine Zeit, so dass er sich mit mitgenommenem oder von der Hausfrau gebrachtem Essen versorgen musste. Der „Hen-
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kelmann“, eine blecherne Flasche, die vom Eintopf bis zum (Malz-) Kaffee Nahrungsmittel transportabel machte, wurde ein populäres und nützliches Utensil. Der Eintopf gilt noch lange Zeit als Essen des einfachen Mannes. Oft war in ärmeren Haushalten nur eine Kochstelle vorhanden, was für die Zubereitung des buchstäblichen Ein-Topfes genügte. Man sieht dem Eintopf die Inhaltsstoffe nicht gleich an, im Gegenteil suggeriert er „Hülle und Fülle“ (Bourdieu 1987: 313). Der Eintopf kann mit Kartoffeln und Kohl gestreckt werden und mit Mehl angedickt zur weiteren Sättigung verhelfen – selbst wenn es nur wenig oder gar kein Fleisch darin gibt. Und was die Qualität des Fleisches angeht, werden gerade nicht die teuren Stücke, wie etwa Filet, benötigt. Das Essen des Industrieproletariats und der armen Bevölkerung überhaupt bestand seit dem 18. Jahrhundert vorwiegend aus Kartoffeln, die den bis dahin typischen Getreidebrei ablösten. Im Jahr 1539 wurde die Kartoffel 13 aus den peruanischen Anden nach Spanien geholt, wo sie als billiges Nahrungsmittel der Massen diente – vom Etikett des „Arme-Leute-Essens“ beginnt die Kartoffel sich erst in jüngster Zeit allmählich zu befreien. Feuerbach (zit.n. Lemke 2007b: 389) bezeichnete die Kartoffel gar als „unmenschliches und naturwidriges Nahrungsmittel“, während Leibniz meinte, die Kartoffel verdumme den Menschen (vgl. Engelhardt 1995: 290). Apropos Verdummen: Aus Kartoffeln wurde der für Arbeiter und Arme weitaus erschwinglichere Branntweinersatz, nämlich Kartoffelschnaps, hergestellt. Der Mais, ebenfalls ursprünglich aus Südamerika, ernährte in ähnlich volkstümlicher Weise wie die Kartoffel das gemeine Volk im gesamten Südosten Europas. Hochpreisige Kolonialwaren – Kaffee, Zucker, Tee, Kakao – bleiben für die arbeitende Bevölkerung meist unerreichbar, sie musste verF
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13 1588 nennt der in Wien lebende französische Gelehrte Charles de L’Ecluse die Katroffel „taratoufli“, kleine Trüffel. In Anlehnung daran heißt die Kartoffel in Italien „tartufoli“, in Russland „kortopfel“, die etymologische Nähe zum deutschen Wort „Kartoffel“ ist unverkennbar.
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zichten oder sich mit Surrogaten behelfen. Statt Bohnenkaffee trank man Zichorienkaffee aus der Zichorienwurzel oder Malzkaffee aus Getreide und benutzte Rübenzucker, dessen Erwerb vor allem die preußische Regierung als heimische Alternative zum kolonialen Rohrzucker propagierte. Im Zuge des Bevölkerungswachstums und der zunehmenden Verstädterung wurden in lebensmitteltechnologischer Hinsicht weitergehende gesetzliche Regelungen nötig: 1876 errichtete man in Berlin das Kaiserliche Gesundheitsamt, 1879 folgte der Erlass eines im gesamten Reich geltenden Nahrungsmittelgesetzes, zahlreiche dezentrale Lebensmitteluntersuchungsämter wurden im Lande installiert, und die Forschung sollte mit der Schaffung von Lehrstühlen für Lebensmittelchemie forciert werden. In England trat 1860 mit dem „Food and Drink Act“ ein recht modernes Lebensmittelgesetz in Kraft; zuvor definierten die „Bread Acts“ von 1832 und 1836, was genau unter der Bezeichnung „Brot“ verkauft werden durfte und was nicht. Kostbare Kolonialwaren etwa wurden häufig mit Beimischungen wie beispielsweise Kalk gestreckt. Dem wollte und musste man entgegenwirken – aus ökonomischen Gründen, aber auch zum Erhalt der Volksgesundheit. Durch die neuen Konservierungsmethoden – um 1900 wurde das Einkochen bzw. nach den Herstellern benannte Einwecken und Einrexen von Obst und Gemüse in speziellen Gläsern der Firmen Weck und (später folgend) Rex möglich – und Fortschritte in der Landwirtschaft reduzierte sich die vormals große Abhängigkeit von Ernteerfolgen und die Häufigkeit von verheerenden Missernten. Der Chemiker Justus von Liebig (1803-1873) vervielfachte mit dem Einsatz von natürlichen und chemischen Düngemitteln die landwirtschaftlichen Erträge. Für den dennoch existierenden Hunger und die miserable Ernährung, die noch viele Menschen erleiden und aushalten, müssen nun zunehmend wirtschaftliche Verteilungsfaktoren als ursächlich betrachtet werden. Die letzte größere Hungersnot suchte Deutschland in den Jahren 1845 und 1847 heim.
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Mit der Industrialisierung lösten sich die bislang vorherrschenden agrarischen Gesellschaften mit ihren tendenziell gemeinsamen Mahlzeiten, der Selbstversorgung durch Eigenproduktion der Lebensmittel auf, die Bereiche des Wohnens und des Arbeitens fielen räumlich auseinander. Die Kulminierung von Arbeitsplätzen in den Städten ließ ihre Einwohnerzahl in den Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts sprunghaft ansteigen: Düsseldorf etwa zählte 1800 zehntausend Einwohner, bis 1910 stieg die Zahl auf 360 000 Bürger – die sich ernähren mussten, genauer: ernährt werden mussten. Das wohlhabende Bürgertum übernahm die Position des Kenners der feinen, distinguierten Esskultur, die zuvor die Aristokratie pflegte. Die Arbeitszeit gibt, wie erwähnt, die Essenszeiten vor, der „Faktor Zeit und die Optimierung der Sättigung“ (Kleinspehn 1987: 385) rücken in den Vordergrund, womit auch der Bereich des Essens von Funktionalität geprägt wird und der Mensch hier in einen maschinenartigen Ablauf gezwungen wird. In der Konsequenz verändern sich die Zubereitung des Essens und das Essen – als Gegenstand und Handlung – drastisch. Das Pausenbrot und der schon angesprochene Henkelmann werden zum Symbol für das zeitlich festgelegte Essen der Arbeiter, aber auch dem Dienstleistungs- und Handelssektor wurden reguläre, feste Zeiten, Büro- und Geschäftszeiten, übergestülpt. Die familiäre Mahlzeit als Strukturprinzip des Tages musste unter den äußeren Bedingungen verschwinden. Das 1838 von Antonius Anthus (vgl. 1962: 146) geführte Lamento dürfte bereits zu jenem Zeitpunkt nostalgisch angemutet haben, wenn er klagt, dass die deutsche Tageseinteilung nach Arbeits- und Bürostunden der Einführung zweckmäßiger und angenehmer Esszeiten entgegenstehe. Die Stammkneipe, die der männliche Arbeiter besucht, um seinen Feierabend mit Bier und Branntwein einzuläuten, wurde ausgehend vom englischen Kontinent, dem Vorreiter der Industrialisierung, zu einer klassentypischen Erscheinung des Proletariats. Die strikte Trennung der Geschlechter zeigt ein neuartiges Phänomen: In der bäuerlichen Kultur tranken Frauen und Männer gemeinsam – wie sie auch gemeinsam an einem Ort arbeiteten.
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Die zeitlich einhergehende Revolutionierung der Lebensmittelkonservierung und des Transportwesens ermöglichten die quantitative Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln; die Umsetzung biologischer Forschungserkenntnisse um 1850 in der Viehzucht bescherte größere Schweine und Rinder und damit einen höheren Fleischertrag. In der Alltagskost zogen eine gewisse Standardisierung und eine Konformität des Essens ein, die zu Lasten seiner Qualität gingen. Die Patentierung der Eismaschine um 1830 lieferte schließlich ungeahnte Möglichkeiten der Konservierung von Nahrung. 1879 fand ein öffentliches Bankett statt, bei dem die Gäste mit Lebensmitteln verköstigt wurden, die ein halbes Jahr lang tiefgefroren lagerten – eine aufregende Sensation. Im Meer gefangener Fisch konnte mit Hilfe von Eis sofort auf den Schiffen vor dem raschen Verderb bewahrt werden. Ohne die Herstellung von Eis und seiner konservierenden Eigenschaft wäre etwa die Existenz der fish-and-chips-shops, die in England überwiegend arme städtische Arbeiter ernährten, undenkbar gewesen 14 . Die Option zu haben, fertig zubereitetes Essen bequem zu kaufen und im Anschluss rasch zu verzehren, erfüllte das Bedürfnis vieler arbeitender Menschen. Das nicht-rituelle Essen in Form von Snacks fand großen Zuspruch, im gleichen Zuge reduzierte sich aus Zeitmangel das häusliche Kochen. Als „Gleitzeitessen nach dem Terminkalender“ (Harbelt/Spindler 2003: 320) dienen Snacks bis heute der alltäglichen Ernährung vieler, weil sie sich nahezu perfekt der Lebenssituation anpassen und sich in sie einfügen. Neue große öffentliche Verköstigungseinrichtungen entstanden mit den Volksküchen, als deren Pionier sicher Graf Rumford zu nennen ist, später wurden Kantinen in den Fabriken und Betrieben eingerichtet. F
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14 Die fish-and-chips-shops nahmen in der Ernährung einen derart großen und offenbar monopolistischen Stellenwert ein, dass man während des Ersten Weltkriegs daran dachte, die Bräter vom Wehrdienst zu befreien, weil sie einen unerlässlichen Beitrag zur Volksernährung leisteten und hier unentbehrlich schienen. Im Jahr 1910 verzeichnete England 25 000 Fischbratbuden (vgl. von Paczensky/Dünnebier 1999: 129).
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Allen Essensangeboten liegt das Prinzip der Zweckgebundenheit, der das gesamte Zeitalter durchdringende Geist der Rationalität gepaart mit einem puritanischen Arbeitsethos zugrunde. Seit Ende des 17. Jahrhunderts interessieren sich Staat und Wissenschaft in verstärktem Maße für die Nahrung und Ernährung des Menschen. Lebensmittelgesetze werden verabschiedet, 1911 werden die Vitamine entdeckt und bezeichnet. Das Thema „Volksgesundheit“ muss dabei einer rassistisch geprägten Staatsideologie wie der des nationalsozialistischen Regimes von besonderer Wichtigkeit sein. „Ernährung ist keine Privatsache“ – so lautet denn der Titel einer Schrift der Hitler-Jugend (vgl. Proctor 2003: 263). Und wieder wird Brot zur Segregation genutzt: Vollkornbrot gilt als arisches Brot, gesund und nahrhaft sei es dem deutschen Volkscharakter ähnlich, und nur nachgewiesene Arier erhielten es auf Lebensmittelkarten – das Brot definierte, wer deutsch war und wer nicht. An dem neu eingeführten gemeinsamen Essen in den Schulen durften nur arische Kinder teilnehmen; ein drastisches und bewegendes Beispiel dafür, wie die Bedeutung eines Ausschlusses von der gemeinsamen Mahlzeit politisch genutzt wird und sozial seine Wirkung erzielt. In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg spitzt sich die während der Industrialisierung begonnene Verkürzung und soziale Abkoppelung der Mahlzeit von der Familie weiter und rasch zu. Soziodemographische Veränderungen wie die sinkende Anzahl der Kinder pro Familie, gravierende gesellschaftliche Wertewandel, die steigende Berufstätigkeit von Frauen, die nicht wie früher aus blanker Armut heraus zur Arbeit gezwungen waren, sondern nun alle Schichten erfasst, und die steigende Anzahl allein lebender Personen, die „Single“-Haushalte, haben ein neues Bedürfnismuster in puncto Ernährung gebildet. Es entspringt der Notwendigkeit und auch dem Wunsch nach einem schnellen Essen, dessen Zubereitung wenig Aufwand, sprich Zeit erfordern soll, die ansonsten die Freizeit minimieren würde. Die Forderungen werden von dem mittlerweile riesigen Angebot an Fertiggerichten – aus der Konservendose, getrocknet oder gefroren –, dem sogenannten
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„Convenience Food“ 15 im Übermaß erfüllt. Die fertig zubereiteten Speisen müssen lediglich erwärmt werden: Das umsichtige Einkaufen vieler Zutaten, ihre Vorbereitung wie Waschen, Putzen oder Schnippeln, komplizierte Vorarbeiten, wie Rouladen wickeln, Eierstich herstellen, Teige kneten sowie die mitunter langen Garzeiten verschwinden. Zusatzstoffe, Geschmacksverstärker und Aromen, die etlichen Lebensmitteln, vor allem aber Convenience-Produkten in rauen Mengen beigefügt sind, sorgen für die nötige Haltbarkeit, für Geschmack, Aussehen und die erwartete Konsistenz des Essens. Man könnte sagen, dass diese Zusätze das Essen gestalten, sie garantieren sein Gelingen und bürgen für Geschmack, der zwangsläufig bei jedem gekauften Produkt uniform ist, da alle Zutaten einer exakten Berechnung unterliegen und auch die Zubereitung dem stets gleichen prinzipiell immer wieder reproduzierbaren Schema folgt. Die Convenience-Varianten des Königsberger Klopses oder des Szegediner Gulaschs sind letztlich „lebensmitteltechnische Reproduktionen des Originals“ (Lemke 2007b: 440), scheinbar unendlich viele Mahlzeiten sind möglich, alle schmecken, riechen und sehen gleich aus. Convenience-Produkte werden industriell hergestellt, die vom Lebensmittelchemiker gewonnenen Zusatzstoffe müssen eine lebensmittelrechtliche Zulassung besitzen. Die Ernährung des Menschen unterliegt wohl heute den umfassendsten Kontrollen seit jeher, allerdings ist das zu Kontrollierende unübersichtlich geworden und in seinen Auswirkungen auf den menschlichen Körper mitunter kaum sicher prognostizierbar. Zuweilen wird dieses System von Störungen heimgesucht, etwa wenn die Vermutung aufkommt, der eine oder andere Zusatz könnte Krankheiten oder Allergien auslösen, oder wenn bemerkt wird, dass verdorbene Zutaten verwendet wurden. Die Verunsicherung und Empörung ist dann groß, letztlich basiert diese Form der Ernährung in ganz besonders hohem Maße auf dem Vertrauen des Essers, der die einzelnen Bestandteile des Gerichts nicht einmal in Augenschein genommen hat bzw. nehmen konnte, was für ihn durchaus einen gehörigen Kontrollverlust bedeutet. Allerdings: F
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15 Zur Wortbedeutung: Convenience – engl. „Bequemlichkeit“.
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„Unsere bequeme Welt der Fertig-, Light- und Mikrowellenprodukte wäre ohne Zusatzstoffe unmöglich“ (Gonder 2008: 85). Zusatzstoffe sind chemisch separierte Inhaltsstoffe von Pflanzen, tierischen Zellen, Bakterien, Pilzen oder künstlich erzeugte Stoffe. Farbstoffe für das Aussehen der Speise, Emulgatoren und Stabilisatoren für die Herstellung und den Erhalt einer bestimmten Konsistenz, Säureregulatoren, Trennmittel, Schaumverhüter, Feuchthaltemittel, Geschmacksverstärker Glutamat und Konservierungsmittel – 315 Zusatzstoffe durften im Jahr 2008 mit Erlaubnis des Gesetzgebers der Nahrung beigefügt werden. (vgl. Gonder 2008: 85). Hinzu kommen rund fünftausend Aromastoffe zur Gestaltung von Geruch und Geschmack. Ob von all diesen Ingredienzen tatsächlich keinerlei gesundheitliche Gefährdung ausgeht, ist eine Frage, die den Esser im postmodernen Zeitalter durchaus bewegt 16 ; immerhin lehnen 60 Prozent der Verbraucher künstliche Aromastoffe ab (vgl. Grimm 2006: 25), was nicht unbedingt heißt, dass der Verbraucher auf Speisen mit Aromastoffen verzichtet. Zwei Drittel aller Nahrungsmittel werden mittlerweile industriell zubereitet, die Lebensmittelbranche hat sich zum großen Wirtschaftssektor entwickelt. Die häuslichen Gefriertruhen und Mikrowellengeräte haben diesen Prozess der „künstlichen Ernährung“ ermöglicht und begleitet. Seit den späten 1970er Jahren gibt es in Deutschland die Tiefkühlpizza, die einen wahren Siegeszug in den nationalen Haushalten angetreten ist. Nach Erhebungen von 2004 verzehrt jeder Deutsche pro Jahr neunzig Stück (vgl. Fichtner 2004: 25). Das Angebot an Tiefkühlprodukten hat sich seit den 1970er Jahren verfünffacht (vgl. Petermann 2004: 213). Das 1945 patentierte Mikrowellengerät hat die Zubereitungszeit der vorgefertigten Nahrungsmittel, etwa geputzte und in Scheiben geF
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16 Der antike Römer nutzte zur Konservierung von Wein, der – ebenso wie in Griechenland und Ägypten – in luftdichten Amphoren gelagert wurde, einen in verbleiten Töpfen gekochten Sirup als Zusatz. Aufgrund dieser Konservierungsmethode schließt man, dass viele Römer an einer chronischen Bleivergiftung gelitten haben müssen (vgl. Tannahill 1973: 108).
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schnittene Möhren, und von Fertiggerichten weiter verkürzt. Der erste Mikrowellenofen mit einem Gewicht von über 350 Kilogramm befand sich 1947 in der amerikanischen Stadt Boston; 1964 wurde der erste Ofen in Europa in England in Betrieb genommen. Inzwischen ist das bei weitem leichtere und kleine Mikrowellengerät in nahezu jedem Haushalt zu finden. Die Mikrowellen bringen in kürzester Zeit Wassermolekühle zum Vibrieren und erhitzen auf diese Weise die Speisen im Innenraum des Geräts. Bertschi und Reckewitz (vgl. 2004: 66) berichten von einem Vorhaben in den USA, Einfamilienhäuser ohne Küche, aber mit einem gigantischen Mikrowellengerät auszustatten. Neben der schnellen Zubereitung werden vor allem das sichere Gelingen des Covenience-Essens und sein verlässlicher Geschmack geschätzt: „Die Externalisierung der Zubereitungsprozesse aus der häuslichen Küche in die Produktionsanlagen der Lebensmittelkonzerne und die großindustrielle Automatisierung der Lebensmittelherstellung führen zwangsläufig zu einer Standardisierung des Essens und seines Geschmacks“ (Lemke 2007a: 136f.).
Begonnen hat der Trend zum Fertiggericht mit den Suppenwürfeln von Carl Heinrich Knorr aus Heilbronn, Backpulver aus dem Triebmittel Natriumhydrogenkarbonat, von Dr. August Oetker seit 1891 hergestellt, und der Flüssigwürze des Schweizer Müllers und Getreidehändlers Julius Maggi aus dem Jahr 1887. Die „Erbswurst“, im Deutschfranzösischen Krieg 1870/71 zunächst zur Soldatenverpflegung eingesetzt, eine in Tablettenform gepresste Trockenmasse aus Erbsenmehl, Rinderfett oder Speck und Gewürzen, ernährte später auch Arme und Arbeitslose. Mit der 1898 übernommenen Erbswurst begann der Erfolg der Firma Knorr; kreiert wurde dieses erste industriell zubereitete Instantgericht im Jahr 1867 von dem Berliner Koch Johann Heinrich Grünberg. Von vorgefertigten Trockensuppen in Tüten, die immer noch die Firmen Knorr und Maggi marktführend vertreiben, verkauften sie im Jahr 1987 mehr als 50 000 Tonnen (vgl. Harpprecht 1995: 399). In den 1960er Jahren bescherten „Tempolinsen“, „Tempobohnen“ und
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„Tempoerbsen“ der berufstätigen Frau in der DDR Zeitersparnis. Die chemisch aufgespaltenen Hülsenfrüchte mussten weder gewaschen noch eingeweicht werden und waren nach fünfzehn Minuten Kochzeit verzehrfertig (vgl. Duve/Völker 2002: 279). Von technologischer Manipulation des Geschmackssinns, der geschieht, wenn die einfacher zu verarbeitende widerstandsfähigere Preiselbeere im Joghurt genauso schmeckt wie die ungleich mehr Schonung bedürfende Erdbeere, oder wenn der Geschmack Räucherung suggeriert, tatsächlich aber Fisch oder Fleisch durch das Besprühen mit Flüssigrauch in kurzer Zeit unter Zugabe von Raucharomen zubereitet wird, ist hier noch wenig zu spüren. Mit dem großen Lebensmittelangebot – ein gut sortierter Supermarkt 17 beherbergt etwa 9000 Convenience-Food-Produkte (vgl. Fichtner 2004: 35) – reduziert sich das Kochenen in den eigenen vier Wänden. Damit einhergehend schwinden die Ambitionen und Notwendigkeiten zur Weitergabe von Kochrezepten von einer Generation zur nächsten sowie die Fähigkeit, spezielle Familiengerichte zuzubereiten. Im direkten Kontrast zum maschinengefertigten Essen erscheint es auf einen ersten Blick geradezu paradox, dass der zeitgenössische Esser gesundes und geschmackvolles Essen essen möchte. Aber auch diese Bestrebungen „erfüllt“ die Nahrungsmittelindustrie: Zwischen fettreduzierten „Light“-Produkten, die zum Beispiel mit Zuckerersatzstoffen statt mit Zucker hergestellt werden, und „Functional Food“, mit zusätzlichen Vitaminen und Ballaststoffen angereicherten Produkten, kann ausgewählt werden. Das Essen verspricht also die Annäherung an bzw. die Verwirklichung des körperlichen und sozialen Schönheitsideals des schlanken und vitalen, aktiven, eben gesunden Menschen. GenF
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17 Zum Supermarkt schreibt Margret Visser (1998: 22): „Er symbolisiert das Selbstverständnis und die Ideale der nordamerikanischen Kultur, indem er das Streben nach Größe, Verfügbarkeit, freier Auswahl, Gleichheit, Vielfalt, Fülle, Bequemlichkeit, Hygiene und Tempo verkörpert“. Die ersten Supermärkte in Deutschland öffnen in den 1960er Jahren.
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technisch behandeltes „Novel Food“ birgt Vorteile in seiner Haltbarkeit und hinsichtlich der eigenen Ansehnlichkeit. Das Spektrum des Essens hat sich jedoch nicht nur unter dem Aspekt der industriellen Zubereitungs- bzw. Herstellungsweise verändert, durch die Einflüsse ausländischer Küchen ist eine Speisenerweiterung erfolgt. Urlaubsreisen zunächst ins europäische Ausland zu Beginn der 1960er Jahre in Zeiten des deutschen Wirtschaftswunders und Arbeitsmigranten aus Italien, den Ländern des ehemaligen Jugoslawiens, Polen, Spanien und der Türkei haben zwangsläufig einen Kontakt mit fremden Esstraditionen bewirkt. Diese „anderen“ Speisen, deren Zubereitungsweise die deutsche Hausfrau nicht kannte, setzten sich als Fertiggericht oder Imbissessen durch. Pizza, Pommes frites, Döner oder Chop Suey – wer stellt dies tatsächlich selbst her? Die Originalgerichte wurden und werden jedoch dem „deutschen Geschmack“ angeglichen, „kreolisiert“ bzw. „hybridisiert“, wie Jütte (vgl. 2005: 53) sagt, um allzu ungewohnte Geschmacksereignisse und Überraschungen zu vermeiden. Und als Convenience Food schmeckt auch die Peking Ente immer gleich, da kann der Konsument völlig beruhigt sein. Ein anderes Phänomen der zeitgenössischen Esskultur zeigt das Fast Food, in dem sich ebenfalls das Paradigma der Schnelligkeit verwirklicht.
2.2.1 Fast Food Fast Food wird überwiegend unter zeitlichem Druck bzw. unter Inanspruchnahme eines definierten Zeitpotenzials meist im öffentlichen Raum gegessen. Natürlich ist auch ein Apfel oder eine belegte Brotstulle „schnell“ und „zwischendurch“ gegessen, ohne jedoch als Fast Food zu gelten. Das Moment des Kommerziellen ist wesentlich, die Fast-Food-Speise wird fertig zubereitet – tatsächlich fertig zum Essen – gekauft. Sein Ursprung ist die Straße, und die Imbissbude erscheint hier als die Verkörperung des Fast Food. „Fast food kann nur gedeihen, wo
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Mobilität und Fluktuation positiv besetzte Werte sind“, so Christoph Wagner (1995: 262) in seiner Untersuchung zum Thema. Ein schnelles Essen war in bestimmten Situationen bereits in historisch-antiken Zeiten gewünscht. Der Bedarf bestand beispielsweise im Krieg – man erinnere die Erbswurst – oder auf Reisen. In früheren Zeiten reiste man keineswegs zum Vergnügen (vgl. Schirrmeister 2002: 192); den eigenen Wohnort zu verlassen war ein notwendiges Übel, das man aus wirtschaftlichen oder religiösen Motiven auf sich nahm. Im Altertum reichten „fliegende Händler“ auf den Straßen gefüllte Feigenblätter, Gerstenkuchen, Bratfische, Breie und Brote an Fußwanderer und berittene Reisende. Die antiken Snacks konnten ohne großen Umstand von der Hand in den Mund gegessen werden. In Rom brachten Pastetenbäcker Teigwaren unter die Passanten. Imbisse wurden, wenn man so will stationär, in Theatern, Arenen, Badehäusern und an Thermen zum raschen unkomplizierten Verzehr angeboten. Die kleinen Wohnungen, oft ohne einen Wasseranschluss, mögen die Römer verstärkt in die Öffentlichkeit getrieben haben, um sich dort rasch mit Speisen zu versorgen. In den „popinae“, den Schlemmerstuben, Kneipen und Garküchen, die sich in den Badehäusern befanden, erhielten die Besucher Wein, Würstchen und Kuchen. Der Bedarf an Imbissen resultiert seit jeher aus den Tätigkeiten des Menschen und seinem Tagesablauf. Auch in Afrika, Arabien und China haben fliegende Händler Essen unter freiem Himmel verkauft; im Tokio des 17. Jahrhunderts gab es an Imbissständen Sushi zu erstehen – heute hierzulande mit dem Image des gesunden Edel-Fast-Food versehen und eher von einer zahlungskräftigeren Kundschaft bevorzugt. Es wird berichtet von öffentlichen Garküchen in Mesopotamien und im mittelalterlichen Orient. Im europäischen Badehaus des Mittelalters, oft zugleich ein Bordell, wurden den Besuchern ebenfalls kleine Speisen und Getränke gereicht. Gasthäuser boten dem Reisenden Herberge und Kost, allerdings musste gegessen werden, was gerade über der Feuerstelle des Herdes hing oder am Spieß im Feuer garte. Wirtsfamilie und Gäste saßen gemeinsam um den Kamin, erst im 18. Jahrhundert erfolgte im Gasthaus die räumliche Trennung zwischen Gästebereich und Privaträumen.
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Mittelalterliche Garküchen boten überdies die Möglichkeit, mitgebrachtes Fleisch zu braten, denn einerseits besaß nicht jedes Haus eine Herdstelle und andererseits verursachte es Aufwand, mit Holz das Feuer anzufachen. Einige Jahrhunderte später, im 18. Jahrhundert, kam mit dem Picknick eine neue öffentliche Essvariante auf. Die Aristokratie und später auch das wohlhabende Bürgertum fanden vor dem Hintergrund der romantischen Idealisierung der Natur angesichts im Alltag wachsender Industrialisierung und Automatisierung der Gesellschaft Gefallen am Essen in freier Natur. Man fuhr aus den Städten hinaus auf das Land, im Picknickkorb transportierte man die zu Hause fertig zubereiteten Speisen sowie Geschirr und Besteck. Das Picknick brachte zwangsläufig zwanglosere „Tisch“sitten mit sich, klassische Picknickspeisen wie Muffins, Pan Bagnat, Corned Beef, Sandwiches 18 oder Würstchen, ließen sich kurzerhand auch ohne Besteck verzehren. Wagner (vgl. 1995: 38) bescheinigt dem modernen Fast Food und den typischen Speisen des Picknicks eine enge Verwandtschaft. Vieles, das heute als Fast-Food-Speise gilt, hat hier seinen Ursprung, man denke an das Würstchen, die Frikadelle oder kurz gegrilltes bzw. gebratenes Fleisch. Etliche Fast-Food-Gerichte, Tortillas, Pizzen oder Tacos begannen als Arme-Leute-Essen. In der Tat ist ein wesentliches Merkmal von Fast Food sein relativ geringer Preis – sieht man einmal von der exklusiven Variante urbaner Luxus-Imbisse ab, die Sushi und Garnelen servieren, für die Currywurst Fleisch vom Biolandwirt verwenden und statt mit herkömmlichem Curry womöglich mit Kurkuma würzen. Mit der Trennung zwischen Arbeiten und Wohnen entwickelte sich das Bedürfnis nach raschem und günstigem Essen außer Haus. Ende des 19. Jahrhunderts prägten bereits die Fish-and-chip-shops das Straßenbild des viktorianischen Englands; 1902 wurde das Automatenbuffet von Joseph Horn und Frank Hardart eröffnet, aus dessen Schächten warme und kalte Snacks purzelten. Das erste Self-service-Restaurant, das als Ideal für schnelles und sauberes Essen angepriesene „New F
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18 Der Koch des Sir John Montagu, Vierter Earl of Sandwich (1718-1792) soll die Klappstulle erfunden und nach seinem Herrn benannt haben.
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York Exchange Buffet“, konnte bereits im Jahr 1885 in den USA Gäste gewinnen. Speisen wie Pommes frites, Hamburger und Currywurst sind allen anderen voran seit etlichen Jahren, wenn nicht Jahrzehnten, typische Imbissgerichte. Der Hamburger besteht im wesentlichen aus einer Scheibe gebratenem Hackfleisch, das zwischen zwei Brötchenhälften gelegt und eventuell mit Salatblatt, Tomate, Zwiebeln, Ketchup oder anderen Soßen garniert ist. Seine Erfindung ist unklar (vgl. Wagner 1995: 148), wird allerdings als Weiterentwicklung des Sandwiches vermutet. Ende des 19. Jahrhunderts verkauften Emigranten Hamburger aus notdürftig zu Imbissbuden umgebauten Wohnwagen. In den 1920er Jahren galt der Hamburger als klebrige, schmutzige und proletarische Speise (vgl. a.a.O.: 151). Der Verkauf aus Wohnwagen, aus zunächst örtlich feststehenden, aber gleichermaßen leicht wieder zu entfernenden bzw. zu verlagernden Räumen – aus Wagen, Buden, umgebauten Kleintransportern wird bis heute häufig Fast Food angeboten –, spiegelt in seinen ambulanten Räumlichkeiten die Flüchtigkeit des Essens. Alleinstehende Verkaufsstände, kleine Stuben in Bahnhöfen, Arkaden oder Passagen sind bevorzugte Plätze für den Verkauf von Fast Food, abgesehen von Märkten, auf denen schnelles Essen seit jeher zum Warenangebot gehört. Die im 19. Jahrhundert einsetzende Beleuchtung der städtischen Straßen eröffnete den Betreibern die Möglichkeit, im Schein der Lampen tätig zu sein und später durch die Anbringung von Leuchtreklamen ihre Buden im Straßenbild schon aus der Ferne sichtbar werden zu lassen. Die Öffnungszeiten passten sich damit auch den Bedürfnissen der in Nacht- und Spätschicht tätigen Arbeiter an. Würste kennt man in Deutschland schon seit dem 11. Jahrhundert 19 , mit der Currywurst wurde jedoch 1949 in Berlin ein „Symbol der Blütezeit der Imbißkultur“ (Barth 1993: 374) erfunden. Zehn Jahre später ließ die ebenfalls in Berlin ansässige Imbissbudenbesitzerin HerF
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19 In Regensburg soll es vor neunhundert Jahren eine Würstelbude für Bauarbeiter gegeben haben (vgl. von Paczensky/Dünnebier 1999: 26).
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ta Heuwer das Rezept für ihre Currysoße patentieren. Die Currywurst ist sozusagen in aller Munde: 1985 wurden allein in ihrer Geburtsstadt Berlin täglich 200 000 Stück verkauft (vgl. Harpprecht 1995: 394). Kommerzielles Fast Food tritt mit seinen Verkaufsketten einen Siegeszug in der Ernährung der Bevölkerung an: Ab 1955 avancieren die Hähnchengrillbuden, „Wienerwald“, des ehemaligen Oberkellners Friedrich Jahn zur ersten großen Fast-Food-Kette Deutschlands 20 ; 1971 eröffnet in München die erste McDonalds-Filiale, seit den 1980er Jahren weitet sich die Versorgung mit Dönerbuden und Asia-Imbissen flächendeckend aus. In den USA formierte sich die Welle der Fast-Food-Restaurants in den 1920er Jahren, ein Pionier war die Hamburger-Kette „WhiteCastle“ im Bundesstaat Kansas. Ende der 1930er Jahre gründeten die Brüder Dick und Mac McDonald die McDonald’s-Schnellrestaurants, die 1955 Ray Kroc übernahm. In den weltweit vorhandenen Filialen gelingt, eine Gleichförmigkeit der angebotenen Produkte in Aussehen, Qualität und Geschmack zu erzielen, die einen hohen Wiedererkennungswert erzeugt und so das Vertrauen der Esser immer wieder neu bestätigt. Der Cheeseburger, um eine bewährte Speise herauszugreifen, schmeckt überall gleich, ob in Berlin, Hongkong oder Paris. Der Hot Dog, dessen Karriere auf der Jahrmarktsinsel Coney Island begann, wurde rasch zum Inbegriff des Fast Foods in den USA, mittlerweile teilt er diesen Status mit dem Hamburger und der Pizza, dem Arme-Leute-Essen aus Neapel, das italienische Einwanderer ins Land brachten und das hier zu einem klassischen Fast-Food-Gericht emporstieg. Der „Hot Dog“ verdankt seinen Namen dem Karikaturisten Tod Dorgan, der ein Würstchen in Form eines Dachshundes zeichnete, wobei übrigens der Dachshund in den 1920er Jahren als Symbol des F
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20 Gern und oft besucht von muslimischen türkischen Gastarbeitern, die ab den 1960er Jahren nach Deutschland kamen und mit dem Verzehr eines gegrillten Hähnchens sicher sein konnten, kein Schweinefleisch zu sich zu nehmen.
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Deutschen galt. Die zuvor als „red hots“ angepriesenen Würste wurden auf diese Weise zu „Hot dogs“ (vgl. Harpprecht 1995: 393). Das traditionelle Fast Food wird draußen, an oder in der Imbissbude, unterwegs auf der Straße beim Gehen oder in einem Fast-FoodRestaurant verzehrt. Die Speisen können außerdem in Papp-, Plastik-, Styropor oder Aluminiumverpackung, die nach dem Essen dem Müll anheimfällt, mit an den Arbeitsplatz oder nach Hause genommen werden. Dann hat der Esser selbst die Zeit für das Erhitzen eines Convenience-Gerichts gespart. Seit Beginn der 1980er Jahre bieten vornehmlich Pizzerien und Imbissbuden, die ausländisches Fast Food verkaufen, die Hauslieferung ihres Essens an. Im Zeitalter der Mobilität und der gepriesenen Flexibilität ist nun auch das Essen mobil geworden 21 . Mit dem „Coffee to go“ in Pappbechern mit Plastikdeckel gilt das auch für Getränke. Die Lieferung fertig zubereiteten Essens ins Haus zum Esser gehört allerdings nicht unbedingt ausschließlich zur Fast-Food-Kultur, sondern wurde aus karitativen Erwägungen heraus initiiert, nämlich um alte und kranke Menschen mit Nahrung zu versorgen, die selbst nicht mehr in der Lage sind, Essen zuzubereiten. Die Organisation „Meals on Wheels“ hat ihren Ursprung während des Zweiten Weltkrieges in Großbritannien. Die äußeren Umstände in der Welt provozierten auch hier wieder einmal Veränderungen in der Esskultur. Durch das Bombardement der deutschen Armee im Jahr 1939 verloren viele Menschen ihre Wohnungen und damit einhergehend ihre Küchen. Die Ausgebombten versorgten Frauen mit Essen, das sie in noch vorhandenen Küchen zubereiteten. Diese Frauengruppen brachten ebenfalls Erfrischungen und Speisen in Feldflaschen zu den Soldaten; die Feldflaschen wurden als „meals on wheels“ bekannt. Die organisierte VersorF
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21 Die erste Pizza soll 1889 in Neapel von Restaurantbesitzer Raffaele Esposito an König Umberto und seine Gemahlin Margherita von Savoyen ausgeliefert worden sein. Die Lieferung ins Haus wurde zunehmend gewünscht, schließlich wollte der übrige Adel ebenso am Luxus dieser Dienstleistung partizipieren.
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gung derer, die sich selbst kein Essen zubereiten können, entwickelte sich in den 1940er Jahren als das erste Ernährungsprogramm, das Mahlzeiten in Warmhaltevorrichtungen nach Hause liefert. Die Initiative „Meals on Wheels“ existiert in den USA seit 1954, zunächst in Philadelphia/Pennsylvania, um sich von dort aus während der 1960er Jahre nach Deutschland auszuweiten. 1961 konnte erstmals auf diesem Wege eine Gruppe von Senioren in Berlin-Kreuzberg mit warmem Essen per Hauslieferung versorgt werden. Mittlerweile gibt es in Deutschland über zweitausend Anbieter des „Essens auf Rädern“ und seiner Varianten, überwiegend fahren Beschäftigte und ehrenamtliche Helfer der Wohlfahrtsverbände, sozialer und kirchlicher Einrichtungen das Essen in die Häuser und Wohnungen von alten oder kranken Personen. Auch hier greifen die Organisationen zunehmend auf die Ausgabe von Convenience-Produkten zurück, die Mahlzeiten sind eher selten selbst und frisch gekocht. Kein Fast-Food-Restaurant, aber auch kein Restaurant im klassischen Sinne stellt das Bistro dar. Aus Frankreich stammend vereint es kleinere Speisen, die in der Zubereitung nicht viel Zeit in Anspruch nehmen und traditionelle Kneipen- und Cafégetränke – also Restaurant und Kneipe – in einer Räumlichkeit. Es soll zur Zeit der Befreiungskriege (1813-1815) entstanden sein, als u.a. russische Kosaken in Paris einzogen, welche die Kellner zur raschen Zubereitung des Essens angetrieben haben sollen und mit dem russischen Wort für „schnell“, nämlich „bystro“ die Bezeichnung des Bistros prägten (vgl. Bertschi/Reckewitz 2004: 226).
2.2.2 Das Restaurant Neben den markanten Aspekten der zeitgenössischen Esskultur, dem tendenziellen Verschwinden der täglichen gemeinsamen Familienmahlzeit, dem industriell hergestellten Convenience Food und den diversen Imbiss- bzw. Fast-Food-Varianten, lässt sich ein viertes Merk-
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mal als Besonderheit erkennen: das Restaurant. Mit den Schnellrestaurants der Fast-Food-Kultur haben wir bereits den häuslich-privaten Bereich als Essort verlassen; das Restaurant nun gilt als traditioneller (halb-)öffentlicher Raum des auswärtigen Essens. Das französische Substantiv „Restaurant“ bezeichnet im 16. Jahrhundert eine kräftige Bouillon oder Fleischbrühe; als Adjektiv wird es später in der Bedeutung von „stärkend“ und „wiederherstellend“ auch für die Qualität anderer Speisen verwendet 22 . Um 1825 schließlich hat sich der Begriff in seiner heutigen Bedeutung für das öffentliche Esslokal durchgesetzt. Als Vorläufer des Restaurants können Garküchen, mittelalterliche Gast- und Wirtshäuser, Raststätten und Herbergen betrachtet werden. Noch heute bietet in arabischen Dörfern das Gästehaus „madƗfa“ Fremden die Möglichkeit, drei Tage lang unentgeltlich beherbergt und verköstigt zu werden. Wesenhaft ist den Einrichtungen, dass keine Auswahl an Speisen bereitgehalten wurde; der Besucher aß sozusagen zweckgerichtet, um seinen Hunger zu stillen, aus Not und in Ermangelung eines eigenen Herdes. Die frühen Formen der öffentlichen Essräume stellen damit zumindest nicht primär Orte des geselligen oder genusshaften Essens dar. Geselligkeit entwickelte sich beispielsweise im England des 18. Jahrhunderts eher in den Trinkstuben, bisweilen gab es hier sogar ein kleines Speisenangebot. Im römischen Reich hieß man nur Männer in restaurantähnlichen Stätten wie den „tabernae“ als Gäste willkommen; über die Jahrhunderte hat sich diese Beschränkung zwar nicht aufrecht erhalten können, aber bis heute stößt man in der Öffentlichkeit der Gasthäuser und Restaurants eher selten auf einzelne Besucherinnen. Die ersten Restaurants entstanden im 10. Jahrhundert in China, Kellner sorgten für die Bedienung; zugleich lieferte das Restaurant auch die Möglichkeiten eines Bordells. In Europa begann die Tradition des Restaurants im Frankreich des 18. Jahrhunderts. Von Frauen geF
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22 Im „Restaurator“ bzw. im Verb „restaurieren“ finden wir den Aspekt des Wiederherstellens im Hinblick auf zerfallene oder beschädigte Kunst- und Bauwerke wieder.
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führte Gasthäuser waren hier schon für die Güte ihrer Küche bekannt; am Vorabend der Revolution zählte man in Paris allerdings kaum mehr als hundert Lokale mit restaurantähnlichem Angebot. Als erstes Restaurant gilt das 1765 eröffnete Lokal „Champ d’Oiseau“ (vgl. Altwegg 1995: 273). Die Anzahl der öffentlichen Essräume wuchs, als mit Beginn der Französischen Revolution viele Köche angesichts der Enteignung und Vertreibung ihrer adligen Herrschaft arbeitslos wurden und aus der Not heraus ihre Kochkünste auf dem freien Markt anboten. Die Umstände waren ideal: Die Liberalisierung des Handels- und Gewerbewesens bescherte der Hauptstadt Paris viele Reisende, die fernab von Zuhause Verköstigung benötigten, und die durch wirtschaftliches Können oder über die Inbesitznahme der aristokratischen „Erbmasse“ zu neuem Wohlstand Gekommenen konnten oder mochten selbst keinen großen Küchenstab beschäftigen, konnten sich jedoch gelegentliche Restaurantbesuche durchaus leisten. Zudem setzte die Industrialisierung einen Rahmen veränderter Esszeiten und Essformen, so dass ein insgesamt günstiges Klima für das Gedeihen eines Gewerbes entstand, das darin besteht, „dem Publikum stets ein fertiges Mahl anzubieten, dessen einzelne Gerichte auf Verlangen der Gäste in Portionen zu festen Preisen zerfallen“, wie Brillat-Savarin (1962: 195) das Restaurant beschreibt. Eine wesentliche Neuerung stellt die Wahlmöglichkeit des Gastes dar, der nicht länger notgedrungen das essen muss, was ihm vorgesetzt wird. Brillat-Savarin (vgl. a.a.O.: 198) befürchtet allerdings einen Verfall der Tischsitten durch das Restaurant, wo man sich in egoistischer Weise auf sein Essen konzentriere und sich nicht um den Tischnachbarn kümmere – und dies auch nicht tun muss, da portionsgerecht am Platz des jeweiligen Gastes serviert wird. Mit dem Restaurant etablierte sich die Professionalisierung der Kochhandlung vollends und damit manifestierte sich zugleich die Trennung zum häuslichen Kochen. Am häuslichen Herd steht die (Haus-)Frau, das Berufsterrain des Kochs bleibt lange Zeit ausschließlich dem Mann vorbehalten. In der Wende zum 19. Jahrhundert haben sich die Restaurants nicht nur quantitativ behauptet, sie erwarben zudem das Renommé der Vor-
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reiter des „guten“ Essens. Die Gruppen der Gastrosophen, die sich selbst zu Feinschmeckergesellschaften formierten, verliehen ihnen Auszeichnungen und Preise. Das Restaurant ist bis heute die „Heimat der großen Küche“ (von Randow 2005: 120) geblieben. Das Essen im öffentlichen Raum, das jedem, der es sich leisten konnte, zugänglich wurde – soziale Beschränkungen und Ausschlüsse gibt es hier nicht oder kaum – wurde begutachtungsfähig und kontrollierbar. Die Abschottungsmöglichkeit, die Essende an privaten Orten besitzen und in der Regel nutzen, stellt sich im Restaurant in der Vielzahl sich voneinander abgrenzenden Tischgemeinschaften dar; da der Raum als Territorium prinzipiell jedem zugänglich ist, erhalten die Tische den privaten Charakter eines temporär genutzten eigenen Raumanteils. Im 19. Jahrhundert boten viele Restaurants private Räume mit zuweilen separaten Eingängen an, was politischen Gruppierungen, aber auch anderen sozial sanktionierten Treffen Diskretion verhieß. Restaurants erfreuten sich vor allem in den europäischen Großstädten allgemeiner Popularität, ein großer Zuwachs erfolgte in den 1970er Jahren, ein weiterer rund zwanzig Jahre später (vgl. Scholliers 2007: 352). In den meisten Ländern Europas gab die Bevölkerung im Jahr 2003 über neun Prozent ihres Einkommens für das Essen in Restaurants aus (vgl. a.a.O.: 351). Die Beeinflussung der einheimischen Küche durch Migration und Tourismus hat zu Spezialisierungen geführt: 1952 eröffnete in Würzburg die erste Pizzeria Deutschlands, „China-Restaurants“ und die Verköstigung jugoslawischer Balkanspezialitäten folgten. Mittlerweile existiert vom indischen Restaurant über die kreolische Küche zum mongolischen Esslokal selbst in einer mittleren Großstadt so ziemlich alles, was das internationale Essbedürfnis befriedigen könnte. Nach diesem Parforcesritt durch unsere esshistorische Entwicklung bis zur heutigen Essmoderne, schauen wir nun detaillierter auf die Facetten unseres Essens, wobei zentral seine sozialen und kommunikativen – kurz die symbolischen – Aspekte betrachtet werden sollen. Stephen
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Mennell (1986: 331) sagt zu Recht, Essen sei immer schon „both a necessity and a pleasure“ – aber es bedeutet noch vieles mehr.
