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German Pages [510] Year 2014
BIOGRAPHIK. Geschichte – Kritik – Praxis Herausgegeben von Joachim Grage, Melanie Unseld und Christian von Zimmermann Band 3
Melanie Unseld
Biographie und Musikgeschichte Wandlungen biographischer Konzepte in Musikkultur und Musikhistoriographie
2014 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN
Gefördert durch die Mariann Steegmann Foundation
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Umschlagabbildung: Fotografie: Susanne Tiepelmann, Hamburg (www.tiepelmann.de) Composing: Peter Bastian
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Inhalt
Einleitung........................................................................................................................ 7 Erster Teil (Musiker-)Biographie als Erinnerungskultur
1. Erinnerung und Gedächtnis. Einige Vorüberlegungen ............................. 39 Nachdenken über Gedächtnis........................................................................... 42 Nachdenken über Erinnerung .......................................................................... 46 Geschichte und Gedächtnis .............................................................................. 50 Medien der Erinnerungskultur(en).................................................................. 56 Musikbiographisches Denken und Handeln als Erinnerungskultur ..... 59 2. Biographiewürdigkeit von Musikern und Musikerinnen.......................... 69 Von impertinenten Musikanten und »edlen Tonkünstlern«. Tugendvorstellungen als Kategorie für Biographiewürdigkeit .............. 74 Biographie(un)würdigkeit: Johann Mattheson versus Johann Adolf Scheibe............................................................................................ 77 3. Schreiben über Musiker und Musikerinnen: Musiklexika und Musikhistorie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ...................... 85 Quellen ..................................................................................................................... 86 Personenauswahl ................................................................................................... 89 Mehr Silhouetten denn Modell. Vielfalt biographischen Schreibens ..... 92 4. Vom Lexikalischen zum Monographischen und eine nicht-geschriebene Biographie.......................................................................... 101 Zweiter Teil Biographische Konzepte in Musik und Musikgeschichtsschreibung
1. Anekdote als biographisches Konzept............................................................ 117 Johann Matthesons Lully-Biographie als »deutliches Model« .............. 119 Mozart-Anekdotik................................................................................................. 130 2. Wunderkind, Karriere und Zirkel: Lebenslauf-Modelle .......................... 137 3. Subjekt, Genie, Komponist. Konzepte um 1800.......................................... 164 Idealisierung ............................................................................................................ 173 Nachdenken über das Genie.............................................................................. 180 Konsequenzen für die Musikerbiographik: Quellen................................... 189 Weitere Konsequenzen: Kanonisierung.......................................................... 197 4. Ein »neues Rezept« versuchen. Literarisch-biographische Konzepte..... 213 E. T. A. Hoffmann ................................................................................................ 214 Russische Mozart- und Beethoven-Bilder der 1830er Jahre .................. 219 5. Nationale Bilder: Beispiele lexikalisch-biographischer Großprojekte .... 236
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Inhalt
6. Monumental: Der Komponist als Heroe ....................................................... 244 Beethoven als Heroe ............................................................................................ 267 7. Komponist ohne Bild: Nadia Boulangers Plädoyer für eine Musikgeschichte »à-personnelle«..................................................................... 288 8. (Auto)Biographische Individualitätskonzepte während und nach den Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges................................................... 297 Eliška Kleinová ...................................................................................................... 301 Charlotte Salomon ................................................................................................ 305 Leni Alexander ...................................................................................................... 313 9. Gegen eine Biographik der »gestanzte[n] Meinungen«: Adriana Hölszkys Oper Giuseppe e Sylvia ..................................................... 318 10. Parallele Bilder, offene Modelle: Alma Mahler, W. A. Mozart, Bob Dylan................................................................................................................. 353 Dritter Teil Musikwissenschaft und Biographie
1. Musikwissenschaft: Anfänge mit und ohne Biographik............................ 367 Biographik als Bestandteil von Musikwissenschaft: Friedrich Chrysander und Philipp Spitta ...................................................... 369 Biographik als Problem der Musikwissenschaft: Guido Adler und Hugo Riemann..................................................................... 375 2. Antibiographische Konzepte und ihre Folgen ............................................. 385 Wider das Populare................................................................................................ 386 Das Narrative und die Askese der Sprache................................................... 390 Das Narrative auslöschen: Dokumentarbiographik und Chronik ........ 399 »eine bemerkenswerte Zurückhaltung der Musikwissenschaft« Biographie und Musikwissenschaft in den 1970er und 1980er Jahren..... 403 Wider das Triviale: Carl Dahlhaus’ Polemik von 1975 und ihre Folgen ....................................................................................................................... 407 3. Die (Un)Sichtbarkeit des Biographen............................................................. 419 Die Subjektivität der ›objektiven‹ Biographin Lina Ramann .................. 422 Biographische Interviews, eine »Wahrheit zu zweit«................................. 427 Sichtbar? Spuren im Text .................................................................................... 430 Anstelle eines Fazits: Anforderungen an eine gegenwärtige musikwissenschaftliche Biographik ................................................................... 436 Anhang
Literatur........................................................................................................................... 445 Personenregister ........................................................................................................... 506 Abbildungsverzeichnis................................................................................................ 513
Einleitung
Die Musikerbiographie ist eine durchaus umstrittene Gattung, und dies nicht nur, weil die Biographik allgemein als hybride Form, angesiedelt zwischen Literatur und Wissenschaft, gilt, sondern vor allem auch, weil die Musikwissenschaft ein besonderes, nicht eben konfliktarmes Verhältnis zur Musikerbiographik pflegt(e). Wenn mit der vorliegenden Studie eine Grundlage zu einer Geschichte der Musikerbiographik gelegt werden soll, ist daher an den Anfang zu stellen, dass es primär nicht um eine »Rehabilitierung« einer in der Musikwissenschaft vielfach geschmähten Gattung geht, sondern um das Verstehenwollen jener Zusammenhänge, die – knapp zusammengefasst – zum Aufblühen der Gattung im 18. Jahrhundert, ihrer »großen« Zeit im 19. und ihrer Diskreditierung im 20. Jahrhundert geführt haben. Diese Zusammenhänge stellen sich als ein Stück Fachgeschichte der Historischen Musikwissenschaft dar und sind zugleich nicht ohne diejenigen denkbar, die das Material zu den Biographien abgeben, die Musiker und Musikerinnen, nicht ohne diejenigen, die Biographien schreiben, und nicht ohne diejenigen, die Biographien (nicht) lesen. Dass diese Personengruppen in einem komplexen Wechselverhältnis zueinander stehen, wird erkennbar, wenn man die Geschichte der Biographik als eine »Geschichte der Einvernahme biographierter Gestalten für vielfältige historische, politische, soziale, ethische Zwecke«1 begreift, wie dies Christian von Zimmermann in seiner Studie Biographische Anthropologie vorgeschlagen und für die Biographik zwischen 1830 und 1940 entfaltet hat. Dieser Grundidee ist auch die vorliegende Studie verpflichtet: Es geht weniger darum, etwa die Idealisierungen einer Mozart-Biographie oder die Heroisierungen einer Beethoven-Biographie aufzulisten, sondern vielmehr darum, die Zusammenhänge begreifbar zu machen, in denen es zu diesen Idealisierungen, zu diesen Heroisierungen kam. Ebenso wenig geht es darum, den Ausschluss der Biographik aus der Musikwissenschaft zu bewerten, sondern den Gefügen nachzugehen, die es notwendig erscheinen ließen, die Biographie zunächst als Hilfswissenschaft zu deklassieren, um sie dann gänzlich aus der Historischen Musikwissenschaft zu verabschieden. Damit wendet sich die Studie zwei Grundthemen zu, nämlich den wechselnden Darstellungsstrategien einerseits, die für Biographien von Musikern und Musikerinnen zwischen dem 18. Jahrhundert und der Gegenwart angewandt wurden mitsamt der Geschichtlichkeit der jeweils historisch konstru-
1 Von Zimmermann 2006, S. 37.
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Einleitung
ierten Bilder,2 sowie andererseits dem Wechselverhältnis von Musikerbiographik und Musikgeschichtsschreibung bzw. Historischer Musikwissenschaft. Beide Grundthemen sind dabei nicht ohne jeweilige Rückbindung an zahlreiche Themenfelder denkbar, etwa die Bedeutung von Musik in den jeweiligen Gesellschaften und damit aufs engste verknüpft die sozialen Rollen von Musikern und Musikerinnen; das Schreiben über Musik, zu dem die Musikerbiographik hinzuzurechnen ist; die Prämissen und die Akteure musikwissenschaftlichen Handelns, die Wissensordnungen anlegen, verändern oder vereindeutigen; die Fragen von Kanonisierungsprozessen und Modellen von Musikgeschichtsschreibung; schließlich auch, den engeren Bereich der Musik verlassend, Fragen nach dem Subjekt, genauer: der Konstitution des Subjekts in sozialen Prozessen. Die vorliegende Studie sieht sich mit diesen Grundthemen und den mit ihnen verbundenen Themenfeldern einem interdisziplinären Dialog verpflichtet. Ohne Frage kann sie mit großem Gewinn an die jüngere und jüngste Biographieforschung in den Literatur-, Geschichts- und Kunstwissenschaften sowie an die Genderstudies, die Kulturwissenschaften, die Erinnerungsforschung und die Kultursoziologie anknüpfen. Die Musik freilich, die ihr Kern bleibt, hält dabei an einigen Punkten Besonderheiten bereit, die sich nicht nur als Beitrag zur interdisziplinären Biographieforschung verstehen, sondern die auch die Notwendigkeit und den Ertrag interdisziplinärer Forschung unterstreichen: So stellt beispielsweise der im Vergleich mit anderen Künsten auffallend späte Erwerb der Biographiewürdigkeit von Musikern und Musikerinnen eine Besonderheit dar, ebenso wie das vergleichsweise frühe biographische Eintrittsalter (das eine von Mozart ausgehende »Wunderkind«-Biographik befördert), die Frage der musikalischen Profession(en) in der Ein- oder Mehrzahl, die auf die Distinktion des Komponisten abzielt und damit eine Werkautonomieästhetik forciert, u. a. m. Bevor die beiden Grundthemen, die auch die beiden großen Abschnitte dieser Studie bilden (Zweiter und Dritter Teil), in den Blick genommen werden, sind im Ersten Teil daher einige Ausgangsfragen zu klären, die das Netz aufspannen, in dem die Grundthemen Anknüpfungspunkte finden. Insbesondere ist die Frage, wie, wann und unter welchen Umständen die Biographie als Medium der Erinnerungskultur in die Musikkultur Aufnahme fand, mithin Musikerinnen und Musiker erinnerungs- und damit biographiewürdig wurden, eigens zu betrachten. Jenes Netz ist an zahlreichen Enden offen: Es benennt 2 Jolanta Pekacz verzeichnet dies – vorläufig nur für das 19. Jahrhundert und trotz der Studie von Hans Lenneberg (Lenneberg 1988) – als Desiderat, wenn sie betont: »The story of how nineteenth-century biographies were constructed and perpetuated, and how they molded our perception of noted musical figures, still remains to be told.« Pekacz 2004, S. 56.
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Zusammenhänge, die an anderer Stelle (und zumeist in anderen Disziplinen) ausführlicher bearbeitet wurden. Auf solche Tiefendimensionen greift diese Studie zurück, ohne sie selbst jeweils annähernd adäquat ausbreiten zu können. Das Prinzip des Netzes ist vielmehr, diese Zusammenhänge in den Blick zu nehmen, um die Anknüpfungspunkte seitens der musikwissenschaftlichen Perspektive erkennbar werden zu lassen. So gehört zu den Ausgangsfragen das komplexe Verhältnis von Geschichte und Biographie, denn die Musikgeschichtsschreibung und die Musikerbiographik orientieren sich mehrfach an den vielfältigen Diskussionen, partizipieren an ihnen oder grenzen sich von ihnen ab, profilieren sich im Abgleich mit ihnen um ihrer eigenen Spezifik willen. Zu den Ausgangsfragen gehört auch das Verhältnis zur Autobiographie. Zu Recht wird sie als eigenständiges Forschungsfeld wahrgenommen und könnte daher auch hier mit einiger Berechtigung außen vor bleiben. Mehrere Gründe freilich sprechen dafür, anders zu verfahren: Das Verhältnis von Selbst- und Fremdinszenierung ist im Musikschrifttum von Anfang an ein besonders enges. Nicht nur, weil Komponisten wie Georg Philipp Telemann, Christoph Graupner oder Carl Philipp Emanuel Bach das Potential historiographischer Lenkungsmöglichkeiten mithilfe autobiographischen Schreibens früh erkannten, nicht nur, weil autobiographische Selbstinszenierungsstrategien für den künstlerischen wie ökonomischen Erfolg von Musikern und Musikerinnen spätestens seit dem 19. Jahrhundert eine wichtige Rolle spielten, sondern auch, weil mehrfach die Zusammenarbeit zwischen Musiker oder Musikerin und Biograph oder Biographin die Grenzen zwischen Selbst- und Fremdinszenierung vollends verwischte, so dass hier adäquaterweise von einer auto-/biographischen Mischform die Rede sein müsste. Die außerhalb der Musikwissenschaft rege Theoriedebatte und produktive Biographikforschung seit den späten 1970er Jahren blieb innerhalb der Musikwissenschaft lange wenig oder unbeachtet.3 Der zweimalige Ausschluss der Biographie aus dem Zentrum des Fachs – 1885 durch Guido Adler und 1975 durch Carl Dahlhaus –, verbunden mit dem Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit, war lange allzu dominant, um die Musikwissenschaft an die interdisziplinäre Biographikforschung anzuschließen und aus diesem Dialog wichtige Impulse für die innerfachliche Diskussion zu gewinnen. Gleichwohl sind Spuren dekonstruktivistischer, multimedialer, gendertheoretischer, de-subjektivierender und anderer, die gegenwärtige Auseinandersetzung mit Biographie beeinflussenden Faktoren auch in der Musik, der Musikgeschichtsschreibung 3 Zu erwähnen ist zwar die Studie von Hans Lenneberg, doch geht diese weniger von einer theoretischen Auseinandersetzung mit Biographik aus, als von der (in der Nachfolge Guido Adlers zu verortende) Idee der Musikerbiographie als »an adjunct to general musical history« (vgl. Lenneberg 1988, S. 17). Dazu auch Unseld 2009b.
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und der Musikwissenschaft angekommen. Dies zeigen nicht zuletzt Kompositionen, Filme, Theaterstücke und Ausstellungen, die sich, solchermaßen angeregt, mit Musikerbiographien auseinandersetzen. Um nur wenige zu nennen: Adriana Hölszkys Oper Giuseppe e Sylvia (UA 2000), Kurt Palms Mozart-Film Der Wadenmesser (2005) oder Todd Haynes’ Bob Dylan-Film I’m not there (2007), das Polydrama Alma (UA 1996) oder auch die Wiener Mozart-Ausstellung Experiment Aufklärung (2006).4 Es scheint daher angezeigt, die Musikwissenschaft an die interdisziplinäre Biographikforschung anschlussfähig zu machen, nicht zuletzt um diesen vielfältigen Annäherungen an musikalische Biographik adäquat gegenübertreten zu können. Dazu zu schweigen hieße, einer theorielosen, sich tendenziell der Heroenbiographik des 19. Jahrhunderts zuneigenden Biographik das Feld zu überlassen; es hieße, die Bedeutung, die die Musikerbiographik für die Fachgeschichte zweifellos hatte, zu negieren; und hieße schließlich auch, die Methoden von Musikwissenschaft als unveränderbar misszuverstehen. Dies freilich wäre ein Fehlschluss mit weitreichenden Folgen, denn jede Methode steht im Austausch mit zeitgenössischen Diskursen, ist abhängig von den Akteuren der Wissenschaft, ihren Interessen und ihren Gegenständen. Methoden sind damit nie a-historisch, sind nicht ohne historische Verortung zu verstehen. Eine produktive Auseinandersetzung mit Biographik innerhalb der Musikwissenschaft heißt daher, nicht nur KomponistInnen in ihren künstlerischen Selbstkonzepten wahrzunehmen, sondern auch MusikwissenschaftlerInnen in ihren jeweiligen disziplinären Verortungen, BiographInnen mit ihren jeweiligen biographischen Modellen, ganz zu schweigen von anderen AkteurInnen, die die Musikkultur beeinflussen. Auf der Agenda steht damit nicht die Biographisierung aller AkteurInnen, sondern die Sichtbarmachung der Konstruktivität musikhistorischer Bilder sowie die Vergegenwärtigung der Geschichtlichkeit des jeweiligen Bildes des Musikers oder der Musikerin. Um zunächst eine einleitende Orientierung zu den Wechselverhältnissen von Biographie, Geschichte und Musikkultur zu geben, ist zu erwähnen, dass bereits das Verhältnis von Biographie und Geschichte ein ambivalentes, vor allem ein im historischen Längsschnitt höchst wandelbares ist. Denn zahlreiche grundsätzliche Fragen sind in diesem Verhältnis inbegriffen: zunächst diejenige, was ein Subjekt sei und wie es sich in seiner geschichtlichen Dimension wahrnehmen lasse, die Frage nach der Relation von Individuum und Gesellschaft, nach dem Verhältnis der Gegenwart zur Geschichte wie zur Geschichtsschreibung und damit nicht zuletzt zu ihrem Wissenschafts4 Zu diesen Beispielen finden sich im Zweiten Teil der Studie weiterführende Betrachtungen.
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verständnis, in dem die Biographik aufgehoben sein oder aus dem sie herausargumentiert werden kann. Und so bleibt das wechselhafte Verhältnis von Biographie und Geschichte jenes Tableau, vor dem sich die Frage des Verhältnisses von Biographie und Musikgeschichte5 verhandeln lässt, sei es in Analogie, Interdependenz oder Abgrenzung. In diesem Sinne durchkreuzen sich auch im folgenden einleitenden Überblick, der die Ausgangsbasis für die in den drei Hauptteilen fokussierten Einzelbetrachtungen bieten soll, die Perspektiven von Biographie, Geschichte und Musikkultur. Um die Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert heben Reflexionen darüber an, Musiker überhaupt in den Fundus der Biographiewürdigen aufzunehmen. Wolfgang Caspar Printz legt hierzu in seiner Historischen Beschreibung der edlen Sing- und Kling-Kunst 1690 einen frühen lexikalischen Versuch vor. Im Verlauf des 18. Jahrhunderts nehmen diese Reflexionen nicht nur zu, sondern die aus ihr folgenden Konsequenzen zeitigen auch eine immer größer werdende Vielfalt an musikhistorischen und biographischen Texten. Zeitgleich erlebt die Geschichtswissenschaft – vor allem seit der Mitte des 18. Jahrhunderts – eine grundlegende Neuausrichtung.6 Sie löst sich von ihren alten Aufgaben als Hilfswissenschaft, als die sie für andere Disziplinen – vor allem für die Theologie – gedient hatte. Geschichte wird als neue, eigenständige, universitäre Disziplin etabliert, auch institutionell verankert, wie dies Guido Heldt am Beispiel der Göttinger Universität als Wirkort des Bach-Biographen Johann Nikolaus Forkels aufgezeigt hat. Dort wurde 1766 das Historische Institut gegründet, geleitet von Johann Christoph Gatterer, wobei »von den 93 Inhabern historischer Lehrstühle, die ihre Posten zwischen 1700 und 1800 antraten, […] 60 studierte Theologen und 29 studierte Juristen«7 waren. Die Tatsache, dass zunächst Nicht-Historiker die Disziplin prägen, ist analog auch für die Musikgeschichtsschreibung und die Musikerbiographik noch bis ins 19. Jahrhundert wahrnehmbar: Aus den Philologien, der Archäologie, aus Jura und anderen Disziplinen kommen Wissenschaftler, die dann als Biographen und Musikhistoriker die frühe Fachgeschichte mitbestimmen. Mit der institutionellen Neuverankerung der Geschichtswissenschaft gehen auch me5 Zu Recht kritisiert Albrecht Schneider, dass die Annahme, die Musikgeschichtsschreibung beginne mit der Aufklärung, selbst sich als »usurpatorische Gleichsetzung von ›Geschichtlichkeit‹ und ›Abendland‹, Aufklärung und Neuzeit, den Ideen des Singulären und des werthaft Einzigartigen« zu erkennen gebe (Schneider 1984, S. 168). In diesem Sinne sei an dieser Stelle auch explizit nicht von einem »Beginn« der Musikgeschichtsschreibung im 18. Jahrhundert die Rede, sondern von einer Neuausrichtung, die gleichwohl für das Verhältnis zur Biographik einen zentralen Moment widerspiegelt. 6 Dazu u. a. Bödeker/Iggers/Knudsen/Reill (Hg.) 1986. 7 Heldt 2008, S. 286.
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thodische Veränderungen einher: »Die kritische philologische Methode auf historischer Grundlage, die so oft der Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts als charakteristisches Element zugeschrieben worden ist, war bereits um die Mitte des 18. Jahrhunderts ausgebildet […]. Darüber hinaus ist ein sich rapide erweiterndes Interesse der Aufklärer an menschlichen Leistungen […] unübersehbar.«8 Diese Voraussetzungen aber bringen Diskussionen über das Verhältnis von Biographie und Geschichtsschreibung auf die Agenda der Historiker: Während Autoren wie Lenglet du Fresnoy, Thomas Abbt, Johann Martin Chladenius, Johann Christoph Gatterer und andere »die Erziehungsfunktion der Biographie« zwar nicht bestreiten, wird jedoch »ihr allgemeiner Wert für die Geschichtserkenntnis geringgeschätzt«.9 Daniel Jenisch, Johann Gottfried Herder und andere hingegen »werten die Biographie durchaus als vollgültige Gattung der Geschichtsschreibung mit einer eminent wichtigen pädagogischen Aufklärungsfunktion«.10 Jenisch, Autor einer dreibändigen Cultur-Geschichte des achtzehnten Jahrhunderts (1800/1801) und Verfasser einer Theorie der Lebens-Beschreibung (1802), spricht sich nicht nur klar für einen engen Konnex von Geschichte und Biographie aus, sondern hebt explizit den Wert der Biographie für die Geschichtsschreibung hervor: »Daher beleuchten und begründen sich Geschichte und Biographie gegenseitig. Ein nicht kleiner Theil der gegenwärtigen Unvollständigkeit und Unverläßlichkeit der Geschichte würde verschwinden, so bald die Geschichte aus lauter vollständigen Biographien der auf ihrer Thatenbühne handelnden Menschen zusammengesetzt werden könnte.«11 Einem ähnlichen Programm folgt auch die Zeitschrift Der Biograph, die zwischen 1802 und 1808 in Halle erscheint. Im Untertitel (»[…] Für Freunde historischer Wahrheit und Menschenkunde«) wird dies ebenso expliziert wie im Vorwort zum ersten Band: Der Biograph lifert in steter Abwechslung theils längere, theils kürzere Biographien merkwürdiger Menschen aus allen Ständen, deren Namen Kronos auf seine Zeittafel der drey letzten Jahrhunderte eingeschrieben hat. Mit eigentlichen Biographien wechseln von Zeit zu Zeit historische Abhandlungen, die mit der Biographik in enger Verbindung stehn, Beurtheilungen und kurze Auszüge aus neu erscheinenden biographischen Werken, so weit sie den Zeitraum, welchen sich der Biograph gesetzt hat, betreffen.12
8 Bödeker/Iggers/Knudsen/Reill (Hg.) 1986, S. 12. 9 Engelberg/Schleier 1990, S. 197. 10 Ebda. 11 Jenisch 1802, S. 3f. 12 [Anonym] 1802–1810, Bd. 1, Vorwort.
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Auch Johann Wolfgang von Goethe setzt in seiner Autobiographie das Wechselverhältnis von Biographie und Geschichte unmissverständlich ins Bild: »Die Geschichte, selbst die beste, hat immer etwas Leichenhaftes, den Geruch der Totengruft. Ja man kann sagen, sie wird immer verdrießlicher zu lesen, je länger die Welt steht.« Der Biograph aber, »der ihr das Lebendige, das sich ihren Augen entzieht, aufbewahren und mitteilen mag«, schaffe dagegen Abhilfe. Die Biographie solle, so Goethe, »einen großen Vorrang vor der Geschichte erwerben, indem sie das Individuum lebendig darstellt und zugleich das Jahrhundert, wie auch dieses lebendig auf jenes einwirkt«.13 Diese damit unterschiedlich beantwortete Frage des Verhältnisses zwischen Geschichte und Biographik hat für Musikgelehrte des 18. Jahrhunderts und frühen 19. Jahrhunderts insofern besondere Brisanz, als von einem »natürlichen« Zusammenhang zwischen dem Charakter des Komponisten und seinem Werk ausgegangen wird, damit auch die Biographie als wichtiger Teil des Musikverstehens gilt. Davon ist bereits in der Ehren-Pforte die Rede, wenn Johann Mattheson betont, dass die moralische Integrität der Komponisten sich auch in ihrer »Schreibart« erkennen lasse.14 Und noch Hans Georg Nägeli erklärt 1826: »Warum aber in seinen [= Mozarts] großen (langen) Instrumentalwerken bey aller Genialität keine wahre Stylgröße […] vorhanden ist, das erklärt sich wohl am natürlichsten aus Mozarts Charakter und Lebensweise: Er war zu eilfertig, wo nicht leichtfertig, und componirte, wie er war.«15 Damit aber ist Musikverstehen eng an die biographische Erschließung ihres Urhebers gekoppelt. Dass Ulrich Konrad an dieser Koppelung deutliche Kritik übt (»Problematisch werden Nägelis Ausstellungen allerdings da, wo er Mozarts vermeintlichen Charakter und seinen musikalischen Stil in Verbindung setzt«16), macht zwar deutlich, dass sich in den rund 170 Jahren Fachgeschichte grundlegende Annahmen der Interdependenzen von Biographik und Musikverstehen verändert haben.17 Festzuhalten aber bleibt, dass der Zusammenhang von Biographie und Werk zu Beginn des 19. Jahrhunderts als »natürlich« angesehen und damit biographisches und musikanalytisches bzw.
13 Später unterdrücktes Vorwort zum Dritten Teil von Dichtung und Wahrheit, Goethe 1981, S. 843. 14 Vgl. dazu das Kapitel Von impertinenten Musikanten und »edlen Tonkünstlern«. Tugendvorstellungen als Kategorie für Biographiewürdigkeit im vorliegenden Band. 15 Nägeli [1826] 1980, S. 169. 16 Konrad 1995, S. 5. 17 Vgl. hierzu auch das Kapitel Antibiographische Konzepte und ihre Folgen.
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‑ästhetisches Schreiben nicht voneinander getrennt werden, wie etwa auch in E. T. A. Hoffmanns Beethoven-Rezeption deutlich wird.18 Mit Goethes Dichtung und Wahrheit gelangt unversehens die Autobiographie19 in das Betrachtungsfeld, was einer Erklärung bedarf, zieht doch die gegenwärtige Forschung zu Recht eine deutliche Trennlinie zwischen Biographie und Autobiographie, wenngleich ohne den Anspruch, »feste Gattungsgrenzen etablieren zu wollen«.20 Auch hier aber ist es notwendig, die Veränderungen in der Wahrnehmung von Autobiographien im Wechselverhältnis zur Geschichtsschreibung zu berücksichtigen, gilt die Autobiographie doch bis ins 18. Jahrhundert als diejenige Quelle, die am verlässlichsten über Personen Auskunft zu geben vermag.21 Entsprechend sieht Helmut Scheuer sogar eine Dominanz der Autobiographie im 18. Jahrhundert: Ein Blick in die Geschichte der Biographik im 18. Jahrhundert […] belehrt uns, daß wir zwar ausgeführte Autobiographien haben, die sich dem chronologisch-teleologischen Prinzip beugen […], aber keine Beschreibung fremden Lebens im Sinne unserer (heutigen) Biographievorstellung. Es scheint, daß Autobiographie und Roman die Funktion übernommen haben, Lebensverwirklichungen als Vorbild bzw. Warnung – wie es dem didaktischen Anliegen der Biographik entspricht – dem Leser vorzuführen.22
Auch für die Musikgeschichtsschreibung wie für die Musikerbiographik hat die Autobiographie einen besonderen Stellenwert. Auch hier dominiert bis ins 18. Jahrhundert hinein vor allem die Vorstellung, dass insbesondere Autobiographien eine hervorragende, da wahrheitsnahe Quelle der Musikgeschichtsschreibung seien.23 Johann Mattheson, der mehrfach Musikerkol-
18 Auch Goethe betont, dass seine Autobiographie Dichtung und Wahrheit »ihre Hauptabsicht« erreicht hat, wenn sie »als Einleitung zu meinen poetischen und andern Produktionen dien[t]« (Paralipomena, Nr. 78, Goethe 1986, S. 972). Vgl. dazu auch Goethes Widerspiegelungsthese: »Denn dieses scheint die Hauptaufgabe der Biographie zu sein, den Menschen in seinen Zeitverhältnissen darzustellen, und zu zeigen, inwiefern ihm das Ganze widerstrebt, inwiefern es ihn begünstigt, wie er sich eine Welt- und Menschenansicht daraus gebildet, und wie er sie, wenn er Künstler, Dichter, Schriftsteller ist, wieder nach außen abgespiegelt.« Goethe 1986 (Dichtung und Wahrheit, Vorwort), S. 13. 19 Zur Autobiographie vgl. Niggl 1977, Niggl 1998, Wagner-Egelhaaf 2000 und Holdenried 2000. Zur Musiker-Autobiographik des 18. und frühen 19. Jahrhunderts vgl. Viehöver 2011. 20 Von Zimmermann 2006, S. 19, vgl. zur Argumentation der Distinktion ebda., S. 19–23. 21 Vgl. hierzu die Bedeutung der Zeitzeugenschaft bei Samuel Johnson und James Boswell, s. Jonas 2009, S. 289f. 22 Scheuer 1979a, S. 13. 23 Dazu auch Kremer/Hobohm/Ruf (Hg.) 2004.
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legen zum Einreichen ihrer Autobiographien aufgerufen hatte,24 begründet auf dem autobiographischen Schreiben die »musikalischhistorische Sphäre« seiner Ehren-Pforte. Und er betont, dass er nicht aus »gedruckten Büchern« die Informationen über die Musiker gewonnen habe, sondern »aus eigenhändigen Berichten […]: und eben darum sind wohl die in unsrer Ehrenpforte enthaltene Beschreibungen desto gültiger«.25 Hier scheint deutlich eine neue Wissenskultur26 auf: Mattheson kompiliert nicht aus altem, kanonisiertem Wissensbestand, stattdessen wird gerade das autobiographische Schreiben als für die Musikgeschichtsschreibung umso wertvoller veranschlagt.27 Festzuhalten bleibt, dass die Autobiographie – mit oder ohne Ansehung ihres selbstinszenatorischen Grundgehalts – zumindest im 18. Jahrhundert wesentlicher Bestandteil des Schreibens über Musik in ihrer historischen und personalen Dimension ist. Und noch die Wertschätzung von Zeitgenossenschaft – verstanden als Merkmal besonderer Qualität und Objektivität –, die für die Biographik um 1800 bezeichnend ist, trägt Spuren dieser Überzeugung, dass nicht aus der Repetition und Filiation der Textautoritäten Wissen zu gewinnen sei, sondern aus dem, was der Biograph an individuell-zeitgenössischem Wissen selbst zusammenträgt. Mit der Entwicklung eines an ökonomischen Interessen orientierten, ›freien‹ Musikmarktes wird die Autobiographie zusätzlich ein probates Medium der werbewirksamen Selbstinszenierung, sowohl mit Blick auf verlegerische Interessen, vielfach aber auch bereits mit konkreten Vorstellungen, auf diese Weise ein Eigenbild zur musikhistorischen Weiterverarbeitung zu geben. Wie zielgenau Komponisten und Komponistinnen gerade auch die musikhistoriographische Einflussnahme einer Autobiographie im Blick haben, kann beispielhaft noch an den Autobiographien von Richard Wagner und Luise Adolpha Le Beau betrachtet werden, die 1910 und 1911 erschienen. So nah die Erscheinungsdaten liegen – die beiden Autobiographien könnten nicht unterschiedlicher sein: Richard Wagners Mein Leben, postum erschienen, folgt dem Konzept der Inszenierung als genialisch-heroischer Künstler, maßgeblich befördert durch seine Witwe Cosima Wagner und ihr Verständnis von Erinnerungskultur. Le Beaus Lebenserinnerungen einer Komponistin hingegen 24 Erstmals ist 1715 vom »Project« die Rede, »dass man vorläufig einige persönliche Nachrichten de Viris musica clarissimis sammlete«, ab 1718 ruft Mattheson explizit zur Mitarbeit auf, ein für das frühe 18. Jahrhundert übliches Verfahren bei der Entstehung von Gelehrtenlexika. Dazu und zur Entstehungsgeschichte der Ehren-Pforte vgl. Viehöver 2010, insbes. S. 182–186. 25 Mattheson 1740, S. XI. 26 Vgl. Koschorke 1999. 27 Vera Viehöver gibt hierzu eine instruktive Neubewertung von Mattheson biographischer und autobiographischer Arbeit, vgl. Viehöver 2011, insbes. S. 112–118.
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ist als Versuch zu sehen, sich als Komponistin in die Musikgeschichte hineinzuschreiben, wobei kein spezifisches Inszenierungsmuster bereitsteht, so dass Le Beau auf eine allgemeine autobiographische Topik zurückgreift, um sich als historisch relevante, professionelle Komponistin zu präsentieren.28 In beiden Fällen aber wird nicht allein die Konstruktivität der Selbstlebensbeschreibung, sondern auch ihr Austausch mit erwarteten und verweigerten Fremdbildern erkennbar: »Ebensowenig wie sich in der Dokumentarliteratur das ›Faktische‹ schlechthin zeigt, so wenig kommt in der Autobiographik Subjektivität schlechthin zum Vorschein. Sie zeigt sich immer als historisch bestimmte Subjektivität, bestimmt hinsichtlich des stofflichen Lebensschicksals, der sozialen Position, der Sprachform, der Selbstdarstellungsgebärde, bestimmt aber auch in den Zwecksetzungen, den Denkmitteln, Begriffen und Grenzen der Selbstinterpretation.«29 Noch einmal ist freilich in die Sattelzeit zurückzukehren. Der Germanist Albrecht Koschorke hat in seiner Studie Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts gedächtnistheoretische Voraussetzungen auf die Schriftkultur des 18. Jahrhunderts bezogen und dabei Veränderungen herausgearbeitet, die auch für die Musikbiographik des 18. und frühen 19. Jahrhunderts Relevanz beanspruchen können. Koschorke geht von einem Strukturwandel aus, der eine neue Schriftkultur in Abkehr von der bis dato von Klerus und Adel beherrschten Wissenskultur herausgebildet habe: Im 18. Jahrhundert »ist das kulturelle Gedächtnis in seinen offiziellen Hauptbeständen längst schriftlich verfestigt. Eine Fülle von Texten wurde kanonisiert, und Klerus und Gelehrtenstand sind beauftragt, sie autoritativ auszulegen. Aber gerade die gesellschaftlichen Gruppen, die das Privileg der Schriftverwaltung genießen, geraten durch den Prozeß der Aufklärung in eine Legitimationskrise.«30 An dieser Stelle aber sei eine »neue Intelligenz an die Öffentlichkeit« getreten, »die sich nicht ausschließlich oder nicht mehr in erster Linie dem Primat der treuen Überlieferung unterwirft«, zumal dieses dem »alten Gelehrtenideal« zugehörig sei, das sich auf diese Weise als Textautorität zu erkennen gegeben hatte. Vielmehr »muß sich die aufkommende bürgerliche Intelligenz durch konkret historische Kompetenzen ausweisen«31, wobei nicht mehr Wissens28 Vgl. dazu das Kapitel Wunderkind, Karriere und Zirkel: Lebenslauf-Modelle. 29 Sloterdijk 1978, S. 6. Vgl. auch Ulrich Siegele im Zusammenhang mit den Autobiographien von Telemann: »Die Autobiographien verlangen einen ebenso hohen Interpretationsaufwand wie das Memorial. Auch hier kommt es darauf an, Unstimmigkeiten nicht von vornherein als Nachlässigkeit oder Versehen abzutun, sondern sich ihnen zu stellen und sie zu verstehen. Denn keineswegs überliefern die Autobiographien historisch gesicherte Fakten, die unmittelbar zitiert werden könnten.« Siegele 2004, S. 53. 30 Koschorke 1999, S. 394. 31 Ebda., S. 395.
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speicherung, sondern vielmehr Kohärenzstiftung wesentlich sei. Koschorke spricht in diesem Zusammenhang vom »Wechsel vom rhetorischen zum hermeneutischen Paradigma«.32 Auch Geschichtswissenschaftler wie Hans Erich Bödeker sehen die »historisch-politische Bildung« im Zusammenhang mit der entstehenden Geschichtswissenschaft um die Mitte des 18. Jahrhunderts als »notwendiges Instrument zur Ausbildung einer Identität der entstehenden bürgerlichen Gesellschaft«: »Etwa 10% der gesamten deutschen Buchproduktion entfiel auf die Geschichte; etwa 15% aller Journale war auf historische Themen spezialisiert.«33 Überträgt man diese These auf das Musikschrifttum des 18. Jahrhunderts, so ist festzustellen, dass der Impuls, sich als Vertreter einer »neuen Intelligenz« an diesen kommunikativen Prozessen zu beteiligen und sich durch konkrete historische Kompetenzen auszuweisen,34 das Musikschrifttum früh erfasst und damit maßgeblich zu der dann einsetzenden Historisierung der Musik beigetragen hat. Anders formuliert: Als deutlicher Hinweis, sich von aristokratischen Wissenskulturen loslösen zu wollen, beginnt zunächst das Musikschrifttum, sich durch konkrete historische Kompetenz zu profilieren, bevor dann die Musik selbst sich dem Historisierungsgedanken öffnet. Der Unterschied, den Koschorke zwischen der Praxis der Kompilation und der autoritativen Wissensanhäufung einerseits und der Neuorganisation von Wissen andererseits betont, ist dabei auch für das Musikschrifttum im 18. und frühen 19. Jahrhundert erkennbar, wenngleich weniger trennscharf als von Koschorke beschrieben: Die umfängliche Kompilationspraxis gerade auch der frühen Musikerbiographik (noch bis zur Mozart-Biographie von Georg Nikolaus Nissen) sowie die Wissensorganisation qua Rückgriff auf die Künstleranekdotik (exemplarisch in Johann Matthesons Ehren-Pforte) verweist dabei noch auf das »alte Gelehrtenideal«, das sich durch Filiation und rhetorische Wissensorganisation charakterisiert hatte. Die Musikerbiographik versuchte mit diesem Rückgriff freilich nichts weniger als eine positive Antwort auf die noch immer virulente Frage der Biographiewürdigkeit von Musikern zu geben. Seit 1800 stand allerdings die Kompilationspraxis immer stärker in der Kritik. Die Neuorganisation von musikhistorischem und -biographischen Wissen aber verweist zeitgleich auf das »neue« bürgerliche Ideal, Wissen durch 32 Ebda. 33 Bödeker/Iggers/Knudsen/Reill (Hg.) 1986, S. 13. 34 Wie eng das Verhältnis von historischem Bewusstsein und neuem, aufgeklärten Selbstverständnis auch für die Musikkultur war, wird deutlich, wenn Frank Hentschel betont, dass »in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts […] Geschichte noch nicht das allgemeine Ansehen [genoss], das erforderlich gewesen wäre, um den Musikgelehrten aufgrund seiner historischen Kenntnisse als Autorität zu qualifizieren«. Hentschel 2006a, S. 115.
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eigenes Erleben, durch hermeneutische und vor allem historische Kompetenz auszuweisen. In diesem letzteren Sinn etwa ist Leopold Mozart als Vertreter der »neuen Intelligenz« auszumachen. Seinen Umgang mit dem Medium Schrift scheint insofern prototypisch, als er mehrfach und in unterschiedlichen Zusammenhängen dieses Medium im Sinne der Partizipation am kulturellen Gedächtnis nutzt: Gegen das Primat autoritativer Überlieferung setzt er das individuelle Erleben, gegen die Textautorität das Zirkulationsmittel Schrift (vor allem als Brief ), gegen Filiation die Initiation einer Musikgeschichte, in die sein Sohn qua Biographie einzuschreiben sei. Die Vielfalt an musikhistorischen und biographischen Texten, die im 18. und frühen 19. Jahrhundert ins Auge fällt, lässt sich einerseits als Austarieren einer spezifisch musikalischen Historiographie deuten, andererseits aber auch als Antwort auf die Veränderungen der Schrift- und der Musikkultur im 18. Jahrhundert, bei denen die Herausbildung bürgerlicher Strukturen als nur eine, gleichwohl aber als eine der treibenden Kräfte gesehen werden kann.35 Auf diese Veränderungen reagiert auch das musikbiographische Schreiben, zum einen durch die Ausweitung der lexikalischen Erfassung von Musikern und Musikerinnen, zum anderen – und hier im Zusammenhang mit den Veränderungen des Subjektbegriffs und des Genie-Diskurses – durch eine Zunahme monographischer Musikerbiographien, die letztlich auch die Diskussion um die noch immer grundlegend in Frage stehende Biographiewürdigkeit von Musikern beenden helfen. Hatte sich die lexikalische Biographik, wie etwa Matthesons Ehren-Pforte, noch weitgehend an kunsthistorischen Vorbildern und damit an einer stark schematisierten Künstler-Anekdotik orientiert, können monographische Musikerbiographien bis dahin kaum auf musikspezifische Vorbilder zurückgreifen. Vor diesem Hintergrund lässt sich die Prägekraft der »Wunderkind«-Biographik im Zusammenhang mit Wolfgang Amadeus Mozart erklären, ebenso wie der immense Einfluss des Genie-Diskurses, der zugleich die Ablösung des Komponisten vom Musiker allgemein sowie seine Idealisierung und auch die Kanonisierung seiner Werke voranbringt. In gewissem Konflikt dazu steht der Anspruch der Musikerbiographik um 1800, bürgerliche Tugenden in den Komponistenlebensläufen vorbildhaft darstellen zu können. Eine Lösung ergibt sich aus der Gegebenheit, dass mit zwei früh biographisch berücksichtigten Komponisten – Mozart und Beethoven – beide Modelle nebeneinander entwickelt werden können: für Mozart eine idealisierende, in ihrer »Klassizität« das Bürgertum in seinem Bildungsideal stützende Biographik, für Beethoven eine die romantische Genie-Vorstellung aufgreifende, früh heroisierende Biographik.
35 Vgl. hierzu Schleuning 1984, Hentschel 2006a, Goehr 2007.
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Partizipiert die Musikerbiographik um 1800 an vielen allgemeinen Diskussionen um Biographie und Geschichte, ist noch ein weiteres Spezifikum der Musik hinzuzudenken: Im Grunde sperrt sich Musik als klingendes, damit auch rasch verklingendes Phänomen gegen Historisierung. Zumindest bedarf es eines gewissen Aufwandes, sie historisch überlieferbar zu machen. Vor allem bedarf es damit eines grundlegenden Selbstverständnisses ihrer historischen Relevanz, eines Selbstverständnisses, sie in das kulturelle Gedächtnis einzufädeln. Dazu muss das klingende Ereignis Musik in ein anderes Medium – das der Notenschrift, das der Schrift oder anderer Aufzeichensysteme – übertragen werden. Erst in den Noten, erst im Schreiben über Musik und im Schreiben über ihre Akteure, später auch im Aufzeichnen von Klangereignissen ist Musik historisch fassbar. Mit diesem Schritt, das klingende Ereignis in andere Medien zu übertragen, geht die Musik den Schritt vom kommunikativen zum kulturellen Gedächtnis. Dieser Schritt ist in der Musikkultur zwar nicht als Substitution zu verstehen – das kommunikative Gedächtnis spielt gerade in der Oralität der Musikkultur weiterhin eine wichtige Rolle –, aber mit dem Selbstverständnis, Musikkultur im kulturellen Gedächtnis anzusiedeln, entsteht eine grundlegend neue Dimension des musikkulturellen Verständnisses. Dieser Prozess greift im 18. Jahrhundert in besonderem Maße Raum und wird erkennbar in einem deutlichen Anstieg des Schreibens über Musik: neben musikästhetischem vor allem in autobiographischem und biographischem Schreiben. Diesem Schreiben aber ist insgesamt eine historische Grundannahme eigen, nämlich dass Musiker und Musikerinnen auf diese Weise erinnerungswürdig seien und qua Schrift erinnerbar bleiben sollen. Das mit der einsetzenden Historisierung der Musikkultur vor und um 1800 erkennbare Bestreben, Musik als Klangereignis und qua ihrer Urheber in das kulturelle Gedächtnis einzuschreiben, befördert eine Vielzahl von neuen Umgangsformen mit Musik: Musik in ihrer historischen Dimension wahrzunehmen (Musikhistorie), die Musikkultur aus feudalen Zugangsbeschränkungen zu lösen (öffentliche Konzerte, Musikverlage) und ihr damit eine anti-feudale Identitätsaufgabe zuzuweisen, sie als Identifikationsplattform bürgerlicher Kreise zu etablieren und damit eine neue Form des Umgangs mit Musik zu pflegen (Kanonisierung, musikalisches Bildungsideal, Musikzeitschriften etc.). Die Musikerbiographik steht in diesen komplexen Zusammenhängen im Zentrum. Gründe dafür sind leicht auszumachen, da in der Musikerbiographik mehrere Funktionen zusammenfließen, die die Historisierung der Musikkultur unterstützen: Sie wird als Basis von Musikhistorie verstanden, befördert auf leicht zugängliche Weise das Wissen über Komponisten und damit auch – da von einer »natürlichen« (Nägeli) Verbindung zwischen Person und ihrem Werk ausgegangen wird – das Wissen über die Werke. Damit sind sowohl der Aspekt der Bildung abgedeckt als auch der der Werbung, ein nicht unbeträcht-
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licher Aspekt im Zuge der sich verändernden ökonomischen Bedingungen des Konzert- und Verlagswesens. Und schließlich ist die Musikerbiographik bestens dazu geeignet, den auf der Agenda des Bürgertums stehenden Kanonisierungsprozess zu begleiten und argumentativ zu unterstützen. Letzteres lässt sich insbesondere um 1800 anhand des Begriffs »Größe« nachvollziehen, der nicht nur in die Diskussionen um den Begriff der Klassik Einzug hält, sondern auch für heroengeschichtliche Konzepte genutzt werden kann.36 Die 1820er/30er Jahre stellen für die Musikerbiographik eine wichtige Zäsur dar, da nunmehr – anders noch als wenige Jahre zuvor – die Biographiewürdigkeit des Musikerstandes nicht mehr grundsätzlich in Frage steht. Insbesondere die Person des Komponisten ist nun (im Einklang mit einem neuen Werkverständnis) in jenen Kreis aufgenommen, der in das kulturelle Gedächtnis Eingang finden soll. Damit emanzipiert sich der Komponist von anderen Personen der Musikkultur und wird zum Fixpunkt der musikkulturellen Erinnerung. Erkennbar wird dies nicht zuletzt daran, dass für Beethoven die eigene Biographiewürdigkeit gegen Ende seines Lebens bereits selbstverständlich war und über die Art und Weise, wie eine Biographie über ihn als Komponist zu schreiben sei, reger Austausch bestand.37 In gleichem Maße wie die Biographiewürdigkeit von Komponisten damit außer Frage steht, differenziert sich die Musikerbiographik aus, wobei vor allem drei (nicht notwendigerweise voneinander getrennt zu denkende) Grundzüge erkennbar werden: die Monumentalisierung, das sich verändernde Verhältnis zur Musikwissenschaft und die nationale Identitätsbildung. Die Monumentalisierung, die die Musikkultur des 19. Jahrhunderts spätestens seit Beethovens Tod 1827 zu prägen und zu verändern beginnt, nimmt großen Einfluss auf die Musikerbiographik, die nunmehr nicht nur den Heroismus als biographisches Konzept ausbildet, sondern die (häufig mehrbändige) Biographie selbst als Monument versteht: als zentrales Medium der kulturellen Erinnerung ebenso wie als Ausweis ihres (musik)wissenschaftlichen wie historiographischen Anspruchs. Damit reicht sich die Monumentalisierung der Musikerbiographik mit der Entwicklung der Musikwissenschaft als Disziplin die Hand: nicht nur, weil sich die frühen Musikwissenschaftler genuin als Biographen verstehen, sondern auch, weil sie qua Biographie ihre Reputation als Musikwissenschaftler gewinnen. Der studierte Altphilologe Philipp Spitta etwa publiziert 1873 den ersten Band seiner Bach-Biographie, woraufhin ihm zwei Jahre später – vor allem auf Betreiben Joseph Joachims – die zentrale und einflussreiche Professur für Musikgeschichte und Musikwissenschaft in Berlin übertragen wird. Die Musikerbiographik wird darüber hinaus eine der drei 36 Vgl. das Kapitel Monumental: Der Komponist als Heroe. 37 Vgl. das Kapitel Beethoven als Heroe.
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tragenden Säulen einer entstehenden Musikwissenschaft: Friedrich Chrysanders Konzept etwa fußt auf der Dreiteilung in Werk, Biographie und Musikgeschichte: Das Phänomen Georg Friedrich Händel soll durch die Beschäftigung mit dem Werk (Werkausgabe ab 1858) und dem Leben des Komponisten (Biographie, 1858/1860/1867) erschlossen und die Ergebnisse in musikwissenschaftlichen Reflexionen (Jahrbuch für musikalische Wissenschaft, ab 1863) zusammengeführt werden. Die in der Musikkultur zu beobachtende Monumentalisierung geht freilich einher mit Überlegungen in den Geschichtswissenschaften, wo ebenfalls das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft und Fragen der Historiographiewürdigkeit von Individuen im Zentrum stehen. Dass Geschichte die Darstellung von Staatsaktionen und damit auch die Darstellung von politischen Akteuren sei, ist weithin Konsens in der Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts. Über die Frage aber, wie diese Agierenden und damit ihr politisches Handeln zu beschreiben sei, gehen die Meinungen auseinander, so dass von einer Trennung zwischen literarischer Anthropologie und akademischem Historismus gesprochen werden kann. Johann Gustav Droysen (1808–1884) und Leopold von Ranke (1795–1886) gelten hierbei als Hauptvertreter des akademischen Historismus, mithin einer Personalhistoriographie, bei der das Individuum den »Historiker dort [interessiert], wo es im Hegelschen Sinn mit dem Allgemeinen der Geschichte korrespondiert«.38 Droysen entwickelt sein Geschichtsmodell gewissermaßen pyramidal, vom Einzelindividuum ausgehend bis zum Kollektiv, wobei die Biographie als historiographische Form für alle Stufen dieses Modells passend sei: »Droysen führt zudem schon im Aufbau seiner Typologie vor, daß die Darstellung einer individuellen Entwicklung, also die Biographie oder eben der […] Individualroman, den Ausgangspunkt auch der historiographischen Darstellungstheorie bildet: Seine Typologie geht von der Biographie aus und überträgt deren Struktur auf ›andere historische Erscheinungen‹: Städte, Orden, Völker.«39 Zugleich aber wendet sich Droysens Vorstellung ab von einer Biographik, die nach dem Charakter, dem Innen- oder Privatleben eines Menschen fragt: »[…] wenn ich den Alten Fritz als Monarchen darzustellen habe, so ist es mir gleichgültig, ob er Spaniol oder Karotten geschnupft, ob er gelegentlich mit seinen Windhunden gespielt oder den Lumpen-Literaten Voltaire gelegentlich an die Luft gesetzt hat, – so wie ein ordentlicher preußischer Beamter im Dienst seine Schuldigkeit tut und nur aus dem Ich des Staates, nicht aus seinem kleinen privaten Ich richtet, administriert, lehrt usw., gleichgültig, ob
38 Von Zimmermann 2006, S. 112; dort auch weiterführende Literatur. 39 Fulda 1996, S. 397.
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er daheim ein glücklicher Ehemann oder Witwer oder Hagestolz ist.«40 In diesem Sinne ist es nur konsequent, dass Droysen Anthropologie und Psychologie als Erkenntnismethode grundsätzlich ablehnt und als der Geschichte wesensfremd erklärt. Droysens Ablehnung, so fasst Christian von Zimmermann zusammen, gilt »eine[r] mögliche[n] ›Privatbiographik‹«, hingegen sei die Biographik für die Historik aber insofern relevant, als »dessen ungeachtet legitime politische Interessen an Repräsentationsfiguren und historischen Typen [existieren]«.41 Mit dieser Trennung freilich wird nicht zuletzt auch der Ausschluss von Frauen aus der Geschichtsschreibung argumentierbar, da sie – dem angenommenen Geschlechtscharakter nach – dem Privaten verbunden seien.42 Otto Jahns Mozart-Biographie, 1856–1859 erschienen, ist deutlich in dieser Tradition des akademischen Historismus zu verorten: Wodurch ein Künstler momentan productiv angeregt oder gestimmt werde, das wird ihm selbst selten bewußt sein, noch weniger wird es sich fixiren lassen. Es kommt auch in der Regel wenig darauf an, denn der äußerliche Impuls pflegt mehr nur die Veranlassung als der treibende Keimpunkt für das Kunstwerk zu sein, so daß man gewöhnlich da, wo man darüber unterrichtet ist, am meisten zu bewundern hat, wie durch diese Veranlassung eine solche Schöpfung hervorgerufen werden konnte. Am meisten gilt dies von der Musik, da die musikalische Production ihre Anregung unmittelbar weder aus der Natur noch aus der Gedankenwelt schöpfen kann.43
Interessant scheint an diesem Punkt, dass Jahn mit dem am akademischen Historismus geschulten Biographiekonzept einerseits einen der Gründungsbausteine der Musikwissenschaft liefert, dass er aber andererseits aus eben diesem Konzept eine Autonomieästhetik ableitet, die später dazu führen wird, die Biographie aus dem methodischen Kanon der Musikwissenschaft auszuschließen. War Droysen davon ausgegangen, dass nicht ein besonderer Charakter, sondern die herausgehobene Funktion eines Menschen und damit ihr Einssein mit dem Allgemeinen der Geschichte ihn zu einem geschichtswürdigen Individuum machen, sehen (Kunst)Historiker wie Thomas Carlyle und Jacob Burckhardt hier die Notwendigkeit, die Ausnahmeposition eines Individuums durch eine grundsätzliche Andersheit zu argumentieren. Das »welthistorische 40 Droysen in einem Brief an seinen Sohn Gustav, 24. September 1883, Droysen 1929, Bd. 2, S. 969. 41 Von Zimmermann 2006, S. 122. 42 Vgl. dazu auch Epple 2003. 43 Jahn 1856–1859, 3. Teil/Viertes Buch, S. 432f.
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Individuum«44 ist nach Georg Wilhelm Hegel nicht nur treibende Kraft für die Entwicklung einer Gesellschaft, sondern in dieser Funktion auch Ausnahme- und Leitfigur für ihre Geschichtsschreibung. Carlyle greift dabei zum idealisierenden Heroen-Begriff,45 Burckhardt zum Begriff der »Größe«, um das »prinzipielle Anderssein«46 dieser Individuen zu beschreiben. Damit aber ist eine Geschichtsschreibung in Gang gesetzt, die im Heroen eine spezifische Typik ausgeprägt sieht, die nicht nur mit dem Genie-Diskurs der Sturm-undDrang-Zeit korrespondiert (und damit gerade auch für die Musikerbiographik besonders interessant wird), sondern die die höchst einflussreiche Heroengeschichtsschreibung einleitet: Geschichte verstanden als die Verkettung von Biographien großer Männer. Der Burckhardt-Schüler Friedrich Nietzsche spricht hierbei vom »Fackel-Wettlauf«47 der »Hundert-Männer-Schaar«48: »Dass die grossen Momente im Kampfe der Einzelnen eine Kette bilden, dass in ihnen ein Höhenzug der Menschheit durch Jahrtausende hin sich verbinde, dass für mich das Höchste eines solchen längst vergangenen Momentes noch lebendig, hell und gross sei – das ist der Grundgedanke im Glauben an die Humanität, der sich in der Forderung einer monumentalischen Historie ausspricht.«49 Das Heroenmodell bleibt eine der Hauptströmungen der »modernen Biographik«50 bis in die Gegenwart. Dass sich mit nationalen Tönen bis heute heroengeschichtliche und ‑biographische Konzepte populär verwirklichen lassen, zeigt der Kommentar eines TV-Senders anlässlich der Biopic-Reihe mit dem sprechenden Titel »Giganten« aus dem Jahr 2007: »Ob man stolz sein sollte und kann, Deutscher, Franzose oder Amerikaner zu sein, bleibt jedem selbst überlassen. Aber ist es nicht so, dass die ›eigenen‹ Giganten des Geistes, 44 Hegel 1986, S. 49. 45 Wenn Dahlhaus nach den Ursachen für den in der Musikerbiographik verbreiteten Hang zur Heroisierung sucht, scheint hier Carlyles Vorstellung vom Ideal mitzuschwingen, auch wenn Dahlhaus hier von der Idealität des Werkes ausgeht: Es sei zu beobachten, dass »[…] die Idealität der musikalischen Werke – die Entrückung aus dem Alltag – zu dem Verfahren [zwang], auch das Biographische, damit es als Korrelat der Werke gelten konnte, zu idealisieren. Wenn aus der Musik die Stimme der Menschheit redet, mußte der Komponist als exemplarischer Mensch geschildert werden.« Dahlhaus (Hg.) 1975, S. 9; vgl. dazu auch Dahlhaus’ Argumentation der Haupt- und Nebenwerke im Kontext der Biographik: »Zwingen […] die ›Nebenwerke‹ zu einem Rückgriff auf die Biographie […], so gerät man andererseits bei der Festsetzung eines Kanons von ›Hauptwerken‹ in Gefahr, einer ›mythisierenden‹ Biographik zu verfallen.« Dahlhaus 1987, S. 31. 46 Von Zimmermann 2006, S. 138. 47 Nietzsche 1988, S. 259. 48 Ebda., S. 261. 49 Ebda., S. 259, Hervorhebung im Original. 50 Vgl. dazu von Zimmermann 2006, S. 274ff.
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der Wissenschaft oder Künste zumindest das Selbstbildnis einer Nation und das, womit sie in der Welt identifiziert wird, kräftig mitgestalten?«51 Dass in dieser Reihe der Bereich der Musik aufgenommen und durch Ludwig van Beethoven repräsentiert wird,52 ist nach allem, was die Beethoven-Rezeption des 19. und 20. Jahrhunderts an heroischen Konzepten aufgegriffen und weiterverarbeitet hat, kaum noch verwunderlich. Bereits Burckhardt hatte mit Blick auf die Biographik betont, dass gerade aufgrund einer Idealisierung der »großen Männer« die Typik ihrer Besonderheit besonders gut herauszustellen sei, was ihren Wert für die Gemeinschaft erhöhe: »Die als Ideale fortlebenden großen Männer haben einen hohen Wert für die Welt und für ihre Nationen insbesondere; sie geben denselben ein Pathos, einen Gegenstand des Enthusiasmus und regen sie bis in die untersten Schichten intellektuell auf durch das vage Gefühl von Größe.«53 Diese Idealisierung aber ist bei ihm – anders als bei Carlyle – mit Freiräumen jenseits moralischer Vorstellungen versehen: nicht Ideal im Sinne von Vorbildlichkeit, sondern als Kulminationspunkt von Kampf und Leidenschaft, ein Momentum, das der Allgemeinheit zur abstrakten Identifikation dient, nicht zur Nachahmung. Dies aufgreifend formuliert Nietzsche in Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben die Konsequenzen für eine Biographik, die dem »großen Individuum« Raum für seine Ausnahmepersönlichkeit lassen müsse, für die psychopathologische Konstitution des Genies. Bezeichnenderweise greift Nietzsche hierbei zur Musik als Beispiel: Es giebt Menschen, die an eine umwälzende und reformirende Heilkraft der deutschen Musik unter Deutschen glauben: sie empfinden es mit Zorne und halten es für ein Unrecht, begangen am Lebendigsten unserer Cultur, wenn solche Männer wie Mozart und Beethoven bereits jetzt mit dem ganzen gelehrten Wust des Biographischen überschüttet und mit dem Foltersystem historischer Kritik zu Antworten auf tausend zudringliche Fragen gezwungen werden. Wird nicht dadurch das in seinen lebendigen Wirkungen noch gar nicht Erschöpfte zur Unzeit abgethan oder mindestens gelähmt, dass man die Neubegierde auf zahllose Mikrologien des Lebens und der Werke richtet und Erkenntniss-Probleme dort sucht, wo man lernen sollte zu leben und alle Probleme zu vergessen. Versetzt nur ein Paar solcher modernen Biographen in Gedanken an die Geburtsstätte des Christenthums oder der lutherischen Reformation; ihre nüchterne pragmatisirende Neubegier hätte gerade ausgereicht, um jede geisterhafte actio in distans unmöglich zu machen: wie das elendeste Thier die Entstehung der mächtigsten Eiche verhindern kann, dadurch 51 Huf 2007. 52 Beethoven – Genie am Abgrund (Idee: Gero von Boehm, Günter Klein, Regie: Gero von Boehm, Erstausstrahlung 6. April 2007). Hierzu Weiteres im Kapitel Beethoven als Heroe im vorliegenden Band. 53 Burckhardt 1956, S. 179.
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dass es die Eichel verschluckt. Alles Lebendige braucht um sich eine Atmosphäre, einen geheimnissvollen Dunstkreis; wenn man ihm diese Hülle nimmt, wenn man eine Religion, eine Kunst, ein Genie verurtheilt, als Gestirn ohne Atmosphäre zu kreisen: so soll man sich über das schnelle Verdorren, Hart- und Unfruchtbar-werden nicht mehr wundern. […] Jetzt aber hasst man das Reifwerden überhaupt, weil man die Historie mehr als das Leben ehrt. Ja man triumphirt darüber, dass jetzt »die Wissenschaft anfange über das Leben zu herrschen« [...].54
Zeitgleich mit Nietzsches Schrift Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben entsteht, darauf weist Wolfgang Sandberger hin, Philipp Spittas Bach-Biographie: Hinter dieser auf den ersten Blick eher zufälligen Parallele stehen gleichsam zwei ganz unterschiedliche Seiten ein und derselben Medaille: Beide Publikationen sind ohne den Aufstieg der Historik im 19. Jahrhundert undenkbar. Die historisch-kritische Künstlerbiographie verdankt sich in ihrer Konzeption und methodischen Zielsetzung dieser Entwicklung ebenso wie die »Unzeitgemässe Betrachtung«, die gegen den historischen Zeitgeist polemisiert.55
Der zweite Grundzug, das sich verändernde Verhältnis der Biographik zur Musikwissenschaft, geht eng einher mit der Popularität der Musikerbiographik, die sich mit der Idee des (Bildungs)Bürgertums, über kulturelle Bildung Distinktionsmerkmale auszuprägen, in Verbindung bringen lässt, zugleich aber ab dem letzten Jahrhundertdrittel verantwortlich ist für den Ausschluss der Biographik aus der nunmehr sich universitär etablierenden Musikwissenschaft. August Wilhelm Ambros kritisiert 1860 bereits die Popularisierung der Biographik, die nurmehr aus einem »Conglomerat von Anekdoten und Charakterzügen« bestünden und »Historchen« zusammentrügen,56 Vorwürfe, die vor allem auch die junge Musikwissenschaft tangieren, die noch keineswegs im Kanon universitärer Fächer konsolidiert ist, vielmehr um ihre Anerkennung kämpft. Eine Zäsur stellt 1885 Guido Adlers Fachsystematik dar. Der 30-jährige Musikwissenschaftler verortet die Biographi(sti)k hier explizit als Hilfswissenschaft der Historischen Musikwissenschaft, eine Verortung, die nicht nur ältere Kollegen wie Chrysander und Spitta in ihrem wissenschaftlichen Selbstverständnis trifft, sondern die bis ins 20. Jahrhundert ihre Wirkung zeitigt. Der Vorwurf der Literarizität der Musikerbiographik steht auch in den folgenden Jahren im Zentrum, ein Vorwurf, der sich den Askese-Anspruch zu eigen macht, um nicht zuletzt die (populäre) Musikerbiographik als unwissenschaftliche, ›verweiblichte‹ Gattung aus der Wissenschaft auszuschließen. 54 Nietzsche 1988, S. 297f. 55 Sandberger 1997, S. [11]. 56 Ambros 1860, S. [7].
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Hatte das Hilfswissenschaftsverdikt Guido Adlers, das einem Ausschluss der Biographik aus der Musikwissenschaft gleichkam (wenngleich dieser Ausschluss nicht einmal von Adler selbst vollständig vollzogen wurde), bereits das schwierige Verhältnis manifestiert, zeichnet sich weiterer Diskussionsbedarf durch Zeitströmungen der Jahrhundertwende ab, die biographisches Schreiben insgesamt vor neue Herausforderungen stellen. Zu nennen wären hier etwa die Krise der (männlichen) Identität,57 Ernst Machs Idee der »Unrettbarkeit des Ichs«, die Psychoanalyse, die neue Einsichten in das Ich offenlegt und dabei zugleich den Wahrheitsanspruch der Biographie zur Disposition stellt (»Die biographische Wahrheit ist nicht zu haben«58), sowie zahlreiche andere Ausprägungen eines gesteigerten Individualismus. Die Hybridisierung des Subjekts um 190059 aber betrifft nicht nur das biographierte, sondern durchaus auch das biographisierende Subjekt. Christian von Zimmermann nennt dies die »Vermenschlichung« der Biographik, die sich nicht nur durch die Psychoanalyse beeinflusst zeigt, sondern auch den Subjektbegriff des Historikers/des Biographen neu ins Zentrum stellt. Die Musikwissenschaft reagiert auf das Hilfswissenschaftsverdikt und die Irritationen der Identitätskonzepte mit deutlicher Abkehr vom Narrativen, in dem der Hauptgrund für die Popularisierungsgefahr gesehen wird. 60 Die daraus gezogene Konsequenz ist der Verzicht auf Narration, so etwa verwirklicht in der ersten Dokumentarbiographie, Otto Erich Deutschs Schubert: Dokumente seines Lebens (1914). Hermann Abert bezweifelt allerdings bereits 1920, dass das »bloße Registrieren« biographischer Fakten die Musikerbiographik ersetzen könne. Es sei ein Fehler, »ganz wahllos Stoffmengen auf[zu]türmen und den Weizen nicht von der Spreu zu sondern [zu] wissen«.61 Die Kritik von einem selbst als Biograph tätigen Musikwissenschaftler verwundert nicht, ebenso wenig, dass sich die nüchterne Dokumentarbiographik in der Musikerbiographik gerade der 1930er und 40er Jahre nicht durchsetzt. Vielmehr rekurriert man nunmehr auf im 19. Jahrhundert erprobte biographische Konzepte: die der lexikalisch-biographischen Erschließung von Komponisten unter rasseideologischen Gesichtspunkten ebenso wie die Heroenbiographik, »Heinrich von Treitschkes nationalistische Heroenessays und ‑reden gehörten nach wie vor zu den populärsten historischen Werken«.62
57 58 59 60
Le Rider 1990. Sigmund Freud in einem Brief an Stefan Zweig, Freud/Zweig 1968, S. 137. Reckwitz 2006. Vgl. dazu auch Rüsen »Verwissenschaftlichung als Entliterarisierung?« in: Blanke/Rüsen 1984, S. 66ff. 61 Abert 1920/1929, S. 579. 62 Von Zimmermann 2006, S. 452.
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Der dritte Grundzug betrifft die europaweiten nationalen Selbstfindungsprozesse im 19. Jahrhundert, die unter anderem zu (musik)historischer Rückbesinnung qua biographisch-lexikalischen Großprojekten Anlass gibt. Die Initiierung der handschriftlichen Biographiensammlung der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien 1825 ist unter diesen Prämissen ebenso zu betrachten wie die ab 1868 auf Veranlassung des bayrischen Königs erscheinende Allgemeine Deutsche Biographie oder das ab 1856 erscheinende Biographische Lexikon des Kaiserthums Österreich von Constantin Wurzbach, in dessen Vorwort der Herausgeber das lexikalische Großprojekt mit der Bemerkung legitimiert: »Jeder civilisirte Staat Europa’s hat nicht Ein [sic], sondern mancher mehrere biographische Werke oft des bedeutendsten Umfanges und in prächtiger Ausstattung.«63 Das 19. Jahrhundert bleibt – trotz aller Kämpfe und Kontroversen – für die Musikerbiographik eine Zeit der Konsolidierung, der Differenzierung und der Popularisierung. Vor allem in ihrer populären Variante ist sie weithin zentrales Medium eines bildungsbürgerlichen Anspruchs. In dieser Funktion gelangt die populäre Musikerbiographik in die Gegenwart, hier jedoch großteils fern aller theoretischen Diskussionen um biographisches Schreiben, die im 20. Jahrhundert und insbesondere in jüngster Zeit geführt werden. Nach 1945 erlebt die wissenschaftliche Musikerbiographik zunächst einen deutlichen Einbruch. Dies hängt mit dem Missbrauch zusammen, der während der Zeit des Nationalsozialismus mithilfe der Biographik und entsprechend ausgestalteter biographischer Darstellungen von systemkonformen wie »entarteten« Komponisten praktiziert worden war. Der Zweite Weltkrieg stellt noch aus anderen Gründen eine scharfe Zäsur für die Musikerbiographik dar: Vertreibung, Flucht und Exil bilden für zahlreiche MusikwissenschaftlerInnen und MusikerInnen den eigenen Erfahrungshorizont, vor dem die Rekonstruktion des eigenen oder eines fremden Lebenslaufes nicht mehr ohne weiteres möglich ist. Fragmentarisierung und Dezentrierung einerseits, starke Idealisierung und Kohärenz als Gegenentwurf andererseits – in Anlehnung an eine Formulierung des Mozart-Biographen Alfred Einstein könnte man hier von einer Biographik sprechen, die »nicht schwitzen darf«64 – sind sowohl in der musikwissenschaftlichen Biographik als auch in kompositorischen Verarbeitungen eigenen oder fremden Lebens allenthalben auszumachen.65 Dass andererseits gerade die Musikwissenschaft nach 1945 zu einer Biographieferne 63 Wurzbach 1856–1891, Bd. 1, Vorrede, S. IV. Vgl. hierzu auch das Kapitel Nationale Bilder: Beispiele lexikalisch-biographischer Großprojekte. 64 »Musik darf nicht ›schwitzen‹, sie muß natürlich sein bei höchster Kunst.« Einstein 1968, S. 172. 65 Vgl. zu dieser Thematik auch den »Ausblick in die Exilbiographik« in von Zimmermann 2006, S. 430–451.
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tendiert, ist nicht zuletzt auch als Strategie ihrer Akteure zu erkennen, gilt es doch, das Erbe der mit biographischen Fakten argumentierenden nationalsozialistischen Kulturpolitik und der diese Politik unterstützenden Musikwissenschaft nicht antreten zu müssen. Es wäre allerdings voreilig, die Ablehnung der Musikwissenschaft gegenüber der Biographik im 20. Jahrhundert als rein fachspezifisches Phänomen zu begreifen. Auch in den Geschichtswissenschaften und anderen Disziplinen steht die Biographie als »methodisch unkritisch und theoretisch harmlos«66 in der Kritik. Auch hier wird die »Gefahr der Heroisierung und Mythisierung der untersuchten historischen Subjekte«67 beobachtet und daraus der Rückschluss gezogen, sie sei für »eine theorieorientierte Geschichtswissenschaft obsolet«.68 Dem Vorwurf der Theoriefeindlichkeit und auch dem »starke[n] antibiographische[n] Impuls, wie ihn strukturalistische, poststrukturalistische und konstruktivistische Theorien mit sich bringen«,69 begegnen Geschichts- und Literaturwissenschaften freilich mit einer intensiven biographietheoretischen Auseinandersetzung, die zu einer »Schärfung jener theoretischen Positionen [beiträgt], die an der ›Unhintergehbarkeit von Individualität‹ festhalten«.70 Ein knapper Überblick über die Biographikforschung71 mag dies belegen: Die groß angelegte Studie von Helmut Scheuer, 1979 erschienen,72 kann als Fundament der nachfolgenden Biographikforschung verstanden werden, auch wenn einige Jahre ins Land gehen, bevor an sie anknüpfend grundlegende Fragen an die Biographik aufgegriffen und diskutiert werden. Scheuer legt mit seiner Habilitationsschrift Biographie. Studien zur Funktion und zum Wandel einer literarischen Gattung vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart nicht nur eine Geschichte der Biographik im genannten Zeitraum vor, sondern insbesondere auch die Funktionen von Biographik insofern offen, als er ihr Eingebundensein in die zeitgenössischen Diskurse und ihre Spiegelfunktion gegenüber der sie hervorbringenden Gesellschaft betont. Mehrfach kommt Scheuer auch in der Folgezeit auf diese Funktion zurück: »[F]ür die Gattungsgeschichte [ist es] 66 67 68 69 70 71
Bödeker 2003, S. 12. Ebda., vgl. zur Kritik in den Kunstwissenschaften etwa auch Wenk 2010. Bödeker 2003, S. 12. Fetz 2009, S. 6. Ebda. Die Auswahl möge nicht als erschöpfende Darstellung verstanden werden (vgl. hierfür Klein [Hg.] 2009 oder auch die online zur Verfügung gestellten Bibliographien des Ludwig Boltzmann Instituts für Geschichte und Theorie der Biographie: http://gtb.lbg. ac.at/de/5/5 [letzter Zugriff: 4. September 2013]), sondern als Grundlage für die Frage der Anschlussfähigkeit für die Musikwissenschaften. 72 Vgl. Scheuer 1979a. Scheuer selbst hat sich in der Folge weiterhin und mehrfach produktiv in die Diskussion eingebracht, u. a. in Scheuer 1982, Scheuer 1995, Scheuer 2001.
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so wichtig zu wissen, auf welche Bedürfnisse die Biographie reagiert, welche Probleme sie aufgreift oder verdeckt. Es ist wichtig zu wissen, in welcher literarischen Tradition sie steht: aber ebenso wichtig ist, welche sozialen, ideologischen oder didaktischen Wirkungen angestrebt bzw. erreicht werden.«73 Damit aber ist die Perspektive von der Frage des biographierten Objekts wegund auf den Biographen und seine Verortung hingelenkt, eine wichtige Voraussetzung etwa für die Auseinandersetzung mit der Heroenbiographik als Ausdruck von Geschichtsvorstellung, Gesellschaftsordnung und -normen.74 Hierbei steht die Biographie als Plattform für eine gesellschaftliche Selbstvergewisserung im Vordergrund, die das Verhältnis zwischen Mensch (Anthropos) und Ausnahmemensch (Heros) beleuchtet, und zwar vor allem vor dem Hintergrund der »spezifischen anthropologischen, politisch-historischen und hermeneutischen Grundlagen […], um die Funktion der Darstellungsstrategien der Vermenschlichung und der Heroisierung in ihrem widerstreitenden Zusammenspiel […] zu erläutern.«75 Der Historiker Hans Erich Bödeker lenkt 2003 neuerlich den Blick auf das Verhältnis von Geschichte und Biographie, Letztere dabei in ihrer Grundfrage der Narrativität eindeutig als Teil der Debatte um den »linguistic turn« begreifend: »Jede Biographie ist wie jede historische Forschung abhängig von der Perspektive des Forschers. Insoweit entspricht die moderne Biographie eindeutig der ›histoire-problème‹.«76 Entsprechend gruppiert Bödeker in dem von ihm herausgegebenen Sammelband Biographie schreiben, in dem die Musikwissenschaft durch einen Beitrag von Beatrix Borchard vertreten ist, Aufsätze, die den Biographen/die Biographin als Akteure (auch von Wissenschaftsgeschichte) ins Zentrum stellen.77 Von feministischer Wissenschaftskritik ausgehend ist die Frauen- und Genderforschung früh an den Diskussionen um die Biographik beteiligt,78 nicht nur, um mit der Aufarbeitung von Frauenlebensläufen der Marginalisierung von Frauen in der Geschichtsschreibung entgegenzuwirken, sondern vor allem auch, weil in der Auseinandersetzung mit Frauenlebensläufen grundlegende theoretische Probleme der Biographik offensichtlich werden. Hierzu zählen insbesondere Fragen der Biographiewürdigkeit, des Umgangs mit Quellen (und mit Quellenlücken) und der Geschlechtsspezifik biographi73 74 75 76 77 78
Scheuer 1982, S. 11. Vgl. hierzu auch von Zimmermann 2006. Ebda., S. 8. Bödeker 2003, S. 51. Bödeker (Hg.) 2003. Einen Überblick zur Geschichte der feministischen Biographik und deren theoretische Diskussionen gibt Runge 2009, vgl. außerdem von Zimmermann/von Zimmermann (Hg.) 2005 sowie Marian/Ní Dhúill 2009.
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scher Modelle. Die Frauenforschung löst dabei zunächst den Impuls aus, jene durch den akademischen Historismus und die Heroengeschichtsschreibung massiv verdrängten Frauen in das Blickfeld zurückzuholen. Die Biographie gilt hier zuweilen als »Königinnenweg«79 zur Reintegration in den Kanon der Geschichte. Zugleich aber löst gerade dies eine rege theoretische Debatte aus: Denn die Reintegration qua Biographie erweist sich in zweifacher Hinsicht als problematisch, einerseits da durch Frauenbiographik statt der Reintegration eine erneute Ghettoisierung möglich wird, andererseits da sich die biographischen Modelle der vergangenen 150 Jahre explizit an männlichen Idealbiographien orientiert hatten, so dass Lebensläufe von Frauen innerhalb dieser Modelle nicht darstellbar bleiben. Dennoch: Gerade durch die Berücksichtigung der Kategorie Geschlecht wird eine produktive Kritik an Biographik, und hier besonders an der Heorenbiographik, möglich, die in die allgemeine Biographieforschung und ‑kritik Eingang findet80 und hierbei nicht zuletzt Prozesse der Wissensproduktion entschlüsseln hilft. Diesen Fragenkatalog, der zuvor bereits in etlichen Einzelstudien thematisiert worden war, bündeln die Querelles. Jahrbuch für Frauenforschung im Jahr 2001 mit dem Band Biographisches Erzählen. Von der Bedeutung der Gender- für die Biographikforschung zeugt nicht zuletzt, dass in den seit der Jahrtausendwende erschienenen zentralen Bänden zur Biographikforschung die Genderforschung einen wichtigen Raum einnimmt.81 Diesen seit der Jahrtausendwende erschienenen Publikationen ist eigen, dass sie die nunmehr rasant anwachsende Biographikforschung zu fassen und weiterzubefördern suchen. Aus dem »Bastard der Geisteswissenschaften«82 ist ein produktiv diskutierter Gegenstand geworden, der sich insbesondere auch für den interdisziplinären Dialog zu eignen scheint. Der 2002 von Christian Klein herausgegebene Sammelband Grundlagen der Biographik. Theorie und Praxis des biographischen Schreibens trägt entsprechend Beiträge aus den Lite79 Dausien 1994. 80 »Die Frage, warum sich die Biographik über Jahrhunderte hinweg fast ausschließlich mit Männern befasste, stellt sich damit neu und völlig anders, nämlich nicht mehr als Frage nach der Monopolisierung eines an sich neutralen Darstellungsmittels durch die Männer, sondern als Frage nach dem Zusammenhang zwischen der Konstitution von Geschlecht und den Schreibweisen und theoretischen Voraussetzungen der Biographie.« Marian und Ní Dhúill 2009, S. 163. 81 Vgl. dazu Runge 2002 und Altmann 2002, Borchard 2003 und Kallin 2009. Im Handbuch Biographie (Klein [Hg.] 2009) erhielten Gender Studies ein eigenes Kapitel im Teil VII (»Biographisches Arbeiten als Methode«, vgl. Runge 2009) und der Band Biographie – Zur Grundlegung ihrer Theorie (Fetz [Hg.] 2009) nimmt der Teil »Biographie und Geschlecht« mit vier Aufsätzen den größten Abschnitt (neben »Biographie und Gesellschaft«, »Biographie und Kulturtransfer« sowie »Biographie und Medialität«) ein. 82 Klein 2002, S. [1].
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ratur- und Geschichtswissenschaften, der Soziologie und der Geschlechterforschung zusammen, ergänzt durch die Perspektive von Biographen (Dieter Kühn und Sander L. Gilman) sowie praktisch-juristische Fragen des Biographieschreibens. Der Band kann damit als Vorläufer zum Handbuch Biographie verstanden werden, das – ebenfalls herausgegeben von Christian Klein – 2009 erschien. Mit deutlicherer Systematik fächert das Handbuch weitgesteckte Themenfelder auf, die, so Peter M. Quadflieg in seiner Rezension, dokumentieren, dass die Biographikforschung mittlerweile eine schier unüberschaubare Dimension angenommen habe: »Nimmt man neben der Interdisziplinarität die internationalen Einflüsse in der biographischen Forschung in den Blick, so läuft man endgültig Gefahr, den Überblick über die verschiedenen wissenschaftstheoretischen Ansätze, methodischen Schulen, Traditionen und Analyseinstrumente zu verlieren.«83 Von einer Theorieresistenz (oder gar ‑phobie) der Biographik kann mithin keine Rede mehr sein, zumal im selben Jahr aus dem Kontext des Wiener Ludwig Boltzmann Instituts für Geschichte und Theorie der Biographie84 zwei einander ergänzende Bände erschienen: Die Biographie – Zur Grundlegung ihrer Theorie (herausgegeben von Bernhard Fetz) und Die Biographie – Beiträge zu ihrer Geschichte (herausgegeben von Wilhelm Hemecker).85 Die Musikwissenschaft partizipiert bislang nur in Maßen an diesem interdisziplinär aufgestellten Forschungsfeld. Damit sei nicht übersehen, dass seit den 1990er Jahren einige Impulse, die Biographik theoretisch zu reflektieren und gerade auch in der Spezifik des Gegenstandes Musik zu betrachten, durchaus stattgefunden haben.86 Dennoch scheinen die antibiographischen Impulse durch Guido Adler und Carl Dahlhaus im Fach so stark weiterzuwirken, dass eine produktive Partizipation am interdisziplinären Dialog bislang nur in Ansätzen gelingt. 83 Peter M. Quadflieg: Rezension zu: Klein, Christian (Hg.): Handbuch Biographie. Methoden, Traditionen, Theorien. Stuttgart 2009, in: H-Soz-u-Kult, 30.03.2010, http://hsozkult. geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2010–1–244 (letzter Zugriff: 19. Februar 2012). Vgl. auch die Rezension von Thomas Etzemüller: Biographie – Methoden, Traditionen, Theorie (Rezension), in: sehepunkte 10 (2010), Nr. 5, 15. Mai 2010, URL: http://www. sehepunkte.de/2010/05/17545.html (letzter Zugriff: 19. Februar 2012). 84 http://gtb.lbg.ac.at/ (letzter Zugriff: 4. September 2013). 85 Fetz (Hg.) 2009 und Hemecker (Hg.) 2009. 86 Zu nennen sind hier insbesondere Borchard 1994, Borchard 1996a, Schubert (Hg.) 1997, Gerhard 2001, Kremer 2004, Borchard 2000, Borchard 2003, Pekacz 2004, Borchard 2005b, Pekacz (Hg.) 2006 sowie die Tagungen der Fachgruppe »Musikwissenschaft und Musikpädagogik« in der Gesellschaft für Musikforschung, veranstaltet von Andreas Waczkat, Lüneburg 2002 (Waczkat 2003) und Zürich 2007 (Zur Relevanz musikbiographischer Forschung), sowie die Tagung (Auto)Biography as a Musicological Discourse 2008 in Belgrad.
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Dabei wäre es aus vielerlei Gründen wichtig, dem Chor der interdisziplinären Biographikforschung eine eigene musikwissenschaftliche Stimme hinzuzufügen, denn zu den übergreifenden Fragen wie dem Verhältnis der Biographie zur Geschichtsschreibung, der biographischen Narration, der Identität des biographischen Objekts, der Selbst- und Fremdinszenierung, des Leben-Werk-Zusammenhangs, der Geschlechterkodierungen u. a. m. treten Spezifika der Musikkultur, die durchaus geeignet scheinen, der interdisziplinären Forschung bereichernd hinzugefügt zu werden. Zu nennen sind hier insbesondere die Auseinandersetzung mit dem »Wunderkind«-Modell, das sich – mit oder ohne Referenzpunkt Mozart – mit der Frage des biographischen Eintrittsalters auseinandersetzen muss; dann auch die Wucht der biographischen Bilder, die das 19. Jahrhundert gerade mithilfe von Komponisten gepflegt hatte. Hieran scheint insbesondere die gegenwärtige populäre Musikerbiographik noch weidlich zu partizipieren, die Inszenierung einzelner Komponisten als »Genie« oder »Heroe« hat hier offenbar unverminderte (und ökonomisch durchaus attraktive) Wirksamkeit: »Musical biography remains largely uninfluenced by theoretical reflection and is reluctant to consider new approaches.«87 Nicht zu vergessen, dass gerade auch in der Popkultur mit ihrem ausgeprägten Starkult die Heroenbiographik tief verwurzelt zu sein scheint und intensiv – sowohl fremd- als auch selbstinszeniert – gepflegt wird.88 Die Spezifik der Musikkultur tritt schließlich vor allem dort zutage, wo erkennbar wird, dass Musik als (ver)klingende Kunst eine besondere Herausforderung für die Biographik darstellt. Die labile Materialität von musikalischem Handeln stellt die Biographik vor immense Probleme, denn mit der Fluidität der Zeitkunst geht die Mittelbarkeit der Quellen einher: Der Moment des Klangs als eine Quelle von Musikerbiographik erfährt mit der (notwendigen) Beschreibung bereits einen Medienwechsel. Damit aber sind etwa Interpreten von Musik bereits im Moment des Musizierens einer hochgradigen Überformung (auch) durch biographische Modelle ausgesetzt, da jeder Bericht über einen Konzertauftritt oder eine Opernaufführung bereits diese Bilder und Rollenerwartungen mittransportiert. Eine Rezension etwa liefert damit nicht nur die in Schrift transformierte Vorstellung eines Höreindrucks, sondern formt diese bereits nach Künstlerbildern, die dem Rezensenten und seinem Publikum vertraut sind, bzw. jenen Bildern, die die Interpreten selbst entwickeln. Janina Klassen etwa spricht im Hinblick auf Clara Schumann davon, dass das hiermit angesprochene
87 Pekacz 2004, S. 39. 88 Obert 2012.
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Starimage auf einem kumulativen Effekt von Einzelinformationen aus der präsenten Person auf der Bühne, der gehörten Musik sowie dem medial vermittelten Bild des Stars [beruht]: Anzeigen, biografische Artikel, narrative Beschreibungen der Person, Rezensionen, Klatsch und Bildmaterialien. Dieses Paket von Informationen trifft auf Rezipienten, die eigene Vorstellungen mitbringen. Hier wirken im Publikum Auswahlprozesse, die durch bereits erworbenes Wissen, durch frühere Erfahrungen mit dem Star, durch den eigenen musikalischen Geschmack, aber auch durch die Selbstkonstruktion und Stilisierung als ›Bildungsbürger‹ beeinflusst sind.89
Für die Musikerbiographik stellt sich damit die Anforderung, nicht nur die medialen Umformungen des klanglichen Ereignisses mitzudenken, sondern auch die (implizit oder explizit) transportierten biographischen Bilder zu berücksichtigen, die diese Umformungen mitgestaltet haben.90 Damit sind ein erster, notwendigerweise kursorischer Rundblick über die Wechselverhältnisse von Biographie, Geschichte und Musikkultur sowie ein ebensolcher über die gegenwärtige Biographieforschung und ihre Anknüpfungspunkte für die Musikwissenschaft als Vorgriff auf die kommenden Vertiefungen abgeschlossen. In drei Teilen wird die vorliegende Studie91 nun einzelnen Aspekten dieses weiten Feldes nachgehen: Der erste Teil nimmt die Biographie als Erinnerungskultur in den Fokus, denn zum einen ist die Biographie als eines der Medien von Erinnerungskultur zu betrachten und zum anderen deutet der lange Weg des Musikers und der Musikerin hin zur uneingeschränkten Biographiewürdigkeit auf einige bedeutsame Spezifika der Musikkultur im Chor der Biographik des 18. Jahrhunderts hin. Der zweite Teil setzt sich mit ausgewählten biographischen Konzepten in Musik und Musikgeschichtsschreibung auseinander. Der historische Längsschnitt muss hierbei notwendigerweise bruchstückhaft bleiben, wobei die Auswahl der biogra89 Klassen 2009, S. 111. 90 Eggebrecht geht in seiner Analyse der Beethoven-Rezeption den entgegengesetzten Weg, wenn er es für »notwendig« erachtet, »aus den nach Zeit, Nationalität, Anlaß, Schriftgattung und Individualität des Autors verschiedenen Interpretationen Beethovens das ihnen Gemeinsame ausfindig zu machen«. Vgl. Eggebrecht 1994, S. 34. 91 Dem während des Forschungsprozesses möglichen, zumeist interdisziplinären Austausch verdankt diese Studie viel, darunter vor allem die Möglichkeit, die Spezifik der Musikkultur in eine interdisziplinäre Perspektive einzubringen und unter dieser zu diskutieren, und auch die Möglichkeit, die Fachgeschichte mithilfe einer über die Grenzen der Musikkultur hinausgehenden Perspektive auf Biographik im historischen Längsschnitt zu konturieren. Meine in diesen Kontexten publizierten Texte wurden für die vorliegende Studie überarbeitet, zum Teil aktualisiert; ich habe sie gleichwohl teil- und ausschnittweise in den vorliegenden Band integriert, um den Gesamtzusammenhang, in dem sie im Kontext von Biographie und Musikgeschichte stehen, deutlich werden zu lassen. Entsprechende Verweise geben den Hinweis auf die (Teil)Erstveröffentlichung.
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phierten Personen sowie der berücksichtigten Medien92 den Grundfragen der Studie und ihrem Entstehungsprozess verpflichtet bleiben: Die vorliegende Studie entstand aus der Idee heraus, die sich verändernden biographischen Bilder anhand der deutschsprachigen Biographik über Wolfgang Amadeus Mozart aufzuzeigen. Der Fokus auf eine Einzelperson erwies sich allerdings im Verlauf als immer weniger haltbar, da allzuoft grundsätzliche Fragen der (Musiker-)Biographik zu reflektieren notwendig erschienen, die weit über die Mozart-Biographik hinausreichten. So war etwa der musikbiographische Diskurs des 18. Jahrhunderts als Voraussetzung für das biographische Interesse Leopold Mozarts unabdingbar, Fragen der Anekdotik nicht ohne eine Auseinandersetzung mit Matthesons (auto)biographischem Ansatz zu beantworten, Fragen der Biographiewürdigkeit von Musikerinnen nicht diskutierbar und insbesondere auch die Heroenbiographik nicht ohne das »Gegenmodell« zu Mozart, Ludwig van Beethoven, erklärlich. So bleibt die Studie zwar an der Mozart-Biographik orientiert, und auch der Schwerpunkt auf der deutschsprachigen Biographik blieb in weiten Teilen erhalten, sie geht aber immer wieder darüber hinaus, nicht zuletzt auch, um das nicht konfliktarme Verhältnis zwischen Musikwissenschaft und Biographik zu thematisieren. Diese fachgeschichtliche Perspektive scheint grundlegend für eine produktive Auseinandersetzung mit Fragen der Musikerbiographik zu sein. Die Auswahl der biographischen Medien und Genres wurde von folgenden Überlegungen geleitet. Wenn, wie Aleida Assmann betont, »das Verhältnis einer Epoche zur Vergangenheit […] zu einem wesentlichen Bestandteil auf ihrem Verhältnis zu den Medien des kulturellen Gedächtnisses [beruht]«,93 dann ist in einer Studie, die nach der historischen Verortung der Musikerbiographik fragt und zugleich die Biographie als Medium der Erinnerungskultur begreift, die Frage des Mediums, in dem sich musikkulturelles Gedächtnis manifestiert, zentral. Anders gesagt: Es ist nicht ohne Bedeutung, ob sich Musikerbiographik lexikalisch, monographisch, anekdotisch, dokumentarisch, 92 Der Schwerpunkt hierbei liegt auf deutschsprachigen Schriftmedien, wobei neben monographischen und lexikalischen Biographien auch literarische Biographie-Konzepte untersucht werden (Erzählung, Drama etc.). Außerdem wurden ausgewählte Kompositionen berücksichtigt, die sich mit der Umsetzung bestimmter biographischer Konzepte auseinandergesetzt haben. Um die enorme Spannweite von Biographik als Erinnerungskultur annähernd aufzeigen zu können, werden darüber hinaus auch andere Medien mit berücksichtigt: Monument/Denkmal, Bild/Zeichnung, Film, Theater, Ausstellung. Dass vorwiegend (wenngleich nicht ausschließlich) Musikerinnen und Musiker der sogenannten Kunstmusik berücksichtigt wurden, sollte nicht den Eindruck erwecken, dass die Frage der biographischen Konzeption nicht ebenso gewinnbringend anhand von Beispielen aus der Pop-/Rock- und Jazzmusik analysiert werden könnte. Vgl. dazu auch Obert 2012. 93 Assmann 2006a, S. 204.
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performativ (etwa auf der Opernbühne), filmisch oder bildnerisch kundtut. In jedem Fall wird mit der entsprechenden Biographie zugleich auch das Verhältnis zur zeitgenössischen Musik- und Erinnerungskultur verhandelt. Unter diesen Voraussetzungen scheint es angebracht, die Breite biographischer Medien in den Blick zu nehmen, anstatt – was ebenfalls denkbar wäre – zu einem einzelnen biographischen Genre eine Studie zu entwickeln, etwa dem biographischen Film über Musiker und Musikerinnen oder der monumentalen Komponistenbiographik des 19. Jahrhunderts. Die Auswahl heterogener biographischer Medien und Genres erlaubt es, die beiden eingangs genannten Grundthemen dieser Studie, die sich eben nicht ausschließlich innerhalb eines Mediums manifestieren, sondern sich im Aushandlungsprozess mit den Erinnerungskulturen verschiedener Medien bedienen, genauer in den Blick zu nehmen: die wechselnden Darstellungsstrategien in Biographien über Musiker und Musikerinnen im historischen Längsschnitt und das Wechselverhältnis von Musikerbiographik und Musikgeschichtsschreibung bzw. Historischer Musikwissenschaft. So mag die Auswahl der analysierten Biographien über Musiker und Musikerinnen auf den ersten Blick heterogen erscheinen, und der Vorwurf, dass dieses oder jenes Genre (etwa der Musiker-Roman), dieses oder jenes Beispiel (etwa Hans Pfitzners Palestrina als »biographische Oper«) unberücksichtigt bleibt, ist leicht vorzubringen. Die Auswahl folgt gleichwohl der Grundannahme, dass sich Formen und Erzählweisen des Biographischen mit den Funktionen des Biographischen und seinem Wechselverhältnis zu Geschichte und Musikkultur verändern, und dass ein Erkenntnisgewinn darin liegt, diese Veränderungen – auch in ihren Interdependenzen – aufzuzeigen. Der dritte Teil wendet sich schließlich dem ebenso produktiven wie spannungsgeladenen Verhältnis von deutsch-sprachiger Musikwissenschaft und Biographie zu. Auch hierbei ist eine historische Perspektive unabdingbar. Die dabei notwendige Auswahl orientiert sich wiederum an der Grundannahme, dass es im Zusammenhang der Studie nicht primär darum geht, den Ausschluss der Biographik aus dem Fach Musikwissenschaft zu dokumentieren, sondern vielmehr um die Entschlüsselung jener Wissenscodes, die den Ausschluss notwendig erscheinen ließen. Insofern überkreuzen sich an dieser Stelle notwendigerweise Fachgeschichte und musikhistorische Wissensproduktion mit Diskussionen aus der interdisziplinären Biographikforschung über Machen und Gemacht-Sein von Biographien.
1. Erinnerung und Gedächtnis. Einige Vorüberlegungen
»Memory is inexplicable.«94 Virginia Woolf, Orlando. A Biography
Wenn zu Beginn des Nachdenkens über Biographie und Musikgeschichte der Lichtkegel auf die Biographie als Erinnerungskultur gelenkt wird, betritt man eine der großen Bühnen gegenwärtiger wissenschaftlicher Diskussionen. Kaum ein Forschungsfeld wird – nicht zuletzt nachdem Jan Assmann den Begriff ›Erinnerung‹ 1992 zum neuen Paradigma der Kulturwissenschaften ausgerufen hatte95 – so umfangreich, interdisziplinär und kontrovers diskutiert. Aufgrund der schieren Größe kann es an dieser Stelle keinesfalls darum gehen, eine umfassende Darstellung des Forschungsfeldes vorneh-
94 Woolf 1975, S. 56. 95 »Alles spricht dafür, daß sich um den Begriff der Erinnerung ein neues Paradigma der Kulturwissenschaften aufbaut, das die verschiedenen kulturellen Phänomene und Felder – Kunst und Literatur, Politik und Gesellschaft, Religion und Recht – in neuen Zusammenhängen sehen läßt.« Assmann 2005a, S. 11. Jan Assmann, der mit seinem 1992 erstmals erschienen Buch Das kulturelle Gedächtnis zu einer wichtigen Stimme der Erinnerungsforschung gehört, nimmt drei Gründe für diesen Paradigmenwechsel an: die neuen Medien, die durch die Möglichkeit bislang ungeahnter Speicherkapazitäten nach neuen Modellen von Wissensabfragen und ‑verknüpfungen verlangen, die »Haltung der ›Nach-Kultur‹ […] in der etwas Zu-Ende-Gekommenes […] allenfalls als Gegenstand der Erinnerung und kommentierender Aufarbeitung weiterlebt«, und drittens der Wechsel von der Kriegs- zur Nachkriegsgeneration, der deutlich vor Augen führt, dass die Zeit, in der Zeitzeugen von den Verbrechen der NS-Zeit berichten können, zu Ende geht, mithin eine Form der angemessenen Erinnerung gefunden werden muss (Assmann 2005a, S. 11). Aleida Assmann zählt zu den Gründen, »die neue Dominanz und anhaltende Faszination des Gedächtnis-Paradigmas zu erklären«, »das Ende der Geschichtsphilosophie mit ihrer Betonung von Gegenwartsvollendung und Zukunftserwartung, das Ende einer Subjektphilosophie mit ihrer Konzentration auf das rationale und souveräne Individuum, das Ende eines disziplinären Wissenschaftsparadigmas mit seiner fortschreitenden Spezialisierung. Die kulturwissenschaftliche Thematik des Gedächtnisses erweist sich in dieser Sicht nicht nur als ein neues Problemfeld, sondern auch als eine besondere Art und Weise, gesamtgesellschaftliche Problemüberhänge zu bearbeiten.« (Assmann 2006a, S. 17). Vgl. hierzu auch Kornelia Konczal, die die geschichtswissenschaftlichen Neuerungen seit den 1970er Jahren benennt, darunter die Etablierung der Oral History, Mentalitäts- und Alltagsgeschichte, Historische Anthropologie, Linguistic Turn, Begriffsgeschichte, kulturwissenschaftliche Fragestellungen, s. Kończal 2010, S. 250.
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men zu wollen,96 noch allein – auch wenn dies tatsächlich anstünde – seinen Bezugsrahmen für die Musikwissenschaften auszuloten.97 Vielmehr stehen im Folgenden zwei Teilaspekte im Zentrum, die, je für sich, einen eigenen Schwerpunkt innerhalb der Gedächtnisforschung einnehmen und die vor allem auf die Frage zulaufen, welche Konsequenzen aus der interdisziplinären Gedächtnisforschung für die Betrachtung von musikbiographischem Denken und Handeln als Teil der Erinnerungskultur zu ziehen sind: erstens das Verhältnis von Geschichte und Gedächtnis und zweitens die Medien von Erinnerungskultur(en), zu denen die Biographie zu zählen ist. Beide Teilaspekte werden bewusst interdisziplinär betrachtet. Zum einen, weil Erinnerungs- und Gedächtnisforschung ein interdisziplinäres Feld par excellence darstellt: Als Konzept und als Praxis übergreifen ›Erinnerung‹ und ›Gedächtnis‹ kulturelle Bereiche, Disziplinen und Nationen. Daraus ergibt sich auch: Der Gedächtnis-Begriff ermöglicht und erfordert den Dialog. Der Zusammenhang von Kultur und Gedächtnis kann von keiner Einzeldisziplin aus allein bearbeitet werden. […] Das Gedächtnis-Thema hat dabei einen Brückenschlag zwischen Sozial-, Geistes- und Naturwissenschaften ermöglicht, wie vermutlich in diesem Jahrhundert kein anderes,98
so die Anglistin Astrid Erll. Der Literaturwissenschaftler Nicolas Pethes und der Medienwissenschaftler Jens Ruchatz betonen ihrerseits die interdisziplinäre Weite des Feldes, die eine »integrale Theorie darüber, was ›das‹ Gedächtnis ›ist‹«, unmöglich mache: Gedächtnisforschung, die in der Neurobiologie ebenso beheimatet ist wie in der Medienwissenschaft, in den Philologien gleichermaßen wie in der Psychologie, und deren Horizont sich zwischen dem historischen Interesse von Philosophen und dem pragmatischen der Pädagogik erstreckt, ist ein Paradebeispiel dafür, wie weit Methoden und Fragestellungen trotz der engen Verwandtschaft des Gegenstands in den einzelnen Disziplinen voneinander entfernt sein können.99
Und auch Aleida Assmann betont: »Das Phänomen des Gedächtnisses ist in der Vielfalt seiner Erscheinungen nicht nur transdisziplinär in dem Sinne, 96 Vgl. hierzu einführend u. a. Gudehus/Eichenberg/Welzer (Hg.) 2010, Radstone/ Schwarz (Hg.) 2010, lexikalisch: Pethes/Ruchatz (Hg.) 2001. Zum kulturellen Gedächtnis vgl. vor allem Assmann 2005a (Erstausgabe: 1992) und Assmann 2006a (Erstausgabe: 1999), Erll 2005a (sowie jeweils dort auch Hinweise zu weiterführender Literatur). 97 Einige Überlegungen zu diesem Bezugsrahmen sind veröffentlich in: Unseld 2006a, Unseld 2006d, Unseld 2007a und Unseld 2011c. 98 Erll 2005a, S. 2. 99 Pethes/Ruchatz (Hg.) 2001, S. 5.
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daß es von keiner Profession aus abschließend und gültig zu bestimmen ist, es zeigt sich auch innerhalb der einzelnen Disziplinen als widersprüchlich und kontrovers.«100 Zum anderen ist eine interdisziplinäre Perspektive auch deshalb unabdingbar, weil sich eine historische Musikwissenschaft, die sich dem Phänomen Biographie zuwendet, gut daran tut, nicht in jener disziplinären Abgeschiedenheit zu verbleiben, die einen Dialog mit der interdisziplinären Gedächtnisund Erinnerungsforschung stark einschränkt, wenn nicht gar unterbindet. So partizipierte zwar Ludwig Finscher in dem 1988 erschienenen Band Kultur und Gedächtnis, der – auf einer Ringvorlesung basierend – von Jan Assmann und Tonio Hölscher herausgegeben wurde. Finscher stellte dort aber klar, dass die Musikwissenschaft nur sehr bedingt an einem interdisziplinären Konzept des kulturellen Gedächtnisses teilhaben könne, da Musikgeschichte als Kompositionsgeschichte nicht mit anderen Künsten und deren Geschichte zu vergleichen sei: »Der generelle Vorbehalt, der für alle Überlegungen dieser Art im Bereich der Musikgeschichte gilt, darf allerdings nie vergessen werden: Musikgeschichte als Kompositionsgeschichte ist ein von allen anderen Kulturbereichen weitgehend abgesonderter, weitgehend autonomer Bereich, allein dadurch, daß Komponisten in Musik denken. Analogien, auch die der Tonsprache zur Sprache, haben darin ihre engen Grenzen.«101 Die vorliegende Studie widerspricht nicht Finschers Argument, dass eine Kompositionsgeschichte, die die Gattungsgeschichte als das, »was eine spezifische musikkulturelle Gedächtnisarbeit genannt werden könnte«102 betrachtet, nur bedingt in das Konzept des kulturellen Gedächtnisses einzupassen sei. Sie versteht aber die Perspektive der Gattungsgeschichte selbst als Teil des kulturellen Gedächtnisses (die es unter diesen Prämissen – etwa unter den Vorzeichen einer Autonomieästhetik – zu betrachten gälte). In Anlehnung an Jan Assmann – »Die Gedächtnisgeschichte fragt nicht ›Wie ist es eigentlich gewesen?‹, sondern ›Wie (warum, von wem und wann) wird es erinnert?‹«103 – stünde nicht die Frage im Vordergrund: »Wie ereignete sich Kompositions- oder Gattungsgeschichte?«, sondern vielmehr: »Wie, warum, von wem und wann wird Musikgeschichte als Kompositionsgeschichte oder als Gattungsgeschichte konzipiert?« Entsprechend versteht die vorliegende Studie Musikgeschichte als eine Geschichte des musikkulturellen Handelns, das in seinen vielfältigen Formen als Teil des kulturellen Gedächtnisses begriffen werden kann. 100 Assmann 2006a, S. 16. Zur Interdisziplinarität im Zusammenhang mit Erinnerungsforschung vgl. auch Oesterle 2005a, S. 14f. 101 Finscher 1988, S. 296. 102 Ebda., S. 299. 103 Assmann 2005a, S. 24.
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Wie bereits erwähnt geben die verschiedenen Disziplinen auf die Frage, was Gedächtnis und was Erinnerung sei, verschiedene Antworten. Bezieht man dazu die Weiterentwicklung der Forschung seit den 1920er Jahren mit ein, multiplizieren sich nochmals die Begriffe und Konzepte. Aus der Vielfalt möglicher Antworten seien hier nur zwei der momentan meistdiskutierten Grundzüge herausgegriffen und grob skizziert: eine kulturwissenschaftliche und eine neurowissenschaftliche Perspektive. Auf beide werden sich die beiden Abschnitte zu Geschichte und Gedächtnis und zu den Medien der Erinnerungskultur beziehen können.
Nachdenken über Gedächtnis Die kulturwissenschaftliche Gedächtnisforschung sei, so Jeffrey K. Olick und Joyce Robbins bereits 1998, ein »nonparadigmatic, transdisciplinar, centerless enterprise«.104 Daran hat sich bis in die Gegenwart nichts verändert, vielmehr kann man von einer weiteren Vervielfältigung der Konzepte sprechen. So verschieden, ja disparat die Konzepte: Alle gehen von zwei Annahmen aus, nämlich erstens, dass Zusammenhänge zwischen Kultur und Gedächtnis existieren, und zweitens, dass »Erinnern als ein Prozess, Erinnerung als dessen Ergebnis und Gedächtnis als eine Fähigkeit oder eine veränderliche Struktur zu konzipieren ist«.105 Um einen Überblick über die Konzepte zu erhalten, ist es hilfreich, wie Astrid Erll dies in ihrem Handbuch Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen dargelegt hat, sich einer »kurzen Geschichte der kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung« zu vergewissern.106 Auf diese Weise werden nationale Forschungsbesonderheiten, die Phasen der besonderen Aufmerksamkeit auf das Gedächtnis-Paradigma (und damit auch ihren Zeitbezug) sowie die verschiedenen Konzepte, ihre disziplinäre Verankerung und ihre Interdependenzen erkennbar. Und wenn dabei u. a. Namen wie Maurice Halbwachs, Aby Warburg, Pierre Nora, Jan und Aleida Assmann sowie Astrid Erll und Günter Oesterle (als zwei von vielen VertreterInnen des Gießener Sonderforschungsbereiches »Erinnerungskulturen«, der von 1997–2008 bestand107) fallen, wechseln mit den Namen auch die Begriff-
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Olick/Robbins 1998, S. 106. Erll 2005a, S. 7. Vgl. ebda., S. 13–39. Vgl. hierzu http://www.uni-giessen.de/erinnerungskulturen/home/index.html (letzter Zugriff: 8. Oktober 2013).
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lichkeiten: »mémoire collective«,108 »Mnemosyne«,109 »lieux de mémoire«,110 »kulturelles« und »kommunikatives Gedächtnis«,111 »Erinnerungskulturen«.112 Letztere wird uns später, im Zusammenhang mit den Medien der Erinnerungskulturen, eingehender beschäftigen, zunächst aber sei aus der Vielfalt der Konzepte jenes des kulturellen Gedächtnisses herausgegriffen. Mit der Unterscheidung von kommunikativem und kulturellem Gedächtnis hat Jan Assmann die Wandlung von oraler Kultur zur Schriftkultur umschrieben: Eine Gesellschaft, deren Identität in Ritualen und oralen Überlieferungen tradiert wird und die sich damit im Rahmen des kommunikativen Gedächtnisses bewegt, verändert sich grundlegend, sobald sie ihre Überlieferungen zu tradieren beginnt. Denn das nunmehr kulturelle Gedächtnis folgt anderen Regeln, darunter der einer hochgradigen Ausdifferenzierung,113 zumal, so Aleida Assmann, das kulturelle Gedächtnis sich nicht »einfach fort[setzt], es muß immer neu ausgehandelt, etabliert, vermittelt und angeeignet werden«.114 In ihrem 1999 erstmals erschienen Buch Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses hat Aleida Assmann eine Ausdifferenzierung des Begriffs vom kulturellen Gedächtnis vorgenommen. Sie schlägt darin zwei Dimension des Begriffes Gedächtnis zu unterscheiden vor (»ars« als Mnemotechnik und Wissensspeicher einerseits und »vis« als Kraft, den Prozess des Erinnerns in Gang zu setzen und damit die Rekonstruktion von Erinnerungsinhalten anzustoßen)115 und konturiert die Begriffe des Funktions-
108 La Mémoire collective, Paris 1950, dt. Ausgabe: Das kollektive Gedächtnis, s. Halbwachs 1985. 109 Vgl. Warburg 2000. 110 Vgl. die mehrbändige Auseinandersetzung mit dem Konzept der lieux de mémoire durch Pierre Nora (1985–1992), dt. Ausgabe Nora 2005. 111 Assmann 2005 (Erstausgabe: 1992), Assmann 2006 (Erstausgabe: 1999). 112 So der Titel des Gießener Sonderforschungsbereichs »Erinnerungskulturen«, dessen Konzept Erll in ihrem Handbuch knapp vorstellt, Erll 2005a, S. 34–37. Vgl. dazu ausführlich auch die oben genannte Homepage. 113 Assmann 2005a. 114 Assmann 2006a, S. 19. 115 »Den mit ›ars‹ überschriebenen Weg zum Gedächtnis möchte ich Speichern nennen und darunter jedes mechanische Verfahren verstehen, das die Identität von Einlagerung und Rückholung anzielt.« (Ebda., S. 28) Es geht mithin um eine Mnemotechnik – gleich ob auf einem materiellen Träger oder im Auswendiglernen von Wissensgegenständen –, bei der »die exakte Übereinstimmung von input und output entscheidend« ist (ebda., S. 29). Gedächtnis als »vis« aber sei »grundsätzlich anders«, so Assmann: »Im Fall des Erinnerns wird die Zeitdimension, die beim Speichern stillgestellt und überwunden ist, akut. Indem die Zeit aktiv in den Gedächtnisprozeß eingreift, kommt es zu einer grundsätzlichen Verschiebung zwischen Einlagerung und Rückholung.« Und »das Wort ›vis‹ weist darauf hin, daß in diesem Falle das Gedächtnis nicht als ein
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und Speichergedächtnisses als zwei nicht polarisierend gedachte, sondern sich gegenseitig bedingende Modi der Erinnerung.116 Im Zusammenhang mit der Biographie als Medium der Erinnerungskultur ist besonders interessant, dass Assmann den »anthropologischen Kern« des kulturellen Gedächtnisses im Totengedächtnis ausmacht und hier insbesondere auf die Säkularisierung des Andenkens (von der »pietas« zur »fama«) hinweist:117 Das Totengedächtnis, das den Hinterbliebenen aufgetragen wurde, war einerseits religiös motiviert als Versicherung des ehrenden Andenkens, andererseits säkular motiviert als Überdauern von Name und Taten im Gedächtnis der Nachkommen. Fama versteht Assmann dabei als eine »säkulare Form der Selbstverewigung, die viel mit Selbstinszenierung zu tun hat«,118 und dabei doch den Mittler – jene Person, die qua Niederschrift das Andenken der Nachwelt ermöglicht – braucht: »Als Funktionär der Fama schreibt der Dichter die Namen der Helden direkt ins Gedächtnis der Nachwelt hinein.«119 Hatte das Mittelalter in der Fama eine durchaus zwielichtige Gestalt gesehen – immerhin verband sich mit ihr eine gehörige Portion Selbstsucht –, knüpfte die Renaissance an antike Traditionen des ruhmreichen Andenkens an. Assmann betont dabei, dass durch diese Form des Andenkens nicht nur der zu Ehrende im Gedächtnis gehalten werden konnte, sondern – vor allem seit Erfindung des Buchdrucks und damit verbunden auch einem neuen Verständnis von Autor(schaft) – auch der Ehrende selbst: »Die Schrift ist ein Verewigungsmedium nicht nur für den besungenen Helden, sondern auch für den Autor.«120 Die Säkularisierung des Andenkens schritt insofern weiter fort, als mit und nach der Zeit der Aufklärung ein Demokratisierungsprozess einsetzte, der, so Assmann, neue Inszenierungsformen von Erinnerung beförderte: Gemeint sind hier vor allem öffentliche Erinnerungsorte (Historische Museen, Denkmäler etc.), in denen sich nicht zuletzt auch ein »Spannungsverhältnis zwischen herrscherlichem Repräenstationswillen und bürgerlicher Selbstdarstellung«121 kundtut. Auch die Geschichtswissenschaft ist, so Assmann, ein Phänomen der Säkularisierung des Andenkens, wenngleich sie – anders als die Fama – nicht prospektiv, sondern retrospektiv gerichtet ist. Sie »dringt durch den Schleier des Vergessens in die Vergangenheit; […] geht verschütteten, verschollenen
116 117 118 119 120 121
schützender Behälter, sondern als eine immanente Kraft, als eine Energie mit eigener Gesetzlichkeit aufzufassen ist.« (Ebda.) Ebda., S. 130–145. Ebda., S. 33ff., insbes. das Kapitel »Fama« S. 38ff.; vgl. hierzu auch Finke 2013. Assmann 2006a, S. 33. Ebda., S. 39. Ebda., S. 46. Ebda., S. 47.
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Spuren nach und rekonstruiert Zeugnisse, die für die Gegenwart bedeutsam sind«.122 Was des Andenkens wert ist, bestimmt sich somit durch die Gegenwart, so dass das Graben nach Verschüttetem (»vis«) immer unter den Prämissen gegenwärtigen Denkens geschieht. Assmann führt hier als Beispiel die unterschiedlich motivierten Tätigkeiten des Sammelns ins Feld, die sich stark daran orientierten, was für die jeweilige Gegenwart als identitätsstiftend angesehen wurde.123 Auf diese Weise unterscheiden sich mittelalterliche Schatzkammern materiell von naturwissenschaftlichen Sammlungen der Aufklärung, wobei sich in diesem Unterschied die veränderte Sinnstiftung ablesen lässt. Zugleich ändert sich mit dem jeweiligen identitätsstiftenden Konzept auch die Zuschreibung von Bedeutung, variiert die Einschätzung von Größe, Bedeutsamkeit, kurz: Erinnerungswürdigkeit. Diese bleibt veränder- und verhandelbar, allerdings mit zwei entscheidenden Konstanten, wie Assmann betont: Der »Ruhm der wenigen [zehrt] von der Ruhmloskgeit der vielen«, und die »kulturelle Erinnerung des Eigennamens [bleibt weiterhin] ein höchst exklusives Privileg«, wobei »›Größe‹ ein Prädikat ist, das von Männern für Männer gemacht ist«.124 Wenn sich auf diese Weise (und nur in groben Zügen) die Säkularisierung des Andenkens skizzieren lässt, sind bereits auch verschiedene Ausprägungen (die »Sachgeschichte kultureller Erinnerung«125) sowie die Akteure des kulturellen Gedächtnisses benannt: Individuen und Kulturen bauen ihr Gedächtnis interaktiv durch Kommunikation in Sprache, Bildern und rituellen Wiederholungen auf. Beide, Individuen und Kulturen, organisieren ihr Gedächtnis mit Hilfe externer Speichermedien und kultureller Praktiken. Ohne diese läßt sich kein generationen- und epocheübergreifendes Gedächtnis aufbauen, was zugleich bedeutet, daß sich mit dem wandelnden Entwicklungsstand dieser Medien auch die Verfaßtheit des Gedächtnisses notwendig mitverändert.126
Das Konzept des kulturellen Gedächtnisses, so ließe sich mithin knapp zusammenfassen, nimmt jene Wissensbestände in den Blick, die für eine Gruppe identitätsstiftende Funktionen haben. Diese Wissensbestände werden in Wissensspeichern oder symbolischen Formen/kulturellen Praktiken aufgenommen und bewahrt, wobei die Aufnahme in diese Speicher durch die sich in den Wissensbeständen wiedererkennende Gruppe festgelegt wird. Zugleich 122 123 124 125 126
Ebda., S. 48. Assmann bezieht sich hier auf Krzysztof Pomian, vgl. Assmann 2006a, S. 53. Ebda., S. 60f. Erll 2005a, S. 8. Assmann 2006a, S. 19.
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ermöglicht die Assmannsche Definition von Speicher- und Funktionsgedächtnis auch ein Nachdenken darüber, welche Wissensbestände nicht bewahrt (in das Funktionsgedächtnis übernommen) werden und warum. Damit wird auch erkennbar, wie und warum der Ausschluss von Wissensbeständen aus Wissensspeichern vonstatten geht und inwiefern auch dieser Ausschluss identitätsstiftende Funktionen hat.
Nachdenken über Erinnerung Mit einer gänzlich anderen Perspektive geht die neurowissenschaftliche Erinnerungsforschung an das Phänomen der menschlichen Erinnerung, wobei ihre derzeitigen Ergebnisse sich als eine fundamentale Herausforderung für jene historiographische Grundzuversicht darstellen, Quellen, die als mediale Träger von Erinnerungsinhalten gelten können, als wahr und falsch unterscheiden zu können.127 Die neurowissenschaftliche Forschung geht vielmehr davon aus, dass »von einer authentischen Erinnerung […] nur im seltenen Grenzfall auszugehen ist. Im Regelfall leistet das Gehirn eine komplexe und eben konstruktive Arbeit, die die Erinnerung […] anwendungsbezogen modelliert«.128 Oder, wie Daniel L. Schacter formuliert: »Erinnerungen halten fest, wie wir Ereignisse erlebt haben, sie sind keine Kopien dieser Ereignisse.«129 Diese Modellierung, so Harald Welzer, wird durch verschiedene Faktoren beeinflusst, die während des cerebralen Prozesses ›Erinnerung‹ relevant werden: Zum einen konnte nachgewiesen werden, dass sich Erinnerungen nicht geschlossen an einem bestimmten Ort des Gehirns »ablagern«, sondern dass sie »als Muster neuronaler Verbindungen über verschiedene Bereiche des Gehirns verteilt«130 werden. Bei jedem Wiederabrufen der Erinnerungsinhalte müssen diese einzelnen Bestandteile neu aufgefunden und vernetzt werden. Sobald Erinnerung abgerufen werden soll, muss dieses ›Netz‹ aktiviert, also dazu aufgefordert werden, die Einzelbestandteile zu einer Gesamtheit ›Erinnerung‹ zu re-konstruieren, wobei es auf Erfahrungen – neuronal gesprochen: vorgefundene Verknüpfungen – zurückgreifen kann und durch diese in ihrer 127 Ich beziehe mich bei den folgenden Ausführungen vor allem auf die Forschungsergebnisse von Harald Welzer, Daniel L. Schacter und Eric Kandel, der für seine Gedächtnis-Forschung 2000 den Nobelpreis für Medizin erhielt. Vgl. u. a. Welzer 2002, Schacter 2001, Kandel 2006, hier findet sich jeweils zu den angesprochenen Themen auch weiterführende Literatur. 128 Welzer 2002, S. 21. 129 Schacter 2001, S. 23. 130 Welzer 2002, S. 20.
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Re-Konstruktion beeinflusst wird.131 Dabei arbeitet das Gehirn ökonomisch, denn jene Inhalte, die selten oder gar nie abgerufen, das heißt: nicht erinnert und kommuniziert werden, verblassen allmählich. Neurologisch erklärt sich dies dadurch, dass sich »die neuronalen Verbindungen, die die Erinnerungen im Gehirn repräsentieren, im Fall ihrer Nichtinanspruchnahme offenbar schwächer werden und sich schließlich auflösen«.132 Eine Konsequenz dieses Immer-Wieder-Neu-Zusammensetzens aber ist, dass – auch wenn sich die Person an den gleichen Sachverhalt erinnert – bei jeder Erinnerungsleistung ein neues, zum jeweiligen Zeitpunkt generiertes, je eigenes ›Netz‹ entsteht, mithin nie ein identisches Erinnerungsnetz zweimal entstehen kann. Und da die Erinnerungsleistung jedes Mal in einem anderen Kontext abgerufen wird – beispielsweise mündlich während eines biographischen Interviews, als Erzählung unter Freunden, als schriftlicher Bericht, kurze Zeit nach dem erinnerten Ereignis oder Jahrzehnte später – sind auch die Voraussetzungen der Vernetzung jedes Mal andere. Und hierin ist der Grund zu sehen, warum Erinnerungsinhalte nie identisch abgerufen werden können: »Sich zu erinnern bedeutet […], assoziativ Muster zu aktivieren, und bei diesem komplexen Vorgang kann einiges mit dem Erinnerungsinhalt geschehen.«133 Der Moment und die Situation des Erinnerns ist damit ein wesentlicher Bestandteil der Erinnerung selbst. Der US-amerikanische Psychologe und Erinnerungsforscher Daniel L. Schacter entlehnt für die Erläuterung dieses Phänomens ein Bild, das der Romancier Marcel Proust im Zusammenhang mit seinem Roman Auf der Suche nach der verlorenen Zeit in einem Brief aus dem Jahr 1922 entworfen hatte: »Das Bild, das mir (bei aller Unvollkommenheit) am ehesten geeignet scheint, das Wesen dieser speziellen Empfindung zu vermitteln […], ist das eines Fernrohrs, eines Fernrohrs auf die Zeit gerichtet, denn ein Fernrohr läßt uns Dinge erkennen, die unsichtbar sind für das bloße Auge, und ich habe versucht, dem Bewußtsein unbewußte Phänomene sichtbar zu machen, von denen einige, völlig vergessen, in der Vergangenheit lie131 »Die Erinnerung einer Erfahrung geht auf die Aktivierung temporaler und räumlicher Muster zurück, die sich über viele Gruppen von Neuronen erstrecken. Jedes Neuron kann zu einer großen Anzahl solcher Gruppen zählen und entsprechend durch eine große Anzahl neuer Erfahrungen aktiviert werden. Jede neue Erfahrung wird auf der Grundlage der bestehenden Erfahrungen eingeschrieben. Das heißt, jede neue Erinnerung kann durch vorangegangene Erinnerungen beeinflußt werden und bestehende Erinnerungen verändern. Das distributive Speicherverfahren des Gedächtnisses sorgt dafür, daß ein- und dieselbe Erfahrung in sehr unterschiedlichen Kombinationen mit anderen Erfahrungen erinnert werden kann und jedesmal als Ergebnis vieler verschiedener assoziativer Verknüpfungen betrachtet werden kann.« Marek-Marsel Mesulam (zit. nach Welzer 2002, S. 44). 132 Welzer 2002, S. 21. 133 Ebda.
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gen.«134 – Erinnerung als Fernrohr: der Blick, um ein Detail aus der Entfernung wahrzunehmen. Die Wahrnehmung aber ist zum einen immer ein Ausschnitt aus der Totalen, zum anderen ist sie von Hand und Auge desjenigen abhängig, der das Fernrohr justiert, der durch eben dieses hindurchschaut. Das schauende Subjekt setzt sich bewusst in Beziehung zum entfernten Bild und bedient sich dabei eines Mediums. Auch die Erinnerung bedarf immer eines Mediums, der Kommunikation, wobei das Moment des Sich-Ausdrückens wiederum Einfluss nimmt auf die Konkretisierung von Erinnerung. So unterschiedlich die neuronale Vernetzung im Gehirn während der Erinnerungsaktivität mithin ist: Sie geschieht doch nie planlos, sondern zielgerichtet, ja ökonomisch. Die neuronalen Netze, die bei Erinnerungsleistungen aktiviert werden, nutzen vorzugsweise bereits »beschrittene Pfade«, das heißt, sie rekurrieren auf zuvor angelegte Muster, auf Erfahrungen: »Erfahrungen sind in Gehirnnetzwerken kodiert, deren Verbindungen bei früheren Auseinandersetzungen mit der Welt angelegt worden sind. Dieses bereits vorhandene Wissen beeinflußt entscheidend, wie wir neue Erinnerungen kodieren und speichern, und prägt damit die Natur, Textur und Qualität dessen, an was wir uns später erinnern.«135 Werden Erinnerungsinhalte ganz oder teilweise über längere Zeit nicht abgerufen, lockern sich die neuronalen Netze bis hin zur vollständigen Auflösung – dem Vergessen. Für unseren Zusammenhang ist es nun von besonderem Interesse, jenen Teil des Langzeitgedächtnisses in den Fokus zu nehmen, der für die Erinnerung des eigenen Lebens und die Selbstwahrnehmung von besonderer Bedeutung ist – das episodische Gedächtnis.136 Dieses neigt, so Harald Welzer, zu einer »konstruktive[n] Funktionsweise«, die Erinnerungslücken sofort durch eingefügtes Material schließt, »das anderen Erlebnissen (oder auch gänzlich anderen Quellen, die mit unserem eigenen Leben nichts zu tun haben) entstammt. Das episodische Gedächtnis […] scheint wesentlich einem Montageprinzip zu folgen, das bedeutungshaltige Bruchstücke nach ihrem sinnstiftenden und selbstbezogenen Wert zusammenfügt.« Ist die Suche nach Kohärenz im Biographischen demnach cerebral vorgeprägt? Der Montage-Charakter des episodischen Gedächtnisses wirft darüber hinaus die Frage auf, unter welchen Umständen sich die Relation von bedeutungshaltigen Bruchstücken und eingefügtem Material verändert. Und entgegen der bisherigen Vermutung, dass gerade traumatische Erlebnisse besonders prägnant erinnert werden können, da sie sich in das Gedächtnis gleichsam 134 Zit. nach ebda., S. 56f. Vgl. dort auch S. 53–65. 135 Schacter 2001, S. 23. 136 Zur Gliederung des Langzeitgedächtnisses in vier Teile vgl. Welzer 2002, S. 22ff., die folgenden Zitate ebda. et passim.
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›eingebrannt‹ hätten, betont Welzer, dass »Erinnerungen gerade an gefahrvolle, schreckliche und emotional belastende Situationen deutlich mehr konstruierte und montierte Bestandteile aufweisen als emotional gleichgültigere Erinnerungen«.137 Dies sei deshalb anzunehmen, da der durch das emotional aufwühlende Ereignis ausgelöste Stress die Erinnerungsinhalte »fragmentarischer […] als gewöhnlich« im Gehirn speichere. So könne das Gedächtnis gerade hier »konstruktive Verknüpfungen herstellen, die mit tatsächlichen Ereignissen nichts oder nur wenig zu tun haben«. Andere Faktoren (Alter u. a.) sowie entwicklungsspezifisch unterschiedliche Dichten von Erinnerungen wirken darüber hinaus auf Erinnerung ein. Diese Einzelfaktoren zusammengenommen wird verständlich, warum Welzer nicht von »wahren«, sondern von »realitätshaltigen« Erinnerungen spricht, warum der Begriff »falsche Erinnerung« durch »Quellenamnesie« und »Konfabulation« ersetzt wird. »Wenn man die ungeheure Komplexität der assoziativen Verbindungen im Gehirn in Rechnung stellt«, so fasst Welzer, sich auf den Neurologen Marek-Marsel Mesulam stützend, zusammen, »scheint es völlig unrealistisch, davon auszugehen, daß Erinnerung ein Prozeß sei, der Dinge wirklichkeitsgetreu reproduziert«.138 Die Folgen, die diese hier nur knapp zusammengefassten Ergebnisse der neurowissenschaftlichen Erinnerungsforschung für die Historiographie zeitigen können, sind von erheblicher Bedeutung: Geschichte basiert auf der Medialisierung von Erinnerungsinhalten unterschiedlichster Provenienz und unterliegt damit jenen Beobachtungen, die hier mit Blick auf historiographisches Arbeiten nochmals unter vier Punkten zusammengefasst werden: Erstens: Neuronale Netze, die beim Erinnern im Gehirn aktiviert werden, sind temporär und singulär. Historisch Erinnertes ist mithin notwendigerweise zeitgebunden. Es kann zwar verschriftlicht werden, spricht dann aber immer nur für den Augenblick des Festhaltens. Zweitens: Erinnerungen sind keine »Kopien« der Ereignisse, sondern halten fest, wie ein Individuum ein bestimmtes Ereignis erlebt hat. Übertragen auf Geschichtsschreibung bedeutet das, dass Vergangenes nicht realitätsgetreu reproduziert, sondern allenfalls aus der Perspektive eines Individuums oder eines Kollektivs beschrieben werden kann. Drittens: Die Kommunikation von Erinnertem modifiziert das Erinnerte. Wiederum auf Historiographie übertragen heißt das, dass die Art, wie Geschichte festgehalten wird, die Erinnerungsinhalte mitbestimmt. Deutlich wird dies, wenn man sich die unterschiedlichen medialen Formen von Geschichtsschreibung – Buch, Multimedia-Präsentation, Ausstellung etc. – vor Augen führt. Und viertens: Starke Emotionen machen Erinnerungsleistungen
137 Welzer 2002, S. 39. 138 Ebda., S. 44.
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besonders deformationsanfällig. Gleichzeitig sind gerade diejenigen Ereignisse historiographisch prägnant, die mit starken Emotionen einhergehen.
Geschichte und Gedächtnis Auf dem Weg zur Frage, welche Konsequenzen aus der interdisziplinären Gedächtnisforschung für die Betrachtung von musikbiographischem Denken und Handeln als Teil der Erinnerungskultur zu ziehen sind, sollen nun aus dem Bereich von Geschichte und Gedächtnis einige markante Anschlusspunkte aus den beiden Perspektivierungen herausgegriffen werden. Obwohl in den Geschichtswissenschaften wohl keine homogene »Historische Erinnerungsforschung« auszumachen ist, und trotz einer auch hier verbreiteten Heterogenität von Schüsselbegriffen und Konzepten, lassen sich einige Grundzüge ausmachen, in denen sich Geschichtswissenschaft und Gedächtnisforschung produktiv begegnen: Kornelia Kończal fasst diese Grundzüge als »kleinste[n] gemeinsame[n] Nenner [in der] […] Abkehr von Linearität, politischer und Ereignisgeschichte sowie in Zuwendung zur symbolischen Dimension der Vergangenheit, kollektiven Imaginationen sowie der Analyse von Formen und Funktionen des Gebrauchs der Geschichte für die jeweils aktuellen Bedürfnisse«139 zusammen. Dies bedeute, anders als Kritiker annehmen, weder einen »Abschied von Erforschung der Faktizität noch ›Entrealisierung‹ der Geschichte«, sondern erweitere den Realitätsbegriff um »das Problem der Präsenz der Vergangenheit in der jeweiligen Gegenwart«.140 Assmanns »vis«-Konzept scheint hier auf, zugleich die Konstruktionsprozesse des Gedächtnisses, seine Medien und Zirkulationswege, seine Funktionen und Wirkungen. Vor allem die Mehrdeutigkeit von Erinnerungen hat dabei die Geschichtswissenschaften immer wieder beschäftigt, im Übrigen lange bevor die neurowissenschaftliche Erinnerungsforschung Modelle wie die oben skizzierten zur Diskussion stellten: Johann Martin Chladenius’ Idee des »Sehepuncktes«141 und Friedrich Schillers Einsicht, dass der Historiker den »rohen Stein« der Vergangenheit bilde, zeugen bereits von Überlegungen, dass Vergangenheit vom sich erinnernden, historisch reflektierenden und schreibenden Menschen modelliert ist. Und Schillers Gedanke wird bei Johann Gustav Droysen durch grundsätzliche quellenkritische Erwägungen ergänzt, die die Anfälligkeit von Erinnerung als Quelle historischer Erkenntnis im Hinblick auf Authentizität und Objektivität betont: 139 Kończal 2010, S. 249. 140 Ebda., S. 250. 141 Chladenius 1969 [1742], § 309, S. 187f. et passim.
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Das, was unsre Vorstellung sich aneignet, tritt sofort in den Zusammenhang der gesamten Vorstellungswelt, die wir bereits in uns tragen, wird ein mitlebendes Stück in derselben, verwandelt sich des weiteren mit ihr, je nachdem neue und neue Dinge in dieselbe aufgenommen werden. Man muß sich nur einmal selbst beobachten, wie schwer es ist, Erinnerungen präzise festzuhalten, wie sich das Bild dessen, was man selbst mit angesehen, ja getan oder mitgetan hat, verschiebt und verändert.142
Obgleich sich Droysen damit dem neurophysiologischen Phänomen Erinnerung erstaunlich dicht nähert, geht er in der folgenden Klassifizierung von einer Zweiteilung in »subjektive« und »pragmatische« Quellen aus. Erstere seien weniger zuverlässig, da von Emotionen beeinflusst, Letztere seien zuverlässig, da rational. Die Kriterien, die Droysen allerdings für diese Zweiteilung ansetzt, basieren nicht auf grundsätzlichen Überlegungen zum Charakter von Erinnerung allgemein, sondern allein auf den Dichotomien bürgerlicher Provenienz: Für die Kategorie der »subjektiven« Quelle nennt er entsprechend volkstümliche Überlieferungen und Briefe von Frauen als Beispiele, während für die »pragmatische« Quelle Diplomaten und Chronisten einstehen: Bei der überwiegend subjektiven Reihe konnte eine gewisse spontane Mittätigkeit der Empfindung, ein Bedürfnis, auszusprechen, was uns die Seele bewegte, als maßgebend gelten. Wer solchen Logos gemacht, solch Liedlein sich erdacht hatte, – er hatte weniger die Tatsache, die er vielleicht mit erlebt, im Auge, als sie wie mit persönlicher Teilnahme und um so anziehender zu erzählen; ihm trat die Korrektheit der Erzählung zurück gegen die Erregtheit seiner Stimmung, in der er sie aufgefaßt […]. Bei den pragmatischen Quellen ist die Absicht auf die sachliche Kenntnis und deren Mitteilung gerichtet und für sie von Anfang an bestimmend.143
Memoriksensibilisierung findet bei Droysen demnach vor allem mit dem Ziel statt, die Quellen nach den dichotomen Mustern des bürgerlichen Selbstverständnisses im 19. Jahrhundert klassifizieren zu können: objektiv (»pragmatisch«) von einem Mann stammend professionell/wissenschaftlich zuverlässig erinnert historisch relevant
– – – – –
subjektiv von einer Frau stammend privat oder volkstümlich unzuverlässig erinnert historisch irrelevant oder nur bedingt relevant
142 Droysen 1943, S. 62, Hervorhebung M. U. 143 Ebda., S. 71f. Unter sprachlichem Gesichtspunkt ist im Übrigen hier bemerkenswert, dass Droysen für die Zusammenfassung der »subjektiven« Quelle eine wortreichere und bildhafte Sprache wählte, während er die »pragmatischen« Quellen in einem nebensatzfreien, nüchternen Satz beschreibt.
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Die Gefahr dieser Art der Memoriksensibilisierung besteht freilich darin, eine Trennung zwischen zuverlässiger und nichtzuverlässiger Erinnerung vorzunehmen und daran eine explizite Wertung zu knüpfen. Auf diese Weise wird die Grundlage für das Verständnis von Wissenschaftlichkeit, Geschichtsmächtigkeit, Relevanz und Dominanz – mithin für Kanonizität – gebildet. Die angenommene Zuverlässigkeit von Erinnerung und Quellen wird zur Grundlage von Geschichtsschreibung, die als zuverlässig und professionell angesehen wird. Mit dem Instrument der Quellenkategorisierung in »subjektiv« und »pragmatisch« wird dabei die auf männlicher Urheberschaft basierende Quelle als geschichtsrelevant definiert. In der kulturphilosophischen Schrift In Blaubarts Burg von George Steiner nimmt das Phänomen der Memoriksensibilisierung einen anderen Raum ein: Nicht die buchstäbliche Vergangenheit regiert uns […]. Vielmehr sind es die Vorstellungen von solcher Vergangenheit. Sie aber sind oftmals so komplex strukturiert und so selektiv wie die Mythen. Bilder und symbolhafte Vorstellungen der Vergangenheit sind unserem Empfindungsvermögen nahezu in der Art genetischer Informationen aufgeprägt. Jedes neue Zeitalter der Geschichte bespiegelt sich im Bilde und der weiterwirkenden Mythologie der eigenen Vergangenheit.144
Ohne sich auf die neurowissenschaftliche Erinnerungsforschung zu beziehen – bzw. beziehen zu können145 –, beschreibt Steiner Geschichte als komplexe, lückenhafte und von den individuellen wie überindividuellen Erfahrungen geprägte, sich immer verändernde Rekonstruktion von Erinnerungen. Die Frage drängt sich damit auf: Benötigen wir überhaupt das Instrumentarium der neurowissenschaftlichen Erinnerungsforschung, um uns über historiographische Grundlagen zu verständigen? Oder genügt nicht der Blick auf eine Tradition von Historik und Geschichtsphilosophie, die in der Suche nach Objektivität (die immer auch ein Anzeichen von Rechtfertigungszwang und geisteswissenschaftlicher Krisenzeit ist) zeitweise in Vergessenheit geraten ist? Der Historiker Otto Gerhard Oexle vertrat in seinem Vortrag »Erinnerungs-Passagen. Über Gedächtnis und Gedächtnisgeschichte«146, der die historiographischen Probleme aufgrund divergierender Erinnerungsinhalte reflektierte, die Auffassung, dass die naturwissenschaftliche Gehirnforschung die Historik unnötig vertechnisiere. Er plädierte stattdessen für eine Geschichte als Gedächtnisgeschichte, die historische Ereignisse als grundsätzlich vieldimensional erkenne, ihre emotionale Färbung akzeptiere und den Einfluss 144 Steiner 1991, S. 11. 145 Das Buch erschien erstmals 1971, entstand mithin in einer Zeit, in der die neurowissenschaftliche Erinnerungsforschung noch in ihren Anfängen war. 146 Gehalten am 12. Juli 2007 auf dem Kongress der Internationalen Gesellschaft für Musikwissenschaft, Zürich, gedruckt: Oexle 2008.