3 Die Symbolik des Essens Unsere Esskultur – wann wir was, wie, wo, mit wem und warum essen – resultiert aus einer Vielzahl von historischen, aktuellen, gesellschaftlich und individuell geprägten Motiven, die sich oftmals überlappen, etwa wenn ich an einem Freitag mit der gedünsteten Scheibe Schellfisch eine als „gesund“ klassifizierte Speise zu mir nehme und gleichzeitig der christlichen Glaubenstradition entspreche, die an diesem Wochentag das Essen von Fleisch verbietet. Die Motive können einander ebenso gut widersprechen, zum Beispiel beim Verzehr eines Stücks vom gegrillten Spanferkel, das ich in der geselligen Partyrunde aus sozialen Gründen esse, obwohl ich den Verzehr von jungen Tieren aus ethischen Gründen ablehne. Das Essen des Menschen erscheint in seinen Bedeutungen als außerordentlich vielschichtig. In diesem Sinne ist der Mensch nicht einfach immer, was er isst, wie Feuerbach in seiner vielzitierten These behauptete, er isst zuweilen auch das, womit er vorgeben möchte, dieser oder jener zu sein. Immer aber isst der Mensch nicht nur, sondern stets drückt er mit seinem Essen, sozusagen im Essen, Dinge jenseits des Essens aus und liefert damit freiwillig, bewusst oder unbewusst Verweise und Hinweise auf Externes. Er zeigt, vervielfältigt und bestätigt soziale Moden, historische Entwicklungen und Wurzeln und persönliche Befindlichkeiten, signalisiert gesellschaftliche Zugehörigkeiten und spezifische Situationen und soziale Rollen. Auch die Handlung des Essens an sich – wie esse ich, welches Besteck benutze ich, liegen bei Tisch Servietten, wenn ja, in welcher Form, aus welchem Material – wird in nicht hungernden Gesellschaften zu Symbolen mit kommunikativer Aussagekraft. Mit der Esshandlung werden
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bewusst und unbewusst – in letzterem Fall nur aus Sicht des Gegenübers – verschiedene Bedeutungen in die Welt gesetzt, wobei jede Nahrung in eben solcher Weise ein Symbol darstellt (vgl. Lemke 2007b: 88, in Anlehnung an Sartre). Roland Barthes hat dies in seinem Aufsatz „Toward a Psychology of Contemporary Food Consumption“ (1997: 21) weiter ausgeführt: „for all food serves as a sign among the members of a given society”. Lebensmittel zeigen „a system of communication, a body of images, a protocol of usages, situations, and behaviour” (ebd.). Das Lebensmittel, die Speise, ist nicht nur bloße Nahrung zum biologischen Lebenserhalt; die Handlung des Essens, die Art und Weise zu essen, ist nicht nur die Tätigkeit, mit der die Nahrung einverleibt wird: Essen als Gegenstand und als Handlung dient ebenso dazu bzw. wird dazu genutzt, dem anderen „Externes“ mitzuteilen, den sozialen Status, Wohlstand, Religionszugehörigkeit, moderne oder traditionelle Haltungen und vieles mehr. Das Essen nimmt einen symbolischen Charakter an, es verbindet sich eng mit dem Individuum, das die Speise isst, sie in einer bestimmten Art und Weise isst – schließlich ist uns das Essen, wie erwähnt (vgl. 1. 1), noch näher als ein Kleidungsstück, das ebenfalls eine starke Symbolhaftigkeit besitzt. Die Bedeutungen des Essens sind – wie jede Bedeutung – sozial konstruiert, sie sind dem Wesen des Essens, der jeweiligen Speise oder Esshandlung nicht inhärent, was aber auch heißt, dass sie keiner Statik unterliegen, sondern sich gesellschaftlichen Veränderungen und Wandlungen anpassen und sie gleichermaßen mit ausprägen. Das, was mit dem jeweiligen Essen, als Gegenstand und Handlung, symbolisch konnotiert wird, überträgt sich auf den Esser, indem zum Beispiel seine sozialen Zugehörigkeiten mitgeteilt werden. Diese kommunikative Qualität kann absichtsvoll eingesetzt, inszeniert und vorgegaukelt werden: Da findet man den scheinbar mittellosen Rentner, der beim Metzger nur Wurstreste und Hühnerleber kauft, jedoch tatsächlich über florierende Geldanlagen verfügt; den Parvenü, der seine illustren Gäste mit bretonischen Austern und teurem Champagner traktiert oder den Gesundheitsapostel, der in Gegenwart anderer gern Getreidekekse und Biomöhren isst, heim-
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lich aber große Portionen Schweinshaxe und Pommes frites mit Mayonnaise schlemmt. Den diversen Symbolfunktionen des Essens und ihrer sozialen Konstruktion bzw. Entstehung werden wir uns im Folgenden eingehender widmen. Eine wesentliche Komponente in der Symbolik des Essens resultiert aus den religiösen Einflüssen.
3.1 R ELIGIÖSE B EDEUTUNGSPRÄGUNGEN DES E SSENS Die Religionen strukturierten und bestimmten viele Jahrhunderte lang das Leben der Menschen, sie fungierten auch als weltliche Gesetzbücher und prägten das Staatswesen, versahen die Welt mit Wertekategorien – dies alles, je nach Staat und Kultur, bis heute. In säkularen modernen bzw. postmodernen Gesellschaften hat die Religion diese einflussstarke Position eingebüßt, allerdings zeigen sich in den Essgewohnheiten deutliche Spuren religiöser Inhalte, Gebote und Verbote. Bekannt ist das bei Juden und Muslimen herrschende Tabu – das nur eine Vorschrift des umfangreichen Katalogs von Speise- und Zubereitungsnormen ausmacht –, Schweinefleisch zu sich zu nehmen oder das eigene erlaubte Essen auf irgendeine Weise mit dem als unrein erachteten Fleisch in Kontakt geraten zu lassen – und dies gilt auch für Glaubensangehörige, die in sogenannten „aufgeklärten, rationalen“ Gesellschaften leben. Christen, die ihre Religion gar nicht einmal explizit praktizieren, essen „üblicherweise“, „aus Gewohnheit“ freitags Fischgerichte. Die Ursprünge des religiös begründeten Essverhaltens mögen nur noch einige kennen, dennoch befolgen viele mehr oder weniger streng die einst verbindlichen Regeln. Die Esskulturen sind in hohem Maße von religiösen Motiven und Gesetzen durchdrungen, im Essverhalten offenbart sich deutlich ihre große Einflussnahme. Mit Speisevorschriften und Nahrungstabus strukturiert Religion die zwingend notwendige und alltägliche Handlung des Essens und damit den ge-
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samten Alltag und behauptet auf diese Weise im Kopf des Individuums und im Kollektiv der Gesellschaft seine ständige Präsenz. Verknüpfungen von Religion und Essen existieren nicht nur in monotheistischen Religionssystemen, auch in frühen (Stammes-) Kulturen mit einem vielfältigen Götterüberbau demonstrieren insbesondere Opfergaben an die Götter in Form von Essbarem – wozu auch Tiere zählen – die enge Verbindung zwischen Mensch und Gott. In der Vorstellung, dass Götter menschenähnliche Wesen mit menschlichen Emotionen und Bedürfnissen seien, die mit der Darbietung von Gaben in ihren Handlungen gesteuert, besänftigt oder positiv gestimmt werden können, mit denen auch Anerkennung und Dank ausgesprochen werden kann, liegt es nahe, ihnen sehr wertvolle Dinge zu schenken, deren Abgabe eine tatsächliche Entbehrung, eben ein Opfer, darstellt. Und eines der wertvollsten Dinge ist die Nahrung, ohne sie würde der Mensch sein Leben verlieren. Dabei haftet Essbarem, das nur unter erheblichen Mühen zu erwerben bzw. zu erlangen ist, ein noch größerer Wert an. Dies gilt vor allem für Fleisch, dessen „Lieferanten“ zuvor gejagt oder als Haustier gehegt und versorgt werden müssen. Lebende Tiere zu opfern wird damit zu einer besonderen heilssichernden Maßnahme, praktiziert nicht nur in polytheistischen bzw. heidnischen Religionen, diese Opfergabe ist nach wie vor in islamischen Gesellschaften üblich. Aus einer anderen Perspektive betrachtet, gibt der Opfernde mit dem Tier einen biologischen Verwandten seiner selbst; das Blut als sichtbar fließendes Lebenselixier zeigt deutlich das dargebotene Leben. Das Schächten der Lämmer in muslimischen Opferritualen verkörpert dieses Prinzip bis in die Gegenwart. Im Christentum stellt Wein das vergossene Blut des geopferten Gottessohnes dar 23 . Neben der Opfergabe „Nahrung“ gehören Speisevorschriften zum „unaufgebbaren Bestand“ (Schart 2007: 60) vieler Religionen. Mit dem Einhalten der Gebote und Regeln offenbart der Mensch nach außen seine Zugehörigkeit zu einer bestimmten religiösen Gemeinschaft, und F
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23 Je nach religiös-theologischer Auffassung (vgl. weiter unten) symbolisiert der Wein nicht, sondern er ist das Blut Jesu.
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es ist damit kaum verwunderlich, dass sich im Kontext des Essens interreligiöse Konflikte entzünden sowie soziale Trennungen und Distanzen etablieren. In den Religionen des Judentums, des Islams und des Hinduismus fordern strikte Essvorgaben, die sich zumeist auf das wertvolle Nahrungsmittel Fleisch beziehen, gehorsame Anwendung: Die jüdische Kaschrut verbietet ebenso wie der Islam den Verzehr von Schweinefleisch, Hindus ist der Verzehr von Rindern nicht gestattet – viele detaillierte Regeln übergehen wir an dieser Stelle. Bei Christen katholischer und protestantischer Glaubensrichtung besteht eine tiefe Abneigung dagegen, Pferdefleisch zu essen, die jedoch kein institutionelles Dogma mehr legitimiert. Die religiösen Gesetze und Traditionen haben sich in der jeweiligen Religionsgruppe und im gesellschaftlichen Umfeld derart verfestigt und etabliert, dass es die meisten mit Ekel erfüllt, das verbotene Fleisch überhaupt anzuschauen oder gar zu kosten – auch wenn sie Gottes Strafe oder die institutionellen und sozialen Sanktionen des Regelverstoßes vielleicht überhaupt nicht fürchten. Die Speisegebote sind soziale Konstruktionen, aus ernährungswissenschaftlicher Sicht spricht für den Menschen nichts dagegen, Schweine-, Rinder- oder Pferdefleisch zu essen, die er genauso gut verdauen kann wie etwa das nahezu allseits gestattete Hühnerfleisch. Tannahill (vgl. 1973: 65) vermutet den Ursprung der extremen Tabuisierung des Schweins in der Zeit um 1800 v. Chr., also indoarische Nomaden das Schwein ablehnten, weil es sich nicht in Herden halten ließ, keine verwendbaren Produkte wie Wolle oder Milch lieferte und überdies noch einen vergleichsweise großen Aufwand in der Fütterung benötigte. Ihre Abneigung könnten sie weitergegeben haben, so dass zunächst Juden, dann Moslems das Schwein als „unrein“ aus ihrem Lebensumfeld verbannten. Im Judentum heißt es u.a., dass kein Tier verzehrt werden darf, das nicht wiederkäut und ungespaltene Klauen trägt (vgl. Hirschfelder 2005: 80) – Rind, Ziege und Schaf dürfen im Gegensatz eben zum Schwein und auch zu Hund und Katze gegessen werden. Die Ursache des Rindfleischtabus im Hinduismus sehen Pollmer et al. (vgl. 2001: 152) in der Relevanz des lebenden Rindes für das Überleben der Gesellschaft. Als Zugtier benutzt, dient das Rind dazu,
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den kargen Boden zu bearbeiten, um den Menschen von dem wenn auch geringen Ernteertrag vor dem Hungertod zu bewahren. Diese Nutzung scheint nachhaltiger als das Tier zum Verzehr zu schlachten und im Nachhinein ohne Chance auf Nahrung zu verbleiben. In ähnlicher Weise benutzte der Mensch das Pferd weniger als Schlachttier, sondern als Trage- und Reittier. Die Pferde der germanischen Kämpfer wurden neben ihren Herren beigesetzt, sie erhielten, zumindest in der germanischen Sagenwelt, Namen, was auf die enge, fast möchte man meinen freundschaftliche Beziehung zwischen dem Menschen und dem „edlen“ Pferd hinweist. Freunde verspeist man nicht – dies könnte ebenfalls die hierzulande existierende Abscheu vor Hunde- und Katzenfleisch erklären 24 . Im Jahr 732 hat Papst Gregor III. den Verzehr von Pferdefleisch verboten, weil – wie Pollmer et al. (vgl. 2001: 149f.) und Harris (vgl. 2005: 98) bemerken – die Pferde als Bestandteil der Kavallerie im Krieg gegen die Araber eingesetzt werden sollten. In Frankreich sind die Vorbehalte gegenüber dem Essen von Pferdefleisch nicht so stark ausgeprägt wie in Deutschland, England oder den USA. Schließlich hat das Pferd offenbar viele Franzosen vor dem Hungertod bewahrt: Im Zuge der Belagerung von Paris im Jahr 1871 aßen die Pariser nicht nur Pferde, sondern auch Zootiere (vgl. Harris 2005: 103). Ob ein von Hunger geplagter Moslem Schweinefleisch essen würde, lassen wir einmal dahingestellt, tatsächlich stellt die Ablehnung des Schweins ein älteres und dogmatischeres Verbot dar als das Papstdekret gegen das Pferdefleisch. Die westliche Gesellschaft hat sich zudem bei aller christlichen Prägung inzwischen weitgehend einer säkular-rationalen Weltauffassung verschrieben. In einer religiösen Enklave umgeben von Andersgläubigen werden neben anderen Werten und Regeln zumeist auch die Speiserituale und -gewohnheiten akribisch gepflegt. Insbesondere die gemeinsame Mahlzeit bestätigt und stärkt die soziale Zusammengehörigkeit und damit die Identität als F
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24 Auch wenn manch Katzenhalter seinem Tier in einer angespannten Situation die Zukunft als Katzenbraten im Backofen prophezeit haben mag.
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Gruppe, die oftmals für die soziale und mitunter ebenso physische Existenz überlebensnotwendig war und ist. Die jüdischen Speisevorschriften enthalten aufwändige Zubereitungsnormen. Beim Akt des Schlachtens, des Schächtens 25 , muss jegliches Blut das Fleisch des Tieres verlassen, da im Blut die Seele lebt. Das Tier wird durch einen Schnitt durch die Kehle getötet, ist es bereits zuvor verendet, was bei der Gabe von Beruhigungsmedikamenten vorkommen kann oder blutet das Tier durch Elektroschockbetäubung nicht völlig aus, ist das Fleisch als unrein, nicht „koscher“, zu betrachten – eine Schlachtweise, die nicht unbedingt mit modernen Tierschutzbestimmungen in Einklang zu bringen ist. Im Islam bürgt die Bezeichnung „halal“ (dt. „rein“) für eine religionskonforme Schlachtung des Tieres. Das hebräische Kaschrutzeichen auf den Nahrungsmitteln und seinen Verpackungen zeigt die koschere Herstellung an. Küchenutensilien und Geschirre zu benutzen, die mit Schweinefleisch in Berührung gekommen sein könnten, ist weder im Judentum noch im Islam gestattet. In der jüdischen Küche muss überdies Fleisch von Milch getrennt bleiben, und dies gilt gleichermaßen für alle Materialien. Streng gläubige jüdische Haushalte besitzen deshalb für Fleisch- und Milchgerichte zweierlei Geschirre, Töpfe etc., mitunter auch getrennte Kühlschränke. Zwischen dem Verzehr einer Fleisch- und einer Milchspeise muss mindestens eine Stunde verstreichen. Das Gebot geht zurück auf den die biblische Weisung Moses: „Das Junge einer Ziege sollst du nicht in der Milch seiner Mutter kochen“ (zit.n. Kraemer 2009: 44). Religiöse Einflüsse magischen Ursprungs zeigen sich beispielsweise in Trinkritualen, die Segenswünsche ausdrücken. Wie jedes Ritual wirken auch sie gemeinschaftsbildend und -bestätigend, wobei sie die Trinkgemeinschaft nach außen abgrenzen. Dabei kommt dem Trinkgefäß eine besondere Bedeutung zu. Früher versuchte man Böses und Unheil, wie etwa die Pest, abzuwenden, indem man aus Reliquien – F
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25 Genauer ausgedrückt: Das jüdische Schlachtritual heißt „Schechita“, das muslimische „Dhab“ (vgl. Lavi 2009: 87).
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wie sie zum Beispiel die Hirnschale eines Heiligen darstellt – trank. Zur Symbolisierung des eigenen Sieges prostete man sich ebenso mit Getränken in den Hirnschalen des unterworfenen Feindes zu. Der heidnische Brauch blieb in der Form im Christentum erhalten. Heute trinkt der sportliche Gewinner zur Feier seines Erfolgs demonstrativ vor laufenden Kameras aus Pokalen und Siegesschalen und zeigt bzw. visualisiert seine errungene Überlegenheit. Das Überschäumen der Freude korrespondiert mit der Verwendung feinsten Champagners, der im das Ereignis krönenden Symbolakt aus der Schale bzw. dem Pokal schäumt. Religionen bestimmen, wann was gegessen wird; wir konzentrieren uns nun auf das Christentum: Religiöse Feiertage werden mit speziellen Speisen assoziiert, die zum Teil bis auf antike Vorbilder zurückgehen und seit Jahrhunderten zu bestimmten Terminen im Kirchenkalender bis in die Gegenwart präsent sind. Der zum christlichen Dreikönigstag am 6. Januar gebackene Dreikönigskuchen enthält Bohnen; diese Tradition wird dort fortgesetzt, wo einst Römer siedelten, vor allem in Frankreich oder in Spanien. Seit dem 16. Jahrhundert reicht man zur Fastenzeit in Öl gebratene Krapfen, zum Osterfest wird Lammfleisch gegessen. In Italien bereitet man im Gedenken an den Heiligen San Giovanni zur Sonnenwende am 21. Juni „Spaghetti alla Sangiovanelli“ zu. Am 11. November, dem Sankt Martinstag, schmeckt die Martinsgans, hervorgegangen aus dem bäuerlichen Fest für die Erntehelfer, bei dem stets eine Gans geschlachtet wurde. In den USA ist der Thanksgiving-Day stets mit dem Essen des Truthahnbratens verbunden. Bereits beim ersten dokumentierten ThanksgivingEssen des Jahres 1621 könnte ein „Turkey“ verspeist worden sein, denn schon vom Weihnachtsfest 1581 ist der Verzehr eines Truthahns überliefert (vgl. Wagner 1995: 83) – das Gericht war also bekannt. Der Truthahn „selbst“ kam um 1523 aus Mexiko nach Europa. Er wurde in England vermutlich deshalb „turkey“ genannt, weil er hier von Handelstreibenden aus dem östlichen Mittelmeerraum eingeführt wurde. Auch in Frankreich erhielt der Truthahn einen orientalischen Namen,
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„coq d’Inde“ (heute „dinde“), da die neue Welt zunächst vermeintlich als Indien angenommen wurde; „gallo d’India“ und „indianische Henn“ nannte man ihn dieser geographischen Logik zufolge in Italien und in Deutschland (vgl. Tannahill 1973: 258f.). Bekannt ist bis heute der „Sonntagsbraten“; Werktage blieben früher in weniger wohlhabenden Haushalten meist fleischlos, was besonders für den Freitag galt, am Ruhetag des Herrn belohnte sich die Familie mit einem nicht-alltäglichen Essen auch für ihre Mühen der Woche. Am Heilig Abend gehört der Karpfen auf den Tisch, eine ins Portemonnaie gelegte Karpfenschuppe soll seinem Besitzer überdies das folgende Jahr hindurch Glück bescheren. Bestimmte Nahrungsmittel werden eng mit Sakralem und Göttlichem verbunden: Honig, die süße paradiessuggerierende Götterspeise und Met als Getränk der Götter sowie Salz 26 , das in fast allen Religionen rituell, das heißt auch symbolisch genutzte Gewürz – und Brot. F
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3.1.1 Das Brot Brot ist ein uraltes Nahrungsmittel, der Getreideanbau begann mit dem Sesshaftwerden des Menschen. Brot als Sinnbild des göttlichen Leibes gilt in der christlichen Religion als Symbol für Nahrung schlechthin. Seit Jahrhunderten dient Brot vor allem in Europa als Grundnahrungsmittel, so dass die Gleichung „Brot bedeutet Essen und damit Leben“ in „Brot ist Leben“ verkürzt werden könnte. Der Name der Entwicklungshilfeorganisation „Brot für die Welt“ impliziert diese Bedeu26 Salz stellt einen uralten Sakralstoff dar mit einer ihm auferlegten hohen symbolischen Sinnhaftigkeit. Das lateinische Wort „sal“ findet sich in vielen positiv konnotierten Wörtern wieder, zum Beispiel in „salus“ (zu dt. „Heil“ oder „salubrites“ (zu dt. „Gesundheit“); auch das „Salär“ gehört in diese etymologische Gruppe. Den Bewohnern eines neuen Heims wünscht man zum Einzug mit Brot und Salz traditionell ein gutes Leben in Wohlstand und ohne Hunger.
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tungszuweisung und setzt Brot synonym mit „Leben“. Vom Christentum ist die Gleichung genutzt worden, um sie zu „Brot ist der Leib Christi, dieser bedeutet Leben für alle“ zu erweitern. Im „Vaterunser“ bittet der Betende Gott symbolisch um das „tägliche Brot“, deutlicher noch bat man in der griechischen Urform um „unser ‚lebenserhaltendes‘ Brot“ (Krafft 1993: 127). Nicht verwunderlich, dass Brot, wie auch Reis, Fruchtbarkeit symbolisiert: In England ist es üblich, einem Brautpaar Brotkrumen in die Schuhe zu legen, um ihnen Kindersegen zu wünschen. In vielen weiteren Ritualen spielt Brot eine gewichtige Rolle; das Brotbrechen Jesus’ vor seinen Jüngern beim Abendmahl setzt sich im Alltagsleben in der Handlung des Brotanschneidens fort, zuweilen wird das Brot in Huldigung und in Ehrfurcht an den Leib Jesus’ geküsst oder bekreuzigt. Eine heilige Bedeutung setzt der Bäcker, indem er in den Brotteig ein Kreuz kerbt – in diesem Brotlaib sind Leben in Gestalt des Leibes Christi und der Gegenstand, der auf ihn verweist, die Materie „Brot“ vereint. Diese symbiotisch-symbolische Verbindung wird mit dem Kreuzzeichen sichtbar markiert. Das Wegwerfen von Brot gilt vor diesem Hintergrund als Untat, es bereitet zumindest Unbehagen, auf den Boden gefallenes Brot zu betrachten. Auch wenn nicht jeder beim Anblick von Brot an den Leib Jesus’ erinnert wird, ist das Wegwerfen von Brot aufgrund kultureller Suggestion mit großen Skrupeln behaftet und wird oftmals erst dann notgedrungen in die Tat umgesetzt, wenn es verschimmelt – also ungenießbar geworden – ist oder kein Teich voller hungriger Enten oder Fische zu erreichen ist. In Frankreich wurde das Brot für den Henker in den Bäckereien zur Seite gelegt und umgedreht, seither gilt der Aberglaube, dass ein umgekehrtes Brot Unheil verkünde (vgl. Blond/Blond 1965: 130).
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3.1.2 Mäßigung und Fasten Aus der Antike ist uns bereits die Kontroverse „Mäßigung versus Völlerei“ geläufig. Das Ideal: Das Essen soll lediglich der physischen Selbsterhaltung dienen, es sei folglich eine durchweg zweckorientierte Handlung, die zwar den Körper befriedigen, den Geist aber nicht berühren sollte. Diese Einstellung resultiert aus dem Geist-KörperDualismus, der seit der Antike das westliche Denken bestimmt. Platon, Aristoteles und Seneca glaubten an das Positive einer asketischen Moral, der Geist solle sich nicht von leiblichen Bedürfnissen ablenken lassen oder sich zu sehr mit ihnen beschäftigen. Sokrates, so Lemke (vgl. 2007b: 285), plädierte aus demokratischen Gründen für die Zurückhaltung beim gemeinschaftlichen Essen, denn auf diese Weise würden alle gleiche Mengen Nahrung erhalten können. Während in Sparta Korpulenz aus ästhetischen und moralischen Gründen verurteilt und Dicken mit Geldstrafen und Ausweisung gedroht wurde, der athletische Körper demgegenüber als Vorbild und Ideal diente, akzeptierte die römische Gesellschaft die Leibesfülle, später auch, um sich von den mageren Gestalten der Christen abzugrenzen (vgl. Lemke 2007b: 73). Überhaupt schienen die Römer opulentem Essen keine Abneigung entgegenzubringen; sie konnten sich immer wieder der Völlerei hingeben, indem sie gezieltes Erbrechen durch Vomitive wie Salzwasser oder Federkiel herbeiführten und Klistiere zur Darmentleerung benutzten. Hedonistische Erscheinungsformen wurden keineswegs geächtet oder unterdrückt, sich Lust zu verschaffen und sie zu befriedigen könne keinen Schaden anrichten, so die zugrunde liegende Rechtfertigung. Unter dem Einfluss des Christentums änderte sich diese Haltung. Das „Prandium“, ein großzügiges Mahl kalter Speisen, das man im Laufe des Morgens oder des Vormittags unter freiem Himmel zu sich nahm, verschwand schließlich. Das kärgliche „Agape“, ebenfalls in freier Natur, ersetzte die Schlemmerei. Bis heute wird in dieser Tradition in den USA draußen vor den Kirchen das „church supper“ angeboten – um zu vermeiden, dass der Besuch des Gottesdienstes zugunsten der Zubereitung des Mittagessens in der häuslichen Küche ausfällt. Aus gleichem
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Grunde verkaufen spanische Konditoreien sonntags Brathähnchen, nach dem Kirchgang besorgt, garantieren sie das Mittagessen und erlauben damit die Teilnahme am Gottesdienst. Dies sind Beispiele dafür, in welch lebenspraktischer Weise sich die Umstände des Mahlzeitenerwerbs den religiösen Bedürfnissen oder Zwängen angepasst haben. Christen fielen, wie schon angedeutet, besonders im Kontrast zu Römern durch ihre ausgemergelte körperliche Erscheinung auf. Christliche Heilige werden auch in gegenwärtigen Darstellungen niemals beleibt, eher dünn und mager präsentiert, und dies gilt für Jesus par excellence. Die Sünde des kulinarischen Hedonismus ist noch viele Jahrhunderte lang christliches Gesetz. Die Christen haben damit in gewisser Hinsicht die stoische Haltung der Askese vervollkommnet, wobei die Stoiker nicht wie die christlichen Asketen per se das Essen ablehnten, sondern lediglich bestimmte Speisen und Zubereitungen. Wohl alle Religionen greifen über das Essverhalten und/oder über Esstabus bzw. Essgebote in das Alltagsleben der Gläubigen ein und zeigen sowohl im bewussten religiösen Besinnen als auch in einer gewöhnlichen profanen Handlung ihre Präsenz, durchdringen damit dauerhaft den Tagesablauf und das Verhalten der Menschen bis hin zur Prägung der kollektiven Esskultur. Man denke allein an das Tischgebet, zu Beginn und zum Ende einer Mahlzeit, manchmal verkürzt zum Wort „Amen“, als Rahmung des Essens, der Gabe Gottes. In der Strukturierung seines Essens – sei es mittels Fasten, der Ausgrenzung spezifischer Speisen oder im rituellen Essen, wie zum Beispiel beim Abendmahl – wandelt sich der Mensch, stärkt seine Beziehung zu Gott, die ihm über sein eigenes Verhalten sehr bedeutsam und bewusst wird. Der absichtsvolle Verzicht, die forcierte Mäßigung erinnern ihn immer wieder an seinen Glauben, der Gläubige muss etwas aktiv tun, seine Esslust und seinen Appetit opfern, um sich durch diese Selbstmaßregelung den Gefallen Gottes zu sichern. Völlerei, gedankenloses das heißt lustorientiertes Insich-hinein-Stopfen des Essens, kumuliert als abschreckendes Bild im Vielfraß, im „Gourmand“. Das christliche Ideal der Askese lässt den Vielfraß als besonders verabscheuungswürdig und sündig erscheinen.
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Die Todsünde der Völlerei und Gefräßigkeit – „gula“ – kulminiert in der Figur des Vielfraßes, der sich in Absonderung von jeglicher sozialer Kontrolle einer Tischgemeinschaft hemmungslos den Bauch vollschlägt. Der Mönch Johannes Cassan (verstorben 430) setzte die „Gastrimargie“, die Lust am Essen, an erster Stelle seines Katalogs, der acht Laster benennt. Thomas von Aquin erkennt in der Gaumenlust die Ursache für Unkeuschheit und Geschwätzigkeit (vgl. Harrus-Révidi 1998: 58). Das Fasten nun führt auf drastische Weise Gott in das Bewusstsein des Gläubigen ein. Begründet wurde das Gebot zum Fasten mit der Auffassung, dass der satte Mensch keinen Hunger mehr nach der Liebe Gottes entwickeln könne. Fasten stellt einen bewusst erzeugten, sozusagen künstlichen Hungerzustand her. Die ideologische These ist bedenkenswert: In Notsituationen, wozu die Erfahrung von echtem Hunger sicherlich gezählt werden darf, erhofft sich der Mensch typischerweise Abhilfe von diversen Heilsversprechen, sei es das magische Amulett oder Gebete und Opfer. In den Elendsgebieten der Erde finden sich orthodoxe Christen in auffallend großer Anzahl. 27 Gegen die sich durch das Essen einstellenden möglichen Gefahren wurden auch biblische Belege definiert: Im 4. Jahrhundert befand der griechische Kirchenlehrer und Patriarch von Konstantinopel, Chrysostomos, die Gier seines Bauches habe Adam aus dem Paradies vertrieben, als dieser den Apfel verzehrte. Wenig später gelang es Bischof Ambrosius von Mailand, den Apfel von seinem bösen Ruf als Frucht der Versuchung zu befreien. Chrysostomos wurde im Jahr 404 angesichts seiner strengen Exegesen des Amtes enthoben und an die armenische Grenze verbannt. F
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27 Die Ausbildung eines orthodoxen Glaubens hängt damit natürlich von der jeweiligen gesellschaftlichen Prägung ab: Hat die Gesellschaft rationale Grundlagen und Legitimationen, wie steht es um den Stand der Bildung? Wohlstand muss im Umkehrschluss keineswegs eine atheistische Gesellschaft herbeiführen, wie das Beispiel der arabischen Emirate deutlich zeigt.
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Viele Religionen besitzen in ihrem Regelwerk Aspekte der Zurückhaltung und Mäßigung bezogen (auch) auf das Essen bis hin zum Fasten. Im Hinduismus Südindiens bedeutete die Beschränkung auf vegetarisches Essen das Führen eines tugendhaften Lebens, der Islam verbietet im eigens deklarierten Fastenmonat Ramadan vor Sonnenuntergang tagsüber zu essen. Das enge Netzwerk der urchristlichen Gruppen, die sich nach außen gegen die feindlich gesonnene Umgebung abschotten mussten und das strikte Reglement der Klosterwelt – ebenfalls nach außen abgegrenzt – verstärkten das Postulat der Askese. Unter drohenden Predigten setzte sich das auch von Augustinus empfohlene Gebot der Mäßigung noch bis in die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts weiter fort: „Man kann sündigen, indem man vor den Mahlzeiten nascht; indem man zu teuer und zu aufwendig speist; indem man zuviel in sich hineinstopft und das Essen zu gierig verschlingt; oder sich an zu raffinierten Gerichten labt“,
so Kirchenoberhaupt Gregor der Große im 6. Jahrhundert (zit.n. Lemke 2007b: 134). Parallel zu diesem religiösen Paradigma entwickelt sich jedoch ab dem 14. Jahrhundert das Bewusstsein, üppiges Essen und Trinken als Zeichen für Wohlstand und Reichtum anzusehen, wobei zunächst Quantität über Qualität geht. Dieses Verständnis ändert sich später unter dem Einfluss der italienisch-französischen Küche, in der vor allem die Zubereitung feiner Speisen im Vordergrund stand. Grundsätzlich allerdings verselbständigte sich das Postulat der Mäßigung zwischen den Menschen und wuchs zur sozialen Kontrolle, man forderte nicht nur von sich selbst, sondern auch von den anderen Mäßigung. In den christlichen Fastenzeiten war lediglich der Verzehr von Flüssigem und Fisch gestattet. Typische Fastenspeisen stellten zudem Schnecken und Schildkröten dar. Bier, das Standardgetränk des Mittelalters, durfte als Flüssignahrung konsumiert werden; dies begründet die Brautradition vieler Klöster. Offensichtlich schien es schwer, die Fastenregeln strikt einzuhalten: Mancherorts ließ man sich während des Barock Biberbraten schmecken, in der Annahme, der
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Verzehr des Wassertiers könne das Fasten nicht brechen (vgl. Fuchs 1998: 264) – zur Zeit Karls des Großen um 800 wurde das Essen von Fleisch am Fastentag noch mit der Todesstrafe belegt. Bei der Schokolade, dem seit seiner Einführung im 16. Jahrhundert bis ins 19. Jahrhundert ausschließlich als flüssig bekannten Getränk, schieden sich die klerikalen Geister. Das nahrhafte Lustgetränk war eben auch flüssig, und Mitte des 17. Jahrhunderts legt Kardinal Laurentius Brancati demzufolge eindeutig fest: „Liquidum non frangit jenunum“, womit das Schokoladetrinken während der Fastenzeit unbedenklich sei. Die Fastenzeiten werden aus dem zeitlichen Alltagsfluss exponiert herausgehoben, ihr Anfang und ihr Ende werden definiert und mit Festen markiert. Der Karneval als Kontrast zur nachfolgenden Fastenzeit ist ein prägnantes Beispiel des Wechsels von gesteuerter Völlerei und Entbehrung, der vor allem das Mittelalter beherrschte. Lassen wir sozusagen künstliche, konstruierte Zeiten des Essens und Fastens beiseite, waren zu dieser Zeit grundsätzlich viele Menschen aufgrund von Missernten und Kriegen dem Hunger tatsächlich hilflos ausgeliefert. Zwingli schließlich polemisiert gegen die Fastengebote, die sich im Protestantismus nicht mehr in dieser Schärfe darstellen, allerdings hier von einer permanenten und umfassenden Selbstkontrolle ersetzt werden. Der ehemals kirchlich befohlene, zeitlich umgrenzte Verzicht, das Fasten, ist heute willkürlichen, freiwilligen und selbstauferlegten Fastenzeiten gewichen. Schlankheit gilt als das zeitgenössische Schönheitsideal schlechthin, der Besitz eines athletischen Körpers à la Sparta dient als erstrebenswertes Ziel. Das Ausleben von Gier und Völlerei scheint im Kontext unserer kulturellen Entwicklung schon immer auf niedere und dumme Personen beschränkt zu sein, viele Komödienfiguren geben hier Zeugnis. Heute gilt der Nimmersatt als „Adipöser Versager“ (Dederichs/Rülcker 2007: 36), eine Person ohne Triebkontrolle und ohne die Fähigkeit einer Selbststeuerung. Mit Mäßigung und strengen Diäten versucht man, auf individuelle Weise dem Wunsch nach Essen zu widerstehen, gelingt dies nicht beständig und nachhaltig, kommt der Gram über die eigene Unfähigkeit zur erwarteten Selbst-
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kontrolle hinzu. Sakrale Motive spielen bei mancher Fastenkur immer noch eine zentrale Rolle: Sucht der moderne Mensch mit sich freiwillig auferlegtem Fasten vielleicht nicht mehr allzu häufig das Wohlgefallen oder die Liebe des christlichen Gottes, so erhofft er sich bei Wasser und Gemüsebrühe geistige Illumination und Inspiration und beschreitet dabei kulturfremde religiöse Wege: In der buddhistischen Religion dient das Fasten zur Erlangung von Spiritualität und zur Erweiterung des Bewusstseins – ein offenbar für viele reizvolles Versprechen. Außerdem kann in einer Welt, die Individualismus schätzt, ausgeprägte Askese auf andere durchaus prestigeträchtig und interessant wirken und damit zur sozialen Differenzierung beitragen. Brillat-Savarin (1962: 143) warnt allerdings vor zu großem Verzicht: „Ein schlecht ernährter Mensch kann nicht lange den Anstrengungen fortgesetzter Arbeit wiederstehen. Sein Körper bedeckt sich mit Schweiß, bald lassen ihn die Kräfte im Stich, und die Ruhe ist bei ihm nichts anderes als die Unmöglichkeit zu arbeiten“.
3.2 D AS V ERHALTEN
BEI
T ISCH
Wie bereits ausgeführt, lässt sich mit Elias über die Jahrhunderte ein Prozess erkennen, der sich vom groben, willkürlichen Verhalten des Menschen stetig ins Feinere, „Zivilisierte“, bzw. Affektkontrollierte bewegt – soweit gültig für den westlichen Kulturraum. Interkulturelle Differenzen werden in der Begegnung mit Fremden spürbar, wo andere Verhaltensweisen als schicklich oder verwerflich gelten, die ihrerseits andere historische soziokulturelle Verwurzelungen besitzen. Das Essverhalten impliziert, wie zunächst bei der Erörterung religiöser Einflüsse versucht wurde zu zeigen, diverse bewusste und unbewusste Mitteilungen an andere und Rückschlüsse auf Einstellungen, soziale Gruppen. Der Esser demonstriert seine Religionszugehörigkeit, seinen sozialen Stand bzw. Status oder nutzt die Esssituation, um be-
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stimmte soziale Dispositionen vorzugeben: Der Wertkonservative isst um des lässigen Eindrucks willen, den er in diesem Moment herstellen möchte, an der Imbissbude stehend Pommes aus dem Pappschälchen, der sich vor Insekten ekelnde Globetrotter verzehrt sie in Asien mit offenbar großem Genuss – will man doch nicht als verklemmter europäischer Chauvinist erscheinen. Das Essverhalten spiegelt folglich verschiedene Haltungen, wobei durchaus die Tendenz zur sozialen Distinktion mitschwingt. Die Thesen Elias’ mit dem wachsenden Bedürfnis nach Affekt- und Triebkontrolle und die beginnende Ausprägung einer sozialen Identität und ihrer Abgrenzung von anderen bedingen einander gegenseitig, sind jeweils als Resultat und Auslöser zu betrachten. Ob selbst kontrolliertes Verhalten genutzt wurde, um sich – etwa mit feinen Tischmanieren – vom Pöbel zu distanzieren und sich und anderen der Zugehörigkeit zu „höheren“ Gesellschaftsschichten zu vergewissern, oder ob die auferlegte bewusste Verhaltenssteuerung in ihren Anfängen den Wunsch nach Distinktion erst ausgelöst oder zumindest weiter geschürt hat, wird offen bleiben müssen, eine enge generische Verbindung ist jedoch offenkundig. Neben Verhaltenssteuerung, Affektkontrolle, dem Wunsch nach Individualität und damit einhergehend dem Verlangen nach sozialer Abgrenzung provozierten sicher auch Erkenntnisse im medizinhygienischen Bereich Verfeinerungen der Tischsitten; so entspringt das obligatorische Händewaschen vor der Mahlzeit auch gesundheitserhaltender Motivation. Wenn man weiß, dass über das Essen mit schmutzigen Händen Bakterien in den Körper gelangen und Krankheiten verursachen können, steigt die Einsicht in die Vorgabe, sich vor dem Essen die Hände zu reinigen. Das gemeinsame Trinken aus einem Trinkgefäß, das Essen von einem Teller oder das Teilen von Besteck finden aus diesen Gründen ebenfalls ein Ende. Ist man wirtschaftlich einigermaßen solvent, wird man jeweils eigene Trinkbecher etc. benutzen. Die Distanz zum anderen erhöht sich, die Furcht vor Sanktionen, richtete sich der Esser nicht nach diesen Verhaltensregeln, steigt berechtigterweise gleichermaßen. Zuweilen ist es sicher lediglich die mögliche Beschädigung der eigenen Person, die zur Unterwerfung unter die
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„neuen“ Regelwerke führt. Eine wesentliche Ursache für das Aufkommen dieser selbst- und fremdbeobachtenden Tendenzen, die sich deutlich auch in der Sublimierung des Essverhaltens niederschlagen, ist das sich in der Renaissance ausbildende individuelle Menschenbild. Zum Individuum gehört sein eigenes Trinkgefäß, sein eigener Teller und sein eigenes Besteck. Zukünftig sollte das Essen aus einem Teller, das Trinken aus einem Glas eine Ausnahme und Besonderheit darstellen, die als Zeichen ganz spezieller Vertrautheit und Verbundenheit gilt. Der in diesem Sinne Fremde, der – womöglich noch ohne zu fragen – vom Teller des Tischnachbarn nimmt, hat üble Sanktionen zu fürchten. Die Verstädterung ließ viele fremde Menschen auf engem Raum aufeinandertreffen. Sie bilden eine anonyme Gemeinschaft, deren sozialer Friede ohne die Einhaltung innerlicher oder psychologischer Distanz zueinander letztlich nicht gelingen kann. Es ist die sozial erlernte Fähigkeit zur Selbstkontrolle, die in der Stadt ein Zusammenleben vieler nah beieinander überhaupt ermöglicht (vgl. Simmel 1993b, 192ff.); die Ratio steht eindeutig über dem Affekt. Die in der Antike gesetzte Priorität verwirklicht sich in offenbar sozial notwendiger Weise. Auch die Entwicklung des nahen Miteinanders bei geistiger Distanz, wiederum einhergehend mit hygienischen Erkenntnissen und der Umsetzung entsprechender Maßnahmen zur Vermeidung schwerer Infektionen, wird zu einer Verfeinerung der Tischsitten, sprich des distanzierten sich selbst zurücknehmenden Verhaltens bei Tisch beigetragen haben. Im Zuge der gesellschaftlichen Veränderungen stellt der Bereich der Esskultur lediglich einen Ausdruck neu entstehender Regelwerke dar. Mit den Tischsitten wird, wie Simmel (1993a: 207) erklärt, „eine formale Norm über die fluktuierenden Bedürfnisse des Einzelnen gestellt, die Sozialisierung der Mahlzeit hebt sie in eine ästhetische Stilisierung, die nun wieder auf jene zurückwirkt“. Das ist das Grundprinzip: Dem einzelnen ist es nicht mehr gestattet, sich nach seinem Verlangen auszuleben – eilig das Essen zu greifen, in letzter Sekunde vor dem Tischnachbarn das letzte Fleischstück von der Platte zu nehmen, auf den Tisch zu spucken und zu prusten –, ein Netz von Verhaltensre-
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geln wird über ihn geworfen, das, je nach sozialer Schicht oder Gruppenzugehörigkeit, inhaltlich verschieden ausgestaltet ist. Hier kann sich der Wille zur sozialen Distinktion resultierend aus der menschlichen Eitelkeit, die bereits ein Stück Individualismus voraussetzt, ansiedeln. Im Mittelalter besaßen die Mitglieder vornehmer Adelsfamilien schon eigene Geschirrteile, während alle anderen Volksgenossen noch gemeinsam aus einer Schüssel aßen. Vor allem in der Zusammenkunft mehrerer Personen zu einer gemeinsamen Mahlzeit erhalten Tischsitten große Bedeutsamkeit. Der allein am häuslichen Küchentisch Essende mag durchaus einmal auf den Teller niesen oder geräuschvoll seine Suppe schlürfen (dürfen). Allerdings scheint die Internalisierung der eigenen physischen und affektiven Einschränkung, die im frühen Kindesalter beginnt, recht nachhaltig zu wirken, so dass sich selbst der einsame Esser gemäß den üblichen Verhaltensweisen benehmen und nur in Ausnahmen davon abweichen wird – es ist wahrscheinlich, dass er zum Beispiel wie selbstverständlich Besteck benutzen wird. Die jeweilige Esssituation definiert somit auch die anzuwendenden Verhaltensregeln. Was bei der Dame mit Diamantring am Finger an der Hotelbar kokett wirken kann, mag beim Biertrinker am Kneipentresen fatale Folgen auslösen: Im Jahr 1992 wurde in Berlin ein Biertrinker, der sein Glas mit abgespreiztem kleinem Finger zum Mund geführt hat, von einem Thekennachbarn erschlagen (vgl. Grawert-May 1994: 19) – dieses Verhalten wurde an diesem Ort von dem anderen offensichtlich als nicht situationsadäquat eingeschätzt und sanktioniert. Die Art des Servierens bei Tisch hat ebenfalls einen beträchtlichen Einfluss auf das Verhalten der Essenden ausgeübt. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts führte der Haushofmeister eines russischen Gesandten in Frankreich eine neue Form des Servierens ein, die sich in den nachfolgenden Jahren in ganz Europa durchsetzen sollte. Bei dem zuvor praktizierten „service à la française“ standen noch in orientalischer Tradition alle Speisen und Gerichte eines jeden Ganges gleichzeitig auf dem dann üppig beladenen Esstisch. Der „service à la russe“ hingegen schrieb vor, das Essen in der Reihenfolge der Gänge nacheinander auf-
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zutragen, das Fleisch war mitsamt der Beilagen bereits auf den jeweiligen Tellern angerichtet, ein Herum- und Anreichen von Platten und Schüsseln erübrigte sich. Die Unterhaltungen bei Tisch erfuhren keine Unterbrechungen durch Anfragen wie „Könntest Du mir bitte einmal die Platte mit den Hühnerbeinen reichen?“ Andererseits sind es oftmals diese Bitten und Entgegnungen, welche eine Kommunikation zwischen den Anwesenden in Gang bringen. Auf dem strikt begrenzten Territorium des eigenen Tellers und in dessen engem Umkreis fand der Esser nun alles, was er zum Essen benötigte. Da man zu Beginn des Essens nicht wissen konnte, welche Speisen noch zu erwarten waren, kamen im Zuge des service à la russe Menükarten auf, die den Anwesenden über die noch folgenden Gerichte informierten. Der Tisch bot nun vor allem in seiner Mitte Platz für Dekorationen – Blumen, Tischaufsätze und Vasen aus Silber, Porzellan oder Glas zierten die Tafel. Je herrschaftlicher das Haus, umso prächtiger der Tischschmuck. Der Vollständigkeit halber sei auf den vornehmlich im 19. Jahrhundert an nordeuropäischen Fürstenhöfen und Bürgerhäusern praktizierten „service à l’anglaise“ hingewiesen. Wie beim service à la française befinden sich alle Speisen gleichzeitig auf dem Esstisch, wobei der Braten vom Hausherrn tranchiert und verteilt wird, der damit seine prestigeträchtige Fertigkeit unter Beweis stellen kann. Die Suppe – weitaus weniger spektakulär – teilte die Hausfrau aus. Im familiären Umfeld ist diese Servierpraxis nicht nur im Norden Europas bis heute erhalten. Wie sehr die Form der Essensdarbietung das Verhalten des Essers bestimmt und lenkt, welches Verhalten sie ermöglicht, zeigt sich besonders eindrucksvoll am Buffet. Alle Speisen, Teller, Servietten und Besteck sind in einer Art Selbstbedienung vom eigens angerichteten Tisch wegzunehmen und zum Sitzplatz an den Esstisch zu tragen. Jeder bestimmt, von welcher Speise er nimmt, und die Größe der Portion. Die Esssituation des Buffets erzeugt Bewegung, man kann prinzipiell allen Anwesenden begegnen und ist nicht nur auf die Tischnachbarn in Reichweite beschränkt, die Essenden kommen sich zwangsläufig auch
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in kommunikativer Hinsicht näher. Das Buffet wird deshalb für gesellige Kontexte wie Feiern und Parties mit mehreren Anwesenden gern genutzt. Diese unkonventionelle Form der Darbietung ohne Servierregeln beschert einerseits Freiheit, verlangt andererseits aber auch gehörige Selbstbeherrschung. Das geduldige Anstehen am Buffet, die bewusste Zurückhaltung beim Auflegen auf den Teller, das abgeklärte Akzeptieren, sollte der Lieblingssalat bereits „vergriffen“ sein, hat nicht jeder Esser internalisiert, und so bietet das Buffet immer wieder Inhalte für satirische Darstellungen. Zuweilen türmen sich die Speisen aufgeschichtet auf dem Teller, die Buffetplatten ähneln einem Schlachtfeld, zwischen zwei Personen wird von einer dritten noch einmal schnell zur Bratenplatte gegrätscht; im Gegensatz zum Servieren bei Tisch scheint die soziale Kontrolle am Buffet weitaus geringer. Auf das Erlernen von Tischsitten im Kindesalter, die in Deutschland während der Kaiserzeit, der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus zu „Tischzuchten“ gerieten, deren kindliche Nichtbeachtung in bürgerlichen Kreisen oft genug mit körperlicher Züchtigung geahndet wurde, haben wir bereits hingewiesen. Rousseau (zit.n. Lemke 2007b: 361) hat sich in einer Zeit, in der eine Flut von Tischzuchten in Form von Büchlein und Heften auf die bürgerliche Gesellschaft einstürmte, vehement gegen die disziplinierenden Zwänge bei Tisch ausgesprochen: „Die Moral des ‚guten‘, ‚anständigen Benehmens‘ führt nicht zu Selbstbestimmung und Gemeinwohl, sondern zu Konformismus und Heuchelei“. Lemke (2007b: 361) charakterisiert diese Haltung als „gastrosophische Gesellschaftstheorie“, wenngleich sich die Heuchelei aus Rousseaus Sicht – man könnte auch von Selbstdisziplinierung und strategischen Kommunikationsabläufen sprechen – grundsätzlich insbesondere das höfische Verhalten des Adels im 17. Jahrhundert durchsetzt. Das Vorspielen von Befindlichkeiten, das Spionieren und Verbergen ist ohne eine „Selbstdressur“ (Spode 1994: 25) unmöglich. Der betriebene Aufwand um Statusrepräsentation und Dis-
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tinktion 28 , der sich materiell in Geschirr und Speiseauswahl und immateriell in den Verhaltensweisen bei Tisch zeigt, ist zu jener Zeit enorm. Auch heute verdeckt die „Etikette“ manche inneren Regungen, die wie unter einem tatsächlichen Etikett für die Außenwelt nicht bzw. kaum wahrnehmbar verschwinden. Einige Verhaltensformen, in denen die Anerkennung und der Respekt gegenüber den Mitessenden zum Ausdruck kommen, lassen sich schon früh feststellen: Bereits um 1560 galt es als unschicklich, einer Person das Messer mit der Spitze nach vorn zu reichen. Zur Choreographie des Essens gehörte neben den Vorschriften der verbalen Affektzurückhaltung und der Hygiene die Disziplinierung des eigenen Körpers. Man soll sich während des Essens nicht kratzen, man soll die Füße still halten und sich zum Niesen und Husten zur Seite abwenden, außerdem wird es verboten, den anderen anzustarren – diese Regeln waren schon im 17. Jahrhundert in höheren Ständen bekannt. Die zunehmende Regulierung des Alltagslebens, bestimmt durch Verstädterung und beginnende Industrialisierung, prägte auch das Essverhalten, das sich den neuen Zwängen anpassen musste: Die Menge der Speisen wurde portioniert und damit rationiert, in einer festgelegten bestimmten Zeit musste das Essen beendet sein. Zunächst hatten sich vor allem die in Lohnarbeit stehenden Menschen diesen künstlichen Normen zu unterwerfen, bald erstreckten sich die Regeln auf die gesamte Bevölkerung. 1838 formuliert der deutsche Arzt Gustav B. Blumröder (18021853), der unter dem Namen Antonius Anthus seine gastrosophischen Schriften veröffentlichte, grundsätzliche Vorgaben: „Als Vorbereitungsregel mag in Erinnerung gebracht sein, daß es alt und jung fein F
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28 Den Hang des Adels zur Eitelkeit nutzte die Kirche, indem sie in den Rittertümern ein höfliches galantes Verhalten vorschrieb, das sich im Wort „Ritterlichkeit“ im Sinne von Großzügigkeit und Selbstzurücknahme in der Sprache verfestigen sollte. Ziel war es, die große Anzahl von Kleinkriegen unter den Rittertümern einzudämmen. Die Galanterie umfasste ebenfalls das Tischverhalten.
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ansteht, wenn man gekämmt und gewaschen ist und die Nägel hübsch abgeschnitten sind, ehe man zu Tische geht“ (Anthus 1962: 180). Auch weitere Gastrosophen, wie Karl Friedrich von Rumohr (1785-1843), Eugen Baron Vaerst (1792-1855) oder die berühmteren Vertreter dieser Gilde, Anthelme Brillat-Savarin (1755-1826) und Grimod de la Reynière (1758-1838), legten im 19. Jahrhundert Regelwerke für das kultivierte Benehmen bei Tisch vor, referierten über das korrekte Verhalten sowohl von Gästen als auch von Gastgebern, gaben Empfehlungen zur Herrichtung von Esstisch und Essraum – man könnte die Werke durchaus ebenso als Kommunikationsratgeber bezeichnen. Vaerst (vgl. 1851: VII) definiert den Ausdruck Gastrosoph als Bezeichnung einer Person, die aus gutem Essen stets das Beste auswählt – ein Experte für Qualität, Zubereitung, Tischsitten und Esskultur. Überdies parlierten die Gstrosophen über den Genuss des Essens, postulierten die Feinschmeckerei als „alleiniges Privileg des Menschen“ (BrillatSavarin 1962: 32), wobei von Rumohr (1966: 28) allzu deutlich in einen nationalchauvinistischen Tenor verfällt, wenn er schreibt: „Stumpfsinnige, für sich hinbrütende Völker lieben mit schwerverdaulicher, häufiger Nahrung gleich den Masttieren sich anzustopfen. Geistreiche, aufsprudelnde Nationen lieben Nahrungsmittel, welche die Geschmacksnerven reizen, ohne den Unterleib zu sehr zu beschweren“.
Das Essen wird genutzt, um Rückschlüsse auf den Volkscharakter zu ziehen; zum Beispiel schafft die „gute deutsche Hausmannskost“ gesunde kräftige Deutsche. Diese symbolische Zuweisung existiert auch im individuellen Bereich, wenn etwa der Italiener abwertend als „Spaghettifresser“ bezeichnet wird (vgl. 3. 4. 5). Die Gastrosophen legten den Grundstein zu einer Bedeutung des Essens, die sich von dem Gebot der Mäßigung abwandte, ohne jedoch Völlerei und exzessives Essen zu befürworten. Das bloße Sattessen sollte einem bewussten Essen, einem Genießen der Speisen in Geschmack, Geruch und Optik weichen. Indem sie den eigenen Lebensstil als Gastrosoph positiv und vorbildhaft herausstellten, gerieten ihre
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Ausführungen zu Klassifikationen und Beurteilungen von Speisen, Zubereitungsweisen und nicht zuletzt von Verhaltensweisen bei Tisch. Sie kreierten sozusagen positive und negative Images: „Biertrinken bei Tisch scheint mir nahe am Gipfel des Ungeschmacks und barbarischer Roheit zu liegen“ (Anthus 1962: 267). Das „richtige“ Essen wurde hier durchaus als soziales Distinktionsmerkmal begriffen. Genießen können und wissen, wie man genießt – diese Fähigkeit zu vermitteln bzw. zu beschreiben, war Anliegen der Gastrosophen. In gewisser Hinsicht beschäftigten sie sich mit dem Gegenstand und der Handlung des Essens als irrationalem Tun, denn nicht die biologisch notwendige Versorgung des Körpers mit Nahrung oder das Stillen eines Hungergefühls stand im Zentrum der Betrachtungen, sondern das Essen als symbolische Handlung. Die Vorgaben der Etikette beziehen sich vorwiegend auf die gemeinsam mit anderen geteilte Esssituation. Hier sind in erster Linie Zurückhaltung, Abgrenzung vom anderen, dem man auch bei Tisch nicht zu nahe treten soll, und Unauffälligkeit gefordert. Anthus (1962: 187) etwa äußert sich kritisch über ein übersteigertes Kokettieren mit der Serviette: „Dieses ewige Herumwerfen, Hervorziehen und wieder Zurechtlegen, wie man es so oft sieht, ist lächerlich“; es erscheint als ein aufgeregtes Zuviel des Korrekten. Mittlerweile vermeiden viele Esser, Brathähnchen oder Krebstiere mit den Fingern zu essen, obwohl dies gestattet ist. Und greift man doch mit bloßer Hand zum Hähnchen oder Krebs, zeigt sich im abschließenden – natürlich streng verpönten – Ablecken der Finger eine kulturspezifische universalisierte Reihenfolge: Zuerst wird der Mittelfinger „gesäubert“, es folgt der Zeigefinger und zuletzt der Daumen. Ringfinger und kleiner Finger werden im westlichen Kulturkreis nicht zum Essen benutzt, der Zeitgenosse hält die Hähnchenteile mit Daumen, Zeige- und Mittelfinger. Statt des Abschleckens ist es geboten, die Serviette zu benutzen. Schon in der römischen Antike waren Servietten bekannt, sie fanden auch Verwendung zum Einwickeln übrig gebliebener Speisen für den Transport nach Hause. Das Mitnehmen von Speisen, das heutzutage als „Doggie-Pack“ nicht mehr völlig ungewöhnlich ist, wird von Anthus
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(1962: 45) als „widerliche Heimschlepperei“ kritisiert. Wie bereits angeführt, stand die rationale Betrachtung des Essens nicht im Zentrum der gastrosophischen Abhandlungen. Seit der Renaissance werden Bücher und Hefte publiziert, welche den Leser über die jeweiligen Gebote und Verbote hinsichtlich des Tischverhaltens unterrichten. Ist es gestattet, den Suppenteller zu neigen, um den letzten Rest Suppe löffeln zu können? Wenn ja – in welche Richtung darf der Teller geneigt werden: zum Essenden hin oder von ihm weg? Muss im Teller ein Anstandsrest verbleiben? Die Beherrschung und Anwendung der Verhaltensnormen erzeugt, wie alle Regelwerke und Rituale, sowohl für die handelnde Person als auch für die anderen Anwesenden Sicherheit. Die Tischgenossen und die gesamte Situation bei Tisch erlangen auf diese Weise ein hohes Maß an Berechenbarkeit und Verlässlichkeit entsprechend den Erwartungen, die sich wiederum auf das Wissen um die Regelwerke ergibt. Die Tischsituation wird entlastet von Überraschungen oder Missverhalten, auf die Konsternierung, Sanktionen oder zumindest Verwirrung folgen. Erwartbares Tischverhalten zeugte früher von einem bestimmten Standesbewusstsein, heute verheißt es zudem Erfolg. Wie man hört, schließen sich an Bewerbungsgespräche mitunter gemeinsame Restaurantessen an. Wer hier die Erwartungen nicht erfüllt, wird sich kaum noch Chancen auf die Einstellung ausrechnen dürfen. Die Verhaltensregeln beim Essen implizieren ebenso die Regeln für das Gespräch während des Essens.
3.2.1 Die Kommunikation bei Tisch Berücksichtigt man, dass bei einem Essen in der Familie oder dem eher zweckgebundenen Essen mit Kollegen während der Mittagspause andere Verhaltensregeln zur Anwendung kommen als bei einem Essen überwiegend geselliger Natur, so scheinen doch zwei die Kommunikation betreffende Verhaltensmaßgaben für alle gemeinschaftlichen Tischsituationen übergreifend wirksam zu sein: das Vermeiden von
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Streit und das Unterlassen von Ekel auslösenden, gemeinhin als widerlich betrachteten Gesprächsthemen. Das Beachten dieser Tabus lernt das kleine sprechende Kind bereits früh, das im Halbwüchsigenalter vielleicht mit der Schilderung blutiger ärztlicher Eingriffe provozieren möchte. Die „Tischgemeinschaft ist auch eine Erzählgemeinschaft“ (Fuchs 1998: 296); vieles, was für das Essverhalten gilt, lässt sich auch auf das gebotene Kommunikationsverhalten übertragen. „Mäßigung“ erhält dann etwa die Bedeutung von reduzierten Redebeiträgen, damit jeder zu Wort kommen kann: „Die Gesellschaft eines unaufhörlichen Schwätzers stört nicht weniger als ein lieblos eingerichteter Eßraum, in dem es vielleicht auch noch übel riecht“ (Heckmann 1995: 414). Provokante Fragen, anstrengende intellektuelle Ausführungen 29 , Unruhe und laute Musik, welche die Konzentration und allein das akustische Verstehen des Gesagten erschweren, sind zu vermeiden. Karl Friedrich von Rumohr, dessen Abhandlung über den Geist der Kochkunst (vgl. 1966: 205) von einer offensichtlichen Arroganz geprägt ist, rät wiederum bei einer Tischgemeinschaft dummer und geschwätziger Personen zu lärmender Tischmusik, die manches Gesagte übertönt, während er im Übrigen Tafelmusik grundsätzlich als betäubend ablehnt. Überhaupt stören Krach und laute Geräusche beim Essen; Lèvi-Strauss verweist auf das französische Wort „gargote“ – ein Ort, an dem schlechtes Essen zubereitet wird –, das sich von „gargoter“, das sich in seiner ursprünglichen Bedeutung im Sinne von „beim Kochen Geräusche machen“ ableitet. Lärm und Essen passen also nicht zueinander, die Esshandlung, der Verzehr der Speisen, eventuelles Besinnen auf den Geschmack und die Kommunikation mit den Mitessenden verlangen Aufmerksamkeit, die durch Ablenkungen getrübt wird. Simmel (1993a: 210) bezeichnet „die Banalität der gewöhnlichen Tischgespräche“ als sozusagen naturgegebene Eigenheit, die sich aus den Idealen der „Unabgelenktheit und Unaufgeregtheit beim Essen“ F
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29 Die intellektuellen Gespräche während der griechischen Symposia laufen diesem Postulat zuwider. Hier ist das Essen allerdings eher als Hintergrund für den geistigen Austausch zu betrachten.
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(ebd.) zwangsläufig ergibt und eben keine tiefschürfenden Abhandlungen erlaube. Zusammengefasst resultiert für Simmel das Postulat der Oberflächlichkeit aus der physiologischen Zweckmäßigkeit des Essens. Dies ist sicherlich eine Ursache, eine andere sehen wir in dem Bedürfnis nach der Herstellung und Aufrechterhaltung des sozialen Friedens innerhalb der Tischgemeinschaft. Ernste Gesprächsthemen können leicht wiederum ernsten Dissens auslösen, bei weniger „wichtigen“ Themen entsteht auch bei Meinungsverschiedenheiten kaum ein Konflikt. Und mit jenen, mit denen man sich grundsätzlich nicht versteht, wird man – wenn irgendwie möglich – sowieso keine Tischgemeinschaft eingehen. Bei Tisch über das Essen zu sprechen, erscheint Merkle (2001: 216) am „bekömmlichsten“, während Anthus (vgl. 1962: 202) davon abrät und eine Unterhaltung über ein heiteres Thema vorschlägt. Ohne ein Gespräch bei Tisch zusammenzusitzen, wird allerdings als vollkommen unschicklich betrachtet: „Schweigend aber und ohne ein Wort redend sich in Gesellschaft miteinander vollzustopfen, ist den Schweinen eigen, Menschen vielleicht unmöglich“ (Vaerst 1851: 252). Gastrosophen-Kollege Brillat-Savarin (1962: 115) vermutet gar im gemeinsamen Essen den Urquell der Sprache: „Während der Mahlzeiten müssen auch die Sprachen entstanden sein oder sich vervollkommnet haben, sei es nun, weil sie eine stets wiederkehrende Gelegenheit zu Zusammenkünften boten, sei es, weil die Muße während und nach den Mahlzeiten unwillkürlich die Vertrautheit und die Gesprächigkeit fördert“.
„Beplauderter Bissen schmeckt besser“, weiß Grimod de la Reynière (1992: 45) beizupflichten, wobei mit der Verwendung des Wortes „plaudern“ bereits eine Leichtigkeit und Oberflächlichkeit der Kommunikation impliziert wird. Demgegenüber gibt es im interkulturellen Vergleich Völker, bei denen es gänzlich verboten ist, während des Essens zu sprechen (vgl. von Paczensky/Dünnebier 1999: 334). Zurück zur hiesigen Kultur: Zuweilen müssen in der Esssituation erst Kommunikationsrituale erledigt werden, bevor es zum eigentlichen Verzehr kommen darf. Das eigentliche Essen ist dann gewisser-
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maßen in einen kommunikativen Rahmen eingebunden. Das können Sprechen bzw. Hören des Tischgebetes zu Beginn und/oder Ende der Mahlzeit oder Ansprachen, Dankesworte oder Glückwünsche sein. Ein Kommunikationsritual, das in dieser Ausführlichkeit während des 20. Jahrhunderts kaum noch praktiziert wird, ist das Nötigen des Gastes zum Essen seitens des Gastgebers. Danach lehnt der Gast im Verlauf einer Mahlzeit eine weitere Portion ab, der Gastgeber bietet erneut an und wieder erfolgt die Ablehnung durch den Gast. Wird der Eingeladene nicht mindestens dreimal zum Essen aufgefordert, gilt der Gastgeber als geizig. Auf der anderen Seite muss der Gast „nein“ sagen, ansonsten wirkt er unhöflich und unbescheiden. Der Gastgeber mag – je nach Temperament – entrüstet oder beleidigt reagieren, auch dies gehört zum Ritual. Nach dreimaligem Anbieten darf sich dann auch der Gast „geschlagen“ geben und einer weiteren Portion zustimmen, ohne den Ruf einer dreisten und gefräßigen Person zu erhalten. Das Ritual des Nötigens bot sowohl dem Gast als auch dem Gastgeber Sicherheit; nach seinem Wegfall ist der Gast „stärker als zuvor auf sich allein und sein Taktgefühl gestellt, wenn er auf ein Angebot eingehen und dabei weder unbescheiden noch allzu zurückhaltend erscheinen will“ (Schürmann 1994: 134). Denn auch heute noch zeugt es von Bescheidenheit und der Fähigkeit zur Mäßigung, in manchen Esssituationen erst einmal dankend erneute Portionen abzulehnen. Ebenso wird der Gast vom Gastgeber erwarten, dass ihm weitere Portionen angeboten werden, auch wenn er keinerlei Bedürfnis nach weiterem Essen verspürt und weiß, dass er das Angebot ablehnen wird. Dass die Art der Kommunikation während des gemeinsamen Essens Gastrosophen, Autoren von Benimmbüchern und Tischzuchten sowie Philosophen beschäftigt hat, zeigt die Sozialität der Handlung des gemeinsamen Essens. Kant (vgl. 1968: 281) stellt Regeln für eine gelungene Unterhaltung bei Tisch auf, die sich wesentlich auf die Postulate der Teilhabe aller am Gesprächsthema und der Zurückhaltung emotionaler Eskalationen gründen. Er rät insbesondere „philosophirenden Gelehrten“ vom Essen ohne einen Tischgenossen ab:
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„Der genießende Mensch, der im Denken während der einsamen Mahlzeit an sich selbst zehrt, verliert allmählich die Munterkeit, die er dagegen gewinnt, wenn ein Tischgenosse ihm durch seine abwechselnde [sic!] Einfälle neuen Stoff zur Belebung darbietet, welchen er selbst nicht hat ausspüren dürfen“ (a.a.O.: 280).
Die funktionale Komponente des Essens zeigt sich ebenfalls anhand der begleitenden Kommunikation. Die Situation der gemeinsamen Mahlzeit kann zum Gespräch genutzt werden und mehr noch, sogar eigens hierfür anberaumt werden. Das Essen verleiht anderen essfreien bzw. essfremden Zwecken einen konstitutiven Rahmen. Dies wird häufig für das griechische Symposion festgestellt, das vor allem geistvollen Diskussionen dienen sollte. Auch war mit der Einladung zum „Tee“ nicht in erster Linie das Trinken des Heißgetränks und der Verzehr kleiner Gebäckstücke gemeint, sondern vielmehr die Aufforderung zum Plausch in angenehmer Nachmittagsatmosphäre. Gleiches gilt für das weiblich besetzte „Kaffeekränzchen“, das sich sozial etablieren konnte, weil Frauen allein keinen Zugang zu den neu aufgekommenen Kaffeehäusern besaßen und sich nachmittags im eigenen Heim zum privaten Gespräch bei Kaffee und Kuchen trafen. Die tendenziell pejorative Bezeichnung „Kaffeeklatsch“ verweist deutlich auf den eigentlichen Zweck der Zusammenkunft, nämlich das gemeinsame Gespräch, wozu auch die Kommunikation über andere Personen im nahen Umfeld gehören kann. Geschäftsessen ermöglichen eine Verbindung von Geselligkeit und rationalem Zweck, wenn auch letzterer die Gesprächsinhalte dominieren dürfte. Die Gesprächsinhalte liegen beim funktionalen Essen fest; das Essen liefert hier sozusagen die Kulisse für anderes, schafft in der gemeinsamen Ess- bzw. Tischsituation jedoch eine Atmosphäre der Zusammengehörigkeit, in der das Provozieren von Konflikten oder Problemen schwerer fallen dürfte als am Konferenztisch. Hochzeitsessen, Geburtstagsessen und Leichenschmause finden zu Anlässen statt, die außerhalb des Essens selbst liegen. Das gemeinsame Essen ist hier zweckorientiert in dem Sinne, als es dazu dient, eine Veränderung im
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Leben von Menschen zu markieren. Es wirkt als „rite de passage“ und besitzt damit eine ordnende Funktion im Alltags- und biologischen Lebensfluss. In der zeitgenössischen Gesellschaft reduziert sich die Kommunikation beim Essen unter dem Einfluss von Fast-Food-Esssituationen und der vielen Mahlzeiten, die mittlerweile nicht nur in SingleHaushalten von einer Person allein eingenommen werden. Das Tischgespräch, wie es Anthus oder Grimod de la Reynière erlebten und empfahlen, verschwindet bis auf wenige Begebenheiten – etwa bei geselligen, auch anlassgebundenen und funktionellen Mahlzeiten oder beim eher seltenen Familienessen – zunehmend aus der Gesellschaft. Als Folge sind Kommunikationsrituale oder allein das Wissen um die Etablierung und Aufrechterhaltung einer Konversation während des gemeinschaftlichen Essens nicht mehr durchweg präsent, die sozialen Fertigkeiten werden nicht mehr „gewusst“. In Fast-Food-Restaurants sitzen sich Familien häufig schweigend oder in Ein-Wort-Sätzen: „Schmeckts?“ – „Mhm.“ gegenüber. Wagner (1995: 77) bemerkt jedoch, dass trotz des schnellen Essens, das Imbissbuden ermöglichen, sie oft „eine Anlaufstelle von Kommunikationsbedürftigen und -suchenden“ darstellen. Die Begegnungen der essenden Kunden untereinander sind dabei kurz und flüchtig, die Personen essen meist allein und rasch, allerdings nimmt die Bedienung hinter der Theke ähnlich einem Kneipenwirt häufig eine konstante und zentrale Position nicht nur im Ablauf und Funktionieren des Imbisses als gastronomischer Einrichtung ein, sondern fungiert häufig ebenso als sozialer fester Kommunikationspartner für den Stammkunden 30 . Die Fernsehsendung „Dittsche“ zeigt die Kommunikation zwischen Stammgast „Dittsche“ und „seinem“ Imbissbetreiber in dessen Imbissbude in gelungener Weise. Bezeichnend ist, dass zwischen Dittsche und dem typisch wortF
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30 In den Restaurants der Fast-Food-Ketten mit ihrem wechselnden Personal ist diese Vertrautheit kaum möglich. Lange Kundenschlangen vor den Schaltern erfordern zudem ein strikt zweckgerichtetes Handeln auf beiden Seiten, sowohl vom Personal als auch von den Gästen.
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kargen anderen Stammkunden („Kröte“ – immerhin, er hat einen Namen, ist also nicht völlig anonym) kein Gespräch stattfindet. Im Mittelpunkt der TV-Serie „Drei Damen vom Grill“, ausgestrahlt Ende der 1970er bis Anfang der 1990er Jahre, steht ein Imbisswagen, wobei hier stets neue Geschichten u.a. aus dem Leben der Stammkunden erzählt werden. Offensichtlich bietet die Imbissbude mit ihrem raschen Durchlauf vieler Gäste, die kurz verweilen, aber doch immer wiederkehren, einen lohnenswert zu beobachtenden Kommunikationsort, der spezifische Situationen und Begebenheiten schafft. Wenn es um die rein zweckorientierte Verköstigung geht, beschränkt sich die Kommunikation auf wenige, kurze funktionsgebundene Wortwechsel der schnellen Esssituation angemessen und angepasst: Eine Portion Pommes frites mit Ketchup und Mayonnaise wird dann zu „eine Pommes rot-weiß“ oder, noch kürzer, zu „Pommes Schranke“. Zuweilen sind diese Bezeichnungen nur „Insidern“, Kennern der Branche, verständlich, ähnlich wie die Bezeichnungen und Attribute mancher Speisen auf der Speisekarte eines Gourmet-Restaurants oder die Worte der SommelierSprache. Nach all der im Laufe der Jahrhunderte stattgefundenen Sublimierung des Tischverhaltens scheint sich gegenwärtig zumindest partiell eine Rückwendung zu vollziehen, die allerdings stark situationsgebunden ist: Beim der Geselligkeit dienenden Fondue essen die Anwesenden wieder aus einem Topf, die deftige Jägerpfanne wird im Restaurant in der gusseisernen Pfanne serviert, auf dem aus der Steinzeit bekannten „heißen Stein“ brutzelt das rohe Fleischstück vor den Augen des Gastes. Beim Buffet stehen alle Gerichte wie im eigentlich längst überholten service à la français angerichtet vor dem Esser. In der postmodernen Gesellschaft existieren offenbar mehrere zulässige Varianten korrekten Tischverhaltens: Je nach Situation, die der einzelne selbst einschätzen muss, sind spezifische Regeln zu beachten und einzuhalten. Er kann in der Mittagspause rasch Pommes frites mit den Fingern essen und bei McDonald’s geradewegs in den Hamburger beißen – hier einen Hamburger mit Gabel und Messer in mundgerechte
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Stücke zu zerteilen, wäre sehr ungewöhnlich – und abends mit der Spezialzange die Schnecken sicher aus ihren Häuschen befreien: „Das einvernehmliche Nebeneinander von Silberbesteck und Papierserviette, Platzteller und Styroportüte, Sommelier und Coladose ist für das Eßverhalten im urbanen Milieu heute geradezu konstitutiv“ (Wagner 1995: 263). Diese universale Esskompetenz korrespondiert mit dem Aufkommen neuer Essräume und neuer Essgewohnheiten. Restaurants werden für eine breite Masse zugänglich, das hier mitunter diffizile angemessene Verhalten – man wartet etwa, bis man zu „seinem“ Tisch, dem zeitlich befristeten eigenen Territorium, geleitet wird – will beherrscht sein. Seitens des Personals ist ebenfalls eine Reihe besonderer Verhaltensregeln zu befolgen, die es professionell erlernt. Die Kategorienbildung unter den Restaurants, die sich aus ihren unterschiedlichen Erscheinungsformen ergibt, legt wiederum spezifische Verhaltensstandards beim Personal als auch bei den Gästen fest. Im rustikalen Schnitzel-Gasthaus gelten andere Sitten als im ausgesuchten Spezialitätenlokal. Das Bier zum Holzfällersteak wird die Aushilfskellnerin im Gasthaus selten absichtlich von der rechten Seite des Gastes servieren. Der offene Hauswein, der hinter der Theke aus Kanistern fließt, benötigt kein zeremonielles Öffnen der Weinflasche bei Tisch mit anschließendem Probeschluck des Gastes. Berücksichtigt man noch zusätzlich die interkulturellen Unterschiede im korrekten Essverhalten, weist sich der urban-postmoderne Esskosmopolit als solcher dadurch aus, dass er das Essen mit Stäbchen perfekt beherrscht, ohne je in Asien gewesen sein zu müssen, und weiß, dass die „Crepinette“ kein kleiner süßer Pfannkuchen ist. Lösen sich mit der Vielfalt jeweils esssituationsabhängig gültigen Tischverhaltens die etwa von Bourdieu analysierten und durch die Jahrhunderte hinweg feststellbaren sozialen Grenzen, die über Geschmack, Essen und Verhalten konstituiert werden, in dieser Funktion auf? Gilt der Feuerbachsche Indikator, „Der Mensch ist, was [und wie] er isst“, angesichts des Ausgeführten heute nicht mehr?
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ALS SOZIALES
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D ISTINKTIONSMITTEL
Dem, was allen Menschen gemeinsam ist, durch besondere Ausprägungen und Formen eine herausragende prestigeträchtige Bedeutung zu geben, die auf die ausführende Person ausstrahlt, wird seit vielen Jahrhunderten auch im Bereich der Esskultur praktiziert. Hinsichtlich des Aufkommens von Tischsitten hatten wir bereits festgestellt, dass sich mit deren Verfeinerung zunächst der Adel, später dann das ihn imitierende Bürgertum vom „einfachen“ Volk – das ebenfalls aß, aber eben andere Dinge und auf eine andere Weise – abgrenzte und sich so über das prinzipiell allen gemeinsame Essen von ihm sozial distanzierte. Den mitunter durchaus widersprüchlichen Inhalt von Verboten und Geboten deutet Schürmann (1994: 101) als Zeichen dafür, dass Tischsitten „ihre Ursache nicht in zivilisatorischen Bedürfnissen haben, sondern vor allem der sozialen Distinktion dienen“, womit er sich gegen die von Norbert Elias postulierte Zweck- und Zielgebundenheit auch in der Entwicklung des Tischverhaltens ausspricht. Was die Zurückhaltung der körperlichen Bedürfnisse und Affekte während des Essens betrifft, scheint sich Elias’ These zu bestätigen (vgl. Teil 3. 2), jedoch signalisieren sehr feingliedrige Verhaltensanweisungen durchaus unterschiedliche und der Mode unterworfene Schwankungen. Zeugte es noch im Deutschen Kaiserreich von plebejischem Charakter, auf der Straße zu essen, ist dies in der Fast-Food-Gesellschaft völlig akzeptiert. Verbote und Gebote hängen mittlerweile derart von der jeweiligen Esssituation ab, dass für das mikrosoziale Verhalten des Individuums Schürmanns These an Plausibilität gewinnt. Sämtliche Aspekte des Essens – was, wie, wo, wann und mit wem ich esse – stiften Identität; erzeugt werden nicht nur Essgemeinschaften, sondern auch für die Außenwelt sichtbare (vermeintliche) Zugehörigkeiten zu bestimmten sozialen Gruppen. Tafeltücher aus Leinen, Salzfässer und Gewürzbehälter repräsentieren im Mittelalter bei Tisch den hohen gesellschaftlichen Status ihres Besitzers, im 17. Jahrhundert symbolisierten Zuckergerichte, kunstvolle Tafelaufsätze aus edlen Metallen und Porzellanen sowie Jagdmotive auf den Geschirrservicen den
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gesellschaftlich hochrangigen Haushalt. Der Kontrast zur gewöhnlichen armen Bevölkerung war immens. Voraussetzung für die Entstehung dieser Symbolfunktionen war die grundsätzliche Sättigung zumindest eines (relativ kleinen) Teils der Gesellschaft, der die symbolische Bedeutung der Dinge über ihre Nutzung etabliert – das Salzfässchen steht neben den Tellern – und sie damit aus dem Normalen und Alltäglichen heraushebt, sie mit der Aura des Besonderen belegt. Das Salzfässchen ist nun kein bloßes Gefäß für ein Mineral mehr, sondern bedeutet womöglich mit reichen Verzierungen Wohlstand und Prestige. Die „secondary meanings“ des Essens (Scholliers 2007: 334), die vermehrte Ausprägung seiner symbolischen Komponenten, haben im Verlauf des 20. Jahrhunderts zugenommen. Ein Zeichen auch für den sich verbreitenden allgemeinen Wohlstand innerhalb der westlichen Gesellschaften. Das zu besitzen und das tun zu können, was über das Notwendige hinausgeht, trägt die Botschaft von Luxus, Prestige, Wohlstand und Wissen. Der „Mensch von Welt“ weiß, wie er sich situationsadäquat zu verhalten hat, in welcher Reihenfolge das vorgelegte Besteck verwendet wird und welcher Wein zur welcher Speise zu empfehlen ist. In früheren Zeiten galt noch das als prestigeträchtig und sozial differenzierend, was nicht für jedermann erschwinglich war, wie zum Beispiel Piment im Mittelalter oder Zucker in der Renaissance. Die oberen Schichten der Bevölkerung grenzten sich durch das Verschmähen von Lebensmitteln, die armen Leuten „zugeordnet“ waren, deutlich ab. Weißes Brot etwa aus fein gemahlenem Weizenmehl blieb der Herrschaft zum Verzehr vorbehalten, mit dunklem Brot mussten sich alle anderen zufrieden geben. Die Farbe des Brotes bzw. die Forderung nach gleichem Brot für alle besaß während der Französischen Revolution tatsächlich revolutionären Charakter. Bestimmte Nahrungsmittel und Gerichte dienten als zuverlässige soziale Marker. Manche Lebensmittel waren ausschließlich für besondere Würdenträger bestimmt: In China durfte nur der Kaiser Kamelhöcker essen (vgl. von Paczensky/Dünnebier 1999: 47). Im Laufe der Zeit vermag sich die symbolische Bedeutung von Lebensmitteln als sozialer Indikator durchaus zu
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wandeln. Die Pizza stellte, ebenso wie viele andere heutige Fast-FoodGerichte, ein typisches Arme-Leute-Gericht im Neapel der Renaissance dar, heute ist sie als respektables Gericht, vornehmlich im FastFood-Sektor, weltweit nicht mehr wegzudenken – der Geschäftsmann und der Arbeitslose verzehren Pizza 31 . Austern galten im antiken Rom und Griechenland bereits als Delikatesse, wobei sie ebenso wie Hummer im 17. Jahrhundert von Armen gegessen wurden. Oder man vergegenwärtige sich den Imagewandel des Bieres: Über Jahrhunderte diente das Bier eher den unteren Schichten als Grundnahrungsmittel; im 19. und 20. Jahrhundert avancierte es zum modernen Getränk, das in Deutschland gebraut, Nationalcharakter und Demokratie verkörperte. Die Symbolik des national Reinen ist mit fortlaufender Bindung an die Brauvorschriften weiterhin gewahrt – gerade noch im Zeitalter der Globalisierung, wo das deutsche Bier vielleicht mehr denn je Tradition und Respektabilität verbreitet. Durch den vorwiegenden Konsum von Industriearbeitern erlangte das Bier die Attribution eines demokratischen, proletarischen Getränks. In jüngster Zeit scheint die in der Hand mitgeführte Bierflasche im öffentlichen Raum den Hobo zu imitieren, allerdings vor allem von Halbwüchsigen, die durchaus auch der Mittelund Oberschichten angehören. Die Bierflasche hat auf diese Weise jedenfalls an verstärkter Präsenz im Stadtbild gewonnen; man kann von einem neu erworbenen „coolen“ Image der „öffentlichen“ Bierflasche ausgehen, das auf den Träger abfärbt bzw. abfärben soll. Mit dem Verschwinden der kulturellen und ästhetischen Vorreiterrolle des Adels, der diese Position durch revolutionäre Entmachtungen mehr und mehr an ein erstarkendes Bürgertum abtreten musste, entstanden spezifische, sozusagen punktuelle Formen sozialer Distinktion qua Essen. Anfang des 19. Jahrhunderts gründeten sich in Frankreich Feinschmeckergesellschaften, die Preise an für hervorragend befundeF
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31 Es bleibt natürlich die Differenzierung, dass der erfolgreiche Geschäftsmann auch anderes, „Hochwertigeres“ essen kann und das auch weiß, während der Arbeitslose diese Wahlmöglichkeiten in dieser Gesellschaft nicht hat.
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ne Restaurants auslobten und dem „feinen“ Essen gesellschaftliches Prestige verliehen. Zu ihnen gehörte der Gastrosoph Grimod de la Reynière, der als Spezialist und Autor über die Esskunst – das gute Essen, die Bedeutung von Gastlichkeit und Tischsitten – hohe Anerkennung fand. Die deutschen Gastrosophen-Vertreter, Anthus und von Rumohr, feierten in geradezu kulturchauvinistischer Manier das Prestige europäischen Essens gegenüber dem Essen mancher anderer Völker: „Ist es denn ein Wunder, wenn so Millionen, die kein Fleisch essen, von weniger Roastbeef essenden Engländern leicht in Zaume gehalten werden?“ – so Anthus’ (1962: 61) Erklärung für das Gelingen kolonialer Herrschaftssysteme. Und auch der individuelle Vorteil aufgrund des Wissens um gutes Essen wurde propagiert: „Feinschmecker leben länger als andere Menschen“ (Brillat-Savarin 1962: 109). Im 19. Jahrhundert entstand in Deutschland eine neue Form des gemeinschaftlichen Essens: das Diner. Bei dem mindestens sieben Gänge umfassenden abendlichen Mahl wurde großer Wert auf feine Speisen sowie Ritualen und Formalia gelegt; von einer korrekten Kleiderordnung bis zur Beherrschung elaborierter Tischsitten. Angesichts der vielen Menüfolgen avancierte unter denen, die überhaupt imstande waren, zu einem Diner einzuladen, das Besteck als ein sozial distinktives Element. Nur wenige vermochten es, für alle Gänge das Besteck in ausreichender Anzahl zu Beginn des Essens vorzulegen. In den großen Städten, wie etwa in Berlin florierte daher während der Kaiserzeit ein besonderer Geschäftszweig. Der Besteckausleih rettete sicherlich einige vor dem Verlust ihres gesellschaftlichen Renommés bzw. half etlichen, sich mit dem Anschein des Wohlstandes zu schmücken. Mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs verschwand diese formelle Form der geselligen Mahlzeit; bereits um 1900 durfte die Anzahl der Gänge für das „kurze Diner“ reduziert werden. Seit einigen Jahrzehnten bildet sich eine soziale Differenzierung über das Essen heraus, die sich über die Zubereitungsweisen von an sich schlichten, allen zugänglichen Nahrungsmitteln definiert. Die Möglichkeit der Wahl zwischen „Einfachem“ und „Besonderem“ zeichnet
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den Privilegierten aus, wie Bourdieu (vgl. 1987: 290f.) feststellt; der Arme isst Kohl, weil er muss, der Reiche, weil er möchte – und verfeinert diesen womöglich mit edlem Champagner. Freedman (2007: 17, Hervorheb. i.O. ) beschreibt den stattgefundenen Wandel: „in our time food is defined more as a personal style than a rigid attribute of class, except perhaps for lower-class foods“. Diese Tendenz ist noch relativ jung; und da auch der Nicht-Aristokrat mittlerweile ein tiefgefrorenes Wildschweingericht aus dem Supermarkt mit nach Hause nehmen kann, hat das Wild als symbolischer Indikator für Wohlstand und Elitenzugehörigkeit sicherlich nicht vollkommen ausgedient, aber an Verlässlichkeit verloren. Oder anders gesagt: Der auf der Kirmes zu erwerbende Scampi-Spieß lässt auf ein Sinken des an sich luxuriösen Images der Schalentiere schließen, gilt doch die Kirmes eher als Tummelplatz „einer in kulinarischen Dingen verelendeten Unterklasse“ (Fichtner 2004: 176). Wenn also Wild- und Schalentier für nahezu jedermann erreichbar werden, ist eine weitere Stilisierung und Ästhetisierung zur sozialen Abgrenzung erforderlich: „Nichts hebt stärker ab, klassifiziert nachdrücklicher, ist distinguierter als das Vermögen, beliebige oder gar ‚vulgäre‘ […] Objekte zu ästhetisieren, als die Fähigkeit, in den gewöhnlichsten Entscheidungen des Alltags […] und in vollkommener Umkehrung der populären Einstellung die Prinzipien einer ‚reinen‘ Ästhetik spielen zu lassen“ (Bourdieu 1987: 25).
Der „Eingeweihte“ kennt die Codierung bestimmter Speisen, Nahrungsmittel, Zubereitungsweisen und des Tischmaterials, gleichwohl dieser Eindruck heute schwieriger herzustellen ist, als vor einigen Jahrhunderten, als die in Auftrag gegebene Zuckerskulptur bereits für sich und den Gastgeber sprach. Doch immer noch scheint der „Kleinbürger“, wie Bourdieu (vgl. a.a.O.: 503) schreibt, in völliger Ergebenheit gegenüber dem entrückten prestigeträchtigen Lebensstil aufzublicken. In der jüngsten Vergangenheit Deutschlands symbolisierten die unerreichbaren bzw. schwer zu erreichenden Südfrüchte, Bananen und Apfelsinen, aus der Perspektive der DDR-Bürger westlichen Wohl-
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stand und das westliche Leben par excellence. Das Obst nahm in den Zeiten der Öffnung des Staates DDR damit eine ähnliche Rolle ein wie das Weißbrot während der Französischen Revolution. Bereits in früheren Zeiten wurden teure und deshalb nur für wenige erschwingliche Lebensmittel durch Surrogate ersetzt. Auch das „einfache“ Volk wollte an dem Nimbus der wertvollen und edlen Produkte teilhaben: Bohnenkaffee wurde durch Kaffee aus Malz oder Zichorien substituiert, 1869 entwickelte Hippolyte Mège Mouriès in Frankreich die Margarine, die als „Arme-Leute-Butter“ das kostspielige Original imitierte. Heute umgeben simplen Bohnenkaffee und Butter nicht mehr das Flair des Besonderen, des Wertvollen, das erreichen erst spezielle Kaffeebohnen aus bestimmten Regionen Südamerikas in einem ganz besonderen Röstverfahren; die Butter muss zumindest fein gesalzen aus der Normandie stammen – die Sublimierung schreitet voran. Der Wunsch nach Imitation – wenn das Original denn tatsächlich unerreichbar ist – und damit nach einer Übertragung des Erfolgs und Wohlstands, die bestimmte Produkte und Speisen suggerieren, ist groß. Das bestimmte Essen, der Besuch im „angesagten“ Restaurant, welche diese positiven Attribute verkünden, sind sehr begehrt und mit einem besonderen Nimbus umgeben. Man wird, wenn möglich, häufiger solche Nahrungsmittel zu sich nehmen, die von den Angehörigen der sozialen Schicht, zu der man selbst gern gehören möchte, gegessen werden, berichtet Logue (vgl. 1995: 185). Durch den Verzehr der als „luxuriös“ bekannten Speise erlebt auch der „einfache“ Mensch aus dem Volk das Gefühl der Erhabenheit, wenn auch nur für eine befristete Zeit. Dieses Bedürfnis nimmt Werbung zum Anlass, dem Verbraucher beim Kauf des Produkts XY dieses Erleben zu garantieren, das zwar für einen Moment tatsächlich eintreten kann, jedoch nicht – wie beim Bourgeois – wirklich und von Dauer sein kann. Speisen und Nahrungsmittel sind jedoch nicht nur mit prestigeträchtiger sozusagen positiv bewerteter Symbolwirkung belegt, sondern verweisen ebenfalls in negativer Hinsicht auf den Esser bzw. Besitzer. Fettiges Schweinefleisch, die Präferenz für liebliche Weine und Besuche in ehemals „jugoslawischen“ Restaurants gelten nicht als Zei-
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chen guten Geschmacks, ihr sozialer Wert hat sich allgemein betrachtet zugunsten anderer Symbole aufgelöst. Die individuelle Zuschreibung von Werten und Bedeutungen ist jedoch abhängig von der Perspektive des einzelnen: Der Imbissbudenkunde, der vielleicht auch gern Eintöpfe aus Konservendosen zu sich nimmt, wird den Besuch eines BalkanRestaurants sicher mit einem gewissen Nimbus versehen. Essen kann sozusagen bewusst als Kommunikationsmedium zur Verkündung von Informationen – seien sie wahr oder unwahr – genutzt werden: „Sicherlich bildet der Stil der Speisen, die man gerne auf den Tisch stellt, ein sehr aufschlußreiches Indiz für das Bild, das man den anderen vermitteln oder gerade verbergen möchte, und ist daher ein systematischer Ausdruck eines Faktorensystems, das neben den Indikatoren für die eingenommene Stellung innerhalb der ökonomischen und kulturellen Hierarchie auch den Werdegang in wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Hinsicht umfaßt“ (Bourdieu 1987: 141).
Dabei ist das postmoderne urbane Individuum, wie bereits ausgeführt, nicht in ein starres Kategoriensystem einzuordnen, was seine Orientierung an Verhaltensnormen betrifft. Auch den ästhetischen Trendsetter kann man in der Mittagspause in der Imbissbude finden, wenngleich vielleicht in keiner der „gewöhnlichen“. Zwischen den Imbisslokalen hat sich die Tendenz zur Exklusivität herausgebildet, eine esskulturelle Hierarchie im an sich unteren Verköstigungssegment ist entstanden: Luxus-Imbisse mit ausgewählten Bio-Fleischsorten und hausgemachten Soßen mit erlesenen Zutaten und Gewürzen, vor Ort zubereiteten Pommes frites aus frischen Kartoffeln oder noch edler mit Pasta und Schalentieren im Angebot erfreuen sich großer Beliebtheit. Die Flasche Bier wird durch ein Gläschen Champagner oder Prosecco ersetzt. Der Luxus-Imbiss scheint nur ein Indiz dafür zu sein, dass Essen, insbesondere das Essen in der Öffentlichkeit und das gemeinsame mit anderen Personen am häuslichen Esstisch mehr denn symbolisch ausdifferenziert ist und damit auf der sozialen Werteskala viele Facetten zeigt. Der einzelne wird dadurch und durch die vorgegebene Struktur seines
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Alltags nahezu gezwungen, sich mehrere Essstile anzueignen. Neben diesem typischen Gesellschaftsmitglied existieren die Armen und die „Aristokraten“ der Gegenwart, die man sicher nicht mehr ohne weiteres an der Farbe ihres Brotes erkennen kann, wohl aber die Erstgenannten an ihrer nicht vorhandenen Wahlmöglichkeit, die anderen heben sich eher subtil von der Masse ab. Das von den Ahnen erhaltene Silbergeschirr ist vom Parvenü nur mit dem Besuch einer Antiquitätenhandlung im Ansatz zu imitieren, das Familienwappen oder die gravierten Initialen werden aber kaum seine eigenen sein. Und überhaupt ist die Macht über die Zeit, die Urgroßmutters silbernes Sahnekännchen dokumentiert und sich auch auf den gegenwärtigen Besitzer erstreckt, unbezahlbar und unerreichbar. Essen repräsentiert allerdings nicht zwangsläufig nur Wohlstand oder Armut, es demonstriert zudem Lebensstile und ästhetisches Vermögen bzw. Unvermögen – wiederum abhängig von den allgemeingesellschaftlich gesetzten Werten und Bedeutungszuweisungen. Mittlerweile sind fast alle Nahrungsmittel und Speisen von einem Bedeutungssystem überzogen; das Marketing im Bereich der Lebensmittel zeigt, dass auch „low-interest-products“ wie etwa Mehl durch die Einbettung in dieses System durchaus sozial distinktiv wirken kann, man denke allein an die vielen Sorten der Vollkornmehle. Nicht nur im werbewirtschaftlichen Sektor findet eine zunehmende Inszenierung des Essens statt.