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der Erinnerung auf das Ereignis selbst reflektiere. Die neurobiologische Erinnerungsforschung dagegen simplifiziere diesen Prozess und führe zu einer unnötigen Szientifizierung. Diese Kritik richtet sich gegen Versuche wie den Johannes Frieds, eng an die Ergebnisse der neurobiologischen Erinnerungsforschung anzuknüpfen und aus deren neuesten Erkenntnissen eine grundlegende Revision historiographischer Methodik zu formen.147 Fried konstatiert zunächst – wie auch Oexle – »eine erschreckende Unzuverlässigkeit und Fehlerhaftigkeit aller Erinnerungen. Selbst die gelehrtesten Zeugen erinnern sich falsch.«148 Doch anders als dieser formuliert Fried daraus »ein fundamentales quellen- und erkenntniskritisches Problem, das überall dort zum Tragen kommt, wo Erinnerungszeugnisse unser Wissen dominieren.«149 Und anders als Droysen erkennt Fried diese Unzuverlässigkeit unabhängig von Geschlecht und professioneller Disposition bei allen Erinnerungen.150 Doch während das Phänomen »Psychologen […] längst vertraut« sei, scheuten sich Historiker, aus dieser Grunddisposition von Erinnerungen »Konsequenzen zu ziehen«.151 Fried leitet aus diesen »neurokulturellen« Beobachtungen weitreichende Konsequenzen ab: »Historische Forschung muß, soweit sie auf erzählende Quellen angewiesen ist, vordringlich Gedächtniskritik betreiben. Das neue Fundament, auf dem künftiges Forschen aufruhen muß, heißt erinnerungskritische Skepsis und verlangt eine ›Memorik‹, die ihr gerecht wird: Alles, was sich bloß der Erinnerung verdankt, hat prinzipell als falsch zu gelten. […] Wer das nicht oder zu wenig beachtet, täuscht sich selbst und andere.«152 Das Bemühen der Historiographen dürfe sich, so führt Fried aus, nicht darauf richten, Erinnerungsaufzeichnungen zu verarbeiten, sondern müsse primär eine Kritik der Erinnerungsaufzeichnungen leisten. Er schlägt daher eine »Typologie der Gedächtnismodulation« vor, die sich nicht zuletzt damit auseinanderzusetzen habe, »Verformungsfaktoren« des Gedächtnisses zu entschlüsseln.153 Fried stellt schließlich »erste methodische Postulate« einer historischen Memorik
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Fried 2004. Ebda., S. 46. Ebda. Fried bezieht sich dabei auf die im vorangegangenen Kapitel geschilderten Forschungsergebnisse. In seiner Bibliographie weist Fried diese Forschungsliteratur getrennt von der historischen aus (vgl. ebda., S. 490–500), so dass sich hier ein weiterer umfangreicher Überblick über die Standardliteratur zum Thema der neurowissenschaftlichen Erinnerungsforschung findet. 151 Ebda., S. 46. 152 Ebda., S. 48, Hervorhebung im Original. 153 Ebda., S. 364.
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auf,154 etwa »den Sachverhalt des irrenden, unwillkürlich Fehler produzierenden Gedächtnisses in seiner Relevanz für die Geschichtswissenschaft anzuerkennen, dessen erstaunlich hohe Fehlerquote hinzunehmen und in ihrer Bedeutung für das Zustandekommen der historischen Quellen […] zu erfassen« und die »systematische Suche nach Spuren nie ausbleibender Gedächtnisverformung« voranzutreiben. In letzter Konsequenz bleibt Frieds Forderung, alle Erinnerungsinhalte zunächst und primär als »falsch« zu betrachten. Damit ist nicht nur die grundlegende Unterscheidung von »subjektiven« (latent falschen) und »pragmatischen« (professionell-wahren) Erinnerungen im Sinne Droysens aufgehoben, sondern auch eine wesentliche Grundlage historiographischen Arbeitens ins Wanken geraten: dass eine zuverlässige Vergewisserung über Vergangenheit überhaupt möglich sei. Führt eine an die Neuro- und Kognitionswissenschaften anknüpfende Historik damit unweigerlich zu ihrer eigenen Auflösung? Die Kritik, die Michael Hagner an Frieds These formuliert, spricht diesen Punkt mit einem bedenkenswerten Hinweis an: Es ist durchaus erfreulich, dass Fried einem üblichen Verhalten nicht folgt, nämlich dem, sich als Kulturwissenschaftler die Neuro- und Kognitionswissenschaften aus prinzipiellen Gründen vom Leibe zu halten. Fraglich ist indes, ob man dann den aktuellen Forschungen dieser Wissenschaften mehr vertrauen sollte, als es diese selbst tun. […] Vor 25 Jahren sind ernst zu nehmende Neurophysiologen noch eher von einer gewissen Stabilität des Gedächtnisses ausgegangen, heute wird der konstruktive Charakter des Gedächtnisses hervorgehoben, und es ist nicht auszuschließen, dass in weiteren 25 Jahren wieder eher die stabilen Aspekte in den Forschungsfokus rücken.155
Neben diesem Einwand scheint ein zweiter Punkt wichtig zu sein: Fried hebt mit seiner memoriksensibilisierten Kritik nicht die Historik insgesamt auf, sondern jene Bewertungskriterien, die bei Droysen im Zusammenhang mit der Quellenkategorisierung deutlich wurde: Erinnerungsinhalte werden nicht mehr in Ansehung ihrer Urheber in relevant und irrelevant unterschieden, sondern generell einer Kritik unterzogen, die von der grundsätzlichen Deformationsanfälligkeit von Erinnerung ausgeht. Denkt man an diesem Punkt weiter, an Fried anknüpfend, seiner letzten Konsequenz aber nicht folgend, gelangt man zu einer anderen Lösung aus dem Dilemma der Erinnerungsunzuverlässigkeit: Im Umgang mit Erinnerungen scheint mir nicht die Annahme, dass alle Erinnerungen als per se »falsch« zu gelten haben, zu einem sinnvollen Umgang mit Quellen zu führen, sondern eine Loslösung von den diametralen 154 Vgl. ebda., S. 372ff. 155 Hagner 2004.
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Begrifflichkeiten »wahr« – »falsch«. Ohne dieses Schema historiographisch zu arbeiten, heißt dabei nicht, Vagheit und Beliebigkeit Tür und Tor zu öffnen, »denn gerade weil die Erinnerung eine ›verdächtige Quelle‹ ist, braucht sie die ›harte‹ Wissenschaft zur Korrektur; und gerade weil sie ›weich‹ und sensorisch sensibel ist, braucht das wissenschaftlich historische Denken als Inzitamente die vor- und außerwissenschaftlichen Formen des Erinnerns«.156 Oder, wie Aleida Assmann betont: »Es kann nicht darum gehen, einen subjektiven Relativismus der Wirklichkeit gegen die Norm einer objektiv gültigen und allgemein verbindlichen Wahrheit stark zu machen.«157 Es gilt vielmehr, neue Perspektiven für die Geschichtsschreibung zu entwickeln. Hartmut Bergenthum schlägt dabei – gestützt unter anderem auf Überlegungen von Jacques Le Goff – ein dynamisches und »komplex-plurale[s] Konzept der Erinnerungskulturen« vor, das der »Heterogenität in und zwischen den Kulturen«, sowie der »Mehrschichtigkeit der Prozesse kultureller Vermischung«158 Rechnung trägt. Mithin steht dieses Konzept für die Auffächerung der Ambiguität von Erinnerung, eine historiographische Position, die gerade auch für die Repräsentation der Vielfalt musikkulturellen Handelns außerordentlich geeignet scheint. Auch Welzers Begriff von der »Realitätshaltigkeit« scheint geeignet, die Historiographie von der Vorstellung zu lösen, singuläre historische »Wahrheit« zu formen. Der Begriff einer realitätshaltigen Historik kann dabei produktiv mit mehreren geschichtsmethodischen Thesen in Dialog treten. Die neurowissenschaftliche Erinnerungsforschung vermag hier als Anstoß zu wirken und bietet Anknüpfungspunkte zu interdisziplinärem Dialog. Sie lässt uns unter dem Blickwinkel der Gehirnforschung erkennen, dass mit den Etiketten »wahr« und »falsch« keine Erinnerung – und damit kein historisches Wissen – adäquat fassbar gemacht werden kann. In ihr wird grundsätzlich erkennbar, dass Erinnerung eine Ambiguität in sich trägt, die nicht zuletzt als zentrale Herausforderung der modernen Historiographie gelten muss. Denn hinter einer deformierten Erinnerung »scheint […] auch eine Wahrheit über die Funktionsweise von Erinnerung verborgen, die man nicht entdecken kann, wenn man das Problem in der Dichotomie ›wahr oder unwahr‹ konstruiert«.159 Aleida Assmann spricht hier von der »›Wahrheit‹ falscher Erinnerungen«.
156 157 158 159
Oesterle 2005a, S. 13. Assmann 2006a, S. 273. Bergenthum 2005, S. 155. Assmann 2006a, S. 273.
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Medien der Erinnerungskultur(en) Medien der Erinnerungskultur haben sich zu einem zentralen Ansatz der kulturwissenschaftlichen Gedächtnis- und Erinnerungsforschung entwickelt: Aleida Assmann überschreibt den zweiten Teil ihrer Studie Erinnerungsräume mit »Medien« (wozu sie neben Schrift und Bild auch Körper und Orte zählt)160 und im interdisziplinären Handbuch Gedächtnis und Erinnerung bilden die »Medien des Erinnerns« eines der vier Hauptkapitel: Medien sind Vermittlungssysteme zwischen Innen- und Außenwelt, zwischen der individuellen und kollektiven Dimension von Gedächtnis und Erinnerung. Sie sind ihre Schnittstelle. Ohne Medien kann das Individuum nicht teilhaben an kulturell-gesellschaftlichen Erfahrungen und Wissensordnungen, wie umgekehrt persönliche Erfahrungen und Ereignisse nur durch ihre mediale Repräsentation in die gesellschaftlichen Ordnungen eingespeist und für die entsprechende Gemeinschaft Bedeutung erlangen können. Allein auf Grundlage bestimmter Medien – seien es Riten und Rituale, mythische Erzählungen, Schriften oder Gesetzestexte – können sich Stämme, Gruppen, Gemeinschaften und Nationen ihrer Selbst vergewissern.161
Wenn damit die Bedeutung der Medien allgemein für Erinnerungskulturen knapp umrissen ist, ist doch zu betonen, dass wiederum jedes Medium eine deutliche Spezifik aufweist: »Die Schrift, die der Sprache folgt, speichert anders und anderes als die Bilder, die sprachunabhängige Eindrücke und Erfahrungen festhalten.«162 In jedem Fall wäre hier auch die Musik anzuführen, die wiederum andere Eindrücke und Erfahrungen festzuhalten in der Lage ist und sich – man denke allein an das »Ohrwurm«-Phänomen – als höchst interessantes Erinnerungs-Phänomen offenbart. Dabei verstehe ich nicht die Musik als ein Medium der Erinnerung, denn Musik an sich ist ja zunächst und vor allem ein Ereignis, das sich in vielerlei medialer Konkretion vorstellen, machen, hören und erleben lässt. Vor allem muss Musik, wenn sie in den Prozess des Erinnerns aufgenommen werden soll – ich gehe hier von Assmanns Konzept des Gedächtnisses als »vis« aus –, in ein erinnerbares Medium überführt werden. Anders gelangt sie nicht in das kulturelle Gedächtnis. Das aber heißt: Musik bedarf einer Konkretion in ein erinnerbares Medium. Dieses Medium ist eine Codierung, etwa eine Notation, ein Tonträger, eine Beschreibung der Musik in Sprache o. a. Ohne eine solche Codierung – man denke hier vor allem an oral tradierte Musik – ist Musik nicht erinnerbar. Daher ist jede oral tradierte Musik grundsätzlich und besonders stark vom Vergessen 160 Ebda., S. 149–342. 161 Gudehus/Eichenberg/Welzer (Hg.) 2010, S. 127. 162 Assmann 2006a, S. 20.
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bedroht, denn wenn sie im Moment des Erklingens nicht – in welcher Form auch immer – fixiert wird, ist sie in diesem Moment dem Vergessen anheimgegeben. Dass Vergessen grundsätzlich wahrscheinlicher ist als Erinnern, hat damit für die Musik eine besonders hohe Relevanz. Vice versa aber ist diejenige Musik, die erinnerbar (weil auf einem Erinnerungsmedium codiert) wird, zu einem sehr frühen Zeitpunkt als erinnerungswürdig konzipiert. Außer Frage steht dabei, dass diejenigen Überlegungen, die dazu führen, Musik als erinnerungswürdig zu betrachten, grundsätzlich veränderlich sind. Vor allem aber kann das Nachdenken über eben diese Konzepte grundlegende Fragen an Musikkultur beantworten helfen: Wie und warum entsteht das Bedürfnis nach nicht-aktueller Musik (Historizität)? Wer sind die Akteure, die musikalische Erinnerung ermöglichen (musikkulturelles Handeln)? Was wird überliefert (Kanonisierung)? Welche Institutionen sind damit befasst (Universität, Archiv)? Und welche Konsequenzen zeitigt eine Erinnerungsmöglichkeit für die Musikkultur (Ästhetik, Wissenschaft)? Astrid Erll hat für den Umgang mit Medien der Erinnerungskultur ein Modell entworfen, dessen Grundlage ein kultursemiotischer Begriff vom kollektiven Gedächtnis ist, den sie versteht als »Gesamtheit all jener Vorgänge (organisch, medial und institutionell), denen Bedeutung bei der wechselseitigen Beeinflussung von Vergangenem und Gegenwärtigem in soziokulturellen Kontexten zukommt«.163 Dieses Modell definiert drei Bereiche, wobei diese gegenseitig beeinflussbar und von dynamischer Interaktion gekennzeichnet sind: Die materiale Dimension wird in der Medialisierung des erinnerten Ereignisses manifest, in kulturellen Artefakten (z. B. Denkmälern), Erinnerungsstücken (Fotografien, Dokumenten), medialen Berichten oder auch in Geschichtsschreibung. Zur sozialen Dimension gehören Institutionen und Praktiken (Archive, Universitäten, Gedenkrituale), die »an der Produktion, Speicherung und dem Abruf des für das Kollektiv relevanten Wissens beteiligt sind«.164 Die dritte, mentale Dimension schließlich umfasst erinnerungskulturelle Schemata und Codes, »die gemeinsames Erinnern durch symbolische Vermittlung ermöglichen und prägen sowie alle Auswirkungen der Erinnerungstätigkeit auf die in einer Gemeinschaft vorherrschenden mentalen Dispositionen – etwa auf Vorstellungen und Ideen, Denkmuster und Empfindungsweisen, Selbst- und Fremdbilder oder Werte und Normen«.165 Auch wenn diese Systematisierung dazu verleiten mag, von einer homogenen Konfiguration eines kulturellen Gedächtnisses auszugehen, betont Erll, dass dieses stets als ein 163 Erll 2005a, S. 101. 164 Ebda., S. 102. Vgl. dazu auch Erll 2005b. 165 Erll 2005a, S. 102. Vgl. zur Übertragung dieser drei Dimensionen in die Musikkultur auch Unseld 2011c.
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prinzipiell offene[s] und stets in Veränderung begriffene[s] Gewebe sozialer, materialer und mentaler Phänomene«166 verstanden werden soll, ebenso wie sie für den Plural von Erinnerungskulturen plädiert, wodurch erkennbar wird, dass es nicht um eine einzelne/einzige Konfiguration gehen kann, sondern um ein beständig sich wandelndes und in der Rückschau niemals vollständig zu rekonstruierendes, gleichwohl immer individuell zu aktualisierendes Gewebe. Diese drei Dimensionen lassen sich unumwunden auf musikspezifische Erinnerungskulturen anwenden – was an dieser Stelle freilich unterbleiben muss, um auf die Frage zurückzukommen, wo und wie sich an dieser Stelle die Biographik als Medium der Erinnerungskultur situiert. Zunächst gehört sie der konkret materialen Dimension an: Biographien materialisieren sich als Texte – hierbei ein breites Spektrum schriftlicher Medien umgreifend –, aber auch als Opern, Bühnenstücke oder Hörspiele, als Filme, Comics etc.167 Sie aber allein aus dieser Dimension zu begreifen, hieße, wesentliche Voraussetzungen auszublenden: Warum werden Biographien geschrieben? Auf welcher (Quellen) Grundlage? Wie werden sie verfasst, über wen und wer verfasst sie? Mit diesen Fragen aber bewegt man sich in der sozialen und mentalen Dimension von Erinnerungskultur: Es bedarf des gesellschaftlichen Konsenses, dass und wessen individuelles Leben erinnerungswürdig ist, dabei werden kulturelle Stereotypen aufgerufen und modifiziert, Wertehierarchien ent- und verworfen, Geschichtsbilder geformt. So ist etwa die Zeit um 1800, die Aleida Assmann als Veränderung im Gedächtniskonzept von »ars« zu »vis« beschreibt, erkennbares Zeichen einer Veränderung in der mentalen Dimension, die sich markant auch in der Biographik niederschlägt.168 Dieser »Boom« der Biographik verweist zugleich auf eine besondere Gemengelage, die nicht zuletzt auch eine generelle Erinnerungswürdigkeit der biographierten Personen voraussetzt. Diese »Einschätzung von Größe« freilich stellt sich als eine hochgradig variable Kategorie dar. Dass nun auch Musiker und Musikerinnen, die lange nicht in dieser Kategorie verortet waren, nunmehr Aufnahme fanden, deutet auf grundlegende Veränderungen der mentalen Dimension der Erinnerungskultur hin. Darauf wird noch einmal zurückzukommen sein. Umfasst das bislang Gesagte die von Erll beschriebene mentale Dimension von Erinnerungskultur, lohnt nun auch der Blick auf die soziale Dimension von Biographik als Erinnerungskultur: Wer in der Lage ist, Biographien zu 166 Erll 2005a, S. 102. 167 Vgl. hierzu das Kapitel »Formen und Erzählweisen« in Klein (Hg.) 2009, S. 103–198. 168 »[…] mit dem Prestigeverfall der antiken Mnemotechnik, der Philosophie Lockes, der Entstehung des bürgerlichen Subjekts und schließlich der ›romantischen Konzeption von Identität-durch-Erinnerung‹ verortet sie [d. i. Assmann] die Ablösung der bis dahin dominanten Konzeption von Gedächtnis als ars durch ein Verständnis von Gedächtnis als vis.« Erll 2005a, S. 31.
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schreiben, braucht nicht nur biographische Quellen, sondern auch Wissen über die erinnerungskulturellen Codes des Biographie-Schreibens (Anekdotik, Geschichtsschreibung, Wissen über kulturelle Stereotype etc.). Institutionen (Universität, Archiv, Fachgesellschaften, Zirkel, Verlage etc.) wie soziale Praktiken (z. B. Gedenkrituale, Jahrestage, Konzert- und Verlagspraktiken) stehen dabei für die soziale Dimension der Erinnerungskultur. Würde man sowohl die mentale als auch die soziale Dimension der Erinnerungskultur mit Blick auf die Biographik ausblenden, eine Musikerbiographie etwa allein auf materialer Ebene betrachten, blieben wesentliche Punkte unterbelichtet: So sind etwa die Prägekraft biographischer Modelle in der rein materialen Dimension nicht erkennbar, ebenso wenig die Prozesse der Identitätsvergewisserung qua Musik, die sowohl im musikhistorischen wie musikbiographischen Schreiben ihren Ausdruck fand und findet. Für diese Studie steht daher außer Frage, dass die drei eben skizzierten Dimensionen untrennbar miteinander verbunden sind, und dass – auch wenn sie aufgrund ihres stets in Veränderung begriffenen Gewebes nie vollständig beobachtbar sind – eine Isolierung einer der Dimensionen nicht sinnvoll erscheint.169
Musikbiographisches Denken und Handeln als Erinnerungskultur Die verschiedenen, eben angesprochenen Stränge sind nun auf die Musikkultur allgemein und das musikbiographische Denken und Handeln im Speziellen zusammenzuführen. Zunächst ist zu konstatieren, dass die Diskussionen um Gedächtnis und Erinnerung die Musikgeschichtsschreibung und die musikalische Biographik in einem wesentlichen Kern betreffen: Beide fußen auf Erinnerungen und ihrer Verschriftlichung – seien es Briefe, Tagebücher oder andere Ego-Dokumente, seien es Rezensionen, Reiseberichte oder andere Quellen –, und welche Volten Erinnerungsmodulationen zeitigen können, können nicht zuletzt auch zahlreiche Beispiele aus der Musikgeschichtsschreibung und Musikerbiographik belegen. Die Musikwissenschaft hat bislang kaum Anteil an diesen Überlegungen, obwohl sie sich durchaus als Teil der von Assmann angesprochenen Kulturwissenschaften verstehen lässt, obwohl sie – als historische Wissenschaft – an den Diskursen der Historiographie teilhat, vor allem aber auch obwohl musikspezifische Fragen an die Erinnerungsforschung Grund zum Nachdenken böten. 169 Was die vorliegende Studie betrifft, so werden sicherlich mit den Detailanalysen zu Einzelphänomenen von Biographie und Musikgeschichte die Schwerpunkte wechseln, wobei einmal stärker die soziale, mentale oder auch materiale Dimension fokussiert werden wird. Dies schließt freilich nicht aus, dass das Zusammenspiel der drei Dimensionen von Erinnerungskultur immer mitgedacht wird.
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Aus dem weiten Feld, das hier brach liegt, sei ein Beispiel aufgerufen,170 das auf der Grenze zwischen Musikgeschichtsschreibung und Musiker(auto)biographik steht, um daran weitere Überlegungen anzuschließen. Igor Strawinsky erinnerte sich mit 53 Jahren an die Inspiration, die gut 20 Jahre zuvor zur Arbeit an Le Sacre du Printemps geführt hatte: Als ich in St. Petersburg die letzten Seiten des »Feuervogel« niederschrieb, überkam mich eines Tages – völlig unerwartet, denn ich war mit ganz anderen Dingen beschäftigt – die Vision einer großen heidnischen Feier: alte weise Männer sitzen im Kreis und schauen dem Todestanz eines jungen Mädchens zu, das geopfert werden soll, um den Gott des Frühlings günstig zu stimmen. Das war das Thema von ›Sacre du Printemps‹. Diese Vision bewegte mich sehr …171
Als Strawinsky diese Erinnerungen im Jahr 1935 veröffentlichte,172 lagen die skandalträchtigen Ereignisse um die Uraufführung des Sacre, die den jungen russischen Komponisten in Paris und damit in der westlichen Welt berühmt machten, bereits 22 Jahre zurück. Dennoch erscheint die Erzählung von der Traumvision unmittelbar authentisch, fügt sie sich doch stimmig in das musikhistorische Gesamtbild ein: Das Skandal-Stück, bei dessen buchstäblich ohrenbetäubender Uraufführung 1913 in Paris Ohrfeigen ausgeteilt wurden und das im Jahr vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges den Höhe- und gleichzeitig Endpunkt einer ästhetischen Entwicklung markieren sollte, hatte mit dieser Traum-Erinnerung eine adäquate Entstehungsgeschichte: radikal, autonom und visionär. 1979 allerdings fiel das Augenmerk der Sacre-Forschung auf den Lyrikband Jar (Keimzeit, 1907) von Sergej Gorodetzki, in dem sich das Gedicht »Jarila« befindet.173 Jarila, der Gott des Frühlings, verlangt auch hier in grausamem Ritual zwei Jungfrauen als Opfer (bei Strawinsky wird es nur eine »Auserwählte« sein), auch hier wählte der Dichter eine archaische Sprache und Stilisierung. Dass Strawinsky den Gedichtband kannte, ist nachweisbar, hatte er doch bereits 1907/08 zwei Texte aus ebendiesem Band vertont (Deux mélodies op. 6). Somit waren Indizien gewonnen, dass die Idee des Sacre keineswegs autonom und visionär zustande kam, wie Strawinsky dies erinnernd erzählte, sondern offenbar durch das Gedicht inspiriert worden war. Ist Strawinsky damit der Falschaussage überführt? Oder erinnerte er sich falsch? Die Erinnerungsforschung optiert dafür, hier nicht mit den Katego170 Erstmals habe ich dieses Beispiel im Zusammenhang mit memoriksensibler Musikwissenschaft 2006 diskutiert (vgl. Unseld 2006a). 171 Strawinsky 1983, S. 49. 172 Der erste Teil der Chroniques de ma vie erschien 1935, der zweite Teil 1936. 173 Morton 1979. Das Gedicht ist in deutscher Übersetzung abgedruckt und kommentiert in Scherliess 1982.
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rien »wahr«/»falsch« zu arbeiten, sondern die Gedächtnismodellierungen in den Blick zu nehmen. Dazu aber gehört, dass sich Strawinsky innerhalb einer (auto)biographischen Tradition von Komponisten(selbst)bildern bewegt, die tradierte Modelle für die Darstellung eines genialen Künstlers bereithält – etwa das Normsprengende und voraussetzungslos Schöpferische des Genies –, die in anekdotischer Darstellung aufrufbar sind. Die von Strawinsky erinnernd festgehaltene Traum-Situation entspricht geradezu prototypisch der biographisch seit jeher ebenso heiklen wie faszinierenden Situation der Inspiration des schöpferischen Genies. Zu denken wäre in diesem Zusammenhang etwa an die entsprechende Pommeranzen-Szene in Mörikes Novelle Mozart auf der Reise nach Prag (1856): Mozart befindet sich im Garten eines böhmischen Grafen, wo er auf der Reise zur Uraufführung seiner noch nicht ganz vollendeten Oper Don Giovanni Rast macht. In »träumerischer« Verfassung pflückt Mozart an diesem locus amoenus eine Pommeranze vom Baum, teilt sie – und »erwisch[t]« dabei »ein Motiv, wie ich es glücklicher und besser zu keiner andern Zeit, auf keinem andern Weg erfunden haben würde«.174 Strawinskys Erinnerung folgt diesem Modell – für das sich noch weitere Beispiele aus der Komponistenbiographik vor allem des 19. Jahrhunderts finden ließen –, in dem der genialische Komponist traumartig-visionär, gerade mit anderem beschäftigt, gleichsam aus dem Nichts heraus die Inspiration zu einem Meisterwerk erhält. Strawinsky vertauscht auf diese Weise »die empirische« mit der »ästhetische[n] Person des Künstlers, der Künstler nicht als Alltagsmensch, sondern als Schöpfer des Kunstwerks«.175 Seine Sacre-Vision modelliert an einem autobiographischen Selbstkonzept, das als Grundlage zur biographischen Gestaltung des Komponisten im Sinne eines Genies des 19. Jahrhunderts dienen kann. Die »Frage nach dem Wahrheitsgehalt der Aussage« ist dabei, so Ernst Kris und Otto Kurz in ihrer Analyse derartiger biographischer Anekdoten, »unerheblich, allein bedeutsam vielmehr der Umstand, daß eine Anekdote öfters, daß sie so oft berichtet wird, daß wir aus ihr auf eine typische Vorstellung vom Künstler schließen dürfen«.176 Im Verbund von Musikgeschichtsschreibung, Biographik und Erinnerungsforschung lässt sich der Sacre-Fall daher anders beantworten als mit »wahr« und »falsch«. Strawinskys Erinnerung ist insofern stimmig, als sie die Initiation des künstlerischen Selbst an einer prototypischen (anekdotischen) Traumvision festmachen kann, die zur Schöpfung eines Schlüsselwerkes für Strawinskys Karriere führt. Der Schöpfungsmythos, der auf diese Weise auf Sacre fällt, führt die Person des Kunstschaffenden mit dem Inhalt und der Wirkung des 174 Mörike 1967, S. 593. 175 Kris/Kurz 1995, S. 20. 176 Ebda., S. 33.
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Werkes in ein stimmiges musikhistorisches Bild zusammen. Die Konsequenz, wie mit diesem Fall biographisch und musikhistorisch umzugehen sei, kann daher nur darin bestehen, diese drei Ebenen von autobiographisch Erinnertem, biographisch-anekdotisch und musikhistorisch Modelliertem erkennbar hervortreten zu lassen.177 Der Sacre-Fall wirft darüber hinaus Fragen auf, die weit über Strawinsky und seine Sacre-Vision hinausgehen und von großer Tragweite sein dürften: Sind individuelle Erinnerungsleistungen – Memoiren, Autobiographien, aber auch Briefe, Tagebuchaufzeichnungen und andere Quellen –, wie Johannes Fried argumentiert, per se unzuverlässig? Dürfen sie überhaupt historiographische Relevanz beanspruchen, wenn man davon ausgeht, dass sich Momente des Idealisierens und Stilisierens, Verschweigens und Retouchierens nicht umgehen lassen? Sind nicht alle vielmehr grundsätzlich »verdächtige Quellen«?178 An diesem Punkt eine memoriksensibilisierte Methodik zu diskutieren, soll – und dies sei nochmals betont – nicht dazu führen, Strawinsky der Falschaussage zu überführen und Musikgeschichte nach einem who-doneit-Schema zu konstruieren. Sondern es geht darum, auf die »Wahrheit« der falschen Erinnerung (im Sinne Assmanns) hinzuweisen und memoriksensibel auf Divergenzen zu reagieren: Warum verschweigt Strawinsky (bewusst oder unbewusst) die Quelle seiner Sacre-Inspiration? Welche Inszenierung eines Inspirationsmoments wird vorgenommen und welcher Anspruch auf musikhistorische Relevanz wird damit in Gang gesetzt? Vor allem aber steht hier im Zentrum die Frage, welche Einflüsse biographische Bilder auf die Konstruktion von Erinnerung haben und welche Rückschlüsse für die Biographik aus einer memoriksensiblen Geschichtswissenschaft zu ziehen sind. Es sind Interpretationen, zu denen wir gelangen, wenn Erinnerungen mit Hilfe eines memoriksensiblen Blicks betrachtet werden. Dabei geht es nicht um Demontage, sondern um das Aufzeigen von Ambiguität und von Inszenierungs- und Deutungsmechanismen. Aufgebrochen aber werden – neben dem uneingeschränkten Objektivitätsanspruch an Quellen – vor allem Glaubwürdigkeits-Hierarchien, wie sie etwa Droysen formuliert hatte. Angeboten hingegen wird – um an die Gedanken von Andreas Reckwitz anzuknüpfen – die Sichtbarmachung jener Wissenscodes, die Objektivität suggerieren und dabei ihr Gemachtsein couvrieren.179
177 Wenn Kunze davon spricht, dass die Mozart-Briefe »sich dem historiographischen Zugriff [entziehen]« und nicht als »historische Dokumente« zu lesen seien, sondern als »Werke«, zielt dies auf Ähnliches. Vgl. Kunze 1988. 178 Levi 1993, S. 32. 179 Reckwitz 2008b, insb. S. 15–46.
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Exemplifiziert sei der Unterschied an den Memoiren von Alma Mahler.180 Anders als Strawinsky, dessen Inspirations-Anekdote keinen Einfluss auf seine generelle Glaubwürdigkeit genommen hat, gilt Alma Mahler als chronisch unzuverlässige Autobiographin, ihre Erinnerungen damit als von musikhistorisch minderem Wert. Dabei ist die Ausgangslage durchaus vergleichbar: Beide Personen geben im identischen autobiographischen Setting Erinnerungen zu Protokoll, die durch eine andere Person aufgeschrieben werden; beiden Personen können dabei Erinnerungsirritationen nachgewiesen werden. Dass es aber Alma Mahler ist, die als musikhistorisch unzuverlässige Quelle gilt, hat offenbar mit ihrer (musik-)historiographischen Rolle als Muse zu tun, die – angesiedelt im Mythischen – keinen Anspruch auf (wissenschaftlich-historische) Verlässlichkeit stellen kann. Letztlich geht die angeblich evidente historiographische Unzuverlässigkeit Alma Mahlers auf ihr Geschlecht zurück, für das bereits Droysen eine eigene Kategorie historiographischer Verlässlichkeit entwickelt hatte: Briefe von Frauen bezeichnete er als »subjektive Quellen«, die »sich in privaten Ergüssen und Betrachtungen gefallen«, während die »Privatbriefe der […] Gesandten sehr bemerkenswert« und für die Geschichtsschreibung von hohem Wert seien.181 Hier wird der Anschein erweckt, als seien Ego-Dokumente von Frauen auf der nach unten offen zu denkenden Subjektivitätsskala qua Geschlecht niedriger zu veranschlagen, und damit weiter vom Objektivitätsstatus der Geschichtsschreibung entfernt. Die Feststellung Hans Rudolf Picards aber, dass eine Autobiographie »keine Dokumentation, sondern erinnernde Neuschöpfung«182 sei, gilt – entgegen Droysens Kategorisierung von Quellen – unabhängig vom Geschlecht. Nimmt man freilich in beiden Fällen Erinnerungsmodulationen an, vor allem auch solche, die die biographischen Modelle als relevante Interpretationsfolie in Betracht ziehen – bei Strawinsky das Genie-Modell, bei Mahler das Muse-Modell –, ist erkennbar, dass die Erinnerungen in beiden Fällen sich an die jeweiligen biographischen Modelle anlehnen. Nach allem, was über Erinnerung gesagt wurde, scheint es angebracht, ein memoriksensibilisiertes Modell zur Diskussion zu stellen, das die Debatten in den der Musikwissenschaft näher und ferner stehenden Disziplinen berücksichtigt: Grundannahme dafür ist, dass für Quellen wie für Historio180 Über Schwierigkeiten im Zusammenhang mit (auto)biographischer Darstellung von bzw. über Alma Mahler habe ich im interdisziplinären Kontext von Künstlerbiographien im 20. Jahrhundert reflektiert (vgl. Unseld 2011a). 181 Droysen 1943, S. 72f. Vgl. dazu auch die Tatsache, dass Leopold Mozart seine Briefe und die des Sohnes für geschichtsrelevant hielt und entsprechend aufbewahrte, während diejenigen seiner Frau und seiner Tochter als reine Privatkorrespondenz galten und zum Großteil vernichtet wurden. Dazu vgl. Unseld 2006c, Assmann 2006b. 182 Picard 1978, S. 67.
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graphie individuelle Erinnerungsleistungen und ihre kommunikative Vermittlung (zumeist in Textform) notwendig sind. Damit unterliegen Quellen wie Geschichtsschreibung selbst der von Welzer sogenannten »konstruktive[n] Funktionsweise«. Dies aber hat zur Folge, dass die Akteure des Erinnerns dazu tendieren, Lücken durch ergänzend-konfabuliertes Material zu schließen. Dem Prozess des Erinnerns selbst nicht unähnlich, erstellen, lesen und verstehen wir auch schriftliche Formen des Erinnerten tendenziell nicht dissoziativ, sondern kohärent. Denn trotz der unbestreitbaren Dissoziationstendenzen und konstruktiven Anlagen von Erinnerungsleistungen sind es kohärente Bilder, die wir erinnern: Das Gedächtnis »liefert uns ein zusammenhängendes Bild der Vergangenheit, das unsere aktuelle Erfahrung in ein Verhältnis rückt. Das Bild mag nicht vernünftig oder exakt sein, aber es überdauert. Ohne die bindende Kraft des Gedächtnisses würde die Erfahrung in ebenso viele Bruchstücke zersplittern, wie es Momente im Leben gibt.«183 Zudem kommt zum Tragen, dass Erinnerung auf Kommunikation basiert, die ihrerseits nie frei von Präexistentem ist, wie bereits Maurice Halbwachs betonte: »Das Tätigsein des individuellen Gedächtnisses ist nicht möglich ohne jene Instrumente, die durch die Worte und Vorstellungen gebildet werden, die das Individuum nicht erfunden und die es seinem Milieu entliehen hat.«184 Damit freilich rücken die Akteure nochmals deutlicher in den Blick: die Akteure, die Musikkultur, Musikgeschichte und Musikwissenschaft gestalten, KomponistInnen und InterpretInnen in ihren künstlerischen Selbstkonzepten, MusikwissenschafterInnen in ihren jeweiligen disziplinären Verortungen, BiographInnen mit ihren jeweiligen biographischen Modellen … Auf der Agenda steht damit nicht die Biographisierung aller Akteure, aber doch der Anspruch, die Individuen und ihre jeweilige Verortung soweit sichtbar zu machen, dass die den Medien der Erinnerungskultur zugrundeliegenden Codes nicht als abstrakter Prozess, sondern anhand der Individuen, die diese prägen und weitertragen, erkennbar werden. Der rationalitätsverbürgenden Invisibilisierung, die Reckwitz kritisiert, steht die Sichtbarmachung der Konstruktivität musikhistorischer Bilder entgegen, womit die Sichtbarmachung der Personen verbunden ist, die diese Bilder generieren und perpetuieren. Noch einmal sei in diesem Zusammenhang die Strawinsky-Episode bemüht, um an ihrem Beispiel die Tauglichkeit der eben formulierten Gedanken zu erproben: Das Buch Chronique de ma vie, in dem die Sacre-Vision zu lesen ist, ist medialisierte Erinnerung. Diese durchläuft einen Prozess, der in jenem Moment beginnt, in dem sich Strawinsky erinnert, und seine Erinnerung verschriftlicht – wobei im Fall der Chroniques de ma vie der Anteil von Walter 183 Kandel 2006, S. 26, Hervorhebungen M. U. 184 Halbwachs 1985, S. 35.
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Nouwel, einem Freund Strawinskys und Vertreter der russischen Avantgardebewegung, ungewiss ist.185 Die Erinnerungen selbst sind realitätshaltig, sie werden aber geformt (modelliert) durch Faktoren wie die zeitliche Distanz und den Moment des Erinnerns selbst, die Kommunikationssituation, in dem der Impuls, eine Autobiographie zu verfassen und damit an eine Öffentlichkeit zu treten, an Bedeutung gewinnt, das Selbstbild Strawinskys in den 1930er Jahren, die Rezeptionsmuster der Avantgarde, deren Skandalträchtigkeit Anlass zu Auratisierung gab, die Genie-Konzeption, die insbesondere nach Momenten der Inspiration fragt, u. a. m. Dass sich Strawinsky gewissen Deformationsmechanismen von Erinnerung durchaus bewusst ist (»Wer sich mit seinen Gedanken an die Vergangenheit verliert, findet in den Jahren, die lange zurückliegen, nur selten noch klare Bilder«186), verhindert dabei keineswegs eine Modellierung, zumal diese Mechanismen nach der Phase der Reflexion über sie in Sprache überführt werden, die ihrerseits zur Kohärenz neigt und sich an ein Lesepublikum adressiert. Mit dem Buch selbst ist der memoriksensible Prozess freilich kaum abgeschlossen, vielmehr durchläuft er nun die Stadien des Lesens und Wiederlesens, dabei auf Lesende mit ihren jeweiligen Wahrnehmungsmechanismen, Geschichts- und Selbstbildern treffend, gefolgt von Stadien des Kommentierens und – im Fall der Sacre-Episode – der Entdeckung der Ungenauigkeit. Lässt man nun zu, dass die Erinnerung als eine stark modellierte erkannt wird, ist daraus mehr Erkenntnis zu erwarten, als wenn man die Erinnerung als »falsch« interpretieren und damit aus dem Pool der historischen Quellen entlassen würde. Sowohl die Erinnerung selbst als auch die Erkenntnis, dass es sich um eine deformierte Erinnerung handelt, kann in die Musikgeschichtsschreibung und in die Biographik eingehen, indem über diese Modellierung gesprochen, indem über den Wissensstand (vor und nach der Entdeckung durch Morton) Auskunft gegeben, indem über das autobiographische und das biographische Bild, das hinter der modellierten Erinnerung steht, reflektiert und indem auch das Modell der Musikgeschichtsschreibung erwogen wird, das zur Ausprägung von Genie-Bildern und einer Meisterwerkästhetik führt. Diese Faktoren sind sowohl für musikhistorische als auch für biographische Betrachtungen von Bedeutung. Sie modifizieren sowohl das musikhistorische Verständnis über Le Sacre du Printemps als auch das biographische über Strawinsky selbst. Durch Kontextualisierung von Erinnerung und das Bewusstmachen von Deformationsmöglichkeiten kann Vergangenheit wesentlich realitätshaltiger dargestellt werden, als dies durch die einfache Zitation oder Nacherzählung der Vision oder auch durch den Hinweis, dass diese 185 Vgl. Strawinsky 1983, Einleitung von Wolfgang Burde, v. a. S. 8f. 186 Ebda., S. 27.
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»falsch« erinnert sei, gelingen kann. Diese Betrachtungsweise aber fordert dazu heraus, die Einflüsse biographischer Bilder auf die Konstruktion von Erinnerung und auf die Geschichtsschreibung ernst zu nehmen. Sie fordert zusätzlich aber auch dazu heraus, die Konstruktionsleistung zu berücksichtigen, die im Rezeptionsprozess von denjenigen erbracht wird, die sich das Geschriebene aneignen. Sigrid Damm etwa nahm das Lesepublikum ihrer Christiane Goethe-Biographie dahingehend in die Pflicht: »Insofern gleicht mein Buch einem Puzzle, in dem ein Drittel der Steine bereits verloren ist […]. Dem Leser ist es überlassen, mit dem von mir angebotenen Material umzugehen.«187 Welche Aktivität Damm damit von ihrer Leserschaft einfordert, wird im kontrastierenden Vergleich mit Hildesheimer offenbar. Auch dieser appelliert an sein Lesepublikum, wenngleich auf Grundlage einer anderen Rezeptionsvorstellung: Die Leserschaft habe in einem Akt der Identifikation gänzlich im Ich des Autors aufzugehen. Das »Wir« will Hildesheimer als pluralis concordiae verstanden wissen, als »gemeinsamen Standpunkt des Autors und des sich mit ihm in seinen Thesen, Ansichten und Folgerungen identifizierenden Lesers«.188 Während Hildesheimer somit ein passives Rezeptionsverhalten einfordert und das eigene Geschichtsbild als Projektion in die Köpfe der Leserschaft zu bringen erhofft, ermöglicht Damm einen offenen Umgang mit dem von ihr präsentierten biographischen Material und ihren eigenen Deutungsangeboten. Der Begriff von einer »mündigen Leserschaft« liegt hier auf der Hand. Eine Rezeptionshaltung, wie Damm sie sich vorstellt, stellt das Subjekt ins Zentrum, das lesend (und damit in der Zeit fortschreitend) eine Darstellung von Vergangenheit(en) durchschreitet. Das historische Bild, das sich sukzessive in seinem Gedächtnis bildet, hängt maßgeblich davon ab, was es in welcher Intensität aufnimmt. Dass dabei Faktoren wie Vorkenntnis und Aufnahmebereitschaft, Alter und Geschlecht, Einfühlung und Erwartungshaltung u. v. m. beträchtliche Rollen spielen, steht außer Frage.189 Auf diese Weise entsteht ein selektives und temporäres, mit dem angebotenen Material modellierend umgehendes, mithin subjektives Bild von Vergangenheit. Das memoriksensible Modell wäre demnach um den Aspekt des Rezipienten zu erweitern, wobei klar erkennbar ist, dass die Distanz zwischen der »Vergangenheit«, wie sie historisch/biographisch geschildert wird, und der »Vergangenheit«, wie sie rezipierend wahrgenommen wird, eine besonders weite ist. Anders gesagt: Das Bild (oder die Bilder) der Vergangenheit(en), das (oder die) der Autor oder die Autorin zu vermitteln versucht, kann (können) mit 187 Damm 2001, S. 517. 188 Hildesheimer 1977, S. 9. 189 Ruth Klüger hat dies unter dem Gesichtspunkt des Geschlechts ausführlich thematisiert (vgl. Klüger 1996).
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denjenigen, die sich der Leser oder die Leserin machen, nie identisch sein: »Jeder Leser liest jeden Text nämlich wiederum vor dem Hintergrund seiner eigenen Lebensgeschichte so, wie er kann und will, und nicht so, wie der Autor es möchte.«190 Auch Gernot Gruber hatte diese Spannung zwischen Vergangenheiten, Biograph und Lesepublikum produktiv umgesetzt.191 Im Grubers Umgang mit den Quellen ist eine Sensibilität für die Kommunikationsabhängigkeit und die Deformationsanfälligkeit zu spüren; über das Übepensum, die instrumentalen Fähigkeiten und das Repertoire des jungen Mozart heißt es etwa: »Zumindest aus der Lektüre der väterlichen Briefe gewinnt man den Eindruck, Wolfgang habe mit Lust, und nicht unter Zwang, musikalische Abenteuer unternommen.«192 Dass die Dokumente – selbst wenn es sich um Ego-Dokumente handelt – keine historische Wahrheit wiederzugeben vermögen, spricht Gruber mehrfach an, etwa wenn er von »der uns zugänglichen Schauseite«193 spricht oder wenn er darauf hinweist, dass der finale Konflikt mit dem Salzburger Fürsterzbischof nur aus der Sicht Mozarts überliefert ist: »Was sich in der Folge im Detail wirklich abgespielt hat, wissen wir nur aus Mozarts Berichten. Ob ihm Graf Arco zuletzt tatsächlich den berühmten und in jede Feudalismus-Kritik passenden Fußtritt versetzt hat? Zumindest ist es ›ben trovato‹ – von Mozart gut erfunden.«194 Den zweiten Schritt, seine eigene Subjektivität einzubeziehen, vollzieht Gruber nicht nur sprachlich (»ich«/»wir«), sondern auch, indem er immer wieder auf die historische Distanz zwischen dem betrachteten Zeitraum (vorwiegend die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts, aber auch Rezeptionsphänomene des 19. und 20. Jahrhunderts) und seiner heutigen Position, seinem gegenwärtigen »Sehepunckt« hinweist. Auf diese Weise kann Gruber die zur Kohärenz neigende Vergegenwärtigung der Vergangenheit aufbrechen. Ein Beispiel: Sein [Leopold Mozarts] Realitätssinn traf auf eine allgemeine weltanschauliche und gesellschaftliche Gestimmtheit der Zeit, die wir uns meist zu einfach in klaren Gegensätzen strukturiert vorstellen: Feudalismus und Klerikalismus in einem ancien régime versus Aufstieg eines nach Freiheit strebenden Bürgertums; hierarchisches Denken und christliche Dogmentreue versus einen sich gegen blanke Vorgaben
190 Kollbrunner 2003, S. 283. 191 Dass hier die Auswahl auf Grubers Mozart-Biographie von 2005 fällt, mag nicht insofern missverstanden werden, als nur hier die zur Diskussion stehenden Kriterien verwirklicht seien. Im Gegenteil: Gerade in der jüngeren Musikerbiographik sind mehrere Beispiele dafür zu nennen (darunter die Schubert-Biographie desselben Autors [Gruber 2010], außerdem Borchard 2005b, Klassen 2009, Geck 2005 u. a.). 192 Gruber 2005, S. 28, Hervorhebungen M. U. 193 Ebda., S. 53. 194 Ebda., S. 85. Vgl. dazu auch das Kapitel Mozart-Anekdotik im vorliegenden Band.
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und Systeme wendenden Geist der Kritik; Ausbeutung versus Kampf um die Menschenrechte; Wunderglaube versus Verstandeskult […].195
Indem Gruber die Gegensätze Revue passieren lässt, ruft er bekannte historiographische Erklärungsmodelle auf, die er aber klar als Hilfskonstruktionen benennt und sie als solche nicht vollständig negiert, aber doch wesentlich differenziert: »Die historische Wirklichkeit der Epoche vor der Französischen Revolution war aber sehr viel durchflochtener, ambivalenter und zeigte Paradoxien, die uns unverständlich erscheinen – zumindest solange, als wir nicht allzu Menschliches mit berücksichtigen.«196 Das Wort »unverständlich« verweist darüber hinaus auf den dritten Schritt: Gruber geht von einer Rezeptionshaltung aus, die nicht auf eine passive Applikation historischen Wissens bei der Leserschaft abzielt, sondern auf aktives Nachvollziehenkönnen. Um dies anzuregen, stellt Gruber Fragen in den gedanklichen Raum, so dass die Leserschaft zum Nachvollziehen biographierelevanter Entscheidungen aufgefordert wird. Ein Beispiel, der Zeit des ersten Besuchs der Familie Mozart am Versailler Hof entnommen: »Aber wie gelangte man ohne wirksame hochherrschaftliche Empfehlung an eine Einladung nach Hofe? Der Weg erscheint heute skurril, ist aber für die damalige gesellschaftliche Situation bezeichnend. Der bereits erwähnte Melchior Grimm dürfte der entscheidende Mittler gewesen sein. […]«197 Gruber setzt damit eine mitdenkende, durchaus auch mit guten Vorkenntnissen ausgestattete Leserschaft voraus, für die sich durch die Lektüre allerdings die Vielfalt ihrer Mozart-Bilder beträchtlich auffächern dürfte. Der Vorteil dieses Ansatzes erweist sich letztlich in der Integrationsfähigkeit in den Mozart-Diskurs: Gruber schreibt nicht mittels einer monolithischen Biographie Musikgeschichte fest, sondern arbeitet mit historischen und biographischen Bildern, die sich ebenso mühelos wie bereichernd in den bestehenden Mozart-Diskurs einflechten lassen.198
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Ebda., S. 11, Hervorhebung M. U. Ebda. Ebda., S. 18. Als Gegenposition dazu sei auf Schurig hingewiesen, der sein Constanze-Mozart-Bild vollständig substituieren musste, da durch das gewählte hermetische Modell kein Anknüpfen, Ergänzen und Erweitern möglich war.
2. Biographiewürdigkeit von Musikern und Musikerinnen
Eine Person in das kulturelle Gedächtnis aufzunehmen, bedarf mehrerer Voraussetzungen, darunter der Verständigung über ihre Biographiewürdigkeit. Denn ein Mensch ist nicht per se biographiewürdig oder -unwürdig. Vielmehr wird die Entscheidung, ob sein Leben biographisch festgehalten werden soll,199 von Menschen gefällt und ist demnach von zahlreichen Parametern abhängig und vor allem auch veränderlich. Jede Zeit und jede gesellschaftliche Gruppe definiert für sich neu, wer in den Kanon der Biographiewürdigkeit aufgenommen wird: Dabei ist die »Frage, nach welchen Kriterien eine Lebensgeschichte für eine Biographie ausgewählt wird, […] eng verbunden mit der Funktionsweise von kulturellem Gedächtnis, mit Kanonisierungsprozessen und ihren Gegenbewegungen sowie mit sozialen, politischen und wirtschaftlichen Machtkonstellationen«.200 Vice versa lassen sich qua Biographiewürdigkeit Rückschlüsse auf die kulturelle, soziale, politische und ökonomische Konstituiertheit einer Gesellschaft ziehen, so dass Überlegungen, wann und unter welchen Prämissen Musiker und Musikerinnen biographiewürdig wurden, aufschlussreiche Hinweise auf die Musikkultur, das Verhältnis von Musik und Gesellschaft und auf den Prozess der Historisierung von Musik ermöglichen.201 Denn offenkundig ist, dass das musikalische Handeln zwar eine wichtige Voraussetzung für die Biographiewürdigkeit eines Musikers oder einer Musikerin ist, keinesfalls aber eine hinreichende. So konnte noch 1790 Ernst Ludwig Gerber von einem gegenwärtig »merkwürdige[n] Zeitalter« schreiben, das zwar »die wahren und eigentlichen klassischen Meister der Kunst enthält« und das für »den Liebhaber anderer Wissenschaften und Künste« »Gelehrten- und Künstlerlexicis« bereithalte, aber eben keines, das die Akteure der gegenwärtigen Musikkultur biographisch-lexikalisch
199 Mit dieser Formulierung ist die Frage des biographischen Mediums bewusst offen gelassen, denn die Frage der Biographiewürdigkeit soll hierbei nicht ausschließlich an die Biographie im monographischen Sinn geknüpft sein, sondern bewusst auch biographische Kleinformen (wie Nachruf/Nekrolog, Lexikoneintrag, Vita u. a.) mit einbeziehen. Im Zentrum der folgenden Überlegungen steht mithin nicht die Frage der Biographiewürdigkeit im Rahmen einer engen Gattungskonstitution, sondern die der Erinnerungskultur in verschiedenen Formen biographischen Schreibens. 200 Schweiger 2009a, S. 32. 201 Ähnliches zum Berufszweig des Architekten vgl. Oechslin 2009b.
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erfasse.202 Gerade aber ein solcher Hinweis auf eine (im Vergleich mit anderen Künsten und Wissenschaften) »verspätete« Biographiewürdigkeit von Musikern und Musikerinnen lässt die Frage nach den kulturellen, sozialen, politischen und ökonomischen Bedingtheiten stellen, die beförderten, dass Musiker und Musikerinnen als biographiewürdig wahrgenommen wurden. Anders gefragt: Welche Veränderungen der Musikkultur im 18. Jahrhundert waren notwendig, um einige der in ihr tätigen Personen als biographiewürdig wahrzunehmen? Warum etwa lag noch ein wahrnehmbarer Rechtfertigungsdruck auf Mattheson, als er 1740 die Grundlage einer Ehren-Pforte publizierte? Was bewog ihn dazu, die biographische Sammlung dennoch anzulegen? Um die in der Musik konstatierte »Verspätung« genauer betrachten zu können, ist zunächst ein Blick auf die allgemeine Biographiewürdigkeit unumgänglich. Einen Menschen qua biographischen Schreibens in den Prozess der kulturellen Erinnerung aufzunehmen, heißt, ihm für ebendiesen Bedeutung zuzuweisen. Der Personenkreis der auf diese Weise Herausgehobenen steht mit der Identität und dem Selbstverständnis der Gesellschaft in engem Zusammenhang. Biographiewürdigkeit ist, wie Hannes Schweiger betont, mithin keine Eigenschaft des oder der Biographierten selbst, sondern »Ergebnis von Kanonisierungsprozessen und ihren Gegenbewegungen«.203 Diese Bedeutungszuweisung hing seit der Antike aufs engste mit politischer und/oder klerikaler Macht zusammen, was die Dominanz der (weltlichen wie klerikalen) Herrscherbiographik erklärt. Philosophen- und Evangeliumbiographien bildeten dazu ein gleichsam auf das Ideal der Lebensführung fokussiertes Pendant, auf das sich insbesondere auch die neueren Entwicklungen der Biographik in der Frühen Neuzeit beziehen konnten: Sowohl die biographischen Anteile der Leichenpredigten als auch die erbauliche Biographik des Pietismus dienten (neben der Memoria) der Anregung zur Nachahmung vorbildlicher Lebensführung. Auffallend ist hierbei, dass in diesem Kontext und in erheblichem Umfang der Radius der Biographiewürdigkeit erweitert wurde: Innerhalb der protestantischen Erneuerungsbewegung etwa dient »die biographische Exempelliteratur« der »Fokussierung auf das alltägliche Leben als Feld zur Bewährung des wahren Glaubens […]. Jeder Mann und jede Frau ist aufgerufen, sich für den Glauben einzusetzen und davon Zeugnis abzulegen.«204 202 Gerber in der »Vorerinnerung« seines Lexikons, Gerber 1790, S. IV. Die 1805 abgefasste, erst jüngst erstveröffentlichte Schrift von Gerber (»Ueber das Andenken an verdiente Tonkünstler«, in: Pietschmann/Wald-Fuhrmann [Hg.] 2013, S. 28–44) verschärft den Tonfall des Bedauerns nochmals und differenziert in seinen Beobachtungen das Desinteresse seiner Zeitgenossen, vor allem der Musiker selbst, an musikhistorischen Veröffentlichungen allgemein. 203 Schweiger 2009a, S. 36. 204 Albrecht 2009, S. 230f.
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Außerhalb dieser religiös motivierten Biographik blieb der soziale Status zentrales Auslesekriterium in Fragen der Biographiewürdigkeit, wobei die Zugehörigkeit zu einer Elite bestimmend war: An die Seite der Herrschereliten traten nunmehr verstärkt auch ökonomische Eliten, Bildungs- und Kunsteliten.205 Letztere erlebte in der Renaissance eine grundlegende Umwertung, vor allem was die Bildende Kunst anbelangt. Wesentlich hierbei war die Loslösung aus der Zugehörigkeit zu den artes mechanicae, zu denen auch die Musik und andere Künste gehörten. Das nunmehr neue Künstlerbild, das vor allem den bildenden Künstler als Schöpfer, nicht als Handwerker begriff, erfuhr maßgeblichen Ausdruck in den 1550 erstmals erschienenen Vite de’ più eccellenti architetti, pittori et scultori italiani, da Cimbue a’ tempi nostri von Giorgio Vasari, ein Kompendium von über 130 Künstlerviten sowie Nachrichten über 400 Künstler und über ca. 2000 Kunstwerke, das nicht nur die Kanonisierung der Kunstgeschichte bis heute prägt (»All of art history is footnotes to Vasari«206), sondern darüber hinaus einen der wichtigen Grundsteine der Künstlerbiographik überhaupt legte: Es gehört zum kulturhistorischen Allgemeingut, dass mit Vasari eine Entwicklung kanonisiert wird, die den – gesellschaftlichen, kulturellen, auch juristischen – Sonderstatus des neuzeitlichen Hofkünstlers hervorbringt […] und eine Integration der Künstler in den Kreis der wichtigsten Exponenten am Hof. Insofern sind Vasaris Viten ›modern‹ und ›säkular‹, werden als Teil der gesellschaftlichen Ausdifferenzierung in autonome Wertsphären bzw. der Geschichte der Emanzipation des Künstlers und der (Vor-)Geschichte des Geniebegriffes gesehen.207
Ein Pendant für die Musikgeschichte sucht man im Europa des 16. und auch des 17. Jahrhunderts vergebens. Die Statusaufwertung, die der bildende Künstler durch Vasaris Vite erfahren hatte, schien nicht in gleicher Weise auf Musiker übertragbar, und dies, obwohl gerade Hofmusiker (wie Jean Baptiste Lully am Hof Ludwigs XIV.) einen herausragend hohen Status erreicht hatten. Dass aber die Kunsthistorie – auch in ihrer Biographik – modellhaft für die Musikgeschichtsschreibung werden sollte, davon wird im Zusammenhang mit Johannes Mattheson noch die Rede sein. Doch es ist lohnend, noch einen Moment bei der Situation der bildenden Künste zu verweilen, um die »Verspätung« der Musik genauer zu verstehen. Die Studie des Kunsthistorikers Martin Warnke über den Hofkünstler zeigt, dass sich in den bildenden Küns205 Vgl. dazu auch Laferl/Tippner (Hg.) 2011, S. 14–17. 206 Williams 1989, S. 1. 207 Gerd Blum »Vasaris Kanon: Kunstgeschichte zwischen Geschichtstheologie und Künstlerlob«, Vortrag, gehalten auf dem Symposium »Anekdote – Biographie – Kanon. Zur Geschichtsschreibung in den schönen Künsten«, Bern, 19.–21. März 2009 (unveröffentlicht). Vgl. dazu auch Blum 2011, S. 144–164 (dort auch weiterführende Literatur).
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ten ein Künstlertypus ausprägte, der maßgeblichen Einfluss auf das Künstlerbild nach der Französischen Revolution hatte. Einen deutlichen Schnitt – hier der in Abhängigkeit agierende Hofkünstler, da der freie Künstler der bürgerlichen Gesellschaft – mag Warnke daher aus gut nachvollziehbaren Gründen nicht konstatieren. Zwar gehöre es zur Rhetorik der Revolution, die »fünf Jahrhunderte höfischer Kunstorganisation als eine einzige Blockveranstaltung despotischer Unterdrückung und Manipulation«208 hinzustellen, doch weder könne man dies derart pauschalieren – so gehört es gerade auch zur Rhetorik des Künstlerbildes der Renaissance, »daß der Künstler dem fürstlichen Laien […] als Fachmann gegenübersteht«209 – noch sei von einer uneingeschränkten »Freiheit des Künstlers« gerade auch während und nach der Französischen Revolution auszugehen, etwa wenn man die Abhängigkeit von einem »freien Markt« bedenke. Vor allem aber betont Warnke, dass sich »die Vorstellung von der unverwechselbaren Eigenheit des künstlerischen Genius zuerst an den Höfen geäußert« habe.210 Eine direkte Vorbildfunktion des Hofkünstlers für den »freien Künstler« des 19. Jahrhunderts habe indes geleugnet werden müssen, um Letzteren in das Konzept der bürgerlichen Gesellschaft zu integrieren: Nachdem aber die Entfaltung der künstlerischen Subjektivität als eine Errungenschaft der bürgerlichen Gesellschaft beansprucht worden war, mußte der Beitrag der Höfe zu jener Emanzipation des Künstlers ausgeblendet oder als verführerische Verschleierung einer Geistesknechtschaft hingestellt werden. […] Im Hofkünstler, so scheint es, fand das Bürgertum eine Präfiguration seiner geistigen Überlegenheit und seines schließlichen Sieges über Fürsten und Throne.211
Und so geht Warnke von der These aus, dass vom Hofkünstler Wesentliches auf den Künstler des 19. und 20. Jahrhunderts übergegangen sei, insbesondere auch »das Bewußtsein von einer höheren Bestimmung des Künstlers«. Und dem Avantgardekünstler des 20. Jahrhunderts sind die »Vollmacht […], die Gesellschaft von außen zu sehen, und die Probleme, vor die er dadurch gestellt ist, […] vom Hofkünstler übermittelt«.212 So wenig damit ein trennscharfer Schnitt zwischen Hofkünstler und freiem Künstler gezogen werden sollte, so erkennbar ist doch vor dem Hintergrund 208 Warnke 1996, S. 309. 209 Kris/Kurz 1995, S. 66. Warnke spricht hier von der »wechselseitigen Abhängigkeit« zwischen Künstler und Fürst, vgl. Warnke 1996, S. 319; Horst Bredekamp nennt dies ein »komplexe[s] Sonderverhältnis zwischen Herrschern und Künstlern«, vgl. Bredekamp 2008, S. 13. 210 Warnke 1996, S. 320. 211 Ebda., S. 320 und 325. 212 Ebda., S. 328.
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der tiefgreifenden Veränderungen in der Musikkultur des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts die Interdependenz zwischen dem Hofmusiker und dem Musiker als ›freiem‹ Künstler, die amalgamisiert ist aus Abgrenzung und Adaption. Und dass sich in dieser Zeit die Biographiewürdigkeit des Musikers, die noch bis Mitte des 18. Jahrhunderts umstritten, zumindest rechtfertigungsbedürftig war, festigte, ist eine Beobachtung, die Zusammenhänge vermuten lässt: Norbert Elias hob die grundlegenden Veränderungen hervor, die sich für Mozart aus seiner Existenz als Hofkünstler bzw. nach 1781 als ›freier‹ Künstler ergaben. Mozart habe mit seiner Entscheidung, den Salzburger Hofdienst zu verlassen, einen Schritt getan, der sich unmittelbar auf seine musikalische Produktion auswirkte: Denn in der Tat, der Kanon der Musikproduktion durch höfische Künstler, die für einen bestimmten Dienstherrn nach dessen Anweisungen und Bedürfnissen arbeiteten, unterschied sich aufgrund der spezifischen sozialen Figuration, innerhalb deren Musik hier ihre Funktion hatte, in prägnanter Weise von dem, der sich allmählich ausbildete, als die Produktion von Musik durch relativ freie Künstler, also im Wettbewerb mit anderen um ein vorwiegend anonymes Publikum, zur Regel wurde.213
Tatsächlich (und dies wird noch genauer zu betrachten sein), war Mozart selbst diese grundlegende Veränderung seiner Künstlerexistenz und das damit notwendige Neuausrichten seines Künstlerbildes (das seit seiner Kindheit auf biographische Erfassung hin ausgerichtet war) bewusst. Dies zumindest lassen die Briefe aus dem Frühsommer 1781 vermuten. Dass sich Mozart hierbei auf einen Topos des Künstlerbildes der Renaissance, des Hofkünstlers, berief, bestätigt allerdings einmal mehr die These Warnkes, dass von einem scharfen Schnitt zwischen Hof- und freiem Künstler nicht gesprochen werden kann, sondern dass es gerade auch eine Vorbildfunktion war, die das Bild vom Hofkünstler für den nunmehr am freien Markt sich ausrichtenden Künstler des beginnenden Bürgertums prägte.214 Die Wende zur Biographiewürdigkeit von Musikern, das ist zu betonen, vollzog sich weder ad hoc noch in einem einzigen Argumentationsstrang. Vielmehr kamen – im Sinne einer mentalen wie sozialen Dimension von Erinnerungskultur – mehrere Personen mit verschiedenen Vorstellungen von Kunst, respektive Musik, Wissenschaft und Geschichtsschreibung mit entsprechend unterschiedlichen Interessen zu mannigfachen Antworten. Davon wird im Folgenden die Rede sein, ohne dass das Bild einer homogenen, gar kontinuierlichen historischen Entwicklung hin zur Biographiewürdigkeit des 213 Elias 1993, S. 58f. 214 Vgl. hierzu auch das Kapitel Mozart-Anekdotik.
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Musikers schlechthin entstehen soll. Die Selbstverständlichkeit aber, mit der die Biographiewürdigkeit von Musikern dann im 19. Jahrhundert akzeptiert wird, hat ihre Wurzeln in eben diesen unterschiedlichen Antworten.
Von impertinenten Musikanten und »edlen Tonkünstlern«. Tugendvorstellungen als Kategorie für Biographiewürdigkeit Der Impuls, Musiker als biographiewürdig zu betrachten, geht einher mit der sich im frühen 18. Jahrhundert wandelnden Sicht auf die Künste. Paul O. Kristeller spricht in diesem Zusammenhang davon, dass sich in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein fest umrissenes »modernes System der schönen Künste«215 entwickelte habe, worin die Musik – so verhandelbar ihre Position im Geflecht der verschiedenen Künste auch immer war – einen (mehr oder weniger216) festen Platz einnahm. Zugleich wurde der »Tonkunst« ein neuartiger Kunstcharakter zugeschrieben, über den man sich ebenso zu verständigen hatte wie über die Frage, welche Kompositionen diesem entsprächen, dadurch »bleibend« sein sollten. Innerhalb dieses Aushandlungsprozesses beruhte der Schritt, Musiker als biographiewürdig zu erachten, (anders als in der Bildenden Kunst) nicht direkt auf der Aufwertung zum Künstlergenie, sondern – gleichsam als Umweg eben dorthin – auf jenen Werte- und Moralvorstellungen, die die Aufklärung und das sich formierende Bürgertum entwickelten. Dabei ist zu betonen, dass hier weder von einem monolitisch gedachten Bürgertumsbegriff ausgegangen werden kann noch von einem entsprechend homogenen Fundus an Wert- und Moralvorstellungen.217 Bei aller damit notwendigen Differenzierung aber scheinen Grundzüge erkennbar zu sein, die etwa in der sprachlichen Unterscheidung von »Musicus« und »Musikant« bereits erste Hinweise auf eine Differenzierung in der Biographiewürdigkeit geben. Und diese Diskussion umkreist bemerkenswerterweise einen moralischen Kern, nimmt dabei starken Einfluss auf die Frage der Biographiewürdigkeit. Kurz gesagt: Während der Musicus im Lauf des 18. Jahrhunderts allmählich in den Kreis der biographiewürdigen Personen aufzurücken vermochte, blieb der »Musikant« weiterhin außen vor. Entsprechend ist auffallend, dass sich Musiker und Musiktheoretiker um eine Abgrenzung vom Musikantentum bemühten und damit »um eine Steigerung 215 Kristeller o. J. [1980], S. 186. Für den Hinweis danke ich Anselm Gerhard. 216 Für Wilhelm von Humboldt und dessen Universitätsmodell rangierte die Musik im »Schema der Künste« noch im (N)Irgendwo zwischen »Decorir-« und »Tanzkunst«. 217 Vgl. zur Bürgertumsforschung etwa Kocka 1987, Döcker 1994, Hein/Schulz/Gall 1996, einführend auch Budde 2009, Schäfer 2009. Für die Musikkultur insbesondere auch Hentschel 2006a.
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ihres Ansehens [bemüht waren], indem sie erstens die Wissenschaftlichkeit der Musik beteuerten und zweitens Gelehrsamkeit und Professionalisierung als Bedingung für die kompositorische Tätigkeit oder die Beschäftigung mit Musik hervorhoben«.218 Geradezu prototypisch – darauf wird zurückzukommen sein – personifizierte Leopold Mozart dieses neue Ideal des gelehrten Musikers, wie sich in Marpurgs Rezension über dessen Violinschule erkennen lässt: »Ein Werk von dieser Art hat man schon lange gewünschet, aber sich kaum getrauet, zu erwarten. […] Der gründliche und geschickte Virtuose, der vernünftige und methodische Lehrmeister, der gelehrte Musicus, diese Eigenschaften, deren jede einzeln einen verdienten Mann macht, entwickeln sich allhier zusammen.«219 Dass diese Unterscheidung nicht nur mit beruflicher Qualifikation und künstlerischer Qualität, sondern auch mit moralischer Implikation zu tun hatte, darauf deutet Leopold Mozarts geäußerte Warnung an seinen Sohn hin: »[…] es kommt nur auf deine Vernunft und Lebensart an, ob du als ein gemeiner Tonkünstler, auf den die ganze Welt vergisst, oder als ein Berühmter Capellmeister, von dem die Nachwelt auch noch in Büchern lieset […] sterben willst?«220 Mit dem Modell, dass moralisches Fehlverhalten eine Biographiewürdigkeit ausschließe, folgte die Musikerbiographik offensichtlich nicht einer in der bildenden Kunst ebenso weit verbreiteten wie viel diskutierten Auffassung, dass der herausragende Künstler »nicht dem Gesetz unterworfen sein«221 müsse (Moraldispens). Hier konnte der Künstler auch bei Kapitalverbrechen 218 Hentschel 2006a, S. 114, vgl. dazu auch ebda., S. 146: »Durch Verwissenschaftlichung der Musik, ihre Intellektualisierung […], durch Schaffung einer dem bürgerlichen Bildungsideal angemessene Ästhetik der Vergeistigung und eines spezifisch musikalischen und fachgeschichtlichen kulturellen Gedächtnisses […] wurde diese [= die Musik] in der bildungsbürgerlichen Welt mit erhöhtem Ansehen ausgestattet und zu einem legitimen Bestandteil der bildungsbürgerlichen Gemeinschaft und Kultur erhoben.« 219 Marpurg 1757, Bd. 3, St. 2, S. 160. 220 Brief vom 12. Februar 1778, in Mozart Briefe GA, Bd. II, S. 274, Hervorhebung M. U. Die Analyse des Briefes unter dem Gesichtspunkt der Musikerbiographik habe ich erstmals 2006 vorgelegt (vgl. Unseld 2006b). Dass gerade das Bild des gelehrten und wohlanständigen Musicus, das Leopold Mozart für seinen Sohn zu entwerfen versuchte, durch ebendiesen konterkariert wurde, indem Wolfgang Amadeus Mozart auf das Renaissance-Bild des Künstlers rekurrierte und dieses für die Modernisierung des Künstler-Bildes einzusetzen bereit war, wird noch anhand der Fußtritt-Anekdote zu zeigen sein. 221 Das Argument Papst Pauls III., warum er Benvenuto Cellini nicht wegen Mordes an seinem Konkurrenten Pompeo de’ Capitaneis angeklagt, sondern ihn sogar befördert habe. Überliefert ist dieses Argument in der Autobiographie Cellinis, hier zit. nach Bredekamp 2008, S. 11. Vgl. hier auch die Diskussion über den »Künstler als Verbrecher«.
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in Aufwiegung seiner künstlerischen Leistungen straffrei ausgehen, vor allem aber hatte dies keinerlei Auswirkungen auf seine Biographiewürdigkeit und damit auf seinen Eintritt in das kulturelle Gedächtnis. Im Gegensatz dazu war für einen aufgeklärten Musiker wie Leopold Mozart (und mit ihm für viele andere) moralisches Wohlverhalten Teil eines bürgerlichen Selbstverständnisses, da man hierin eine Distinktionsmöglichkeit zur Aristokratie sah und dies entsprechend inszenierte. Mehrfach wird dieses Argumentationsmuster in der Biographik der Aufklärung deutlich. Johann Gottfried Herder etwa, so betont Helmut Scheuer, wies entsprechend auf das biographische Doppelmotiv von Gelehrsamkeit und Wohlanständigkeit hin: »Der Intellekt erscheint als Machtinstrument einer bürgerlichen Selbstbefreiung« und »daß Herder auch sonst die ›Bescheidenheit‹ oder ›Wohlanständigkeit‹ lobt, […] läßt sich als ›Katalog bürgerlicher Tugenden‹ auffassen.«222 Doch in diesen Katalog, so konnte man 1788 in Adolph Freiherr von Knigges Ueber den Umgang mit Menschen nachlesen, wurden Musiker noch keineswegs selbstverständlich aufgenommen. Im Gegenteil: Über die Eitelkeit und die losen Sitten der »Tonkünstler« lässt sich Knigge weithin aus, wobei immer wieder moralische und fachliche Unzulänglichkeiten zusammenfließen: »Deswegen sehen wir auch ganze Heerden solcher Künstler herumlaufen, die nicht einmal mit den ersten theoretischen Grundsätzen ihrer Musik bekannt sind; Musiker, die nicht wissen, aus welcher Tonart sie spielen […], aber dagegen mit desto mehr Selbstgenügsamkeit und Impertinenz ausgerüstet [sind].«223 So galt es, die Biographiewürdigkeit von Musikern allgemein sowohl über die fachliche Kompetenz als auch (und vor allem) über den »Katalog bürgerlicher Tugenden« zu begründen. Entsprechend diskutierte die Berlinische Musikalische Zeitung 1805 ausführlich die »moralische Sphäre des Tonkünstlers«: Der »wahrhaft gebildete, edle Tonkünstler« »kultivire neben dem musikalischen Sinn und Talent auch den moralischen«. Seine moralische Unangreifbarkeit befördere dabei nicht nur die allgemeine Moral (Vorbildcharakter), sondern diene auch der künstlerischen Unangreifbarkeit, in anderen Worten seiner eigenen Kanonisierung: »Er kann mit seiner Kunst […] hoffen, mit ausgezeichneten Werken in die weite Ferne und auf die Nachwelt ergötzend und wohlthätig zu wirken.«224 Frank Hentschel beobachtet Ähnliches in Musikgeschichten des ausgehenden 18. und des 19. Jahrhunderts, in denen ausgewählte Komponisten mit dem Tugendkatalog des Bürgertums ausgestattet, andere hingegen aufgrund fehlender »Sittlichkeit« ausgeschlossen wurden, wobei – was Hentschel wie222 Scheuer 1979a, S. 23. 223 Knigge [1788] 2010, S. 364. 224 [Anonym] 1805, S. 69f.
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derholt nachweisen kann – ethische Normen ästhetische Normen begründeten und implizierten.225 Der bürgerliche Tugendkatalog avancierte zum zentralen Kriterium der Biographiewürdigkeit von Musikern, bis sich im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts mit dem romantischen Künstlerbild ein gegenläufiges Konzept Bahn brach. Zu diesem Zeitpunkt freilich stand die Biographiewürdigkeit von Musikern nicht mehr zur Diskussion, für Musikerinnen freilich blieb »Sittlichkeit« weiterhin ein Argument für oder wider die Biographiewürdigkeit.226
Biographie(un)würdigkeit: Johann Mattheson versus Johann Adolf Scheibe Bewegt man sich mit diesen vorausgreifenden Hinweisen bereits im 19. Jahrhundert, ist es lohnend, an den Beginn dieser Diskussionen um die Mitte des 18. Jahrhunderts zurückzukehren, denn hier zeigt sich die Grundsätzlichkeit, mit der angesichts der Biographiewürdigkeit von Musikern über moralisches Wohl- und Fehlverhalten diskutiert wurde. Obgleich an zahlreichen lexikalischen und periodischen Schriften des ausgehenden 17. und der ersten Dekaden des 18. Jahrhunderts erkennbar ist, dass das allgemeine Interesse an Biographien um die Mitte des 18. Jahrhunderts auch und erstmals nachhaltig die Musik erreicht hatte, bestand etwa für Johann Matthesons Ehren-Pforte (1740) noch immer ein gewisses Legitimationsbedürfnis, was dem vorangestellten Lobgedicht des Historikers und Gelehrten Michael Richey auf Mattheson zu entnehmen ist: Wer auf der Welt, was schreibenswürdig, treibet, Verdient, daß der ihn lobt, der lesenswürdig schreibet. Und dennoch hat es Euch, Ihr hochberühmte Geister, Ihr in der Götter-Kunst unsterblich grosse Meister, An tapfern Federn fast gefehlt, Die Euch im Musen-Reich den Helden zugezählt. Gerad’ als müste [sic] sich der Weisheit schönstes Stück Verworfner Eitelkeit zu frohnen nur bequemen. Und dürfte nimmermehr am viel zu eignen Glück Gelehrter Pächter Antheil nehmen. Gerad’ als würd’ ein Telemann, Ein Keiser, Hurlebusch, ein Kuhnau, Händel, Hasse, Und was ich unbenannt nicht unbewundert lasse,
225 Vgl. Hentschel 2006a, bes. das Kapitel »Bürgerliche Lebensführung«, S. 427–485. 226 Vgl. hierzu auch Unseld 2013b.
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An jedem Ort, in jedem Jahr gebohren. Und hätte der, der mehr, als ein Pedante, kann, Bey Ehren-Pforten nichts verlohren. […]227
Mattheson hatte bereits 1722 ein »deutliches Model gegeben […], wie etwan eine Lebens-Beschreibung einzurichten sey, die in der Ehren-Pforte Platz finden will«,228 hatte über zwei Jahrzehnte autobiographische Texte eingeworben229 und selbst Biographien verfasst, schließlich 1740 seine Grundlage einer Ehren-Pforte herausgegeben, in der er die Idee eines Tugendkataloges bekräftigte. Folgerichtig trägt sein Buch einen Hinweis darauf bereits prominent im Titel: Grundlage einer Ehren-Pforte, woran der Tüchtigsten Capellmeister, Componisten, Musikgelehrten, Tonkünstler etc. Leben, Wercke, Verdienste etc. erscheinen sollen. Von Tüchtigkeit und Verdiensten ist die Rede. Es ist freilich lohnend, noch einen Moment bei Matthesons Begriff der »Ehren-Pforte« zu verweilen: Im Kontext von Biographie als Erinnerungskultur scheint es bedeutsam, dass Mattheson mit dem Begriff nicht primär auf Biographisches, sondern zunächst auf eine bestimmte Tradition öffentlich inszenierter Erinnerungskultur und damit auf ihre soziale Dimension verweist. Das Aufstellen von Ehrenpforten gehörte zum frühneuzeitlichen Standard-Repertoire der Festarchitektur im Rahmen weltlicher und geistlicher Feste. Mit der Allusion an den römischen Triumphbogen und dem Usus, dass der zu Ehrende durch die Ehrenpforte hindurchzuschreiten (oder zu reiten) hatte, haftete dieser Form der Ehrung zugleich etwas Militärisch-Triumphales an. Die ursprüngliche Festarchitektur war dabei nicht denkmalartig, sondern bewusst temporär:230 Eine Ehrenpforte wurde selten gemauert, sondern meist aus Holz gebaut und somit nicht auf Dauer angelegt. Und auch Mattheson bezeichnete seine Schrift im Widmungstext als »Grundstein eines weiter-auszuführenden historischen Gebäudes«, eine Formulierung, die zu erkennen gibt, dass von vornherein Ergänzungsbände geplant waren, der Band gewissermaßen ein work in progress sein sollte: 227 Richey 1740. 228 Mattheson 1722, S. 178. 229 Vgl. zu Matthesons Ehren-Pforte unter dem Gesichtspunkt der Autobiographik den aufschlussreichen Aufsatz von Vera Viehöver, in dem sich die Autorin nicht nur kritisch mit Alfred Einsteins These von 1921 auseinandersetzt (vgl. Einstein 1921), sondern auch höchst instruktiv die autobiographischen Konzepte von Mattheson, Hiller und Schubart diskutiert und vergleicht: Viehöver 2011. 230 Die Formulierung von Hentschel, dass Mattheson »durch seine Sammlung von Biografien [Musikern] ein Denkmal errichtet« habe, ist insofern zu relativieren, wenngleich außer Frage steht, dass mit der Publikation eines Buches ein (relativ) bleibender Wert und damit auch die »Verankerung […] im kulturellen Gedächtnis« intendiert ist. Vgl. dazu Hentschel 2006a, S. 140.
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Man nehme es als eine Probe, Anleitung, Vorschrifft, Beispiel, oder als einen kleinen Riß an, der andern zur Fortsetzung übergelassen wird, die nunmehro hoffentlich mit desto leichterer Arbeit ins Werck gerichtet werden kann, da man einen Vorgänger und ein Muster hat. Ich gebe also gerne zu, daß dieser Versuch noch lange nicht dasjenige sey, was er wohl seyn sollte; sondern gestehe, daß sehr vieles daran und darin aus- meistens aber einzusetzen sey. Kleiner will ichs doch auch nicht machen.231
Um die Mitte des 18. Jahrhunderts, im Zuge der Aufklärung und der damit verbundenen Veränderung des ehrwürdigen Personenstandes, verlor die Ehrenpforte und ihre Form öffentlicher Feier- und Erinnerungskultur an Bedeutung, die Akzeptanz dieser Form der öffentlichen Ehrung schwand.232 Mattheson knüpfte mit dem Titel seiner Sammelbiographie damit an eine alte – wenn nicht gar schon veraltete – Tradition einer Erinnerungskultur an,233 womit eine besondere Intention verbunden gewesen zu sein scheint, die nicht nur im Titel, sondern auch in der Vorrede mehrfach auftaucht und mit der Erhebung des Musikers in den biographiewürdigen Stand zusammenhängt: Ehrenpforten waren ursprünglich jenen Personen vorbehalten, die lange den Kreis der (unumstritten) Biographiewürdigen ausmachten – Kaiser, Päpste, Fürsten und mächtige militärische Führer. Auch Mattheson benennt diesen bislang vorwiegend bedachten Personen- und Themenkreis, spricht von »Historien von Reichs- und Staats-Angelegenheiten, von Krieges-Gerichts-Händeln, Hadersachen etc.«,234 und ist sich bewusst, dass er mit einer musikalischen Ehrenpforte »einen etwas unbekannten Geschichtskreis«235 betritt. Kurz: Er übernimmt die veraltete, mit einem bestimmten Personal verknüpfte Form der Ehrung und restituiert sie mit einem neuen Personenkreis. Die Begründungen, die Mattheson für seinen Schritt, Musiker an eine Ehrenpforte anzuheften, anführt, sind deutlich vom aufgeklärt-bürgerlichen Menschenbild und dessen Tugendbegriff geprägt. Da die Musik zu Gottes Ehre und zur »Complexion« bestimmt sei, so Mattheson, müsse auch der Kreis der »vortreflichsten, tugendhafftesten Tonmeister« würdig sein, an einer Ehrenpforte »angeschrieben« zu werden.236 Mattheson betont 231 Mattheson 1740, S. XXIV. 232 Bezeichnend beispielsweise, dass Kaiser Leopold II. im Jahr 1790 auf eine Ehren-Pforte verzichtete und stattdessen befahl, »das für eine Ehrenpforte bestimmte Geld zur Ausstattung von 40 Landmädchen zu benutzen.« Römmelt 2006, http://www.historicum. net/no_cache/de/persistent/artikel/2560/ (letzter Zugriff: 8. August 2013). 233 Melanie Wald weist darauf hin, dass Matthesons Ehren-Pforte »in der äußeren Anmutung im Grunde noch barock« sei, vgl. Wald 2010a. 234 Mattheson 1740, S. [VII], der Personenkreis – Kaiser, Könige und Fürsten – wird ebda., S. IX explizit erwähnt. 235 Ebda., S. [VII]. 236 Vgl. Ebda., S. VIIIf.
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sogar, dass »unter meinen Musicis« keine moralisch fragwürdigen Personen anzutreffen seien, »sondern es sind (menschliche Schwachheiten ausgenommen) tüchtige, gottsfürchtige, redliche fromme Männer, an deren etlicher Schreibart selbst man so gar erkennen kann, daß sie den Lastern feind sind«. Die moralische Integrität stützt das Argument der Biographiewürdigkeit, wobei sich Mattheson dabei explizit gegen eine Verallgemeinerung verwahrt, die die »tüchtigen Capellmeister, Componisten, Musikgelehrten, Tonkünstler etc.« in die Nähe von Musikanten rücken könnte: »Daher es denn wohl etwas unbilliges ist, wenn wir in einer gewissen Postille, am IV. Sonntag post Epiphan. p. 344 sehr unnöthiger und schimpflicher Weise von Musikanten, ohne Unterschied, die ärgerlichen Schmähworte lesen: Daß es an solcher Art Leuten zu A** eben so wenig fehle, als in den sumpfichten Oertern an Ungeziefer.«237 Mattheson partizipiert hier – mit einem klaren Standpunkt für die Biographiewürdigkeit von Musikern – an einer Diskussion, die sich mehrfach und in verschiedenen Zusammenhängen in den Musikzeitschriften der 1730er und 40er Jahre finden lässt. So war etwa auch in Johann Adolf Scheibes Critischem Musicus (1. Teil, Sechstes Stück, 14. Mai 1737238) eine kategorische Absage an die Biographiewürdigkeit von Musikern erschienen, die mit deren moralischer Fragwürdigkeit argumentierte: Der (aus diesen Gründen anonymisierte) Musikant vermöge nicht über die Hürde der moralischen Integrität zu steigen.239 Anders als bei Mattheson, der gezielt einzelne Namen, mithin die Lebensund Schaffenszusammenhänge von Einzelindividuen betrachtet, steht bei Scheibe vor allem der Typus des Musikers, nicht sein individueller Lebensweg im Vordergrund. Bezeichnend ist auch die Konzeption des gesamten Textes – als »Brief eines reisenden Musikanten«, der »von der Beschaffenheit einiger Tonkünstler«240 berichtet –, der ohne Bezug zum Vorangegangenen, gleichsam als Intermezzo, angelegt ist und darüber hinaus mit etlichen Stilmitteln aufwartet, die seine Distanz zum Übrigen betonen. Der Brief eines anonymen Musikers »unterbricht die Fortsetzung der angefangenen Materie von der Melodie«,241 steht mithin ohne äußeren Zusammenhang zwischen den Kapiteln »Untersuchung des ersten Grundes der Musik« und »Untersuchung der Fehler und Thorheiten der meisten deutschen Opern«. Der Brief wird 237 Ebda., S. IX. Wenig später erwähnt er in diesem Zusammenhang, dass in Frankreich »die Operisten und Comödianten für Leute [gehalten werden], die im Bann sind.« Ebda., S. X. 238 Scheibe 1738–40, Sechstes Stück, S. 41–48. Der Critische Musicus wurde bereits 1745 in einer »neue[n], vermehrte[n] und verbesserte[n] Auflage« nachgedruckt. 239 Einzige genannte Ausnahme dabei ist J. A. Hasse, der am Ende des Briefes sowohl namentlich als auch in seinen »Verdiensten« knapp beschrieben wird. 240 Vgl. das Inhaltsverzeichnis in Scheibe 1745/1970 [o. S.]. 241 Ebda., S. 55.
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auch insofern als externe Zugabe gekennzeichnet, als Scheibe dem Schreiben einen kurzen Absatz voranstellt, indem er erläutert: »Er [= der Brief] ist nicht an mich gestellt, sondern ein geschickter Musikant, der sich anitzo auf Reisen befindet, hat ihn an einen gewissen Meister der Musik abgelassen. Dieser letzte ist mein großer Freund, und er hat mich ersuchet, diesen Brief, wegen seines merkwürdigen Inhalts diesen Blättern mit einzuverleiben. Hier ist er.«242 Damit distanziert sich Scheibe von diesem Schriftstück über den Typus des Musikers: Es gebe erstens nicht die eigene Meinung wieder, sei zweitens nicht einmal an ihn selbst adressiert und der Abdruck ebendesselben stelle drittens nur einen Freundschaftsdienst dar, sei nicht aus logischen oder musikhistorischen Überlegungen heraus gerechtfertigt. Andererseits erfährt der Brief gerade auch durch seinen Einschubcharakter einen besonders starken Akzent. Scheibe kam es nicht auf die Dokumentation individueller »Musikanten« und deren »Beschaffenheit« an. Im Gegenteil, er anonymisierte alle persönlichen Angaben: »Von ≈ ≈ kam ich nach ≈ ≈. Allhier ist der Herr ≈ ≈ Capellmeister, und der Herr ≈ ≈ Concertmeister.«243 Eine Identifizierung der besprochenen Personen ist damit verunmöglicht. Dennoch fallen die Charakterisierungen der beiden anonymen Musiker sehr detailliert aus: Der erste ist ein Mann, der schon ziemliche Jahre erreichet hat. Er besitzt ein eigennütziges und falsches Gemühte. Der Herr Concertmeister hat die Wirkungen davon sehr oft empfinden müssen. Täglich wird er von ihm verläumdet; die übrigen Musikanten werden in diese Streitigkeiten auf allerhand Art gemenget, und die listigen Ränke des Capellmeisters werden durch den Beystand nur vermehret, den der Concertmeister von den Vernünftigsten erhält. Der Concertmeister ist sonst ein Mann, der große Verdienste besitzt. Wenn er sich etwas besser in den Wissenschaften umgesehen hätte, und der Theorie der Musik kündiger wäre, so würde er vollkommen seyn. An aufgewecktem und munterm Wesen mangelt es ihm nicht. Die Musik ist seine andere Natur. Die Geige und das Clavier spielet er ziemlich gut, und diesen beyden Instrumenten ist auch seine meiste Arbeit gewidmet; sonderlich sind seine Concerte für die Geige gewiß ohne Tadel.244
Die ausführliche Beschreibung des anonymisierten »Concertmeisters« ruft die Frage hervor, warum Scheibe – abgesehen vom erwähnten Freundschaftsdienst – diesen Brief, der noch weitere derartige »Lebensläufe« enthält, abdruckte. Die Mitteilung einer individuellen Biographie, die Darstellung einer Musikerpersönlichkeit kann nicht intendiert sein, im Gegenteil ist Scheibe darum bemüht, alles die Identität möglicherweise Offenbarende zu tilgen. 242 Ebda. 243 Ebda., S. 58. 244 Ebda. Es folgt eine ähnlich ausführliche Beschreibung des Capellmeisters.
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Hingegen stehen die beiden Typen Kapellmeister und Konzertmeister, ihre beruflichen Interdependenzen und ihre soziale Position auch im Kontext der anderen Musiker im Vordergrund. Statt biographischer Information gibt der »Brief« soziologische Beobachtungen und vor allem Hinweise auf den Kern von Scheibes Musiker-Typologie.245 Fast alle der vorgestellten Musiker, oder besser: Musikanten, zeichnen sich durch zu geringe Bildung und durch schlechten Charakter aus, sei es der »eigennütze« Kapellmeister des zitierten Beispiels, dem »die wahre Schönheit der Musik […] so wenig bekannt [ist], daß man auch nicht einmal mit ihm davon reden darf«,246 sei es ein anderer, dessen Vorfahren »wirklich große Meister der Musik gewesen« sind, der selbst aber »zu ungeschickt dazu ist« und der »sich mit den Federn der besten Männer so wohl zu spicken [weiß], daß er der Krähe des Aesopus sehr ähnlich wird«.247 Und die dargestellte moralische Schwäche der Akteure zog weitere Argumentationskreise: Doch wenn unsere meisten Musikanten nur allein musikalische Fehler bewiesen; denn so würden sie doch der Musik an der Beförderung der Tugend nicht hinderlich seyn: so aber sehen wir, daß viele derselben noch mit unzähligen moralischen Mängeln umgeben sind, die sie den Vernünftigen und Tugendhaften insonderheit verächtlich machen, und die auch so gar die Tonkunst selbst bey unerfahrnen und nicht wohl unterrichteten Leuten, deren die Welt insonderheit voll ist, in den übelsten und schädlichsten Verdacht setzen: als ob die Musik der Fortpflanzung der Tugend hinderlich und höchst nachtheilig wäre.248
So ist auch hier erkennbar, was Frank Hentschel als prägend für die Musikgeschichtsschreibung zwischen 1776 und 1871 beschrieben hat: die Übersetzung der Idee von »bürgerlicher Lebensführung« in eine ästhetische Idee: »Konsens« bestehe, so Hentschel, »in der Annahme, dass auch die Moralvorstellungen der Identitätsstiftung des Bürgertums dienten; und diese Annahme 245 Zur Frage der Typologisierung vgl. auch Kremer 2004, S. 12f. Von »Berufsbiographik« wäre allerdings in diesem Zusammenhang nicht zu sprechen, da sich kein individueller Zusammenhang zwischen dem Musiker-Typus und einer realen Person herstellen lässt. 246 Scheibe 1745/1970, S. 58. 247 Ebda., S. 59f. 248 Ebda., S. 526. Bezeichnend in diesem Zusammenhang, dass Chrysander sich offenbar mit dieser die moralische Integrität der handelnden Personen behandelnden Passage intensiv auseinandergesetzt hat und dabei folgenden Passus in seinem Exemplar angestrichen hat: »Mein Satz ist dieser: die Musikanten selbst sind Schuld daran, daß die Musik anitzo so sehr in Verachtung kömmt, und bey vielen vornehmen und vernünftigen Männern ihr Ansehen fast gänzlich verlieret.« (ebda., Exemplar der Carl von Ossietzky Staatsbibliothek Hamburg/Ex bibliotheca Dr. R. Chrysander, Sign. A/100925, S. 525).
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findet in den Musikgeschichten insofern eine Bestätigung, als die Unmoral der höfischen Musik als offensichtlich soziologisch begründetes Gegenbild wahrer Kunstmusik begriffen wurde.« Dabei stellte die »Analogie zwischen komponierender Person und erklingendem Werk […], wenn sie sich in guten Werten ausdrückte, einen Idealzustand dar«249. Im Gegensatz zu Scheibe war es Mattheson explizit um die moralische Integrität der Musiker gegangen, die er gegen moralische Vorhaltungen, wie er sie bei Scheibe fand, zu verteidigen trachtete. Matthesons Argumentation der Tugendhaftigkeit freilich war weitreichend. Zum einen korrelierten für Mattheson moralische Integrität und »Schreibart« der Komponisten, damit argumentierend, dass sich mithin der (gute) Charakter eines Komponisten in seinen Kompositionen widerspiegelt.250 Zum anderen verband sich mit dem Anspruch der moralischen Integrität nicht zuletzt auch der (aufklärerische) Bildungsgedanke. Die Lebensläufe in der Ehren-Pforte waren in diesem Sinne biographische Exempel, denen angehende Musiker nachzueifern aufgefordert wurden: Denn man muß die Geschichte der berühmten Leute mercken, und denselben nachdencken, (sie nicht ohnehin ansehen) was sie bedeuten und lehren […]. Liebhaber der Musik bekümmern sich auch um das Schicksal der Musikanten. Dieser Männer Lebenslauf ist offt angenehm, offt verdrieslich, meistens mühseelig und bisweilen lustig. Wer nicht niederträchtig-gleichgültig ist, oder aus Eigenliebe das Spotten zu seinem höchsten Gut macht, findet immer etwas, welches seiner Aufmercksamkeit würdig ist.251
Dass bei dieser Art Vorbildcharakter manch charakterliche Schwäche retouchiert werden sollte, war für Mattheson selbstverständlich. Moralische Verfehlungen nehme er in seiner Ehren-Pforte nicht auf, indem er manche »menschliche[n] Schwachheiten« unerwähnt lasse. Letzteres bekräftigend ergänzt Mattheson im Vorbericht, dass er es sich »angelegen seyn laße, fast den meisten artigen Gesichtern ein ziemlich-nahes Schönpflästerlein beizufügen, damit jene desto heller hervorleuchten, und die Ehrbezeugungen verschiedener Art seyn mögen«.252 Mattheson spricht sich damit für die Glättung (Idealisierung) von Charakter und Lebenslauf aus, um die Ehrwürdigkeit deutlicher hervortreten zu lassen. Der Grundgedanke, dass über exemplarische 249 Hentschel 2006, S. 429 und 431. 250 Viehöver exemplifiziert dies an dem Eintrag über Reinhard Keiser: »Keisers Charaktereigenschaften seien untrennbar mit seinen ungewöhnlichen musikalischen Ausdrucksmöglichkeiten verknüpft, seine Musik sei nicht ohne seine ›Leidenschafften‹ zu haben.« Viehöver 2010, S. 193. 251 Mattheson 1740, S. XV. 252 Ebda., S. XXXI.
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Biographik vorbildliche Lebensmodelle vermittelbar seien, wird noch weit ins 19. Jahrhundert zu den Charakteristika der Musiker-Biographik zählen.
3. Schreiben über Musiker und Musikerinnen: Musiklexika und Musikhistorie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts
Die Hürde der grundsätzlichen Biographiewürdigkeit zu nehmen, war ein wichtiger, gleichwohl nicht der alleinige Schritt hin zur Musiker-Biographik, die sich nach 1800 in großer Vielfalt entwickelte. Ein zweiter Schritt hin zur steigenden Anerkennung der Akteure war ein verändertes Verständnis von Musik und deren Aufwertung zum Bildungsgut.253 Musik wurde nun mit Begriffen bedacht, die »eigentlich der Philosophie angehörten und wesentliche erkenntnistheoretische und metaphysische Inhalte ansprachen«.254 Dass damit auch ein Sprechen über Musik angelegt wurde, das zwischen emotio und ratio unterschied, wird die musikalische Biographik in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erneut beschäftigen und im Zusammenhang mit der Narrativität in Bedrängnis bringen. Zunächst aber diente die Gelehrsamkeit, mit der über Musik gesprochen wurde, zur Aufwertung ihrer selbst und ihrer Akteure. Dabei ist, wie Frank Hentschel erläutert, ein neu sich gründendes, antiklerikale und antiaristokratische Autorität beanspruchendes Musiker-Selbstbild erkennbar, das sich vor allem im Laufe des 18. Jahrhunderts und in engem Austausch mit den Ideen der Aufklärung herauszubilden begann. In einem dritten Schritt galt es, das Verhältnis zwischen individuellem musikkulturellen Handeln und Musikgeschichtsschreibung zu klären: Welche Akteure der Musikkultur sollten als geschichtsrelevant betrachtet werden? Welche Ereignisse – klingende oder verschriftlichte Ereignisse, Aufführung oder Komposition – sollten das Gerüst für eine Musikgeschichtsschreibung bilden? Auf welche materiale Dimension konnte sich das historische Interesse an Musik stützen, welche sozialen Praktiken und mentalen Grunddispositionen waren notwendig, um Musik in das kulturelle Gedächtnis einzubringen? Wie verhandelbar diese Fragen im 18. Jahrhundert noch waren, zeigt sich nicht nur, aber auch an den Diskussionen darüber, welche Musiker und Musikerinnen auf welche Weise Eingang in biographische Musiklexika finden sollten: Der Fokus, den Mattheson etwa auf Komponisten legte, verweist auf einen kompositionsgeschichtlichen Ansatz, während Ernst Ludwig Gerber in seinem Lexikon die Vielfalt der Musikerberufe betont, dadurch den Fokus auf das klingende Ereignis lenkt, an dem Sänger und Sängerinnen ebenso beteiligt sind wie Instrumentenbauer und Komponisten. Die Auswahl an biographier253 Vgl. dazu Hentschel 2006a, S. 120ff. 254 Ebda., S. 121.
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ten Personen fällt in beiden Fällen daher unterschiedlich aus. Klar aber ist sowohl für Mattheson wie für Gerber, dass die Vergewisserung über die Musik und deren Vergangenheit von Beginn an mit der Frage nach den Akteuren verknüpft wurde. Wenn im Folgenden daher einige Beispiele von musikgeschichtlichem, -lexikalischen und -biographischen Schreiben des 18. Jahrhunderts näher beleuchtet werden, steht jeweils die Frage im Zentrum, in welcher Weise biographisches Schreiben über welche Akteure von Musikkultur als Grundlegung für musikgeschichtliches Denken betrieben wird.
Quellen Wie oben erläutert, bedarf die Musik, um erinnerbar zu bleiben, einer Umwandlung in ein tradierbares Medium. Die Schrift ist eines dieser Medien, und das 18. Jahrhundert kann als ein Experimentierfeld des Schreibens über Musik insofern bezeichnet werden, als eine neue Vielfalt entsteht, wie und für welchen Adressatenkreis über Musik geschrieben wird. Für einen ersten, gleichwohl grundlegenden Überblick über diese Vielfalt kann der von Albrecht Koschorke beschriebene Strukturwandel der Schriftkultur hilfreich sein: vom Primat der »treuen Überlieferung« und der von Klerus und Adel beherrschten Wissenskultur (Textautorität qua Filiation) hin zu einer dezidiert historisch sich verstehenden, »bürgerlichen Intelligenz«. Wenn sich etwa Johann Mattheson über fast 20 Jahre hinweg um autobiographische Aufzeichnungen von Musikern bemüht, um diese dann lexikalisch zusammenzufassen, ist dies eine deutlich Absage an eine Textautorität qua Filiation. Und so lässt die rein materiale Dimension des musikbiographischen Schreibens klare Aussagen darüber zu, welchem Geschichtsbild und welchem Gelehrtenideal sich der Autor verpflichtet fühlt. Jeder Eintrag in der Ehren-Pforte wird durch den Hinweis ergänzt, woher die gegebenen Informationen stammen: »Ex Ms.«,255 »Ex autogr.«, »Ex libr.«, »Ex oper.«, »Ex collectan.« u. a. Darüber hinaus gibt Mattheson in der Vorrede nicht nur über die Auswahl der Quellen Auskunft, sondern betont auch deren Wertigkeit: »Uebrigens ist in unserm Wercke aus gedruckten Büchern das wenigste genommen, und nur hauptsächlich so viel, als einige Personen betrifft, die sich bloß mit ihren von der Musik handelnden Schrifften diesen255 »Ex Ms.« = aus einer Handschrift entnommen, wobei nicht immer dokumentiert wird, welcher Art diese Handschrift ist, noch deren genaue Quelle; »Ex autogr.« = autobiographische Dokumente, die Mattheson zur Verfügung gestellt wurden und die Mattheson im Artikel als Quelle abdruckt und kommentiert; »Ex libr.« = aus Büchern entnommen; »Ex oper.« = aus (anderen) Büchern oder Werken entnommen; »Ex collectan.« = aus diversen Sammlungen entnommen.
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falls bekannt gemacht haben. Aus eigenhändigen Berichten hergegen, und aus glaubwürdigen Handschrifften rührt der grösseste Beitrag her: und eben darum sind wohl die in unsrer Ehrenpforte enthaltene[n] Beschreibungen desto gültiger.«256 Es sind mithin die handschriftlich-autobiographischen und nachrichtlich-biographischen Quellen, die den Kern der Ehren-Pforte ausmachen sollen, nicht die Kompilation und Überlieferung bereits gedruckter Texte. Seine Ehren-Pforte, die er explizit als veränder- und erweiterbaren Text versteht, ist »Zirkulationsmittel«257 musikkulturellen Wissens und erhebt dabei Anspruch auf moderne (d. h. antiklerikale und antiaristokratische) Kanonisierung. Auch bei Ernst Ludwig Gerber findet sich ein Hinweis auf die Idee, mit dem Lexicon ein »Zirkulationsmittel« aufklärerischen Wissens bereitzustellen. Er fordert jeden »Freund der Geschichte« auf, an diesem weiterzuschreiben, unterstreicht damit die »textuelle Kohärenzstiftung«258 im Gebrauch des Lexicons: Ich habe hier […] nach meinen Kräften die musikalische Litteratur zu bereichern gesucht. Und ich lebe nun der gewissen Hoffnung, von dem gegenwärtigen aufgeklärten musikalischen Publikum, daß mancher schlummernde Freund der Geschichte sich durch das, was er hier findet, erwecken lasse, und ein jeder seines Orts das Seinige dazu beytragen wird, dies Werk in seiner möglichsten Vollkommenheit unsern Nachkommen überliefern zu helfen.259
Dass bei Mattheson die Autobiographie eine zentrale Rolle einnahm, leitet sich im Übrigen direkt aus der Idee von Authentizität ab, die sich eben nicht aus einer dem alten Gelehrtenideal verpflichteten Textautorität speist, sondern aus der Zeitzeugenschaft:260 Mattheson, vom Wahrheitsgehalt der Autobiographien zutiefst überzeugt, hatte im Vorfeld der Entstehung bei zahlreichen Musikern angefragt, um autobiographische Informationen zu erhalten, wenngleich nicht immer mit dem gewünschten Erfolg: »etliche Kunstfürsten« seien mit Einsendung ihrer Nachrichten sehr säumselig gewesen, auch zum Theil noch sind: worüber denn bereits öffters geklaget worden. Ist es, z. E. nicht Schade, 256 Mattheson 1740, S. XI. 257 Koschorke 1999, S. 395. 258 Ebda. 259 Gerber 1790, S. XIII. Gerber ruft dazu auf, entweder in musikalischen Zeitschriften ergänzend zu publizieren oder mit ihm Kontakt aufzunehmen, um Korrekturen und Ergänzungen zusammenzutragen. Vgl. hierzu auch das Resümee seiner Arbeit, das Gerber 1805 in diesem Zusammenhang zog (abgedruckt in Pietschmann/Wald-Fuhrmann [Hg.] 2013). 260 Vgl. hierzu die Bedeutung der Zeitzeugenschaft bei Samuel Johnson und James Boswell, s. Jonas 2009, S. 289f.
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daß von Keiser, von Händel etc. kein umständlicher, eigenhändig- oder ordentlich-verfertigter Aufsatz, so wie von dem preiswürdigen Telemann, mitgetheilt werden kann? Sie sind mir beide wortbrüchig geworden. Der eine ist darüber weggestorben: und der andere hat es auch darauf hingesetzt. Nicht nur dergleichen vornehme musikalische Printzen, sondern mittelmässige Notenhelden und Mixturjunckern sind mir, auf zween oder drey der höflichsten Briefe, die Gewährung, ja wohl gar die Antwort schuldig geblieben.261
Sein Vorgehen mit den vorliegenden, durchaus heterogenen Texten beschrieb Mattheson ebenfalls ausführlich: »Was ich dabey gethan habe ist, unter andern, daß irgend ein Paar tausend undeutscher Wörter und ausheimischer Redensarten ein wenig verständlicher gemacht, und in gehörige grammatikalische Ordnung gebracht worden«.262 Indem Mattheson den Entstehungsprozess des Buches beschreibt und sein methodisches Vorgehen offenlegt, zeigt er sich selbst als ein ›gelehrter Musicus‹, vor allem aber benennt er die Akteure der Musikkultur als ein wissenschaftliches Feld, das erinnerungswürdig und zugleich methodisch zu erforschen würdig sei. Auch Charles Burney verließ sich bei seinen Vorarbeiten für die General History of Music263 nicht auf die offiziellen Hauptbestände musikhistorischen Wissens, sondern sammelte auf seinen Reisen eigene Materialien: Er erfasste Informationen über lokale, regionale und nationale Musikkulturen, trug schriftliche und bildliche Quellen zusammen, notierte Begegnungen, Gespräche, Aufführungen und zeichnete auch biographische Details zu Personen auf, denen er begegnete oder über die er über Zeitzeugen erfuhr. Die Spannweite der musikalischen Ereignisse, die er als potentiell musikhistorisch relevant ansah, ist damit ungemein groß, ebenso die personelle Vielfalt: Menschen unterschiedlichen Standes werden in ihrem jeweiligen Verhältnis zur Musikkultur berücksichtigt, gleich ob sie Musik komponieren, aufführen, fördern, lehren, tradieren etc. Burney hatte sich bereits als zentrale Figur des Londoner Musiklebens etabliert, als er gegen Ende der 1760er Jahre die Idee einer umfassenden Musikgeschichte entwarf, geleitet vom Interesse an einer enzyklopädischen Erfassung und Verschriftlichung von musikbezogenem Wissen. Zur Realisierung dieser Idee beschloss Burney, das Musikleben des europäischen Festlandes aus erster Hand kennenzulernen, und verließ im Juni 1770 England zu einer mehrmonatigen Reise. Nach London zurückgekehrt, veröffentlichte er kurz darauf – und noch bevor er seine zweite Reise antrat – sein Reisetagebuch, The Present State of Music in France and Italy, Or, The Journal of a Tour through those Countries, 261 Mattheson 1740, S. XXIII. Bezeichnend ist dabei, dass Mattheson die Formulierungen von den »musikalischen Printzen«, »Notenhelden« und »Mixturjunckern« in Anspielung auf die Hybris der Mächtigen wählte. 262 Ebda., S. XI. 263 Bd. 1 1776, 2. Aufl. 1789; Bd. 2 1782, 2. Aufl. 1782 [recte 1809]; Bd. 3 und 4 1789.
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undertaken to collect Materials for A General History of Music (1771). Seine zweite Reise führte Burney – wie es der Titel des 1773 veröffentlichten, zweiten Reisetagebuches angibt – »durch Flandern, die Niederlande und am Rhein bis Wien, durch Böhmen, Sachsen, Brandenburg, Hamburg und Holland«.264 Dass Burney diese Reisetagebücher vorab drucken ließ, zeigt deutlich, dass er sie nicht als bloße Materialsammlung ansah, sondern durchaus als eigenständigen Wissenskorpus. Und dass seine Zeitgenossen dies ähnlich beurteilten, lässt sich an den rasch erscheinenden Übersetzungen erkennen: Der erste Band kam bereits 1772 in deutscher Übersetzung heraus, der zweite Band sogar im selben Jahr wie das englische Original (1773).265 Im Vorwort der General History of Music kam Burney auf seine Bewertung der Quellen zurück, die Zeitzeugenschaft als primäre Qualität anführend: »I have never had recourse to conjecture, when facts were to be found. In the historical and biographical parts, I have asserted nothing without vouchers; and I have made the ancients tell their own story as often as was possible, without disputing with them the knowledge of their own history, as many moderns have done«.266 Wie modern die Konzepte von Mattheson und Burney im Vergleich zu anderen Musiklexika der Zeit anmuten, kann mit Blick auf Ernst Ludwig Gerbers Historisch-Biographischem Lexicon der Tonkünstler erkannt werden: Gerber griff 1790 explizit auf das lexikalisch-historisch-biographische Schrifttum der vergangenen 100 Jahre zurück. Die Liste der von ihm zu Rate gezogenen Publikationen, die er in der »Vorerinnerung« alphabethisch aufführt, ist auffallend umfangreich: allein 49 musikbezogene Titel – lexikalische, biographische, historische, sowie Musikalienverzeichnisse, Briefausgaben, Zeitschriften und andere Periodika – und 18 »Werke aus der Gelehrten Geschichte«.267 Wenngleich – wie später noch zu betrachten sein wird – Gerbers Lexicon in einem anderen Punkt »modern« zu nennen ist, spiegelt sich in der Methode der Text-Kompilation nochmal jenes alte Gelehrtenideal der Filiation deutlich wider.
Personenauswahl Was bei Burney bereits anklang: Die Auswahl der biographisch dokumentierten Personen ist Teil jenes Aushandlungsprozesses, was Musikgeschichte sei. Anders formuliert: Die musikhistorische Relevanz einer Person schlägt 264 265 266 267
Burney 1772. Weitere Übersetzungen ins Holländische und Französische. Burney 1776–1789, Bd. 1, Preface, S. XV. Gerber notiert darüber hinaus, dass er »ueberdies noch eine Menge anderer Werke und Brochüren, deren Titel hieher zu setzen, zu weitläftig wäre«, verwendet habe. Gerber 1790, S. [XV]f.
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sich unmittelbar in ihrer biographischen Berücksichtigung nieder. Ein gängiges Auswahl-Kriterium stellt Friedrich Wilhelm Marpurg in seiner 1759 erschienen Kritischen Einleitung in die Geschichte und Lehrsätze der alten und neuen Musik vor: Personen der Vergangenheit und Gegenwart, deren professioneller Beitrag zur Musikkultur klar erkennbar ist (wobei Marpurg von den historischen Musikern »so wenig als möglich […] auszulaßen«268 beabsichtigt, und da die Quellenlage oft schwierig sei, solle auch »das geringste, wenn es auch sonst eben nicht zu intereßant an sich ist, allenfalls mitzunehmen« sein). Bei den gegenwärtigen Musikern gehöre dabei »sowohl der Theoreticus als [auch der] Practicus der Musik in die Historie derselben. Wenn der letzte etwann beßer geiget, oder das Pedal tritt: so hat der erste desto mehr Wißenschaft von den Grundsätzen der Kunst. Es muß sich aber sowohl der Theoreticus als Practicus durch einige Werke öffentlich gezeiget haben.« Dilettanten haben hingegen, so Marpurg keinen Anspruch auf Aufnahme: Nicht jedes »Individuum ohne Unterscheid, das nur ein Rastral führen kann, [kann ich] in meine Geschichte bringen […]«. Und: »Die Nahmen fürstlicher, vornehmer, und gelehrter Liebhaber gereichen der Geschichte der Tonkunst zur Ehre, und zur Zierde. Aber ihre übrigen Lebensumstände, in so weit solche mit der Musik keine Verbindung haben, müßen nicht in einer Historie der Musik gesuchet werden.« Zwei interessante, da gegensätzliche Auswahl-Konzepte vertretende Beispiele sind Matthesons Ehren-Pforte und Ernst Ludwig Gerbers Historisch-Biographisches Lexicon der Tonkünstler: Mattheson kategorisierte die Musikerberufe in seinem Vorbericht zur Ehren-Pforte und nahm dabei eine Hierarchisierung vor, in der der »Capellmeister« an oberster Stelle steht: »Ein Capellmeister ist demnach ein gelehrter Hofbeamter und Componist im höchsten Grad: welcher eines Kaisers, Königs oder grossen Fürstens und Herrn geist- und weltliche Musiken verfertiget, anordnet, regieret und unter seiner Aufsicht vollziehen läßt«.269 Nach dieser (auffallend mit Verben des Herrschens ausgestatteten) Kategorie geht Mattheson in drei Stufen abwärts bis zum Musikanten: Ein »Cantor hergegen ist ein musikgelehrter Kirchen- und Schulbedienter […] ein Organist ist ein kunstreicher Kirchen-Diener und starcker Clavierspieler, der die Composition verstehet […]. Sängerinnen endlich, Sänger und Spielleute […] sind geschickte, geübte, ruhmwürdige Musikanten, die das vorgeschriebene so gleich, mit guter Manier, absingen«.270 Obgleich Mattheson alle genannten Kategorien als musikhistorisch relevant bezeichnet (und 268 Marpurg 1759, Vorbericht, ohne Paginierung. Dieses und die folgenden Zitate sind ebda. entnommen. 269 Mattheson 1740, S. XXXII. 270 Ebda., S. XXXIII.
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sich auch explizit gegen eine Degradierung des »Musikanten« ausspricht), liegt hier doch eine deutliche Hierarchisierung vor: Die Herrscherattribute des Capellmeisters, vor allem aber seine Klassifizierung als »Componist im höchsten Grad« stellen diesen an oberste Stelle. Mattheson skizzierte hier eine theoretisch-historiographische Hierarchie, keine, die sich in den aktuellen Realitäten der Musikkultur des 18. Jahrhunderts widergespiegelt hätte. Gleichwohl prägte er damit die Vorstellungen vom Künstlertum der nachfolgenden Generationen, die ebendieser Hierarchie nachzustreben versuchten, bzw. die Vorstellungen der Musikgeschichtsschreibung, die dieses Modell dazu nutzten, die Dominanz des Komponisten in eine Heroisierung umzumünzen und zugleich andere Akteure der Musikkultur als weniger oder gar nicht musikgeschichtsrelevant einzustufen. Anders Gerbers 50 Jahre später erschienenes Lexicon: Es umfasst biographische Artikel über eine große Auswahl von Musikerinnen und Musikern (hierbei mag Burneys Auswahlprinzip Pate gestanden haben), wobei »die möglichste Kürze« oberste Prämisse gewesen sei: »Ich machte mir also überhaupt, außer bey Genies erster Größe, zur Regel: nichts weiter als Vornamen, Geburtsort, Jahr und Tag, Titel und Charakter, und insbesondere Lehrmeister und Schule der Bildung, Sterbejahr und die vorzüglichsten Werke anzugeben.«271 Über die Personenauswahl legt Gerber in seiner »Vorerinnerung« ausführlich Rechenschaft ab. 272 Er sei bei der Auswahl von Komponisten »desto vorsichtiger« vorgegangen, »ehe ich einen davon als unwürdig verwarf«,273 und habe auch Sängerinnen und Sänger aufgenommen: »Die Sänger und Sängerinnen waren gleich anfangs mit in meinem Plane. Die Damen sollten insbesondere das Buch zieren. Wie manche schöne Arie haben wir auch nicht blos einer schönen Sängerin zu danken! Und wie mancher große Komponist ist seine Größe einer schönen Sängerin oder einem vortreflichen Sänger schuldig!«274 Des Weiteren »gehörten, so wie im Walther, außer mu271 Gerber 1790, S. VIIIf. 272 Gerber bezieht sich hier vor allem auf Walther, dessen Lexikon ihm generell als wichtiges Vorbild gedient habe. Walther zu ergänzen, fortzuführen und zu aktualisieren, sei der Hauptzweck seines Lexikons. 273 Gerber 1790, S. VII. 274 Ebda., S. VII. Auch Burney hatte in seinen Reisetagebüchern ein ähnliches Prinzip gewählt, den Radius des betrachteten Personenkreises beträchtlich erweitert, und dabei konsequent auf die Distinktion zwischen Musikgelehrtem und Musikanten verzichtet. Er hatte auch musikkulturelle Bereiche in den Blick genommen, die Zeitgenossen aus der Musikgeschichtsschreibung auszuschließen bemüht waren, und die noch die moderne Musikgeschichtsschreibung an Burneys Reisetagebüchern zu irritieren vermochte: »Zu viele Kirchenbesuche und Orgelbeschreibungen, zu viele Aufzählungen von Sängerinnen und Sängern!« Eberhardt Klemm im Vorwort des Reprints der Reisetagebücher (1980), S. 5.
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sikalischen Schriftstellern, Erfindern und Verbesserern musikalischer Instrumente oder Maschinen, geschickte Orgel- und Instrumentenmachern, auch Dilettanten mit zu meinem Plane, welche der Kunst durch ihre Kenntnisse Ehre gemacht haben«.275 Was gegenwärtig unter dem Stichwort des »musikkulturellen Handelns«276 verhandelt und in seinen Auswirkungen auf die Auswahl an musikhistorisch relevanten Personen diskutiert wird: Hier hat es einen frühen Referenzpunkt.
Mehr Silhouetten denn Modell. Vielfalt biographischen Schreibens Neben Quellenfragen und Personenauswahl – wenngleich nicht gänzlich davon losgelöst – rückte die Frage, wie Musiker und Musikerinnen biographisch festgehalten werden, in den Vordergrund. Deutlich wird hierbei, dass insbesondere die »Entritualisierung des Schriftwissens«277 zu einer Vielfalt an möglichen biographischen Konzepten geführt hat, von einem (musik)biographischen »Standard« kann auch in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts noch keine Rede sein. Zugleich aber können die untersuchten Beispiele als Versuche betrachtet werden, einen ebensolchen Standard auszuformulieren. Im jeweiligen Einklang mit der eigenen Vorstellung von Musikgeschichte entwickeln die Autoren ein je darauf abgestimmtes biographisches Schreiben. Dazu einige Beispiele: Ernst Ludwig Gerber war die Vielfalt (und Menge) der behandelten Personen besonders wichtig, stattdessen verzichtete er auf Ausführlichkeit der einzelnen lexikalischen Einträge, damit auch auf deren rhetorische Ausschmückung. Er beschränkte sich auf ihm wesentliche Aspekte von Lebensbeschreibung, wobei ihm, wie Gerber in der Vorrede ausführt, diese Beschränkung vor allem unter stilistischen Gesichtspunkten nicht leicht gefallen sei: Auch muß ich befürchten, daß […] ich durch dies Zusammenziehen der Materien, die vollständigen Biographien, welche sich schon hin und wieder in musikalischen Werken befinden, aller ihrer Schönheit im Ausdrucke und in der Schreibart beraubet habe. Am meisten besorge ich dies in Ansehung derjenigen, welche uns Herr 275 Gerber 1790, S. VIII. Vgl. dazu auch den stärker kanonisierenden Ansatz, den Gerber später, in seinem um 1805 verfassten, unpublizierten, aus seinem Nachlass erst 2013 veröffentlichten Aufsatz »Ueber die Mittel das Andenken an verdiente Tonkünstler auch bey der Nachwelt zu sichern« (in: Pietschmann/Wald-Fuhrmann [Hg.] 2013, S. 28–44) vertrat. Eine Auswertung seiner Überlegungen steht unter diesem Gesichtspunkt noch aus. 276 Vgl. dazu Rode-Breymann 2007 und Kreutziger-Herr 2010. 277 Koschorke 1999, S. 395.
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Kapellmeister Hiller in seinen Lebensbeschreibungen berühmter Tonkünstler so meisterhaft gegeben hat.278
Indem Gerber alle in das Lexicon aufgenommenen Personen in systematischem Aufbau und stilistischer Knappheit aufführt, ist in seinem Lexicon erstmals ein Gerüst gegeben, bei dem man von einem biographischen Modell einer Musiker-Berufsbiographie sprechen kann. Anders als bei Mattheson, bei dem das Anekdoten-Gerüst des Renaissance-Künstlers Pate stand,279 ist es hier eine Vorstellung vom professionellen Musiker bzw. einer professionellen Musikerin, die das biographische Modell lenkt. Gerber geht dabei zunächst von der Quellenlage zu den einzelnen Musikern und Musikerinnen aus. Auffallend ist außerdem, dass ihm die Vielfalt des musikbezogenenen Handelns wichtig ist – vom Instrumentenbau und Libretto-Dichtung über Virtuosentum und das Führen eines Musiksalons bis hin zu Komposition und Musikschriftstellertum. Auch die charakterliche Disposition findet teilweise Erwähnung, von Fall zu Fall auch persönliche Einschätzungen. Als Basisinformationen aber gelten Gerber: Herkunft, Ausbildung, Beruf(e) und musikbezogene Tätigkeiten, berufliche Lebensstationen, Orte/Reisen, ggf. (Einzel-) Kompositionen bzw. vorwiegend komponierte Gattungen, Repertoire sowie eine Würdigung des künstlerischen Tuns. Am Beispiel des Ehepaars Franz Xaver und Josepha Duschek lässt sich dies knapp aufzeigen: 280 »Duscheck [sic] (Franz) einer der itzt lebenden größten Klavieristen und Komponisten für sein Instrument, geb. zu Chotiedorak im Königsgräzer Kreise in Böhmen 1736 [recte: 1731],
Name, Beruf/Tätigkeit, Herkunft
lebt schon seit mehreren Jahren zu Prag in großem Rufe als Musikprofessor und hat als solcher nicht allein daselbst viele würdige Schüler gezogen, sondern er giebt auch wöchentlich Conzert in seinem Hause, wozu alle fremde Virtuosen eingeladen werden.
Beruf, berufliche Lebenssituation, musikbezogene Tätigkeiten
Im J. 1786 that er eine Reise nach Dresden mit seiner Gattin und beyde wurden daselbst mit Ehre und Belohnungen überhäuft.
Reisen und Würdigung
Nur wenige Klaviersonaten und 1 Concert von seiner Komposition ist gedruckt, ob er gleich viele Conzerte, Quatros, Trios und Solos, worunter vorzüglich seine Sonaten für 4 Hände gerühmet werden, verfertiget hat. Auch hat er viele Sinfonien mit und ohne oblig. Instrumente gesetzt.
Kompositionen
Man rühmt ausser seinem Künstlertalenten, zugleich seinen biedern würdigen Charakter, ohne Stolz und Eigenliebe.
Charakter
C. Cram. Mag. Jahrg. I. 997«279
Quellenangabe
278 Gerber 1790, S. XII. Vgl. zu Hillers Autobiographie: Viehöver 2011. 279 Vgl. dazu das Kapitel Johann Matthesons Lully-Biographie als »deutliches Modell«. 280 Gerber 1790, Sp. 365f.
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»Duschek (Madam. Josepha) gewesene Mdlle Hambacher geb. 1756, Name, Beruf/Tätigkeit, des vorhergehenden Gattin zu Prag; Herkunft glänzt nicht allein daselbst als eine erfahrne Sängerin und durch ihre Beruf, Würdigung schöne Stimme und ihren angenehmen und richtigen Vortrag, sowohl der Bravourarien als des deutsch. und italienisch. Rezitativs,
Repertoire
sondern sie zeichnet sich auch ausser diesen vor vielen ihres Ge- musikbezogene Tätigschlechts, durch ihre Talente und Einsichten in der Komposition für keiten Gesang aus, und spielt das Klavier meisterhaft.«280 281
Burney hingegen – weder in den Reisetagebüchern noch in der General History of Music den Zwängen lexikalischer Knappheit unterworfen – orientiert sich in seinen biographischen Beschreibungen an einem am aufklärerischen Ideal orientierten Lebenslaufmodell, das zugleich Anknüpfungspunkte für eine Musikgeschichte als »Thatenbühne handelnde[r] Menschen« gibt. In seinen Reisetagebüchern finden sich vielfältige Informationen über das kulturelle und gesellschaftliche Geschehen allgemein, aber auch genaue Beobachtungen des Musiklebens und der in ihm agierenden Menschen, seiner Vorstellung entsprechend, dass allgemein historische, politische und im weitesten Sinne kulturhistorische Begebenheiten das ›Relief‹ darstellten, vor dem eine Musikgeschichte betrachtet werden könne. Am Beispiel von Marianne Martines wird im Folgenden aufzuzeigen sein, auf welche Weise Burney Informationen erhielt, welche er als erinnerungswürdig erachtete und daher in seinem Reisetagebuch notierte282 und welche Perspektiven er dabei einnahm. Die letzte Station seiner zweiten Reise war Wien, das »so weit von England entfernt« liege und von Engländern »so selten […] besucht« würde, dass »ich ein paar Worte von Wien an und für sich selbst sagen und hernach zu meinem musikalischen Tagebuche übergehen«283 will. Bereits die »paar Worte« über Wien aber lassen Burneys Hauptanliegen nicht außer Acht, gibt er doch keinen detaillierten allgemeinen Bericht über die Stadt, sondern fokussiert bereits hier auf das, was ihm für die Wiener Musikkultur wichtig erscheint: Theater, Kirchen, Wohnhäuser mit ihren Salons etc. Der Bericht bietet auf diese Weise einen guten Hintergrund für die dann geschilderten Personen, denen Burney begegnete, wobei auch detailliert geschildert wird, auf welche Weise welche 281 Ebda., Sp. 366. 282 Die Berichte über Martines fallen in den Reisetagebüchern umfangreicher aus, in seiner General History of Music (Bd. 4) übernahm Burney gleichwohl zwei Hinweise zu Martines: zum einen im Rahmen eines ausführlichen Briefes von Metastasio, den Burney abdruckt (Burney 1789, Bd. 4, S. 569), zum anderen der Hinweis, dass »Mademoiselle Martinetz […] justly ranked amoung dilettanti of the first class at Vienna« (Burney, 1789, Bd. 4, S. 605). 283 Burney 1772, S. 261.
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Begegnungen zustande kamen. Dem Genre eines Tagebuchs entsprechend sind die Berichte ebenso situativ wie subjektiv gehalten, Burney weist immer wieder explizit auf diesen Umstand hin, so etwa im Falle der Begegnungen mit Metastasio, Hasse und Gluck: »da ich so glücklich gewesen bin, während meines Aufenthalts in dieser Stadt [Wien] dieser berühmten Personen Umgang häufig zu genießen, so wird mich das geneigt machen, in Ansehung ihrer sehr umständlich zu sein. Der Leser wird es mir hoffentlich verzeihen wegen ihrer außerordentlichen Verdienste und wegen der enthusiastischen Bewundrung, ich muß es bekennen, womit meine Seele gegen sie erfüllt ist.«284 Zu den zahlreichen Begegnungen in Wien gehörte auch diejenige mit Marianne Martines,285 die Burney im Hause Metastasios kennenlernte. Ihre erste Erwähnung inszeniert Burney dabei wie einen Theaterauftritt (sein Begriff der »Thatenbühne« scheint hier besonders greifbar), wobei er zunächst einen Rahmen entwirft: »Sonntagsmorgen, den 6ten. Als Signor Taruffi und ich bei Metastasios Morgenversammlung ankamen, fanden wir ungefähr sechs bis acht Personen vor […]. Der große Dichter empfing mich sehr höflich und ließ mich auf einem Sofa neben sich niedersetzen.« Daraufhin entspinnt sich das Gespräch über einen Dichter, das in einer dramaturgisch wirkungsvollen Sentenz Metastasios mündet: »Übung macht bei dem Menschen alles, sogar seine Tugenden.«286 Damit ist gleichsam der Vorhang gehoben für den Auftritt der knapp 30-jährigen Musikerin: »Hierauf ward das Gespräch allgemein und vermischt, bis zur Ankunft eines jungen Frauenzimmers, welches von der ganzen Gesellschaft mit großer Ehrerbietung empfangen wurde. Sie war sehr gut gekleidet und machte einen hübschen Aufzug. Es war Mademoiselle Martinez«. Die folgende Passage wird hier gekürzt und in der rechten Spalte in ihrer biographischen und musikhistorischen Topik kommentierend wiedergegeben: »[…] eine Schwester des Herrn Martinez, Unterbibliothekar an der Herkunft und AusbilKaiserlichen Bibliothek, dessen Vater ein vieljähriger Freund des Me- dung/Erziehung tastasio gewesen. Sie war in dem Hause geboren, in dem er itzt wohnt und unter seinen Augen erzogen. […] Nach den großen Lobsprüchen, welche der Abbate Taruffi den Talen- Ruhm, Anerkennung ten dieses Frauenzimmers beilegte, war ich sehr neugierig, mit ihr zu durch Zeitgenossen sprechen und sie zu hören; und Metastasio war so verbindlich, ihr vorzuschlagen, sie möchte sich gute Umgangsformen, zum Flügel setzen, welches sie denn auch augenblicklich tat, ohne sich Charakter und künstlelange nötigen zu lassen oder mit falscher Bescheidenheit zu prahlen. risches Selbstverständnis
284 Ebda., S. 269. 285 Vgl. zu Martines Godt 1995, Godt 1998, Godt/Rice 2010. 286 Burney 1772, S. 310. Die folgenden Zitate, einschließlich der Texttabelle, ebda.
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Sie übertraf wirklich noch die Erwartung, die man mir von ihr beigebracht hatte. Sie sang zwo Arien von ihrer eignen Komposition über Worte von Metastasio, wozu sie sich selbst auf dem Flügel akkompagnierte, und zwar auf eine wohlverstandne, meisterhafte Manier; und aus der Art, wie sie die Ritornelle spielte, konnte ich urteilen, daß sie sehr fertige Finger hätte.
musikalischer Vortrag einer eigenen Komposition (Gesang/Klavier)
Diese Arien waren im modernen Stile sehr schön gesetzt, indessen wa- Kritik der Komposition ren die Gedanken weder gemein noch unnatürlich fremd und neu. Die Worte waren gut ausgedruckt, die Melodie war ungekünstelt und dem Sänger viel Raum zu Expression und Verschönerung gelassen; ihre eigne Stimme aber und Art zu singen flößte Vergnügen und Be- ausführliche Kritik des wundrung ein. […] Wenn ich sagte, ihre Stimme hätte einen natür- Vortrags lich schönen und lieblichen Ton, sie hätte einen schönen Triller, eine vollkommene reine Intonation, eine Leichtigkeit, die schnellesten und schweresten Passagen herauszubringen, und einen rührenden Vortrag, so sagte ich nichts weiter, als was ich schon, und zwar mit Wahrheit, von andern gesagt habe; hier aber fehlt mir’s an Worten […]. Nach diesen beiden Arien spielte sie ein schweres Handstück auf dem musikalischer Vortrag Flügel von ihrer eignen Komposition mit vieler Fertigkeit und sehr einer eigenen Komporein. sition (Klavier), kurze Kritik desselben Sie hat ein Miserere von vier Stimmen und verschiedene Psalmen mit Nennung weitere komacht Stimmen gesetzt, und sie versteht den Kontrapunkt sehr gründlich. positorischer Arbeiten Die Gesellschaft brach früher auf, als ich wünschte, weil es Metastasios Zeit war, da er zur Messe gehen mußte. Bei diesem Besuche entdeckte ich unter den andern Vollkommenheiten der Mademoiselle Martinez auch diese, daß sie Englisch lieset und schreibt.[287] Sie bat mich, ich möchte wiederkommen, wie der göttliche Dichter auch tat, so daß ich mich nunmehr als einen Amico della Casa betrachtete.«
Schilderung der höflichen Umgangsformen und der Sprachkompetenz (englisch)
287
Bereits die Schilderung dieser ersten Begegnung288 umfasst damit diejenigen Elemente, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts einen biographiewürdigen Musiker ausmachen: diverse musikpraktische und breitgefächerte theoretische Fähigkeiten, Ruhm und Anerkennung durch die Zeitgenossen sowie moralische Integrität und guter Charakter. Burney ergänzt diese durch Elemente einer allgemeinen biographischen Topik (Herkunft und Ausbildung) sowie Elemente einer Gelehrtenbiographie (weiter Bildungshorizont). Alle Elemente zielen dabei darauf ab, die biographierte Person als Akteurin auf der »Thatenbühne« des Wiener Musiklebens beschreiben zu können. Burney, selbst meinungsbildender Gelehrter seiner Zeit, konnte sich im Übrigen bei der nicht selbstverständlichen Ausweitung des Musikgelehrten287 In ihrer autobiographischen Skizze erwähnt Martines ihre Sprachkenntnisse: »oltre le mie naturali lingue tedesca, et italiana; ó procurato di rendermi familiari la francese, e l’inglese«, zit. nach Brown 1986, S. 69. 288 Die beiden kürzeren Schilderungen der folgenden Begegnungen bekräftigen und differenzieren diese Beobachtung, vgl. Burney 1772, S. 325 und S. 333f.
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Begriffes auf eine Frau auf eine renommierte Institution stützen: 1773 wurde Marianne Martines in die Accademia Filarmonica di Bologna aufgenommen, eine der höchsten musikalischen Auszeichnungen der Zeit und damit auch ein Hinweis auf die wahrgenommene historische Relevanz. Marpurgs Kritische Einleitung in die Geschichte und Lehrsätze der alten und neuen Musik widmet der Frage, wie Musiker biographisch darzustellen und welche Personen(beschreibung) für die Musikgeschichte relevant seien, einen Großteil des Vorberichts. Zur Frage, welche lebensgeschichtlichen Momente für das Verfassen einer Musikerbiographie relevant seien, führt Marpurg aus: Die Begebenheiten deßelben müßen mit der Musik eine Verbindung haben, und es kann uns übrigens gleich viel seyn, ob dieser oder jener eine Parucke, oder sein eignes Haar getragen, ob er sich zwey- oder dreymahl verheyrathet, ob er am kalten oder hitzigen Fieber gestorben, und was dergleichen Sachen mehr sind. Wenn dergleichen Begebenheiten erzählet werden sollen, so muß allezeit ein andrer etwas intereßanter, oder anecdotischer Umstand, daß ich so sage, damit verknüpfet seyn.289
Dass sich Marpurg gerade gegen das weitschweifige, insbesondere auch das anekdotische, der religiösen Heiligenverehrung nicht unähnliche biographische Schreiben wandte, wird nicht zuletzt in seiner Satire Legende einiger Musikheiligen. Ein Nachtrag zu den musikalischen Almanachen und Taschenbüchern jetziger Zeit überdeutlich. Marpurg veröffentlichte sie 1786 unter dem Pseudonym Simeon Metaphrastes d. J.290 in einem »Verlag«, dessen Name (Peter Hammer) auf eine Figur aus dem 1777 erschienenen Drama Der Buchhändler Paul Manuz und der Buchdrucker Peter Hammer verweist. Dieser Buchdrucker aber ist ein geschäftstüchtiger, skrupelloser Verbreiter von Klatsch, Skandal und eilig zusammengeschusterter Kolportageliteratur. Anstoß zu Marpurgs »Sammlung musikalischer Anekdoten«291 gaben, so der Autor in der Vorrede, einerseits die beliebten »Almanache […], worinnen […] die Tage des Jahres mit Nahmen von Musikern bezeichnet sind,[292] aber von manchem, wenigstens in gewissen Gegenden, nichts als der bloße Nahme zur Zeit bekannt geworden«, andererseits eine nicht näher genannte literarisch-musikalische Gesellschaft, der angeblich sowohl Marpurg als auch der »Verleger« angehörte, und die ihn bei der 289 Marpurg 1759, Vorbericht o.S. 290 Auch der angegebene »Verlag« und »Verleger« sind Decknamen: der als »Verleger« bezeichnete »Peter Hammer« ist die deutsche Übersetzung von »Pierre Marteau«, jenem Pseudonym, das für diverse verlegerische Aktivitäten stand, die sich vor der katholisch-französischen Zensur zu schützen versuchten. 291 Metaphrastes 1786, Vorrede, ohne Paginierung. Dieses und die folgenden Zitate sind ebda. entnommen. 292 Hier spielt Marpurg etwa auf Forkels Musikalischen Almanach für Deutschland (mit Unterbrechungen erschienen zwischen 1781 und 1788) an.
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Veröffentlichung maßgeblich unterstützt habe. Aus der Vorrede wird darüber hinaus deutlich, welche Intention hinter der Anekdoten-Sammlung steht: eine deutliche Kritik an der katholischen Kirche, hier überzeichnend-ironisch293 gespiegelt in der Praxis der Heiligenverehrung. Ein recht schematischer, und aus dieser Anlage sein komisches Potential beziehender Vergleich zwischen dem »gewöhnlichen Heiligen« und einem »Musikheiligen« verdeutlicht dies: Ein gewöhnlicher Heiliger führet ein schmut- Ein Musikheiliger ist ein reinlicher Mann; beziges Leben; vernachläßigt Bart und Haare, fleissigt sich einer galanten Aufführung; läßet kemmet sich allenfalls nur mit den Fingern, sich nach der neuesten Mode frisiren etc. und ist auf dem Kopfe und Leibe mit unangenehmen Kostgängern geplaget; riechet nach Meerrettig und Bollen;
riechet nach Eau de Luce
geht baarfuß, allenfalls mit gar schlechten aus alten Schuhen gemachten Pantoffeln, in zerlumpter Kleidung einher, träget einen Strick um den Leib, einen hölzernen Rosenkranz um den Hals, und das Leben der eilftausend Jungern in der Tasche;
kleidet sich wie ein Hofjunker, führet ein paar göldne Tabatieren en Compgnie, träget zwey Uhren, hat kostbare Ringe, und eine gelehrte Broschüre in der Tasche;
bringet die Sommernächte unterm freyen schläft gerne in einem wohlgemachten Bette, Himmel zu, und schläft des Winters in einem wie andere Menschenkinder; Stalle; […] sammlet die auf einen Müllhaufen geworfnen weiß die Citronen und Pomeranzen zu nutzen, Citronen- und Pomeranzenschaalen; […] ehe die Schaalen weggeworfen werden; […] will für einen Feind der Weiber angesehen macht kein Geheimniß daraus, das schöne Geseyn; schlecht anzubeten; machet alle seine Reisen und Wallfahten zu fähret allezeit mit Extrapost von einer ResiFuß, von einem Dorfe zum andern; […] denz zur andern; […] glaubet Nixen, Feyen, Kobolde, Alpen, Wald- glaubet von allem diesen nichts; männer, Gespenster, Wehrwölfe etc. redet von nichts als Buße und Bekehrung;
spricht von Comödien, Opern, Redouten, Concerten, Piqueniques, Spatzierreisen, angenehmen Gärten etc.
polemisiert gerne und will alle Welt, bis auf schwanket öfters ein wenig in seinem Glaudie Fische und Frösche, zu seinem Glauben benssystem; […] bekehren; […] verkleinert öfters die moralischen Handlungen läßet die Leute leben wie sie wollen, und tadelt anderer Menschen nichts weiter als die Composition, oder Execution eines andern Artisten; ist im Stande, zur Behauptung seiner Meinun- danket für diese Ehre; gen, sich spießen und braten zu laßen; thut erst nach seinem Tode Wunder;
thut Wunder in seiner Kunst währendem Leben;
293 Gervink bezeichnet sie als in »teilweise amüsanter Form gehalten«, was mir in Anbetracht der Vorrede zu schwach erscheint, vgl. Gervink 1995, S. 49.
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seine Lumpen werden zu Reliquien zerschnit- die Reliquien seines Geistes werden den Muten, nebst den Gliedern seines verstümmelten sen gewidmet, gesungen und gespielet; […] Körpers an Klöster verschenket, in kostbaren Kasten aufbewahret, und manchesmal in Proceßion herumgeführet; […]
Die Kritik an der katholischen Praxis der Heiligenverehrung ist unverkennbar, zugleich aber auch – und hier knüpft Marpurg an die vor allem um die Jahrhundertmitte heftig geführte Debatte um die Rolle des Musikers, seine moralische Integrität und seine Biographiewürdigkeit an – eine Überzeichnung des »Musikheiligen«: Die Formulierung »[…] läßet die Leute leben wie sie wollen, und tadelt nichts weiter als die Composition, oder Execution eines andern Artisten […]« spielt auf den Neid zwischen Musikern an, den bereits Printz erwähnt hatte (»Meines Erachtens thäten die Herrn Musicanten besser, wenn sie lobeten, was lobwürdig ist, und doch dabey andere, die nicht eben so kunstreich, als wie sie, unverachtet liessen. […] Ich halte gänzlich dafür, daß die Musicanten selbst durch ihr neidisches Tadeln anderer Musicanten nicht geringe Ursache geben, daß die gantze Music und alle Musicanten insgemein geringschätzig geachtet werden«294) und den noch Scheibe in seiner »Beschaffenheit einiger Tonkünstler« explizit als Charakterschwäche nennt: »Nur einige Vorurtheile, die aus einer gewissen Eigenliebe entstehen, welche mit dem Neide etwas verbunden ist, verhindern ihn, der Sache ungezwungen zu folgen.«295 Marpurg war zum Zeitpunkt des Erscheinens der Legende einiger Musikheiligen bereits 68-jährig und hatte mit seinem musikkritischen und -historischen Schreiben gleichsam abgeschlossen. Seit den 1750er Jahren aber hatte er sich selbst mit musikbiographischem Schreiben auseinandergesetzt, hatte in seinen Historisch-kritischen Beyträgen kurze Biographien über Musiker verfasst und war dann vor allem 1759 in seiner Kritischen Einleitung in die Geschichte und Lehrsätze der alten und neuen Musik an die Öffentlichkeit getreten. Wie ist es also zu verstehen, dass er in der Vorrede zur Legende das Verfassen von biographischen Texten selbst aufs Korn nimmt? Offenbar geht es ihm nicht um das biographisch-musikhistorische Schreiben an sich, an dem er selbst ja partizipiert hatte, sondern um das Wie: Hier kritisiert er mit beißender Ironie ein idealisierendes, unkritisches Schreiben und einen dadurch entstehenden Künstlertypus, den er als Parvenu decouvriert: Nun schließe man, bey dem vorhin dargelegten Unterschied zwischen einem gewöhnlichen Kalender- und einem Musikheiligen, vom größern aufs kleinere. Wenn die Legende der erstern Sorte von Heiligen mit gewissen Erzählungen untermi294 Printz 1690/1964, S. 215. 295 Scheibe 1745/1970, S. 57. Wieder ist hier von einem anonymisierten Musiker die Rede.
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schet ist, die ob sie gleich von geweihten Händen ehrwürdig gemachet worden, dennoch gewissen Lesern seltsam vorkommen werden, soll man da Bedenken tragen, in dem Leben der Musikheiligen Sachen zuzulaßen, die, wo nicht unterrichtend, doch allezeit belustigend sind, und wenigstens zur Characterisirung dieses oder jenen merkwürdigen Individui gehören? Hat der Legendenschreiber sich außerdem bemühet, das Factum auf eine am wenigsten anstößige Art vorzutragen, da wo solches möglich gewesen: so deucht mir, daß man ihn so wenig als einen Casuisten oder Mediciner bey Beschreibung gewisser Fälle, des Lasters des verletzten Wohlstandes beschuldigen könne. Ein gewisser Dichter sagt: Dem Weisen, kann er nur den Ausdruck klüglich wählen, Stehts frey, das närrsche Thun der Menschen zu erzählen. Ich habe, ohne auf die Vorrechte eines Weisen Anspruch zu machen, bey Zusammentragung der gegenwärtigen Denkwürdigkeiten eben so gedacht, und erwarte mit aller Gelassenheit, was die Herren Journalisten, bey näherer Beleuchtung derselben denken werden.296
Es ist mithin die Generalabrechnung eines kritischen Musikhistorikers mit jenen Schreibenden, die in den Heiligenviten eine passende Form für Musikerbiographien vorzufinden meinen, mit jenen Musikern, die durch ihre Selbstinszenierung wesentlich dazu beitragen, und vor allem mit jenen Lesenden, die diese Form des Musikschrifttums goutieren.297
296 Metaphrastes 1786, Vorrede ohne Paginierung. 297 Als Schlusspointe fordert Marpurg diejenigen seiner Leser, die an einer Fortsetzung solcher Sammlungen interessiert sind, auf, weitere Anekdoten einzusenden. Dazu wird eine genaue Adresse genannt und offeriert, das »wer ein halbes Dutzend Anekdoten liefert, […] ein Exemplar auf Schreibpapier« gratis bekommt. Voraussetzung für die gelieferten Anekdoten allerdings sei – und hier erreicht die Ironie Marpurgs ihren Höhepunkt – deren Wahrheitsgehalt: »Annoch wird von uns voraus gesetzt, daß die Herren Contribuenten für die Wahrheit ihrer Anekdoten stehen, weil wir durch die Wahrheit der Sachen, unserer Legende einen unterscheidenden Character geben, und sie nicht den Vorwürfen eines musikalischen Beßarion, oder den Expurgationen eines musikalischen Mabillon, Papebroch, de Launay etc. preiß geben wollen.« Ebda.
4. Vom Lexikalischen zum Monographischen und eine nicht-geschriebene Biographie
So unterschiedlich sich Mattheson, Scheibe, Gerber, Marpurg und andere zu Fragen der Biographik und zu deren Relation zur Musikgeschichte stellen, allen ist eine Auseinandersetzung mit Biographik im Zusammenhang mit einer genuin musikhistorischen Idee eigen. Noch bis ins letzte Drittel des 18. Jahrhunderts ist im deutschsprachigen Raum keine monographische Musiker-Biographie auszumachen, die eine von der Idee einer Musikgeschichte emanzipierte Biographiewürdigkeit eines Musikers oder einer Musikerin dokumentieren würde. Erst mit Johann Friedrich Reichardts George Friedrich Händel’s Jugend erschien 1785 erstmals eine deutschsprachige monographische Biographie über einen Komponisten. Ist damit im engeren Sinne Reichardts Händel-Biographie die Geburtsstunde der musikalischen Biographik in Deutschland? Bezeichnenderweise hat sich diese Datierung nicht durchsetzen können. Bereits Friedrich Chrysander gab mit dem Hinweis auf John Mainwaring eine andere Einschätzung (»wirklich ist Mainwaring’s Büchlein die erste Biographie irgend eines Tonkünstlers«298) und prägte damit lange das Denken über die Geschichte der Musiker-Biographie: Mainwaring gilt heute mit seinen 1760 erschienenen, bereits ein Jahr später von Johann Mattheson in deutscher Übersetzung publizierten Memoirs of the Life of the Late George Frederic Handel als Begründer der Musiker-Biographik, zumal Mattheson seiner Übersetzung dem Vorwort folgenden Hinweis beigab: Kein blosser Musicus practicus exxlesiastico-dramaticus, als Kapellmeister im hohen, und Organist im höchsten Grad, der weder Sänger noch Acteur, am wenigsten aber ein Meßkünstler gewesen, hat es jemals in der Welt, vor Händel, dahin gebracht, daß ohne sein Zuthun, ein besondres eigenes Buch ansehnlicher Auflage, von seinem Leben geschrieben, mit sehr lehrreicher Beurtheilung versehen, und noch dazu, durch einen eben nicht gemeinen Kunstverwandten, aus einer Sprache in die andre übersetzet worden wäre.299
Und Mattheson schloss mit einem Appell, der zur Nachahmung aufforderte: »Wettlauffende Nachfolger! lasset euch diese antreibende Sporne nicht wehe thun.«300 298 Chrysander 1858, Bd. 1, S. VI. 299 Mainwaring/Übersetzung von Mattheson 1761, Vorrede o. S. Zu Matthesons Übersetzung der Händel-Biographie von Mainwaring vgl. auch Wald 2010a. Zu Mattheson als Händel-Biograph vgl. auch Mann 1983. 300 Mainwaring/Übersetzung von Mattheson 1761, Vorrede o. S.
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Es scheint kein Zufall, dass der Impuls, über einen Musiker eine monographische Biographie zu verfassen, von England ausging. Hierin spiegelt sich die in England anders, vor allem zeitiger verlaufende Geschichte der allgemeinen Biographik wider mit Samuel Johnson und James Boswell als wichtigsten Biographen und »Väter[n] der modernen Biographik«.301 Johnson war auch als Biographie-Theoretiker in Erscheinung getreten (1750 und 1759), hatte dabei u. a. die Biographiewürdigkeit grundlegend erweitert: »aufgrund der Komplexität eines individuellen Lebens« sei, so fasst Michael Jonas Johnsons Ansatz zusammen, »im Grunde jeder Mensch biographiewürdig«.302 Damit war nicht zuletzt auch die Türe für die Biographiewürdigkeit von Musikern einen Spalt weit geöffnet. Darüber hinaus spielte in England auch eine weiter angelegte musikbezogene Erinnerungskultur eine wichtige Rolle: Seit der Gedächtnisfeier anlässlich von Händels 100. Geburtstag fanden regelmäßig und die Oratorienpflege maßgeblich beeinflussende ähnliche Veranstaltungen statt, die in ihrem Monumental-Charakter einzigartig waren.303 Hatte sich dieser aus England stammende Impuls, über die Erinnerungskultur und insbesondere über das Biographische Einfluss auf Musikgeschichtsschreibung zu nehmen, auf Leopold Mozarts Absicht ausgewirkt, »das wunderbare Genie meines Sohnes [zu] beschreiben; dessen unbegreiflich schnellen Fortgang in dem ganzen Umfang der musikalischen Wissenschaft von dem fünften bis in das dreyzehende Jahre seines Alters umständlich [zu] erzählen«?304 Als möglicher Mittelsmann – Johnson und Boswell erwähnt Leopold Mozart in den Briefen aus London nicht, so dass davon ausgegangen werden muss, dass sie sich persönlich nicht begegnet sind – käme Charles Burney in Frage, der die Familie Mozart kennenlernte und dessen Reisetagebücher von Leopold Mozart in seinen Briefen mehrfach erwähnt werden. Die Absicht, über seinen Sohn eine Biographie zu schreiben, hielt Leopold Mozart zweimal schriftlich fest, zunächst 1767 in seinem Brief vom 301 Jonas 2009, S. 289. 1744 erschien Samuel Johnsons Biographie über Richard Savage (Johnson on Savage. The Life of Mr. Richard Savage), bei welcher der direkte, gewissermaßen autobiographische Zugang zum Schreiben einer Biographie verwirklicht worden war. Vgl. dazu Jonas 2009, v. a. S. 289f. 302 Ebda., S. 290. 303 »Mit der Händel-Gedächtnisfeier von 1784 (ausgehend von dem mit ›1684‹ angegebenen Geburtsdatum auf dem Grabmonument) setzte London neue Maßstäbe in der Oratorienpflege. Unter der Schirmherrschaft von Georg III. fanden große Konzerte und schließlich drei Aufführungen von Messiah in der Westminster Abbey statt, die von 251 Instrumentalisten und 275 Sängern bestritten wurden. Was ein Kenner wie Charles Burney entsetzlich fand (›… wie taub, wie blind sind sie für das wahre Genie!‹), regte an vielen anderen Orten in ganz Europa ähnliche Massenveranstaltungen an […].« Schröder 2008, S. 118. 304 Deutsch 1961, S. 84.
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10. November an Lorenz Hangenauer,305 zwei Jahre später dann öffentlich im Vorwort zur zweiten Auflage seiner Violinschule. Nissen bemerkt zudem, dass Leopold Mozart »Register der Sachen, der Bekannten und Freunde« seines Sohnes anlegte und verwahrt habe, ja er darin sogar »ein Muster von Ordnung« gewesen sei: »Alles war bey ihm zweckmässig. Auch scheint er Materialien zu einer Biographie gesammelt zu haben.«306 Mit diesem Vorstoß lässt sich demnach nicht nur Leopold Mozarts historisches Bewusstsein und musikpädagogisches Selbstbewusstsein erkennen,307 sondern auch der Impuls für eine neue Idee von Musiker-Biographien: Denn anders als bei Mainwaring, in dessen Händel-Biographie »man die eigentlichen Quellen, woraus dieses oder jenes geschöpfet worden, da sie weder richtig noch rein sind, unmöglich entdecken kann«308 und der Übersetzer und Herausgeber Mattheson nicht mit kritischen Anmerkungen über die Ungenauigkeiten309 gespart hatte, sollten die Briefe als Grundlage für Leopold Mozarts Biographie über seinen Sohn als Quellen für Authentizität und Wahrhaftigkeit bürgen. Vater Mozart ermahnte seine Briefpartner mehrfach, seine »briefe fleisig auf[zu]behalten«310, da sie ihm als wertvolle Dokumente galten. Damit legte er die Grundlage für ein neues biographisches Verständnis: Nicht die Unsicherheit des Hörensagens und der zweifelhaften Quellen solle Basis für eine Biographie sein, sondern dokumentarische Quellen, im konkreten Fall vor allem die Briefe des aufgeklärten und gebildeten Vaters, die unter historiographisch-wissenschaftlichen Prämissen und in logisch-konsequentem Aufbau zu einer Biographie zusammenzufügen seien. Dass die Briefe für diesen Zweck entsprechend ausführlich ausfielen und tatsächlich mit großer Sorgfalt aufbewahrt wurden, ist ebenso folgerichtig wie für die Musikforschung ein Glücksfall. Mit der Idee aber, eine Biographie auf diese Quellenbasis zu stellen, präfigurierte Leopold Mozart ein Ideal, das offensichtlich mit den Grundlagen biographischen Arbeitens von Samuel Johnson konform ging,311 und das noch Constanze Mozart in Zu305 Leopold Mozart schreibt hier von »der Lebensgeschichte unseres kleinen, die ich seiner Zeit in den Druck geben werde«, s. Mozart Briefe GA, Bd. I, S. 247. 306 Nissen 1828. 307 Dazu Unseld 2006b sowie das folgende Kapitel. 308 Mainwaring 1761, unpaginiertes Vorwort des Übersetzers. 309 So etwa im Zusammenhang mit Händels Kindheit: »Daß sich der Verfasser dieser Geschichtserzehlung nicht das geringste Gewissen gemacht habe, die handgreiflichsten Anachronismos zu begehen, um seinen Held allzeit je länger je jünger zu machen, wird aus der Folge beweislich erhellen« Mainwaring 1761, S. 10. 310 Mozart Briefe GA, Bd. 1, S. 306. 311 Vgl. Jonas 2009, S. 290, vor allem Punkt 3 (»umfassende Beschäftigung mit dem Leben des Biographierten […], die auch vor vermeintlich entlegenen Aspekten nicht Halt machen sollte«), 4 (»moralische Verantwortung des Biographen« gegenüber dem Biographierten, der Öffentlichkeit sowie »Verpflichtung zur Wahrheit«) und 5 (persönliche
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sammenarbeit mit Georg Nikolaus von Nissen und dessen 1828 erschienener Mozart-Biographie leitete. Der Aufschwung, den die Biographik ab der Jahrhundertmitte allgemein nimmt, wird von zwei grundlegenden, die Geistesgeschichte maßgeblich beeinflussenden Ideen getragen:312 Zum einen geht es um die Idee, dass gerade das Genre der Biographie als probates Medium galt, positiv auf die Erziehung und Aufklärung breiter Gesellschaftsschichten einzuwirken. Zum anderen verlief dieser Aufschwung parallel zum Selbstfindungs- und Professionalisierungsprozess der Historik, wobei kontrovers diskutiert wurde, ob sich Biographik und Historik in einem integrativen oder einem separierenden Modell wiederzufinden haben. Von diesen beiden Impulsen – Aufklärung und Historisierung – wurde die Entwicklung der Biographik der zweiten Jahrhunderthälfte getragen, von ihr zutiefst geprägt zeigte sich nicht zuletzt auch Leopold Mozart: Als Sohn eines Buchbindermeisters geboren und damit in einem Umfeld von Wissen und Bildung, aber auch von mittelständischem Handwerk aufgewachsen, durchlief Leopold Mozart eine überdurchschnittliche Ausbildung, zunächst an der Jesuitenschule San Salvator in Augsburg, dann an der Universität Salzburg, wo er als Logik- und Jus-Student eingeschrieben war und 1738 das Baccalaureat in Philosophie erhielt. Auch wenn er ein Jahr später wegen mangelnden Studieneifers von der Universität ausgeschlossen werden sollte, ist seinem Bildungsweg doch eine Intensität und Eigendynamik anzumerken, die nicht selbstverständlich scheint: Bereits 1740 trat er als Kammerdiener und Musiker in den Dienst des Domherren Johann Baptist Graf Thurn-Valsassina. Woher seine musikalischen Fähigkeiten rührten, ist nicht überliefert. Eine autodidaktische Aneignung scheint möglich, damit zusammenhängend könnte auch das Nachlassen des Studieneifers an der Universität erklärbar sein. Überraschenderweise widmete Leopold Mozart noch im Jahr seines Dienstantritts beim Domherrn diesem seine ersten Kompositionen. Leopold Mozart besaß mithin bis zu seinem Dienstantritt zumindest umfassendere Kenntnisse in Philosophie, Rechtswissenschaft, Logik und Musik, später traten dazu großes Interesse für und Kenntnisse in Mathematik, Sprachen, Literatur, Pädagogik, Geschichte, Naturwissenschaften, Astronomie und Medizin. Damit war er »ein typischer Vertreter der rationalistischen Aufklärung: umfassend gebildet, fast unbegrenzt interessiert, von der Vorstellung geprägt, alles mit dem rechten Gebrauch des Verstandes erfassen und durch-
Involviertheit, da der Autobiograph, »ganz wie der Historiker, stets dichter an der Wahrheit [operiere] als der Biograph«). 312 Vgl. dazu etwa Engelberg/Schleier 1990.
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dringen zu können, und begabt mit der Fähigkeit, seine Erkenntnisse anderen weitervermitteln zu können«.313 Diese Vielfalt der Wissensgebiete machte Leopold Mozart gerade auch in seinem späteren Brotberuf (als nie ans Ende der Karriereleiter gelangter Hofmusiker) zu einem Musikgelehrten, der sich sehr bewusst von einfachen Hofmusikern oder gar Musikanten abzuheben suchte. Beides – sowohl die umfassende, nicht nur musikbezogene Ausbildung als auch das Selbstbewusstsein, mehr als ein Musikant zu sein – ließ Leopold Mozart später auch in die Erziehung seiner Kinder einfließen. Doch noch bevor sich die außerordentliche Begabung seiner Kinder abzeichnete und Leopold Mozart deshalb neue Ziele entwickelte, trat er 1743 zunächst in den Salzburger Hofdienst ein, im ersten Jahr als unbesoldeter Vierter Violinist, dann als Violinmeister (sprich: Violinlehrer) der Sängerknaben im Kapellhaus. Die Violine und die Pädagogik, zwei Eckpunkte seines Werdegangs, baute er in den folgenden Jahren weiter aus, gipfelnd in seinem 1756 erschienenen Versuch einer gründlichen Violinschule.314 Dieses pädagogische Standardwerk markierte einen Wendepunkt im Leben seines Autors, und die positive Resonanz, die Leopold Mozart dafür beispielsweise von Marpurg erhielt, war für ihn nicht nur außerordentlich erfreulich, sondern dokumentierte zugleich sein Ankommen im Kreis der Musikgelehrten: »Der gründliche und geschickte Virtuose, der vernünftige und methodische Lehrmeister, der gelehrte Musikus; diese Eigenschaften, deren jede einzeln einen verdienten Mann macht, entwickeln sich allhier zusammen.«315 Wie bereitwillig sich Leopold Mozart dieses Fremdbild zu eigen machte, darauf deuten die Porträts hin, die zwischen 1756 und ca. 1765 entstanden, und die den Schritt vom Musiker zum Musikgelehrten deutlich dokumentieren: Der Stich, den er 1756 der Erstausgabe seiner Violinschule beigab, zeigte Leopold Mozart als Geige spielenden Musiker. Und auch die Franz Lactanz Graf Firmian zugeschriebene Bleistiftzeichnung, um 1762 entstanden, enthält noch die Geige als Attribut (Tafel 1). Das um 1765 entstandene Ölbild hingegen (vermutlich von Pietro Antonio Lorenzoni, Tafel 2) stellt ihn als Denker und Pädagogen dar, dessen Hand sich selbstbewusst auf einen Band seiner Violinschule stützt. Just an diesem Punkt und damit datierbar auf etwa 1765 wird erstmals nicht nur die Frage des eigenen Selbstverständnisses berührt, sondern auch die der Biographik und der historischen Vergewisserung: Die Diskussion um die Biographiewürdigkeit des Musikerstandes beantwortet Leopold Mozart
313 Braunbehrens 1998, S. 17. 314 Mozart 1756/1995. 315 Marpurg 1757, Bd. 3, St. 2, S. 160.
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durch sein Bild als Musikgelehrter: Er lässt sich auf diesem Bild nicht als anonymer »Herr ≈ ≈ Capellmeister« darstellen, sondern als individuelle Person, als »vortreflichsten, tugendhafftesten Tonmeister« im Sinne Matthesons, vor allem als ernsthafter Musikgelehrter. Die Dokumentation dieses Standes nach außen war Leopold Mozart nicht nur aus Gründen der Selbstvergewisserung und Karrierelenkung wichtig, sondern entsprach ganz dem aufklärerischen Impuls, durch vorbildliches Denken und Handeln auf andere Personen und deren Lebensweg positiv einzuwirken. Dass dabei vor allem auch dem Genre der Biographie eine herausragende Rolle zugesprochen wurde, ist vielerorts unverkennbar, so etwa auch in Johann Joachim Eschenburgs Entwurf einer Theorie und Literatur der schönen Wissenschaften (1783): Bey der Ausarbeitung einer Biographie hat man, ausser dem Erheblichen und Interessanten, vornehmlich auf das Lehrreiche und Unterrichtende zu sehen. In dieser Hinsicht sondre der Biograph hauptsächlich diejenigen Umstände aus, die zu neuen, wichtigen und nützlichen Bemerkungen den reichsten Stof enthalten, um dadurch die Kenntnisse der Seelenlehre und der menschlichen Natur zu befördern. Er wähle unter den mannichfaltigen Vorfällen, Schicksalen und Handlungen eines Menschen vornehmlich die, welche für andre in ähnlichen Fällen ein nachzuahmendes oder warnendes Beyspiel abgeben können.316
In diesem Kontext betrachtet, ist die Idee Leopold Mozarts, die »Lebensgeschichte unseres kleinen [Wolfgang]« zu schreiben und sie »seiner Zeit in den Druck [zu] geben«,317 folgerichtig. Allerdings – und das ist zu betonen – tritt Vater Mozart mit dieser Idee auffallend früh innerhalb der Entwicklung der Musikerbiographik im deutschsprachigen Raum auf, zumal er sie nicht nur innerhalb der Korrespondenz, sondern sogar öffentlich, im Vorbericht zur zweiten Auflage seiner Violinschule, wiederholte: Er wolle »das wunderbare Genie meines Sohnes beschreiben; dessen unbegreiflich schnellen Fortgang in dem ganzen Umfang der musikalischen Wissenschaft von dem fünften bis in das dreyzehende Jahres seines Alters umständlich erzehlen«.318 Hätte Leopold Mozart nach seinen Plänen diese »Wunderkind«-Biographie über seinen Sohn tatsächlich verfasst,319 wäre deren Erscheinungsdatum vermut316 Eschenburg 1783, S. 261. 317 Mozart Briefe GA, Bd. I, S. 247. 318 Deutsch 1961, S. 84. Der Kommentar ebda. bemerkt, dass die »Sorgfalt, mit der Vater Mozart die Familienbriefe sammelte, auch von Sohn und Tochter aufbewahren ließ«, darauf schließen lasse, »daß er den Gedanken an eine Biographie Wolfgangs nie aufgegeben hat.« 319 Die Biographie über seinen Sohn ist nicht das einzige Buch-Projekt, das Leopold Mozart ankündigte, dann aber nicht zur Ausführung brachte. So teilt er etwa am Ende der
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lich als Beginn der monographischen Musikerbiographik in Deutschland zu bezeichnen – womit nicht der Spekulation Tür und Tor geöffnet, sondern das innovative Potential dieser Idee unterstrichen sei. Ein genauerer Blick auf die Absichtserklärung lohnt sich schon deshalb, weil hier das Modell einer Musiker-Biographik entworfen wird, und die Biographiewürdigkeit nochmals eng an die (vorbildhaft) moralische Integrität geknüpft wird, was sich maßgeblich auf die Idealisierungstendenzen im 19. Jahrhundert auswirken wird. Leopold Mozart nennt nicht nur die außerordentlichen Fähigkeiten seines Sohnes in der praktischen Musikausübung – damit das musikalische Wunderkind herausstellend –, sondern betont auch dessen umfängliche Kenntnisse in der »musikalischen Wissenschaft«: Damit folgt er nicht nur dem Vorbild der wissenschaftlichen Wunderkinder, wie sie etwa Georg Philipp Telemann 1725 in Gestalt des »Wunders von Lübeck«, Christian Friedrich Heineke,320 bekannt gemacht hatte, sondern auch dem Ideal Marpurgs, Matthesons u. a. Die biographische Relevanz eines Musikers wird aus dem Zusammenklang von musikalischen und theoretisch-wissenschaftlichen Fähigkeiten abgeleitet. Wäre dieses Herleiten der Biographiewürdigkeit, so ist pointiert zu fragen, überhaupt notwendig gewesen angesichts der »quantitativen Ausweitung und qualitativen Vertiefung« der Biographie im Verlauf des 18. Jahrhunderts, die Michael Maurer beschrieb und dabei von einer »bürgerliche[n] Aneignung« des Genres sprach? Das 18. Jahrhundert ist gekennzeichnet durch die Biographie des gewöhnlichen Jedermann. Gewiß, auch dieses Zeitalter kannte noch die Biographien der Fürsten und Feldherren, der Kirchenführer und Geistesheroen. Daneben aber wurde eine zunehmende Masse von Lebensbeschreibungen kleiner Leute publiziert. Sie nahmen alle für sich in Anspruch, Leistungen für das Gemeinwohl erbracht und ein vorbildliches Leben geführt zu haben. […] Sie insistierten auf der Möglichkeit moralischer Vervollkommnung, der prägenden Kraft des Beispiels, dem Lernen aus den Fehlern anderer.321
Erstauflage seiner Violinschule mit, dass er einen Folgeband zu verfassen gedenke, und als 1778 Georg Joseph Voglers Gründe der kurpfälzischen Tonschule erschien, schrieb Leopold Mozart, dass er ein ähnliches Buch »schon lange im Kopf hatte« (Mozart Briefe GA, Bd. II, S. 374). Auch dieses Buchprojekt kam letztlich nicht zur Ausführung. So wenig sich über diese »gescheiterten« Buchprojekte sagen lässt: deutlich wird doch, dass die Publikation von »lehrreichen« Büchern zum Selbstverständnis des aufklärerischen Gelehrten und Buchbinder-Sohnes Leopold Mozart dazugehörte. 320 Vgl. dazu Bodsch (Hg.) 2003, S. 9. 321 Maurer 2004, S. 41, vgl. dazu auch Maurer 1996.
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Gerade vor dem Hintergrund der allgemeinen »Biographienflut in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts«322 scheint Leopold Mozarts Modell einer Musiker-Biographie besonders bemerkenswert, denn unverkennbar steht dahinter das Bemühen, sich durch den Fokus auf die Gelehrsamkeit vom Stand der Musikanten – den von Maurer erwähnten »kleine[n] Leute[n]« – abzuheben und durch den Fokus auf moralische Integrität einem bürgerlich-aufgeklärtem Ideal zu entsprechen. Dies war und blieb ein Hauptanliegen Leopold Mozarts und die wichtigste Richtschnur bei der Karriereplanung seiner beiden musikalisch hochbegabten Kinder – eine Lebensplanung, die im Fall des Sohnes früh und erkennbar auf eine Biographisierung bzw. Historisierung hinarbeitete, im Fall der Tochter eine historische Relevanz und Biographiewürdigkeit jedoch nicht in Betracht zog. An diesem Punkt ist der berühmte Brief Leopold Mozarts einzubeziehen, den er dem in Mannheim weilenden Sohn am 12. Februar 1778 in erkennbarer Verzweiflung ob dessen schlingernden Karriereverlaufs schrieb: Unsere Salzb: Bedrückungen sind dir vollkommen bekannt, – du weist mein schlechtes Auskommen, und endlich warum ich dir mein versprechen gehalten, die [recte: dich] weiter gehen zu lassen, und alle meine Drangsahlen. Die Absicht deiner Reise waren 2 Ursachen: oder einen beständigen guten dienst zu suchen; oder, wenn dieses misslingt, sich an einen grossen Platz zu begeben, wo grosse Verdienste sind. Beydes gieng auf die Absicht deinen Eltern beyzustehen, und deiner lieben Schwester fortzuhelfen, vor allem aber dir Ruhm und Ehre in der Welt zu machen, welches auch theils in deiner Kindheit schon geschehen, theils in deinen Jünglings-Jahren, und itzt nur ganz alleine auf dich ankommt in eines der grösten Ansehen, die iemals ein Tonkünstler erreicht hat, dich nach und nach zu erheben: das bist du deinem von dem Gütigsten Gott erhaltenen ausserordentlichen Talente schuldig; und es kommt nur auf deine Vernunft und Lebensart an, ob du als ein gemeiner Tonkünstler, auf den die ganze Welt vergisst, oder als ein Berühmter Capellmeister, von dem die Nachwelt auch noch in Büchern lieset, – ob du von einem Weibsbild etwa einschäfert mit einer Stube voll nothleidenden Kindern auf einem Strohsack, oder nach einem Christ: hingebrachten Leben mit Vergnügen, Ehre und Nachruhm, mit allem für deine Familie wohl versehen, bei aller Welt in Ansehen sterben willst?323
Brennspiegelartig kommen hier Leopold Mozarts Vorstellungen eines gelungenen Musiker-Lebensweges zum Ausdruck, die im Folgenden einer Interpretation unter biographiehistorischen Gesichtspunkten unterzogen werden sollen: Der Vater skizziert zwei Lebensentwürfe, die er gegeneinanderstellt und unmissverständlich bewertet. Der »gemeine« Tonkünstler wird einem 322 Kremer 2004, S. 13. 323 Mozart Briefe GA, Bd. II, S. 273f.
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»berühmten Capellmeister« gegenübergestellt, wobei Ersterer durch Armut und historisches Vergessen, Letzterer durch Reichtum, Ehre und Nachruhm gekennzeichnet wird. Hervorzuheben ist, dass Leopold Mozart die Kriterien eines gelungenen Lebensentwurfes nicht nur an Erfolg und Wohlbefinden zu Lebzeiten knüpft, sondern explizit auch an den Nachruhm, die historisch-biographische Berücksichtigung, das Erinnern mittels »Büchern«. Welchen Weg der Sohn einschlage, komme, so der Vater, in Anbetracht seines außerordentlichen Talentes und dem bereits in der Kindheit und Jugend erworbenen Ruhmes, aber allein auf »deine Vernunft und Lebensart an«, sprich: auf die Lebensführung, denn in dieser liege der Schlüssel zu »Ehre und Nachruhm«, zumal die »Tugendartigkeit oder bürgerliche Sittlichkeit« als »Tochter der Aufklärung«324 und die »Harmonie von Geist und Tat«325 als Basis biographischer Relevanz galt. Die Beispiele aus Scheibes Critischem Musicus lassen – gewissermaßen ex negativo – erkennen, dass mit dem Nachruhm hier nicht nur die Historisierung gemeint sein kann, sondern vor allem auch der an das Individuum geknüpfte Nachruhm, sprich die Biographiewürdigkeit. Scheibe hatte die genannten Musiker gerade auch wegen ihrer Lebensführung und ihres zweifelhaften Charakters anonymisiert. Den »Capellmeister«-Begriff hingegen scheint Leopold Mozart von Mattheson entlehnt zu haben (»Ein Capellmeister ist demnach ein gelehrter Hofbeamter und Componist im höchsten Grad: welcher eines Kaisers, Königs oder grossen Fürstens und Herrn geist- und weltliche Musiken verfertiget, anordnet, regieret und unter seiner Aufsicht vollziehen läßt«326) und ihn in diesem Sinne auch in doppelter Bedeutung verwenden zu wollen: als Begriff für eine konkrete Anstellung für seinen Sohn und im Sinne der Grundlage dafür, über eine Biographie (etwa in Form eines Eintrags in ein biographisches Lexikon wie die Ehren-Pforte) in die Musikgeschichte aufgenommen zu werden. Wolfgang Mozart war diese Argumentationsweise des Vaters durchaus vertraut. Dies lässt sich darin erkennen, dass er ihm gegenüber die junge Sängerin Aloisia Weber nicht nur wegen ihrer musikalischen Fähigkeiten lobt, sondern auch ihre moralische Integrität, »ihre gute auführung«,327 hervorhebt. Hier signalisiert Wolfgang Mozart einerseits, dass die Befürchtungen des Vaters, Aloisia Weber könne den Sohn von seinem Karriereweg abbringen, unbegründet seien, andererseits aber auch, dass er den vom Vater 324 Jenisch 1801, 3. Teil, S. 353. 325 Scheuer 1979a, S. 38. 326 Mattheson 1740, S. XXXII. Vgl. hierzu auch das Kapitel Schreiben über Musiker und Musikerinnen: Musiklexika und Musikhistorie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. 327 Mozart Briefe GA, Bd. II, S. 227. Mit »Aufführung« ist an dieser Stelle nicht die musikalische Aufführung gemeint, sondern das »Sich-Aufführen« am Mannheimer Hof, zumal der dortige Kurfürst für seine Amouren mit Sängerinnen bekannt war.
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immer wieder betonten Zusammenhang von erfolgreicher Musiker-Karriere (inklusive Nachruhm) und moralischer Integrität verstanden habe. Aloisia Weber entspricht in der Darstellung von Wolfgang Mozart dem vom Vater vorgezeichneten Modell einer berühmten Musikerin, »von der die Nachwelt auch noch in Büchern lieset« – womit der Sohn Aloisia Weber auch gegen die generell schlechte Beleumundung des Sängerinnen-Berufes in Schutz nimmt –, nicht einem »Weibsbild«, das den gemeinen Tonkünstler »einschäfert« und mit einer großen Kinderschar in Armut verstricke. Doch wie verschieden die Lebens- und Karrierekonzepte von Vater und Sohn Mozart schließlich waren, lässt sich an diesem Punkt deutlich erkennen. Denn den Schritt, auch einer Musikerin die Option des Nachruhms zu gewähren, war in der Vorstellungswelt des Vaters nicht möglich. Das Problem war ihm durchaus bekannt, immerhin war auch seine Tochter Maria Anna als junges Mädchen »eine der geschicktesten Spilerinnen in Europa«328 gewesen, und er hatte »alle [s]eine Stunden euch 2 aufgeopfert, in der Hofnung es sicher dahin zu bringen, […] daß ihr beyde seiner Zeit auf eurer versorgung rechnung machen könntet«.329 Die Ausbildung der Tochter allerdings legte Leopold Mozart, der sich etwa anhand von François Fénelons Traité de l’éducation des filles dezidiert mit Mädchenpädagogik auseinandergesetzt hatte, bewusst anders an als für den Sohn: Statt der breiten Ausbildung, die der Sohn erhielt, wurde die Tochter vorwiegend als Klaviervirtuosin ausgebildet.330 Diese auf virtuoses Klavierspiel fokussierte Ausbildung entzog der Tochter nicht nur die Möglichkeit, sich umfassender musikalisch zu entwickeln und etwa auch komponierend tätig zu werden oder als »Capellmeister« weitere musikalische Aufgaben zu übernehmen, sondern letztlich auch den Anspruch auf Nachruhm. Denn dieser gründete im Verständnis Leopold Mozarts wie seiner Zeitgenossen eben nicht nur auf den praktischen Fähigkeiten, sondern auch auf den Fähigkeiten »in dem ganzen Umfang der musikalischen Wissenschaft«. Damit ist auch nachvollziehbar, warum Leopold Mozart einerseits derart Wert auf die moralische Integrität seines Sohnes legte, und warum er andererseits für eine Musikerin wie seine eigene Tochter kein Karrieremodell entwickeln konnte: Die musikalische Wissenschaft war eine männliche Domäne, Musikerinnen als »Musikgelehrte« nahezu undenkbar. Eine Fortführung ihrer musikalischen Tätigkeiten im öffentlichen Raum jenseits des Wunderkindalters hätte die Tochter nicht nur in moralisch zweifelhafte Situationen gebracht, sondern wäre auch in dem von Leopold Mozart vertretenen Modell einer Degradie328 Mozart Briefe GA, Bd. I, S. 154. 329 Mozart Briefe GA, Bd. II, S. 256, Hervorhebungen M. U. Mit »euch 2« sind die Geschwister Maria Anna und Wolfgang Mozart gemeint. 330 Dazu Rieger 1990, S. 67ff., v. a. S. 69.
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rung als »Musikantin« gleichgekommen. Für die Tochter sah der Vater daher weder Karriere noch den Eintritt in das kulturelle Gedächtnis vor: Von einem Plan, über die hochbegabte Tochter eine Biographie zu verfassen und in Druck zu geben, ist nichts bekannt. Dass jenes für die Tochter vorgesehene Lebensmodell gleichwohl fragil und konfliktträchtig war, zeigen manche Äußerungen Leopold Mozarts, die nicht ohne Stolz davon berichten, dass ihre musikalischen Fähigkeiten weit über das reine Klavierspiel hinausgingen: »die Nannerl accompagniert wie ein ieder Capellmeister«.331 Doch der bezeichnende Vergleich mit dem »Capellmeister« blieb innerfamiliäres Lob, hatte keine Auswirkungen dahingehend, dass der Vater die Tochter nun als biographiewürdig erachtete. Er blieb bei seinen geschlechterspezifischen Karrieremodellen für Sohn (Kapellmeister) wie Tochter (Pianistin) – mit allen Konsequenzen für die Erinnerungskultur. Aus dem vom Vater vorgesehenen Karrieremodell auszubrechen gelang nur dem Sohn. Bezeichnenderweise aber wurde der Konflikt offenkundig, als Wolfgang Mozart für sich selbst und für seine Schwester332 ein anderes Karrieremodell ansteuerte. Spätestens zum Zeitpunkt des selbst gewählten Austritts aus dem Salzburger Hofdienst scheint Leopold Mozart den Plan, eine Biographie über den Sohn zu schreiben, endgültig aufgegeben zu haben. Der Sohn hatte sich endgültig aus dem biographischen Modell, das der Vater vorgesehen hatte, gelöst. Es ist gleichwohl kein Zufall, dass gerade die Wiener Jahre Mozarts (1781–1791) im frühen 19. Jahrhundert Anstoß waren, gerade am Beispiel Wolfgang Amadeus Mozart die Gelehrten-Biographie des 18. Jahrhunderts durch das neue Modell einer Individual-Biographie zu ersetzen. Sein Lebensweg der Jahre 1781–1791 war deutlich nicht mehr mit dem Modell eines Musik-Gelehrten im Sinne Marpurgs, Matthesons und Leopold Mozarts vereinbar, sondern forderte eine am Individuum und seinem Werk orientierte Beschreibung. Damit aber wurden gänzlich neue biographische Schwerpunkte wichtig: nicht ausschließlich höfische Anstellungen, Karriereschritte und Ehrungen, sondern vor allem auch individuelle Lebensentscheidungen, Physiognomie etc. Diese Schwelle von der Gelehrten-Biographie zur Individual-Biographie stellt eine wichtige Zäsur für die weitere Geschichte der musikalischen Biographik dar. Dabei ist mit der Tatsache, dass in der Person Mozarts diese Schwelle überschritten wird, eine der Hauptfiguren musikalischer Biographik benannt: Kein anderer Komponist ist bereits kurz nach seinem Tod so inten-
331 Mozart Briefe GA, Bd. II, S. 337 332 Dazu Unseld 2006e.
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siv und vielfältig biographiert worden wie Mozart, so dass bereits Alexander Ulybyschew333 rund 50 Jahre nach der ersten Mozart-Biographie konstatierte: Es existiren zwanzig und noch mehr Biographieen Mozart’s; man kennt Mozart’s Leben bis auf die unbedeutendsten Einzelnheiten hinaus; Tausende von Schriftstellern haben ex professo von dem großen Musiker und seinen Werken gesprochen; tausend Andere thaten es gelegentlich, und jeden Tag liest man noch in den musikalischen Blättern von ihm. Der Gegenstand ist also so erschöpft als möglich. […] Wir besitzen […] von gedruckten Sachen über Mozart: biographische Notizen, Artikel in Journalen, Handbücher, Mittheilungen von Zeitgenossen, Sammlungen von Anekdoten, technische Analysen, die in verschiedenen Werken veröffentlicht wurden.334
Trotz Mainwarings und Reichardts frühen Händel-Biographien und obwohl Chrysander in Händel jenen gelehrten Musicus zu erkennen glaubte, über welchen den Vorstellungen der Zeit entsprechend eine erste Musiker-Biographie geschrieben wurde – »für die Würdigung der Musiker als geistig bedeutender Menschen war Händel’s Erscheinung entscheidend«335 –, war es schließlich nicht Händel, sondern in der Tat Mozart, mit dem sich die monographische Musiker-Biographie dauerhaft etablierte. Von Schlichtegrolls und Niemetscheks Biographie ausgehend fand die Musiker-Biographik in Mozarts Lebensweg ein stilbildendes Modell. Mozart gehört bis heute zu den meistbiographierten Komponisten überhaupt, und an kaum einem anderen – Beethoven möglicherweise ausgenommen – wird das Problem der biographischen Formung derart bewusst wahrgenommen.336 Der Grund dafür scheint in der Tatsache zu liegen, dass Mozart erstmals in der Musikgeschichte Anlass gibt, jenseits der Gelehrten-Biographie ein biographisches Profil auszubilden, dass die Individualität des Musikers in den Mittelpunkt rückt. Diese Schwelle wurde keineswegs reibungslos überschritten, was sich nicht zuletzt in den Kontroversen um die ersten Mozart-Biographien zeigt. Schlichtegrolls Nekrolog orientiert sich – einerseits aufgrund der Textsorte, andererseits auch da er sich fast ausschließlich auf die biographischen Informationen Maria Anna Berchtold zu Sonnenburgs stützt – an einer Wunderkind- bzw. Gelehrten-Biographie, die ausführlich den Ausbildungsgang schildert, die »freien« Wiener Jahre aber nur in wenigen, recht pauschalen Sätzen abdeckt. Diese Biographie wurde von Constanze Mozart scharf attackiert, ihr Modell – realisiert in der von ihrem zweiten Ehemann Georg Nikolaus von 333 Ulybyschew veröffentlichte in Deutschland unter seinem französisch transkribierten Namen Oulibicheff. 334 Oulibicheff/[Ulybyschew] 1847, Vorrede, S. [III]. 335 Chrysander 1858, 1. Bd., Widmung an Gervinus, S. VI. 336 Dazu u. a. Hildesheimer 1977, Geck 2005, Gruber 2005.
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Nissen verfassten, von ihr nach dessen Tod herausgegebenen Biographie von 1828337 – hingegen trägt der Idee der Individual-Biographie Rechnung, wovon in späteren Kapiteln noch ausführlich die Rede sein wird. In einem aber sind sich die Biographen nach Mozarts Tod einig: die Biographiewürdigkeit eines Musikers steht nicht mehr zur Diskussion.
337 Vgl. dazu Finke 2013.
1. Anekdote als biographisches Konzept
Jeder, der sich mit Musik und ihren Akteuren beschäftigt, kennt MusikerAnekdoten: Man begegnet ihnen in Musiklehrbüchern für den Schulunterricht ebenso wie im populären Schreiben über Musik. Noch heute werden ganze Bücher mit Musiker-Anekdoten publiziert. Manche dieser Anekdoten scheinen derart im kulturellen Gedächtnis verankert zu sein, dass sie zum festen Bestand des allgemeinen Wissenskerns über Musiker, vor allem Komponisten, gehören. Ludwig van Beethoven ist hierbei ein prominentes Beispiel, über dessen so dokumentiertes, skurriles Gebaren im Alltag zahlreiche Anekdoten bis heute kursieren und dabei das Genie-Image des Komponisten beständig bekräftigen.338 Aus musikwissenschaftlicher Perspektive stellt die Musiker-Anekdote durchaus eher ein Ärgerniss dar, steht doch außer Frage, dass sie zwar starke biographische Bilder konstruiert, nichts aber (oder nur zu einem äußerst geringen Teil) als historische ›Wahrheit‹ verbürgt. Als Quellen gelten Anekdoten als notorisch unzuverlässig, zumal – qua literaturwissenschaftlicher Definition der Anekdote – der Inhalt nicht »historisch verbürgt sein [muss]; bedeutsam ist nur, ob es möglich, treffend und charakteristisch ist«.339 Im Gegenteil: Anekdoten scheinen das Biographische über einen Musiker unverhältnismäßig ins Rampenlicht der allgemeinen Wahrnehmung zu rücken, zugleich aber historisch nicht haltbare Fakten zu vermitteln. Wenn damit Gründe genannt wären, die schon immer auch umstrittene Gattung der Musiker-Anekdote im musikhistorischen Kontext endgültig zu ignorieren, stehen doch, wenn es um Einblicke in die Konstruktion biographischer Bilder geht, (gewichtigere) Gründe dafür, sich mit ihr explizit auseinanderzusetzen.340 338 Vgl. dazu auch Unseld 2013b. 339 Schäfer 2007, S. 24. 340 Zur musikwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Anekdotik vgl. Hoffmann 1978, Küster 2004. Küster betont die Notwendigkeit eines »methodisch verläßliche[n] Instrumentariums« im Umgang mit Anekdotik, und schlägt eine aus der historisch-kritischen Lektüre von Heiligenviten entwickelte Methode vor, die vor allem die »automatische Objektivierung« ausschließt, sich dann aber auf die Textform des Nekrologs fokussiert (Küster 2004, v. a. S. 142–145). Die hier vorgeschlagene Perspektive geht einen anderen Weg, die Frage der Objektivierung bzw. Objektivierbarkeit steht dabei nicht im Zentrum. Hierzu fand 2009 in Bern der interdisziplinäre Kongress Anekdote – Biographie – Kanon. Zur Geschichtsschreibung in den schönen Künsten statt (s. Unseld/von Zimmermann [Hg.] 2013, hier auch weiterführende Literatur). Die hier gewählte Perspektive auf Anekdotik hat diesem interdisziplinären Austausch zahlreiche Anregungen zu verdanken.
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Biographische Konzepte in Musik und Musikgeschichtsschreibung
Die Musiker-Anekdotik ist eine der konstantesten Gattungen im Schreiben über Musik: Bereits im Schrifttum des 18. Jahrhunderts341 hat sie – gleich ob anerkannt oder kritisiert – ihren festen Platz. Auch die ersten Musikzeitschriften kennen die konstante Rubrik »Anecdoten«, die nicht notwendigerweise zu den Miscellaneen gerechnet wird, sondern sich als durchaus ernstzunehmende, die Historizität von Musikkultur bekräftigende Rubrik darstellt. Prominentestes, wenngleich keineswegs einziges Beispiel ist hier die sechsteilige Folge »Verbürgte Anekdoten aus Wolfgang Gottlieb Mozarts Leben. Ein Beytrag zur richtigern Kenntnis dieses Mannes, als Mensch und Künstler« von Friedrich Rochlitz, die 1789 in der Allgemeinen musikalischen Zeitung abgedruckt wurde.342 Auch in der Musikvermittlung scheint die Musiker-Anekdote bis heute ein probates Mittel der Wissensvermittlung über Musiker darzustellen.343 Und schließlich kennt auch der Musikmarkt seit dem ausgehenden 18. Jahrhhundert die Anekdote als probates Werbeinstrument,344 noch heute partizipiert die Musikindustrie – ob im Bereich der sogenannten Ernsten Musik oder der Popmusik – an dieser Idee im Aufbau und in der Pflege entsprechender Images für ihre Künstlerinnen und Künstler. Dabei fungieren Anekdoten als eine (fast immer die Heroisierung befördernde) Prägung, die in der Musiker-Biographik bis heute immer wieder auftaucht. Sie werden zu »biographischen ›Formeln‹«,345 und es ist interessant zu verfolgen, dass die historiographische Reputation der Anekdote zwar gesunken ist, die durch sie evozierten ›Formeln‹ aber bis heute gültig zu sein scheinen. Eine auffallende Konstanz und Präsenz der Anekdotik in der Musikkultur kann damit wahrgenommen werden, was allgemein schon begründet, sie im Zusammenhang mit der Konstruktion biographischer Bilder als wichtiges Medium musikkultueller Erinnerungskultur zu berücksichtigen.346 Der ausschlaggebende Grund freilich ist noch ein anderer: Die Anekdote kann als Nucleus des biographischen Schreibens über Musiker und Musikerinnen im 18. Jahrhundert bezeichnet werden. Mit einer sehr deutlichen Anleihe an kunsthistorische Vorbilder beginnt – so könnte man pointiert sagen – das 341 Zur (nicht musikspezifischen) Anekdotik im Zeitalter der Aufklärung vgl. v. a. Hilzinger 1997. 342 Vgl. dazu Schaal 1970, Solomon 1991, Konrad 1995 sowie das Kapitel Mozart-Anekdotik im vorliegenden Band. 343 Hierzu Mautner-Obst 2013. 344 Hierzu Bork 2013. 345 Kris/Kurz 1995, S. 158. 346 Auch hier freilich ist ein Desiderat zu nennen: Das vorliegende Kapitel kann weder eine systematische Aufarbeitung der wechselnden Formen und Funktionen von Anekdotik in der Musikkultur bieten noch einen historischen Überblick über ihre Erscheinungsformen und die Musiker und Musikerinnen, über die sie existieren.
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Schreiben über Musiker und Musikerinnen mit der Anekdote. Im Folgenden wird es mithin nicht um die Frage einer historischen Verifizierbarkeit von Anekdoten gehen, sondern um ihre erinnerungskulturellen Qualitäten. Oder, mit Jan Assmann formuliert: Es geht nicht darum, was in einer Anekdote über einen Musiker oder eine Musikerin gesagt wird und ob dies so »eigentlich gewesen« sei, sondern »Wie (warum, von wem und wann) wird es [in diesem Fall: die Anekdote] erinnert?«347
Johann Matthesons Lully-Biographie als »deutliches Model« Die Anekdote spielt in der frühen Musiker-Biographik eine wichtige Rolle, knüpft sie doch – damit nicht zuletzt die Biographiewürdigkeit der Musiker erweisend – an bereits etablierte biographische Muster der Künstler-Biographik an, hebt gleichsam das, was in der Künstler-Biographik seit der Renaissance adäquates Mittel zur Darstellung des Genialischen war, in den Bereich der Musik. Dass die Anekdotik in der Musikgeschichtsschreibung des 19. und 20. Jahrhunderts andere Funktionen erhielt, steht dabei außer Frage; wichtig aber ist an dieser Stelle festzuhalten, dass sich die musikalische Anekdotik des 18. Jahrhunderts gerade aufgrund der funktionalen Unterschiede grundlegend von jener unterscheidet, die sich im Kontext einer sich als historisch-kritischen Wissenschaft etablierenden und etablierten Musikgeschichtsschreibung bewegt.348 Kern dieser Funktionsverschiebung war das Wechselverhältnis der Anekdote zur Geschichtsschreibung und hierbei vor allem die Diskussion um den Wahrheitsgehalt. Die Spannweite, in der dies freilich diskutiert wurde, lässt sich mit zwei punktuellen Hinweisen ermessen: Während die Anekdote selbst aus der Kritik am mangelnden Wahrheitsgehalt der Geschichtsschreibung entstand,349 zog die hochgradige Stilisierung dieser Textart und ihre offensichtliche Nähe zu Heiligenviten im 18. Jahrhundert immer stärkere Kritik nach sich. So hatte, wie erwähnt, Marpurg alias Simeon Metaphrastes 1786 seine Satire Legende einiger Musikheiligen. Ein Nachtrag zu den musikalischen Almanachen und Taschenbüchern jetziger Zeit mit einem ironischen Aufruf ver-
347 Assmann 2005a, S. 24. Vgl. das Kapitel Erinnerung und Gedächtnis. Einige Vorüberlegungen. 348 Insofern stellt sich als problematisch heraus, die Anekdotik um Johann Sebastian Bach mit jener um Komponisten des 19. und 20. Jahrhunderts zu vergleichen, und Konrad Küster weist zu Recht darauf hin, dass vielmehr für die Interpretation der Bach-Anekdotik eine Rückspiegelung an (Heiligen)Viten nutzbar gemacht werden kann. Vgl. Küster 2004. 349 Unseld/von Zimmermann (Hg.) 2013, S. Xf.
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sehen, ihm Anekdoten zuzusenden, wobei einzige Voraussetzung sei, »daß die Herren Contribuenten für die Wahrheit ihrer Anekdoten stehen«.350 Welche Funktion aber nimmt nun in der Musiker-Biographik des 18. Jahrhunderts die Anekdote ein? Und welche Lesart steht uns heute zur Verfügung, mit dieser Textart adäquat umzugehen?351 Hierzu schlage ich einen Weg vor, der sich an einer kunst- und kulturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Anekdotik orientiert: Die bereits 1934 erschienene, bis heute grundlegende Studie von Ernst Kris und Otto Kurz Die Legende vom Künstler. Ein geschichtlicher Versuch nimmt genau diese Fragen aus Sicht der Kunstgeschichte in den Blick. Und bezeichnenderweise kam Ernst Kris, Kustos am Kunsthistorischen Museum in Wien und Mitglied des Wiener Psychologischen Instituts, im Rahmen seiner Studien über den Bildhauer und Künstleraußenseiter Franz Xaver Messerschmidt zu jenem Punkt, nach Funktion und Bedeutung von Anekdoten im Kontext von Künstlerbiographien zu fragen. Otto Kurz seinerseits stammte aus der Schule Aby Warburgs, woraus sich der kulturwissenschaftliche Grundzug der Studie erklärt. Kris und Kurz können anhand einer stupend breiten Quellenlage nachzeichnen, wie mit Hilfe der Anekdotik in unterschiedlichster Form und auf unterschiedlichste historische Persönlichkeiten gemünzt der Grundkonflikt zwischen dem »Genie« und den Normen der Gesellschaft thematisiert wird. Scheinbar Individuelles, in anekdotischer Form geschildert, lässt sich auf stereotype Vorstellungen vom »Künstler« zurückführen. Anekdoten sind somit nicht Quelle für biographische Details, sondern (oft auch didaktisch intendierte) Träger stereotyper Konzepte von (vor allem genialischer) Künstlerschaft, oder, wie Kris und Kurz betonen, »man könnte die Anekdote auch als ein Stück Geheimbiographie des Helden ansprechen.«352 Ihre tiefgreifende Verwurzelung in der Künstler-Biographik, die ja auch Kris 350 Metaphrastes 1786, Vorrede ohne Paginierung. 351 Möglich wäre an dieser Stelle sicherlich auch eine Auseinandersetzung mit Stephen Greenblatt und seinem sowohl theoretisch reflektierten als auch – am Beispiel Shakespeares – angewandten Umgang mit Anekdotik (hierzu vgl. Ruge 2013, dort auch zur Kritik an Greenblatt). Greenblatt geht dabei von einem ›Wirklichkeitsgehalt‹ der Anekdote aus, die mithilfe einer ›dichten Beschreibung‹ (›thick description‹) – einer gewissermaßen ethnographischen Methode – für eine Kultur- und Literaturwissenschaft fruchtbar gemacht werden kann: »Anecdotes are among the principal products of a culture’s representational technology, mediators between the undifferentiated succession of local moments and a larger strategy towards which they can only gesture. They are seized in passing from the swirl of experiences and given some shape, a shape whose provisionality still marks them as contingent – otherwise, we would give them the larger, grander name of history – but also makes them available for telling and retelling.« Greenblatt in einem Interview mit Blume, zitiert in Laden 2004, S. 9. 352 Kris/Kurz 1995, S. 31.
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und Kurz ein weites Feld für zahlreiche Beispiele abgegeben hatte, beeinflusste auch die Musikerbiographik, vor allem, da man sich hier explizit an kunsthistorischen Vorbildern orientierte. Im Vorwort zur Ehren-Pforte etwa gibt Mattheson die Kunstgeschichte an, die ihm als Vorbild gedient habe: »Ich hoffe iedoch dem besten Theile der Welt mit diesem Anfange der Sammlung wenigstens so viel Gutes zu erweisen, als Felibien und de Piles mit ihren Mahlerhistorien gethan haben.«353 Mit André Felibien und Roger de Piles spielt Mattheson auf wichtige französische Kunsthistoriker an.354 Mit diesen Hinweisen aber kann Matthesons Lully-Biographie in der Critica Musica sinnvoll begegnet werden:355 Weder die Schilderung seiner Herkunft noch Jugend, weder Ausbildung noch Status als Hofmusiker sind als biographische Detailinformationen zu verstehen – eine »Verifizierung« der Anekdoten ginge damit an der Intention der gesamten Biographie vorbei –, sondern als anekdotische Stereotypen, die (wie zu zeigen sein wird) maßgeblich dazu beitragen, Lully als bestimmten Künstler-Typus darzustellen. Dafür spricht auch, dass Mattheson explizit erwähnt, dass er mit der Lully-Biographie ein Modell zu etablieren beabsichtigt, welches sich zwar auf Quellen stützt, aber doch in der Art der Darstellung von diesen erheblich abweicht: »Diese Nachrichten sind (durch Vorschub des Herren Concert-Meisters Lincke) aus einem Buche gezogen worden, welches den Titel führet: Lettres historiques sur tous les spectacles de Paris. Gedruckt zu Paris 1718. Die Ordnung aber ist hier ganz anders, und deswegen gemacht: damit ein deutliches Model gegeben werde, wie etwan eine Lebens-Beschreibung einzurichten sey, die in der Ehren-Pforte Platz finden will.«356 Damit ist deutlich, dass Mattheson sowohl die Struktur der Biographie als auch die auffallend konsequente Einbindung von Anekdoten insofern als modellhaft versteht, als sich daran weitere Lebensbeschreibungen über Musiker und Komponisten orientieren sollen. Die Lebensbeschreibung des »weltberühmten Jean Baptiste de Lully« geht damit über einen mehr oder weniger zufälligen biographischen Eintrag in der Critica Musica weit hinaus, ist vielmehr Modell und sollte für alle diejenigen Vorbild sein, die aufgerufen waren, für die 1740 herausgebrachte Ehren-Pforte einen Lebenslauf zu verfassen. Bevor darauf zurückzukommen
353 Mattheson 1740, S. IX. 354 Vgl. zu Felibien auch Germer 1997 sowie Wald 2010a, S. 172ff. 355 Matthesons Kritik an Mainwarings Händel-Anekdoten zielt zwar auf ein anderes, an biographischer Exaktheit orientiertes Anekdotik-Verständnis, doch ist hierbei zu betonen, dass zwischen Konzept und Ausführung der Ehren-Pforte einerseits und der Übersetzung von Mainwarings Händel-Biographie mehrere Jahrzehnte liegen, in denen sich Matthesons Verständnis von Biographik und Anekdotik geändert haben dürfte. 356 Mattheson 1722, S. 178, erste Fußnote, Hervorhebung M. U.
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ist, soll die These von der Anekdote als »Urzelle« der Biographik von Kris und Kurz näher betrachtet werden. Die Anekdote, so Kris und Kurz, sei nicht in ihrem »historischen« Gehalt, sondern als Typisierung des herausragenden Künstlers von besonderer Bedeutung: »Die Frage nach dem Wahrheitsgehalt der Aussage, die wir der Anekdote in diesem oder jenem Falle entnehmen dürfen, wird dabei unerheblich, allein bedeutsam vielmehr der Umstand, daß eine Anekdote öfters, daß sie so oft berichtet wird, daß wir aus ihr auf eine typische Vorstellung vom Künstler schließen dürfen.«357 Sich aus antiken Mythen speisend gelangten, so Kris und Kurz, eine Reihe von Anekdoten in die Darstellung von Künstlerlebensläufen, die eine andere als die »historisch wahre« Lesart erfordern. Wie in Eisblöcken eingefrorene Motive beinhalten sie im Innern einen Kern, der zwar eine lebensnah geschilderte Szene wiedergibt, dabei aber wenig (oder gar nicht) über den tatsächlichen Lebenslauf bzw. ein tatsächlich stattgefundenes Ereignis Auskunft gibt. Eine solcherart konzipierte biographische Darstellung hat demnach nicht das Ziel, konkrete Details eines Lebenslaufes zu schildern, sondern in der Reihung solcher »eingefrorenen« Motive ein entsprechendes Künstlerbild zu ergeben. Funktion einer entsprechenden Reihung von Anekdoten ist dabei die Aufwertung des Künstlers zum Künstlerheroen und die Betonung seiner Sonderstellung in der Gesellschaft.358 Kris und Kurz schlüsseln viele dieser »biographischen ›Formeln‹«359 anhand einer großen Anzahl treffender Beispiele aus der Kunstgeschichte und der Künstler-Biographik auf.360 15 dieser »Formeln«, vor allem jene, die sich als wichtig für die Musik-Biographik erweisen,361 seien hier knapp zusammengefasst, untergliedert in sechs Formeln, die sich auf Kindheit und Jugend eines Künstlers beziehen, neun zu späteren Lebensabschnitten bzw. allgemeinen Fragen des Künstlertums. Zahlreiche Anekdoten beziehen sich, so Kris und Kurz, auf Kindheit und Jugend eines Künstlers, da hier die Wurzeln jener »göttlichen« Anlage gesucht und gesehen werden, die das Individuum später aus der Gesellschaft heraus357 Kris/Kurz 1995, S. 32f. 358 Diese frühe Form der Heroisierung (Antike bis Renaissance) ist als Bestreben zu werten, Künstler überhaupt in den Status biographiewürdiger Personen zu erheben. Es scheint gleichwohl kaum zufällig, dass die Frage der Anekdotik in der Phase der Heroengeschichtsschreibung neu virulent wird. 359 Kris/Kurz 1995, S. 158. 360 Die Musik ist nicht ihr Themenfeld, es wäre freilich ohne weiteres möglich, auch aus dem Bereich der Musikgeschichte und der Musiker-Biographik bekräftigende Beispiele beizufügen. 361 Entbehrlich für die hier vorliegende Untersuchung scheinen Anekdoten, die sich mit dem mimetischen Charakter von Bildender Kunst auseinandersetzen. Sie sind daher ausgespart.
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hebt und zu einem »Kulturheros« werden lässt. Die folgenden sechs Punkte lassen sich entsprechend hierzu subsumieren: 1) Zwei unterschiedliche Modelle für die Frühprägung des Künstlers stehen zur Verfügung: der Autodidakt und derjenige Künstler, der sich in eine familiale und/oder weitläufige Lehrer-Schüler-Vernetzung definiert. Der »Autodidakt bezeichnet die eine Seite dieser Polarität; ihr entspricht die Erhöhung der schöpferischen Persönlichkeit zum Kulturheros. Der anderen Seite entspricht das Bestreben, die Leistung des Einzelnen im Ablauf der Geschlechter fest zu verankern. Wir dürfen von Genealogisierung sprechen.«362 2) Ein »typisches biographisches Motiv« sei weiterhin der soziale Aufstieg, der dazu nicht selten mit dem »Wirken des Schicksals in Beziehung« gesetzt würde.363 Anders gesagt: Ein schicksalhaftes Ereignis markiert einen Wendepunkt, an dem sich der soziale Aufstieg festmachen lässt. 3) Nicht nur, dass sich das künstlerische Talent früh zeigt, gerade auch das Nachaußendrängen des Talents ist Gegenstand zahlreicher Anekdoten. Die frühe künstlerische Leistung »sucht ins Licht zu rücken, das Ingenium des Meisters [drängt] schon frühzeitig nach Ausdruck«.364 Damit verbunden ist oft auch das Motiv der Entdeckung des Talents. 4) Auch frühe Widerstände werden in der Anekdotik verarbeitet und zielen darauf ab, das bedingungslose Sich-Durchsetzen als Künstler zu unterstreichen: »Das jugendliche Talent setzt sich gegen Schwierigkeiten durch, die seiner Berufswahl oft von der engsten Umgebung bereitet werden.« Damit solle betont werden, »daß sich das echte Ingenium frühzeitig bewähre«.365 5) Der Wunderkind-Topos eignet sich in besonderem Maße für eine anekdotische Kodierung, greift er doch ein mythologisches oder religiöses Moment auf: »Die Mythologie des Heidentums und die Heilsgeschichten der Offenbarungsreligionen sind von Erzählungen aus der Kindheit jener Gestalten durchzogen, deren göttliche Herkunft oder deren Beziehung zur Gottheit außer Zweifel gestellt ist. Von hier aus hat diese Übung den Weg in die Hagiographie des Mittelalters und zugleich auch in seine Epik gefunden«, um – davon ausgehend – in der Renaissance die Sonderstellung des Künstlers besonders zu befestigen, indem »seinem Ingenium ein ›Kindheitswunder‹ zugeschrieben wird«.366 362 363 364 365 366
Kris/Kurz 1995, S. 44, Hervorhebungen im Original. Ebda., S. 42. Ebda., S. 53. Ebda., S. 56. Ebda., S. 57f.
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6) Den Bereich von Kindheit/Jugend abschließend ist auch das Milieu, aus dem der Künstler stammt, Anlass zu anekdotischer Verdichtung. Verbunden mit dem Aspekt des sozialen Aufstiegs erkennen Kris und Kurz in den zahlreichen Hirten-Anekdoten eine »Vorstellung des Heros als Hirten«,367 die eng mit mythischen Helden-Bildern (etwa von ausgesetzten Fürstenkindern und Reichsgründern) verknüpft ist, und bei denen es sich einmal mehr »offenbar […] nicht um Tatsachen [handelt], die aus dem Leben dieser Meister bekannt waren, sondern um eingeschaltete Versatzstücke aus der Werkstatt des Biographen«.368 In Verbindung mit diesem ebenso ruralen wie mythischen Bild vom Hirten steht auch das Motiv des verleugneten Vaters: »Wir knüpfen an Motive des Mythos an und gehen […] davon aus, daß gerade in seinem Bereiche die Beziehung des Helden zu seinem Elternhause, die Herkunft des Helden, in einem sehr bestimmten Sinne dargestellt wird; es herrscht das Bestreben, den echten Vater dessen, der zum Helden erhöht wurde, zu verleugnen, durch einen höheren, königlichen zu ersetzen.«369 Mit den folgenden neun Punkten benennen Kris und Kurz Anekdoten-Formeln, die sich auf das Erwachsenenalter bzw. sich nicht explizit auf den kindlichen oder jugendlichen Künstler beziehen. 7) Ein Kernmotiv ist der »Leitgedanke […], daß der Künstler dem fürstlichen Laien […] als Fachmann gegenübersteht«370 oder, in einer zugespitzten Form, dass er dem Fürsten gleichberechtigt begegnet. Dass sich aus dieser Situation »auf Augenhöhe« – zumal in stark hierarischen Gesellschaften ohnehin – Konflikte ergeben, ist Teil der Ausgestaltung dieses Kernmotivs. 8) Mit ihm verbunden ist vor allem die Verehrung des Künstlers als »göttlich«, was Kris und Kurz als Leitgedanken von der Renaissance bis zu den Genie-Konzeptionen des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts benennen: »Der [Renaissance-]Künstler […], der so zum ›Griffel der Gottheit‹ geworden ist, wird selbst als göttlich geehrt. Die ›Religion‹, zu deren Heilsgestalten er zählt, ist die Geniereligion der Neuzeit.«371 Dass die Autoren den von der »Persona divina« (Michelangelo) abgeleiteten Begriff des »Divino« bis zum Diva-Begriff372 der Gegenwart führen, ist im Übrigen der einzige konkrete Hinweis auf Musik bei Kris und Kurz.373 367 Ebda., S. 58. 368 Hier insbesondere im Kontext der Merkwürdigen Lebensgeschichte von Franz Xaver Messerschmidt von 1794, s. Kris/Kurz 1995, S. 59. 369 Ebda., S. 60. 370 Ebda., S. 66. 371 Ebda., S. 74f. 372 Vgl. hierzu Grotjahn/Schmidt/Seedorf (Hg.) 2011. 373 Kris/Kurz 1995, S. 84f.
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9) Aufs engste verwoben mit dem als »göttlich« verehrten Künstler ist – quasi ex negativo – die Liaison mit dem Teufel: Sowohl die Unterstützung des Teufels bei der künstlerischen Arbeit (Handlangerdienste) spielt hierbei eine Rolle als auch die »Verschreibung der Seele des Künstlers an den Teufel«,374 ein Motiv, das vor allem in der Romantik weithin aufgegriffen wurde und hier in der Wahrnehmung des Virtuosen als Künstler eine zentrale Bedeutung wiedererlangte. 10) Generell – und nicht zwangsläufig mit dem Teufel-Motiv verbunden – ist das Staunen des Laien über die verrichtete künstlerische Arbeit ein weiterer zentraler Anekdoten-Kern. Die Virtuosität des künstlerischen Tuns – etwa Schnelligkeit, Präzision oder Technik – steht dabei im Vordergrund, mithin die »Leistung […] als Eigenwert, die Technik ist zum Selbstzweck geworden«.375 11) Einen breiten Raum schließlich nimmt die Anekdotik im Zusammenhang mit dem Verhältnis von Künstler und Publikum ein,376 jeweils mit dem Ziel, die Überlegenheit des Künstlers gegenüber seiner Umwelt in vielen Schattierungen darzustellen. Hierzu gehören »Schwank« und »Witz« – bei denen jeweils der Künstler einen Rollentausch vornimmt, indem er etwa vorgibt, selbst Laie zu sein, oder indem er das Publikum bewusst täuscht. Auch konfliktuöse Verhältnisse zu Auftraggebern (Motiv des Geizes), Kritikern oder persönlichen Gegnern spielen hierbei eine wichtige Rolle. In letzterem Fall wird häufig eine Wettbewerbssituation ins Zentrum der Anekdote gestellt, ein Motiv, das auch in der Musikgeschichte eine enorm weite Verbreitung fand. »Damit soll«, so betonen Kris und Kurz, »keineswegs die Häufigkeit von Künstlerkonkurrenzen geleugnet, sondern nur betont werden, daß die Biographik es liebt, Konkurrenzen in das Künstlerleben zu verflechten.«377 Gesteigert wird dieses Motiv, wenn das »Geheimnis des Künstlers« mithilfe der Wettstreit-Situation gelüftet werden soll, was nicht selten als Spiel auf Leben und Tod inszeniert wird. 12) Der als »göttlich« imaginierte Künstler ist, auch dies ein wichtiger Kern zahlreicher Anekdoten, als Schöpfer alleiniger Herrscher über sein »Geschöpf«, das Kunstwerk. Daraus leitet sich ab, dass der Künstler als einziger dazu befugt ist – und darin manifestiert sich der Rahmen seiner Macht besonders deutlich –, sein Kunstwerk selbst zu zerstören. 13) Ein breiter Bereich ist auch der pekuniäre Charakter der Kunst. Grundtenor ist hier – bei aller Unterschiedlichkeit der Ausgestaltung –, dass das 374 375 376 377
Ebda., S. 84. Ebda., S. 127. Vgl. hierzu ebda., S. 131ff. Ebda., S. 153.
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Kunstwerk, gerade indem es sich eines adäquaten Geldwertes entzieht, als herausragend charakterisiert wird. So finden sich entsprechend Anekdoten, die den (Geld-)Wert der Kunst mit dem Maßstab des Geizes des Käufers misst, andererseits aber auch Anekdoten, die die Unbezahlbarkeit des Kunstwerkes in die »Entsagung und Armut als Schicksal des Genies«378 umwendet. 14) Mit dem Motivkern Liebe als Quelle der Inspiration wird einer der beiden zentralen Aspekte angesprochen, die im Verhältnis »Leben und Schaffen« eine wichtige Funktion übernehmen. Für die Bildende Kunst, von der Kris und Kurz ausgehen, steht dabei vor allem das Verhältnis von Modell und Künstler im Raum, das sich – übertragen auf die Musik – im Verhältnis von Muse und Komponist wiederfindet. Grundlegend ist zudem der damit verwobene Motivkern, das künstlerische Schaffen als »eigene Kinder« zu verstehen: Früh habe sich, so die Autoren, der Gedanke durchgesetzt, »die Entstehung des Kunstwerkes durch lebensnahen Vergleich zu erfassen. […] von der Antike bis in die Neuzeit […] [reichen die] Überlieferungen, die im Kunstwerk das ›Kind‹ des Künstlers zu sehen und die Schöpfungen des Kunstwerkes nach dem Vorbild des Sexuallebens zu begreifen sucht.«379 15) Den zweiten Motivkern zum Bereich »Leben und Schaffen« sehen die Autoren in der Vorstellung, dass sich der Charakter des Künstlers in seinen Werken widerspiegele: »Die populäre Meinung bekennt sich rückhaltlos zu [dieser] […] Auffassung und ist erfüllt von dem Bestreben, das gewohnte Bild des Künstlers in seinem Werk zu finden.«380 Kehrt man nach diesem Exkurs zu Matthesons Lully-Biographie zurück, bietet es sich an, die kurze Zusammenfassung der charakteristischen Künstler-Anekdoten im Blick zu behalten und danach zu fragen, wie Mattheson im Rückgriff auf biographische Darstellungen Bildender Künstler ein Modell entwickelte, das ihm für die Darstellung eines Musikers als Künstler(genie) generell geeignet schien. Auf diese Weise lässt sich auch die Irritation ausräumen, dass Mattheson mithilfe von Anekdotik einen Beitrag »zur möglichsten Ausräumung aller groben Irrthümer«381 beizusteuern beabsichtigte. Denn im Vordergrund stand, über die Konstruktion eines vorgeprägten Künstlerbildes 378 Ebda., S. 145. 379 Ebda., S. 147. Zur Methapher des eigenen Werks als »Kind« und dessen Genderimplikationen vgl. auch Borchard 2005a. 380 Kris/Kurz 1995, S. 152. 381 Der vollständige Titel lässt diesen Anspruch deutlich werden: Critica musica. d.i. Grundrichtige Untersuch- und Beurtheilung vieler theils vorgefaßten theils einfältigen Meinungen Argumenten und Einwürffe so in alten und neuen gedruckten und ungedruckten Mu-
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den Komponisten in den Kanon der biographiewürdigen Künstler zu holen und ein adäquates, d. h. in der Kunstgeschichte erprobtes Modell für deren biographische Darstellung bereitzuhalten. Dies stand keineswegs im Widerspruch zu einer »reinen harmonischen Wissenschafft«, im Gegenteil – der sichere Umgang mit dieser Form der biographischen Darstellung war höchster Ausweis historiographischer Kompetenz (seitens des Autors) und Relevanz (seitens der biographierten Person). In der Übersicht (vgl. Abb. 1, siehe folgende Seite) ist rasch erkennbar, welche Anekdoten-Kerne Mattheson aufgreift, um den Lebensgang Lullys darzustellen. Aus dem Fundus der »biographischen ›Formeln‹«, die Kris und Kurz als für den Künstler-Heroen besonders wichtig erachten, griff Mattheson – jeweils stilisiert in entsprechenden Anekdoten – folgende heraus: die niedrige soziale Herkunft, das Eingreifen des Schicksals, autodidaktisches Erlernen der späteren Kunst, die Entdeckung des Talents und die konfliktuöse Begegnung mit einem Mächtigen und das Sich-Erheben über einen sozial Höherstehenden auf dem Gebiet der Kunst. In Matthesons Biographie heißt es dazu etwa, Lully sei als »armer Knabe« aufgewachsen, den »das Glück erst rechtschaffen erniedrigte« und der »als Küchen-Junge aufzuwarten« hatte, »welches wahrlich ein elender Anfang war«.382 Aus derart niedrigen sozialen Verhältnissen stammend lernt Lully autodidaktisch Geige, was Mattheson unter dem Stichwort »Trieb« ausführlich schildert: »Wie er nun in diesen jungen Jahren schon eine gewaltige Neigung zur Music hatte, so machte er sich bey müßigen Stunden über die Violine […] und übete sich darauf mit grossem Fleisse.« Erst nach diesem autodidaktischen Erlernen erhält Lully »einen Meister, der ihn auf der Violine perfectioniren sollte«.383 Deutlich folgt Mattheson mit diesen und weiteren Beispielen dem Vorbild eines durch Anekdotik abgesicherten Künstlerbildes, entsprechend den oben genannten Punkten deckt Mattheson damit fast alle genannten Kernmotive ab.
sicalischen Schrifften zu finden. Zur möglichsten Ausräumung aller groben Irrthümer und zur Beförderung eines besseren Wachsthums der reinen harmonischen Wissenschafft. 382 Mattheson 1722, S. 178f. 383 Ebda., S. 179.
[Vorrede]
2
Vaterland
2, 6
Lehrmeister
3, 5
Dienst
2
Trieb
4, 1
Ruhm
3
Fleiß
bürgerliche Tugend
Aufnahm[e]
4
Vorzug
4
Ehre-Stelle
4
Opern-Direktion
7
Person
Physiognomie
Gemüth Ehrgeiz
demokratische Gesinnung 11
Eifer Probe
Ergänzungen
Anekdotischer Kern
Biographische Konzepte in Musik und Musikgeschichtsschreibung
Kapitelüberschrift
128
Gerechtigkeitsempfinden 10
Erfahrung im Tanzen
Gerechtigkeit
In der Action
Kollegialität
Ansehen
Kollegialität/Gerechtigkeit
Art zu componiren
Bürgerlichkeit
Violine
7
1. Poet
7
2. Poet
7
Haushaltung
Bürgerlichkeit
Tödlicher Zufall Uebele Cur Beichte
12
Scherz
11
Tod Werke Abb. 1: Matthesons Lully-Biographie und ihre Anekdoten-Kerne nach Kurz/Kris
Interessant freilich ist auch, welche Punkte Mattheson auslässt und wie er mit ergänzenden Motivkernen einen deutlich antifeudal-bürgerlichen Schwerpunkt zusätzlich anlegt: Die Verehrung des Künstlers als »göttlich« (Punkt 8) wie auch dessen Pendant (Teufelspakt, Punkt 9) lässt Mattheson ebenso un-
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erwähnt wie ein – im bürgerlichen Sinn – ungeordnetes Verhältnis zu Geld, Familie und Sexualität (Punkte 13–15), jene Motivkerne, die dann vor allem für ein romantisches Künstlerbild virulent wurden. Stattdessen ergänzt Mattheson Aspekte, die Lully als einen kollegialen, nicht hierarchisch agierenden und seiner Leitungsverantwortung bewussten Musikdirektor darstellen: »Sein Herz war recht gut. […] Er hatte keinen Stolz und hielte auch mit dem allergeringsten Musico als mit seines gleichem Freundschafft; doch ohne sich gemein zu machen.«384 Diese Aussage über Lully veranlasst Mattheson zu folgender Fußnote: Das musicalische Regiment will zwar ein Ansehen aber nichts despotisches haben: was soll der Zwang da nutzen, wo die Absicht nicht auf Leib und Leben, auf Gut und Blut, auf Ehre und Herrschafft, sondern einzig und allein auf Vergnügung und Zufriedenheit gerichtet ist? Eintracht bringt Harmonie hervor. Eine Capelle ist fast wie ein Engelländisches Parlament, darinn der Capellmeister König ist. Die grosse Menge der mit Fleiß dissonirenden dienet nur, den Staat mehr und schöner zu befestigen.385
Mit diesen Ergänzungen und mit den entsprechenden Auslassungen aus dem Anekdoten-Katalog eines Künstlerheros gelingt es Mattheson, Lully einerseits als herausragenden Künstler, andererseits als einen nicht in absolutistischen Zwängen gefangenen, sondern zumindest mit dem Herrscher auf Augenhöhe kommunizierenden, wenn nicht gar nach demokratischen Idealen handelnden Musiker darzustellen – eine Sichtweise, die auf Lullys Umfeld am Hof von Versailles jenes politische Ideal überträgt, das sich, so Rainer Bayreuther, in der Verbindung von Kunst und Politik […] vom Typus des barocken Herrschers, der Macht durch Kunst inszeniert, völlig abgelöst [hat]. Sein Ideal ist der Herrscher, der Kunst nicht nur in den politischen Dienst nimmt, sondern ihre Prozessualität internalisiert und die strukturelle Querverbindung der Prozessualität von Musik und Politik begriffen hat. Das läuft auf eine Kulturpolitik hinaus, die nicht auf die Inszenierung von Herrschaft, sondern auf den ästhetischen Nachvollzug von Regieren abzielt.386
Dieses Modell aber verlangt nach einer spezifischen Konstellation zwischen Herrschendem und Untergebenen: »Der Regent ist aber nurmehr primus inter pares«.387 Vor allem verlangt es nach einem neuen, emanzipierten Bild 384 385 386 387
Ebda., S. 180. Ebda. Vgl. hierzu auch Matthesons hierarchische Darstellung der Musikerberufe. Bayreuther 2008, S. 323. Ebda.
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Biographische Konzepte in Musik und Musikgeschichtsschreibung
vom Musiker, das Mattheson in der Ehren-Pforte anhand des AnekdotenModells zu etablieren versucht. Hypothek für nachfolgende Musikerbilder wird gleichwohl bleiben, dass Matthesons »politischer« Begriff von Musik, »der mit der akustischen Dekorierung von Politik kaum mehr zu tun hat«388 und sich aus der Abhängigkeit absolutisischer Zwänge befreit, zugleich einem heroischen Konzept Vorschub leistet, das in sich wiederum absolutistische Züge trägt.
Mozart-Anekdotik Die Anekdote spielte, von Matthesons Modell-Vorstellung ausgehend, noch bis ins 19. Jahrhundert hinein eine prominente und wechselvolle Rolle in der Musikerbiographik und der Musikgeschichtsschreibung.389 Von Marpurgs Musiker-Satiren in der Legende war bereits die Rede, nochmals aufgegriffen aber sei eine Anekdote, die bezeichnenderweise in der Karrierekonzeption von Vater und Sohn Mozart sowie um 1800 im Idealismuskonzept der Mozart-Biographik eine wichtige Rolle spielte: die sogenannte Fußtritt-Anekdote. Gernot Gruber legte in seiner 2005 erschienenen Mozart-Biographie eine minutiöse Analyse jener Ereignisse im Frühsommer 1781 vor, als Wolfgang Mozart aus dem Hofdienst des Salzburger Erzbischofs sich zu lösen begann, schildert dabei die keineswegs engbeschnittenen Handlungsspielräume des jungen Mozarts in den Wiener Adelskreisen, erwähnt die für den Hofdienst üblichen Rahmenbedingungen und meldet schließlich berechtigten Zweifel an jener Episode an, die ausschließlich aus Briefen Wolfgang Mozarts überliefert sind: »Was sich in der Folge im Detail wirklich abgespielt hat, wissen wir nur aus Mozarts Berichten. Ob ihm Graf Arco zuletzt tatsächlich den berühmten und in jede Feudalismus-Kritik passenden Fußtritt versetzt hat? Zumindest ist es ›ben trovato‹ – von Mozart gut erfunden.«390 Zum »ben trovato« gehört auch eine Erzähldramaturgie, auf die Gruber ebenfalls zu sprechen kommt: »Sein Bericht in vielen, dicht aufeinanderfolgenden Briefen folgt einer vorzüglich gesteigerten Dramaturgie hin zur Katastrophe und Peripetie des Dramas. Sie 388 Ebda., S. 324. 389 Vgl. dazu auch Unseld/von Zimmermann (Hg.) 2013, hier insbesondere die Beiträge von Camilla Bork, Frank Hentschel und Melanie Unseld. Den interdisziplinären Diskussionen im Vorfeld und während der Tagung Anekdote – Biographie – Kanon. Zur Geschichtsschreibung in den Schönen Künsten verdankt dieses Kapitel außerordentlich viel (vgl. dazu auch das Vorwort von Unseld/von Zimmermann [Hg.] 2013 sowie Unseld 2013a). 390 Gruber 2005, S. 85–90, hier S. 85.
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lesen sich wie ein Schauspiel für sich, das Mozart seinem Vater bietet.«391 Von Bedeutung ist auch jene von Gruber zitierte Passage aus einem Brief Mozarts an seinen Vater, in dem dieser von einem Auftritt bei Fürst Golizyn berichtet: Ich gieng also mit fleiß weil ich mich schäme mit ihnen [den anderen Hofmusikern Brunetti und Ceccarelli] wohin zu gehen, allein hin; – als ich hinauf kamm stund schon H: Angelbauer[392] da den H: bedienten zu sagen, daß er mich hineinführen sollte – ich gab aber weder auf den H: Leibkammerdiener noch H: bedienten acht, sondern gieng gerade die zimmer durch in das Musick-zimmer, den die thürn warn alle offen. – und schnurgerade zum Prinzen hin und macht ihn mein Compliment – wo ich dann stehen blieb, und immer mit ihm sprach; – ich hatte ganz auf meine Cecarelli und Brunetti vergessen, dann man sahe sie nicht – die steckten ganz hinterm orchestre an die Mauer gelehnt, und traueten sich keinen schritt hervor.393
Mozart berichtet seinem Vater auffallend ausführlich von seinem »Auftritt« im Haus des Fürsten Golizyn, was als ein erster Hinweis darauf verstanden werden kann, dass es ihm hier um sein Selbstverständnis als Künstler zu tun war. Indem er diese Episode gleichsam theatral inszeniert, wird dabei nicht nur das ihm eigene dramatische Gespür erkennbar, sondern auch sein Bewusstsein, dass es sich hier um eine Schlüsselszene handelt, die im Moment des Gegenübertretens und Konversierens mit dem Prinzen zu einem Bild gerinnt. Und so fasst auch Gruber diesen Moment als Höhepunkt auf, wenn er dazu bemerkt: »Mozart tritt also in dieser Szene wie ein Souverän auf.«394 Und in der Tat inszeniert sich Mozart hier wie ein »Hofkünstler« in dem von Martin Warnke beschriebenen Sinn mit dem »Bewußtsein von einer höheren Bestimmung des Künstlers«.395 Das »Bild« aber, das Mozart hier von sich zeichnet, hat im Brief396 bereits seine Schriftform gefunden, und in seinem dramaturgischen Aufbau – Eintritt in das Haus des Fürsten, das Durchschreiten der Räume, die Begegnung mit dem Fürsten auf Augenhöhe, die Randnotiz zu den Musikerkollegen – nähert sich der Bericht bereits den Gestaltungsprinzipien einer Anekdote. 391 Ebda. 392 Angelbauer war Leibkammerdiener des Erzbischofs, der üblicherweise die Musiker des Erzbischofs in den Adelshäusern erwartete, um sie dann »zu passender Zeit durch einen Bedienten zur Gesellschaft führen zu lassen. Der Geiger [Brunetti] und der Sänger [Ceccarelli] nahmen dieses Procedere widerstandslos hin, nicht aber Mozart« (Gruber 2005, S. 86). 393 Mozart Briefe GA, Bd. III, S. 98. Vgl. auch Gruber 2005, S. 86. 394 Ebda. 395 Warnke 1996, S. 328. 396 Zur Bedeutung der Briefkorrespondenz in der Familie Mozart und dem damit verbundenen historisch-biographischen Bewusstsein auch Unseld 2006b.
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Dem Zweifel Gernot Grubers, dass der Fußtritt des Grafen Arco tatsächlich stattgefunden hat, möchte ich an dieser Stelle nicht unmittelbar neue Nahrung geben im Sinne des Wie-es-»eigentlich gewesen«-sei. Wohl aber möchte ich eine Lesart des Briefes, der die Grundlage zur Anekdote liefert, zur Diskussion stellen, die die Funktion der Anekdote berücksichtigt, vor allem auch die Art und Weise, wie Wolfgang Mozart diese offenbar bewusst zu nutzen versuchte, um sein neues Selbstverständnis als »freier Künstler« zu gestalten. Adressat des Briefes ist der Vater, der – wie oben ausgeführt – ein eigenes Karrierekonzept für den Sohn vorgesehen hatte, das des »gelehrten Capellmeisters«. Auszugehen ist daher (nochmals) von der Schilderungen Wolfgang Mozarts im Wortlaut, wobei es lohnend ist, sowohl auf den dramaturgischen Aufbau als auch auf die Gestaltung der »Schlusspointe« zu achten: Der Erzbischof hat mir 2 mal die grösten impertinenzen gesagt, und ich habe kein Wort gesagt, noch mehr ich habe bey ihm mit dem nemlichen Eyfer und fleiß gespiellt, als wenn nichts wäre; und anstatt daß er meinen DienstEyfer und mein bestreben ihn zu gefallen erkennen sollte, geht er […] zum drittenmal auf die abscheulichste art von der Welt [mit mir] um. […] anstatt daß graf Arco meine bittschrift angenommen, oder mir audienz verschafet, oder gerathen hätte selbe nachzuschicken, oder mir zugeredet hätte die sach noch so zu lassen, und besser zu überlegen, afin, […] – Nein – da schmeist er mich zur thüre hinaus, und giebt mir einen tritt im hintern.397
Dem Vater stand zu diesem Zeitpunkt das anzustrebende zukünftige berufliche Profil des Sohnes eines am Hof angestellten »Capellmeisters« klar vor Augen. Er sah dieses Profil freilich durch die Aktivitäten des Sohnes in Wien massiv gefährdet. Damit drohte die Anstellung am Salzburger Hof als Basis für die Karriere als »gelehrter Hofbeamter und Componist im höchsten Grad« (Mattheson) zu schwinden. Auffällig ist freilich an den Briefen jener Wochen, dass der Sohn dem Vater regelmäßig seine Ehrenhaftigkeit versichert: »seyn sie versichert daß ich gewis Religion habe« oder »wegen meinen Seelenheyl seyen sie ohne Sorgen, mein bester vatter!«398 Das Festhalten am Ideal eines honetten Musikers stellt der Sohn gerade in den Briefen jener Tage und Wochen immer wieder deutlich heraus und betont, dass die Wiener Gesellschaft ihn als Künstler und Mensch hoch schätze, während er vom Erzbischof nur Missachtung erfahre: »der Erzbischof schmält hier über mich bey der ganzen Welt, und ist nicht so gescheid da er einsieht da ihm das keine Ehre macht; denn man schätzt mich hier mehr als ihn.«399 397 Mozart Briefe GA, Bd. III, S. 128f. 398 Ebda., S. 130 und 129. 399 Ebda., S. 123.
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Im Briefwechsel mit dem Vater werden neben der Frage des Hofdienstes vor allem auch die Fragen der Ehre und des Künstlerseins verhandelt. Mit Matthesonschem Vokabular argumentiert der Sohn explizit, dass er auf seine Ehre als Künstler und Mensch bedacht, er damit (implizit) auf dem Weg zum »berühmten Capellmeister« sei, dem es zusteht, in den »Büchern« verewigt zu werden. In dieser Situation beschreibt Wolfgang Mozart, sprachlich ungemein elaboriert, den Fußtritt als ein herausragendes Ereignis, das seinen Bruch mit dem Erzbischof ebenso zu markieren hat wie seinen Eintritt in die Welt des freien Künstlertums. Den Vater und sein Verständnis von erfolgreichem und berühmten Künstlertum dabei beständig im Blick, greift Wolfgang Mozart hierbei auf ein Anekdoten-Modell zurück, das seit der Renaissance als Kennzeichen der »Sonderstellung des Künstlers«400 galt und entsprechend in Künstlerbiographien immer wieder das Eintreten des Künstlers in die Welt der Berühmtheit markieren sollte: Adelige könne der Kaiser, Maler nur Gott machen […]. Das ist die Fassung des Gedankens, die in einer Flut gleichzeitiger Anekdoten auftaucht, in denen unter dieser Devise die Sonderstellung des Künstlers verkündet wird; so [etwa auch] in van Manders Biographie des Holbein. Der Künstler ist mit einem englischen Grafen in Streit geraten und hat ihn die Treppe seines Hauses hinabgeworfen. Der Graf, der sich beim König beklagt, erhält die Antwort: »Ich sage Euch, Graf, daß ich, wenn’s mich gelüstet, aus sieben Bauern sieben Grafen machen könnte, aber aus sieben Grafen nicht einen Hans Holbein.«401
Unabhängig davon, ob der Fußtritt tatsächlich stattgefunden hat oder nicht, unabhängig auch davon, ob der Auftritt bei Fürst Golizyn in der beschriebenen Weise stattgefunden hat oder nicht: Deutlich wird, dass Wolfgang Mozart diese »Szenen« aus Wien für den Vater aufschrieb und dabei sowohl Gestaltungsprinzipien als auch Funktionen der Anekdote – als Beweis seiner Ausnahmestellung als Künstler und als expliziter Hinweis auf seine Biographiewürdigkeit – nutzte. Der Fußtritt ist damit kein Anzeichen einer Degradierung, der Auftritt bei Fürst Golizyn kein Beweis für unangemessenes Verhalten, sondern im Gegenteil: die Selbstinszenierung durch eine Aufwertung zum Ausnahmekünstler auf Augenhöhe mit dem Herrscher. Den Weggang aus dem Hofdienst will Wolfgang Mozart damit nicht als Abstieg in eine Umgebung mit »unzähligen moralischen Mängeln« (Scheibe) interpretiert wissen, sondern als eine Aufwertung im Sinne des von Machtwillkür emanzipierten Künstlertums, dessen aufklärerische Grundhaltung durch diese Art der Anekdotik, die die moralische Integrität des Bürgers dem zweifelhaften 400 Kris/Kurz 1995, vor allem Kapitel IV »Die Sonderstellung des Künstlers in der Biographik«. 401 Ebda., S. 76.
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Wertekanon des Herrschenden gegenüberstellte, gestützt werden konnte. Dass er dabei auf ein Inszenierungsmuster als »Hofkünstler« zurückgriff, stützt nochmals die These Warnkes, dass dieser, gerade in seiner emanzipierten Haltung gegenüber dem Machthaber, Modell für den »freien Künstler« stand. Eine alternative Lesart der Fußtritt-Anekdote von Mozart scheint vor diesem Hintergrund zu sein, das Konzept der »Sonderstellung« des Komponisten als ebenso herausragendem wie (musik)historiographisch relevanten Künstler darin chiffriert zu sehen.402 Diese These wird auch durch die allgemeine Funktion der Anekdote zur Zeit der Aufklärung gestützt, die Sonja Hilzinger analysiert hat: Der Bildungs- und Erziehungsanspruch der Aufklärer realisierte sich unter anderem in einer moralisierenden Präsentation. Auch dafür eignete sich das Menschenbild der Anekdote hervorragend, übrigens in zweifacher Weise. Die Präsentation einzelner Charakterzüge bedeutender Persönlichkeiten in Gestalt isoliert wiedergegebener Aussprüche und Begebenheiten erlaubte es auf der einen Seite, diese Menschen zu idealisieren oder zu karikieren; auf der anderen Seite bot sie den Leserinnen und Lesern vorbildliche oder zu vermeidende Verhaltensalternativen, so daß an einfachen und deshalb eindeutigen Beispielen moralisch richtiges und falsches Verhalten zu lernen war.403
Wusste Mozart von dieser Funktion? Kannte er Künstler-Anekdoten, und war ihm deren (selbst)inszenatorische Kraft bewusst? Zumindest lässt sich an der Tatsache, dass sich in Mozarts Bibliothek Anekdoten-Literatur befand, erkennen, dass er die Anekdote als eine das Menschenbild formende Gattung durchaus kannte. Der Kommentar, dass dieser Band allein Mozarts »Amüsement« gedient habe, und »eine Erklärung, wie [sic] und warum er das Bändchen in seiner Bibliothek stehen hatte, […] sich allerdings nicht beibringen [lasse]«,404 geht an der von Hilzinger beschriebenen Funktion von Anekdoten zur Zeit der Aufklärung sicherlich ebenso vorbei, wie er der aus anderen Zusammenhängen bekannten Auseinandersetzung im Hause Mozarts mit Geschichtlichkeit, Biographiewürdigkeit und dem aufklärerischen Ideal eine »berühmten Capellmeisters«, von dem »die Nachwelt auch noch in Büchern« lesen solle, nicht gerecht wird.405 Die von Hilzinger beschriebene Funktion der Idealisierung jedenfalls nutzte beispielhaft Friedrich Rochlitz, als er 1798 in der Allgemeinen Musikalischen Zeitung eine Reihe von »Verbürgte[n] Anekdoten aus Wolfgang Gott402 403 404 405
Vgl. dazu auch Unseld 2013a. Hilzinger 1997, S. 47. Konrad/Staehelin 1991, S. 40. Das Zitat bezieht sich auf Leopold Mozarts Brief an seinen Sohn, vgl. dazu auch Unseld 2006.
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lieb Mozarts Leben« veröffentlichte.406 Dass er einleitend einige allgemeine Betrachtungen zur Anekdote und ihren Funktionen voranstellte, stützt die These, dass sich die Anekdotik um 1800 in einem historiographisch-biographischen Diskussionsfeld bewegte. Rochlitz’ Argumente für eine Idealisierung – ein musikhistoriographisches Konzept, das er nicht nur auf Mozart, sondern vor allem auch auf Ludwig van Beethoven anwandte – waren für die folgenden Jahrzehnte der Musikerbiographik richtungsweisend. Da bereits eine Reihe unrichtiger Anekdoten über Mozart kursierten, habe er, Rochlitz, sich dazu veranlasst gesehen, »Anekdoten aus seinem Leben den umherlaufenden wenigstens an die Seite« zu setzen, »um das Urtheil über ihn, als Mensch, zu berichtigen, als Künstler, vielleicht etwas näher zu bestimmen«.407 Er verbürge sich dabei für die »Wahrheit meiner Erzählungen«, zeichne dafür mit seinem Namen, denn er habe Mozart »persönlich kennen [ge]lernt«, war mithin Zeitzeuge, und habe sich darüber hinaus bei der Witwe Mozarts und »verschiedene[n] vertraute[n] Freunde[n] Mozarts« nach dessen Tod ausführlich besprochen und »mir alles, was ich von ihm wusste, bestätigen, berichtigen oder widerlegen« lassen.408 Die Anekdoten selbst seien damit, so Rochlitz, biographisches Quellenmaterial ersten Ranges, dessen Authentizität in keiner Weise anzuzweifeln sei: »Sollte Mozart einmal einen wahren Biographen finden, so betrachte dieser meine Kleinigkeiten als Beytrag zu Materialien«.409 Seine Zeitzeugenschaft brachte Rochlitz damit als Bürgschaft ins Spiel, wie dies in der theoretischen Auseinandersetzung mit biographischem Schreiben des ausgehenden 18. Jahrhunderts allenthalben diskutiert wurde.410 Mit dem Anspruch auf Anekdotik als Quelle für Biographie (und Geschichtsschreibung) freilich wandte Rochlitz die Vorstellung des Modellhaften, das sich in der Anekdote auspräge, ins Positivistische, was nicht so sehr als historiographische Volte, sondern vielmehr vor dem Hintergrund einer um 1800 sich gerade erst konsolidierenden Musikgeschichtsschreibung zu verstehen ist, zu deren dringendsten Aufgaben nicht zuletzt auch die Kanonisierung von Personen und Werken zählte.411 Rochlitz hatte seine Anekdotensammlung als »Beytrag zur richtigern Kenntnis dieses Mannes, als Mensch und Künstler«412 verstanden wissen 406 407 408 409 410
Dazu auch Schaal 1970, Solomon 1991b, Konrad 1995. Rochlitz 1798a, Sp. 19. Ebda., Sp. 19f. Ebda., Sp. 20. Vgl. dazu etwa die Diskussionen im britischen Kontext (v. a. Samuel Johnsons Auffassung, dass man nur über jemanden biographisch schreiben könne, mit dem man zusammen gegessen und getrunken habe, vgl. Jonas 2009, S. 289). 411 Vgl. dazu auch das Vorwort von Unseld/von Zimmermann (Hg.) 2013. 412 Rochlitz 1798a, Untertitel, Hervorhebung M. U.
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wollen. Auch von »Wahrheit« spricht Rochlitz mehrfach, die er durch die verbürgten Anekdoten veröffentlichen wolle.413 Das Wechselverhältnis aber einer so verstandenen Anekdote und einer Idealisierung markiert den Beginn eines neuen Denkens über Musikerbiographik und Musikgeschichtsschreibung. Rochlitz löst sich von der Anekdotik im Sinne Matthesons, wertet sie als historische (da verbürgte) Quelle auf – und mündet doch in einer deutlichen (und expliziten) Idealisierung: Ich beschließe also vor der Hand diese Kleinigkeiten […] mit dem Wunsche, daß es mir gelungen sein möchte, der Menge von verächtlichen, lieblosen, widerlichen Anekdoten, mit der man sich noch immer über Mozart trägt – wenn man sie sich nicht ganz nehmen lassen will: doch einige anständigere wenigstens an die Seite gesetzt zu haben, die, wenn sie auch noch so unbeträchtlich sein sollten, doch den Vorzug haben, daß sie wahr sind.414
Der gestaltete und gestaltende Kern der »Wahrheit« liegt dabei genau auf jener von Hilzinger beschriebenen Linie der Anekdotik um 1800, die in »isoliert wiedergegebene[n] Aussprüche[n] und Begebenheiten erlaubte, […] Menschen zu idealisieren«. Wie passgenau dies auf das sich neu entwickelnde Bild des Komponisten als Genie zuläuft, lässt sich bei Rochlitz anschaulich nachlesen: Man müsse Mozart vor »beschränkte[n] Geistern« in Schutz nehmen, deren Ziel es sei, »jenen Genie’s das Verdienstliche und Ausgezeichnete ihrer Werke wegzudemonstriren oder wegzuwitzeln«.415 Und weiter: »dürfen wir einen solchen Mann nach dem Maasstabe beurtheilen, der mit Recht für uns mittelmässige Leutchen zum Richtscheit dient? hat das Sprüchwort keinen Werth mehr: Duo dum faciunt idem, non est idem?«416 Aus der moralischen Integrität, die als Nachweis der Biographiewürdigkeit gedient hatte, wird in der Idealisierung eine moralische Überhöhung, bzw. ein Moraldispens der »ausgezeichnetsten Männer«,417 die zwar nicht frei von Fehlern, durch ihr Schaffen aber aus Alltag und Mittelmäßigkeit herausgehoben sind. In beiden Argumentationsstrategien aber erfüllte die Anekdote eine wichtige Funktion. 413 Noch 1970 hob Richard Schaal beim Wiederabdruck der Rochlitzschen Anekdoten die Zeitgenossenschaft hervor und bekräftigt damit den Wahrheitsanspruch der Anekdoten: »Rochlitz liefert mit seinen Anekdoten beachtenswerte Einzelheiten aus dem Leben und Wirken des Künstlers, deren Wert durch die Authentizität der Angaben entscheidend erhöht wird. Ihr Verfasser kannte Mozart persönlich und erhielt von der Umgebung des Komponisten aufschlußreiche Hinweise. Die Anekdoten vermitteln also wahre Begebenheiten und vom Autor selbst festgestellte Wesenszüge Mozarts. Sie sind keineswegs frei erfunden«. Schaal 1970, S. 48. 414 Rochlitz 1798f, Sp. 179. 415 Rochlitz 1798a, Sp. 17. 416 Ebda., Sp. 19. 417 Ebda., Sp. 17.
2. Wunderkind, Karriere und Zirkel: Lebenslauf-Modelle
Biographien folgen – bewusst oder unbewusst, ex- oder implizit, affirmativ oder dementierend – Lebenslaufmodellen. Bereits Mattheson hatte von einem »deutliche[n] Model […] eine[r] Lebens-Beschreibung«418 gesprochen, hatte dabei das Muster der Künstlerbiographik, wie sie für die Bildende Kunst seit dem 15./16. Jahrhundert erprobt worden war, aufgegriffen und mithilfe eines dichten Anekdoten-Netzes ein solches Modell erstellt. Und Gerber hatte zwar kein starres Schema seinen lexikalisch-biographischen Artikeln zugrund gelegt, wohl aber einen Motivfundus, auf dem er alle Einträge aufbaute, und den er um seinen Anspruch, die Vielfalt musikbezogenen Handelns zu thematisieren, gruppierte. Eine frühe Form des Leben-Werk-Wirkung-Modells lexikalisch-biographischen Schreibens kann hierin gesehen werden. Solche Modelle sind – wie bei Mattheson – zuweilen explizit und damit deutlich sichtbar, häufiger aber implizit – wie bei Gerber – und damit nur indirekt wahrnehmbar. Wie alle mentalen Dimensionen von Erinnerungskultur aber sind die Modelle vor allem veränderbar, wobei sich in ihrem Wechselspiel aus Beharrungsvermögen und Veränderung nicht zuletzt auch Variationen des Künstlerbildes widerspiegeln. Und, je fester sich der Beruf des Musikers, später auch der Musikerin, im Kreis der anerkannten Künstlerschaft etablierte,419 je selbstverständlicher damit der Rückgriff auf zur Verfügung stehende Modelle wurde, desto stärker ist eine aktive Auseinandersetzung der Musiker und Musikerinnen mit jenen Modellen erkennbar: ein planvolles Agieren innerhalb der Handlungsspielräume dieser Modelle bzw. auch ein Austarieren ihrer Grenzen. Künstlerische Selbstkonzepte und Lebenslaufmodelle beeinfluss(t)en sich entsprechend wechselseitig. Wie stark auf diese Weise Biographik auf individuelle Lebensläufe eingewirkt hat (etwa durch die intendierte Vorbildfunktion, wie sie Ignaz Ferdinand Arnold in seiner Mozart-Biographie im Untertitel ausweist: Mozarts Geist. […] Ein Bildungsbuch für junge Tonkünstler, 1803) und umgekehrt, wie stark wiederum Lebensläufe biographische Modelle geprägt haben (auch hier ist Mozart mit seiner »Wunderkind-Biographik« zu nennen), darauf weisen Kris und Kurz hin, dabei den unbewussten Vorgang dieser wechselseitigen Beeinflussung hervorhebend:
418 Mattheson 1722, S. 178. 419 Zu diesem Prozess im Hinblick auf den Beruf des Komponisten vgl. Beer 2000.
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Ein doppelter Zusammenhang scheint zwischen Biographik und Lebenslauf zu bestehen. Die Biographik verzeichnet das typische Geschehen und durch die Biographik wird das typische Schicksal eines Berufsstandes geprägt, ein typisches Schicksal, dem der Tätige sich ein Stück weit unterwirft. Diese Beziehung betrifft nicht ausschließlich oder vor allem das bewußte Denken und Handeln des einzelnen – in dem sie durch eine besondere »Berufsethik« vertreten sein mag –, sondern gehört dem Unterbewußten an. Das psychologische Gebiet, auf das wir hier hindeuten, mag man unter dem Schlagwort »Gelebte Vita« begreifen.420
Mit Blick auf die Musikkultur wird freilich auch erkennbar, dass neben der »Gelebten Vita« auch bewusst Karriereplanung, Lebenslaufmodelle und künstlerisches Selbstkonzept einander beeinflussten, wobei nicht immer trennscharf zu unterscheiden ist, ob es sich um unbewusste oder bewusste Einflüsse handelt. Es wird daher einerseits zu betrachten sein, welche Lebenslaufmodelle wann und für wen zur Verfügung standen und insbesondere wie mit Reibungen oder gar Unvereinbarkeiten mit derartigen Lebenslaufmodellen durch Biographen und Biographinnen umgegangen wurde. Besonders interessant scheint an diesem Punkt aber auch zu sein, wie die Akteurinnen und Akteure selbst, also Komponisten/Komponistinnen und Musiker/Musikerinnen, mit derartigen Lebenslaufmodellen umgingen, wie sie sie zu beeinflussen suchten – etwa durch das Schreiben einer Autobiographie oder, nicht nur bei Franz Liszt, durch die direkte Einflussnahme auf Biographen und Biographinnen – und welche Strategien sie möglicherweise zur Unterwanderung solcher Modelle anwandten. Im Folgenden seien drei biographische Lebenslaufmodelle genauer betrachtet, womit freilich keinesfalls eine Vollständigkeit derartiger Modelle reklamiert sei, sondern vielmehr exemplarisch ihre Nachhaltigkeit und ihre Wechselwirkung mit künstlerischen Selbstkonzepten und Biographik zur Sprache gebracht werden soll: das »Wunderkind«-Modell, das Entwicklungs-Modell sowie das Modell des genealogischen Kreislaufs. Das früheste der drei ausgewählten Modelle ist das des »(musikalischen) Wunderkinds«. Es entstand aus der allgemeinen »Wunderkind«-Begeisterung des 18. Jahrhunderts und konkretisierte sich so stark am Beispiel des jungen Wolfgang Amadeus Mozart, dass sowohl dieser als Person als auch das Schreiben über seine Person (hier vor allem durch Friedrich Schlichtegrolls Nekrolog) modellhaft wirkten.421 420 Kurz/Kris 1995, S. 164. 421 Dieses Modell wirkt bis in die Moderne fort, im 20. Jahrhundert sind – unter den Komponisten – insbesondere Erich Wolfgang Korngold und George Gershwin unter
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Die »Wunderkind«-Biographik folgt einem Modell, das von Beginn der (zumindest monographischen) Musikerbiographik große Relevanz hatte – im deutlichen Gegensatz zur allgemeinen Biographik, die (zumindest bis Sigmund Freud) die Kindheit »eher als eine unbedeutende Vorphase abgehandelt«422 hat. Ausgangspunkt dieses Modells war Wolfgang Amadeus423 Mozart, nicht so sehr aufgrund der nicht-geschriebenen »Wunderkind«-Biographie seines Vaters, sondern vor allem durch den Fokus, den Schlichtegroll in seinem Nekrolog424 angelegt hatte. Die Schwerpunktsetzung auf Kindheit und Jugend und die Art der Beschreibung waren derart wirkmächtig, dass sich hiervon das Modell der »Wunderkind«-Biographik ableiten lässt. Zum Entstehungskontext des Nekrologs ist zu sagen: Schlichtegroll hatte Maria Anna von Berchtold zu Sonnenburg um biographisches Material gebeten, welches diese ihm umfänglich zuschickte. Ihre Notizen behandeln dabei – wie kaum anders zu erwarten – im Wesentlichen die Kindheits- und Jugendjahre Mozarts bis zu seinem Wechsel nach Wien. Da danach zwischen den ehedem so eng verbundenen Geschwistern kaum noch (Brief-)Kontakt bestand, wusste die Schwester ausgesprochen wenig über die Tätigkeiten ihres Bruders. Entsprechend kursorisch schrieb sie über die Jahre zwischen 1781 und 1791: »Er wird sich wohl in dieser Zeit in der composition um Vielles
Benutzung dieses Modells biographiert worden. Es ist zu betonen, dass das Phänomen »Wunderkind« – trotz der unten angeführten Literatur – in der Musikwissenschaft weiterhin ein Forschungsdesiderat darstellt. Auch die folgenden Überlegungen, die sich auf das damit verbundene biographische Modell fokussieren, können diese Lücke selbstverständlich nicht füllen. Die Dissertation von Jonas Traudes (Adoration und Observation. Virtous musizierende Kinder in der Öffentlichkeit, 1778–1848) wird hier eine Forschungslücke schließen. Zur Literatur über das Phänomen vgl. Stevens 1983, Kenneson 1998, Bodsch (Hg.) 2003 sowie Kopiez 2011. 2006 fand ein Symposion »Wunderkinder« – Förderung von Hochbegabten an der Staatlichen Hochschule für Musik und darstellende Kunst Stuttgart statt, dessen Vorträge weitere Anregungen boten. Im selben Jahr widmete die Zeitschrift Partituren dem Thema größeren Raum, hier auch mit dem Beitrag von Anselm Gerhard (vgl. Gerhard 2006). 422 Von Zimmermann 2006, S. 249. Von Zimmermann nennt hier als Beispiel Karl August Varnhagen von Ense und zitiert Ludwig Marcuse, der in seiner Freud-Biographie notierte: »Nach der alten Vorstellung beginnt der eigentliche Mensch mit den Jahren der geschlechtlichen Reife. Dann setzt ein Bildungsprozeß ein: das Hineinwachsen in die Gesellschaft, der Aufstieg in ihr, die Entfaltung der Anlagen. Begriffe wie Epoche, Nation, Klasse waren Bausteine des Biographen.« Ebda. 423 Der Vorname Amadeus steht für eine eigene biographische Modellierung, die sich mit der »Wunderkind«-Biographik überlagert: Er betont (neben der göttlichen Konnotation) in seiner latinisierten Fassung das Klassische und stand zugleich früh als Emblem für ein spezifisches Mozart-Bild (u. a. bei E. T. A. Hoffmann). 424 Schlichtegroll 1793.
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gebessert haben.«425 Zugleich gab sie Schlichtegroll den Rat, sich in diesen Fragen nach Wien zu wenden: »daß übrige ist wieder in Wien zu erfahren«.426 Dass sie über die Wiener Jahre nichts mitteilte, lag damit an ihrem Wissensstand, nicht an einer von ihr vorgenommenen Gewichtung von Lebensphasen – und ob hier eine »Gekränkte« spricht, wie Gernot Gruber annimmt,427 sei dahingestellt. Dadurch, dass Schlichtegroll für das Verfassen seines Nekrologes keine weiteren Informationen aus Wien herantragen konnte, verkürzte er die letzten zehn, durchaus ereignisreichen Wiener Jahre Mozarts auf wenige Sätze. Damit war ein biographisches Modell geschaffen, das (bis heute) zu den zentralen Modellen der Mozart-Biographik zählt. Denn neben der so vorgenommenen Gewichtung (auf die »Wunderkind«-Zeit) hebt Schlichtegroll auch argumentativ jene Frühphase hervor: Schlichtegroll betonte im ersten Absatz seines Nekrologs, dass er nicht nur aufgrund der Quellenlage den Schwerpunkt auf die ersten Lebensjahre gelegt habe, sondern dass er hierin auch den biographischen Kern der Lebensbeschreibung sehe. Entsprechend nahm er eine deutliche, 21-seitige Schwerpunktsetzung auf die Jahre zwischen 1756 und 1781 vor, die restlichen zehn Lebensjahre Mozarts fasste Schlichtegroll auf einer halben Seite zusammen. Erkennbar freilich auch, dass der »Wunderkind-Schwerpunkt« einer gewissen Rahmung bedarf, zunächst einer Definition, was unter »Genie« zu verstehen sei: Jene »originellen Genies« seien »Menschen mit seltnen Kräften und Anlagen zu einzelnen Fertigkeiten. Sie sind Phänomene, die man anstaunt, und deren treue Abbildungen der Forscher der Menschennatur als unschätzbare Kabinetsstücke ansieht, zu denen er oft zurückkehrt, um an ihnen den unbegrenzten Umfang des menschlichen Geistes zu bewundern.«428 Schlichtegroll versteht sich auf diese Weise als aufgeklärter Biograph und Wissenschaftler, dessen Studienobjekt (»Kabinetsstück«) er als »Forscher der Menschennatur« systematisch analysiert. Die biographischen Quellen sind ihm dabei Grundlagen und so führt Schlichtegroll – ganz im Johnsonschen Sinne – die Zeitgenossenschaft seiner Quellengeber an, um gegen jene Zweifel zu argumentieren, die in Anbetracht der frühen Musikalität Mozarts aufkommen könnten: »Man würde das, was von ihm erzählt wird, kaum glauben können, wenn er nicht unser Zeitgenosse gewesen wäre, und wenn diese Erstaunen-erregende Züge nicht von so vielen Menschen bestätigt würden.«429 Damit stehen für ihn die im Hauptteil geschilderten 425 Maria Anna von Berchtold von Sonnenburg an Friedrich Schlichtegroll, datiert ca. April 1792, Mozart. Briefe GA, Bd. IV, S. 198. 426 Ebda. 427 Gruber 1987, S. 29. 428 Schlichtegroll 1793, S. 84, Hervorhebungen M. U. 429 Ebda.
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Berichte und Anekdoten in keinerlei Widerspruch zur Glaubwürdigkeit. Im Gegenteil: »Mit Riesenschritten ging er darin vorwärts, so dass selbst sein Vater, der doch täglich um ihn war, und jede Stufe der Fortbildung bemerken konnte, oft davon überrascht und darüber in ein Erstaunen, wie über ein Wunder, gesetzt wurde. Ein Zug mag zum Beweis hiervon dienen, von einem Augenzeugen auf folgende Weise erzählt. […]«430 Schlichtegroll, dies wird im Zusammenhang mit der Genie-Diskussion um 1800 nochmals von Bedeutung sein, löst auf diese Weise das Wunderbare vom Religiösen ab und gliedert es in die Rationalität der Aufklärung ein: Der Vater, der für die systematische Ausbildung verantwortlich zeichnet, staunt allenfalls »wie über ein Wunder«, doch der »Beweis« folgt auf den Fuß. Als wichtiges Rahmungselement, und der aufklärerischen Systematik entsprechend, nimmt Schlichtegroll Leopold Mozart in den Fokus. Die biographische Notiz über den Vater – Schlichtegroll beschreibt ihn als Pädagogen und erwähnt dabei u. a. die Violinschule – wird zu einem wichtigen Element des »Wunderkind«-Modells werden. Zur Rahmung bei Schlichtegroll gehört ferner, dass sich die biographische Darstellung nach der Wunderkindzeit deutlich von dieser abhebt, sowohl inhaltlich als auch narrativ. Inhaltlich ist darüber hinaus eine Trennung in die Bereiche »Künstler« und »Mensch« zu beobachten, wobei zum Ersteren vor allem Werkbetrachtungen zählen, zum Letzteren eine Zusammenschau aus Physiognomik, Charakteristik und wenigen, eher punktuellen biographischen Informationen (Heirat, Kinder, Tod). Die narrative Darstellung wechselt von erzählendem, zum Teil dialogischen, anekdotischen Stil (im »Wunderkind«-Abschnitt) zu Bericht, Aufzählung und Wertung (im Rahmenteil). Vom direkten Einfluss dieses Modells zeugt Ignaz Ferdinand Arnolds Mozart-Biographie, die 1803, mithin nur zehn Jahre nach dem Nekrolog, anonym erschien.431 Hier finden sich auffälligerweise sowohl Schwerpunktsetzungen und Rahmungen des Schlichtegrollschen Modells: Der Vater wird ebenso thematisiert wie die Genie-Diskussion, die Arnold sogar zu einem eigenen Kapitel (»Ueber Künstlertalent oder Genie. Auf vorhergehende Biografie angewendet«432) aufwertet, positioniert zwischen den biographischen und den werkanalytischen Teil. Nach den Schilderungen des Lebenslaufes folgt eine umfangreiche Passage über Physiognomik und Charakteristik, die auch eine Wertung der Zeitgenossen mit einschließt. In Arnolds Biographie sind zwei lebensgeschichtliche Schwerpunkte erkennbar, wobei der erste, detailreichere, die »Wunderkind«-Zeit thematisiert, der zweite dann Mozarts letztes 430 Ebda., S. 88, Hervorhebungen M. U. 431 [Anonym] [= Arnold] 1803. 432 Ebda., S. 107–143.
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Biographische Konzepte in Musik und Musikgeschichtsschreibung
Lebensjahr und seine Todesumstände. Wie Schlichtegroll schildert auch Arnold die »Wunderkind«-Zeit anhand der durch Zeitgenossen abgesicherten Kindheitsanekdoten und gibt ihr damit – dem Stellenwert solcher auf diese Weise als »wahr« aufgewerteten Anekdoten entsprechend – ein besonderes Gewicht (vgl. dazu Abb. 2/Schlichtegroll und 4/Arnold, vgl. S. 210f.). Gliederung/Inhalt
Modell
Einleitung
Genie
Zeitraum
Umfang (Seiten) 3
Biographie Vater/Herkunft
vor 1756
1
Frühe Musikalität Schachtner-Anekdoten
»Wunderkind«
1756 – ca. 1762
21
Beginn der Reisen
1762–63
Charakter des Kindes weitere Reisen/Ausbildungs-Zeit
Hauptteil
Leopold Mozart
ab 1763
Wechsel nach Wien
Leben nach der »Wunderkindzeit«
Mozart »als Tonkünstler«
Werke
1781–1791
exemplarische Werke (Zauberflöte, Requiem)
½
1
Mozart »als Mensch«
Charakteristik
Haydn-Zitat Aussehen Billard/Spielleidenschaft Mimik und Gestik Kindhaftigkeit Heirat, Kinder, Nachlass Tod
→ Zeitzeuge → Physiognomik → Leidenschaft → Physiognomik → Charakter
4
1781 1791
Abb. 2: Aufbau und biographisches Modell bei Schlichtegroll433
Wie wirkmächtig das mit Mozart so eng verbundene »Wunderkind«-Modell für die Musikerbiographik allgemein war und dass es sich an Mozart selbst und Schlichtegrolls biographischem Entwurf orientierte, lässt sich noch lange nachverfolgen – im Grunde bis in die Gegenwart, etwa bei der Typisierung von Mozart als »Wunderkind« in der musikvermittelnden Literatur oder in populären Vermittlungsformen. An dieser Stelle aber sei ein anderes Beispiel fokussiert. Es handelt sich dabei um das biographische Schreiben von Carl Ferdinand Pohl, das dieser im Rahmen seiner Tätigkeit für die Handschrift433 Schlichtegroll 1793, S. 82–112.
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liche Biographiensammlung des Archivs der Gesellschaft der Musikfreunde Wien übernahm. Pohl arbeitete ab 1866 im Archiv und ergänzte dort die seit 1825 begonnene, als work in progress konzipierte, in den 1860er Jahren aber schon weniger beachtete Handschriftliche Biographiensammlung.434 In den von Carl Ferdinand Pohl verfassten Biographien ist häufig und deutlich eine grundsätzliche Orientierung an Mozart erkennbar.435 Wie prägend 434 Vgl. hierzu auch das Kapitel Nationale Bilder: Beispiele lexikalisch-biographischer Großprojekte im vorliegenden Band. 435 Ein deutliches Beispiel hierfür ist etwa die Biographie über Joseph Leopold Eybler (vgl. Handschriftliche Biographie Joseph Eybler, verfasst von C. F. Pohl, in der Handschriftlichen Biographiensammlung des Archivs der Gesellschaft der Musikfreunde Wien, Signatur 10907/134). Diese scheint sich ausschließlich an Mozart zu orientieren, dessen Lebenslauf und Charakter freilich als Gegenentwurf genutzt wird: Pohl erzählt Eyblers Biographie »um Mozart herum«: vor und nach der Begegnung mit Mozart geht Pohl kursorisch durch Eyblers Leben. Nur im Zusammenhang mit Mozart wird auch Persönliches und Innermusikalisches berichtet: »Wieder ein Jahr später stellen Mozart und Haydn auf die Bitten des jungen Mannes Zeugnisse aus, die hinlänglich beweisen, wie sehr beide das Talent desselben schätzten. […] E. war damals mit Mozart innig befreundet; er wurde von ihm eingeweiht in die Schöpfungen Händel’s und aufmerksam gemacht auf die Richtung, die er seiner persönlichen Anlage und seinem eigentlichen Wesen entsprechend eingeschlagen habe. Daß sein biederer und ehrenhafter Charakter für die bei Berührung mit der Bühne unvermeidlichen Intriguen und Aufregungen nicht paßte, zeigte sich bei einem ersten Versuche, als ihm Mozart während der Vollendung der Partitur zur Oper Cosi fan tutte das Einstudiren mit den Sängern überließ. Mit Ausnahme seiner einzigen Oper »Das Zauberschwert« (für die Leopoldstädter Bühne bestimmt) und einer ernsthaften Pantomime »Die Muter des Gracchus« [recte: »Die Familie des T. G. Gracchus«] blieb er dan[n] auf immer der Bühne fern. In den letzten Wochen vor Mozart’s Tode war E. einer der Wenigen, der ihn mit liebevoller Sorgfalt pflegte, und als der große Mann geschieden war, war es E., dem zuerst die Beendigung des Requiem angetragen wurde. Er versprach auch wirklich der Wittwe schriftlich, es bis Mitte der nächten Fastenzeit vollendet in ihre Hände abliefern zu wollen. Wol begann er, in Mozart’s Handschrift die Instrumentation bis zum Confutatis zu vervollständigen und hatte auch das Lacrymosa um zwei Tacte weiter geführt, dann aber gab er die bedenkliche Arbeit auf.« Auch Pohls charakterliche Einschätzung ereignet sich in offenbarer Relation zu Mozart, wobei er Eyblers Kleinmeistertum mit der Normalität seines Lebenslaufes in Beziehung zu setzen scheint: »E. verlebte ein ruhig dahingleitendes Dasein in steter Erhöhung seiner Stellung und seines Ansehens, ein Loos, wie es nur Wenigen beschieden ist. Als Mensch und Künstler geachtet und geliebt, dem Neid und der Mißgunst nur wenig ausgesetzt, konnte er mit ganzer Seele seiner Muße leben. Wenn sein Wirken als schaffender Künstler auch kein bahnbrechendes und ungewöhnliches war, geben doch seine Werke Zeugniß von einem bedeutenden Talent, in dem sich umfassende Kenntnisse und ein kunstgebildeter Geschmack zu einem wohlthönenden Ganzen vereinigten. Das dramatische Feld hatte E., wie erwähnt, eben nur gestreift. Auch darin war er von seinem guten Stern begünstigt, der ihm in Mozart in den beschriebenen Jahren den rechten Führer anwies, der ihm, wie E. selbst in seiner für Rochlitz niedergeschriebenen Lebensskizze
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aber gerade auch das (mit Mozart verbundene) »Wunderkind«-Modell war – sowohl bekräftigend als auch, um einem Musiker den »Wunderkind«-Status abzuerkennen –, lässt sich Pohls biographischen Notizen aus dem Konvolut über Johann Ludwig Dussek entnehmen. In diesem Konvolut finden sich neben einer handschriftlichen Biographie über Dussek selbst auch zu anderen Mitgliedern der weitverzweigten Musikerfamilie biographische Hinweise. Auffällig ist hier, dass Pohl mehrfach eine »Wunderkind«-Situation aufruft (frühe Auftritte) sowie die Ausbildung durch den Vater erwähnt: »Dussek’s Bruder, Franz, der ebenfalls von seinem Vater zu einem tüchtigen Musiker ausgebildet wurde, schrieb zur Zeit seines Aufenthaltes in Italien eine Anzahl Opern. – Dussek’s oben erwähnte Frau, geb. Corri, wurde 1775 zu Edinburg geboren und spielte schon als vierjähriges Kind öffentlich Clavier«.436 Diese eher dezenten, gleichwohl vorausdeutenden Hinweise lässt Pohl dann in der Schilderung jenes Familienmitgliedes kulminieren, das als »englischer Mozart« bezeichnet wurde, Pio Cianchettini. Die Passage sei ausführlich zitiert, da sie mit der Nennung entsprechender Schlagworte437 deutlich die »Wunderkind«-Biographie Mozarts als Schablone aufzulegen scheint: Noch sei der Schwester Dussek’s, Veronica, gedacht, die gleichfalls im Elternhause musikalisch ausgebildet wurde. Ihr Bruder ließ sie nach London kommen, wo sie 1799 als Clavierspielerin auftrat und sich mit F. Cianchettini von Rom vermählte. Beider Sohn, Pio, zeigte als Knabe eminentes musikalisches Talent. Kaum fünf Jahre alt spielte er im Kings-Theater in London eine Sonate auf dem Pianoforte und improvisierte über gegebene Themas. Er reiste dann mit den Eltern nach Holland, Frankreich, Deutschland. Am 16. März 1805 gab Mad. Dussek-Cianchettini in Berlin ein Concert im Theatersaal, ließ sich mit einem Concert eigener Composition hören und spielte mit ihrem fünfjährigen Söhnchen vierhändige Variationen über God save the king. Der Kleine, den man nur den ›englischen‹ Mozart nannte, rechtfertigte später keineswegs die auf ihn gesetzten hohen Erwartungen – es fehlte eben der Mozart’sche Vater.438 bekennt, klar machte, was er selber nur dunkel ahnte, daß er ihn zu dem Entschlusse brachte, sich ausschließlich der Kirchencomposition zu widmen.« An der Eybler-Biographie läßt sich ablesen, dass Mozart für Pohl eine Art von biographischem Modell für geniales Künstlertum darstellte. 436 Biographie Johann Ludwig [Jan Ladislav] Dussek, verfasst von C. F. Pohl, in der Handschriftlichen Biographiensammlung des Archivs der Gesellschaft der Musikfreunde Wien, Signatur 10907/134. Die Biographie ist nicht datiert, da Pohl aber ab 1866 im Archiv arbeitete, ist von einem Datum ante quem non auszugehen. 437 Zur Verdeutlichung sind die Schlagworte im folgenden Zitat kursiv hervorgehoben. 438 Biographie Johann Ludwig Dussek, verfasst von C. F. Pohl, in der Handschriftlichen Biographiensammlung des Archivs der Gesellschaft der Musikfreunde Wien, Signatur 10907/134, Hervorhebungen M. U.
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Pohl nimmt das Fehlen der bei Schlichtegroll so ausgiebig thematisierten Vaterfigur zum Argument, warum Pio Cianchettini nach seinem »Wunderkind«-Ruhm nicht weiter erfolgreich blieb. Das Schlichtegrollsche Modell und seine Umformung – Ausbleiben des Ruhmes wegen fehlender Vaterfigur – ist umso auffälliger, zieht man die Quelle in Betracht, die Pohl offenbar als Vorlage für den Eintrag diente. In The British Cyclopedia of Biography (1847) findet sich der Artikel über Veronica Elizabeth Cianchettini und Pio Cianchettini. Pohl paraphrasierte weite Teile des Artikels,439 fasste dabei zum Teil Details zusammen, eliminierte aber vor allem jene Passagen, die dem »Wunderkind«-Modell widersprachen. Der Artikel der englischen Enzyklopädie sei hier vollständig wiedergegeben, wobei der Fokus auf den von Pohl nicht übernommenen Passagen liegen soll:440 CIANCHETTINI, VERONICA ELIZABETH, sister to the celebrated piano-forte player and composer, J. L. Dussek, was born, as well as her brother, at Czaslau, in Bohemia, on the 9th of March, 1776. This lady received the rudiments of her musical education from her father in Czaslau (one of the first organists of the day), and was afterwards called to London by her brother in the year 1794, under whom she studied until his departure for the continent in 1800. After that period she had the advantage of studying with the great piano-forte player Muzio Clementi, who always mentioned her as one of his most favourite pupils. It may be proper to add that Madame Cianchettini had also the advantage of Haydn’s kind advice in musical composition during his stay in London. In the year 1799 Veronica E. Dussek was married to Signor Francesco Cianchettini of Rome, and from that period chiefly resided in the British metropolis. She excelled, not only as a pianist and composer for her instrument, but also as an instructress. She published two concertos for the piano-forte, as also various sonatas, fantasias, airs with variations, waltzes, &c, some of which have had a very great sale, particularly her »Concerto in B b,« and her variations to the favourite Portuguese hymn, »Adeste, Fideles.« Madame Cianchettini died in London, on the 22d of November, 1833, universally lamented, not only for her musical ability, but also for her amiable qualities and correct deportment in private life. We must not omit to state that Mr. Pio Cianchettini, the son of the above distinguished lady, when only five years old, performed in public a sonata of his own composition in the Opera concertroom in London, after which he travelled with his father through Germany, Holland, and France, in each of which countries lie exhibited his musical talents with great applause, and was even called the British Mozart. On his return to London he continued his studies; and at eight years old spoke perfectly well the French, English, Italian, and German languages. Imme439 Pohl verzichtet im Manuskript auf den Nachweis des Artikels aus der British Cyclopedia of Biography. Gleichwohl ist sein Text klar als Paraphrasierung des englischsprachigen Textes erkennbar. 440 Die Erwähnung des Konzertauftritts am 16. März 1805 in Berlin ist die einzige Information, die Pohl dem Artikel in der British Cyclopedia of Biography hinzugefügt hat.
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diately after this age, he commenced the composition of various instrumental pieces; among the rest a grand concerto, which he executed himself at a concert in London in 1809, receiving the greatest applause. Cianchettini attended Madame Catalini when first in England, in several of her musical tours, acting as her composer and conductor of her concerts. In the Italian songs composed for Catalini by Cianchettini, he has been very happy in adapting his music so as to display the most brilliant powers of that singer. In the other songs which he has written he has shown great taste in selecting the most classical words in British poetry, thus attempting to embody with music the finest effusions of a Milton and a Pope. The high musical talents of young Cianchettini sufficiently mark the value of his mother’s musical powers as a teacher.441
Auffällig an Pohls Bearbeitung des biographischen Artikels über Veronica Dussek und ihren Sohn ist nicht, dass hier umfangreich gekürzt wurde, sondern welche Passagen nicht übernommen wurden: die Ausbildung Veronica Dusseks bei Muzio Clementi (Klavier) und Joseph Haydn (Komposition) – immerhin zwei der renommiertesten Künstler der Zeit –, ihre Erfolge als Komponistin und ihr Renommee als Musiklehrerin. Auch Pio Cianchettinis musikalischen Erfolge, darunter seine Zusammenarbeit mit Angelica Catalani, lässt Pohl unerwähnt, insbesondere den Hinweis, dass diese Erfolge »the value of his mother’s musical powers as a teacher« zu verdanken seien. Diese Conclusio aus der British Cyclopedia of Biography verdreht Pohl in ihr Gegenteil: Die Erfolge als Musiker seien ausgeblieben, was dem Fehlen des Vaters als Erzieher und Musikpädagoge geschuldet sei. Schlichtegrolls »Wunderkind«-Modell dient Pohl hiermit nicht nur für eine biographische Orientierung, sondern wird auch für eine geschlechtsspezifische Differenzierung verwendet; die musikalische Ausbildung durch die Mutter entspricht nicht dem Mozartschen »Wunderkind«-Modell, das auf der pädagogischen Leistung des Vaters beruht, und macht die Karriere des Pio Cianchettini letztlich für Pohl musikhistorisch ignorabel. Indem die »Wunderkind«-Biographie mit dem Fehlen des »Mozart’schen Vaters« abbricht, verliert das »Wunderkind« Pio Cianchettini die musikhistoriographische Relevanz, die ihm die British Cyclopedia of Biography noch attestiert hatte. Anders hingegen aus englischer Perspektive: Gerade dort hatte sich die Rezeption des frühen Mozarts ganz eigene (und besonders wirksame) Wege gesucht, so dass die Anlehnung an das »Wunderkind«-Modell für den Artikel über Veronica Dussek und ihren Sohn Pio Cianchettini auf der Hand lag. Das »Wunderkind« Mozart war hier nicht nur eine nationale Memorabilie (ausgelöst durch den London-Aufenthalt 1764/65), sondern erfuhr geradezu Kultcharakter als Träger bürgerlich-viktorianischen Kulturverständnisses. 441 Partington (Hg.) 1847, Bd. 1, S. 464.
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Christina Bashford stieß dabei insbesondere im Kontext viktorianischer Bildungsideale auf einen großen Fundus an Dokumenten der kulturellen Erinnerung, basierend auf »various constructions of Mozart as an eternal child, a growing linkage between childhood and creative genius, and the association of particular repertory (especially some piano works) with children persisted widely during the 19th century. […] Mozart the child were all-pervasive«.442 Mit Schlichtegroll war damit früh angelegt, dass die Besonderheit der musikalischen Frühbegabung sich auch biographisch in einem Modell auszuprägen habe, unterstützt durch den Wunderkind-Topos,443 der – wie erwähnt – bereits in der Künstler-Anekdotik so wichtig gewesen war.444 Doch während dort vor allem ein mythisch-hagiographisches Moment an der frühkindlichen Begabung festgemacht wurde – etwa im Topos des Künstlers als Hirtenknabe –, verband sich die Darstellung des »früh entwickelten, grossen und originellen Genies«445 bei Schlichtegroll entsprechend den Überzeugungen der Aufklärung mit der Idee einer systematischen Ausbildung, der auch das »Wunderkind« bedürfe, auch wenn es einige der Schritte auslasse. Die Acceleration der Entwicklung (Schlichtegroll sprach von »Riesenschritte[n]«) untergrabe nicht die vom Vater angeleitete Systematik der Ausbildung, sondern im Gegenteil: bekräftige sie. Damit aber wurden – anders als in der Biographik über andere Personengruppen – für die Musikerbiographik von Beginn an Kindheit und Jugend nicht nur zu einem zentralen Lebensabschnitt, sondern sie verband diese zugleich mit der Frage der musikalischen Ausbildung. Anders gesagt: Das biographische Einstiegsereignis einer Musikerbiographik lag deutlich früher als in anderen Biographien446 und wirkte damit – von der Wechselwirkung war bereits die Rede – auf die Karrierekonzeptionen nachfolgender Musikergenerationen ein. Das zweite biographische Modell, dominant seit dem späten 18. Jahrhundert, war jenes Stufenleiterprinzip, das vom Entwicklungsroman her bekannt auch auf die Biographik übertragen wurde. Es fußte auf der aufklärerischen Idee 442 Bashford 2005, S. 195. Siehe dort u. a. die Collage der Mozart zugeschriebenen »Arpeggio-Studien«, kombiniert mit einem Kinderbild Mozarts sowie biographischen Notizen und einem Werkverzeichnis aus der Sammlung John Ella. Ebda. S. 201. 443 Vgl. dazu Bodsch (Hg.) 2003. 444 Vgl. Kris/Kurz 1995 sowie das Kapitel Johann Matthesons Lully-Biographie als »deutliches Modell« im vorliegenden Band. 445 Schlichtegroll 1793, S. 82. 446 Von Zimmermann nennt in diesem Zusammenhang die Biographie Adolf Beers über Maria Theresia (1875) als Beispiel, in der das biographische Einstiegsereignis »nicht die Geburt Maria Theresias, sondern der Tod des Kaisers und das Fehlen eines männlichen Thronfolgers« ist. Vgl. von Zimmermann 2006, S. 250.