3.4 D AS
INSZENIERTE
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„Wem der Sinn für schöne Formen fehlt, dem wird man freilich vergebens zu erweisen suchen, daß, aus einem schönen Glas getrunken, der Wein besser schmeckt“, schreibt Gastrosoph Anthus (1962: 276) und spricht damit das spezifisch menschliche Bedürfnis nach einer Ästhetisierung ganz elementarer Alltagshandlungen, wie sie eben Essen und Trinken par excellence darstellen, an. Essservices und Glasserien in, so
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scheint es, unendlich vielen verschiedenen Farben, Formen, Materialien und Dekoren stehen zur Verfügung, um Speisen und Getränken einen geschmackvollen Rahmen zu geben. Die Funktion des Behältnisses oder Untersatzes wird erfüllt – eine Suppentasse mit Löchern mag fein ausschauen, macht aber tatsächlich keinen Sinn –, steht aber beim Erwerb und bei der Nutzung offenbar nicht an erster Stelle. Hier ist wichtig, was das Geschirr auf dem Tisch vermitteln und ausstrahlen soll. Die Tischdecke, die Kerze, der Blumenstrauß oder die einzelne Blume erheben den Essplatz in eine andere Sphäre, welche sich symbolisch über die Wirklichkeit der bloßen Nahrungsaufnahme legt. Die das Essen umgebenden Materialien, die nichts mit dem Essen an sich zu tun haben – man könnte aus dem Kochtopf essen, à l’allemande von der kargen Tischplatte, die eingeschaltete Deckenlampe spendet sowieso genügend Licht – versetzen die Esssituation in einen thematischen Rahmen des Schönen und Angenehmen, der wiederum je nach individueller Perspektive möglicherweise auch als Kitsch wahrgenommen, als beunruhigend oder abstoßend empfunden werden kann. In jedem Fall jedoch findet eine Inszenierung statt. Ähnlich wie bei der Entwicklung der Tischsitten resultiert die Inszenierung des Essens zum Teil aus Notwendigkeiten, die sich ihrerseits aus essfremden kulturellen Entwicklungen ergaben: Die Tischdecke schützt die empfindlichen Tischplatten, für die unterschiedlichen Konsistenzen der Speisen haben die Scheibe altbackenes Brot oder das nachfolgende Holzbrett als Unterlagen ausgedient. Das Bedürfnis nach Ästhetisierung bestand natürlich schon immer, bereits die Rückseiten der hölzernen Brettchen im Mittelalter waren mit eingravierten Bildern verziert. In der materiellen Inszenierung des Essens wirkt gleichfalls der Wunsch bzw. das Streben nach Abgrenzung und Zurschaustellung des eigenen Geschmacks, der, wie wir bei Bourdieu gesehen haben, stets soziale Zugehörigkeiten und Grenzen markiert. Das „schöne Weinglas“ könnte für den anderen ein zerkratztes Wasserglas oder ein Plastikbecher sein. Die Regeln für eine allgemein als stimmig und gelungen geltende Inszenierung, die natürlich stets aus sozialen Konstruktionen resultiert und damit (sub-)
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kulturell und historisch veränderlich ist, sind besonders in der Vielfalt der Postmoderne äußerst diffizil. „Expertenwissen“ findet sich in schier zahllosen Büchern und (Spezial-)Zeitschriften, in denen Inszenierungen – Dekorationsideen, Tischwäsche, Anordnung der Materialien etc. – beispielhaft vorgestellt werden, und immer wieder erscheinen neue Varianten: Weißes Porzellan mit geschwungenen Rändern und Kanten löst Steingut mit Kornblume ab; die blau-weiß karierte Serviette passt zum deftigen Essen, nicht aber zum mediterranen Fischgericht; es muss nicht von grobem Geschmack zeugen, in Imitation ländlicher Tischkultur, Rotwein aus kleinen Wassergläsern zu trinken. Jeder Teller auf dem Esstisch zeigt ein anderes Dekor und durchbricht auf diese Weise das strikte Postulat der Einheitlichkeit eines Essservices – durchaus gelungen, wenn sie den gleichen Durchmesser besitzen und die Farben miteinander harmonieren. Vom Tischleuchter, Glimmer- oder Blumenkonfetti über Filzuntersetzer, Messerbänkchen, Serviettenring und Platzteller reicht das zeitgenössische kaum zu überblickende Angebot. Aus menschlicher Freude an der Inszenierung und der damit einhergehenden Distinktion frisst so manches häusliche Vierbein aus einem Porzellannapf mit Blumendekor oder aus einer Schale mit dem eigenen eingravierten Namen. Die Inszenierung greift in das Essen über, wenn zusätzlich, wie die entsprechende Werbung vorschlägt, ein kleines Kräuterzweiglein neben das Futterkarree auf den blitzweißen Tellerchen gelegt wird. Der Gemeinplatz, „das Auge isst mit“, gilt hier wiederum ausschließlich für das menschliche Auge, das aber auch dem Essen anderer umso lieber zuschaut, wenn es ästhetisiert ist. Historische Tafelinszenierungen sind überwiegend von adeligen und später bürgerlichen Tischen bekannt bzw. überliefert. Schließlich ist zu Inszenierungen, die vom Eigentlichen abheben und dies ästhetisch überhöhen, nur derjenige in der Lage, für den dieses Eigentliche – die Nahrungsaufnahme – eine vorhandene Selbstverständlichkeit darstellt. Anlässlich der Trauung von Kaiser Franz I. von Österreich mit der bayrischen Königstochter Charlotte Auguste im Jahr 1816 in München berichtet ein Gast:
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„An der Tafel selbst zog nichts meine Aufmerksamkeit so sehr auf sich, als das wunderbare Tafelservice, auf welches nicht etwa Pariser Brücken und Schlösser, oder Kunstwerke oder Bildergalerien eingebrannt waren, sondern mit der lebendigsten Täuschung die Speisen selbst, ganze Fasanen, mit den schönsten Goldfarben, Silberforellen, ein Kalbskopf nach Potter [Paulus Pieterszoon Potter (1625-1654), niederl. Maler; C.S.], Schnecken, Artischocken, Orangen“ (Lang zit.n. Schmidt/Staudinger 1993: 88).
Das Essen erscheint zweifach: Zum einen in tatsächlich vorhandener Speise und zum anderen als illusionäres Abbild auf den Geschirrteilen; die fürstliche Thematik „Fisch und Wild“ und die seinerzeit neuen modernen Früchte, Orangen, in Anlehnung an die Orangerien sowie Schnecken und Artischocken als Verweise auf die französische Hochkultur des Essens werden allesamt zitiert – ein wahrhaft aristokratisches Porzellandekor 32 . Die Einführung des service à la russe ermöglichte das Platzieren von Dekorationselementen in der Tischmitte (vgl. 3. 2). Große Terrinen mit kunstvoll gestalteten Deckeln gerieten zum Mittelpunkt und Blickfang des gedeckten Tisches. Aber auch feuervergoldete „Surtouts“, emporragende Tafelaufsätze, die mitunter aus mehreren Einzelteilen wie Vasen, Leuchten und Etagèren bestanden oder Schalen auf Sockeln, die zusätzlich auf das Licht reflektierende Spiegelplatten gestellt wurden, gehören zur Ausstattung eines fürstlichen Haushalts. Aufgekommen war diese Mode Ende des 17. bzw. Anfang des 18. Jahrhunderts in Paris, bedenkt man den kulturellen Vorbildcharakter des französischen Hofes nimmt es nicht Wunder, dass diese Tafelinszenierung schon bald in der europäischen Aristokratie imitiert wurde. Später wird von Rumohr (vgl. 1966: 215) Blumensträuße als Tischdekoration empfehlen, die Tendenz vom pompösen KunsthandF
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32 Das säurebeständige und geschmacksneutrale Porzellan wurde ab 1710 in Meißen hergestellt und setzte sich rasch in ganz Europa durch. Da die Chinesen ihre Porzellanrezeptur nicht preisgaben, musste es in Europa sozusagen „neu“ erfunden werden.
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werk zum eher Natürlichen beginnt. Ursächlich für diesen Wandel scheinen der zurückgehende Einfluss des Adels und damit seiner Vorliebe für Prunk und die Übernahme der gesellschaftlichen Vorreiterrolle durch das wirtschaftlich erfolgreiche, aber geschmackliche eher nüchterne Bürgertum sowie die aufkommende Bewegung der Romantik, die Hinwendung und Verklärung von Natur und Natürlichem. Simmel (1993a: 209, Hervorheb. C.S.) warnt vor allzu Kunstvollem, „der gedeckte Tisch darf nicht als ein in sich geschlossenes Kunstwerk erscheinen, so daß man nicht wagen möchte, seine Form zu zerstören. Während die Schönheit des Kunstwerks ihr Wesen in der Unberührtheit hat, die uns in Distanz hält, ist es das Raffinement der Tafel, daß ihre Schönheit doch einladend sei, in sie einzubrechen“.
Ebenso verwirft Anthus (1962: 95) kunstvolle Inszenierungen des Essens, wenn „es dem ästhetischen Gewissen des Essers Überwindung kostet, so schöne Formen zu zerstören“. Bei aller Ästhetisierung und Inszenierung besteht die Ambivalenz zwischen Berühren und NichtBerühren doch in der Funktion des Esstisches, der es gewissermaßen zulassen bzw. dazu animieren soll, ihn eben als Esstisch zu benutzen. In Georgien besudelt der Gastgeber in voller Absicht die übliche blütenweiße Tischdecke, um den Gästen die Scheu vor dem lebendigen Eindringen in die Tischinszenierung zu nehmen. Er bricht damit in die Inszenierung ein und löst ihren strengen Rahmen insofern wieder auf, als sich jeder unbefangen am Tisch – dessen Funktion entsprechend – dem Essen zuwenden und sich bewegen kann. Neue Ess- und Trinkgewohnheiten führten zur Kreation neuer Geschirrtypen, wobei die Grenzen zwischen Distinktionswillen und Notwendigkeit ineinander übergehen. Für das wertvolle Kolonialgetränk „Schokolade“ sollte ein ebenso wertvolles Geschirr Verwendung finden: „Eine jede Tasse von Porzellan stand auf einer Untertasse von Achat mit Gold eingefaßt, wobei jedes Mal eine Zuckerdose von gleicher Arbeit stand“ (Plötz 1986b: 16). Zum Inventar der „vornehmen“ Haushalte gehörten erlesene Chocolatièren, Kannen mit horizontalem
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seitlichem Griff und einer Öffnung im Deckel für den Quirl, mit dem die dickflüssige Schokolade gerührt werden musste. Mit der Inszenierung inszeniert das Individuum oder, historisch betrachtet, der soziale Stand, die Gruppe, sich selbst, kreiert wird über den symbolischen Mitteilungsgehalt der Materialien in der Esssituation – die Auswahl und Zusammensetzung der Speisen, ihre Darbietung und Dekoration – ein spezifischer Ausdruck, den die anderen wie in einem gelungenen sprachlichen Kommunikationsakt zumindest annähernd nachvollziehen bzw. verstehen. Und wie auch bei anderen fehlgeschlagenen Kommunikationen kann sich der Mensch in der Essinszenierung und mit deren angestrebt zu vermittelnder Botschaft über Imitationen von selbst erlebten Inszenierungen, in der Sozialisation erfahrenen Vorbildern oder über die Rezeption des bereits erwähnten medial weitergegebenen Expertenwissens 33 helfen bzw. helfen lassen. Jede Inszenierung, das buchstäbliche In-Szene-Setzen, beinhaltet das Element der Künstlichkeit, sie legt Rahmen und Form fest, welche die eigentliche Handlung in einen besonderen ästhetischen und damit sozialen Kontext einbettet. Dieser kann eine tatsächliche Wirklichkeit darstellen oder sich auf eine fiktive, vorgegebene beziehen, die nichts mehr mit der eigentlichen Handlung zu tun hat und den Dingen, wie Bourdieu (1987: 253) treffend sagt, „eine Verleugnung der Funktion abverlangt“. Zugespitzt heißt dies: Einmal isst man um des Essens willen 34 , beim anderen Mal, um seine Tischwäsche zu präsentieren. Inszenierungen, die das Essen betreffen, haben im Laufe der Jahrhunderte unterschiedliche Ausprägungen gezeigt und sich auf viele Bereiche erstreckt. Im Folgenden möchten wir einige davon diskutieren. F
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33 Der Vergleich mit Eheberatern und psychologischen Ratgebern drängt sich auf. 34 Natürlich „sickern“ auch hier symbolische Botschaften durch.
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3.4.1 Der inszenierte Gegenstand „Speise“ Bevor sich mit der Herstellung von Schaugerichten der historische Höhepunkt der Essinszenierungen in Richtung materieller Illusionsbildung vollzog, wurden bereits einzelne Speisen ästhetisiert. Sie wurden mit spezifischen Bedeutungen belegt bzw. symbolisierten zuweilen auch durch ihre Gestaltung bestimmte Kontexte, die mit ihrem eigentlichen Wesen als Speise und Nahrungsmittel nichts gemein hatten. Im 6. Jahrhundert protestierte Papst Pelagius I. gegen „Gebildebrote“, welche die Formen von Phallus und Vulva darstellten (vgl. Imbach 2008: 155), Fruchtbarkeitssymbole wie Eber, Hahn und Hase wurden ebenfalls aus Brotteig gebacken. Backwaren in der Gestalt von Menschen oder Tieren waren allgemein sehr beliebt, und heute noch findet man meist zu bestimmten religiösen Feiertagen großen Gefallen an Hasen und Lämmer zeigendes Gebäck. Es erfreut und überrascht, weil es die bekannte Funktion des Gegenstandes symbolisch überhöht. Um den sechsten Dezember werden in den Bäckereien Nikolausmänner aus Kuchenteig angeboten. Von der Brezel, wiederum ein Gebäckstück mit eigenartiger Form, wird angenommen (vgl. Wagner 1995: 90f.), dass sie ursprünglich die beim Beten verschränkten Arme eines Mönchen darstellen sollte; die Etymologie des Wortes „Brezel“ aus dem lat. brachium, ital. „bracciatelli“, zu Deutsch „Arm“, gilt als ein weiteres Indiz für diese These (vgl. ebd.). Offensichtlich formten Menschen schon immer Dinge nach ihrem Ebenbild oder bildeten sie nach der Gestalt von Tieren, wobei sie die Nahrungemittel mit einer symbolischen Bedeutung belegten, die auf essensfremde, sozusagen externe Inhalte verwies. Mit jedem Schokoladenglückskäfer nehmen wir zunächst erst den Käfer wahr, erst dann das sich dahinter fast schon verbergende Lebensmittel, das in dieser Gestalt auf eine andere Wirklichkeit als sie sein eigenes Wesen kennzeichnet, verweist, sich mit ihr verbindet. Ein Stück Illusionsbildung, die entsprechende Geschichten und Assoziationen weckt, stellt sich ein. Schaugerichte nun perfektionieren die Illusion, die Erwartungen des Betrachters werden vollkommen durcheinandergewirbelt. Seit dem
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Mittelalter wird von Schaugerichten berichtet, die aber schon bei römischen Gast- und Festmählern eingesetzt wurden. Hirschfelder (vgl. 2005: 86f.) beschreibt Kreationen, welche die tatsächliche Natur der einzelnen Bestandteile verbergen: Schweineteile sehen aus wie Geflügel, Fisch wie Fleisch, der Hase „besitzt“ Flügel, und aus dem Bauch des servierten Wildschweins fliegen lebende Drosseln in die Luft empor – zum Erstaunen der antiken Tischgesellschaft. Nöhbauer (vgl. 1995: 156f.) beruft sich auf das Nürnberger „Trincirbuch“ von 1652 und das Grimmsche Wörterbuch, wenn er zwischen dem „Schauessen“ als essbarem Gericht und dem „Schaugericht“ als nicht-essbarer Speise unterscheidet. Vom 16. bis über das 18. Jahrhundert hinaus dienten Schauessen und -gerichte bei Festessen dem Zeremoniell des Vorzeigens und Repräsentierens – natürlich auch der sozialen Statusdemonstration – und vor allem der Unterhaltung der Anwesenden. Dieses Essen besaß die eindeutige Funktion, zu amüsieren und zu einem lustvollen Ausbruch aus dem Alltag zu verhelfen. Dabei kann Essen auf zweierlei Weise instrumentalisiert werden: Zum einen als Initiator für die Herstellung einer Tischgemeinschaft mit entsprechend geselligen Gesprächen, zum anderen als von seinem eigentlichen Wesen entfremdetes Lust- und/oder Illusionsobjekt selbst, das in dieser Form wiederum Anlass zur geselligen Kommunikation bietet. Vergoldete Lebensmittel, Landschaften aus Speisen, gegarte Tiere im Fell, fertig zubereitete Schwäne und Pfauen, die „um des Spektakels willen“ (Bäumler 1993a: 67) wieder in ihr Federkleid gehüllt wurden, lebendige sich aus dem Bauch des Spanferkels windende Aale trugen zur Belustigung der Tischgesellschaft bei. Bei der perfekten Tafelinszenierung, so schreibt ein Zeitgenosse im Jahr 1652, „sind nicht allein die Ohren mit der lieblichen und hertzerfreulichen Music, Lobgedichten und Liedern belustigt, das Gehirn mit wohlriechenden Wassern und Rauchwerck gestärcket, der Mund mit den niedlichsten Speisen und dem süssen Geträncke behäglich erfreuet, die Hände mit Außwehlung der besten Bißlein bemüssiget, sondern auch das Gesicht als der übertrefflichste unter al-
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len Sinnen mit den sinnreichen Schaugerichten vergnüget worden, dardurch man zu guten Gesprächen veranlasst wird, und sind solche Speisen der Augen nicht nur zu der Zier der Tafel, sondern zu der Begebenheit auf der eingeladnen Ruhm und Namensgedächtnissen gerichtet“ (Harsdörffer zit.n. Schmidt/ Staudinger 1993: 104f.).
Bei höfischen, modern gesagt als „Event“ konzipierten Festessen sollten folglich alle Sinne angesprochen, der Gast ins Staunen versetzt werden. Unter den Einflüssen der diversen Sinnesreizungen verlässt er kognitiv seine alltägliche Wirklichkeit, wo natürlich keine lebendigen Hündchen oder Häschen aus der Pastete springen. Im 16. Jahrhundert hüft der Kleinwüchsige François Cuvilliés als „eingebackener“ Bestandteil aus dem Schaugericht – der Höhepunkt der Attraktionen. Das Essen als Illusion einhergehend mit der spielerischen Gestaltung der Speisen und Gerichte korrespondierte besonders im Mittelalter mit den das Festessen ebenfalls begleitenden Jongleuren, Gauklern, Tänzern und Musikanten. Wie erwähnt, durften bei weitem nicht alle präsentierten Gerichte gegessen werden, viele fertigte man aus Tragant, einer besonderen mit Wachs, Leinen, Holz oder Stroh verstärkten Zuckermasse. Die Simulationen dienten ausschließlich zum Anschauen 35 , erzeugten Überraschungen, bereiteten Staunen und sorgten für eine Atmosphäre der Nicht-Alltäglichkeit, zugleich bedeuteten sie Wohlstand und Überfluss des anbietenden Hauses. F
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35 Im China des 13. Jahrhunderts dienten nicht-essbare „Speisen“ als eigens angefertigte Esssimulationen bei kaiserlichen Banketten zum Füllen des Tisches.
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Exkurs: Kannibalismus Von einer besonderen Festspeise berichten Blond/Blond (vgl. 1965: 114). Ein Hunnenführer habe zu einer Siegesfeier die hübschesten Mädchen seines Harems als Braten servieren lassen. Das Verbot des Kannibalismus gilt als Fundament menschlicher Gesellschaften, weshalb Berichte über praktizierten Kannibalismus – geschieht er nicht aus Hungersnot, in religiösen Ritualen oder aus pathologischen Gründen – umstritten sind (vgl. etwa Logue 1995: 426 oder Harris 2005: 225). Zumeist dienen Augenzeugenberichte, wie sie vor allem von Missionaren über indigene Stämme in damals unbekannten Erdteilen verfasst wurden, als Beweisführung für Unterentwicklung und Wildheit der „eingeborenen“ Bevölkerung, sind also durchaus auch in diesem Sinne kritisch als politische Strategieaussagen zu bewerten. Peter Kolb (1675-1726) erzählt in einem Brief, dass Hottentotten mit Blut vollgesogene Läuse im Glauben daran verspeisen, auf diese Weise ihr eigenes von der Laus gesaugtes Blut wieder ihrem Körper zurückzuführen: „Ich habe viele hundert gesehen, die sich dieser widrigen Speise ohne Scheu bedienten“ (Kolb 1979: 153). Das, was der andere isst, wurde und wird häufig unter gleichzeitiger Hervorhebung der eigenen Überlegenheit als ein abwertendes Kriterium für dessen Andersheit angeführt – auf den „Spaghettifresser“ kommen wir weiter unten noch zu sprechen. Zeichnungen des 16. Jahrhunderts beispielsweise illustrieren die damalige Vorstellung des Lebens auf dem amerikanischen Kontinent: Zerlegte Menschenteile werden über Feuerstellen auf dem Rost dargestellt; in Schalen portioniert laben sich indianische Kinder und Frauen an Köpfen, Därmen und weiteren menschlichen Körperteilen (vgl. Thomsen 1983: 92f.). Grundsätzlich jedoch ist in einer sozialen Gesellschaft und erst recht in einer Gesellschaft, in der das Individuum als ein für sich eigenes, von anderen abgegrenztes Lebewesen gilt, dem man eine spezifische Identität zubilligt, der Verzehr seinesgleichen nicht denkbar – die Gemeinschaft und ihr Menschenbild würde sich damit quasi selbst aufheben. Frühe Berichte über das Verspeisen von Feinden widersprechen
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dem nicht: Feinde gehören nicht zur eigenen sozialen Gruppe oder Gesellschaft, ihnen wurde überdies der Status „Mensch“ abgesprochen, man aß folglich nicht seinesgleichen, sondern das Fleisch von „anderen“. Harrus-Révidi (vgl. 1998: 93) schreibt, dass Aborigines in Dürreperioden schwangere Frauen zur Abtreibung zwangen, um die Föten zu essen. Es ist hier zum einen zweifelhaft, ob der Fötus als Mensch betrachtet wurde, zum anderen liegt offenbar eine Notlage, Hunger, vor. Sie berichtet weiterhin über Fälle von Autokannibalismus in Stalins Gefangenlagern, den berüchtigten Gulags, in denen Häftlinge ihr eigenes zuvor vom Körper geschnittenes Fleisch aßen (vgl. a.a.O.: 98f.). Abgesehen von solcherart drastischen Notsituationen, Pathologien und Ritualen ist Kannibalismus stets eine Institution, „niemals aber die Übertretung eines Verbots“ (Pouillon zit.n. a.a.O.: 94). Als Institution wurde der Kannibalismus von anderen Handlungen und Kontexten ein- und abgegrenzt: Auf den Südseeinseln wurden Gabeln speziell für den Verzehr von Menschenfleisch verwendet, ansonsten aß man mit der Hand. Dies zeigt, dass der Kannibalismus keineswegs einen Teil des alltäglichen Essens darstellte. Kannibalismus hat jedoch schon immer, wie alles Tabuisierte, die Phantasien angeregt und Angstlust ausgelöst, es existieren viele Erzählungen, Bilder und Vorstellungen über das „ganz Entsetzliche“. Das Märchen von Hänsel und Gretel, der Ausspruch, jemanden „zum Fressen“ gern zu haben, das Bild des den anderen verschlingenden Menschen – in wohlgemeinter wie auch in vernichtender Absicht – lassen erkennen, dass das Tabu des Kannibalismus oft präsent ist und sich bizarr, satirisch und schauerlich, eben „thrilling“, zeigt. Auf die wenigen kriminalistischen Fälle von pathologischen Tätern, die das Fleisch ihrer Opfer womöglich noch wie normale Nahrungsmittel in der Tiefkühltruhe frisch halten und nach und nach zum Verzehr zubereiten, stürzen sich fasziniert insbesondere Boulevardblätter, um der gleichermaßen voller Faszination und Entsetzen reagierenden breiten Leserschaft auch die Gelegenheit zu geben, sich selbst ihrer – Gott sei Dank! – vorhandenen Normalität zu vergewissern.
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3.4.2 Der Koch als Inszenator Köche bzw. Konstrukteure und Regisseure, welche die Kunstfertigkeit zur Herstellung der Schaugerichte und Schauessen beherrschten, erlangten große Berühmtheit, etwa Taillevent (1314-1395), der Küchenmeister am Hofe König Karls V., schuf u.a. für eine Tafelinszenierung feuerspeiende Vögel, indem er dem Vogel mit Kampfer getränkte Wolle in die Kehle stopfte und sie dann anzündete. In den auf Taillevent folgenden Jahrhunderten ästhetisierte sich das Essen weiter. Statt spektakulärem Protz und Prunk rückte nun bei Schaugerichten das Kunsthandwerk in den Vordergrund. Marie-Antoine Carême (1783-1833) setzt sich in diesem Kontext als vielbeachteter Meisterkoch im postrevolutionären Frankreich durch. Carême initiierte einen Paradigmenwechsel in der Zubereitung von Saucen, denen er – bislang flüssig und nicht gebunden – Festigkeit und Sämigkeit gab, damit sie Gemüse und Fleisch umhüllen konnten, statt an den Speisen wie Wasser hinabzulaufen. Der in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsene Carême besaß ein Faible für Architekturen und Konstruktionen, das er in seinen Essgebilden auslebte: Zitate von griechischen Tempelruinen, türkischen Pavillons, Gondeln, Festungen, Brücken und Statuen, die zumeist unverdauliche oder nur begrenzt genießbare Baustoffe wie Wachs oder gesponnenen Zucker enthielten. Das, was heute als Disneyland-taugliche bauliche Simulation in Vergnügungsparks zu sehen ist, fand sich noch bis in die 1930er Jahre als Schaugericht auf den Esstischen wieder. Das wohlhabende Bürgertum war von den künstlerischen Fähigkeiten begeistert. Auguste Escoffier (1846-1935) verbannte schließlich die Monumentalbauten Carêmes von der Tafel, indem er die Speise mit ihren Inhalten als Nahrung präsentierte, deren Geschmack im Zentrum des Essens stehen sollte. Nichtsdestotrotz löst auch heute noch bei festlichen Essen so manches Schaugericht Staunen und Verzückung aus, indem es das Essen aus seinem ursprünglichen funktionalen Kontext der Nahrungsaufnahme heraushebt.
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Essinszenierungen finden heutzutage nicht nur mittels Kerze, Blume oder Versacegeschirr statt, sondern werden auch professionell angeboten. Die beiden Köche Ole Plogstedt und Jörg Raufeisen bieten unter dem Namen „Rote Gourmet Fraktion“ Catering nicht nur für tourende Rockbands an. Der Name wie das Firmenlogo wecken gewollt Assoziationen mit der politischen Gruppierung „Rote Armee Fraktion“, wobei hier das waagerecht über dem roten Stern platzierte Küchenmesser die Maschinenpistole des „Originals“ ersetzt (vgl. Plogstedt/Raufeisen 2004). Plogstedt und Raufeisen produzieren Speisen mit Schaugerichteffekten, die Utensilien aus dem Drogenmilieu und andere bizarre Dinge aus Subgruppenkontexten zitieren: Im „Junkie-Fish“ steckt eine Einwegspritze mit grüner Sauce, zur Dekoration taugen Riesengarnelen aus Latex, wie ausgerissen scheinende menschliche Plastikbeine und Totenköpfe, die den Speisen den gewünschten sinnlichen Bedeutungsrahmen verleihen. Das Gericht erzählt gewissermaßen eine Geschichte, welche nichts mit dem Sinnkontext der Mahlzeit oder der Speise an sich zu tun hat. Das beruhigende Gefühl der Vertrautheit und Sicherheit, das sich allein beim Anblick bekannten Essens einstellt, geht bei der thematisch-sinnlichen Verfremdung oder der sinnhaften Überlagerung durch dieses Überraschungsmoment verloren. Grundsätzlich ist die intime Handlung des Essens eng mit Vertrauen verbunden; diese Tatsache findet sich in Volksweisheiten wie „Was der Bauer nicht kennt, das isst er nicht“ wieder, die hier gleichzeitig den engen Horizont des schlichten Gemüts anspricht, das es nicht wagt, etwas Unbekanntes zu probieren. Traditionelle Gerichte, die über Jahrhunderte in einer Kultur überdauern, die wohltuende Sicherheit, wenn es schmeckt „wie bei Muttern“, sind wesentliche das Essverhalten prägende Elemente. Die Nahrungsaufnahme bestätigt sich immer wieder als etwas sehr körperbezogen Nahes – man nimmt Dinge aus der Außenwelt in den eigenen Körper auf, was in hohem Maße mit Vertrauen in die Risikolosigkeit und Unschädlichkeit des Körperfremden zu tun hat –, das nicht nur zur kulturellen Identität einer Gesellschaft beiträgt, sondern auch die individuelle Identität prägt und bestä-
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tigt. Schwarze Spaghetti widersprechen den hierzulande etablierten Erwartungen an das Aussehen einer Nudel und werden daher anfänglich mit Misstrauen beäugt oder gleich abgelehnt. Der Hinweis auf eine natürliche Färbung durch die Tinte des Tintenfischs mag bei manchem Mitteleuropäer die ohnehin vorhandene Abneigung noch steigern. Die Erwartungen an den Geschmack, der sich beim Essen eines Nahrungsmittels einstellt, hängen stark von dessen Aussehen ab: das Matjesfilet auf dem Teller wird nicht süß schmecken, so weiß man aus eigener Erfahrung und kulturellem Wissenshorizont. Werden unbekannte Speisen angeboten, ist stets das Moment der Angst vor dem Unbekannten und Neuen zu überwinden, wenn man sich ihnen nicht ganz verweigert, „was der Bauer nicht kennt…“. Wirkt Bekanntes einerseits beruhigend, identitätsstiftend und -bestätigend, so birgt es andererseits eine gewisse Alltäglichkeit und Gewöhnlichkeit. Lebensmittel werden daher zuweilen eigens eingefärbt, um ihre Attraktivität zu erhöhen und die Neugier beim Betrachter zu wecken, man denke an lila Blumenkohl oder eben an schwarze Spaghetti. Ob die Farbe eines derart inszenierten Lebensmittels eher zum Essen bzw. Probieren anregt oder Abscheu hervorruft, „ist letztlich Ausdruck einer kulturgebundenen Erfahrungs- und Bewertungsweise“ (Wierlacher 2005: 138), die sich physiologisch in der synästhetischen Koppelung vollzieht. Das heißt, das Auge, der visuelle Sinn, nimmt etwas wahr, was einen anderen Sinn, hier den Geschmackssinn, reizt und Vorstellungen hinsichtlich des Geschmacks auslöst. Gleiche synästhetische Reaktion vollzieht sich beim Hören des Namens eines Lebensmittels oder eines Gerichts: „Der Name einer Speise kann für unseren Appetit beim Essen, für das Wohlbefinden und den Genuß durchaus von Bedeutung sein“ (Merkle 2001: 217); der „Krötenbrunnen“ mag als Wein akzeptiert sein, als Eintopfgericht wird dies hierzulande nur schwer gelingen. Manchem wird übel, wenn allein der Name „Eisbein mit Sauerkraut“ fällt, dem anderen läuft in freudiger Vorbereitung auf den Verzehr – und die anschließende Verdauung – buchstäblich „das Wasser im Munde zusammen“.
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Mit diesen qua individueller und kultureller Sozialisation erworbenen symbolischen Bedeutungen und der Bewertung der ausgelösten Sinneseindrücke hat der Mensch offenbar seit jeher bei festlichen, also vornehmlich geselligen, außeralltäglichen Anlässen gespielt, indem er Erwartungen zu brechen und Illusionen zu inszenieren wusste. Fisch sieht aus wie Fleisch, Schweinefleisch erscheint in Form von Geflügel, die vermeintliche Zuckerkruste ist aus Salz – so einige der Sinnestäuschungen des Mittelalters. Bis heute hat sich an den grundlegenden Ideen wenig geändert, die nun als „Geschmackstheater“ oder „Eat Art“ bezeichnet werden. Der Spanier Ferran Adrià wird als „neuer Star unter den Spitzengastronomen“ (Lemke 2007a: 28) gefeiert. Bei ihm ist nichts so, wie es auf dem Teller (er-)scheint. Der Couscous entpuppt sich beim Essen als in stecknadelkopfgroße Röschen zerteilter Blumenkohl. Weil Adrià mittels Gaszufuhr in einem Metall-Siphon luftige und doch feste Schäume kreiert, bezeichnen böse Zungen den Molekularkoch, der bekannte Speisen dekonstruiert, aber essbar erhält, respektlos als „that foam guy“ (Freedman 2007: 30). In seinen Essinszenierungen spiegelt sich der Charakter der postmodernen Welt, in der Identitäten und Bedeutungen prinzipiell offen sind. Seine Absicht, Speisen und Lebensmittel zur Überraschung des Essers in eine andere inszenierte und ästhetische Welt zu versetzen, ist allerdings keineswegs neu, die Entkoppelung von tatsächlichem Sein und Erscheinung hat man bei Gerichten schon in der Antike und im Mittelalter – wenn auch mit anderen Methoden – vollzogen. Ein weiterer Vertreter zeitgenössischer Kochillusionisten ist Daniel Spoerri, der in den 1960er Jahren den Begriff „Eat Art“ geprägt hat. Er modelliert Fischmousse zu Gebilden, die wie Sahnetorten aussehen – der Esser erwartet süßen Geschmack, doch die Torte schmeckt nach Fisch. In seinem Restaurant serviert Spoerri den Gästen extravagante, kulturell ungewöhnliche Gerichte wie Elefantenrüsselsteaks, gebratene Löwentatzen oder Klapperschlangenragout. Man wäre gespannt, wie Brillat-Savarin die Speisen Spoerris bewerten würde. Das anlässlich eines römischen Festmahls kreierte Essen aus fünfhundert Straußenhir-
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nen und den Zungen von über fünftausend Vögeln hat er (vgl. 1962: 184) jedenfalls als Verstoß gegen die Sittlichkeit verurteilt. Womöglich erweckt Spoerri mit seinen Entwürfen von Traum- und Gegenwelten aus der Küche Erinnerungen an den letzten Safariurlaub wieder zum Leben; Thaicurry und Zitronengras können das Eintauchen in exotische (Ess-)Welten nicht mehr zuverlässig liefern, sie sind in unserer Supermarktkultur bereits zu etabliert, als dass sie noch als Garant für das Auslösen von Illusionen dienen könnten. Adrià und Spoerri besitzen längst Künstlerstatus, vielleicht würde man den heute auch Carême mit seinen Monumentalbauten bescheinigen.
3.4.3 Baustoff Zucker Zu besonderen Gestaltungsmöglichkeiten von Schauessen und Schaugerichten verhalf der Zucker, der den bisherigen Süßstoff Honig ersetzte. Das Zuckerrohr gilt als älteste Kulturpflanze der Welt (vgl. Lohmann 1999: 71) und stammt aus Bengalen und China, wo es vor etwa zehntausend Jahren aus wild wachsenden Pflanzen veredelt wurde. Zuckerrohrsaft war bereits in den antiken Hochkulturen bekannt. Im 5. Jahrhundert n. Chr. wurde Zuckerrohr in Persien raffiniert; Zucker erhielt damals eine Erscheinungsform bzw. Konsistenz, die der heutigen ähnelte. Von Arabien aus – das Wort „Zucker“ leitet sich aus dem arab. „sukkar“ her – verbreitete sich die Pflanze im Mittelmeerraum, im 15. Jahrhundert wurde sie auf den Kanarischen Inseln angebaut, von dort nahm Kolumbus sie mit in die „Neue Welt“. Von 1500 bis etwa 1800 handelte man das Produkt Zucker als typische Kolonialware, zunächst fand es Verwendung als Gewürz – „indisches Salz“, wie es von den Kreuzfahrern genannt wurde – und Medikament. Zucker war als teures Luxusprodukt in Mittel- und Westeuropa bis ins 19. Jahrhundert hinein den wohlhabenden Haushalten des Adels und des Bürgertums vorbehalten und verhalf seinen Besitzern und Nutzern zu einem entsprechend hohen Sozialprestige. Das reine Kohlenhydrat
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„Disaccharid“ findet sich nicht nur in der Zuckerrohrpflanze, sondern auch in der gewöhnlichen heimischen Zuckerrübe, was 1747 der Berliner Chemiker Andreas Sigismund Marggraf entdeckte. 1799 wurde der erste Rübenzucker hergestellt; Marggrafs Schüler Franz Carl Achard entwickelte die industrielle Methode für die Zuckergewinnung aus der Rübe. Das Image des Zuckers, der also auch aus einer Kulturform der unscheinbaren Runkelrübe gewonnen werden konnte, veränderte sich und verlor seine Exotik. Nach 1850 wurde Zucker zum festen Bestandteil der Ernährung in Westeuropa. Heute gilt Zucker als zahnschmelzzersetzende Kalorienbombe, schädlich und nach Möglichkeit zu vermeiden. Brauner Zucker wird von Gesundheitsfreaks noch eher akzeptiert, die aber wieder gern auf Honig zum Süßen der Speisen zurückgreifen. Der Vermerk „zuckerfrei“ fördert mittlerweile als positives Qualitätsmerkmal den Verkauf vieler Lebensmittelprodukte. „Zuckerfrei“ bedeutet jedoch keineswegs ungesüßt, statt Zucker befinden sich in den Produkten chemische Surrogate, von denen etliche verschiedene existieren. Im 16. Jahrhundert nutzte man in Europa die Gestaltungsfähigkeit des Rohrzuckers für die Herstellung meist ungenießbarer prächtiger Skulpturen und Bildwerke auf der festlichen Tafel, Vorbilder lieferte die Gartenbaukunst jener Zeit. Dabei befand sich die europäische Adelselite durchaus im zeitlichen Rückstand, denn bereits im 11. Jahrhundert ließ Kalif al-Zahir zum Bayram-Fest große Zuckerskulpturen anfertigen. Zu den pompösen Schaugerichten äußert sich Anthus (1962: 95) distanziert: „Aber die Kunst verfehlt ganz ihren Zweck, wenn sie etwas bildet, was man nicht essen kann“; die Speise in ihrem eigentlichen Wesen als essbare Nahrung behält für ihn den Vorrang. Damit besitzt für Anthus die Speise, das Essen als Gegenstand und Handlung, Priorität. Der Beruf der Zuckerbäcker, der späteren Konditoren, entstand und erhielt großes Ansehen. Ein gewisser Nimbus umgab selbst die Zubereitung von Zuckerspeisen schon immer, schuf der hierzu Fähige mittels kleiner rieseliger Zuckerkörnchen doch begehrte süße Kreationen zum Essen und zum Schauen. Im Griechenland des vorchristlichen 5.
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und 6. Jahrhunderts oblag der „demiurga“ die Herstellung von Süßigkeiten, eine Frau, die gestaltlosen Rohstoffen zu Gestalt, zu Bedeutung verhalf und sie somit quasi verwandelte, ihnen „Leben einhauchte“. Wiederum war die aristokratische Küche in Italien und Frankreich wegbereitend: 1541 erschien in Italien das erste Werk über die Zuckerbäckerei, Frankreich folgte wenige Jahre später mit einer Veröffentlichung im Jahr 1555. Süßes, beipielsweise Marzipan, kannte man in Deutschland mindestens seit 1404, als es schon „fabrikmäßig“ (Schraemli 1949: 200) zubereitet wurde, Bonbons erhielt man in ihrer heutigen Form seit Beginn des 17. Jahrhunderts. Das verspielte Rokoko erfreute sich in hohem Maße an allerlei filigranem Formenwerk aus Zucker. Mit der Zuckerbäckerei vor allem des 17. Jahrhunderts kam eine Vielzahl von Gerätschaften in Mode, die sicher nur zu einem Teil tatsächlich für den Gebrauch notwendig wurden, ansonsten den Luxus der Besteckanzahl und -auswahl bereicherte und somit das Sozialprestige erhöhte. Die korrekte Handhabung dieser Utensilien folgte neuen Tischregeln, und wer diese beherrschte – die nun sehr eng mit dem Luxusprodukt verknüpft waren – trat recht deutlich als Mitglied der Elite hervor. Auch heute ist es unschicklich, das Stück Würfelzucker mit bloßen Fingern aus der Schale zu nehmen, für den Verzehr von Kuchen und Tortenstücken benutzt man spezielle kleine Kuchengabeln, die auch in nüchtern-modernen Zeiten ruhig verspielt mit Ornamenten und Ziselierungen versehen sein dürfen. Ähnliches gilt für das spezielle Kaffeeservice, das, die Opulenz der süßen Speise sozusagen imitierend, mit goldenem und buntem Blumendekor auffällt. Von einem Teller mit golden geschwungenem Rand und den Teller nahezu bedeckender roter Rosenblütenmalerei wird man kein Schweineschnitzel essen mögen, wohl aber die Schwarzwälder Kirschtorte. Letztlich wurden die kunstreichen Zuckerskulpturen durch das sich etablierende Porzellan ersetzt, man fertigte Springbrunnen und reich verzierte und bemalte Schalen aus dem ebenfalls zerbrechlichen weißen und feinen Material als Blickfang für die Tischmitte. Gerade aber das Wissen um die rasche Vergänglichkeit und damit Einmaligkeit der Schaugerichte und Schauessen aus Zucker führt dazu, dass bis heute
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zuweilen Zuckerschaugerichte festliche Tafeln zieren. Im Gegensatz zum Miniaturhochzeitspaar aus Plastik gilt die Nachbildung des Paares auf der Hochzeitstorte, modelliert aus Marzipan, Zucker und Schokolade, immer noch als sublimes Zeichen des Feinen und Anspruchsvollen. Im Jahr 1983 wurde zur Taufe von Erbprinz Albert von Thurn und Taxis dessen Wiege originalgetreu aus Zucker und Schokolade nachgebaut (vgl. Schmidt/Staudinger 1993: 108). Und heute besitzen die Werke der „Sweet Art“-Künstler, süße Figuren und Bilder aus Zucker und Schokolade, einen ganz besonderen Reiz, weil sie vergänglich sind, und sicher auch, weil – fast hätte man es vergessen – sie gleichermaßen verzehrt werden könn(t)en.
3.4.4 Abbildungen des Essens Ähnlich dem nicht-essbaren Schaugericht dienen Essen und Speisen, Tafel- und Esssituationen als Vorlage für Abbildungen, sie liefern beliebte Motive für Malerei und Fotografie. Das Essbares simulierende Schaugericht ist eingebunden in eine Tafelinszenierung, in einen materiellen Kontext, während das Bild oder die Fotografie eine eigenständige Kunstgattung 36 darstellt. Seit rund fünfhundert Jahren lassen sich Nature-morte-Motive nicht mehr aus der Malerei wegdenken; das erste weithin bekannte Prunkstillleben schuf Jan Davidsz um 1648. Nahrungsmittel, unser Essen, als Symbol einer nicht mehr lebenden Natur: Die gepflückte Frucht, der gefangene Fisch oder der leblose Lammkopf – sie zeigen das Thema der Vergänglichkeit allen Lebens an. Inszeniert auf Silber-, Zinn- oder Porzellanplatten, dekoriert mit Geschirr, Vasen und Blumen, präsentieren vor allem niederländische Genremaler der Renaissance unser Essen auf der Leinwand. Schopenhauer (zit.n. Bourdieu 1987: 759) verwahrte sich gegen die Abbildung F
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36 Lange Zeit umstritten, wird der Fotografie dieser Status allgemein erst in jüngerer Zeit zugeschrieben.
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von Mahlzeiten und Gerichten, die, weil appetitanregend, „jeder ästhetischen Kontemplation des Gegenstandes ein Ende“ bereiten. Essen hat sich allerdings durch die verschiedenen Stilrichtungen hindurch als abbildungswürdig erwiesen. Das Essen als Handlung und Gegenstand sowie die Formen von Tischgesellschaften sind kulturelle Repräsentanten, ihre bildliche Darstellung liefert zugleich eine kulturgeschichtliche Betrachtung bzw. Information. Gemälde geben historische Zeugnisse von Esssituationen und ihren gesellschaftlichen Status im Blick des Malers weiter, man denke etwa an bäuerliche Festessen zeigende Bilder, die Darstellung höfischer Bankette oder die Kunstwerke mit dem Motiv der Schokolade trinkenden Frau, womit auch die zeitgenössische Mode des Schokoladetrinkens bildlich fixiert wird. Andy Warhol wählte ein modernes Lebensmittelprodukt, die Suppendosen der Firma Campbell, zum Motiv für seine Pop-Art-Gemälde und kreierte so Ende der 1960er Jahre eine Ikone der westlichen Kultur, die die Convenience-Esskultur, die schnell zubereitete Nahrung aus der Konserve, spiegelt und damit gleichzeitig in ästhetischer Hinsicht der Konservendose bzw. dem Produkt selbst Abbildungswürdigkeit bescheinigt. Wenn man so will, eine moderne Form des Stilllebens. Der soziale Wert des Dargestellten wird natürlich ebenfalls mittransportiert. Seit den 1960er Jahren hat sich die sogenannte „Food-Fotografie“ bzw. „Still-lifeFotografie“ etabliert, deren Werke zu kommerziellen Zwecken wie der Veröffentlichung in Zeitschriften, Kochbüchern und auf Werbeplakaten genutzt werden. Vergleichbar mit der Stilrichtung des Neuen Realismus in der Malerei erscheint das Essen in perfektionierter Form, hyperreal – so, wie das Lachsgratin in der Abbildung aussieht, inmitten materieller Inszenierungen mit Küchentuch und Thymianstengel, so perfekt kann die Wirklichkeit kaum gelingen. Sie wird durch die Art und Weise der Zeigung überhöht, stilisiert und in gewisser Hinsicht unerreichbar, die eigentlich alltägliche Nahrung ist in eine ungreifbare Ferne entrückt, obwohl sie doch fotografisch-malerisch zum Greifen bzw. Essen nah erscheint. Die Perfektion des Sichtbaren der hyperrealen Abbildung als das Obszöne, um auf Baudrillard (vgl. 1984: 291) zu
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verweisen, lässt jedoch keine Phantasien, Inspirationen oder Wünsche mehr offen. Ein weiterer Schwerpunkt lässt sich in der fotografischen Abbildung vollkommen alltäglicher Esssituationen beschreiben, schlicht und scheinbar ohne inszenierende Elemente, wobei bereits die Fotoszene zwangsläufig als solche der Auswahl und damit einer gewollten InSzene-Setzung unterliegt. Die Alltäglichkeit des Essens tatsächlich in dieser Qualität festzuhalten, versucht Spoerri mit seinen „Fallenbildern“, die 1960 in Paris beim „Festival d’Art d’Avantgarde“ erstmals ausgestellt wurden: Nach einem Essen klebt Spoerri alle Reste auf dem Esstisch so fest, wie sie von den Essenden zurückgelassen worden sind; die fixierte Tafelsituation wird schließlich – jetzt zum Bild verwandelt – an die Wand gehängt – die, wie es heißt, „Negation der konventionellen Darstellung bloß schöner Nahrungsmittel oder Esstafeln“ (Lemke 2007a: 45), mit der durch die gezeigte „Hinfälligkeit der abgebildeten Tafelreste eine neorealistische Übersetzung der veralteten Vanitas-Symbolik“ (ebd.) stattfindet. Wie auch der symbolische Überzug der Speisen und der Esshandlung an sich, so prägt ebenso die Abbildung des Essens in ihren vielen Variationen eine weitere Erscheinung der Entfremdung vom Eigentlichen durch Ästhetisierung aus.
3.4.5 Die sprachliche Ebene: Speisebezeichnungen Essinszenierungen bei Tisch, an der festlichen Tafel und die Inszenierungen des Essens in der Welt der Kunst mittels Abbildungen, Gemälden, Fotografien oder dreidimensionalen Projekten verknüpfen, wie wir zu zeigen versucht haben, das Essen als Speise und Nahrungsmittel mit anderen Sinnkontexten, sprich, sie verleihen dem Essen, der schlichten Esshandlung eine symbolische Glasur, die sie – zuweilen buchstäblich – in einem anderen Licht erscheinen lässt. Dieses symbolische Glasieren findet auch auf der sprachlichen Ebene statt. Worte
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und veritable Fachsprachen, man denke an das Weinvokabular, erwecken semantische Verweise, assoziieren Welten, die das tatsächliche Essen auf dem Teller symbolisch überlagern. Das Entenlebergericht gerät spielerisch zum „Dominostein von der Entenleber“, die Gänseleber zur „Gänseleberpraline“, der Kartoffelbrei wird in die „Mousse von Erdäpfeln“ verwandelt, das Schokoladendessert mit Birnen heißt „Birne küsst Schokolade“. Vor allem in den höher- und hochpreisigen Restaurants findet eine zuweilen groteske „Poetisierung“ (Lemke 2007a: 29) des Essens statt. Sinnfremde Kontexte – „Bergmannsspargel“ – werden beispielsweise aufgerufen, um regionale Spezialitäten zu betonen, Zubereitungsarten erhalten eine reale bildhafte Beschreibung – „Seezunge an der Gräte gebraten“ –, oder auch metaphorische Darstellung, wie etwa das „Sorbet ‚Renette de Zuccolmaglio‘ in Bad von Esseler-Quitte mit Weizenkorn“ oder der „Dialog von Taube und Kaninchen“, der Einsatz von Adjektiven ist nahezu verbindlich, ob es sich nun um „luftige Hechtklößchen“, „karamellisierten Knoblauch“, „kleine Speckstreifen“ oder „heimische Bohnen“ handelt. Die Beschreibungen der Gerichte gehen mittlerweile über den „jungen Spinat“, den „Speckmantel“ und die „feine Fischsuppe“, wie Lavric (2009: 37, 40) sie anführt, weit hinaus, der Phantasie scheinen keine rhetorischen Grenzen gesetzt. Vom „Schweinefilet mit Kartoffeln“ entwickelt der Rezipient eine andere Vorstellung als vom „Schweinefilet an Kartoffeln“ – manchmal verhelfen selbst Präpositionen zur majestätischen Aura. Spezifisches Küchenjargon versteht auch derjenige, der die eigentlichen Wortbedeutungen nicht kennt, als positives Zeichen der Besonderheit und Qualität; zum Beispiel „soutiert“, „Consommé“, „Pot au feu“, wobei man hier überwiegend die Ausdrücke der französischen Esshochkultur verwendet. Die Restaurantbetreiber nutzen die speziellen Regeln der Bezeichnungen und des sprachlichen Ausdrucks, um bestimmte Assoziationen ihres angebotenen Essens zu erreichen. Abgesehen von solchen sozusagen imperialen sinnlichen Kontextverweisungen, erzählt auch die „Bohnensuppe nach Tante Irmgard“ oder der „Heringstopf nach Hausfrauen Art“ jeweils eigene Geschichten, welche – wie wir bereits festgestellt haben – die beim Essen so wichtige
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vertraute, heimische Atmosphäre suggerieren. Das „hausgemachte Birnenkompott“ eröffnet romantisierende Vorstellungen des Land- und Gartenlebens und der frischen, das heißt gesunden Zubereitung und löst so ein Gefühl des Wohlbehagens aus, das mit dem eigentlichen Geschmack des Birnenkompotts gar nichts mehr zu tun haben muss. Die im Gegensatz zur beliebigen und nur für die Geltungsdauer einer Speisekarte gültigen Restaurantpoetik feststehenden Namen vieler Gerichte und Speisen leiten sich u.a. ab von Orten, wie „Königsberger Klopse“, „Leipziger Allerlei“ oder „Wiener Schnitzel“, ihrem Erscheinungsbild, wie „Zuckerwatte“ oder „Marmorkuchen“, oder sie verweisen auf eine Person, „Boeuf Stroganoff“, oder ihren Beruf, „Jägersuppe“. Ab dem 17. Jahrhundert gelangte derjenige zu großer Ehre, nach dessen Namen eine Speise benannt wurde – das Essen gewinnt in dieser Zeit enorm an Prestige und Aufmerksamkeit in der Gesellschaft. Die Béchamelsauce verdankt ihren Namen Louis de Béchameil, Haushofmeister beim Sonnenkönig Ludwig XIV.; das Fürst-Pückler-Eis trägt den Namen des Fürsten von Pückler-Muskau (1785-1871), das Sandwich erwähnten wir bereits (vgl. 2.2.1), der berühmte Koch Auguste Escoffier widmete seinen inzwischen ebenso berühmten Nachtisch „Pfirsich Melba“ der australischen Operndiva Nelli Melba (18611931), und die Praline erinnert an den im 17. Jahrhundert erfolgreichen Feldmarschall Comte du Plessis-Praslin, um nur einige Beispiele zu nennen. Vor allem die Bezeichnungen süßer Speisen verweisen auf einen, wenn man so will, eher emotionalen fremden Sinnkontext, der wie der überwiegend als angenehm empfundene Geschmack von Süßspeisen positive Assoziationen weckt: „Dilbar duda÷“ (zu Deutsch: „Die Lippen einer schönen Frau“), eine türkische Mehlspeise, das französische Dessert „Profiteroles“ (zu Deutsch: „Kleines Geschenk“, „Sonderzulage“). Inmitten deutscher Süßspeisen gibt es immerhin die „Götterspeise“, und das „Baiser“, die französische Meringue, wird hierzulande mit dem französischen Wort für „Kuss“ belegt. Die Bezeichnungen mancher Speisen erzählen Geschichten, wie das türkische vegetarische Auberginengericht „Imam bayıldı“, in deutscher Übersetzung „Der Imam fiel in Ohnmacht“; „Strammer Max“ und „Himmel
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und Erde“ sind Bespiele aus deutscher Küche. Mythen und Legenden ranken sich um die Namen der Traditionsgerichte, die historische Begebenheiten thematisieren oder sich metaphorisch-allegorisch auf die Zutaten beziehen. Ganze Bücher wurden geschrieben, um die Etymologie der Namen zu ergründen. Im Gegensatz zur, fast möchte man sagen, künstlichen, bewussten Inszenierung des Essens auf sprachlicher Ebene sind die traditionellen Bezeichnungen von Gerichten und Speisen gewachsen und haben sich kulturell etabliert, wie andere metaphorisch-allegorische Namen in der Sprache. Sie verweisen zwar auf andere sinnliche Inhalte, dienen aber nicht zur Inszenierung, besitzen also keine Funktion in diesem Sinne. Sprachliche Inszenierungen durchsetzen jedoch nicht nur die Speisekarten in Restaurants der gehobenen Klassen – oder in denen, die dafür gehalten werden wollen –, sie beginnen auch die Alltagssprache zu infiltrieren: Dann werden nicht profane „Nudeln“ gekocht, sondern schicke italienische „Pasta“ 37 . Und als Penne und Farfalle schmecken Röhren- und Schmetterlingsnudeln ohnehin gleich viel besser. Denn: „Der Name einer Speise kann für unseren Appetit beim Essen, für das Wohlbefinden und den Genuß durchaus von Bedeutung sein“ (Merkle 2001: 217) – mehr noch, ihn gehörig beeinflussen. Die spießige „Salatsoße“ hat nun schon länger ausgedient; zunehmend wird auch in der Alltagssprache das „Dressing“ von der „Vinaigrette“ abgelöst. Einfaches „Weißbrot“ findet man in Bäckereien immer weniger. „Baguette“ oder „Ciabatta“ erst verschaffen die Illusion des südländischen Flairs, der derzeit in der gesamten Esskultur en vogue ist. Was für die Beherrschung der Tischsitten und des stilsicheren Tischdeckens gilt, hat ebenso auf sprachlichem Sektor Bestand: Das Wissen um die Bedeutungen und die Verwendung der inszenierenden Bezeichnungen verleiht soziales Prestige und verhilft damit im Bourdieuschen Sinne zur sozialen Distinktion. Wer sich unter „Schalottenjus“ und „Gemüsejulienne“ nichts vorzustellen vermag und sich bei der „Tranche vom kanadischen Bisonrücken“ sehnlich ein F
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37 Selbst wenn die aus deutschen Eiernudeln bestehen.
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französisches Wörterbuch in der Tasche zu haben wünscht, kann je nach Situation jegliches Sozialprestige bereits verloren haben. Die neue internationalisierte Nomenklatur der Speisen will beherrscht sein. Harmlos nehmen sich daneben „Kräutersträußchen“, „Schinkenröllchen“ und „Bohnenbündchen“ aus, welche die eigentliche Bezeichnung der Speisen diminuieren und poetisieren, sie zeichnen die Materialien gewissermaßen sprachlich malerisch nach, damit sich beim Lesen oder Hören bereits ein sinnliches Erleben vor dem geistigen Auge einstellt. Verwendung finden Essensnamen und -begriffe bzw. Verweise auf das Essen im Allgemeinen jedoch auch in Situationen, in denen es gar nicht um das Essen geht. Als Schimpfwörter haben sich Bezeichnungen im Kontext von Essgewohnheiten oder bevorzugten Nahrungsmitteln in vielen Gesellschaften etabliert. Mit Hilfe von Typisierungen grenzt sich der Schimpfende selbst von den bzw. dem Beschimpften ab und bestätigt sich in seiner eigenen Identität und somit in seinem „richtigen“ Handeln; vor allem ethnische Schimpfwörter vermitteln „ein Gefühl der Geborgenheit im eigenen Kollektiv dank der hiermit vollzogenen Ausgrenzung der Fremdgruppe“ (Winkler 1994: 323). „Spaghettifresser“ und „Knoblauchfresser“ als Synonyme für Italiener und Türken waren besonders in den 1960er und 1970er Jahren zur Zeit der beginnenden Arbeitsmigration sehr verbreitet, sie wurden auf jeden Volksangehörigen angewendet, gleich, ob er als Individuum tatsächlich Spaghetti oder Knoblauch aß. Die Ernährung als etwas der persönlichen und gesellschaftlichen Identität sehr Nahes eignet sich besonders als semantische Kategorie für Beschimpfungen – und dies gilt international: Das englische „krauts“ für die Deutschen, das englische „goulash“ für den Ungar, der Neufundländer heißt im kanadischen Slang „herring choker“ (vgl. Winkler 1994: 328). Wir sahen bereits bei einigen Gastrosophen, wie die Art und Weise der Ernährung zur Erklärung für kriegerische Erfolge oder Misserfolge eingesetzt wird.
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In Redewendungen symbolisieren Nahrungsmittel Positive wie Negatives gleichermaßen: In der „Saurengurkenzeit“ 38 steht die Wirtschaft still, der dünne, große „Spargeltarzan“ wäre vielleicht gern ein muskelbepackter kraftstrotzender Held geworden, im Ausspruch „da hast du den Salat“ deutet das Gemisch „Salat“ offensichtlich auf unerfreuliche Unordnung und Chaos hin, die Butter als wertvolles Lebensmittel zeigt sich in der Wendung „sich nicht die Butter vom Brot nehmen zu lassen“. Die geläufige Bemerkung „es zieht wie Hechtsuppe“ für die Beschreibung von unangenehmem Luftzug in Räumen soll nach Gutknecht (vgl. 2005: 104) aus der volksetymologischen Übertragung aus dem Jiddischen resultieren, wo „hech supha“ die Bedeutung von „Sturmwind“ besitzt. Auch wenn sich nicht für alle Begriffe und Wendungen eine endgültig sichere Genese bestimmen lässt, zeigen sie doch, wie sehr Essen und Nahrungsmittel in unserer Alltagssprache auch in Situationen, in denen das Essen gar kein Thema ist, allgegenwärtig sind. F
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3.4.6 Das Essen als Inszenierungsrequisit Mit den Schaugerichten und den Schauessen haben wir uns mit dem inszenierten Essen an sich beschäftigt, Essen dient aber auch als wichtiges Requisit für gesellschaftliche Inszenierungen etwa von Kostümfesten und anderen thematisch gebundenen Veranstaltungen vor allem geselliger Prägung. Der Mensch suchte, fand oder schuf sich schon immer Ausbruchsmöglichkeiten aus den Routinen seines Alltagslebens, Welten, in denen er sich vom sozialen Regelwerk des Alltags und seinen Zwängen eine gewisse Zeit lang befreien konnte. Eine solche Abkehr gelingt über
38 Wohl von „sauer“ im Sinne von mittelhochdt. „sûr“, was „mühsam“ bedeutet.
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verschiedenartige Spiele, in inszenierten Urlaubswelten, in Vergnügungsparks, in Bordellen und rein kognitiv während der Rezeption von Literatur und Film – und natürlich im Rausch eines Festes (vgl. Schirrmeister 2002). Das Essen als für jedermann notwendige und ausführbare Handlung bietet sich auch hier als soziales Schmier- und Leimmittel geradezu an. Passend zur jeweiligen Festwelt stellt das Essen ein Element dar, das eben in entsprechender Verfremdung mit dazu beiträgt, den sozialen Illusionsraum aufrecht zu erhalten. Professionelle Veranstaltungsmanager liefern heute mit ihren Agenturen Ideen und setzen diese, wenn gewünscht, materiell um: Im Themenfest „Vulkanwelt“ beispielsweise werden die Speisen des Buffets von „Lava“, einem grau glänzenden styroporähnlichen Schaum umgeben, in der Festwelt „Geisterhaus“ spannen sich künstliche Spinnweben um die dargebotenen Köstlichkeiten (vgl. Schirrmeister 2002: 250). Aber auch der nicht-professionelle Party- oder Festausstatter weiß Essen als wirklichkeitserhaltend einzusetzen. Er bestückt den Geburtstagskuchen mit kleinen Kerzen, wenn möglich in der Anzahl dem erreichten Lebensalter des Geburtstagskindes entsprechend, auf der Halloweenparty werden kleine weiße Gespenster mit großen dunklen Augen auf allerlei Gebäck mit Zuckerguss gemalt oder mit Puderzucker auf eine aufgelegte Hilfsschablone gestreut. Im 18. Jahrhundert erfreute sich der Adel am bayrischen Hof an der Inszenierung von Bauernhochzeiten; Kurfürst und Kurfürstin traten als Bauernwirt und Bauernwirtin auf: „Um die Illusion, daß man sich wirklich auf einer Bauernhochzeit befinde, nicht zu stören, war alles auf ländliche Weise hergerichtet: die Tafel war nur mit irdenen und hölzernen Tellern und Schüsseln besetzt; die Trinkgeschirre bestanden aus steinernen und porzellanenen Krügen; die Salzfässer und Eßlöffel waren von Holz, […] die Stühle waren ganz einfach von Holz, und eben so ländlich war die Tafel – und die darauffolgende Tanzmusik, denn sie bestand nur aus Geigen, Dudelsack und Schalmeien. Bei der Tafel wurden die Gäste […] von Kavalieren und Damen, die als Kellner, Kellnerinnen, Hausknechte etc. verkleidet waren, bedient“ (Mayer zit.n. Bäumler 1993c: 165).
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Über die Speisen selbst wird nichts berichtet, man darf aber wohl vermuten, dass sie sich nicht auf den typischen Brei oder das dunkle Brot beschränkt haben mögen. Es war die Zeit der Romantisierung von Land und Natur. Heinrich von Kleist (1997: 269) berichtet in einem Brief von 1801 über ein ländlich inszeniertes Fest inmitten eines Pariser Parks: „Funfzig Laquaien, aber ganz natürlich gekleidet, sprangen umher, die Schäferoder die Fischer-Familie zu betreuen – Die raffinirtesten Speisen u die feinsten Weine wurden aufgetragen, aber in hölzernen Näpfen u in irdenen Gefäßen; und damit nichts der Täuschung fehle, so ißt man mit Löffeln von Zinn“.
Bei einem Fest am Hof von Versailles saßen die Gäste verkleidet in der Rolle der Jahreszeiten am Tisch, wo sie neben dem pompösen Essen auch Springbrunnen vorfanden (vgl. Blond/Blond 1965: 278). Im Sog des faszinierenden Orientalismus ausgelöst durch die Getränke Schokolade, Tee und Kaffee ließ man im 18. Jahrhundert afrikanische und indische Kinder als Mohrenpagen die entsprechenden Köstlichkeiten servieren; am Versailler Hof trugen Zofen in türkischen Gewändern den Kaffee auf; Tee reichten sie hergerichtet als Chinesinnen. Zuweilen trugen die Nutznießer dieses Komforts thematisch angepasst selbst orientalische Trachten. Die Schokoladengesellschaften am Königshof, „chocolat du roi“, entwickelten sich seinerzeit zum schicken Moderitual, eine Einladung verhieß hohen Prestigegewinn. Die Essmaterialien zierten orientalische Motive, Palmen, Köpfe mit Turbanen, die Inszenierungen der Zusammenkünfte sollten „stimmig“ sein. Auch die Gastrosophen um Grimod de la Reynière (vgl. von Randow 2005: 110) fanden Gefallen an geselligen Treffen, in denen das Essen als stimmige Kulisse fungierte, die verkleideten Teilnehmer übernahmen Rollen, titulierten sich mit „Herr Hummer“, „Herr Truthahn“ oder „Meister Krebs“.
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Der Journalist Gero von Randow (vgl. 2005: 109f.) erzählt weiter von Festen unserer Zeit, bei denen das Abendmenü einem Theaterstück nachempfunden wird, die Gäste erscheinen in passender Verkleidung, auch die Speisen sind sinnadäquat ausgewählt. Im Menü „Faust“ etwa servieren Teufelinnen und Teufel Bratspieße und scharfe Saucen. All diese Inszenierungen dienen weniger dem Stillen von Hunger und Durst, sondern der spaßig-lustigen Zusammenkunft, in der zwar gegessen wird, dies aber quasi unter thematisch-sinnlicher Vorgabe. Das Essen wird in eine andere Sinnwelt versetzt, in die des Theaters, des Films, der Phantasie, des Orientalisch-Fremden, des Spaßes und damit seiner genuinen Funktion in gewissermaßen zweifacher Hinsicht entbunden: Jedes festliche Essen dient an sich weniger dem Sattessen, denn der Geselligkeit, der Demonstration des sozialen Dazugehörens. Je nach dem, wer einlädt, ist die Anwesenheit selbst schon mit einem hohen sozialen Nimbus versehen, von dem der Teilnehmer auch über die Situation des Festessens hinaus profitiert. Das thematisch inszenierte Fest hingegen stattet das Essen mit noch einem zusätzlichen sinnfremden Rahmen aus, umlegt es mit dem thematisch spezifischen Schleier der zu erweckenden Sinnwelt des jeweiligen Events. Auch in jüngster Zeit liefert Essen die Basis für neue Sinneseindrücke mit Erlebnischarakter. Speisen in finsteren Essräumen, bewirtet und geleitet von Blinden erfreut sich großer Beliebtheit. Die essenden Besucher dürfen in der Dunkelheit das Gefühl der Blindheit eine Mahlzeit lang erfahren, für Gesunde offenbar eine willkommene Abwechslung vom sehenden Alltagsleben, wobei die zwangsläufigen Missgeschicke bei den Esshandlungen gerade den so ersehnten Spaßeffekt bieten. Von weniger ethischer Perversion geprägt zeigt sich das Angebot mancher Erlebnisgastronomien, in seitlich liegender Stellung zu essen – zumindest was die Körperhaltung betrifft, orientiert man sich hier am römischen Vorbild der Antike. Allerdings: „Wer nicht, wie vermutlich ein Großteil der dynamischen Gäste, regelmäßig das Fitness-Studio besucht, bei dem meldet sich spätestens zum zweiten Gang
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der verspannte Rücken. Häufige Positionswechsel werden notwendig, seitlings, rücklings, im Schneidersitz. Dabei kann auf der schönen weißen Pritsche die Wildsuppe bedrohlich ins Schwimmen geraten“,
wie Grefe (2006: 80) zu bedenken gibt. Die Speisen der Römer müssen wohl doch eine etwas festere Konsistenz besessen haben. Eine besondere Art des Gemeinschaftsgefühls erfährt der speisende Gast in Daniel Spoerris Restaurant. Beim „Gefängnis-Essen“ bekommen die Gäste das gleiche Essen serviert, das an eben diesem Tag den Insassen des örtlichen Gefängnisses aufgetischt wurde. Das Element der Gleichzeitigkeit, produziert über das Essen; der Restaurantesser staunt, erhält das Essen mit diesem Hintergrundwissen doch eine ganz besondere Bedeutung, die allerdings mit der Nahrungsaufnahme zum Hungerstillen kaum noch eine Verbindung besitzt. In Ferran Adriàs Restaurant herrschen eigene Regeln. Hier wird nach dem Diktat des Meisterkochs gegessen. Nach den von Kellnern weitergegebenen Regieanweisungen verläuft das Essen nach einer vorab festgelegten und für alle Anwesenden gleichen zeremoniellen Reihenfolge: „Schnecke, Schnecke, Fenchel; Schnecke, Fenchel; Schnecke, Butterravioli, Schnecke. […] Das Glas langsam und in einem Zug leeren, ohne beim Trinken abzusetzen“ (Lemke 2007a: 29). Diese rigide detaillierte Essinszenierung nimmt dem Esser die Entscheidung ab, angesichts der er – die Leckereien auf Tisch oder Teller vor sich sehend – mitunter 39 ins Straucheln gerät: „Nehme ich zuerst von dem Lamm oder lieber vom Hühnchen?“ Das Essen als solches steht bei dieser Inszenierung zwar im Zentrum der Handlung, und der Koch wird mit der festgelegten Reihenfolge sicherlich eine synchrone Choreographie der Geschmackseindrücke bei jedem einzelnen Esser erzeugen wollen, doch mag sich dieser letztlich wie das kleine Kind am gutbürgerlichen Esstisch der deutschen Kaiserzeit fühlen – auch eine sinnliche Erfahrung, die auf andere – hisF
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39 Vor allem beim service française, wo viele Speisen nebeneinander auf dem Tisch platziert sind.
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torische – Zeiten verweist. Allein ist es schon ein alltagsfremdes Erlebnis mit aufregendem Eventeffekt, von einem renommierten Sternekoch oder einem der mittlerweile vielen prominenten Medienköche bewirtet zu werden. Das eigentliche Essen, das, was man isst, wandert in den Hintergrund, interessant und relevant ist das Wissen darum, wer kocht und wo man isst.
3.4.7 Die Produktverpackung als Inszenierung Kommen wir im letzten Teil dieses Kapitels zur Gestaltung des Essens, noch bevor es als Speise verarbeitet auf dem Teller liegt oder als fertig hergestelltes Nahrungsmittel oder Süßigkeit verzehrt mit welchen Zeremonien auch immer wird. Wir begeben uns in diesem Teil in die weiten Bereiche des Produktmarketings, des Verpackungsdesigns, der Werbung und auch der Psychologie, die hier nur ansatzweise diskutiert werden können. Dass der Verkauf von Lebensmitteln bzw. Lebensmittelprodukten wesentlich über Illusionsbildung und das Erzählen von Geschichten abläuft, die vom Fachpersonal der Werbebranche und von Produktdesignern hergestellt und erfunden werden, ist vielen Verbrauchern bekannt, wenn auch nicht immer bewusst. Bevorzugt werden nämlich Produkte mit „Geschichte“ – nicht zu verwechseln mit „Historie“, und diese Geschichte wird zu einem wesentlichen Teil über die Verpackung produziert. Denn: „Verpackungen vermitteln mit Farbe, Formen und Symbolik [und der auch haptischen Beschaffenheit des Materials] Lustgewinn, Lebenslust, Lebensfreude und Lebensqualität“ (Schönberger 2005: 36). Noch bevor Werbemaßnahmen im großen Stil mediale Umsetzung und Verbreitung finden konnten 40 , begannen Hersteller von KartonaF
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40 Im Jahr 2002 beispielsweise wurden in Deutschland 2,51 Mrd. Euro für Werbung im Lebensmittel- und Getränkesektor ausgegeben (vgl. Grimm 2006: 21).
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gen und Papieren mit ihren Erzeugnissen den umhüllten Produkten eine besondere Aura zu verleihen, man betrieb einen gehörigen Aufwand für luxuriöse Verpackungen. Ab etwa Mitte des 17. Jahrhunderts betonten Pappschachteln Konfekt und anderen Süßwaren, denen die Verpackung natürlich auch Schutz bot, den Status der wertvollen Köstlichkeit. Die Kartonagenindustrie im 19. Jahrhundert bescherte schließlich „ungeahnte Möglichkeiten der Verpackungsgestaltung“ (Menne 1989: 27), die sich verkaufsfördernd auswirkten. Cellophan-Papier, 1905 vom Schweizer Chemiker Jacques E. Brandenberger erfunden, erlaubte durchsichtige, bei der Berührung knisternde Verpackungen, welche nicht nur visuelle, sondern auch neue akustische und haptische Reize auslösten. Das Gefühl des Besonderen übertrug sich auf den solcherart umhüllten Inhalt. Erst im 18. Jahrhundert kam Bonboneinwickelpapier auf, das den Bonbon schützte und schmückte und später zudem als Werbefläche diente. Zarte Pergaminpapiere, mit Gold und Silber gaufrierte raschelnde Papiere, die Pralinenschachteln auskleiden und Schokoladenartikel umgeben, bieten neben dem visuellen ebenso ein haptisches Erlebnis der besonderen Art. Dabei sind aus praktischer, lebensmitteltechnischer Perspektive betrachtet, Verpackungen zum Schutz und zur Hygiene der Lebensmittel notwendig. Überdies liefern sie Platz für den Aufdruck wichtiger Informationen wie Name, Inhaltsstoffe, Herkunft, Gewicht und Preis und prägen so die Identifizierbarkeit des Produkts für den Verbraucher. Abgesehen von diesen ganz praktischen Inhalten, Zielen und Zwecken einer Verpackung steht ihre Funktion als Werbefläche zunehmend im Zentrum ihrer Gestaltung. Farben, Formen und Beschriftungen, aufgedruckte Bilder können und sollen zum Kauf animieren, die Wahrnehmung an sich soll den Reiz auslösen, das Produkt in den eigenen Besitz bringen zu wollen. „In den letzten Jahren wurde der Geschmackssinn durch ein immer raffinierteres, psychologisch abgestimmtes Verpackungsdesign überlistet. Am schönsten sind die rotscheinenden glatten Oberflächen der Äpfel und Tomaten, die ihren Eigengeschmack verloren haben“ (Zaunschirm 2008: 10).
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Auch die natürliche Hülle vieler Lebensmittel als sozusagen naturgegebene Verpackung unterliegt einer strategisch ausgerichteten Manipulation. Das Verpackungsdesign kann das Image von Produkten verändern und die Wertanmutung des Inhalts erhöhen: Pollmer et al. (vgl. 2001: 96) berichten von einem Experiment, bei dem billiger Whiskey in die Flaschen der Nobelkonkurrenz gefüllt wurde. Die Testpersonen verorteten das Getränk bei der Verkostung entsprechend der Verpackung prompt in die luxuriöse edle Kategorie. Das Verpackungsdesign erzeugt überdies in hohem Maße Wiedererkennungseffekte; Markenprodukte etablieren sich anhand ihrer unveränderten Insignien in den Köpfen der potenziellen Käufer. Dabei wirken die Beschriftung, Bilder, das Logo des Herstellers bzw. des Vertriebsunternehmens auf den Betrachter. Durch das Wahrnehmen einer kontinuierlichen Verpackungsgestaltung erinnert sich der Verbraucher mit hoher Wahrscheinlichkeit auch an das zuvor in den Printmedien oder in der Fernsehwerbung rezipierte Produkt und seine Geschichte. Besonders diejenigen Produkte, die zum Lebenserhalt, sprich zur täglichen Ernährung nicht unbedingt erforderlich sind – vor allem Genussmittel –, benötigen zum Kaufanreiz spezielle Werbemaßnahmen und Images. Einen ähnlich hohen Werbeaufwand zur Abgrenzung und Profilierung am an sich gesättigten Markt erhalten die Produkte, die von vielen Herstellern und Vertriebsunternehmen angeboten werden. Es muss gewissermaßen eine Ursache gefunden werden, damit der Verbraucher Kaffee A statt Kaffee B kauft. Da gibt es den „Kaffee mit Kultur“, „Café Brasil“, dessen Verpackung zur Hälfte ein in der Dämmerung getauchtes nebelig blaues typisches südamerikanisches Hochlandpanorama zeigt, gewollte „Authentizität“ soll auch der Name „Café Brasil“ statt zum Beispiel „Kaffee Brasilien“ suggerieren. Vor dem blaugetünchten Landschaftsszenario heben sich der bunte Schnabel eines Tukans und einige braunglänzende Kaffeebohnen in Originalgröße ab: die Inszenierung des perfekten Urwaldes. Das mittlerweile alltägliche Gewürz Salz wird in kleinen Päckchen aus Pappe mit Bildern von Hochgebirgen oder – beim Meersalz – mit Bildern von
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Meereswogen und sich brechenden Wellen präsentiert. „Exklusivere“ Salze, was das Image ihres Herkunftsorts betrifft, erscheinen im feinen Leinensäckchen oder in gläsernen Verpackungen, damit ihre besondere Körnungsgröße sichtbar ist oder ihre Farbe. Salz wird ausdifferenziert nicht nur nach Körnung und Herkunft, mehr und mehr auch nach dem Ton seines Weißes, oder man greift gleich zu rotem oder schwarzem Salz aus Hawaii – welch ein Erlebnis für die europäische Tafel. Dass sogenannte „Low-Interest-Produkte“ oder „Commodities“ wie Zucker, Mehl und lange Zeit eben das Salz weniger prestigeträchtig sind, weil sie als Lebensstil-Vermarktung kaum taugen (vgl.Ragotzky 2001: 134), kann mittlerweile nicht mehr bestätigt werden. Da der Markt mit Lebensmittelprodukten geradezu überschwemmt wird – mehr als 50 000 neue Produkte sind zum Beispiel im Jahr 2004 zum Verkauf angeboten worden (vgl. Kircher 2004: 113) – tragen zur Wahl eines Produkts nicht mehr nur das Bedürfnis, der Appetit auf Marmelade, sondern neben den preislichen Aspekten vor allem der vermittelte Erlebnischarakter des Lebensmittels bei, wenn nicht der Kauf sogar vollkommen von dem versprochenen emotionalen Mehrwert bestimmt wird. Dabei weckt der Produktmanager Bedürfnisse, die man zuvor womöglich gar nicht kannte. Bourdieu (vgl. 1987: 45) verweist bereits auf das Nahrungsmittel Reis, das volkstümlich als Milchreis oder neu als ungeschälter Reis gesund-alternativ daherkommt. Inzwischen liefert das Lebensmittelregal weitere Ausdifferenzierung des Grundnahrungsmittels vieler Erdbewohner: Zwischen „Patna Stäbchen Reis“, Basmati- und Wildreis (und diversen anderen Sorten) darf der erlebnishungrige Esser wählen. An sich „unspektakuläre“ Nahrungsmittel werden durch die inszenierte Verklärung und eine erfundene Geschichte, die natürlich mit dem Lebensgefühl der Gesellschaft oder gesellschaftlicher Gruppen korrespondieren muss, zu „Markenpersönlichkeiten“ stilisiert (vgl. Ragotzky 2001: 141). Überdies muss bei einem Nahrungsmittel das Vertrauen des Konsumenten aufgebaut und gefestigt werden; Vertrauen in den Geschmack und in die Qualität bilden beim körpernahen essbaren Produkt ebenfalls eine Voraussetzung dafür, sich für die Ware zu interessieren. Nur wenige Personen kaufen
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Lebensmittel, von denen sie eine sofortige Schädigung für den eigenen Körper annehmen 41 . Dabei bürgt oft allein der Name schon für Qualität: „Der Name bezeichnet das Produkt nicht nur, er trägt darüber hinaus auch zur Imagebildung und Wertsteigerung des Produkts bei“ (Kircher 2004: 112). Etablierte Markenprodukte verändern aus diesem Grund ihren Namen und ihre Erscheinung kaum. Die „Bärenmarke“-Kondensmilch ziert seit Jahrzehnten das Bild eines kleinen Bären, die dunkelgetönte gläserne Maggiflasche hat ihre Form und ihr Etikett mit den Farben gelb und rot ebenfalls jahrzehntelang und bis heute beibehalten. Durch den Namen, die Abbildung bzw. Verpackung und die mediale Werbung entsteht eine anziehende Illusionswelt: „Markenbilder haben unsere Märchen abgelöst“, schreiben Pollmer et al. (2001: 107). Wenn die Mutti „Miracoli“ 42 ruft, kommen alle Familienmitglieder schnell an den Tisch gelaufen – welch herrliche libidinöse Bestätigung für jede kochende Hausfrau und Mutter. Wer würde diese Geschichte nicht selbst gern erleben, wenn auch nur kognitiv, projiziert in die eigene Gedankenwelt? Beim Blick ins Supermarktregal erweckt der Name „Miracoli“ auf der Verpackung denn genau diese Assoziation – vorausgesetzt, die TV-Werbemaßnahme hat sich im Kopf des Verbrauchers festgesetzt und somit im Sinne des Produzenten gewirkt. F
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41 Was im Nahrungsmittelsektor als gesund oder ungesund gilt, unterliegt ebenfalls gesellschaftlichen Konstruktionen. Vieles, was gekauft und verzehrt wird, gilt gemeinhin als die eigene Gesundheit langfristig schädigend, was guter Geschmack und vermitteltes Erleben durch den Genuss zumeist in den Hintergrund drängt. 42 Die Anlehnung an die Esskultur Italiens, in den 1970er Jahren, als das Produkt auf den Markt kam, noch ganz exklusiv, hat seither viele Nachahmer gefunden, gilt doch die Küche Italiens als besonders hochwertig, modern und gesund. Italienisch klingende Namen und Verpackungen in den typischen Landesfarben grün, weiß und rot wirken exotisch und/oder erinnern an den letzten Urlaub – sie binden offenbar in jedem Fall Aufmerksamkeit.
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Auf den Convenience-Produkten sind dank elaborierter FoodFotografie die in der Verpackung befindlichen Speisen hyperreal abgebildet, je nach erzählter Geschichte umrahmt von einem rustikalen Holzbrett, wie bei der „Holzofen-Pizza“, oder in einer weißen Porzellansuppentasse mit Silberlöffel, wie bei der „Büsumer Krabbensuppe“. Zum Zwecke der Verkaufssteigerung – Lebensmittel sind Wirtschaftsgüter – werden Fertiggerichte und andere Lebensmittel von den Instanzen einer professionellen Werbewirtschaft in tatsächlich märchenhafte sinnliche Kontexte gesetzt, die mit den materiellen Produkten oder Nahrungsmitteln als solchen nichts mehr gemeinsam haben. In Baudrillards (1995: 95) Worten sind die Bilder „nicht mehr Spiegel der Wirklichkeit, sie sind im Kern des Realen verankert und haben es in Hyperrealität verwandelt, in der es für das Bild kein anderes Schicksal mehr gibt als nur noch das Bild. Das Bild kann das Reale nicht mehr bildlich darstellen, weil es das Reale selbst ist; es kann es nicht mehr transzendieren, verklären oder träumen, weil es dessen virtuelle Realität ist“.
Die Sehnsucht nach dem Natürlichen, wofür das Landleben schon seit beginnender Verstädterung als Inkarnation des Traditionellen gegenüber der Hektik und Flüchtigkeit der Moderne betrachtet wird, soll natürlich – im wahrsten Sinne des Wortes – vor allem im Lebensmittelsektor erfüllt werden. Milchprodukte mit dem buchstäblichen Namen „Landliebe“, in der Plastikverpackung, welche die Form von hölzernen Buttertrögen und Milchkannen nachahmt und mit ebensolchen Bildern versehen ist, schaffen nostalgisches Flair. „Je größer die Sehnsucht nach Authentischem wird, desto mehr wird gerade das Essen mit seinem höchst urtümlich-existenziellen Charakter zu einer Chiffre auch für soziale Nähe, für kommunikative Gemeinsamkeit und für situative Unverwechselbarkeit“ (Rapp zit.n. Seeger 2007: 102).
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Industrie und Werbung „laden uns auf ewig unwidersprochen zum Träumen ein von ‚Pommerscher Gutsleberwurst‘ (im Plastikdarm) und ‚Fränkischer Hochzeitssuppe‘ (aus der Tüte), und wir möchten ihnen allzu gerne glauben, dass diese oder jene Kaffeemarke das heitere Familienfest unter blühenden Kastanien herbeizaubert, und dass diese oder jene Kuchenbackmischung den Geist großmütterlicher Liebe ins Haus zurückbringt“ (Fichtner 2004: 150f.).
Oder Werbung und Produktname signalisieren ein gesundes Leben voller Aktivität, Erfolg und Elan. Das früher in Deutschland verpönte Mineralwasser wird modern und schick, wobei sich auch der Sprachschatz erweitert: „con gas, sine gas, medium“, der moderne, aufgeschlossene Verbraucher weiß, was gemeint ist. Das Wasser wandelt sich damit gleichzeitig in seinem erzählten Kontext, weg vom trüben Heilwasser in grünen Glasflaschen, das jedermann von den Nachtschränken des Krankenhauses kennt, hin zum Erlebnisgetränk in beispielsweise blau getönter geprägter leichter Plastikflasche, die jederzeit vorzeigbar und portabel ist. Im Lebensmittelsektor, also im Bereich der Esskultur, spiegelt die Werbung gesellschaftliche Veränderungen und Moden par excellence, sie verstärkt und kolportiert Tendenzen, um sich so frühzeitig wie nur möglich – den Trendscouts sei Dank – große Marktanteile zu sichern. Das gelingt dann hervorragend, wenn zum Produkt eine Geschichte glaubwürdig erzählt wird, weil sie die Bedürfnisse der Konsumenten trifft oder Bedürfnisse weckt, die sofort als die eigenen angenommen werden. Ob die Bedürfnisse materieller Natur, tatsächlich vorhanden sind oder sein könnten, ist dabei vollkommen unwichtig – die Inszenierung muss stimmig sein und anziehend wirken.
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G ESUNDHEIT
Es wurde bereits herausgestellt, dass Essen eine Handlung darstellt, die sehr körpernah und intim ist, bei der man sich Dinge der Außenwelt in den eigenen Körper einverleibt. Der geistig und psychisch gesunde Mensch wird daher darauf achten, seinen Körper – von dessen Zustand wesentlich das eigene Wohlergehen abhängt – nicht zu verletzen und Schaden von ihm fern zu halten. Wir warten am Straßenrand, bis das Auto vorüber gefahren ist, bedecken uns bei Kälte mit warmer Kleidung, weichen scharfen Kanten und Ecken in unserer Umgebung aus, versichern uns vor dem Absprung, dass der Fallschirm einwandfrei funktionieren wird. Auch in provozierten scheinbaren Gefahrensituationen steht die Sicherheit des Körpers an erster Stelle. Sich tatsächlichen Gefahren auszusetzen, etwa beim spontanen Sprung ins eisige Wasser, um einen Ertrinkenden zu retten, wird daher in besonderer Weise als heldenhaft, mutig und – eigentlich im wahrsten Sinne des Wortes – selbstlos bezeichnet. Funktioniert der gesunde Körper nicht wie gewohnt, bei Krankheiten oder wenn wir Schmerzen empfinden, versuchen wir rasch, die Funktionsfähigkeit wieder herzustellen. Überwiegend medizinische Hilfen, aber auch religiöse oder meditative Beschwörungen und Selbstsuggestionen sollen hier Wirkung zeigen. Die in der westlichen Kultur angelegte Dichotomie von Körper und Geist erweist sich bei schwerster Krankheit sozusagen am eigenen Leibe als theoretisches Konstrukt, sprich, der Geist ist ohne Körper nicht lebensfähig. Gut zu leben, das heißt, einen intakten Körper zu besitzen und lange zu leben, sind zwei Wünsche, auf deren Erfüllung sicher nahezu alle Menschen hoffen – und diese Hoffnung versuchen viele, aktiv zu verwirklichen. Das Individuum, der einzelne Mensch, steht über allem, so das Paradigma der westlichen Gesellschaften 43 ; und also wird der Mensch alles zu seinem biologischen Erhalt Erdenkliche tun und forF
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43 Ob dies in der gesellschaftlichen Wirklichkeit immer so gelebt und praktiziert wird, lassen wir an dieser Stelle dahingestellt.
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dern. Das Essen nimmt dabei eine herausragende Position ein. Schon immer hat der Mensch darauf aufgepasst, sich durch das, was er isst, keinen Schaden zuzufügen. Der Geschmackssinn für Bitteres warnt in evolutionsgeschichtlicher Tradition vor Giftigem. Sichtbar Verdorbenes oder nicht „normal, wie sonst auch“ schmeckende Speisen und Lebensmittel lässt man lieber auf dem Teller liegen; aus der Vermeidung von möglichen Schäden resultiert ebenfalls die Angst oder Zurückhaltung vor unbekanntem Essen. Woher soll man wissen, dass sie einem gut bekommen werden, verfügt man doch über keinerlei Erfahrungswerte. Tatsächlich können Lebensmittel den Körper krank machen, sogar zum Tode führen: Der Verzehr von giftigen Pilzen und von verdorbenem Fisch sind allseits bekannte eindeutige Beispiele. In postmodernen Gesellschaften, in denen in den letzten Jahrzehnten ein wahrer Körperkult propagiert wird; Grundlage ist natürlich der intakte, eben gesunde, dazu noch den herrschenden Idealen entsprechend schöne Körper, der jung oder zumindest jung erscheinen soll, und es wird alles versucht und praktiziert, um diesem Anspruch zu genügen. Dabei haben sich zwei zentrale Handlungsfelder herausgebildet: Sport und Essen 44 . Mit dem „richtigen“ Essen, so verheißen unzählige, sich teilweise gegenseitig inhaltlich vollkommen widersprechende Ratgeber, kann der Mensch allem vorbeugen, was dem Körper – damit auch dem Aussehen und Ansehen – Schaden zufügt: Krankheit, Hässlichkeit und Alterserscheinungen aller Art. Man erhält Leistungsfähigkeit, Gesundheit, Schönheit und Jugendlichkeit. Fast jedes der in den Ratgebern propagierten Programme wird ideologisch unterfüttert bzw. legitimiert und ist in seiner inneren Konstruktion mehr oder weniger stimmig – der geneigte Rezipient muss lediglich vertrauen und an die Wirksamkeit der Essvorschriften glauben. Der Körper steht im Zentrum der Betrachtungen, letztlich ist er zum symbolischen F
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44 Man könnte fast noch das Gebiet der kosmetischen operativen Körpereingriffe nennen, das allerdings derzeit noch keine vergleichbar große Verbreitung und Propaganda wie sportliche Aktivitäten und gesundes Essen findet.
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Vehikel für soziale Akzeptanz, Anerkennung, Status und sozialen wie sogar wirtschaftlichen Erfolg geworden. Ein bisschen war er dies schon in früheren Zeiten, etwa in der Renaissance, wo Korpulenz als Zeichen für Wohlstand galt. Dass jedoch körperliche Gesundheit und Ernährung in einen so engen kausalen Zusammenhang gebracht wurden – und dies auch vom Alltagsmenschen mittlerweile internalisiert wurde –, ist eher ein Symptom der Moderne. Bis ins 20. Jahrhundert hinein noch schien es abwegig, die Inhaltsstoffe unseres Essens mit Gesundheit oder Krankheit in Verbindung zu stellen.
3.5.1 Die historische Genese des Diskurses vom gesunden Essen Beginnen wir mit dem griechischen Arzt Hippokrates (etwa 460-370 v. Chr.), dem antiken Begründer der wissenschaftlichen Medizin und der Diätetik, der Lehre von der richtigen heilenden Lebensordnung (griech. „dialta“, lat. „diaeta“, zu dt.: „geregelte Lebensweise“). Hippokrates misst der Nahrung einen ethischen Wert bei, der letztlich die Basis für ein gutes, geordnetes und deshalb gesundes Leben legt, er erkennt und beschreibt die heilvollen und wertvollen Wirkstoffe der Nahrung. Der römische Arzt Claudius Galen (geb. um 130 v. Chr.) gilt als berühmtester Nachfolger Hippokrates. Galen arbeitet das Konzept der Humoralpathologie weiter aus, das im wesentlichen auf die griechischen Medizinphilosophen Empedokles und Alkmaion zurückgeht, und führt es mit den hippokratischen Erkenntnissen zusammen. Die vier Grundelemente in der empedokleischen Kosmologie, Luft und Wasser, Feuer und Erde, entsprechen den Gegensatzpaaren feucht und trocken sowie warm und kalt. Unter Einbeziehung der aristotelischen (Körper-)Säftelehre – die warm-trockene gelbe Galle symbolisiert den Choleriker, das feucht-warme Blut den Sanguiniker, der feucht-kalte Schleim den Phlegmatiker und die kalt-trockene schwarze Galle den Melancholiker – entsteht eine Typisierung des gesunden Menschen, bei ihm befinden sich die vier Elemente im ausgewogenen
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Einklang, und des kranken Menschen. Bei letzterem sind die Körpersäfte aus dem Gleichgewicht geraten, die dominierenden Körpersäfte müssen ausgeglichen werden, indem andere Säfte sozusagen Stärkung erfahren. Je nach vorherrschendem Typus werden bestimmte Nahrungsmittel zur Heilung und auch zur Krankheitsprävention empfohlen und verabreicht. Die Menschen mit überwiegend schleimartigem Blut benötigen zum Ausgleich eine warme und trockene Nahrung, wie sie nach Galens Konzept zum Beispiel der Käse darstellt. Jedes Nahrungsmittel wird nach diesem Schema klassifiziert und den Menschenkategorien als Kontrast zugewiesen: Der Fisch ist feucht, der Apfel kalt, Linsen sind trocken, und der Honig ist warm. Krankheit wird definiert als eine unausgewogene Mischung der Säfte im Körper, die durch die entsprechende Verabreichung passender Nahrung beseitigt werden könne. In Betracht gezogen wird ebenfalls das klimatische Umfeld des Menschen, das auf den Säftehaushalt Einfluss nimmt. Der Frühling gilt als feucht und warm, der warme, trockene Sommer und der trockene und kühle Herbst stehen im Zeichen der gelben bzw. schwarzen Galle, während im kalten und feuchten Winter der Schleim vorherrscht. Daher werden auch im Hinblick auf den Wechsel der Jahreszeiten Ernährungshinweise ausgearbeitet: Während des Übergangs vom Frühling zum Sommer beispielsweise solle man weniger essen, jedoch mehr trinken, um so den Körper auf das Warme und Trockene vorzubereiten und ihm vorab genügend Feuchtigkeit zu geben 45 . Galens Vier-Säfte-Lehre wirkte bis in das 19. Jahrhundert hinein; im Zugzwang zur Umsetzung einer gesundheitsbewussten Ernährung schwören einige bis heute noch bzw. heute wieder auf Galens Schema. Über allem stand das – bis in die Gegenwart bedeutsame – Postulat der Mäßigung. In der antiken Medizin und in deren ernährungsbezogenen Theorien erfuhren die Körperöffnungen, durch die man sich seinerzeit F
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45 Die Humoralpathologie trieb in den folgenden Jahrhunderten skurrile Blüten: Frauen, ihrem Wesen nach feucht und kalt, wurden im Mittelalter vom Verzehr stark gewürzten Essens ausgeschlossen, weil die warme und trokkene Eigenschaft der Gewürze ihrer Natur zuwiderlaufe.
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den einzigen Zugang in den Körper des Erkrankten vorzustellen vermochte, ein besonderes Interesse, vor allem Mund und Anus. Durch den Mund gelangt das Essen in den Körper, kann aber ebenfalls aus dem Mund wieder ausgeschieden werden. Völlegefühl oder einfach das Verlangen nach weiterem Essen veranlassten viele Römer dazu, mit diversen Hilfsmitteln ein Vomitieren herbeizuführen (vgl. Teil 3. 1. 2). Provoziertes Erbrechen und Klistiere verhalfen in dieser Logik zur regulierenden Behandlung des kranken Körpers. Und auch heute nehmen zwangsweise herbeigeführte Ausscheidungen durch Mund und Anus eine zentrale Rolle bei pathologischen Essstörungen als auch bei manchen Diätprogrammen ein. Im Mittelalter beschäftigte sich Hildegard von Bingen (gest. 1179) mit den physiologischen und medizinischen Wirkungen einzelner Nahrungsmittel, ihre Erkenntnisse gelten manchen heute noch als vorbildlich; in der Renaissance wurden Abhandlungen über Essen, wie auch im antiken Griechenland, auch unter dem Aspekt von Medizin und Gesundheit verfasst. Ab dem 17. Jahrhundert beginnt die naturwissenschaftlich orientierte Medizin. Im Jahre 1614 erscheint in Venedig „De statica Medicina“ von Santorio Santorio, der den Ernährungs- und Verdauungsprozess physikalisch erklärt, etwa zur gleichen Zeit entdeckt der flämische Arzt Johan van Helmont die Magensäure, die er sich noch als Gas vorstellt. Essen, Verdauung und Ausscheidung werden seitdem als Kreislauf betrachtet. Schriften zur Hygiene sowie die philosophische Kenntnisnahme des Individuums und seines einzigartigen Lebens wirken sich ebenfalls auf das Bewusstsein hinsichtlich guter und gesunder Ernährung aus. Dabei muss bedacht werden, dass die Vorschriften und Empfehlungen zwar als Paradigma in den wissenschaftlichen Köpfen steckten, jedoch angesichts einer überwiegend in Armut lebenden Bevölkerung kaum gelebt und befolgt werden konnten. Erst in bestehendem Überfluss kann freiwillig reduziert oder reguliert werden. Daneben wurde insbesondere exotische Nahrung von Ärzten zum Heilmittel erklärt und von Apothekern zum Kauf angeboten. Der Schokolade sprach man ärztlicherseits eine vielfältige Heilungskraft
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zu, von der Hilfe bei Schwermut bis zur Verstopfung sollte die Wirkungspalette reichen. Einige Nahrungsmittel sollten speziell zur Stärkung der sexuellen Potenz dienen; wir kommen weiter unten darauf zurück. Im Mittelalter galten Gewürze als heilsam, ihnen wurde gar magisch-religiöse Kraft zugesprochen. Man denke an den Mistel schneidenden Druiden Miraculix in den Asterix-Comic-Bänden, in denen die bei Vollmond geschnittene Mistel gekocht in Tränken überwältigende Körperkräfte verleiht. Auch in der Gegenwart werden Gewürze ebenso in Apotheken zum Kauf angeboten. Abgesehen von den als typische Heilkräuter definierten Pflanzen, die, zumeist als Tee verabreicht, zur Unterstützung bei diversen Krankheiten dienlich sind, wird heute dem einen oder anderen Nahrungsmittel, wenn nicht gar Heilung, so doch eine Linderung der Beschwerden im Krankheitsfall bescheinigt: Spargel trägt zur Entwässerung des Körpers bei, Rote Beete wirkt bei Anämie blutbildend, der saure Hering vertreibt den (Alkohol-)Kater, und die heiße Hühnerbrühe vertreibt Erkältungen. Gesundheitsbezogene Empfehlungen für das richtige Verhalten rund um das Thema „Essen“ gab es offenbar schon immer; im 11. Jahrhundert heißt es in einer Schrift der Medizinschule von Salerno: „Nach dem Essen sollst du ruhn oder tausend Schritte tun“ (zit.n. von Engelhardt 2001: 54), die bis heute in vielen Köpfen präsent ist. Und stets folgen Mahnungen zur Mäßigung beim Essen, in denen sich religiöse und medizinische Ambitionen gegenseitig stützen. Im 1707 in deutscher Übersetzung veröffentlichten Werk eines französischen Arztes heißt es etwa: „Gott läßt unsere Erhaltung und Gesundheit von unserer Mäßigkeit und Vorsichtigkeit dependieren. […] Die Unmäßigkeit aber strafet sich selbst, durch ihre Excesse: Sie macht ein Gift aus den besten Speisen […], das unmäßige Essen und Trincken des Mundes bringt mehr Menschen um das Leben, als das Schwerd“ (Duncan zit.n. Tornius 1931: 40).