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der systematischen Ausbildung und Entwicklung447 und verband sich mit den Überzeugungen einer genetischen Anthropologie (Buffon, Histoire naturelle, 1749–1767, Rousseau, Émile, 1762, u. a.), die gegen die Vorstellung einer mundus cominatus das grundlegende Prinzip der Wandelbarkeit und damit der Entwicklung setzte. Und auch wenn Entwicklung im aufklärerischen Sinne nicht gleichbedeutend mit Fortschritt ist, legte dieses Denkprinzip doch den Grundstein für den von Rousseau stark kritisierten, im 19. Jahrhundert dann freilich florierenden Fortschritts-Gedanken.448 Diese prägende Neuausrichtung auf ein teleologisches Prinzip hin – Hegel sieht in diesem, dem Menschen eigenen Trieb der »Perfektibilität« den zentralen Gegensatz zur Natur, die »nur einen Kreislauf, der sich immer wiederholt«, kenne449 – veränderte das Denken und Handeln im ausgehenden 18. Jahrhundert maßgeblich, und auch für die Biographie ergeben sich daraus mehrere Konsequenzen: die pädagogisch-moralische Intention, die Theoretisierung des Biographischen und die Enttypisierung, die durch Viten, Heiligenlegenden und – für die Künste besonders wichtig – die Anekdotik die Biographik lange geprägt hatte. Mit Enttypisierung ist dabei zunächst das Offenlegen der Individualität gemeint.450 Das Individuum – in all seinen Ausprägungen – wurde zum Objekt biographischen Interesses. Nicht gemeint ist damit freilich, dass das Offenlegen der Individualität zu einer generellen Absage an Lebenslaufmodelle geführt hätte. Im Gegenteil: Was zuvor theologischen Prinzipien gefolgt war, galt es nunmehr am Prinzip des Teleologischen auszurichten. So wurden die biographischen Modelle der Renaissance und der Frühen Neuzeit durch neue abgelöst, die den sich veränderten Umständen Rechnung tragen sollten. Wichtig wurden nun vor allem eine niedrigschwellige Biographiewürdigkeit und das grundlegende Prinzip der Entwicklung, dem übrigens eine Finalproblematik von Beginn an inhärent war. 447 Einen knappen, aber lesenswerten Überblick über den Begriff gibt Jürgen Oelkers in Schneiders 2001, S. 99–101. 448 Marx formulierte diesen etwa in seiner Beethoven-Biographie: »Aber das Leben der Kunst hat wesentlich nur den Fortschritt, die neuen Ideen als seinen Gehalt und seine Momente zu erkennen; es ist wesentlich Offenbarung der Idee, nicht Ausleben derselben.« Marx 1859 Bd. 1, S. 240. Vgl. zum Fortschrittsdenken im Kontext bürgerlich-idealistischer Musikgeschichtskonzepte Hentschel 2006a, insb. S. 160–216. Und Guido Heldt analysierte Forkels Allgemeine Geschichte der Musik, deren »Forschrittsplot und Eurozentrismus« bis heute nachwirkten (Heldt 2008, S. 305). 449 Diese Unterscheidung Hegels wird im Zusammenhang mit den nach Geschlechtern getrennten Lebenslaufmodellen wichtig, insofern das Weibliche mit dem Natürlichen gleichgesetzt wird, das nicht nur der Idee eines genealogischen Prinzips entspricht, sondern dem Hegel auch in einem »vielförmige[n] Spiel ihrer Gestaltungen […] Langeweile« attestiert. Hegel 1986, S. 74. 450 Schnicke 2009, S. 236.
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Für Musiker führte Ersteres dazu, dass ihre Biographiewürdigkeit nicht mehr zur Disposition stand. Letzteres aber korrespondierte aufs engste mit den Veränderungen der bürgerlichen Musikkultur (Institutionalisierung der Ausbildung, Emanzipation des Künstlers, Musikmarkt u. a. m.) und führte dazu, dass sich in der Musikerbiographik das Entwicklungs-Modell auf lange Zeit etablierte, was – vice versa und im Sinne der »Gelebten Vita« – für Karriereplanungen und Selbstinszenierungsstrategien wichtig wurde.451 Wie zentral dieser Wandel für die Musikerbiographik war und wie dominant letztlich daraus das Entwicklungs-Modell für Musiker hervorging, lässt sich am Begriff der »Karriere« aufzeigen. Manfred Schneider hat dies höchst aufschlussreich am Beispiel Niccolò Paganinis nachgezeichnet – wobei an dieser Stelle ausschließlich seine treffenden Bemerkungen rund um den Begriff »Karriere« in den Blick genommen werden sollen: Während der Zeit des Absolutismus hatte der französische Begriff »carrière« jenen Ort bezeichnet, an dem die Pferdedressuren stattfanden: »Das Reiten in der ›carrière‹ gehörte wie das Tanzen zu den ständischen Exerzitien, die auf ästhetische Demonstration und Repräsentation von aristokratischen Qualitäten zielten, nämlich Schönheit, Zierlichkeit, Positur und Körperbeherrschung.«452 Diese Art des Reitens wurde im 18. Jahrhundert abgelöst durch Rennplätze, auf denen die Geschwindigkeit zum messbaren Maßstab wurde: »Dem müßigen Herzeigen von Eigenschaften folgt eine spannungsvolle Messung von Leistungen. […] Das Tableau der künstlichen Figuren und Harmonien löst sich auf in die Linearität der gespannten Bewegung.«453 Diese Denkform einer »Linearität der gespannten Bewegung« aber lässt sich, das zeigt Schneider, auf den Begriff der Karriere, wie er im 19. Jahrhundert auch für Künstler und Musiker – allen voran die Virtuosen, aber durchaus auch die Komponisten – angewandt wurde, übertragen. Die Musikkultur mit ihren neuen ökonomischen Belangen, das sich verändernde Virtuosen- und Star-Wesen, aber auch die Vorstellung, dass die Musik selbst dem Fortschrittsprinzip unterworfen sei, zielen letztlich allesamt auf das Prinzip von Dynamik und Entwicklung, und Nietzsches Bonmot vom »Fackel-Wettlauf« der »Hundert-Männer-Schaar«,454 das der Dynamik des Karriere-Begriffs verschwistert erscheint, gibt einen deutlichen Hinweis auf die darin liegende Nähe zum Heroismus. Einer entsprechend auf Entwicklung ausgerichteten biographischen Schilderung von Ausbildungsgang und Karriere stand eine dramaturgisch wohlüberlegte Darstellung zur Seite, die zwar verschiedene Ausprägungen kannte, 451 452 453 454
Vgl. dazu Heinemann 1997, Dittrich 1998, Gerhard 2001, Klassen 2009. Schneider 1981, S. 41. Ebda. Nietzsche 1988, S. 259 und 261.
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im Prinzip aber mit der chronologischen, linearen, auf Progression abzielenden Struktur der teleologischen Gesamtidee verpflichtet war. Franz Liszt etwa war davon überzeugt, dass sich seine Biographie an einem Drama zu orientieren habe, und stellte dieses Modell seiner Biographin Lina Ramann, als diese am zweiten Band ihrer Liszt-Biographie arbeitete, anheim: »Mein geringfügiger Lebenswandel im Noten Spielen und schreiben«, schrieb Liszt ihr am 30. August 1874, zertheilt sich unclassisch, wie eine classische Tragödie, in 5 Acten: – 1ter = Die Kinder Jahre bis zum Tode meines Vaters, [18]28. 2ter = [18]30 bis [18]38, herumtastendes Studieren und produziren in Paris, und vorübergehend in Genf und Italien, vor meinem Wieder Auftreten in Wien, ([18]38) dessen Erfolg mich zur Virtuosen Laufbahn bestimmte. 3ter = Conzert Reisen: Paris, London, Berlin, Petersburg etc: Fantasien, Transcriptionen, Saus und Braus. 4ter = [18]48 bis [18]61, Sammlung und Arbeit in Weimar. 5ter = Deren consequente Fortsetzung und Abschliessung, in Rom, Pest, Weimar, von [18]61 bis……455
Die »classische Tragödie« als Modell für das eigene Leben scheint zunächst – zumal sich Liszt im Jahr 1874 erkennbar im »5ten Akt« seines Lebens befand und zumal er mit diesem selbstinszenatorischen Unterfangen einige biographische Retouchen vornehmen musste – erstaunlich. Mit dem Blick auf eine der einflussreichsten Dramen-Theorien des 19. Jahrhunderts aber wird in diesem Konzept die offenbar Liszt so wichtige Stringenz einer solchen Lebensdarstellung überdeutlich. Gustav Freytag schrieb in seiner 1863 veröffentlichten Technik des Dramas über den letzten Akt: Die Katastrophe des Dramas ist uns die Schlußhandlung, welche der antiken Bühne Exodus hieß. In ihr wird die Befangenheit der Hauptcharaktere durch eine energische Aktion aufgehoben. Je tiefer der Kampf aus ihrem innersten Leben hervorgegangen und je größer das Ziel desselben war, desto folgerichtiger wird die Vernichtung des unterliegenden Helden sein. Und es muß hier davor gewarnt werden, daß man sich nicht durch moderne Weichherzigkeit verleiten lasse, auf der Bühne das Leben seiner Helden zu schonen. Das Drama soll eine in sich abgeschlossene, gänzlich vollendete Handlung darstellen; hat der Kampf eines Helden in der That sein ganzes Leben ergriffen, so ist es nicht alte Tradition, sondern innere Nothwendigkeit, daß man auch die vollständige Verwüstung des Lebens eindringlich mache. Daß in der Wirklichkeit dem modernen Menschen unter Umständen noch ein nicht unkräftiges Leben auch nach tötlichen Conflikten möglich ist, ändert für das Drama Nichts in der Sache. Denn die Gewalt und Kraft einer Existenz, welche 455 Ramann 1983, S. 36–39, zitiert auch bei Heinemann 1997, hier auch eine kritische Auseinandersetzung mit Liszts Selbstinszenierungsstrategien.
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nach der Handlung des Stückes liegt, die zahllosen versöhnenden und erhebenden Momente, welche ein neues Leben zu weihen vermögen, die soll und kann das Drama nicht mehr darstellen.456
Liszts eigene Vorstellung des Lebens als Drama beinhaltete dabei einen kontinuierlichen Werdegang (er selbst schreibt explizit auch von »Laufbahn« und »consequenter Fortsetzung«) über die Stationen suchendes Studieren – Virtuosentum – geistige »Sammlung« – kathartischer Höhepunkt bzw. Abschluss. Für die Beethoven-Biographik wiederum ist ein deutliches »per aspera ad astra«-Prinzip typisch, so etwa bei Adolf Bernhard Marx 1859, wo es im »Beethoven« übertitelten Vorwort der zweibändigen Biographie heißt: In unscheinbarer Enge begann Beethoven seinen Lebenslauf. […] Damit seine Sendung sich vollziehe, mußte noch ein unheimlich Geschick in den innern Organismus zerstörend eingreifen, tieffste Stille, Einsamkeit von innen heraus um ihn her auszubreiten. […] Was Andere gehemmt und gebunden hätte für immer, ihn mußt es stählen und freimachen […]; selbst seine Zerrüttung [gemeint ist Beethovens Taubheit], die jeden andern Musiker tückisch gleich zaubergewaltigem Fluch innerlich ertödtet hätte, geheimnißvoller Segen ward sie ihm, unverstandene Weihe für den in ihn gelegten Beruf.457
Das »per aspera ad astra«-Prinzip korrespondierte mit der Vorstellung vom musikalischen Genie im 19. Jahrhundert und vermochte das Finalproblem in Apotheotischem zu lösen, wie es noch Willy Hess 1976 in seiner Beethoven-Biographie formulierte: »So gleicht Beethovens Leben, das äußerlich fast ereignislos sich abspielt, innerlich einem mächtigen Wogen von Ebbe und Flut, gleich dem formalen Atem eines Kunstwerks selber, wo sich Spannung und Entspannung, Konsonanz und Dissonanz, Vorbereitung, Durchführung und Erfüllung in gewaltigen Quadern folgen, wie von göttlicher Hand gemeißelt.«458 Die Brahms-Biographie von Max Kalbeck wiederum stützte sich nüchterner auf das Karriereprinzip eines bürgerlichen Künstlers.459 Der Biograph versicherte dazu im Vorwort, die Entwicklung »vom Knaben- bis zum Mannesalter« »im Zusammenhange« darstellen und zu »einem befrie456 457 458 459
Freytag 1863, S. 118. Marx 1859, Bd. 1, S. 4. Hess 1976b, S. 9. Zu Brahms’ Korrespondenzen und Brüchen mit bürgerlichen Lebenswelten und seiner Selbstinszenierung vgl. auch Lütteken 2008. Kalbecks Biographie ist in diesem Sinne Teil jenes Aushandlungsprozesses, den Brahms mit dem (Wiener) Bürgertum um seine Rolle als Künstler austrug.
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digenden Ganzen verbinden und abrunden« zu wollen.460 Wie Kalbeck auf das abgerundete »Ganze« abzielte, ist auch Ramann an einem organischen »Ganzen« interessiert: »das Nacheinander des Geschichtlich-Gewordenen« wolle sie »nicht als ein Zufälliges, sondern als ein Organisch-Bestimmtes darzulegen und nachzuweisen« versuchen: »Das scheint mir immer die höchste Aufgabe der Geschichtsschreibung (Biographien eingerechnet): nachzuspüren ›wie alles sich zum Ganzen findet‹, und wie kein lebensfähiges Gebiet dieses Grundzuges entbehrt, wie im Gegentheil alle ihn, ich möchte sagen, mit eiserner Consequenz festhalten, um sich schließlich zu Einem Ganzen zu verbinden.«461 In der Formulierung der »eisernen Consequenz« spiegelt sich der unbedingte Wille zu stilistischer wie inhaltlicher Geschlossenheit. Das hier von Ramann beschriebene, von vielen anderen Biographen favorisierte Modell war streng monolithisch, wie es noch die Verdi-Figur in Adriana Hölszkys Oper Giuseppe e Sylvia repräsentieren wird.462 Es spiegelt sich zugleich darin die Deformationskraft wider, die dieses Modell auf all jene Lebensläufe auszuüben vermochte, die dem Ideal des »Organisch-Bestimmten« und dem Modell der Entwicklung nicht folgen konnten oder wollten.463 Das Karriere-Modell, das in der Biographik des 19. und frühen 20. Jahrhunderts florierte, sah das Bürgertum vor allem für seine Protagonisten vor: für Politiker und Militärs ebenso wie für Industrielle, Wissenschaftler, Künstler u. a. Das prinzipielle Fortschreiten innerhalb des Lebensweges und der Karriere (Rückschläge und Kurskorrekturen eingeschlossen) stand als dramaturgisches wie narratives Prinzip an oberster Stelle, das Modell der Heroen-Biographik spitzte dieses Prinzip auf eine »per aspera ad astra«-Dramaturgie zu. Dass sich dieses Modell ausschließlich an männliche Lebensläufe anlegen lasse, war dabei ebenso Konsens wie die prinzipielle Andersheit eines für Frauen vorgesehenen Lebenslaufmodells.464 Anders gesagt: Die starke Modellierung von Biographien nach Rollen- bzw. Künstlerbildern betraf Frauen wie Männer gleichermaßen. Doch während die Biographien von Künstlern nach linearen, dem Entwicklungsroman entlehnten oder heroischen Modellen ausgerichtet wurden, fügten sich die biographischen Modelle (sofern sie überhaupt vorlagen) für Frauen dem traditionellen Weiblichkeitsbild, was sich, mit Blick auf das öffentlich wahrnehmbare Handeln und gemessen an den künstlerischen 460 Kalbeck 1921, Bd. 1, S. 4f. 461 In einem Brief an Liszt, 20. Oktober 1875, hier zit. nach Ramann 1983, S. 58f. 462 Vgl. dazu das Kapitel Gegen eine Biographik der »gestanzte[n] Meinungen«: Adriana Hölszkys Oper Giuseppe e Sylvia im vorliegenden Band. 463 Marie Agnes Dittrich hat sich dazu mehrfach in Hinblick auf Schubert (auch im Vergleich zu Beethoven) geäußert, vgl. Dittrich 1998 und Dittrich 2001. 464 Vgl. hierzu auch Unseld 2010a und Unseld 2013b.
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Lebensläufen und Karrierestationen, nicht selten wie eine biographische »Verkleinerung« ausnahm. Angelika Epple hat diese Form der Modellierung an den für das Bürgertum so identifikationsmächtigen Geschlechtercharakteren für die Autobiographik zur Zeit der Empfindsamkeit unter der Prämisse einer »narrativ verfassten Identität« herausgestellt und dabei betont, dass die kanonisierte Rede über die Geschlechtscharaktere […] das gesellschaftlich entworfene Muster des Erzählens vorgibt, auf dem die jeweiligen Identitäten des männlichen und des weiblichen Individuums angeblich beruhen. In das Erzählmuster ist dabei eine bestimmte Geschichtsdeutung eingeschrieben. Es legt fest, wie die Chronologie der Ereignisse im Leben eines Individuums in eine deutende Ordnung gebracht werden sollen. Da Frauen […] durch den kanonisierten Diskurs ein überzeitlicher Geschlechtscharakter zugesprochen wurde, wurde ihre narrative Identität so verfasst, dass ihm keine Entwicklung eingeschrieben war. […] Das aber heißt, dass Frauen dieser Identität zufolge keine Geschichte haben.465
Im Fall der Geschwister Mendelssohn wird dies exemplarisch, zumal die Familie früh die Karriereplanung für Felix Mendelssohn als Aufgabe erkannte – mit entsprechend geförderten Ausbildungsschritten, die sich noch immer am Modell des (Mozart-)»Wunderkindes«, modifiziert an die Gegebenheiten des Ortes und der Zeit, orientierten. Vor allem auch im Vergleich mit den entsprechenden Lebenslaufkonzepten für die ältere Schwester Fanny zeigt es sich deutlich, dass Lebensläufe komponierender Frauen außerhalb der Räume des professionellen Musikertums und damit auch außerhalb der für Künstlerbiographien und Geschichtsschreibung so zentralen Kategorien von Fortschritt, Erfolg und Professionalität angelegt waren.466 Der Vater Abraham Mendelssohn hatte bereits die 14‑Jährige in einem viel zitierten Brief auf dieses Lebenskonzept vorbereitet und ihren zukünftigen Lebenslauf mit dem ihres jüngeren Bruders Felix verglichen: Die Musik wird für ihn vielleicht Beruf, während sie für Dich stets nur Zierde, niemals Grundbass Deines Seins und Thuns werden kann und soll; ihm ist daher Ehrgeiz, Begierde, sich geltend zu machen in einer Angelegenheit, die ihm sehr wichtig vorkommt, weil er sich dazu berufen fühlt, eher nachzusehn, während es Dich nicht weniger ehrt, dass Du von jeher Dich in diesen Fällen gutmüthig und 465 Epple 2003, S. 30. 466 Es lohnt hier freilich nochmals ein Blick auf Gerbers bereits mehrfach erwähntes Lexicon: Hier hatten Musikerinnen in großer Zahl Aufnahme gefunden, und der von Gerber vorgesehene Themenfundus war auch in den weiblichen Lebensläufen erkennbar, wenngleich nicht selten mit geschlechtsspezifischer Kommentierung, wie im Beispiel Josepha Duschek zu sehen ist (vgl. S. 94). An dieser Stelle wird einmal mehr deutlich, wie eng die biographischen Modelle in ihrer Zeit verhaftet sind, wie stark sie sich – etwa der Geschlechterdiskurs – auf die kulturellen Stereotypen auswirken.
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vernünftig bezeugt und durch Deine Freude an dem Beifall, den er sich erworben, bewiesen hast, dass Du ihn Dir an seiner Stelle auch würdest verdienen können. Beharre in dieser Gesinnung und diesem Betragen, sie sind weiblich, und nur das Weibliche ziert die Frauen.467
Der »Grundbass«, den Abraham Mendelssohn für den Sohn Felix vorsah, folgte dem biographischen Modell des chronologischen Fortschritts, während die »Zierde«, die die Musik für die Tochter Fanny sein sollte, keine Stringenz und damit auch keine chronologische Folgerichtigkeit impliziert, »keine Geschichte« (im Sinne Epples). Dass sich aus diesem für die Tochter vorgesehenen Lebensmodell im Verhältnis zu einer (männlichen) »Normalbiographie« Diskontinuitäten ergeben mussten, ist zu erwarten. Ein Lebenslauf-Modell als Komponistin musste Fanny Hensel mithin außerhalb des Modells von Sukzessivität und Karrierenorm suchen,468 nicht ohne dass sie sich über die Tragweite des so offenkundig geschlechtsbezogenen Modells bewusst gewesen wäre: »Daß man übrigens seine elende Weibsnatur jeden Tag, auf jeden Schritt seines Lebens von den Herren der Schöpfung vorgerückt bekömmt, ist ein Punkt, der einen in Wuth, und somit um die Weiblichkeit bringen könnte, wenn nicht dadurch Uebel ärger würde […].«469 Statt des linearen Modells und damit im Kontrast zum Modell des individuellen Fortschreitens stand Frauen primär das Modell des genealogischen Kreislaufs offen.470 In seiner Idealform wurde dieser Kreislauf in Adelbert von Chamissos Gedichtzyklus Frauenliebe und Leben thematisiert, der von Robert Schumann im Juli 1840, mithin kurz vor dessen Hochzeit mit Clara Wieck, vertont wurde.471 Und vor dem Hintergrund dieses Entstehungskontextes scheint 467 468 469 470
Zit. nach Hensel 1898, S. 124. Vgl. Bartsch 2005 und Klein 2006. Fanny Hensel, zit. nach Schleuning 2007, S. 116, vgl. dazu auch ebda., S. 197ff. Assmann 2006b; Epple benennt einen vergleichbaren Unterschied im Rahmen ihrer Analyse der Geschichtsschreibung zwischen Aufklärung und Historismus mithilfe zweier Geschichtsmodelle, die Historiographen respektive Historiographinnen zur Verfügung standen: »Für Männer und Frauen wurden unterschiedliche Erfahrungen angenommen, die zu unterschiedlichen Erzählmustern führten. Das entscheidende Kriterium war hierbei, dass Männern eine Geschichte als Erfahrung von Brüchen attestiert wurde. Angeblich konnten sie diese Brüche aber zu einer höheren Einheit verbinden. Sie wurden dialektisch miteinander verbunden. Kontinuitäten wurden dadurch über Veränderungen hergestellt. Für Männer wurde das Erzählmuster des autonomen bürgerlichen Subjektes entworfen, dessen Meistererzählung der Bildungsroman war. […] Frauen dagegen wurde keine Geschichte, keine Brucherfahrungen zugeschrieben. Ihrem Charakter wurde eine natürliche Konstanz unterlegt.« Epple 2003, S. 399. 471 Schumann 1885, vgl. dazu Borchard 2000, S. 107–109. Vgl. zur Prägekraft dieses Lebenslaufmodells auch den (auto)biographischen Fall Alma Mahler (Unseld 2011a).
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durchaus berechtigt darüber nachzudenken, dieses idealtypische Modell nicht nur als Artefakt, sondern möglicherweise auch im Sinne eines biographischen Modells und als Kommentar während jener Aushandlungsphase zu interpretieren, die der Komponist und Musikschriftsteller Robert Schumann und die Pianistin Clara Wieck vor ihrer Hochzeit im Sinne eines Modells für ihre zukünftige Künstlerpartnerschaft zu leisten hatten:472 Schumann komponierte diesen Zyklus zu einem Zeitpunkt, an dem zwischen ihm und Clara Wieck sehr konkret über mögliche Lebenswegmodelle nachgedacht wurde, vor allem über die Frage, ob die pianistische Karriere Clara Wiecks nach einer Heirat weitergeführt werden könne, bzw. wie ein Leben als Künstlerpaar zu realisieren sei. Vor diesem Hintergrund sei eine knappe, auf das Modell-Prinzip fokussierte Interpretation des Gedichtzyklus und seiner Vertonung vorgenommen, um daran anschließend die Wechselwirkung des genealogischen Kreislaufmodells mit Musikerinnen-Lebensläufen zu betrachten. Der Zyklus von Chamisso umfasst neun Gedichte, die die Lebensstationen einer anonymen Frau (lyrisches Ich) von der ersten Liebe bis zum Witwenstand beschreiben. Das »biographische Einstiegsereignis« liegt mithin nach der Kindheit und ist aufs engste mit dem ersten Kontakt zum späteren Ehemann verbunden (»Seit ich ihn gesehen«, 1. Gedicht), und auch die weitere Lebenslaufdarstellung verteilt sich nicht gleichmäßig über das weitere Leben, sondern legt einen deutlichen Schwerpunkt auf die Phase um die Hochzeit der weiblichen lyrischen Ichs mit dem »Herrlichste[n] von Allen« (2.-5. Gedicht).473 Gedicht 6 und 7 kreisen noch um das Thema Schwangerschaft und Geburt, das 8. Gedicht schildert bereits den Tod des Ehemannes bzw. den Witwenstand des lyrischen Ichs. Das 9. Gedicht aber schließt mit dem Segnen der Enkeltochter zu deren Hochzeit direkt an den Beginn an: Der Kreislauf beginnt in der Wiederkehr des Hochzeitsmoments aufs Neue, der Zyklus kann in diesem Moment von der Enkelin aufgegriffen und selbst von neuem begonnen werden – der Gedanke an Hegels Kommentar der »Langeweile«, die dem »vielförmige[n] Spiel« des immergleichen Kreislaufs der Natur eigen sei,474 liegt nahe. Das Bewegungsmoment des Kreislaufs aber erfährt mit dieser Zyklusdramaturgie in der Hochzeit seinen Dreh- und Angelpunkt. In der Vertonung Robert Schumanns wird das Moment des Kreislaufs musikalisch noch verstärkt. Zwar lässt Schumann das letzte Gedicht von Chamissos Zyklus unvertont, doch der Kreislaufeffekt wird sowohl über die harmonische Disposition des Zyklus als auch über das Klaviernachspiel des letzten Liedes prägnant in die Musik übertragen. Der Zyklus beginnt in B-Dur 472 Borchard 1985. 473 Vgl. dazu auch Walz 1996, S. 101. 474 Hegel 1986, S. 74.
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(1. Lied) und bleibt bis zum 5. Lied im Bereich der B-Tonarten (B-Dur, EsDur), nach der Hochzeit rückt die Tonart in den Kreuzbereich, das 6. Lied in G-Dur475 (mit C-Dur-Mittelteil), das 7. Lied geht nach D-Dur, das Lied der Witwenschaft aber kehrt mit der parallelen Molltonart in den B-Tonartenbereich zurück: d-Moll, dann das anfängliche B-Dur im Klaviernachspiel. Damit ist der harmonische Kreis wieder am Beginn angelangt. Den zweiten Zyklus-Effekt ruft das eben erwähnte Klaviernachspiel des 8. Liedes hervor (T. 23–43): Im Adagio hebt es an und führt dann ins »Tempo wie das erste Lied« (ab T. 24). Es folgt im Piano die erste Strophe des ersten Liedes (»Seit ich ihn gesehen, glaub’ ich blind zu sein; wo ich hin nur blicke, seh’ ich ihn allein. Wie im wachen Traume schwebt sein Bild mir vor, taucht aus tiefstem Dunkel heller, heller nur empor.«), allerdings nur im Klavier, die Textzeilen gleichsam nur in der Erinnerung aufrufend. Die Struktur des Klavierparts aus dem ersten Lied behält Schumann bei: In den ersten acht Takten lag dabei die Gesangslinie noch in der Oberstimme der rechten Hand, in der Phrasenwiederholung sinkt die Melodielinie in die Mittellage ab. Dieses »Verstecken« der Melodielinie, das den oben kursiviert dargestellten Textteil betrifft, gleicht nun, im Nachspiel zum 8. Lied, dem In-die-Ferne-Rücken der Erinnerungen. Der Kreislauf wird geschlossen und zugleich entfernt sich jenes Ich, das sich im ersten Lied mit seiner Liebe zu Wort gemeldet, individualisiert hatte (Notenbeispiel 1). Chamisso und Schumann verstärken das Moment des Kreislaufs, in dem es keine Individualität, sondern allenfalls temporäre Figuren gibt, die in anderen Figuren sich auflösen, indem sie die eigentlich biographischen Momente – jene, die aus der Figur ein Individuum machen würden – sogar in den Hintergrund rücken. Denn dass das weibliche lyrische Ich die jeweiligen Lebensstationen ausschließlich aus der eigenen Emotionalität heraus beschreibt (nicht die Geburt, sondern die eigene Liebe zum Kind, nicht den Tod des Ehemanns, sondern die eigene Trauer darüber, etc.), verstärkt den Eindruck, dass wir nicht Zeugen von Hochzeit, Geburt und Tod werden, sondern Zeugen des Innenlebens einer Frau, die diese Situationen stellvertretend für alle Frauen erlebt. Streng genommen geht es daher nicht um das Frauen-Leben, sondern um die Frauenliebe im Angesicht des Lebens, nicht um biographische Ereignisse, sondern um die innere Gestimmtheit des lyrischen Ichs im Moment dieser Ereignisse. Damit aber findet eine zusätzliche Zurücknahme
475 Der Beginn des 6. Liedes wartet mit einem harmonischen Spannungsmoment auf, wenn zunächst die große Terz ein D-Dur andeutet, die sich dann über einen D7 nach G-Dur (T. 3) weiterschwingt – die Verwunderung des Ehemanns über die Veränderung seiner Frau hörbar machend (»Süsser Freund, du blickest mich verwundert an, kannst es nicht begreifen, wie ich weinen kann; lass der feuchten Perlen ungewohnte Zier freudig hell erzittern in dem Auge mir!«, 6. Lied, T. 1–11).
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der biographischen Ereignisse statt. Nicht sie stehen im Vordergrund, sondern die emotionale Gestimmtheit der Frau. Die Frage scheint also berechtigt, ob es sich bei Frauenliebe und Leben tatsächlich um ein biographisches Modell handeln kann? Liegt hier nicht vielmehr eine blanke Idealisierung des Weiblichen vor, wie sie in der Literatur der Romantik so zahlreich war?
Notenbeispiel 1: Robert Schumann, Frauenliebe und Leben op. 42, Lied Nr. 8, Schluss (Klaviernachspiel).
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Der besondere künstlerische Impetus, mit dem – je auf eigene Art – sowohl Chamisso als auch Schumann den Zyklus-Gedanken hervorheben, spricht dafür, dass hier mehr verhandelt wurde als die Idealisierung, dass ein Gegenmodell zu jener Linearität entworfen werden sollte, die zum Grundmuster biographischen Schreibens über Männer im 19. Jahrhundert avanciert war: Bildungsroman und Karriereverläufe im Blick, war sukzessive Entwicklung und Chronologie Grundmuster biographischer Darstellung. War ein Modell überhaupt möglich, wenn diese Grundmuster des männlichen »Normallebenslaufes« fehlten, und, wenn ja, welches? Christa Bürger reflektierte im Zusammenhang mit der Biographie über Caroline Schlegel beispielsweise das Fehlen eines biographischen Erzählschemas: »An Caroline läuft das [biographische] Erzählschema sozusagen vorbei. Wie immer man über sie schreibt, man gerät auf einen unaufhebbaren Widerspruch. Chronologie, Grund jeder Biographie, suggeriert Entwicklung. Hier ist aber keine.«476 Auf der Suche nach einem Modell außerhalb der Linearität gelangt Bürger – auch im Rekurs auf die Selbstinszenierung Caroline Schlegels – zum Modell des Rhapsodischen, das allerdings ein Modell »jenseits der Anerkennungslogik«477 sei. Jenseits der Anerkennungslogik aber heißt, jenseits des für die männliche Normalbiographie vorgesehenen Modells der Entwicklung. Da das von der natürlichen Gegebenheit einer Gegensätzlichkeit der Geschlechter überzeugte 19. Jahrhundert auch nach einem der Linearität entgegengesetzten biographischen Modell suchte, lag es nahe, den Zyklusgedanken in Betracht zu ziehen. Auch bei Chamisso und Schumann war das »Leben« einer Frau als Kreislauf konzipiert, der zum Zeitpunkt der Begegnung mit dem Mann in eine Phase der Subjektivität eintritt und nach dessen Tod wieder in die Übersubjektivität zurückkehrt. Mit dem Ende schließt sich ein Kreis, die nachfolgenden Generationen wiederum treten in diesen (als immerwährend imaginierten) Kreislauf ein.478 Das damit skizzierte Modell eines Frauenlebens aber hat Aleida Assmann unter gedächtnisanalytischen Gesichtspunkten betrachtet und als das genealogische Gedächtnis bezeichnet, das – im Gegensatz zur patrilinearen Genealogie – der Individualität der Frau keinen Raum lässt: »In einer patriarchalischen Ordnung treten Frauen genealogisch als Namensträger nicht in Erscheinung; obwohl sie so entscheidend für die Reproduktion der Familie sind, sind sie nicht dazu berechtigt, ihren Namen über die Generationen hinweg zu sichern. […] Diese Form der selbstverständlichen Identitäts476 Bürger 1990, S. 171. 477 Ebda., S. 174. 478 Die Interpretation als »Ausdruck des Rückzugs in die Erinnerung« (Walz 1996, S. 102) scheint mir an diesem Punkt zu schwach.
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aufgabe können wir auch als einen Prozess des gesteuerten und strukturellen ›Vergessens‹ beschreiben.«479 Damit ist deutlich, dass Frauenliebe und Leben als künstlerische Umsetzung dieses biographischen Modells zu verstehen ist. Mit Blick auf die »gelebte Vita«, die Wechselwirkung zwischen Modell und gelebtem Leben, scheint es darüber hinaus interessant zu sein, Reaktionen von Musikerinnen auf dieses Modell zu betrachten.480 Dass Frauen mit ihm – nicht nur über den Zyklus Frauenliebe und Leben von Chamisso und Schumann – immer wieder in Berührung kamen, steht außer Frage und lässt sich exemplarisch an der Erziehungsliteratur für Mädchen ablesen, die seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert auf die oben beschriebene Struktur abzielte,481 und die auch in der für ein weibliches Lesepublikum geschriebenen Literatur immer wieder als Modell für junge Frauen ausgestaltet wurde. So heißt es etwa im Vorwort der 1856 erschienenen Novellensammlung Blütenjahre von Julie Hirschmann: »Darum führen wir das Mädchen in die engen Räume des Hauses, dort sollen sie schalten, dies sollen sie schmücken, weltbewegende Thaten sind nicht ihr Werk. Dem Manne ist die Welt zum Kampfplatz gegeben, dem Weibe das Haus als Friedensstätte.«482 Literatur dieser Art verstand sich in der Tat als Modell-Literatur für angehende Ehefrauen. Dies ist nicht zuletzt den Titel(beigabe)n wie »für die reifere weibliche Jugend«483 oder Das Buch denkwürdiger Frauen. Lebensbilder und Zeitschilderungen. Festgabe für Mütter und Töchter zu entnehmen.484 Für angehende Musikerinnen, die über die »Wunderkind«-Zeit hinaus an einer Fortführung ihrer künstlerischen Karriere interessiert waren, vor allem aber auch für Komponistinnen, die mit ihren Werken an die Öffentlichkeit zu treten beabsichtigten und damit sich explizit mit den Modi der Professionalität auseinanderzusetzen hatten,485 galt es daher, frühzeitig Strategien zu entwickeln, die eine Alternative zum Zyklus-Modell boten. Hierzu mussten sie sich aktiv mit dem genealogischen Modell auseinandersetzen, das ebenso dominant für Frauen war, wie das lineare Entwicklungsmodell für Männer. Es ist bezeichnend, dass das biographische Einstiegsereignis im Zyklus von Chamisso/Schumann der Moment vor der Hochzeit ist, der Übertritt vom Mädchendasein zur Ehefrau. Just diese Phase aber markiert punktgenau jenen 479 Assmann 2006b, S. 37f. 480 Vgl. dazu auch Borchard 2000. 481 Etwa Joachim Heinrich Campes Väterlicher Rat für meine Tochter (1789). Vgl. zur Mädchenbildung auch Hopfner 1990, sowie in deutsch-englischer Perspektive auch Budde 2010. 482 Zit. nach Stadt- und Universitätsbibliothek Frankfurt am Main 1988, S. 16. 483 So der Untertitel der Novellensammlung von Hirschmann. 484 Düringsfeld 1896. 485 Vgl. dazu Citron 1993, Borchard 1997.
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Karriere-Moment, in dem für als »Wunderkinder« auftretende oder im häuslichen Bereich künstlerisch aktive Mädchen die schwierigste Hürde zu nehmen war: der Übertritt in die Phase des Künstlertums als erwachsene Frau. An dieser Hürde scheiterten zahlreiche Musikerinnen, vor allem Komponistinnen, aber auch Sängerinnen, deren Kontrakt genau deshalb Ehelosigkeit vorsah, weil künstlerisches Auftreten mit dem genealogischen Modell nicht vereinbar war. Als ein Beispiel unter vielen, wie der Abbruch einer künstlerischen Entwicklung als Komponistin durch die Hochzeit erlebt und wie auf ihn biographisch reagiert wurde, kann Laura Kahrer-Rappoldi genannt werden. Sie beschrieb in den Auskünften, die sie der Biographin Marie Lipsius (alias La Mara) für deren Arbeit gab, die Tatsache, dass sie nach der Eheschließung mit dem Geiger Rudolf Rappoldi nicht mehr komponierte, unmissverständlich als Verlust: »Ich mußte das Komponiren […] und das Stundengeben aufgeben, dessen Grund leicht zu erklären ist, wenn ich Ihnen schreibe, daß ich zwei Söhne und zwei Töchter habe und daß ich sogar Hausfrau bin.«486 In La Maras Biographie aber nimmt sich – entsprechend auch den im Vorwort genannten Prämissen, Frauen sei von Natur aus nicht die Komposition, wohl aber die Interpretation von Musik vorbehalten487 – die Tatsache weitaus positiver aus, indem die Rolle der Ehefrau und Mutter, in die die Künstlerin nach ihrer Hochzeit schlüpft, affirmativ begrüßt wird: Ihre Hauptthätigkeit beschränkte die junge Frau seit ihrer Vermählung lediglich auf das Clavier. Ihren Pflichten als Hausfrau und Mutter hingegeben – sie schenkte ihrem Gemahl zwei Söhne und zwei Töchter – gab sie sowohl das früher mit Eifer 486 Kahrer-Rappoldi an La Mara, Dresden 14. März 1881, zit. nach Deaville 2006, S. 148. 487 »Ist unter allen Künsten des Raums und der Zeit die Tonkunst ohne Frage die bevorzugteste der Gegenwart, so kann es nicht Wunder nehmen, wenn auch die Frauen, denen unsre fortschreitende Zeit eine wachsende Bethätigung am öffentlichen Leben einräumt, sich an der Pflege derselben neuerdings emsig betheiligen. […] Auf frei schöpferischem Gebiet zwar darf sich der weibliche Genius nur bescheidener Erfolge rühmen. Die eigentlich gestaltende Kraft, die Spontaneität der Erfindung und des combinatorischen Vermögens scheinen ihm, wenn nicht völlig versagt, so doch in zu kargem Maße von der Natur verliehen, um wirklich große, hervorragende Leistungen in dieser Richtung nicht von vornherein auszuschließen. Keine Componistin hat je epochemachend oder gar bahnbrechend gewirkt, keine ihren Weg durch unvergängliche Thaten bezeichnet. So verhängnißvoll es aber für die Frauen erscheint, ihre Hand nach jenen am höchsten wachsenden musikalischen Lorbeeren auszustrecken, ein um so ergiebigeres Ruhmesfeld bietet sich ihnen als ausübende Künstlerinnen dar. […] Vorübergehend wie die Gegenwart freilich ist, im Gegensatz zu dem für die Nachwelt schaffenden Componisten, Dichter, Maler, Bildner, Architekten, des Virtuosen Aufgabe […]. Um so gerechtfertigter gewiß erscheint es, uns (auf Grund authentischen, von den Geschilderten fast ausnahmslos selbst empfangenen Materials) die Bilder der hervorragendsten Künstlerinnen unserer Tage […] zu veranschaulichen.« La Mara 1882, S. VII–X.
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betriebene eigene Schaffen (sie schrieb mehrere Claviersonaten und hauptsächlich zahlreiche Fugen, deren einige in Wien preisgekrönt wurden), als auch zum größten Theil das Unterrichtertheilen auf.488
Bezeichnend ist dabei nicht nur die Formulierung, dass sich Kahrer-Rappoldi den »Pflichten […] hingegeben« habe, sondern auch, dass sie in diesem Absatz nicht namentlich, sondern vom Signum ihrer Künstlerinnenidentität – ihrem Namen – getrennt, als »junge Frau« tituliert wird. Zuvor bereits hatte La Mara der bislang künstlerisch unabhängig auftretenden Pianistin Kahrer-Rappoldi anerkennend attestiert, dass sie sich bei den gemeinsamen Auftritten mit ihrem Ehemann auch künstlerisch anpassen könne: »So schmiegt sich ihre Natur harmonisch der des Gatten an.«489 James Deaville, der die den Biographien zugrundeliegenden Fragebögen La Maras eingesehen und ausgewertet hat, kommt zu dem Schluss: »Thus, she created idealized versions of lives […]. By fitting the autobiographies of her subjects into a ›standard‹ narrative, she removed markers of difference.«490 Neben den Beispielen von weiblichen Lebensläufen, die wegen des Konflikts mit dem genealogischen Modell (Ab-)Brüche in ihrem künstlerischen Tun in Kauf nahmen, sind auch jene Karriereverläufe interessant, die sich aktiv mit diesem Modell auseinandersetzten – in An- oder Ablehnung. Denn die biographische Modellierung, die Komponieren in Lebensläufen von Frauen marginalisiert, war komponierenden Frauen wohl bewusst. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass – wurde die Darstellung des Lebenslaufs nicht einem Biographen/einer Biographin in die Hände gelegt – im Zusammenhang mit autobiographischen Selbstinszenierungen von Komponistinnen Rechtfertigungsstrategien erkennbar sind: Erstens die offensive Thematisierung, als in die Öffentlichkeit tretende Komponistin Diskriminierungen ausgesetzt zu sein, zweitens die Strategie, den eigenen Lebenslauf nach dem (männlichen) Karriere-Modell auszurichten, um auf diese Weise die Frage des Geschlechts in den Hintergrund zu drängen, oder drittens – gewissermaßen als eine Strategie der Verweigerung – die explizite Ablehnung (auto)biographischer Darstellungen überhaupt. Ein Beispiel für die erste Strategie ist Ethel Smyth, die mehrfach ihr Geschlecht zum Thema ihrer autobiographischen Veröffentlichungen machte, die vor allem auch Diskriminierungen im Musikbetrieb und in der Musikgeschichtsschreibung thematisierte und dabei ein großangelegtes Projekt autobiographischer Selbstinszenierung verfolgte.491 Als Beispiel für 488 489 490 491
La Mara 1882, S. 85. Ebda. Deaville 2006, S. 152. Vgl. Unseld 2010e.
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die zweite Strategie kann Luise Adolpha Le Beau benannt werden, die sich konsequent die Topoi männlich-autobiographischen Schreibens492 zur Hand nahm, auf diese Weise ihre eigene Autobiographie verfasste (Abb. 3) und publizierte.493 Sie verfolgte damit explizit den Plan, qua Autobiographie ihre Existenz als Komponistin für die Musikgeschichtsschreibung zu legitimieren, wie sie im Vorwort betonte, und adaptierte die Beschreibung ihres Lebens exakt auf das Modell, das sie dafür als notwendig erachtete: die bewusste Vermeidung des genealogischen Modells als Voraussetzung, in den Kanon der Musikgeschichte aufgenommen zu werden.494 Durch zahlreiche Dokumente belegt, schildert sie ausschließlich ihre Berufsbiographie, was insofern als besonderes Merkmal verstanden werden kann, als noch immer die narrativ verfasste Identität von Frauen auf das Private abzielte. Dass Le Beau dies ablehnt, macht sie nicht nur durch die Veröffentlichung der Autobiographie deutlich, sondern im Vorwort nochmals konkret, indem sie ihre musikhistorische Verortung selbst vornimmt. 492 Vgl. Wagner-Egelhaaf 2006. 493 Neben der Orientierung am Modell einer männlichen Berufs-Autobiographie spielt das Veröffentlichen eine wichtige Rolle, wie etwa im Vergleich mit der Autobiographie Richard Wagners erkennbar wird: Wagner entschied sich für den umgekehrten Weg – die Nicht- oder späte Veröffentlichung der Autobiographie –, das auf diese Weise sein Künstlerbild als exzeptionelles und geheimnisvolles Genie mitformen sollte. Wagners Autobiographie erschien zu Lebzeiten nur im Privatdruck mit geringer Auflagenzahl (Basel 1870–1880), die erste öffentliche Ausgabe erschien 1911. Im Vorwort legt Wagner diese Taktik des Auratisierens offen: »Die in diesen Bänden enthaltenen Aufzeichnungen sind im Laufe verschiedener Jahre von meiner Freundin und Gattin, welche mein Leben von mir sich erzählt wünschte, nach meinen Diktaten unmittelbar niedergeschrieben worden. Uns beiden entstand der Wunsch, diese Mitteilungen über mein Leben unsrer Familie sowie bewährten treuen Freunden zu erhalten, und wir beschlossen deshalb, um die einzige Handschrift vor dem Untergange zu bewahren, sie auf unsre Kosten in einer sehr geringen Anzahl von Exemplaren durch Buchdruck vervielfältigen zu lassen. Da der Wert der hiermit gesammelten Autobiographie in der schmucklosen Wahrhaftigkeit beruht, welche unter den bezeichneten Umständen meinen Mitteilungen einzig einen Sinn geben konnte, deshalb auch meine Angaben genau mit Namen und Zahlen begleitet sein mußten, so könnte von einer Veröffentlichung derselben, falls bei unseren Nachkommen hierfür noch Teilnahme bestehen dürfte, erst einige Zeit nach meinem Tode die Rede sein; und hierüber gedenke ich testamentarische Bestimmungen für meine Erben zu hinterlassen. Wenn wir dagegen für jetzt schon einzelnen zuverlässigen Freunden den Einblick in diese Aufzeichnungen nicht vorenthalten, so geschieht dies in der Voraussetzung einer reinen Teilnahme für den Gegenstand derselben, welche namentlich auch ihnen es frevelhaft erscheinen lassen würde, irgend welche weitere Mitteilungen aus ihnen an solche gelangen zu lassen, bei welchen jene Voraussetzung nicht gestattet sein dürfte.« Wagner [1911], S. 5. 494 Vgl. Le Beau 1910, dazu auch Unseld 2010a.
Lebenslauf-Modelle Le Beau: Lebenserinnerungen einer Komponistin Inhaltsverzeichnis494
163 autobiographische Topik495
Vorwort
conditio (Verfassung/Befindlichkeit) animi natura (geistige Natur)
Meine Eltern
nomen et cognomen (Namen und Zunamen) genus (Abstammung/Familie) natio (Volkszugehörigkeit) patria (Vaterland)
Meine Kindheit
aetas (Zeitalter/Zeiten)
Meine künstlerische Ausbildung
educatio et disciplina (Erziehung und fachliche Ausbildung)
Clara Schumann und Hans von Bülow
studia (Studien)
München: 1) Kompositionen 2) Konzertreisen 3) Sonstige Erlebnisse
commotio (Bewegung/Reisen) acta dictaque (Taten und Aussprüche)
Wiesbaden Berlin: 1) Musikalisches 2) Allgemeines Baden-Baden Anhang: a) Verzeichnis sämtlicher Kompositionen mit Angabe der Verleger b) Angabe der Hof- und Staatsbibliotheken, woselbst die Werke gesammelt sind
acta […] (Taten […])
[fünf Photos: Frontispiz, S. 16/17, S. 40/41, habitus corporis (körperliche Erscheinung) S. 80/81, S. 200/201] Abb. 3: Vergleich der Autobiographie von Le Beau mit der autobiographischen Topik (nach WagnerEgelhaaf)
Als Beispiel für die dritte Strategie schließlich kann Lili Boulanger genannt werden, genauer: jene Strategie, die ihre Schwester Nadia Boulanger für die posthume Integration in die Musikgeschichtsschreibung entwickelte.495 In allen genannten Fällen aber wird deutlich, dass die Komponistinnen (im Falle Lili Boulanger die Schwester als deren Nachlassverwalterin) eine bewusste und kontroverse Auseinandersetzung mit jenem biographischen Modell führten, das ihnen eine Karriere als Komponistin verunmöglichte. 496 497
495 Vgl. dazu das Kapitel Komponist ohne Bild: Nadja Boulangers Plädoyer für eine Musikgeschichte »à-personnelle« in diesem Band. 496 Le Beau 1910, S. 5. 497 Nach Wagner-Egelhaaf 2006, S. 54.
3. Subjekt, Genie, Komponist. Konzepte um 1800
Rund 50 Jahre nach Matthesons Ehren-Pforte stand die Biographiewürdigkeit von (ausgewählten) Musikern nicht mehr in Frage, und die Musikerbiographik partizipierte an den Entwicklungen der allgemeinen Biographik. Diese aber befand sich in einer Umbruchsituation, die sich aus verschiedenen Impulsen speiste: aus einer sich stark ausdifferenzierenden Aufklärung und ersten anti-aufklärerischen Ideen, aus einer Neukonstitution des bürgerlichen Subjekts, aus idealisierenden und romantischen Versuchen, das Ich in seinem Verhältnis zur Welt neu zu denken, aus historisierenden Tendenzen, aus einem neuen Verständnis der Schriftkultur und der Etablierung neuer Wissenschaften und nicht zuletzt aus einer regen Diskussion um den Begriff des Genies. Diese Impulse führten weniger zu einer stringenten, gar chronologischen Entwicklung. Vielmehr handelt es sich zum Teil um zeitgleiche, sich durchaus auch bedingende, ergänzende oder konkurrierende, in jedem Fall aber diskontinuierliche Phänomene, die selbst in der historischen Rückschau nicht ohne Widersprüche zu erkennen sind. Andreas Reckwitz geht sogar soweit, dass die These, das moderne Subjekt sei im 18. Jahrhundert entstanden, selbst als »nachträgliche Selbstbeschreibung nach Art eines modernen Ursprungsmythos« zu verstehen sei. 498 Wenngleich auf dieses, in jüngerer Forschung ohnehin stark ausdifferenzierte Feld499 hier keine umfassende Antwort versucht werden soll, sticht doch hervor, dass diese spannungsvolle Phase im Umkreisen dessen, was ein Subjekt sei, mit einer Phase der Theoretisierung der allgemeinen Biographik zusammenfällt.500 Zu konstatieren ist auch, dass sich zeitgleich in der Musikkultur und für ihre Akteure eine Phase gravierender Veränderungen abzeichnet – mit Verbürgerlichung der Musikkultur und Beginn der Musikgeschichtsschreibung seien hierzu nur knappe Stichworte erwähnt.501 Es ist der Moment, in dem der Komponist in seiner Rolle, seinem Beruf und seinem Selbstverständnis aus der Gruppe der Musiker heraustritt und zum Subjekt im emphatischen Sinne wird, sein Name auf den Titelblättern der Musikdrucke in großen Lettern 498 Reckwitz 2006 S. 101. Dazu auch Klinger 1995, insb. S. 105ff. 499 Vgl. hierzu etwa auch die Arbeit des DFG-Graduiertenkollegs »Selbst-Bildungen. Praktiken der Subjektivierung« an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Im ersten Band der Publikationsreihe des Kollegs (Praktiken der Subjektivierung) findet sich auch eine knappe Übersicht zu »Bedingungen und Merkmale[n] aktueller SubjektKonjunkturen«. Alkemeyer/Budde/Freist (Hg.) 2013, S. 10ff. 500 Vgl. Maurer 1996. 501 Vgl. hierzu u. a. Schleuning 1984, Hentschel 2006a, Goehr 2007.
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veröffentlicht wird, Denkmale ihm zu Ehren errichtet werden und in Musikgeschichte(n) über ihn geschrieben wird. In dieser höchst heterogenen Gemengelage formiert sich nicht zuletzt auch die Musikerbiographik neu. Sie wird dabei an eine allgemeine Entwicklung der Biographik anschlussfähig: Helmut Scheuers These, dass sich in den 1770er Jahren ein neues Biographieverständnis entwickele502 – er gibt Johann Gottfried Herder als Gewährsmann dafür an –, korreliert mit der Beobachtung, dass wenig später auch in der Musikgeschichte das autobiographische Schreiben und die biographischen Gelehrtenlexika mehr und mehr durch das Verfassen von Individual-Biographien abgelöst werden. Dass Leopold Mozart die Biographie seines Sohnes »umständlich« – also: ausführlich und den individuellen Umständen nach – zu schreiben plant, ist einer der frühen Hinweise eben darauf. Damit wird zwar die lexikalische Idee nicht aufgegeben, vielmehr knüpfen die enzyklopädischen, oftmals national orientierten Lexikonprojekte daran an, ein Zweig der Biographik, der in den nationalen Identitätsprozessen des 19. Jahrhunderts eine zentrale Rolle spielen wird. Mit der Idee einer »umständlichen« Musiker-Biographie aber ist eine Idee in der Welt, die sich gegen Ende des 18. Jahrhunderts konkretisiert und im 19. Jahrhundert zur Blüte kommen wird. Mit Niemetscheks Mozart-Biographie liegt 1798 eine immerhin bereits rund 80-seitige Lebensbeschreibung vor, Forkels Bach-Biographie von 1802 umfasst etwa 70 Seiten, Ignaz Arnolds Mozart-Biographie von 1803 beschäftigt sich auf 106 Seiten mit Mozarts Leben.503 Die (monographische) Musikerbiographik beginnt damit zeitgleich und im engen Austausch mit biographietheoretischer Reflexion (wie dies kurz bei Rochlitz’ Überlegungen zur Anekdotik bereits anklang), so dass sich die frühen Biographien auffallend produktiv den aktuellen Biographietheoriediskussionen zuwenden. Der stetig anwachsende Umfang dokumentiert dabei freilich nicht nur ein steigendes Interesse an der jeweils biographierten Person, sondern auch ein neues Verhältnis zwischen der »historischen Schreibart«504 (Biographie und Historie) und der (erzählenden) Literatur, zumal die Biographie bis dato »noch nicht so auf die erzählende Form festgelegt«505 war. Der Historiker Johannes Süßmann
502 Vgl. Scheuer 1979a, vor allem Kapitel II.1. »Biographik im 18. Jahrhundert. Die Erziehung des Menschengeschlechts«. 503 Niemetschek 1798, Forkel 1802, [Anonym] [= Arnold] 1803. Forkel und Arnold nehmen dabei eine dezidierte Trennung von Leben und Werk vor, wobei der biographische Teil jeweils weitaus weniger umfangreich ist als der werkbetrachtende. 504 Der Begriff stammt aus Johann Joachim Eschenburgs Entwurf einer Theorie und Literatur der schönen Wissenschaften von 1783, in der die Biographie zur »historischen Schreibart« gezählt wird, dazu vgl. Maurer 2004, S. 41f. 505 Engelberg/Schleier 1990, S. 198.
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fasst das Phänomen, das er auf »ab etwa 1785«506 datiert, wie folgt zusammen: »Während die Historie deutscher Sprache Literatur wird, entdeckt die schöne Literatur das Historische.«507 Für die musikalische Biographik des beginnenden 19. Jahrhunderts ist diese Hinwendung des Historischen zum Erzählenden ein wesentlicher emanzipatorischer Schritt hin zu einer Musikgeschichte, in der die Biographie eine zentrale Rolle spielt. Neben der Anschlussfähigkeit an die allgemeine Biographik entwickelt die Musikerbiographik eine auffällige Eigenständigkeit, warf die Musik doch zum Teil andere biographische Fragestellungen auf, etwa die nach der Darstellung der Kindheit, die in kaum einem anderen Metier so deutlich notwendig schien wie in der an sogenannten »Wunderkindern« so reichen Musikkultur. Zudem korrelierte die Biographie als Identitätsmedium des sich herausbildenden Bürgertums mit der Historisierung der Musik (selbst ein Projekt der bürgerlichen Identitätsbildung), das heißt mit dem Beginn der Musikgeschichtsschreibung und ihren Kanonisierungsprozessen.508 Diese aber waren nicht ohne Auswahlkriterien denkbar, deren Grundlage nicht zuletzt in einem Künstlerbild gesucht wurde, das mit einem bürgerlichen und/oder kunstgenialischen Ideal korrespondierte (oder zumindest zu korrespondieren schien). Anders, und mit dem Fokus auf eine der dabei zentralen Figuren gesagt: Die Zusammenhänge zwischen der Kanonisierung herausgehobener Werke Beethovens und seiner Inszenierung als Komponisten-Heroe sind eng, und ebenso eng sind sie mit einem Bürgertum verbunden, das im Heroismus ein konstituierendes Element seines Identitätskonzepts sah. Aus diesem dichten Netz von Themen und Zusammenhängen sei einiges exemplarisch, wenngleich keineswegs erschöpfend herausgegriffen und näher beleuchtet: die Veränderungen in der Wahrnehmung von Subjekt und Künstler, in denen Idealisierung und Genie-Diskussion eine zentrale Rolle einnehmen, sowie Fragen von Klassizität, Kanonisierung und Musikgeschichtsschreibung. Der das 18. Jahrhundert maßgeblich formende Prozess, in dem Standesprivilegien »durch die Forderung nach moralischer und menschlicher Gleich506 Damit differiert die Datierung geringfügig von derjenigen, die Engelberg und Schleier vornehmen, die das Phänomen der Annäherung erst »seit dem Aufkommen der Historischen Schule und des idealistischen Historismus« zu Beginn des 19. Jahrhundert datieren. Vgl. Süßmann 2000, S. 113 und Engelberg/Schleier 1990, S. 198. 507 Süßmann 2000, S. 114. 508 2013 erschien das umfangreiche Handbuch Der Kanon der Musik. Theorie und Geschichte (Pietschmann/Wald-Fuhrmann [Hg.] 2013), das für die hierzu folgenden Überlegungen nicht mehr rezipiert werden konnte.
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stellung in Frage gestellt werden«,509 führte unabweislich zu einem veränderten Bewusstsein und Nachdenken über das, was das Subjekt sei. Cornelia Klinger weist jedoch kritisch darauf hin, dass mit der »kühne[n] Wendung der neuzeitlichen Philosophie« noch keineswegs ein »prinzipieller Einstellungswandel« einhergehe: »Die neuen Ideen von Freiheit und Gleichheit aller Menschen vermeiden mindestens im ersten Schritt die Berührung mit dem Individuellen […]. Die Idee der Menschheit bzw. des Subjekts wird mit der Position der Allgemeinheit identifiziert und vom empirischen Subjekt in seiner Bedingtheit und Endlichkeit abgegrenzt.«510 Andreas Reckwitz beschreibt dies ähnlich als einen Prozess, indem es zunächst nicht in erster Linie um ein »expressives Individualsubjekt« ging, sondern um das »Allgemeinsubjekt« als Träger der bürgerlich-demokratischen Idee: Die bürgerliche Kultur modelliert ihre körperlich-mentalen Träger im emphatischen, anti-traditionalen Sinne als ›Subjekte‹, die eine autonome Selbstregierung und kritische Distanzierung von religiöser Tradition betreiben. Gleichzeitig macht sie die Subjektivität nicht zu einem arbiträren Unternehmen der Besonderheit des Einzelnen, sondern bringt über sehr spezifische Praktiken der Arbeit, der Intimsphäre und schriftorientierte Selbstpraktiken eine allgemeinverbindliche, bürgerlich-moderne Formierung des Subjekts, einen Anforderungskatalog intelligibler Subjekthaftigkeit als kulturell denkbar und legitim hervor: Die bürgerliche Kultur ist ein Trainingsprogramm zur Heranziehung eines moralisch-souveränen Allgemeinsubjekts.511
Aus dieser Analyse wird nicht zuletzt klar, dass sich zwar mit den bürgerlichen Subjekt-Codes eine Loslösung von religiösen oder standesbedingten Hierarchien vollzog, dass aber nicht das Individuum im emphatischen Sinne, sondern vielmehr ein jene Codes (nach)vollziehendes Subjekt das Ziel sein konnte. Erst das romantische Subjekt-Konzept ließ sich auf ein Modell ein, »das nach der Entfaltung von ›Individualität‹ strebt, das Modell einer einzigartigen ›inneren Tiefe‹, die nach Expression verlangt«.512 Exemplarisch und dabei visuell eindrücklich lassen sich jene Prozesse der Formungen am Subjekt an den Porträtbüsten von Franz Xaver Messerschmidt verdeutlichen. Zunächst etablierte dieser eine neue Porträtform, deren »Konzentration auf die individuelle Erscheinung«513 zugleich eine geradezu überindividuelle Idealisierung ins Bild setzte. Messerschmidt porträtierte in Wien 509 510 511 512 513
Scheuer 1979a, S. 11. Klinger 1995, S. 112. Reckwitz 2006, S. 97. Ebda., S. 106. Bückling 2002, S. 79. Hier konkret zur Büste von Franz von Scheyb, abgedr. ebda.
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zahlreiche Wissenschaftler und der Aufklärung nahestehende Persönlichkeiten, wobei es ihm wichtig war, die höfische Darstellungsform mitsamt ihren Insignien von Amt und Würden (Orden, Perücken u. a.) zu ignorieren, stattdessen die Bedeutung des Individuellen hervorzuheben. So schuf Messerschmidt etwa eine Büste Gerard van Swietens, einflussreicher Leibarzt Kaiserin Maria Theresias und Vater von Gottfried van Swieten, indem er »schonungslos« dessen »Fleischlichkeit als ›Teil der Gesamtwahrheit einer Person‹ vor Augen führte«.514 Zeitgleich aber arbeitete Messerschmidt an seinen »Charakterköpfen«, die geradezu alltägliche Eindrücke (Erschrecken, Geruchsempfindungen, Lachen u. a.) zwischen individuellem Gesichtsausdruck und allgemeingültiger Charakterstudie verorten: die Serie der »Charakterköpfe« als »eine ›Befragung‹ des Menschen – oft als ›Selbstbefragung‹ formuliert«515 (vgl. Tafeln 3 und 4). Messerschmidt, der damit die tradierten Normen der Porträtbüste außer Kraft setzte, strebte in seinen Porträts wie in den Charakterköpfen eine Natürlichkeit – im Sinne von Universalität516 – an, die auf ein systematisches Studium von Köpfen schließen ließ. Wie Johann Caspar Lavater hatte sich Messerschmidt – wenngleich mit anderen Zielen – der »wissenschaftliche[n] oder empirische[n] Nachprüfbarkeit einer Darstellung«517 verschrieben, um in Kopf-Sequenzen Typiken herauszuarbeiten. Aus der »Gesamtwahrheit einer Person« (in den Porträtbüsten der Zeitgenossen) geht die »Gesamtwahrheit des Menschen« (in den Charakterköpfen) hervor, mithin das Porträt des Allgemeinsubjekts, stets unter der Prämisse, dass die Aufgabe von Kunst sei, »die Wahrheit des Menschen zu erforschen und darzustellen«.518 Das Beispiel der Porträtbüsten und der »Charakterköpfe« von Franz Xaver Messerschmidt mag, so wenig es Allgemeingültigkeit für eine ganze kulturelle Epoche beanspruchen kann, erkennbar werden lassen, dass es keineswegs als Widerspruch anzusehen ist, wenn um 1800 die Darstellung des Menschen einerseits nach der Individualität strebt (frei von Standesinsignien, frei von Darstellungskonventionen), andererseits durch die Studien des menschlichen Angesichts zeitgleich eine Idealisierung voranschreitet. Diese intendiert dann freilich nicht die Idealisierung der Standesperson, sondern die des Menschseins überhaupt. Diese neue Sicht auf den Menschen als Individuum – frei von den Standesprivilegien, damit auch frei von der Verbindlichkeit, dass von Herrschenden alle Vorbildlichkeit ausgehe, und neu in der Aufstellung von Ich und Welt – 514 515 516 517 518
Ebda., S. 79. Krapf, S. 168. Vgl. Reckwitz 2006, S. 263. Bückling 2002, S. 77. Ebda.
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eröffnet die Möglichkeit auf eine neue Biographik, die sich im letzten Jahrhundertdrittel auszubreiten begann und die sich aus der Autobiographie – jenem genuinen Ort der Selbstvergewisserung – herausschälte, worauf Helmut Scheuer zu Recht verwies.519 »Der Biograph muß«, so der Kulturphilosoph und Kant-Schüler Daniel Jenisch, »nichts geringeres als das ganze – denkende, empfindende und handelnde – Wesen eines Menschen, sein Seyn und Werden, darzustellen suchen. Das heißt also: er muß Geist, Thatkraft und Sittlichkeit desselben, nach Maaß und Art bestimmen, Selbstbildung und Bildung durch die Umstände – bezeichnen, und, so viel durch die Wahrheit der Thatsachen geschehen kann, alles zu Einem mit sich selbst übereinstimmenden Ganzen ründen.«520 Damit treten neue biographische Kategorien in den Vordergrund: Geist, Empfindsamkeit und Tatkraft, die den Menschen als Individuum erkennbar werden lassen,521 die zugleich aber schwieriger zu fassen sind als bisherige Kategorien wie Stand, Beruf, Religion etc. Auch die Musikerbiographik steht vor diesen Fragestellungen: Wie ist ein sich über Musik definierendes Individuum überhaupt darstellbar? Denn die bislang gängigen »Berufsbiographien« (wie etwa in Gerbers Lexicon) umfassten zwar die äußere, »öffentliche« Seite des Musikerberufes (Ämter, Auftritte, Veröffentlichungen etc.), nicht aber Fragen der Inspiration, des Schaffens, des individuellen Charakters – Bereiche mithin, die weitaus stärker der Individualität des Biographierten zuzuschlagen waren. »Doch um Mozart als Tonkünstler ganz kennen zu lernen«, so etwa Franz Xaver Niemetschek in seiner Mozart-Biographie, »ist es nöthig[,] ihn bey seinem Schreibpulte, wenn er die unsterblichen Werke dichtete, zu beobachten!«522 Das Ausrufezeichen am Satzende vermittelt die Emphase, die diesem Satz deutlichen Nachdruck verleiht. Und erst die teilnehmende Beobachtung beim Komponieren vermittle den vollkommenen Eindruck des Menschen als komponierendem Subjekt. Zugleich löste sich die Biographik aus der Vorherrschaft der Autobiographik und von der Konzeption der so zahlreich publizierten Nekrologkompendien, biographischen Gelehrtenlexika und (meist berufsbezogenen) Biographiensammlungen, die nach vorgegebenen Modellen konzipiert waren – das Beispiel von Matthesons Ehren-Pforte, zu dem bereits 1722 das an französischer Kunstgeschichtsschreibung orientierte Anekdoten-Modell vorlag, hatte dies beispielhaft gezeigt. Die Beobachtung, dass dennoch der Hang zu »stark typisiert-schematischen [biographischen] Darstellungen«523 gerade in Kreisen der Aufklärung 519 520 521 522 523
Vgl. Scheuer 1979a, S. 13 et passim. Jenisch 1802, S. 85. Vgl. dazu Maurer 2004. Niemetschek 1798/1984, S. 54. Scheuer 1979a, S. 15.
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groß war, stützt Reckwitz’ Überlegungen zum Allgemeinsubjekt: Derart in Formen von allgemeingültigen Subjekt-Codes gefasst, ließen sich so doch die Leistungen Einzelner in das ›Gesamtprojekt Aufklärung‹ einordnen und dokumentieren. Nochmals Scheuer: »Die wachsende Zahl biographischer Sammlungen […] beeinträchtigte notwendigerweise die Exzeptionalität solcher Verewigung. Der gleichbleibende rhetorische Schmuck sorgte für eine Entindividualisierung und Vereinheitlichung.«524 Dass dabei die Idealisierung in mächtigen Schritten vorankam (worauf noch einzugehen sein wird), muss vor diesem Hintergrund betrachtet werden. Das Subjekt wird zwar auf seine individuelle Charakteristik hin befragt, dann aber auf seine Passgenauigkeit hinsichtlich jener Codes des Allgemeinsubjekts geprüft. Freilich sind deren Orientierungspunkte nunmehr an den emanzipatorischen und demokratischen Grundgedanken der Aufklärung ausgerichtet, so dass die Idealisierung nicht »die Mächtigen« in den Blick nimmt, sondern »den Menschen« in seiner bürgerlichen Verortung. Denn zu den gesellschaftlichen Normen, die durch die Aufklärung grundsätzlich infrage gestellt wurden, gehörten vor allem die Stände. In seiner Cultur-Geschichte des achtzehnten Jahrhunderts reflektierte Jenisch diese grundlegende Ablösung der Kategorie ›Stand‹ durch die Fähigkeit des Einzelnen: Diese, bis dahin immer so scharf und grell von einander abgesonderten Stände nun, haben, insbesondere in der letztern Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts angefangen, sich einander merklich zu nähern. Die immer steigende Aufklärung, welche […] die wahre Selbsterkenntniß und Selbstachtung der Menschen zu ihrem ersten Element hat, hat sie gelehrt, Talente des Geistes und der Kunst, gemeinnützige Tugend und gründliches Verdienst, wenigstens öffentlich mehr zu achten, als sie es sonst zu thun pflegten: indem öffentlich-erklärte Geringschätzung dieser und ähnlicher wahrer Menschenvorzüge in Tagen der Aufklärung für ein Merkmal der Rohigkeit und Uncultur gilt. Durch die öffentliche Achtung solcher Vorzüge blieb also nicht mehr der Adeliche oder der Geadelte der einzig angesehene und bemerkenswerthe in der bürgerlichen Gesellschaft: der Mann von Geist und Talent, von Ruf und Verdienst, nahm auch seinen Platz in derselben ein.525
Wichtig scheint hier einerseits die Bewusstwerdung des Individuums außerhalb seiner Standeszugehörigkeit, andererseits die öffentliche Würdigung des Einzelnen aufgrund seiner Talente und Verdienste. Jenisch betont sogar, dass die »öffentlich-erklärte Geringschätzung« als »Merkmal der […] Uncultur« angesehen werde.
524 Ebda., S. 16. 525 Jenisch 1800, S. 347f.
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Zur öffentlichen Würdigung gehörte für Jenisch auch die Biographie, über deren theoretische Grundlagen er 1802 publizierte (Theorie der Lebens-Beschreibung). Beispielhaft kann man dabei jenen Moment des Allgemeinsubjekts an der Beobachtung erkennen, dass Jenisch ausführlich zur Frage der Biographiewürdigkeit von Frauen Position bezieht, den Radius der »bürgerlichen Gesellschaft: der Mann von Geist und Talent, von Ruf und Verdienst« explizit erweiternd, und damit das Geschlecht als »offenbar eine der wesentlichsten Charaktergattungen« bezeichnend, »welche wir eigentlich an die Spitze unsrer Classifikazion hätten stellen sollen, und die wir, blos als Allbekannt, übergangen haben.«526 Jenisch sieht sich darin einer modernen Entwicklung verpflichtet,527 Frauen in ihrer »von der Natur selbst angewiesene[n]« Rollenzuschreibung wahrzunehmen, und argumentiert mit der »Charakter-Mannigfaltigkeit« von Frauen, die sie zu biographiewürdigen Personen mache: Insbesondere, glaub ich, sollte nunmehr auch das bekannte Popische Vorurtheil, »daß alle Weiber sich gleich sind, und wer eine kenne, sie alle kenne,« hinlänglich widerlegt seyn. Der Ausspruch des mißgestalteten, immer schwächlichen und immer kränkelnden Dichters könnte vielleicht wahr seyn, in Hinsicht auf die Äußerungen des Geschlechtstriebes: in allen übrigen Hinsichten dagegen herrscht unter den Weibern fast keine geringere Charakter-Mannigfaltigkeit, als unter den Männern; allein diese Charakter-Mannigfaltigkeit ist, theils wegen der feineren Nuanzirung, theils wegen der aus vielen kleinen, kaum bemerkbaren Umständen hervorgehenden Entwickelung schwerer, als bey unserm Geschlecht, aufzufinden.528
Hierbei explizit das bürgerliche Ideal von Mutter und Ehefrau im Blick, fordert Jenisch eine geschlechtsspezifische Biographik über Frauen, denn die Herrscherinnen (Jenisch nennt u. a. Elisabeth I. und Katharina die Große) würden ohnehin als »Helden des weiblichen Geschlechts« »nach Männermaaß gewürdiget«.529 Jenischs Überzeugung, dass sich öffentliche Würdigung (und damit auch Biographie) aus der durch Fähigkeiten definierten Identität ergebe, konnte 526 Jenisch 1802 (Paragraph 33, VI. »Die Weiber«), S. 172. 527 »Da, besonders seit etwa zwey Jahrzehnden, in Teutschland so manche Schriften über Werth und Bestimmung des weiblichen Geschlechts erschienen; so werden, hoffe ich, Werke, wie das von Brandes, wahrscheinlich beytragen, die schwankenden Meinungen darüber für immer festzustellen.« Ebda. S. 177. Vgl. zu den Zusammenhängen von Subjektbildungen und Geschlechterdiskurs um 1800 auch Reckwitz 2006, S. 262ff. Vgl. zu dem in dieser Zeit ausgehandelten Geschlechtermodell der binären Geschlechtscharaktere noch immer grundlegend Hausen 1976. 528 Jenisch 1802, S. 177f. 529 Ebda., S. 173f.
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sich auf seinen Lehrer Kant stützen. Dessen Forderung nach dem »Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit«530 geht von zwei Grundannahmen aus: die Möglichkeit einer individuellen Entwicklung und die Notwendigkeit derselben. Erstere steht, die verkürzte Formulierung sei erlaubt, für das veränderte Menschenbild, Letztere für die Bedeutung von Wissen und Bildung. Mit diesen beiden Grundannahmen aber wurde der Prozess des beständigen Fortschreitens der potentiellen Verschiedenheit aller Lebensläufe in Gang gesetzt.531 Dieser Prozess, der übrigens keinesfalls als abgeschlossen gelten kann, sich momentan sogar eher noch in ständiger Acceleration befindet, zeitigt als zentrale Konsequenz eine intensive Auseinandersetzung mit Identität – der eigenen wie der fremden. Und auch wenn die »bis dahin immer so scharf und grell von einander abgesonderten Stände« nicht ad hoc ihre identitätsmodellierenden Einflüsse verloren, zum Teil sogar in die bürgerlichen Codes des moralisch-souveränen Allgemeinsubjekts übertragen wurden, und auch wenn von der Möglichkeit der Verschiedenheit höchst unterschiedlich Gebrauch gemacht wurde, die Tatsache, dass ein anderer Blick auf die eigene und die fremde Identität denkmöglich wurde, beeinflusste viele – vor allem findet sie bis heute Eingang in biographisches Schreiben. Mozart kann hier als prominentes Beispiel genannt werden, dessen selbstbewusstes Verhalten gegenüber höhergestellten Personen sowohl Zeitgenossen als auch Biographen immer wieder Anlass zu Verunsicherung oder gar Kritik bot. So schreibt etwa Ulrich Konrad, Mozart habe die »Einflüsse unterschiedlicher Stände […] im Laufe seines Lebens in nur unzureichendem Maße zu harmonisieren«532 gewusst. Diese Formulierung aber setzt voraus, dass eine Harmonisierung mit dem eigenen Stand intendiert gewesen sei (oder zumindest hätte sein müssen), was – um an Daniel Jenischs Formulierungen zu erinnern – im ausgehenden 18. Jahrhundert nicht mehr zwingend der Fall war. Im Gegenteil: Die »öffentlich-erklärte Geringschätzung dieser und ähnlicher wahrer Menschenvorzüge« galt, so Jenisch, »in Tagen der Aufklärung für ein Merkmal der Rohigkeit und Uncultur«, das cognosce et dignosce des Menschseins hingegen als oberste Prämisse, wie es auch Goethe formulierte: »Jeder ist selbst nur ein Individuum und kann sich auch eigentlich nur fürs Individuelle interessieren. Das Allgemeine findet sich von selbst, drängt sich auf, erhält sich, vermehrt sich. Wir benutzen’s, aber wir lieben es nicht. Wir lieben nur das Individuelle; daher die große Freude an Vorträgen,
530 Immanuel Kant: »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?« [1784], in: Kant 1912– 1923, S. 35. 531 Vgl. dazu sehr aufschlussreich und noch immer von hoher Aktualität Lübbe 1979. 532 Konrad 2005b, S. 134.
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Bekenntnissen, Memoiren, Briefen und Anekdoten abgeschiedener, selbst unbedeutender Menschen.«533 So klar damit die veränderte Perspektive auf das Subjekt wird, so deutlich wird am Beispiel Mozarts auch das neue Selbstbild eines Künstlers und auch das Prozesshafte, das dafür verantwortlich ist, dass in Schwellensituationen alte und neue Identitätskonzepte konfliktuös aufeinandertreffen können. Darüber hinaus aber wird auch deutlich, dass sich vor dem Hintergrund einer potentiellen Verschiedenheit aller Lebensläufe vor allem auch die Biographik vor neue Aufgaben gestellt sieht, was sich – bezogen auf die Musikerbiographik – um 1780 in einem sich herausbildenden Interesse an monographischen, d. h. umfangreicheren und damit mit der Möglichkeit zur Differenzierung ausgestatteten Werken zeigt, aber auch an der Ablösung der Gelehrten-Biographie durch die Individual-Biographie.
Idealisierung Auf dem Weg zu dem, was Reckwitz das »expressive Individualsubjekt« nennt, steht mithin das »Trainingsprogramm zur Heranziehung eines moralisch-souveränen Allgemeinsubjekts.«534 Dieses aber bedarf einer Vision eines Allgemeinsubjekts, das nicht zuletzt qua Idealbild vor Augen geführt werden soll. Diese sich nur scheinbar widersprechenden Tendenzen – einerseits der emanzipierte Blick auf den einzelnen Menschen, andererseits seine Typisierung als idealer Mensch – fließen in die Idee der biographischen Idealisierung ein. Sie bildet gewissermaßen den Rahmen, in dem sich das Individuum bewegen kann, in dem es zugleich aber dem Prägegriff der bürgerlichen Moral unterworfen ist. So heißt es 1829 etwa auch über die Aufgabe der Biographie, sie habe zu zeigen, wie der kluge […] Gärtner sein Amt verwaltet, hier zur Nachahmung des Guten locken, dort allen Ernstes vor dem Bösen warnen und also, Lehre und Beispiel vereinend, dem Mündigen, wie dem Unmündigen eine eben so wichtige als willkommene Gabe sein. […] Der negative, in Fesseln liegende Mensch, ist daher nur in sofern ein Gegenstand der Biographie, als wir an ihm wahrnehmen, dass er seine Fesseln zu sprengen, und diejenige Selbstständigkeit zu erringen trachtete, die ihn späterhin entweder als warnendes oder als nachzuahmendes Beispiel aufstellt. [Zu dieser Aufgabe aber gehöre es,] [a]lles nicht zur Sache Gehörige sorgfältig zu
533 Goethe 1981, S. 536. 534 Reckwitz 2006, S. 97.
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vermeiden, Dinge, über welche die Sittlichkeit einen Schleier wirft, gar nicht, oder, wenn es durchaus nothwendig wird, mit der strengsten Vorsicht aufzudecken.535
Damit sind nicht mehr nur jene »Schönpflästerlein«536 gemeint, die Mattheson anbringen zu müssen glaubte, um die Berufsehre und Biographiewürdigkeit von Musikern zu retten, sondern es geht um grundlegende Rahmenbedingungen, die die Ausnahmestellung des Komponisten untermauern und schließlich die Herausbildung zweier spezifischer Komponisten-Bilder vorbereiten, die in beiden Fällen eng mit dem Genie-Begriff liiert sind: das Bild des idealisiert-bürgerlichen Künstlers und das des romantischen Tonschöpfers. Für beide Typen war früh die entsprechende Künstlerperson gefunden, die nach 1800 entlang dieser Typen intensiv biographisch bearbeitet wurden: Mozart für das idealisiert-bürgerliche, Beethoven für das genial-romantische. Mit Blick auf das Erstere sei dies zunächst exemplifiziert. Die idealisierende Formung der zeitgenössischen Berichte über Mozart begann bereits mit Schlichtegroll. Ausgehend von jenem Material, das Maria Anna von Berchtold zu Sonnenburg an Schlichtegroll geschickt hatte, um ihn über Details aus der Kindheit und Jugend ihres Bruders zu unterrichten, erweist sich bereits die Aufarbeitung dieser Informationen als idealisierende Formung: Aus dem kritischen Kommentar, dass Mozart »fast immer ein Kind« und dies »ein HauptZug seines Charakters auf der schattigten Seite« geblieben sei, wird bei Schlichtegroll eine staunenswerte Einmaligkeit, die dem Genie angemessen sei. Das Adjektiv »schattig«, das auf einen unbekannten, unstimmigen oder unerklärlichen Charakter schließen lassen könnte, wird ausgeblendet. Schlichtegroll weist Mozart deutlich als aus der Allgemeinheit herausragendes Phänomen aus, dessen »wunderähnliche Gaben« den »Wunderkind«-Topos aufrufen537 und dessen Andersheit Anlass zur Idealisierung gibt: Der Mensch mit wunderähnlichen Gaben und Fertigkeiten von der Natur beschenkt, ist selten ein allgemeines Muster zur Nachahmung für Andere. So wie seine Vollkommenheiten uns übrigen unerreichbar sind, so können auch seine 535 Grosheim 1829b, S. 277f. Für den Hinweis auf die Rezensionen der Mozart-Biographie Nissens von Grosheim (Grosheim 1829a und 1829b) danke ich Gesa Finke. 536 Mattheson 1740, S. XXXI. 537 Michael Ladenburger betont zu Recht, dass »der junge Beethoven […] trotz aller Begabung nicht dem damals gängigen Typ des Wunderkindes, das in erster Linie ein reisendes Wunderkind war« entsprach (Ladenburger 2003, S. 23). Hierin mag auch einer der Gründe dafür liegen, warum für Mozart ein anderes biographisches Modell gesucht wurde als für Beethoven: Der »Wunderkind«-Typus eignete sich besser zur Idealisierung, während sich das »per aspera ad astra«-Prinzip, das sich bestens mit Beethovens Kindheit und Jugend verbinden ließ, besser für die genialische Idealisierung eignete.
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Fehler nicht zu unserer Entschuldigung gereichen. Um sich brauchbare Regeln für das praktische Leben als Mensch im Allgemeinen abzuziehen, und durch Aufmerksamkeit auf Beyspiele sich dem erreichbaren Grade der Ausbildung unserer Natur zu nähern, müssen wir nicht jene seltnen Menschen zum Muster auswählen, sondern vielmehr Geister von mittlern Gaben, die aber diese Anlagen gleichförmig und vorsichtig ausgebildet haben, und denen wir es gleich zu thun hoffen dürfen. Aber unbeschreiblich schätzbar und wichtig bleibt ungeachtet dessen dennoch das Andenken jener Menschen mit seltnen Kräften und Anlagen zu einzelnen Fertigkeiten. Sie sind Phänomene, die man anstaunt, und deren treue Abbildungen der Forscher der Menschennatur als unschätzbare Kabinetsstücke ansieht, zu denen er oft zurückkehrt, um an ihnen den unbegrenzten Umfang des menschlichen Geistes zu bewundern. Zu ihnen gehört Mozart, ein Wunder von Anlagen und von früher Entwickelung derselben; man würde das, was von ihm erzählt wird, kaum glauben können, wenn er nicht unser Zeitgenosse gewesen wäre, und wenn diese Erstaunen-erregenden Züge nicht von so vielen Menschen bestätigt würden.538
Damit kehrt Schlichtegroll der Vorstellung den Rücken, eine Biographie (respektive Nekrolog) über den Musiker Mozart sei als nachahmenswertes Vorbild für junge Musiker geeignet. Er gewinnt gerade aus der Eigenheit des Künstlers seine Begründung, das Andenken an den Sonderfall zu wahren. Damit stand er der Idee nahe, nicht nur das Individuelle, sondern vor allem auch das Charakteristische eines Menschen zu zeigen, eine Idee, die 1828 Johann Aloys Schlosser in seiner Mozart-Biographie wieder aufnahm: Schlosser entwickelte anhand von Mozarts individuellem Charakter ein Künstlerbild, das er meinte, gegen moralische Einwände verteidigen zu müssen, allerdings nicht mehr im Sinne der Mattheson-Scheibe-Kontroverse, sondern im Sinne einer Idealisierung als Künstler. Er verwendete dabei jenes von Schlichtegroll bekannte Argument, Mozart sei als Person kein Vorbild, gleichwohl ein »unschätzbare[s] Kabinetsstück[ ]«,539 das »der Forscher der Menschennatur« anstaune. Bei Schlosser heißt es: Es wird sich kein Forscher der menschlichen Natur wundern, wenn ein großer Künstler, dem man von dieser Seite die allgemeinste Bewunderung zollte, sich über gemeine Verhältnisse des Lebens wegsetzte. Menschen, die Beweise von Mozarts Gleichgültigkeit gegen Dinge, welchen die Alltagswelt eine solche Wichtigkeit beilegt, daß sie für dieselben ihr Dasein berechnet, in seinem Leben aufsuchen, und diese als Fehler an ihm tadeln, kann man nur mit Rezensenten vergleichen, die den Gegenstand ihrer Kritik so wenig zu fassen verstehen, daß sie ihn bloß als ein Exerzitium eines Schülers behandeln, und die fehlenden Kommata oder andere Schreibfehler aufsuchen – um ihren pedantischen Geist beweisen zu können. Ein wirklicher Kunstrichter übersieht solche Dinge, weil er etwas Wichtigeres zu beachten hat. Allerdings ist es wahr, daß Mozart für häusliche Ordnung, wie sie bei 538 Schlichtegroll 1793, S. 83f., Hervorhebung M. U. 539 Ebda., S. 84.
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einem Hausvater, der weiter nichts ist als dieses, gefunden werden kann, keinen Sinn hatte; wahr, daß er seinen Vorteil sehr oft aus den Augen verlor; wahr, daß er häufig gegen Konvenienz und Mode verstieß – aber ist denn diese Welt die, in welcher und für welche der Künstler lebt? Mozarts Geist kannte eine höhere Beschäftigung. Und welcher seiner Feinde könnte seine Gleichgültigkeit gegen die Außenwelt eine Liederlichkeit nennen, wodurch sich so mancher Afterkünstler zum wahren stempeln will? – Weder Verschwendung noch Ausschweifung wurde ja seine Gewohnheit.540
Die Alltagsabgewandtheit des Künstlers sei, so Schlosser, nicht als dessen »Fehler« zu interpretieren, sondern als Signum seines wahren Künstlertums. Aus der unter gewöhnlichen Gesichtspunkten als kritikwürdig angesehenen Charaktereigenschaft wird ein idealisiertes Komponisten-Bild entworfen, aus dem konkreten Charakterbild wird das Modell eines Ideals. Wie mit dem »schattigen«, vor allem zur Zeit der Restauration unanpassbaren Charakterbild Mozarts umzugehen sei, hatte sich zeitgleich mit Schlosser auch Nissen biographisch auseinanderzusetzen.541 Durch Constanze Mozart, seine spätere Ehefrau, standen Nissen umfangreiche Briefdokumente zur Verfügung.542 Diese sah er als wesentliches Element seiner Biographie an, denn damit gehe er, so Nissen im Vorwort, über die bereits existierenden Mozart-Biographien von Schlichtegroll, Niemetschek und Arnold weit hinaus: Während jene »nur Skelette blieben und bleiben mussten, weil ihnen die Materialien fehlten«,543 könne er nun den ganzen Menschen darstellen. Da die Fülle des Briefmaterials gekürzt werden musste, ist es interessant, wie Nissen in diesem Zusammenhang seine Vorstellung einer angemessenen Biographie formulierte: Die Briefe, die durchaus Anlass gaben, die »schattige« Seite Mozarts mitzudokumentieren, wählte Nissen nach der Prämisse »De mortuis nil, nisi bene! De mortuis nil, nisi vere! (Verschweigen ist schon Unwahrheit)«544 aus, wobei er die Frage nach Wahrheit oder Unwahrheit auf der Grundüberzeugung abwog, dass die Kürzungen einerseits zur Darstellung des Charakteristischen, andererseits zum Schutz vor Verleumdung dienen sollten: »es gehört viele Auswahl dazu, um etwas Anziehendes und Charakteristisches heraus zu finden, was man dem Publicum bieten darf, ohne dem Ruhme und der Achtung des Namen-Menschen zu schaden.«545 Überhaupt sei die Aufgabe des Biographen: »Der Mann [Mozart] soll gezeigt werden, wie er war, diess ist die Forderung an den Biographen, der aber durch gar viele Rücksichten 540 541 542 543 544 545
Schlosser 1993, S. 31, Hervorhebung M. U. Vgl. zu Nissens Mozart-Biographie auch Finke 2013. Aufgeführt in der Vorrede des Verfassers, Nissen 1828/1991, S. [XIII]ff. Ebda., S. XX. Ebda., S. XXI. Ebda., S. XVI. Hervorhebungen M. U.
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gehemmt wird. […] Man will, man darf seinen Helden nicht öffentlich ganz so zeigen, wie er sich etwa selbst in Abenden der Vertraulichkeit geschildert hat […]. Er hatte Schwächen, Fehler […]. Durch alle Wahrheit kann man seinem Ruhme, seiner Achtung und dem Eindrucke seiner Werke schaden.«546 Damit wird, auf Grundlage eines neuen Umgangs mit Briefen als biographischem Material, ein idealisierendes Modell musikbiographischen Schreibens geprägt, das sich für Mozart etablierte und mit dem vor allem die »schattige« Seite seines Charakters ausgeblendet wurde. Ähnliches lässt sich auch aus Beethovens Umfeld berichten: Anton Schindler überliefert, dass er mit ihm über eine Biographie gesprochen hatte, und dieser Sorge getragen habe, dass »die Welt manches Nachtheilige für sein moralischen Leben daraus muthmaßen würde«.547 Er habe befürchtet, so Schindler weiter, »daß sich vielleicht Schriftsteller finden werden, die nicht beßer von der Sache unterrichtet, dieses in seine Biographien mit einstreuen werden«. Dass der biographische Umgang mit nicht in die bürgerliche Norm passenden Charaktereigenschaften thematisiert wurde, zeigt, dass die Diskussion um die moralische Integrität von Komponisten noch immer geführt und nach biographischen Lösungen der Darstellung gesucht wurde. Es ist im Übrigen davon auszugehen, dass Schindler in diesem Punkt viel seiner eigenen Vorstellung von Biographik einfließen ließ, denn als er sich im Sommer 1833 mit Ferdinand Ries traf, um über dessen Mitarbeit an der Beethoven-Biographie zu sprechen, war die Unstimmigkeit, wie mit moralischen Mängeln Beethovens biographisch umzugehen sei, der Grund, warum Schindler eine Mitarbeit Ries’ ablehnte: schon bei Vorlegung der Beethovenschen Briefe an ihn und Mittheilung verschiedener mir zumeist bekannter Erlebnisse mit dem Meister wollte es mir scheinen, als werde ein gemeinschaftliches Zusammenwirken nach Wegelers Plan kaum möglich seyn. Ries legte nämlich Werth auf Dinge, die theils interesselos, theils verletzender Art waren, darum keinesfalls vor das öffentliche Forum gehörten. […] Ueberhaupt verteidigte Ries den Satz: über große Männer darf alles ausgesagt werden, es schadet ihnen nicht.548
Die Beispiele zeigen, dass der biographische Umgang mit jenen nicht in das bürgerlich-idealistische Menschenbild der Restaurationszeit passenden Eigenschaften eines Künstlers nicht mehr im Sinne von wenigen Retouchen, wie Mattheson sie noch vorgeschlagen hatte, zu lösen war. Und es war insbesondere Mozarts zwischen Hofdienst und freiem Künstlertum changierender 546 Ebda., S. XXIf. Hervorhebungen M. U. 547 Brief an Wegeler vom 6. Juli 1827, zit. nach Grigat 2008, S. 33. 548 Zit. nach ebda., S. 49.
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Lebensweg, der dieses Phänomen einer nonkonformen Verhaltensweise – je nachdem, ob aus der Perspektive von Bedienstetenschaft oder freiem Künstlertum betrachtet – verschärfte. Zwei Wege wurden daher beschritten, der eine – Schlichtegroll und Schlosser können hier als Beispiele dienen – präsentierte Mozart als Ausnahmeerscheinung, ein unter aufklärerischen Gesichtspunkten hochinteressantes Studienobjekt, ein »unschätzbare[s] Kabinetsstück[ ]«. Dieser Weg wird im Laufe des 19. Jahrhunderts, und hier besonders verbunden mit dem Namen Ludwig van Beethoven, zum Künstlerbild des (heroischen) Genies weiterführen.549 Der andere Weg, für den Nissens Biographie steht, ist geprägt durch den Versuch, durch das Verschweigen irritierender biographischer Elemente eine Ideal-Biographie zu schaffen, die deutliche Spuren des Menschbilds der Restaurationszeit trägt. Die Nissen-Biographie ist für diese Idealisierung mehrfach und deutlich kritisiert worden: in ihr sei Mozart verklärt und das Mozart-Bild entsprechend verfälscht worden. Doch diese Kritik ist selbst wieder Phänomen: Sie lässt sowohl Nissens Argumentation für die Idealisierung außer Acht als auch deren Offenlegung. Vor allem Letztere ist für eine Zeit, in der sich die Verwissenschaftlichung von Musikgeschichtsschreibung und Musikerbiographik erst herausbildet, erstaunlich: Nissen, der in Constanze Mozarts Salon in regem Austausch stand zu anderen Gelehrten seiner Zeit, die sich ebenfalls mit Fragen der Archivierens, Überlieferns und Biographisierens auseinandersetzten,550 erkennt das ungeheuer umfangreiche Briefmaterial der Familie Mozart als Primärquelle ersten Ranges. Damit ist Nissens Mozart-Biographie die erste philologisch konzipierte Monographie, die den Wert des Briefes als biographische Quelle in den Vordergrund stellt. Festzuhalten aber bleibt, dass beide beschriebenen Wege – sowohl derjenige zum Genie als auch derjenige zum bürgerlichen Ideal – der Idee folgen, eine »Konzentration auf die individuelle Erscheinung bei gleichzeitiger Idealisierung« zu sein. Festzuhalten bleibt ferner, dass die Frage der Idealisierung eine für die Musikerbiographik bestimmende bleibt: Schurigs Kommentar zur Mozart-Biographik der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und deren »merkwürdige[m] Bestreben, W. A. Mozart zum Tugendbold zu stempeln«, verbirgt freilich kaum, dass auch Schurig mit seinem Bild vom »geliebten Meister« wieder einer Idealisierung verfällt, wenngleich einer anders eingefärbten: »Uns freieren Kindern des XX. Jahrhunderts liegt an so lächerlicher Apologie nichts. Wir wollen den geliebten Meister so sehen, wie er leibhaftig auf 549 Vgl. dazu Kapitel Monumental: Der Komponist als Heroe dieser Arbeit. 550 Darunter den Schwedischen Diplomaten Fredrik Samuel Silverstolpe, der u. a. erhebliche erinnerungskulturelle Aktivitäten ins Leben rief (Notenedition, Biographie u. a.), um den jung verstorbenen Komponisten Joseph Martin Kraus (1756–1792) im musikkulturellen Gedächtnis zu bewahren.Vgl. dazu ausführlich Finke 2013, S. 123ff.
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Erden gewandelt hat.«551 Dieses »leibhaftige« aber gibt sich im zweiten Band seiner Mozart-Biographie als hochgradige Idealisierung zu erkennen, die, der vor dem Ersten Weltkrieg höchst virulenten Heroisierung des Männlichen und der Dämonisierung des Weiblichen entsprechend, Mozart als Lichtgestalt inszeniert; an seiner Seite hat allenfalls ein das Geniale nicht verstehendes, rein sinnliches »Weib« Platz. Deutlich lenkt Schurig dabei das Moment der Idealisierung Mozarts mithilfe einer Abwertung seiner Ehefrau, zumal er diese entgegen seiner sonstigen Orientierung an den Quellen, (fast) ohne jegliche Quellen exponiert. Den Absatz über Constanze Mozart leitet Schurig denn auch mit dem Bekenntnis ein, dass ihm Quellenmaterial zu ihr fehle, gibt dann aber eine klare Charakterstudie Constanze Mozarts ab. Diese leitet er vom Modell des das Genie/den Heroen gefährdenden »Weibes« ab: Über Konstanzens Charakter fehlt uns das Urteil eines maßgeblichen zeitgenössischen Menschenkenners. Wir müssen ihn uns aus ihren Handlungen rekonstruieren. Sie ist geboren am 6. Januar 1763. Sie war also, als sie Wolfgangs Frau ward, noch nicht 20 Jahre alt. Viel später, nach Mozarts Tode, nachdem sie (1809) in zweiter Ehe den Staatsrat Nikolaus Nissen geheiratet hatte und (1826) abermals Witwe geworden war, erscheint sie zweifellos als eine Frau, die ihr Vermögen zusammenhält und nach Kräften vermehrt, ihren beiden Söhnen Respekt einflößt und in jeder Beziehung auf Ordnung sieht. Ihrem zweiten Manne hat sie auch nach seinem Tode Liebe und Hochachtung bewiesen. Den ersten kann sie unmöglich geliebt haben. […] Sie war durchaus keine verträgliche und gutmütige Natur, sondern ein herrisches, leidenschaftliches, lebensdurstiges, sinnliches Weib. Wolfgang Mozart, der unendlich Friedsame, unerschöpflich Gütige, ewig Selbstlose, der sich jedweder Frau angepaßt hätte, verstand sie geschickt zu nehmen und die schlimmen, bösen, häßlichen, ordinären Elemente in ihr zu bändigen und zu bannen. Er wußte sie immer wieder in gute Laune zu bringen. Mit Vorliebe spielte er vor ihr – wie früher vor Eltern und Schwester – den Hanswurst oder, milder ausgedrückt, den immer lustigen, fröhlichen, leichtfertigen Kameraden, den sorglichen, zärtlichen, verliebten Gatten. […] Zuweilen allerdings war Wolfgang maßlosen Ausbrüchen ihrer Unzufriedenheit, Laune und Eifersucht ausgesetzt. Konstanze hat zu Lebzeiten Wolfgangs keinen rechten Respekt vor dem Kindskopf gehabt, als der er ihr allezeit erschien. Erst viel, viel später, als aus allen Enden der Erde Verehrer kamen, um die Reliquien des großen Meisters zu schauen und sich aus seinem Erdengange von ihr erzählen zu lassen, da ging ihr ein wenig die Erkenntnis auf, daß sie ahnungslos ein Jahrzehnt mit einem wunderbaren Menschen zusammengelebt hatte. Ganz begriff sie es nie. Und es ist auch ein Problem. Wolfgang Amadeus hatte seine irdische Existenz mit ihr geteilt, das banale Lust und Leid der Alltage, nicht aber das ihm heilige heimliche Paradies seiner Visionen.552
551 Schurig 1913, Bd. 1, S. 6f. 552 Schurig 1913, Bd. 2, S. 7f.
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Nachdenken über das Genie Wenn das bürgerliche Subjekt allgemeine Codes entwirft und sich nach ihnen, die gesellschaftliche Identität bildend, ausrichtet, so ist diesem nach Homogenitäten strebenden Konzept doch immer auch ein Widerhaken eigen: das Normsprengende, das durch sein Anderssein die Codes ex negativo zu bestätigen scheint. So heterogen, zuweilen disparat die Aushandlungsprozesse des Subjekts sich gestalteten, Konsens war, dass diesem Normsprengenden ein Ort im Gesellschaftsgefüge zuzuweisen sei und dass es sich im »Genie« personifiziere. Deshalb ist durch die verschiedenen Strömungen der Schwellenzeit um 1800 eine Konstante zu beobachten: die immer wieder geführte Diskussion um das Genie.553 Da in ihm sich das Individuelle im emphatischen Sinne herauszuarbeiten begann und da der Begriff rasch gerade auch für Musiker, genauer: für Komponisten zum Einsatz kam, sei er hier genauer betrachtet. Als Folie dient der Artikel »Genie« aus dem Deutschen Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm,554 nicht nur, da er ausführlich auf die GenieDiskussion des 18. Jahrhunderts eingeht, sondern vor allem, da er dabei die Perspektive des späten 19. Jahrhunderts einnimmt (das Wörterbuch entstand ab 1838 und wurde ab 1854 gedruckt, der hier relevante Band erschien 1897). Er bildet damit eine Klammer über jene Zeitspanne, in der aus dem allgemeinen Genie-Begriff derjenige der Musikkultur herausgearbeitet wurde. Vor diesem Hintergrund scheinen jene Konturen des Begriffs (aus dem 18. Jahrhundert) besonders plastisch hervorzutreten, die für die Begriffsverwendung im 19. Jahrhundert als relevant erachtet wurden: Diese Konturen zeichnen – nach einigen voranzuschickenden Beobachtungen zur Begriffsdiskussion und zur zeitlichen Einordnung – insbesondere die Charakteristik des »Kunstgenies« nach, wobei sich der Artikel immer wieder in Zitaten der zeitgenössischen Literatur rückversichert (hier kursiv wiedergegeben): die Idee des voraussetzungslos555 Schöpferischen und der Aspekt der Inspiration, das gespaltene 553 Dazu Schmidt 1988. 554 Grimm/Grimm 1854–1961, Bd. 5, Sp. 3397–4350; vgl. auch http://woerterbuchnetz. de/DWB/ (letzter Zugriff: 22. März 2012). Die einzelnen Zitate im Folgenden sind ebendiesem (unpaginierten) Online-Artikel entnommen. Die im Artikel angeführten Zitate werden hier kursiviert wiedergegeben. Die Auseinandersetzung mit dem Grimmschen Artikel und die Reflexionen im Zusammenhang mit musikalischer Autorschaft konnten intensiv im Kontext der Tagung Autorschaft – Genie – Geschlecht. Musikalische Schaffensprozesse von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart in Graz diskutiert werden, vgl. daher auch Unseld 2013b. 555 Koschorke zieht einen nachdenkenswerten Vergleich zwischen der Idee des voraussetzungslos schaffenden Genies und der das Aufklärungs-Ideal enzyklopädischen Wissens ablehnenden neuen Schriftkultur, indem er »das Aufkommen des Geniebegriffs
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Verhältnis zum Schul- und Regelmäßigen, das Übermenschliche und der enge Konnex zum Männlichen, das Selbstbewusstsein des Genies und schließlich das Leiden und die Nähe zu Wahnsinn und »Tollheit«. Als Grundlage für die Betrachtung der Musikerbiographik, die sich im Genie-begeisterten 19. Jahrhundert die hier diskutierten Inhalte immer wieder anverwandelte und in der Modellierung der Komponisten zunutze machte, scheint daher der Artikel und seine Konturierung besonders geeignet zu sein, vor allem auch, da hier die Hochzeit der »genieperiode« in die zweite Hälfte des 18. Jahrhundert verlegt wird, ihre gegenaufklärerischen Momente hervorgehoben und damit die Umbruchsphase um 1800 vergegenwärtigt werden. Das 18. Jahrhundert hatte den lateinischen Begriff genius neu belebt, hatte ihn über den antiken Begriff hinaus mit Bedeutungsinhalten versehen, begleitet, nicht immer trennscharf unterschieden von den französischen und griechischen Pendants (génie, δαίμων), »alle drei aber«, so der Eintrag im Grimmschen Wörterbuch von 1897, seien »eigentlich ein und dasselbe« und bildeten »im grunde eine wunderliche wirrnis.« Und später: »lat. genius und franz. genie kamen sich aber nun übel ins gehege nach gehalt und form. […] man wechselt zuweilen mit beiden, als dürfe zum vollen begriffe keins fehlen oder als wolle man keins zurücksetzen.« Diese »Wirrnis« freilich stellt sich in der Retrospektive weniger als solche denn als höchst lebendiger Diskurs über eine neu zu verhandelnde Idee dar, die das Originalgenie als ein mit intellektuellen, künstlerischen oder anderen Eigenheiten ausgestattetes Wesen verstand, das – voraussetzungslos schöpferisch tätig – für die Autonomieästhetik einstand. Zunächst war es vor allem die Literatur, auf deren Terrain die Diskussion um die Begriffe Genius/Genie stattfand, die Musik kam nach 1800 freilich hinzu, umso intensiver sogar, als der Genie-Begriff gerade und maßgeblich anhand von Protagonisten der Musikkultur geführt wurde. Dass Komponisten in diesem Zusammenhang ihre Rolle als personne négligable abgaben, dass sich gerade an Mozart und Beethoven in auffallender Weise der Genie-Diskurs des 19. Jahrhunderts ausbreitete, macht die Situation um 1800 an dieser Stelle besonders interessant. Für das sich im 19. Jahrhundert durchsetzende französische Lehnswort génie wurden zunächst deutsche Entsprechungen gesucht: »an versuchen, dem französischen worte zu entgehen, als der begriff, wesentlich aus eigenster deutscher geisterbewegung, mächtiger auftauchte, hat es nicht gefehlt. […] namentlich eben wieder geist, das ja mit genius zugleich von jeher zusammenzum Verfall der Gedächtniskultur in Beziehung setzt. Wenn die Gelehrsamkeit alten Typs unter dem Postulat einer mentalen ›Habbarkeit‹ des Wissens stand, wenn intellektuelles Vermögen sich an der Gedächtniskapazität bemaß, so konnte das Ideal eines von allem kulturellen Ballast befreiten und insofern reinen Bewußtseins, das die Geniebewegung kultiviert, nur kontraproduktiv sein.« Koschorke 1999, S. 427.
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fiel, trat als wettbewerber auf. […] man verband auch, um sicher zu gehen, geist und genie oder liesz beide wechseln«. Von dieser Praxis gibt etwa die 1803 anonym erschienene Mozart-Biographie von Arnold ein deutliches Beispiel: Sie trägt den deutschen Begriff im Titel (Mozart’s Geist), das Interimskapitel »Ueber Künstlertalent oder Genie […]« hingegen verwendet den französischen Begriff. Was die zeitliche Verortung anbelangt, geht der Artikel nicht – wie anzunehmen wäre – davon aus, gegenwärtig in einer »Epoche des Genies« zu leben, sondern bezeichnet die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts als »eigentliche genieperiode«: Goethe als Hauptvertreter annehmend sei um 1800 »die zeit der klärung, zu der sich das genie aus der jugendlichen gärung jener ersten zeit des trüb brausenden mostes zum klaren edlen wein durcharbeitete«. Sie gehe dabei einher mit der »sturm- und drangperiode«, denn aus ihr beziehe sie ihre Ideen. Zitiert wird dabei Klopstock, der 1767 dem als »stürmisch« und »frei« charakterisierten »Heldengesang der Barden« (»gesaltet mit kühnem zug,/ tausendfältig, und wahr, und heisz! ein taumel! ein sturm!«) den in »schulregeln und versfüsze gefesselten gange der gleichzeitigen dichtung« entgegensetzte, »was denn zug für zug als zeichnung des bildes von dichtung gelten kann, dem die jungen genies in den 70 er jahren nachjagten«. Damit aber ist nicht nur die Zeitspanne als »genieperiode« bezeichnet, sondern zugleich auch eine Charakteristik des Künstlers (vorwiegend: des Dichters) als Genie gegeben, die im Artikel ausführlich weiter dargestellt wird, denn dieser, das »Kunstgenie« wird als eine Sonderform des Genies vorgestellt und vor allem im Hinblick auf Dichter und Maler genauer spezifiziert (Homer, Virgil, Goethe, Shakespeare, Raphael u. a.). Das Kunstgenie folge, so der Artikel weiter, der Idee des voraussetzungslosen Schöpfers, dessen Genialität sich in der Freiheit gegenüber Regeln und Traditionen manifestiere. Das Moment der Inspiration avancierte entsprechend zu einer zentralen Frage des künstlerischen Handelns. Zitiert wird dabei Lessing und dessen »hoffnung nämlich, das alte ewige nachahmen endlich los zu werden«: er schöpfet aus sich selbst, er ist sich schul und bücher. was ihn bewegt, bewegt (überhaupt), was ihm gefällt, gefällt. sein glücklicher geschmack ist der geschmack der welt ... fehlt einst (einmal) der mensch in ihm, sind doch die fehler schön ... nachahmen wird er nicht, weil eines riesen schritt, sich selbst gelassen, nie in kindertappen tritt u. s. w.
Der »Funke« der Inspiration stemme sich mit Macht gegen alle »zergliedernde Wissenschaft«, wobei im Bild des Funkens sowohl an Mythologisches
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(Prometheus) als auch an die die aufgeklärte Gesellschaft so faszinierende »Elektrisirmaschinen«556 angeknüpft werden konnte: um das geheimnis des genies, das der zergliedernden wissenschaft entschlüpfe, doch zu fassen, braucht er den elektrischen funken als bild, wie man damals die elektricität gern zur erklärung des seelenlebens zuzog […]; weil es aber gefährlich ist, als ein zweiter Prometheus den elektrischen funken vom himmel selbst zu holen, weil es schwerer ist, künstler, als ein sophist über die kunst zu sein (will er [d. i. Edward Young] selbst dem gehofften genie nur als kritiker vorarbeiten).
Der Artikel nennt zahlreiche weitere Erscheinungsformen jener »Funken«-Idee, darunter Leisewitz, Goethe und Schubart, sowie – auch in Verbindung mit dem Ätherstrahl – Schiller (»des genies gefährlicher aetherstrahl«). In allen Fällen aber erweist sich jener genialische »Funke« als eine Melange aus (selten erklärlicher) Macht, übermenschlicher Fähigkeit und als ein Moment des Schöpferischen aus dem Geist des vollkommen Neuen, nie Dagewesenen. In diesem Sinne wird auch Körner zitiert: »jeder grosze künstler musz mit unumschränkter macht über den stoff herrschen, aus dem er seine welten schafft oder wodurch sich sein genius verkörpert.« Weiter wird im Artikel ausgeführt, dass sich dergleichen Schöpferkraft anti-aufklärerisch gegen alle Systematik und Analyse stemme, dass sie ein tief gespaltenes Verhältnis zu allem Schul- und Regelmäßigen unterhalte und dass sie sich schließlich auch gegen Talent abzugrenzen habe: der sturm richtete sich vor allem gegen die formen, in denen die schulüberlieferung die geister erzog, regeln, principien, system, sodasz nun wankend wurde, was bisher als das festeste und nötigste für den bestand der geisteswelt und nicht blosz dieser galt. […] wie schon bei Gellert und dem jungen Lessing das genie im gegensatz zum schulmäszigen regelbegriff auftritt, […] wie aber diese stimmung sich dann steigerte und verbreitete, davon als proben: eben so musz ein genie sich herablassen (wie der engel in den teich Bethesda) regeln zu erschüttern, sonst bleiben sie wasser. […] gemeine genies beugen sich unter das joch (der willkürlichen regeln), aber genies, die sich fühlen, schwingen sich über diese regeln hinaus und zeigen dem philosophischen gesetzgeber, dasz die schranken, die er gesetzt hat, erweitert werden müssen. […] (man bemerke sich fühlen, vom erwachten selbstbewusztsein); vielleicht ist dies die ursache, warum regeln kein genie wecken, noch weit weniger schaffen können, ja warum sogar die gröszesten genies zügel- und regellos sind.
Weitere Beispiele gerade auch der Regellosigkeit als Voraussetzung von Genialität werden angeführt, darunter Goethe (»schädlicher als beispiele sind dem genius principien«), um dann die zentrale Frage zu beantworten, inwiefern das Genie dennoch einem »System« unterworfen sein könne: 556 Vgl. dazu Unseld 2011d.
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kann das system bei dem genie statt finden, oder nicht? […] man kann es zugeben, dasz ein genie in seiner bahn gehindert wird, wenn es bei jedem schritt furchtsam auf das system zurück sieht, dasz es in einem engen gesichtskreis eingeschränkt wird und sich vielleicht dadurch nie über die gemeine denkungsart erheben und etwas besonders leisten wird, also im system (es ist dabei sowol an philosophie wie kunst gedacht) nur das gewöhnliche, gewordene, abgelebte enthalten, über das der geist hinaus drängte zu neuem, höherem; es folgt übrigens eine rechtfertigung des systems und der regeln, um sie mit dem streben des genies in einklang zu bringen, d. h. ein versuch, die alten schulbegriffe selbst, die zu eng und trocken geworden waren, auszuweiten und zu vertiefen mit neubelebung, aber doch im dienst des genies. es war ein kampf des neuen lebensgeistes gegen die gelehrte überlieferung, die in ihrer scheinbar erschöpfenden abgeschlossenheit das deutsche dichten und denken einschnürend hemmte, daher in jenem ergusz Lavaters das genie auch als überkunst, übergelehrsamkeit.
Diese Genie-Vorstellung begegnet auch in E. T. A. Hoffmanns Beethoven-Rezension (1810), in der Hoffmann von der »Besonnenheit« spricht. Von keinen Regeln ist hier mehr die Rede: nicht den Regeln der Kompositionstechnik, nicht jenen der Gattungstradition und nicht die »Regulierung des Genies durch den Geschmack (des Rezensenten als Vertreter des Publikums)«,557 stattdessen die – auf Jean Pauls Genie-Definition zurückgehende – Besonnenheit, mit der Beethoven sich selbst und sein Werk aus allem Regelsetzenden exkludiere. Damit aber etabliert Hoffmann anhand von Beethoven und seiner Fünften Symphonie einen modifizierten Genie-Begriff, denn zuvor war ihm in Rezensionen zwar ebenfalls Genie attestiert worden, dessen Bizarrerie und Regelbrüche aber durch den »Geschmack« und die »Gelehrsamkeit« des Publikums gelenkt, »oekonomisiert« und gleichsam domestiziert werden müsse.558 Der Genie-Artikel des Grimmschen Wörterbuchs bereitet an dieser Stelle bereits die Herausgehobenheit des Genies aus allen Kontexten – ästhetischen wie gesellschaftlichen – vor. Dies wird in jenen Passagen deutlich, in denen es auch um den (angenommenen) Moraldispens des Genies geht. Hier freilich liegt ein zentrales Unterscheidungsmerkmal zwischen aufklärerischer und nach-aufklärerischer Auffassung vor, denn in nuce sind in der Ablehnung bzw. der Akzeptanz unangemessenen Verhaltens, dann auch in der biographischen Darstellung559 entsprechender Charaktereigenschaften oder Handlungen, nichts weniger als die unterschiedlichen Vorstellungen vom Künstler wesentlich eingeprägt. So hatte etwa Maria Anna von Berchtold zu Sonnenburg nach 557 Walter 1997, S. 7. 558 Dazu ebda., S. 7f. 559 Zu autobiographischen Darstellungen und damit zur Selbstinszenierung von Musikern in diesem Kontext, die Autobiographien von Mattheson, Hiller und Schubart vergleichend, s. auch Viehöver 2011.
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dem Tod ihres Bruders die Überzeugung vertreten, dass Wolfgang Mozart ein »grosses genie« gewesen sei, was sie in direkten Bezug zu seinem »gestörten Verhältnis« zu alltäglichen Dingen setzte: Es last sich zwar leicht begreifen, daß ein grosses Genie, welches sich mit der Menge seiner eigenen Vorstellungen beschäfftiget, und mit erstaunlicher Geschwindigkeit von der Erde zum Himmel sich erhebet, höchst ungerne sich zu der untersuchung und berichtigung hauslicher Angelegenheiten herabläst. in der That ist es für ein genie nur anständig nach einem hinreichenden Vermögen zu trachten und es würde für ihn eine zu erniedrigende Beschäfftigung seyn, wenn er sich zu der Sorge eines uberflüssigen Reichthums herablassen wollte. Da er als grosses genie gebohren wurde.560
Der Grimmsche Artikel hingegen nimmt Partei für den nicht gewährten Moraldispens und nennt als Beispiel Knigge, der zu Recht das »kraftgenie, das sich über sitte, vernunft und anstand hinauszusetzen einen besondern freibrief zu haben glaubt!« kritisiere. Es sei ein »irrthum«, so der Artikel weiter, »dasz man desto mehr genie habe, je mehr man sich über alle vorschriften der kritik, der vernunft und des wohlanstandes hinweg setze, kurz je weniger verstand und tugend man habe oder zu haben scheine«. Damit wendet sich der die Genie-Diskussion des 19. Jahrhunderts kritisch reflektierende Artikel deutlich gegen jenes um 1800 neu sich ausprägende Genie-Bild, das unter dem Einfluss einer neuen Wahrnehmung von Melancholie,561 unter Einfluss eines Emanzipationsgedankens im Sinne des »Idealbild[s] eines freien Bürgers«,562 unter Einfluss der Heroengeschichtsschreibung (»über große Männer darf alles ausgesagt werden, es schadet ihnen nicht«563), zahlreicher medial wirksamer Virtuosenbilder564 und einer romantischen Ästhetik stand, wie sie E. T. A. Hoffmann in Verbindung mit literarischen Künstlerbildern einbrachte. Der Artikel zieht 560 Maria Anna von Berchtold zu Sonnenburgs Notizen für Breitkopf & Härtel, 1792 angefertigt. Mozart Briefe GA, Bd. IV, S. 200f. 561 Vgl. dazu Wald-Fuhrmann 2010b, insbes. S. 170–180: »Ein emphatisches Verhältnis zwischen dem persönlichen Zufall einer melancholischen Disposition und den Begabungen als Musiker postulierten erst, dann aber mit Nachdruck, […] Carl Wilhelm Junger und Schubart, deren zahlreiche Musikerbiographien überdies als Vorstudien umfassender musikästhetischer Ambitionen verstanden werden müssen. Charakter und Werke von Virtuosen oder Komponisten werden hier oft zur Gänze sub specie melancholiae beschrieben, wobei sich zwei Tendenzen unterscheiden lassen: zum einen eine empfindsam-sanfte Schwermut, zum anderen eine Melancholie, die zur Bizarrerie und Düsterkeit in Verhalten und Schaffen prädestiniert.« Ebda., S. 173. 562 Hentschel 2006a, S. 309. Dort auch ausführlicher zum emanzipatorischen Grundgedanken des Genies. 563 Vgl. Fußnote 538. 564 Dazu – im Hinblick auf Niccolò Paganini – Bork 2011.
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vielmehr die negativen Auswirkungen jenes Moraldispenses in Betracht, wie er im Zusammenhang mit der Diskussion um Genie und Wahnsinn ab der Jahrhundertmitte virulent wurde und in der Décadence ins Morbide sich steigerte. Doch die Außenposition des Genies verlangt nach weiterer Klärung. Das Genie, so der Artikel weiter, stehe »über« dem Menschsein, Lessings Wendung »mehr als Mensch« wird dabei zum Ausgangspunkt genommen: die schule macht den dichter? nein. er, welchen die natur zu ihrem mahler wählet, und ihn, ein mehr als mensch zu sein, mit jenem feur beseelet u. s. w.
Und Johann Jakob Bodmer wird in gleichem Sinne aus den Critischen Briefen (1746) zitiert: unter der groszen anzahl der menschen kan man von zeit zu zeit etliche wenige wahrnehmen, welche sich durch ihre denkungsart, durch ihre lebensregeln, durch ihre thaten von der menge sondern, welche die gebräuche (convenienz) und die gemeine regeln verlassen und ihren eigenen trieben folgen dürfen (wagen). diese menschen werden denn wunderbar und erstaunlich, sie verfallen auf die tugend oder das laster, ihr groszes gemüthe zeige sich durch würkungen, thaten oder worte. es scheint, dasz sie die menschliche natur übersteigen, und man wundert sich, wie es seyn könne, dasz menschen sich zu so hohen entschlüssen und thaten, die so übermenschlich oder so unmenschlich scheinen, erheben können.
Der Artikel kommentiert, dass gerade an dieser Stelle deutlich werde, »wie stark der begriff in dieser form gerade in der ersten hälfte des vorigen jahrhunderts in den geistern arbeitete und auch schon zu klarheit vorgedrungen war«. Zugleich betont er, dass dieses »Übersteigen« nicht ohne Aggression vonstatten gehen könne, vergleicht die gegenwärtige »genieperiode« mit der Französischen Revolution, denn »philister und genie« müssten »als gegensatz« aufgefasst werden; »die alte und die neue welt, die nicht ohne verwüstung jener ins leben treten könnte«, zeitige Gewaltsames: »daher ist beim genie auch von wildheit, ja tollheit die rede.« Von diesen »übersteigenden« Qualitäten des Genies ist es ein kurzer Weg zum Übermenschlich-Göttlichen, den der Artikel mit Hinweisen auf Goethe, Herder u. a. untermauert: Das Genie sei, so Herder, »ein gott, […] dem es gelingt, die natur in ihrer schöpfungsstäte zu belauschen, neue merkmale ihrer wirkungen auszuspähen und sie durch künstliche werkzeuge zu einem menschlichen zweck anzuwenden, er ist der eigentliche mensch, und da er selten erscheint, ein gott unter den menschen. er spricht und tausende lallen ihm nach, er erschafft und andre spielen mit dem was er hervorbrachte«.
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Ebenso eng wird das Genie an die Vorstellung des Männlichen angebunden,565 ein Konnex, der im Artikel mehrfach auftaucht: Zunächst im Zusammenhang mit der – aus dem Französischen und Englischen sich ableitenden – Begriffsdefinition (»zum gebrauch ist zu bemerken, dasz man anfangs und lange ein mann von genie sagte, nach franz. homme de génie (auch engl. a man of genius), nun auszer gebrauch gesetzt durch genial, das anfangs und länger noch nicht zu gebote stand (das aber dem franz. abgeht): in der seele des mannes von genie herrscht ein heller tag, ein volles licht, das ihm jeden gegenstand wie ein nahe vor augen liegendes und wol erleuchtetes gemälde vorstellt u. s. w. Sulzer«), dann explizit bei Novalis: »liebe [sei] für die frauen […], was genie für den mann«, schließlich aber auch im Zusammenhang mit der Vision einer (auch politischen) Führungskraft bei Kästner (»die meisten dieser (politischen) schriftsteller erinnern an die genie- kraft- drang- und sturmmänner, die Deutschland vor einigen jahren aus dem reiche der ästhetik weggelacht hat. es ist, als wenn sie jetzt ihr heil ernsthafter in der politik hätten versuchen wollen (als revolutionäre).« Mit dem Herausheben des Genies ist auch dessen Verhältnis zum »Talent« angesprochen, eine Abgrenzung unumgänglich. Sie wird ausführlich vorgenommen, dann allerdings – und auch hier ist wieder die Perspektive des 19. Jahrhunderts deutlich zu erkennen – auf die maßgebliche qualitative Unterscheidung fokussiert: die bestimmte unterscheidung, wie sie nun geläufig ist, zeigt sich aber doch auch früh. schon Adelung in der 1. ausg. (1775) setzt an: das genie erschafft, das talent setzt nur ins werk, […] überdiesz ist das genie eine mitgift der natur, kann also auch in dieser rücksicht den werth nicht haben, als nützliche talente, welche durch mühe und fleisz erworben werden, während er im erstern satze auch das talent wol als naturgabe ansieht, nur als eine niedere und wie im dienst des genies.
Für »bemerkenswert« hält der Artikel auch äuszerungen bei P[aul] A[chatius von] Pfizer: ich halte das genie nicht für den superlativ des talents, sondern talent und genie für zwei verschiedene weltanschauungsweisen. das genie ist schaffendes, intuitives, das talent discursives, analytisches erkennen, und die gabe der intuition ist allerdings die höhere geistesform und kommt allein dem höchsten künstler, demjenigen, der nicht blosz gegebenes verarbeitet und analysirt, sondern aus sich selbst heraus etwas erzeugt, sei er nun bildner, dichter, staatsmann oder feldherr, zu. […] das talent steht auszer, oder wenn man ihm recht schmeicheln will, über der welt, die es anschaut und reflectirt, das genie wohnt im mittelpunkte seiner welt und durchschaut sie, wie der somnambule seinen körper von innen heraus. das talent wirkt mechanisch oder atomistisch, das genie organisch oder dynamisch.
565 Vgl. zu dieser Thematik um 1800 auch Schabert/Schaff (Hg.) 1994.
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Dieser Passus, den Briefen zweier Deutscher (1831) entnommen, kommt mit seinem Vergleich des Genies mit dem Talent jenem Künstlerkonzept auffallend nah, das Puschkin in Mozart und Salieri (1832) umsetzte.566 Für die musikbezogene Genie-Konzeption des 19. Jahrhunderts, insbesondere verkörpert in Ludwig van Beethoven, waren die Konsequenzen besonders wichtig, die aus der Herausgehobenheit des Genies abgeleitet wurden: Zum einen sei ein »steigende[s] selbstbewusztsein des genies« zu bemerken, zum zweiten ein Leiden, das sich direkt aus den »gegensätze[n], in denen das genie sich bewegt«, ergebe: »diese gegensätze, in denen das genie sich bewegt, jeweilen die denkbar gröszten die die welt bietet, werden ihm selbst aber auch zu schmerz und leiden, wo nicht zum verderben: diese erkenntnis oder erfahrung tritt auch schon in der genieperiode [d.i. die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts], ja vorher deutlich auf.« Interessant dabei ist, wie die zuvor entworfenen Charakterisitika des Genies hier nochmals Revue passieren, mündend in das, was als »eigentliche aufgabe« des Genies zusammengefasst wird: »die widersprüche des weltwesens, die es in sich schärfer erfährt, erlebt, als gewöhnliche sterbliche, eben zu deren gewinn und besten zu versöhnen, in ihre einheit zu bringen«. Aus diesem Leiden leitet sich auch die im Artikel thematisierte Nähe zum Wahnsinn ab, die zunächst in Kants Schriften nachgewiesen wird (»bei Kant: wie es denn auch schon eine alte bemerkung ist, dasz dem genie eine gewisse dosis von tollheit beigemischt ist«), dann aber insbesondere mit dem Hinweis auf Friedrich Wilhelm Hagens Aufsatz Über die Verwandtschaft des Genies mit dem Irresein (1876) spezifiziert wurde: »neuerdings ist es von ärztlicher seite wirklich unter dem gesichtspunkt der geistesstörung behandelt worden«.567 Die Hochzeit des Genies in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts verortend gelangt der Artikel schließlich zur Beobachtung, dass zwar auch in der Gegenwart das Genie viel diskutiert sei, dass diese Auseinandersetzung aber »kein wirkliches weiterkommen über jene höhe hinaus darstellt, wenn es auch an ausführung in breite und tiefe nicht fehlt«. Angeführt werden dann vor allem die romantische Vorstellung vom Genie (»da klingt es jugendlich hochfliegend und altklug orakelnd: man kann sagen, dasz es ein charakteristisches kennzeichen des dichtenden genies ist, viel mehr zu wissen, als es weisz dasz es weisz«, Friedrich Schlegel zitierend). Die weitere Darstellung bricht dann aber ab: wie der begriff weiter gelebt und gewirkt hat in der kunst und wissenschaft und im leben, kann hier nicht verfolgt werden. das wort hat einerseits seinen alten zauber noch, geeignet den denkbar höchsten, auch reinsten ehrgeiz zu entzünden (der sich doch nicht verträgt mit dem naiven und unbewuszten, das dem wahren genie 566 Vgl. dazu Kapitel Russische Mozart- und Beethoven-Bilder der 1830er Jahre dieser Arbeit. 567 Vgl. zur Pathologisierung des Genies Gockel 2010.
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als nothwendig erkannt wurde), anderseits kleben ihm auch die schatten, irrungen und gefahren noch an, die das wort schon vor hundert jahren bald auch in misachtung brachten […] und die der begriff nun einmal gerade durch das bewusztsein aus sich entwickelt und damit seine opfer fordert; davon zeugt der sprachgebrauch, in dem z. b. ein verkanntes genie, auch verkommenes, verbummeltes genie geläufig sind, und noch schlimmer, wo das genie sich mit dem alkohol als erhebungs- oder trostquelle tief einläszt (vgl. kneipgenie). daher wird, wo man sicher gehen will, das lat. genius vorgezogen, das von jenem verderb im leben noch unberührt ist.
Von der Überhöhung des Künstlers als Genie ist – in enger Nachbarschaft zum Heroischen – vor allem die Beethoven-Rezeption geprägt. Bezeichnend ist dabei, dass sich gerade an Beethoven erkennen lässt, dass sich diese Überhöhung in der frühen Beethoven-Rezeption nicht primär anhand seiner Werke vollzieht, sondern anhand des Schreibens über den schöpferischen Menschen als Genie und seine auf diese Weise immer wieder kolportierte außer-ordentliche Individualität. Dieser Prozess war in der Kunstgeschichte bereits anlässlich von Vasaris Viten zu beobachten gewesen: »Die Erhöhung des schöpferischen Menschen zur ganz und gar außerordentlichen Individualität vollzieht sich eben nicht in der Kunst selber, sondern im Reden über die Kunst und, vor allem […] im Reden über den Künstler.«568 Folgt man Thomas Steinfeld, dass es »in großen Teilen das Ergebnis ihrer Kanonisierung oder Kodifizierung durch Giorgio Vasari« und seinen Viten war, »dass sich die italienische Renaissance bis heute als eher geschlossener Epochenbegriff erhält«, lassen sich daraus durchaus Rückschlüsse auf die Musikerbiographik und die »Wiener Klassik« ziehen: Mit der Entwicklung des neuen ebenso genialauratischen wie außergewöhnlich-exklusiven Künstlerbildes geht nicht zuletzt auch eine Vorstellung von »Klassik«569 einher, die den exzeptionellen Künstler kanonisiert und mit ihm eine Auswahl seiner Werke, die dem Bild des Genies entsprechend der Allgemeinheit als tendentiell unverständlich gelten.
Konsequenzen für die Musikerbiographik: Quellen Der neue Blick auf das Subjekt und der neue Umgang mit Individualität forderte auch neue Quellen für biographisches Schreiben, Quellen, die möglichst unmittelbar auf das biographierte Subjekt schließen ließen. Damit erfuhr die (für biographisches Schreiben ohnehin schon bedeutsame) Zeitgenossenund Zeitzeugenschaft nochmals eine starke Aufwertung – Johnsons Maxime des gemeinsamen Essens und Trinkens –, übrigens auch über die Einwände 568 Steinfeld 2011, S. 13. 569 Vgl. dazu Finscher 2003 sowie dazu kritisch auch Gruber 2002.
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der Fehlerhaftigkeit hinaus: Friedrich Chrysander schrieb über Mainwarings Händel-Biographie: »So überaus unvollkommen es [das Büchlein] auch ist, besitzt es doch wesentlich alle Vorzüge, die derartigen Berichten von Zeitgenossen eigen zu sein pflegen.«570 Friedrich Schlichtegroll suchte bekanntermaßen für das Verfassen seiner Nekrologe Zeitgenossen auf, um Berichte über die Verstorbenen zu sammeln, im Fall des Nekrologs über Mozart wandte er sich an dessen Schwester. Ob aus Respekt vor ihrer Zeitgenossenschaft oder aus Bequemlichkeit sei dahingestellt: Schlichtegroll übernahm jedenfalls die Notizen, die er von Maria Anna von Berchtold zu Sonnenburg erhielt, sogar zu großen Teilen unverändert – zum Erstaunen der Schreiberin und offenbar nicht mit ihrer ungeteilten Zustimmung. Diese direkte Übernahme war, wie geschildert, für die Mozart-Biographik folgenreich, denn auf diese Weise wurde eine biographische Schwerpunktsetzung angelegt, die lange wirkungsmächtig bleiben sollte: der Fokus auf Kindheit und Jugend. Doch die »völlige Überbewertung einzelner Ereignisse bei gleichzeitiger Minimalisierung anderer biographischer Stationen«, die damit bei Schlichtegroll unverkennbar vorliegt, ist nicht, wie Matthias Wendt dies im Zusammenhang mit der Schumann-Biographik konstatiert, als »verschleierte[s] Kennzeichen belletristischer Stoffbehandlung«571 zu betrachten. Vielmehr spricht hieraus, neben der oben erläuterten Vorstellung einer »Wunderkind«-Biographie, eine besondere Wertschätzung der Quellen. Auch Rochlitz hatte die »Wahrheit« seiner Anekdoten über Mozart aus seiner Zeitzeugenschaft abgeleitet. Und auch das Projekt einer gemeinschaftlichen Beethoven-Biographie, das Schindler 1827 dem Jugendfreund Beethovens, Franz Gerhard Wegeler, vorschlug, beruht auf ebendiesem Prinzip: »Wir theilten diese Biographie […] in 3 Theile oder Perioden, nämlich: der 1te enthaltend seine Jugendgeschichte bis zur Abreise nach Wien, für welche 570 Chrysander 1858, Bd. 1, S. V. Noch Jost Perfahl hob trotz diverser, inzwischen bekannter Fehler in der Einführung zum Reprint der Mozart-Biographie von Franz Xaver Niemetschek hervor: »Gegenüber der gesamten Mozart-Literatur, so verdienstvoll und unerläßlich sie zum Teil ist, hat Franz Xaver Niemetschek den Vorsprung, daß er der einzige Mozart-Biograph ist, der Mozart persönlich kannte und sein Freund war, also aus dem unmittelbaren Eindruck der leibhaftigen Persönlichkeit Mozarts schrieb, während die späteren Biographen alle bloß Arrangieure von Materialien und Interpreten sind; […] Niemetschek erlebte also selbst, wie Mozart sprach, aussah, wie er auftrat, sah seine Gebärde, seinen Alltag, seine Lebenswelt – als Zeitgenosse und Freund. Diese einzigartigen Eindrücke flossen in seine Darstellung ein und verliehen ihr einen Zauber, der auch heute noch mit der vollen Frische wirkt.« (Perfahl in der Einführung zu Niemtschek 1798/1984). 571 Wendt 2006, S. 566.
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Breuning Sie gewinnen wollte, den 2ten von seiner Ankunft hier bis zum Congress im Jahr [1]814 behielt er für sich, und der 3te Theil blieb mir, weil ich seit dem Congresse bis zu seinem Tode ausschließlich mit ihm lebte und mehrere Jahre auch wohnte.«572 Das so gewonnene Material der drei Zeitzeugen sollte dann übrigens an einen »musik. Litteratoren« gegeben werden, wofür Schindler u. a. »Hofrath Rochlitz in Leipzig und Marx in Berlin« vorschlug.573 Diese Aufwertung der durch Zeitzeugen verbürgten Quellen findet sich auch bei Franz Xaver Niemetschek: Die Quellen zu diesen Nachrichten, die der Verfasser benutzte, sind folgende: 1) Seine eigene Erfahrung und der Umgang mit Mozarts Familie und Freunden. 2) Die Zeugniße vieler glaubwürdigen Personen, die Mozarten in verschiedenen Lebens-Perioden gekannt haben. 3) Die Mittheilung aller Hülfsmittel, Schriften und Briefschaften, von seiner hinterlassenen Wittwe; der ich hier für ihre freundschaftliche Bereitwilligkeit, meinen Dank sage. 4) In Betreff der jüngern Jahre seines Lebens, diente mir als Hilfsmittel Schlichtegrolls Nekrolog. Der Verfasser hat sich der größten Wahrheitsliebe befließen, und manches Interessante lieber ausgelassen, wenn ihm dessen Wahrheit etwas zweifelhaft schien.574
Auch die Bedeutung von Briefen als biographische Dokumente, die über ihren Inhalt hinaus charakteristische Informationen über eine Person enthalten, wurde allmählich – und noch lange vor einer musikwissenschaftlich-philologischen Methodik – wahrgenommen. Und auch hier kann das Beispiel Mozart deutliche Hinweise auf diese Wahrnehmungsveränderung geben. Leopold Mozart hatte seine Briefpartner mehrfach ermahnt, seine Briefe aufzubewahren, denn die zumeist sehr ausführlichen Reiseberichte sollten als Informationsgrundlage für eine spätere Verwendung dienen. Dass es nach Mozarts Tod just die vom Vater chronisch ungeliebte Schwiegertochter war, die die Briefe für eine Biographie auswertete, mag als Ironie der Geschichte zu lesen sein. Interessanter ist freilich, dass Constanze Mozart offenbar eine Umwertung der Briefe vornahm, sie nicht mehr nur als Informationsgeber sah, sondern als
572 Brief vom 6. Juli 1827, zit. nach Grigat 2008, S. 33f., Hervorhebung im Original. 573 Über den weiteren Verlauf (und das Scheitern) des Projekts vgl. Grigat 2008. 574 Niemetschek 1798/1984, S. 78. Die von Gruber zitierte Passage des Zweifels an den durch Constanze Mozart überlieferten Informationen und Dokumenten (»ich konnte nicht alles brauchen, theils wegen der noch lebenden Personen, theils weil ich nicht alles glaube, was Mad. Mozart sagt oder zeigt«, vgl. Gruber 1987, S. 30), findet sich hier freilich nicht.
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Ego-Dokumente575 im modernen Sinn. In einem Brief an Breitkopf & Härtel vom 1. Mai 1799 ist zu lesen: Höchstgeehrte Herren, ich schikke Ihnen hierin erstlich zwey von meinem Manne in seinem 22sten Jahre geschribenen Briefe an seinen nachmaligen Schwiegervater und an seine (nachmalige) erste Geliebte, meine Schwester Lange. Ob Sie sie in der musicalischen Zeitung brauchen können, weiß ich nicht; die englischen Journale enthalten oft solche einzelnen Briefe berühmther Männer; aber in einer Biographie, die vollständig ist, sind sie anzubringen, weil sie characteristisch sind. Der erste athmet die herzlichste Theilnahme, derer er so sehr fähig war; der zweyte nicht minder, ist aber auch des musicalischen Inhalts wegen interessant. […] Lassen Sie mich wissen, ob Sie wirklich an einer großen Lebensbeschreibung arbeiten: Dann kann ich selbst urtheilen, was ich Ihnen zu senden habe. Dazu habe ich recht viele Beyträge.576
Wenige Wochen später, Constanze Mozart hatte weitere Briefe an den Verlag gesandt, schrieb sie: Ich sende Ihnen zugleich die erste Abtheilung von Briefschaften, von Demjenigen zu lesen und zu benutzen, dem Sie die Biographie auftragen. Es ist immerhin allerhand daraus zu lernen für seine Charakteristik. Sein Maß von Bildung, seine übergroße Zärtlichkeit für mich, seine Gutmütigkeit, seine Erholungen, seine Liebe zur Rechenkunst und zur Algebra (wovon mehrere Bücher zeugen), seine Laune, die bisweilen wahrhaft shakespearisch war (wie Herr Rochlitz einmal von seiner musikalischen Laune gesagt hat und wovon ich Ihnen Proben senden werde), sind darin und in den folgenden Papieren sichtbar. Sie beweisen ferner die Ehren, die ihm und mir seinetwegen späterhin erwiesen sind. Die freilich geschmacklosen, aber doch sehr witzigen Briefe an seine Base verdienen auch wohl eine Erwähnung, aber freilich nicht ganz gedruckt zu werden. Ich hoffe, Sie lassen gar nichts drucken, ohne es mich vorher lesen zu lassen.577
Und am 29. September desselben Jahres bekräftigte sie noch einmal: »Diese seine nachlässig, d. h. unstudirt, aber gut geschriebenen Briefe sind ohne Zweifel der beste Maßstab seiner Denkungsart, seiner Eigenthümlichkeit und seiner Bildung.«578 Zum neu zu definierenden Umgang mit Quellen gehört letztlich auch, dass nun, da Musiker-Biographien durchaus existierten, diese in das Neu-Schrei575 1992 vom Literaturwissenschaftler Winfried Schulze eingeführter Terminus, der den Anspruch auf Literarizität im Zusammenhang mit Selbstzeugnissen aufgibt (Schulze 1996). 576 Der Brief wurde nicht in die Neuauflage der Brief-GA aufgenommen, daher wird er hier zit. nach Walter 1991, S. 138f. 577 Brief vom 28. August 1799, zit. nach Schurig (Hg.) 1922, S. 18. 578 Zit. nach ebda., S. 19.
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ben von Biographien einbezogen werden konnten. Der Umgang mit biographischem Schreiben als Quelle stand hiermit auf der Agenda. Koschorkes Analyse des Umgangs mit Schriftmedien kommt hierbei nochmals in den Sinn, und die Frage, wo und wie kompilatorisch gearbeitet wurde (im Sinne einer präexistenten Textautorität), ist eine durchaus spannende. Denn um 1800 ist die großflächige Textübernahme – mit oder (zumeist) ohne entsprechende Quellenangabe – noch weitverbreiteter Usus, was Nissen 1828 zu dem Kommentar veranlasste: »Sogenannte [Biographien über Mozart] giebt es wohl gegen Zwanzig, […] 17 oder 18 davon sind indess blosse Abschriften. Nur Schlichtegroll, Niemtschek und vielleicht der Verfasser von ›Mozart’s Geist‹ haben aus Quellen geschöpft.«579 Die Praxis der Kompilation soll hier an nur einem Beispiel knapp aufgezeigt werden, wobei der Schwerpunkt der ausschnitthaften Textanalyse darauf liegt, dass trotz großflächiger Übernahmen eine umfassende Veränderung des Komponisten-Bildes gelingen konnte. Die zum Teil größeren, zum Teil nur geringfügigen Textmodifikationen bieten dabei hinlänglichen Anlass zur Interpretation: Benedikt Pillwein gab in seinem 1821 erschienenen, landeskundlich orientierten Lexikon einen Artikel über Mozart heraus, der in weiten Teilen dem Nekrolog von Schlichtegroll (1793) folgt, diesen aber an markanten Punkten erweitert oder auch umgestaltet. Dabei war es Pillwein einerseits um eine Aktualisierung des Schlichtegrollschen Nekrologs zu tun – vor allem des letzten Lebensjahrzehnts Mozarts –, zugleich aber schuf Pillwein ein auf dem Genie-Begriff fußendes Künstlerbild, das als Begründung für die andauernde Popularität des Komponisten und seines Werkes angeführt wird: 580 581 Schlichtegroll579
Pillwein580
Er [Mozart] erfüllte die grossen Erwartungen, zu denen seine bewundernswürdigen und früh-entwickelten Gaben das ganze musikalische Publicum berechtigt hatte, auf eine vollkommen befriedigende Art, und ward, um mit wenig Worten alles zu sagen, der Lieblingscomponist seines Zeitalters. […]
Er erfüllte die großen Erwartungen, zu denen sein bewunderungswürdiges und früh entwickeltes Genie das ganze musikalische Publikum berechtigt hatte, auf eine vollkommen befriedigende Art, und ward, um mit wenigen Worten Alles zu sagen, der Lieblingskomponist seiner, und, wie zu erwarten steht, aller künftigen Zeit.
579 Nissen 1828/1991, S. XIX. Wobei anzumerken ist, dass er selbst auch (wenngleich nicht ausschließlich) kompilatorisch arbeitete, was bei seinen Zeitgenossen durchaus auf Kritik stieß: In der Cäcilia erschien 1829 eine Rezension von Friedrich Deycks zu Nissens Biographie, die entsprechend Kritik an der kompilatorischen Anlage der Biographie geübt hatte. 580 Text (hier und in den folgenden Textgegenüberstellungen) aus Schlichtegroll 1793, Textkursivierung: bei Pillwein ausgelassen. 581 Pillwein 1821 (hier und in den folgenden Textgegenüberstellungen), Textkursivierung: gegenüber Schlichtegroll geändert, Fettdruck: neu eingefügter Text.
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Das war Mozart, der Tonkünstler. Kein Forscher der menschlichen Natur wird sich aber wundern, wenn ein grosser Künstler, dem man von dieser Seite die allgemeinste Bewunderung zollte, nicht gleich gross in den übrigen Verhältnissen des Lebens erscheint. Mozart zeichnete sich durch keine besonders einnehmende Körperbildung aus, so schön auch, wie schon erwähnt worden ist, seine Aeltern in ihrer Jugend waren, und so vielen Einfluss dieses auch immer auf die glückliche Organisation des Sohnes gehabt haben mag. Er war klein, hager, blass und verrieht nichts ausserordentliches in seiner Physiognomie. […] Selbst sein Gesicht blieb sich nicht gleich, sondern verrieht immer den äussern Zustand seiner Seele, in welcher die untern Fähigkeiten, durch deren eine, die Phantasie, er der bezaubernde Künstler wurde, der er war, ganz deutlich über die obern Kräfte das Übergewicht hatten.
Dieß war Mozart, der Tonkünstler. Kein Forscher der menschlichen Natur wird sich aber wundern, wenn ein großer, ja, möchte man sagen, vollendeter Künstler nicht auch gleich groß in allen übrigen Künsten und Wissenschaften, und überhaupt in allen Verhältnissen des Lebens erscheint. Eben darin ist, wie uns dünkt, die Natur des wahren umfassenden Genie’s begründet, daß dieses, für keine Außendinge Sinn haben, nur auf sich selbst beschränkt ist, und nur seiner Kunst lebt, keinen Einfluß der äußern Einwirkungen und der Einzelnheiten anerkennend, die nur den bloßen Verstand, entblößt von allem eigentlichen Genie, zu interessieren vermögen. So hat man Mozarten häufig seinem Mangel an Allem, was Wissen heißt, zum Vorwurfe gemacht; ein Vorwurf, der, dünkt uns, durch das, was wir so eben gesagt haben, vollkommen widerlegt, ja, sogar bei ihm zu einem ehrenden Verdienste wird.
Schlichtegroll hatte die Bemerkungen über Mozarts Charakter – wie bereits oben beschrieben – als Kernpunkt einer Studie über ein Exemplum »unschätzbare[r] Kabinetsstücke«582 betrachtet. Damit hatte er Mozart als einen individuellen Charakter und eine Ausnahmeerscheinung im Sinne des aufklärerischen Ideals von Individualität und Meisterschaft charakterisiert, ihn gleichwohl nicht aus dem Kontext des allgemeinen Lebenszusammenhangs gehoben. Anders Pillwein: Zwar entwirft auch dieser die Charakterstudie einer Ausnahmeerscheinung, dem aber die Lücken »in allen übrigen Künsten und Wissenschaften, und überhaupt in allen Verhältnissen des Lebens« bescheinigt werden, um ihn gerade auf diese Weise umso eindrucksvoller dem Genietum zuzugesellen: Gerade weil Mozart sich gegen Alltäglichkeiten ablehnend, ja unfähig erwiesen habe, sei er ein Genie. Das Fehlen jeglichen Bezugs zum Alltag und zur Außenwelt ist für Pillwein zentraler Bestandteil des Geniegedankens, so dass er die oft zitierte »Kind«-Passage aus Schlichtegrolls Nekrolog auf bezeichnende Weise umformt: Aus dem »seltne[n] Mensch«, der als Individuum zu faszinieren vermag, wird der »seltene Geist«, abstrakt sich formierend in der Idee des Genies, und die Relativierungen, die Schlichtegroll vornimmt, entfallen bei Pillwein gänzlich, wodurch sich die Aussage ins Absolute wendet:
582 Schlichtegroll 1793, S. 84.
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Schlichtegroll
Pillwein
Denn so wie dieser seltne Mensch früh schon in seiner Kunst Mann wurde, so blieb er hingegen – diess muss die Unpartheylichkeit von ihm sagen – fast in allen übrigen Verhältnissen beständig Kind. Er lernte nie sich selbst regiren; für häusliche Ordnung, für gehörigen Gebrauch des Geldes, für Mässigung und vernünftige Wahl im Genuss hatte er keinen Sinn. Immer bedurfte er eines Führers, eines Vormundes, der an seiner Statt die häuslichen Angelegenheiten besorgte, da sein eigner Geist beständig mit einer Menge ganz anderer Vorstellungen beschäfftigt war, und dadurch überhaupt alle Empfänglichkeit für andere ernsthafte Überlegung verlor. Sein Vater kannte diese Schwäche, sich selbst zu regiren, sehr wohl in ihm […].
So wie dieser seltene Geist früh schon in seiner Kunst Mann wurde; so blieb er hingegen in allen übrigen Verhältnissen des menschlichen Lebens stets Kind. Er lernte nie sich selbst regieren; für häusliche Ordnung, für gehörigen Gebrauch des Geldes, für Mäßigung und vernünftige Wahl im Genusse hatte er keinen Sinn.
Bemerkenswert ist auch, dass Pillwein offenbar daran interessiert ist, Mozart als Solitär darzustellen, indem er andere Menschen aus Mozarts Lebenszusammenhang nicht oder nur kurz erwähnt: So wird die im Kontext der Aufklärung so wichtige Rolle des Vaters ausgelassen, die Hochzeit mit Constanze nicht erwähnt.583 Auch diese Art der Isolierung des Menschen aus seiner Umwelt, vor allem auch das Nichterwähnen einer Ehefrau, trägt zum romantischen Genie-Bild mit bei. Explizit wird dieses im folgenden Abschnitt, indem Pillwein im Schlichtegrollschen Text fast unbemerkt eine eminent wichtige Änderung vornimmt: Schlichtegroll
Pillwein
Aber eben dieser immer zerstreute, immer tändelnde Mensch schien ein ganz anderes, schien ein höheres Wesen zu werden, sobald er sich an das Klavier setzte. Dann spannte sich sein Geist, und seine Aufmerksamkeit richtete sich ungetheilt auf den Einen Gegenstand, für den er geboren war, auf die Harmonien der Töne.
Aber eben dieser immer zerstreute, dieser immer in sich zurückgezogene Mensch schien ein ganz anderes, ein höheres Wesen zu werden, sobald er sich an das Klavier setzte. Dann spannte sich sein Geist, und seine Aufmerksamkeit richtete sich ungetheilt auf den einen Gegenstand, für welchen er geboren war: auf die Harmonien der Töne.
Der »tändelnde Mensch« Mozart wird in das Gegenteil verkehrt, zu einem »immer in sich zurückgezogene[n] Mensch[en]« umgebildet. Dass diese neue, der Schlichtegrollschen Charakteristik diametral entgegenstehende Formulierung nicht als Bruch innerhalb des Textes wahrgenommen wird, erreicht Pillwein, indem er durch subtile Änderungen, Ergänzungen und 583 Die Söhne Mozarts hingegen werden mit einem ganzen Absatz auffallend ausführlich erwähnt.
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Biographische Konzepte in Musik und Musikgeschichtsschreibung
Auslassungen in den vorhergehenden Abschnitten auf diesen Richtungswechsel hinarbeitet. Just an diesem Punkt aber ist der Wechsel vom »unschätzbare[n] Kabinetsstück[ ]«, vom »merkwürdigen« Menschen Mozart zum Bild des romantischen Genies vollzogen. Dieses gipfelt in einer von Pillwein verwendeten Nacht-Metaphorik,584 die wiederum nur in Nuancen – aber wirkungsvoll – Veränderungen gegenüber dem Urtext von Schlichtegroll aufweist: Schlichtegroll
Pillwein
Von seiner Kindheit an spielte er am liebsten bey der Nacht; wenn er sich Abends um 9 Uhr vor das Klavier setzte, so brachte man ihn sicher vor Mitternacht nicht wieder davon weg, und auch dann musste man ihn noch halb zwingen; sonst würde er die ganze Nacht fort phantasirt haben. Früh von 6 oder 7 Uhr an bis 10 Uhr componirte er, und zwar mehrentheils im Bette.
Am liebsten spielte er jedoch bei der Nacht und bis zum frühesten Morgen hin, wenn man ihn nicht mit Gewalt vom Klavier entfernte. Gewöhnlich komponirte er von sechs oder sieben Uhr des Morgens bis um zehn Uhr, und zwar meistentheils im Bette.
Schlichtegroll hatte diese Passage von Mozarts Schwester übernommen, die damit einen Einblick in die »tagesordnung«585 des jungen Mozart gab. Sie hatte dies in ihrem Bericht ausführlich geschildert, um die Vermutung zu zerstreuen, dass der Vater den Sohn zum »Exercieren« am Klavier gezwungen habe. Schlichtegroll kürzt ihren Bericht, behält gleichwohl den Grundgedanken bei: Beschrieben wird, wie Mozart als Kind mit Vorliebe abends bis Mitternacht Klavier gespielt habe. Bei Pillwein jedoch wird aus der Beschreibung nichts Geringeres als eine Beschreibung des Moments der Inspiration: Nicht allein, dass er das nächtliche Klavierspiel ausweitet (»bis zum frühesten Morgen hin«) und damit die für die Romantik so zentrale Nacht-Metapher bedient, deren dunkler Einflussbereich nur durch Eingriffe von außen (»mit Gewalt«) gebändigt werden kann. Auch der Hinweis darauf, dass es sich hier um eine Schilderung aus Mozarts Kindheit handelt, wird bei Pillwein eliminiert, und damit das Bild eines reifen Künstlers entworfen. Vollends der romantischen Idee des Künstlers folgend schließt Pillwein seinen Artikel über Mozart, indem er darauf hinweist, dass sich sowohl der Mensch Mozart als auch seine Werke dem verstandesmäßigen Zugriff verweigerten: Übrigens will Mozart nicht besprochen, nicht erklärt, sondern bloß genossen werden: er ist ein Wunder, welches, der Ahnung und dem Gefühle allein angehörend, von keinem Verstande berührt werden darf. Deßgleichen seine Werke, die, unge584 Dazu ausführlich Bronfen 2008. 585 Mozart Briefe GA, Bd. IV, S. 201.
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achtet ihres ganz neu erschaffenen, alle bis dahin betretene Bahnen verlassenden Charakters, durch ihre innere, reiche, alle Mittel der Kunst erschöpfende und doch zugleich himmlisch klare Vollendung den Liebhaber, wie den eigentlichen Musiker, gleich mächtig anziehen.
Wenngleich der Rechtswissenschaftler und Landeskundler Benedikt Pillwein mit Sicherheit nicht zu den herausragenden Musiker-Biographen seiner Zeit zu zählen ist, wird in seinem Text, der immerhin lexikalischen Anspruch erhebt, der Wechsel vom aufklärerischen zum romantischen Künstlerbild überdeutlich. Gerade in den wenigen, aber markanten Modifikationen, die er am Schlichtegrollschen Urtext vornahm, wird erkennbar, wie sich das neue Bild eines Komponisten aus der noch kurzen Tradition der musikalischen Biographik des 18. Jahrhunderts herausbilden konnte. Erkennbar auch, wie aus dem Allgemeinsubjekt ein emphatisches Individualsubjekt werden konnte. Und letztlich wird auch eine Nähe zum literarischen Komponisten-Bild um 1820 erkennbar, die wiederum Grenzen aufzubrechen sich anschickt: jene Grenze zwischen Biographien über reale und über fiktive Figuren.
Weitere Konsequenzen: Kanonisierung Daniel Jenisch hatte, wie bereits dargestellt, betont, dass die öffentliche Würdigung des »Mann[es] von Geist und Talent, von Ruf und Verdienst« Zeichen der kulturellen Entwicklung sei, wobei nicht nur Jenisch die Biographie als eine der wichtigsten Formen dieser öffentlichen Würdigung zählte. Dabei ist zunächst zu beobachten, dass sich der Radius der biographiewürdigen Personen entsprechend den Codes zur Herausbildung und Bestätigung des (bürgerlichen) Allgemeinsubjekts beträchtlich erweiterte: Nicht mehr nur »Patriarchen, Kayser, Könige, Fürsten, grosse Feldherrn, heydnische Gottheiten und andere Helden des Altertums«, wie sie beispielsweise ab 1752 Jean Baptiste Ladvocat in seinem biographischen Lexikon versammelte (ab 1760 auch auf deutsch erschienen), waren nun von Interesse, sondern auch Gelehrte und Künstler, Frauen und sogenannte »kleine Leute«, sofern sie besondere Fähigkeiten auszeichneten oder sich in ihrem Lebenslauf ein interessanter Aspekt finden ließ. Letztere Einschränkung zielte darauf ab, dass die veröffentlichte Biographie im aufklärerischen Sinne entweder als nachahmenswertes oder abschreckendes Beispiel dienen und damit Muster für das Allgemeinsubjekt abgeben solle.586 Auch in der Zeitschrift Der Biograph 586 In diesem Sinne etwa erschienen 1782 die Kurzen Biographien, oder Lebensabriße merkwürdiger und berühmter Personen neuerer Zeiten von unterschiedlichen Nazionen, und allerley
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(zwischen 1802 und 1808 in Halle erschienen) wurde die Idee einer demokratischen Auswahl ähnlich umgesetzt. Die Bandbreite der biographierten Personen reicht von Gustav III. von Schweden bis zu »[John] Howard, der Gefängnisverbesserer«; für den Bereich der Musik wird der 1802 verstorbene Komponist Johann Rudolf Zumsteeg erwähnt. Der Biograph ist neben diesem Zeichen des erheblich erweiterten biographierten Personals noch aus einem anderen Grund aufschlussreich; die Biographien werden explizit ins Verhältnis zur Geschichtsschreibung gesetzt. So findet sich der Grundgedanke, dass eine Reihung verschiedener Biographien Grundlage von Historiographie sei, bereits im Untertitel (»Für Freunde historischer Wahrheit und Menschenkunde«) und wird darüber hinaus im Vorwort des ersten Bandes ausführlich erläutert: Der Biograph lifert in steter Abwechslung theils längere, theils kürzere Biographien merkwürdiger Menschen aus allen Ständen, deren Namen Kronos auf seine Zeittafel der drey letzten Jahrhunderte eingeschrieben hat. Mit eigentlichen Biographien wechseln von Zeit zu Zeit historische Abhandlungen, die mit der Biographik in enger Verbindung stehn, Beurtheilungen und kurze Auszüge aus neu erscheinenden biographischen Werken, so weit sie den Zeitraum, welchen sich der Biograph gesetzt hat, betreffen. Jedem Stück folgt ein historischer Anzeiger, welcher die im Lauf des Jahrs vorgekommenen Todesfälle dienen, von der achtsamen Muse der Geschichte auf ihrer Tafel für den künftigen Biographen des neunzehnten Jahrhunderts angemerkt zu werden.587
Schließlich findet sich auch auf dem Titelsignet ein deutlicher Hinweis. Hier ist es nicht Kronos, der die Zeittafel des 19. Jahrhunderts auf den Knien hält und mit gespanntem Blick auf die Namen zu warten scheint, die es mit dem Griffel einzuritzen gilt, sondern Clio (Tafel 5). Brennspiegelartig lässt sich an diesen Beispielen die Situation der Biographik um und nach 1800 erkennen, wobei hier sowohl das Selbstverständnis als auch die Agenda für die nächsten Jahrzehnte beschrieben sind: erstens die Ständen von Heinrich Georg Hoff mit biographischen Skizzen, deren Bandbreite der biographierten Menschen den erzieherischen Impetus deutlich erkennen lässt: Alle dargestellten Lebensläufe sind unter dem Blickwinkel eines nachzuahmenden oder abschreckenden Lebens geschildert – von George Washington über die Physikerin und Mathematikerin Émilie du Châtelet (»Markise von Chatelet«) als nachahmenswerte Lebensläufe bis hin zu einem gewissen Ludwig Carantini und seinen Töchtern Victorie und Olympie, deren Schicksal eher an ein Melodram erinnert und mit den Worten eingeleitet wird: »Keine Art häuslicher Tiranney ist unbilliger und härter, als diejenige, die unvernünftige Aeltern sehr oft über ihre Kinder ausüben, indem sie sie zu einer Lebensart zwingen, zu dieser sie keinen innerlichen Beruf haben.« Hoff 1782, Bd. 3, S. 41f. 587 Der Biograph, Bd. 1, Vorwort.
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erhebliche Erweiterung des biographierten Personals, zweitens die Prämisse, dass diese Erweiterung der Herausbildung von Allgemeinsubjekten dient, und drittens die Aufgabe, Biographien in ihrer Interdependenz zur Geschichtsschreibung zu denken. Letzteres ist vor allem für die beginnende Musikgeschichtsschreibung von großer Bedeutung, denn zum einen trägt die Idee, Biographie und Geschichtsschreibung zusammenzudenken, nicht unerheblich dazu bei, dass nun vermehrt umfangreiche Musikerbiographien entstehen (und dies nicht selten in Verbindung mit Werkeditionen und/oder musikhistorischen Darstellungen), zum anderen trifft es auf ein sich zeitgleich formierendes historisches Interesse an Musik überhaupt, so dass das Verhältnis von Musikerbiographie und Musikgeschichtsschreibung in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts als besonders eng zu beschreiben ist und im Zusammenhang mit den beginnenden Werkausgaben als ein die aufkommende Disziplin der Musikwissenschaft präfigurierendes Modell gesehen werden kann. Wie aber kam es zur Auswahl der biographierten Musiker um 1800? Einerseits scheint nicht so sehr eine durchdachte, kanonisierende Strategie ausschlaggebend gewesen zu sein, sondern vielmehr die Zeitgenossenschaft bzw. schlicht die geeignete Autorschaft: Nicht selten verfassten nach dem Tod eines Musikers Personen aus dem Kreis seiner Freunde, Kollegen oder ihm nahestehende Musikschriftsteller biographische Texte. August Gottlieb Meißners Biographie über Johann Gottlieb Naumann (Bruchstücke zur Biographie J. G. Naumanns, zweibändig, 1803/04 erstmals erschienen) gehört hier ebenso dazu wie die 1827 erschienene Biographie Ueber das Leben und die Werke des Anton Salieri von Ignaz Franz Edler von Mosel588 – um nur zwei von einer Vielzahl an Beispielen zu nennen. Selbst im Zusammenhang mit der Mozart-Biographik war die freundschaftliche Nähe ausschlaggebend für die erste größere Biographie.589 Andererseits aber (und dies ist keineswegs als Widerspruch, sondern vielmehr als Hinweis auf die oben benannten Diskontinuitäten zu sehen) spielten angesichts der sich verändernden Musikkultur auch andere Faktoren eine Rolle: Biographien wurden nun als mögliche Werbemaßnahmen im Zusammenhang mit Notenausgaben entdeckt. Mithin waren es nicht zuletzt verlegerisch-ökonomische Gründe, die monographische Biographien über nunmehr ausgewählte Komponisten (nicht mehr Musiker im allgemeineren Sinne) beförderten: Forkels Bach-Biographie (1802) war in einem solchen Kontext entstanden, und auch der Verlag Breitkopf und Härtel, der eine Mozart-Werkausgabe plante (Œuvres complettes, 1798–1809), erkundigte sich am 15. Mai 588 Rezension in der Allgemeinen musikalischen Zeitung Nr. 27, 4. Juli 1827, Sp. 457–462. 589 Niemetschek 1798.
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1798 bei Constanze Mozart nach neuem biographischen Material, das in einer geplanten »Lebensbeschreibung« Mozarts in der hauseigenen Allgemeinen musikalischen Zeitung verwendet werden sollte. Am 6. Oktober 1798 erneuerte und konkretisierte der Verlag die Anfrage: »Noch bitten wir Sie, uns wissen zu lassen, ob außer dem Herrn Niemtschek in Prag noch jemand beschäftigt sei, die Lebensgeschichte Ihres Herrn Gemahls zu schreiben.«590 Über das Schriftmedium der Biographie ließ sich darüber hinaus auch jenes neue Selbstverständnis definieren, das Komponisten angesichts eines sich professionell ausdifferenzierenden Musikmarktes zu entwickeln hatten.591 Dieser Schritt stellte auch für die Musikerbiographik eine neue Herausforderung dar, denn insbesondere jene Lebenslaufmodelle, die sich am beruflichen Fortkommen qua Ämterlinie orientierten – etwa Leopold Mozarts Modell eines Capellmeister-Lebenslaufs, der dem Sohn die Aufnahme in das kulturelle Gedächtnis hätte ermöglichen sollen –, war in diesem Fall nicht mehr adäquat. Ein Modell aber, das für einen Lebenslauf ohne Orientierung an Dienstverhältnissen tauglich sein konnte, musste erst entwickelt werden. Hierbei spielten Faktoren eine wesentliche Rolle, die das neue Verhältnis zwischen Komponist und (anonymem) Publikum, zwischen Komponist und Interpret, zwischen Komponist und dem, was man allgemein als »Markt« bezeichnen kann, bestimmten. Anders gesagt: Wenn nicht mehr die Größe eines Dienstherrn und die Bedeutsamkeit eines Hofes den Rang eines Capellmeisters definierte, mussten an diese Stelle andere bedeutsamkeitsgenerierende Kategorien treten: Publikumserfolg, Verlagskontakte, Rezensionen, Berühmtheit. Einen deutlichen Einblick in die hier zusammenlaufenden Faktoren (und in die Tatsache, dass diese Faktoren bereits als solche wahrgenommen wurden), gibt ein Konzertbericht aus der Musikalischen Real-Zeitung von 1790: Denn solche öffentlichen Konzerte wie vortheilhaft und lobenswürdig sind sie aus verschiedenen Gesichtspunkten. Sie haben ihre ökonomisch gute Seite; sie bringen fremdes Geld ins Ort, befördern den Umlauf desselben, nähren den Luxus, der im ganzen gut ist, und sezen ab dem Debit so mancher Lebensmitteln. Sie haben ihre gute moralische Seite; sie verbinden die verschiedenen Stände des Lebens genauer mit einander, machen Menschen den Menschen nothwendig, und desto gleicher, und stimmen besonders den unseeligen Adelstolz tiefer herab. Sie befestigen das Band des gesellschaftlichen Umgangs, der gegenseitigen Liebe und Freundschaft; sie lehren uns immer mehr Geschmak finden, an den edlen, erhabenen Freuden des Lebens; sie geben unserem Charakter eine gewisse Geschwindigkeit, unserm 590 Schurig (Hg.) 1922, S. 0. Constanze Mozart schickte in der Tat in mehrfachen Lieferungen Briefe, Anekdoten, Skizzen und anderes an den Verlag. 591 Über die Irritationen, die das neue Selbst- und Berufsbild »Komponist« zu Beginn des 19. Jahrhunderts auslöste, gibt Axel Beer anhand zahlreicher Quellen Auskunft: Beer 2000, S. 15ff.
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Herzen eine gewisse Offenheit; sie stärken die Triebe des allgemeinen Wohlwollens – und kurz, wenn es auch weiter nichts wäre, sie versüssen uns immer, durch frohen Genuß, einen Nachmittag unsers Lebens.592
Für den Komponisten galt es, in diesem Kontext eine neue Rolle zu finden: Die beschriebenen Funktionen, die ein Konzert zu erfüllen hat – Gunilla Budde spricht von einem »Füllhorn zivilgesellschaftlicher Errungenschaften«593 –, beinhalten ökonomische und moralische, ständeübergreifende und soziale, ästhetische, bildungspolitische und unterhaltende Faktoren. Bezeichnenderweise aber taucht der Komponist als Person (noch) nicht auf. Umso wichtiger für ihn, seine Rolle neben dem Virtuosen und gegenüber dem Publikum zu definieren. Schriftmedien spielten in diesem Zusammenhang eine wichtige Mittler-Rolle zwischen Komponist und Publikum, so etwa die Musikzeitschriften wie die 1798 gegründete Allgemeine musikalische Zeitung und eben auch das Medium der Biographie, das als eine probate Möglichkeit erkannt wurde, Kontakt zum anonymen Publikum herzustellen und aufrechtzuerhalten: Durch die Biographie konnte das Lesepublikum dem Komponisten gleichsam nahekommen, und das Interesse an der Person sollte vor allem dem Interesse an seinem Werk dienen. Um 1800 lassen sich im Schreiben über Musik erste Hinweise darauf finden, dass sich um den Begriff des »Klassischen« der Aspekt des Überdauerns, des Einfließens in das kulturelle Gedächtnis, festsetzt. Was das »Klassische« sei, definierte etwa die Allgemeine musikalische Zeitung 1819 folgendermaßen, wobei auffällig ist, dass das Nicht-Klassische mit dem Modischen, mithin dem (schnell) Vergänglichen verglichen wird: Es ist schwer zu sagen, was in Wissenschaft oder Kunst das Klassische ist; aber ein Merkmal hat es, aus dem du es leicht erkennst. Das ist’s, dass du dessen niemals satt wirst. Nimm das Reizendste, das Anziehendste vor dich. Fühlst du nach einiger Zeit, oder, wenn du es wiederholt geniessen willst, oder auch nur in gewissen Stunden Ueberdruss daran, führt es dich nicht jedesmal in die Mitte deines besten Wesens, in die rechte Bahn des Lebens hinein, so ist es nicht aus der Mitte des Lebens genommen. Es stellt eine Einseitigkeit, einen vorübergehenden Geschmack und Ton der Zeit dar, es deutet die Bildungsstufe, das Uebergangsstadium einer gewissen Klasse von Kunstgeistern an, aber – es ist nicht klassisch, nicht das Produkt der gereiften, durch alle minderen Grade der Weihe hindurchgegangenen, zum Anschauen des Gediegenen, des in sich ruhenden Schönen gelangten, und es wiederzugeben vom Genius bevollmächtigten Klasse. Das Nicht-Klassische ist eine unter gewissen Constellationen gangbare Waare; es sind Modeartikel, die die 592 [Anonym] 1790, S. 174, vgl. hierzu auch die Analyse in Budde 2007, S. 99. 593 Ebda.
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Kunstproducenten, die Aspecten abpassend, an die Consumenten theuer genug verkaufen; wogegen das Klassische blos von den Eingeweihten in seiner Unschätzbarkeit erkannt, durch Schenkung und Vermächtniss von Geist zu Geist, von Gemüth zu Gemüth geht.594
Und Hans Georg Nägeli betonte, dass »zur Classicität […] ja die Geistesprodukte aller Art erst erhoben [werden], nachdem sie die Zeitansicht überlebt, die Veränderungen des Zeitgeschmackes überstanden haben, und hierauf die Anerkennung ihrer Musterhaftigkeit sich zum National-Urtheil gesteigert hat«.595 Damit sind die Maßstäbe, die die Begrifflichkeiten rund um das Adjektiv »klassisch« insbesondere für die Musikkultur des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts aufspannen, benannt: Das Bürgertum, das sich nicht als Stand, sondern vor allem als eine vom Bildungsgedanken getragene Kultur versteht,596 gibt sich mit jener als »klassisch« bezeichneten Musik einen eigenen, anti-feudalen Kanon, den es gegen das »leichte« Konsumieren abgrenzen kann, indem es das Geniale auratisiert, dem mit »Geist«, respektive (Bildung voraussetzendes) Verstehen zu begegnen sei. Und gerade weil dem Bürgertum eine derart unbestimmte Identität eigen ist, gerade weil sich nicht ohne weiteres bestimmen lässt, »wer und was ein ›Bürger‹ ist«, gerade weil Bürger diejenigen sind, »die sich dafür hielten und die ihre Überzeugungen in ihrer Lebensführung zum praktischen Ausdruck brachten«,597 wird eine besondere Chiffre benötigt, die diesen Ausdruck zu definieren, erkennbar und erfüllbar zu machen erlaubt. Diese Chiffre aber war die Musik, insbesondere auch in Verbindung mit dem Attribut »klassisch«, und zu ihrer Decodierung war Bildungswissen notwendig, das sich in ästhetischen, historischen und biographischen Schriften aneignen ließ.598 In diesem Zusammenhang waren bereits seit den 1760er Jahren Werke und Personen mit »classisch«/»klassisch« attribuiert worden, die als für den Kanon der Musik(geschichte) relevant erachtet wurden, zunächst allerdings in vergleichsweise breiter Vielfalt: von Fux über Händel bis Abbé Vogler, aber auch Carl Philipp Emanuel Bach, Gluck und Kirnberger u. a.599 So breitgefächert damit zunächst die Gruppe jener gedacht war, die als Anwärter auf die Aufnahme in den Musikkanon beschrieben wurden, so fokussierte sich diese Auswahl nach 1800 immer stärker auf jene drei Komponisten, die 594 595 596 597 598 599
Allgemeine musikalische Zeitung Nr. 17, 28. April 1819, Sp. 282f. Hientzsch 1826, S. 21. In Hientzschs Schrift ist Nägelis »Beurtheilung« abgedruckt. Dazu Kocka 1987. Osterhammel 2011, S. 1080. Vgl. dazu auch Oppermann 2001, insb. S. 46ff. Vgl. dazu Finscher 2003, S. 206ff., sowie Gruber 2002.
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später als ›Trias‹600 der Wiener Klassik in die Musikgeschichtsschreibung Eingang gefunden haben: Haydn, Mozart und Beethoven. Dabei spielte nicht nur der örtliche Zusammenhang (Wien) eine wichtige Rolle, sondern auch der Zusammenhang untereinander. Und so lassen sich bereits frühe Beispiele dafür finden, dass Beethoven in eine Traditionslinie mit Haydn und vor allem Mozart gestellt wurde, u. a. Christian Gottlob Neefes frühe Äußerung über seinen 13-jährigen Schüler im Magazin der Musik (»Dieses junge Genie verdient Unterstützung, daß er reisen könnte. Er würde gewiß ein zweyter Wolfgang Amadeus Mozart werden, wenn er so fortschritte, wie er angefangen.«601) oder der Stammbucheintrag von Ferdinand von Waldstein (»Durch ununterbrochenen Fleiß erhalten Sie: Mozarts Geist aus Haydns Händen«,602 29. Oktober 1792). Bereits um 1800 begann sich die Gruppenbildung zu festigen, und zwar zunächst in England – ob aus verlegerischem Kalkül oder ästhetischer Überzeugung, sei dahingestellt: 1807 startete das Londoner Verlagshaus Cianchettini & Sperati mit der Compleat Collection of Haydn, Mozart and Beethoven’s Symphonies.603 Wie rasch sich aus dem Nachfolge-Prinzip die Hegelianische Idee eines »Dreigestirns« herausbildete, ist interessant nachzuvollziehen: 604 Zunächst scheint die Idee der (durchaus im Sinne des »klassisch Kunstschönen« gedachten) Dreiheit faszinierend für die Musikpublizistik gewesen zu sein, ohne dass diese Dreiheit immer mit den identischen Namen versehen worden wäre. So standen in einem Artikel aus dem Jahr 1810 Mozart, Haydn und Bach als »Dreyeinigkeit« im Zentrum einer Hymne, die die ›Größen‹ (»Verklärten«) der Musikgeschichte paradieren ließ: Die Dreyeinigkeit seh ich des Schönen, des Wahren, des Guten; Mozart, Haydn und Bach – Der du mit mächtiger Hand neue Welten dem Chaos entriesst, neue Horen den kommenden Jahren gabst, Haydn, Vater, vor dir sink’ ich in den Staub! Gross und mächtig bist du, Sebastian; mit gewaltgem Vermögen 600 Flotzinger merkt an, dass bislang nicht klar sei, »von wem dieser Ausdruck erstmals verwendet wurde«, und relativiert zugleich den Stammbucheintrag Ferdinand von Waldsteins. Flotzinger 2002, S. 44. 601 Cramer 1783, S. 395. 602 Autograph im Beethoven-Haus Bonn, B 130b, online einsehbar unter: http://www. beethoven-haus-bonn.de/sixcms/detail.php?id=&template=opac_bibliothek_de&_ opac=hans_de.pl&_dokid=b1576 (letzter Zugriff: 9. April 2014). 603 Vgl. Hinrichsen 2009, S. 579. 604 Wenngleich eine systematische Auswertung der entsprechenden Zeitschriften, Bücher und Berichte unter diesem Aspekt noch aussteht.
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fügtest du des Tempels ewigen Grundstein! Und du, gleich gross und mächtig in allem, der du in des Weltgerichts Posaunen riefst, und Geister aus dem Orcus zwangst, des heitern Sinnes frohe Lieder sangst, und der Liebe schmelzende Harmonien töntest, Du der Harmonie Alpha und O: Mozarts, dich preist mein Jubelgesang!605
Auch andere Dreiergruppierungen von Namen tauchen auf (so bei Stendhal 1814 etwa Haydn, Mozart und Metastasio606), ab 1810 aber doch häufiger in Kombination und Reihung Haydn, Mozart, Beethoven. Diese wurde vor allem von Johann Friedrich Reichardt immer wieder beschworen, er griff in seinen Vertrauten Briefen mehrfach darauf zurück, darunter in der berühmt gewordenen und viel zitierten Passage, die zunächst in der Allgemeinen musikalischen Zeitung nachgedruckt, dann auch von Ernst Ludwig Gerber in die neue Auflage des Tonkünstlerlexikons übernommen wurde: Haydn schuf aus der reinen Quelle seiner lieblichen, originalen Natur. An Naivetät und heiterer Laune bleibt er daher auch immer der Einzige. Mozarts kräftigere Natur und reichere Phantasie griff weiter um sich und sprach in manchem Satz das Höchste und Tiefste seines innigsten Wesens aus […] und baute so auf Haydns lieblichem phantastischen Gartenhaus einen Palast. Beethoven hatte sich früh schon in diesem Palast eingewohnt, und so blieb es ihm nun, um seine eigene Natur auch in eigenen Formen auszudrücken, der kühne trotzige Turmbau, auf den so leicht keiner etwas setzen soll, ohne den Hals zu brechen.607
Auch die Leipziger Musikkultur pflegte früh die Trias Haydn, Mozart, Beethoven, und zwar sowohl im Konzertrepertoire des Gewandhauses608 als auch – dieses begleitend, kommentierend und medial unterstützend – in der in Leipzig erscheinenden, von Rochlitz herausgegebenen Allgemeinen musikalischen Zeitung, in der immer wieder die Kompositionen Haydns, Mozarts und Beethovens als vorbildhaft erwähnt wurden (»Das wöchentliche Konzert im Gewandhaus gab folgende der Auszeichnung werthe Instrumentalmusik. Ausser den Wiederholungen vorzüglicher Haydnscher, Mozartscher und
605 August [Anonym] 1810, Sp. 365. 606 Stendhal 1814. 607 Erster Wiederabdruck in der Allgemeinen musikalischen Zeitung Nr. 19 (7. Februar 1810), Sp. 273; Wiederabdruck in Gerbers Neuem historisch-biographischen Lexikon der Tonkünstler, Bd. 1, Artikel »Beethoven«, Sp. 316. Hinrichsen irrt, wenn er das Zitat Gerber zuschreibt und damit auf 1812/1814 datiert (vgl. Hinrichsen 2009, S. 579). 608 Vgl. dazu Gaiser 2006, S. 61ff.
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Beethovenscher Sinfonieen […] hörten wir folgende neue […]«609), in der aber immer wieder auch von den drei Komponisten in emphatischer Weise die Rede war: Man kann es wohl […] ein Wagstück nennen, jetzt mit einer Symphonie hervorzutreten, nachdem die drey Heroen dieser Musikgattung, Joseph Haydn, Mozart und Beethoven, nicht nur so vortreffliche Werke dieser Gattung geliefert haben, die […] nun als vollendete Muster feststehen; sondern auch, da jeder dieser grossen Geister […] eine ihm ganz eigenthümliche […] Richtung genommen hat, diese drey verschiedenen Richtungen aber die Kreislinie, wohin sich der Geist in dieser Musikgattung überhaupt richten kann, so zu erfüllen scheinen.610
Auch in E. T. A. Hoffmanns Rezension über Beethovens Fünfte Symphonie, erstmals 1810 in der Allgemeinen musikalischen Zeitung gedruckt, paradieren die drei Namen im emphatischen Dreiklang: »Mozart und Haydn, die Schöpfer der jetzigen Instrumental-Musik, zeigten uns zuerst die Kunst in ihrer vollen Glorie; wer sie da mit voller Liebe anschaute und eindrang in ihr innigstes Wesen, ist – Beethoven!«611 Durch Hoffmann inspiriert gelangte 609 Allgemeine musikalische Zeitung Nr. 30, 24. April 1805, Sp. 477f. 610 Allgemeine musikalische Zeitung Nr. 11, 14. März 1827, Sp. 177. 611 Im weiteren Verlauf des Textes werden die Namen deutlich teleologisch aufeinander bezogen: »Die Instrumentalkompositionen aller drei Meister athmen einen gleichen romantischen Geist, welches in dem gleichen innigen Ergreifen des eigenthümlichen Wesens der Kunst liegt; der Charakter ihrer Kompositionen unterscheidet sich jedoch merklich. – Der Ausdruck eines kindlichen heitern Gemüths herrscht in Haydn’s Kompositionen. Seine Sinfonien führen uns in unabsehbare grüne Haine, in ein lustiges buntes Gewühl glücklicher Menschen. Jünglinge und Mädchen schweben in Reihentänzen vorüber; lachende Kinder, hinter Bäumen, hinter Rosenbüschen lauschend, werfen sich neckend mit Blumen. Ein Leben voll Liebe, voll Seligkeit, wie vor der Sünde, in ewiger Jugend; kein Leiden, kein Schmerz, nur ein süßes wehmüthiges Verlangen nach der geliebten Gestalt, die in der Ferne im Glanz des Abendrothes daher schwebt, nicht näher kommt, nicht verschwindet, und solange sie da ist, wird es nicht Nacht, denn sie selbst ist das Abendroth, von dem Berg und Hain erglühen. – In die Tiefen des Geisterreichs führt uns Mozart. Furcht umfängt uns, aber ohne Marter ist sie mehr Ahnung des Unendlichen. Liebe und Wehmuth tönen in holden Geisterstimmen; die Nacht geht auf in hellem Purpurschimmer, und in unaussprechlicher Sehnsucht ziehen wir nach den Gestalten, die freundlich uns in ihre Reihen winkend, in ewigem Sphärentanze durch die Wolken fliegen. […] So öffnet uns auch Beethovens Instrumental-Musik das Reich des Ungeheuern und Unermeßlichen. Glühende Strahlen schießen durch dieses Reiches tiefe Nacht, und wir werden Riesenschatten gewahr, die auf- und abwogen, enger und enger uns einschließen und uns vernichten, aber nicht den Schmerz der unendlichen Sehnsucht, in welcher jede Lust, die schnell in jauchzenden Tönen emporgestiegen, hinsinkt und untergeht, und nur in diesem Schmerz, der Liebe, Hoffnung, Freude in sich verzehrend, aber nicht zerstörend, unsere Brust mit einem vollstimmigen Zusammenklange aller Leidenschaften zersprengen will, leben
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der Dreiklang dieser Namen auch nach Russland, wo etwa Wladimir Odojewski die drei Komponisten in seiner Erzählung Beethovens letztes Quartett von 1831 emphatisch inszenierte.612 Georg Christoph Grosheim ließ im selben Jahr sein Chronologisches Verzeichnis vorzüglicher Beförderer und Meister der Tonkunst mit dem Hinweis enden, dass »mit dem Ende des 18. Jahrhunderts […] die Tonkunst, ich meine die große, wahrhafte, ausruhen zu wollen [scheint], in Haydn und Mozart die beiden Hauptpfeiler einer einstweiligen Grenzpforte zu erblicken, zu welcher Beethoven das, sie verbindende, Thor von Erz geliefert«.613 Und in Amadeus (eigentlich: Johann Gottlieb) Wendts Formulierung von 1836 (Über den gegenwärtigen Zustand der Musik besonders in Deutschland und wie er geworden. Eine kritisch beurtheilende Schilderung) schließlich fand die Trias ihre gültige Formulierung: »Es ist aber unmöglich von der musikalischen Gegenwart zu sprechen, ohne auf die sogenannte classische Periode und die Coryphaen zurückzugehen durch welche sie vorbereitet worden ist. Hier leuchtet uns das Kleeblatt: Haydn, Mozart, Beethoven entgegen.«614 Angesichts des allgemeinen biographischen Aufschwungs um und nach 1800 stand außer Frage, dass dieses »Kleeblatt« auch biographisch erschlossen werden sollte. Mozart war, wie beschrieben, um diese Zeit bereits musikbiographisch kanonisiert; über Haydn erschienen kurz nach seinem Tod innerhalb kürzester Zeit mehrere biographische Texte: die Biographischen Notizen von Georg August Griesinger zunächst 1809 (wiederum in der Allgemeinen musikalischen Zeitung), dann 1810 als Buch, im gleichen Jahr wie die Biographischen Nachrichten von Albert Christoph Dies und dem Buch des bereits als Mozart-Biograph in Erscheinung getretenen Ignaz Ferdinand Arnold (Wolfgang Amadeus Mozart und Joseph Haydn. Versuch einer Parallele), gefolgt von einer italienischen (Giuseppe Carpani, 1812) und einer französischen Biographie (Stendhal, 1814).615 Und Beethoven übertrug noch vor seinem Tod das Recht, eine Biographie über ihn zu verfassen, an seinen Vertrauten, Sekretär und Kopisten Karl Holz (s. Tafel 6).616 Im August 1826 wurde ein entsprechen-
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wir fort und sind entzückte Geisterseher!« Allgemeine musikalische Zeitung Nr. 40, 4. Juli 1810, Sp. 630–642, hier Sp. 632f. Städtke 1993, S. 305 et passim, vgl. dazu auch Cheauré 1988. Grosheim 1831, S. 2. Hier im Vorwort ergänzt Grosheim zusätzlich als »Spitze« Carl Maria von Weber, im Beethoven-Artikel ist dann aber von der »heilige[n] Trias« die Rede (S. 123). Wendt 1836, S. 3. Griesinger 1810, Dies 1810, Anonym [Arnold] 1810, Carpani 1812, Stendhal 1814, wobei Stendhals Haydn-Biographie sich vor allem auf Carpani bezieht. Karl Holz war ab 1824 zweiter Geiger im Schuppanzigh-Quartett und freundete sich in der Folge mit Beethoven an, übernahm für ihn auch alltägliche Dienste und arbeitete
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der Vertrag unterzeichnet, in dem Beethoven bescheinigt, dass er Holz »zur dereinstigen Herausgabe meiner Biographie für berufen« hält und ihm sein volles Vertrauen ausspricht, dass Holz »das, was ich ihm zu diesem Zwecke mitgetheilt habe, nicht entstellt der Nachwelt überliefern wird«.617 Sprunghaft begann dann gleich nach Beethovens Tod die Reihe der Lebensbeschreibungen, nicht nur in Form von Nachrufen, sondern auch monographisch. In Wien kursierte kurz nach Beethovens Tod bereits die Pränumeration auf eine (nicht realisierte) Biographie von Anton Gräffer (Mitarbeiter des Artaria-Verlages), in Prag erschien 1828 die erste Beethoven-Biographie von Johann Aloys Schlosser.618 Und Anton Schindler berichtete in einem Brief an Franz Gerhard Wegeler vom Juli 1827, dass er mit Beethoven noch vor seinem Tod über den Plan einer Biographie gesprochen habe.619 Wegeler selbst veröffentlichte 1838 die Biographischen Notizen, 1845 den Nachtrag zu den biographischen Notizen über Ludwig van Beethoven,620 und Schindlers Beethoven-Biographie kam 1840 erstmals heraus.621 Dass neben Wegelers Beitrag zum fünften Todestag Beethovens auch die Biographischen Notizen von Ignaz von Seyfried erschienen, sind frühe Beispiele dafür, dass die Praxis der Jubiläumsfeiern das Medium der Biographie nutzte, Personen im kulturellen Gedächtnis zu verankern. Noch einmal ist auf Forkels Bach-Biographie von 1802 unter den Prämissen der Kanonisierungsprozesse zurückzukommen, denn an diesem Beispiel wird besonders gut greifbar, in welchen publizistisch-editorischen und musikhistoriographischen Kontexten die Musikerbiographie eingebunden war, ein Modell, das zumindest bis zur Jahrhundertmitte Bestand haben sollte, und
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als unbezahlter Sekretär für ihn. U. a. kopierte er (zusammen mit dem Cellisten Joseph Linke) im August 1825 Beethovens Streichquartett op. 132. Im August 1826 übertrug Beethoven ihm die Rechte, eine Biographie über ihn zu verfassen, was Holz nie in die Tat umsetzte (vgl. Vertrag im Beethoven-Haus Bonn, Sammlung H. C. Bodmer, HCB BBr 23, HCB ZBr 6). Vgl. ebda. Holz übertrug die Rechte später an Ferdinand Simon Gassner, eine auf diesem Wege authorisierte Biographie entstand allerdings nie. Vgl. zu beiden die geringschätzigen Kommentare von Schindler in einem Brief an Wegeler, abgedruckt in Grigat 2008, S. 43f. Grigat 2008. Grigat bezeichnet die beiden Bände als den »ersten vollendeten Versuch einer authentischen Beethoven-Biographie.« Ebda., S. 32. Beethoven beschäftigte sich bereits auch zu Lebzeiten mit der Idee einer Werk-(Gesamt-)Ausgabe. Diese scheiterte ebenfalls, in diesem Fall aufgrund der unübersichtlichen Rechtslage. Dazu Oppermann 2001, S. 100. Die erste Collection complète des oeuvres erschien ab etwa 1830 bei Franz Philipp Dunst in Frankfurt a. M.
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das sich – kaum zufällig – an die Konzeption literarischer Klassiker-Ausgaben anlehnte.622 Nachdem Johann Nikolaus Forkel 1801 den zweiten Band seiner Allgemeinen Geschichte der Musik veröffentlich hatte,623 erschien bereits im Jahr darauf seine Bach-Biographie. In deren Vorrede erläutert Forkel detailgenau die Entstehungsgeschichte, die gleichermaßen auch als Begründung für jenen Schritt zu lesen ist, dass nunmehr ein separater Band über einen Musiker erschienen war, der »Leben, Kunst und Kunstwerke« ausführlich darstellt. Schon lange habe er die Absicht gehabt, über Bachs Leben und Werk »dem Publicum einige Nachrichten und Gedanken mitzutheilen«,624 da die bislang erschienenen Darstellungen »den Verehrern jenes großen Mannes schwerlich Genüge leisten« können. Zunächst habe der Plan bestanden, so Forkel weiter, das Bach-Konvolut am Schluss der Allgemeinen Geschichte der Musik zu publizieren, doch die Tatsache, dass der Verlag Hoffmeister und Kühnel eine »kritisch-correcte Ausgabe der Seb. Bachischen Werke« plane (Oeuvres complettes de Jean Sébastien Bach, 1801–1804),625 veranlasste Forkel, die Bach-Biographie separat herauszugeben: »Würde es«, so Forkel an Hoffmeister & Kühnel am 15. Februar 1802, »nun recht sauber gedruckt und etwa gar mit einem schön gestochenen Bildnisse des S. Bach geziert, so würde es sich nicht nur gut verkaufen lassen, sondern auch nebenher für das größere Unternehmen gewiß seine gute Dienste tun.«626 Der Verlag hatte übrigens zuvor eine Ausgabe der Klavierwerke von Haydn und Mozart herausgegeben und plante nun mit der entsprechenden Bach-Ausgabe, die drei Komponisten zu einem »Dreygestirn« der »Klavierklassiker«627 zusammenzufügen. Mit Forkels Entscheidung für die Ausgliederung der Bach-Biographie aus der Allgemeinen Geschichte der Musik aber liegt eine Dreiteilung vor, die von großer Wirkungsmacht auf die Auffassung und Entwicklung musikhistorischen Schreibens überhaupt war: die Dreiteilung in Musikgeschichte, Biographie und Werk(edition). Aber nicht die Biographie, sondern die Edition von Bachs Werken, so Forkel, sei dazu angetan, die Musik »der Gefahr zu entreiß[en], durch fehlerhafte Abschriften entstellt zu werden, und so allmählig der Vergessenheit und dem Untergange entgegen zu gehen«, während die 622 Vgl. ebda., S. 80. 623 Zu deren historiographischem Konzept innerhalb der zeitgenössischen historiographischen Reflexionen vgl. Heldt 2008. 624 Dieses und die folgenden Zitate aus Forkel 1802/1968, S. 7–13. 625 Dazu Oppermann 2001, S. 70–82. Die Edition richtete sich an den größer werdenden Klavier-Markt, den der Verlag mit entsprechend abwechslungsreicher Heftgestaltung zu bedienen versuchte (vgl. ebda., S. 73). 626 Zit. nach ebda., S. 79. 627 Ebda., S. 74.
Konzepte um 1800
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Biographie wiederum die Aufgabe habe, das Lesepublikum an seine Pflicht zu erinnern, »ein solches patriotisches Unternehmen«, d. h. die Bach-Werk-Ausgabe, zu unterstützen. Forkels Bach-Biographie sei denn auch der Versuch, »die erhabene Kunst dieses Ersten aller deutschen und ausländischen Künstler recht nach Würden zu beschreiben!« Hiermit wird unmissverständlich klar: Forkels Bach-Biographie war zum einen als »publizistische Unterstützung der Bach-Ausgabe«628 und zum anderen als Schlusspunkt der Allgemeinen Geschichte der Musik, die er nach Guido Heldts überzeugender These »im Dienste der Professionalisierung der Musikgeschichtsschreibung und damit auch des Musikgeschichtsschreibers«629 verfasst hatte. Es wäre gleichwohl vorschnell, Forkel aufgrund seiner Bach-Biographie als Initiator einer neuen Form der Musiker-Biographik auszurufen. Denn fast zeitgleich erschien die Mozart-Biographie von Ignaz Ferdinand Arnold (1803), der eine ähnliche Intention zugrunde liegt, und die auch jener ähnelt, mit der Der Biograph angetreten war: Biographie in direkter Verbindung zur Historie zu verstehen. Forkel ist damit inmitten einer Bewegung zu verorten, die über die Verankerung der Biographik in der Geschichtsschreibung neu nachdenkt – wie diese etwa auch in Daniel Jenischs Theorie der Lebens-Beschreibung von 1803 zum Ausdruck kommt – und die zugleich für die Betrachtung von Musikern der Vergangenheit neue Modelle zu entwerfen beginnt, die mit der sich neu formierenden Wertschätzung der Musik der Vergangenheit einhergeht. Wie Forkel trennt auch Arnold in seinem 1803 anonym erschienenen Werk Mozart’s Geist Lebensbeschreibung und Werkbetrachtungen. Zwischen diese beiden Teile fügt Arnold, gleichsam als Scharnier fungierend, das Kapitel »Ueber Künstlertalent oder Genie. Auf vorhergehende Biografie angewendet« ein, gefolgt von allgemeinen Betrachtungen zu kompositionstechnischen Details (vgl. Abb. 4). Darüber hinaus ist durch die Umfänge eine deutliche Schwerpunktsetzung zu erkennen: Während Arnold Mozarts Lebenslauf in rund 100 Seiten beschreibt, gibt er dem Talent-Genie-Kapitel mit einem Umfang von knapp 40 Seiten ein deutliches Gewicht. Der Schwerpunkt des Buches aber liegt auf den kompositionstechnischen und ästhetischen Fragestellungen (94 Seiten) und – mit über 200 Seiten – vor allem den einzelnen Werkbetrachtungen.
628 Ebda., S. 79. 629 Heldt 2008, S. 289.
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Biographische Konzepte in Musik und Musikgeschichtsschreibung
Kurze Biographie Mozarts
S. 1–106
Leopold Mozart Kindheitsanekdoten/Berichte von Zeitgenossen Beginn der Reisen (»Wunderkind-Zeit«) Charakter des Kindes W. A. Mozart weitere Anekdoten und Charaktermerkmale weitere Reisen »Reife-Zeit« Reise (Paris) Übersiedlung nach Wien Mozart als Klaviervirtuose Einfluss von Gluck und Haydn Prag Mozarts letztes Lebensjahr und Tod Nachruhm Aussehen Charakter »moralischer Karakter« Urteil von Zeitgenossen Ehe Billard-Spiel Ueber Künstlertalent oder Genie. Auf vorhergehende Biografie angewendet
S. 107–143
Darstellung seiner Art zu setzen im Allgemeinen.
S. 144–169
Karakteristik seiner Melodien
S. 170–184
Akkompagnement
S. 185–199
Singparthien
S. 200–207
Oekonomie der Instrumente
S. 208–231
Aesthetische Entwickelung der Schönheiten seiner einzelnen Werke
S. 232–238
Dramatische Werke
S. 239–245
Die Zauberflöte
S. 246–283
Don Giovanni
S. 284–328
Idomeneo Re di Creta. Ernsthafte Oper in drei Akten
S. 329–336
Le nozze di Figaro. Opera buffa in 4 Akten
S. 337–354
La Clemenza di Tito. Opera seria in zwei Akten
S. 355–364
Die Entführung aus dem Serail. Ein deutsches Singspiel in 3 Akten
S. 366–388
Cosi fan tutte. Opera buffa in 2 Akten
S. 389–392
La belle finta giardiniera. Opera buffa in 2 Akten
S. 393–394
Mithridate. Opera seria
S. 395
Lucio Sulla. Opera seria
S. 396–397
La finta semplice. Opera buffa
S. 398
Der Schauspieldirektor. Komisches Singspiel in einem Akte
S. 399–413
Kirchenkompositionen
S. 414–415
Das Requiem
S. 416–421
Konzepte um 1800
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Die solenne Messe aus C dur
S. 422–426
Serenaten, einzelne Szenen und Gelegenheitssingstücke mit voller Orchesterbegleitung
S. 427–429
Deutsche Lieder am Klavier zu singen
S. 430–440
Die Klavierkomposizionen
S. 441–443
Konzerte für verschiedene Instrumente
S. 444–445
Simfonien [sic]
S. 446–447
Quintetten, Quartetten, Trios und Duetten
S. 448–450
Harmonien
S. 451
Tänze
S. 452
Abb. 4: Ignaz Ferdinand Arnold: Mozart’s Geist, Aufbau630
Mozart’s Geist wurde, wie Arnold selbst bemerkte, »von der musikalischen Welt und dem gebildeten Publikum mit Beifall und liebender Nachsicht aufgenommen, und in der allgemeinen musikalischen Zeitung einer äußerst humanen und nachsichtsvollen Kritik gewürdigt«.631 Auch Forkel konnte für seine Idee, ausführlichen Werkbetrachtungen kurze biographische Kapitel beizugeben, mit Zustimmung rechnen. Und 1805 erschien in einer Rezension in der Allgemeinen musikalischen Zeitung der Appell, das nämliche Modell in Biographien über Komponisten zu verwenden; der Rezensent bemerkte kritisch, dass August Gottlieb Meißners Biographie über Johann Gottlieb Naumann jene Balance aus Werkbetrachtung und Lebensbeschreibung vermissen ließe: Leugnen wollen wir gleich im voraus nicht, dass es uns Leid thut, dass Hr. M. unsre Bitte, die Bildungsgeschichte, Charakteristik und genauere Entwickelung der Verdienste N. des Künstlers, so wie die strengere Analyse und Würdigung seiner Werke nicht zu übergehen, sondern sich, erforderlichen Falls, lieber mit dazu fähigen Tonkünstlern und Kunstkennern in Verbindung zu setzen – nicht erfüllet hat, sondern seinem Plane, mehr das Historische und eigentlich Menschliche aufzufassen und vollständig und anziehend darzustellen, auch in diesem zweyten (und letzten) Theile ganz getreu geblieben ist. Doch enthält dieser zweytte Theil wenigstens mehr Data und beyläufig auch treffendere Winke zu einer solchen lehrreichen und angenehmen Darstellung, wofür wir, und wahrscheinlich alle Leser, die das öffentliche Wirken N.s näher angeht, als das private, dem Verf. Dank sagen.632
Noch 1863 hielt Friedrich Chrysander, selbst Biograph, Musikhistoriker und ‑editor, just dieses Modell für besonders geeignet, die Musik der Vergangen630 Kursiviert sind die tatsächlichen Kapitelüberschriften. 631 [Anonym] [Arnold] 1810, S. 3f. Gemeint ist die anonyme ausführliche Rezension in: Allgemeine musikalische Zeitung Nr. 42, 13. Juli 1803, Sp. 689–697. 632 Allgemeine musikalische Zeitung Nr. 23, 6. März 1805, Sp. 357f.
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Biographische Konzepte in Musik und Musikgeschichtsschreibung
heit im kulturellen Gedächtnis zu bewahren, und betonte im Vorwort des ersten Bandes der Jahrbücher für musikalische Wissenschaft: »das stete Augenmerk und ein Hauptzweck der veröffentlichten Lebensbeschreibungen halb oder ganz vergessener Tonkünstler [soll] sein, Verlangen nach ihren Werken zu erregen und dadurch Ausgaben derselben zu ermöglichen; auf solche Weise würden Wort und Ton vereinigt Kunstbildung und geschichtliche Erkenntniss fördern.«633
633 Chrysander 1863, S. 16.
4. Ein »neues Rezept« versuchen. Literarisch-biographische Konzepte
»Composers of the late eighteenth century, such as Mozart and Haydn, marked a transitionary phase. Weber and Beethoven requested much more explicitly than their immediate predecessors that their social status reflect the romantic descriptions of their new autonomous art.«634 Lydia Goehr beschreibt hier unter dem Stichwort des »Beethoven Paradigm« jene Schwelle, die so – oder vergleichbar – immer wieder zwischen einer »klassischen« und einer »romantischen« Vorstellung vom Komponisten gezogen wird. Mit einigem Recht kann man in der Tat einflussreiche Veränderungen zwischen 1791 (Mozarts Todesjahr) und den ersten Dekaden des 19. Jahrhunderts benennen. Vor allem die Veränderungen im sozialen Status des Musikers, respektive des Komponisten, sind hier bedeutsam. Es ist gleichwohl noch einmal auf die Beobachtung zurückzukommen, dass in dieser Phase durchaus eine höchst heterogene, keineswegs kontinuierliche Gemengelage anzutreffen ist. Und gerade die so stark an diesen Aushandlungsprozessen beteiligte Biographik gibt immer wieder Hinweise darauf, dass Veränderungen stattfanden und gravierenden Einfluss auf das Bild des Komponisten nahmen, dennoch aber von einer derart trennscharfen Linie zwischen Mozart und Beethoven, zwischen einem »klassischen« und einem »romantischen« Künstler nicht sinnvollerweise die Rede sein kann. Um diesen Gedanken auszuführen, begebe ich mich in zweierlei Hinsicht auf entfernteres Terrain als bisher: auf das der Literatur und dann auch explizit außerhalb des deutschsprachigen Raumes. Die Gründe hierfür liegen auf der Hand: Die Aushandlung des »neuen« Komponisten-Bildes geht auffallend intensiv auch in der Literatur vonstatten. Dabei spielt der um sein Komponist-Sein ringende, dichtende Kapellmeister E. T. A. Hoffmann eine zentrale Rolle – freilich nicht so sehr durch seine eigene (ihm nicht gelingende) Selbstverortung, sondern durch seine Schriften, die von Komponisten der nachfolgenden Generation auf diesen Punkt hin gelesen und in Selbstbilder transformiert werden. Dass sein fiktives Komponisten-Bild (vor allem die Kreisler-Figur), das die Komponisten der nachfolgenden Generationen so stark beeinflussen wird (Robert Schumann, Johannes Brahms, Joseph Joachim u. v. a.), aber deutliche Kennzeichen der musikgeschichtlich-biographischen Bilder um 1800 trägt, wird über der Überzeugung, mit Kapellmeister Kreisler eine zutiefst romantische Künstlerfigur 634 Goehr 2007, S. 207.
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Biographische Konzepte in Musik und Musikgeschichtsschreibung
vor Augen zu haben, allzu rasch vergessen. Gerade aber die literarische Aneignung jener Komponisten-Bilder (hier vor allem aus der Mozart-Biographik) legt Zeugnis ab von der Komplexität der Situation der Komponisten-Bilder der ersten Dekaden des 19. Jahrhunderts. Zum anderen wird mit dem Schritt in die nicht-deutschsprachige, russische Literatur der Versuch unternommen zu zeigen, wie wirkmächtig literarische Komponisten-Bilder wiederum auf musikgeschichtliche Bilder rückwirken, wie durchlässig gewissermaßen hier die Membrane erinnerungskultureller Prozesse sind, sofern nur – wie etwa bei Odojewskis Beethoven-Novelle oder Puschkins Mozart und Salieri – die Plausibilität der biographischen Bilder überzeugend genug ist. In jedem Fall prägen sie die Vorstellung vom Komponisten, mit denen sich nachfolgende Biographien immer wieder auseinanderzusetzen haben – gleich ob in Anoder Ablehnung.
E. T. A. Hoffmann Die Person E. T. A. Hoffmanns selbst wäre unter musikbiographischen Aspekten von großem Interesse, doch dies soll im Folgenden im Hintergrund bleiben, um die literarische Auseinandersetzung Hoffmanns mit der Gattung Biographie zu fokussieren. Denn hieraus resultiert jenes für die Romantik so wirkmächtige Künstler-Bild. Mit dem Roman Lebens-Ansichten des Katers Murr nebst fragmentarischer Biographie des Kapellmeisters Johannes Kreisler in zufälligen Makulaturblättern, der 1819 und 1821 in zwei Bänden erschien, unternimmt Hoffmann die Gegenüberstellung zweier Sphären, die durch den als »homme de lettres« gekennzeichneten Kater Murr einerseits und den Kapellmeister Kreisler andererseits gekennzeichnet sind. Ersterer tritt selbstbewusst als aktiv Handelnder in Erscheinung und präsentiert dem Lesepublikum seine vollständige, chronologisch geordnete Autobiographie: »Mit der Sicherheit und Ruhe, die dem wahren Genie angeboren, übergebe ich der Welt meine Biographie, damit sie lerne, wie man sich zum großen Kater bildet, meine Vortrefflichkeit im ganzen Umfange erkenne, mich liebe, schätze, ehre, bewundere und ein wenig anbete. […] Murr. (Homme de lettres très renommé.)«635 Diese Vorstellung knüpft an musikbiographische Modelle des 18. Jahrhunderts an, zudem auch an die Gelehrten-Biographie mit ihren autobiographischen Anteilen.636 Sie erhebt außerdem einen pä635 Hoffmann 1993, S. 16. 636 »Die enge Verknüpfung von Autobiographie und Biographie einer fremden Person« bezeichnet Scheuer noch im Zusammenhang mit Goethe als »ein häufig zu beobachtendes Phänomen« (Scheuer 1979a, S. 43).
Literarisch-biographische Konzepte
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dagogischen Anspruch und entspricht der Vorstellung von charakterlicher Integrität der dargestellten Person und deren umfassendem Bildungshorizont. So geschlossen Hoffmann dieses Selbstkonzept vorstellt, konterkariert er es doch von Anbeginn an: Indem er Murr als Tier auftreten lässt, wobei die »Satire […] weniger der Tierfigur, dem gravitätisch-eitlen, aber durchaus sympathischen Kater« gilt, sondern sie sich »vielmehr an den aus der Darstellung erwachsenden literar- und gesellschaftskritischen Momenten«637 ergibt. So wird auch das oben zitierte Vorwort sogleich von einem Einschub unterbrochen, der den für das Vorwort einer (Musiker-)Biographie so typischen Tonfall abrupt unterbricht mit dem Ausruf: »Das ist zu arg!«638 – ein Ausruf, mit dem sich der übermäßig gebärdende Johannes Kreisler zu erkennen gibt: »›Das ist zu arg – das ist zu arg‹, rief Kreisler, indem er eine rasende Lache aufschlug, daß die Wände dröhnten. ›Lache nicht so konvulsivisch‹, sprach Meister Abraham […].«639 Dieser unvermittelte Wechsel des Tonfalls verweist auf die »andere« Textebene, die des Fragmentarisch-Skizzenhaften. Diese ist die Sphäre des Kapellmeisters Kreisler, dessen fiktive Biographie nicht chronologisch und nur in unzusammenhängenden Bruchstücken übermittelt wird. Wenngleich die beiden Ebenen des Katers und des Kapellmeisters durch inhaltliche Bezüge reichlich miteinander verknüpft sind, stehen sie doch als Gegensätze einander gegenüber, wobei allein die biographische Haltung zu beiden davon ein deutliches Bild zeichnet:640 Kater Murr Kapellmeister Kreisler »homme de lettres« romantischer Künstler
vollständige Autobiographie fragmentarische Biographie vorbildlicher Charakter übertriebener Charakter »merkwürdiger«, »lehrreicher«640 Lebensweg wunderlicher Lebensweg
chronologische (folgerichtige) Darstellung keine kohärente Darstellung Anlehnung an Bildungsroman Bildungsgedanke verunmöglicht, da »Erziehungsmaßnahmen« scheitern karriereorientiert suchend, sprunghaft
637 638 639 640
Jens/Radler (Hg.): Kindlers neues Literatur Lexikon, Bd. 7, S. 953. Hoffmann 1993, S. 17. Ebda., S. 30. Die Begriffe beziehen sich auf die Einleitungspassage von Kater Murrs Autobiographie, in der der Kater seine Lebensbeschreibung als »höchst merkwürdig und lehrreich« bezeichnet, wobei ersterer Begriff im aufklärerischen Sinne zu verstehen ist: als der Aufmerksamkeit, der Bemerkung würdig, vgl. dazu auch Schlichtegrolls Formulierung: »[…] Phänomene, die man anstaunt, und deren treue Abbildungen der Forscher der Menschennatur als unschätzbare Kabinetsstücke ansieht, zu denen er oft zurückkehrt, um an ihnen den unbegrenzten Umfang des menschlichen Geistes zu bewundern.«
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Biographische Konzepte in Musik und Musikgeschichtsschreibung Anlehnung an gehobene Sprache ironische Sprachhaltung zielgerichtete Erzählhaltung »kreisende« Erzählung
»Biedermannswelt« »Extremforderungen des romantischen Künstlers«641
Diese gegensätzlichen Welten stehen sich bei aller antagonistischen Anlage nicht unversöhnlich gegenüber, sondern in ständiger Bezugnahme, gegenseitigem Irritationsvermögen und vor allem als gegenseitige humoristisch-ironische Brechung. Die eine Seite wird somit ohne die andere nicht verständlich. Eine ähnliche biographische Konstellation war von Hoffmann im Übrigen bereits in den Kreisleriana gestaltet worden. In der 1814/1815 erschienenen Sammlung Fantasiestücke in Callots Manier widmet sich Hoffmann mehrfach dem Thema des literarischen Komponistenporträts – wobei sowohl reale als auch fiktive Personen zur Darstellung kommen – und kombiniert diese mit musikkritischen und ‑literarischen Schriften (»Beethovens Instrumental-Musik«, »Don Juan« u. a.). 641 Unter biographischen Gesichtspunkten ist dabei besonders interessant, wie Hoffmann die fiktive Figur des Johannes Kreislers einführt: Wo ist er her? – Niemand weiß es! – Wer waren seine Eltern? – Es ist unbekannt! – Wessen Schüler ist er? – Eines guten Meisters, denn er spielt vortrefflich, und da er Verstand und Bildung hat, kann man ihn wohl dulden, ja ihm sogar den Unterricht der Musik verstatten. Und er ist wirklich und wahrhaftig Kapellmeister gewesen, setzen die diplomatischen Personen hinzu, denen er einmal in guter Laune eine von der Direktion des ....r Hoftheaters ausgestellte Urkunde vorwies […].642
Mit diesem Entré lässt Hoffmann die »Lebensbeschreibung« des Kapellmeisters Kreisler beginnen und stellt ihn damit außerhalb der aufklärerischen Idee von Bildung und Künstlertum. Zum Vergleich sei nochmals an Leopold Mozarts Konzept erinnert: Sein Versuch, das »Wunder« seiner beiden hochbegabten Kinder rational verstehen und erklären zu können, fußte zunächst auf der akribischen Dokumentation der einzelnen Entwicklungsschritte. Auf diese Weise ließ sich der Gedanke der individuellen Entfaltung und der »Steigerung des jeweils Erreichten«643 abbilden, der zu den zentralen Ideen der Aufklärung gehörte. Da das Menschenbild der Aufklärung von der Entwicklungsfähigkeit des Einzelnen überzeugt war – hinter Immanuel Kants Forderung nach dem »Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten
641 Jens/Radler (Hg.): Kindlers neues Literatur Lexikon, Bd. 7, S. 953. 642 Hoffmann 1993, S. 32. 643 Vgl. Weiß 1997, S. 93.
Literarisch-biographische Konzepte
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Unmündigkeit«644 stand der Appell, dass das Individuum sich beständig weiterbilden solle –, galt es, eine Methodik zu entwickeln, die auf stetiges Fortschreiten angelegt, und eine Systematik, die nicht auf Begrenzung, sondern auf enzyklopädische Weitung des Bildungsbegriffes bedacht war. Vor allem galt es aber auch, wie Vater Mozart dies in der Darstellung der Entwicklung seines Sohnes plante, die individuelle Entwicklung sowie die zugrundeliegende pädagogische Methodik und Systematik der Bildung Schritt für Schritt zu dokumentieren, um auf diese Weise als Vorbild für andere zu dienen. Dieses Konzept hebt Hoffmann im Zusammenhang mit seiner KreislerFigur aus den Angeln, indem er alle für diesen Ansatz notwendigen Informationen schlicht verweigert: Weder die Herkunft noch die Ausbildung Johannes Kreislers seien bekannt, nähere Hintergründe zu seinem Lehrer verschwiegen. Auch der Hinweis auf seine musikalische Position wird verunklart, indem sie zweifelhaft und nur durch Hören-Sagen verifizierbar scheint. Und schließlich verschwindet Kreisler, woher er gekommen war, in die Unbestimmtheit: »Auf einmal war er, man wußte nicht wie und warum, verschwunden.« Keinerlei Verortung wird gegeben, stattdessen eine Negation von alldem, was die Gelehrten-Biographie des 18. Jahrhunderts ausgemacht hatte. Gerade auch im Vergleich zur autobiographischen Selbstvergewisserung des Katers Murr aus dessen Lebensansichten wird die starke Irritation des Unbestimmten bei Kreisler deutlich: »Es ist nehmlich wohl höchst merkwürdig und lehrreich, wenn ein großer Geist in einer Autobiographie über alles, was sich mit ihm in seiner Jugend begab, sollte es auch noch so unbedeutend scheinen, recht umständlich ausläßt. Kann aber auch wohl einem hohen Genius jemals Unbedeutendes begegnen?«645 War eine integre Persönlichkeit für einen Musikgelehrten bzw. für einen »Berühmte[n] Capellmeister, von dem die Nachwelt auch noch in Büchern lieset«, unabdingbar, so wird auch diese von Hoffmann für Kapellmeister Kreisler von vornherein ausgeschlossen. Was in den ersten Zeilen über das Verhalten des Kapellmeisters im professionellen Kontext geschrieben wird, entspricht nicht der Professionalität, die man sich für einen Kapellmeister vorstellte: Kreisler sei bloß deshalb seines Amtes entlassen […] [worden], weil er standhaft verweigert hatte, eine Oper, die der Hofpoet gedichtet, in Musik zu setzen; auch mehrmals an der öffentlichen Wirtstafel von dem Primo Huomo verächtlich gesprochen und ein junges Mädchen, die er im Gesange unterrichtet, der Prima Donna in ganz ausschweifenden, wiewohl unverständlichen Redensarten vorzuziehen getrachtet; jedoch solle er den Titel als Fürstlich ....r Kapellmeister beibehalten, ja sogar zurückkehren dürfen, wenn er gewisse Eigenheiten und lächerliche Vorurteile, z. B. 644 Kant 1912–1923, Bd. 8, S. 35. 645 Hoffmann 1993, S. 38.
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Biographische Konzepte in Musik und Musikgeschichtsschreibung
daß die wahre italienische Musik verschwunden sei u. s. w. gänzlich abgelegt, und an die Vortrefflichkeit des Hofpoeten, der allgemein für den zweiten Metastasio anerkannt, willig glaube.646
Wenn damit die biographische Darstellung den Standards musikbiographischen Schreibens des 18. und frühen 19. Jahrhunderts nicht entspricht, und wenn auch der Künstlertypus eher an Scheibes biographie-unwürdiges Personal denken lassen, lohnt doch ein zweiter Blick auf E. T. A. Hoffmanns Konzept. Dazu zunächst ein weiterer Ausschnitt aus Hoffmanns Kreisleriana: Die Freunde behaupteten, die Natur habe bei seiner Organisation ein neues Rezept versucht und der Versuch sei mißlungen, indem seinem überreizbaren Gemüte, seiner bis zur zerstörenden Flamme aufglühenden Phantasie zu wenig Phlegma beigemischt und so das Gleichgewicht zerstört worden, das dem Künstler durchaus nötig sei, um mit der Welt zu leben und ihr Werke zu dichten, wie sie dieselben, selbst im höhern Sinn, eigentlich brauche.647
Hoffmann beschreibt in diesem Ausschnitt den romantischen Künstlertypus par excellence – überreizt, glühende Phantasie, schillernd, ohne Gleichgewicht, im konfliktuösen Dissens mit der Lebenswirklichkeit und der Welt. Zugleich aber kann sich der bekennende Mozart-Verehrer Hoffmann mit diesem Künstlerbild erstaunlich deckungsgenau auf Details aus biographischen Beschreibungen Mozarts stützen, vor allem auf die Mozart-Biographien von Schlichtegroll und Niemetschek:648 649 650 651 »Die Freunde behaupteten,
»Die Quellen zu diesen Nachrichten […] sind […] seine eigene Erfahrung und der Umgang mit Mozarts Familie und Freunden« (Niemetschek)648
die Natur habe bei seiner Organisation ein neues Rezept versucht
»Aber der wunderbare Geist der Töne, der in ihn von dem Schöpfer gelegt ward, schritt alle gewöhnliche Schranken über« (Niemetschek)649 »Es war, als wenn das, was man hier bisher gehört und gekannt hatte, keine Musik gewesen wäre!« (Niemetschek)650
und der Versuch sei mißlungen,
»Sein Vater kannte diese Schwäche, sich selbst zu regiren, sehr wohl in ihm« (Schlichtegroll)651
646 647 648 649 650 651
Ebda., S. 32f. Ebda., S. 33f. Niemetschek 1798/1984, S. 78. Ebda., S. 7. Ebda., S. 23. Schlichtegroll 1793, S. 84 et passim.
Literarisch-biographische Konzepte
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indem seinem überreizbaren Gemüte,
»dieser immer zerstreute, immer tändelnde Mensch« (Schlichtegroll)
seiner bis zur zerstörenden Flamme aufglühenden Phantasie
»die Phantasie […] [hatte] ganz deutlich […] das Übergewicht« (Schlichtegroll)
zu wenig Phlegma beigemischt und so das Gleichgewicht zerstört worden, das dem Künstler durchaus nötig sei, um mit der Welt zu leben und ihr Werke zu dichten, wie sie dieselben, selbst im höhern Sinn, eigentlich brauche.«
»Kein Forscher der menschlichen Natur wird sich aber wundern, wenn ein grosser Künstler, dem man von dieser Seite die allgemeinste Bewunderung zollte, nicht gleich gross in den übrigen Verhältnissen des Lebens erscheint.« (Schlichtegroll) »Er lernte nie sich selbst regiren; für häusliche Ordnung, für gehörigen Gebrauch des Geldes, für Mässigung und vernünftige Wahl im Genuss hatte er keinen Sinn.« (Schlichtegroll) »Immer bedurfte er eines Führers, eines Vormundes, der an seiner Statt die häuslichen Angelegenheiten besorgte, da sein eigner Geist beständig mit einer Menge ganz anderer Vorstellungen beschäfftigt war, und dadurch überhaupt alle Empfänglichkeit für andere ernsthafte Überlegung verlor.« (Schlichtegroll)
Nicht dass damit Schlichtegroll und Niemetschek als Schöpfer eines romantischen Komponisten-Bildes zu bezeichnen wären. Gleichwohl wird das, was ich oben die Durchlässigkeit der Membrane genannt habe, an dieser Stelle greifbar: Hoffmann greift auf biographische Darstellungen Mozarts zurück, die zum einen das »Wunderkind«-Modell mit deutlich aufklärerischem Grundzug (Schlichtegroll) etablierten, zum anderen auf der Basis der Zeitzeugenschaft die Frage der Authentizität in den Vordergrund gerückt hatte. Hoffmann entwickelt aus diesen beiden Biographien seine Vorstellungen eines (fiktiven) romantischen Künstlers. Mozarts Charakter, so wie er von seinen Biographen geschildert wird, kann auf diese Weise zum Urbild für Hoffmanns Komponistentypus werden. Die Übergänge zwischen dem aufklärerischem Idealbild eines Musikers, der Idee einer authentischen Komponistenbiographie und einem romantischen Künstlerbild sind fließend.
Russische Mozart- und Beethoven-Bilder der 1830er Jahre Als Mili Balakirew 1865 die Erste Symphonie seines jungen Schülers Nikolai Rimski-Korsakow zur Uraufführung brachte, stand im gleichen Konzert Mozarts Requiem auf dem Programm.652 Dies ist insofern bemerkenswert, 652 Kharissov 2003, S. 355f.
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Biographische Konzepte in Musik und Musikgeschichtsschreibung
als Balakirew, wie auch der um ihn sich formierende Kreis junger musikinteressierter Russen, nicht eben dafür bekannt ist, sich an westeuropäischer Kunstmusik orientiert zu haben. Das Konzertprogramm ist daher allemal verblüffend und wirft die Frage auf, warum im selben Konzert der von Balakirew für die Bekräftigung einer nationalen Musikkultur so wichtig genommene Symphonieerstling seines Schülers zusammen mit Mozarts Requiem zu Gehör gebracht wurde. Anders gefragt: Wie und vor allem warum gelangt Mozarts Requiem in die russische Musikkultur des Jahre 1865? Trotz der engen diplomatischen Beziehungen zwischen Wien und Petersburg hat Mozart selbst keine Konzertreise nach Russland unternommen. 653 Seine Musik war freilich dort bekannt, 1794 fand die russische Erstaufführung der Zauberflöte in Petersburg statt, darüber hinaus kannte man seine Klaviermusik und Quartette, 1802 wurde die Subskription von Kammermusikwerken angekündigt, seit 1805 das Requiem mehrfach aufgeführt. Wichtiger Motor einer russischen Mozart-Rezeption war dabei Alexander Ulybyschew, ein Förderer von Balakirew und Verfasser der dreibändigen Mozart-Biographie. Ulybyschew stand seinerseits in engem Austausch mit Alexander Puschkin, Wladimir Odojewski und Michail Glinka, einem literarisch-musikalischen Kreis, der sich intensiv mit Mozart und Beethoven auseinandersetzte – nicht nur aus musikalisch-ästhetischen Gründen, sondern da die Gruppe – in deutlicher Anlehnung an E. T. A. Hoffmann – in Mozart und Beethoven den romantischen Künstler par excellence verkörpert sah. Dieses Künstlerbild aber schien gerade für die russische Intelligenz, die sich als Vorreiter einer nationalen Bewegung verstand, besonders attraktiv, lag in dessen Kern doch vor allem das Widerständige, das Freiheitsliebende und das Exzeptionelle.654 In diesem Umfeld nun entstanden mehrere literarische, biographische und kompositorische Repräsentationen dieses widerständigen, dabei vor allem genialischen Künstler-Bildes: das »Doppelportrait« von Mozart und Salieri in Puschkins gleichnamiger »kleinen Tragödie« (1830), die 1897 von Niko653 Noch im Jahr 1791 hatte der russische Botschafter in Wien, Fürst Andreas Rasumowski, nach Petersburg geschrieben, dass er vorhabe, den »ersten Klavierspieler und einen der geschicklichsten Komponisten Deutschlands namens Mozart« nach Petersburg schicken zu wollen, eine Konzertreise, die Mozart nicht antrat (Sorokina 1995, S. 109). 654 Dass hier primär von einem literarischen Komponisten-Bild die Rede ist (dazu auch Cheauré 1988), das mithilfe der Interpretation als »romantischer«, der individuellen wie gesellschaftlichen Freiheitsliebe verpflichteten Künstler als Identifikationsmodell diente, steht keinesfalls im Widerspruch zur Ablehnung einer westeuropäischen Ästhetik, die insbesondere im »Mächtigen Häuflein« gepflegt wurde. Im Gegenteil: Aus dem so konzipierten Komponisten-Bild konnten jene Elemente herausmodelliert werden, die für die Etablierung eines neuen Künstlertypus so wichtig waren: Unabhängigkeit, das Nicht-Verhaftet-Sein in einer schulmäßigen Tradition und das genuin Schöpferische.
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lai Rimski-Korsakow vertont wurde (UA 1898),655 das literarische Bild des späten Beethoven in Odojewskis Erzählung Beethovens letztes Quartett (1830 entstanden, 1831 erstmals veröffentlicht) und die Mozart-Biographie von Alexander Ulybyschew (entstanden 1830–1840, französische Erstausgabe 1843, deutsche Ausgabe 1847). Auffallend ist hierbei die kreative Durchlässigkeit zwischen Wissenschaft656 und Kunst, Literatur und Musik, Biographik und Geschichtsschreibung, so dass hier vor allem jenes Gewebe interessant zu sein scheint, das sich zwischen den genannten Bereichen aufzeigen lässt. Anders gesagt können die genannten Beispiele auch dafür ein interessantes Anschauungsobjekt darstellen, dass biographische Konzepte ihre Überzeugungskraft – und damit letztlich auch ihre Beharrungskraft als kulturelles Stereotyp – auch dadurch erlangen können, dass sie sowohl für wissenschaftliche wie für künstlerische Repräsentationen anschlussfähig sind. Insofern werden die im Folgenden betrachteten biographischen Konzepte der 1830er Jahre (Odojewski, Puschkin, Ulybyschew) auf eben jene Durchlässigkeit hin befragt. Der Philosoph und Literat Wladimir Odojewski setzte sich gegen die Italianisierung der russischen Musikkultur und für eine nationale russische Musik ein, deren »Entwicklung […] [er] aufmerksam und feinfühlig verfolgte«.657 Er war Musikkritiker und Komponist, Mentor der jungen russischen Komponistengeneration, Schirmherr des Moskauer Konservatoriums und förderte die Forschung über russische Kirchen- und Volksmusik. In Glinkas Opern, deren Entstehung er fördernd begleitete, sah er die Geburtsstunde der russischen Musik: »Durch die Oper Glinkas wurde eine Frage gelöst, die für die Kunst allgemein und für die russische Kunst besonders galt, die Frage nämlich nach der Existenz einer russischen Oper und russischer Musik überhaupt […]. Mit der Oper Glinkas erscheint das, was man in Europa seit langem sucht und nicht findet – ein neues Element in der Kunst, in deren Geschichte eine neue Periode beginnt: die Periode der russischen Musik.«658 Aus musikhistorischen und -ästhetischen Gründen ist es umso erstaunlicher, dass sich Odojewski in seiner tiefen Überzeugung, dass der Beginn der russischen Musik bevorstehe, literarisch einem Komponisten (und einer Gattung) zuwandte, der als Ver655 Vgl. hierzu auch meine Analyse des Puschkin-Dramas vor dem Hintergrund des biographischen Erzählens auf der (Musik)Bühne (Unseld 2009a). 656 Nicht verstanden als universitäre Disziplin, sondern als Selbstverständnis und Anspruch an das eigene Handeln: Ulybyschew selbst war nicht musikalisch-akademisch ausgebildet, hatte sich aber autodidaktisch u. a. in Bereichen der Musikgeschichte und Musiktheorie weitergebildet und galt als einer der belesensten Intellektuellen auf diesem Gebiet in Russland. 657 Redepenning 1994, S. 105. 658 Zit. nach Siegmann 1954, S. 63.
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körperung westlicher Musiktradition verstanden werden konnte: Beethoven (und das Streichquartett). Den ersten Hinweis, wie diese scheinbar unpassende Bezugnahme zu verstehen sei, gibt das Motto, das Odojewski seiner Erzählung voranstellte, und das – leicht verändert – aus dem Rat Krespel (Die Serapionsbrüder) von E. T. A. Hoffmann stammt, und das dort das Künstler-Bild als eines womöglich Wahnsinnigen, jedenfalls Widerständigen und Unverstandenen beschreibt: Nicht einen Augenblick zweifelte ich daran, daß Krespel wahnsinnig geworden, der Professor behauptete jedoch das Gegenteil. »Es gibt Menschen«, sprach er, »denen die Natur oder ein besonderes Verhängnis die Decke wegzog, unter der wir andern unser tolles Wesen unbemerkter treiben. Sie gleichen dünngehäuteten Insekten, die im regen sichtbaren Muskelspiel mißgestaltet erscheinen, ungeachtet sich alles bald wieder in die gehörige Form fügt. Was bei uns Gedanke bleibt, wird dem Krespel alles zur Tat.«659
Hier kondensiert sich das romantische Künstlerbild auf den für wahnsinnig gehaltenen Außenseiter, der entblößt – mithin unfreiwillig! – sein missgestaltetes Wesen offenbaren muss, während die ihm Gegenüberstehenden zwar ebenfalls ein »tolles Wesen« in sich tragen, das aber »unbemerkt« bleibt. Der Außenseiter Krespel aber steht für den Künstler, wie ihn Odojewski in Beethoven prototypisch verkörpert sieht und in der Erzählung skizziert. Ort und Zeit der Handlung von Odojewskis Erzählung sind an Beethovens letzten Lebensmonaten orientiert und biographisch fixierbar: »Im Frühling des Jahres 1827 spielten in einem Haus der Wiener Vorstadt ein paar Musikfreunde Beethovens neues Quartett, das soeben im Druck erschienen war.« Mit diesem zwar verschlüsselten, aber historisch exakten Hinweis zu Beginn der Erzählung ist nicht nur die Identität des Werkes eindeutig – op. 135 erschien im März 1827 im Druck –, sondern auch eine scheinbar biographische Einstiegssituation geschaffen. Die folgenden Schilderungen – Momente, in denen die Musiker immer wieder ihr Spiel unterbrechen, da sie »den formlosen Ausbrüchen« der Komposition nicht mehr folgen können, und die Anekdoten des trotz seiner Taubheit dirigierenden Beethoven – scheinen ebenfalls »authentisch«, galten doch vor allem die Spätwerke als unverständlich und die Auftritte Beethovens in der Öffentlichkeit als immer skurriler. Die Exposition der Erzählung partizipiert damit an der Idee des biographischen Schreibens, im zweiten Absatz abrupt unterbrochen durch eine Passage, die eine durch
659 Hoffmann-Motto zu Beginn von Odojewskis Erzählung Beethovens letztes Quartett (Die Erzählung wird hier und im Folgenden nach der von Klaus Städtke herausgegebenen Anthologie Russische Romantik zitiert, s. Städtke 1993, S. 305).
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und durch romantische Figur einführt:660 »Plötzlich öffnete sich die Tür, und herein kam ein Mann in schwarzem Rock, ohne Krawatte, mit zerzaustem Haar; seine Augen loderten, doch das war nicht das Feuer der Begabung; nur die überhängenden, scharfgeschnittenen Stirnwülste deuteten auf eine ungewöhnliche Entwicklung des musikalischen Organs hin, wie sie Gall entzückt hatte, als er Mozarts Schädel untersuchte […].«661 Mit dem Hinweis auf Franz Joseph Gall ist wiederum ein wissenschaftlicher662 Anker gesetzt: Gall war Arzt und ein Vertreter jener Physiognomik, die in der systematischen Untersuchung von Schädeln den Hinweis auf »Irrsinn« einerseits, andererseits auf »Genialität«, vor allem herausragende Musikalität, zu belegen suchte. Von seinen Arbeiten war in der Allgemeinen musikalischen Zeitung 1801 in einer »Abhandlung. Ueber ein physiologisches Kennzeichen des musikalischen Talents. Nach Hern. D. Galls Entdeckungen« ausführlich berichtet worden.663 Odojewski, der ein aufmerksamer Leser der Allgemeinen musikalischen Zeitung war, inszeniert damit den Auftritt Ludwig van Beethovens unmissverständlich als romantischen Künstler und bedient sich dafür eines literarischen 660 Der Absatz ist im Übrigen dem Beginn von Schumanns Rezension »Ein Werk II« (über Chopins Variations sur »Là ci darem la mano« de »Don Juan« de Mozart op. 2, 1831 in der Allgemeinen musikalischen Zeitung erstmals veröffentlicht) auffallend ähnlich, eine Rezension, in der Schumann erstmals mit den alter-ego-Figuren des Davidsbundes arbeitete. 661 Städtke 1993, S. 306. 662 Auch hier wäre der Begriff der Wissenschaftlichkeit in einem aktuellen Sinne sicherlich angreifbar. Da aber die Physiognomik im frühen 19. Jahrhundert als Wissenschaft auftrat und Odojewski sie als ebensolche rezipierte, ist der Hinweis auf Gall in seiner Erzählung tatsächlich als wissenschaftliche Verankerung zu verstehen. Vor allem gibt er sich damit als mit den wissenschaftlichen Auseinandersetzungen der Zeit bestens vertrauter Autor zu erkennen. 663 »Durch Fleiss und Beharrlichkeit kann man Fertigkeit auf einem Instrument erwerben, auch allenfalls erträgliche Kompositionen zu Stande bringen. Hingegen ist jeder Versuch, durch blosses Lernen ein Händel, ein Bach, ein Gluck, ein Mozart, ein Haydn zu werden, ein eitles Unternehmen […]. Woher kommt es nun, dass sich in einigen Subjekten das musikalische Talent so früh und thätig, in andern hingegen theils gar nie, theils nur schwach äussert? Herr Gall findet den Grund davon in dem Baue des Gehirnes, und in der grösseren oder geringeren Entwicklung desjenigen Theiles, den er als den eigenthümlichen Sitz des Tonsinnes annimmt. Er bestimmt die Stelle desselben in einem Schwunge über dem Augenwinkel gegen die Schläfe zu, wenn nämlich dieser Schwung durch die hervordrängende Gehirnmasse, und nicht durch den blossen Knochen gebildet ist. Diese Behauptung stützt sich auf Beobachtungen a) an einer Menge von Personen, welche in der Musik etwas geleistet, und vorzügliche Empfänglichkeit für dieselbige haben. Man entdeckt diesen Stempel sehr auffallend an den Köpfen eines Mozart, Beethoven, Gelinek, Paer, Haydn, Salieri u. a. m.« Allgemeine musikalische Zeitung Nr. 5, 28. Oktober 1801, Sp. 65–69, hier Sp. 67.
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(Hoffmann-Motto), eines musikästhetischen664 (Unverständnis gegenüber dem Spätwerk), eines physiognomischen (Gall) und eines musikhistorischen (Mozart-Vergleich) Argumentationsstrangs. Alle diese werden im weiteren Verlauf weiter ausdifferenziert: Der literarische etwa, indem Odojewski die fiktive Figur eines jungen Mädchens einführt, das als alter ego (Luise!), aber auch als Musen- oder Ingenium-Figur fungiert, ihn vor den Unwägbarkeiten des Alltags beschützt und ihm Möglichkeit zum Zwiegespräch gibt: »Gute Luise! Du allein verstehst mich; du allein hast keine Angst vor mir; dir allein bin ich nicht lästig. Denkst du, alle diese Herren, die meine Musik spielen, verstehen mich? I bewahre! Keiner der hiesigen Herren Kapellmeister weiß sie überhaupt zu dirigieren; […] was kümmert sie die Musik! Sie denken, ich hätte nachgelassen, mir schien sogar, daß einige von ihnen lächelten, als sie mein Quartett spielten – ein sicheres Zeichen, daß sie mich niemals verstanden haben; im Gegenteil, erst jetzt bin ich ein wahrer, großer Musiker geworden.«665
Im Rahmen des musikästhetischen Argumentationsstrangs geht Odojewski ausführlich auf Kompositiontechniken von Beethovens Spätwerk ein, der musikhistorische Bereich wird vor allem dort ausgedehnt, wo sich Beethoven als Kulminationspunkt einer Entwicklung begreift, er sich deutlich gegen »die Dummköpfe« absetzt, die »in ihrer kalten Ekstase« ein Thema wählen, es nach »Regeln, die das vertrocknete Hirn eines Theoretikers in Mußestunden ersinnt«, bearbeiten und fortführen. Dabei aber »können [sie] es nicht lassen, es dann in einer anderen Tonart zu wiederholen; auf Bestellung nehmen sie Blasinstrumente hinzu oder einen seltsamen Akkord, über den sie grübeln und grübeln, und alles ist so wohlbedacht zurechtgefeilt und geleckt«.666 Physiognomik spielt zusammen mit seiner ärmlichen und ungepflegten Erscheinung immer wieder eine bedeutende Rolle, wenn davon die Rede ist, dass »die Haare auf meinem Kopf sich sträuben«.667 Im Übrigen aber ruft Odojewski jene Parameter auf, die innerhalb der Genie-Diskussion eine bedeutende Rolle spielten: das Leiden, die Frage der Inspiration, das Aufbrechen bisher gültiger Regeln, die Unzeitgemäßheit und das Übermenschlich-Heroische. Odojewskis Beethoven-Figur leidet nicht nur an seiner Taubheit (»bemüht, 664 Zu diesem zählt übrigens auch der zweite Teil der Erzählung, der nach einem abrupten Abbrechen des ersten Teils und dem Hinweis auf Beethovens Tod das philosophische Gespräch von vier Männern – als Literarisierung der Gesprächs-Metaphorik des Streichquartetts – umfasst. Vgl. dazu Unseld 1995, S. 107ff. 665 Städtke 1993, S. 307. Eine ähnliche Konstellation (junge Frau als alter ego und Musen-Figur eines heroisiert dargestellten Beethoven) findet sich im Film Copying Beethoven von Agnieszka Holland (2006), vgl. dazu Unseld 2010b. 666 Städtke 1993, S. 310f. 667 Ebda., S. 311.
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der Musik zu lauschen, doch vergeblich: Die Tränen flossen in Strömen aus seinen Augen«668), sondern auch daran, dass er und seine Musik missverstanden werden. Doch aus der Resignation – »Ich habe es den Herren Professoren gesagt: doch sie haben mich nicht verstanden« – gewinnt Odojewskis Beethoven die Zuversicht, seiner Zeit voraus zu sein: »wie sie [die Professoren] nicht begriffen haben, daß ich dann meiner Zeit voraus bin und nach den inneren Gesetzen der Natur handle, die der gemeine Mann noch nicht bemerkt hat«.669 Als Künstler und mit seinem Werk bei den Zeitgenossen auf Unverständnis zu stoßen, wurde zum Signum für das Genie und der zukünftigen Bedeutung seiner Werke, avanciert damit zum Rezeptions-Muster zeitgenössischer Musik: Aus einer Rezension in der Allgemeinen musikalischen Zeitung von 1844 über Robert Schumann etwa heißt es: Das Alltägliche und Herkömmliche, das Mittelmässige, was, à la portée de tout le monde und gleich allgemeinverständlich und zugänglich, sich mit seinem geschmeidigen Allerweltscharacter, seiner verschwommenen Jedermanns-Physiognomie und mit jener, der Mittelmässigkeit immer eigenen Leichtigkeit und Gewandtheit (Eigenschaften, die dem Genie selbst oftmals fehlen, eben weil es von Haus aus mehr und schwerere geistige Fracht mit sich führt) präsentirt, findet immer und überall gleich offene Thüren und Ohren; sein Verständnis erfordert keine besondere Anstrengung, kein Kopfzerbrechen; es bedarf dazu keines bedeutenden geistigen Aufwand; wir werden dadurch nicht aus unserer Bequemlichkeit aufgerüttelt, während dies bei einer durchaus neuen und originellen, dem tiefsten Born der Individualität entquollenen Kunstschöpfung in hohem Grade der Fall, wo die Leute anfangs noch gar nicht recht wissen, woran sie sind, und wo gerade das Neue und ungewöhnte der Erscheinung sie scheu und befangen macht; je eigenthümlicher die letztere, in desto gröserer Verlegenheit befinden sie sich, wie sie dieselbe aufzunehmen haben, und wie sie’s mit deren Würdigung halten sollten, weil ihnen eben noch alle geistige Handhabe für die richtige Auffassung des betreffenden Kunstwerks fehlt, und sie noch keinen passenden Maassstab für dessen wirklichen Werth besitzen.670
Dass »das genie im gegensatz zum schulmäszigen regelbegriff« auftrete, hatte der Artikel »Genie« in Grimms Wörterbuch an Lessing exemplifiziert, um zu dem Schluss zu kommen: »vielleicht ist dies die ursache, warum regeln kein genie wecken, noch weit weniger schaffen können, ja warum sogar die
668 Ebda., S. 306. 669 Ebda., S. 310. 670 Kossmaly, C.: »Ueber Robert Schumann’s Claviercompositionen«, in: Allgemeine musikalische Zeitung Nr. 1, 3. Januar 1844, Sp. 1–5, hier Sp. 1f.
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gröszesten genies zügel- und regellos sind.«671 Beethovens Inspiration aber gleicht bei Odojewski jenem Funken, den das Eruptive und Regelbrechende begleite: »wenn ein Augenblick der Ekstase über mich kommt, dann gewinne ich die Überzeugung, daß […] man neue, frische Formen an die Stelle der veralteten setzen wird«.672 Heroische Züge gewinnt Odojewskis Beethoven-Bild schließlich, wenn dieser von einer früheren Aufführung von Wellingtons Sieg oder die Schlacht bei Vittoria op. 91 berichtet: »›Erinnerst du dich, wie ich in Wien vor allen gekrönten Häuptern der Welt meine Schlacht bei Waterloo dirigiert habe? Tausend Musiker, die meinem Taktstock gehorchten, zwölf Kapellmeister, und ringsum das Feuer der Schlacht, Geschützdonner … Oh!«673 Odojewski lässt in seiner Erzählung mithin keinen der zeitgenössischen Diskussionsstränge – von der Ästhetik über die Physiognomik bis hin zur Diskussion um Genialität – aus, um seine Beethoven-Figur als Genie zu etablieren. Mehr noch: In der Erzählung scheinen alle zeittypischen Möglichkeiten auf, das Genie-Bild ohne jeden Zweifel zu exponieren. Zu diesen Möglichkeiten freilich gehören nicht zuletzt auch die literarischen und biographischen Konzepte, und Odojewski greift auch auf sie zurück: das Zwiegespräch mit einer alter-ego-Figur, die Inszenierung des Nacht-Moments, die konfliktuösen Begegnungen mit einer das Genie nicht verstehenden Umwelt u. a. m. Dass Odojewski dabei den biographischen Ausschnitt der letzten Lebenswochen Beethovens wählte, ist auffällig. Auf diese Weise rückt der Tod des Genies als Scheitelpunkt zwischen Missverstehen (zu Lebzeiten) und Aufnahme in den Kanon (nach dem Tod) in den Fokus, jener Scheitelpunkt also, an dem musikbiographisches Schreiben in der Nachfolge des Nekrologs steht: die Aufnahme der Person und seines Werkes in das kulturelle Gedächtnis. Von Odojewskis Beethoven-Bild zu Puschkins Mozart-Bild ist es nur ein kleiner Schritt, wenn auch die Details der Ausgestaltung des Genie-Bildes, an Mozarts Lebenslauf konkret entwickelt, bei Puschkin in manchen Punkten anders ausfallen. Die Figur Salieris aber entspricht im Grunde jenem anonymen Gegenüber, das in Odojewskis Erzählung das Publikum, die »Professoren« und die anderen Musikerkollegen waren – mithin das dem Genie verständnislos gegenübertretende Allgemeine, das zwischen Anerkennung, Überforderung und aggressiver Ablehnung (bis hin zum Mord) hin- und herpendelt. Was sich bei Odojewski auf mehrere Personen(gruppen) aufgliederte, verdichtet sich bei Puschkin in der Figur Salieris, das antagonistische Prinzip zur Mozart-
671 Vgl. die Analyse des Artikels »Genie« aus dem Grimmschen Wörterbuch im Kapitel Nachdenken über das Genie. 672 Städtke 1993, S. 310. 673 Ebda., S. 307.
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Figur ist dabei, wie schon der Titel andeutet, offensichtlich.674 Erst aus diesem Antagonismus wird die jeweilige Figur vollends erkennbar: Salieri nicht ohne Mozart, Mozart nicht ohne Salieri. Im Vergleich mit dem Ausnahmekünstler Mozart sucht Salieri eine göttliche Gerechtigkeit, die er freilich nicht finden kann. Darum werden im Folgenden beide Figuren betrachtet, und zwar insbesondere vor dem Hintergrund der Genie-Diskussion und dem sich daraus ergebenden romantischen Künstlerbild.675 Ausgangspunkt für beide Figuren ist die lebenslange Beschäftigung mit Musik. Doch während Mozart darin – aus der Perspektive Salieris – eine ungekannte Leichtigkeit entfaltet, stellt sich Salieri selbst im Auftrittsmonolog als ein Musiker dar, der unter den härtesten Bedingungen einer musikalischen Ausbildung, mit Fleiß und dem Erlernen zu handwerklicher Perfektion gelangt sei: […] Der erste Schritt ist schwer, Und öd der erste Weg. Ich überwand Die Anfangsschwierigkeiten, rückte dann das Handwerk als ein Sprungbrett vor die Kunst. Das Handwerk lernte ich: verlieh den Fingern Geläufigkeit, die trocken ist und brav, Verläßlichkeit dem Ohr. […]676
Puschkin überzeichnet auf diese Weise die aufklärerische Idee einer systematischen Ausbildung und lässt sie in einem ›Endprodukt‹ gipfeln, das nicht als ein Künstler, sondern als ein Klänge tötendes Wissensmonstrum erscheint: […] Die Klänge tötend, sezierte ich Musik wie Leichen, prüfte mit Algebra die Harmonie. Ich wagte, erfahren in der Wissenschaft, der Wonne, dem Traum vom Schöpfertum mich hinzugeben. Ich komponierte […]
674 Die Annahme, dass die Interpretation als »gegenseitiges Verhältnis zwischen Genie und Talent« »völlig falsch« sei (Sorokina 1995, S. 111), ist nicht nachvollziehbar, zumal Sorokina gleich im Anschluss bemerkt, dass es sich bei Puschkin um das »ewige Drama der Existenz eines Genies auf Erden« (ebda.) handele. Dem Konzept des »Genies« aber ist, wie oben ausgeführt, der Antagonismus zur Allgemeinheit wesentlich inhärent. 675 Einen anderen Weg der Interpretation schlägt Robert Reid mit einer sozial-psychologischen Studie ein, vgl. Reid 1995. 676 Dies und die folgenden Zitate: Puschkin 1985, S. 5 und 7.
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Dieses Monstrum freilich hat dennoch Erfolg. Und der Karrierestrategie eines gut ausgebildeten Musikers entsprechend, beschreibt sich Salieri als durchaus karriereorientiert, ehrgeizig: Beharrlichkeit, die keine Mühe scheute, hat mich zuletzt in dieser Kunst, die nichts beschränkt, sehr weit gebracht. Der Ruhm hat mir dann zugelächelt; in der Menschen Herzen vernahm ich Widerhall auf meine Werke. Ich war im Glück […].
Zum Ruhm gehört das Eingereihtsein in den Kreis der Komponistenkollegen: von Gluck und Piccini ist die Rede, direkte Rivalen im konkurrenzträchtigen Opernbetrieb. Doch Salieri bezeichnet sich als kollegial, weiß um seine eigene Position und die seiner Konkurrenten: […] ich freute mich in Frieden an meiner Arbeit, am Erfolg, am Ruhm; und auch an Arbeit und Erfolg der Freunde, Kollegen in der wundervollen Kunst. Nein! niemals hatte Neid mich je gekannt, ach, nie! – selbst nicht, als in Paris Piccini das rohe Publikum begeistern konnte; […]
Mit dieser Selbstcharakterisierung stellt sich Salieri als einen Vertreter einer der Ständegesellschaft verhafteten Musikkultur dar, in der sowohl die Hierarchie innerhalb der Musikerberufe (wie sie Mattheson exemplarisch dargestellt hatte) als auch die Kollegenschaft unter den erfolgreichen Opernkomponisten – das Begegnen auf Augenhöhe – ihre unumschränkte Gültigkeit hat und höchstens ein primus-inter-pares-Prinzip zugelassen ist (»der große Gluck erschien«677). Dieser festgefügten, »gerechten« und sicheren Ordnung tritt mit Mozart ein Künstler entgegen, der nicht nur Salieri, sondern mit ihm die gesamte Ordnung des von ihm vorgestellten Künstlerbildes grundlegend irritiert. Denn das von Mozart vertretene Künstlerbild ist zu alldem der denkbar größte Gegensatz und lässt sich zudem als Konkretisierung des Genie-Gedankens lesen. Hatte sich Salieri als ein Künstler präsentiert, der systematisch die Kompositionswissenschaft studiert und »beharrlich, unermüdlich« seinen Weg gegangen sei, stellt sich Mozart als Person und in seiner kompositorischen Arbeit als sprunghaft dar, sich gegen Regeln stemmend und als in Gegensätzen sich ausdrückend: 677 Ebda., S. 7, Hervorhebung M. U.
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[Mozart:] Stell dir jemand vor… ja, wen? Warum nicht mich – ein wenig jünger nur, und leicht verliebt –, mit einer Schönen oder mit einem Freunde, sagen wir, mit dir, bin heiter … Plötzlich: eine Grabeserscheinung und jähes Dunkel, etwas in dieser Art… Doch höre. [Mozart spielt am Klavier] […] [Salieri:] Oh, welche Tiefe ist das! O welche Kühnheit, welche Harmonie!678
Keiner Systematik folgend, und dennoch aus einem Moment spontaner Inspiration eine Musik zu komponieren, die tief, kühn und ebenmäßig ist, nötigt Salieri höchste Bewunderung ab. Zugleich diffamiert sie den systematisch gebildeten, in der »zergliedernde[n] Wissenschaft« beheimateten Salieri als »Talent« gegenüber dem Genie. An dieser Stelle wird jene im Prozess der Neujustierung des Begriffs »Genie« so intensiv geführte Debatte, wie sich das Genie vom Talent unterscheide, deutlich greifbar.679 Das »Übermenschliche«, gleichsam Göttliche, das dem Genie inhärent gedacht wurde, sieht Puschkins Salieri in Mozart, freilich mit der wichtigen Nuance, dass er – der zergliedernde Wissenschaftler – dieses erkenne, das Genie selbst aber nicht: Du, Mozart, bist ein Gott, und weißt es nicht; ich weiß es, ich.680
Salieri kann dem »Genie« Mozart nicht jenen Moraldispens gewähren, den das »kindische«, wenig kultivierte Auftreten verlangte. Hier wird sein grundlegendes Verhaftetsein im System einer aristokratisch geförderten, in sich bereits nach bürgerlichen Moralvorstellungen selbst konstituierenden Musikkultur besonders deutlich. Wie auch Knigge kritisierte, dass das »kraftgenie, das sich über sitte, vernunft und anstand hinauszusetzen einen besondern freibrief zu haben glaubt!«, mokiert sich Salieri über Mozarts (in seinen Augen) unangemessenes Verhalten etwa gegenüber dem blinden Geiger. Da aber Puschkins Salieri-Figur Mozart jenen Moraldispens nicht zu geben bereit ist, kann auch er, der Mörder, ihn selbst nicht erhalten, er bleibt mit größten Selbstzweifeln zurück: 678 Ebda., S. 11 und 13. 679 Vgl. dazu auch die Auseinandersetzung mit Genie vs. Talent im Artikel »Genie« des Grimmschen Wörterbuches. 680 Puschkin 1985, S. 13.
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[…] Womöglich aber hat er recht, und ich bin kein Genie? Verbrechen und Genie, die beiden passen nicht zusammen. So? Und Buonarotti? Ist das eine Mär des dumpfen, dummen Volks, und hat er nicht, des Vatikans Erbauer, einst gemordet?681
Damit aber gelangt man schließlich zur unterschiedlichen Musikästhetik von Salieri und Mozart, die mit den jeweiligen unterschiedlichen Künstlerbildern verhaftet sind. Salieri ist schockiert über die Nähe, die Mozart zum blinden Geiger zulässt, einem Musikanten, der in Salieris Künstlerselbstverständnis den untersten Rang eines fahrenden Musikers einnimmt. Seine Ablehnung dieser Ebene der Musikkultur gegenüber erklärt sich dabei nicht nur damit, dass der Geiger kaum als virtuos einzuschätzen ist, sondern vor allem aus der Hierarchie der Musikerberufe, die Salieri erklärtermaßen mühsam durchlaufen hat und die er durch eine allzu nahe Begegnung mit dem Volksmusiker nicht gefährdet wissen will. Anders Mozart: Für ihn, den ohnehin das Sprunghafte kennzeichnet, ergibt sich kein Widerspruch aus dem Spiel des Geigers und seiner eigenen Musik, wobei nicht nur der (romantische) Gedanke einer ästhetischen Verbundenheit mit dem Volksmusikalischen anklingt, sondern auch die des Genies, der sich über Schulmäßigkeit und Regelhaftigkeit hinwegsetzt. Damit aber ist der Mozart-Figur etwas genuin Widerständiges eigen, gekennzeichnet durch charakterliche wie musikästhetische Facetten, die sich gegen bürgerliche Normerwartungen stellen. Der Salieri-Figur hingegen ist nichts wichtiger als das Sich-Einpassen in die Regeln einer aufgeklärt-bürgerlichen Musikkultur und ‑ästhetik. Wenn damit die inhaltlichen Facetten der beiden Komponisten-Bilder beschrieben sind, stellt sich – wie auch bei Odojewski – die Beobachtung ein, dass sich Puschkin, ausgestattet mit detailreichen Kenntnissen über die Genie-Diskussion, ebenso intensiv mit musikhistorischen Details auseinandergesetzt hat: Wie in Odojewskis Erzählung Beethovens letztes Quartett finden sich auch in Puschkins Mozart und Salieri biographisch überlieferte Einzelheiten, ästhetisch-kompositionstechnische Details und musikhistorische Diskussionen (die hier insbesondere auf rege Rezeption der gerade nach Salieris Tod vieldiskutierten Vergiftungs-Hypothese schließen lassen682). Und auch hier, diesmal in der Kontrastbildung zweier Künstler-Typen, scheint eine intensive Auseinandersetzung mit biographischen Bildern auf: das Wissen um einen 681 Ebda., S. 25. Dort auch die Erläuterung zu Michelangelo Buonarroti: »Einer absurden Legende zufolge hat er den Mann, den er als Modell für seine Kreuzigung benützte, getötet, um das Pathos des Todes wahrheitsgetreuer einzufangen. Möglicherweise hat Puschkin diese Geschichte aus N. Karamsin, Briefe eines reisenden Russen (1791/92)«. 682 Vgl. dazu Unseld 2009c.
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Musiker-Lebenslauf im aufklärerischen Sinne (Salieri), der als Berufsbiographie von Normalität ebenso wie von der Mühsamkeit der einzelnen Karriereschritte geprägt ist – wobei Puschkin punktgenau die Ansprüche an eine solche »Normalbiographie« benennt, sowie das Wissen um einen diese Lebenslauf-Systematik konterkarierenden Lebenslauf, das als genial inszeniert wird (Mozart). Mit Ulybyschews Mozart-Biographie liegt nunmehr kein Textkorpus mit literarischem Anspruch vor, sondern der Versuch, einen Beitrag zur europäischen Musik- und Kulturgeschichte zu liefern. Entsprechend reflektiert Ulybyschew in der Einleitung zum zweiten Band der ersten Auflage683 über die Aufgabe des Biographen, wobei ihn intensiv die Frage beschäftigt, wie der Charakter des Künstlers – er spricht dabei von »alle[n] Contraste[n] der menschlichen Natur«684 – darzustellen sei, da er von einer engen Verbindung zwischen diesem und den Kompositionen ausgeht.685 Er kritisiert dabei die »Irrthümer« anderer Biographen, die »gierig nach der oberflächlichen oder scheinbaren Seite der Dinge greifen, wo es viel zu loben, wenig zu tadeln Veranlassung gibt. Wir wissen, daß Biographen gern Lobredner werden. Mozart, würde man zum Beispiel sagen, war der uneigennützigste und der beste Mensch«.686 Ulybyschew lässt eine lange Aufzählung »der schönsten moralischen und gesellschaftlichen Eigenschaften«687 folgen, die Mozart besessen habe (Hilfsbereitschaft, Familiensinn, Freigebigkeit u. a.). Dieses moralische Maß aber könne einer Künstlergestalt wie Mozart nicht gerecht werden, »allein dann hätte man wahrscheinlich von diesem Spießbürger keinen Don Juan verlangen dürfen, ein so vortrefflicher Familienvater er auch gewesen wäre«.688 Dennoch ist es auch hier interessant, Interdependenzen zwischen den literarischen Künstlerfiguren und dem biographischen Komponistenbild aufzuspüren. Als Gegenmodell zu einem an bürgerlichen Moralvorstellungen gemessenen Künstlerbild schlägt auch Ulybyschew das Genie-Bild vor, das er ausführlich begründet: 683 In der zweiten, überarbeiteten Auflage von 1859 fehlt diese Einleitung, s. Alexander Oulibicheff: Mozart’s Leben und Werke. Zweite Auflage. Mit Zugrundlegung der Schraishuon’schen Übersetzung neu bearbeitet und wesentlich erweitert von Ludwig Gantter, 4 Bände, Stuttgart: Carl Conradi, o. J. [1859]. 684 Oulibicheff/[Ulybyschew] 1847, Bd. 2, S. 4f. 685 Seine Charakterstudie stützt er daher auch auf »psychologische, auf der Prüfung seiner Schöpfungen gegründeten Studien«, er wolle »die musikalische Analyse mit der psychologischen Hand in Hand gehen lassen«, Oulibicheff/[Ulybyschew] 1847, Bd. 2, S. 4 und 8. 686 Oulibicheff/[Ulybyschew] 1847, Bd. 2, S. 5. 687 Ebda., S. 6. 688 Ebda., S. 7.
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Kann man aber auf diese Weise einen Menschen beurtheilen, und ließe sich an einen Wolfgang Amadeus Mozart streng das Normalmaß legen, das wir für unsere Nachbarn und Gevattern stets in der Tasche haben? Würde sich dieses Ungeheuer von Genie, wie ihn die Italiener nannten, in eines jener kleinen numerirten Felder zwängen lassen, in welche wir nach ihrer moralischen Gestaltsbezeichnung die Millionen Individuen classificiren, welche Gott auf die Erde wirft, um diese damit zu bevölkern. An Menschen, welche auf dieser Welt eigentlich mit anderen ihres Gleichen nichts gemein haben, und welche die Vorsehung nur sendet, um die Interessen der Menschheit zu fördern, muß man einen andern Maßstab anlegen. Deßhalb ist Alles, was unumgängliche Bedingung oder das natürliche Resultat des Erfolges ihrer Sendung ist, legitim, das heißt nothwendig. Vermöge dieses Grundsatzes werde ich ebenso wenig versucht seyn, Mozart seine Schwächen zum Vorwurfe zu machen, als seine guten Eigenschaften anzurühmen, die einen wie die anderen entsprangen aus Neigungen, die niemals bekämpft wurden und ebenso wenig bekämpft werden durften, weil die Totalität des Phänomens gerade aus dem Zusammentreffen eben dieser Eigenschaften mit eben diesen Fehlern entspringen sollte.689
Den Ausnahmecharakter des Genies bekräftigend, versucht Ulybyschew, wie Gernot Gruber betont, »keineswegs, die ›beträchtlichen Fehler‹ Mozarts zu entschuldigen; mangelnde Menschenkenntnis, unvernünftigen Gebrauch des Geldes, ›Zügellosigkeit der Zunge‹ gesteht er zu, wendet diese charakterlichen Mängel aber zur Attacke gegen ein biedermeierliches Künstlerbild«.690 Die Zusammenschau aus den unterschiedlichsten Eigenschaften aber prädestiniert Ulybyschews Künstlerbild als ein romantisches, wie an folgendem Beispiel deutlich wird: Das Widersprüchliche, das Nebeneinander von lichtem und »schattigem« Charakter, das auch Puschkin in seiner Mozart-Figur beigegeben hatte (»bin heiter … Plötzlich: eine Graberscheinung«), findet sich auch bei Ulybyschew wieder, etwa wenn von einem »zweite[n], von dem eben geschilderten ganz verschiedene[n] Mensch« die Rede ist. Die auf diese Feststellung folgende Nacht-Sequenz greift die Pillweinsche Technik auf, aus der ursprünglichen Abend-Anekdote eine Nacht-Szenerie umzugestalten, und führt, was Pillwein angedeutet hatte, noch weiter aus: die Nacht-Szene wird zum mythischen Raum der Inspiration:691 Aber […] in Mozart [war] noch ein zweiter, von diesem sehr verschiedener Mensch; ein im höchsten Grade schwermüthiger Mensch, der alle Tage an den Tod dachte, welcher ganze Nächte an seinem Claviere zubrachte, und sich auf den Schwingen der Phantasie zu den unbekannten Regionen aufschwang, deren Geheimnisse nur der Tod 689 Ebda., S. 7f. 690 Gruber 1987, S. 181. 691 Zur Nacht als Metapher des mythischen Raums der Inspiration vgl. auch Bronfen 2008.
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löst. Diesen andern Menschen wußte die Stadt Wien lange nicht zu begreifen, weder ihn selbst, noch seine Werke.692
Widersprüchlichkeiten im Charakter und – damit einhergehend – im Werk rühren an grundlegend romantische Vorstellungen vom Künstler und seinem Werk, das aufgrund dieser Widersprüche von seinen Zeitgenossen unverstanden bleibt. Indem Ulybyschew Mozarts Werke aufs engste an die Charakterdisposition anschließt und indem er das Genie als aus der Gesellschaft herausgehobenes Individuum begreift, gelangt er zu einer idealistischen Überhöhung von Person und Werk; er ist davon überzeugt, mit der Biographie bewiesen zu haben, welchen erhabenen und einzigen Rang Mozart für ewige Zeiten auf dem musikalischen Parnaß einnehmen wird. […] Ich hatte gehofft, daß durch Zusammenstellung der biographischen Thatsachen mit den Werken, deren wunderbare Wechselbeziehung auf die schlagendste Weise in die Augen fallen würde; ich glaubte darzuthun, daß der Charakter und das Schicksal Mozart’s mit seinen Arbeiten in so genauer Beziehung stünden, als die Mittel sich auf einen Zweck beziehen können, und daß dieser Zweck eine göttliche Mission gewesen sei, welche mit derselben Evidenz sowohl die allgemeine Geschichte der Musik, als die Geschichte des Menschen insbesondere in allen ihren Einzelnheiten beweisen.693
Dass Ulybyschew damit Mozart als Gipfelpunkt der musikhistorischen Entwicklung definiert, lässt freilich aus dem romantisch konzipierten Künstlerbild die Spur des Klassischen sichtbar werden: In der That der Name Mozart gäbe, wenn es nöthig wäre, die gerechteste Metonymie (Umarmung), um die musikalische Kunst in ihrer Abstraction zu bezeichnen. Als Schüler aller alten Schulen ist Mozart einerseits der allgemeine Repräsentant der Musik, bis zum Anfange des neunzehnten Jahrhunderts. Als Reformator dienen seine Leistungen noch zur Basis unseres gegenwärtigen Compositions-Systems. Mozart in allen seinen Meisterwerken zu lieben, heißt soviel als keiner Partei in der Musik angehören; es schließt jede Endigung in isten in sich (wie z. B. von Gluckisten und Piccinisten, von Beethovenisten und Rossinisten) sammt den Gedanken an das Ausschließliche und den Fanatismus, die sich daran knüpfen; das heißt soviel als sich für das Schöne und Gute in jeder Gattung zu erklären; es heißt mit einem Worte die Musik rein, einfach, absolut lieben.694 692 Oulibicheff/[Ulybyschew] 1847, Bd. 1, S. 173. 693 Ebda., Bd. 3, S. 545f. 694 Ebda., S. 547f. Pekacz formuliert dies allgemein: »The Romantic recognition of individual consciousness in the creation of art, which led to a concept of art as creation and the author as an autonomous creator who transcends history and ideology, contained
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Biographische Konzepte in Musik und Musikgeschichtsschreibung
Spätestens mit der zweiten Auflage (1859) geriet Ulybyschews Buch trotz des romantischen Künstlerbildes, das er konsequent in seiner Biographie umsetzte, in den Hintergrund. Grund dafür war (im deutschsprachigen Raum) das Erscheinen der vierbändigen Mozart-Biographie Otto Jahns (1856–1859), mit der Ulybyschews Mozart-Biographie sogleich verglichen wurde. Eine Rezension aus dem Jahr 1859 legt dabei offen, dass sich hier ein Wechsel vollzogen hatte, der nicht nur das Künstlerbild betraf, sondern auch den Biographen selbst: Ulybyschew, dessen Biographie durch »innigste Seelenverwandtschaft« zur Musik Mozarts durchdrungen sei, sei durch seine übergroße Liebe zu Mozart verleitet worden, die Biographie mit »mancherlei Ueberschwänglichkeiten zu verbrämen«.695 Der Autor sei zwar »kunstgebildet«, aber der eigentliche Zugang zu Mozart und dessen Musik sei Ulybyschews »Liebesblick«,696 sein Buch ein »Lieblingsbuch […] jener Verehrer des großen Meisters […], die mit dem Wesen seiner Kunst, mit der innersten Seele seiner Tondichtungen sympathisiren«.697 Otto Jahns Biographie hingegen sei vom »Standpunkt eines reifen Mannes, des klaren Bewußtseins, des sicheren Erkennens« geschrieben, gebe »allen Musikkennern […] eine […] ruhige, tief eingehende und sichere Belehrung und Aufklärung«.698 Mit dieser Unterscheidung aber werden die Sphären von Liebhaber- und Kennertum voneinander getrennt, ein Schnitt, der ab der Jahrhundertmitte immer deutlicher vollzogen wird: Ulybyschew als Prototyp des gebildeten Dilletanten, dessen Motivation die Begeisterung für die Musik, dessen Ausbildung autodidaktisch und dessen Umfeld ein literarisch-künstlerisches ist. Seine Biographie wird – ungeachtet der biographietheoretischen Erläuterungen, die seine Schreibhaltung offen legen, und ungeachtet des modernen psychologischen Ansatzes – wahrgenommen als Produkt eines Enthusiasten, geschrieben für Musikliebhaber. Mit Otto Jahn hingegen wird ein Musikforscher neuen Typs vorgestellt, bei dem der Leser sicher sein könne, »daß er nichts Willkürliches, nichts aus der eigenen Phantasie in Mozart’s Werke hinübertragen, daß jedes seiner Urtheile sich in der objectiven Bestimmtheit und Klarheit erhalten wird, die dem ruhigen wenn auch liebevollen Forschen und Erkennen des leidenschaftslosen Verstandes eigen ist«.699 Der Rezensent zitiert als Beleg dafür aus dem Vorwort der Jahn’schen Mozart-Biographie, in der der Autor versichert, dass in Mozarts Werken »der Gährungsproceß der Leidenschaft« nicht
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two seemingly contradictory impulses – toward subjectivity on the one hand and impersonality on the other.” Pekacz 2004, S. 74. [Anonym] 1859b, S. 81. Ebda. Ebda., S. 82. Ebda. Ebda.
Literarisch-biographische Konzepte
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mehr erkennbar sei, »sondern, nachdem er [Mozart] alles Unreine und Trübe vollständig ausgeschieden hat, die reine vollständige Schönheit hervorruft«.700 Damit aber ist der grundlegende Unterschied zu Ulybyschews romantischem Künstlerbild fassbar. Während dieser gerade das Gegensätzliche und Disparate in Leben und Werk – und diese jeweils auch aufeinander bezogen – zum Thema machte, und auf diese Weise Mozart als zutiefst romantischen Künstler darstellte, dessen Werke freilich überzeitlich gültig seien, eliminiert Jahn das »Unreine und Trübe« wiederum aus der Darstellung, denn dieses sei in Mozarts Werk bereis »vollständig ausgeschieden«. Aufgabe des Biographen aber sei die »objecitve Bestimmtheit und Klarheit«, der das »Forschen und Erkennen des leidenschaftslosen Verstandes« vorausgehe. Damit war nicht nur ein neues Komponisten-Bild aufgerufen, sondern vor allem auch ein neues Verständnis vom Biographen etabliert: forschend, wissenschaftlich fundiert, nicht literarisch beeinflusst. Die Folgen dieser Neukonzeption des Biographen als Wissenschaftler werden ebenso weitreichend sein, wie sich hier die Kritik am Literarischen der Biographik bereits ankündigt.
700 Ebda., S. 81.
5. Nationale Bilder: Beispiele lexikalischbiographischer Großprojekte
Die Idee der biographischen Musiker-Lexika, die im 18. Jahrhundert weite Bereiche des musikhistorischen und -biographischen Schreibens abgedeckt hatte, blieb auch im 19. Jahrhundert präsent, nun allerdings als ein Segment neben anderen und auch kaum noch mit dem für das 18. Jahrhundert so bezeichnenden enzyklopädischen Anspruch. Vielmehr standen nationale Identitätsstiftung und die Pflege eines musikhistorischen Bewusstseins im Vordergrund. Friedrich Chrysander formulierte 1863 die Überzeugung, dass »ein Hauptzweck der veröffentlichten Lebensbeschreibungen halb oder ganz vergessener Tonkünstler sein [solle], Verlangen nach ihren Werken zu erregen und dadurch Ausgaben derselben zu ermöglichen; auf solche Weise würden Wort und Ton vereinigt Kunstbildung und geschichtliche Erkenntniss fördern«.701 Diesem Zeitgeist entspricht ein Vorhaben der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien, das bereits in den 1820er Jahren angestoßen wurde: Joseph Sonnleithner, Gründer und langjähriger Sekretär der Gesellschaft, stellte im Oktober 1825 den Antrag, »Nachrichten über das Leben der einheimischen Musiker zu sammeln und zu bewahren«.702 Die Idee war, »biographische Nachrichten und Daten«703 zusammenzutragen, um diese als Materialgrundlage für eine lexikalische Publikation zu verwenden – »vielleicht in der Folge als Ergänzung des Gerber’schen Lexikons«. Sonnleithner begründete, nachlesbar in den Sitzungsprotokollen, ausführlich seine Idee: Die Gesellschaft habe sich durch die »Gründung einer musikalischen Bibliothek, welche sie fortwährend vergrößert«, außerdem auch mit der Gründung des »Museums alter Instrumente«, mit der »Einsam[m]lung der Volkslieder in den verschiedenen Provinzen der Monarchie« – zwar verspätet (»wiewohl um 50 bis 60 Jahre später«) – aber doch »verdient gemacht«. Es fehle, so das Protokoll weiter, um »die Ehre des Vaterlandes« zu befördern aber eine Fortsetzung des Waltherschen und Gerberschen Lexikons:
701 Chrysander 1863, S. 16. 702 Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien, Gesellschaftsakten 439 ex 1825. Für die Übertragung danke ich Dr. Wolfgang Henninger (Oldenburg). Einige Ausschnitte des Protokolls sind abgedruckt und ausgewertet in Biba 1996. 703 Dieses und die folgenden Zitate sind weiterhin dem Protokoll (Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien, Gesellschaftsakten 439 ex 1825) entnommen.
Beispiele lexikalisch-biographischer Großprojekte
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Wen[n] man in Walthers und Gerbers Werken über die Tonkünstler die Nachrichten über die Männer[704] aufsucht, die sich in diesem Zweige der Künste mehr oder weniger ausgezeichnet haben, so findet man, daß die Nachrichten theils unwahr, theils unvollständig sind; viele ausgezeichnete Männer, von großem Verdienste, deren Nahmen aber außer einzelnen Provinzen der Monarchie nicht bekan[n]t geworden sind, würde man vergebens darinn suchen. Während andere Nazionen großen und ehrenvollen Fleiß auf die Sam[m]lung der Nachrichten vom Leben und den Werken ihrer Künstler verwendet haben, sind wir auch hierinn zurück geblieben. […] Ich halte den[n] für eine sehr ehrenvolle und für die Kunstgeschichte des Vaterlandes sehr nützliche Arbeit, wenn die Gesellschaft ihr Augenmerk darauf richten wollte, die Nachrichten über die einheimischen Musiker zu sammeln und zu bewahren, ja um sie vielleicht in der Folge als Ergänzung des Gerber’schen Lexikons öffentlich bekannt zu machen. Ich schlage hierzu die Ernen[n]ung einer eigenen Commission vor.
Die lexikalische Biographik begreift Sonnleithner als nationale Aufgabe und stellt sie als Teil eines musikhistorisch-nationalen Gesamtkonzepts dar, das aus der Archivierung von Noten, Instrumenten, Volksliedern und eben biographischen Notizen besteht. Gleichwohl wurde darüber offenbar kontrovers diskutiert, da bereits einzelne Mitglieder der Gesellschaft mit ebensolchen biographischen Materialsammlungen beschäftigt waren, darunter auch Maximilian Stadler. Man vereinbarte schließlich, dass die Aktivitäten der Gesellschaft sich nur »über alle nach Haydns Tod verstorbenen und die noch lebenden Tonkünstler« erstrecken sollen, eine Übereinkunft, die späterhin nicht strikt eingehalten wurde. Im Januar 1826 wählte der Repräsentantenkörper der Gesellschaft ein »Committée« von Mitarbeitern für das Projekt, und bereits im Juli desselben Jahres konnte Sonnleithner eine Liste von 90 bereits verfassten Biographien vorlegen. Die Biographien-Sammlung wuchs im Laufe der nächsten Jahre. Bereits in den 1830er Jahren erlahmte das Sammelinteresse allerdings bereits wieder,705 und die ursprüngliche Idee, die biographischen Nachrichten als Quelle eines Lexikons oder sogar einer österreichischen Musikgeschichte zu verwenden, wurde nicht verwirklicht.706 Die Sammlung wurde später durch 704 Obwohl Sonnleithner explizit von »Männer« spricht und damit der Verdacht naheliegt, dass damit einem Geschichtsbild die Basis gebildet werden sollte, das Frauen aus der Geschichtsdarstellung ausschloß, befinden sich de facto in der Handschriftlichen Biographiensammlung zahlreiche Dokumente über Musikerinnen. Da das Projekt nicht zu seinem eigentlich intendierten Abschluss in Form eines edierten Lexikons kam, ist an dieser Stelle nicht zu sagen, wie diese Frage der Aufnahme von Musikerinnen in ein solches Lexikon letzlich entschieden worden wäre. 705 Für Auskünfte zur Sammlung danke ich Prof. Dr. Otto Biba. 706 Dass die Sammlung weiter anwuchs, ist dem Umstand geschuldet, dass Mitarbeiter wie Carl Ferdinand Pohl (ab 1866 Mitarbeiter des Archivs) eigene Manuskripte biogra-
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biographische Manuskripte unterschiedlicher Provenienz weiter ergänzt – u. a. Manuskripte von Carl Ferdinand Pohl – und ist heute im Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien einsehbar. Die Auswahl an Personen, die in der Sammlung mit biographischem Material vertreten sind, umfasst sowohl Komponisten und Komponistinnen als auch Interpreten und Interpretinnen sowie Musikforscher und -förderer. Die Konvolute tragen auf unterschiedliche Art biographisches und autobiographisches Material zusammen: autobiographische Berichte, Biographien, die auf Grundlage von Mitteilungen von Mitarbeitern des Projekts angefertigt wurden, Listen und Übersichten, die offenbar dazu dienten, im weiteren Verlauf mit Material ergänzt zu werden. Jene Artikel, die auf der Grundlage vorliegender Lexika zusammengestellt wurden, wie etwa die Biographie Florian Leopold Gassmanns, für die Anton Schmid, Kustos der k. k. Hofbibliothek und dort für die musikalische Abteilung zuständig, sich unter anderem bei Gerber und Fétis informierte und seine Quellen detailgenau angab, stammen nicht aus der Anfangszeit des Projekts.707 Ein weiteres Merkmal der Sammlung ist, dass einmal angelegte Konvolute zu einzelnen Personen fallweise auch erweitert wurden. So liegt etwa den »Biographische[n] Notizen über R. G. Kiesewetter«, 1834 »nach eigenen Mittheilungen zusammengestellt […] von Aloys Fuchs«, eine »Musikalisch-literarische Selbstbiographie« Kiesewetters aus dem Jahr 1849 bei.708 Bei aller Vielfalt der Quellen galt als Norm eines biographischen Eintrags offenbar die deskriptive Darstellung des Lebenslaufes – seltener wurde eine rein chronologisch-stichwortartige Form gewählt709 – und daran anschließend eine möglichst ausführliche Werkliste. Bei dieser Zweiteilung ist zu bemerken, dass der Werkliste ein wichtiger Raum beigemessen wurde; so umfasst etwa die Darstellung über Johann Nepomuk Hummel viereinhalb Seiten Biographie und fast fünf Seiten Werkliste. Von diesem gleichberechtigt zweiteiligen Prinzip sind lediglich diejenigen Darstellungen ausgenommen, die über ausübende Musikerinnen und Musikern angelegt wurden, die nicht kompositorisch tätig waren.
phischer Auftragsarbeiten der Sammlung beifügten. Vgl. zu Pohls Tätigkeit im Zusammenhang mit der Sammlung auch S. 142ff. dieses Bandes. 707 Biographie Gassmanns in der Handschriftlichen Biographiensammlung des Archivs der Gesellschaft der Musikfreunde Wien, Signatur 10907/134; der Autorenname wurde durchgestrichen. 708 Biographie und Autobiographie von Ralph Georg Kiesewetter in der Handschriftlichen Biographiensammlung des Archivs der Gesellschaft der Musikfreunde Wien, Signatur 10907/134. 709 Zum Beispiel bei der Sängerin Antonia Campi.
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Das Commitée hatte auf eine rege Mitarbeit von Seiten der aufzunehmenden Personen in Form von autobiographischen Skizzen oder Informationen gehofft. Doch diese gingen offenbar in weit geringerem Ausmaß ein als erwartet. In Fällen, in denen derartige Quellen zur Verfügung standen, wurde dies explizit notiert, so etwa im Falle von Leopoldine Blahetka, wo auf der ersten Seite der biographischen Darstellung der Hinweis notiert ist: »Nach den handschriftlichen Mitteilungen des Vaters der Künstlerin«.710 Im Konvolut über Blahetka befindet sich denn auch neben dem Grunddokument eine weitere handschriftliche Biographie, die inhaltlich, allerdings nicht sprachlich mit dem Grunddokument übereinstimmt. Offenbar handelt es sich hierbei um die erwähnte handschriftliche Mitteilung vom Vater der Künstlerin. In einigen Fällen stellten Künstler autobiographische Notizen zur Verfügung, besonders ausführlich etwa die »Musikalisch-literarische Selbstbiographie von R. G. Kiesewetter-Wiesenbrunn« und die »Biographische[n] Notizen über Anselm Hüttenbrenner, Direktor des Musikvereins in Gratz für die Gesellsch. d. Musikfreunde […] gesammelt und übergeben von Anselm Hüttenbrenner, 1835« (vgl. Tafel 7). Neben den autobiographischen Mitteilungen und den Mitteilungen Dritter finden sich außerdem gelegentlich auch Dokumente aus dem weiteren biographischen Umfeld. So beinhaltet das Konvolut über Antonia Campi auch die Zeichnung ihres Grabmals. Der Umfang der einzelnen Konvolute ist höchst unterschiedlich – von wenige Zeilen umfassenden biographischen Mitteilungen711 bis hin zu der 17 engbeschriebene Seiten umfassenden Lebensbeschreibung der »k.k. Hofharfenistin und Kammer Virtuosin Josephine Müllner« (d. i. Josepha Müllner-Gollenhofer712). Einerseits mögen diese Unterschiede der jeweiligen Quellenlage geschuldet sein. Auf der anderen Seite hing es sicherlich mit der Popularität, wie im Falle Josepha Müllners, und/oder der Nähe zur Institution der Gesellschaft der Musikfreunde, wie etwa der Fall des dem Wiener Musikleben eng verbundenen Gottfried van Swieten, zusammen, wie umfangreich einzelne Biographien ausfielen. Damit einher geht auch die Frage der Auswahl der dargestellten Künstler. Überblickt man die Liste der biographierten Personen, so fällt auf, dass offenbar neben den lokalen Größen auch weniger bekannte Musiker aufgenommen 710 Konvolut Leopoldine Blahetka in der Handschriftlichen Biographiensammlung des Archivs der Gesellschaft der Musikfreunde Wien, Signatur 10907/134. 711 So etwa die »4 Blätter mit ganz kurzen biographischen Notizen über Bagatti, Barrera, Bazzini, Fr. und N. Beccatelli, Bettauer, Benetti, Bernardi, Bertoni, Bossi, Biurmi, Bona, Borgi, Brescia, Buontempi, Burzio«, s. Verzeichnis der in der Handschriftlichen Biographiensammlung aufgenommenen Künstler, Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde Wien (Handexemplar). 712 Vgl. zu Müllner-Gollenhofer Hoffmann 1991, S. 148.