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Und Pastor Heinrich Ammersbach (zit. n. Kleinspehn 1987: 125, Hervorheb. i.O.) schreibt 1664: „Man sündigt 2. mit Überfluß der Speisen wider sich selbst an seiner Gesundheit und am Leben“. Zudem beginnt man das psychisch-soziale Wohlergehen des Menschen während des Essens als gesundheitserhaltend zu betrachten. Wilhelm Tissot rät 1777 in seinem Buch „Die Gesundheit der Menschen und von der Ökonomie des Leibes beyderley Geschlechts“ (zit.n. Kleinspehn 1987: 265) zur Mäßigung der Affekte während des Essens: „Bey Tische muß man sorgenfrey und heiter seyn, und in Gesellschaft mehrerer Personen mit untermischten muntern Gesprächen speisen…. Keine Leidenschaft, Zank, Streit, Haß oder Neid muß bey Tische obwalten, und Niemand muß sich mit angestrengten Seelenkräften … zur Tafel sezzen“.
Die Diskussion darüber, welche Nahrung wie zu sich genommen wird bzw. werden soll, dient, wie bereits bei Anthus gesehen, auch zur Charakterisierung – eigentlich Diskriminierung – anderer, fremder Völker. Um nicht grausam zu verrohen, solle man nicht nur Fleisch, sondern auch vegetarische Nahrung zu sich nehmen (vgl. Kleinspehn 1987: 272) – Essen als charakterprägendes Element. Indem man die Sozialisation des Kindes, seine Erziehung als Ursprung seines späteren Essverhaltens erkennt – „Vielfraß und Leckermaul werden also nicht geboren, sondern erzogen“ (Sailer im Jahr 1809 zit.n. Kleinspehn 1987: 280) – verbinden sich medizinischer und pädagogischer Diskurs zur Normierung des Essverhaltens und zur Affektkontrolle. Mit dem Einsetzen der Industrialisierung erhält die rationalabstrakte Betrachtung von Essen als Gegenstand und Handlung einen weiteren Aspekt. Essen dient nun vor allem zum Erhalt der Arbeitskraft. In den Arbeiterhaushalten beginnt sich eine geschlechtsspezifische Essensverteilung zu entwickeln: Fleisch gibt es in erster Linie für den arbeitenden Mann. Volksküchen werden in den Städten eingerichtet, um zumindest ein Mindestmaß an Ernährung sicher zu stellen.
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3.5.2 Vegetarismus Wir hatten bereits ausgeführt (vgl. Teil 2. 1. 2), dass sich im Jahr 1847 in England eine vegetarische Gemeinschaft erstmals zu einem Verein, der „Vegetarian Society“, zusammenschloss. Die Gründe, sich ausschließlich fleischlos zu ernähren, müssen nicht zwangsläufig aus dem Wunsch nach einem gesunden Leben resultieren. Etliche Vegetarier halten den Verzehr von Fleisch nicht für gesundheitsschädigend. Die auch von Rousseau berichtete Aussage, die sich überwiegend von Fleisch ernährenden Menschen seien grausamer und blutrünstiger als andere, legte in historischer Betrachtung das ideologische Fundament für den Fleischverzicht. Tierliebe als ethische Motivation ist mittlerweile ein wesentlicher Grund geworden, kein Fleisch zu essen. Bereits viel früher jedoch bekannten sich Personen zum Vegetarismus – aus verschiedensten Motiven: Der – an sich buddhistische – Glaube an Seelenwanderung hielt etwa Pythagoras davon ab, Fleisch zu essen, er mochte nicht in die Gefahr geraten, mit dem Tierfleisch möglicherweise seinesgleichen zu verspeisen. In den 1960/70er Jahren bekam die Tendenz zum Vegetarismus einen neuen Aufschwung von der politisch-kulturellen Protestbewegung. Das Etablieren einer Gegenkultur, das Aufbegehren gegen bürgerliche Werte und Verhaltensregeln, zeigte sich auch auf dem Feld der Esskultur. In den wohlhabenden westlichen Gesellschaften war es selbstverständlich geworden, Fleisch zu verzehren. Mit vegetarischer Ernährung sollte „mental and spiritual wellbeing“ (Twigg 1983: 20), eine Form der geistigen Gesundheit, erreicht werden. Veganer lehnen nicht nur den Verzehr von Fleisch ab, sie verzichten auf den Konsum aller tierischen Produkte, so auch auf Eier oder Leder. Die Kritik an der Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung, das entschiedene Verwerfen der Art und Weise der „Herstellung“ tierischer Lebensmittel nehmen hier ebenfalls eine zentrale Rolle bei der Verhaltensmotivation ein. Die radikale Abkehr von kulturtypischen Ernährungsgewohnheiten gelingt nicht vielen Menschen: Weniger als 0,1 Prozent der Weltbevölkerung sind strenge Veganer (vgl. Harris 2005:
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19). Ähnlich selten wird die strikt makrobiotische Ernährungsweise praktiziert, deren Speisepalette aus ungeschältem Reis, Sojasauce und Kräutertee besteht. Begründet wurde die Makrobiotik von dem deutschen Mediziner Christoph Wilhelm Hufeland (1762-1836) 46 , der dazu riet, Vegetabilien den Vorzug vor Fleisch zu geben, um das Leben auf diese Weise zu verlängern. Vorsicht sei geboten vor dem Verzehr von Kartoffeln, Tomaten und Auberginen, die als „todbringende Nachtschattengewächse“ (Bratman 2001: 159) unbedingt zu vermeiden seien. Vegetarismus und seine Varianten scheinen inzwischen „zu einem neuen Zeichen subtiler sozialer Distinktion geworden“ (Wirz 1993: 208) zu sein, der freiwillige Verzicht auf Fleischspeisen inmitten der alles lieferbaren Wohlstandsgesellschaft umgibt den Vegetarier mit einem Nimbus der Askese und Selbstkontrolle. Hier zeigt sich abermals die symbolische Komponente des Essverhaltens, die dazu genutzt werden kann, einen ethisch und rational respektablen Eindruck nach außen zu transportieren und damit sicher ein Maß an eigener Befriedigung zu erleben. Mit diesem weitgehend als positiv erachteten Verhalten grenzt sich der Vegetarier von fleischessenden Personen ab und erlangt folglich über das Essen bzw. das Nicht-Essen soziale Aufmerksamkeit und Anerkennung. Und wer besitzt keinen Respekt vor der Fähigkeit, freiwillig selbst gesetzte Regeln einzuhalten? Eine höhere Lebenserwartung kann jedoch, so Gonder (2008: 60), dem Vegetarier nicht garantiert werden: F
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„Die gesundheitlichen Vorteile, die in vielen Vegetarierstudien zutage traten, lassen sich weniger auf den Verzicht auf Fleisch zurückführen als vielmehr auf eine insgesamt gesündere Lebensweise im Vergleich zu Durchschnittsbürgern: Viele Vegetarier rauchen nicht, wiegen weniger, bewegen sich mehr und gehö-
46 Der japanische Philosoph George Ohsawa (1893-1966) wird heute – asiatische Theorien entsprechen eher dem Lebensgefühl und finden daher ein erwartbar verstärktes Interesse in der westlichen Gesellschaft – ebenfalls als Initiator der makrobiotischen Ernährung benannt.
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ren höheren sozialen Schichten an. Kein Wunder, dass sie seltener an Krebs oder Herzinfarkten leiden. Ein Vergleich mit gesundheitsbewusst lebenden Fleischessern ergab dagegen keine bessere Lebenserwartung für die Vegetarier“.
Alternative Ernährung, die von der des „normalen“ Essers abweicht, scheint aber in jedem Fall ein positives Gefühl der Selbstbestätigung zu vermitteln. Unterstützt wird dieser emotionale Profit in entsprechenden Schriften; Jaeggi/Klotter (2003: 275) sprechen von „Eßbibeln“, welche „den Eindruck von Heilsliteratur erwecken“ (ebd.). Der von der Norm abweichende Esser hofft bzw. ist davon überzeugt, „durch eine bestimmte Technologie (des Essens) Abhilfe für alle Übel dieser Welt zu schaffen“ (Jaeggi/Klotter 2003: 290). Einen Prototyp fleischloser und als gesund erachteter Ernährung stellt das Müsli dar. Der Schweizer Arzt Maximilian Oskar Bircher-Brenner (1867-1939) entwickelte in der Wende zum 20. Jahrhundert eine Kost aus zermahlenem Korn, Obst, Milch und gehackten Nüssen, die er „d’Spys“ nannte. Er avancierte damit zum Wegbereiter der Vollwerternährung, welche aufgrund der Mineralstoffe, Ballaststoffe und Vitamine ihrer Speisen als überaus gesunde Ernährungsweise gilt. Ballaststoffe werden vom Körper zwar nicht verwertet, gelten daher als „Ballast“, fördern jedoch die Verdauung, schützen die Darmschleimhaut und wirken cholesterinsenkend. Besonders zum Frühstück wird das Müsli sehr geschätzt, verhilft der Verzehr doch zum guten Gefühl, den Tag mit gesundem Essen zu beginnen und seinen Körper derart gestärkt sozusagen guten Gewissens den Erfordernissen des Tages aussetzen zu dürfen. Inzwischen enthält fast jedes Frühstücksbuffet in den Hotels des Erdballs die Speise „Müsli“, mittlerweile gibt es Hunderte verschiedener Müslisorten – sogar mit Schokoladenstückchen.
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3.5.3 Gesundes Essen – heute In gegenwärtigen Zeiten hagelt es Definitionen und Erklärungen davon, woraus gesundes Essen besteht, was gesundes Essen ist und wie man gesund isst, kaum ein Kochbuch, eine Zeitung oder Zeitschrift kommt ohne einen Hinweis zum Thema „gesundes Essen“ aus. Vom „richtigen“ Essen werden wahre Wunderwerke erwartet: körperliche Gesundheit, die Verlängerung des Lebens, Energie, Vitalität, geistiges, körperliches und sexuelles Leistungsvermögen, psychisches Wohlbefinden und physische Attraktivität. Zeitungsmeldungen über Personen, die ein sehr hohes Lebensalter erreicht haben bzw. in einem sehr hohen Alter verstorben sind, erwähnen häufig besondere Vorlieben oder Routinen in deren Ernährung – „sie trank jeden Morgen ein Schnäpschen“, „er verzichtete völlig auf Weißbrot“ – und suggerieren so Verhaltensbzw. Ernährungsvorbilder. Das „richtige“ Essen soll also dazu verhelfen, sich von Ängsten zu befreien, wie etwa der existenziellen Furcht vor Krankheit und Tod und der gesellschaftlich konstruierten Angst vor dem Verlust von persönlicher Attraktivität. Die Ernährungsforschung förderte im letzten Jahrhundert stets neue Erkenntnisse über die Wirkungsprozesse von Nahrung auf die Abläufe im menschlichen Körper zu Tage und konnte diese über die Massenmedien rasch und geografisch weit mitteilen. Das Essen als lebensnotwendige Handlung erhält damit eine zweite Bedeutung: Sie vermag auch ein gutes Leben zu erzeugen. Dieses Paradigma kann sich natürlich nur im relativen Wohlstand und Überfluss behaupten; dort, wo Hungersnot herrscht, zählt es nicht, was man isst, sondern dass man überhaupt etwas zu essen bekommt. Die Bedeutung des Essens in Bezug auf Gesundheit und Wohlbefinden ist folglich trotz allen naturwissenschaftlichen Wissens eine sozial konstruierte. Schaut man die Ratgeberliteratur und die Ernährungsempfehlungen genauer und über eine längere Zeit hinweg an, zeigen sich Widersprüche. Fast jedes Lebensmittel erscheint – in unterschiedlichen Quellen – sowohl als krebsverhindernd als auch als krebserzeugend. Butter, früher mit dem Attribut „gute“ Butter und hohem Prestigefaktor versehen, kam in den 1960er Jahren in den Ruf, die
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Cholesterinwerte im menschlichen Körper zu erhöhen, wodurch für den Butteresser die Gefahr von Herzerkrankungen ansteige. Das Image der Margarine wandelte sich – mit werbewirksamer Unterstützung – vor diesem Hintergrund von der „Arme-Leute-Butter“ zum gesunden „vitalen“ Brotaufstrich ohne die Schwere tierischer gesättigter Fette. Einige Jahrzehnte später wurde festgestellt, dass das in der Nahrung enthaltene Cholesterin den Cholesterinspiegel im Körper nur unwesentlich beeinflusst, nimmt der Mensch viel Cholesterin auf, fährt der Körper die eigene Produktion automatisch zurück und umgekehrt, bei hoher Cholesterinaufnahme produziert der Körper entsprechend weniger (vgl. Eckhardt 2004: 49). Zum jetzt wieder modernen Butterbrot, das im 19. Jahrhundert das übliche Abendessen darstellte und als praktisch zu transportierende Mahlzeit am Arbeitsplatz diente, rät man heute: „Man sollte das Brot mit Butter bestreichen (nicht zu viel); es ist im Vergleich zur Margarine das deutlich natürlichere Produkt“ (Koruhn 2008). Dass tierische Lebensmittel aufgrund ihrer Inhaltsstoffe Eiweiß, Fett und eben Cholesterin schwere Krankheiten auslösen und zu Übergewicht führen, findet heute wissenschaftlich offenbar keine Bestätigung mehr (vgl. Gonder 2008: 57f.). Stets spielen Vorerkrankungen, genetische Dispositionen oder die Kombination mehrerer Risikofaktoren die gewichtigere Rolle bei der Entstehung von Krankheiten. All diese Kriterien lassen bereits folgendes erkennen: „Ernährung ist etwas Individuelles, eine einzige richtige Kost für alle gibt es nicht“ (Gonder 2008: 124). Das richtige Essen als Heilsbringer, so das Paradigma der Moderne, wird also in der Realität nicht eingelöst; da der Glaube an die These vom richtigen Essen aber in der Unsicherheit gerade in der postmodernen Gesellschaft einen festen Halt bietet, kann das vermeintlich richtige Essen zumindest individuelle Befriedigung und Glücksgefühle verschaffen – immerhin. Demgegenüber steht die ebenfalls aktuelle Aussage der internationalen Ernährungswissenschaft, die mediterrane Küche präsentiere eine für alle Menschen gute und gesunde Form des Essens, die alle Ansprüche an eine diätetisch gute Ernährung erfülle (vgl. Lemke 2007b: 316). Weil Olivenöl, Auberginen, Lamm, Fenchel und Rotbarbe auch touristische Sehnsüchte wecken bzw. an tou-
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ristische Erlebnisse erinnern und damit positiv besetzt sind, eignen sie sich ebenso hervorragend zur Vermarktung ihrer spezifischen Folklore vor allem im eher nördlich-kühlen Lebensraum. Gepinselte Oliven auf allerlei Steingut und Porzellan, typisch längliche Schälchen für die authentische Darreichung von Oliven oder eingelegten Gemüsen bei Tisch, bunte große runde Keramikteller mit der Inschrift „Pizza“, gern in den Italianität suggerierenden Farben, grün, weiß und rot, mit Olivenzweigen, Lavendelsträußchen und anderen mediterranen Insignien bedruckte Tischwäsche sorgen für das stimmige Ambiente auf dem Esstisch. Die simulierte Mittelmeeratmosphäre hat sich als thematische Folie für die gesunde Esskultur und das gemütliche Interieur etabliert. Die überaus positive Bedeutung des Zuckers als Luxus- und Prestigeartikel hat sich im Zuge neuer medizinischer Erkenntnisse im Rahmen des Gesundheitsbewusstseins ebenfalls sehr verändert. Der moderne gesundheitsorientierte Mensch meidet Zucker. Ebenso wie fettreduzierte, fettarme oder fettfreie Lebensmittel werden Produkte mit Surrogaten wie künstlichen Süßstoffen bevorzugt. Zucker gilt mittlerweile als „Kalorienbombe, Vitaminräuber, süße Droge, Nahrungsgift und Krankmacher“ (Sonnenschein 2004: 59) und passt daher nicht (mehr) in das Schema des richtigen Essens. Die Abhängigkeit und Prägung der Bedeutung einzelner Lebensmittel und Speisen vom gesellschaftlichen Diskurs ist offensichtlich. Der US-Romancier T.C. Boyle persifliert in seinem Buch „The Road to Wellville” (1994) die zuweilen zwanghaften Maßnahmen, die der Mensch ergreift, um die Hoffnung auf ein langes und gesundes Leben verwirklichen zu können. Der Leiter des fiktiven Sanatoriums mit dem an Cornflakes erinnernden Namen Dr. John Harvey Kellogg malträtiert seine ihm willig ergebenen Patienten mit Milchdiäten, Klistieren und Dickdarmmassagen. Er wettert vor einem andächtig lauschenden Publikum gegen das Essen von Fleisch und hat mit Büchern wie „The Crippled Colon“ oder „The Itinerary of a Breakfast“ den Status eines Ernährungspapstes erreicht. Gonder (vgl. 2008: 46) berichtet von Experimenten an Ratten, in denen den Tieren dreierlei Futter verabreicht wurde: Eine Rattengruppe erhielt ungesüßten Joghurt, die zweite mit Zucker gesüßten Joghurt,
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und die dritte durfte nur mit dem Süßstoff Saccharin gesüßten Joghurt fressen. Die Ratten, deren Futter aus Saccharin-gesüßtem Joghurt bestand, legten am meisten an Körpergewicht zu. Gonder erklärt dies damit, dass durch den süßen Geschmack dem Körper Kalorienzufuhr angezeigt werde und dieser sich auf deren Aufnahme und Verwertung vorbereite. Werden die erwarteten Kalorien aber tatsächlich nicht geliefert, bildet der Körper ein Verlangen nach „mehr“ aus, um endlich den erwarteten Input zu bekommen. Die Ratte frisst also mehr von dem künstlich gesüßten Joghurt, der Kalorien suggeriert, aber keine bzw. nur wenige enthält. Übertragen auf den Menschen bietet das Experiment die Erklärung dafür, weshalb Personen, welche zuckerfreie Nahrung bevorzugt zu sich nehmen, nicht an Körpergewicht ab-, sondern tendenziell eher zunehmen. Eine ähnliche biologische Irreführung des Körpers könnte sich bei fettreduzierten Lebensmitteln und Speisen ereignen. In der Erwartung von Fett, das tatsächlich ausbleibt, bleiben Hunger und Appetit länger bestehen – der Mensch isst mehr, weil er – im wahrsten Sinne des Wortes – nicht gesättigt ist. „Tatsächlich wurden die Menschen in USA und anderswo stetig dicker, seit der Fettanteil in ihrem Essen sank“ (Gonder 2008: 46). Die Lebensmittelindustrie nimmt weitere gesellschaftliche Tendenzen und Wünsche auf und verstärkt sie, indem sie „Brainfood“ und „Functional Food“ anpreist. Die Speisen und Getränke sind versetzt mit zusätzlichen Nährstoffen, Vitaminen, Mineralien und Eiweißen, die erhöhte Energie und Leistungsfähigkeit versprechen, aufputschende und lebensverlängernde Wirkung besitzen sollen wie etwa die sogenannten „Energy drinks“, zum Beispiel „Red Bull“, „Drink fit“ oder der Joghurt „Activia“. Allein die Produktnamen garantieren die Heilsbotschaft der Inhalte. 1996 wurde der erste „angereicherte“ probiotische Joghurt zum Verkauf angeboten. Ob Functional Food tatsächlich „‚Wellness‘ aus Tüte und Becher“ (Fichtner 2004: 123) liefert, ist, so Hirschfelder (vgl. 2005: 254), fraglich, letztlich verfüge man über keinerlei Beweise. Unbestritten aber gelten Produkte mit Positivlabeln wie „fettreduziert“, „light“ oder „zuckerfrei“ bei vielen Essern als gesund und damit bedenkenlos konsumierbar. Der Verkauf steigt.
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Zudem legt der ernährungsbewusste Bürger nicht nur Wert darauf, was er isst, sondern auch darauf, „wie“ – wie oft und wann er isst. Langsames Kauen des Essens ist als förderliche Maßnahme für einen glücklichen Verdauungsprozess anerkannt, kleine über den Tag verteilte Mahlzeiten gelten als sehr gesund. Späte abendliche Mahlzeiten werden landläufig als schädlich beurteilt; diesen Grundsatz teilt der westliche Metropolenmensch mit dem Angehörigen südamerikanischer Stämme, die nächtliches Essen oftmals verbieten. Lévi-Strauss (2000: 312) berichtet: „Die Arawak aus Guayana glauben, daß jeder, der nach Sonnenuntergang ißt, sich in ein Tier verwandelt“. Rational betrachtet wird sich nicht nur die letztgenannte Vorstellung, sondern auch das „moderne“ Postulat des gesunden Essmodus kaum verwirklichen lassen, das Zeitdiktat der Arbeitswelt verhindert bei den meisten die Umsetzung der als gesund propagierten Essregelungen. Dem recht neuen Postulat, mindestens zwei Liter Wasser am Tag zu trinken, leisten viele auch in der Zeitlimitiertheit des alltäglichen Lebens Folge. Und so tragen vor allem junge Menschen große Plastikflaschen Mineralwasser in der Öffentlichkeit mich sich, um bei jeder Gelegenheit einen Schluck daraus zu nehmen und auf diese Weise dem gefürchteten Austrocknen des Körpers präventiv zu begegnen. Das kalorienlose Getränk versorgt den Körper mit wichtigen Mineralstoffen, verhilft zu geistiger und physischer Vitalität und macht Haut und Haare schön, so der Tenor der Vertreiber. Seit 1995 ist denn auch beflügelt von den entsprechenden Marketingmaßnahmen der Abfüller der Verbrauch von Mineralwasser in Deutschland um 4,4 Liter pro Kopf und Jahr angestiegen (vgl. Ernährungsbericht 2008: 29). Dabei ist das Diktat des Vieltrinkens für Gesunde in gemäßigten Klimazonen nicht von Belang, denn es „gibt keine wissenschaftliche Studie, die die üblichen Trinkempfehlungen eindeutig begründet. Man darf also davon ausgehen, dass ein gesunder Körper seinen Wasserhaushalt via Durst präzise regelt“ (Gonder 2008: 76). Dennoch entspinnen sich ganze Philosophien darüber, welches Wasser das gesündeste sei. Gedanken, die diejenigen, die mit der offenen Bierflasche in der Hand im öffentlichen Raum unterwegs sind, offensichtlich nicht umtreiben. Und das sind neuerdings längst nicht
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mehr nur soziale Außenseiter. Das Mitsichführen von Getränken in der Öffentlichkeit, ob Mineralwasser, Bier oder Kaffee im Pappbecher mit überschwappsicherem Plastikdeckel als „Coffee to go“, ist als Zeichen größter Mobilität und Flexibilität offenbar sehr beliebt. Angesichts der überwiegend industriellen Fertigung des Essens – dies betrifft mehr als 75 Prozent unseres Verzehrten, mehr als die Hälfte ist künstlich aromatisiert (vgl. Grimm 2006: 17ff.) – nimmt die Sehnsucht nach dem Natürlichen wieder zu. Reformhäuser mit „gesunden“ Lebensmitteln und Bioläden, in denen naturbelassene Produkte verkauft werden, erleben einen regen Zulauf und Zuwachs. Wir erwähnten zuvor Produkte mit Namen wie „Landliebe“, die Natur und Dorfromantik konnotieren. Die Silben „bio“ oder der Zusatz „natur“ in Produktnamen oder als das Produkt beschreibendes Prädikat, gedruckt auf der Verpackung und von der medialen Werbung propagiert, gelten als Indikatoren für Reinheit, Echtheit, Ursprünglichkeit, keineswegs jedoch werden sie assoziiert mit den industriellen Fertigungstechniken, mit Hilfe derer sie letztlich entstanden sind. Ein Paradox, das von der bunten Bilder- und Geschichtenwelt der Werbung aus dem Bewusstsein des Essers gezaubert wird. Lebensmittelskandale rütteln für eine begrenzte Zeit lang auf, ändern an der Haltung der Verbraucher langfristig wenig. Versprechen und Garantien der Hersteller sorgen dafür, dass die kognitive Dissonanz nicht lange andauert. Gesundes Essen in seiner derzeitigen Definition soll als Krankheitsprävention wirken; eng damit verknüpft ist der Anspruch, gesundes Essen dürfe keinesfalls „dick machen“. Körperliche Schlankheit wird gleichgesetzt mit Gesundheit, Vitalität, Erfolg und Attraktivität. Wenn vom „gesunden Essen“ gesprochen wird, sind diese symbolischen Qualitäten des Schlankseins mitgemeint. Die Beschaffenheit des menschlichen Körpers ist seit jeher mit sozialen Bedeutungen belegt: Die antiken Griechen idealisierten die athletische, schlanke, aber sehnig-muskulöse Gestalt; in der Renaissance und im Barock galten Beleibtheit und Korpulenz als Zeichen für Reichtum und Gesundheit – die dralle Frau signalisierte Gebärfähigkeit, als Garant für kräftige, gesunde Kinder gleichzeitig den Fortbestand der Familie. Später steckte
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man die Frau in ein enges Korsett, das ihren Körper entsprechend der zeitgenössischen Schönheitsideale formte. Zumindest der dicke Mann erschien noch in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg als ein stattlicher und wohlhabender Mensch, der sich reichliches Essen offenbar aufgrund seiner wirtschaftlichen Position leisten konnte und damit auch Würde und Macht ausstrahlte. Mittlerweile gibt es das materielle Korsett für die Frau kaum noch, es wurde ersetzt durch ein kognitives Korsett der Diät und Fitness. Gefragt sind nun, wie Siefert (2004a: 168) schreibt, „schlanke Mätressen, die statt Kindern vor allem sexuelle Freizügigkeit versprechen“ 47 . Der Körper selbst und indirekt auch der Geist, der den Körper steuert, haben folglich einer bestimmten Form und Norm zu entsprechen. Der oder die Dicke birgt als literarische Figur, man denke an Sancho Panza, zwar ein hohes Maß an Komik und Humor, dient aber auch zur Verkörperung des Vulgären und Dummen. Dicksein wird heute assoziiert mit Unterschicht, Antriebs- und Erfolglosigkeit, mangelnder Selbstbeherrschung, Nicht-Maßhaltenkönnen und vor allem mit „ungesundem Essen“. Bierbauch und Speckrolle gehören nicht zum Menschen, so das gesellschaftliche Dogma. Also wird der Körper Fitnesstrainings unterworfen, mittels Fettabsaugung manipuliert, und/oder ihm wird die strikte Einhaltung drastischer Essregeln aufgebürdet. Die Diätratgeber reihen sich in den Regalen der Bücherläden zahllos an die ebenso zahllosen Kochbücher. Insbesondere Frauenzeitschriften bieten ihrer Leserschaft in nahezu jeder Ausgabe Diäthinweise und –anleitungen an. Ein Indiz dafür, dass Frauen, längst ohnehin zur Mäßigung und Zurückhaltung beim Essen angehalten, als Projektionsfläche für ein Schönheits- und Gesundheitsideal 48 dienen, von dessen Erfüllung F
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47 Eigentlich sollen sie beides vereinen. Models, die sich viele Frauen und Männer zu Vorbildern erkoren haben, behalten auch nach mehreren Geburten ihren straffen und schlanken Körper. 48 Diese Ideale sind gesellschaftlich und medial geprägt und haben sich daher im Laufe der Epochen verändert. Derzeit gilt, dass insbesondere der schlanke Körper mit Gesundheit und Aktivität assoziiert wird.
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gleichzeitig der Mann an ihrer Seite in seinem sozialen Ansehen profitiert. Allmählich lassen sich allerdings zunehmend Männer von der Fitness- und Gesundheitswelle überschwemmen, auch ihnen werden Bilder à la Brad Pitt vorgehalten. Noch aber leiden überwiegend Mädchen und junge Frauen an Esspathologien wie Bulimie oder Anorexia nervosa 49 . Essen hat den Status des Feindlichen und des Manipulierbaren bekommen. Über den dringenden Wunsch, schlank – gleichbedeutend mit attraktiv, liebenswert und eben gesund – zu erscheinen, werden sie krank. Damit verkörpern die sich um jeden Preis dem Schlankheitsideal Unterwerfenden ein paradoxes Abbild der gesamten Gesellschaft: Inmitten von industrieller Fertignahrung glaubt man an natürliche Kost, umgeben von Diäten nimmt die Fettleibigkeit zu, der übermächtige Wunsch, gesund und liebenswert zu sein, endet in schwerer Krankheit. Die „Orthorexia nervosa“, wie Bratman (2001: 160) die übersteigerte Fixierung auf gesundes Essen bezeichnet, breitet sich aus, wobei der Alltag vielfach beweist: „wer Ernährungsratschläge befolgt, der lebt leider auch nicht länger“ (Siefert 2004b: 257). F
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3.6 G ESCHLECHTSSPEZIFISCHE A SPEKTE DES E SSENS Bereits im vorangegangenen Teil klang an, dass der weite Kontext des Essens bei Frauen und Männern unterschiedliche Bedeutungen und Prägungen annimmt. Ein Beispiel für den zwischen den Geschlechtern ungleichen Umgang mit Essen: Es sind eher Frauen, die eine Diäterfahrung besitzen, als Männer – doppelt so häufig wie Männer in die-
49 Eine ebenfalls dramatische Essstörung stellt der Zwang zum permanenten Essen, umgangssprachlich „grazing“ genannt, dar, dem auch nachts gefolgt werden muss. Essen dient als immer wieder vorläufige Befriedigung, wenn diese sonst anscheinend nicht zu erreichen ist.
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sem Alter unterziehen sich Frauen zwischen vierzehn und vierundzwanzig Jahren einer Diät (vgl. Ernährungsbericht 2008: 39). Der Umgang mit Essen ist, dies soll deutlich werden, ein gesellschaftlich konstruierter, das heißt, das als zugestanden bzw. akzeptabel geltende Essverhalten ist abhängig davon, ob ein Mann oder eine Frau isst. Essen definiert und markiert folglich ebenfalls geschlechtsspezifische Grenzen trotz aller emanzipatorischen Errungenschaften. So gebührt es Frauen bei Tisch auf Essen zu verzichten, wenig und ohne Appetit zu essen. Diese historisch angelegte Erwartung an Frauen – von Lord Byron wird etwa gesagt, dass er essende Frauen nicht ansehen mochte (vgl. Anthus 1962: 155) – erfüllen sie nur zu oft auch an zeitgenössischen Tafeln. „Ich habe keinen Hunger“, der angstvolle Aufschrei „Davon bitte wirklich nur ein kleines Stückchen“ oder „Oje, das hätte ich lieber nicht essen sollen“ als bitteres Bereuen nach dem Verzehr des süßen Desserts sind typische Äußerungen, die nur selten von männlichen Tischgenossen stammen. Die große Sorge um die Figur, darum – vor allem in männlicher Gegenwart – nicht als „verfressen“ zu gelten und sich damit, wenn auch momentan gertenschlank, hinsichtlich der eigenen Gestalt auf dem besten Wege zu einer korpulenten Matrone zu befinden, oder die Angst vor Krankheiten, die Frauen häufiger umtreibt als Männer 50 , zuweilen auch bloße Koketterie, mögen ursächlich sein für dieses vorsichtige Verhalten, das an sich gar nicht zum in der Öffentlichkeit kolportierten selbstbewussten Frauenbild passt. Bourdieu (vgl. 1987: 307f.) spricht von der Stärke des männlichen Körpers, die in der Arbeiterklasse Arbeitskraft und Arbeitsfähigkeit bedeutet und somit für die ganze Familie als Garant für das Überleben aufrechtzuerhalten und zu pflegen ist. Der Mann erhält bei Tisch daher vor allem Fleisch – große und zusätzliche Portionen –, während die F
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50 So werden Vorsorgeuntersuchungen eher von Frauen als von Männern wahrgenommen. Möglicherweise befolgen Frauen bereitwilliger Ratschläge, sind viel doch schon in ihrer Sozialisation an konformes Verhalten gewöhnt worden.
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Frau verzichtet. In der Reihenfolge der Essensausgabe am Familientisch steht der Vater an erster Stelle. Dies ist sicherlich gegenwärtig nicht nur im türkischen Dorf noch so, wie Sözer (1988: 1995) es darstellt: „Man sagt, daß auch heute noch die Jungen in ländlichen Gebieten eher die besseren Teile und mehr von dem Essen bekommen als die Mädchen, weil sie [die Jungen] ja stark sein müssen“. Abgesehen von den Verteilungsmodalitäten in unteren Schichten, lässt sich auch in der gesamtgesellschaftlichen Betrachtung eine geschlechtsspezifische Zuweisung der Nahrungsmittel und Speisen erkennen, wonach Frauen vorwiegend Salate, Gemüse und Fisch bevorzugen, Männer hingegen Fleischgerichte. Das weibliche Essen ist sanft, leicht und süß, das männliche kräftig in der Konsistenz und deftig im Geschmack. Im Restaurant wird bei der Bestellung eines Leber- und eines Fischgerichts wie selbstverständlich die Leber dem Mann gereicht, in Steakrestaurants fällt die Mehrheit männlicher Gäste auf. Diese Einteilung gilt ebenso für Getränke: Den starken Obstbrand trinkt der Mann, der süße, weniger Alkohol enthaltende Likör gehört zur Frau. Auch heute noch verblüfft es vielerorts, wenn Frauen hochprozentige Digestifs ordern. Männern schenkt man Schnaps und Wein, Frauen überreicht man als Präsent Pralinen und Vollmilchschokolade – die Beispiele ließen sich fortsetzen. Das geschlechtsspezifische Nahrungsschema hat tiefe historische Wurzeln, denn die nach dem Galenschen System kalte, feuchte Frau sollte keine stark gewürzten, kräftigen und warmen Speisen zu sich nehmen 51 . Als im 18. Jahrhundert das Getränk „Kaffee“ aufkam, erachtete man es als ungeeignet für den weiblichen Konsum. Kaffee, der wach macht und zu Taten anregt, dazu noch bitter und kräftig im Geschmack, schien mit diesen Eigenschaften für die häusliche und harmonieorientierte Frau völlig unpassend. Der Kaffee avancierte insgesamt zum Symbol des Aktivismus, er reflektierte sowohl bürgerliche F
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51 Thoms (vgl. 2005: 170) berichtet, dass Frauen im Mittelalter scharfe Gewürze zur Abtreibung nutzten. Ein vielleicht verdeckter zusätzlicher Grund, weshalb sie von Frauen ferngehalten werden sollten.
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Arbeitsethik als auch Intellektualität. Die Frau wurde vom Besuch des Kaffeehauses weitgehend ausgeschlossen, schuf sich jedoch als Pendant das private Kaffeekränzchen in den eigenen vier Wänden und damit eine gleichermaßen neue Form des gesellschaftlichen Zusammenseins. Der Ausschluss weiblicher Gäste vom Kaffeehaus hat auch darin seinen Grund, dass sich Frauen im öffentlichen Raum per se allein nur zweckgebunden oder in männlicher Begleitung bewegen durften, das Verhalten einer allein flanierenden Frau wurde als unschicklich empfunden und mit dem Streben eines „Straßenmädchens“ gleich gesetzt. In das Kaffeehaus ging der Mann oftmals allein, um sich mit anderen zu treffen und an politischen Diskussionen teilzuhaben. Diese Diskussionen sollten ebenfalls von Frauenohren ferngehalten werden. „Die gesellschaftliche Definition der jeweils angemessenen Speisen und Getränke setzt sich nicht allein durch die quasi bewußte Vorstellung von der verbindlichen äußeren Gestaltung des wahrgenommenen Körpers und zumal seiner Dickleibigkeit oder Schlankheit als Norm durch; vielmehr liegt der Wahl einer bestimmten Nahrung das gesamte Körperschema, nicht zuletzt die spezifische Haltung beim Essen selbst zugrunde“ (Bourdieu 1987: 307, Hervorheb. i.O.).
Der Mann beißt machtvoll zu und isst schnell mit vollem Mund, während die Frau gelernt hat, langsam zu essen, mit spitzen Lippen hangelt sie sich von Häppchen zu Häppchen. Für die häusliche Zubereitung des Essens ist seit jeher die Frau zuständig. Mädchen lernen hier schon früh von der Mutter zu kochen, das Essen zu servieren, den Tisch zu decken und wieder abzuräumen. In Ägypten arbeiteten bis zum Einmarsch der Osmanen im Jahr 1517 Frauen als Berufsköchinnen (vgl. von Paczensky/Dünnebier 1999: 63); davon abgesehen ist der professionelle Koch bis in die Gegenwart hinein vornehmlich ein Mann, der öffentlich kocht und dies nicht aus Fürsorge tut, sondern weil er dafür bezahlt wird. Die private Alltagsküche obliegt meist der Frau, während der Mann entweder am Edelherd zu bestimmten Anlässen kocht oder – die anarchisch-aggressive Variante – Fleisch grillt, am liebsten am offenen Feuer des Holzkohlengrills un-
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ter freiem Himmel. Das Grillen stellt ebenso wie das Tranchieren eine eindeutige Männersache dar. Für die eher schonende, wenig spektakuläre Garung von Nahrungsmitteln im Kessel oder später im Kochtopf sorgt dann wiederum die Frau. Lemke (vgl. 2007b: 423) berichtet von der frühen Feministin Charlotte Perkins Gilman, die zu einer zweiten Ehe nur unter der Bedingung bereit war, dass die gemeinsam zu beziehende Wohnung über keine Küche verfüge. Anfang des 20. Jahrhunderts unternahm man in Skandinavien und in Wien den Versuch, ein innovatives Wohnprojekt umzusetzen, das 1889 von drei Amerikanerinnen in Chicago initiiert wurde und den Bedürfnissen berufstätiger Frauen in den Arbeiteroberschichten entgegenkommen sollte. Große Miethäuser mit jeweils einer einzigen zentralen Küche, in denen angestellte Köchinnen den Mieterinnen gegen Bezahlung die Arbeit des Kochens abnahmen, um den dort wohnenden Frauen ein höheres Maß an Freizeit zu verschaffen. Die Projekte scheiterten jedoch, nicht zuletzt auch deshalb, weil Konservative die damals herrschende Familienkultur – die Frau versorgt als Mutter und Haushälterin Ehemann, Kinder und Wohnung – gefährdet sahen (vgl. Klaaßen 2009). Mittlerweile hat diese strikte Regelung, die Frau sei allein für die alltägliche Essenzubereitung zuständig, zwar an Verbindlichkeit verloren, allerdings zeigen sich immer noch „many men […] happy to boast that they cannot cook“ (Coxon 1983: 173, Hervorheb. i.O.), ohne hierfür harsche Kritik zu erfahren.. Frauen, die dies von sich behaupten, werden weiterhin mit Argwohn betrachtet; eine Frau, die nicht kocht, ist – so das tradierte Verständnis – keine richtige (Haus-)Frau. Im 18. Jahrhundert entwickelte sich das Bild der liebenden Hausfrau, für die Zubereitung eines guten und geschmackvollen Essens durfte sie auf die Zuneigung des berufstätigen Gatten und der Kinder hoffen: „Liebe geht durch den Magen“ (Lemke 2007a: 129) – und dies bis heute. Die schlechte Köchin wird als Frau insgesamt in Frage gestellt, sie taugt nichts. „Fehler“ bei der Zubereitung des Essens, wie unpünktliches Servieren, (vermeintliches) Nicht-Schmecken, zu kleine Portionen, werden vor allem in Haushalten der Unterschichten und im Arbeitermilieu mit Aggression und physischen Gewaltakten gegen die
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Frau geahndet. Da Geschmack subjektiv und damit nicht vom anderen „nachprüfbar“ ist, Geschmäcker sind bekanntlich unterschiedlich, kann das Essen permanent als Auslöser für Gewalt und Kritik genutzt werden. Von Rumohr (1966: 188) schimpft angesichts des steigenden Wissensstandards von Frauen und deren ersten emanzipatorischen Ansätzen: „Den Köchinnen fehlt es vollends an aller Gründlichkeit der Bildung. Putz- und Modesucht, verliebte Narreteien und mehr dergleichen […]. Insgesamt treiben sie heute ihr Geschäft mit Unlust“. Gefühlsduseleien gehören nicht zum Kochen, das er als rationale Tätigkeit anerkannt wissen möchte: „Wer um der Kochkunst sich widmen soll, der werde frühzeitig an Ordnung, Reinlichkeit und Pünktlichkeit gewöhnt. Man verbiete ihm Romane zu lesen; will er seinen Geist bilden, so treibe er Naturwissenschaften, Geschichte, Mathematik; sie werden seinen Verstand üben, sein Gedächtnis stärken, ihm endlich in der Kochkunst anwendbare Kenntnisse zuführen“ (von Rumohr 1966: 190).
Die Frau als professionelle Köchin wird diesen Ansprüchen aus damaliger Sicht kaum genügen können. Was in einem so engen Zusammenhang mit der persönlichen Identität gesehen wird, wie das Kochen der Frau, verursacht auf Seiten des Bekochten aber auch seitens der kochenden Frau Emotionen vielerlei Art. Genossen wird von ihr – vorausgesetzt, die Frau identifiziert sich selbst mit der Handlung des Kochens, wie es die Gesellschaft an sie heranträgt – das Begehren der anderen: „Ein Löffel für die Mutti“, „Mir zuliebe nimmst du noch ein bisschen…“, „Du bist schon satt? Das kannst du mir doch nicht antun!“. Ablehnung und Kritik sind bei derart libidinöser Besetzung des Essens nur schwer erträglich. Der missratene Sonntagsbraten hat schon so manche emotionale Katastrophe entfacht – bei der Köchin. Demjenigen wird viel Liebe und Sympathie zuteil, dem es schmeckt, der die Köchin lobt und seinen Teller leer isst: „Die Mama hat ihren kleinen Jungen sehr lieb, der brav seine Karotten ißt" (Harrus-Révidi 1996: 24). Und natürlich ist dies auch
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übertragbar auf das Essverhalten des Haustieres. „Frißt nicht, gibt’s nicht“, lautet der beruhigende Titel einer Rezeptsammlung von Pils (2007) für den Hund, der beide, den Vierbeiner und (vor allem) das Frauchen zufrieden stellen soll. Längst nicht nur bei dem etablierten Convenience-Produkt „Miracoli“ verwendet die Werbung den Aspekt der libidinösen Identifikation mit dem gereichten Essen. Als besondere Auszeichnung, meist von männlicher Seite verliehen, gilt der Ausspruch „wie bei Muttern“, wenn es geschmeckt hat. Vertraute Speisen, Heimat und Heimeligkeit – alle Topoi der Zuwendung in sicherer Umgebung werden aufgerufen. Dies zu erreichen, fällt keiner Schwiegertochter leicht; wie befriedigend, wenn es doch einmal gelingt. Fertiggerichte mit dem Namenszusatz „nach Großmutters Art“, „nach Hausfrauen Art“ oder „nach Originalrezept“ verheißen nicht nur die Qualität und natürliche Kost vergangener Zeiten, sie versprechen zudem eine liebevolle, sorgfältige Zubereitung, Sicherheit und Vertrauen. Das rasche Erwärmen in der Mikrowelle dürfte jedem Mann gelingen, auch ganz ohne Zutun einer kochenden Frau.
3.6.1 Essen und Sexualität Wird die symbolische Komponente des Essens zwischen den Geschlechtern angesprochen, liegt der Gedanke an die Beziehung zwischen Sexualität und Essen, die gleichermaßen auch einen medizinischen Aspekt besitzt, nahe. Sexualität und Essen werden bereits auf einer physischen Ebene miteinander symbolisch verbunden bzw. verglichen. In literarischen Texten des 18. Jahrhunderts beispielsweise wird die weibliche Vagina als Mund bezeichnet (vgl. Kleinspehn 1987: 178), und man denke weiterhin an den auch in Gegenwart gebräuchlichen medizinischen Ausdruck „Muttermund“. Heute zeigen sich visuelle Allegorien ebenfalls in der Lebensmittelwerbung, wenn etwa der schöne rote Frauenmund in hingebungsvoller Verzückung das harte Eis am Stiel umschließt.
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Gemeinsames Essen dient in funktionaler Hinsicht nicht ausschließlich zum Abschließen von Geschäften („Arbeitsessen“), zur Markierung besonderer Ereignisse („Festessen“, „Leichenschmaus“), sondern ebenso als Rahmung einer Kennenlernsituation und als Vorbereitung auf einen möglicherweise nachfolgenden sexuellen Akt: „In den meisten Repertoires der Verführung in unserer modernen Welt bildet das Essengehen mit Alkoholgenuss einen selbstverständlichen Auftakt. Dabei präsentieren sich die Herren den Damen als mögliche Partner durch den finanziellen Einsatz, die Kennerschaft von Ambiente und Wein, von neuartigen Speisen im Idealfall von Mehrsterneoderhaubenköchen. Der Tisch wird zu einer Bühne für den eigenen Charme und die Bildung“ (Zaunschirm 2008: 21).
Im Mittelalter wurden erotische Mahlzeiten in die Badestube verlegt, die öffentlichen Badehäuser besaßen oft den Ruf eines Bordells. Auch hier dürfte das Essen den Anfang für weitere Körperlichkeiten getan haben. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts aß man gern ohne störendes Personal, dessen Zutritt durch Tischglocken oder Glockenzüge geregelt und kontrolliert werden konnte. Chambres separées in Wirtshäusern und Restaurants wandelten sich zu Venustempeln, wie Ottomeyer (vgl. 1993a: 215) resümiert. Was das angestrebte Ziel nach der Mahlzeit betrifft, gelten seit Jahrtausenden und in wohl allen Kulturen spezifische Nahrungsmittel als potenzfördernd und andere als die – meist ist die männliche Potenz gemeint – sexuelle Leistungsfähigkeit beeinträchtigend. Tatsächlich beruht die Wirkung von Aphrodisiaka überwiegend auf magischen Zuweisungen. Hindus glauben an die Fähigkeit von Zwiebeln und zwiebelartigen Pflanzen, sexuelle Begierden auszulösen; seit der Antike gelten zahlreiche Kräuter und vor allem schwarze Gewürze als Mittel zur Steigerung der sexuellen Anziehungskraft – dies sowohl bei Frauen als auch bei Männern. Mit dem Verzehr geraspelter Nashornhörner und mit Hahnenkämmen versucht der asiatische Mann seine Potenz zu retten, zu pflegen oder zu steigern. Auch hierzulande werden einige Tipps gern übernommen, allem rational-wissenschaftlichen
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Weltglauben zum Trotz. Sellerie, Spargel und Vanille für den Mann, Auster, Pfirsich und Mango für die Frau sollen nach aktuell bestehender Vorstellung sexuell stimulierend wirken. Die interpretierte Ähnlichkeit des Aussehens der Pflanze oder Frucht mit dem jeweiligen Geschlecht scheint bei der Wirkungszuweisung eine große Rolle zu spielen, ebenso das Attribut der sexuellen Kraft, das man bestimmten Tieren unterstellt und dass man bei der Einverleibung eines Teils von ihnen auf sich selbst zu übertragen hofft bzw. glaubt. Offenbar verhält es sich mit diesen Zuweisungen ähnlich wie mit den Empfehlungen bestimmter Speisen und Nahrungsmittel für ein gesundes, langes Leben: Wenn die Leidenschaft kocht, verdankt sich dies sicher einer Kombination vieler individueller Um- und Zustände.