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wurden. Dahinter wird der Gedanke erkennbar, mit Hilfe eines möglichst engmaschigen Netzes einzelner biographierter Personen eine nationale Musikgeschichte weben zu können. Dass Mozart und Haydn nicht mit eigenen Konvoluten in der Biographien-Sammlung auftauchen, begründet Otto Biba damit, dass sie »bis 1826 schon – mehrfache – biographische Würdigungen erfahren«713 hatten. Andererseits ist jedoch auffällig, dass beide in der gesamten Sammlung immer dort präsent sind, wo sich ein biographischer und/oder musikhistorischer Bezug herstellen ließ: Allgemein ist die Tendenz deutlich, dass Mozart und Haydn hier bereits als unwidersprochene »Größen« der Musikgeschichte fungieren: So wird über Cajetan Wutky berichtet, dass er »die vertraute Freundschaft und Achtung des großen Joseph Haydn«714 genossen habe, und Joseph Wölfl wurde von seinem Vater »zur Vollendung seiner musikalischen Ausbildung« nach Wien geschickt: zu Mozart, »diesem unsterblichen Componisten«.715 Die Idee einer handschriftlichen Biographiensammlung geht konform mit zahlreichen lexikalischen Großprojekten, die ab den 1820er Jahren angestoßen und oftmals über Jahre bzw. Jahrzehnte betrieben wurden. Die nationale Selbstvergewisserung (und ‑behauptung) gehörte dabei zu den zentralen Themen im nach-napoleonischen Europa. So argumentierte beispielsweise Constantin Wurzbach, als er 1856 den ersten Band seines 60-bändigen Biographischen Lexikons des Kaiserthums Österreich herausgab: Jeder civilisirte Staat Europa’s hat nicht Ein, sondern mancher mehrere biographische Werke oft des bedeutendsten Umfanges und in prächtiger Ausstattung. […] Nur Oesterreich, das große stolze Oesterreich, auf das in seiner neuen Aera Aller Augen gerichtet sind, nur dieser gewaltige Großstaat besitzt noch immer kein selbstständiges biographisches Werk, wie ein solches fast jede kleinere Stadt Deutschlands, Frankreichs, Italiens besitzt […].716
Von höchster Stelle, auf »Veranlassung Seiner Majestät des Königs von Bayern«, wurde auch die Historische Comission der königlichen Akademie der Wissenschaften in München beauftragt, ein mehrbändiges Werk herauszugeben, das historische Persönlichkeiten biographisch darstellen sollte, die sich »für die Entwickelung Deutschlands in Geschichte, Wissenschaft, Kunst, 713 Biba 1996, S. 153. 714 Zit. nach ebda., S. 164, Hervorhebung M. U. 715 Zit. nach ebda., Hervorhebung M. U.; die Biographie über Wölfl wurde von Sonnleithner geschrieben. Wie stark dann gerade auch Pohl die Orientierung an Mozart weiter fortführte, zeigt das Beispiel Joseph Eyblers, s. S. 143f. dieser Studie. 716 Wurzbach 1856–1891, Bd. 1, Vorrede, S. IV.
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Handel und Gewerbe«717 verdient gemacht hatten. Die hiermit initiierte Allgemeine Deutsche Biographie (ADB) entstand ab 1868 in jahrzehntelanger Arbeit und umfasste schließlich – nachdem ursprünglich 20 Bände geplant gewesen waren – 54 Bände (nicht eingerechnet die Nachtrags- und Registerbände). Der erste Band der ADB erschien nach rund sieben Jahren Vorbereitungszeit im Jahr 1875, 1908 war die erste Auflage abgeschlossen. Der weitgefasste Radius des Personenkreises, den die Herausgeber in ihrer Vorrede ausführlich begründen und offenbar gegen bereits im Vorfeld geäußerte Kritik verteidigen,718 spricht für den modernen Ansatz jenes Vorhabens: Nicht nur die Herrschenden und Mächtigen wurden hier als Teil der Geschichte verankert, sondern auch die Intelligenzia und die Künstler. Vor allem aber, dass auch Personen des ökonomischen Lebens aufgenommen wurden, weist die ADB als modernes Werk aus. In der programmatischen Vorrede erläutern die verantwortlichen Herausgeber, Rochus Liliencron und Franz X. von Wegele, den Radius des dargestellten Personenkreises: »Wir fragen nicht, welche Namen überhaupt auf dem großen Schauplatz der Geschichte erscheinen, sondern wir suchen aus dem Verlauf der Dinge zu erkennen, in welchem Namen sich ihre Entwickelung darstellt, um, indem wir über diese Namen berichten, eine in biographische Bilder gefaßte Geschichte der Dinge selbst zu geben.«719 Das Panorama der Biographien soll sich zu einem historischen Panorama zusammensetzen. Diese Idee von großangelegten biographischen Lexika als Monumenten regionaler oder nationaler Selbstvergewisserung wurde in der Musikkultur mehrfach aufgegriffen und realisiert. In diesen Kontext zu stellen sind beispielsweise, an dieser Stelle den Blickwinkel explizit europaweit öffnend:720 David August von Apell, Gallerie der vorzüglichsten Tonkünstler und merkwürdigsten Musik-Dilettanten in Cassel von Anfang des 16. Jahrhunderts bis auf gegenwärtige Zeiten, Cassel 1806 Artistisches München im Jahre 1835 oder Verzeichniß gegenwärtig in Bayerns Hauptstadt lebender Architekten, Bildhauer, Tondichter, Maler, Kupferstecher, Litographen etc. Aus den von ihnen selbst entworfenen oder revidierten Artikeln zusammengestellt. Hg. von Adolph von Schaden, München 1836 717 Allgemeine Deutsche Biographie, 1. Auflage, Leipzig 1875 (hier und im Folgenden zit. nach dem Neudruck Berlin 1967, Sigle ADB), 1. Bd., Vorrede, S. Vf. 718 Auffallend ausführlich setzen sich die Herausgeber in ihrer Vorrede mit den Argumenten der Personenauswahl auseinander, offenbar die Diskussionen der Historischen Comission dabei wiedergebend. 719 ADB, 1. Bd., S. VIIf. 720 Die ausgewählten, chronologisch aufgeführten Beispiele sind der Bibliographie zu den Biographischen Archiven (München 1994) entnommen und umfassen im Zeitabschnitt von rund 100 Jahren Lexika unter dem Fokus der Nationalität/Regionalität.
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Arthur Dinaux, Les trouvères cambrésiens (Trouvères, Jongleurs et Ménestrels du Nord de la France et du Midi de la Belgique, Bd. 1), 3. Aufl. Paris 1837 Arthur Dinaux, Les trouvères de la Flandre et du Tournaisis (Trouvères, Jongleurs et Ménestrels du Nord de la France et du Midi de la Belgique, Bd. 2), Paris 1839 Arthur Dinaux, Les trouvères brabançons, hanuyers, liégeois et namurois (Trouvères, Jongleurs et Ménestrels du Nord de la France et du Midi de la Belgique, Bd. 4), Bruxelles 1863 Johann Gottfried Conradi, Kortfattet historisk Oversigt over Musikens Udvikling og nuværende Standpunkt i Norge, tillige med nogle biografiske Notitser om norske eller i Norge bosatte Komponister og Eksekutør, Christiania 1878 Oscar Chilesotti, I nostri maestri del passato. Note biografiche sui più grandi musicisti italiani da Palestrina a Bellini, Milano 1882 Vincenzo Bindi, Artisti abruzzesi. Pittori, scultori, architetti, maestri di musica, fonditori, cesellatori, figuli dagli antichi a’ moderni. Notizie e documenti, Napoli 1883 Fernando Arteaga y Pereira, Celebridades musicales, Barcelona 1887 J. D. Brown, S. S. Stratton, British musical biography: a dictionary of musical artists, authors & composers born in Britain & its colonies, Birmingham 1897 Robert Conné, Danske Tonekunstnere og Musikpædagoger, København 1911 Fernando Callejo Ferrer, Música y músicos puertorriqueños, San Juan de Puerto Rico 1915 Francisco Cuenca, Galería de Músicos Andaluces Contemporáneos, La Habana 1927
Die vom Gedanken der eigenen nationalen Selbstvergewisserung geprägte Phase der biographisch-lexikalischen Großprojekte wurde ab den 1880er Jahren ergänzt durch eine Phase der professionellen Fokussierung, befördert durch den Einfluss der Industrialisierung und der damit weitergehenden beruflichen Spezialisierung. Es entstanden umfangreiche Lexika, die einzelne (Berufs-)gruppen zusammenfassten: Botaniker, »Forstmänner und um das Forstwesen verdienter Mathematiker« oder »Vorkämpfer aus den Kurzschriftschulen«, sogar der »Berufsstand« Pirat wurde biographisch-lexikalisch erfasst.721 Auch in den Musik-Lexika finden sich nunmehr berufsspezifische Eingrenzungen, darunter A biographical dictionary of fiddlers, including perform-
721 Britten/Boulger 1893, Heß 1885, Bonnet 1924, Gosse 1929; vgl. dazu Bibliographie zu den Biographischen Archiven 1994.
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ers on the violoncello and double bass (London 1895) oder Montmartre et ses chansons, poètes, chansonniers (Paris 1902).722 Unter der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland erstarkte die Idee erneut, durch biographisch-lexikalische Bestandsaufnahme eine nationale Identität und deren historische Legitimierung zu fixieren. In den späten 1930er und 1940er Jahren dienten entsprechend fokussierte Lexika in Deutschland sowohl der Stigmatisierung als auch der Apologisierung: Es erschienen etliche Lexika, die Personen jüdischen Glaubens unter geographischen oder berufsspezifischen Gesichtspunkten zusammenfassten, wie etwa das von Hans Brückner und Christa Maria Rock herausgebene, antisemitisch geprägte Lexikon Judentum und Musik. Mit dem ABC jüdischer und nichtarischer Musikbeflissener, das 1938 bereits in 3. Auflage erschien.723 Wenn damit (nur äußerst punktuelle) Beispiele für biographisch-lexikalische Großprojekte benannt sind, sollte doch eine Spannweite identitätsstiftender Erinnerungskultur erkennbar geworden sein, in die sich auch diesbezügliche musikbezogene Projekte einordnen lassen. Hier freilich liegt ein weites Forschungsfeld offen, das an dieser Stelle nur noch in seinen Dimensionen abgesteckt, nicht aber weiterverfolgt wird: Wie interagieren an dieser Stelle Institutionen und Wissensprodukion? Welche Konzeptlinien – neben der nationalen Selbstvergewisserung – sind bedeutsam? Welche Entscheidungen werden im Hinblick auf die musikalischen Berufsfelder getroffen,724 bzw. wo liegen die Argumentationslinien, die die ausübenden Künstler stärker in den Hintergrund, die Komponisten stärker in den Vordergrund der lexikalischen Wahrnehmung rücken? Auf welche Weise gelingt, selbst in der Lexikalik, die Monumentalisierung des Komponisten? Und nicht zuletzt: Auf welche Weise etabliert sich das lexikalische Konzept von Leben-Werk-Wirkung, wie es dann in der Enzyklopädie Die Musik in Geschichte und Gegenwart zum Standard wird?
722 Clarke 1895, Bercy 1902. 723 Brückner/Rock 1938, s. auch Buchmann 1940, Erasmus 1941. 724 Zu einem Beispiel aus der Lexikalik um 1900 vgl. auch Unseld 2010d.
6. Monumental: Der Komponist als Heroe
»Größe ist, was wir nicht sind.« Jacob Burckhardt725
Wenn wir davon ausgehen, dass sich Biographik immer an »historisch, sozial, regional differenten Konzepten von Individualität, Freiheit, Rationalität oder an deren jeweiligem Gegenteil«726 orientieren, wenn dabei »Staat, Volk, Rasse oder Geschlecht« zusammen mit »wissenschaftlich auftretenden Theorien und Erkenntnismodellen« relevant werden, die wiederum sich mit »popularen Vorstellungen und Traditionen der Mythisierung« vermischen,727 dann steht außer Zweifel, dass die Heroen-Biographik des 19. und frühen 20. Jahrhunderts auf dem Nährboden eines komplexen Diskursfeldes entstand. Um dieses nur knapp zu umreißen: Neben den Diskussionen um den Begriff des Genies waren die nationalstaatlichen und ökonomischen Tendenzen des 19. Jahrhunderts wichtig, die nicht zuletzt dazu beitrugen, eine Vorstellung davon zu entwickeln, was das Bürgertum als gesellschaftstragende Schicht sein könne. Wenn wir weiter davon ausgehen, dass die Idee des Heroismus in die Musikkultur und in die Musikgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts Einzug hielt und sich dort in erheblichem Maße ausbreitete, ist in Betracht zu ziehen, dass die Wendung zum Monumentalen begleitet ist von Veränderungen innerhalb einer Musikkultur, die sich nicht nur historisch und wissenschaftlich (neu) ausrichtet und damit Anschluss an historiographische Diskurse sucht, sondern dass sich dies vor dem Hintergrund einer Bedeutungsverschiebung ereignet, die der Musik (und hier vor allem einem kanonisierten Ausschnitt von Musik) eine bedeutsame Rolle in der Konstitution von Gesellschaft(en) und Nation(en) zuweist. So können etwa die Metamorphosen, die der Heroismus zwischen Französischer Revolution und Erstem Weltkrieg durchläuft, im Spiegel der Operngeschichte betrachtet werden: mit zwei Eckpunkten wie Beethovens Fidelio und Janáčeks Aus einem Totenhaus – hier im Zentrum der gefangene, durch die Frau befreite Heroe, dort das Kollektiv der an Vorstellungen des Heroismus gescheiterten Männer. Dieses Beispiel mag andeuten, dass die Frage nach dem heroenbiographischen Konzept in der Musik in komplexen Wechselverhältnissen mit weitläufigen 725 Burckhardt 2000, S. 497. 726 Von Zimmermann 2006, S. 187. 727 Hinter dieser Annahme steht das Konzept der anthropologischen Biographik, das Christian von Zimmermann in seiner Habilitationsschrift überzeugend vertreten hat (vgl. von Zimmermann 2006).
Der Komponist als Heroe
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Phänomenen von Musikkultur, Öffentlichkeit, Kanonisierungs- und Historisierungsprozessen steht, die wiederum als Teil gesellschaftlicher und politischer Verhältnisse verstanden werden müssen.728 Hegels Vorstellung eines »welthistorischen Individuums«, wie er es etwa in seinen Vorlesungen zur Philosophie der Geschichte (1837 posthum erstmals erschienen) ausgeführt hat,729 gilt als Zentrum des Heroismus-Diskurses im 19. Jahrhundert,730 weshalb es lohnend ist, sich diese genauer zu vergegenwärtigen. Gleichwohl muss betont werden, dass Hegel weder als alleiniger Ausgangspunkt dieser Vorstellung zu gelten hat, noch dass seine Gedanken ein ante quem non heroengeschichtlicher Konzepte darstellt. Gerade mit Blick auf das Ringen um neue, den veränderten Verhältnissen der Musikkultur entsprechenden Komponistenbilder werden früh Tendenzen erkennbar, Komponisten als Heroen zu imaginieren. Deutlich wird dabei, dass diese sich aus dem Genie-Diskurs der vorangegangenen Jahrzehnte speisen und dabei eng an Bedürfnisse nach Kanonisierung anschließen, die sich aus der Idee der Historisierung ergaben. Dies einschränkend berücksichtigend kann Hegels Vorstellung dennoch für das Phänomen des Heroismus in der Musikkultur des 19. Jahrhunderts produktiv nutzbar gemacht werden. Zunächst geht Hegel von einer grundlegenden Disposition aus, die strikt zwischen »welthistorischem Individuum« und der Gruppe der allgemeinen Individuen trennt. Jede Gruppe sei grundlegend anderen Handlungsmaximen unterworfen: Jedes Individuum hat seinen Stand, es weiß, was rechtliche, ehrliche Handlungsweise überhaupt ist. Für die gewöhnlichen Privatverhältnisse, wenn man es da für so schwierig erklärt, das Rechte und Gute zu wählen, und wenn man für eine vorzügliche Moralität hält, darin viele Schwierigkeit zu finden und Skrupel zu machen, so ist dies vielmehr dem üblen oder bösen Willen zuzuschreiben, der Ausflüchte gegen seine Pflichten sucht, die zu kennen eben nicht schwer ist.731
Von den »gewöhnlichen Privatverhältnisse[n]« und dem darin beheimateten allgemeinen Individuum scharf getrennt, bzw. als dessen Komplementär, sieht Hegel das Geschichtliche und dessen Protagonisten, das »welthistorische Individuum«: Ein anderes ist es in den großen geschichtlichen Verhältnissen. Hier ist es gerade, wo die großen Kollisionen zwischen den bestehenden, anerkannten Pflichten, Gesetzen und Rechten und den Möglichkeiten entstehen, welche diesem System 728 729 730 731
Vgl. dazu u. a. Burnham 1995, insbes. Kapitel 2 und 4. Hegel 1986, S. 44ff. Vgl. von Zimmermann 2006, S. 137ff. Zitate hier und im Folgenden: Hegel 1986, S. 44ff.
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entgegengesetzt sind, es verletzen, ja seine Grundlage und Wirklichkeit zerstören und zugleich einen Inhalt haben, der auch gut, im großen vorteilhaft, wesentlich und notwendig scheinen kann. Diese Möglichkeiten nun werden geschichtlich; sie schließen ein Allgemeines anderer Art in sich als das Allgemeine, das in dem Bestehen eines Volkes oder Staates die Basis ausmacht. Dies Allgemeine ist ein Moment der produzierenden Idee, ein Moment der nach sich selbst strebenden und treibenden Wahrheit. Die geschichtlichen Menschen, die welthistorischen Individuen sind diejenigen, in deren Zwecken ein solches Allgemeines liegt.
Damit aber gehört nicht mehr die Gottähnlichkeit zu den grundlegenden Eigenschaften jenes »welthistorischen Individuums«, sondern das »prinzipielle Anderssein der Größe«732, vor allem das Anderssein gegenüber bürgerlichen Moralvorstellungen. Dem Helden wurde daher eine Position außerhalb der bürgerlichen Gesellschaft zugewiesen, eine Position, die ähnlich auch für das Künstlergenie konzipiert war, was zu einer spezifischen Nähe zwischen Held und Genie Anlass bot und dabei dem Künstler vor allem den konkreten wie ästhetischen Freiraum zum künstlerischen Tun, aber auch zur moralischen Freiheit gewährte. Diese nicht bloß als zu tolerierende Eigenart, sondern als genuin dem Helden- bzw. Künstlertum inhärent zu betrachten, ist den romantischen Künstlerfiguren von E. T. A. Hoffmann bis zu Hindemiths Cardillac ebenso zu entnehmen wie der dämonischen Seite des Virtuosentums (Niccolò Paganini733 u. a.), wobei das Changieren zwischen literarischer Figur, Bühnenfigur und Künstlerimage nicht zufällig, sondern als verschiedene Facetten künstlerischer Selbstkonzepte zu lesen sind. Neben diesem genialischen, dämonisch-›überschatteten‹ Künstlerbild geht es im heroischen Künstlerbild um eine ›Strahlkraft‹, die sich die »dunkle« Seite qua Moraldispens aneignet und transformiert. Die Aufgaben, die ein »welthistorisches Individuum« im Sinne Hegels zu erfüllen habe, liegen dabei in einem übergeordneten Bereich, der der Allgemeinheit Fundament und Rahmung gleichermaßen gebe. Diese Aufgabe der Rahmung aber sieht Hegel nicht in Form reiner Repräsentanz (hierin sich gegen ein monarchisches Prinzip verwahrend), sondern im Handeln, so dass dem »welthistorischen Individuum« die Aufgabe des tätigen Handelns (Hegel spricht sogar vom »Beruf«) zukommt. Dieser Aspekt aber ist bedeutsam für den Schritt, Künstlern und ihrem künstlerischen Handeln Zugang zum Bereich des »welthistorischen Individuums« zu eröffnen, sie als Heroen wahrzunehmen: Dies sind die großen Menschen in der Geschichte, deren eigene partikuläre Zwecke das Substantielle enthalten, welches Wille des Weltgeistes ist. Sie sind insofern 732 Von Zimmermann 2006, S. 136. 733 Vgl. dazu Bork 2013.
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Heroen zu nennen, als sie ihre Zwecke und ihren Beruf nicht bloß aus dem ruhigen, geordneten, durch das bestehende System geheiligten Lauf der Dinge geschöpft haben, sondern aus einer Quelle, deren Inhalt verborgen und nicht zu einem gegenwärtigen Dasein gediehen ist, aus dem innern Geiste, der noch unterirdisch ist, der an die Außenwelt wie an die Schale pocht und sie sprengt, weil er ein anderer Kern als der Kern dieser Schale ist, – die also aus sich zu schöpfen scheinen und deren Taten einen Zustand und Weltverhältnisse hervorgebracht haben, welche nur ihre Sache und ihr Werk zu sein scheinen.734
Hegel unterscheidet damit den Heroen der Geschichte nicht grundsätzlich von ›großen Männern‹ anderer »Berufe«. Im Gegenteil: Die Argumentation fußt darauf, dass das spezifische Tätigsein Ausweis des »welthistorischen Individuums« sei, indem es aus sich heraus schöpft und ein Werk schafft. Damit aber scheint Konrad Küsters Auffassung einer »Heroengeschichte« zu eng gefasst, wenn er diese vom »Geniedenken in der Kulturgeschichte« abkoppelt:735 Im Heroenprinzip Hegelscher Prägung ist nicht allein die politische Sphäre adressiert, sondern in der Tat auch darüber hinausgehende Bereiche wie Wissenschaft und Kunst, was dazu Anlass gibt, über die Nähe von Genie- und Heroen-Diskurs nachzudenken. Mit Ute Frevert wäre sogar noch weiterzugehen, die auf der Basis von Hegels Konzept gerade die Kunst (und insbesondere die Musik) als wichtiges Bindeglied des Bürgertums zum Heroismus sieht: Literatur, Malerei, Skulptur, Architektur, Musik – sie alle waren laut Hegel berufen, die Sehnsucht des bürgerlichen Individuums nach der heroischen Totalität zu verwirklichen, indem sie dem Bürger nicht seine tatsächliche Lebensform als abhängiges, regelgebunden handelndes Glied einer zunehmend funktional differenzierten Gesellschaft spiegelten, sondern von Schöpfertum, ästhetischen Grenzerfahrungen und kompromißlosen Helden handelten, hielten sie diese Sehnsucht nicht nur wach, sondern nährten sie zugleich.736
In diesem Sinne ist der enge Konnex zwischen »welthistorischem Individuum«, seiner genuinen Schöpferkraft und dem auf diese Weise hervorgebrachten Werk die Grundlage, auf der das Bild des Komponisten im 19. Jahrhundert maßgeblich beruht. An das Prinzip des Heroischen aber knüpfen sich die Vorstellungen des explizit männlich gedachten Genies und eines Werkverständnisses, in dessen Kern Autonomie und Fortschrittsdenken beheimatet sind. Denn Hegel stellt die Aufgabe jenes »welthistorischen Individuums« im Sinne eines Fortschrittsprinzips (er spricht in diesem Zusammenhang vom 734 Hegel 1986, S. 45f. Hervorhebung im Orginal. 735 Küster 2011, S. 9. 736 Frevert 1998, S. 327.
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»Trieb der Perfektibilität«737) als über der Zeit stehend dar: »Ihre Sache war es, dies Allgemeine, die notwendige, nächste Stufe ihrer Welt zu wissen, diese sich zum Zwecke zu machen und ihre Energie in dieselbe zu legen. Die welthistorischen Menschen, die Heroen einer Zeit, sind darum als die Einsichtigen anzuerkennen; ihre Handlungen, ihre Reden sind das Beste der Zeit.«738 Hegel konkretisiert – für die biographische Darstellung des Heroen besonders wichtig – auch, welchen Lebensentwurf (»Schicksal«) und welchen Charakter ein »welthistorisches Individuum«, mit diesen Aufgaben verbunden, habe: Werfen wir weiter einen Blick auf das Schicksal dieser welthistorischen Individuen, welche den Beruf hatten, die Geschäftsführer des Weltgeistes zu sein, so ist es kein glückliches gewesen. Zum ruhigen Genusse kamen sie nicht, ihr ganzes Leben war Arbeit und Mühe, ihre ganze Natur war nur ihre Leidenschaft. Ist der Zweck erreicht, so fallen sie, die leeren Hülsen des Kernes, ab. Sie sterben früh wie Alexander, sie werden wie Cäsar ermordet, wie Napoleon nach St. Helena transportiert. Diesen schauderhaften Trost, daß die geschichtlichen Menschen nicht das gewesen sind, was man glücklich nennt und dessen das Privatleben, das unter sehr verschiedenen, äußerlichen Umständen stattfinden kann, nur fähig ist – diesen Trost können die sich aus der Geschichte nehmen, die dessen bedürftig sind. Bedürftig aber desselben ist der Neid, den das Große, Emporragende verdrießt, der sich bestrebt, es klein zu machen und einen Schaden an ihm zu finden.739
Damit ist ein Topos festgeschrieben, der sich gerade auch mit dem Heroismus musikkultureller Prägung aufs Eindrücklichste verbindet: der Heroe als unglücklicher Mensch, dessen Leidenschaften für sein Ziel ihn vom Glück im Zwischenmenschlichen fernhält. Dieser Topos spielt vor allem in der Beethoven-Rezeption eine wichtige Rolle.740 Und insbesondere auch in der Gegenüberstellung zu Franz Schubert sah man die Größenverhältnisse dem Topos vom einsamen Helden entsprechend im Kontrast zu dem in der Geselligkeit aufgehenden Franz Schubert.741 737 Hegel 1986, S. 74. Hervorhebung im Orginal. 738 Ebda., S. 46. Hervorhebung M. U. 739 Ebda., S. 46f. 740 Vgl. dazu auch das folgende Kapitel. 741 Dass sich dahinter nicht zuletzt auch eine national gefärbte Abgrenzungsstrategie von Österreich vs. Preußen verbarg, hat Marie Agnes Dittrich mehrfach betont (u. a. Dittrich 1998 und Dittrich 2001). Unter den genannten kontrastierenden Topoi die beiden Länder betreffend findet sich bezeichnenderweise auch »jünglinghaft/kindlich« vs. »männlich« und »friedlich« vs. »aggressiv, militaristisch, heroisch«. Entsprechungen dazu finden sich im Schubert- bzw. Beethoven-Bild: »kindlich, weiblich, weicher, naiv, unheroisch« vs. »mächtig, männlich, härter, heroisch, gewalttätig«, vgl. Dittrich 2001, S. 7 und S. 12f.
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Schließlich formuliert Hegel das, was bereits im Genie-Diskurs wichtig gewesen war, die Frage eines Moraldispenses: Ein welthistorisches Individuum hat nicht die Nüchternheit, dies und jenes zu wollen, viel Rücksichten zu nehmen, sondern es gehört ganz rücksichtslos dem einen Zwecke an. So ist es auch der Fall, daß sie andere große, ja heilige Interessen leichtsinnig behandeln, welches Benehmen sich freilich dem moralischen Tadel unterwirft. Aber solche große Gestalt muß manche unschuldige Blume zertreten, manches zertrümmern auf ihrem Wege.742
Christian von Zimmermann erläutert hierzu die Konsequenzen für die Biographik: Diese bereits von Schiller vorgeprägte und seit Hegel geläufige Trennung der geschichtlichen Bedeutung von der moralischen Bewertung des großen Individuums bricht mit der Tradition einer philanthropischen Anthropologie, welche noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts die aufgeklärte Biographik prägte und deren Vorstellung ›Größe‹ unmittelbar an moralische Vorbildlichkeit gebunden war. Hegel trennt dagegen die für die in der bürgerlichen Gesellschaft lebenden Individuen gültigen moralischen Normen von der höheren Moralität der Welthistorie.743
In der Musikerbiographik um 1800 freilich hatte sich besonders an Mozart und Beethoven früh die Frage der moralischen Vorbildlichkeit entzündet, so dass dort vorrangig nach einer Argumentation für einen Moraldispens gesucht wurde: Weder die Person noch das Werk – und eine Korrelation zwischen beiden sahen nicht nur Nägeli und Hoffmann als »natürlich« an744 – konnten in beiden Fällen als uneingeschränkt vorbildlich beschrieben werden, sowohl Mozarts »schattige« Charakterseiten als auch Beethovens Bizarrerien und Wildheiten in Charakter wie Komposition bedurften einer Vermittlung, die nicht auf Vorbildlichkeit abzielte. Die daraufhin einsetzende Idealisierung optierte dabei auf ein Verschweigen allzu exzentrischer Momente (Nissen), die Heroisierung aber argumentierte mit dem Moraldispens. Rücksichtslosigkeiten gegen das, was Hegel die »gewöhnlichen Privatverhältnisse« nennt, zu rechtfertigen, zielte dabei um 1800 zunächst auf das Genialische ab, in dem der Moraldispens ebenso vorgesehen war wie das Hinwegsetzen über Regeln. Vom Heroischen im engeren Sinne ist daher bei Rochlitz noch nicht die Rede, wenn er etwa im Zusammenhang mit der Publikation der MozartAnekdoten die rhetorische Frage stellt, ob »wir einen solchen Mann nach 742 Hegel 1986, S. 49. 743 Von Zimmermann 2006, S. 137. 744 Konrad kritisiert diese Parallelsetzung (Konrad 1995). Sie wird hier und im Folgenden nicht bewertet, sondern als Spezifikum des Denkens von Nägeli, Hoffmann und anderen verstanden und entsprechend berücksichtigt.
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dem Maasstabe beurtheilen [dürfen], der mit Recht für uns mittelmässige Leutchen zum Richtscheit dient? hat das Sprüchwort keinen Werth mehr: Duo dum faciunt idem, non est idem?«745 Und die die Anekdoten-Serie abschließende Abhandlung »Raffael und Mozart« (1800) bekräftigt das Argument des Genialischen, da es Rochlitz hier um eine Parallelsetzung zwischen dem bereits als Genie kanonisierten Maler und dem Komponisten geht.746 Mit Rochlitz ist ein wichtiger Akteur des Musikschrifttums um 1800 benannt, der großen Einfluss auf die Kanonisierung von Mozart und Beethoven nahm, der über den Weg des Geniegedankens das »noch junge Phänomen«747 der Heroisierung vorbereitete – und der bezeichnenderweise für beide Komponisten als Biograph vorgesehen war, allerdings beide Male, ohne dass sich das Projekt realisiert hätte. Wenn Ulrich Konrad Rochlitz’ publizistische Aktivitäten um 1800 als »regelrechten Pressefeldzug« bezeichnet, dessen Intention es gewesen sei, »seinen Helden Mozart als unumstößliche Größe der Musik-, ja der kulturellen Menschheitsgeschichte schlechthin zu etablieren«,748 greift er in der Metaphorik des Heroischen der Hegelschen Idee zwar voraus. Im Kern aber lässt Konrads Hinweis erkennen, dass im Genie-Bild der Zeit um 1800, zumal in dem als »stürmisch« und »frei« charakterisierten, die Grundzüge des Heroischen angelegt waren. Anders gesagt: Mithilfe des Genie-Bildes – und mithilfe des Hegelschen Auftrags an das »welthistorische Individuum«, »Geschäftsführer des Weltgeistes« zu sein, – konnte das Musikgenie in den Bereich des Heroischen Einzug halten. Dementsprechend früh749 ist in Hans Georg Nägelis Vorlesungen über Musik (1826) bereits vom »Helden« die Rede,750 damit Beethoven als exponierte Erscheinung in die Musikgeschichte einführend. Für die Inszenierung Beethovens als Held legt Nägeli als musikhistorisches Tableau die Beschreibung eines künstlerisch-ästhetischen Niedergangs zugrunde, so dass Beethoven in diesem Kontext nicht nur als Träger des Fortschrittsgedankens fungieren kann, sondern vor allem auch als Retterfigur: Nägeli stellt die musikgeschichtliche Entwicklung des ausgehenden 18. Jahrhunderts anhand zahlreicher Namen (darunter Mozart, Haydn und Pleyel) und anhand der Vielfalt kompositorischer 745 746 747 748 749
Rochlitz 1798a, S. 19. Dazu Staehelin 1977, Gruber 1985, S. 105ff., Konrad 1995. Gruber 1987, S. 105. Konrad 1995, S. 9, Hervorhebung M. U. Hegels Vorlesungen wurden 1837 erstmals gedruckt, Thomas Carlyle begann in den 1840er Jahren, sein Konzept des Heroismus zu verbreiten, eine erste deutsche Übersetzung seiner Vorlesungen Über Helden, Heldenverehrung und das Heldentümliche in der Geschichte erschien 1853. 750 Vgl. dazu auch Staehelin 1982, in dessen Titel noch immer bezeichnenderweise von der »Beziehung« Nägelis »zu dem großen Komponisten« die Rede ist.
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Erscheinungen dar, beklagt dabei aber den Niedergang der Instrumentalmusik mit Verweis auf die »Divertissements-Musik«, um dann ebenso abrupt wie sprachmächtig inszeniert das »Erscheinen« Beethovens zu beschreiben: »Dieß war der Zustand der Tonkunst, als Instrumentalmusik, gegen das Ende des achtzehnten Jahrhunderts. Da erschien Beethoven, der große Kunstheld. Wie der im neuen Jahrhundert die Kunstwelt erneuerte, wiedergebar, dazu findet der Historiker die Worte nicht – kaum ein Dichter fände sie.«751 Die Aufgabe des »Helden« aber, so Nägeli, sei, die Musik »von Neuem empor gehoben« zu haben, so dass sie »nicht noch einmal zurücksinke, das hat uns Beethoven, der Held – wir dürfen sagen, auf ewig gesichert«.752 Bezeichnend ist freilich, dass Nägeli diese heroische Aufgabe der Person Beethoven argumentativ mit der Betrachtung seiner Musik begleitet, die er weder als ästhetisch herausragend noch als regelgerecht bezeichnet. An dieser Stelle treffen daher erkennbarerweise Heroen- und Genie-Bild aufeinander, indem das Werk des Letzteren als autonom und zukunftsweisend betrachtet und als Aufgabe des Ersteren im Sinne des Fortschritts der Allgemeinheit interpretiert wird: Beethovens Anordnung, Zusammenordnung von Ideen, die einander fremd scheinen, ist die Anordnung eines höheren Genius. Findet sich in seinen Sinfonieen mitunter eine übertriebene Anhäufung von Tonmassen, mithin eine materielle und also fehlerhafte Colossalität, so ist es erstens historisch zu bemerken, daß ein wahrer großartiger symphonischer Styl erst noch gesucht werden muß, und daß Beethoven, namentlich durch originellen Zusammengebrauch der Instrumente, schon mehr gefunden und geleistet hat, als Haydn und Mozart.753
Zunächst verbreiteter als der Begriff »Held«, mit diesem und dem GenieBegriff aber eine wichtige Verbindung eingehend, war das im Grunde unspezifische Sprechen von der »Größe«, in der sich verschiedene Elemente des Genie-Begriffes ebenso wiederfanden wie solche des Heroen-Begriffs vorgeprägt waren. In Thibauts Über Reinheit der Tonkunst (1824) ist etwa nachzulesen: »Das klassische […] ist das Werk großer Geister, die freie Kraft eines mächtigen Gemüts durch die Tat bewährend und insofern allen Zeitaltern angehörend, welche Sinn für das Geniale haben«.754 Der Begriff der »Größe« konnte sich im weiteren Verlauf des Jahrhunderts in Kanonisierung, in Monumentalbiographik und in der Partizipation am historiographischen Modell der allgemeinen Geschichte der »großen Männer« ausprägen. Er gab zunächst den Akteuren der Musikkultur um 1800 einen wichtigen Argumen751 Nägeli [1826] 1980, S. 187. 752 Ebda. 753 Ebda., S. 191. 754 Thibaut 1907, S. 35.
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tations- und Handlungsspielraum, um Medien der kulturellen Erinnerung zu initiieren oder neu auszugestalten. Zu Ersteren gehörten die groß angelegten Werkausgaben, später auch die Gesamtausgaben, die Errichtung von Denkmälern, Gedenkmünzen,755 die Begehung von Jubiläumstagen u. a. m., zu Letzteren die Komponisten-Biographien, die nicht nur von der Konzeption des Biographierten, sondern auch in den Dimensionen des Umfangs und der Auflagenstärke zunahmen, denn, so Georg Christoph Grosheim in seiner Rezension über die Nissensche Mozart-Biographie, »nicht zu berechnen ist der Werth, welcher in den Biographien grosser Männer liegt. Hochauflodernde Fackeln, über Jahrhunderte hin vorleuchtend, stehen sie aufgezeichnet in der Weltengeschichte.«756 Wie eng sich der Begriff der »Größe« an die Metaphorik des Heroischen anschließen ließ, lässt sich beispielhaft in Grosheims bei Schott in Mainz verlegtem Chronologischem Verzeichnis vorzüglicher Beförderer und Meister der Tonkunst (1831) nachvollziehen. Hier benennt der Autor im Vorwort die Kriterien seiner Auswahl: Wenn sich, unter den vorzüglichen Beförderern und Meistern der Tonkunst, hier nur wenig Große dieser Erde befinden, […] so glaube ich meine Entschuldigung darin zu finden, daß ich nur Pflanzer, nicht aber deren Nachkömmlinge habe nennen wollen […]. Wenn wir aber auf die Heroen verflossener Zeiten hinblicken, und das unzählbare Heer verkrüppelter Pygmäen betrachten, die, in unsern Tagen, emsig bemüht sind, den gewonnenen festen Boden in sumpfiges Gewässer umzuwandeln, so will ein schmerzhaft Gefühl sich unsrer bemächtigen, daß wir nun so tief gefallen sind.757
Zentral im Zusammenhang mit dem Sprechen über »Größe« ist dabei auch Jacob Burckhardt, der in seinen Vorlesungen Über das Studium der Geschichte758 nicht nur das »Wesen der Größe« mit Hinblick auf die Geschichte definierte, sondern hierbei der Musik ausdrücklich eine Sonderrolle einräumte, die dann in einer Sonderrolle des diese Musik Schaffenden mündet: Wunderbare und räthselhafte Stellung [der Musik]; wenn Poesie, Sculptur und Malerei sich noch immer als Darstellerinnen des erhöhten Menschenlebens geben mögen, so ist die Musik nur ein Gleichniß desselben. (Um nämlich auf den Grund ihres Wesens zu kommen, muß man sie ohne Verbindung mit Texten, vollends 755 Diesen widmet bereits Nissen ein eigenes Kapitel seiner Mozart-Biographie, vgl. Nissen 1828, Anhang S. 176ff. 756 Grosheim 1829b, S. 278. 757 Grosheim 1831, S. IV und VIf., Hervorhebung M. U. 758 Die Vorlesungen hielt Burckhardt 1868–1872. Sie liegen nicht als abgeschlossener, für die Publikation vorgesehener Text, sondern in transkribierter Form vor (Burckhardt 2000), so dass sie unter diesem Vorbehalt gelesen werden müssen.
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ohne Verbindung mit dramatischer Darstellung betrachten, als Instrumentalmusik). Sie ist ein Comet der das Menschenleben in colossal weiter und hoher Bahn umkreist, dann aber auf einmal sich wieder so nahe zu demselben herbeiläßt als kaum eine andere Kunst und dem Menschen sein Innerstes deutet.759
Diese an E. T. A. Hoffmanns Primat der Instrumentalmusik gemahnende Argumentation verbindet Burckhardt dabei sogleich mit dem Schöpfer ebendieser Musik: »Ihre Wirkung ist so groß und unmittelbar (d. h. in den rechten Fällen) daß das Dankgefühl sofort nach dem Urheber frägt und unwillkürlich dessen Größe proclamirt. Die großen Componisten gehören zu den unbestrittensten Größen.«760 Wenn daher Burckhardt im Folgenden das »Wesen der Größe« anhand von Herrschern beschreibt und dabei das Modell des Heroen als Geschichtsgröße definiert, ist darin doch immer auch das Modell des als Heroen verstandenen Komponisten mitzudenken, da dieser zu »den unbestrittensten Größen« zähle. Die Definition, die Burckhardt hierzu gibt, bezieht sich in Grundzügen auf das Sturm-und-Drang-Genie: Da ist zum einen die Ausnahmeposition des Heroen (»Das große Individuum ist ja nicht zum Vorbild, sondern zur Ausnahme hingestellt in die Weltgeschichte«761), die zum Moraldispens (»Dispensation von dem gewöhnlichen Sittengesetz«762) hinleitet. Das Wirken des »Großen« aber sei gekennzeichnet durch »abnorme Willenskraft«,763 »Machtsinn«764 und »Unabhängigkeit von dem sachlichen oder Fachurtheil«.765 An anderer Stelle kommt Burckhardt darauf zu sprechen, wie passgenau bis ins Detail sich dieses am Herrscher exemplifizierte Heroen-Modell auf den Künstler übertragen lasse, wobei bezeichnenderweise der Verweis auf Mozart den Passus beschließt: Frage: wie weit die großen Dichter und Künstler von der persönlichen Größe dispensirt seien? jedenfalls bedürfen sie jener Concentration des Willens ohne welche überhaupt keine Größe denkbar ist, und deren magische Nachwirkung uns als zwingende Kraft berührt. […] alle großen Meister […] erreichen […] ihre spätern Stufen nur in gewaltigem Kampf mit den neuen Aufgaben die sie sich stellen. […] Vgl. die Willenskraft in den letzten Monaten Mozart’s, von dem sich doch noch Leute einbilden, er sei zeitlebens ein Kind geblieben.766
759 Burckhardt 2000, S. 282. 760 Ebda., S. 286. 761 Ebda., S. 290. 762 Ebda., S. 297. 763 Ebda., S. 291. 764 Ebda., S. 299. 765 Ebda. 766 Ebda., S. 282.
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Schließlich kommt Burckhardt zum Verhältnis des »großen« Individuums zur Gesellschaft. Diese sei dazu aufgerufen, eher »doch die ›Persönlichkeit‹, deren Bild sich magisch weiterverbreitet«,767 zu akzeptieren, und die Geschichtsschreibung habe dazu beizutragen, »die großen Männer von jeder Fraglichkeit der Taxation, von jeder Nachwirkung des Hasses derer die unter ihnen gelitten, frei«768 zu halten. Damit aber ist, so Burckhardt, Grundaufgabe der (historischen wie biographischen) Darstellung von Größe die Idealisierung als Heroe, und zwar im größeren Kontext, da nur der Heroe tragende Säule des Fortschritts einer Gesellschaft sei: »Denn die großen Männer sind zu unserm Leben nothwendig damit die weltgeschichtliche Bewegung sich periodisch und ruckweise frei mache von bloßen abgestorbenen Lebensformen und vom reflectirenden Geschwätz.«769 Explizit an der Musik lässt Burckhardt deutlich werden, dass dabei nicht nur die Existenz der »großen Männer« zentral für den Fortbestand der Gesellschaft sei, sondern auch das Kommunizieren ihrer Größe. Es sei nicht selbstverständlich, dass Musik als klingende Kunst dem kulturellen Gedächtnis erhalten bleibe, damit aber sei auch die »Unvergänglichkeit« des Komponistenheroen gefährdet. Es bedürfe einer differenzierten Erinnerungskultur, »stets neuen Anstrengungen der Nachwelt«, um die Größe der Musik und ihrer Schöpfer zu erhalten.770 Damit plädiert Burckhardt nicht zuletzt auch für eine Biographisierung der »großen« Komponisten nach dem Maßstab des »Wesens der Größe«. Eine Umsetzung dieser Forderung folgte rasch. Am 15. Februar 1873 hielt Emil Naumann, Mendelssohn-Schüler und Komponist, erfolgreicher Musikschriftsteller und Dozent am Dresdner Konservatorium, in Berlin den Vortrag Deutschlands musikalische Heroen in ihrer Rückwirkung auf die Nation. In diesem kam Naumann nicht nur Burckhardts Forderung, das »Wesen der Größe« anhand der Musik, respektive der Komponisten zu beschreiben, nach, sondern er reklamierte zugleich auch die Rückwirkung auf die Gesellschaft, der es nach 1871 zwar nicht an nationalem Selbstbewusstsein mangele, zu 767 768 769 770
Ebda., S. 299. Ebda., S. 300. Ebda., S. 301. »Zweifelhafter ist schon ihre Unvergänglichkeit: a) sie hängt ab von stets neuen Anstrengungen der Nachwelt (nämlich von den Aufführungen), welche concurriren müssen mit den Aufführungen aller seitherigen und (jedesmal) zeitgenössischen Werken, während die übrigen Künste ihre Werke ein für allemal hinstellen können, – b) sie hängt ab von der Fortdauer unseres Tonsystems und Rhythmus, welche keine ewige ist; Mozart und Beethoven können einer künftigen Menschheit so unverständlich werden als uns jetzt die griechische, von den Zeitgenossen so hoch gepriesene Musik sein werden.« Burckhardt 2000, S. 286.
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deren Argumentation als überragende Kultur-Nation Naumann aber einen gewichtigen Baustein zu liefern beabsichtigte.771 Als solchen sieht Naumann die Monumentalbiographik, die es, anders als etwa bei den Literaten, über die als Heroen gesetzten Komponisten nicht gebe: Trotz der Arbeiten von Jahn, Thayer und Chrysander fehle es an entsprechenden Arbeiten über »Bach, Gluck und Haydn, trotz der verdienstlichen Arbeiten eines Forkel, Bitter und Schmid«:772 »Wir haben auf diesem Felde unseres nationalen Lebens daher eine weithin verschleppte Versäumniß gut zu machen«.773 Zunächst aber definiert Naumann die »musikalischen Heroen«, wobei sich diese Definition eng an Burckhardts »Wesen der Größe« und an deren impulsgebende Kraft für den Fortschritt anlehnt: Was nun zunächst den von mir gebrauchten Ausdruck: »musikalische Heroen« anbetrifft, so verstehe ich darunter keineswegs das Talent, mag dasselbe noch so hervorragend und blendend sein, sondern immer nur das bahnbrechende Genie; d. h. solche Männer, die durch Erschließung früher völlig unbekannter Styl- und Ausdrucksformen auch den Grund zu allen ähnlichen Fortschritten der Nachkommen legten.774
Dass aus dieser zukunftsgerichteten Dynamik Konflikte mit Zeitgenossen unausweichlich seien, greift Naumann ebenfalls auf: Das Verkanntwerden durch die das Genialische nicht gewahr werdenden Zeitgenossen aber erhöht nur die Bedeutung des Heroen, wird hierbei doch auch das Moment des Kampfes und des Märtyrers für die Kunst aufrufbar: Über (auch pekuniär) erfolgreiche Aufführungen der Opern Mozarts im 19. Jahrhundert etwa schreibt Naumann: »Und das waren die Einnahmen aus denselben Werken, welche in der Zeit ihres Entstehens ihren großen Schöpfer nicht vor dem Kampfe um das Dasein zu bewahren vermochten!«775 Und über die »Tonheroen« und deren »erlittene[s] Märtyrerthum« schreibt Naumann weiter: »Sie alle aber ließen sich durch derartige Bedrängnisse und Conflikte den strengen Forderungen ihres Genius nicht abwendig machen; ihrer Treue gegen ihr künstlerisches Gewissen«776 zeichne sie als Tonheroen und als nationale Vorbilder aus. Ein wesentlicher Unterschied zu Burckhardt freilich ist in der Charakterdarstellung der »musikalischen Heroen« bei Naumann erkennbar:777 Nicht 771 Vgl. dazu den den Vortrag abschließenden Dialog mit Pauline Viardot-Garcia, Naumann 1873, S. 28f. 772 Ebda., S. 4. 773 Ebda. 774 Ebda. 775 Ebda., S. 16. 776 Ebda., S. 23f. 777 Vgl. dazu auch Hentschel 2006a, S. 433.
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Moraldispens, sondern im Gegenteil »die fleckenlose Reine ihrer Persönlichkeit« und »die ihnen innewohnende Liebesfülle und reine Menschlichkeit«778 hebt Naumann als Kennzeichen der Tonheroen hervor. Als Charaktereigenschaften lässt Naumann daher paradieren: Wohltätigkeit (Händel), Milde und Ergebung in das Schicksal (Bach, Händel), ebenso bescheidenes wie ausgeprägtes Gelehrtentum bzw. eine »hohe Bildungsstufe« (Händel, Gluck, Mozart, Beethoven), ideale Freundschaft (Haydn und Mozart), Gemütstiefe und Nachsicht (Beethoven), ein harmonisches Verhältnis zur Aristokratie (Haydn), ein »musterhafter Familienvater« (Bach) sowie das ideale bzw. »besonders innige« Verhältnis zu Vater und Mutter (Ersteres bei Mozart, Letzteres bei Händel und Beethoven).779 Es bedarf kaum der Erwähnung, dass das hier entworfene Tableau an Charaktereigenschaften das Ideal bürgerlicher Moralvorstellungen aufruft: von Selbstdisziplin über das Bildungsideal bis zur sozialen Verortung nach außen wie nach innen. Damit legitimiert Naumann freilich den Vorbild-Charakter für die bürgerliche Gesellschaft, was er nationalstolz als »Rückwirkung auf die Nation« bezeichnet. Es bedarf ebenfalls kaum der Erwähnung, dass, um die Komponisten in dieses Tableau eingruppieren zu können, eine starke Idealisierung jedes Einzelnen notwendig war,780 deren Legitimierung Naumann hier eng an das Heroentum anbindet. Er erreicht schließlich durch argumentatives Geschick, das Tableau bürgerlicher Moralvorstellungen auf die »musikalischen Heroen« zu applizieren, indem er es nicht an einem einzelnen Komponisten exemplifiziert, sondern an der von ihm definierten »glänzende[n] Reihe«, die »sich mit Bach eröffnet, um mit Beethoven, als dem letzten Ebenbürtigen, zu schließen«.781 Mit Blick auf die Vielfalt weiblicher Heroinen um 1800 – fiktiven, wie etwa Beethovens Leonore (alias Fidelio) oder Siegfried Schmids Fiorinde (alias Baron von Spanberg),782 bis hin zu realen, wie Olympe de Gouges – ist auffallend, dass spätestens ab den 1830er Jahren die Engführung des Heroischen auf das Männliche zu beobachten ist. Ute Frevert wies in diesem Zusammenhang auf das Heroen-Konzept von Thomas Carlyle hin: Welcher Art diese Helden sein würden, ließ der Prophet im Dunkeln. Eins jedoch war klar: Sie mußten Männer sein. Männlichkeit, die Zugehörigkeit zum männlichen Geschlecht zeichnet sämtliche Personen aus, die Carlyle in seiner Heldengalerie aufmarschieren ließ. Keine einzige Frau war darunter. Diese Abwesenheit 778 779 780 781 782
Naumann 1873, S. 27 und 24. Ebda., S. 24–27. Dazu Hentschel 2006a, vor allem Kapitel III.6. Naumann 1873, S. 6. Siegfried Schmid: Heroine oder Zarter Sinn und Heldenstärke. Ein Schauspiel in fünf Akten, Frankfurt a. M. 1801.
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wurde ebensowenig kommentiert wie die Männlichkeit der Anwesenden. Sie war offenbar selbstverständlich.783
Und mit dem Aufkommen des Nationalismus erwies sich gerade auch das Geschlecht als prinzipiell einzige Trennlinie zwischen Heroentum und Allgemeinheit: Während potentiell jeder Mann (Soldat,784 Bürger, Künstler) sich als nationaler Held bewähren konnte, war dies Frauen grundsätzlich nicht möglich, ihre Präsenz in diesem Zusammenhang beschränkte sich aufs Allegorische.785 Diese Beobachtung findet ohne Zweifel auch ihre Korrespondenzen in der Musik: Während etwa in Ernst Ludwig Gerbers Lexicon selbstverständlich noch Musikerinnen in der gesamten Breite musikalischer Professionen aufgenommen wurden, verschwanden reale Musikerinnen im Verlauf des 19. Jahrhunderts gerade aus jenen Bereichen des Musikschrifttums, in denen sich das Heroenprinzip ausgebreitet hatte (dort fanden sie sich allenfalls in der Funktion als Musen oder das Genie irreleitende Ehepartnerinnen wieder). Vor allem aber wurden sie dort nicht in das kulturelle Gedächtnis aufgenommen, wo es um das Tätigkeitsfeld der Komposition ging, denn dieses war – weitaus stärker als Interpretation oder andere musikkulturelle Tätigkeiten – in den bürgerlichen Geschlechterdualismus eingebunden und dabei männlich konnotiert. Exemplarisch hierfür ist Das goldene Buch der Musik, eine 1909 erschienene Publikation, deren Zielgruppe das Bildungsbürgertum ist und deren Autoren aus den universitären Kreisen der Musikwissenschaft stammen. Das hier explizit heroenbiographisch konzipierte Kapitel »Epochen und Heroen der Musikgeschichte« (Autor: Hugo Riemann) verzeichnet – bis auf die Erwähnung von »Frau Klara Schumann«786 als Pianistin – ausschließlich Männer, während im Kapitel »Tonkünstler der Gegenwart« (Autor: Leopold Schmidt) von den 681 erfassten Personen der zeitgenössischen Musikkultur – Komponisten, Dirigenten, Interpretinnen und Interpreten, Musikhistoriker u. v. a. –, 509 Männer und 172 Frauen sind. 783 Frevert 1998, S. 323f. 784 »Die Demokratisierung des Soldatentums und Kriegstodes seit dem frühen 19. Jahrhundert trug […] erheblich dazu bei, den Unterschied von Männern und Frauen schärfer zu konturieren und Frauen aus dem Helden-Pantheon der Nation auszuschließen.« Ebda., S. 338f. 785 In diesem Sinne ist auch Naumanns Verweis auf den Vers aus Goethes Faust (»Das Ewig-Weibliche zieht uns hinan«) als überindividuell zu verstehen: das Weibliche als Gefährdung des Genies Beethoven (Naumann 1873, S. 27). Frevert nennt als weiteres Beispiel für die Allegorisierung des Weiblichen im Kontext des Heroismus die 1842 eingeweihte Walhalla bei Regensburg, die auf König Ludwig I. und dessen Idee einer »Ruhmeshalle für deutsche Geisteshelden« zurückgeht. Frevert 1998, S. 331. Vgl. zum Allegorischen auch Wenk 1996. 786 Diese Erwähnung findet sich im Kapitel »Virtuosentum«, Abert u. a. 1909, Nr. 137.
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Dies entspricht einem Frauen-Anteil von rund 25%,787 womit ein deutlicher Unterschied zum heroenbiographischen Kapitel (Frauen-Anteil weit unter 1%) erkennbar wird. Anders formuliert: Dort, wo heroengeschichtliche Konzepte verfolgt wurden, stand die Auswahl qua Geschlecht außer Frage, dort, wo von Interpretation die Rede war, wurden Männer wie Frauen berücksichtigt.788 Neben Musikfesten, Denkmalenthüllungen, der Ausweitung des Konzertwesens und anderen Formen der kulturellen Erinnerung war es gerade auch die Biographik, die den Forderungen des Heroismus folgte bzw. diesen ausgestaltete. Und so zeitigte der Grundgedanke, Komponisten in den Kanon kultureller Erinnerungen qua Biographie einzuschreiben, neben dem Sprechen über deren »Größe« auch buchstäblich monumentale, häufig mehrbändige Biographien, die die Kanonisierung ebenso mit gestalteten, wie sie das Ideal der Musikerbiographik über Jahrzehnte hinweg maßgeblich prägten. Unterstützt durch die in der allgemeinen Geschichtsschreibung vorangetriebene Heroengeschichtsschreibung (Gervinus, Treitschke u. a.789), unterstützt auch durch vergleichbare Tendenzen außerhalb einer spezifischen Musiker-Biographik, entstanden ab der Mitte des 19. Jahrhunderts zahlreiche groß dimensionierte Biographien (und nicht abgeschlossene Biographieprojekte), darunter Ulybyschews und Jahns Mozart-Biographien, Friedrich Chrysanders Händel-Biographie, Adolph Bernhard Marx’ und Alexander Wheelock Thayers Beethoven-Biographien, Philipp Spittas Bach- und Carl Ferdinand Pohls 790 Haydn-Biographien. Zwar ist der schiere Umfang einer Biographie keineswegs ein hinreichendes Anzeichen ihrer heroenbiographischen Anlage. Aber über dieses zunächst äußerlich scheinende Merkmal wurden um die Jahrhundertmitte implizit mehrere Gesichtspunkte verhandelt, die halfen, das Konzept des Heroismus tief in die Musikwissenschaft zu implementieren: Zunächst wurde an ihm die Frage des Expertentums verhandelt, etwa wenn der Archäologe und Philologe Jahn aufgrund seiner mehrbändigen Mozart-Biographie als herausragender Musikwissenschaftler galt, oder wenn die Bach-Biographie Spittas ihm den Weg zur ersten Berliner Professur für Musikgeschichte und Musikwissenschaft ebnete. Die monumentale Biographie wurde auf diese Weise nicht nur Kar787 Die genaue Auswertung dieser Zahlen und deren Spezifizierung nach Berufs- und Instrumentengruppen s. in Unseld 2010d. 788 Im Übrigen weitete sich diese Argumentation bald auch auf solche Komponisten aus, denen »Weiblichkeit« und damit ein un-heroischer Charakter attestiert wurde. Für Schubert vgl. dazu Dittrich 1998, für Schreker Harders-Wuthenow 1998, sowie Bujara (in Vorb.). 789 Vgl. dazu Scheuer 1979a, S. 56ff. sowie von Zimmermann 2006. 790 Pohl erhielt den Auftrag zu dieser Biographie auf Empfehlung Jahns.
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riere-Baustein früher Musikwissenschaftler, sondern zu einem Ausweis herausragenden wissenschaftlichen Arbeitens.791 Zum Zweiten wurde mithilfe umfänglicher Biographien auch die Kanonisierung »großer« Komponisten maßgeblich befördert. Der Umfang einer Lebensbeschreibung stand synonym für die Wichtigkeit des Biographierten. Zugleich – und dies ist keineswegs als Widerspruch, sondern als reziprokes Phänomen zu sehen – entzündete sich früh auch eine Kritik an der Umfänglichkeit der monumentalen Biographik. Grosheim hatte genau darin die Inkompetenz Nissens als Biograph festgemacht, hatte ihn der Unsystematik bezichtigt und den umfänglichen Abdruck der Mozart-Korrespondenz insofern als unwissenschaftlich bezeichnet, als der Biograph auf diese Weise auf ein allzu populäres Lesepublikum abziele: Nissen setze mit seiner Briefbasierten Biographie »ein Publicum voraus, das dergleichen Dinge gern hört; mit diesem aber kann der Biograph eines Mozart doch wohl in keine Verbindung treten wollen«.792 Die Annahme, dass umfangreiche Biographien ein populäres Publikum im Blick haben, lässt die Argumentationen vorausahnen, die nach Adlers Konzept der »Hilfswissenschaft« zu einer deutlichen Abwertung der ehemaligen »Königs(macher)«-Gattung führte. Und während Musikwissenschaftler wie Adler umfängliche Narration als populär diskreditierten, ein asketisches Sprachideal hingegen favorisierten,793 gelang es um 1900, die Heroenbiographik von der Frage des Umfangs endgültig loszulösen und an das Ideal der Askese zu binden. Denn während Naumann 1873 die Popularität, das »Volksthümliche«, als Mittlerin zwischen Heroe und Allgemeinheit befürwortet hatte,794 entzündet sich gerade an ihr auch grundlegende Kritik 791 Vgl. hierzu auch die Kritik an der Unwissenschaftlichkeit des Mozart-Biographen Ulybyschew, S. 234, 368 und 399 dieses Bandes. 792 Grosheim 1829b, S. 281. 793 Vgl. dazu das Kapitel Das Narrative und die Askese der Sprache in diesem Band. 794 »Ungeheuer sind die Wirkungen, die von unsern großen Tondichtern auf die weitesten und verschiedensten Bildungskreise unseres Volkes ausgingen. […] Wir wüßten diesen schönsten Volksfesten, die wir kennen, nur die Feier der Künste bei den olympischen Spielen an die Seite zu stellen. Und wenn dort der Vortrag der homerischen Gesänge das Vaterlandsgefühl mächtig stärkte und erhöhte, so rufen die hochheldenhaften Melodien Händels überall, wo sie zu ihrer würdigen Darstellung kommen, durchaus die gleiche Wirkung hervor.« Nach ähnlichem Argumentationsmuster spannt Naumann den Bogen zwischen antiker Klassizität und gegenwärtigem Konzertwesen, dessen wichtigster Stützpfeiler die Popularität ist: »unsere drei großen Sinfoniker [gemeint sind Haydn, Mozart und Beethoven] […] sind durch die immer mehr in Deutschland Platz greifenden populären sinfonischen Concerte zu einer Volksthümlichkeit gediehen, die, wenn der Mitlebende im Stande wäre, seine Zeit mit den Augen künftiger Geschlechter zu sehen, ihn vielleicht mit demselben Staunen erfüllen würde, das uns ergreift, wenn wir hören, daß das Volk von Athen fähig gewesen, seine großen Bildhauer und Tragiker zu würdigen.« Naumann 1873, S. 11ff.
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am Heroismus. Da dieser auf eine Öffentlichkeit, die »bereit zur Heldenverehrung«795 ist, angewiesen ist, wird er selbst zum populären Phänomen und damit im Kontext der Verwissenschaftlichung von Musikgeschichtsschreibung pejorativ wahrgenommen. Dahlhaus’ Biographik-Kritik von 1975 ist hierfür ein spätes Indiz, da seine Kritik im Kern vor allem die Heroenbiographik samt ihrer Leserschaft trifft.796 Gleichwohl mächtig blieb – bei aller Kritik an der Heroenbiographik – jenes Sprechen von »Größe«, das das Entstehen des Heroismus in der Musikkultur um 1800 erlebt, begleitet und während des 19. Jahrhunderts gestützt hatte. Es überlebte vergleichsweise unbeschadet die Heroismus-Debatten ebenso wie die an ihm geübte Popularitäts-Kritik und gewann im 20. Jahrhundert neue Gestalt in der Diskussion um den Begriff »Klassik« bzw. in der Beethoven-Rezeption. So nimmt sich seiner etwa Ludwig Finscher in seiner Definition des Begriffs »Klassik« wieder an, indem er Elemente des Genie- mit dem Heroen-Begriff synthetisiert, freilich nicht auf die Komponisten (Haydn, Mozart, Beethoven) appliziert, sondern auf deren Werke. Unverkennbar ist aber, dass sich Finscher dabei durch jene Merkmale leiten lässt, die nach Thibaut der Gemengelage von Klassik, Genie und Größe, nach Hegel dem »welthistorischen Individuum« und nach Burckhardt dem »Wesen der Größe« zuzuordnen sind: Stilvollendung und Stilsynthese, die sich zwar mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen hat, sich von ihr aber mit Verve und Abstand abhebt und dabei auf Zukünftiges verweist; das spezifische Spannungsverhältnis zur Allgemeinheit (»Allgemeinverständlichkeit und Allgemeingültigkeit des einzelnen Kunstwerks«797 und »enges und subtiles Verhältnis zur Volksmusik«798), das ein spezifisches Verhältnis zwischen »klassischem Werk« und ausgewiesenem Hörer nach sich zieht (Finscher spricht vom »neuen Typus des Hörers«799, der sich der Komplexität des Werks angemessen, d. h. die Komplexität vergegenwärtigend und verstehend, nähere), sowie die deutliche Verengung auf Wenige und Weniges, was unter »Wiener Klassik« zu verstehen sei: Haydn, Mozart und Beethoven und auch diese nur mit ausgewählten Werken als »Inbegriff weniger künstlerischer Höchstleistungen«.800 Im Grunde plädiert Finscher hier für eine Kanonisierung und ein Rezeptionsverhalten 795 Frevert 1998, S. 327. 796 Vgl. dazu das Kapitel Wider das Triviale: Carl Dahlhaus’ Polemik von 1975 und ihre Folgen in diesem Band. 797 Finscher 2003, S. 221. 798 Ebda., S. 222. 799 Ebda., S. 221, auch S. 222: »Das klassische Kunstwerk braucht, selbst durch den gebildeten Hörer, ›nie ganz verstanden zu werden‹, es bietet sich aber durch seine beispiellose Differenziertheit vielen Arten des partiellen Verständnisses an.« 800 Ebda., S. 223.
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gegenüber »klassischen« Werken, die an Prozesse literarischer Kanonisierung im späten 18. Jahrhundert selbst erinnern. Albrecht Koschorke beschreibt anschaulich, wie angesichts der durch die Aufklärung betriebenen Alphabethisierung und durch deren Bildungsideal eine »Lesesucht« um sich griff, die von den Zeitgenossen als Gefahr wahrgenommen wurde und der als Abwehrstrategie eine spezifische Selektionspraxis entgegengesetzt wurde, die das Leseverhalten kultivieren sollte und dabei die Kanonisierung »klassischer« Literatur beförderte: »Das gedankliche Muster ist immer das gleiche: den schnell konsumierten, die Einbildungskraft überfüllenden und auf diesem Weg die Sinnlichkeit reizenden Stoffen soll normativ eine langsame und intensive Wiederholungslektüre gegenübergestellt werden, die sich als intellektuelle Arbeit ausweist und deren Ziel das Verstehen ist.«801 Auch Dahlhaus’ Begriff des »ästhetischen Subjekts«, den er bezeichnenderweise an Beethoven exemplifiziert und in den Kontext einer ›Nicht-Biographie‹ in der Reihe »Große Komponisten« stellt, trägt unverkennbar die Spuren des »Größe«-Begriffs. Während Finscher ohne Ansehung der Biographie argumentiert, ist Dahlhaus eine Abgrenzung gegen Biographik besonders wichtig.802 Sein Konzept des »ästhetischen Subjekts« (in Abgrenzung zum »biographischen Subjekt«) zielt darauf ab, die »Größe« nicht heroenbiographisch zu argumentieren, sondern ästhetisch. Am Beispiel von Beethovens Klavier-Sonate op. 81a entwickelt er dabei die Methode, über das »ästhetische Subjekt« gegen die Popularisierung, die durch Berücksichtung des »biographischen Subjekts« unvermeidlich sei, zu einer Ansehung der »Größe« zu gelangen.803 So entfaltet er eine hochkomplexe Argumentation, deren Ziel es ist, das »ästhetische« vom »biographischen« Subjekt zu trennen, um so Ersteres als Subjekt für die rein formale Analyse zulassen zu können: »Es ist jedenfalls nicht abwegig, das ästhetische Subjekt, das ›hinter‹ einem Werk steht, als primär hervorbringendes – und erst sekundär in biographisch faßbaren Zusammenhängen lebendes – Subjekt aufzufassen, dessen Tätigkeit dann in einer adäquaten Werkrezeption nachvollziehbar ist. […] Das ästhetische Subjekt ist gewissermaßen das im Werk überdauernde, ihm als ›Energeia‹ einbeschriebene kompositorische Subjekt.«804 Damit ist freilich nicht nur die »Größe« der Komponisten qua »ästhetischem Subjekt« restituiert, sondern auch dessen Verhältnis zum Musikwissenschaftler: »Und aus der Reflektiertheit des Kom801 Koschorke 1999, S. 400. 802 Vgl. dazu auch das Kapitel Wider das Triviale: Carl Dahlhaus’ Polemik von 1975 und ihre Folgen. 803 Ähnlich hatte auch Grosheim gegen Nissens Mozart-Biographie argumentiert, die allzu ausführlichen biographischen Details seien an »ein Publicum« gerichtet, »das dergleichen Dinge gern hört«. 804 Dahlhaus 1987, S. 71f.
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positionsprozesses resultiert wiederum die Forderung einer analogen Reflektiertheit des musikalischen Hörens«.805 Damit ist die eigentliche Trennwand erkennbar: zwischen dem Komponisten, seinem »großen« Werk und dem »reflektierenden«, d. h. wissenschaftlich ausgebildeten Hörer einerseits und dem an Biographischem interessierten, »unreflektierten« Hörer andererseits, der mithilfe des »biographischen« Subjekts sich nicht angemessen dem »großen« Werk, wohl aber jenen »Nebenwerken« zuwenden könne, die einen »Rückgriff auf die Biographie, und zwar die empirisch-sozialgeschichtliche« geradezu notwendig machten.806 Eine Verwischung dieser Grenze aber lehnt Dahlhaus wegen der Gefahr unangemessener Popularisierung ab, die Restituierung der Größe qua Komplexität aber steht für eine Distanz, die dem Heroischen essentiell eingeschrieben ist: »Bei einem Werk, dessen biographische Voraussetzungen bekannt sind und immer bekannt waren, ist die Unterscheidung des ästhetischen Subjekts vom biographischen um so dringender, je mehr die Popularästhetik dazu neigt, die Differenz zu verwischen.«807 Das Sprechen von »Größe« hatte sich mit Dahlhaus’ Biographie-Kritik, die im Kern eine Kritik der Heroenbiographik des 19. Jahrhunderts darstellt, damit nicht verabschiedet. Im Gegenteil: Dahlhaus übernimmt sie in das Konzept vom »ästhetischen Subjekt«, worin sie umso stärker wirkt, als Dahlhaus zugleich das »biographische Subjekt« aus der Musikwissenschaft auszuschließen beabsichtigt. Pointiert gesagt: Dahlhaus eliminierte das Biographische aus der Heroenbiographik und rettete damit das Heroische in der Metamorphose zum »ästhetischen Subjekt«. Von »Größe« ist auch dort weiterhin die Rede, wo an heroischen Biographiekonzepten kanonisierter Komponisten festgehalten wird. Bis heute sind Beispiele dieser Form der Biographie zu finden, wenngleich sich deren anachronistischer Charakter kaum verbergen lässt. Prägnantes Beispiel hierfür ist etwa jene Mozart-Biographie, die 2005 in der Reihe Suhrkamp BasisBiographien erschien – mithin einer Reihe, die explizit am Konzept der »großen Persönlichkeiten der Weltgeschichte«808 festhält. Das Aufrufen der konsti805 Ebda., S. 72. 806 »Zwingen […] die ›Nebenwerke‹ zu einem Rückgriff auf die Biographie […], so gerät man andererseits bei der Festsetzung eines Kanons von ›Hauptwerken‹ in Gefahr, einer ›mythisierenden‹ Biographik zu verfallen.« Ebda., S. 31. 807 Ebda., S. 64. 808 »Ein spannendes Leben, ein beeindruckendes Werk, eine nachhaltige Wirkung – die Suhrkamp BasisBiographien erzählen von Leben, Werk und Wirkung der großen Persönlichkeiten der Weltgeschichte«. Aus der Bewerbung der Reihe im Anhang zu Korff 2005. Die Reihe zeigt sich allerdings in einem Punkt modernisiert, da sie Treitschkes »Männer machen die Geschichte« auch für Frauen öffnen: Sieben der bislang 34 erschienenen Titel widmen sich Frauen.
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tuierenden Muster biographischer Idealisierung gerinnt hier eher zu einer unzeitgemäßen Ansammlung von Gemeinplätzen und Klischees, als dass sie sinnstiftend wirken und für einen Zusammenhalt bürgen könnten: Kaum einen anderen Komponisten gibt es, der mit seiner Musik so fesselt, ja bezaubert wie Mozart, und nach wie vor fasziniert ihre rätselhafte, scheinbar unvereinbare Mischung von Leichtigkeit, Helle, Eleganz einerseits und geistiger Tiefe andererseits. Auch Mozarts Lebensweg ist von ungewöhnlichen Gegensätzen bestimmt: Bereits in früher Kindheit feiert er Triumphe als Wunderkind, aber der sich anschließende Weg zum Komponisten ist mit Mühsal und Enttäuschung verbunden.809
Auf engstem Raum paradieren Klischees und Worthülsen, die alte biographische Muster aufrufen, die in ihrer Unzeitgemäßheit sinnentleert wirken, sogar austauschbar sind, wie etwa der Begriff des Rätselhaften, der als plumpe Vokabel ohne Substanz perpetuiert wird. Der Leitgedanke dieser Mozart-Biographie freilich bleibt der Begriff »Genie«, und gerade an ihm erweist sich, wie eng das Korsett jener Begriffe aus dem Fundus der biographischen Muster des 19. Jahrhunderts ist, wo nur benannt, nicht aber inhaltlich ausgefüllt und in die Gegenwart transferiert wird. Ulrich Dibelius hatte diesen Prozess der innerlichen Aushöhlung im Zusammenhang mit der Genie-Zuschreibung bereits 1972 klarsichtig kommentiert: Die Idealisierung, wie sie großen Männern früher oder später widerfährt, hat zumeist zwei ungewollte, jedoch verhängnisvolle Nachwirkungen, die sich noch dazu gegenseitig steigern. Einmal wächst in dem Augenblick, da man beginnt, vom ›Genie‹ zu sprechen, die Distanz: Aus Verehrung wird Unnahbarkeit, aus Liebe Abgötterei, Wahlhall öffnet seine Tore, und schon ist das erhabene Standbild fertig – überlebensgroß, abstrahiert und versteinert. Zum anderen schwindet gleichzeitig aus dem Werk dieses erklärten ›Genies‹ jene spannungsvolle Lebendigkeit, die nur, solange das Geschaffene noch unbefangen infrage gestellt werden durfte, ihre individuelle Dynamik bewahren und dadurch Reibungsflächen erzeugen, Kontakte herstellen, das Gefühl von wirklicher Nähe aufkommen lassen konnte. Im Zuge der allgemeinen Anerkennung werden aber unmerklich vorpräparierte Standards über die intakten Beziehungen gestülpt; wie Paßformen umschließen sie einerseits das Werk, andererseits den Betrachter und verhindern jeden spontanen Austausch.810
Eben dieser Prozess findet in Korffs Mozart-Biographie statt, und wenn Korff schließlich den Begriff auf die Biographik selbst anwendet, wird sein Verhaftetsein im biographischen Denken der Monumentalbiographik des 19. Jahr809 Korff 2005, S. 7. 810 Dibelius 1972, S. 115.
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hunderts vollends offenbar: »trotz der zahlreichen Publikationen fehlt noch immer die ›große‹, alle Forschungsergebnisse genial zusammenfassende Mozart-Monographie.«811 Zur Frage der Kanonisierung durch Monumentalbiographien scheint ein weiterer Gesichtspunkt bedeutsam: Mit den biographischen Großprojekten wurden Komponisten der Vergangenheit ins Zentrum gerückt, nur in Ausnahmefällen Zeitgenossen. Gründe dafür liegen zum einen in der Vorstellung, damit die Idee einer musikhistorischen Entwicklung bekräftigen zu können, die in der Gründungsphase der Musikwissenschaft ein wichtiges Movens darstellte. So meinte etwa Jahn in seinem Vorwort zur Mozart-Biographie, dass eine Darstellung der gegenwärtigen Musik nach dem Folgeprinzip nur auf Grundlage der Darstellung des Vergangenen geschehen könne: Anfangs nur mit der Biographie Beethovens beschäftigt, sah ich bald ein, daß es unmöglich sein würde, das[,] was er Neues und Großes geschaffen hat[,] vollkommen begreiflich zu machen, ohne die Leistungen Mozarts klar zu übersehen, der die vorausgehende Periode der Musik abschlossen hat, und dessen Erbschaft Beethoven antreten mußte[,] um seine eigenthümliche Stellung in der Geschichte der Musik zu gewinnen.812
Diese Vorstellung entspricht dem Hegelschen »Gang der Weltgeschichte«, den dieser im »Prinzip der Entwicklung« verwirklicht sah, das »nicht das harm- und kampflose bloße Hervorgehen, wie die des organischen Lebens, sondern die harte unwillige Arbeit gegen sich selbst«813 sei. Dass mit dem Fortschrittsprinzip dem »welthistorischen Individuum« herausragende Bedeutung zukam, dass auf diese Weise nicht zuletzt auch die Kanonisierung der »großen Männer« argumentiert wurde, entsprach wiederum dem historiographischen Zeitgeist, den sich die Musikwissenschaft durchaus mit Stolz auf die eigene Fahne schrieb. So notiert Philipp Spitta über die Haydn-Biographie Pohls: »Wenn die neuere Forschung sich mit Vorliebe auf die wissenschaftliche Bewältigung der größten Meister wirft, so darf man ihr den Vorwurf der Verzagtheit wenigstens nicht machen. Sie wählt sich das Schwerste gleich im ersten Angriff, sie faßt den Stier bei den Hörnern.«814 Damit benennt Spitta drei wichtige Komponenten der Musiker-Heroenbiographik der zweiten Jahrhunderthälfte: die Kanonisierung (»größte Meister«), die Entwicklung der (neuen) Musikwissenschaft und die Akteure dieser Wissenschaft, die den Mut bewiesen, die Aufgabe der monumentalen Biographik zu meistern. Das 811 812 813 814
Korff 2005, S. 135. Jahn 1856, S. VIIIf. Hegel 1986, S. 76. Philipp Spitta, »Joseph Haydn in der Darstellung C. F. Phohl’s«, in: Spitta 1892, S. 158.
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Lesepublikum hingegen sieht Spitta weit von dieser Gleichrangigkeit zwischen Biograph und Komponist entfernt, der Leser sei des Heroen (und der Darstellung des Heroen) möglicherweise nicht gewachsen: »Vielleicht liegt überhaupt etwas Unrichtiges darin, große, überragende Menschen biographisch zu behandeln. Geschieht es dennoch, läßt man einmal einen solchen Geisteskoloß dem Leser ganz nahe auf den Leib rücken, so muß man schon darauf gefaßt sein, daß Mancher sich unbehaglich fühlt.«815 Entgegen einer den Komponisten aus bewundernder Distanz anschauenden Bescheidenheit, wie sie etwa bei dem sich als Dilettant im positiven Sinn verstehenden Ulybyschew ausgeprägt war (»In einem solchen Werk ist der Held alles, der Biograph nichts«816), entstand so ein musikwissenschaftlich-professionelles Selbstbewusstsein, das den Blick des Wissenschaftlers zum Komponisten-Heroen auf Augenhöhe festlegte und damit Ersteren erheblich aufwertete. Auf diese Weise fiel nicht unerheblicher Glanz von der Heroenbiographik auf ihren Urheber, wie dies bereits Grosheim reklamiert hatte: Der würdigste Biograph eines, an Kopf und Herz gleich grossen, Künstlers, ist daher nur derjenige, welcher als Künstler und Mensch mit ihm auf gleicher Linie steht. Es bedarf hierzu keinesweges, dass der Biograph das Praktische der Kunst in gleichem Maase sich eigen gemacht, sondern nur gleiches Anschauen derselben, […]. Darum aber sollen sie [= die Biographien »großer Männer«] auch von Männern ausgehen, deren Namen nur mit dem ihres Helden erlischt; und streng bewacht muss die Grenze sein zwischen dem würdigen Biographen und dem – Söldner.817
Die monumentalen Biographien selbst entwickelten eine große Wirkkraft in die Musikwissenschaft und waren mit deren Entwicklung eng liiert: Jahns Mozart-Biographie avancierte zum Standard-Werk nicht nur der Mozart-, sondern der musikwissenschaftlichen Biographik überhaupt. So zollte Ambros ihr 1860 bereits höchsten Respekt, vor allem in Ansehung der von Jahn verwendeten biographischen Methode: Daß die Biographie eines Künstlers etwas anderes und mehr sein solle als ein bloßes curriculum vitae, welches den Tauf-, Trau- und Todtenschein des Verewigten, nebst dessen verschiedenen Anstellungsdekreten mit juristischer Genauigkeit zitirt, und daneben allenfalls seine Hauptwerke aufzählt – mehr als ein bloßes Seitenstück zu den offiziellen éloges der französischen Akademie, wo dem Gepriesenen ein so schwerer und dicker Lorbeerkranz auf ’s Haupt gesetzt wird, daß man darüber 815 Ebda., S. 156. 816 Oulibicheff/[Ulybyschew] 1847, Bd. 3, S. 267. 817 Grosheim 1829b, S. 278. Grosheim zählt Nissen als Biograph im Übrigen zu den »Söldnern«, als der Bedeutung Mozarts unangemessen bezeichnet er etwa die ausgedehnte Verwendung der Briefe in Nissens Biographie.
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sein Gesicht gar nicht ausnehmen kann – mehr endlich als ein Conglomerat von Anekdoten und Charakterzügen, von denen insgemein drei Viertheile apokryph sind – das eingesehen zu haben ist ein wesentliches Verdienst der Neuzeit. […] Hier [bei Jahn] lernen wir den unvergleichlichen Meister selbst nicht mehr wie ein mythisches Wunder, wie ein vom Himmel herabgefallener Meteor ansehen, sondern begleiten den Knaben, den Jüngling, den Mann Wolfgang Mozart Schritt für Schritt – wir sehen die Wunderpflanze keimen, wachsen, blühen, Früchte tragen. Wir erleben […] gleichsam die Entstehung der einzelnen Compositionen mit ihrem Schöpfer selbst und wie in unserem eigenen Innern.818
Nach vier Auflagen (und einer Übersetzung ins Englische) wurden die Bände als 5. Auflage von Hermann Abert überarbeitet und nach dem Ersten Weltkrieg neu herausgegeben. Auch methodisch setzte Jahn neue Maßstäbe: Als Altphilologe wissenschaftlich anders verankert als die Musikhistoriker seiner Generation, integrierte er hierin erstmals die an der Philologie geschulte textkritische Methode, eine Pioniertat, die »für die Entwicklung und Etablierung des Faches Musikwissenschaft kaum zu überschätzen«819 ist. Es deutet damit einiges darauf hin, dass sich just mit den philologisch geschulten Forscherpersönlichkeiten in Kombination mit der Idee der »großen« Komponisten die Wende von der Universalhistoriographie zur Musikbiographik abzeichnete, und dass dies wesentlich konkreter an die einzelnen Forscher-Persönlichkeiten und ihrem Interesse an den »welthistorischen Individuen« gebunden ist, als dies Dahlhaus mit der »Vertauschung einer geschichtsphilosophischen Konzeption mit einer positivistischen«820 andeutet. Das Interesse von Jahn, Spitta, Chrysander und anderen entzündete sich an Werk und Persönlichkeit einzelner Komponisten, verband sich mit einer Hegelschen Geschichtsphilosophie und initiierte somit eine auf philologischer Methodik beruhende Biographie, die die Musikgeschichtsschreibung in den folgenden Jahrzehnten maßgeblich bestimmte. Selbst Adler, bekannt für seine fundamentale Kritik an der Biographik, ließ in sein Mahler-Buch ein Bekenntnis zur Heroenbiographik einfließen: »Die Geschichte der Musik enthält in den Biographien der Tonsetzer, in der Darstellung ihres Ringens und Kämpfens, der Streitigkeiten um die Geltendmachung ihrer Werke, ihrer Eigenart förmlich ein Stück Kriegsgeschichte.«821 Dass Adler 1914 derart martialisch-heldische Töne anschlug, korrespondiert sicherlich mit einer weitverbreiteten Kriegsbegeisterung vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges, knüpft aber andererseits deutlich an die Idee der Heroenbiographik an, in deren 818 819 820 821
Ambros 1860, S. 7ff. Sandberger 1997, S. 43. Dahlhaus 1980, S. 273. Der Text erschien zunächst in Biographisches Jahrbuch und Deutscher Nekrolog, wurde 1916 dann von der Universal Edition nachgedruckt, Adler 1916, S. 6.
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Zentrum das »welthistorische Individuum« in seinem Ringen um das Werk und das Genie im Ringen um dessen Anerkennung stand. Auf der anderen Seite diente das Emblem der »Größe« auch dazu, (gescheiterte) monumentale Biographie(projekte) oder die Un-Biographierbarkeit des Heroen zu kommentieren: Dass Thayer seine Beethoven-Biographie zu Lebzeiten nicht abschließen konnte, griff Dahlhaus 1987 nochmals auf, bedenkend, dass eine »›große‹ Beethoven-Biographie« bislang nicht geschrieben sei, um daran die Undurchführbarkeit eines biographischen Projekts angesichts eines Künstlers vom Format Beethoven und damit auch seine grundsätzlichen Zweifel an der Musiker-Biographik formulieren zu können.822 Spitta wiederum habe die nachfolgenden Bach-Biographien so stark beeinflusst, dass, so Christoph Wolff, eine »Fortschreibung der Bachschen Biographie nach Spitta […] praktisch nicht statt[fand].«823
Beethoven als Heroe »Eine Biographie Beethovens ist entstanden (man müßte sagen können: eine Bio-Mythologie); der Künstler wird erzeugt wie ein kompletter Held, versehen mit einem Diskurs […], einer Legende […], einer Ikonographie […] und einem schicksalhaften Leiden.«824 Roland Barthes
Musikhistorische Schlüsselfigur des heroischen Komponistenbildes ist ohne Frage Beethoven. Für keinen Komponisten vor ihm und für wenige nach ihm wurde das entsprechend heroenbiographische Modell derart oft aktiviert, fast scheint es, als habe Beethoven ebendieses Modell in der Musikbiographik initiiert.825 Mehr noch: Wenn Christian von Zimmermann im Einklang mit Ute Frevert davon ausgeht, »daß die Exzeptionalität stark idealisierter, heroischer Individuen am Beginn des 19. Jahrhunderts noch kein zentrales Thema der biographischen Literatur gewesen sei«826, und dies anhand zahlreicher Biographien der Restaurationszeit anschaulich nachweisen kann, so scheint 822 Dahlhaus 1987, S. 7, vgl. dazu ausführlich das Kapitel Wider das Triviale: Carl Dahlhaus’ Polemik von 1975 und ihre Folgen. 823 Wolff 1999, S. 22. 824 Barthes 1979, S. 40f. 825 Vgl. dazu vor allem Beatrix Borchard, die im Zusammenhang mit Männlichkeitskonstruktionen im Bereich der Musik vor allem die Faktoren des Geschlechterdiskurses herausarbeitet (Borchard 2005a). 826 Von Zimmermann 2006, S. 132.
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Beethoven auch mit Blick auf die allgemeine Biographik zu den frühesten Personen zu zählen, die heroenbiographisch dargestellt wurden. Zwar hat Hans-Joachim Hinrichsen in seiner Analyse der Topoi der Beethoven-Rezeption darauf hingewiesen, dass das Heroische ab der Mitte des 19. Jahrhunderts »festgelegt und […] durch einflussreiche Monografien zementiert« wurde.827 Und zu Recht erwähnt er die bis dahin durchaus heterogenen Rezeptions-Topoi, denen das Rezeptionsmuster des Melancholischen, das Melanie Wald-Fuhrmann jüngst herausgearbeitet hat,828 an die Seite zu stellen wäre. Es scheint gleichwohl kein Widerspruch zu sein, in der Heterogenität der frühen Rezeptionstopoi eine Grundkonstante auszumachen, die Beethoven früh – und früher als in der allgemeinen Biographik – auf das Heroische auszurichten scheint. Dabei führt die Frage, warum in der Heroenbiographik ein Komponist wie Mozart in den Hintergrund, Beethoven aber in den Vordergrund tritt, ins Zentrum: Wie kommt es nach der Musikbiographik der Aufklärung und nach der Genie-Diskussion um 1800 zur Ausprägung der Heroenbiographik mit Beethoven als Zentralfigur? Den Gründen für diese Neuausrichtung nachzugehen, erweist sich nicht zuletzt deshalb als bedeutsam, weil die Auswirkungen, die diese auf Komponisten-Bilder hatte – mit entsprechend starken Auswirkungen auch auf die Wahrnehmung musikästhetischer Fragen – bis in das 19. Jahrhundert und in die Gegenwart spürbar zu sein scheinen: Der Beethoven-Forscher Willy Hess verglich 1974 Bach, Mozart und Beethoven auf ihre jeweilige Rolle als Künstler hin: Bachs Kunst wurzele »geistig noch in der gleichsam überpersönlichen Frömmigkeit der christlichen Gemeinschaft«, Mozart hingegen sei der »Licht- und Liebesgenius« und »verklärt alles Menschlich-Allzumenschliche, sogar die Frivolitäten seines Don Giovanni und das an sich banale Geschehen in Così fan tutte in Schönheit«. Das Überpersönliche (Bach) und das in apollinische Schönheit gegossene Frivole (Mozart) – auch dies Spielarten des Genie-Bildes – eigneten sich nicht annähernd so gut für die Heroisierung wie Beethoven. Bei diesem aber »ist es der subjektive Musikausdruck eines Einzelnen, der zum Medium objektiver Gefühls- und Geisteswerte wird«829 – womit nichts anderes als Hegels »welthistorische[s] Individuum« beschrieben ist. Der Literat Peter Henisch wiederum brachte es 2006 – Mozart und Beethoven vergleichend – mit ironischer Distanz auf den Punkt: »[…] auf dem Denkmalsockel gefiel mir Beethoven besser als Mozart. Die graziöse Haltung, die der Bildhauer dem Wolfgang Amadeus verpaßt hatte, war mir ein bißchen peinlich. Hingegen Beethoven. Der wirkte problemumwittert. 827 Hinrichsen 2009, S. 578. 828 Wald-Fuhrmann 2010b. 829 Hess [1976], S. 7.
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Wie er da saß, schwer auf seine Knie gestützt, eine steile Falte zwischen den Augenbrauen.«830 Dieser Unterscheidung aber liegen zwei der wichtigsten Komponisten-Bilder des 19. Jahrhunderts zugrunde: Ein Mozart-Bild, das sich idealisierend dem Klassischen zuordnen ließ,831 und ein Beethoven-Bild, das als revolutionär-herosisierend gedacht wurde. Die Frage aber, wie es zu dieser Aufspaltung des Künstlerbildes und damit auch zur Herausbildung des heroischen Künstlerbildes kam, führt zurück zur frühen Musikerbiographik um 1800 und ihrem Verhältnis zur moralischen Integrität, einem Verhältnis, das – wie die Debatte um die Biographiewürdigkeit um die Mitte des 18. Jahrhunderts zeigte – für Musiker ein durchaus heikles, zumindest aber biographiebestimmendes war. Auffallend hier, dass in den ersten Mozart-Biographien von Niemetschek und Nissen, wie dann auch bei Rochlitz, Ulybyschew u. a., die den bürgerlichen Moralvorstellungen widersprechenden Eigenschaften und Charakterzüge eliminiert wurden: Der Mann soll gezeigt werden, wie er war, diess ist die Forderung an den Biographen, der aber durch gar viele Rücksichten gehemmt wird. […] Man will, man darf seinen Helden nicht öffentlich ganz so zeigen, wie er sich etwa selbst in Abenden der Vertraulichkeit geschildert hat […]. Er hatte Schwächen, Fehler, die er etwa später verbesserte, welches man nicht etwa Gelegenheit hat zu zeigen. Durch alle Wahrheit kann man seinem Ruhme, seiner Achtung und dem Eindrucke seiner Werke schaden.832
Bezeichnend ist auch, dass dieses Konzept für Beethoven bereits zu Lebzeiten nicht adäquat zu sein schien: Die Irritationen, die das Hören (einiger) seiner Werke und sein Auftreten als Pianist, Komponist und Dirigent auslöste,833 übertrug sich sogleich auf die Person, die als ähnlich wunderlich beschrieben wurde, so dass eine Verklärung, wie sie bei Mozart vorgenommen wurde, ausblieb, nicht ohne freilich eine andere, neue Form der Überhöhung zu implementieren. Der unangepasste Charakter des Komponisten wurde nunmehr als Ausweis der Unangepasstheit (und damit auch Zeitenthobenheit) seiner Kompositionen verstanden. Besonders deutlich lässt sich diese frühe Weichenstellung in zwei ebenso gegensätzliche wie sich ergänzende Komponistenbilder im Umgang mit Anekdoten nachverfolgen, die weiterhin und in erheblichem Maße zur konkreten Ausgestaltung eines Künstlertypus dienten. Rochlitz war mit seinen Mozart-Anekdoten angetreten, ein Bild des idealisierten Künstlers zu formen 830 Henisch 2006, S. 44. 831 Vgl. auch Gruber 1987, S. 104. 832 Nissen 1828/1991, S. XXIf., vgl. FN 543. 833 Die Zahl der Zeitzeugenberichte, die dieses Moment hervorheben, ist groß und gut dokumentiert in Kopitz/Cadenbach (Hg.) 2009 (2 Bde.).
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– die Authentizität seiner Zeugenschaft dabei in den Anspruch auf biographische Wahrhaftigkeit ummünzend. Für Beethoven hingegen wurden mehrfach Ereignisse anekdotisch überliefert, die ihn explizit als wirr und unangepasst erscheinen ließen. In beiden Fällen aber wurden aus Zeitzeugenberichten jene Details extrahiert, die sich um einen anekdotischen Kern legen ließen, in dem gleichsam in nuce die Grundstrukturen des Komponistenbildes des überhöht-idealisierten Komponisten beziehungsweise des heroisch-genialen Tonschöpfers eingeschlossen waren. Zu der für Beethoven angelegten Grundstruktur gehörte – als Lösung im Umgang mit der Bizarrerie und Unangepasstheit seines Charakters und seiner Musik – bereits zu seinen Lebzeiten ein Künstlerbild, das wesentliche Elemente dessen aufwies, was sich dann insbesondere ab den 1830er Jahren als das Heroische oder – im Hegelschen Sinne – als das »welthistorische Individuum« festigte. Am Beispiel einer Anekdote,834 die kurz nach seinem Tod in der Allgemeinen musikalischen Zeitung veröffentlicht wurde, sei dies exemplarisch beschrieben. Im Nachruf von Wilhelm Christian Müller heißt es: Wie wenig er von der Welt wusste und sich um conventionelle Formen und irdische Dinge bekümmerte, zeigte sein Aeusseres in der Zeit, wo er am meisten componirte. […] Als argloser, mit den Intriguen der Welt unbekannter Mann mag er wohl ein unordentlicher, oft betrogener Haushälter gewesen seyn. […] In Rücksicht seiner Sittlichkeit stand er wohl in jener luxuriösen Stadt [gemeint ist Wien] hoch über dem grössten Theile seiner Kunst- und Lebensgenossen. Um nur ein Beyspiel seiner eigenthümlichen, strengmoralischen Denkweise anzuführen! Er jagte seine – sonst gute – Haushälterin aus dem Dienst, weil sie, ihn zu schonen, eine Unwahrheit gesagt hatte. Einer Freundin, welche ihm diese gute Person besorgt hatte und ihn dieser Härte wegen befragte, antwortete er: »Wer eine Lüge sagt, ist nicht reines Herzens, und eine solche Person kann auch keine reine Suppe kochen.« Dieses seltsam klingende Urtheil seiner moralischen Grundsätze entspricht seinen oft seltsam klingenden Accorden und Ausweichungen in der Musik, welche von manchen Zuhörern für unverständlich, gesucht oder bizarr gehalten werden.835
An diesem Beispiel lassen sich die Grundkonstanten jenes neuen Komponistenbildes ablesen, dessen demonstrative Alltagsuntauglichkeit nicht mehr kaschiert oder als kindischer Charakter abgetan, sondern als Destillat des Heroischen – oder auch dessen Voraussetzung – eingesetzt wurde. Bei Mozart wurde der unangepasste Charakter als Gegensatz zum idealisierten Künstlerdasein entschuldigt und tendenziell verborgen, bei Beethoven wird er zur Bedin-
834 Vgl. dazu Unseld 2013b. 835 Müller 1827, Sp. 349ff.
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gung des Ausnahmekünstlers schlechthin. Schlichtegroll beispielsweise schreibt über Mozart: Denn so dieser seltne Mensch früh schon in seiner Kunst Mann wurde, so blieb er hingegen – diess muss die Unpartheylichkeit von ihm sagen – fast in allen übrigen Verhältnissen beständig Kind. Er lernte nie sich selbst regiren; für häusliche Ordnung, für gehörigen Gebrauch des Geldes, für Mässigung und vernünftige Wahl im Genuss hatte er keinen Sinn. Immer bedurfte er eines Führers, eines Vormundes, der an seiner Statt die häuslichen Angelegenheiten besorgte, da sein eigner Geist beständig mit einer Menge ganz anderer Vorstellungen beschäfftigt war, und dadurch überhaupt alle Empfänglichkeit für andere ernsthafte Überlegung verlor.836
Und während Schlichtegroll im Folgenden den Vater, die Mutter und die Ehefrau als »Vermittler« fungieren lässt, um die »Größe« unmittelbar an moralische Vorbildlichkeit anschlussfähig zu halten, ist die Ausgangskonstellation in der »Suppen«-Anekdote eine grundsätzlich andere: Beethoven wird als eine der Gesellschaft abgewandte Figur exponiert, wird zunächst abstrakt in seine Außenposition gegenüber der intrigenhaften Gesellschaft skizziert, eine Position, die dann in der folgenden Anekdote weiter ausgebaut wird. Er erscheint als in eine höhere Sphäre der Humantität entrückt, die so weit von den Niederungen des Alltäglichen entfernt ist, dass er sogar Primärbedürfnisse wie Hunger diesen unterordnet. Bezeichnend ist auch, dass der Autor ohne Umschweife von der »reinen Suppe« über die »moralischen Grundsätze« zu Beethovens Musik gelangt, die »reine Suppe« damit zur Metapher erhebend, die – als Metapher für Klarheit/Wahrheit – die »oft seltsam klingenden Accorde und Ausweichungen in der Musik« gleichsam überhöht.837 Diese Metaphorik freilich erlaubt es dem Autor auch, Beethovens offenkundige Überreaktion gegenüber der Köchin zu überhöhen, bzw. Beethoven als einen Heroen auszuweisen, für den eine »höhere Moralität der Welthistorie«838 veranschlagt wird. Die Figur der »Freundin« verstärkt dieses Moment, wendet es gewissermaßen ins Absolute, denn ihre rücksichtsvolle Intervention führt vor Augen, dass sich Beethoven der Unangemessenheit seiner Handlung nicht einmal bewusst ist. Sein Anderssein ist damit weder Spleen noch Karikatur, sondern wird als genuin und absolut dargestellt. Interessant 836 Schlichtegroll 1793, S. 109, vgl. hierzu auch S. 195 dieses Bandes. 837 Ich danke an dieser Stelle Sigrid Nieberle für anregende Diskussionen über die Interpretation der Anekdote. 838 »Die weltgeschichtliche Entwicklung und die mit ihr verbundenen welthistorischen Individuen stehen [nach Hegel] außerhalb ihrer Zeit. Ausdrücklich lehnt Hegel eine (biographische) Kritik der geschichtlichen Persönlichkeit ab, und er verteidigt die welthistorischen Individuen gegen die ›sogenannte psychologische Betrachtung‹«, von Zimmermann 2006, S. 137f.
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ist dabei auch die Haltung der Außenstehenden: die leidtragende Köchin, die an jene zertretene unschuldige Blume, die der Held auf seinem Weg zurücklassen müsse, erinnert, die besorgte Freundin, die zu vermitteln versucht, sowie der verständnisvolle Beobachter, respektive Autor, der die Skurrilität der Suppen-Anekdote aus der Distanz des Berichterstatters nicht nur als Eigenheit des Künstlers akzeptiert, sondern sogar überhöht. Sie alle gehören zur Entourage des Künstlers als Held, dessen Handeln unverstanden bleibt bzw. der vermittelnden Hand des Historikers bedarf, der in der Heroenbiographik das Sonderbare des Helden im Rahmen einer historischen Dimension für die Allgemeinheit verständlich macht. Der Historiker wiederum greift zu einer vermittelnden Sprache, die die Kompositionen Beethovens verständlich zu machen sucht, dabei die Erläuterungen als notwendige Folge und Ausweis einer autonom gewordenen Kunstmusik begreifend. Hieraus erklärt sich auch, warum für die Konstruktion des Heroen Beethoven eine spezifische Auswahl an Werken notwendig war, die Dahlhaus bezeichnenderweise als »Hauptwerke« auswies.839 Jene Entourage ist kurz gefasst deshalb notwendig, um das »prinzipielle Anderssein der Größe« erkennbar werden zu lassen, ihn als Heroen zu exponieren. Wenn A. B. Marx in seiner Beethoven-Biographie von 1859 daher das zweite Buch des ersten Bandes, die Zeit 1804–1818 umfassend, mit dem Kapitel »Heldenweihe« beginnt und in ihm mit Metaphern des Kampfes bzw. des trotzigen Helden exponiert,840 so ist dies zwar in der Tat einer jener Momente, die um die Mitte des 19. Jahrhunderts die Heroenbiographik festlegt und zementiert, die aber sehr konkret auf jenes beethovensche Genie-Modell zurückgreift, das spätestens ab 1827 etabliert war und das, wie Roland Barthes meinte, ein eigenes »Bedeutungssystem«841 etablierte. Es wäre daher verkürzt, würde man den Beginn der Heroisierung des Beethoven-Bildes erst um die Jahrhundertmitte datieren. Warum aber, so bliebe zu fragen, ging das Beethoven-Bild eine derart enge Liaison mit dem Heroismus ein? Vor allem scheinen dafür zwei Gründe verantwortlich zu sein: seine Musik, die den Heroen-Diskurs der Zeit thematisch
839 Vgl. dazu auch das Kapitel Wider das Triviale: Carl Dahlhaus’ Polemik von 1975 und ihre Folgen. 840 »So hatte Beethoven seinen Vorsatz zu erfüllen begonnen, dem Schicksal Trotz zu bieten und sich nicht niederbeugen zu lassen. Allein sein Kampf wie seine Prüfungen hatten erst begonnen, und der Kampf war um so drückender, da Niemand voraussehn konnte, daß die Prüfungen heilsam, ja für Beethovens Vollendung nothwendig sein würden, statt vernichtend.« Marx 1859, Bd. 1, S. 239. 841 Barthes 1979, S. 40f.
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und ästhetisch aufgreift,842 und die wechselseitige Abhängigkeit von Musik und Politik, über die das Bürgertum des 19. Jahrhunderts sowohl soziale als auch als nationale und nicht zuletzt geschlechtliche Distinktionsmerkmale zu definieren versuchte. »Das europäische Bürgertum«, so Gunilla Budde, »konstruierte in seiner Konstituierungsphase das Opernhaus und den Konzertsaal nicht als von der Politik abgeschottete Gegenwelt, als Kompensation zur noch verwehrten politischen Partizipation. Vielmehr diente das Musikleben als öffentliches Forum bürgerlicher Selbstfindung und Fremdabgrenzung. Gleichsam als Politik mit musikalischen Mitteln schuf sich hier das Bürgertum einen öffentlichen Raum, für den genuine Wertvorstellungen und erst zu erlernende Verhaltensregeln galten.«843 Neben diesen konkreten Musikräumen war auch die Musikgeschichtsschreibung ein Medium, das in seiner verstetigenden, das kulturelle Gedächtnis prägenden Art »mit[half], das Bürgertum zu formen, das heißt zu bilden, moralisch und politisch zu prägen, zu vereinheitlichen und zusammenzuschweißen«.844 Eine wichtige Rolle spielte drittens auch der Nationalitäts-Diskurs, wobei die Musik – sowohl über das Werk als auch über ihren Schöpfer – für die Idee der nationalen Identifikation reklamiert wurde: Spätestens ab der Jahrhundertmitte fehlte es in keiner europäischen Musikmetropole an Versuchen der Musikkritik, die nationale Ausrichtung der Kunstmusik, nationale Musikschulen und Nationalopern einzufordern. Carl Maria von Weber und Ludwig van Beethoven in Deutschland, später Bedřich Smetana in Böhmen oder Edward Elgar in Großbritannien galten vielen Zeitgenossen nicht einfach nur als große Künstler, sondern als Verkörperung der eigenen Nation. Der Trauermarsch der Eroica versprach Einblicke in die Tiefe der deutschen »Volksseele«.845
Damit verband sich rasch eine neue Rolle für den Komponisten, die der (nationalen) Leitfigur oder auch des »Heilbringers«, einen Zusammenhang, den Martina Kessel beschreibt: Im 19. und frühen 20. Jahrhundert zeigte sich die Bedeutung von Kunst für Subjektentwürfe ebenso wie für die Strukturierung sozialer Differenzen vor allem im bürgerlichen Milieu, dem Leitmilieu für den Entwurf und die Durchsetzung kultureller Verhaltensmuster mit universalem Anspruch. Bürgerliche Eliten schrieben der Kunst nationale Erlösungsfunktion und dem Künstler entsprechende Heilungskompetenz zu.846 842 Die Zusammenhänge von Heroismus-Diskurs und Beethovens Musik steht hier nicht im Zentrum, verwiesen sei in diesem Zusammenhang aber auf Burnham 1995 sowie im Bezug auf die Dritte Symphonie Geck/Schleuning 1989. 843 Budde 2007, S. 97. 844 Hentschel 2006a, S. 452f. 845 Müller 2007, S. 25. 846 Kessel 2005, S. 11.
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Dass sich Beethoven in diesem Kontext besonders gut eignete, ist kaum verwunderlich, zumal es ausgewählte Werke waren, die eine entsprechende Interpretation zuließen:847 etwa Beethovens Auseinandersetzung mit der Prometheus-Figur im Sinne einer individuellen Emanzipation oder seine anti-napoleonische Dritte Symphonie848 im Sinne einer demokratisch-gesellschaftlichen Emanzipation. So deutlich sich hier die demokratischen Ideen von Gleichheit und Emanzipation begegnen, so deutlich wird auch, dass die Vorstellung dominiert, jene seien nur im Kampf erreichbar und müssten kämpferisch verteidigt werden. Die Umsetzung dieser Vorstellung aber sei – im realen Leben wie in der Kunst – Angelegenheit eines Helden. Anders gesagt: In jenem Moment, in welchem dem Bürgertum über Kunst Identifikationsmöglichkeiten entstanden und in dem die eigene Identität immer wieder in scharfer Distinktion zu anderen Gesellschaften (anderen Schichten, anderen Nationen) neu verhandelt werden musste, bedurfte gerade jenes Bürgertum einer Künstlerfigur, die zugleich auch als (Vor)Kämpfer imaginiert werden konnte. Die Musik hatte sich dabei für das Bürgertum als besonders probates Terrain dieser Identitätsprozesse erwiesen849 und mit ihr erlebte das Bild des Komponisten Beethoven als Heroe einen deutlichen Aufschwung. Gerade auch die Nähe zwischen Genie und Heroe ermöglichte es darüber hinaus, Ersterem eine noch deutlichere Geschlechterperspektive einzuschreiben. Hierzu sei die Aufmerksamkeit auf den Zusammenhang zwischen heroischem Künstlerbild und den Männlichkeitsdiskursen der Zeit gelenkt. Das »prinzipielle Anderssein der Größe« konstituierte sich in den frühen Beethoven-Darstellungen maßgeblich in vier Punkten: sein normabweichendes Aussehen (Haare, Kleidung, Haltung etc.), sein aufbrausender Charakter (»grollend« wurde dafür der prägende Begriff850), seine unangepasste Lebensführung, und das Unverständnis, das seiner Musik entgegengebracht wurde. Alle genannten Punkte sind im Grunde anti-bürgerlich (im Sinne des Charakterbildes eines Außenstehenden, die bürgerliche Gesellschaft durch seine Andersheit bestätigend), und sie sind zugleich »heroisch« – im Hegelschen Sinne steht der Heroe über Fragen der Moral, Sittlichkeit und Rechtlichkeit – und damit nicht zuletzt männlich konnotiert. Anders gesagt: Alle genannten Punkte setzen sich derart klar gegen die Weiblichkeitsvorstellungen der Zeit ab, dass nicht nur keine Vereinbarkeit von Genie und Weiblichkeit mehr denkbar war, sondern dass auf diese Weise die Vergeschlechtlichung des Begriffs 847 »Die Linien, an denen entlang die posthume Beethoven-Rezeption verläuft, führen fast stets auf eine bestimmte und charakteristische Werkauswahl, keineswegs auf den ›ganzen‹ Beethoven.« Hinrichsen 2009, S. 575. 848 Vgl. dazu Geck/Schleuning 1989. 849 Vgl. dazu u. a. Klassen 2009. 850 Dittrich 1998.
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geradezu ins Zentrum rückte. Otto Weininger, philosophisch die Diskurse der vergangenen Jahrzehnte kompilierend, sah 1903 – für seine Generation beispielhaft und viel rezipiert – im Genie eine Art höherer Männlichkeit, wobei das heroische Beethoven-Bild des Beethoven-Verehrers Weininger Pate stand: […] es gibt wohl Weiber mit genialen Zügen, aber es gibt kein weibliches Genie, hat nie ein solches gegeben (auch nicht unter den Mannweibern, welche die Geschichte nennt und von denen der erste Teil sprach) und kann nie ein solches geben. Wer prinzipiell in solchen Dingen der Laxheit huldigen und den Begriff der Genialität so sehr auftun und erweitern wollte, daß die Frauen unter ihm auch nur ein Fleckchen Raumes fänden, der würde diesen Begriff damit bereits zerstört haben. Wenn überhaupt ein Begriff von Genialität in Strenge und Einheitlichkeit gewonnen und gewahrt werden soll und kann, so sind, wie ich glaube, keine anderen Definitionen von ihm möglich als die hier entwickelten. Wie könnte nach diesen ein seelenloses Wesen Genie haben? Genialität ist identisch mit Ti e f e ; und man versuche nur, tief und Weib wie Attribut und Substantiv miteinander zu verbinden: ein jeder hört den Widerspruch. Ein weiblicher Genius ist demnach eine contradictio in adjecto; denn Genialität war ja nur gesteigerte, voll entfaltete, höhere, allgemein bewußte Männlichkeit. Der geniale Mensch hat, wie alles, auch das Weib völlig in sich; aber das Weib selbst ist nur ein Teil im Weltall, und der Teil kann nicht das Ganze, Weiblichkeit also nicht Genialität in sich schließen. Die Genielosigkeit des Weibes folgt unabwendbar daraus, daß das Weib keine Monade und somit kein Spiegel des Universums ist.851
Albrecht Riethmüller analysierte dieses spät-bürgerliche, hochgradig pathetische Beethoven-Bild als »teils als übersteigert viril, teils als übersteigert patriotisch«.852 Von den Zusammenhängen der Themenfelder Genie, Heroismus und Männlichkeitsvorstellungen zeigte sich im Übrigen auch die Denkmalkultur geprägt. Bei keinem der im 19. Jahrhundert aufgestellten Beethoven-Denkmälern handelt es sich um eine möglichst realistische Darstellung. Vielmehr sollte, wie dies auch Droysen als Anspruch heroischer Repräsentation formulierte,
851 Weininger 1920, S. 235f., Hervorhebungen im Original. Fußnote ebenda: »Es wäre an und für sich ein leichtes, nun die Schöpfungen der berühmtesten Frauen vorzunehmen und hier an einigen Beispielen zu zeigen, wie wenig irgendwo da von Genie die Rede sein kann. Aber zu einer so langwierig historisch-philologischen, quellenmäßigen Arbeit, die ohne Pedanterie schwer ausführbar gewesen wäre und zudem von jedermann, dem sie Vergnügen bereitete, leicht selbst besorgt werden könnte, mochte ich mich nicht entschließen.« Zu Weiningers Genie-Begriff vgl. auch Le Rider 1990, S. 75ff. 852 Riethmüller 2003, S. 97. Vgl. dazu auch Borchard 2005a sowie Bartsch/Borchard/ Cadenbach (Hg.) 2003.
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die Statue eines Helden […] gleichsam die Summe seines geschichtlichen Seins und Tuns in einer plastisch […] fixierten Einheit und Bestimmheit hervortreten lassen, nicht wie er zufällig in diesem oder jenem Moment war. Die photographische Ähnlichkeit ist rein äußerlich und momentan, sie ist richtig aber nicht wahr, denn sie gibt nur diesen Moment, nur einen von vielen, die sich ergänzen und berichten, – der künstlerische Geist versteht diese vielen Momente zusammenzufassen und so das wahre Wesen des Dargestellten zu reproduzieren oder, wie ein Maler [gemeint ist Eduard Bendemann] einmal sagte: ein gutes Portrait sei eine Predigt. D. h. es zeigt den Dargestellten, wie er nach seinem wahren Wesen ist oder sein sollte.853
Vor diesem Hintergrund spiegeln die Beethoven-Monumente den Heroismus-Diskurs des 19. Jahrhunderts wider, zumal sich erst ab den 1820er Jahren die Denkmalkultur dem nicht-militärischen Heroen zu öffnen begann.854 Mozart und Beethoven gehörten hierbei zu den frühesten Komponisten, denen ein Denkmal gestiftet wurde (oder werden sollte), wobei im Kontext der Beethoven-Denkmale von Beginn an das Moment des Heroischen in der Diskussion stand. Zwar war der Entwurf Friedrich Drakes für das Bonner Beethoven-Denkmäler als »zu heroisch« abgelehnt worden, doch auch das tatsächlich realisierte Denkmal, entworfen von Ernst Julius Hähnel, war zumindest monumental. Die Beethoven-Denkmäler der zweiten Jahrhunderthälfte sprechen eine noch deutlichere Bildsprache: Auf einem Sessel oder Thron sitzend changieren die Darstellungen zwischen monarchischem und heldischem Gestus, die Erhabenheit des Heroischen in verschiedenen Nuancen aufgreifend. In allen Fällen aber war der Sockel zentraler Bestandteil des ästhetischen Konzepts, die Distanz der Figur zu ihrem Betrachter markierend.855 Die Konnotationen von Männlichkeit und Heroentum, wie sie um 1900 schließlich mit Blick auf Beethoven diskutiert wurden, lassen sich schließlich in Max Klingers Skulptur nachzeichnen, die 1902 in der Beethoven-Ausstellung der Wiener Seccession erstmals präsentiert wurde und dort für Furore und für Klinger vor allem für zahlreiche Folgeaufträge sorgte: Beethoven sitzt 853 Droysen 1943, S. 61. 854 Frevert dokumentiert eine Reihe von Denkmalenthüllungen ab 1821, die »Zivilisten« gewidmet waren: Luther (1821), Gutenberg (1837), Schiller (1839 und 1857), Herder (1850), Lessing (1853), Goethe und Wieland (1857). 855 Im Kontrast dazu beschreibt Marie Agnes Dittrich das Schubert-Denkmal im Wiener Stadtpark (1872, entworfen von Karl Kundmann), über das in der Allgemeinen musikalischen Zeitung zu lesen war, dass es »jenem imponierenden Heroismus entzogen sei«: »Im Gegensatz zum bis dahin üblichen Typus ist er auch dem Betrachter gegenüber kaum erhöht: Schubert ist also kein erhabener Siegertyp; ganz anders das wenig später entstandene Beethoven-Denkmal von Caspar Zumbusch (1880).« Dittrich 2001, S. 14.
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auf einem mamornen Thron, Kopf und Oberkörper sind nach vorn gebeugt, die Beine übereinandergeschlagen. Mächtig ruht seine rechte Faust auf dem Knie. Der Ausdruck seines Gesichts, das von wirrem Haar umgeben ist, betont das Gebieterisch-Ernste, sein Blick geht über den ihm zu Füßen liegenden Adler hinweg in eine unbestimmte Ferne. Er ist nackt, nur ein Tuch bedeckt seinen Schoß. Die Plastik verbindet antikisierende Götterdarstellung, heroische Machtapotheose, Nietzscheanische »Übermenschen«-Ästhetik856 und einen dezenten Hang ins Pathologische.857 Die zeitgenössische Kritik, über die Darstellung des Heroischen bezeichnenderweise tief zerstritten, sah in ihr die Verunglimpfung des Helden oder aber »ein Bild grollend gesammelten Sinnens, königlichen Schaffens«.858 Jost Hermand unterzog Klingers Beethoven einer beachtenswerten Analyse, die sehr klar den Zusammenhang zwischen (gesellschafts)politischen, ästhetischen und genderspezifischen Deutungsebenen aufdeckt: Genauer gesehen, gehen im Falle Beethovens solche im schlechten Sinne als »heroisch« geltenden Ansichten gar nicht auf ihn, sondern weitgehend auf das deutsche Bildungsbürgertum des 19. Jahrhunderts zurück, das mit der emphatischen Berufung auf Beethovens »Heldentum« seinem eigenen tataktivistischen Nationalismus eine ästhetische Verbrämung zu geben versuchte. Wohl der bekannteste bildkünstlerische Ausdruck dieses Bemühens ist die 1902 enthüllte Monumentalstatue Beethovens von Max Klinger. Hier sitzt Beethoven als nackter, halbgöttlicher Titan auf einem Thron und blickt mit gesammelter Energie in eine noch ungeklärte Zukunft, wobei ihm wie Zeus oder Wotan ein Adler zu Füßen kauert, um dem Ganzen einen Zug ins Imperiale, wenn nicht gar Halbgöttliche zu geben. Die Begeisterung für diese Statue war damals – auf dem Höhepunkt der wilhelminischen Machtansprüche – innerhalb der konservativen Schichten geradezu enthusiastisch.[859] Sie sahen in Beethoven einen der größten deutschen »Heroen« schlechthin. Weder Bach noch Haydn, Mozart, Schubert oder Schumann hätte man deshalb um 1900 als nackten Heros darstellen können. Nur Beethoven schien – nach einer langen und immer hektischer werdenden Legendenbildung von seiten der romantischen und später reichsverbundenen deutschen Bourgeoisie – einer solchen Verklärung ins »Übermännliche« würdig zu sein.860
856 Dass Klinger unmittelbar nach der Beethoven-Plastik das Nietzsche-Porträt in Angriff nahm, scheint kaum zufällig. Vgl. zu Letzterem Dietrich/Erbsmehl 2004. 857 Zur Pathologisierung des Künstlers um 1900 vgl. Gockel 2010. 858 Aus der Zeitschrift Pan (Treu 1899/1900, S. 27). 859 Die Reaktion auf die erste Präsentation der Plastik im Kontext der Wiener Secessions-Ausstellung freilich war noch ablehnend gewesen; erst nachdem sie nach Leipzig verkauft worden war, begann jene den heroischen Zug rezipierende Zustimmung. 860 Hermand 2003, S. 234f.
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Zugleich, und dies wäre der Analyse Hermands hinzuzufügen, ist Klingers Beethoven auch ein Dokument der Krise der männlichen Identität, wie sie Jacques Le Rider in Das Ende der Illusion für die Wiener Situation exemplarisch untersucht hat: Das Heroische, das für die Konstitution der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer (auch) nationalen Identitätssuche so wichtig gewesen war, zeigte sich als besonders anfällig für die Dekadenz-Phänomene um 1900. Und so ist auch Klingers Beethoven trotz seines titanischen Charakters eher von hagerer denn von muskulöser Gestalt.861 Das Heroische transzendiert ins Genialische, das sich in der Moderne (und für die Vertreter der Moderne) neu konstituiert: »Sobald diese Moderne die Traditionen, Schulen, Wertsysteme und Geschmackskriterien einer radikalen Kritik unterwirft und sich die Berechtigung der Kunst nur noch aus der schöpferischen Individualität ergibt, öffnet sich die Perspektive für eine Rückkehr des ›Genies‹.«862 Dass diese Rückkehr an Beethoven exemplarisch gefeiert wurde – immerhin handelte es sich bei der Beethoven-Ausstellung um eine der Wiener Secession, die mit den Akademismen brach und ihre »neue Monumentalkunst« als dezidiert modern verstand863 –, ist dabei ebenso bezeichnend wie die damit verbundene Intention der Sakralisierung der Kunst. Stephan Koja kommentiert die damit im Zentrum stehende Beethoven-Statue von Klinger im Kontext dieser Sakralisierung: Es war kein Zufall, daß das »Künstlergenie« Klinger sich das »Musikgenie« Beethoven als Motiv gewählt hatte, denn die Beethoven-Verehrung hatte sich im späten 19. Jahrhundert zu einem wahren Kult gesteigert, der um die Jahrhundertwende seinen Höhepunkt erreicht. Geprägt durch die Genieauffassung Schopenhauers und Nietzsches sah man in dem einsamen Kämpfer den Künstler schlechthin, der quasi als Märtyrer für die Erlösung der Menschheit leidet; sein Leben führt exemplarisch »das schmerzliche Ringen nach Erkenntnis und die Qualen des Erkennens« vor. Klinger hatte bei seiner Beethoven-Figur diese Auffassung zum Programm gemacht.864
Das in Klingers Figur sich ausdrückende »Begriffssystem« Beethoven erlaubte den Künstlern der Secession damit nicht zuletzt die Selbstverortung einer jungen Künstler- und Komponistengeneration unter dem Sinnbild des Kämpfers für eine emphatisch als neu verstandene Kunst. Dass für diese Gruppe von Künstlern auf einen Begriff zurückgegriffen wurde, der wiederum dem Militärischen entstammte – die Avantgarde –, ist bezeichnend: 861 Die Gestaltung des Oberkörpers war denn auch Anlass für zahlreichen karikaturistischen Spott, s. Cadenbach (Hg.) 1986, S. 28ff. 862 Le Rider 1990, S. 35. 863 Dazu Koja 2006. 864 Ebda., S. 85.
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Die überwiegend positiv konnotierte Bezeichnung einer Bewegung mit dem militärischen Terminus Avantgarde entspringt der Vorstellung einer kleinen Gruppe von Kämpfern, die als Vorhut einer Streitmacht den Weg ebnen und sich in unerschlossenes, unwirtliches Gelände wagen. Ein solches Bild impliziert Motive von Führerschaft, visionärer Vorausplanung, unbekannten Aufgaben und Herausforderungen, Risikobereitschaft bei zu erwartendem Widerstand, Fortschrittsdenken sowie ein Gefühl für Zusammengehörigkeit und Exklusivität.865
Welche Funktion dabei Beethoven als »Vorkämpfer« für die (Kunst-)Avantgarde einnahm, lässt sich an der Ausstellung der Wiener Secession 1902 dabei ebenso exemplarisch erkennen wie an der Beethoven-Verehrung des Philosophen Weininger, dessen Schrift Geschlecht und Charakter von den Zeitgenossen als Manifest der Avantgarde rezipiert wurde, und dessen Beethoven-Verehrung im Suizid in Beethovens Sterbezimmer gipfelte.866 Einen anderen Strang der Beethovenschen Heroen-Biographik nimmt seinen Ausgangspunkt bei Thomas Carlyle, dessen Vorstellungen Christian von Zimmermann in sechs Punkten zusammenfasst: 1) die Verbindung zwischen Alltagszeitlichkeit und ewiger historischer und natürlicher Eigengesetzlichkeit, 2) das Seher- und Prophetentum, welches aus der ahnenden Erkenntnis dieses Wesensgehaltes resultiert; 3) das unbedingte Beharren auf dieser Wahrheit; 4) die asoziale Einsamkeit des Helden, der bei seinem Glauben bleibt; 5) die Berufung zur Größe, die nicht selbstgewählt ist; 6) der Erfolg der historischen Leistung, welcher auch die Mittel heiligt.867
Deutlich wurde diese Carlylesche Heroismusvorstellung in Romain Rollands Beethoven-Biographie umgesetzt, die 1903 erstmals erschien und zahlreiche Neuauflagen erfuhr. Im Vorwort wird das Bild eines Heroen vor dem Hintergrund einer materialistisch-egoistischen Zeit entworfen, Beethoven tritt – Nägelis sprachlicher Inszenierung vergleichbar – wie in eine Lichtgestalt auf: Das Leben ist hart. Es ist ein täglicher Kampf für die, die sich nicht seelischer Mittelmäßigkeit hingeben wollen. Ein trauriger Kampf ist es meist, der ohne Größe, ohne Glück, in Einsamkeit und Schweigen ausgefochten wird. […] Nicht die nenne ich Helden, die durch den Gedanken oder die Kraft gesiegt haben; die ganz allein die sind es, die kraft ihres Herzens groß waren. […] Wo der Charakter nicht groß ist, kann es der Mensch, kann es der Künstler nicht sein, auch nicht der Mann der Tat. […] Das Leben derer, deren Geschichte wir zu schreiben versuchen, war fast immer ein langes Martyrium. Sei es, daß ein tragisches Geschick ihre Seele 865 Custodis 2010, S. 131. 866 Weininger nahm sich am 4. Oktober 1903 im Sterbezimmer Beethovens das Leben. 867 Von Zimmermann 2006, S. 142f.
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Biographische Konzepte in Musik und Musikgeschichtsschreibung
schmiedete auf dem Amboß von leiblichem, seelischem Schmerz, von Unglück und Krankheit; sei es, daß ihr Leben verwüstet wurde, ihr Herz zerrissen vom Anblick der Leiden, der namenlosen Schmach, die ihre Brüder folterten. […] O, daß sie nicht allzusehr klagen, sie, die Unglück sind: der Menschheit Auserwählte sind unter ihnen. […] Der Anführer dieser Legion der Helden sei Beethoven, der Starke, Reine. […] Nach Jahren des Kampfes und der übermenschlichen Anspannung aller Kräfte dahin gelangt, sein Schicksal zu überwinden und seine Aufgabe zu vollenden, die, wie er sagte, darin bestand, der armen Menschheit ein wenig Mut einzuflößen, rief dieser siegreiche Prometheus einem Freunde, der zu Gott flehte, zu: »O Mensch, hilf dir selbst!«868
Noch deutlicher wird der heroisch-prophetische Impetus Carlyles schließlich bei Willy Hess, der anlässlich des Jubiläumsjahrs 1971 Beethoven vor der materialistisch-egoistischen Gegenwart zu bewahren suchte: 1971 fasste Hess die Ereignisse des gerade vergangenen Beethoven-Jahres (anlässlich dessen u. a. Arbeiten von Mauricio Kagel und Joseph Beuys869 entstanden) in einem Artikel unter der Überschrift »Die Verunglimpfung des Genius. Auch ein Beitrag zum Beethoven-Gedenkjahr«870 zusammen. Sein Text baut dabei – ganz im Sinne des Heroismus-Modells – auf einer Gegenüberstellung des Einzelgängers Beethoven mit den allgemeinen Zeittendenzen auf:871 Für Beethoven steht:
Für die allgemeinen Tendenzen der Zeit steht:
»höchste Offenbarungen einer großen, göttlichen Kunst«
»Zersetzung der Kunst […] in einer wahrhaft apokalyptischen Weise«
»freudig und dankbar«
»pathologische und zersetzende Weise«
»fordernde Kunst«, »unbequem«
»unfähig zu echter künstlerischer Intuition«
868 Rolland 1903, Neuauflage von 1958, S. 11–15. 869 Mauricio Kagels »Metacollage« Ludwig van. Hommage à Beethoven (1969) für beliebige Besetzung sowie der gleichnamige Film von Kagel, der im Auftrag des Westdeutschen Fernsehens zwischen 1969 und 1970 entstand, erstmals am 28. Mai 1970 bei den Wiener Festwochen uraufgeführt und am 1. Juni 1970 im Westdeutschen Fernsehen gezeigt wurde. Außerdem Joseph Beuys’ Beethovens Küche, eine Installation, die am 4. Oktober 1969 für wenige Stunden im Kontext des Kagel-Films existierte und 2005 rekonstruiert wurde (Joseph Beuys – »Beethovens Küche«. Eine Dokumentation in Fotografien von Brigitte Dannehl. Sonderausstellung des Beethoven-Hauses Bonn in Zusammenarbeit mit der Stiftung Museum Schloss Moyland/Joseph Beuys Archiv, 2. September–18. November 2005). 870 Hess 1971. Die hier formulierten Gedanken fußen auf einer Auseinandersetzung mit Hess’ Polemik im Zusammenhang mit der Frage der Erinnerungskultur der Jahrestage, erstmals publiziert in Unseld 2007a. 871 Alle im Folgenden gegenübergestellten Textpassagen s. Hess 1971.
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»seelische Lauterkeit dieser Musik, ihr hohes Ethos und das Bekenntnis zu menschlichen Hochzielen«
»Verjazzen«, »Zertrümmern des Überlieferten«, »Verballhornung«, »neue Werte vor[…]täuschen«
»geistiges Licht«, »strahlendes Licht«
»Mächte der Finsternis«, »matte[s] Glimmen faulenden Holzes«
»das Edle und Göttliche«, »Gottessohn«
»geistige Pygmäen«, »Schmutzfinken«
»Beethovens Musik […] schenkt uns […] Werte wieder«
»unheilschwangere Zeit«
»[Beethovens] edles Menschentum«
»Taumel einer vertechnisierten und liebeleeren Zivilisation«
Carlyles Vorstellungen, dass zum Helden eine Gesellschaft gehöre, die dieser Leitfigur in Heldenverehrung folge (»Society is founded on Hero-worship«872), kann Hess in der Gegenwart nicht mehr erkennen: Er beobachtete in der Gegenwart eine »Zersetzung der Kunst […] in einer wahrhaft apokalyptischen Weise«, die »den letzten Rest von Anstand, Idealismus und Glauben an große geistige Werke in dieser Welt zu zerstören« drohen. Die Zerstörung der Werte aber, so Hess, drohe durch das »Verjazzen von Werken Bachs und Beethovens« und durch die »tiefenpsychologische Durchleuchtung« seiner Biographie, die »unter der Maske wissenschaftlicher [Erkenntnis]« daherkomme.873 Diese Polemik gegen die Psychobiographik nimmt die Studie von Editha und Richard Sterba Ludwig van Beethoven und sein Neffe. Tragödie eines Genies. Eine psychoanalytische Studie 874 aufs Korn: »Das üble Pamphlet der Sterba gibt allen jenen bubenhaften Verunglimpfungen des Genius gewissermaßen die pseudowissenschaftliche Grundlage.« In der – übrigens von Sigmund Freud selbst (an)erkannten – Grenze der Psychobiographie sieht Hess bereits eine Grenzüberschreitung: »Diese sogenannten Wissenschaftler kennen ihre Grenzen nicht und überschreiten sie daher dauernd.«875 Gegen die psychologische Methode, die Hess mehrfach der Unwissenschaftlichkeit zeiht, restituiert er die Distanz zwischen Genie und »Durchschnittsbürger«, die nicht nur künstlerisch zur Geltung komme, sondern auch moralisch: Dem »Wesen eines schaffenden Meisters, der seinen eigenen Weg geht«, sei »mit den üblichen Maßstäben eines Durchschnittsbürgers überhaupt nicht bei[zu]kommen«.876 Diese Argumentation ist deutlich in der Nachfolge von Hegels »welthistorischem Individuum« zu verorten, dessen Moraldispens für den Helden eine Kritik 872 873 874 875 876
Carlyle 1840, S. 15. Hess 1971, S. 38. Sterba/Sterba 1964. Englisches Original 1954. Curt Paul Janz, von Hess als Gewährsmann zitiert, vgl. Hess 1971, S. 38. Ebda., et passim.
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Biographische Konzepte in Musik und Musikgeschichtsschreibung
an der »Kammerdiener-Perspektive« mit einschloss, hier bereits verbunden mit einer Kritik an der »sogenannten psychologische[n] Betrachtung […], welche, dem Neide am besten dienend, alle Handlungen ins Herz hinein so zu erklären und in die subjektive Gestalt zu bringen weiß, daß ihre Urheber alles aus irgendeiner kleinen oder großen Leidenschaft, aus einer Sucht getan haben und, um dieser Leidenschaften und Suchten willen, keine moralische Menschen gewesen seien«.877 Hess’ eigene Beethoven-Biographie, die 1956 erstmals erschien und 1976 neu aufgelegt wurde, war freilich deutlich dem an Carlyle orientierten Heroenkonzept gefolgt. Mit diesen beiden Erscheinungsdaten umkreist das Buch zwar die Hochzeit der Biographie-Kritik; sie scheint gleichwohl davon unberührt, es sei denn, man nimmt im Schlusssatz des Vorwortes zur zweiten Auflage ein verschärftes Festhalten am heroenbiographischen Weg wahr: »Nach wie vor ist dieses Buch ein Bekenntnis; ein Bekenntnis zum Menschen und Künstler Beethoven, ein Bekenntnis zu einer Kunst, welche im Kleide klingender Schönheit höchste Menschheitsideale vertritt.« Und in Anlehnung an sein Pamphlet von 1971 ergänzt Hess: »Beethovens Musik ist heute aktueller als je. Mit ihrem Seelenadel und reinen Ethos vermag sie allen jenen Trost und Beglückung zu schenken, welche unglücklich und heimatlos in einer entgöttlichten und entseelten, von den Dämonen des Materialismus und der Technik beherrschten Zeit leben und sich nach etwas Höherem und Gottnaherem sehnen.«878 Die Mechanismen der Heroenbiographik waren bei Hess noch deutlich wirksam, allerdings hatte sich der historiographische und auch politische Hintergrund geändert, so dass nun einige Konturen der (immer auch national getönten) Heroenstilisierung schärfer zur Geltung kamen, ja zu »jenen verquälten und geschrobenen Versuchen, Beethoven als einzigartiges Genie in einen irrationalen deutschen Himmel zu heben«,879 geronnen, andere, vor allem nationale Färbungen aber durch ein neues, auch in die Biographik hineinwirkendes Modell ersetzt wurden: Das Heldische Beethovens, das zwischen 1939 und 1945 in direkter Nachbarschaft zur »arischen Willenskraft« stand, verlor nach dem Ende des Nationalsozialismus gleichsam ad hoc seine nationalen Töne: Nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches im Mai 1945 hörten solche Stilisierungen Beethovens zu einem deutsch-nationalen Heros im öffentlichen Leben geradezu über Nacht auf. Jetzt war es plötzlich – im Zuge der von den sogenannten
877 Hegel 1986, S. 47. Vgl. hierzu auch von Zimmermann 2006, S. 134ff. 878 Hess [1976], S. 11, Hervorhebung M. U. 879 Geck/Schleuning 1989, S. 316.
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Kulturträgerschichten angestrebten weltanschaulichen Reinigungsprozesse – die zutiefst ›humanisierende‹ Wirkung seiner Werke, die […] als lobenswert galt.880
Diese »humanisierende« Wirkung spricht Hess Beethovens Musik in höchstem Maße zu, macht sie geradezu zu ihrem Hauptmerkmal. So heißt es etwa im Vorwort, in ihr fände sich »die Durchdringung eines vollkommen subjektiven Musikausdruckes mit den Idealen höchster Menschlichkeit und einer Reinheit der Empfindung, die alles Niedere und Frivole einfach ausschließt«.881 Von diesem Absolutheitsanspruch getragen, sei, so Hess, Beethovens Musik über jede Form der Kritik – auch jeder musikwissenschaftlichen »Deutung« – erhaben: Es gibt Kunstwerke, die für unser Empfinden den Mantel der Unsterblichkeit und Unantastbarkeit tragen. Wir stehen vor ihnen wie vor etwas Göttlichem, etwas so Absolutem und in sich Vollendetem, daß jede kritische Betrachtung verstummen muß. Sie erscheinen uns als Gefäße himmlischer Schönheit und kosmischer Kräfte. […] Sie bedürfen keiner Auslegung, keiner Deutung. […] Wir zählen das Lebenswerk Ludwig van Beethovens mit zu diesem Höchsten und Letzten in der Kunst. Viele Anschauungen und Richtungen im Bereiche der musikalischen Ästhetik liegen heute in Fehde miteinander. Mit einer oft stupenden Heftigkeit werden von unserer Generation Theorien aufgestellt und verworfen, verfochten und bekämpft […]. An das Werk Beethovens aber hat sich noch keine ablehnende Kritik so richtig herangewagt, wenn wir von den menschlich begreifbaren Entgleisungen zu Lebzeiten des Tondichters absehen. Dieses Werk steht so hoch, so unantastbar über allem Vergänglichen, daß es auch den beißendsten Spötter und den geistreichsten Verkünder von der Umwertung aller Werte irgendwie zu leiserem Sprechen zwingt. Es ist, wie wenn wir einen gotischen Dom betreten. Auch der Atheist wird unwillkürlich von einer Art Ehrfurcht ergriffen, mag er solche Gefühle theoretisch hundertfach ableugnen.882
Für Hess ist es unbezweifelbar, dass die zunächst nur für die Musik Beethovens konstatierte Humanisierung auch den Menschen Beethoven (und damit das biographische Schreiben Hess’) umfasst, Mensch, Künstler und Werk in einem apologetischen Dreiklang vereinend. Hess war davon überzeugt, »daß nur ein großer guter Mensch hinter diesem künstlerischen Werk stehen«883 könne.
880 881 882 883
Hermand 2003, S. 15. Hess [1976], S. 7. Ebda. Hess 1971, S. 40, Hervorhebung im Original.
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Biographische Konzepte in Musik und Musikgeschichtsschreibung
Wichtiges Argument ist Hess hierbei die Sakralisierung,884 konkret: der Christus-Vergleich, den er mehrfach für Beethoven anführt und mit dem er auf eine zwar kontrovers diskutierte, aber weit verbreitete Vorstellung, wie nach Ende des »Dritten Reiches« ein Anknüpfen an Kultur und deutsche Identität wieder möglich sei, rekurrierte.885 In seinem Pamphlet von 1971 etwa ist es »das Geschehen von Golgatha«, das Hess als Projektionsfolie für die »Verunglimpfungen des Genius« durch die »unheilschwangere Zeit« dient: »Stets haben die Mächte der Finsternis das geistige Licht gehaßt. Das Geschehen von Golgatha, wo der Gottessohn gekreuzigt wird, ist ein Symbol für den Fanatismus, mit welchem das Edle und Göttliche eh und je verfolgt wurde.«886 Indem Hess Beethoven mit Christus gleichsetzt, wird ein neues, übernationales, Nationalismus-unverdächtiges Heroenbild initialisiert, das allerdings zugleich jegliche Form von biographischer Differenzierung oder gar Kritik per se ausschließt: Beethovens Briefe, seine Tagebuchaufzeichnungen […] zeugen für einen Geist, der nach dem Guten rang und nach dem Höchsten strebte. Das soll uns genügen. Daß auch ein Beethoven mit Versuchungen zu kämpfen hatte und als Irdischer, als Mensch mit dem Menschlich-Allzumenschlichen in sich rang, wer wollte das bestreiten? […] Sogar ein Jesus Christus betete sein »Führe uns nicht in Versuchung«. An der menschlichen Größe des Genius ändert das wahrhaftig nichts, und es ist ein Frevel, eine Respektlosigkeit ohnegleichen, hier schamlos an den geheimsten Sphären zu rühren.887
Eine unkritische Heroen-Biographie, idealisiert ausgerichtet an Jesus Christus, geschrieben in der Nachkriegszeit über einen der von den Nationalsozialisten am stärksten heldisch vereinnahmten Komponisten888 überhaupt – angesichts der Verstrickungen des Faches Musikwissenschaft in die nationalsozialistische Politik889 mutet dieses biographische Modell wie eine Aufforderung zum Übergehen kritischer biographischer Stellen an, die individuellen »geheimsten Sphären« während des »Dritten Reiches« nicht ausgeschlossen. Zumindest entspricht es einer Haltung, die Carl Zuckmayer 1943/44 für Kulturschaffende in Nazi-Deutschland beschrieb: 884 Zahlreiches Material zur Sakralisierung Beethovens findet sich bei Cadenbach (Hg.) 1986, S. 99ff. 885 Vgl. dazu auch die Diskussion um das 1946 erschienene Buch Die deutsche Katastrophe von Friedrich Meinecke, dazu Lepenies 2006, S. 273ff. 886 Hess 1971, S. 37. 887 Ebda., S. 40. 888 Dazu Borchard 2005a, insbesondere das Kapitel »Wenn ich Beethoven höre, werde ich tapferer«, S. 77–79. 889 Vgl. dazu u. a. Gerhard (Hg.) 2000, Schipperges 2005.
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Mehr als anderswo in der Welt war in Deutschland die Auffassung daheim, dass der Künstler eine geringere gesellschaftliche Verantwortung trage als andere Menschen, ja dass er sozusagen außerhalb der politischen, sozialen und ökonomischen Ordnung ein Eigenleben führe, dessen Boden und Firmament eben die überzeitliche Welt der Künste sei, die Ewigkeit, das Universum, ein Traumreich, das nicht einmal einer religiösen Autorität, nur der vom Künstler selbst erfühlten Gottheit, unterstehe.890
Die Ursprünge dieser Auffassung liegen deutlich in Hegels Bild des über den allgemeinen Werten und Normen stehenden »welthistorischen Individuums«, des geschichtsmächtigen Heroen. Doch angesichts des Faschismus hatte das Bild des von realen moralischen Fragen fernen Künstlers letztlich auch politische Brisanz erfahren, eine Brisanz, die Biographen wie Willy Hess durch die Christus-Analogie zu umgehen suchten – wenngleich hier Beethoven nicht als historische Person, aber aufgrund der durch die Nationalsozialisten forcierten und instrumentalisierten Heroisierung betroffen war. In der Verbindung von Religion und Kultur sollte eine deutsche Identität wiederhergestellt werden, die durch das Ideal der Humanität an eine (weitere) kulturelle Vergangenheit anknüpfte, ohne sich dabei der (näheren) faschistischen Vergangenheit stellen zu müssen.891 Die Heroenbiographik wurde zwar durch die im 20. Jahrhundert an unterschiedlichen Punkten ansetzende Biographie-Kritik innerhalb der Musikwissenschaft grundsätzlich in Frage gestellt,892 aber bis in die Gegenwart sind Mechanismen wirksam, die nicht auf eine vollständige Überwindung dieses wirkungsmächtigen biographischen Geschichtsbildes schließen lassen. Gerade in der Popularhistoriographie gehört es noch immer zur gängigen Art der Geschichtsdarstellung. So dient auch rund 30 Jahre nach der zweiten Auflage von Hess’ Beethoven-Biographie noch immer die Heroengeschichtsschreibung zur Biographisierung Beethovens, allerdings spielen nun, den veränderten Zeitläuften entsprechend, wieder Aspekte der nationalen Identitätsfindung eine größere Rolle: Ob man stolz sein sollte und kann, Deutscher, Franzose oder Amerikaner zu sein, bleibt jedem selbst überlassen. Aber ist es nicht so, dass die ›eigenen‹ Giganten des Geistes, der Wissenschaft oder Künste zumindest das Selbstbildnis einer Nation und das, womit sie in der Welt identifiziert wird, kräftig mitgestalten? Die Franzosen haben ihren Voltaire, Italiener finden sich in Leonardo wieder, Engländer huldigen Shakespeare, die Spanier lieben Velázquez. Und die Reihe »Giganten« 890 Zuckmayer 2004, S. 9. 891 Dazu Lepenies 2006. 892 Vgl. dazu auch das Kapitel Antibiographische Konzepte und ihre Folgen aus dem Dritten Teil der vorliegenden Studie.
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Biographische Konzepte in Musik und Musikgeschichtsschreibung
porträtiert große historische Gestalten des deutschen Sprachraums. So sind Nahaufnahmen jener Genies – Dichter und Denker, Künstler und Forscher – entstanden, die über ihre Zeit und die nationalen Grenzen hinaus das europäische Denken geprägt, ja Weltkultur gestiftet haben.893
Auf diese Weise bewarb die ZDF-Redaktion »Geschichte und Gesellschaft« ihre sechsteilige Dokumentarspielreihe Giganten. Sie bekräftigte damit auch den historiographischen Rahmen, in dem sich die einzelnen Doku-Dramen einfinden sollten: Heroengeschichtsschreibung zur nationalen Identitätsstiftung. Entsprechend wurde der Vorspann zur Reihe konzipiert, eine computeranimierte Kamerafahrt durch zerklüftetes Gebiet, »per aspera ad astra« im wörtlichen Sinne, führt den Blick zu einem Bergmassiv, in das überdimensional die in der Reihe vorgestellten Geistesgrößen eingemeißelt erscheinen. Hess’ Formulierung der »Erfüllung in gewaltigen Quadern folgen, wie von göttlicher Hand gemeißelt«894 kommt in den Sinn, aber augenfällig ist vor allem die Analogie zu Mount Rushmore, und damit auch das intendierte Geschichts- und Menschenbild, dem Simon Schama eine Leidenschaft für Größe und heroische Einsamkeit, emphatische Rhetorik und nationale Identitätsstiftung sowie die unumstößliche Vorherrschaft des Menschen über die Natur, bzw. auch des weißen Mannes über die amerikanischen Ureinwohner attestierte.895 Dieses Bild aufrufend macht sich eine Doku-Biographiereihe dieses Geschichtsverständnis zu eigen: Die Porträtierten werden monolithisch dargestellt, selbstverständlich gehören auch sie der »Hundert-Männer-Schaar« (Nietzsche) an. Die überzeitliche und zugleich nationale Identität stiftende Bedeutung des Werkes wird deutlich in Szene gesetzt und schließlich lässt die Kombination aus Spielfilmszenen und Interview-Passagen keine identifikatorische Nähe zwischen biographiertem Subjekt und Publikum aufkommen, so dass die Distanz zum Porträtierten – gleichsam der Sockel – bestehen bleibt. Diese Distanz war es auch, die Hess für das biographische Herantreten an Beethoven einforderte, verbunden mit einer Christus-Analogie. Ist daher an einen Zufall zu denken, wenn der erste Film der Reihe Giganten, nämlich Ludwig van Beethoven. Genie am Abgrund, an Karfreitag 2007 ausgestrahlt wurde? Betrachtet man die direkte Nachbarschaft zu Mel Gibsons Spielfilm über die letzten Tage Christi (vgl. Tafel 8), mag man nicht an Zufall, sondern an die noch immer (zumindest unterschwellig) wirksamen Kräfte der Heroengeschichtsschreibung glauben.
893 Huf 2007. 894 Hess 1976b, S. 9. 895 Vgl. hierzu Schama 1996, bes. S. 415–435.
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Die Umsetzung der Filmbiographie innerhalb der Reihe Giganten kann, diesem Geschichtsverständnis und dem Medium TV entsprechend, allenfalls als holzschnittartig bezeichnet werden. Der Rekurs auf eine seit dem 19. Jahrhundert wirksame Heroenbiographik aber ließ es möglich erscheinen, nur durch die Aneinanderreihung einzelner Momente aus Beethovens Biographie dieses quasi-anekdotisch zu rekonstruieren, wobei die kleine Auswahl biographischer »Schlaglichter« jene Punkte aufrufen, die die Konstruktion Beethovens als Heroe seit der Zeit der »Suppen«-Anekdote begleitet hatte: sein normabweichendes Aussehen (Haare, Kleidung, Haltung etc.), sein »grollender« Charakter, seine unangepasste Lebensführung und das Unverständnis, das seiner Musik entgegengebracht wurde. In jedem Fall aber bestätigt sich mit dem Film aus der Reihe Giganten, dass die Kehrseite poststrukturalistischen Denkens einer Re-Formulierung von »Stereotypen, Klischees und Trivialmythen im Bezug auf das Individuum« gleicht, die »sich umso wirkungsvoller massenmedial verbreit[en]«.896
896 Fetz 2009, S. 36.
7. Komponist ohne Bild: Nadia Boulangers Plädoyer für eine Musikgeschichte »à-personnelle«
Die Vergeschlechtlichung des Genie-Begriffs im 19. Jahrhundert897 zeitigte Auswirkungen auf das Selbst- und Fremdbild von Komponisten, das sich zwischen Affirmation und Negation bewegen konnte, zeitigte auch Auswirkungen auf das Selbst- und Fremdbild von Komponistinnen, die Strategien entwickeln mussten, um sich zu dem männlich konnotierten Genie-Begriff zu positionieren. Und neben der am häufigsten gewählten Strategie des Ausschlusses aus dem Genie-Diskurs oder auch der Strategie der offensiven Affirmation (wie bei Luise Adolpha Le Beau) ist eine weitere Strategie zu beobachten, die den Genie-Diskurs zwar aufruft, dabei aber von der (biographisch fixierbaren) Person absieht. Nadia Boulanger verfolgte für ihre eigene, insbesondere aber für die Aufnahme ihrer Schwester, der Komponistin Lili Boulanger, in die Musikgeschichtsschreibung genau jene Strategie.898 Sie verweigerte jeglichen biographischen Blick auf die individuelle Person, reklamierte gleichwohl für die Schwester einen Platz in der Musikgeschichte – sogar als »erste ernstzunehmende Komponistin der Geschichte«.899 Beides – sowohl ihre antibiographische Haltung als auch die musikhistorische Verortung Lili Boulangers – vertrat Nadia Boulanger mit Vehemenz, wobei vor allem die Aussage, dass ihre Schwester die erste musikhistorisch bedeutende Komponistin sei, für eine Persönlichkeit mit einem so weiten musikhistorischen Horizont verwundert. Letztlich regt gerade auch diese Beobachtung dazu an nachzufragen, aus welchen Gründen Nadia Boulanger für eine solche »Musikgeschichte ohne Namen« plädierte. Beispielhaft kommt Nadia Boulangers anti-biographische Haltung in einem Interview zum Ausdruck, das Bruno Monsaingeon zwischen 1973 und 1978 mit ihr geführt hat:900 897 Battersby 1989, dazu auch Unseld 2013b. 898 Diese Zusammenhänge habe ich 2003 erstmals auf dem Memorial-Day Lili and Nadia Boulanger an der Royal Academy of Music London vorgestellt und diskutiert (»Biographical Research Versus Mystification: Interdependencies between Lili Boulanger’s Life and Works«). 899 »[L]a première femme compositeur importante de l’histoire«, Monsaignon/Boulanger 1981, S. 83. Im Übrigen sprach sie sich gegen die Verwendung der weiblichen Form der Berufsbezeichnung aus, weswegen auch in der Kapitelüberschrift hier die männliche Form – Komponist – gewählt wird. 900 Vgl. Monsaignon/Boulanger 1981. Die einzelnen Abschnitte der Interview-Sequenzen sind nicht eigens datiert, die allgemeine Datierung ergibt sich aus dem Vorwort, in dem Monsaingeon berichtet, dass Nadia Boulanger zur Zeit der Interviews zwischen
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Der Künstler schafft ein Werk, das von dem, der es geschaffen hat, und von dem, der es betrachtet, unabhängig ist. Es ist das Werk selbst, das wichtig wird. Wir machen diese Erfahrung mit allen Kunstwerken, die unsere Aufmerksamkeit erregen: Das Kunstwerk ist beherrschend. Wir sagen Leonardo, aber wir sehen Bilder. Wir sagen Michelangelo, aber wir sehen Skulpturen auf eine von der Person losgelösten Weise [›de manière a-personnelle‹], weil es das Kunstwerk ist, das zählt, und deshalb wird es noch eine Weile dauern, um Lili Boulangers so trauriges Schicksal zu vergessen, sich ausschließlich mit ihrem Werk zu beschäftigen.901
Dieser Abschnitt lässt sich einerseits als generelle Ablehnung der Biographie als musikhistorische Methode lesen. Andererseits wird im letzten Satz erkennbar, dass Nadia Boulanger auf diese Weise argumentiert, um ihre Schwester in den Kanon der Musikgeschichte integrieren zu können. Sich dessen bewusst, dass dieser Schritt der Anerkennung für die weitere Rezeption von Lili Boulangers Werken unabdingbar ist, gleichwohl für sie als Frau eine besondere Hürde bedeutet, plädiert Nadia Boulanger gegen eine personenbezogene Geschichtsschreibung, dabei nicht nur die Person des Künstlers als irrelevant definierend, sondern damit zugleich auch dessen Geschlecht. Nadia Boulanger umgeht mit dieser anti-biographischen Haltung die Diskussion darüber, ob eine Frau musikhistorisch relevant sein könne: Sie ist es qua ihres Werkes – »de manière a-personnelle«. Das Absehen von allem Biographischen umfasste für Nadia Boulanger auch die Verweigerung der Zustimmung zur Edition von Skizzenbüchern, Briefen oder anderen Ego-Dokumenten, wovon die Biographin Léonie Rosenstil berichtete: In meiner Arbeit über Lili Boulanger war es mir damals nicht möglich, […] die subjektiven Strukturen der Person Lili Boulanger [zu erforschen] […]. Nadia und ihre Mitarbeiterinnen setzten mir Grenzen, so daß ich oft auf eigene Vermutungen angewiesen war […]. Nadia erlaubte lediglich die Einsicht einiger Arbeitshefte sowie Zettel, auf denen Lili Dinge, die sie erledigen wollte, notiert hatte. Die Tagebücher und Briefe standen mir nicht zur Verfügung. […] ich wollte gerne aus ihrem Briefwechsel zitieren, hauptsächlich aus den Briefen an Miki Piré. Madame Piré hatte die Briefe damals noch in ihrem Besitz und mir die Veröffentlichung freigestellt. Nadia verbot mir, auch nur ein einziges Wort abzudrucken.902
86 und 91 Jahre alt gewesen sei. Zur Methodik des biographischen Interview selbst vgl. das Kapitel Biographische Interviews, eine »Wahrheit zu zweit« dieser Arbeit. Die Übersetzung des Interview-Abschnitts über Lili Boulanger ist meine eigene, da die gedruckt vorliegende (Mosler [Hg.] 1993, S. 16) für den hier betrachteten Zusammenhang an manchen Stellen zu ungenau ist. 901 Monsaingeon/Boulanger 1981, S. 83, Hervorhebung M. U. 902 Rosenstiel 1995, S. 14f.
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Biographische Konzepte in Musik und Musikgeschichtsschreibung
Boulanger selbst begründete ihre Ablehnung, die Briefe ihrer Schwester zu veröffentlichen, im Interview mit Monsaingeon: Ich habe Bedenken, die ich nicht ausräumen kann, was die Veröffentlichung einiger ihrer Briefe anbelangt. Es gab nicht den Hauch eines Geheimnisses im Leben meiner Schwester,[903] aber ich habe den Eindruck, dass, wenn ich ihre Korrespondenz veröffentlichte, sie mir sagen würde: »Wie! Ich habe an Dich geschrieben und Du zeigst es allen!« Vielleicht habe ich Unrecht, aber ich bin in einer schwierigen Situation. Sie bedeutet mir das Beste, das Intimste, das Tiefste meines Lebens. Nur Schweigen scheint mir diesen Gefühlen angemessen.904
Das Schweigen über das Individuum gerät hier – durchaus auch in symbolistischem Sinne – zur auratischen Ausdrucksform. Auch für sich selbst reklamierte Nadia Boulanger ein Schweigen über ihre eigene Person. Sie gab – bis auf wenige Ausnahmen wie die bereits erwähnten Interviews mit Monsaingeon – über sich selbst keine Auskunft, und äußerte sich auch über ihr Selbstverständnis als Pädagogin nicht ausführlicher, verfasste kein Lehrbuch, indem sie sich als Pädagogin hätte präsentieren können. Gleichwohl trat sie als Pädagogin, aber auch als Dirigentin und Organistin öffentlich auf und wählte dabei eine Selbstdarstellung, die – etwa durch ihre Kleidung – alles Feminin-Individuelle vermied und zugleich als defensiv wahrgenommen wurde. Vor allem in ihrer Rolle als Dirigentin, einer Tätigkeit, die besonders stark männlich konnotiert und mit Symbolen der Macht verbunden war,905 wurde sie als »eine Art Vestalische Jungfrau«906 – mithin als asexuelle und überindividuelle Erscheinung – wahrgenommen. Und in der Zeitschrift Minerva wurde ihr Auftreten als Dirigentin mit dem eines Priesters verglichen, so dass ihre Tätigkeit dargestellt werden konnte, »ohne Vorstellungen von Ehrgeiz und Selbstanspruch zu evozieren und stattdessen das Konzept von Dienst zu unterstreichen«.907 Mit diesem Selbstbild, das Nadia Boulanger für ihre öffentliche Karriere wählte, steht sie außerhalb des männlich-professionellen Karriere-Modells, das aufs engste mit der Künstlerpersönlichkeit verknüpft war. Da ihr als Dirigentin kein weibliches Karriere-Modell zur Verfügung stand – Jeanice Brooks spricht von »einem Mangel an für Frauen passenden Lebenslauf-Modellen«908 –, schuf sie ein überindividuelles Modell. Dies ermöglichte ihr ein Auftreten in bislang für Frauen nicht vorgesehenen 903 904 905 906
Vgl. dagegen die biographische Forschung von Jérôme Spycket (Spycket 2004). Monsaingeon/Boulanger 1981, S. 84. Schüler 2010. Vgl. dazu Brooks 1999. Eine ähnliche asexuelle Inszenierung legte Nadia Boulanger im Übrigen auch für ihre Schwester an, vgl. dazu Fauser 1990 und Piper 1998. 907 Brooks 1999, S. 253. 908 Ebda., S. 255.
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Bereichen (wie dem Dirigat), allerdings unter der Voraussetzung, dass sie sich als individuelle Person weitestmöglich zurücknahm.909 Dass in den Rezensionen über ihre Dirigiertätigkeit immer wieder mit religiösen Begriffen und Metaphern operiert wurde, sie auf diese Weise als »Medium« inszeniert werden konnte,910 ist in diesem Zusammenhang besonders erhellend. Gegenüber dem »seit dem 19. Jahrhundert kaum veränderten Bild des Dirigenten als selbstbewusster Führergestalt, als Inkarnation von Macht und Herrschaft sowie (in Parallele zum Bereich des Komponierens) als einer mit individueller Schöpferkraft ausgestatteten Künstlerpersönlichkeit«911 stellte Nadia Boulanger ihre Individualität und Persönlichkeit möglichst weit in den Hintergrund: »Ihre Verachtung für jeden Trick und Effekt des Virtuosen ermöglichte dem Werk Schützens, zu uns zu sprechen – wie es schien: direkt vom Herzen des alten Komponisten selbst.«912 In diesem Sinne konsequent ist die Feststellung von Cécile Armagnac, der langjährigen Mitarbeiterin von Nadia Boulanger und späteren Generalsekretärin der Fondation International Nadia et Lili Boulanger: »Über Nadia Boulanger zu sprechen, heißt über ein unergründliches Geheimnis zu sprechen – eigentlich kann man nur schweigen.«913 Die Ähnlichkeit mit Nadia Boulangers eigener, oben zitierter Aussage über ihre Schwester ist verblüffend, Schweigen auch hier als angemessene Annäherung an – oder besser: Distanzwahrung gegenüber – eine(r) überragende(n) Lebensleistung. Drei mögliche Gründe für diese so offensichtliche Perpetuierung des Schweige-Modells seien im Folgenden vorgestellt, kein Grund muss dabei die beiden anderen ausschließen. Bereits Spitta hatte geäußert, dass »vielleicht […] überhaupt etwas Unrichtiges darin [liegt], große, überragende Menschen biographisch zu behandeln. Geschieht es dennoch, läßt man einmal einen solchen Geisteskoloß dem Leser ganz nahe auf den Leib rücken, so muß man schon darauf gefaßt sein, daß Mancher sich unbehaglich fühlt.«914 Dieser Zweifel an der biographischen Fasslichkeit bedeutender Menschen argumentiert mit einer deutlichen Distanz, gewissermaßen einer Fallhöhe zwischen Biographiertem und der Leserschaft. Dass sich in dieser Vorstellung die Heroenbiographik 909 Dieser Beobachtung widerspricht übrigens nicht, dass Nadia Boulanger andererseits als Pädagogin von großer Aura eine durchaus dominierende Persönlichkeit des Musiklebens war. Mir geht es mit der Argumentation für das a-personelle Selbstbild um den Versuch der Verortung im öffentlichen Musikleben und vor allem – mit Blick auf die Schwester – um die musikhistorische Verortung. 910 Beispiele hierzu finden sich bei Brooks 1999. 911 Giese 2006, S. 70. 912 Rezension von W. H. Haddon Squire, zit. nach Brooks 1999, S. 257. 913 Cécile Armangnac: »Nadia Boulanger«, in: Mosler (Hg.) 1993, S. 39. 914 Spitta 1892 [»Joseph Haydn in der Darstellung C. F. Pohl’s«], S. 156.
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des 19. Jahrhunderts widerspiegelt, ist unübersehbar und scheint sich damit zunächst von der musikhistorischen Vorstellung Nadia Boulangers zu entfernen. Zweierlei sei aber bedacht: Zum einen verortet Nadia Boulanger ihre Schwester in einem kulturhistorischen Kontext der »Großen«. Sie nennt Leonardo da Vinci und Michelangelo in einem Atemzug (bzw. einem Satz) mit Lili Boulanger. Es ist mithin die Heroengeschichtsschreibung – wenn auch nicht explizit benannt –, die sie als adäquaten historischen Kontext für die Werke ihrer Schwester aufruft. Aus der Musikgeschichte und gleichzeitig als negatives Gegenbeispiel musikhistorischer Kanonisierung erwähnt Nadia Boulanger den Komponisten Raymond Radiguet, dessen Name allein durch seine Zugehörigkeit zum Kreis um Jean Cocteau – mithin nicht durch seine künstlerische Leistung, sondern durch eine biographische Konstellation – der Musikgeschichte erhalten bleibe.915 Auf diese Weise reklamierte Nadia Boulanger einen Platz für ihre Schwester innerhalb der Heroengeschichtsschreibung. Es ist nicht anzunehmen, dass sie, die die Rolle der Frau in der Musik und der Musikgeschichte durchaus kritisch reflektierte, dabei die Tatsache verkannt haben sollte, dass diese Form der Historiographie für Frauen einzig in der Rolle der Muse einen Platz vorsah. Stattdessen kann man annehmen, dass hinter dieser offensiven Inanspruchnahme eines prominenten musikhistorischen Platzes eine Intention verborgen ist, die sich auf die Verweigerung des Biographischen stützt: Indem sie ihre Schwester in den (von Spitta gerade für die »überragende[n] Menschen« reservierten) Bereich des Nicht-Biographierbaren verortet, forderte sie für Lili Boulanger einen Platz unter den »Großen der Geschichte« ein – ihre Person und damit auch ihr Geschlecht aus dem Blick nehmend. Der zweite mögliche Grund mag in der Bedeutung des Schweigens als auratisches Phänomen zur Zeit des Symbolismus liegen, einer Zeitströmung, der Lili Boulanger (und auch Nadia Boulanger in ihren frühen Jahren) eng verbunden war. Der Symbolismus zelebrierte das Schweigen als eigentliches Kommunikationsmittel, da die wahrhaftige Bedeutung des Gesagten nur jenseits der Worte zu finden sei. Maurice Maeterlinck etwa schrieb, dass »die Worte, die wir sprechen, nur dank des Schweigens, in das sie eingebettet sind, einen Sinn haben«.916 Zahlreiche Beispiele ließen sich anführen, wie gerade in der zeitgenössischen französischen Literatur, Kunst und Musik das Schweigen als Möglichkeit des Verstehens etabliert wurde. Lili Boulanger partizipierte an diesem Diskurs, vertonte symbolistische Texte, gerade auch von Maeter-
915 Monsaingeon/Boulanger 1981, S. 83. 916 Maeterlinck 1955, S. 40; vgl. dazu auch Unseld 2001b, bes. S. 103–157.
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linck, dessen Drama La Princesse Maleine ihr als Vorlage für ihre (unvollendet gebliebene) Oper diente.917 Dass sie sich auch in ihrer Selbstdarstellung als Künstlerin in den Zusammenhang der mit dem Schweigen liierten Frauenfiguren der Zeit (femme fragile, Undinen etc.) stellte, zeigt nicht zuletzt ihr Porträt von 1913, auf dem sie sich nach diesen Vorbildern in Szene setzen ließ: Nachdem Lili Boulanger 1913 den Prix de Rome gewonnen hatte, ließ sie einige Fotografien anfertigen, die offenbar für den öffentlichen Gebrauch bestimmt waren, 918 darunter eine Profil-Aufnahme, die sie mit gesenkten Augen und geschlossenem Mund darstellt (Tafel 9). Diese Darstellung rekurriert auf präraffaelitische und symbolistische Weiblichkeitsinszenierungen: Junge Frauen, meist in der irrealen, jedenfalls kostbar ausgestatteten Sphäre beheimatet, mit langen, prachtvollen Gewändern, die langen Haare offen oder zu einem schlichten Knoten gebunden, im Profil abgebildet mit gesenkten, schweren Augenlidern, geschlossenem Mund, still, offenbar schweigend, introvertiert (Tafeln 10 und 11). Sie rekurriert andererseits auf eine damit verbundene Porträt-Tradition von Frauen der zweiten Jahrhunderthälfte (Tafel 12). Das von Boulanger gewählte ikonographische Muster korrespondiert mit diesen Bildtraditionen, sie inszeniert sich als mit dieser Tradition verbunden und damit mit einer Inszenierung von Weiblichkeit, der die reale Person Lili Boulanger bereits zu Lebzeiten zugeordnet wurde, der der schweigenden femme fragile. Es korrespondiert damit zugleich mit einer durch Schweigen ausgezeichneten Figur im Sinn des Symbolismus, der die Aura des Schweigens als den Bereich der Wahrheit verstand. Dass dabei das Schweigen auch die eigene Biographie umfasste, lässt sich sehr genau an einer von den Boulanger-Schwestern sehr geschätzten Opernfigur ablesen, der Prinzessin Mélisande aus Claude Debussys Oper Pelléas et Mélisande nach dem gleichnamigen Drama von Maeterlinck. In der ersten Szene der Oper, in der König Golaud Mélisande im Wald findet, versucht er, die Herkunft der jungen Frau zu erfragen. Ihre Antworten aber fallen im Sinne einer »sinnvollen« Biographie enttäuschend aus: Mélisande gibt keine korrekten Informationen über sich preis. (Ver-)Schweigen ist auch hier der Aura der Figur wesentlich, Golaud – wie auch das Opernpublikum – bleiben über den bisherigen Lebensweg der Mélisande im Unklaren. Gerade dies ist es aber, was Mélisande im Sinne des Symbolismus auszeichnet.919 Nadia Boulanger war sehr bewusst, dass die Integration in den Kanon der »Großen« – wenn überhaupt – nur unter der Negierung des Geschlechts gelin917 Dazu Fauser 1990 und Fauser 1997. 918 Vgl. u. a. das Titelblatt der Zeitschrift La Vie Heureuse vom 13. Juni 1913. 919 Vgl. dazu Unseld 2001b, S. 131–148.
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gen konnte. Andererseits, und dies ist der dritte Grund, warum das Schweigen über die Biographie einer Künstlerin für sie so erstrebenswert erschienen sein mag, vermied Nadia Boulanger auf diese Weise eines der dominanten zeitgenössischen Künstlerinnen-Bilder: jenes, das die Frau als Pendant zum Heroen inszenierte, als Muse. Denn dieses degradierte die künstlerische Tätigkeit der Frau und hob ihre Körperlichkeit und Weiblichkeit stark in den Vordergrund. Biographische Informationen, auch die Publikation von Ego-Dokumenten spielten in diesem Zusammenhang eine prominente Rolle. Beispielhaft und durchaus als Gegenmodell zu Nadia Boulangers Konzept kann hier die zeitgenössische Wahrnehmung der Malerin Marie Bashkirtseff genannt werden. Deren Ähnlichkeiten zu Lili Boulanger sind zunächst verblüffend: Beide galten als dem zeitgenössischen Schönheitsideal entsprechende Frauen, beide waren von französisch-russischer Abstammung, bei beiden sorgte die Mutter für das Flair einer unbekannten, als adelig ausgegebenen Herkunft, beide verloren früh ihren Vater, beide waren äußerst vielseitig künstlerisch-intellektuell begabt, beide starben sehr früh: Lili Boulanger mit 24 Jahren, Marie Bashkirtseff mit 25 Jahren. Was Bashkirtseff und Boulanger freilich voneinander unterscheidet, ist ihre öffentliche Wahrnehmung als Künstlerin bzw. als Frau. Bashkirtseff gelangte, auch unter dem Namen Moussia, in Frankreich und Deutschland zu enormer Popularität, und zwar nicht als Künstlerin, sondern als Verfasserin von Tagebüchern. Bereits drei Jahre nach ihrem Tod erschienen erstmals Auszüge daraus, weitere Editionen folgten bis 1983 in regelmäßigen Abständen.920 Diese Tagebücher wurden zu Best- und Longsellern. Über Generationen hinweg galten sie – stark gekürzt und retouchiert 921 – als begehrter Lesestoff für heranwachsende Mädchen und junge Frauen. Noch Simone de Beauvoir schrieb, die Tagebücher der Marie Bashkirtseff seien »Modelle« ihres Genres.922 In ihnen tritt freilich nicht jene kritisch reflektierende und künstlerisch hoch ambitionierte Frau entgegen, sondern eher ein gestutztes Salon-Geschöpf, das als »Modell« für heiratsfähige Mädchen gelten konnte: ein wenig kokett, durchaus talentiert, aber nicht allzu ernsthaft und vor allem schwärmerisch, der Schwindsucht – jener »typisch weiblichen« Krankheit923 – verfallen, verklärt bis zu ihrem Tod und darüber hinaus. Dies wurde und blieb das historische Imago der Marie Bashirtseff. Die Künstlerin blieb – außer durch ihr populäres Selbstportrait – verborgen.
920 921 922 923
Vgl. dazu Cosnier 1994. Dazu ebda., Vorwort. Vgl. ebda., S. 11. Vgl. dazu Duby/Perrot (Hg.) 1994, S. 383.
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Vor diesem Hintergrund gelesen, erscheint Nadia Boulangers Ablehnung, die Briefe ihrer Schwester zur Publikation freizugeben, und die Konzentration auf das kompositorische Werk ihrer Schwester in einem anderen Licht: »Sie hat ihr Werk in Schweigen eingeschlossen. Sie hätte es nie gewollt, ihre Gedanken öffentlich zu machen, denn nur die Musik zählte.«924 Die Formulierung öffentlich zu machen – im französischen Original divulguer – scheint auf das andere Künstlerinnen-Bild zu verweisen: Denn was Nadia Boulanger aus den Rezeptionsvorgängen um Marie Bashkirtseff erkennen konnte, war die Tatsache, dass die Veröffentlichung privater Details zu einer Um- und vor allem Abwertung der Künstlerin beigetragen hatte: Bashkirtseff wurde von nun an nicht mehr als Malerin, sondern als Muse und aufgrund der Popularität ihrer Tagebücher auch als eine junge »öffentliche« Frau (verbunden mit allen moralischen Implikationen) wahrgenommen. Sie war in diesem Zusammenhang selbstverständlich nicht die einzige Frau, die derartigen Rezeptionsmechanismen ausgesetzt war, aber doch eines der prominentesten Beispiele in Frankreich. Bashkirtseffs Imago als populäres Idol für junge Frauen basierte auf der Bloßlegung ihrer intimen Tagebücher; dass sie Malerin war, verkümmerte zum Bild einer dilletierenden jungen Frau. Von diesem Modell galt es sich abzugrenzen: Der Verzicht auf alles Biographisch(-Intim)e sollte nach Nadia Boulangers Vorstellung den Blick einzig auf das Werk ihrer Schwester legen und sie so als professionelle Komponistin, nicht als komponierende Dilettantin und jung verstorbene Frau oder Muse im kulturellen Gedächtnis bewahren – eine anti-biographische Haltung als Schutz vor professioneller und musikhistorischer Marginalisierung. Die Kehrseite dieses Modells ist, dass letztlich diese anti-biographische Haltung einen idealen Nährboden für die hochgradige Idealisierung Lili Boulangers darstellte,925 die den Blick auf ihre Kompositionen nicht befreite, sondern eher einengte. Gerade die Abwesenheit einer offiziellen Biographie machte den Weg für Unkritisches und Ahistorisches frei: »Je größer die Leerstellen im biographischen Material sind, um so mehr Raum bleibt […] für […] die phantasievolle Bestückung ihrer Lebensbühne durch die Biographen.«926 Das Schweigen über die Lebensumstände Lili Boulangers konnte die Biographieschreibung über sie nicht verhindern, zugleich aber bestimmt es bis heute die Boulanger-Forschung: »Sich heute dem kurzen Leben Lili Boulangers zuzuwenden, heißt in einer Fülle von Geheimnissen zu baden!«, so Jérôme Spycket in seinem Essai biographique: »Ich gebe hier also den flüchtigen Ent924 Monsaingeon/Boulanger 1981, S. 83. 925 Dazu auch Piper 1998. 926 Häntzschel 2001, S. 116f.
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wurf einer Biographie heraus, der Regionen des Schattens und Fragen ohne Antworten enthält.«927
927 Spycket 2004, S. 14.
8. (Auto)Biographische Individualitätskonzepte während und nach den Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges
»Wenn du all das verlässt, was zu dir gehört, verlässt du fast dich selbst.« György Konrád, Vom Exil 928
Flucht, Vertreibung und Exil-Erfahrung verbanden sich für viele Menschen während und nach dem Zweiten Weltkrieg mit einer existentiellen Erschütterung des eigenen Lebensentwurfes und der Sicht auf sich selbst. Die »zerstückelten« Lebensläufe und die in grundsätzlichen Fragen irritierten Selbstentwürfe ließen sich kaum noch durch zusammenhängende Erinnerungen, geschweige denn in kohärenter Narration fassen. Die Erinnerung an Krieg, Konzentrationslager oder auch Exil führte daher nach 1945 zu einer spürbaren Zerklüftung autobiographischen und biographischen Schreibens, so dass sich die Frage aufdrängt, inwiefern die Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges und des Exils auf die (Auto-)Biographik der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Einfluss genommen hat. Zwar war bereits um 1900 die kohärente Narration als textliches Abbild gelebten Lebens grundsätzlich in Frage gestellt worden – Phänomene wie etwa die Postulierung des »flüchtigen, flüssigen, inkonsistenten ›Ich‹«929 oder der »Krise des Romans« wären hierbei zu nennen, womit der »Anspruch auf repräsentative Darstellung von Totalität abhanden« kam, und die »Krise des Subjektbegriffs […] zur Entwicklung avantgardistischer Erzählweisen […], später zu polyphonen und polyperspektivischen Darstellungstechniken«930 führte. Deutlich aber wird, dass die Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges diesen Prozess verschärften und dann zu jenem neuen Paradigma um den Begriff der Erinnerung führten.931 Das für das ›lange‹ 19. Jahrhundert als konstitutiv angesehene, die Geschichtsschreibung und ihre Vorstellung von Fortschritt maßgeblich leitende Paradigma ›Gesellschaft‹ sei, so fasst es etwa Dan Diner in seiner Studie Gedächtniszeiten auf, durch das Paradigma ›Gedächtnis‹ abgelöst worden, was gerade für die Historiographie weitreichende Folgen zeitigte: 928 Konrád 2003, S. 37. 929 Csáky 2002, S. 16. Ernst Mach, auf den Csáky hier rekurriert, hatte bereits 1886 in den Beiträgen zur Analyse der Empfindungen die »Unrettbarkeit des Ichs« postuliert. 930 Schöneich 2007, S. 661. 931 Erinnert sei in diesem Zusammenhang nochmals an Jan Assmanns These sowie auch die Gründe, die er dafür annimmt, vgl. S. 39 dieses Bandes.
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Diese Veränderungen scheinen von einer merkwürdigen Auflösung historischer Vorstellungen aufeinander folgender Zeitlichkeiten bestimmt zu sein. Ist »Gesellschaft« eine spezifische Vorstellung einer sich zeitlich nacheinander abbildenden Bewegung von Entwicklung eingeschrieben, so steht »Gedächtnis« für eine simultan wirkende zeitübergreifende Vielfalt von Vergangenheiten.932
Bekanntermaßen unterstrich nicht nur Dan Diner, dass dieser Paradigmenwechsel durch Holocaust-Erfahrungen forciert worden sei.933 Der Historiker Saul Friedländer unterstreicht in seinem Konzept einer »integrierten Geschichte« die Notwendigkeit, gerade eine historiographisch so diffizile Phase wie die NS-Zeit aus unterschiedlichen Wahrnehmungsperspektiven zu erfassen. Das, so Friedländer, verbessere »eine Darstellung von Ereignissen, die sich gleichzeitig auf allen Ebenen und an verschiedenen Orten abspielten, die Wahrnehmung der Größe, der Komplexität und der wechselseitigen Verflochtenheit der gewaltigen Zahl von Komponenten dieser Geschichte.«934 Dabei stehe außer Frage, dass individuelle Geschichte (Biographien und Autobiographien) integraler Bestandteil von Geschichte sei: »Die Einbeziehung individueller Stimmen in die ohnehin facettenreiche Erzählung erweitert die Perspektive um eine neue, wesentliche Dimension.«935 Und Sigrid Weigel betont: Das Konzept der Gedächtnisgeschichte hat nicht zufällig in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sein Profil gewonnen, antworten deren Grundannahmen doch auf die Einsicht, dass Untersuchungen zum Geschichtsbewusstsein auch die Wirkungen und Ausdrucksformen des Unbewussten in Betracht ziehen müssen. Zu deutlich ist in den Berichten zum Zweiten Weltkrieg die Stimme der Affekte vernehmbar, zu sichtbar sind die Spuren von Verdrängtem und die Symptome traumatischer Erinnerungen.936
Harald Welzer, Sabine Moller und Karoline Tschuggnall entwickelten ihrerseits durch die Dekodierung des »Familiengedächtnisses« die These, dass individuelle und historische Erinnerung nicht nur nicht konform gehen müs-
932 Diner 2003, S. 7. Aleida Assmann kritisiert an Diners Konzept von Geschichte und Gedächtnis, dass er die beiden Begriffe gleichsetze: »Die schroffe Polarisierung von Geschichte und Gedächtnis erscheint mir ebenso unbefriedigend wie ihre vollständige Gleichsetzung.« Assmann 2006a, S. 133. 933 Vgl. dazu auch den Überblick über die Historische Erinnerungsforschung in Frankreich und Deutschland, Kończal 2010, S. 250–256. Dort auch Hinweise zu weiterführender Literatur. 934 Friedländer 2007, S. 11. 935 Ebda., S. 12. 936 Weigel o.J. [2006], S. 58.
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sen, sondern gerade auch nach dem Zweiten Weltkrieg divergierten.937 Und auch der Nobelpreisträger Eric Kandel hob explizit die Verbindung zwischen der individuellen Holocaust- und Exil-Erfahrung zu seiner neurobiologischen Gedächtnisforschung hervor: Er sei überzeugt, dass mein späteres Faible für den menschlichen Geist – dafür, wie sich Menschen verhalten, wie unberechenbar ihre Motive und wie dauerhaft Erinnerungen sind – auf mein letztes Jahr in Wien zurückgeht. Nach dem Holocaust lautete ein Motto der Juden »Niemals vergessen!«, wachsam gegen Antisemitismus, Rassismus und Hass zu sein, gegen jene Geisteshaltungen, welche die NS-Gräuel erst ermöglicht hatten. Meine wissenschaftliche Arbeit widmet sich den biologischen Grundlagen dieses Mottos: den Prozessen im Gehirn, die uns zur Erinnerung befähigen.938
Für den Paradigmenwechsel zum Begriff des Gedächtnisses gilt freilich, dass die Erfahrung des Holocaust nicht Ursache des neuen Denkmodells, sondern Katalysator einer schon länger virulenten Entwicklung war. Diner unterstreicht, dass die Kategorie ›Gedächtnis‹ als kulturhistorisches Denkmodell bereits wesentlich länger existiere, sich aber durch die Erfahrungen des Holocaust erst durchgesetzt habe, da auf diese Weise die »Gleichzeitigkeit ungleichzeitiger Zeiten« und einen dadurch ausgelösten »Zeitstau« narrativ fassbar wurden. Und »die von der Beschäftigung mit dem Holocaust […] angestoßene Epistemik von Gedächtnis geht nicht zuletzt aus den Trümmern einer sich durchweg gesellschaftlicher Semantik versichernden Begrifflichkeit hervor, die durch das Ereignis der Massenvernichtung zweifelhaft geworden ist«.939 Was Diner für die Begrifflichkeit der gesellschaftlichen Vorgänge beschreibt, spitzt sich in dem Moment zu, in dem von individuellen Lebensläufen die Rede ist. Und hier sind es zwei Beobachtungen, die mir wichtig erscheinen: zum einen die auf einer Vielheit von Individualitäten basierende Dezentralisation der allgemeinen Geschichtsschreibung, zum anderen die Wahrnehmung von Individuallebensläufen als nicht kohärent erzählbare (Auto)Biographie. Beispiele für eine Dezentralisation der Geschichtsschreibung lassen sich vielfach finden: Der Unfassbarkeit des millionenfachen und damit jegliche Individualität negierenden Todes wird begegnet, indem aus dem Kollektiv Einzelschicksale herausgegriffen und als pars pro toto erzählt werden. (Auto‑)Biographien wird auch und gerade dann Aufmerksamkeit zuteil, wenn sie von Personen berichten, die bis dahin weniger oder gar nicht als geschichtswürdige Individuen anerkannt waren – wie etwa das jüdische Mädchen Anne Frank. Gleichzeitig entsteht der Gedanke einer auf Vielheit von 937 U. a. Welzer/Moller/Tschuggnall 2002, Welzer 2003. 938 Kandel 2006, S. 21. 939 Diner 2003, S. 9.
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Individualitäten basierenden Dezentralisation der allgemeinen Geschichtsschreibung. Diese Idee griff etwa Walter Kempowski auf, der in Das Echolot. Fuga furiosa. Ein kollektives Tagebuch die Tage zwischen dem 12. Januar und dem 14. Februar 1945 durch die Zusammenstellung von Ego-Dokumenten unterschiedlichster Provenienz in ihren vielfältigen Facetten darstellte. Die Konzentration auf jeden einzelnen Tag und die Montage der individuellen Äußerungen – ob privater oder öffentlicher Natur – macht die kollektiven Ereignisse auf eine intensive Weise nachvollziehbar.940 Aber auch für das Phänomen einer nicht-kohärenten Lebenslaufdarstellung, ein Phänomen, das ich vorläufig als Zersplitterung individueller Lebensläufe bezeichnen möchte, ist auffallend: Es lässt sich an zahlreichen biographischen und autobiographischen Texten als narrative Zersplitterung nachweisen. Das zeitgleich zu beobachtende Festhalten an den kohärenten Erzählstrukturen und biographischen Modellen des 19. Jahrhunderts ist hierzu kaum ein Gegenargument. Vielmehr lässt es sich als Re-Aktion verstehen, die auf jene Art der Verstörung mit (zuweilen extremer) Homogenisierung – etwa in Form einer Renaissance von Heroisierung – zu antworten scheint. Die von Diner sogenannte »simultan wirkende Vielfalt von Vergangenheiten« lenkt den Blick auf Wahrnehmungsarten, die bis in die Gegenwart mit der Zeit des Nationalsozialismus verbunden sind: Weil die historischen Ereignisse in ihrer grausamen Dimension kaum fassbar sind, wird die Vergangenheit nicht als Einheit, als die Geschichte, begriffen, sondern zerfällt in viele heterogene Vergangenheiten. Diese aber werden, wie es ein Denken im Fortschrittsmodell nahelegen würde, nicht sukzessiv wahrgenommen, sondern simultan, d. h., die verschiedenen, auch widersprüchlichen Wahrnehmungen sind gleichzeitig zu denken, was narrativ eigentlich unmöglich ist, bzw. zu neuen, inhomogenen Formen des Erzählens führt. Eine Möglichkeit, dieser Vorstellung eine historiographische Form zu geben, ist, wie etwa in Echolot, die Collage oder auch die Montage: »Der Verlust an Totalität wird durch die Entwicklung der Collage und Montage […] widergespiegelt.«941 Einzelne (Fund-) Stücke werden hierbei ohne Homogenisierungsabsichten neben- und übereinandergelegt, so dass das narrative Modell der Totalität und des Fortschritts durch die Darstellung von Brüchen und Schnitten ersetzt wird. Dies führt nicht nur dazu, dass die Wahrnehmung der Vielgestaltigkeit der Geschichte möglich wird, sondern lässt zugleich auch den Zweifel an der Sinnhaftigkeit von Kohärenz und dem damit verbunden Wahrheitsbegriff erkennen. Die Darstellung von Lebensläufen ist hiervon besonders betroffen, da sie als ei-
940 Kempowski 1999, 4 Bde., vgl. dazu auch Kempowski 2005 und Dronske (Hg.) 2005. 941 Schöneich 2007, S. 661. Vgl. dazu auch Emons 2009.
(Auto)Biographische Individualitätskonzepte
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gentliche Form (auto‑)biographischer Narration im chronologisch-konsekutiven Beschreiben des Lebensganges galt. Im Folgenden werde ich drei (auto)biographische Konzepte vorstellen, die diese allgemeinen Überlegungen exemplifizieren können. Die drei ausgewählten Werke stehen alle mit der Musikkultur des 20. Jahrhunderts in enger Verbindung, wenngleich sie verschiedenen Bereichen entnommen sind: der Biographik (über eine Klavierpädagogin), der Bildenden Kunst und der Komposition. Die Rede ist von der Biographie Leben vom Blatt gespielt. Eine dramatische Lebenspartitur über die Pianistin und Pädagogin Eliška Kleinová (1912–1999) von Peter Ambros, das bildnerische Werk Leben? oder Theater? von Charlotte Salomon (1917-~1943)942 sowie das Hörspiel Das Leben ist kürzer als ein Wintertag – oder Par Quoi? – A Quoi? – Pour Quoi? der deutsch-chilenischen Komponistin Leni Alexander (1924–2005). Jedes dieser Beispiele hätte für sich genommen Anspruch auf polyperspektivische Lesarten, diese sollen allerdings zugunsten des ausschließlichen Blickwickels der »zersplitterten (Auto-)Biographik« zurückgestellt werden.
Eliška Kleinová Der Historiker Peter Ambros veröffentlichte 2003 eine Biographie über Eliška Kleinová. Sie war die ältere Schwester des Komponisten Gideon Klein, verbrachte zusammen mit ihm mehrere Jahre in Konzentrationslagern (Theresienstadt und Auschwitz), konnte – anders als ihr Bruder – 1945 kurz vor Ende des Krieges fliehen, ging nach Prag zurück und erlangte später in der Tschechoslowakei den Ruf einer exzellenten Klavierpädagogin, wobei sie sich auf dem Gebiet des Blattspiels einen Namen machte. Wenn Ambros seine Biographie über Kleinová mit dem Titel Leben vom Blatt gespielt. Eine dramatische Lebenspartitur versieht, rekurriert er damit bewusst auf diesen letzten Lebensabschnitt. Im Klappentext heißt es dazu, Ambros habe sich »anders als in der ›Scho’ah-Literatur‹ üblich – das Leben einer KZ-Überlebenden nicht von Anfang an in den Schatten des Holocaust«943 gestellt. Mit diesem Perspektivwechsel geht ein Modell biographischen Schreibens einher, das mit verschiedenen Materialien (Interviews, Fotos, historischen Kommentaren und Reflexionen) arbeitet und diese bewusst montiert. Im Klappentext des Buches wird dementsprechend auch von der »Konstruktion« der Biographie von Eliška Kleinová gesprochen. 942 Das genaue Todesdatum von Charlotte Salomon ist nicht bekannt. Sie wurde am 21. September 1943 von der Gestapo verhaftet und nach Auschwitz deportiert. 943 Ambros 2003, hinterer Klappentext.
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Biographische Konzepte in Musik und Musikgeschichtsschreibung
Ambros’ Biographie basiert auf Interviews, die der Historiker mit Eliška Kleinová im Juni 1994 in Prag geführt hatte.944 »Nur wo er die autobiografischen Erzählungen durch die räumliche oder zeitliche Distanz für den heutigen deutschen Leser für un- oder mißverständlich hält, unterbricht Ambros sie durch Erläuterungen.«945 Zusätzlich zu diesem Konstruktionsprinzip führt Ambros seine eigene Reflexionsposition sowie den (möglichen) Wissenshorizont des gegenwärtigen Lesepublikums ein. Damit entstehen drei Erzählebenen, die als solche nebeneinander stehen: Interviewmaterial (1), historischer Kommentar (2) und Reflexion des Biographen (3). Ein Beispiel: Ausschnitt aus Peter Ambros:
Kommentar
Leben vom Blatt gespielt. Eine dramatische Lebenspartitur »Der Großvater war wirklich eine Art musische Ader in der Familie. Er sang uns vor, slowakische Lieder aus der Walachei, und dort in Karlowitz sagte man, daß er mit den Musikern Kontakte hielt, die dort ihre Ferien verbracht hatten. Da war Vítězslav Novák und Reißig, Professor Reißig, und ich habe es im Museum gefunden, daß in der Tat im Jahre 1906 Vítězslav Novák dort gewesen ist, und in der Familie wurde überliefert, daß der Großvater Marmorstein mit ihnen Karten gespielt hatte, dort im Wirtshaus gegenüber, ›U Linků‹. […]
Ebene 1: Interviewmaterial Die (übersetzten) Originalpassagen aus den Interviews werden in ihrer oralen Diktion weitestgehend beibehalten und kursiviert abgedruckt. Außerdem werden sie – auch wenn nur ein einzelner Satz zitiert wird – immer vom kommentierend-ergänzenden Text Ambros’ abgesetzt. Damit sind die Aussagen Kleinovás sowohl von der Sprach- als auch von der Gestaltungsebene immer eindeutig erkennbar.
Der Name des Komponisten Vítězslav Novák wird uns noch im weiteren Verlauf der Geschichte begegnen. Einstweilen sei nur erläuternd angemerkt, daß es sich um eine der größten Autoritäten des tschechischen bzw. tschechoslowakischen Musiklebens in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gehandelt hat.
Ebene 2: Historischer Kommentar Ambros nimmt den bei Kleinová nur kurz erwähnten Namen Novák auf. In der Annahme, dass dessen Bedeutung für die böhmische Musikgeschichte dem gegenwärtigen deutschen Lesepublikum nicht bekannt ist, nimmt Ambros eine kurze Verortung vor und verweist auf den späteren Verlauf der Biographie. Damit durchbricht er an dieser Stelle den Fluss der biographischen Narration.
Zu klären gilt es jetzt eine andere Frage, nämlich die, was mehr oder weniger fromme Juden – und das waren die Vorfahren von Eliška Kleinová in der Großelterngeneration
Ebene 3: Reflexion des Biographen Eine weitere Unterbrechung der biographischen Narration folgt, indem Ambros seinen
944 Vgl. Nachwort in Ambros 2003, S. 139. 945 Ebda., hinterer Klappentext.
(Auto)Biographische Individualitätskonzepte – in ländlichen Siedlungen ohne eine jüdische Gemeinde und folglich auch ohne eine Synagoge mit regelmäßigem Gottesdienst zu suchen hatten. Um die Antwort zu finden, müssen wir einen Ausflug in die noch ältere Geschichte unternehmen.«946
303 historiographischen Gedankengang offenlegt, der zunächst weder an die Interviewpassage direkt anschließt noch an die musikhistorische Erläuterung zu Novák. Durch die explizite Formulierung von Frage und Antwort sowie durch das kollektive »Wir« partizipiert das Lesepublikum nicht nur am Reflexionsprozess, sondern wird gewissermaßen eingeladen, an diesem Prozess aktiv teilzunehmen.
Der kurze Ausschnitt aus Ambros’ Biographie über Kleinová zeigt exemplarisch die biographische Konstellation, die hier zur Anwendung kommt (Abb. 5):).946
erzählt
biographierendes Subjekt
schreibt
rezipiert
Buch: Leben vom Blatt gespielt
Abb. 5: Peter Ambros, Leben vom Blatt gespielt. Biographische Konstellation
Zitate
getrennte Wahrnehmungsebenen
autobiographisches bzw. biographiertes Subjekt
Lesepublikum
Auffallend an Abb. 17: Peter Ambros, Leben vom Blatt gespielt. Biographische Konstellation dieser Konstellation ist, dass das Lesepublikum zu allen Stufen des (auto)biographischen Erzählens – oder im Sinne des Titels: zu allen Stimmen innerhalb der Partitur – direkten Zugriff hat: zum Kommentar an dieser Konstellation dass selbst das Lesepublikum zu allen Stufen durch dasAuffallend biographierende Subjekt und so zuist, diesem und zu den von ihm zitierten Aussagen des biographierten Subjekts, das dadurch auch als �auto�biographischen Erzählens – oder im Sinne des Titels: zu allen Stimmen inner autobiographisches Subjekt erkennbar wird. Die »Machart« wird dabei in jeder Partitur – direkten Zugang hat: zum Kommentar durch das biographierende Sub dem Moment der Biographie von Ambros offengelegt, eine »geschlossene« und so zu diesem selbst und zu den von ihm zitierten Aussagen des biographierten Darstellung vermieden. Das Lesepublikum kann jederzeit die verschiedenen jekts, das dadurch auch als autobiographisches Subjekt erkennbar wird. Die »Mach Ebenen (Subjektebene/Sprachebene/Zeitebene) erkennen, ja wird sogar exwird dabei in jedem Moment der Biographie von Ambros offengelegt, eine
946 Ebda., S. 13f. Kursiv im Original: Alle Aussagen Kleinovás aus den Interviews werden schlossene« Darstellung vermieden. Das Lesepublikum kann jederzeit die verschiede kursiv abgedruckt.
Ebenen �Subjektebene�Sprachebene�Zeitebene� erkennen, ja wird sogar explizit d
aufgefordert, dies zu tun. Und obwohl die autobiographischen Erzählpassagen wei
gehend chronologisch angeordnet sind, folgt die Biographie darüber hinaus auch n
mehr ausschließlich dem Chronologiemodell �auto�biographischen Schreibens, sond
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Biographische Konzepte in Musik und Musikgeschichtsschreibung
plizit dazu aufgefordert, dies zu tun. Und obwohl die autobiographischen Erzählpassagen weitestgehend chronologisch angeordnet sind, folgt die Biographie darüber hinaus auch nicht mehr ausschließlich dem Chronologiemodell (auto)biographischen Schreibens, sondern »springt« zwischen Vergangenheit, der Gegenwart der Interview-Situation und der Gegenwart des Schreibens (bzw. Lesens). Besonders deutlich wird dies im Übrigen zu Beginn des Kapitels »Die Seele erstarrt«, wenn Ambros Kleinovás Erinnerungen an das Konzentrationslager Theresienstadt einleitet. Hier tritt der Biograph und Historiker für eine ausgedehnte Passage aus seiner Rolle und formuliert grundlegende Zweifel, ob und wenn ja wie über eine solche Zeit gesprochen/geschrieben, bzw. wie sie (für die Nachgeborenen) verstehbar werden könne: Es wird schwierig sein, die Geschichte der jetzt unmittelbar nachfolgenden Jahre zu erzählen. Es wird schwierig sein, weil es das Grundmuster der Reise ist, die wir auf den Seiten dieses Buches gemeinsam unternehmen, von den Erinnerungen der Eliška Kleinová ausgehend die Welt nachvollziehbar zu machen, wie sie sie im Laufe ihres Lebens wahrgenommen und empfunden hatte. Die Schwierigkeit bei der Beschreibung des Lagerlebens knüpft sich indessen an die Begriffe »Wahrnehmung« und »Empfindung«.947
»Reise« erinnert an einen chronologischen Verlauf eines erzählbaren Lebens, »Wahrnehmung« und »Empfindung« an die Subjektivität des erzählten eigenen Lebens, weil aber beides – die temporale Ordnung wie die Subjektzentrierung – für die Existenz im KZ Theresienstadt irrelevant erscheint, sind, so Ambros, die sich daraus ableitenden narrativen Gestaltungsprinzipien für die Zeit im KZ völlig inadäquat. Stattdessen sucht er nach einem neuen Erzählmodell, das er in einer aus der Biologie entlehnten Assoziation findet, die Enzystierung: »Es ist die Fähigkeit einiger winziger Lebewesen, wenn sie in für sie ungünstige Umweltbedingungen geraten, sich in eine Zyste, eine feste, kaum durchdringbare Hautblase einzuhüllen, in der sie dann in eine todesähnliche Starre verfallen.«948 Neben der Nähe zum Vegetativen ist es die Abkapselung, die dieses Modell ausmacht: der Mensch wird nicht mehr als individueller Teil eines Ganzen (der Gesellschaft) wahrgenommen, sondern als vereinzelte Zyste neben anderen in sich abgekapselten Zysten: »und es kamen Scharen […]. Na und halt die Leute, herausgekommen aus den Waggons, schrecklich, nach zwei Tagen, unvorstellbar, man mußte, um überhaupt bis nach Auschwitz ankommen zu können, mußte man sich entmaterialisieren, irgendwohin, in einer halbwirklichen Art zu leben, allein aus Apathie, weil es war etwas Furcht947 Ebda., S. 85. 948 Ebda.
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bares.«949 Erstarrung statt Lebenslauf, Abschottung statt Teilhabe – diese Umkehrung aller bislang geltenden Maßstäbe sind nicht nur in den Bildern, die Kleinová zur Beschreibung ihrer Ankunft in Auschwitz 1944 benutzte, erkennbar, sondern auch in ihrer Sprache, die in kurzen, aneinandergereihten Satzpartikeln nicht mehr dem Redefluss entspricht, der die übrigen Interview-Sequenzen prägt. Darüber hinaus dokumentiert Ambros bereits während Kleinovás Theresienstädter Zeit deren Strategie der Abkapselung auch im Künstlerischen: »Ich war jetzt zwar in Theresienstadt, ich war eingesperrt, aber habe mich halt in mich eingeschlossen und vegetierte dort, wie es ging. An irgendwelchen kulturellen Aktivitäten nahm ich keinen Anteil.«950 Diese Entscheidung hatte sie offenbar bewusst und im Unterschied zu ihrem Bruder Gideon Klein und anderen in Theresienstadt inhaftierten Künstlern getroffen. Sie wollte, obgleich professionelle Pianistin, keinerlei Anteil an den vergleichsweise regen kulturellen Aktivitäten des Konzentrationslagers nehmen, arbeitete stattdessen als »Hilfssozialschwester«, da sie in der sogenannten Freizeitgestaltung einen »unheimlich raffinierten Betrug der Nazis« sah: »Die Nazis mißbrauchten die Kraft des künstlerischen Ausdrucks.«951 Wiederum reagierte Kleinová mit völliger Abkapselung, mit künstlerischer Abstinenz. Ambros dokumentiert diese nicht nur, sondern verwendet dies auch als biographisch-historiographisches Modell, was nicht zuletzt mit der Beobachtung korrespondiert, dass der Holocaust das Wahrnehmen von Geschichte und individuellen Biographien, vor allem das Wahrnehmen und Ineinklangbringen von Zeit und Individuum, grundlegend verändert hat.
Charlotte Salomon Erinnerung als »Versuch« zu begreifen, »aus den Brüchen und Rissen des Exils heraus Identität wieder zusammenzusetzen«,952 trieb Charlotte Salomon 1940 – gerade aus dem Internierungslager Gurs entlassen – an, memorierte Bruchstücke ihres Lebens zu malen und aufzuschreiben. Es entstand innerhalb von zwei Jahren der aus über 1325 Gouachen bestehende Zyklus Leben? oder Theater?.953 Er ist das künstlerische Hauptwerk Charlotte Salomons und 949 Ebda., S. 100, Hervorhebungen im Original. 950 Ebda., S. 90f., Hervorhebungen im Original. 951 Ebda., S. 95. 952 Schmetterling 2001, S. 38, vgl. dazu auch van Alphen 1997, bes. S. 65–92. 953 Salomon 1981 (in dieser Dokumentation ist der Zyklus nicht vollständig wiedergegeben, sondern in einer Auswahl von 769 Gouachen); vgl. außerdem Fischer-Defoy (Hg.) 1986, Salomon-Lindberg/Fischer-Defoy 1992, Koch 1992, Hansmann 1999, Schmetterling 2001 und Unseld 2004a.
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zugleich – darauf deutet bereits der an Goethe angelehnte Titel hin – ein autobiographisches Dokument, denn die Künstlerin beschreibt darin nicht nur den an ihre eigenen Erlebnisse anknüpfenden Lebensweg der »Charlotte Kann«, sondern auch die Geschichte ihrer Familie (ab etwa 1890) bis in die Gegenwart (1940/42), sowie die politischen Ereignisse zwischen 1933 und 1940, da diese auf die einzelnen Lebenswege der jüdischen Familie großen Einfluss hatten. Trotz dieser offensichtlichen autobiographischen Zuschreibungsmöglichkeiten ist dem Zyklus das Fiktionale nicht abzusprechen, so dass Gertrud Koch zu Recht darauf hinwies, dass das Werk von Charlotte Salomon […] von seiner eigenen Geschichte überdeterminiert [scheint]: ein nachgelassenes Werk, das allen Vorstellungen eines Nachlasses entgegensteht, schließlich wird das Werk von der Biographie seiner Erzeugerin nicht nur während seiner Produktion als Stoff markiert, seine Rezeption, verspätet und ungenau, entnimmt ihm wieder nur die Biographie. Daß die Biographie einer Erschlagenen zur Hauptkonkurrentin des künstlerischen Werks wird, ist allerdings seltsam.954
So berechtigt der Hinweis ist, dass der Zyklus kein rein »autobiographisches Singespiel«955 sei, ist doch gerade die Uneindeutigkeit, ob Leben? oder Theater? als Autobiographie oder als Fiktion gelesen werden soll, dem Werk ebenso offensichtlich wie bewusst eingeschrieben. So sind die von Salomon gewählten Namen der Protagonisten zwar fiktiv, aber doch sehr deutlich den tatsächlichen Namen oder Eigenschaften derjenigen Personen angelehnt, die hinter den Akteuren des Singespiels zu erkennen sein sollen: Der Vater, der Chirurg Albert Salomon, als »Doktor Kann«, seine zweite Ehefrau, die Altistin Paula Lindberg als »Paulinka Bimbam«, der an der Berliner Staatlichen Akademischen Hochschule für Musik lehrende Siegfried Ochs als »Professor Klingklang«, der Arzt und Gründer des Jüdischen Kulturbundes Kurt Singer als »Doktor Singsang« und andere mehr. Die intendierte Uneindeutigkeit zwischen Autobiographie und Fiktion ist auch dem Titel eingeschrieben, der sich zwar erkennbar an Goethes Titel Dichtung und Wahrheit anlehnt, dabei aber doch die größtmögliche Spannung zu diesem Titel aufbaut, als wolle sich die Künstlerin des Rückgriffs vergewissern und ihn zugleich in allen Details in Frage stellen.956 Die Binnenspannung von erinnerter Lebensgeschichte und Dichtung im Sinne einer »höheren Wahrheit«, wie sie Goethe
954 Koch 1992, S. 60. 955 So der Titel der Ausgabe von 1981 (vgl. Salomon 1981), dazu Koch 1992. 956 Zu Goethes Titelwahl und Salomons Aufgreifen und Umgestalten des Goetheschen Titels vgl. auch Unseld 2004a, S. 445–447.
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bei seiner Titelwahl intendierte, hat sich verschärft zu einer Grundirritation an der Erinnerung selbst und an der Darstellbarkeit von Lebensgeschichten. Über die Namen der Protagonisten und den Titel hinaus macht Salomon auf allen möglichen Ebenen die Uneindeutigkeit zu einer Grundkonstanten des gesamten Zyklus: Mit traditionellen kunsthistorischen Kriterien ist dieses Werk nicht zu fassen: Seine Gliederung in Vorspiel, Hauptteil und Nachwort, Akte und Aufzüge entspricht der Struktur eines Bühnenstücks, filmisch angelegte Sequenzen mit Vor- und Rückblenden, Nahaufnahmen und wechselnden Perspektiven lassen die Nähe zum expressionistischen Film erkennen, auf narrativer Ebene erzählt Leben? oder Theater? einen Familienroman, und auf der Bildebene schließlich läßt es sich als gemalte Autobiografie bezeichnen.957
Zu ergänzen wäre in diesem Zusammenhang noch die hochkomplexe musikalische Ebene von Leben? oder Theater?,958 die weitere Möglichkeiten aufscheinen lässt, die Nicht-Einheit der Wahrnehmung und Erinnerung erfahrbar zu machen. Komplexität und Uneindeutigkeit, so ist zusammenzufassen, wird zum Signum des gesamten Werkes: »Salomon transgresses the boundaries between the categories that confine our readings, and she resists the traditions – of art, of history, of autobiography – that precluded her access to creation… or would have, if it hadn’t been for her resistance.«959 Das Signum der Uneindeutigkeit soll im Folgenden anhand der Chronologie nachgezeichnet werden, da dieses Moment zum Kernpunkt ihres biographisch-historiographischen Konzepts führt: die Aufgabe einer Einheit von Wahrnehmung und Erzählung. Salomon arbeitet – trotz einer streng dreiteiligen Großanlage (Vorspiel, Hauptteil, Nachwort)960 und expliziter Binnenstruktur (Aufzug, Akt, Kapitel u. a.) – mit Rückblenden und Einschüben und verwirrt damit die Chronologie der erzählten Zeit. Vor allem aber ist das Zeitempfinden von stark divergierender Dichte, Zeitpunkte und Zeitverläufe sind – je nach den geschilderten Ereignissen – von unterschiedlicher Qualität. Die erzählte Zeit in Leben? oder Theater? umfasst rund 50 Jahre, wobei die Jahre 1913–1940 als Kernzeit anzusehen sind; die Zeit vor 1913 wird nur zweimal anhand von Rückblicken gestreift (vgl. Abb. 6). Das Singespiel beginnt mit einem Vorspiel,961 das in der Jetztzeit (1940/42) angesiedelt ist und den Ausgangspunkt der Rahmenhandlung markiert: Charlotte Salomon schildert hier 957 958 959 960 961
Hansmann 1999, S. 229. Vgl. dazu Unseld 2004a. Van Alphen 1997, S. 89. Vgl. Salomon 1981, S. 2. Die kursiv gesetzten Begriffe sind dem Original entnommen. Zum formalen Aufbau vgl. auch ebda., S. XVI sowie auch Abb. 6 der vorliegenden Arbeit.
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die Entstehungszusammenhänge von Leben? oder Theater?. Die eigentliche Schilderung der Familiengeschichte beginnt dann mit dem Jahr 1913 (1. Aufzug) und geht zunächst chronologisch bis ins Jahr 1930, dem Jahr der Hochzeit von Doktor Kann, Charlottes Vater, und der Sängerin Paulinka Bimbam. Hier ereignet sich dann eine erste Rückblende (3. Aufzug): Paulinka Bimbam schildert ihre Herkunft, ihre künstlerische Ausbildung und ihre Karriere. Diese Rückblende sperrt sich allenfalls gegen das in diesem Teil dominante Formmodell des Singspiels, in einer autobiographischen Erzählung wäre sie (als Schilderung der eigenen Geschichte der neu in die Familie eintretenden zweiten Ehefrau) durchaus üblich. Durchaus unüblich hingegen ist die zweite Rückblende, die Charlottes Großmutter in den Vordergrund rückt (5. Aufzug): Sie erinnert sich an die Familiengeschichte und greift dabei nochmals die bereits geschilderten Ereignisse zwischen 1913 und 1930 auf. Auf diese Weise wird die Familiengeschichte zum zweiten Mal erzählt, nun aus der höchst subjektiven Perspektive der Großmutter. Auf diese Weise entsteht zwar nicht die Polyperspektivität des »kollektiven Tagebuchs«, die Kempowskische »Fuga furiosa«, aber doch ein deutlicher Kontrapunkt zu dem bereits Geschilderten. Und neben den beiden Rückblenden ist es noch ein Eingeschobenes Kapitel, das den ersten Teil des Zyklus aus seiner chronologischen Ordnung reißt. Dabei irritiert es nicht nur die Chronologie, sondern unterbricht auch das formale Gerüst des ersten Teils (als romanhaftes Kapitel zwischen den singspielartigen Aufzügen) und führt einen neuen Zeittypus ein, der bislang noch nicht im Vordergrund stand, für den zweiten Teil aber von besonderer Bedeutung werden wird: das subjektive, stark gedehnte Zeitempfinden. Es behandelt das Ereignis von Paulinka Bimbams Geburtstag als Moment der Zuneigung und Charlottes Eifersucht. Innerhalb des bislang dokumentarisch-chronologischen Zeitgerüsts fällt diese Episode insofern heraus, als sie nicht explizit datiert wird. Eine weitere große Zäsur erfährt der erste Teil mit dem mit 2. Akt überschriebenen Abschnitt, der sich mit den Ereignissen des 30. Januar 1933 und deren Folgen für die Familie Kann auseinandersetzt. Mit dem zeithistorisch-dokumentarischen Bild zum 30. Januar 1933, dem Tag von Hitlers Machtergreifung, führt Salomon einen weiteren Zeittypus ein, den kalendarisch genau fixierten, zeitgeschichtlichen Moment. Eine ähnlich große Zäsur bildet die Sequenz zum 9. November 1938, der sogenannten »Reichskristallnacht«. Diese beiden markanten Daten werden bei Salomon gewissermaßen zu den beiden Angelpunkten des gesamten Zyklus, an denen einerseits die verschiedenen Zeittypen ineinandergreifen und die zugleich einen Rahmen um den Hauptteil markieren, der von einer chronologischen Schwerelosigkeit geprägt ist: einer fast durchgehend undatierten, langen und vom Zeitkontinuum her stark gedehnten Sequenz über hunderte von Bildern und Bild-
(Auto)Biographische Individualitätskonzepte Bezeichnung Vorspiel 1. Aufzug 2. Aufzug 3. Aufzug 4. Aufzug Eingeschobenes Kapitel: Das Geburtstagsgeschenk 5. Aufzug 2. Akt
Form Autobiographie Singspiel
Einschub: Roman Singspiel Oper/Drama
Hauptteil Roman Anfang des Hauptteils I 1. Kapitel: Einige Tage später 2. Kapitel: Am nächsten Nachmittag 4. Kapitel: An Weihnachten! 5. Kapitel: Gespräch in der Weihnachtsnacht mit einem Bildhauer 6. Kapitel: Orpheus oder Der Weg zu einer Totenmaske 7. Kapitel: Ein junges Mädchen 9. [sic] Kapitel: Und noch einmal »Ein junges Mädchen« 10. Kapitel: Lacht mich nicht aus, ich glaube an die Würfel 11. Kapitel: Interessante Entdeckungen auch für uns Fortsetzung des 10. Kapitels: Rückgriff Die Auferstehung 11. Kapitel: Es scheint mir, als ob da einer mit der ganzen Welt Fangball spielt oder Der singende Sokrates Neuer Abschnitt. 1. Kapitel. Und die Zeit geht weiter 2. Kapitel: Die Großmama 3. Kapitel: Der Vati 4. Kapitel: Die deutschen Juden 4. Kapitel: Der Abschied Nachwort Mai 1940. Die Kriegserklärung
309 dargestellte Zeit 1940–1942 1913–1917ff. 1926–1930 1897–1930 1930f. 21.12. [ohne Jahr, 1930 oder 1931] 1890–1930/31 30.1.1933 April 1933 1935–1937 undatiert (ca. 1936–1938)
»Zeittypen« Rahmenhandlung chronologisch Rückblende chronologisch subjektiv Rückblende kalendarischzeitgeschichtlich/ chronologisch/ subjektiv subjektiv, stark gedehnt
24.12. [ohne Jahr]
9. November 1938
kalendarischzeitgeschichtlich/ chronologisch/ subjektiv
ca. 1938/1939
Autobiographie
Januar 1939 September 1939 Mai/Juni 1940 Gegenwart (1940– 1942)
Abb. 6: Charlotte Salomon, Leben? oder Theater?. Formgerüst und Zeitstruktur
Rahmenhandlung
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Biographische Konzepte in Musik und Musikgeschichtsschreibung
sequenzen. Nach diesem Hauptteil wird mit dem 9. November 1938 das Zeitkontinuum wieder gestrafft. Chronologisch und zuweilen datiert werden die Ereignisse der folgenden Wochen und Monate geschildert: die Flucht, das Exil in Südfrankreich, der Ausbruch des Zweiten Weltkrieges, der Suizid der Großmutter, der Konflikt mit dem Großvater. Die Bildsprache verändert sich in diesem Neuen Abschnitt eklatant, zugleich aber wird die Idee der chronologisch-zeitgeschichtlichen Erzählung wieder aufgegriffen und führt bis in die Gegenwart der Rahmenhandlung. Die Analyse der Zeitstruktur in Salomons Leben? oder Theater? wäre unvollständig, ginge sie ausschließlich von diesem Überblick aus. In zahlreichen Details – bildnerischen, textlichen, musikalischen – wird die beständige Irritation der Zeitstruktur erkennbar. Aus der Fülle möglicher Einzelbeobachtungen seien im Folgenden zwei herausgegriffen. Spricht man im Zusammenhang mit einem bildnerischen Werk wie Leben? oder Theater? von Erinnerungsinhalten und erzählter Lebensgeschichte, wird vorausgesetzt, dass Bildern überhaupt ein narrativer Charakter eigen sein kann,962 wenngleich selbstredend nicht in eindeutiger Art und Weise, mit dem Anspruch einer unmittelbaren Verständlichkeit.963 In Leben? oder Theater? steht außer Frage, dass eine komplexe Familien- und Lebensgeschichte erzählt wird, denn neben – besser gesagt: zwischen und auf den Bildern – arbeitet Salomon auch mit einem dichten Netz an Texten.964 Darüber hinaus aber ist einem bestimmten, immer wiederkehrenden Bildtypus des Zyklus eine latente Narrativität eigen. Auch Salomon nutzt die Technik der multiperspektivischen Darstellung, etwa um den Verlauf von Paulinka Bimbams künstlerischer Karriere darzustellen. In dem ausgewählten Beispiel (Tafel 13) erkennt man einen zeilenmäßigen Aufbau des Bildes, der – von oben nach unten »gelesen« – Paulinka Bimbams erste Begegnung mit Professor Singsang beschreibt, den Unterricht, den sie bei ihm nimmt und die Liaison, die zwischen beiden entsteht. Der dazu erklärende Text (auf dem zwischengelegten Pauspapier notiert) konkretisiert diese drei Stadien: »Hallo hallo, mein kleines Fräulein«, rief der Professor sie zurück, als nach beendetem Vortrag sie den Saal verlassen wollte. »Hier haben Sie eine Karte für mein Konzert heute abend.« Und sie sitzt im Konzert und hört mit Andacht zu; und sie bracht’ ihm danach einen Veilchenstrauß. »Nein, Herr Professor, es war wun962 Vgl. dazu Wolf 2002. 963 Vgl. hierzu auch Schade/Wenk 2011. 964 Die Künstlerin legte – wenn sie nicht ohnehin auf den Bildern selbst mit Texten arbeitete – zwischen die Gouachen Pauspapierblätter, auf denen sie die Kommentare notierte, wobei diese zum Teil direkt auf die zugehörige Gouache gestalterisch Bezug nehmen, gewissermaßen »durchkomponiert« sind, s. Salomon 1981, S. XIIIff.
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derbar!« Und er lud sie ein, ihn doch mal zu besuchen. »Wir sind die Familie des berühmten Professors Klingklang. […]« Und er wollte ihre Stimme prüfen und fand heraus, daß sie eine herrliche Befähigung für den Gesang in ihrer Kehle trage. Melodie: »Kommt all ihr Seraphim mit…«965
Die Chronologie der Ereignisse lässt sich auf der Gouache zeilenweise, gewissermaßen bild-lesend nachvollziehen. Diese Art des chronologischen »Erzählens« innerhalb eines Bildes bricht Salomon jedoch vielfach auf, indem sie die lineare Zeitschiene ineinander kippen lässt. Ein Beispiel aus dem gleichen 3. Aufzug mag dies erläutern: Mit der Überschrift »Und die Karriere setzte sich fort« lenkt Salomon den Fokus auf die sängerische Laufbahn Paulinka Bimbams und gestaltet dazu zwei Gouachen: Die eine (Tafel 14) zeigt einen fiktiven Zeitungsausschnitt mit dem Hinweis auf ihre Auftrittsorte. Umringt ist diese überdimensionale Annonce von 27 Paulinka Bimbam-Figuren, jeweils in singender Pose dargestellt. Die Vielfalt der Konzert-Ereignisse wird auf ein Bild konzentriert, der chronologische Verlauf der Auftritte drängt sich in einem Bild mit multiperspektivischer Hauptfigur zusammen. Die andere (Tafel 15) stellt die Konzert-Tournee und die zahlreichen Auftritte anders dar: Die einzelnen »Bühnen« werden, einer Filmrolle nicht unähnlich, aneinandergesetzt, verbunden durch die geschlungene Straße, auf der sich das immergleiche rote Auto fortzubewegen scheint. Die Vielfalt der Auftrittsorte und das Gleichförmige des Auftretens werden aneinandergereiht, verbunden durch das Medium der Fortbewegung: Die Karriere als immergleiche Abfolge von Ortswechsel und Auftritt, und wieder wird der chronologische Verlauf multiperspektivisch in einem Moment gefasst, diesmal dem Moment des Auftritts. Auch hier findet eine »Parallelisierung von Zeit im multiperspektiven Erzählen«966 statt. Das zweite Detail, das über die Zeitstruktur in Leben? oder Theater? Aufschluss gibt, nimmt die Aussage der Charlotte aus dem Dialog mit dem Großvater unmittelbar vor dem abschließenden Textteil der Rahmenhandlung in den Blick:
965 Text auf zwischengelegtem Pauspapierblatt, abgedruckt in Salomon 1981, S. 63. Im Interview bestätigte Paula Lindberg diese Ereignisse, allerdings ohne die bildlich angedeutete Liaison: »Von Liebe, wie Charlotte es darstellt, war da keine Spur, er war ja ein alter Mann. Er hat mich gerne gehabt, mindestens so gerne wie seine Kinder. Aber Liebe – die Charlotte meinte in ihrer Träumerei – war was anderes!« Vgl. Salomon-Lindberg 1992, S. 58–63, Zitat S. 60–63. 966 Koch 1992, S. 61.
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Biographische Konzepte in Musik und Musikgeschichtsschreibung
Charlotte: Weißt du, Großpapa, ich hab das Gefühl, als ob man die Welt wieder zusammensetzen müßte. Großvater: Nun nimm dir schon endlich das Leben, damit dies Geklöne endlich aufhört.967
Charlottes Idee, die innerlich und äußerlich aus den Fugen geratene Welt wieder »zusammenzusetzen«, wird hier konkret als Ausgangspunkt zur Arbeit an Leben? oder Theater? benannt. Sie setzt sich damit nicht nur gegen den trostlosen Kommentar des Großvaters durch, sondern nimmt die Idee des Zusammensetzens als Grundmodell ihrer künstlerischen Arbeit: die Gouachen sind lose Blätter, sie lassen sich aufgrund der zuweilen fehlenden Seitenzahlen nicht durchgehend chronologisieren. Und auch ästhetisch verfolgt Salomon den Gedanken des Zusammensetzens – der verschiedenen Künste, der Stilhöhen, des Bildaufbaus etc. Die Montage wird auf diese Weise zum sinnstiftenden Modell für den Blick zurück (auf den eigenen Lebensweg, auf die Familien- und die Zeitgeschichte), aber auch zum Stückwerk für die Weiterexistenz der Person Charlotte Salomon. In einer Zeit, in der »die Welt immer mehr zerfiel«968 und in der »niemand mehr imstande war, einem anderen zuzuhören, sondern gleich begann, von sich selbst zu erzählen«, wurde das Zusammensetzen von Erinnerungen zur Möglichkeit, der Zerrissenheit der eigenen Existenz produktiv zu begegnen, das Selbst »aus der Tiefe ihrer Welt neu zu schaffen«. Salomons Leben? oder Theater? ist damit auch ein Versuch, György Konráds »Wenn du all das verlässt, was zu dir gehört, verlässt du fast dich selbst« umzukehren: in der Sammlung der Erinnerungen sich selbst wieder zu finden. Wie existentiell dieser Prozess für Salomon gewesen war, spricht sie im Nachwort aus: »Und sie[969] sah sich vor die Frage gestellt, sich das Leben zu nehmen oder etwas ganz verrückt Besonderes zu unternehmen. […] Und dabei entstand: Das Leben oder das Theater???« Das verrückt Besondere aber bezieht sich nicht auf die Tatsache, dass Salomon ihre Lebens- und Familiengeschichte erinnert und aufzeichnet, sondern die Art und Weise, wie sie dies tut. Hierbei aber spielt die Verrückung der Zeit, des Zeitempfindens und der Zeittypen eine wesentliche Rolle.
967 Ebda., S. 774. 968 Dieses und die folgenden Zitate sind dem Nachwort entnommen, vgl. ebda., S. 775–783. 969 Salomon spricht von der ihre eigene Person widerspiegelnden Figur »Charlotte Kann« in der dritten Person.
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Leni Alexander Die deutsch-chilenische Komponistin Leni Alexander970 wurde 1924 in Breslau als Tochter der Sängerin Ilse Pola geboren, wuchs in Hamburg auf und floh zusammen mit ihrer Familie im April 1939 nach Chile, wo sie in den 1970er Jahren die Diktatur Pinochets erlebte und erneut ins Exil ging. Durch ihren Lebensweg sensibilisiert, setzte sich Leni Alexander in vielen ihrer Werke mit den Themen Verfolgung, Flucht und Exil auseinander, die Zachor-Idee, »wider das Vergessen zu wirken«971, steht dabei immer wieder im Zentrum ihrer künstlerischen wie auch politischen Arbeit.972 Beispielhaft nimmt sie in ihrem Hörspiel Das Leben ist kürzer als ein Wintertag – oder Par Quoi? – A Quoi? – Pour Quoi? 973 die beiden Diktaturen – Deutschland zwischen 1933 und 1945, Chile zwischen 1973 und 1989 – als historischen Hintergrund, um eigenes Erleben daran zu spiegeln und in den Appell zu münden, die Erinnerung an die Vergangenheit wachzuhalten: »… die Spuren müssen bleiben […] die Er – in – ne – rung«.974 Ähnlich wie bei der sieben Jahre älteren Charlotte Salomon waren es die Ereignisse von 1933 und 1938 – Machtergreifung und »Reichskristallnacht« –, die sich Leni Alexander »ins Gedächtnis geprägt«975 hatten und die von nun an für sie als Sinnbild von Nazismus, Verfolgung und Bedrohung präsent waren: In Das Leben ist kürzer als ein Wintertag etwa tauchen sie in der Wahrnehmung jüdischer Schulmädchen auf, einer Situation, die der Lebenswirklichkeit Leni Alexanders in den 1930er Jahren in Hamburg entspricht. Diese Erinnerungsmomente stellt die Komponistin mit Straßenszenen in Chile aus dem Jahr 1973 gegenüber. Die Heterogenität der Momente und der historischen Zusammenhänge wird sprachlich (deutsch/spanisch) und musikalisch unterstrichen, indem akustische Versatzstücke aus eigenen Kompositionen, jiddischen Liedern und chilenischen Protestliedern sowie Alltagsgeräusche collagiert werden:
970 Ich danke an dieser Stelle Bettina Frankenbach herzlich für zahlreiche anregende Gespräche über ihre Forschung zu Leni Alexander. 971 Arndt 2000, S. 394. 972 Dazu Frankenbach 2005, S. 12. 973 Erstsendung: 31. Oktober 1989/WDR. 974 Ende des Hörspiels Das Leben ist kürzer als ein Wintertag, zit. nach Frankenbach 2000, S. 343. 975 Frankenbach 2005, S. 6.
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Zeit
Biographische Konzepte in Musik und Musikgeschichtsschreibung
Ort
Handlung
Musik
Musikalisches Material
Textsprache
Par Quoi?
Jan. 1938
Hamburg, Mädchenschule, Synagoge, Bäckerei
Schulalltag jüdischer Mädchen
Eigenkompositionen, jüdisches Lied (ohne Worte)
(freist. Text) Par Quoi? (freist. Text)
deutsch
Undser nigndl Ils se sont...
Sept. 1973
Chile
Straßenszenen: Militäraufmarsch u. Demonstrationen; Fragen nach den Folterern
Originaltöne, chilenische Protestlieder
O-Töne Putsch Corazones partidos
spanisch + deutsch
Vino y se Fué (freist. Text) Ils se sont...
Hamburg, Innenstadt, jüdische Schule
antijüdische Gesetze, Folgen des Novemberpogroms
Eigenkompositionen
1973 bis heute
Chile
Fragen nach den Verschwundenen
chilenisches Protestlied
para que no te olvide
deutsch + spanisch
die Wochen nach dem 9.11.1938
Hamburg, Wohnung
Ausweisung Haftentlassener aus Deutschland
Eigenkomposition
Maramoh
deutsch
10.11.1938
Par Quoi? Ils se sont...
deutsch
Maramoh
Kaddisch Ils se sont... heute/ Gegenwart
ohne Ort
Aufruf, die Erinnerung wachzuhalten
Eigenkompositionen; Kaddisch; jüdisches Lied
Par Quoi? Ils se sont...
spanisch + deutsch
(freist. Text) Zol Zayn Ils se sont...
Abb. 7: Leni Alexander, Das Leben ist kürzer als ein Wintertag. Aufbau des Hörspiels und Darstellung der verschiedenen Zeit-/Ort-/Handlungs- und musikalischen Ebenen976
976 Die Übersicht setzt sich zusammen aus den Tabellen in Frankenbach 2005, S. 17 und S. 54.
(Auto)Biographische Individualitätskonzepte
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Die Kombination aus Fremd- und Selbstzitaten kann als Versuch interpretiert werden, den diffizilen, häufig sogar problematischen Bezug zwischen eigenem Erinnern und allgemeiner Geschichtswahrnehmung977 darzustellen. Zugleich arbeitet Alexander auf der Ebene der Selbstzitate mit verschiedenen präexistenten Eigenkompositionen, so dass auch auf der Ebene der individuellen Identität eine Form von Zersplitterung wahrzunehmen ist: Indem Leni Alexander die Erlebnisse der jungen Mädchen in Hamburg mit Eigenkompositionen unterlegt, motiviert sie eine autobiographische Lesart dieser Passagen, und indem sie dabei auf verschiedene collagierte Kompositionen rekurriert, wird ihre eigene Identität als bruchstückhaft wahrnehmbar. Die Erfahrungen von Holocaust, Vertreibung und Exil – so ließe sich zusammenfassen – beförderten ein Auseinanderdriften autobiographischer Erinnerung und biographischen Schreibens. Sei es, dass Ambros die Biographie Kleinovás deutlich auf dem Prinzip der Montage aufbaut und von ihrer Situation in den Konzentrationslagern von einer Zystisierung – mithin einer extremen Vereinzelung – spricht; sei es, dass Charlotte Salomon ihre eigene Biographie in Grenzbereichen – auch der von Realität und Fiktion – ansiedelt und dabei die Chronologie des Erzählens durch zeitliche Diskontinuitäten aufbricht; sei es, dass Leni Alexander den Appell, die Vergangenheit nicht zu vergessen, mit autobiographischen Allusionen anreichert und dazu eine Musik auswählt, die aus collagierten Einzelteilen eigener Kompositionen zusammengesetzt ist. Aber, so bleibt abschließend zu fragen, ist es ein Zufall, dass im Zusammenhang mit dem Phänomen der Zersplitterung des Ichs drei weibliche Lebensläufe zur Exemplifizierung herangezogen wurden? Der Verdacht, dass dieses Phänomen besonders auffallend in weiblichen Lebensläufen und Selbstdarstellungen zum Ausdruck kommt, lässt sich mit der Beobachtung erhärten, dass weibliche Lebensdarstellungen für diese Art der Wahrnehmung besonders geeignet – oder auch besonders anfällig – waren, und dies bereits lange vor den Erfahrungen, die Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg zeitigten: Indem für Frauen kein kohärentes (auto)biographisches Modell zur Verfügung stand, waren sie gezwungen, sich entweder an die (auto)biographischen Modelle männlicher Lebenswege anzupassen (wie dies etwa Luise Adolpha Le Beau in ihren Lebenserinnerungen versuchte), oder sich neue Modelle zu suchen, »jenseits der Anerkennungslogik«978. Diese »Anerkennungslogik«, die auf den Zusammenhang der Kanonisierung verweist, bezeichnet 977 Vgl. Welzer/Moller/Tschuggnall 2002. 978 Ebda., S. 174, vgl. auch S. 158 dieser Studie.
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Biographische Konzepte in Musik und Musikgeschichtsschreibung
zugleich ein Ausscheren aus dem kohärenten (Selbst)bild und damit auch ein Loslassen des entsprechenden narrativen Modells. Dieses beobachtet auch Carola Hilmes bei ihrer Analyse weiblicher Autobiographien. Sie nimmt eine Aufspaltung des narzisstischen Ichs in ein dialogisches Verhältnis wahr und weist in Das inventarische und das inventorische Ich. Grenzfälle des Autobiographischen darauf hin, dass »insbesondere Frauen die dialogische Form der Autobiographie bevorzugen«.979 Damit aber präferierten sie eine Form, die das geschlossene Modell des Spiegels durch ein duales Modell von Hören und Sprechen austauscht, die »mythologische Leitfigur des Narziß […] durch das Echo« ablöst.980 Somit verbinden sich um und nach 1945 zwei biographische Wahrnehmungsarten: das Phänomen einer fragmentarisierten Ich-Wahrnehmung durch die Erfahrungen von Faschismus, Verfolgung und Exil, und das Phänomen, dass weibliche Lebenswege noch immer »jenseits der Anerkennungslogik« nach narrativen Modellen suchen. Das biographische Modell, das Joshua Sobol in seinem Polydrama Alma – A Show Biz ans Ende wählte – »Es gibt hier nur ein kleines, bedeutsames Problem: Wir haben, wie euch sicher nicht entgangen ist, auf einmal hier drei wunderschöne Mädchen stehn, die allesamt behaupten, sie seien ich«981 –, wird diese Gedanken nochmals aufgreifen. Zu betonen bleibt freilich, dass die Zersplitterung des biographischen Ichs nicht das einzige biographische Modell nach 1945 blieb, von der Renaissance der Heroenbiographik mit ihren Kohärenzmodellen war ja bereits die Rede. Aber die Tatsache, dass den zutiefst verstörenden Erfahrungen des Faschismus, der Vertreibung und des Exils mit einer neuen Zeit- und Ich-Wahrnehmung begegnet wird, ist nicht zu übersehen. Diese individuellen Erfahrungen haben vielfach zu einer neuen Sicht auf Lebenswege und auf deren Erzählbarkeit, deren Medialisierung geführt. Der Lebenslauf – bislang ein Schlüsselbegriff individueller Selbstdarstellung in einer auf Leistung, Erfolg und Prosperität angelegten bürgerlichen Gesellschaft – erfuhr eine radikale Irritation. Da diese Erfahrungen nicht mehr in intakten, chronologisch zusammenhängenden Lebenslaufschilderungen adäquat vermittelt werden konnten,
979 Hilmes 2000, S. 405. Hilmes’ Analyse umfasst autobiographische Texte von zwölf Autorinnen und Autoren der Moderne: Viginia Woolf, Wassily Kandinsky, Alfred Kubin, Ernst Barlach, Hugo Ball, René Magritte und André Breton, Walter Benjamin, Fernando Pessoa, Salomo Friedlaender, Gottfried Benn und Gertrude Stein. 980 Ebda., S. 404f. Als Beispiele dieser dualen – und damit nicht monolithischen – autobiographischen Darstellung nannte Hilmes Bettine von Arnim, Getrude Stein, Nathalie Sarraute und Christa Wolf. 981 Sobol 2005, S. 17.
wurden neue, fragmentarisierte (auto)biographische Darstellungen erprobt. Der Schock, dass ein Menschenleben entwurzeln kann, entwurzelte auch die Zuversicht in eine holistische Biographik.
9. Gegen eine Biographik der »gestanzte[n] Meinungen«: Adriana Hölszkys Oper Giuseppe e Sylvia
In einem Interview, das ich am 22. Juni 2003 mit Adriana Hölszky in Berlin führte, kamen wir auf ihre Oper Giuseppe e Sylvia zu sprechen.982 In diesem 2000 uraufgeführten Musiktheaterwerk begegnen sich der Komponist Giuseppe Verdi und die Dichterin Sylvia Plath als Verstorbene auf der Bühne, während ein Film-Regisseur die Szene als biographischen Film drehen möchte. Dass in diesem Werk Biographisches im Zentrum steht, schien mir von Anfang an unstrittig. Umso erstaunter war ich, dass Hölszky alles Biographische ablehnte: M. Unseld: Ist Giuseppe e Sylvia eine Art von »komponierter Biographie« oder fiktiver Biographie? A. Hölszky: Nein, das funktioniert nicht. Man kann keine Biographie auf die Bühne bringen. Deshalb bin ich eigentlich skeptisch. Man kann keine biographische Oper über eine berühmte Figur machen. Aber hier gibt es noch den Filter des Filmens: Figuren aus der Vergangenheit, die zu unterschiedlichen Zeiten gelebt haben und zwischen denen ein Treffen nicht möglich ist, werden gefilmt. Es ist ein Treffen in der Fantasie. Das ist eine Traumwelt, keine Biographie. Es ist katastrophal, wenn man eine Biographie auf der Bühne darstellt. Es ist überhaupt uninteressant. Das Poetische, die Metapher ist das eigentlich interessante. […] Dieses Musiktheater lebt, indem man alles Biographische beiseite legt und die Figuren neu definiert: denn dieser Ballast des Biographischen ist tödlich.983
Diese Aussage Hölszkys schien mir im Widerspruch zu dem zu stehen, was in der Oper, vor allem auch im Libretto von Hans Neuenfels angelegt war: grundlegende Fragen an Biographik, Künstlertum und Erinnerungskultur. Doch die Vehemenz Hölszkys ließ keinen Zweifel daran, dass die Komponistin diese Themen nicht mit Giuseppe e Sylvia in Verbindung bringen konnte oder gebracht haben wollte. 982 Eine erste, knappe Analyse der Oper unter dem Gesichtspunkt des biographischen Erzählens auf der Bühne erschien 2009 im Handbuch Biographie (vgl. Unseld 2009a). Im Zusammenhang mit einer dezidierten Gender-Perspektive liegt außerdem eine Analyse in Musik und Gender. Grundlagen, Methoden, Perspektiven vor (vgl. Unseld 2010a). 983 Interview am 22. Juni 2003, Berlin. Die Transkription dieses und des späteren Salzburger Interviews (2004) erfolgte möglichst nah am Sprechduktus. Kursiva geben Betonungen wieder. Die Nachweise werden als »Berliner Interview« und »Salzburger Interview« geführt.
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Ungefähr ein Jahr später war ich wiederum mit Adriana Hölszky zum Interview verabredet. Ich hatte mich in der Zwischenzeit intensiv mit Fragen der Neuen Biographik auseinandergesetzt: mit den Irritationen rund um den Subjekt-Begriff, mit Montage und der Vermeidung von kohärenter Narration, mit Erinnerungsforschung und den Fragen der verschiedenen, am Biographischen beteiligten Subjekte, mit Polyperspektivität und biographischen Hybridformen und letztlich auch mit dem Authentizitätsbegriff. Auf diese Weise vorbereitet traf ich Adriana Hölszky am 7. September 2004 in Salzburg wieder. Sie blieb bei ihrer Aussage: »Denn eigentlich ist das Erzählen von Biographien auf der Bühne tödlich.«984 Doch was sich im Wort »eigentlich« verbarg, wurde Grundlage eines intensiven Austauschs über Möglichkeiten und Unmöglichkeiten von Biographie, wobei sich Hölszky von den Gedanken über Neue Biographik fasziniert zeigte. Das Gespräch wird daher die folgende Analyse und Interpretation der Oper kommentierend begleiten. Beide Gespräche mit Adriana Hölszky waren nicht als biographische Interviews konzipiert. Vor allem das Salzburger Interview sollte sich ausschließlich mit der Oper Giuseppe e Sylvia beschäftigen. Und dennoch bin ich mir bewusst, dass hier ein Setting vorliegt, das dem des biographischen Interviews sehr ähnlich ist. Mein eigener Anteil am Ergebnis des Interviews ist daher nicht zu marginalisieren, im Sinne Klaus-Jürgen Bruders bin ich »Ko-Produzentin« der erzählten Geschichte, denn ich wollte »eine Antwort auf die Forschungsfrage, die die [m]eine ist und nicht die de[r] Befragten.«985 Dass ich Adriana Hölszky im zweiten Interview von meinen Erkenntnissen über Neue Biographik erzählt habe, löste in ihr Momente der Zustimmung aus, die ich im Berliner Interview nicht erreicht hatte. – Ein Fall von Übertragung? Jedenfalls eines expliziten Hinweises wert und Grund für die Entscheidung, die Interviewpassagen nicht als »Belege« für die eigene Interpretation zu nehmen, sondern als Kommentar, als zweite Interpretationsschicht. Giuseppe e Sylvia wurde am 17. November 2000 an der Staatsoper Stuttgart uraufgeführt. Als Libretto diente Hans Neuenfels’ gleichnamige Novelle, die der Regisseur und Autor selbst für die Komponistin umgestaltete. Thema des Bühnenwerkes ist eine unmögliche Begegnung: Jahrzehnte nach ihrem Tod »treffen« sich der italienische Komponist Giuseppe Verdi und die amerikanische Dichterin Sylvia Plath auf der Insel Ischia. Mit von der Partie ist außerdem Roberto, ein junger Fischer, der ebenfalls dem Totenreich entsteigt: Er wurde vor den Augen der Dorfbevölkerung in einer rituell anmutenden 984 Salzburger Interview. 985 Bruder 2003, S. 12. Vgl. dazu die ausführliche Darstellung des Settings im Kapitel Biographische Interviews, eine »Wahrheit zu zweit« im vorliegenden Band.
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Opferzeremonie von seinem Vater getötet. Hintergrund dieses Treffens ist die Idee eines Regisseurs, die Begegnung der beiden Künstler zu filmen, um, so beschreibt er es bei seinem ersten Auftritt (Zweites Bild), »die Toten [zu] retten«.986 Doch während die Toten (Plath, Verdi und Roberto) ein immer stärkeres Eigenleben entwickeln, scheitert der Versuch, dieses zu filmen. Die Toten wenden sich schließlich ihrer eigenen (Traum-)Welt zu und von den Lebenden ab: »Ja, lassen wir die Lebenden ruhen«.987 Hans Neuenfels’ Idee, den Opernkomponisten Verdi und die Dichterin Plath post mortem zu einem Treffen auf Ischia zusammenzuführen, entstand 1980 während seiner Inszenierung der Aida in Frankfurt.988 Die Novelle Giuseppe e Sylvia wurde zu dieser Premiere veröffentlicht. »Natürlich kam der Gedanke aus der Arbeit heraus, deren Leitgedanke war: ›Wir müssen die Toten retten‹«,989 beschreibt Neuenfels den Impuls. Und dieser Appell wird tatsächlich das Movens der gesamten Novelle. Im Libretto steht dieser Satz denn auch prägnant am Beginn des Zweiten Bildes, und führt an dieser Stelle die Figur des Filmregisseurs ein, der die Begegnung von Verdi und Plath filmisch festhalten möchte: Regisseur: Wir müssen die Toten retten. Wir müssen uns auf die Gräber hocken, langsam, geduldig ihre Namen rufen, die Erde streicheln, den Würmern Namen einbohren, den Gestank aufsaugen und gegen die Fäulnis unseren Saft brechen.
Wir müssen die Toten retten.
Wir müssen die Urnen auf die Fernseher stellen, und die Antennen ganz nah ans Blech.
Wir müssen die Toten retten, wenn es keinen Himmel mehr gibt und nicht mehr die Hölle nur Dante als Taschenbuch. –
986 »Wir müssen die Toten retten«, Regisseur, Zweites Bild, zit. nach Neuenfels 2000a, S. 73. 987 Schlusssatz des Librettos, zit. nach ebda., S. 92. 988 Spielzeit 1980/81, Dirigent: Michael Gielen, Bühnenbildner: Erich Wonder, Dramaturg: Klaus Zehelein. Vgl. dazu auch Gerhard/Schweikert (Hg.) 2001, S. 475. 989 Neuenfels 2000b, S. 2.
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Wir müssen die Photographien ins Essen mengen, mit Kot an die Häuserwände malen: für unsere Kinder für unsere Sterne unseren Kreislauf und Katzen unsere Bücher und unsere Toten für unsere Geschichte.
Wir müssen die Toten retten.
Und manchmal in besonderen Zeiten müssen die Toten die Toten retten.990
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Es ist ein mehrdimensionaler »Rettungsversuch«, den Neuenfels hier in Szene setzt, zunächst in einer realen Dimension: Neuenfels, der Regisseur, arbeitet an einem Werk Verdis, um dieses für die aktuelle Gegenwart erfahrbar zu machen. Neuenfels, der Literat, wiederum arbeitet an einer Novelle, die den Menschen Verdi in die Gegenwart ›hineinleben‹, ihn von den Toten auferstehen lässt. Dabei wird nicht Verdis Biographie in die Aktualität geholt, sondern ihm selbst wird gleichsam ein zweites Leben ermöglicht: »Es ist kein Historienstück über Biographien, sondern eine eigene Geschichte«991 Dieses post-mortem-Leben – und hier beginnt eine zweite Dimension – soll filmisch festgehalten werden: Der Filmregisseur möchte die Begegnung des toten Verdi mit der ebenfalls verstorbenen Sylvia Plath inszenieren und auf Zelluloid bannen. Dass ihm dies nicht gelingt, liegt nicht eigentlich an der Irrealität jener Begegnung, sondern an der Eigendynamik, die die tot-lebendigen Figuren entwickeln. Die im Titel angelegte Allusion an die großen Liebespaare (Romeo und Julia, Tristan und Isolde, Pelléas und Mélisande …) verweist zwar darauf, dass dem Komponisten und der Dichterin eine gemeinsame (Liebes-)Geschichte zugedacht ist. Dass sie sich gleichwohl nicht erfüllt, liegt an der Figur des jungen Roberto, der die Zweisamkeit des Künstler-Paares stört und eine dritte Dimension des »Rettungsversuchs« eröffnet. Sein ritueller Opfertod, der nach Art eines Sacre du Printemps von der Dorfgesellschaft inszeniert wird, soll den Fortbestand der Gesellschaft garantieren. Von Fruchtbarkeitssymbolen umgeben, steht er im Kontrast zum alten Verdi und konkurriert mit diesem um die junge Sylvia Plath. In die Beziehung zwischen Verdi und Plath, die auch als Metapher für das Verhältnis von Musik und Wort in der Oper verstanden werden kann, bricht der junge, virile Fischer ein. Doch die Ebenen von Fiktionalität und Realität verschränken sich gerade an dieser Stelle: Roberto, der das aggressivsexuelle Moment darstellt und damit die überhöhte Künstler-Begegnung mit 990 Neuenfels 2000a, S. 73. 991 Klaus Zehelein, zit. nach Neuenfels 2000b, S. 4.
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dem realen Begehren konfrontiert, ist die eigentlich fiktionale Figur, während sowohl Verdi als auch Plath – obgleich als Wiederauferstandene ebenfalls Teil der Fiktion – historisch-reale Personen darstellen. Die Gegensätze von Realität und Fiktion, von Geschichte und Gegenwart, von Kunst und Wirklichkeit, von Leben und Tod werden mehrfach gebrochen und in ihrer Gegensätzlichkeit immer wieder in Frage gestellt. In diesem Karussell der Gegensätze taucht das biographische Moment in verschiedenen Variationen auf. Sowohl die Figur Verdi als auch die Figur Plath rekurrieren mehrfach auf biographische Details aus ihrem Leben. Dass im Laufe ihrer schmerzlichen Erinnerungsarbeit vor allem Momente des Todes reflektiert werden – bei Plath ist es ihr Suizid, bei Verdi der Tod seiner ersten Frau und seiner beiden Kinder –, verweist auf den Scharnierpunkt zwischen der realen Biographie und dem fiktiven Post-mortem-Leben: der Tod gleichsam als Spiegelachse zwischen den beiden »Lebenswelten«. Zentral in diesem Zusammenhang ist das Zwölfte Bild: Verdi und Roberto kämpfen um Sylvia Plath, der Regisseur verliert die Kontrolle über das Geschehen, das Filmprojekt scheitert. Im Raum bleibt die Frage (des Regisseurs): »Was ist Biographie?« Ist es das, was als Film über die Begegnung Verdi-Plath hätte gedreht werden können, oder vielmehr das, was sich in den Bereichen Traum, Fiktion und Utopie derweil abspielt? Giuseppe e Sylvia bleibt die Geschichte von lebenden Toten, die sich nach ihrer abgeschlossen-offiziellen, getrennt erlebten Biographie zu einer neuen, gemeinsamen, fiktiven und ausufernden »Post-mortem-Biographie« treffen. »Die Toten [zu] retten«, sie als Tradition und als Erinnerungsleistung in unser Leben zu integrieren – und dies mit Hilfe von Kunst und Fiktion –, bleibt gleichwohl das Anliegen Neuenfels. Die tatsächlichen Lebensläufe von Sylvia Plath und Giuseppe Verdi treten in Neuenfels’ Libretto immer wieder schlaglichtartig auf: so etwa im Ersten Bild, in dem Verdi vorgestellt wird, und im Vierten Bild, das Plath erstmals in den Blickwinkel rückt. Im Zehnten Bild stehen die Selbstreflexionen aller drei Hauptfiguren im Mittelpunkt, während im Elften Bild Plath im Mittelpunkt steht: Hier erzählt sie von ihren beiden Suizid-Versuchen, dem missglückten und dem letztlich zum Tod führenden. Auch im finalen Dreizehnten Bild werden nochmals biographische Partikel eingestreut, dem verklärend-visionären Blickwinkel des Finales entsprechend, diejenigen Aspekte, die über den Tod der beiden Künstler hinauswirken: Verdis nicht verwirklichter Traum einer König Lear-Oper und Plaths Kinder. Neuenfels ergänzt diese Hinweise auf konkrete lebensgeschichtliche Ereignisse der Protagonisten durch biographische Bilder, kurze Allusionen, die im Falle von Verdi – und dieser soll hier im Mittelpunkt stehen – Eigen- und Fremdinszenierungen992 aufscheinen lassen. Die sieben zentralen »Verdi-Bilder«, 992 Vgl. dazu Gerhard 2001 und De Angelis 2001.
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die Anselm Gerhard beschreibt – der »self-made-man«, »un’orso«, »un compositore rozzo«, der »›Leiherkasten‹-Musiker«, der »Antipode Wagners«, der »Meister der italienischen Revolution« und schließlich der »›Bauer‹ von Sant’ Agata« –, treten alle mehr oder weniger deutlich in Erscheinung, und werden zudem durch Details trivialisierter Verdi-Mythen angereichert. Dazu drei Beispiele: Der »Bauer von Roncole«, eine Pose der Selbststilisierung, die Verdi in späteren Jahren gern einnahm (vgl. auch Tafeln 16 und 17), wird bereits im Ersten Bild vorgestellt: Sein breitkrempiger Hut (der im Sechsten Bild ebenfalls explizit erwähnt wird) und einfache Kleidung wurden zum Symbol für den erfolgreichen Komponisten als »einfachem Gutsbesitzer«, der Verdi, so Anselm Gerhard, nie wirklich war: »Als ›Bauer‹, wie es das liebgewordene Klischee will, sollte man sich den arrivierten Millionär freilich nicht vorstellen, eher schon als Großgrundbesitzer, der nun seine Ländereien ähnlich systematisch bewirtschaftete wie zuvor seine eminente Begabung als Musikdramatiker.«993 Der »Meister der italienischen Revolution« tritt im Sechsten Bild auf, wenn an der Wand der Bar Ridente jenes populäre »Viva Verdi« zu lesen ist, das in den politischen Auseinandersetzungen um Italiens nationale Einheit zum Symbol für Freiheit und – in der Schreibweise V.E.R.D.I., die als Abkürzung von Vittorio Emanuele, rè d’Italia gelesen werden kann – für den diese Einheit verkörpernden piemontesischen Herrscher geworden war. Der Verdi-Wagner-Gegensatz schließlich, der vor allem durch Franz Werfels Verdi-Roman (1924) popularisiert wurde, scheint durch die Erwähnung Siegfrieds kurz auf, 994 während Verdis allgemeine Popularität durch den Hinweis auf jenen Tausend-Lire-Schein anklingt, der von 1962 bis 1981 mit dem Konterfei Verdis gedruckt wurde.995 Die zentrale »biographische« Szene für Verdi freilich ist das Sechste Bild, das nun genauer in den Blick genommen werden soll. Verdi erzählt seine Biographie und – als könne er gar nicht anders als in Opernstrukturen denken – entwickelt daraus sogleich eine »Oper«: in vier Akten (mit einem Prolog und einem Epilog), mit Instrumentierungshinweisen und dramaturgischen Dispositionen. So skizziert Verdi beispielsweise den »zweiten Akt«, nachdem er im »ersten Akt« sich selbst als Kind in bitterer Armut in Szene gesetzt hatte: »Zweiter Akt mit Streichertremolo. Das Fagott später. Zuvor ein Gewitter. Aus dem Regenbogen schimmern die Porträts von Bach, Händel, Mozart, Beethoven. Der kleine Junge, etwas größer geworden, springt auf und stammelt: I primi padri. Schneller Vorhang.«996 Im »dritten Akt« werden die frühen 993 994 995 996
Gerhard 2001, S. 21. Sechstes Bild, Neuenfels 2000a, S. 81. Ebda. Ebda., vgl. dazu Hölszkys Partitur S. VI/19 bis VI/28.
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Krisen in Verdis Leben geschildert: die Ablehnung am Mailänder Konservatorium und – nach einem Zeitsprung von mehreren Jahren –, der Tod seiner ersten Frau und seiner beiden Kinder. Der »vierte Akt« fasst die Komponistenkarriere zusammen: Einzelne Schlagworte werden assoziativ, in einer Art »Blumensprache«, mit Baumarten verknüpft: Verdi: Chor: Verdi: Chor: Verdi: Chor: Verdi: Chor: Verdi: Chor: Verdi: Chor: Verdi: Chor: Verdi: Chor: Verdi:
Ich gebe ihnen Namen Ophelia heißt die Weide Lady Macbeth die Blutbuche Siegfried der Ahorn Angst die Pappel Mütterchen Moskau die Birke Spitzfindigkeit die Lärche Schnee die Tanne Syphilis die Vogelbeere
Während der Kinderchor dabei die Stichworte aus Verdis Leben liefert, kontert Verdi mit der entsprechenden Baumart (»Bäume sind die Brechung des Glücks«997). So entspinnt sich ein wechselseitiges, finales »Baum-Spiel«, in dem Verdi die Kontrolle über die zuvor so reibungslos verlaufende Selbstinszenierung zu verlieren droht. Im Epilog treten der Regisseur und das Scriptgirl als Figuren der externen Inszenierung, der Filmebene, auf und beenden mit einem das vorangegangene »Baum-Spiel« metaphorisch weiterspinnenden Dialog das Sechste Bild. Das Pflanzen von Bäumen wird zur Metapher für die (Selbst-)Inszenierung innerhalb der Biographie: Regisseur: Am Ende der Phrase hört man ihn weitergraben. Sehr zart, das Setzen und Binden um einen schützenden Pfahl. Script-Girl: Wunderbar, das Freilegen der Wurzeln, das Einbetten mit Dung und Torf.998 997 Verdi, Sechstes Bild, Neuenfels 2000a, S. 81. 998 Ebda., S. 82.
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Das »Freilegen der Wurzeln« benennt – in seinem doppelten Wortsinn – Verdis Rückschau auf die eigene Biographie, das »Einbetten mit Dung und Torf« hingegen umschreibt das »Umpflanzen« des Lebenslaufes in eine memorierte und (schriftlich oder filmisch) festgehaltene Biographie. Der so umhegte, kultivierte Baum wird zum Bild der erzählten, eigenen Biographie als Möglichkeit der Selbstinszenierung. Denn tatsächlich sind jene biographischen Marksteine, die Verdi hier ebenso operntypisch wie operntauglich aus seinem Lebensweg herausgreift, zumeist als Selbststilisierung zu enttarnen; Selbststilisierungen, die dem Komponisten in der Tat nicht fremd waren: Mit einer gewissen »Kaltblütigkeit«, so Anselm Gerhard, habe Giuseppe Verdi »ein sorgfältig retuschiertes Bild seiner Person in Umlauf gebracht«, wobei es erstaunt, »wie wenig Wert er dabei auf Wahrheit legte«.999 Ein Opernkomponist, der innerhalb einer Oper sein Leben als Oper »arrangiert«1000 – die dreifache Schichtung des Elements Oper wird gebrochen durch die dreifache Dekonstruktion des Biographischen. Zum Ersten wird die Lebensgeschichte Verdis nur in klischeehaften Spots beleuchtet: etwa das menetekelartige »Viva Verdi«, der erwähnte Tausend-Lire-Schein und die dramaturgisch wirkungsvoll in Szene gesetzten Stadien des armen Jungen und des vom Schicksal hart gestraften jungen Verdi. Zum Zweiten wird die Lebensgeschichte, indem sie von Verdi selbst ad hoc als Opernentwurf, mithin als Kunstwerk inszeniert wird, stark stilisiert. Zum Dritten – und hier erst kommt bezeichnenderweise erstmals die Komposition ins Spiel – geht auch die Vertonung auf Distanz zum Biographischen, zu dem, was Verdi als biographische und kompositorische Versatzstücke anbietet: Von den veritablen Kompositionsanweisungen, die Verdi an vielen Stellen des Sechsten Bildes in den Mund gelegt werden, setzt Hölszky nichts in klingende Realität um. Vielmehr übernimmt sie die von Verdi formulierten Kompositionsklischees und überträgt sie in eine eigene Musiksprache: Wenn etwa Verdi den »zweiten Akt« mit einem »Streichertremolo« und einem »Gewitter« beginnen lässt, nimmt Hölszky das vibrierende Moment auf, und überträgt es aber der Gruppe von Klavier, Cembalo, Gitarre, Marimba- und Vibraphon, die im Pianissimo ein trillernd-flirrendes Gewebe bilden (T. 19). Das »Gewitter« selbst findet im Kinderchor statt, der in der für Hölszky so typischen Melange aus Geräuschhaftem, Gesungenem und Gesprochenem agiert: »Lippengeräusch ähnlich dem des kochenden Wassers«, »Murmelstimme«, »Ausatmen-Hauch mit Handvibrato« – um nur einige der geforderten Geräuscharten zu nennen.1001 Auch die Instrumentengruppe von Takt 19 tritt wiederum auf, nun im dreifachen Forte 999 Gerhard 2001, S. 2. 1000 Die Regieanweisung am Ende des »ersten Akts« lautet: »Das alles wird gespielt mit Verdi als Arrangeur.« (Neuenfels 2000a, S. 81 und Partitur, S. VI/5). 1001 Vgl. Adriana Hölszky: »Chor live und Tonband. Zeichenerklärungen«, Supplement zur Leihpartitur von Giuseppe e Sylvia.
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dazwischenfahrend (T. 23). Eine musikalische Gewitterszene »à la Verdi« ist dies sicherlich nicht: Das von Hölszky gewählte Instrumentarium ist kaum dazu geeignet, ein Gewitter Verdischen Ausmaßes in Szene zu setzen (Notenbeispiel 2).
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Notenbeispiel 2: Adriana Hölszky, Giuseppe e Sylvia, Sechstes Bild, T. 16–24.
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Auch im »dritten Akt«, in der Überleitung von der Konservatoriums-Szene zur Sarg-Szene, ignoriert Hölszky die von Verdi artikulierten Kompositionshinweise: Verdi: Ich verbiete dem Konservatorium, sich mit meinem Namen zu zieren. Dann dreifaches Pianissimo der Geigen. Der Junge, inzwischen zum Mann geworden, steht vor drei Särgen. Zwei sind Kindersärge.1002
Von den hohen Streichern fehlt in der Partitur Hölszkys an dieser Stelle jede Spur. Parallel zu Verdis »dreifachem Pianissimo der Geigen« erklingen stattdessen kurze Bläserakkorde (T. 37), dann folgen Liegetöne im Pianissimo, allerdings nicht in den im Text angekündigten Geigen, sondern in den tiefen Celli, im Kontrabass und im Fagott. Die lichtlose Klangfarbe wird, der Todesthematik dieser Stelle angemessen, mit Röhrenglocken und Tamtam weiter eingedunkelt. Hart gegen diese regungslos-düstere Begleitung hebt sich die Gesangslinie ab, die zum Teil im Falsett, mit großen Intervallsprüngen und extremer Dynamik zwischen Piano und dreifachem Forte pendelnd aufwartet.1003 Hölszky geht damit nicht auf die Kompositionsanweisung ein, formiert hingegen eine eigene musikalische Kommentarebene, die an dieser Stelle, als vom Tod seiner Familie die Rede ist, zum dunklen Streichergrund die numinosen Klänge von Tamtam und Röhrenglocken kombiniert. Damit geht die Komponistin zwar auf die biographischen Hinweise Verdis ein, nicht aber auf die kompositorischen. Einen kurzen Moment müssen wir in der Analyse innehalten, um zu vergegenwärtigen, wie Adriana Hölszky mit Texten arbeitet. In der umfassenden Bearbeitung eines Textes sieht die Komponistin bereits einen Teil ihrer Aufgabe: »Arbeiten mit dem Text heißt also nicht Vertonung, sondern Musik schreiben, indem man den Text ›vergißt‹ und ihn neu komponiert. Er ist aufgelöst und dient als Baustein eines neuen Organismus.«1004 Extreme Ausformungen dieser Haltung sind das Zerstückeln des Textes in einzelne Wortfetzen (etwa in Monolog für eine Sängerin mit Pauke, 1977) oder die Zerdehnung und andere Verfremdungsarbeiten (… geträumt für 36 Vokalisten1005), die bis zur Textunverständlichkeit führen können. Dabei geht es Hölszky keineswegs um destruktive Impulse, sondern um eine musikalische Innenschau des Textes. Semantisches Verstehen rückt in den Hintergrund. Und je mehr das 1002 1003 1004 1005
Neuenfels 2000a, S. 81. Vgl. Partitur, S. VI/12 und VI/13. Hölszky 1996, S. 56. Vgl. dazu Petersen 2000.
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auf den Wortsinn gerichtete Hören in die akustische Irre geleitet wird, umso genauer muss das Ohr den verschlungenen Wegen der kompositorischen Intention folgen. Die extreme Textarbeit Hölszkys erfordert ein genaues Hören, ähnlich wie auch ihre Arbeit mit in kleinsten Nuancen ausdifferenzierten Klangfeldern der Schärfung von Wahrnehmung dient. Für das Musiktheater geht Hölszky sogar noch weiter: »In der zeitgenössischen Oper sind Text und Musik eigentlich unvereinbar.«1006 Im Gespräch äußerte sie sich noch drastischer: »Der Klang hat immer mit dem Wort zu kämpfen. Zwischen den beiden gibt es immer einen Kampf.« Und: AH: [...] ich ändere immer die Deutung [Intention] der Texte, z. B. bei Fassbinder[1007] ist es ein bürgerliches Trauerspiel, in dem die Geesche als Opfer dargestellt wird, als Resultat der sozialen Unterdrückung. Und bei mir ist im Gegenteil Geesche eine Figur, die weiß, was sie macht, sehr raffiniert und eigentlich eine negative Figur wie alle Figuren. Es ist nicht das Resultat von Unterdrückung, sondern es sind Kräfte, die aufeinanderprallen, Energien, die nicht 1:1 mit der Realität zu stellen sind. Die Abbildung der Realität oder soziale Aspekte darzustellen, hat mich nie interessiert.1008
Für Giuseppe e Sylvia nimmt Hölszky diese Freiheit, diametral zum Text zu arbeiten, nicht in Anspruch. Im Gegenteil: »Das ist ein Text, mit dem man nicht doppelbödig umgehen kann.«1009 Insofern scheint es in diesem Werk Hölszkys legitim, die Musik nicht im Kontrast zum Text zu lesen, sondern als Ausweis der Unvereinbarkeit von Text und Musik. Die Verweigerungshaltung der Komponistin, auf die »Kompositionsangaben« Verdis direkt einzugehen, sie illustrativ umzusetzen, ist damit keine ansonsten für Hölszky so typische Gegenaktion zum Text, sondern eine künstlerische Umsetzung der Idee, dass Selbst- und Fremdinszenierungen letztlich scheitern müssen. Das Sechste Bild mit seiner hochgradig stilisierten Selbstinszenierung entgleitet Verdi im Verlauf der Szene, spätestens im »Baum-Spiel«. AH: Das ist wie mit dem Zauberer und dem Kaninchen. Er [Verdi] zaubert es aus dem Hut. Es gibt auch Klangzungen, die aus früheren Passagen hier hineinkommen. […] Er hat die Kontrolle über diesen Moment, er macht das, und es kommt auch. Aber dann entwickelt es sich und er hat überhaupt nicht mehr die Kontrolle.
1006 Hölszky 1996, S. 56. Konsequent führt Hölszky diese Feststellung in der 1996/97 entstandenen »imaginären Oper« Tragödia/Der unsichtbare Raum aus, die auf Sänger ebenso verzichtet wie auf eine Opernhandlung. 1007 Hölszky bezieht sich hier auf ihr Musiktheaterwerk Bremer Freiheit, basierend auf einem Text von Rainer Werner Fassbinder, UA 1988. 1008 Berliner Interview. 1009 Salzburger Interview.
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MU: Ist das Sechste Bild damit eine »in nuce-Szene« der ganzen Oper? Denn auch der biographische Film über Verdi und Plath, bei dem anfangs alles genau nach Plan funktioniert, scheitert später. AH: Ja, es ist das Zentrum, wie unter einer Lupe. Mikroskopisch, was in der Oper makroskopisch ist. Verdi ist in diesem Moment wie ein Zauberer, er zaubert die Figuren und die Räume, wie er die Opern zaubert. Er hat auch Lust zu kreieren, er genießt die Produktion von Werken, aber dann sieht er: Er kann nicht alles schaffen, es kommen andere Geräusche, andere Räume – seine Figur verkleinert sich, und die Welt wird immer größer. Am Anfang ist er es, der die Welt zaubert, am Schluss schluckt ihn die Welt. MU: Wo ist der Bruch zwischen Gelingen und Misslingen? Beim Auftritt des Kinderchores?1010 AH: Ja. MU: Biographisch gesehen aber folgen dann ja die »Marksteine«, die Verdi immer größer erscheinen lassen, stark wie Bäume. AH: Ja, aber als Person wird er kleiner. Es ist das: Es wird gleichzeitig größer und kleiner, je aus welcher Perspektive man das betrachtet. In welchem Raum das passiert. Einerseits wird er größer, aber anders betrachtet wird er kleiner.1011
Die Figuren von Verdi und Plath sind deutlich auf Kontrast hin angelegt: Verdi erscheint insgesamt monolithisch, heroisch, die erwähnten Brüche dienen eher der dramatischen Tiefengrundierung denn als Infragestellung. Er arrangiert seinen Lebenslauf chronologisch, dazu werden zahlreiche Versatzstücke eines öffentlichen Verdi-Bildes ergänzt. Sylvia Plath hingegen wird als nervös, zerbrechlich, irritabel und beständig selbstzweifelnd dargestellt. Ihr Lebenslauf erscheint unzusammenhängend, häufig sich ins Poetisch-Utopische verflüchtigend und spiegelt wider, was die Dichterin selbst umtrieb: die Auseinandersetzung mit dem eigenen Ich, das in einer enormen Bandbreite poetischer und biographischer Vexierbilder erscheint. Annette Schlichter kommentierte dies: »Eine ›wahre‹ Plath läßt sich angesichts der Vielfalt der Deutungsangebote […] nicht ausmachen.«1012 Dieser Rückzug der eigenen Person hinter verschiedenste literarische Selbstbilder führte sogar dazu, dass sich die Person der Autorin selbst ins Fiktionale zurückzuziehen schien: »Plath is a fantasy«.1013 Im Libretto spricht Plath selbst darüber, wobei auffällig ist, dass das Dissoziative von ihr ins Positive gewendet wird: »Im Leben 1010 1011 1012 1013
Der Kinderchor tritt direkt vor dem »Baum-Spiel« auf. Salzburger Interview. Schlichter 1998, S. 425. Zit. nach ebda.
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versuchen wir ständig, eine Person zu sein. Dabei ist es wunderbar, sich zu verteilen, sich zu verwandeln in viele Möglichkeiten.«1014 Aus dieser Dezentrierung des Subjekts schöpft sie Hoffnung auf Lebens- und Schaffensenergien und nimmt sich – hierin deutlich als Figur der Moderne erkennbar – »als ein situiertes, relationales Subjekt […] [wahr], das innere Differenzen nicht verdrängt, sich ständig neu konstituiert und das unendliche Spiel der Bedeutungen als Chance begreift, seine Handlungsmöglichkeiten durch variierende Modifikationen bestehender Strukturen zu verwirklichen.«1015 Dass und wie sie daran scheitern wird, bildet das Zentrum des Dreizehnten Bildes. Mit dem Modell des dezentrierten Subjekts aber erscheint ihr gehetzter, »zerstückelter« Lebenslauf prädestiniert für einen biographischen Zugriff, der sich jeglichem Modell – selbst dem der Chronologie – entzieht: »Die Lebensfakten zwischen diesen Eckdaten [Plaths Geburts- und Todestag] nehmen sich aus wie ein Wirbel von Ereignissen, nur schwer ihrer chronologischen Abfolge gemäß mit dem Gestus der Objektivität zu erzählen.«1016 Unschwer zu erkennen, fast schon überzeichnend deutlich, ist in den sich gegenüberstehenden Figuren von Verdi und Plath der starke Einfluss der Kategorie Gender auf die lange gültige (Selbst-)Präsentation männlicher und weiblicher Lebensläufe, die in ihrer Gegensätzlichkeit aufeinander bezogen sind: Dissoziative Elemente, eine rhapsodische statt chronologische Erzählweise und eine in die Innerlichkeit gewendete Blickrichtung für Frauenbiographien versus Kohärenz, Chronologie und Öffentlichkeit für Männerbiographien.1017 AH: Die Figuren, Giuseppe und Sylvia, sind als extreme Kontraste angelegt: Verdi als Heroe, Plath nervös. […] Es sind nicht nur Gegensätze von Charakteren, sondern Gegensätze von Welten, die damit in Verbindung stehen. […] Verdi zitiert im Text ständig seine Werke. Es gibt keinen Unterschied zwischen Person und Werk. Bei Sylvia Plath ist das anders, die Figur wird ganz anders behandelt. MU: Was ist Ihnen an diesen Figuren wichtig? AH: Bei Verdi gibt es den Bruch zwischen den Verlusten, die er erlebt hat […] und die Ungebrochenheit, das Heroische, das Vertrauen in die Zukunft, in die Gerechtigkeit, in die Kraft vom Klang in der Musik. Er ist insgesamt sehr positiv. Er schreibt, und er ist sicher: Das hat Wirkung. Sylvia Plath dagegen ist verurteilt zum Scheitern. Es ist das Depressive, Introvertierte. Ihre Tragödie ist, dass sie überhaupt nichts mit dem Leben anfangen kann. Sie ist von vornherein skeptisch, was Verdi nicht ist. Sie ist in diesem Sinne viel moderner als Figur. Sie ist viel gebrochener, und auf allen Ebenen ist sie fragend. Man spürt bei ihr von Anfang bis Schluss 1014 1015 1016 1017
Dreizehntes Bild, Neuenfels 2000a, S. 91. Krug 2002, S. 66. Gidion 2000, S. 22. Vgl. dazu Unseld 2010a.
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das Leid. Und sie schwankt. Sie ist zwar begeisterungsfähig, aber sie hat nicht das Vertrauen, das Verdi hat. Dadurch gelingt ihr nichts. Sie ist zum Scheitern verurteilt, weil sie zu viel Rücksicht nimmt auf ihre Umgebung. Sie ist wie eine Mimose. Und Verdi ist wie ein Berg, er ist stabil. Sie ist in der Defensive, Verdi immer in der Offensive. Das unterscheidet die beiden, obwohl es ein Gemeinsames gibt, die Kunst. Die Kunst ist das, warum sie existieren. Verdi ist einer, der die ganze Bühne besetzt, Sylvia zieht sich immer zurück. Das sind nicht nur zwei Figuren, das sind Typen, Kräfte, die überall – ich denke vor allem in der Kunst – zum Vorschein kommen. In ihrer Arbeit aber ist Plath genauso radikal wie Verdi, das muss man unterscheiden! Denn das Werk setzt sich durch, auch durch die Zerbrechlichkeit. Durch ihre Zerbrechlichkeit kommt die Kraft, sie reduziert sich nicht! Es ist keine Kraft, die sich direkt ausdrückt, sie benutzt andere Mittel und Wege, um präsent zu sein, genauso präsent wie Verdi. Aber es ist ein anderer Blick und als Mensch eine andere Erscheinung. Das Gleiche kann man über Bachmann sagen: Ihre Stimme, wenn sie spricht, ist sehr sensibel, aber wenn sie schreibt, hat es eine explosive Kraft. Aber das hat nichts mit der Erscheinung zu tun.1018
Das aus dem 19. Jahrhundert lange bekannte Schema der Geschlechter-Dichotomie wird zwischen den beiden Hauptfiguren in Giuseppe e Sylvia aufgerufen und zugleich massiv konterkariert durch eine kaum zu entwirrende Vielfalt der Dimensionen: Den Hauptrahmen bildet das Musiktheaterwerk selbst, außerhalb dieses Rahmens stehen die historischen Personen Giuseppe Verdi und Sylvia Plath, die jeweils wiederum durch ihre Werke und als Person durch biographische und historiographische Bilder in der Gegenwart präsent sind. Dieser »äußere Rahmen« ist wiederum polyperspektivisch zu verstehen, denn sowohl der Librettist, als auch die Komponistin als auch jede einzelne Person im Publikum hat andere Bilder, andere Vorkenntnisse, andere Sym- oder Antipathien zu Verdi und Plath. Betreten wir nun den Raum des Werkes selbst, folgt eine weitere, »innere Rahmung«: Der Regisseur will mit seinem Team einen (biographischen) Film über Verdi und Plath drehen. Um dies zu realisieren, ist die Utopie notwendig, die beiden verstorbenen Protagonisten wieder zum Leben zu erwecken und zu einer Begegnung auf Ischia zu überreden. Mit dem Moment der Utopie innerhalb der »inneren Rahmung« wird eine weitere Ebene – neben der historischen, der historiographischen und der konkret-künstlerischen – eingezogen. Dies ist insofern bedeutsam, als hier nicht – wie dies etwa bei Mozart und Salieri der Fall war – historische, verstorbene Personen qua Imagination auf die Bühne gestellt werden, sondern über den Illusionsbruch (die Wiederbelebung der Toten) das Moment des Irrationalen betont wird. Doch die Vielfalt der Dimensionen hört an diesem Punkt nicht auf. Die Wiederbelebten agieren wie Bühnenfiguren, sie setzen sich aber zugleich auch mit ihrem Vor-Leben auseinander, und zwar so, dass sie als Bühnenfiguren auf die biographisch-his1018 Salzburger Interview.
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toriographischen Bilder rekurrieren, die (aus der »äußeren Rahmung«) an sie herangetragen werden. Forciert wird dieser Prozess, indem auch der Regisseur konkrete Vorstellungen von den biographischen, von ihm zu filmenden Bildern seiner »Hauptdarsteller« hat.
Abb. 8: Dimensionen der Selbst- und Fremdinszenierung von Verdi und Plath in Giuseppe e Sylvia von Hans Neuenfels und Adriana Hölszky1019
An dieser Vielfalt der Dimensionen scheitert letztlich das Film-Projekt des Regisseurs: Die Figuren erhalten ein so starkes »Eigenleben«, dass der Regisseur kapituliert und – vom Tonband, also aus einer weiteren Distanzebene 1019 Erstmals abgedruckt in Unseld 2009a.
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heraus – seine Ausgangsidee, durch einen biographischen Film die Toten vor dem Vergessen zu bewahren, in Frage stellt: »Was ist Biographie?«1020 Von seiner anfänglichen Sicherheit, dass ein Film über historische Figuren möglich sei, bleibt nichts mehr übrig außer der vagen Einsicht, dass die Idee, den historischen Figuren durch eine Film-Biographie auch nur nahe zu kommen, Utopie bleiben muss. Nicht umsonst ist just dieses Wort das letzte, das der Regisseur äußert: »In der Kantilene liegt die Utopie.«1021 MU: Vieldimensionalität auf allen Ebenen kennzeichnet die Oper. Ich denke hier an die irritierend vielfältige Mischung aus Film-Ebene, historisch-biographischer Ebene, Totenreich und Welt der Lebenden, historische Realität und Bühnen-Realität, Fiktion, Illusion, Utopie etc. Wie stellt sich die Musik dazu? AH: Es ist wie ein Flickwerk aus mehreren Flicken. Man hat selten eine langatmige Stelle. Es ist wie ein Raum, in dem mehrere andere geschlossene Räume verschachtelt sind. Es gibt keine Übergänge, es sind harte Schnitte. MU: Könnte man von Collage sprechen? AH: Eher von Montage. Ganz verschiedene Objekte, die Welten in sich sind, brüchig und schillernd, nicht zusammenpassend. Jede Welt will sich behaupten. Alle Figuren wollen leben. Es ist wie ein Rückblick, aber trotzdem die Anstrengung von allen, in der Zukunft etwas zu projizieren. Aber das kommt nicht zustande. Die Kraft kommt eigentlich von der Vergangenheit. Die Zukunft ist wie eine Brücke, die den Blick zurückrichtet. Die Oper hat ohnehin eine komische Attitüde zur Zeit. Die Zeit in diesem Stoff ist so wie ein Labyrinth, wie mehrere Schläuche, die miteinander verschlungen sind. Es gibt eine Fülle von Richtungen, in die die Zeit geht, auch in der Musik. Es gibt keine Chronologie. MU: Das chronologische Erzählband immer wieder zu durchschneiden, spielt in Ihrer Oper eine wesentliche Rolle. AH: Ja. Dieser Verzicht auf die Chronologie, auch in der Arbeit des Komponierens, ist immer, war aber hier besonders stark, akzentuiert durch Stoff und Text. […] Der Text ist schon so, ohne Chronologie: Es ist überhaupt kein roter Faden, die Szenen sind zusammengewürfelt, die sechste Szene [= Sechstes Bild] könnte auch früher oder später kommen. MU: Dennoch ist das Sechste Bild sehr zentral, mir scheint vor allem die Schlusspassage wie eine dramaturgische Fermate, danach bröckelt die Zuversicht des Regisseurs, den Film wirklich drehen zu können. AH: Hier ist ein neuer Raum, in dem über das gerade Geschehene nachgedacht werden kann. Denn das ist ja ein Zentrum (von mehreren). Das eigentliche Zent1020 Zwölftes Bild, Neuenfels 2000a, S. 90. 1021 Ebda.
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rum für Neuenfels ist am Ende, wo der Regisseur nicht mehr filmen kann. Da hört man den Regisseur nur vom Tonband, das ist der Bruch. Aber das ist das Zentrum vom Regisseur. Verdi hat ein anderes Zentrum. Sylvia Plath hat ihr eigenes Zentrum, dort, wo sie von dem Backofen erzählt, wo sie ganz allein ist. Denn jeder hat eine andere Biographie, jeder hat eine andere Art von Spirale, wie die Zeit, wie sein Raum sich entwickelt. Verdi hat einen anderen Weg, Sylvia hat einen andern Weg und der Regisseur mit seinem Team hat auch einen anderen Weg mit einem anderen Zentrum. Und es ist eine Illusion, dass sie kommunizieren. Sie kommunizieren überhaupt nicht. Wir glauben das, weil sie gleichzeitig auf der Bühne sind. Es ist nicht wie in einer normalen Oper mit gesungenem Dialog, wo die Figuren in derselben Zeit sind, miteinander kommunizieren. In meiner Oper aber, auch wenn sie kommunizieren, wenn sie Dialoge haben, ist das wie in drei verschiedenen Räumen. Vielleicht ist Glas dazwischen, sie sehen sich, aber sie berühren sich nicht, auch wenn es transparent ist. Eigentlich müsste man gläserne Räume schaffen zwischen den Figuren. Das wäre konform der Musik und der Zeit, die da läuft. Nicht in einem Raum, das ist illusorisch. Parallelwelten, sie treffen sich nicht. MU: Haben Sie selbst sich vor der Komposition konkret mit den historischen Personen beschäftigt? Haben Sie z. B. Biographien über Verdi und Plath gelesen? AH: Ja, aber dann schnell weg. MU: Was haben Sie gelesen? AH: Bei Plath die Gedichte, die Briefe mit der Mutter, den Gedichtband von Ted, der aber hat mir nicht so gut gefallen. Und dann Verdi, Biographisches. MU: Welche Biographien haben Sie über Verdi gelesen? AH: Ach, solche Biographien mit Bildern. Natürlich auch Neuenfels’ Essay. Aber ich habe mich gehütet vor Biographien, dass ich nicht rutsche. Denn eigentlich ist das Erzählen von Biographien auf der Bühne tödlich. Man kann nicht reale Leute auf die Bühne bringen. Das muss ein ganz anderer Blickwinkel sein, das muss ganz anders erzählt werden auf der Bühne. Das wäre ja so was wie Illustration. Umso mehr, wenn es eine bekannte Figur ist, nicht irgendeine Figur, die für die Bühne geschaffen wird. Genauso denke ich, kann man nicht Mozart auf die Bühne bringen, oder Bach. Rein biographisch funktioniert das nicht. Es geht nur das Poetische, die Fiktion. Es muss auf eine andere Ebene transportiert werden, dass es etwas anderes wird und dann Assoziationen mit der Biographie hat.