4 Die Schokolade Ein Nahrungsmittel verdient es, hervorgehobene Betrachtung zu erfahren, weil es die zuvor dargestellten Aspekte des Essens mit all ihren symbolischen Bezügen par excellence verkörpert: die Schokolade. Einerseits wird sie der Kategorie der Genussmittel zugeordnet, andererseits besitzt sie hochwertige Nährstoffe, die sie als Nahrungsmittel qualifizieren. Ihre kulturelle Verwendung zeugt jedoch eher von dem eines Genussmittels. Hengartner/Merki (1999: 8) definieren das Genussmittel als „soziokulturelles Konstrukt“, und in der Tat liegt es an unserem Umgang mit und damit an unserer Bedeutungszuschreibung an ein Lebensmittel, ob es den Stellenwert eines Grundnahrungsmittels oder eines eher exklusiven Genussmittels erhält. Die typischen Darreichungs- und Konsumformen der Schokolade, „die kleinen und großen Zeremonien des Zubereitens und des Zu-Sich-Nehmens“ (Hengartner/Merki 1999: 7) weisen auf Überfluss und Muße hin – eben auf Genießen. Genussmittel stellen als Zeichen für Wohlstand zumindest einen gewissen sozialen Status des Konsumenten dar. Die Schokolade war neben dem Bohnenkaffee und der Banane das begehrte Symbol für einen gehobenen Lebensstandard aus Sicht der diese Nahrungsmittel entbehrenden ehemaligen DDR-Bürger (vgl. Hirschfelder 2005: 241) und besaß damit ein hohes Prestige. In der protestantisch-ethischen Kultur im Sinne Max Webers, in der Disziplin, Ordnung und Vernunft das soziale Geschehen beherrschen und lenken, finden Genussmittel nicht nur Zustimmung, sondern ihr Verzehr wird oftmals mit allerlei Auflagen belegt, sanktioniert oder
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misstrauisch beobachtet 52 . Bezogen auf die Schokolade führt dies zu Einstellungen und selbstbeobachtenden Haltungen wie „Dies Stückchen Schokolade gönn’ ich mir jetzt, das habe ich mir verdient“ und zu Erziehungsritualen wie „Jetzt, wo du mit den Schularbeiten fertig bist, bekommst du auch deine Schokolade“. Und überhaupt: Den Schokoladenpudding gibt es erst am Ende der Mahlzeit, wenn das „Wesentliche“, der nahrhafte und zum Leben notwendige Hauptgang gegessen wurde. Wer ständig, ohne Selbstbeherrschung und Selbstkontrolle, Genussmittel zu sich nimmt, dessen Sozialprestige sinkt. Völlerei ist in der westlichen Esskultur schon seit langem schlecht beleumundet. Wer allerdings ab und zu und somit exklusiv genießt, gilt als Gourmet und besitzt heute eine hohe soziale Attraktivität. In der rund fünfhundertjährigen europäischen Geschichte der Schokolade spiegeln sich gesellschaftliche Haltungen und Moden, die wir im Folgenden in steter Rückbesinnung auf die in Teil 3 erörterten symbolischen Ausprägungen von Nahrungsmitteln darstellen möchten. F
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4.1 H ERKUNFT UND P RODUKTION DER S CHOKOLADE Schokolade ist ein Kulturprodukt, das in der Natur, so wie es vom Menschen konsumiert wird, nicht vorkommt. Es braucht etliche Verarbeitungsschritte, um aus der Kakaobohne Schokolade, entweder in flüssiger oder in fester Form, zu erzeugen. Die Herstellung von Schokolade wird von ambitionierten Autoren der Innung oftmals als „Kunst“ bezeichnet.
52 Der Raucher wird seit kurzem europaweit vor die Türen öffentlicher Lokale und Restaurants verbannt – ein an sich drastisches Vorgehen, das aufgrund der dargestellten ethischen Haltung und des modernen Strebens nach Gesundheit gelungen ist.
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Der Kakaobaum ist neben Mais, Kürbissen, Kartoffeln, Tomaten und Bohnen eine der Kulturpflanzen, die Europa den Indianern, der indigenen Bevölkerung des amerikanischen Kontinents verdankt, er gedeiht ausschließlich bei einer mittleren Jahrestemperatur von 24 bis 28 Grad Celsius, womit vorwiegend Anbaugebiete zwischen einer Breite von acht Grad nördlich und südlich des Äquators in Frage kommen. Der empfindliche Kakaobaum bevorzugt also tropisches Klima, er mag keine plötzlichen drastischen Temperaturschwankungen und keine direkte Sonnenbestrahlung, er gedeiht im Schatten hoher Bäume in vierhundert bis siebenhundert Metern Höhe. Durch die Behandlung mit Düngern und Hormonen ist mittlerweile auch eine Pflanzung in praller Sonne möglich, wie zum Beispiel auf Hawaii. Die ältesten Plantagen befinden sich in Lateinamerika und in Zentralafrika; an der Spitze der Kakaolieferanten stehen die Länder Brasilien, Elfenbeinküste und Malaysia, wobei in Südamerika der Ertrag mit 35 Früchten pro Baum und Ernte höher ist als in Afrika, wo eine Ernte zwanzig Früchte einbringt. Eine Frucht enthält zwanzig bis sechzig Kakaobohnen, zwanzig frische Früchte ergeben ein Kilogramm getrockneter Kakaobohnen. Die Olmeken (ca. 1500 bis 400 v. Chr.) gelten als die ersten Züchter der Kakaopflanze an der mexikanischen Golfküste (vgl. Coe/Coe 1997: 42). Von den Azteken ist der Name „cacahuacuanhuitl“, auch „cacahuaquahuitl“ (Bailleux et al. 1996: 66), für den Kakaobaum überliefert, der sich aus „cacahuatl“ für „Kakao“ und „cuanhuitl“ für „Baum“ zusammensetzt (vgl. Coe/Coe 1997: 99). Der schwedische Naturforscher Carl von Linné (1707-1778), auf den die Nomenklatur unserer Pflanzen und Lebewesen zurückgeht, verlieh dem Kakaobaum 1753 53 den biologischen Namen „Theobroma cacao“ – übersetzt die „Speise der Götter“. Bereits im Jahr 1684 begeistert sich der Pariser Arzt Buchet in seiner Dissertation, die Schokolade sei „weit mehr würdig als Nektar und Ambrosia die Speise der Götter zu sein“ (zit.n. Plötz 1986b: 15, Hervorheb. C.S.). Zuvor waren offensichtlich F
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53 Andere Quellen als Coe/Coe (1997) nennen das Jahr 1769 (vgl. Plötz 1986b, 16) oder 1735 (vgl. Blum-Spicker 1986, 7).
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zwei wissenschaftliche Bezeichnungen für den Kakaobaum geläufig: „Amoenitates academicae“ (Plötz 1986b: 16) und „Arbora cacavifera americana“ (Funke 1986: 20). Biologisch gehört der Kakaobaum zur Familie der Sterkuliengewächse (Sterculéaceae), die Gattung Theobroma besteht aus 22 Arten, die bekannteste ist der Theobroma cacao. Der Baum wird in der Plantage vier bis acht Meter hoch, in wilder Natur sogar bis zu fünfzehn Metern, wobei bereits in einer Höhe von einem Meter die Verzweigung beginnt. Er trägt glänzende, immergrüne, lorbeerartige sehr große Blätter und trägt im seinem fünften Lebensjahr erstmalig Früchte. Die dreihundert bis fünfhundert Gramm schweren oval bis länglichen Beeren wachsen direkt am Stamm oder an stärkeren Ästen, die zwanzig bis sechzig Kakaosamen bzw. -bohnen befinden sich innen in der Pulpa der Beere, einem süßen Fruchtmus. Die Nutzungsdauer des Kakaobaums beträgt etwa sechzig Jahre, der Baum selbst kann aber noch älter werden. In Regionen mit Regenzeiten wird zweimal pro Jahr geerntet, sonst ist eine ganzjährige Ernte möglich. Die Früchte reifen nicht gleichzeitig heran, auf den Plantagen befruchtet man den Baum künstlich, in der Natur besorgen dies Mücken. Man erntet per Hand vom Boden aus, indem die Beeren mit langen Stangen, deren Spitze als Messer fungiert, vom Stamm oder von den Ästen gelöst werden. Nach der Ernte beginnt die mindestens zwei bis drei Tage andauernde Fermentation. Je mehr Zeit dieser Gärungsprozess bekommt, bei dem die Früchte an der Luft auf dem Boden liegend vor sich hin „rotten“, umso mehr Aminosäuren und Peptide können sich im Inneren der Bohnen bilden, die sich bei der Röstung zu Aromastoffen entwickeln. Während der Fermentation läuft das flüssig werdende Fruchtfleisch ab, die Samen verfärben sich dunkel und ihr Feuchtigkeitsgehalt sinkt von sechzig auf idealerweise acht Prozent. Vollkommen fermentierte Bohnen besitzen in ihrem Inneren eine braune Farbe – dies sind die hochwertigsten, wie die der Sorten Criollo und Trinitario –, die Bohnen des Forasterobaumes nehmen eine rotbraune Farbe an. Die Kakaobohnen von mittlerer und unterer Qualität färben sich purpurrot. Wenn von nackten Füßen beim „Kakaotanz“ die Bohnen poliert werden, entsteht der Glanz der Kakaobohne.
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Nach der Fermentation und Trocknung rösten die Bohnen siebzig bis 115 Minuten, für die Weiterverarbeitung zu Schokolade bei einer Temperatur von 99 bis 104 Grad Celsius, für die Weiterverarbeitung zu Kakaopulver bei 116 bis 121 Grad Celsius. Die dünne Schale wird im Anschluss entfernt („Worfeln“), dann beginnt die Mahlung der Bohnen zu Pulver. Seit mindestens dreihundert Jahren ist dieser erste Verarbeitungsprozess unverändert geblieben. Maya und Azteken kochten das Pulver mit Wasser und würzten den Trank mit Pfeffer, Chili und Vanille. Da der Kakaobaum in der indigenen Bevölkerung als heilig galt, nahmen sie das Getränk im Kontext zeremonieller religiöser und weltlicher Feierlichkeiten zu sich. Überdies besaßen sie eine Vielzahl von Rezepturen; das Pulver wurde zusammen mit Mais und Chili zu Kuchen verarbeitet, der zur Stärkung der Soldaten diente und getrocknet monatelang haltbar war, oder als Brei zubereitet. Als Opfergabe bei religiösen Riten oder als Grabbeigabe verwendet zeigt sich der soziale Wert der Kakaobohne und ihrer Produkte. Das ursprüngliche Getränk der Götter – so auch die altmexikanische Vorstellung – wurde den Menschen vom Gott der Winde, Quetzalcoatl, geschenkt. Der Schokoladen- oder Kakaotrunk stellte also bereits viele Jahrhunderte vor seiner Einführung nach Europa ein besonderes, göttliches und daher nicht für jedermann zugängliches Lebensmittel dar. Coe/Coe (vgl. 1997: 76) vergleichen seine prähistorische Funktion mit der des Champagners heutzutage. „Die Maya waren es, die der Alten Welt vormachten, wie man Schokolade trinkt, und von ihnen haben wir auch das Wort ‚Kakao‘“ (Coe/Coe 1997: 81). Sie beschrifteten mit dem Wort „cacao“ Tongefäße; die Azteken, die das Kakaogetränk ihrem Landesgetränk „octli“, einem alkoholhaltigen Saft aus Agaven, vorzogen, nannten ihn „cacahuatl“ (vgl. Bailleux et al. 1996: 66). Das Wort „Schokolade“ stammt von dem Maya-Wort „xoco-atl“ (vgl. ebd.), wobei „atl“ in der Übersetzung „Wasser“ heißt. In der Sprache der Azteken, „Nahuatl“, deutet allein die Existenz des Wortes „chokolai“ für das gemeinsame Schokoladetrinken auf den sozialen Charakter des Schokoladenkonsums hin und zeigt so, dass die Schokolade ein soziales Getränk war (vgl. Borkowska 2003: 102). Quintern (vgl. 2002: 15)
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sieht im Maya-Verb „chocola’j“ (ebenfalls in der Bedeutung von „gemeinsam Schokolade trinken“) den etymologischen Ursprung des Wortes „Schokolade“. Bereits vor der Kolonisation fanden stets Kämpfe um die Herrschaft über die Kakaoanbaugebiete statt. Die Kakaobohne galt zur Zeit der Maya (etwa 250-950 n.Chr.) in ganz Mittelamerika als Zahlungsmittel, die Abgabenentrichtung der besiegten Völker wurde ebenfalls in Kakaobohnen geleistet. Bis Mitte des 19. Jahrhunderts wurden Kakaobohnen im südlichen Mexiko als Tauschmittel benutzt, in Guatemala gar bis in die 1950er Jahre hinein.
4.2 D IE S CHOKOLADE NACH E UROPA
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Hernán Cortés brach im Jahr 1519 auf, um in die „neue Welt“ zu fahren. 1528 soll er die ersten Kakaobohnen nach Europa gebracht haben, 1585 folgte die erste Schiffsladung Kakaopulver von Veracruz nach Sevilla. Bereits 1502, so berichten Coe/Coe (vgl. 1997: 313) soll Kolumbus mit Mayas zusammengetroffen sein, die mit Kakao Handel trieben – offensichtlich ahnte er nichts vom großen Wert der Ware. Tatsächlich mussten sich die in Lateinamerika eingefallenen Europäer erst an das Schokoladetrinken gewöhnen; der Mailänder Historiker Girolamo Benzoni hielt sich von 1542 bis 1556 in Mittelamerika auf, er schreibt: […] habe ich solches Getranck wol müssen lernen trincken“ (zit.n. Plötz 1986b: 15). Cortés tat es den Azteken gleich, indem er auch seinen Soldaten den Trunk als Kraftspender verabreichte. Bis 1728 behielten die Spanier das Handelsmonopol für Kakao, die Anbaugebiete waren als koloniale Territorien annektiert, so dass die Belieferung des europäischen Marktes den neuen Herren keine Schwierigkeiten bereitete. Lange Zeit wurde das Schokoladengetränk wie in seinem Ursprungsland zubereitet, allerdings ersetzte man meist die scharfen Gewürze durch Zucker, Anis oder Zimt, das heiße Wasser
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durch Milch. Wer die Schokolade als Getränk in Spanien bekannt gemacht hat, scheint offenbar nicht eindeutig belegbar. Cortés, der das Material heranschaffte, könnte den Königshof ebenso über die Zubereitungsweise informiert haben wie eine Gruppe Dominikanermönche, die 1544 zusammen mit adligen Maya nach Spanien reiste. Zunächst war die Schokolade, wie bei den Azteken und Maya, den Adligen, der gesellschaftlichen Elite vorbehalten, doch rasch verbreitete sich das Getränk in der gesamten spanischen Bevölkerung, was Jesuitenpater José de Acosta (zit.n. Coe/Coe 1997: 137) dazu animierte, spanische Männer und vor allem die Frauen als „süchtig nach dieser schwarzen Schokolade“ zu bezeichnen. Auch der Weg der Schokolade in das Nachbarland Frankreich ist nicht eindeutig geklärt. Anfang des 17. Jahrhunderts sollen aus Spanien vertriebene Juden die Schokolade dort eingeführt haben, wo zuerst Mönche von dem Getränk erfahren haben sollen (vgl. Tornius 1931: 22). Geläufig ist ebenfalls die Annahme, Anna von Österreich (16011666), seit 1615 mit Franzosenkönig Ludwig XIII. verheiratet, habe als Tochter König Philipps III. von Spanien, die Schokolade aus ihrer Heimat an den französischen Hof gebracht. Aber erst ihr Sohn, Sonnenkönig Ludwig XIV., verhalf dem Getränk zu sozialem Prestige und zum Siegeszug in der französischen Aristokratie. Die Schokolade wird zum „Statussymbol wie die französische Sprache, die Tabatiere, der Fächer“ (Schivelbusch 1983: 99). Die Schokoladengesellschaften am Königshof, die „chocolat du roi“ wurden zum prestigeträchtigen Ritual des Ancien Régime, die Adligen bemühten sich nach Kräften um eine Einladung. Die Schokolade avanciert zum Symbol des Elitären, des Besonderen, und wurde zu einem wesentlichen Mittel der sozialen Distinktion. Das Getränk wurde zeremoniell zubereitet, langsam verzehrt, meist zum Frühstück auch in liegender Position im Bett oder in den Tag hineinträumend in Morgenrock und Pantoffeln. Der arbeitende Mensch war weit davon entfernt, sich allein diese Muße erlauben zu können. Später sollte der Kaffee, ein weiteres Kolonialgetränk, das gleichzeitig mit dem Tee Eingang in die europäische Esskultur fand, als Getränk des arbeitenden Bürgertums dessen Bedürfnisse befriedi-
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gen. Der wach machende, zu Aktivitäten anregende Kaffee symbolisierte mit diesen Eigenschaften die Ideale des Protestantismus, während das Luxusgetränk Schokolade die Lebensweise des Adels und – aus Spanien kommend – des Katholizismus verkörperte. Schivelbusch (1983: 96) grenzt die sinnliche Schokolade vom anregenden Kaffee ab: „Nennt man den Kaffee ein protestantisch-nördliches Getränk, so muß man die Schokolade als sein katholisch-südliches Gegenstück bezeichnen“. In Kreisen der Bohème, der Halbwelt und auch in Bordellen wurde die Schokolade nach dem Vorbild der wohlhabenden Genießer konsumiert, man wollte auf diese Weise teilhaben an dem lasziven Leben des Nichtstuns. Das Statussymbol „Schokolade“ verhalf folglich zur Inszenierung der eigenen Person: Ausgestattet mit speziellem Geschirr und womöglich noch bedient von einem echten Mohrenknaben wurde der gesellschaftliche Stand und der Besitz eines – heute würde man sagen – kultivierten gehobenen Lebensstils sich selbst und anderen gegenüber versichert und unter Beweis gestellt. Die Schokolade ließ neue Geschirrformen entstehen: Hohe Tassen mit ausschwingendem Rand, einem Fuß und oftmals zwei Henkeln, dazu eine Untertasse („mancerina“). Im Rokoko, als die im Bett verzehrte Schokolade in Mode kam, wurde die Tasse auf ein Tablett mit dem Umfang des Tassenfußes entsprechender Einbuchtung gesetzt. Die „trembleuse“ verhinderte ein Verrutschen. Die „chocolatière“, die Schokoladenkanne, wurde in Frankreich Ende des 17. Jahrhunderts entwickelt. Sie besaß einen horizontal angebrachten seitlichen Griff; aus einer kleinen Öffnung des Deckels ragte der hölzerne Quirl („moulinet“) heraus, mit dem das stark fetthaltige Getränk gerührt wurde. Durch das ständige Verquirlen entstand der begehrte Schaum. Vor der Erfindung der chocolatière goss man die Schokolade aus einer gewissen Höhe von einer Kanne in die andere. Schokoladenstücke und Pralinenkonfekt verdienen auch heute noch einen gewissen materiellen Rahmen bei Tisch. Angerichtet auf feinen Porzellantellerchen oder auf der Silberetagère erhöht sich der sinnliche Genuss um ein Vielfaches, zudem findet damit immer noch eine Demonstration des Besonderen und Luxuriösen statt.
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Ausgehend von Spanien und Portugal avancierte die Schokolade überwiegend in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts in Frankreich zum Luxusgetränk par excellence, wurde aber auch in Italien, Flandern und England heiß begehrt. Vor allem in Spanien und Italien entstanden in dieser Zeit viele öffentliche Schokoladenstuben, in England gab es fast ebenso viele „chocolat houses“ wie Kaffeehäuser: „Das vornehme Publikum bevorzugte die ersteren [die Schokoladenhäuser], weil hier ein besserer Ton herrschte als in den meist übel berüchtigten Kaffeehäusern, die eine anständige Dame nicht besuchen durfte. Es mag sein, daß die Schokolade weniger die Gemüter aufregte und erhitzte als ihre arabische Schwester und daß infolgedessen ihr Einfluß gesitteter war“ (Tornius 1931: 24).
Anders als in Frankreich galt die Schokolade in England von Beginn ihrer Einführung an nicht als aristokratisches, sondern als ein Getränk für jedermann, der es sich leisten konnte. Jedoch auch hier erhöhte der Besuch eines Schokoladenhauses das eigene Sozialprestige, man ging ebenfalls hin, um gesehen zu werden. Die neuen Kolonialprodukte korrespondierten mit dem gesellschaftlichen Interesse an der orientalischen Welt, dem aufkommenden Orientalismus. Das geheimnisumwobene Unbekannte, von dem der normale Bürger nur Andeutungen von Experten erhielt, faszinierte und wurde durch das Getränk der Schokolade plötzlich gegenwärtig. Kreuzfahrer und Missionare berichteten von fremden Welten mit fremdartigen Tieren, Menschen, Landschaften und Sitten. Mit dem Konsum der neuen Kolonialgetränke Schokolade, Kaffee und Tee und ihrer entsprechenden Inszenierung mittels Geschirr und Ambiente – man denke etwa an die Chinesenzimmer in Schlössern und herrschaftlichen Häusern – holte sich der Wohlhabende das Fremde ins Heim und gestaltete es zeremoniell und repräsentativ, um die Illusion einer gewissen Authentizität zu erreichen. Die neuen Getränke, ebenso wie Zucker und Tabak, lösten die früheren Prestigeobjekte wie Gewürze oder das Salzfass endgültig ab und übernahmen deren sozialen Werte-
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status. Sie haben in Europa neuartige, die Ess- und Trinkkultur nachhaltig bestimmende Verhaltensweisen geprägt. In Deutschland fand die Schokolade erst relativ spät Eingang in die Esskultur. Tornius (vgl. 1931: 24) begründet dies mit einem angesichts des Dreißigjährigen Krieges verarmten Volk. Tatsächlich aber verfügte das dezentral regierte Deutschland über keinen dominierenden Adelshof, der als ein für alle sichtbares Vorbild neue Moden ausprägen konnte, zudem fehlten die städtischen Metropolen. Das gesellschaftliche und politische Klima war weitgehend von Ignoranz und Konservatismus bestimmt, Fremdem wurde eher mit Misstrauen begegnet oder als Unbekanntes gleich abgelehnt. Mitte des 17. Jahrhunderts, als sich im europäischen Umland die Eliten und solche Personen, die sich zur Elite zugehörig fühlen wollten, am heißen Schokoladengetränk labten, wurde die Schokolade in Deutschland als allgemeines Stärkungsmittel ausschließlich in Apotheken unter den Namen „Scocolata“ oder „Succolata indica“ verkauft. Die von Friedrich I. im Zuge des Merkantilismus erhobene Kakaosteuer bescherte der Schokolade ohnehin kaum erschwingliche Preise. Sein Nachfolger verbot Mitte des 18. Jahrhunderts den Import von Kakao bzw. Schokolade, der Chemiker Marggraf sollte ein Ersatzgetränk kreieren. Sein Lindenblüten-Kakao hat jedoch nur wenig Anklang gefunden. Friedrich II. und sein Berater Voltaire waren allerdings selbst der Schokolade keineswegs abgeneigt, sie bevorzugten die aus Kakaobutter hergestellte weiße Schokolade. Im Nahen Osten gelang es der Schokolade allerdings nicht, sich durchzusetzen, man blieb bis heute überwiegend dem Kaffee treu.
4.3 S CHOKOLADE
UND
R ELIGION
Im Europa der lateinamerikanischen Kolonialherren existierte, was den Zusammenhang zwischen Religion und Essen betrifft, eine feste Ordnung, einzelne Speisen besaßen eine religiöse Bedeutung, sie waren etwa mit speziellen Feiertagen eng verbunden (vgl. 3. 1). Viele exoti-
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sche Mitbringsel der spanischen Konquistadoren, zum Beispiel die Kartoffel oder die Tomate, wurden von den heimischen Religionsvertretern scharf abgelehnt. Ihr Verzehr, so wurde verkündet, führe zu Lepra, Gicht, Bleichsucht, Sünde und Schwachsinn (vgl. Lohmann 1999: 37) – verursache folglich körperliche und spirituelle Verderbnis. Die Schokolade besaß schon in ihrer Heimat eine ausgeprägte religiöse Bedeutung: Die Schokolade bzw. Kakaobohnen oder -pulver waren wichtiger Bestandteil religiöser Zeremonien der indigenen Bevölkerung Mittel- und Südamerikas, der Kakaobaum galt ihr als heilig. Die Schokolade als nichtfleischliche Speise wurde nicht ohne Warnungen in die auch religiös geprägte Esskultur Europas integriert. Sie erregte zunächst den Zorn des Klerus, weil Spanierinnen in Lateinamerika auch während des Gottesdienstes nicht auf das Trinken von Schokolade verzichten mochten und sich letztlich durchsetzen konnten. Einerseits deutet das Verhalten der Frauen auf die Tendenz zum Genießen und zur Völlerei hin, andererseits befahlen als Reaktion darauf Mediziner und Kirchenfürsten die Mäßigung des Essverhaltens. Die Schrift des Arztes Daniel Duncan (1649-1735) gilt als Standardwerk des Aufrufs zur Mäßigung und Züchtigung der Triebe, auch der Völlerei. Die Schokolade erregte weiterhin die religiösen Gemüter in der Frage darum, ob sie als Nahrungsmittel zur Fastenzeit gestattet sei. Kardinal Francesco Maria Brancaccio erklärte im Jahr 1664 die Schokolade nach dem Postulat „Flüssiges bricht Fasten nicht“ 54 (von Engelhardt 2001: 58) für fastentauglich. Auch wenn sich nicht alle Klöster dazu entschließen konnten, den Verzehr von Schokolade während der Fastenzeit zuzulassen, war der Klerus grundsätzlich von der Schokolade begeistert: Mazarin war bekannt für seine Neigung zum neuen Modegetränk (vgl. Bailleux et al. 1996: 84), und für das Konklave zur Wahl Benedict XIV. im Jahr 1740 wurden dreißig Pfund Schokolade zur Erfrischung der Kardinäle in die Sixtinische Kapelle gebracht (vgl. F
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54 Im Original: „Liquidum non frangit jenunum“. Menne (vgl. 1989: 20) datiert die Schrift des Kardinals „Laurentius Brancati“ im Übrigen auf das Jahr 1655.
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Borkowska 2003: 105). Bereits zuvor, 1724, hat der Mediziner Johannes Franz Rauch das Schokoladetrinken der Mönche verurteilt, „weil es die Sinnlichkeit zu sehr errege“ (vgl. von Engelhardt 2001: 58) 55 . Der Klerus protestierte. F
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D IE S CHOKOLADE ALS A PHRODISIAKUM UND L EBENSELIXIER
Die Schokolade gilt, und dies seit Beginn ihrer Einführung nach Europa, als sinnliches Getränk. Gesüßt mit Zucker, gewürzt mit duftenden Gewürzen wie Zimt oder Anis und serviert in feinem Porzellan regt sie nicht nur den Geschmackssinn, sondern ebenso den olfaktorischen und visuellen Sinn an. Zum Frühstück wird sie noch im Bett zu sich genommen; etliche zeitgenössische Abbildungen zeigen erotisierende Situationen im Boudoir, die Schokolade wird zum Begleiter erotischer bzw. sexueller Handlungen. Die Stunde, in der man Schokolade trank, wurde ein der Liebe zugewandtes Ereignis (vgl. Bailleux et al. 1996: 96), und bezeichnenderweise kennt man Marquis de Sade als einen Liebhaber der Schokolade. Gleiche Vorliebe für Schokolade wird von Goethe und Schiller sowie von dem Engländer Pepys berichtet (vgl. Plötz 1986a: 3; Borkowska 2003: 100). Die Symbolik der Sinnlichkeit, des Genießens und damit der Körperlichkeit haftet der Schokolade folglich schon sehr lange an. Nicht nur die kulturelle Konnotation der Schokolade weist sie als sinnliches Nahrungsmittel aus, der Konsum von Schokolade soll tatsächlich eine potenzsteigernde Wirkung besitzen, woran man(n) bis ins späte 18. Jahrhundert glaubte. Die Schokolade genoss überdies im 18. Jahrhundert den Ruf, über die Qualität eines Lebenselixiers zu verfügen, weil
55 Noch 1905 warnt ein britischer Journalist vor Dingen, darunter die Schokolade, „die die Leidenschaft schüren, mit denen sich zu befassen ich für sehr gefährlich halte“ (zit. n. McFadden/France 1997: 60).
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sie eben zur „Venus-Lust“ verhilft und den Geist stärkt (vgl. o. A. 1994: 15). Rätsch (vgl. 2002: 93) spricht von Darstellungen von Affen mit erigiertem Penis in der Mayakunst, die Tabak rauchen und Kakaofrüchte in den Händen halten. Wie dem auch sei, Schokolade gilt heute, in ihrer überwiegend festen Form, unverändert als sinnliche Speise. Als Genussmittel ist die Schokolade ein Lebensmittel, das nicht primär die Nährwertbedürfnisse des Körpers befriedigt, sondern Emotionen des Wohlgefühls und des intensiven positiven Geschmackserlebnisses auslöst. Gniech (2002: 101) beschreibt das sensorische Genussprofil von Schokolade: „Sowohl aktive als auch passive orale Bedürfnisse werden befriedigt. Im Mund findet ein plastisches Erlebnis statt: Die harte meist eckige Kontur wird zur geschmeidigen Süße. Schokolade ist durch die bipolare spannungsgeladene Reizung der Sinne keine normale Süßigkeit, sondern verschafft außergewöhnliche Sinnlichkeit“.
Da das Genussmittel Schokolade keinen im Vordergrund stehenden rationalen oder funktionalen Wert besitzt, ist sie für die Besetzung mit symbolischen Werten besonders anfällig bzw. geeignet. Schokolade als Liebesersatz oder als Präsent – ein Beweis der Liebe – erweist sich als „Träger emotionaler Sympathiebotschaften“ (Schönberger/Hänel 2008: 13). Werbung und Produktnamen unterstützen diesen für sie lohnenswerten, da wirtschaftlich ausgezeichnet nutzbaren Umstand und fördern dieses Image: Seit 1922 verkauft der italienische Schokoladenfabrikant Perugina mit großem Erfolg die in Silberpapier eingewickelten Schokoladenpralinen „Baci“ (zu Deutsch: „Küsse“). In der Verpackung suchten Verliebte nach eingelegten Liebesbotschaften; die Idee initiierte seinerzeit den Ruhm der Pralinen. In den USA sind „Hershey’s Kisses“ die meist verkauften industriell gefertigten Schokoladenbonbons (vgl. Bailleux et al. 1996: 160). Mittlerweile steht Deutschland in nichts mehr nach: Hier gibt es die „Küsschen“ der Firma Ferrero. Schokoladenhohlformen werden überdies gern in Gestalt von Glückssymbolen wie Marienkäfern, Hufeisen oder vierblättrigen
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Kleeblättern verschenkt. Schokolade soll in jedem Fall Freude und Wohlbefinden vermitteln, das Leben emotional und damit an sich gleichermaßen psychisch und physisch bereichern.
4.5 S CHOKOLADE
UND
G ESUNDHEIT
Heute hat man die Inhaltsstoffe der Schokolade entschlüsselt. Eine Kakaobohne enthält etwa 54 Prozent Fett bzw. Kakaobutter, 11,5 Prozent Eiweiß, 9,9 Prozent Zellulose, 7,5 Prozent Stärke und Pentosane, das sind Gerüstsubstanzen und Schleime, 6 Prozent Gerbstoffe und farbgebende Bestandteile, 5 Prozent Wasser, 2,6 Prozent Mineralstoffe und Salze, 1,2 Prozent Theobromin, 1 Prozent Zuckerarten und 0,2 Prozent Koffein (vgl. Menne 1989: 12). 1841 entdeckte der russische Chemiker Alexander Woskrensky (1809-1880) die Substanz Theobromin, wie das Koffein zur Gruppe der Alkaloiden gehörend, die in gemäßigter Weise stimulierend auf das zentrale Nervensystem wirken. Je nach Stärke der Zubereitung finden sich in einer Tasse Kakao höchstens 25 Mikrogramm Koffein, in einer Tasse Kaffee hingegen fünfzig bis 175 Mikrogramm. Hundert Gramm dunkle Schokolade enthalten 0,5 bis 0,6 Gramm Theobromin und 0,07 Gramm des stärkeren Koffeins. In den 1990er Jahren entdeckte man weitere Wirksubstanzen: Phenyläthylamin und Salsonilol, die Lust- und Glücksgefühle anregen, sowie ebenso winzige Mengen von Anandamid, das Euphorie auslöst und auch in Marihuana enthalten ist. Der Bestandteil Kohlenhydrate erklärt sich aus der Zuckerzusetzung zur Schokolade, wodurch wiederum der Botenstoff Serotonin den Glückshormonspiegel im Hirn anhebt. McFadden/France (1997: 58) glauben an die Fähigkeit der Schokolade, beim Esser für eine spürbar gute Stimmung zu sorgen; „es ist zweifellos die Phenyläthylaminzufuhr, die beim Schokolade essen jenes berauschende Gefühl hervorruft“. Schmale (vgl. 2002: 90) betrachtet die antidepressive Wirkung der Schokolade, die ihr bis heute unterstellt wird, mit Skepsis. Eine Person mit einem Körpergewicht von sechzig Kilogramm müsste aufgrund der geringen Mengen entsprechender
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Substanzen in der Schokolade zehn Tafeln Schokolade auf einmal verspeisen, damit eine stimmungsaufhellende Tendenz neurobiologisch auf den Schokoladenkonsum zurückgeführt werden könne. Dass der Verzehr von Schokolade – auch in weitaus kleineren Portionen – dennoch Wohlbehagen und positive Gefühle auslösen kann, liegt dann neben dem Geschmackserlebnis zum größten Teil an ihrer symbolischen Bedeutung, verstärkt durch die Botschaften und Bilder der Werbeindustrie. Als Genussmittel ist die Schokolade per definitionem dazu da, Freude zu bereiten und das historisch gewachsene Wissen um ihre Luxuriosität und ihr Prestige zu bestätigen. Der Genießer isst sie langsam und allein, neuerdings wird die Kombination mit einem weiteren Genussmittel, dem Rotwein, empfohlen. Aus ernährungswissenschaftlich-medizinischer Perspektive scheint heute unbestritten, dass bestimmte Wirkstoffe in der Schokolade bzw. im Kakao Herz und Immunsystem stärken – Theobromin etwa erweitert die Herzkranzgefäße –, zudem hat man antibakterielle und antikariöse Wirkungen bescheinigt (vgl. Schmale 2002: 90). Menniger (vgl. 2004: 67) hingegen warnt vor Karies und Übergewicht durch den Verzehr von Schokolade – die Schokolade ist ein deutliches Beispiel dafür, wie widersprüchlich sich die Wirkungsinterpretationen von Nahrungsmitteln darstellen. Als Energiespender und Stärkungsmittel schätzten Menschen die Schokolade bereits zu Cortés’ Zeiten. In Deutschland wurde sie, wie erwähnt, lange Zeit exklusiv in Apotheken als allgemeines medizinisches Stärkungsmittel verkauft. Diese Tatsache – abgesehen von der in Deutschland einseitigen und relativ lang anhaltenden Bedeutungszuweisung als Medikament – ist nicht ungewöhnlich, denn wie so viele der neuen exotischen Genussmittel wurde die Schokolade zunächst als Arznei betrachtet. Ihre heilenden Kräfte erwähnten und propagierten medizinische Schriften: 1631 förderte der spanische Arzt Antonio Columenero de Ledesma die Verbreitung der Schokolade, 1679 sorgte der Holländer Cornelius Bontekoe, der als Leibarzt des Großen Kurfürsten Friedrich Wilhelm von Hohenzollern tätig war, mit seinem „Tractat von Kruyd, Thee, Caffee, Chocolata“ für eine Erhöhung ihres Be-
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kanntheitsgrades in Deutschland, und 1684 verfasste der Pariser Arzt Buchet seine Dissertation zum Thema „Schokolade“. Das seinerzeit neuartige Lebensmittel Schokolade animierte offenbar zu medizinischen Abhandlungen. Schokolade sollte als Gegenmittel viele schwere Krankheiten wie etwa Cholera heilen und Unpässlichkeiten wie zum Beispiel Verstopfung lindern. Sie wurde ärztlicherseits für schwangere und melancholische Frauen empfohlen: „Über die Verträglichkeit und Wirksamkeit der Schokolade herrschten bis in das 17. Jahrhundert hinein […] die unglaublichsten und fabelhaftesten Ansichten“, resümiert Schmale (2002: 88). Dies gilt offensichtlich noch für die Zeit weit darüber hinaus. Ende des 17. Jahrhunderts soll Marquise de Coëtlogon während ihrer Schwangerschaft so viel Schokolade zu sich genommen haben, dass sie einen schwarzen Knaben gebar (vgl. Tannahill 1973: 295). Und wegen ihrer exotischen Herkunft wurde die Schokolade während des Nationalsozialismus in Deutschland als „rassenverschlechterndes Erbgift“ (Gudermann 2004: 91) geschmäht. Um 1700 brachte man schließlich sogar Todesfälle mit dem Genussmittel in Verbindung – Schokolade war als neues Nahrungs- bzw. Genussmittel überaus präsent in der gesellschaftlichen Wahrnehmung und Diskussion. Ein Produkt der Schokolade, die Kakaobutter, benutzten bereits die Azteken als Wundsalbe und Hautpflegemittel. Zu ihrer Gewinnung wurden die Kakaobohnen gekocht, das Fett schöpfte man ab. Diese Technik übernahmen die Europäer, bis etwa 1700 der Pariser Apotheker Etienne François Geoffroy Äther zur Extraktion der Kakaobutter verwendete. Die Schokolade behauptete sich bald nach ihrer Einführung in Europa – mit Ausnahme von Deutschland – schließlich sowohl als Arznei als auch als Genussmittel, was ebenfalls daran liegt, dass sie sich in das geltende Paradigma des Galenschen Vier-Säfte-Systems als Substanz mit einer Mischqualität hervorragend einfügte. Sie wurde damit als geeignetes Nahrungsmittel für alle vier Temperamente betrachtet. Mit der Verdrängung der Theorie Galens im Laufe des 19. Jahrhunderts, passte auch die Schokolade als Heilmittel nicht mehr in die neuen medizini-
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schen Konzepte. Dennoch verlor die Schokolade ihre Popularität keineswegs, ebenso blieb ihr die gesundheitserhaltende bzw. krankheitsabwendende Bedeutung im Alltagswissen und auch im Rahmen eher alternativer Medizintheorien erhalten. Im Jahr 1957 berichtet Mueller (vgl. 1957: 126) von der „Haemalbumin-Schokolade“ zur Kräftigung von Kranken und von der „Osta-Schokolade“ zur Förderung des Knochenwachstums und des Zahnens bei Kleinkindern. Gudermann (vgl. 2004: 35) verweist ebenfalls auf sogenannte „Gesundheitsschokoladen“, welche Anfang der 1880er Jahre in vielen Varianten auf dem Markt angeboten wurden. Dank ihres hohen Fett- und Stärkegehalts gilt die Schokolade seit jeher als überaus nahrhaft, was für die im 16. Jahrhundert aufgekommenen Genussmittel eher untypisch ist. Hahnemann, der Begründer der Homöopathie, klassifiziert Tee und Kaffee als reine Genussmittel, Schokolade bezeichnet er hingegen als „vorzügliches Nahrungsmittel“ (Mueller 1957: 111). In jedem Fall wirkt Schokolade sättigend. Eltern mit kleinen Kindern wissen, dass ein Schokoladenverbot vor der Mahlzeit sinnvoll ist, wenn das „eigentliche“ Essen nicht unberührt bleiben soll. Tatsächlich vermag Schokolade eine Mahlzeit zu ersetzen: Die Polarforscher Nansen und Amundsen führten bei ihren Expeditionen zur Notversorgung Schokolade mit sich, im Zweiten Weltkrieg trugen Frontsoldaten Schokolade im Gepäck, Flieger hatten ebenfalls Schokolade an Bord. Die mit zusätzlichem Koffein angereicherte, in Berlin produzierte „Scho-Ka-Kola“ sollte in stressbelasteten Situationen ausgleichend und gleichzeitig anregend wirken. Heute werden für einen kleinen Energieschub, so wie es die Werbung vorschlägt, Schokoladenriegel und andere Produkte mit Schokoladencremes gern als Zwischenmahlzeit oder „kleines Frühstück“ verspeist.
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4.6 D IE S CHOKOLADE
AUF DEM
W EG
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V OLK
Als aristokratisches Getränk für eine demonstrativ an keine festen Terminpläne gebundene Elite hat die typische Schokoladenzeremonie mit dem Untergang des Ancien Régime ausgedient. Bezeichnenderweise wurde das Getränk auch schon während seiner Glanzzeit aus politischen Gründen von einigen abgelehnt: „Da die Schokolade mit königlichen und/oder päpstlichen Absolutismen assoziiert war, deren Vertreter der Aufklärung denkbar feindlich gegenüberstanden, wurde der Tee – für eine Handvoll Radikale – zum Symbol für Zivilisation und Freiheit“ (Coe/Coe 1997: 254). Die Schokolade als politisches Getränk – auch dies stellt einen symbolischen Aspekt von Nahrungsmitteln dar 56 . Im Laufe des 19. Jahrhunderts avancierte die Schokolade zum Volksgetränk, behielt jedoch – zumindest gilt dies bis heute für einige Produkte – ihren vor allem im Rokoko erworbenen Symbolwert einer glamourösen und luxuriösen Leckerei. Tornius (1931: 9) bezeichnet sie als „Königin des Naschwerks“ und führt weiter aus: F
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„Ihre Herrschaft bleibt unumstritten. Sie überdauert alle politischen und kulturellen Wandlungen der zivilisierten Völker, und sie erfreut sich einer Volkstümlichkeit, die keine Rivalität aufkommen läßt. Jung und alt sind ihr in gleicher Weise zugetan und wissen ihre Vorzüge zu schätzen“.
Rund dreihundert Jahre nach ihrer Einführung in Europa fand die Schokolade allmählich auch bei der Unterschicht Akzeptanz. Den Status eines alltäglichen Lebensmittels erreichte sie hier dennoch nicht, allein aus wirtschaftlichen Gründen: Konnte man Kaffee und Tee in der Zubereitung strecken, indem man sie zum Beispiel mehrfach auf56 Die Schokolade prägt hier keinen Einzelfall aus. Wie erwähnt, wurde das der herrschenden Schicht vorbehaltene weiße Brot zu Beginn der Französischen Revolution zum Politikum. Heute signalisiert man mit dem Konsum von Bioprodukten umweltpolitisches Bewusstsein und Engagement.
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goss, gelingt dies bei der Schokolade nicht. Um den bitteren Geschmack zu mildern, benötigte man den ursprünglich sehr teuren Zucker, dessen Gewinnung aus Zuckerrüben den Preis drückte und eine weite Verbreitung im Volk erlaubte. Dieser Umstand hat sicherlich ebenfalls zum Anstieg des Schokoladenkonsums in jener Zeit beigetragen. In Deutschland wurden 1855 3.300 Tonnen Rohkakao importiert; 1904 belief sich die Menge auf 27.101 Tonnen (vgl. Menninger 2004: 235). Die Kolonie Kamerun lieferte seinen deutschen Kolonialherren Kakaobohnen: In einer ersten Ausfuhr im Jahr 1889 betrug die Ausbeute fünf Säcke Kakao, 1893 bereits 1320 Säcke, was einem Gewicht von etwa 1560 Zentnern entspricht (vgl. Niemann 2002: 24). Wie alle Kolonialherren forcierte Deutschland den Anbau von Kakaoplantagen, der zum konstitutiven Teil seiner Kolonialwirtschaft wurde. Mitte des 19. Jahrhunderts nahm Bremen als Umschlagplatz für Kakaopulver und als Herstellungsort von Schokoladenprodukten in Deutschland einen zentralen Platz ein. 1673 hatte hier das erste Kaffeehaus Deutschlands eröffnet, geführt nicht von einem Deutschen, sondern von dem Holländer Jan Jantz van Huesden; er schenkte in seinem Kaffeehaus ebenso Schokolade an die Gäste aus. Viele Vertreiber und Hersteller verwendeten im 19. Jahrhundert Ersatzstoffe für das aufgrund der hohen Zölle kostspielige Importprodukt Kakao. Kartoffelstärke, Mehl, aber auch Gips oder gemahlene Ziegelsteine; anstatt Kakaobutter benutzte man Talg oder Mandelöl. Andere Lebensmittel wurden in Notzeiten und zur Gewinnmaximierung ebenfalls gestreckt. Um 1900 verpflichteten sich deutsche Schokoladenfabrikanten freiwillig zur Einhaltung strenger Produktionsregeln. 1876 gründeten fünfundzwanzig Unternehmen den Verband deutscher Schokoladenfabrikanten, 1901 gehörten ihm bereits sechsundsiebzig Mitglieder an, was gleichfalls auf einen rasanten Anstieg des Schokoladenkonsums hindeutet, welcher der Industrie ein enormes Wachstum bescherte. In England vereinigte sich „The Chocolate Society“ zur Qualitätssicherung und -optimierung ihrer Produkte. Zunächst wurde die Herstellung von Schokolade nicht nur von Fachleuten wie Zuckerbäckern oder Konditoren betrieben, Personen aus diversen
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Berufen, Lotteriekollekteure oder Lackfabrikanten, versuchten ihr Glück als Schokoladenproduzent. Im Jahr 1840 eröffnete Maria Ludwig Edw. Simmel, ehemaliger Lederfabrikant und Vater des Soziologen Georg Simmel, in Berlin ein Schokoladengeschäft, als stiller Teilhaber stand bis 1851/52 Louis Ferdinand Neumann, späterer Inhaber der Firma Sarotti, zur Verfügung. Das verwöhnte Berliner Publikum verband mit der teils französischen Herkunft der angebotenen Waren den Glanz von Paris. In Paris wiederum boten bereits im Jahr 1800 Verkäufer auf den Straßen Schokolade an; Madrid verzeichnete 1772 bereits hundertfünfzig Schokoladenhersteller. Durch den Ausbau der Plantagen in den Kolonialgebieten sanken die Preise für Rohkakao. Ab der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde die Steuer auf Kakao gesenkt – die Politik favorisierte den Merkantilismus nicht länger. Trieb die von 1807 bis 1815 andauernde Kontinentalsperre die Preise noch deutlich in die Höhe, konnte schon um 1820 die erhöhte Nachfrage mit Lieferungen befriedigt werden. Neben politischen Sanktionen und Freigaben, welche den Schokoladenkonsum erheblich beeinflussten, verbilligten sich parallel die Transportkosten und verringerte sich der Zeitaufwand für die Beschaffung durch den Einsatz von Dampfschiffen, die die langsameren Segelschiffe auf den Weltmeeren ablösten. Eine blühende Schokoladenindustrie konnte entstehen. Innovationen wurden jedoch vor allem bei der Schokolade selbst umgesetzt: 1828 meldete der holländische Apotheker Coenraad Johannes van Houten seine Erfindung, ein Verfahren zur Entfettung des Kakaos, als Patent an. Indem er der Kakaomasse die Kakaobutter entzog, konnte diese als wertvolles Spaltprodukt weiter verwendet werden. Das weitgehend entölte Kakaopulver stellte eine revolutionäre Neuheit auf dem Markt dar; durch Zugabe von Pottasche löste sich das Kakaopulver leichter in Milch oder Wasser auf. Mit diesem sogenannten „dutching“ konnte das Zeitalter des Instant-Kakaofrühstücks beginnen, die chocolatière mit Quirl hatte ausgedient. In Deutschland kam 1929 das Kakaogetränk „Kaba“ aus dem Hause Hag – man kennt seinen entkoffeinierten „Kaffee Hag“ – auf den Markt und ist seither, vergleich-
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bar dem Namen „Tempo“ für das Papiertaschentuch, zum Gattungsbegriff für Kakaogetränke geworden. Van Houtens Kakaopulver, Zucker und nachträglich zugegebene Kakaobutter ließen sich zu einem Schokoladenteig zubereiten, der auch in fester, erkalteter Form als Tafel weder brüchig noch trocken war. Neun Zehntel der Zeit, in der man Schokolade in Europa kannte, wurde bzw. musste sie flüssig zu sich genommen werden, nun erhielt sie eine weitere Darreichungsform 57 , durch den sich ihr Verzehr einfacher und praktischer gestaltete. Essschokolade verbreitete sich zuerst in Frankreich, den Niederlanden und der Schweiz. In Spanien erfreut sich bis in die Gegenwart die flüssige „heiße Schokolade“ großer Beliebtheit. Schokoladensaucen werden dort überdies auch für die Verfeinerung von Fleischgerichten verwendet, eine Gewohnheit, die sich mittlerweile als exotische Kochvariante auch in anderen Ländern Europas finden lässt. Der Schweizer Chemiker Henri Nestlé (1814-1890) erfand 1867 ein auf dem Prinzip der Verdampfung beruhendes Verfahren zur Erzeugung von Milchpulver. Sein Landsmann, der Schokoladenfabrikant Daniel Peter (1836-1919), nutzte das Milchpulver zur Herstellung von Milchschokolade. Im Jahr 1875 war es schließlich soweit, die erste feste Milchschokolade entstand. Zuvor, bereits 1727, hatte der Engländer Nicholas Sanders Milch mit Schokolade bzw. Kakao zu vermischen versucht. Eine dritte bedeutende Innovation ebnete schließlich den Erfolgsweg der festen Schokolade, dessen Ende nicht abzusehen ist. 1879 erfand Rudolphe Lindt (1855-1909), ebenfalls ein Schweizer SchokolaF
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57 Schokoladenpralinen kannte man bereits; bereits in Mexiko sollen spanische Klosterfrauen und Missionarinnen Schokoladenkonfekt hergestellt haben (vgl. Coe/Coe 1997: 161). Schokoladenhohlfiguren sind seit Mitte des 19. Jahrhunderts bekannt. Flüssige Schokolade wurde in fein geprägte Formen gegossen: Osterhasen und Christbaumschmuck entstanden auf diese Weise. Die ersten Schokoladenostereier sollen 1884 in Italien hergestellt worden sein (vgl. McFadden/France 1997: 28).
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denproduzent, die „Conche“ 58 , eine Maschine zur Erzeugung von Schmelzschokolade mit einem hohen Anteil an Kakaobutter. Je länger die Schokoladenmasse ohne Unterbrechung bewegt wird, umso stärker entfaltet sich das Aroma auch der vorab zugesetzten Gewürze und der Kakaobutter. Die Masse bekommt eine weiche, glatte Textur, den zarten Schmelz. Conchierzeiten von bis zu 72 Stunden sind für ein optimales Ergebnis erforderlich, mittlerweile versprechen neue Technologien feinsten Schmelz bereits nach acht Stunden. Der letzte Schritt bei der Schokoladenherstellung wird als „Temperieren“ bezeichnet: Bei fünfzig Grad Celsius wird der Schokoladenteig erhitzt, um zur erneuten Kristallisation der Kakaobutter auf dreißig Grad Celsius abgekühlt zu werden, anschließend folgt eine nochmalige leichte Erhitzung. Die Schokoladentafel erhält durch diese Prozedur einen seidigen Glanz und eine längere Haltbarkeit. Die wieder zur Kakaomasse hinzugefügte Kakaobutter sorgt zusammen mit dem Conchieren sowohl für den Schmelz der Schokolade als auch für das knackende Geräusch beim Abbrechen oder Abbeißen eines Stücks von der Tafel. Im 19. Jahrhundert und zu Beginn des 20. Jahrhundert fand die Gründung vieler traditionsreicher Schokoladenunternehmen statt: In Deutschland besteht seit 1865 die Firma Reber in Bad Reichenhall, Hachez ist seit 1890 in Berlin ansässig – die „Braunen Blätter“ von Hachez, Schokoladentäfelchen in Gestalt von Baumblättern – werden seit 1923 verkauft und bis heute von Hand gepackt, das seit einigen Jahren nicht mehr existente Unternehmen Stollwerck wurde 1839 in Köln gegründet, Berlin ist seit 1868 Sitz der Firma Sarotti. 1825 gründet Philippe Suchard in Neuchâtel eine eigene Konfiserie. Nach dem Tode seines Sohnes, der die Firma weiterführte, übernahm dessen Schwager Carl Russ das Unternehmen und entwickelte im Jahr 1901 die erste Milchschokolade Suchards, die immer noch berühmte „Milka“, der Name vereint den Beginn der Wörter „Milch“ und „Kakao“. F
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58 „Conche“ leitet sich ab vom spanischen Wort „concha“ für Muschel; die ersten Maschinen besaßen einen muschelförmigen Trog, in dem die Schokoladenmasse gewälzt wurde.
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Seit 1901 wird Milka in einer lilafarbenen Verpackung angeboten. Im Jahr 1972 wurde der Milchlieferant, die Kuh, in der Werbung ebenfalls als lilabuntes Tier gezeigt; die lila Kuh ist seither die Identifikationsfigur der Milka-Schokolade. 1993 fusionierten Jacobs Suchard mit der US-amerikanischen Philip-Morris-Tochter „Kraft General Food“ zum gigantischen Lebensmittelkonzern „Kraft Jacobs Suchard“, sei 2000 unter dem Label „Kraft Foods“. Die Schokolade hat längst zum internationalen Lebensmittelmarkt der Fusionen und Marktbeherrscher Zugang erhalten und prägt diesen wesentlich mit. Die erste Schweizer Schokoladenfabrikation, das immer noch existente Unternehmen Cailler, entstand 1919 in Vevey. Das größte unabhängige Schokoladenunternehmen in der Schweiz ist jedoch heute Lindt & Sprüngli. 1899 hat Rudolphe Lindt sein Unternehmen an den Züricher Fabrikanten David Sprüngli verkauft. Der Belgier Jean Neuhaus erfindet 1912 das „Ballotin“, die erste kompakte Schokoladenhülle und legte damit den Grundstein für die weltweit bekannte und anerkannte belgische Pralinenkultur. Schokoladenunternehmen besitzen eine lange Tradition, Namen wie Neuhaus, Lindt, Hachez oder Cailler sind über viele Jahrzehnte bis in die Gegenwart geläufig und symbolisieren allein eben mit ihrer traditionsreichen Existenz zumeist das Premiumsegment unter den Schokoladenprodukten. Viele Erzeugnisse überdauern ebenso erfolgreich wie die „Milka“ oder das seit 1895 bekannte Produkt „Toblerone“, das seit 1970 ebenfalls von Suchard hergestellt wird. „Toblerone“ ist ein Neologismus des Erfindernamens, Jean Tobler, und der italienischen Bezeichnung für Nougat, „torrone“. In England stellt die Firma Cadbury – gegründet 1824 in Birmingham von John Cadbury – eines der größten Traditionsunternehmen dar; in den USA gehört „Hershey“, so benannt nach ihrem Gründer Milton Hershey, zu den Marktführern. Die Schokolade gelangte erst spät, Mitte des 18. Jahrhunderts, nach Nordamerika. 1922 wurde in Chicago der erste Schokoladenriegel entwickelt, die Schokolade wird mit Fast-Food-Eigenschaften ausgestattet, womit das einstige Mußegetränk die Transformation in den schnelllebigen Verzehralltag vollzogen hat. Die Portionen im Angebot werden
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immer kleiner: Minis, Naps, Würfel, Kleinriegel und Täfelchen, unwesentlich größer als eine Briefmarke. „Während regelmäßige Alltagsabläufe an Bedeutung verlieren, erhält der Verbraucher ein darauf zugeschnittenes Produktangebot: mal genussbetont als Praline, mal für den ‚kleinen‘ Hunger, mal als Energiespender“ (Roder 2002b: 107). Das traditionell langsame Verzehren ist hier nicht mehr gefragt und auch nicht mehr möglich. Nach 1920 findet die Schokolade Eingang in die Alltagsernährung, die Meinung des Müsli-Königs Bircher-Brenner, Schokolade sei „minderwertig“ (vgl. Wirz 1993: 66), vermochte ihren Erfolg nicht aufzuhalten. Der Massenkonsum beginnt nach 1945. „Milchschokolade wurde zu dem Symbol amerikanischer Macht und Großzügigkeit nach dem Zweiten Weltkrieg“ (Bailleux et al. 1996: 159, Hervorheb. i.O.) – wieder erhält die Schokolade eine politische Bedeutung bzw. Konnotation. Das von den Soldaten verteilte süße Lebensmittel brachte das vergessene Gefühl von Wohlbehagen zurück. Die großen Schokoladenhersteller besaßen bereits Ende des 19. Jahrhunderts ihre eigenen Kakaoplantagen. Die Elfenbeinküste liefert mittlerweile den größten Kakaoanteil auf dem Weltmarkt, hier befindet sich seit 2003 der Sitz der 1973 in London gegründeten „International Cocoa Organization“ (ICCO). Weitere bedeutende Exporteure stellen die Länder Brasilien, Ghana, Malaysia, Indonesien und Nigeria dar; Mexiko oder Venezuela, letzterer bis zum 18. Jahrhundert der weltweit größte Kakaolieferant, sind nicht mehr an der Spitze der Exportstaaten. Pro Jahr werden etwa zwei Millionen Tonnen Kakaobohnen verkauft (vgl. Bailleux et al. 1996: 24) mit stets steigender Tendenz. Im Jährlichen Pro-Kopf-Verbrauch von Schokolade liegt die Schweiz mit zehn Kilogramm weltweit an der Spitze, gefolgt von Deutschland mit acht und den USA mit sechs Kilogramm (vgl. Quintern 2002: 22). Die Tendenz ist in Deutschland steigend. Der Markt ist etwa so aufgeteilt: Vierzig Prozent Bitterschokolade, ebenfalls mit steigender Tendenz, fünfzig Prozent Milchschokolade und jeweils fünf Prozent weiße Schokolade und Schokolade mit diversen Füllungen, wie Alkohol, Cremes oder Joghurt.
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Die edelsten Kakaobohnen wachsen in Brasilien auf sogenannten „Grand Cru“-Plantagen und in den karibischen Staaten wie Trinidad oder Jamaica. Nach Erdöl, Kaffee und Zucker ist Kakao unter den Rohstoffen die lukrativste Handelsware auf den internationalen Börsenplätzen, wobei die Bevölkerung in den Herkunftsländern oft nur wenig wirtschaftliche Vorteile vom Verkauf der exportierten Ware bemerkt. In Ghana beispielsweise erhält der Farmer nur sechzehn Prozent des Exportpreises seiner geernteten Kakaobohnen (vgl. von Paczensky/Dünnebier 1999: 146). Die soziale Absicherung der Plantagenarbeiter ist entsprechend rudimentär oder gar nicht vorhanden, auch Kinder arbeiten auf den Plantagen. Auf den Warenterminbörsen in London, New York und Paris wird der empfindliche Rohkakao noch vor seiner Ernte gehandelt; Witterungsverhältnisse, Schädlingsbefall, die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Umstände in den Erzeugerländern beeinflussen die Preisbildung. Seit den 1960 Jahren verzeichnet man starke Preisschwankungen für Kakao. Trotz Aufhebung der Preisbindung für Schokolade, Ende der 1960er Jahre in Deutschland für Tafelschokolade, blieben die Verbraucherpreise für Schokoladenprodukte bislang relativ stabil.
4.7 D IE S YMBOLIK
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HEUTE
Nicht alle Europäer bevorzugen die in Deutschland so beliebte klassische Tafel Schokolade. Engländer und Italiener mögen Schokoladenbonbons, und die Spanier sind der Trinkschokolade treu geblieben. Bei fester Schokolade begeistern sich Spanier für Zusätze von Mandeln und Trockenfrüchten. Andere schokoladeessende Nationen, wie etwa die Italiener, ziehen Nüsse, Mandeln und Kastanien in der Schokolade vor, Engländer mögen Schokolade versetzt mit Vanillearoma, Ameri-
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kaner lieben eher weiße Schokolade 59 und Milchschokolade, Franzosen präferieren dunkle Bitterschokolade (vgl. McFadden/France 1997: 40). Bis heute gilt die flüssige Schokolade in Deutschland als etwas ganz Besonderes: „Eine heiße Schokolade zu trinken, heißt, sich selbst etwas Liebevolles anzutun“ (von Randow 2005: 203). In der Kakaoverordnung für Deutschland findet sich neben definitorischen Bestimmungen zur Bezeichnung ein Verzeichnis der zulässigen Zusatzstoffe und Ersatzstoffe, so kann zum Beispiel Kakaobutter durch das billigere Lecithin oder andere pflanzliche Fette substituiert werden, dies muss jedoch auf der Produktverpackung vermerkt sein. Statt reinem Vanilleextrakt darf der künstliche Ersatzstoff Vanillin verwendet werden. Bitterschokolade muss einen Kakaoanteil von mindestens 34 Prozent enthalten, die meisten Milchschokoladen besitzen zum Vergleich einen Kakaoanteil von zwanzig Prozent, ihr Zuckeranteil liegt häufig bei fünfzig Prozent. „Edelschokolade“ darf erst dann so heißen, wenn mindestens 48 Prozent ihrer Kakaobohnen von der edlen Sorte Criollo stammen. Seit 1975 müssen Kakaoanteile und andere Inhalte auf der Verpackung des Schokoladenerzeugnisses gelistet werden, was Gudermann (2004: 133) zu folgender Bemerkung veranlasst: F
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„Zwar wurden die Verbraucher nun gut informiert, doch trugen diese Maßnahmen auch dazu bei, das Produkt zu entmystifizieren. Denn wer denkt bei der Aufzählung von Lecithin und Emulgator an den Zauber orientalischer Nächte?“
Die Sorge ist grundlos, denn die Aura des Geheimnisvollen und Exotischen haftet der Schokolade weiterhin an, und tatsächlich birgt sie Fremdartiges, allein in dem Sinne, dass die Ursprungspflanze ihres wesentlichen Inhaltsstoffes Kakao, der Kakaobaum, in Europa nicht gedeihen kann. Die exotisch-fremdartige Eigenschaft wird als geheim-
59 Die weiße, nur aus Kakaobutter, Zucker und Milch hergestellte Schokolade darf in den USA ausschließlich mit dem Zusatz „white“ als Schokolade bezeichnet werden. 1948 brachte die Firma Nestlé die erste Tafel weiße Schokolade nach Amerika.
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nisvolle Symbolik der Schokolade vor allem im Premiumsektor von den Werbeexperten der Unternehmen stets neu konstruiert und damit weiter gepflegt. Als Kolonialware schürt die Schokolade bereits in ihren europäischen Anfängen die Faszination des Fremden, was sich im Prinzip bis heute nicht verändert hat. Die Kakaoländer rücken zwar via Flugzeug in ferne Nähe, doch verfügt der Alltagsmensch nicht unbedingt über die Erfahrung des Kennenlernens dieses Fremdartigen, womit das Mysterium erhalten bleibt. Zudem möchte man zum Erhalt des eigenen Genusses und Vergnügens den Nimbus gar nicht zerstört oder aufgedeckt wissen. Es lässt sich vermuten, dass nur wenige Personen ein Schokoladenprodukt motiviert vom Lesen der Zutatenliste kaufen. Denn die Schokolade bietet „Gefühlswerte“ (Roder 2002a: 7) – und dies in vielfältiger Weise, „als stimmungssteigernder und frustabbauender Seelentröster, als gesundheitsförderndes Stärkungsmittel, als hochwillkommene Belohnung, als Inkarnation sündhafter Genüsse oder als liebgewonnener Dickmacher, von dem die Lust oft nicht lassen kann“ (ebd.).
Der Ernährungsbericht 2008 für die Bundesrepublik verzeichnet für die Jahre 2005 und 2006 einen „signifikanten Anstieg“ (2008: 28) des Verbrauchs von Schokoladenwaren. Um neun Kilogramm nahm der Bundesbürger 2005 im Durchschnitt zu sich; 1997 waren es noch etwa achteinhalb Kilogramm. Verglichen mit anderen Süßwaren wie Speiseeis, Karamellen oder Gelee-Erzeugnissen liegt die Schokolade bei weitem an erster Stelle in der Gunst des Essers (vgl. 2008: 33). Schokoladenprodukte wurden schon früh beworben. Als Genussmittel, das niemand tatsächlich „braucht“, musste die Schokolade bekannt gemacht werden und als „Reiz läßlicher Sünde“ (Lohmann 1999: 76) zum Kauf animieren. 1657 erschienen in englischen Zeitungen bereits Werbeanzeigen. Die gegen Ende des 18. Jahrhunderts erfundene Lithographie ermöglichte die kostengünstige Vervielfältigung und Verbreitung von Werbematerialien. Im 19. Jahrhundert boten weitere vom Werbesektor genutzte Innovationen neue Möglichkeiten, die
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Schokolade zu bewerben: 1854 erhielt Ernst Litfaß in Berlin die exklusive Konzession zum Aufstellen von Plakatsäulen – die berühmte „Litfaß-Säule“ wird viele Jahrzehnte lang ein einflussreicher Werbeträger bleiben. Seit 1885 wird Emaille für die Herstellung von Werbeschildern verwendet, und in den 1890er Jahren dekorierte man erstmals Busse, Straßenbahnen und Lieferwagen mit Werbebotschaften. Ein besonders spezifisches Werbemittel stellen die Sammelmarken dar; die seit 1897 den Schokoladenprodukten der Firma Stollwerck beigelegten Marken wurden zu begehrten Sammelobjekten und fanden viele Nachahmer, beispielsweise 1880 das Unternehmen Suchard. Renommierte Künstler wie Max Liebermann malten für Stollwerck, dessen Umsatz um vierzig Prozent anstieg. Das Bild ist hier bereits ein wichtiger Werbeträger, seine Relevanz als schnell zu rezipierendes Medium für Werbebotschaften nimmt in den späteren Jahren noch zu. Automaten erreichten gegen Ende des 19. Jahrhunderts den Status eines potenziell überall präsenten Vertriebsmittels für Schokolade. Nach der Jahrhundertwende gestaltete man das vormals prunkvolle, dekorative Design zunehmend schmuckloser bis schließlich die rein zweckorientierte Gestaltung des Automaten dominierte. Die Automatenkultur verfiel. Wie bereits erwähnt (vgl. 3. 4. 7), wurden und werden Schokoladenerzeugnisse mit besonderem Aufwand verpackt. „So umgab man das Produkt mit einem Nimbus und behielt das Flair des Exotischen, Luxuriösen und Verführerischen bei“ (Gudermann 2004: 53). Verpackungen wirken natürlich nicht nur bei Schokolade verkaufsfördernd, jedoch deutet hier die Verpackung gezielt den emotional und materiell wertvollen Inhalt an, den man in stiller Erwartung und Vorfreude erst langsam entblößen muss, bevor man ihn sehen und letztlich essen darf. Glanzfolie, Glanzreflexe und kleine Strasssteine auf dem Karton, herzförmige (Blech-)Schachteln, Verzierungen mit Papierrüschen, Rosetten und Raffungen und feines Kalbslederpapier symbolisieren Eleganz und den Luxus des Überflusses. Raschelndes Silberpapier 60 , das die Tafel F
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60 Mittlerweile wird das Silberpapier bei den weniger hochpreisigen Artikeln durch glänzende bedruckte Plastikfolie ersetzt, die gleichzeitig als Außen-
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Schokolade umhüllt, dient nicht nur dem visuellen, sondern auch dem haptischen und akustischen Erleben. Damit erzeugt Schokolade sowohl beim Verzehr als auch bei der Betrachtung und Berührung ihrer Verpackung großes Wohlbehagen. In den 1970er Jahren hat sich ein internationaler Farbencode über die verschiedenen Schokoladenmarken hinweg für die Verpackung von Tafelschokolade etabliert: „Blau“ bedeutet „Vollmilchschokolade“, „grün“ bezeichnet die Schokolade mit Nüssen, „rot“ weist auf die mit Marzipan gefüllte Schokolade hin und „schwarz“ symbolisiert die Bitterschokolade mit hohem Kakaoanteil. Man nimmt Rücksicht auf spezifische kulturelle Eigenheiten, in China muss auf „blau“, die Farbe des Todes, verzichtet werden. Das Unternehmen Lindt & Sprüngli präsentiert seine Saisonprodukte zu Festtagen wie Ostern und Weihnachten in den „ChocoladenSeiten. Das Lindt Magazin für Geniesser“ mit beeindruckenden Fotos, in denen die Schokolade umrahmt von feinem Porzellan und anderen Dekorationsartikeln das besondere sinnliche Esserlebnis verspricht. Neuerdings werben renommierte Traditionshäuser mit der Sorte der verwendeten Kakaobohne. Criollo-Bohnen werden nur von den „premiers chocolatiers“ genutzt, im „alltäglichen“ Schokoladenriegel wird man sie nicht finden. Das spanische Wort „Criollo“ bedeutet zu Deutsch „der Edle“, und tatsächlich sind Criollo-Bohnen empfindlich und daher teuer, sie machen rund zwei Prozent an der gesamten Kakaoernte aus (vgl. Coe/Coe 1997: 313). Die gängige Konsumbohne Forastero (span. für „Fremdling“) wird heute vornehmlich in den Plantagen Westafrikas angebaut. Der Trintario, eine Hybridisierung aus Criollo und Forastero, ist, wie Allerbeck (vgl. 2002: 8) sagt, am seltensten. Welche Schokoladensorte und welche Schokoladenmarke selbst bevorzugt oder Gästen gereicht werden, beschränkt sich nicht allein auf den Geschmack, sondern dient inzwischen als Medium der sozialen Distinktion. „Wie beim Wein unterscheiden die echten Scho-
verpackung fungiert. Die kleine Kartonage oder das Papier um das Silberpapier herum wird so nicht mehr benötigt. Eine Verpackungsrationalität, die eher selten bei Schokoladenwaren anzutreffen ist.
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koladenkenner nun auch den Jahrgang und das Anbaugebiet der Kakaobohne“ (Gudermann 2004: 162). Der für Innovationen offene Genießer wird Premiumschokoladenmarken versetzt mit Gewürzen wie Chili oder Meersalz konsumieren. Bittere Edelschokolade ohne den „bösen“ hohen Zuckeranteil, den Milchschokoladen besitzen, bildet für den gesundheitsbewussten modernen Esser ein attraktives Angebot. Wer eine Schokolade mit einem gesellschaftlich-werbungstechnisch geprägten „guten Ruf“ präsentiert, gilt nahezu automatisch als Gourmet und Genießer. Um den exotischen Charakter der Schokolade zu betonen und erlebbar zu machen, wurden schon im höfischen Zeremoniell schwarze Pagen und Diener eingesetzt. Als Ende des 19. Jahrhunderts die Kolonialbegeisterung auch auf Deutschland übersprang, verbildlichte der Berliner Grafiker und Dekorationsmaler Julius Gipkens (1883-1968) mit der Kreation des „Sarotti-Mohrs“ offensichtlich die Träume der Konsumenten. Darstellungen von Schwarzen waren noch bis in die 1960er Jahre hinein ein durchaus übliches Assoziationsbild für Kolonialprodukte und damit auch für Schokolade und Kakao. Rund zehn Jahre später schien der Sarotti-Mohr dem politischen Bewusstsein bzw. der political correctness nicht mehr zu entsprechen. Mittlerweile ist die Figur im Zuge des neuen Schokoladenkultes als postmoderne Stilikone wieder beliebt und auf Sarotti-Produkten und -Accessoires zu finden. Wie sehr die Zuschreibung von Symbolen als Erkennungszeichen für eine bestimmte Marke internalisiert ist, hat 2002 eine Hamburger Agentur für Marken-, Verpackungs- und Corporate Design unter dem Motto „Irritation der Sinne“ sprichwörtlich vor Augen geführt, indem sie eine Bierflasche und ein Gurkenglas mit dem Bild des SarottiMohrs versah (vgl. Gudermann 2004: 159) und so fest gefügte Erwartungen und Wissensbestände auf den Kopf stellte. Das Produkt erscheint falsch, weil Symbol und der bedeutete Inhalt kognitiv nicht in Einklang zu bringen sind. Eine Irritation der Sinne geschieht ebenfalls bei dem an Schaugerichte erinnernden Effekt, wenn man – wie Ende des 17. Jahrhunderts in Frankreich – Schokoladenkugeln in Kakao wälzt, um sie wie schwarze Pilze aus dem Périgord erscheinen zu las-
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sen. Heute findet man Schokolade in allen Gestaltformen – von der Bierflasche bis zum Werkzeugkasten als Geschenk zum Vatertag. Es ist reizvoll, Schokolade mit teilweise ursprünglich zur Schokolade gehörenden Gewürzen wie Chili, Pfeffer und Meersalz oder anderen derzeit modernen Mittelmeerkräutern wie Lavendel, Thymian und Rosmarin zu mischen. Exotische Früchte, Mango oder Passionsfrucht, werden ebenfalls unter die Schokolade gemengt, aber auch die heimische Heidelbeere hat mittlerweile Zutritt zur Schokoladenmasse erhalten. Im Kontrast zu den neuen Kreationen büßt die ganze Haselnuss oder die Pfefferminzcremefüllung an Attraktivität ein. Die luxuriösen Verpackungsformen und -materialien haben Schokoladenerzeugnisse zusammen mit dem symbolisch wertvollen Inhalt zum gern verschenkten Lebensmittel werden lassen. Schokoladengeschenke überreicht man zur Belohnung, auch im Kontext der Kindererziehung, zum Trost und als besondere Geste der Wertschätzung und Zuneigung. Eine ähnliche symbolische Qualität besitzen alkoholische Genussmittel, Weine, Sekte und Champagner, andere Lebensmittel taugen höchstens in Vielzahl als Inhalt für einen „Fresskorb“. Was eine mit Schleife verpackte Pralinenschachtel als Geschenk bewirkt, kann eine Dose Fisch üblicherweise kaum erreichen. Im Gegensatz zu typisch männlichen Alkoholika wird Schokolade allerdings immer noch als passendes Geschenk für Frauen betrachtet.
4.7.1 Die Schokolade als Lebensmittel für Frauen Das Getränk Schokolade wurde schon bald nach seiner Einführung in Europa als besonders geeignet für Frauen angesehen; tatsächlich nahmen es in hohem Maße Frauen an. Noch um 1660 galt es für anständige französische Frauen als unziemlich, in der Öffentlichkeit Schokolade zu trinken, was sich wenig später jedoch rasch veränderte. Im 18. Jahrhundert wird über den Schokoladenkonsum der spanischen weiblichen Gesellschaft berichtet: „Es gibt Frauenzimmer, die sechs Tassen
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nacheinander trinken können“ (Plötz 1986b: 16). Oft wurden Schokolade trinkende Frauen in Gemälden und Stichen portraitiert. Der anregende Kaffee wird zum Getränk der Aktiven – der Männer – und das sinnliche Getränk der Schokolade wird zwangsläufig mit denen verbunden, die nicht rege und aktiv sein müssen. In den ersten europäischen Jahrhunderten der Schokolade stellten diese Klientel die Aristokraten dar, im bürgerlichen Zeitalter waren es die Frauen: „Was einmal Macht und Glanz repräsentierte, ist jetzt Sache derjenigen, die in der bürgerlichen Gesellschaft von Macht und Verantwortung ausgeschlossen sind“ (Schivelbusch 1983: 106). Das Süße wird der Frau zugeordnet, dem Bitteren trotzt der Mann. Prinzipiell hat sich bis heute daran nicht viel verändert; das „schöne Geschlecht“ sei besonders der Schokolade zugewandt, behauptet Tornius (1931: 11) noch Anfang der 1930er Jahre. Pralinen verschenkt man als Symbole der Zuwendung überwiegend an Frauen, insbesondere an Mütter und Großmütter, Männer bekommen – wenn überhaupt – schwarze „Herrenschokolade“: „Hart und nur unter großem Druck zu zerbrechen, ist sie geradezu ein Symbol für Stärke und Sich-Durchbeißen“ (De Haan 1994: 189). Im Zuge der Aktualität der Zartbitterschokoladen mit hohem Kakaoanteil erfreut sich die „Herrenschokolade“ auch bei Frauen wachsender Beliebtheit. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts wurde die süße Milchschokolade ein Bestandteil der kindlichen Esskultur. Schokoladenprodukte zeigen sich im Marketing und in der Werbung hauptsächlich auf Frauen und Kinder zugeschnitten. Namen wie „Kinderschokolade“ und das sich seit 1974 erfolgreich am Markt behauptende „Überraschungsei“ der Firma Ferrero, bestehend aus einer eiförmigen Hülle aus Milchschokolade mit einem kleinen Spielzeug im Inneren, das im Hohlraum geheimnisvoll klappert, wenn das Ei im Laden in die Hand genommen wird, sind typische Schokoladenerzeugnisse für Kinder. Die wissenschaftlich kaum bestätigten Fähigkeiten der Schokolade, qua ihrer Inhaltsstoffe Depressionen zu lindern und stimmungsaufheiternd zu wirken, sprechen offenbar Frauen als Konsumenten an – welcher Mann würde sich hier betroffen fühlen?
5 Essen heute – Schlussbetrachtungen Die biologische Notwendigkeit, Nahrung zu sich zu nehmen, hat, wie ausgeführt werden sollte, einerseits einen grundlegend sozial ordnenden Charakter und sozial funktionalen Nutzenswert; andererseits hat das Essen – und hier sind sowohl die Nahrung als auch die Handlung gemeint – stets symbolische Bedeutungen besessen, die sich in vielfältiger Weise ausgeprägt haben: Als Mittel zur sozialen Distinktion, belegt mit Wertungen wie „gutes“ oder „schlechtes“ Essen, in gesundheitlicher und religiöser Hinsicht. „Man ißt nie allein“, so Derrida (1998: 293), stets wird kulturell, sozial und individuell Erworbenes mittransportiert, teils über viele Jahrhunderte hinweg. Und stets werden bewusst und unbewusst Bilder von sich vermittelt, (gewünschte) soziale und religiöse Zugehörigkeiten präsentiert. „Denn die Nahrung dient […] nicht nur als Zeichen für bestimmte Motive, sondern auch für Situationen, kurz für einen Lebensstil, den sie eher zur Schau stellt denn ausdrückt. Sich ernähren ist ein Verhalten, das sich jenseits seines eigentlichen Zieles entfaltet, das andere Verhaltensweisen ersetzt, zusammenfaßt oder anzeigt, und gerade deshalb ist es ein Zeichen“ (Barthes 1982: 72).
In postmodernen Zeiten der Überflussgesellschaft, in der prinzipiell alles möglich und verfügbar ist, scheint sich (auch) im Bereich des Essens ein Trend zum Authentischen und Ursprünglichen zu etablieren. Zu Beginn der Industrialisierung erlebte Europa schon einmal die Sehnsucht nach ländlicher Romantik, die man als das Unverfälschte und Unberührte glorifizierte. Die fortgeschrittene Industrialisierung der
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Herstellung und logistischen Verbreitung unserer Nahrungsmittel sowie die Lebensmittelskandale, die das zeitweise Missfunktionieren von Teilen dieser Kette anzeigen, haben in einer weithin technisierten Lebenswelt diesen Wunsch nach Reinheit (mit-)ausgelöst. Wofür der römische Legionär noch viele Wochen benötigte, nämlich außerhalb der Saison ein Schälchen frischer Erdbeeren zu finden (vgl. Asterix und die Goten 1970), stellt heute hierzulande kein Problem mehr dar. Wir essen gegen den Raum und gegen die Zeit: „Einen besonderen Reiz hat es bis heute, Erdbeeren im Dezember zu essen oder Austern weit ins Land zu holen“ (Till et al. 1993: 10). Angesichts aufkommender Gewächshäuser fragte schon Rousseau kritisch nach dem Sinn von Kirschen im Winter (vgl. Lemke 2007b: 361). Restaurants, die mit der Verwendung regionaler Produkte werben, bestehen neben dem SushiRestaurant. Einhergehend mit dem Wunsch nach Authentizität – in einer urbanisierten Gesellschaft nur bedingt realisierbar – steht gesundes Essen, also das, was als solches definiert wird, ganz oben auf der Speiseliste. Kein Zucker, kein Fett, so lauten die werbewirksamen Schlagworte der „Light“- oder „Legère“-Produkte. Zumindest in weiten Teilen der Gesellschaft hat sich ein Ernährungsbewusstsein herausgebildet, wozu Barthes (1982: 72, Hervorheb. i.O.) sagt: „In den entwickelten Ländern denken heute nicht nur Spezialisten, sondern die gesamte Öffentlichkeit über Ernährung nach, auch wenn dieses Denken sich eines ganzen Ensembles stark mythischer Repräsentationen bedient“. Ein langes Leben steht dabei als Ziel nicht einmal im Zentrum des Handelns, weitaus wichtiger sind das Symbolisieren von Aktivität und Energie und das Vorzeigen eines schlanken Körpers. Auch an ihm ist jedes Gramm Fett ein Gramm zuviel. Hinsichtlich der Zutatenlisten auf den Verpackungen, der in Lebensmitteln enthaltenen Zusatzstoffe, scheint das Streben nach gesundem Essen, das eben nichts enthält, was Krankheiten auslösen könnte, allzu verständlich. Eier von Hühnern aus Freilufthaltung, Gemüse und Obst ohne Rückstände von Pestiziden und Getreide, frei von genetischen Manipulationen erscheinen begehrenswert. Das Geschäft von Metzgern, die mit dem Verkauf von Fleisch aus artgerechter
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Tierhaltung werben, floriert. Nicht nur Tierfreunde nutzen die moralisch unbedenkliche Einkaufsgelegenheit; bei einem solchen Metzger einzukaufen ist schließlich auch zur sozialen Prestigefrage geworden. Der Mensch steckt dann im Dilemma, wenn sich selbst ausgezeichnete Bioprodukte zuweilen als nicht völlig „biologisch rein“ erweisen. Natürlich geschieht der Gang in den Biosupermarkt bei nicht wenigen auch aus Gründen des Sozialprestiges, vor allem Mütter der oberen Schichten, die als verantwortungsvolle Personen gelten möchten, lassen sich dort gern sehen. Das authentische, gesunde Essen ist folglich einerseits zum Sozialkult aufgestiegen, und das neue Etikett „Slow Food“ verkörpert all das Verlangen nach Naturbelassenheit, Regionalität und sanfter, schonend langsamer Zubereitungsweise; andererseits besitzt fast jeder Haushalt ein Mikrowellengerät und die Hersteller von Convenience Food erwirtschaften enorme Umsätze – die Kinder sind zu dick, meist aufgrund ihrer im Elternhaus angelernten Neigung zum Fast-Food-Essen. Dicksein symbolisiert gleichzeitig Erfolglosigkeit, während der dynamische erfolgreiche Mensch schlank und sportlich in den Arbeitsalltag springt, der ihm jedoch gerade keine Zeit lässt für gesunde, selbst zubereitete Kost ohne fremde Zusätze aus dem Lebenmittelchemielabor. In dieser gesellschaftlichen Situation, die tatsächlich einander widersprechende Ansprüche in sich birgt, ist es an sich kaum verwunderlich, dass Medien für die breite Öffentlichkeit eigene Welten konstruieren, die Geschichten von Natur und Romantik einerseits, Aktivität, Erfolg, Dynamik und Praktikabilität andererseits erzählen und das Individuum daran medial teilhaben lassen. Mit frischen, unbelasteten Zutaten selbst Essen zubereiten ist seit einigen Jahren zum Ideal vieler Menschen geworden. Die Medien befriedigen dieses Verlangen, das in der Alltagswirklich nur noch selten täglich stattfindet bzw. stattfinden kann. In unzähligen Fernsehsendungen schaut die Kamera den Kochenden in funktional-edlen Küchenkulissen über die Schulter, gezeigt und erläutert werden Zutaten und Abläufe. Die appetitliche Darstellung der Speisen in Großaufnahme und ihrer Zubereitungsschritte gleicht einer märchenhaften Inszenierung, die gerade deshalb so sehr gefällt, weil
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das Zusehen kognitiv kompensiert: die eigene spartanische Küchenausstattung, das Unvermögen oder den Zeitmangel, tatsächlich selbst zu kochen. Im Fernsehen kochende Köche werden zu Fernsehstars, zu gut bezahlten Prominenten – weit entfernt vom beschaulichen Dasein im Maggi-Kochstudio oder dem Medienleben eines Max Inzinger in den 1970er Jahren. Die einstige Alltagshandlung Kochen wird heute zum glamourösen Medienevent. Zusätzlich füllen meterweise Kochliteratur die Regale der Buchhandlungen. Rezeptsammlungen in einer schier unerschöpflichen thematischen Breite, von den Regionalküchen über die diversen internationalen Küchen, von Großmutters Kochbuch bis zum Kochen für Anfänger, außerdem Bildbände, Warenkunde, versetzt mit Anekdoten, Herkunftsinformationen zu den Lebensmitteln und Gerichten sowie Gesundheitstipps in Hülle und Fülle, Esslexika und kulinarische Ratgeber für Gastgeber – der Markt ist überschwemmt. Allein zum Thema „Schokolade“, die als Inbegriff des luxuriösen Genussmittels eine spezielle Aufmerksamkeit erfährt, werden über 140 Publikationen 61 verzeichnet. Jedes Buch über das Essen, jede Kochsendung und auch jedes beworbene Lebensmittelprodukt erzählt eine Geschichte, es wird das mythologisiert, was es nicht gibt und was es in der gezeigten Hochglanzpräsentation auch nie gegeben hat: eine Welt der schönen Bilder, in der sich guter Geschmack, gutes Aussehen und eine hohe Qualität stimmig vereinen. Köche werden in der Weise personalisiert, dass sie die Speisen sorgend und liebevoll zubereiten, sie werden durch ihre wiederholte mediale Präsenz zu Vertrauten des Rezipienten. Und dass Vertrauen vor allem in Essensfragen eine wichtige Rolle spielt, weiß jeder, der einmal in einem völlig fremden Umfeld völlig fremde Speisen verzehrt hat bzw. verzehren musste. Den Vertrauensbonus erreichen auch Buchautoren, wenn sie, wie der Engländer Jamie Oliver, selbst mehrfach in ihren Publikationen portraitiert sind. Zum üblicherweise unsichtbaren Koch des eigenen Lieblingsrestaurants wird die persönliche F
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61 Die Zahl nennt die über den Buchhandel lieferbaren Bücher (Stand: März 2010).
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Verbindung kaum eine Intensität erlangen können, wie etwa zu Sarah Wiener oder Tim Mälzer, um nur zwei mediale Starköche – nicht zu verwechseln mit „Sterneköche“ – zu nennen. Inszenierungen und Simulationen prägen folglich das Bild der gegenwärtigen Esskultur, während die gesellschaftliche Esswirklichkeit überwiegend zwischen Convenience Food und Imbissbude stattfindet. Auch perfekt ausgestattete elegante Küchen müssen keinen Garanten für Kochtätigkeiten darstellen. Edle Einrichtungen mit Chrom und Glas scheinen eher ein prestigeträchtiger Hingucker zu sein, den man vielleicht lieber nicht beschmutzen möchte. In dieser Situation ist das Kochen in der häuslichen Küche, insbesondere für Gäste, zu einem Zeichen hoher Wertschätzung geworden. Überraschenderweise halten sich rund 68 Prozent der Deutschen für gute oder sehr gute Köche, wie eine Umfrage unter fünftausend Personen ermittelte (vgl. Klaaßen 2009). Nur sechs Prozent von ihnen frönen einmal pro Woche Fast-Food-Speisen wie Pommes frites oder Hamburgern (vgl. ebd.). Diese Zahlen widersprechen jenen, die aussagen, dass vierzig Prozent aller Deutschen kaum noch kochen können (vgl. Grimm 2006: 18). Tatsächlich bestätigt aber auch der Ernährungsbericht aus dem Jahr 2008 (vgl. 2009: 47) eine grundsätzliche Kochkompetenz der Bevölkerung: Vierunddreißig Prozent der vierzehn- bis achtzehnjährigen Frauen geben an, sehr gut oder gut zu kochen, bei den fünfundsechzig- bis achtzigjährigen Frauen sind dies jedoch vierundsiebzig Prozent. Die Distanz zwischen den Altersgruppen verringert sich bei den Männern: Zwanzig Prozent der befragten jungen Männer zwischen vierzehn und achtzehn Jahren beurteilen sich selbst als sehr gute bzw. gute Köche, zweiunddreißig Prozent der männlichen Fünfundsechzig- bis Achtzigjährigen sagen dies von sich. Ernährungsbewusst, eine bestimmte Ernährungsweise einhaltend, essen lediglich 3,9 Prozent der Bevölkerung – hierunter vor allem Frauen (4,9 Prozent) im Gegensatz zu 2,9 Prozent der Männer (vgl. Ernährungsbericht 2009: 42). Das Interesse an gesunder Ernährung wird somit nur von wenigen handelnd umgesetzt. In Artikeln der Printmedien angeführte Studien, wie die des Allensbach-Instituts, das Antworten
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von viertausend Befragten analysiert, zeigen sich andere Ergebnisse – Kochen mit frischen Zutaten habe heute Seltenheitswert (vgl. Bublies 2009). Unter Berücksichtigung des zuvor Dargestellten, der Situationen in unserer Lebenswelt und der Tatsache, dass Fast Food in aller Munde und Mikrowellengeräte in nahezu jeder Küche vorhanden sind, ist man geneigt, den pessimistischen Ergebnissen der Umfragen Glauben zu schenken. Wie dem auch sei, Essen wird dem Menschen in der Wohlstandsgesellschaft stets mehr bedeuten als bloße Nahrungsaufnahme, die ein Verhungern verhindert. Essen steht symbolisch für vielerlei soziale Werte und Normen und ist eingebettet in Geschichten und Diskurse, die von den Menschen in der jeweiligen gesellschaftlichen Wirklichkeit konstruiert und kommuniziert werden.
Literatur Allerbeck, Udo: Botanik des Kakaos. In: Roder, Hartmut (Hg.): Schokolade. Geschichte, Geschäft und Genuss. Bremen: Edition Temmen 2002, S. 8-10. Altwegg, Jürg: Die Kochkunst geht auf die Straße. Der Siegeszug des Restaurants in der Französischen Revolution. In: Schultz, Uwe (Hg.): Speisen, Schlemmen, Fasten. Eine Kulturgeschichte des Essens. Frankfurt am Main, Leipzig: Insel 1995 (2. Aufl.), S. 269283. Anthus, Antonius: Vorlesungen über Eßkunst. Mit Anmerkungen und einem Nachwort versehen von Günter E. Scholz. Bern, Stuttgart, Wien: Scherz 1962 (zuerst 1838). Asterix und die Goten. Großer Asterix-Band VII. Stuttgart: Ehapa 1970. Bailleux, Nathalie/Bizeul, Hervé/Feltwell, John/Kopp, Régine/Kummer, Corby/Labanne, Pierre/Pauly, Cristina/Perrard, Odile/Schiaffino, Mariarosa: Das Buch der Schokolade. Mit einem Vorwort von Jeanne Bourin. München: Heyne 1996. Barth, Bernhard: Das schnelle Essen – Vom Imbiß zum Fast Food. In: Zischka, Ulrike/Ottomeyer, Hans/Bäumler, Susanne (Hg.): Die anständige Lust. Von Eßkultur und Tafelsitten. München: edition spangenberg 1993, S. 370-377. Barthes, Roland: Für eine Psycho-Soziologie der zeitgenössischen Ernährung. In: Freiburger Universitätsblätter, 21. Jg., Heft 75/1982, S. 65-73.
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Kultur und soziale Praxis Sylke Bartmann, Oliver Immel (Hg.) Das Vertraute und das Fremde Differenzerfahrung und Fremdverstehen im Interkulturalitätsdiskurs Dezember 2010, ca. 240 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1292-9
Gabriele Cappai, Shingo Shimada, Jürgen Straub (Hg.) Interpretative Sozialforschung und Kulturanalyse Hermeneutik und die komparative Analyse kulturellen Handelns Juni 2010, 304 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-89942-793-6
Lucyna Darowska, Thomas Lüttenberg, Claudia Machold (Hg.) Hochschule als transkultureller Raum? Kultur, Bildung und Differenz in der Universität November 2010, 136 Seiten, kart., 18,80 €, ISBN 978-3-8376-1375-9
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Kultur und soziale Praxis Özkan Ezli (Hg.) Kultur als Ereignis Fatih Akins Film »Auf der anderen Seite« als transkulturelle Narration November 2010, 164 Seiten, kart., 22,80 €, ISBN 978-3-8376-1386-5
Doris Weidemann, Jinfu Tan Fit für Studium und Praktikum in China Ein interkulturelles Trainingsprogramm August 2010, 188 Seiten, kart., 17,80 €, ISBN 978-3-8376-1465-7
Ayfer Yazgan Morde ohne Ehre Der Ehrenmord in der modernen Türkei. Erklärungsansätze und Gegenstrategien Dezember 2010, 350 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1562-3
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Kultur und soziale Praxis Aida Bosch Konsum und Exklusion Eine Kultursoziologie der Dinge Januar 2010, 504 Seiten, kart., zahlr. farb. Abb., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1326-1
Anne Broden, Paul Mecheril (Hg.) Rassismus bildet Bildungswissenschaftliche Beiträge zu Normalisierung und Subjektivierung in der Migrationsgesellschaft Mai 2010, 294 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1456-5
Nesrin Z. Calagan Türkische Presse in Deutschland Der deutsch-türkische Medienmarkt und seine Produzenten August 2010, 302 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1328-5
Kathrin Düsener Integration durch Engagement? Migrantinnen und Migranten auf der Suche nach Inklusion Januar 2010, 290 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1188-5
Jörg Gertel Globalisierte Nahrungskrisen Bruchzone Kairo Juli 2010, 470 Seiten, kart., zahlr. Abb., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1114-4
Jörg Gertel, Ingo Breuer (Hg.) Alltags-Mobilitäten Aufbruch marokkanischer Lebenswelten Dezember 2010, ca. 350 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-89942-928-2
Martina Grimmig Goldene Tropen Zur Koproduktion natürlicher Ressourcen und kultureller Differenz in Guayana Januar 2011, ca. 320 Seiten, kart., ca. 34,80 €, ISBN 978-3-89942-751-6
IPSE – Identités Politiques Sociétés Espaces (Hg.) Doing Identity in Luxemburg Subjektive Aneignungen – institutionelle Zuschreibungen – sozio-kulturelle Milieus Juli 2010, 304 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1448-0
Anne-Christin Schondelmayer Interkulturelle Handlungskompetenz Entwicklungshelfer und Auslandskorrespondenten in Afrika. Eine narrative Studie August 2010, 380 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1187-8
Tina Spies Migration und Männlichkeit Biographien junger Straffälliger im Diskurs November 2010, 438 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1519-7
Asta Vonderau Leben im »neuen Europa« Konsum, Lebensstile und Körpertechniken im Postsozialismus Juni 2010, 238 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1189-2
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