»… solche Biographien mit Bildern …« – man könnte darüber spekulieren, welche Verdi-Biographie Adriana Hölszky tatsächlich gelesen hat. In diesem Zusammenhang ist das freilich müßig, denn eines scheint vor allem deutlich geworden zu sein: Dass es Hölszky anfangs wichtig war, das biographische Moment vollständig abzulehnen, lag nicht daran, dass in Giuseppe e Sylvia nicht über Biographisches reflektiert würde, sondern an dem Begriff »Biographie« und was die Komponistin damit verband, die Heroenbiographik des
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19. Jahrhunderts mit ihren »gestanzte[n] Meinungen«. Selbst in der Verdi-Figur, die dafür prädestiniert ist, diesem biographischen Modell zu folgen – was in der Oper deutlich zur Sprache kommt –, findet Hölszky kompositorische Möglichkeiten des Aufbrechens, etwa indem sie Verdis Anweisungen im Sechsten Bild nicht oder nur sehr gebrochen Folge leistet. Indem Hölszky das Heroenbiographische ablehnt, wendet sie sich unvermutet einem Zukunftsbild von Biographik zu: Erst nach einer vollständigen Ablehnung und Loslösung von der hermetischen Biographik kann eine erneute, mehrdimensionale Annäherung an den Charakter von Menschen und ihrer Bilder gelingen. Die Oper Giuseppe e Sylvia wählt dafür den Umweg von Traum, Fantasie, Assoziation und Irrealität.
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10. Parallele Bilder, offene Modelle: Alma Mahler, W. A. Mozart, Bob Dylan
»[…] Mehrfachbiographie […]. So etwas ist in Mode gekommen, weil wir nicht mehr wie Karl Pearson an große Männer glauben und weil wir die Menschen gern als Teile sozialer Strukturen sehen, deren Mechanismen und Wechselbeziehungen wir aufdecken und beschreiben können.« Antonia S. Byatt, Das Geheimnis des Biographen1022
Was das Subjekt sei, und wie es wahrgenommen werden kann, ist für Biographik von entscheidender Bedeutung. Denn die Narration des Lebenslaufes – von der Auswahl und Strukturierung der erwähnten Ereignisse bis hin zum Selbst- und Fremdbild einer (Auto)Biographie – wird wesentlich bestimmt durch die Frage, wie das Subjekt im Verhältnis zu einer »allgemeinen Menschenkonstitution (Körperlichkeit, Geschlecht, Korporalität – Sozialität – Kulturalität)«1023 verortet wird. Nicht zufällig fußte der Beginn der musikalischen Biographik in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts auf einer Veränderung der Subjekt-Wahrnehmungen allgemein und des Musikers als Künstler im Besonderen. Was aber, wenn die Zuversicht in das Subjekt als Denkform abhanden kommt?1024 Der Begriff vom Subjekt unterlag im Verlauf des 19. Jahrhunderts und vor allem in der Zeit um 1900 einer grundlegenden Wandlung, die man als Prozess von der »Entdeckung des Ichs« durch die Aufklärung über die Ich-Spiegelungen anhand von alter-ego-Figuren in der Romantik bis zur »Unrettbarkeit des Ichs« (Ernst Mach) um die Jahrhundertwende begreifen kann. Die kulturhistorische Diagnose, die Jacques Le Rider exemplarisch für die Wiener Moderne angefertigt und dabei für die Jahre vor dem Ersten Weltkrieg eine tiefe Krise der männlichen (und damit der im Sinne des akademischen Historismus und der Heroenbiographik primär biographierten) Identität ausgemacht hat, be1022 Byatt 2001, S. 248. 1023 Von Zimmermann 2006, S. 5. 1024 Es ist, das sei an dieser Stelle nochmals betont, nicht möglich, die derzeit so rege Subjekt-Forschung an dieser Stelle angemessen zu würdigen. Die große Studie von Andreas Reckwitz (2006) kann als Hinweis darauf dienen, wie aus kultursoziologischer Sicht das Thema diskutiert wird. Den Gesprächen mit Cornelia Klinger sowie ihrer Studie Flucht, Trost, Revolte (Klinger 1995) verdanke ich ebenfalls zahlreiche Anregungen. Hingewiesen sei auch nochmals auf das Graduiertenkolleg »Selbst-Bildungen. Praktiken der Subjektivierung in historischer und interdisziplinärer Perspektive« an der Universität Oldenburg.
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schreibt dabei nicht den Endpunkt, sondern vielmehr einen Zwischenstand dieser Entwicklung. Die Literatur (James Joyce, Virginia Woolf, Gertrude Stein u. a.) ließ erkennen, dass Fragmentarisierung und Dezentrierung von Subjekt(erfahrungen) gestaltbar sind. Und in den 1920er Jahren geriet in Frankreich die ereignis- und individualitätsbezogene Darstellung von Geschichte in die Kritik, führte zur strukturgeschichtlichen, dezidiert vom heroischen Individuum sich abwendenden und mit den Konsequenzen der Heroengeschichtsschreibung sich kritisch auseinandersetzenden »histoire de mentalités« (Mentalitätsgeschichte), die nach dem Zweiten Weltkrieg an Bedeutung gewann. Holocaust- und Exil-Erfahrungen trugen weiters zu einer Verschärfung der substantiellen Fragmentarisierung der Subjekt-Wahrnehmung bei; die Zersplitterung des biographischen Ichs, wie sie anhand von Arbeiten von und über Eliška Kleinová, Charlotte Salomon und Leni Alexander bereits zur Sprache kamen, geht mit der veränderten Wahrnehmung des eigenen Ichs im Angesicht von Extremsituationen einher. Auch die verschiedenen geschichts-, sozial-, kulturwissenschaftlichen und wissenschaftstheoretischen Auseinandersetzungen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts können unter dem Aspekt eines neuen, nicht eben konfliktarmen Verhältnisses zum Subjekt verstanden werden: Die Polyperspektivität, die die Erinnerungsforschung einfordert, oder die Bejahung von Pluralitäten in der Postmoderne, die Wolfgang Welsch explizit auch auf Lebensentwürfe bezieht: »Die Grunderfahrung der Postmoderne ist die des unüberschreitbaren Rechts hochgradig differenter Wissensformen, Lebensentwürfe, Handlungsmuster«.1025 Auf diese Weise wird auch der Staffelstab an die Biographik weitergegeben, die dazu aufgefordert ist, Pluralitäten wahrzunehmen und wahrnehmbar zu machen: Damit aber steht eine Abkehr von der Heroen-Biographik oder von anderen stark normierten bzw. normierenden biographischen Formen auf der Agenda, ebenso wie das Zulassen paralleler biographischer Bilder und das In-den-Blick-Nehmen der Biographiegeschichte, die Erweiterung des Kreises biographiewürdiger Personen u. a. m. Die sozialwissenschaftliche Biographieforschung tritt ergänzend mit der Beobachtung hinzu, dass die Ausdifferenzierung von Öffentlichkeit und Privatheit, damit einhergehend der zunehmende Abbau einer für alle Bereiche verbindlichen Kosmologie zeigt, daß auch Sinnzusammenenhänge nunmehr dem Muster funktionaler Differenzierung folgen. Für das Individuum entsteht damit auch die Notwendigkeit ständiger eigener Orientierungsleistungen zur Selbstvergewisserung und zur Bestimmung seines sozialen Ortes, den ihm seine ›Identität‹ nun nicht mehr fraglos gibt.1026 1025 Welsch 1991, S. 5. 1026 Brose/Hildebrand (Hg.) 1988, S. 13. Vgl. dazu auch Dausien 2011.
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So knapp das Feld damit umrissen ist, so deutlich wird, dass sich mit der Annahme eines dezentrierten Subjekts eine grundlegende Kritik formuliert, die zugleich eine Agenda aufruft, Repräsentationen des Subjekts und Faktoren der Subjektivierung in den Blick zu nehmen: »Das Subjekt wird nicht mehr als rationale, bewußte, autonome, selbstidentische Entität, als transzendentale Grundlage von Handlungs- und Erkenntnisfähigkeit aufgefaßt, sondern die zur Etablierung seiner scheinbaren Autonomie notwendigen Ausschlüsse von Differenzen werden ins Blickfeld gerückt«.1027 Der Prozess der Fragmentarisierung des Ichs stößt im Zusammenhang mit Biographik auf grundlegende Schwierigkeiten erkenntnistheoretischer wie narrativer Art. Denn dem Phänomen widerspricht eine Biographik, die durch die Akkumulation von Details eine Gesamtsicht möglich zu machen sucht, wobei die (auch narrative) Kohärenz und das Streben nach Vollständigkeit maßgeblich sind.1028 Das Zulassen verschiedener, sich möglicherweise sogar widersprechender Blickweisen auf das biographierte Objekt ist hier nicht intendiert, vielmehr eine eindeutige Narration, die über den Menschen als Ganzes – zumindest in der Gesamtheit seines Geschichtscharakters – Auskunft geben soll. Dieser Ganzheitsanspruch wurde im 20. Jahrhundert von verschiedenen Positionen aus grundsätzlich in Frage gestellt, darunter von Freud, der es als Wesensbestandteil der Psychobiographik ansah, dass nicht alle Momente eines Lebens restlos erklärbar seien, von der Dokumentarbiographik, die auf die Kohärenz des Narrativen verzichtete und sich ausschließlich auf die Akkumulation von Daten konzentrierte, und auch von der Frauenbiographik, die mit einem aufgrund der lückenhaften Überlieferungssituation so geringen Datenbestand arbeiten musste, dass sie sich mit der Frage konfrontiert sah, wie »Lückenschreiben« methodisch sinnvoll zu realisieren ist.1029 In diesen Kontext sind gegenwärtig aufschlussreiche Beispiele von Musikerbiographien zu stellen. Dass in diesem Zusammenhang nicht notwendiger1027 Krug 2002, S. 66. 1028 Dies bezieht sich vor allem auf historisch-biographisches Schreiben, weniger literarisch-(auto)biographisches, in dem gerade Autorinnen und Autoren der Romantik die Pluralität der Ich-Konzeptionen verwirklichten. Zu erwähnen ist ferner, dass besonders Lebensläufe von Kranken, Verwirrten und »Traviati« immer wieder Anlass gaben, über Brüche der Identität zu reflektieren. Vgl. dazu besonders Dedner 2001, Gockel 2006 und Gockel 2010. 1029 Für weibliche Lebensläufe sind, so Borchard, fehlende oder nicht auffindbare Quellen bezeichnend. Diese Materiallücken gelte es »bewußt zu markieren, statt sie, wie allzuoft in der Frauenbiographik üblich, aus dem falschen Anspruch heraus, eine konsistente Geschichte zu erzählen, mit Spekulationen zu füllen und die Lücken gleichsam zu überschreiben«. (Borchard 2005b, S. 27) Das »Lückenschreiben« verlangt dagegen ein selbstreflexive Narration, die sich dem vorhandenen wie auch dem nichtvorhandenen Material nähert.
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weise die Schrift als Medium im Zentrum steht, sondern Theater, Ausstellung und Film, ist insofern bezeichnend, als damit Zirkulationsmittel in den Fokus kommen, die sich gerade nicht innerhalb jener Wissenskulturen bewegen, die die Schriftform als geeignetes Medium für sich gefunden hatte – dass geschriebene Biographien an diesen Konzepten nicht partizipieren könnten, wäre allerdings voreilig zu behaupten. Das erste hierbei in den Blick genommene Beispiel ist das biographische Polydrama1030 Alma. A Show Biz ans Ende von Joshua Sobol (Autor) und Paulus Manker (Regie). Es stellt eine theatrale Biographieform auf, die zunächst in ihrer Performativität erfahrbar gemacht werden soll: Vorzustellen hat man sich das alte Kulturhaus Semmering.1031 Das Ambiente strahlt mit morbidem Flair die Ästhetik der Zeit um 1900 aus. Gäste kommen zusammen, wobei zunächst nicht eindeutig ist, ob es sich um Besucher und Besucherinnen des Theaterstücks handelt oder um Schauspielerinnen und Schauspieler. Es existiert keine Bühne, nur Räume. Plötzlich tauchen im großen Saal vier Schauspielerinnen auf, von denen jede für sich in Anspruch nimmt, Alma Mahler zu sein: drei junge, identisch gekleidete Frauen, »die allesamt behaupten, sie seien ich«1032, was wiederum die Schauspielerin der älteren Alma Mahler-Werfel, jene der amerikanischen Jahre, sagt. Irritation und Faszination unter den Gästen macht sich breit. Alle vier Alma-Figuren bewegen sich im Laufe des Abends spielend durch die Räume: Das Publikum ist im Kurhaus am Semmering zu Gast und schließt sich – je nach eigenem Ermessen – einer der Alma-Figuren an, geht mit ihr durch verschiedene Räume, sucht die anderen Almas, begegnet weiteren Figuren – Gustav Mahler, Walter Gropius, Franz Werfel … – und erlebt einzelne Szenen, deren Texte teilweise wortgetreu aus Originaldokumenten (Briefen, Tagebüchern etc.) kompiliert sind. Einziger Wegweiser ist eine »Hausordnung«: 1030 Sobol definiert das Polydrama als »drama which, first of all, doesn’t attribute much importance to a storyline, and disregards the storyline as an important fact. A Polydrama supposes that truth resides in a comprehensive structure of the entire story. And it does not matter in what way you are progressing or surfing through the story.” Quelle: http://www.alma-mahler.at/text/sobol/sobol_interview01.html (letzter Zugriff: 26. November 2013). 1031 Die beschriebene Aufführung fand am 12. August 2007 in Semmering statt. Das Polydrama wurde 1996 bei den Wiener Festwochen uraufgeführt und inzwischen an zahlreichen Orte inszeniert und aufgeführt, darunter in Venedig (2002), Lissabon (2003), Los Angeles (2004), Schloss Petronell (Österreich, 2005), Berlin (2006), Semmering (2007), Jerusalem (2009), Prag (2011). Vgl. dazu auch http://www.alma-mahler.at/ (letzter Zugriff: 26. November 2013). 1032 Die zitierten Textpassagen sind der umfangreichen Dokumentation des Polydramas entnommen, hier Sobol 2005, S. 17.
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1. »ALMA« beschreibt in verschiedenen, parallel ablaufenden Handlungssträngen einen Zeitraum von 1901 bis jetzt. Die Schauplätze sind über das ganze Haus verstreut. Die Figuren der Handlung führen Sie durch die Zeiten und Räume. 2. Sie sind eine KAMERA. Ihr Auge schreibt das Theaterstück. 3. Konzentrieren Sie sich auf ein Objekt Ihrer Wahl und folgen Sie ihm wie eine KAMERA. Wenn Sie nur einem Objekt folgen, verwandelt es sich in Ihren ganz persönlichen Hauptdarsteller. Seine Figur führt Sie durch Almas Leben. Sie können jedoch die Objekte während der Aufführung auch wechseln und sich dadurch ein Handlungs-Mosaik zusammenstellen. 4. Sie sind eine High-Tech KAMERA und bewegen sich rasch, intelligent und aufmerksam. […] 5. Als KAMERA bestimmen Sie allein die Entfernung zum Objekt Ihrer Wahl wie auch den Bildausschnitt. Sie können zwischen Großaufnahme und Totale jede beliebige Distanz wählen und Ihren Standort verändern, indem Sie während der Aufnahme vor- und zurückfahren oder zoomen. […] 10. Wenn Sie mit einer zweiten KAMERA kommen oder auch mit mehreren KAMERA/den, sollten Sie die verschiedenen Ereignisse getrennt festhalten. Am Ende des Abends können Sie dann wie am Schneidetisch Ihr Material mit dem der anderen austauschen und zu einem kompletten Ganzen montieren.1033
Mit dieser »Hausordnung« werden dem Publikum, jedem einzelnen Gast, die verschiedenen Möglichkeiten des Gehens und Schauens und damit die Verantwortung des Wahrnehmens übertragen. Die Schranke von Bühne und Zuschauerraum ist aufgehoben, die passive Rezeptionshaltung weicht einer aktiven Rolle des Auswählens, Gehens und Wahrnehmens. Auf diese Weise wird das Bewusstsein dafür geschärft, dass biographische Wahrnehmung stets einen hohen Anteil an subjektiver Wahrnehmung beinhaltet. Die zum Teil parallel ablaufende Dramaturgie des Polydramas verunmöglicht, dass ein einzelner Zuschauer oder eine einzelne Zuschauerin alle Szenen erleben kann. Möglich ist, sich im Austausch mit anderen zuschauenden Personen ein Gesamtbild »zu einem kompletten Ganzen [zu] montieren«, wobei das Verbum »montieren« verdeutlicht, dass es sich um ein künstlich (oder auch künstlerisch) Zusammengesetztes handelt. Die Auswahl der wahrgenommenen Szenen erfolgt darüber hinaus nach keinem vorgegebenen Schema, damit individuell und spontan. Sobol vergleicht die Zufälligkeit des Wahrgenommenen mit zufälligen Reisebekanntschaften: Alma sei eine theatralische Reise, da die ausgetretenen Wege des auf Konflikt und Situation basierenden Schauspiels verlassen werden und die Möglichkeiten eines Reise-Dramas verwendet werden, in denen die Protagonistin nicht in eine einzige Handlung 1033 »Hausordnung« im Programmheft zur Aufführung im Kurhaus Semmering, Sommer 2007.
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oder einen einzigen Konflikt gefangen oder verwickelt ist, sondern auf einer nach allen Seiten offenen Straße dahinreist, sich in Menschen ver-liebt und ent-liebt, die auftauchen und wieder verschwinden und für einige Momente die Route der Reisenden kreuzen.1034
Mit der Reise-Metapher greift Sobol den Begriff der Lebensreise auf. Allerdings nicht im Sinne Bourdieus, der die »Lebensgeschichte« als »gewöhnliche Rede« bezeichnete, die das Leben als Weg, Straße, Karriere mit ihren Kreuzungen […], ihren Gefährdungen, zumal ihren Hinterhalten […] beschreibt, oder als ein Weitergehen, als einen Weg, den man macht und der gemacht werden muß, eine Strecke, ein Wettrennen, Kursus, Passage, Reise, vorgezeichneter Parcours, eine lineare Bewegung, mit einer Richtung […], bestehend aus einem Anfang […], Abschnitten und einem Ende im doppelten Sinn, nämlich im Sinn von Ziel […] und im Sinne von Ende der Geschichte.1035
Statt dieser linearen Zeit- und Erzählstruktur entwirft Sobol das dramaturgische Konzept des Polydramas, in dem kein zielgerichteter Lauf erkennbar ist, sondern sich unzählige Wege und Wegabschnitte kreuzen, wobei sogar das Publikum aktiver Teil jener Reisegesellschaft(en) ist, die sich begegnen oder auch verpassen: Der Beobachter wird eingeladen, die bewegungslose Haltung des Zusehers eines konventionellen Schauspiels zu verlassen und es durch die Aktivität und die Mobilität des Reisenden zu ersetzen. Daher wird der Zuseher ein Weggefährte, der durch dieses Reise-Drama reisenden Figuren, der die Ereignisse, den Weg und die Person, der er nach jedem Ereignis folgt, selbst auswählt, und dadurch seine eigene Version des Polydramas aufbaut, zerstört und erneut entstehen läßt.1036
In diesem theatralen Konzept lassen sich wesentliche Elemente erkennen, mit denen sich die moderne Biographik auseinandersetzt. Alma steht damit für eine neue Herangehensweise an das Genre Biographie, was sich anhand von sieben Faktoren umreißen lässt: (1) Die vier Alma-Figuren stehen für die Zersplitterung des biographischen Subjekts, zugleich aber auch für eine Polyperspektivität: Alma ist nicht als eine (Identifikations‑)Figur greifbar, sondern als mehrfach auftretende, dabei nur fragmentarisch wahrnehmbare Projektionsfläche (vgl. dazu auch die Illustration aus dem Textbuch, Tafel 18). Der Imaginationsleistung des Publikums ist 1034 Sobol 2005, S. 7. 1035 Bourdieu [1986] 1990, S. 75. 1036 Sobol 2005, S. 7.
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es überlassen, die sich äußerlich kaum ähnelnden Alma-Figuren zu einer biographischen Person zusammen zu montieren. Hier wird eine Behandlung des biographischen Subjekts erkennbar, die einerseits auf Zerstückelung – oder, weniger pejorativ ausgedrückt: auf die Mosaikhaftigkeit – des biographierten Subjekts hinweist, andererseits die aktive Eigenleistung derjenigen aufruft, die das biographische Subjekt wahrnehmen. (2) Eng mit dieser inkohärenten Sicht auf das biographische Subjekt verbunden ist die Vermeidung kohärenter Narration. Wie die Literatur für die Darstellung von auseinanderfallenden, inkohärenten Wahrnehmungen Collage- und Montage-Techniken kennt, kann auch die moderne Biographik ähnliche Techniken anwenden, um eine Kohärenz in der Narration zu vermeiden. Das Publikum des Polydramas Alma wird explizit dazu aufgefordert, die eigene, notwendigerweise fragmentarische Wahrnehmung mit den Wahrnehmungen anderer »zu einem kompletten Ganzen [zu] montieren« – wobei zu betonen wäre, dass das »komplette Ganze« in diesem Modell nie erreicht werden kann. (3) Das Montage-Prinzip freilich betrifft nicht nur die vertikale Perspektive, sondern auch die horizontale, mithin historische: Nicht nur im Hier und Jetzt diffundiert die Hauptperson in mehrere Figuren, auch der Blick in die Vergangenheit lässt die Ungenauigkeit der Wahrnehmung des biographierten Subjekts deutlich werden. Aufschlussreich ist dabei, wie die »alte« Alma-Figur in Sobols Polydrama in der eröffnenden Szene über ihre Erinnerungen spricht: »Ich weiß nicht, wer ich bin. Genau gesagt, ich weiß nicht, wer ich früher einmal war. Da ich bereits seit mehr als vierunddreißig Jahren überfällig bin, kann niemand allen Ernstes noch von mir erwarten, daß ich mich nach so langer Zeit der Wahrheit noch entsinne. Denn wie ich war, vermag ich wirklich nicht zu sagen.«1037 Damit aber legt Sobol nicht nur einen Hinweis auf die Ungenauigkeiten in Alma Mahler-Werfels Autobiographie, sondern knüpft an die aktuellen Ergebnisse der Erinnerungsforschung an, die sich intensiv mit den Formen von Erinnerungsspuren und Ereignis, mit dem Import »fremder« Erinnerungen, mit affektiven Kongruenzen und Konfabulation auseinandersetzt. (4) Das Montage-Prinzip verlangt schließlich eine wesentlich aktivere Rolle der Rezipienten, die Sobol als KAMERA bezeichnet: Jede/r wählt aktiv Szenen und Wahrnehmungsausschnitte, damit verbunden auch die subjektive Entscheidung der Nähe bzw. Distanz zum beobachteten Objekt. Darüber hinaus erkennt sich, die »Hausordnung« fordert dazu explizit auf, das Publikum als aktiv wahrnehmende Instanz. Das Desillusionierungsprinzip des Epischen Theaters wird weitergeführt in den Appell, die individuelle Wahrnehmungsperspektive zum Gegenstand der Wahrnehmung selbst zu machen, 1037 Ebda., S. 17.
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nicht zuletzt um auf diese Weise der »wahren Alma« nahezukommen, »wahr« freilich nicht in normativem Sinn, sondern relativ zum Betrachter: »Uns aber laßt, verehrtes Publikum, die Jäger auch auf ihrer Jagd [nach der ›wahren‹ Alma] verfolgen. Wir werden dann, jeder für sich und alle gegen eine, von Alma Mahler-Werfel-Gropius ein ganz spezielles Bild uns selbst entwerfen können!«1038 (5) Die ersten vier Faktoren appellieren, Biographik als polyperspektivisches Verfahren zu begreifen. Sowohl die Aufteilung der Hauptfigur in vier Darstellerinnen als auch die Montage der verschiedenen Szenen an verschiedenen Orten und auch die aktive, nicht gesteuerte Wahrnehmung durch das Publikum machen eine kohärente, chronologische Dramaturgie unmöglich. Daraus ergibt sich (6) ein anderer Umgang mit Authentizität. In Sobols Alma-Polydrama ist Authentizität einerseits ein zentraler Aspekt der gesamten Inszenierung: Für die Aufführungen wurden Städte ausgewählt, an denen Alma Mahler tatsächlich lebte (u. a. Venedig, Berlin, Prag, Los Angeles), die Räume wurden darüber hinaus mit großer Detailgenauigkeit ausgestattet.1039 Auch die gesprochenen Texte sind – für eine dramatisierte Biographie kaum üblich – durchsetzt mit authentischem Material, Briefen, Tagebucheinträgen u. a. m. Andererseits legt Sobol – im Sinne von Freuds »die biographische Wahrheit ist nicht zu haben« – keinen Wert auf die Dokumentation der Authentizität im wissenschaftlichen Sinne, sondern erwartet durch die künstlerische und rezipientenseitige Aneignung des Materials eine eigene Form der »Wahrheit«: »Truth resides in every single moment there. So every episode is as important as the entire story. Every episode is a world in itself, and the order of the episodes is not important«. Denn, so Sobol weiter, eine chronologische biographische Erzählung entspreche keinesfalls der »Wahrheit«: »The linear way of telling a story or a storyline is the most artificial thing one can imagine. There is no storyline in life. There is no storyline, there are only moments. And the moments are not really connected with one another.«1040 Die notwendige Verkettung von chronologischem Erzählen und biographischer Authentizität wird grundsätzlich zur Disposition gestellt. Alma. A Show Biz ans Ende ist eine künstlerische Auseinandersetzung mit der Lebensgeschichte Alma Mahler-Werfels. Damit partizipiert das Polydrama vordergründig nicht am wissenschaftlichen Biographie-Diskurs. Allerdings, und dies sei abschließend genannt (7), ist bezeichnend, dass das Werk – neben dem durchaus existenten Anspruch auf eine gewisse Form der 1038 Ebda., S. 20. 1039 Raumkonzept: Georg Resetschnig, Ausstattung: Nina Ball. 1040 Zit. nach http://www.alma-mahler.at/text/sobol/sobol_interview01.html (letzter Zugriff: 26. November 2007).
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Authentizität – eine substantielle Veränderung der biographischen Wahrnehmung offen einfordert, damit auch eine Kritik an der bisherigen formuliert und durch sein dramaturgisches Konzept neue Möglichkeiten von biographischer Wahrnehmung zur Diskussion stellt. Drei weitere, knapper gefasste Beispiele können die Vielfalt möglicher offener Modelle abschließend illustrieren. Ein der Intention des Polydramas vergleichbares Anliegen ist dem Film Der Wadenmesser. Das wilde Leben des Wolfgang Mozart (2006) von Kurt Palm inhärent, ein Film, der ebenfalls eine für Filmbiographien ungewohnte Form wählt. Anstatt chronologisch oder in Rückblenden durch Mozarts Leben zu führen, wählte Palm ein für ein Lebenslaufmodell denkbar ungewöhnliches Formprinzip: In alphabetischer Reihung werden 26 Themen in Kapiteln (und zusätzlich 13 »Extras«) vorgestellt, die mit dem Leben und Nachleben Mozarts in Verbindung gebracht werden können: Biographische Kleinstaspekte (etwa die kulinarische Vorliebe für den Kapaun) und philologische Detailprobleme (etwa »A wie Amadeus? Amadeus?« über die Frage der Schreibweise des Vornamens) stehen neben populären Mozart-Bildern (»S wie Spieler, Der«). Mit derber Ironie karikiert Palm auf diese Weise Klischees der Mozart-Rezeption, nicht um Mozart biographisch näher zu kommen, sondern dem Publikum die eigenen Mozart-Bilder vorzuführen.1041 Mozart selbst begleitet den alphabetischen Gang durch das Panoptikum von Mozart-Aneignungen in Gestalt einer marionettenhaften Pappfigur. Der Wadenmesser ist keine filmische Mozart-Biographie, sondern ein Film über biographische (Zerr)Bilder. Die Biographie als Genre wird ironisiert, die Überfülle und Redundanzen der Mozart-Bilder vorgeführt und eine neue Form der Wahrnehmung eingefordert. Somit wird auch hier – anhand einer künstlerischen Auseinandersetzung – Kritik an der biographisch-historischen Methodik formuliert. Eine Dezentrierung des Sujekts hat nach anderen Formen der Narrativierung zu suchen, die »einsträngige Erzählung des Lebens«1042 zu verlassen: Nicht mehr die genau umgrenzte Sehweise (eines oftmals unerkennbaren Biographen) auf das biographierte Objekt steht dabei im Vordergrund, sondern das Bewusstmachen, dass dieses Objekt durch biographische Erschließung nicht »als Ganzes« erkennbar werden kann, allenfalls in einem Kaleidoskop von Details. Die Mozart-Ausstellung Experiment Aufklärung (Albertina Wien, 2006) machte dieses Konzept zu ihrem visuellen Motto, das die Besucherinnen und Besucher am Eingang empfing: Eine Wand mit den unterschiedlichsten Mozart-Porträts – von zeitgenössischen Kupferstichen bis zu Keith 1041 Vgl. dazu Unseld 2007a. 1042 Geck 2005, S. [10].
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Harings Mozart – leuchtet den Eintretenden entgegen, wobei für jedes Bild, gleich ob authentisch, künstlerisch oder auch karikaturistisch, das gleiche Format und damit die gleiche Gewichtung vorgesehen war. Dieses »Mosaik« aus Mozart-Bildern warf den Betrachtenden die Frage nach dem eigenen Mozart-Bild zu und lud gleichzeitig dazu ein, sich dem Experiment auszuliefern, Mozart nicht als eine Figur, sondern ein Kaleidoskop an höchst unterschiedlichen Vorstellungen zu sehen. »Von Beginn an« seien, so Claus Philipp in einer Kritik zur Ausstellung, »mehrere Rollen und Parallelwelten« vorgesehen. »Immer wieder wird sich ein neues Ich zuerst seiner Körperlichkeit(en) bewusst, um dann geeignete Maskeraden und Gesellschaftsspiele zu suchen und zu (er) finden«, sich dabei aufspaltend in »unzählige[n] Gleichzeitigkeiten«.1043 Diesen Seh- und Erfahrungsprozess unterstützend, war die Ausstellung nicht entlang eines »roten Fadens« – etwa durch einen vorgegebenen, zielgerichteten Gang – angelegt, sondern überließ bewusst den Besucherinnen und Besuchern das Suchen eines eigenen Weges, so dass ein individuelles Durchwandern der Ausstellung dazu aufforderte, einen eigenen »roten Faden« zu finden und damit eigenen Erfahrungswegen nachzugehen.1044 Besonders augenfällig wird die Fragmentarisierung des biographierten Objekts auch in Todd Haynes’ Film I’m Not There,1045 einem Biopic über Bob Dylan (vgl. Tafel 19). Der Film beginnt mit einem Zitat des Porträtierten, das mottoartig voranstellt, dass das Erkennen einer authentischen, widerspruchslosen biographischen Person mit Namen Bob Dylan nicht intendiert ist: »All I can do is be me. Whoever that is.«1046 Bereits im Trailer werden weitere wesentliche Akzente gesetzt, die auf die Zerschlagung filmisch-biographischer Grundsätze und die Zersplitterung des biographierten Objekts verweisen. Mit wechselnden Attributen werden die »Quellen« der Biographie benannt, wobei kein Unterschied zwischen »wahr« und »falsch«, »real« und »erfunden« gemacht wird (»Inspired by true – false – authentic – exaggerated – real – imagined stories«). Ebenso gleichrangig werden auch die höchst heterogenen biographischen Bilder benannt, die für Bob Dylan vorgesehen sind (»greatest artist – agitator – poet – fighter – genius – radical«).1047 Im Biopic 1043 Philipp 2006. 1044 Vgl. hierzu das Konzept von Werner Hanak-Lettner, eine Ausstellung als theatralen Ort zu verstehen: »Im Ausstellungsraum kommt es zu einer Konfrontation zwischen dem Besucher, der sich sowohl als Zuschauer als auch als Akteur auf einer Bühne (dem inszenierten Ausstellungsraum) bewegt, und den dort ausgestellten Dingen.« Hanak-Lettner 2011, S. 105. 1045 USA 2007, Regie: Todd Haynes, Drehbuch: Todd Haynes und Oren Moverman. Dank für diesen Hinweis an Amy Stebbins. 1046 Aus dem Trailer zu I’m Not There. 1047 Ebda.
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selbst wird die Person Bob Dylan anhand von sechs verschiedenen biographischen Erzählsträngen vorgestellt, die montageartig an- oder ineinandergefügt sind. Eine Kohärenz dieser Erzählstränge ist nicht nur nicht beabsichtigt, sondern mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu verhindern gesucht. In diesem Sinne konsequent ist die Besetzungliste: Die Figur Bob Dylan wird gespielt von Christian Bale, Heath Ledger, Richard Gere, Cate Blanchett, Ben Wishaw und Marcus Carl Franklin: »Are all Bob Dylan. He is everyone. He is no one.«1048 Ähnlich wie in der Vielfalt der Mozart-Bilder zu Beginn der Ausstellung Experiment Aufklärung, ähnlich auch wie die Aufteilung der Alma-Figur auf vier Schauspielerinnen in Sobols Polydrama wird mit dieser Besetzung durch fünf Schauspieler und eine Schauspielerin die Zersplitterung eines kohärenten biographischen Bildes vorangetrieben. Indem Haynes, der für die Regie und das Drehbuch verantwortlich zeichnet, sogar die Grenzen von Geschlecht und Rasse überschreitet, wird die Identifikation eines einzelnen Darstellers mit der darzustellenden realen Person vollständig verunmöglicht. Die New York Times kommentierte: »Mr. Haynes’s film hurls a Molotov cocktail through the facade of the Hollywood biopic factory”1049 – wobei die gewalttätige Metapher kaum unbeabsichtigt gewesen sein dürfte. Mit der Ausstellung Experiment Aufklärung, den Filmen Der Wadenmesser und I’m Not There sowie dem Theaterstück Alma sind Beispiele biographischer Arbeiten benannt, die die Zersplitterung des Ichs als möglichen methodischen Zugang zu biographischer Darstellung erproben. Allen ist gemeinsam, dass sie ihr jeweiliges Publikum gleich zu Beginn und explizit auf die gewählte Methodik der Dezentrierung des Subjekts aufmerksam machen und damit nicht nur ihre biographische Konzeption offenlegen, sondern ihr Publikum zugleich explizit dazu auffordern, sich mit dem Konzept aktiv auseinanderzusetzen, sich den entstehenden Paradoxien nicht nur auszusetzen, sondern mit ihnen umzugehen.1050 Dazu nochmals Claus Philipp anlässlich der Wiener Mozart-Ausstellung: »Je länger wir Mozart durchwandern, desto ferner blickt Mozart zurück: Die Freiheiten, die sich daraus ergeben, haben wenig mit Beliebigkeit zu tun – dazu wurde hier zu gründlich gearbeitet – als vielmehr mit einem erweiterten Horizont, einer rettenden und, ja: verführerischen Distanz.«1051 Dieses offen-polyperspektive Modell lässt parallele biographische Bilder zu. Und dies kann nicht nur künstlerisch-performativ gelingen – wie im Po1048 1049 1050 1051
Ebda. Scott 2007, S. E1. Dazu auch Fetz 2009, S. 50f. Philipp 2006.
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lydrama Alma oder im Film I’m Not There, in denen die jeweilige Hauptfigur tatsächlich auf verschiedene Personen verteilt wird –, nicht nur ausstellungsästhetisch – in der Ausstellung Experiment Aufklärung, die darin ihr Motto fand –, sondern auch in Geschriebenem, literarisch wie wissenschaftlich. Im Vorwort seiner Mozart-Biographie von 2005 schreibt Martin Geck: »Es geht nicht um eine einsträngige Erzählung des Lebens oder um eine verbissene Analyse des Werks, sondern um das Aufschließen von Räumen, in denen man über Mozarts Leben nachdenken und auf seine Musik neugierig werden kann«.1052 Geck verwendet für den Prozess der biographischen Annäherung interessanterweise jene dem Raumkonzept von Alma verwandten Metaphern. Er argumentiert dabei gegen das »Einsträngige«, setzt sich von einer holistischen Biographik ab. Gecks Plädoyer für eine polyperspektive Biographik mündet in einem Wahrheitsbegriff, der sich deutlich von dem der traditionellen Biographik abhebt: Es gehe, so Geck, nicht um »bleibende ›Wahrheiten‹«, sondern um ein Maskenspiel, das »so wahr [ist], wie es der Mensch in einer jeden seiner Facetten ist.«1053
1052 Geck 2005, S. [10]. 1053 Ebda., S. 125, Hervorhebung im Original.
1. Musikwissenschaft: Anfänge mit und ohne Biographik
Die Entwicklung des Fachs Musikwissenschaft im 19. Jahrhundert hängt eng mit der Entwicklung der Biographie zusammen. Musikgelehrte des 18. Jahrhunderts wie Mattheson, Marpurg, Forkel oder Burney hatten biographisches Schreiben in ihr Tun selbstverständlich integriert, eine Trennung zwischen musiktheoretischem, -ästhetischen, -biographischen und -historischen Schreiben (und seit Ende des 18. Jahrhunderts auch der Notenedition) hätte nicht dem aufgeklärten Ideal einer umfassenden Wissenschaft entsprochen. Im Zuge der Historisierung der Musikkultur rückte dann aber gerade die monographische Musikerbiographik immer stärker in den Vordergrund, befördert durch heroengeschichtliche Konzepte, durch die Überzeugung, dass musikalisches Werk und Charakter seines Urhebers korrespondiere, die Überzeugung außerdem, dass einer Werkedition eine Biographie beizugeben sei, und nicht zuletzt befördert durch den Fortschrittsgedanken, der den gegenwärtigen Zustand der Musik als eine historisch zu beschreibende Entwicklung einzelner Schöpfer-Komponisten das Nachdenken über Musikhistoriographie einforderte. Hinzu kamen die Interessen des sich ökonomisierenden Musikmarktes, die eine Entwicklung konziser, vermittelbarer Musiker-Bilder zusätzlich notwendig erscheinen ließen. Fast zeitgleich zu diesem Aufschwung der monographischen Musikerbiographik entstand das Fach Musikwissenschaft und etablierte sich im universitären Fächerkanon:1054 Eduard Hanslick wurde 1856 Privatdozent für Geschichte der Musik und Ästhetik in Wien, 1861 wurde er außerordentlicher, 1870 planmäßiger Professor. Sein Nachfolger in Wien wurde 1898 Guido Adler. 1869 und 1875 folgten die Privatdozenturen für Musikwissenschaft für August Wilhelm Ambros in Prag und Gustav Jacobsthal in Straßburg (hier ab 1897 als Ordinarius), ebenfalls 1875 wurde für Philipp Spitta eine Professur für Musikgeschichte in Berlin eingerichtet. Erst 1901 wurde auch Hugo Riemann zunächst als außerordentlicher, ab 1905 planmäßiger Professor in Leipzig berufen. Romain Rolland wurde 1904 Dozent für Musikgeschichte an der Pariser Sorbonne. Es ist daher kein Zufall, dass viele Akteure, die als Biographen tätig waren oder sich aktiv mit der Frage der Integration von Biographik in die Musikwissenschaft auseinandersetzten, auch für die Gründungsgeschichte der Musikwissenschaft wichtig wurden.
1054 Vgl. dazu Cadenbach/Jaschinski/von Loesch 1997, Sp. 1801ff.
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Musikwissenschaft und Biographie
Ausgangspunkt um die Jahrhundertmitte war die Mozart-Biographie von Otto Jahn, die 1856 zum Mozart-Gedenkjahr erschien, und mit ihr die Frage nach der Konzeption von Biographik und deren Integration in ein Fach, das einerseits seinen Gegenstand über den Werkbegriff zu definieren beabsichtigte, andererseits eine Musikgeschichtsschreibung zu etablieren trachtete und in diesem Dreiklang von Leben (Biographie), Werk (Edition) und Musikgeschichte sein Legitimation und methodische Grundlegung sah. So warb August Wilhelm Ambros 1860 in den Culturhistorischen Bildern aus dem Musikleben der Gegenwart für eine neue Biographik und entwickelte dabei die Vorstellung einer wechselseitigen Befruchtung von philologisch werkbetrachtendem und biographischen Arbeiten, dabei gegen eine rein werkbetrachtende Musikgeschichtsschreibung argumentierend: Die Einwendung, das Kunstwerk solle und müsse etwas selbstständiges, von den zufälligen Lebensschicksalen des Künstlers ganz unabhängig zu Betrachtendes sein, […] ist insofern richtig, daß ein Werk, das nur mit Rücksicht auf die Erlebnisse des Künstlers Bedeutung oder Verständlichkeit besitzt, nicht den Rang eines allgemein und unter allen Umständen bedeutenden Kunstwerks ansprechen kann. Sieht man aber recht zu, so wird man bemerken, daß selbst das allgemeinst verständliche, anscheinend auf reinster Schönheit beruhende Kunstwerk den Erdbeigeschmack seiner Entstehung nach Zeit, Ort, Religionsbekenntniß, Staatsverfassung, Klima u. s. w. nicht ganz los wird.1055
Ambros sah das Ideal einer solchen Biographik in Otto Jahns Mozart umgesetzt und verglich diese mit derjenigen Ulybyschews, die aufgrund ihrer allzu literarischen Schreibart, des »französisch-spirituellen Feuilletonstyles und [ihrer] anmuthig leichte[n] Darstellung« »gar kein Bild« von Mozart vermittele.1056 Wie anders bei Jahn! Hier steht der biedere Ehrenmann Leopold Mozart vor uns, der das Genie seines Sohnes in seiner ganzen Bedeutung erkennt, und nun die Ausbildung dieser Anlagen zu seiner Lebensaufgabe macht, an die er Alles setzt – Ruhe, Behaglichkeit, Wohlstand.1057 Hier lernen wir den unvergleichlichen Meister selbst nicht mehr wie ein mythisches Wunder, wie ein vom Himmel herabgefallener Meteor ansehen, sondern begleiten den Knaben, den Jüngling, den Mann Wolfgang Mozart Schritt für Schritt – wir sehen die Wunderpflanze keimen, wachsen, blühen, Früchte tragen. Wir erleben (wie sich ein Beurtheiler des Jahn’schen 1055 Ambros 1860, S. 8. 1056 Ebda., S. 9. 1057 [Originalfußnote:] »Ulybyschew versteht ihn eben nur als einen Spießbürger, der das Glück hatte Wolfgangs Vater zu sein – vermuthlich weil er nicht auch einen Don Giovanni schrieb. Aber Wolfgang hätte ohne Leopold den Don Giovanni auch nicht geschrieben …!«
Anfänge mit und ohne Biographik
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Werkes sehr schön ausdrückt) gleichsam die Entstehung der einzelnen Compositionen mit ihrem Schöpfer selbst und wie in unserem eigenen Innern. Legen wir das Buch gelesen bei Seite, so ist es uns, als seien wir seit Jahren mit Mozart als innig vertraute Freunde umgegangen. Hören wir nur etwas von seiner Musik, wie erstaunlich lebendig und wie unmittelbar spricht sie uns an – wie so ganz anders als früher, wo wir doch auch schon meinten sie über alles zu schätzen!1058
Deutlich wird darüber hinaus, dass Ambros in Jahns Mozart-Biographie nicht nur das Ideal biographischen, sondern auch musikhistorischen Schreibens ausmachte. Die Integration von Biographik in Musikgeschichtsschreibung stand für ihn außer Frage. Diese Grundlegung prägte Biographen wie Chrysander und Spitta, die ihrerseits an der Entwicklung des Faches mitarbeiteten.
Biographik als Bestandteil von Musikwissenschaft: Friedrich Chrysander und Philipp Spitta Friedrich Chrysander gründete 1856 zusammen mit dem Historiker Georg Gottfried Gervinus die Deutsche Händel-Gesellschaft, aus deren Aktivität bereits 1858 der erste Band der Händel-Ausgabe hervorging. Im selben Jahr erschien der erste Band von Chrysanders Händel-Biographie, deren Vorwort als ausführliche Widmung an Gervinus angelegt ist. 1860 erschien der zweite, 1867 der dritte (unvollendete) Band der Biographie. Chrysander vertrat ein mit Ambros vergleichbares Bild von Biographie und Musikgeschichte, sah zudem aber die Werkausgabe als dritten Bestandteil einer Gesamtschau auf das »Phänomen Händel« an, so dass sich sein musikhistorisches Bild auf die drei Komponenten Biographie, Werkedition und Musikgeschichtsschreibung stützt. Dass ab 1863 das von ihm mitherausgegebene Jahrbuch für musikalische Wissenschaft erschien, fasst diesen Dreiklang auch methodisch reflektierend, das Wissenschaftsverständnis explizierend zusammen. Bereits im Vorwort seiner Händel-Biographie skizziert Chrysander diese Dreigliederung, die offenbar im engen Austausch mit Gervinus entstanden war (»Wie weit mein Händelbild dem Ihrigen entspricht, wird nun darauf an kommen. Aber der äußere Umriß, die Abgränzung des Stoffes dürfte so ziemlich Ihre Billigung haben«1059). Neben der Händel-Gesamtausgabe sitze er an einer (auf Händel fokussierten) Musikgeschichte und arbeite daneben an der
1058 Ambros 1860, S. 8f. 1059 Chrysander 1858, S. [V].
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Musikwissenschaft und Biographie
»enger gefaßte[n] Biographie«.1060 Wie eng dabei Chrysanders Händel-Biographie parallel zur Händel-Gesamtausgabe gedacht war, zeigt sich nicht zuletzt darin, dass Gervinus, Mitherausgeber der Gesamtausgabe, zwischenzeitlich die Vollendung der Biographie anmahnte, da Chrysander »das Werk – auch das der [Gesamt-]Ausgabe – durch nichts so fördern [könne] als durch eine Beendigung Ihres Händelbuches in Einem [sic] großen Zuge«.1061 Mit diesem Modell, das bezeichnenderweise durch Gervinus, den Historiker und Biograph heroisch-bürgerlicher Grundüberzeugung,1062 mitgetragen (wenn nicht sogar entworfen) wurde, stehen sich biographische und musikphilologische Arbeit gleichberechtigt gegenüber. Die Hauptgefahr einer Monographie sah Chrysander in der Heroisierung des Künstlers: »Größere monographische Arbeiten dürften auch schwerlich einen ihrem Umfange entsprechenden Nutzen haben, da sie so leicht verleiten die Geschichte für den Helden zuzuspitzen.«1063 Und hierin mag auch ein wesentlicher Grund für den Dissens liegen, den Chrysander und Gervinus kurze Zeit später austrugen: Mit der 1868 erschienenen Schrift Händel und Shakespeare. Zu Ästhetik der Tonkunst wandte sich Gervinus deutlich einer (zuvor schon theoretisch explizierten) heroischen Biographie- und Geschichtsauffassung zu, die Chrysanders Ansatz diametral entgegenstand.1064 1863 erschien der erste Band des von Chrysander verantworteten Jahrbuchs für musikalische Wissenschaft, in dessen Vorwort der Herausgeber die Biographik selbstverständlich in den Tätigkeitsbereich des Wissenschaftlers integriert und über ihre Beschaffenheit reflektiert, die seine Erfahrung als Herausgeber Händelscher Werke zu erkennen gibt. Zugleich stellt Chrysander klar, dass die Biographik die Frage der Kanonisierung mitzubeeinflussen habe, eine für die Musikwissenschaft in ihrer Gründungsphase dringliche Aufgabe: In den Biographien älterer Tonmeister werden wir hinsichtlich der beizugebenden Musik verschieden verfahren müssen. Bei einem so bedeutenden und unter uns so gänzlich unbekannten Liedercomponisten und Volkssänger wie Henry Carey würde man es mir schwerlich Dank wissen, wenn ich unterlassen hätte, der Erzählung seines Lebens den Kern seiner Lieder einzuweben; hier ist die Musik beredter 1060 Ebda. Dass Chrysander in seiner Händel-Biographie zuweilen aber die Grenze der von ihm sogenannten monographischen Musikgeschichte überschritt, seine Biographie doch in den Bereich einer »größeren monographischen Arbeit« übergeht, wurde von Rezensenten durchaus kritisch bemerkt. Heinrich Ehrlich etwa lobte zwar den »gründlichsten Fleiße und emsigste[s] Studium« der Quellen, kritisiert aber die »psychologische und culturhistorische Darlegung« (zit. nach Schardig 1986, S. 138f.). 1061 Brief von Gervinus an Chrysander, zit. nach Schardig 1986, S. 63. 1062 Vgl. Scheuer 1979a, S. 56ff. 1063 Chrysander 1858, S. [V]. 1064 Vgl. dazu Garrat 2012.
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und fast kürzer als das beschreibende Wort. Beschäftigen wir uns dagegen mit dem Leben solcher Musiker, deren Bedeutung in umfassenderen Compositionen liegt, wie bei Al. Scarlatti, Purcell, Lully, Marenzio, Schütz, Monteverde [sic] und vielen anderen der Fall ist, so werden sich ausser einzelnen, selten vollständige Sätze enthaltenden Stellen nur ganz ausnahmsweise und nur dann einige grössere Stücke beilegen lassen, wenn keine Aussicht vorhanden ist, bald eine vollständigere Sammlung des betreffenden Meisters zum Druck bringen zu können. Sonst soll das stete Augenmerk und ein Hauptzweck der veröffentlichten Lebensbeschreibungen halb oder ganz vergessener Tonkünstler sein, Verlangen nach ihren Werken zu erregen und dadurch Ausgaben derselben zu ermöglichen; auf solche Weise würden Wort und Ton vereinigt Kunstbildung und geschichtliche Erkenntniss fördern.1065
Während Chrysander ohne institutionelle Rückbindung (und dabei auch unter erheblichen finanziellen Schwierigkeiten) arbeitete, ebnete die biographische Arbeit Philipp Spitta den Weg zur ersten Berliner Professur für Musikgeschichte: Als Pädagoge und Philologe ausgebildet, veröffentlichte er 1873 den ersten Band seiner Bach-Biographie, woraufhin ihm zwei Jahre später – vor allem auf Betreiben Joseph Joachims1066 – die genannte Professur in Berlin übertragen wurde: Dieser Herr, seines Zeichens Gymnasiallehrer, lebte noch im Jahre 1874 still und harmlos in Sondershausen und ist heute »Professor der Musikgeschichte und Musikwissenschaft an der Universität in Berlin, Lehrer der Musikgeschichte an der Hochschule und zweiter ständiger Secretär an der Academie der Künste«. […] Kein Schriftsteller der Welt dürfte einen solchen Erfolg aufzuweisen haben. Mit der ersten Hälfte einer Biographie drei neugeschaffene, äusserlich ehrenvolle, und wie ich höre, auch einträgliche Stellen zu gewinnen, das ist gewiss noch niemals dagewesen.1067
Auch wenn diese Polemik von persönlichem Neid und Missgunst getragen sein mag, zeigt sie doch deutlich, wie außergewöhnlich Spittas, durch den ersten Teil seiner Bach-Biographie ausgelösten Karrieresprung war, und zugleich auch die außergewöhnliche Wirkungsmacht seiner biographischen Arbeit, die dazu führte, ihn in die obersten Wissenschaftskreise Berlins einzureihen. 1880 publizierte Spitta den zweiten Band seiner Bach-Biographie. Spitta wandte sich zunächst gegen Ambros’ Anspruch, die Biographie habe der Einfühlung zu dienen (»als seien wir seit Jahren mit Mozart als innig vertraute Freunde umgegangen«), sah wie Ambros aber in Jahn ein »biogra1065 Chrysander 1863, S. 16. 1066 Schilling 1994, bes. S. 81–98. 1067 Aus einer 1876 erschienenen Schrift von August Reißmann (Die Königliche Hochschule für Musik in Berlin), zit. nach Sandberger 1997, S. 35, dort auch Kommentierung; vgl. auch Schilling 1994, S. 84f.
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phisches Talent ersten Ranges«,1068 wenngleich dessen Mozart-Biographie gerade keine musikhistorische Arbeit im engeren Sinne sei. Denn entgegen der Vorstellung, dass eine Aneinanderreihung von Biographien über historisch relevante Personen eine Geschichtsschreibung ergebe, grenzte Spitta seine Vorstellung von Biographie und Historiographie klar gegeneinander ab: »Die Sache liegt keineswegs so, daß eine Persönlichkeit in der Gestalt, wie sie vom Biographen gezeichnet wurde, einfach in eine historische Kette eingegliedert werden könnte. Sie nimmt sich in ihrer Isolirtheit anders aus«.1069 Obgleich selbst promovierter Philologe, wirft Spitta Jahn vor, in seiner Mozart-Biographie rein philologisch gearbeitet zu haben, die Arbeit des Philologen aber – »mit einer Neigung zum sorglichen Zusammentragen, zum Anhäufen des Stoffes, zum Sammeln auch von nebensächlichen Kleinigkeiten«1070 – sei nur eine Vorarbeit für den von Spitta sogenannten »eigentlichen Geschichtsmeister«. Der Historiker aber, der »eigentliche Geschichtsmeister«, arbeite auf eine Synthese hin, die zwar die Philologie als einen ihrer Ausgangspunkte habe, erst aber in übergreifenden Fragestellungen zu ihrem wahren Ziel, der anspruchsvollen Historiographie, gelange. »An die Stelle einer Aneinanderreihung philologischer Einzelforschungen sollte«, so fasst Sandberger Spittas Biographie-Verständnis zusammen, »auch in der Biographik eine spezifisch musikwissenschaftlich orientierte Darstellung treten, der es ›um die innere Geschichte der Kunst zu tun ist‹. Die primär chronologische Anordnung in der traditionellen Künstlerbiographie sollte also durch übergreifende, vergleichende gattungs- und stilgeschichtliche Untersuchungen erweitert werden.«1071 Aus diesem Grund – Synthetisierung statt Aneinanderreihung – steht Spitta letztlich auch der musikhistorischen Betrachtung der Gegenwart skeptisch gegenüber: Werden und Wirkung von Geschehnissen oder Persönlichkeiten kann man nicht darstellen, wenn man im Strome mitschwimmt. Wer seit länger als dreißig Jahren jedem Schritt, den Brahms als Componist gemacht hat, mit lebhafter innerer Theilnahme gefolgt ist, kann über diese Schritte im Einzelnen genau unterrichtet sein. Er wird sich nicht anmaßen dürfen, über den ganzen Mann etwas geschichtlich Aufklärendes sagen zu wollen.1072
Spittas Überzeugung, über zeitgenössische Komponisten biographisch-historisch nicht adäquat schreiben zu können, kann zugleich als Konzept einer histo1068 1069 1070 1071 1072
Vgl. Sandberger 1997, S. 46. Spitta 1892 [»Joseph Haydn in der Darstellung C. F. Pohl’s«], S. 156. Ebda., S. 157. Sandberger 1997, S. 47. Spitta 1892 [»Johannes Brahms«], S. 387.
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rischen Musikwissenschaft gelesen werden, deren Aufgabe es sei, das Verstehen der Musik der Vergangenheit zu ermöglichen. In diesem Sinn formuliert Spitta in seiner Schrift Kunstwissenschaft und Kunst die Aufgabe des Musikwissenschaftlers: Kein Kunstwerk wirkt voraussetzungslos. Immer ist es auf den Hintergrund bezogen, welchen mit ihren Sitten, Anschauungen und Stimmungen diejenige Zeit bildet, in der es entstanden ist. Im Laufe der Jahrhunderte verschiebt sich allmählich dieser Hintergrund, oder sinkt auch ganz zusammen. Die Kunstwerke erscheinen alsdann in schiefen Verhältnissen, oder stehen gar einsam und fremd im öden Raum. Diese ihre nothwendige Zubehör ihnen zurückzugeben, dazu muß zunächst der Gelehrte die Hand anlegen.1073
Die Synthetisierung des musikhistorischen Wissens im Sinne Spittas – also die Tätigkeit der Musikwissenschaft – wird so zur Voraussetzung, die aktuelle Musikkultur adäquat rezipieren zu können. Die Musik der Vergangenheit werde »ewig unverstanden bleiben, wenn die Wissenschaft nicht ihre Werkzeuge in Bewegung setzt, die alte Zeit aus dem Dunkel wieder ins Licht aufsteigen zu lassen und die Verbindungsfäden bloß zu legen, welche von dem einzelnen Kunstwerke zum Bilde des Weltganzen hinüberführen«.1074 1885 erschien erstmals die Vierteljahrsschrift für Musikwissenschaft, die auf Betreiben von Chrysander gegründet und von Spitta als Möglichkeit erkannt wurde, der »ganze[n] Gelehrten-Generation, die sich hier um mich zu bilden anfängt«,1075 eine wissenschaftliche Plattform zu bieten. Tatsächlich festigte die von Chrysander und Spitta herausgegebene und von Adler redigierte Vierteljahrsschrift das Selbstverständnis des inzwischen auch in Wien, Prag und Straßburg an den Universitäten gelehrten Faches, so dass es einer wissenschaftlichen Initiation glich, als Adler im ersten Heft der Vierteljahrsschrift an erster Stelle seinen Text »Umfang, Methode und Ziel der Musikwissenschaft« publizierte. Mit diesem Text allerdings – darauf wird später genauer einzugehen sein – wendet sich Adler dezidiert von Chrysanders dreigliedrigem Modell musikwissenschaftlichen Arbeitens ab1076 und formt ein duales Wis1073 Spitta 1892 [»Kunstwissenschaft und Kunst«], S. 11. 1074 Ebda., S. 12. 1075 Spitta in einem Brief an Heinrich von Herzogenberg, zit. nach Schilling 1994, S. 129. Dort auch zum Gründungsprozess der Vierteljahrsschrift, der sich noch bis 1874 hinzieht. 1076 Chrysander und Spitta, die kollegial-freundschaftlichen Kontakt pflegten, zeigten sich übrigens über den Text Adlers nicht uneingeschränkt zufrieden: Dies wird aus dem Briefwechsel Herzogenberg-Spitta deutlich: Nachdem Herzogenberg Adlers Text als »etwas beängstigenden Aufsatz« bezeichnet hatte, schrieb Spitta: »Du hast Recht, der Artikel Adlers könnte besser sein. Der Grundgedanke ist gut, aber die Ausführung
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senschaftsmodell, das auf der Trennung von historischer und systematischer Musikwissenschaft aufbaut und in dem die Biographie (von Adler nun als »Biographistik« bezeichnet) nur noch ein Schattendasein führt. Adler selbst hat sich später mehrfach kritisch mit dem Problem der »Biographistik« auseinandergesetzt.1077 Dass bei der Abwertung der Biographik durch Adler auch persönliche Gründe eine Rolle spielten, ist nicht von der Hand zu weisen: Vor allem zu Spitta unterhielt er ein zunehmend schwieriges, von offener Konkurrenz geprägtes Arbeitsverhältnis.1078 Die durch Adler vorgenommene Degradierung der Biographie innerhalb der musikwissenschaftlichen Methodik hielt den 1898 nach Wien berufenen, dort für die Gründung des Musikwissenschaftlichen Instituts verantwortlichen Adler darüber hinaus aber nicht davon ab, selbst biographisch zu arbeiten sowie auch eine Autobiographie zu publizieren. Erkennbar wird anhand dieser personellen und institutionellen Spuren, dass das Verhältnis von Musikwissenschaft und Biographik in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein offenbar nahes, wenn auch immer wieder diskussionsbedürftiges war, denn an ihm wurde nicht zuletzt der wissenschaftliche Anspruch der Musikwissenschaft selbst verhandelt: Während Hermann Abert meinte, dass um 1850 das »klassische Zeitalter der Musikerbiographie« begonnen und sie »geraume Zeit die vornehmste und erfolgreichste Gattung musikgeschichtlicher Forschung überhaupt«1079 dargestellt habe, ist im Verlauf der zweiten Jahrhunderthälfte doch deutlich eine Ablösung der Musikwissenschaft von der Biographik zu beobachten, so dass seit Adler gar in Frage stand, ob die Biographie überhaupt Teil musikwissenschaftlicher Forschung darstelle. Man könnte hier sogar von der »Gretchen-Frage« der frühen Musikwissenschaft sprechen, denn am »Wie hältst Du’s mit der Biographie?« lassen sich die Musikwissenschaftler der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts schwerfällig. Es war auch weder Chrysanders noch meine Absicht, daß er das Unternehmen [die erste Ausgabe der Zeitschrift] eröffnen sollte. Dies geschah nur durch seine Vordringlichkeit, die wir schließlich duldeten.« Der Briefwechsel wird hier zit. nach Schilling 1994, S. 141. Ob sich die Kritik von Herzogenberg, Spitta und (indirekt) Chrysander auch an der Position der Biographie festmachte, ist dem Briefwechsel nicht zu entnehmen. Interessant ist aber auch die Darstellung Adlers zu diesem Thema, der Spitta mit den Worten zitiert: »Ihre Abhandlung gibt ein vollständiges wohldurchdachtes Programm der von der Musikwissenschaft zu lösenden Aufgaben und gibt solches meines Wissens zum ersten Male« (Brief vom 20. März 1885), zit. nach Adler 1935, S. 29f. 1077 Vgl. dazu das folgende Kapitel. 1078 Vgl. etwa die Darstellung der Zusammenarbeit zwischen Spitta, Chrysander und Adler im Zusammenhang mit der Vierteljahrsschrift bei Schilling 1994, S. 136–153, sowie die Darstellung von Adler selbst in Adler 1935, S. 28ff. 1079 Abert [1920] 1929, S. 567.
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auf ihr Verständnis des eigenes Faches hin befragen, da an diesem Punkt die Frage nach dem Forschungsgegenstand der Musikwissenschaft überhaupt zur Diskussion stand.1080 Anders gesagt: Die kritischen Fragen, denen sich die Biographik allgemein gegen Ende des 19. Jahrhunderts angesichts neuer Subjektivitätsdiskurse gegenübergestellt sah, betraf die Musikwissenschaft in besonderem Maße, denn, so Volker Kalisch, »Musikwissenschaft gerierte sich in dem Maße als akzeptierte Geisteswissenschaft, wie sie sich mit einer Konzeption zu verstehen gab, die den Wertvorstellungen der Gesellschaft entsprach«.1081
Biographik als Problem der Musikwissenschaft: Guido Adler und Hugo Riemann Der Aufsatz »Umfang, Methode und Ziel der Musikwissenschaft« von Guido Adler erhebt programmatischen Anspruch: Er ist der erste Text innerhalb der ersten Ausgabe der Vierteljahrsschrift für Musikwissenschaft und erschien im Jahr 1885, jenem Jahr, in dem Adler die Nachfolge Eduard Hanslicks als Professor für Musikwissenschaft an der Universität Prag antrat. Der Aufsatz ist auch insofern programmatisch, als er das Profil für das universitär-junge Fach Musikwissenschaft darstellen sollte. Unter diesen Voraussetzungen ist es besonders aufschlussreich, welche Rolle Adler der Biographie innerhalb des von ihm entworfenen Zuschnitts der Musikwissenschaft zuweist. Ein Blick auf die »tabellarische Übersicht« des »Gesammtgebäude[s]« der Musikwissenschaft«1082 (s. Abb. 9) lässt erkennen, dass Adler die von ihm sogenannte »Biographistik« erst am Ende der »Hilfswissenschaften« erwähnt: nach der »Allgemeinen Geschichte mit Paläographie, Chronologie, Diplomatik, Bibliographie, Bibliotheks- und Archivkunde, Litteraturgeschichte und Sprachenkunde. Geschichte der Liturgien. Geschichte der mimischen Künste und des Tanzes«.1083 Auch im deskriptiven Teil seines Wissenschaftskonzepts nimmt die »Biographistik« eine Randstellung ein: Adler thematisiert sie am Ende des Teils über die Historische Musikwissenschaft. Diese formal randständige Position wird konsequenterweise auch inhaltlich unterstrichen, beginnend mit einer Kritik an der zeitgenössischen Popularität des Genres: 1080 Diese Beobachtung korrespondiert mit der Diskussion, die im Rahmen der internationalen Tagung Gendering Historiography (Hamburg, 7.-9. November 2007, publiziert als Epple/Schaser [Hg.] 2009) geführt wurde: dass das Genre Biographie der »battleground« für die Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts darstelle, auf dem Methoden, Themen und Personen kanonisiert bzw. ausgeschlossen wurden. 1081 Kalisch 2000, S. 85. 1082 Adler 1885, S. 16f. 1083 Ebda., S. 16.
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Abb. 9: Tabellarische Übersicht über die Musikwissenschaft von Guido Adler (1885)
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»Die Biographistik hat sich in letzter Zeit unverhältnissmäßig in den Vordergrund gedrängt, sich sogar als Musikwissenschaft χατ’ εξoχήν geberdet, während sie doch nur ein wenn auch immerhin wichtiges Hilfsgebiet derselben ist.«1084 In dieser Feststellung, die Biographie habe sich als »Musikwissenschaft schlechthin« in den Vordergrund gedrängt, ist die Brisanz der Popularität von Biographik für das Fachverständnis erkennbar, zugleich aber auch ein latenter Widerspruch – die Positionierung der »Biographistik« am Ende der Hilfswissenschaften einerseits und die Klassifizierung als »immerhin wichtiges Hilfsgebiet« andererseits –, der sich in den folgenden Passagen und auch Adlers späteren Schriften noch deutlicher erkennen lassen wird. Adler formuliert im Folgenden zunächst die Anforderungen an eine adäquate Biographie: Hier sollte, wie es einzelne vortreffliche Biographien beobachten, neben den Kunstproducten des Behandelten nur untersucht werden, was mit der künstlerischen Artung in directem oder indirectem Zusammenhange steht: wie die physische Beschaffenheit des Künstlers, seine Erziehung, die Vorbilder, die er studirt und in sich aufgenommen hat, der Einfluß seiner Umgebung auf seine künstlerische Anschauung, die künstlerische Stellung, die er bekleidet, die Momente, die gewaltig in sein Gefühlsleben eingriffen, die Art seiner Productionsthätigkeit, sein Verhalten zu den übrigen Künsten, sowie endlich seine ethischen und culturellen Anschauungen.1085
Adler zufolge beinhaltet eine gute Musikerbiographie demnach die Darstellung von Leben – von der Erziehung bis zur beruflichen Laufbahn – und Werk, darüber hinaus aber auch Hinweise auf das Aussehen des biographierten Musikers sowie auf dessen Charakter. Während erstgenannter Anspruch im Zusammenhang mit der Aufwertung des Werkbegriffs zu sehen ist, greift Adler mit Letzterem auf ein wesentlich älteres Biographie-Konzept zurück, das davon ausgeht, dass – etwa im Sinne Lavaters u. a. – das Aussehen Rückschlüsse auf das Innenleben und den Charakter eines Menschen zulasse. Es liegt nahe, in der zeitgenössischen Biographik nach Beispielen für Adlers Ausführungen zu suchen, zu überlegen, welche Publikationen Adler als »einzelne vortreffliche Biographien« verstand. Der Blick fällt dabei auf jene Musikhistoriker, deren Schriften den Juristen Adler überhaupt auf die Musikgeschichte gelenkt hatte: Ambros, Jahn, Spitta und Chrysander.1086 Mit den drei letztgenannten aber sind zugleich auch wichtige Musiker-Biographen des 1084 Ebda., S. 10. 1085 Ebda., S. 10f. 1086 Von Ficker 1949–1951, Sp. 85, im entsprechenden Artikel der Neuauflage der MGG fehlt dieser Hinweis (vgl. Kalisch 1999).
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19. Jahrhunderts genannt; Jahn als Mozart-, Spitta als Bach- und Chrysander als Händel-Biograph. Inwiefern aber entsprechen deren Biographien tatsächlich den Vorstellungen Adlers? Im Vorwort von Jahns Mozart-Biographie werden Anforderungen an eine Musikerbiographie formuliert, die dem Adlerschen Modell – bis in die Wortwahl hinein – auffallend ähnelt: Meine Aufgabe [beim Schreiben der Biographie] war eine auf gründlicher Durchforschung der Quellen beruhende zuverlässige und vollständige Darstellung des Lebensganges Mozarts, mit sorgfältiger Berücksichtigung Alles dessen, was in den allgemeinen Bedingungen der Zeit, in welcher er lebte, wie in den örtlichen und persönlichen Verhältnissen, unter deren besonderm Einfluß er stand, seine Entwickelung als Mensch und Künstler zu bestimmen geeignet war; sodann eine aus der möglichst umfassenden Kenntnis und Würdigung seiner Compositionen hervorgehende Charakteristik seiner künstlerischen Leistungen, eine Geschichte seiner künstlerischen Ausbildung. […] die Aufgabe selbst war stets eine, wie das Individuum in welchem der Künstler und der Mensch untrennbar vereinigt sind.1087
Die Schwerpunkte sind deutlich: wissenschaftliche Genauigkeit auf der Basis von Quellen, eine vollständige Darstellung des Lebensweges mit dem Fokus auf die Tätigkeiten als Künstler sowie eine ausführliche Würdigung der Werke. Auch Spitta formulierte im Vorwort seiner Bach-Biographie, deren erster Band 1873 erschien, Ansprüche an eine Musikerbiographie. Er grenzt sich hier ab sowohl von der »gedankenlosen Mode«1088 der zeitgenössischen Biographik als auch von jenen Biographien, die ohne »tieferes Kunstverständniß«1089 und ohne »historische Auffassung […] und wissenschaftliche Methode«1090 verfasst worden seien. Dagegen stellt Spitta seine eigenen Anforderungen, das Leben Bachs vorzustellen und zugleich »eine umfassende Darstellung der Kunst Seb. Bachs zu geben«.1091 So deutlich damit Spitta und Jahn den Anforderungen Adlers an eine wissenschaftliche Biographik entsprechen, und obwohl Adler beide Biographen noch in seiner 1919 erschienenen Methode der Musikgeschichte als einzige namentlich genannte Musikhistoriker erwähnt, die
1087 Jahn 1856, Bd. 1, S. XXI. 1088 Spitta 1873, Bd. 1, S. [V]. 1089 Ebda., S. VIII, bezogen auf Johann Karl Schauer: Johann Sebastian Bachs Lebensbild. Eine Denkschrift, Jena 1850. 1090 Spitta 1873, Bd. 1, S. IX, bezogen auf C. L. Hilgenfeldt: Johann Sebastian Bachs Leben, Wirken und Werke. Ein Beitrag zur Kunstgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts, Leipzig 1850. 1091 Spitta 1873, Bd. 1, S. XIII.
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»Erkleckliches« für die Musikwissenschaft »geleistet«1092 hätten, bleibt Adler bei der generellen Deklassierung der Biographik. Zwischen der theoretischen Positionierung der Gattung Biographie innerhalb der Musikwissenschaft einerseits und der Akzeptanz der konkreten Arbeiten von einzelnen Biographen andererseits bleibt bei Adler ein Widerspruch erkennbar. Dies lohnt einen genaueren Blick in die Methode der Musikgeschichte Adlers. Auch hier, wie im 1885 veröffentlichten Methoden-Aufsatz, wird die Biographik randständig, am Ende des Kapitels »Hilfsgebiete und Hilfswissenschaften« erwähnt: »Diesem Abschnitte […] seien einige Bemerkungen über die Biographistik hinzugefügt.«1093 Die Biographie taucht als spürbar ungeliebter, dennoch aber nicht unerwähnt bleibender Appendix der Musikwissenschaft auf. Wichtigstes Argument Adlers ist die Abgrenzung der Wissenschaft gegen das Populare, das der Biographie inhärent sei: Für das große Publikum, für die weiteren Laienkreise, die nicht kunstwissenschaftlich gebildet sind, ist die Lebensbeschreibung von besonderer Anziehung und so ist es begreiflich, daß biographische Werke, die dies [= den Lebensgang] in den Vordergrund stellen, die größere Marktgängigkeit aufweisen. Die Lebensschicksale, die persönlichen Verhältnisse, Geselligkeit und Umgang drängen sich da in den Vordergrund und dies erstreckt sich bis auf die Waschzettel eines Goethe und die Putzmacherinbestellungen eines Wagner. So erklärt sich auch die weite Verbreitung der Künstlerromane und Novellen […]. Die größere Zahl dieser literarischen Erzeugnisse ist auf Tendenz und Sensation gerichtet, steht somit der Arbeit des Forschers antipodisch gegenüber.1094
Die (hier nur in Ausschnitten dokumentierte) Ausführlichkeit, mit der Adler die populäre, un-wissenschaftliche Biographik beschreibt, scheint notwendig, um den Kontrast zur asketisch-knappen »Arbeit des Forschers« besonders deutlich werden zu lassen.1095 Dass er dennoch die Arbeiten von Jahn und Spitta als Teil musikhistorischer Forschung gelten lässt, ja sie sogar als bedeutende Werke der Musikwissenschaft rühmt, begründet er durch ihren Eigenwert als »Kunstwerk«, womit es Adler gelingt, die Bedeutsamkeit des schriftlich fixierten Werkes – analog zum musikalischen Werk-Begriff – hervorzuheben: »Auch die Biographie im eigentlich kunstwissenschaftlichen Sinne soll der literarischen Behandlung nicht entraten: in ihrer Darstellung kann sie sich bis zum Kunstwerk erheben, in der fachgemäßen Quellenfor1092 Adler 1919, S. 4. 1093 Ebda., S. 107. Vgl. auch die Aufstellung ebda., S. 7. 1094 Ebda., S. 107f. 1095 Vgl. dazu auch Droysens Sprachduktus im Zusammenhang mit der abgewerteten Quelle weiblicher Provenienz und der aufgewerteten Quellen männlicher Provenienz.
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schung muß sie auf dem Boden strengster Wissenschaftlichkeit aufgebaut sein.«1096 Im Übrigen hatte sich Adlers Biographie-Modell zwischen 1885 und 1919 geringfügig verändert: Hatte er 1885 noch die »physische Beschaffenheit des Künstlers« an erster Stelle der Aufgaben einer Biographie genannt, beginnt er 1919 mit »Abstammung, Familie, Personalverhältnisse, Stellungen, Berufsverpflichtungen«1097 – einem chronologischen, an der professionellen Karriere orientierten Raster. Gegenüber 1885 ist der Hinweis hinzugekommen, dass »all das und vieles andere […] für die Musikgeschichte« relevant sei, »soweit es die Individual- und Sozialpsyche erkennt, erklärt und in Relation […] zum Schaffen und zu den Werken des Künstlers«1098 setzt. Adler ersetzt das physiognomische durch das psychologische Moment, was dem Einfluss der Psychoanalyse geschuldet sein dürfte. Dieser freilich ist – wie in der allgemeinen Biographik auch – zunächst eher überschaubar: »Wenngleich die ersten psychobiographischen Studien gewiß nicht ohne Einfluß auf das biographische Schreiben blieben, so ist auch zu berücksichtigen, daß es zu einem eigentlich ›Boom‹ psychobiographischer Werke erst seit den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts kam«,1099 so Christian von Zimmermann.1100 Die Diskrepanz zwischen der theoretischen (Des-)Integration von Biographie in Musikwissenschaft und der tatsächlich erwiesenen Reverenz vor Jahn und Spitta, die indirekt bereits im methodischen Konzept von 1885 erkennbar war, wird in Adlers Schrift von 1919 explizit. Noch einmal zieht er gegen die populare Form der Biographik mit ihren »wahnwitzigen Über- und Unterstellungen« zu Felde, noch einmal formuliert er am Ende des Kapitels über die »Hilfswissenschaften« die Aufgabe der »biographischen Arbeiten«: »das 1096 1097 1098 1099 1100
Adler 1919, S. 108. Ebda. Ebda. Von Zimmermann 2006, S. 255f. Welche Wirkkraft die psychologische Methode gerade im Hinblick auf Heroenbiographien in den 1970er Jahren dann aber zeitigte, wird nicht zuletzt an Maynard Solomons Beethoven-Biographie deutlich, die sieben Jahre nach dem BeethovenJubiläum zunächst in den USA, zwei Jahre später auch auf Deutsch erschien. Hier zeigt sich Solomon in direkter Freud-Nachfolge, wenn er im Vorwort auf jene Grenzen eingeht, »welche der Leistungsfähigkeit der Psychoanalyse in der Biographik gesetzt sind« (Freud 1943, S. 207f.). Er argumentiert damit für ein dezentriertes biographisches Subjekt: »ich glaube, ich habe erfolgreich der Versuchung widerstanden, ein widerspruchsfreies und in sich zusammenhängendes Beethoven-Porträt zu entwerfen – ein sicheres, klares und wohlgeordnetes Bild zu zeichnen, denn ein solches Porträt kann nur um den Preis der Wahrheit erkauft werden und unter Aussparung der Unklarheiten, die sich im dokumentarischen Material in reicher Fülle finden.« Solomon 1987, S. 13.
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äußere Leben in ein richtiges Verhältnis zu dem inneren Leben, zu dem Schaffen des Künstlers zu setzen, den Künstler in seiner Individualität, in seiner Eigenart, in den Besonderheiten seiner Produktion zu erkennen und wenigstens den Versuch zu machen, ihn in den Gang der Ereignisse richtig einzuordnen.« Dann aber schreibt Adler erstaunlicherweise: »Sowie die Biographistik das zu erfüllen sucht, ist sie nicht mehr bloßes Hilfsgebiet der Musikgeschichte, sondern trägt zur Erfüllung ihrer höchsten Aufgaben bei.«1101 Erst in diesem letzten Satz löst sich das Problem der Desintegration von Biographie in das Gebäude der Musikwissenschaft auf: Eine Biographie, die wissenschaftlichen Ansprüchen genügt, ist für Adler zentraler Bestandteil von Musikwissenschaft. Doch die Frage bleibt, warum Adler sich so ausführlich zur nicht-wissenschaftlichen Biographik äußert und warum er – entgegen seiner Überzeugung, dass Biographie zur »Erfüllung« der »höchsten Aufgaben« der Musikgeschichtsschreibung beitrage –, sie dennoch an den Schluss der Hilfswissenschaften positioniert, während er die großen Biographen des 19. Jahrhunderts prominent als Gewährsleute der Musikwissenschaft nennt. Diese Fragen lassen sich besser klären, indem ein weiterer wissenschaftsmethodischer Text hinzugezogen wird, Hugo Riemanns 1908 erschienener Grundriß der Musikwissenschaft. Denn auch in diesem wird die Integration biographischer Arbeit in das universitäre Fach Musikwissenschaft zum zwar nicht offen benannten, aber doch implizit erkennbaren Problem. Riemann beschreibt die Aufgaben und Ziele der Musikwissenschaft in der Nachfolge Adlers und Chrysanders.1102 Den Begriff Biographie verwendet er in der Einleitung (»Begriffsbestimmung, Ziele, Arbeitsgebiete«) nicht, erwähnt stattdessen am Schluss der Passage über die Methoden der Musikgeschichte die »Monographie über einzelne Tonkünstler«, deren Relevanz für die Musikgeschichte »sich natürlich von selbst« verstehe.1103 In der Vermeidung des Begriffs ›Biographie‹ und in der randständigen Position ihrer Erwähnung einerseits, in der Bedeutung andererseits, die der Biographie »natürlich« zufalle, wird wiederum die unterschwellige Diskrepanz erkennbar, die bei Adler aufschien. 1101 Adler 1919, S. 109, Hervorhebungen M. U. 1102 Riemann bezieht sich auf Adlers Methoden-Aufsatz (Adler 1885) und auf Chrysanders Einleitung zu Band 1 der Jahrbücher für musikalische Wissenschaft (Chrysander 1863). 1103 Riemann 1908, S. 13. Barbara Boisitis betont in diesem Zusammenhang, dass Riemann (wie auch Adler) »das Verdienst [gebührt], in der Musikgeschichte den Blick wieder auf die Musik selbst gelenkt und sie von einer vagen psychologisierenden, häufig biographisch-anekdotischen oder auch metaphysisch-spekulierenden Betrachtung befreit zu haben« (Boisitis 2001, S. 29), ohne dass sie auf die Uneindeutigkeit eingeht, mit der Riemann das Biographische behandelt. Auch seine eigenen biographischen Arbeiten, etwa das Heroen-Kapitel aus Spemanns goldenem Buch der Musik, werden nicht erwähnt.
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Beobachtungen zum dann folgenden Kapitel »Verzeichnis der wichtigsten enzyklopädischen Werke über Musik« stützen diesen Eindruck: Die Gattung der Biographie – bislang als Begriff nicht eingeführt und als »Monographie über einzelne Tonkünstler« nur indirekt und am Rande erwähnt, avanciert hier zum zentralen Gliederungselement, wenn Riemann die »Musikalischen Lexika« in folgende drei Kategorien aufteilt: 1. »ohne Biographien« 2. »mit Biographien« 3. »nur Biographien«1104 Auch für das Kapitel »Die neue Zeit (seit 1750)« bildet die Biographie die zentrale Kategorie bei der Gliederung der genannten weiterführenden Literatur: Riemann listet an erster Stelle »Biographien« auf und nennt dabei 49 Titel, während die zweite Gruppe (»Monographien«) mit 21 Einträgen deutlich kürzer ausfällt.1105 Dies spiegelt nicht nur ein Mengenverhältnis wider, sondern auch die uneingestandene Bedeutung der Biographie für die (jüngere) Musikgeschichtsschreibung, die Riemann im Text selbst tendenziell marginalisiert, an dieser Stelle aber mit großer Selbstverständlichkeit anführt. Spätestens hier wird die tatsächliche Existenz (und implizite Akzeptanz) der Biographie unübersehbar, eine Existenz, zu der sich Riemann freilich nicht theoretisch-methodisch äußert. Im Übrigen ist es bezeichnend, dass Riemann dieses Kategorisierungssystem für seine bibliographischen Angaben erst ab dem Kapitel über die »Musik seit 1750« verwendet: Zuvor bildete die Biographie im Literaturverzeichnis noch keine eigenständige Kategorie, obgleich Riemann beispielsweise elf Biographien in die Bibliographie zum Kapitel »Das Generalbaßzeitalter (1600 bis 1750)«1106 aufnimmt (u. a. die biographischen Arbeiten von Chrysander über Händel, von Spitta über Bach). Die von Riemann gewählte Epochenzäsur (1750) spiegelt dabei just genau jenen Zeitpunkt wider, zu dem die Musikerbiographie überhaupt an Bedeutung gewann. Riemann geht indirekt auf diesen Wendepunkt ein, wenn er das erwachende Interesse am Individuum um 1750 konstatiert: »Der damit gefundene individualistische Stil erobert in wenigen Jahren Europa und schafft eine ganz neue Literatur, welche die der vorausgehenden Epoche vollständig in Vergessenheit bringt, zumal seit dem Auftreten der drei großen Genies Haydn, Mozart und Beethoven«.1107 Die 1104 1105 1106 1107
Riemann 1908, S. 17f. Ebda., S. 141–143. Ebda., S. 136–139. Ebda., S. 140.
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Biographie – von Riemann zuvor als historiographische Methode nicht eingeführt – wird im Anschluss daran in einem Atemzug mit Musikgeschichtsschreibung genannt: »[…] es ist schließlich auch nichts dagegen einzuwenden, wenn die Biographie wohl gar schon bei Lebzeiten der Komponisten oder doch sofort nach ihrem Tode ihre Arbeit beginnt. So ist denn gerade die Literatur der allerjüngsten Vergangenheit so überreich an historischen Arbeiten, daß deren vollständige Aufzählung hier ganz ausgeschlossen ist.«1108 Adler hatte sich mit großer Eloquenz gegen die populäre Form der Biographik ausgesprochen, die wissenschaftliche Variante aber als »zur Erfüllung« der »höchsten Aufgabe« der Musikwissenschaft notwendig bezeichnet. Riemann hatte den Begriff Biographie zunächst vermieden und eine methodische Auseinandersetzung gescheut, die Biographie dann aber selbstverständlich als Teil der Musikgeschichtsschreibung benannt, sogar als zentralen Kategorisierungsfaktor seiner Bibliographie verwendet. Damit wird bei beiden eine Reflexionsflucht erkennbar, die mit der Biographie und ihrer Position innerhalb der Musikwissenschaft bzw. der Musikgeschichtsschreibung zusammenhängt. Für diese Reflexionsflucht sind mehrere, sich gegenseitig bedingende Gründe verantwortlich: das Künstlerbild des ausgehenden 19. Jahrhunderts mit seinem monolithisch-heroischen Charakter und das Problem der Abgrenzung der Musikwissenschaft gegenüber populären Formen der Musikliteratur, damit auch das Problem des Narrativen. Das heroische Künstlerbild hatte zu derartigen biographischen Verformungen geführt, dass eine mit dem Begriff der Wahrheit operierende junge Wissenschaft hier ein Authentizitäts-Problem sah. So ist auch noch Adlers Ablehnung des heroischen Beethoven-Bildes anlässlich des Beethoven-Jahres 1927 vor dem Hintergrund dieses Wahrheitsanspruches zu sehen. Dazu seien zwei Passagen aus Beethovens Charakter zitiert: »Er ist auch nicht immer der Titane, sondern ein vielen Schwächen unterliegender Mensch. Deshalb halte ich Klingers plastische Darstellung Beethovens als Ringer mit geballten Fäusten, nackt, auf dem Herrscherstuhl sitzend, für outriert. Beethoven selbst dürfte schwerlich sich darin erkennen.«1109 Für sich selbst reklamiert Adler freilich eine enge Vertrautheit mit (dem Menschen) Beethoven, der auf seiner wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit den Quellen und seinen Werken – also jenen Prämissen, die er 1885 und 1919 als Grundanforderungen an die wissenschaftliche Biographik formuliert hatte – basiere: »Den Umgang mit dem Menschen Beethoven verdanke ich den Briefen, authentischen Aussprüchen, den Skizzenbüchern, den von ihm niedergeschriebenen Stellen aus Werken der Denker und Geistesführer, den
1108 Ebda., S. 141. 1109 Adler 1927, S. 24.
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Konversationsheften, dem Wahrheitsapostel A. W. Thayer und last not least seinen Werken.«1110 So sehr sich Adler gegen die »Titanisierung« Beethovens wandte, so wenig grenzte er sich in der Auswahl seiner Forschung gegen den Kanon der Musiker-Heroen ab: Mit Wagner, Beethoven, Brahms, Mozart, Haydn, Mahler u. a. bedachte er just jene »großen Meister« in seiner Forschung, die – nicht nur durch ihre Werke, sondern auch durch die über sie geschriebenen Biographien – innerhalb einer sich deutlich historisierenden Kultur kanonisiert wurden. Weitaus schwerwiegender für die oben konstatierte Reflexionsflucht allerdings dürfte das Problem der Abgrenzung gegen das Populare und das damit verbundene Problem des Narrativen sein, wodurch aus der Frage nach dem Umgang mit der Biographik eine dezidiert anti-biographische Haltung erwuchs.
1110 Ebda., S. 7, Hervorhebungen M. U.
2. Antibiographische Konzepte und ihre Folgen
Antibiographische Konzepte in der Musikwissenschaft waren seit Guido Adlers »Hilfswissenschafts«-Verdikt wirkungsmächtig. Mehrfach schien der vollständige Ausschluss der Biographik aus der Musikwissenschaft auf der Agenda zu stehen. Diese Tendenzen geben tiefe Einblicke in das Fachverständnis und die Fachgeschichte, denn im Grunde lag hierin die Frage offen zutage, ob und, wenn ja, wie der Zusammenhang von Leben und Werk eines Komponisten erforscht und beschrieben werden könne. Und die Vehemenz, mit der diese Diskussionen im Fach geführt wurden und bis in die Gegenwart hinein geführt werden – noch 2005 spricht Beatrix Borchard von einem »methodologischen Streit«, den sie mit ihrer Studie über Biographie und Interpretationsgeschichte anstiften wolle1111 –, verweist deutlich darauf, dass mit der Biographik mehr als eine lästige Fachtradition zur Diskussion stand. Nach Adlers Musikwissenschaftskonzept von 1885 stellte die Zeit nach 1945 eine zweite wichtige Zäsur in der antibiographischen Haltung der Musikwissenschaft dar, forciert durch die Art und Weise, wie sich nach dem Zusammenbruch des »Dritten Reiches« das Fach Musikwissenschaft wieder, oder besser: weiterhin aufstellte. Denn die quasi bruchlose Fortführung der (universitären) Musikwissenschaft gelang, dies hat Anselm Gerhard in seiner 2000 veröffentlichten Studie Musikwissenschaft – eine verspätete Disziplin? Die akademische Musikforschung zwischen Fortschrittsglauben und Modernitätsverweigerung herausgestellt,1112 vor allem auch, indem nunmehr von einem diffusen, überindividuellen, geradezu a-personellen »Wesen« der Musik die Rede war. Damit konnte der Mantel des Schweigens über jene Jahre musikwissenschaftlicher Forschung gelegt werden, in denen das Individuum schon aus ideologischen Gründen im Zentrum gestanden hatte: Biographische Daten wie Glaubenszugehörigkeit oder politische Gesinnung waren Selektionskategorien ersten Ranges auch für die Musikgeschichtsschreibung gewesen.1113 Um eine ungebrochene Fachtradition fortführen zu können (und dies war das deutlich erkennbare Ziel vieler Musikwissenschaftler), durfte das Biographische nicht in den Vordergrund gerückt werden: weder das Biographische im Zusammenhang mit dem Komponisten noch (vor allem) im Zusammenhang 1111 Borchard 2005b, S. 589. 1112 Gerhard (Hg.) 2000. 1113 Vgl. dazu beispielsweise die kritische Betrachtung der 12. Auflage von Hugo Riemanns Musiklexikon von 1939 in Hust 2001 oder die Ausgrenzung Felix Mendelssohn Bartholdys aus der Musikwissenschaft in Schmidt 2001. Vgl. dazu auch das Kapitel Nationale Bilder: Beispiele lexikalisch-biographischer Großprojekte in diesem Band.
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mit den Forschenden, deren eigene ideologischen Verstrickungen möglichst unauffällig bleiben sollten. Parallel zu dieser antibiographischen Tendenz, deren Hintergründe und Erscheinungsformen eine eigene Studie wert wären, ist eine deutliche Gegentendenz wahrnehmbar, die – gleichsam als Konträr – die Brisanz der biographischen (und autobiographischen) Abstinenz vor Augen führt: Denn dort, wo sich mit dem Zweiten Weltkrieg Erfahrungen von Verfolgung, Vertreibung und Exil verbanden, entstand vielfach eine grundlegend andere Position zum Biographischen; just von hier aus gingen starke Impulse für ein neues biographisches Schreiben und eine intensive Auseinandersetzung mit Fragen des Leben-Werk-Zusammenhangs aus. Erlebte Extremsituationen, abgebrochene Karriereverläufe und andere Erfahrungen lebensgeschichtlicher Diskontinuitäten forcierten eine kritische Auseinandersetzung mit dem Ideal einer kohärenten, teleologischen Lebenserzählung und mit der Heroenbiographik. Weiter war für die antibiographischen Konzepte von besonderer Bedeutung, dass mit der Teilung Deutschlands die Grenze des »Kalten Krieges« sich auch durch die deutschsprachige Musikwissenschaft zog und sich mit Carl Dahlhaus eine zentrale Figur westdeutscher Musikwissenschaft antibiographisch positionierte. Seine Argumente für eine Autonomieästhetik bedurften des Ausschlusses des Biographischen (zumindest der »äußeren Biographie«) nicht zuletzt als Abwehr gegen das sozialgeschichtliche Denken marxistischer Provenienz, wie sie ihm etwa in den Arbeiten von Georg Knepler oder Harry Goldtschmidt entgegentrat.1114 Insofern muss Dahlhaus’ anti-biographische Position auch als anti-marxistische Argumentation in Zeiten des »Kalten Krieges« verstanden werden.1115
Wider das Populare Biographie und Musikwissenschaft standen (und stehen) in einem konfliktreichen Verhältnis zueinander. Dies hat mehrere Gründe, die wiederum nicht ohne die an den Diskussionen beteiligten Musikwissenschaftler und -wissenschaftlerinnen zu verstehen sind. Bei aller Multikausalität aber ist eine immer wiederkehrende Argumentationslinie erkennbar, die mit den Begriffen Popularität versus Wissenschaftlichkeit, Trivialität versus Komplexität, Naivität 1114 Shreffler 2003. 1115 Dahlhaus war mit Knepler und Goldtschmidt in Austausch über Fragen der Biographik. So nahm er etwa am Internationalen Kolloquium über das Verhältnis von Kunstwerk und Biographie (Schloss Großkochberg bei Weimar, 1981) teil, vgl. dazu Goldschmidt/Knepler/Niemann 1985, S. 108–125 und S. 126–138. Hierzu auch Mayer 2010.
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versus Auffassungsgabe in groben Zügen umrissen ist. Grundtenor dieser Argumentationslinie ist, dass mit der Biographie das Populare angesprochen sei, von dem sich die (universitäre) Musikwissenschaft abzugrenzen habe. Einzelne musikwissenschaftliche Positionen entlang dieser Grundlinie werden in diesem Kapitel genauer betrachtet. Zuvor aber seien drei ebenso knappe wie punktuelle Beobachtungen aufgerufen, die allgemeiner der Frage nachgehen, wie der Zusammenhang zwischen Biographie und Popularität im Kontext der Musik diskutiert wurde. Irrig wäre die Annahme, dass »das Populäre« der Musikkultur im ausgehenden 19. Jahrhundert von »der Wissenschaft« punktgenau hätte getrennt werden können.1116 Vielmehr stehen beide in einem immer wieder ausgeloteten, immer wieder neu verhandelten Wechselverhältnis, wobei die Musikerbiographik hier zu einem der vorrangigen Diskussionsfelder avancierte. Denn nach der Blüte der sich wissenschaftlich verstehenden Musikerbiographik, die Wesentliches zum Entstehen der Historischen Musikwissenschaft beigetragen hatte (Jahn, Chrysander, Spitta u. a.), bedeutete die Abkehr vom Biographischen, wie sie Guido Adler 1885 markant postulierte, eine überdeutliche Zäsur, die ebenso die Wissenschaftlichkeit der neuen Disziplin stützen sollte wie – dementsprechend – nach Gründen für den Ausschluss der Biographik aus der Musikwissenschaft verlangte. Doch die latente Nähe blieb, wie das bereits erwähnte Goldene Buch der Musik zu erkennen gibt, das als – so vermerkt es der Untertitel – »Hauskunde für Jedermann« gedacht war, für »jedes deutsche Haus, in welchem Musik getrieben wird«.1117 Es hat damit den Anspruch, kompaktes Wissen über Musik für ein großes (wenn auch deutlich bildungsbürgerliches) Lesepublikum bereitzustellen.1118 Der Kreis der Autoren verzeichnet etablierte Musikwissenschaftler jener Zeit, u. a. wirkten Hermann Abert, Hugo Riemann1119 und der Spitta-Schüler Rudolf Schwartz mit. Riemann verfasste das Kapitel »Epochen und Heroen der Musikgeschichte«, Letzterer den Artikel »Musikwissenschaft«. Beide Texte sind für ein breites Publikum gedacht, in einfachem Duktus geschrieben und klar gegliedert. Doch während im Kapitel über »Epochen und Heroen« in größerem Umfang biographische Partien eingeflochten sind, fehlt in Schwartz’ Darstellung der Musikwissenschaft der Hinweis auf die biographische Methode gänzlich. Selbst 1116 Eine Trennung war in der Tat auch nicht intendiert, eher ein »wissenschaftlicher Brückenschlag zwischen Musikwissenschaft und Musikkultur«, wie ihn Volker Kalisch in Adlers Wissenschaftsverständnis ausmachte. Vgl. Kalisch 2000, S. 71. 1117 Spemann 1900, Vorwort [o. S.]. 1118 Vgl. dazu auch Unseld 2010d. 1119 So unterschiedlich im Übrigen die Konzeptionen des Faches Musikwissenschaft bei Riemann und Adler waren, in ihrer Skepsis gegenüber Biographik waren sie sich einig. Vgl. dazu Kalisch 2000, S. 72f.
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im Unterkapitel »Nebenfächer« – wie es nach Adler zu vermuten gewesen wäre – findet sich kein Hinweis. Die Biographie ist als Anschauungsmaterial innerhalb der populär gehaltenen Musikgeschichtsschreibung also durchaus präsent, nicht aber als methodischer Teilbereich der Musikwissenschaft. Kaum klarer könnte man die Frage nach dem angenommenen Konnex von Biographie und Popularität beantworten: Für die an eine breite Leserschicht gerichtete, mithin populäre Darstellung von Musikgeschichte sei die Musikerbiographie eine angemessene Form. In der Präsentation des Faches Musikwissenschaft taucht die Biographie weder als Methode noch als mögliche Form historischer Darstellung auf. Dass sich aus dieser Trennung freilich ein grundlegendes Dilemma ergibt – nämlich dass der (professionelle) Musikwissenschaftler die Form der biographischen Darstellung zu beherrschen habe, ohne dass diese im Portfolio seiner wissenschaftlichen Methodik auftaucht –, bleibt ungelöst. Vielmehr ist damit ein deutlicher Hinweis darauf gegeben, dass über eine Methodik der Biographie oder sogar eine kritische Auseinandersetzung mit ihr an dieser Stelle nicht stattfand. Zugleich wurde »die Biographie« gleichgesetzt mit einer unhinterfragten (und unhinterfragbaren), bildungsbürgerliche Ideale vertretenden Heroenbiographik, eine Verallgemeinerung, wie sie auch Dahlhaus noch 1975 in seiner Polemik anwandte. Die zweite Beobachtung knüpft an die Frage des Populären an und fokussiert sie mit dem Hinweis auf das Geschlecht. Friedrich Nietzsche, der für seine Zeit ein »überschwemmendes, betäubendes und gewaltsames Historisiren«1120 diagnostizierte, kritisierte dabei auch das »allgemein beliebte ›Popularisiren‹ (nebst ›Feminisiren‹ und ›Infantisiren‹) der Wissenschaft, das heisst das berüchtigte Zuschneiden des Rockes der Wissenschaft auf den Leib des ›gemischten Publikums‹«.1121 Wenngleich das Verhältnis von Popularität und Weiblichkeit bei Nietzsche nicht konsistent ist,1122 wendet sich der Begriff »Feminisiren« im Zusammenhang mit der Wissenschaft ins Negative, vor allem, wenn man Nietzsches Vorstellung von der Geschichte als »Ewig-Männliche[m]«,1123 geschrieben von einem »Erfahrene[n] und Ueberlegene[n]«1124 entgegenhält.1125 Hier werden Polaritäten fortgeschrieben – Angelika Epple hatte diese bereits für die Geschichtsschreibung zwischen Aufklärung und Historismus deutlich herausgearbeitet1126 –, die lange wirkungsmächtig blei1120 Nietzsche 1988, S. 300. 1121 Ebda., S. 301. 1122 Vgl. dazu etwa James 2010, bes. das Kapitel »›My Foot Feels the Need for Rhythm‹: Nietzsche and the Feminized Popular«, S. 131–142. 1123 Nietzsche 1988, S. 284. 1124 Ebda., S. 294. 1125 Vgl. hierzu auch Assmann 2006b, bes. S. 31–33. 1126 Epple 2003.
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ben sollten: Popularität und Verweiblichung versus Objektivität, Kennerschaft und einem »Ewig-Männlichen«, das sowohl den Gegenstand als auch den Autor von Geschichte umfasst.1127 Die dritte Beobachtung schließlich stammt aus dem Jahr 1946, aus Schönbergs Vortrag »Kriterien für die Bewertung von Musik«.1128 Herausgegriffen sei dabei, mithilfe welcher Personen Schönberg an dieser Stelle die Unterhaltungsmusik von der Kunstmusik zu unterscheiden trachtet: Neben dem Komponisten sind dies die Hörer und der die Musik analysierende Fachmann. Den Rezipienten von Unterhaltungsmusik charakterisiert Schönberg folgendermaßen: »Unterhaltungsmusik spricht die Naiven an, diejenigen Menschen, die die Schönheit der Musik lieben, aber nicht dazu neigen, ihren Verstand anzustrengen. […] Menschen, die nicht die Fähigkeit erworben haben, sofort alle Konsequenzen aus einem Problem zu ziehen, müssen mit Rücksicht auf ihre geistigen Fähigkeiten behandelt werden; schnelle Lösungen, Sprünge von Voraussetzungen zu Schlußfolgerungen würden die Popularität gefährden.«1129 Die Rezipienten von »höherer Musik« hingegen sind solcher Art des mit schneller Auffassungsgabe Hörens im besten Fall fähig, rücken damit an den Fachmann heran. Dieser stellt gewissermaßen den idealen Hörer dar, der sich dadurch auszeichnet, die Musik analytisch zu verstehen. Denn »die meisten der erwähnten Kriterien für die Bewertung höherer Musik sind nur dem Fachmann zugänglich und viele von ihnen nur dem höchst sachkundigen Fachmann.«1130 Diesem Letzteren steht jener »Schöpfer« gegenüber, der danach »strebt, […] den Zuhörern etwas für sie Wertvolles zu sagen«. Und: »Aus dem Leben wahrhaft großer Männer kann man schließen, daß der Schaffensdrang auf ein instinktives Lebensgefühl antwortet, einzig um der Menschheit eine Botschaft zu bringen.«1131 Interessant an diesem quasi-pyramidalen Aufbau – der Schöpfer an der Spitze, darunter eine kleine Gruppe »höchst sachkundiger« Fachleute – ist nicht nur die exponierte Position des Kompo1127 Wohlgemerkt ist mit den Begriffen »weiblich« und »männlich« nicht zwingend das Geschlecht der Akteure oder der historiographisch betrachteten Personen gemeint, sondern ein Begriffsfeld, das – vor allem im die Geschlechter polarisierenden 19. Jahrhundert – als Attribute rund um einen Geschlechtscharakter aufgefasst wurden, der sowohl von einer Frau als auch von einem Mann eingenommen werden konnte. So war es beispielsweise üblich, dass in Rezensionen das Attribut »männlich« (auch für eine Komponistin) als positive Bewertung im Sinne von »fachkundig«, »professionell« oder sogar »meisterhaft« verwendet wurde (vgl. dazu Unseld 2001a), während »weiblich« (auch für einen Komponisten) als abwertend im Sinne von »mangelhaft« oder »dilettantisch« verwendet wurde (vgl. dazu Harders-Wuthenow 1998). 1128 Schönberg 1976, S. 123–133. 1129 Ebda., S. 131. 1130 Ebda. 1131 Ebda.
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nisten, der (auch in der Wortwahl) in Reinform einer Heroengeschichte zu entstammen scheint, sondern auch die besondere Bedeutung, die Schönberg dem Verstehen/Verstand der Musikhörenden beimisst. Vice versa steht für Schönberg das Populäre für Naivität und das fehlende Bedürfnis, den »Verstand anzustrengen«.
Das Narrative und die Askese der Sprache Nahtlos an die letzte Vorbemerkung lässt sich Hermann Hesses Erzählung Virtuosen-Konzert von 1928 anknüpfen.1132 Der Rekurs auf Literatur spricht an dieser Stelle dafür, dass jene Argumente wider das Populare sich bereits so weit etabliert waren, dass das Aufrufen weniger Schlagworte genügte, um das Dispositiv zu umreißen. In Hesses Erzählung geht es um einen Konzertbesucher, der sich als ein »alter Musikliebhaber mit unbestechlichem Geschmack, ein Puritaner der guten Musik«1133 bezeichnet. Dieser schildert einen Konzertbesuch, bei dem ein namenloser Geigenvirtuose zunächst »wirkliche Musik« spielte: »die Kreutzersonate, Bachs Chaconne, Tartinis Sonate mit dem Teufelstriller«1134 – Kompositionen aus dem etablierten Kanon der Kunstmusik, wobei sich der Kenner auch dadurch zu erkennen gibt, dass er zu Beethovens »Kreutzersonate« selbstredend den Namen des Komponisten nicht nennen muss. Im letzten Drittel des Konzerts jedoch, so Hesses Erzähler weiter, veränderte sich das Programm. Hier standen Musikstücke mit schönen, vielversprechenden Überschriften, Mondschein-Fantasien und venezianische Nächte, von unbekannten Verfassern, deren Namen auf Völkerschaften hindeuteten, welche bisher in der Musik sich noch nicht hervorgetan haben. Kurz, der dritte Teil des Programmes erinnerte stark an die Programme, die man in den Musikpavillons eleganter Badeorte angeschlagen findet.1135
Mit dieser Konfrontation gegensätzlicher Musikstile rekurriert Hesse auf die Dichotomie, die sich seit dem 19. Jahrhundert in der Musik herausgebildet hatte: »ernste« versus »unterhaltende« Musik, deutsche (bzw. abendländische) versus nicht-deutsche (bzw. nicht-abendländische) Musik, absolute Musik versus Programmmusik und auf Rezipientenebene Kenner versus Massenpublikum. Und wie kaum ein Bereich des musikkulturellen Lebens im bürgerlichen 19. Jahrhundert nicht von dieser Kontroverse beeinflusst gewesen 1132 1133 1134 1135
Vgl. dazu auch Unseld/Weiss (Hg.) 2008. Hesse 1986, S. 56. Ebda., S. 52. Ebda.
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wäre, steigert Hesse die Erzählung durch das immer dichtere Gemenge der Gegensätze zu einem Höhepunkt: Die Musik des »unbekannten exotischen Tango-Komponisten«1136 reißt das Publikum zu Begeisterungsstürmen hin, »sie schmolzen hin […], lächelten verklärt und weinten Tränen, sie stöhnten entzückt und brachen nach jedem dieser kurzen Unterhaltungsstücke in trunkenen Beifall aus«.1137 Aber auch die Puritaner haben mit dem Effekt dieser Musik zu kämpfen: »Der große Zauber war erreicht. Denn auch wir mißvergnügten Puritaner schwammen, wenigstens für Augenblicke, auf der großen Woge mit, auch uns ergriff, wenigstens für Augenblicke, der süße holde Taumel.«1138 Hesses Erzählung wäre für den Zusammenhang von Biographie und Musikgeschichte nicht weiter bedeutend, wenn Hesse nicht zur Charakterisierung der Unterhaltungsmusik die Begrifflichkeit des Narrativen aufgegriffen hätte: Als »Musik von sehr mäßigem Wert« bezeichnet der Ich-Erzähler »diese schmachtenden, erzählenden, unterhaltenden, gefälligen Salonstückchen«.1139 In dieser Reihung von Attributen kommt dem Wort »erzählend« eine eindeutig pejorative Bedeutung zu. Gerade das Moment des Narrativen und die damit verbundene potentielle Nähe zur Literatur aber hatte die Biographik innerhalb der Musikwissenschaft in Misskredit gebracht. Dass in diesem Kontext die Narrativität als Argument für die Abwertung der Biographik verwendet wurde, ist gerade auch vor dem Hintergrund der Ästhetik der Avantgarde der Jahrhundertwende zu betrachten. In Hesses Erzählung flackert der Hinweis auf das narrative Potential von Musik auf – und die Selbstverständlichkeit, mit der dieses zusammen mit den entsprechenden Dichotomien benannt wird, lässt erkennen, wie festgefügt und selbstverständlich das Argumentationsmuster für Hesse und seine Zeitgenossen noch war. Ob Musik narrativ sein könne und solle, tangierte dabei im Laufe des 19. Jahrhunderts nichts geringeres als Fragen der nationalen Identität, der Zugehörigkeit zu ästhetischen Schulen und implizierte dabei, zumal aus deutschem Blickwinkel, den Wert von Musik. Dahlhaus zitiert in diesem Zusammenhang E. T. A. Hoffmann als Gewährsmann, der »von der reinen, autonomen Instrumentalmusik […] behauptete, daß sie durch Abstraktion und Loslösung von außermusikalischen Ideen zur Ahnung des Unendlichen, Absoluten vordringe«.1140 Reinheit, Autonomie und Abstraktion standen im Gegensatz zu (narrativer) Programmmusik, aber auch zu einem hermeneu1136 1137 1138 1139 1140
Ebda., S. 55. Ebda. Ebda. Ebda., S. 56, Hervorhebung M. U. Dahlhaus 1980, S. 73, vgl. dazu auch Unseld/Weiss (Hg.) 2008.
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tisch-narrativen Zugang zur Musik, der außermusikalische Ideen an Musik heranträgt, um sie auf diese Weise (einem breiteren Publikum) verständlich zu machen.1141 Dass dieses Argumentationsterrain von Narration, Musik und Verständlichkeit auch in der Generation nach Hanslick und Brahms virulent war, lässt sich exemplarisch anhand des Schönberg-Kreises nachvollziehen: Selbst noch programmmusikalisch arbeitend (um die Jahrhundertwende entstanden u. a. das Streichsextett Verklärte Nacht op. 4 und die Symphonische Dichtung Pelleas und Melisande op. 5), war Schönberg damit konfrontiert, dass seine Musik – unabhängig vom Programm – für das Publikum unverständlich blieb. Schönberg machte die Erfahrung, dass ein Programm kein Garant für das Verstehen seiner Musik war. Martin Eybl nennt hierbei als einen der Gründe für die Skandalträchtigkeit der Schönberg-Konzerte nach 1907 den Verlust (musikalischer) Kohärenz, die sich bislang durch das erinnernde Hören – etwa in Form einer harmonischen, formalen oder eben auch narrativen Ordnung – den Hörenden erschlossen habe.1142 Diese Kohärenz aber gab Schönberg preis, an ihre Stelle trat (neben den die Harmonik betreffenden Neuerungen) auch das die formale Kohärenz sprengende: das Aphoristische, Anti-Narrative. Und wenn auch Schönbergs Reaktionen auf die Ablehnung seiner Musik durch das Wiener Publikum vielschichtig waren,1143 fällt doch auf, dass eine dieser Reaktionen darin bestand, dass sich Schönberg und sein Kreis in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts dezidiert aphoristisch orientierten und damit eine anti-narrative Haltung1144 einnahmen. Dass Schönberg diese Zusammenhänge von Aphoristik, Anti-Narrativität und Askese bewusst waren, zeigt u. a. das Vorwort, das er zu den 1911–1913 entstandenen Sechs Bagatellen seines Schülers Anton Webern schrieb: So eindringlich für diese Stücke die Fürsprache ihrer Kürze, so nötig ist andrerseits solche Fürsprache eben für diese Kürze. Man bedenke, welche Enthaltsamkeit dazu gehört, sich so kurz zu fassen. Jeder Blick läßt sich zu einem Gedicht, jeder Seufzer zu einem Roman ausdehnen. Aber: einen Roman durch eine einzige Geste, ein Glück durch ein einziges Aufatmen auszudrücken: zu solcher Konzentration findet sich nur, wo Wehleidigkeit in entsprechendem Maße fehlt.1145
1141 1142 1143 1144
Dazu auch Thorau 2003. Eybl 2004, S. 49f. Vgl. dazu ebda., S. 13–82. Werner Wolf zählt in seiner transmedialen Narrativitäts-Theorie einen nicht zu geringen Umfang (des erzählenden Textes, der Musik, des Filmes …) und eine »nicht zu unterschätzende […] Unterhaltungsfunktion« zu den Konstituenten des Narrativen. Vgl. dazu Wolf 2002, s. bes. S. 85 und S. 34. 1145 Schönberg 1924. Vgl. im Zusammenhang mit Alban Berg auch Bailey 2000.
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Konzentration auf das Wesentliche als Gegenbewegung zur Üppigkeit der Dekadenz war charakteristisch für die Wiener Avantgarde. Alban Bergs Fünf Orchesterlieder nach Ansichtskartentexten von Peter Altenberg (op. 4, als Skandalon 1913 uraufgeführt) sind ebenso in diesen Kontext zu stellen wie Adolph Loos’ Fürsprache für die ornamentlose, puristische Bauweise. Allen war eine Verweigerung des Ausladenden und einer auf Genuss abzielenden Ästhetik eigen, wie sie in der Ringstraßenarchitektur oder den opulenten Gemälden eines Hans Markart großen Zuspruch fand. Dieser ›Verweichlichung‹ der Kultur setzte die Avantgarde eine intellektuelle Strenge entgegen, die sich etwa im Verzicht auf das Ornament und in der Suche nach der »nuda veritas« hinter den glänzenden Fassaden des Bürgertums ausdrückte.1146 Denn das Ornament war im Zuge der Industrialisierung nicht zuletzt auch ein Massenphänomen geworden und stand damit auch für die Popularisierung (und damit einhergehend: Verflachung) der Kunst: »Die massenhafte Produktion von Dekor für die Masse bedeutete das Ende der Exklusivität des Einzelstücks für den einzelnen. Das Ornament verlor seine ursprünglich nobilitierende Funktion als Signum unproduktiv investierter Arbeitsleistung.«1147 Die Exklusivität lag nun in der extremen Reduktion, die Ornamentlosigkeit »nobilitiert den Hersteller zum Könner«.1148 Hierbei spielte eine nicht unwesentliche Rolle, dass mit dem Schritt zur selbstgewählten künstlerischen Askese auch eine bewusste Trennung von dem als »weiblich« konnotierten Ornament verbunden war. Und nicht nur die Künstler waren von dieser ornamentverweigernden Suche nach künstlerischer Wahrheit umgetrieben, sondern auch die Wissenschaften, und es ist in diesem Zusammenhang bezeichnend, dass der Literat Arnold Zweig dem Wissenschaftler Sigmund Freud gerade die Schmucklosigkeit seiner Wissenschaftssprache hoch anrechnete: »Seine Formeln und seine Benennungen haben die gleiche Knappheit, die die einzelne Schrift auf den mindestmöglichen Raum zusammendrängt. Je trockener und schmuckloser ein Bericht ausfällt, um so näher steht er dem Wahrhaftigkeitswillen Freuds.«1149 Auch Guido Adler – als Bewunderer Richard Wagners und als Freund Gustav Mahlers zwar durchaus für groß dimensionierte Werke eingenommen – verstand sich als Aphoristiker: »Ich hatte nie große Neigung, dicke Bücher zu schreiben«1150, bekannte er in seiner Autobiographie Wollen und Wirken. 1146 1147 1148 1149 1150
Natter/Hollein (Hg.) 2005. Haiko/Reissberger 1985, S. 111. Ebda. Zweig 1989, S. 7. Adler 1935, S. 80.
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Dass er sich damit gegen die mehrbändigen Händel- und Bach-Biographien seiner Kollegen Chrysander und Spitta positionierte, war für Adler kein Dilemma. Und auch auf Sprachebene hob Adler nicht ohne Selbstironie seinen Hang zur Aphoristik hervor: »Meine Ausdrucksweise ist äußerst gedrungen: aus manchen Sätzen hätte ich eine Separatabhandlung machen können; desto besser, wenn es andere tun.«1151 Adlers Bekenntnis zu einer knappen Sprachform ist nicht allein als Ausdruck eines individuellen Sprachstils, sondern auch und vor allem im Kontext der Ästhetik der Wiener Avantgarde zu verstehen: Adler positioniert sich hier als Vertreter der Wiener Moderne mit ihrem Anspruch, durch Reduktion der (Sprach-)Mittel zum Wesentlichen, zur Wahrheit vorzudringen. Denn wie die Künstler überzeugt waren, durch die Ablehnung von Ornament und Zierde zu Askese und Wahrheit zu finden, war Adler davon überzeugt, dass in der knappen, alles Überflüssige abstreifenden Sprache die historisch-wissenschaftliche Wahrheit zu finden sei. Abzustreifen war daher alles Narrativ-Ausschmückende, und in diesem Zusammenhang schließlich auch der »äußere Lebensgang des Künstlers«.1152 In diesem Konzept von Musikwissenschaft – durch sprachliche Askese zur Wahrheit – hatten all jene Arbeiten keinen Platz, die dem Inhalt Raum und damit die Möglichkeit narrativer Ausgestaltung geben. Die Biographie ist davon latent immer mit betroffen, und das Argument wird in den 1980er Jahren wieder auftauchen, wenn auch hier die Frage der sprachlichen Darstellung musikwissenschaftlichen Wissens ausgehandelt und eine anti-biographische Haltung eingenommen werden wird. Adler vermochte die erwähnten Biographien nur insofern in sein Wissenschaftsbild zu integrieren, indem er ihnen selbst Werkcharakter zubilligte und sie damit auf die Ebene der Kunst hob: »[…] die Biographie im eigentlich kunstwissenschaftlichen Sinne soll der literarischen Behandlung nicht entraten: in ihrer Darstellung kann sie sich bis zum Kunstwerk erheben«.1153 Doch seine uneindeutige Haltung zur Biographie als Teil der Musikwissenschaft liegt zum großen Teil in eben diesem literarischen Anspruch begründet, mithin in einer Sprachform, die – im Sinne der chronologischen biographischen Erzählung, wie sie das 19. Jahrhundert entwickelt hatte, und allein durch die erwähnten Dimensionen – dem Narrativen zuneigt. Wenn damit erkennbar wird, dass Adlers Abneigung gegen das sprachlich Üppige, gegen das Narrative dem Diskurs der Wiener Moderne um Askese und Wahrheit entsprang, blieben diese Zusammenhänge gleichwohl unvollständig ohne den Blick auf die Geschlechterzuschreibungen, die in diesem 1151 Ebda. 1152 Adler 1919, S. 107. 1153 Ebda., S. 108.
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Kontext mit großer Vehemenz mitverhandelt wurden. Mit großem argumentativen Aufwand wurde der Bereich der Askese dem Mann (dem Künstler, dem Heroen) zugesprochen, während das Ornament für das »Weib« und dessen überbordende Sexualität stand. So schrieb Adolf Loos 1924 etwa: »Wo ich den gebrauchsgegenstand ornamental mißbrauche, kürze ich seine lebensdauer […] Diesen mord am material kann nur die laune und ambition der frau verantworten – denn das ornament im dienste der frau wird ewig leben […] Das ornament der frau aber entspricht im grunde dem der wilden, es hat erotische bedeutung.«1154 Selbst Hesse kommt in seiner oben einleitend betrachteten Erzählung – also immerhin 1928, in einer Dekade, in der bereits das »Neue Weib« diskutiert wurde – noch einmal auf diese Zuschreibungen zu sprechen, wenn er in seiner Erzählung die »Puritaner« als männlich, ja »heroisch«1155 beschreibt, während das schwelgende Massenpublikum eindeutig weibliche Attribute erhält. Unter diesem Blickwinkel sei nochmals jene Passage in größerem Zusammenhang zitiert, die oben bereits wegen des auffallenden Attributs »erzählend« in den Blick genommen worden war: Während dieses ganzen Abends waren zwei Personen in mir, zwei Zuhörer, zwei Mitspieler. Der eine war ein alter Musikliebhaber mit unbestechlichem Geschmack, ein Puritaner der guten Musik, der schüttelte häufig den ernsten Kopf […]. Er war nicht nur gegen die Verwendung dieses Könnens [des Virtuosen] auf eine Musik von sehr mäßigem Wert, er war nicht nur gegen diese schmachtenden, erzählenden, unterhaltenden, gefälligen Salonstückchen – nein, er war auch gegen dies ganze Publikum, […] die in ernsteren Konzerten nie zu sehen waren, […] er war gegen die seichte, schnell geweckte, schnell verflogene Begeisterung all dieser Backfische. Der andere in mir aber war ein Knabe, der folgte dem sieghaften Geigenhelden, wurde eins mit ihm, schwang mit ihm.1156
Diese Passage lässt sich äußerst gewinnbringend mit Adlers Selbst- und Wissenschafts- bzw. Biographiekonzept vergleichen. Das Augenmerk liegt bei dieser ungewöhnlichen Parallel-Lektüre, die keineswegs als Ineinssetzung missverstanden werden sollte, auf den deutlichen Konnotationen, die der Literat Hesse ebenso vornimmt wie der Wissenschaftler Adler: Hesses Ich-Erzähler beschreibt sich als »zwei Personen«, die während des Konzerts miteinander in Konflikt geraten; Adlers offensichtliche Uneindeutigkeit, was die Integration von Biographie in die Musikwissenschaft anbelangt, lässt eine ähnliche innere Konflikthaltung erkennen. Hesse konnotiert den »Puritaner« 1154 Loos: Ornament und Erziehung, Erstabdruck in der Zeitschrift Wohnungskultur Heft 2/3 (1924), hier zit. nach Haiko/Reissberger 1985, S. 115. 1155 Hesse 1986, S. 55. 1156 Ebda., S. 56.
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als individuell, männlich-wissend, während die weiblichen Konnotationen (»Backfisch«) auf das Massenpublikum gemünzt sind, die sich der »erzählenden« Musik hingeben. Adler spricht sich für eine im Diskurs der Wiener Moderne eindeutig männlich konnotierte, sprachlich asketische Wissenschaft aus, das Narrative hingegen ist für Adler nicht mit Wissenschaft vereinbar, ziele es doch auf einen Massengeschmack, auf »größere Marktgängigkeit«1157 ab. Wie das (weiblich konnotierte) Publikum bei Hesse hochemotional auf den Vortrag des Virtuosen reagiert, so attestiert Adler der populären Biographie ein Interesse für »persönliche Verhältnisse, Geselligkeit und Umgang«.1158 In beiden Fällen werden weiblich konnotierte, emotionale Bereiche benannt, beide Male mit der Popularität in engen Zusammenhang gebracht. Hesses »Puritaner« erliegen kurzzeitig der Versuchung des Sich-Hingebens, Adler sieht sich durch die Attraktivität der »privaten« Biographie verlockt, weißt sich selbst aber wieder in seine wissenschaftlichen Schranken: »Mein Wesen widerstrebt diesen Lockungen und findet eine wissenschaftliche Stütze in den strengen Stiluntersuchungen […].«1159 Diese Haltung hatte im Übrigen auch Adlers Vorgänger Hanslick bereits vertreten: An und für sich unphilosophisch, bekommen solche Aesthetiken [i. e. Gefühlsästhetiken] in ihrer Anwendung auf die ätherischste der Künste geradezu etwas Sentimentales, das, so erquickend als möglich für schöne Seelen, dem Lernbegierigen äußerst wenig Aufklärung bietet. Wer über das Wesen der Tonkunst Belehrung sucht, der wünscht eben aus der dunklen Herrschaft des Gefühls herauszukommen, und nicht – wie ihm in den meisten Handbüchern geschieht – fortwährend auf das Gefühl verwiesen zu werden.1160
Hanslick hatte in seiner Habilitationsschrift Vom Musikalisch-Schönen den Anspruch formuliert, den »Drang nach objectiver Erkenntniß« auf das Gebiet der Musik zu lenken – womit nicht nur eine Abgrenzung gegen die Neudeutsche Schule gemeint war, sondern durchaus auch der Gründungsappell des universitären Fachs Musikwissenschaft. Seine Schrift ist dabei, wie Inge Kovács und Andreas Meyer analysiert haben, »geschlechterpolitisch nicht neutral«,1161 liegt dem Text doch ein Antagonismus von männlich konnotierter
1157 1158 1159 1160
Adler 1919, S. 108. Ebda. Adler 1935, S. 82. Eduard Hanslick in der zweiten Auflage seiner Schrift Vom Musikalisch-Schönen (1858), hier zit. nach Kovács/Meyer 2010, S. 71, die zugleich eine interessante Aufschlüsselung des Kontextes, den Anfängen der deutschsprachigen akademischen Musikforschung, vorlegen. 1161 Kovács/Meyer 2010, S. 72.
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Wissenschaftlichkeit/Intelligibilität/Exklusivität und weiblich konnotierter Einfühlung/Sentimentalität/Popularität zugrunde. Indem das Narrative für das Weibliche, das Populäre und den Massengeschmack steht, wurde es für ein Fach untragbar, das sich um die Jahrhundertwende im universitären Kontext zu etablieren und konsolidieren hatte. Der Weiblichkeit, mithin der Emotionalität und der Massengängigkeit verdächtigt zu werden, glich einem akademischen Todesstoß, dem Adler mit entsprechender Vehemenz begegnete, so etwa im Vorwort zu seinem Mahler-Buch: »Die Mängel solcher Behandlung in der musikbiographischen Literatur sind geradezu ungeheuerlich und ein Krebsschaden unserer Wissenschaft.«1162 Wie rasch sich Biographen aufgrund ihrer Tätigkeit dem Vorwurf der »Weiblichkeit« und damit einhergehend dem der Unwissenschaftlichkeit ausgesetzt sahen, lässt sich bereits auch bei Heinrich Ehrlich in der Musik-Aestetik in ihrer Entwicklung von Kant bis auf die Gegenwart (1881) nachlesen. Interessanterweise beginnt Ehrlich sein Kapitel über »Die Bedeutung der Biographie, Bibliographie und Aesthetik« mit einer Charakteristik des idealen Biographen: Allerdings ist eine Biographie […] ein sehr schweres und nicht einmal dankbares Unternehmen. Es verlangt selbstloseste Hingabe, Nichtberücksichtigung der Tagesfragen, Erhebung über alles Polemisiren, ruhige Betrachtung der Entwickelung der Menschheit, liebevolles Preisen der guten Eigenschaften des großen Meisters ohne zu zärtliches Verdecken seiner menschlichen Schwächen […]. Die vollständige Lösung der Aufgabe verlangt auch Anerkennung alles Guten, das von Andern geleistet wurde, Nachsicht mit den Irrthümern […]. Also Bescheidenheit des Autors bei vollem Bewusstsein der ehrenhaften, selbstlosen Pflichterfüllung.1163
Diese Beschreibung liest sich wie einer der zahlreichen Tugendkataloge für bürgerliche Ehefrauen und Mütter: selbstlose Hingabe und Pflichterfüllung, das Hintanstellen eigener Wünsche und Vorstellungen, Bescheidenheit und das Wissen darum, dass das eigene emsige Tun keinerlei Anerkennung erwarten darf. Dieses Aufrufen der Kerntugenden idealer Weiblichkeit wirkt umso prononcierter, als Ehrlich jene weiblich konnotierten Eigenschaften mit markanten Charaktereigenschaften männlicher Heroen in Kontrast setzt: Sowohl der Gegenstand des Biographen – der als Held imaginierte Komponist – als auch der Musikwissenschaftler wird als besonders männlich dargestellt. Über Letzteren schreibt Ehrlich: »Nachsicht mit Andern und Bescheidenheit sind aber seltenste Eigenschaften der Musikgelehrten; vielmehr findet man […]
1162 Adler 1916, S. 4. 1163 Ehrlich 1881, S. 106f.
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bei keiner Gattung von Gelehrten stärkere Unduldsamkeit und Nachsichtslosigkeit als die mancher Musikgelehrten.«1164 Mit diesem Diskurs freilich hatten sich insbesondere auch diejenigen Frauen auseinanderzusetzen, die musikwissenschaftlich tätig werden wollten. James Deaville gibt unter Hinweis auf mehrere Musikwissenschaftlerinnen/-schriftstellerinnen und ‑biographinnen zu bedenken, dass ihnen – gleichsam als Gegenreaktion auf die Gefahr der ›Verweiblichung‹ der Wissenschaft – ein sehr eingegrenztes Betätigungsfeld zugestanden wurde, das bezeichnenderweise gerade das Narrative in den Vordergrund hob. Besonders in Deutschland, so James Deaville, ging die lange verwehrte Zulassung von Frauen zu universitärer Bildung und Forschung mit einer engen Zuschreibung ihrer literarischen und wissenschaftlichen Tätigkeiten einher: While women could and did write poetry and fiction such as novels and short stories – genres that did not threaten the established order and scholarly writing. Thus, women who possessed both literary and musical interests were expected to pursue them through forms of expression other than music criticism or academic writing, which could include the musical short story (Elise Polko), musical travelogue (Amy Fay), and biography of musicians (Lina Ramann).1165
In der Auseinandersetzung mit dem Narrativen ist bei Adler daher immer auch das Moment der Abgrenzung erkennbar: Indem das Narrative für die Musikwissenschaft abgelehnt wird, unterstreicht Adler nicht zuletzt auch ihren Anspruch auf Wissenschaftlichkeit. Dazu nochmals ein Auszug aus seiner Autobiographie, in dem deutlich mit jenen, den Zeitgenossen wohlbekannten Dichotomien operiert wird: Wie betrübend ist die Leichtfertigkeit mancher Schreiber, die Kretzschmar »Schnellbiographen« nennt. Die privaten Angelegenheiten, die Schwächen bilden manchmal einen Hauptanziehungspunkt für die dupierten Leser, wie Bühnenstücke über Künstler und andere »interessante« Persönlichkeiten. Mein Wesen widerstrebt diesen Lockungen und findet eine wissenschaftliche Stütze in den strengen Stiluntersuchungen, die den Charakter und die Erscheinung umfassen – alles, was […] in dem Kulturbild zu Tage tritt. Die Pflicht der Verantwortung muß dabei den Forscher erfüllen.1166
Der zitierte Textausschnitt stellt wiederum den Gegensatz von populärer und wissenschaftlicher Biographie in den Vordergrund, wobei die Wortwahl der gegenübergestellten Biographie-Arten auffällt: 1164 Ebda., S. 107. 1165 Deaville 2006, S. 136f. 1166 Adler 1935, S. 82.
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Leichtfertigkeit
—
wissenschaftliche Stütze
»Schnellbiograph«
—
Forscher
private Angelegenheiten
—
Kulturbild
Schwächen
—
Charakter
Bühnenstücke
—
strenge Stiluntersuchungen
Lockungen
—
widerstrebt diesen Lockungen
An diese sichtlich dichotom angelegte Wortwahl lassen sich weitere Dichotomien herantragen, die zu den Grundkonstituenten des bürgerlichen Selbstverständnisses gehören: subjektiv – objektiv, privat – öffentlich, Natur – Kultur, dilettantisch – professionell, weiblich – männlich, ornamental – asketisch, erzählend – wissenschaftlich. Bedenkt man, welch prägende Funktion das Denken in Dichotomien für die bürgerliche Gesellschaft des »langen« 19. Jahrhunderts hatte, wird verständlich, dass das Argumentationsmuster in der immer wieder hervorgehobenen Unterscheidung von populären Biographien, die »private Angelegenheiten« thematisieren, und wissenschaftlicher Musikhistorik, die auf »strenger Stiluntersuchung« und dem »Kulturbild« des Menschen basiert, liegt. Auch die Inszenierung der »anderen« Seite als »Lockung«, welcher der Wissenschaftler »widerstrebt«, gehört zum Bild der Dichotomien.
Das Narrative auslöschen: Dokumentarbiographik und Chronik Gegen Biographien, die aus einem »Conglomerat von Anekdoten und Charakterzügen, von denen insgemein drei Viertheile apokryph sind«, bestehen, hatte bereits Ambros 1860 polemisiert: »Wie viele solcher Historchen zirkuliren z. B. über Mozart. Sie sind entschieden verwerflich. Leicht nacherzählt und meist auf eine pikante Pointe hinauslaufend, gehen sie von Mund zu Mund und entstellen die Wahrheit auf ’s Schlimmste. Der authentische Biograph muß dann oft zur Widerlegung einer kleinen Anekdote einen ganzen Druckbogen zusammenschreiben.«1167 Daneben wandte sich Ambros auch gegen Ulybyschews »französisch-spirituellen Feuilletonstyle« und die »anmuthig leichte Darstellung«.1168 Damit waren die beiden hauptsächlichen Kritikpunkte an der populären Biographie formuliert: Unwissenschaftlichkeit aufgrund unzureichender Quellenkritik und aufgrund der Literarizität. Diese Kritik verfestigte sich bis in die ersten Jahre des 20. Jahrhunderts, biographisches Arbeiten, das wissenschaftlichen Ansprüchen genügen konnte, schien 1167 Ambros 1860, S. 7, Fussnote. Hervorhebung M. U. 1168 Ebda., S. 316.
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nurmehr – wenn überhaupt – unter stark veränderter Methodik möglich, vor allem, indem ein Weg gesucht wurde, den Vorwurf der Narrativität und der (damit einhergehenden) Subjektivität zu entkräften. In Anlehnung an die musikwissenschaftliche Philologie wurde das gleichsam »asketische« Modell der Dokumentarbiographie entwickelt, die eine (möglichst große Anzahl) von Fakten chronologisch zusammenstellt und dabei möglichst weitgehend auf Narrativität verzichtet. In der Begrenzung auf Quellen und Fakten erwartete man historiographische Authentizität – so auch Ambros Anspruch an den Biographen. Die erste Dokumentarbiographie über einen Musiker, die einen »neue[n] Typ der Biographie und darüber hinaus ein[en] neue[n] Typ der musikhistorischen Forschung«1169 darstelle, war der zum Jahresende 1913 erschienene und auf 1914 datierte, von Otto Erich Deutsch herausgegebene Band Schubert: Dokumente seines Lebens. Ursprünglich umfangreicher angelegt, erschienen lediglich zwei Bände. Deutsch, der in den folgenden Jahren weitere Dokumentarbiographien edierte, charakterisierte sie als eine »besondere Art […] Mosaik-Arbeit«,1170 ein Bild, das bezeichnenderweise sowohl auf die Konstrukthaftigkeit des entstandenen (biographischen) Bildes hinweist als auch auf die Leerstellen zwischen den Quellen. Rudolf Klein wies freilich darauf hin, dass auch hier nicht reine Objektivität anzutreffen sei, da der Forscher auch durch seine Quellen-Auswahl und den Umgang mit ihnen erkennbar werde: Es wäre ein Irrtum zu glauben, daß dieser Typ der musikhistorischen Forschung geringeres persönliches Engagement mit sich brächte als das landläufige Verfassen ›milieu-echter‹ Musiker-Biographien und Romane. Im Gegenteil: auch sogenannte Dokumente sind Niederschriften menschlicher Subjektivität, auch sie gewinnen ihren Wert erst durch den ständigen Vergleich, durch die Prüfung ihrer Echtheit, Zuverlässigkeit, durch das Examen der Querverbindungen, durch ihre Erklärung aus den Zeitumständen usw., also im Grund durch das Wissen und die Integrität des Sammlers. Fehlt die Fähigkeit zur Bewertung von Dokumenten, fehlt gar der Wille zur sachlichen Beurteilung, dann können auch dokumentarische Zeugnisse mißbräuchlich verwendet werden.1171
Die Dokumentarbiographik ist bis in die Gegenwart lebendig, etwa in der von Rudolph Angermüller in drei Bänden herausgegebenen Salieri-Dokumentarbiographie1172 und der vom selben Herausgeber verantworteten zweibändigen 1169 Rudolf Klein: »Vom Mißbrauch der Dokumentation«, Rezension von Dalchow et al. in Neue Zürcher Zeitung Nr. 139, 3. März 1968, zit. nach Duda/Dalchow/Kerner 1971, S. 245. 1170 Deutsch (Hg.) 1961, S. VII. 1171 Klein 1968, S. 245. 1172 Angermüller (Hg.) 2000.
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Mozart-Dokumentarbiographie.1173 Der Hinweis auf die »Mosaik-Arbeit« findet sich bei Angermüller allerdings nicht, stattdessen nutzte er interessanterweise die jeweiligen Vorworte zu einem Rückgriff auf die Narrativierung – im Falle der Mozart-Dokumentarbiographie sogar, um das Leben schlaglichtartig nachzuerzählen und entsprechend der Auswahl der folgenden Dokumente zu akzentuieren.1174 Der Verdacht drängt sich auf, dass dem dokumentarischen Prinzip nicht mehr unumschränkte Überzeugungskraft beigemessen wird, zumindest aber lässt Angermüller die Möglichkeit der Reflexion über die gewählte Methode ungenutzt. So überzeugend das Genre der Dokumentarbiographie das Problem der Narrativität (und damit der Subjektivität) von Biographien zu lösen vorgab, so deutlich war von Beginn an auch die Kritik am »bloßen Registrieren«: Es sei ein Fehler, so Hermann Abert bereits 1920, »ganz wahllos Stoffmengen auf[zu]türmen und den Weizen nicht von der Spreu zu sondern [zu] wissen«.1175 Seine Kritik richtete sich dabei nicht nur an die umfänglichen Dokumentarbiographien, sondern an die Methodik generell: »Die bequeme Methode des bloßen Registrierens von historischen Tatsachen hat mit große Schuld daran, daß jene widernatürliche Trennung von Kunst und Leben überhaupt aufkommen konnte.«1176 Denn, so Abert, der Musikhistoriker sei für eine Synthese aus Lebens- und Werkbeschreibung verantwortlich und »was […] einer als Biograph bedeutet, zeigt sich nicht darin, daß er möglichst viele Tatsachenmaterial zusammenbringt, sondern in der Art, wie er es zu sichten und zu gestalten versteht, nicht in der Vielheit des Gebotenen, sondern in der Auswahl. […] Wir müssen auch in der Biographie vom bloßen Sammeln und Wissen zum Gestalten vordringen.«1177 Der Appell, auch biographisches Material zu »gestalten«, ist ein Plädoyer für die »Grundfrage nach dem Verhältnis von Kunst und Leben«1178 und für das Narrative als wesentliches Moment von wissenschaftlicher Historiographie.
1173 Angermüller 2004, vgl. dazu auch Unseld 2006b. 1174 Im Vorwort zur Salieri-Dokumentarbiographie geht Angermüller vor allem auf die Salieri-Rezeption im Zusammenhang mit Mozart ein, auch hier findet sich keine Reflexion über die gewählte Methodik, bis auf den Hinweis, dass »die vorliegende Dokumentation über Antonio Salieri […] nicht nur Fakten seines Lebens aneinanderreihen [will], sie soll vielmehr im Spannungsfeld seiner Zeit, seiner Epoche gesehen werden. So läßt sich sein Wirken im Zeitraum von 1750 bis 1825 besser begreifen und verstehen.« Angermüller (Hg.) 2000, Bd. 1, S. VII. 1175 Abert [1920] 1929, S. 579. 1176 Ebda., S. 576f. 1177 Ebda., S. 579. 1178 Ebda., S. 575.
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Während sich Abert für eine Synthese aus Biographie und Werkbetrachtung aussprach, formierte sich im Zusammenhang mit den seit den 1970er Jahren vehemente anti-biographischen Tendenzen, von denen im Folgenden noch ausführlich die Rede sein wird, ein weiteres Modell, das die Idee der Dokumentarbiographik aufgriff und anstelle der »wuchernde[n] Anekdotik«1179 die Chronik verwendete. Dieses Modell wurde etwa in der seit 1981 erscheinenden Reihe Große Komponisten und ihre Zeit realisiert. Im ersten Band der Reihe heißt es entsprechend und prominent zu Beginn der Vorworts: »Es handelt sich hier um keine Biographie, die dilettantisch psychologisierend den musikalischen Großtaten eines Genies ein ebenso bedeutendes Künstlerleben beigesellen möchte. (Dafür sorgt eine Chronik für den unumgänglichen Zeitraster.)«1180 Die Chronik, so die Intention, bedeute eine Abkehr von der Heroenbiographik und solle vor dem Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit schützen. Der Grundgedanke der Chronik ist demnach dem der Dokumentarbiographie eng verwandt und greift auf die gleichen Argumente zurück, die zur Herausbildung ebendieser geführt hatte: Dem Vorwurf, durch die Narrativierung des Lebens eine Hagiographie zu befördern, wurde durch die aphoristischen Charakter der Chronik begegnet und damit der Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erhoben: »In den Leerräumen der Biographie hat sich schon seit den ersten Biographien, die bereits von der Neugier des 19. und 20. Jahrhunderts auf das Leben, nicht auf das Werk großer Persönlichkeiten mit geprägt waren, eine wuchernde Anekdotik ausgebreitet – sie zu zerstören und Nüchternheit walten zu lassen, war kein geringes Anliegen des Autors.«1181 Die aggressive Metaphorik (»zerstören«) korrespondiert mit der Intention, gerade an dieser Stelle sich gegen den Vorwurf der Un-Wissenschaftlichkeit zur Wehr setzen zu müssen. Alle Bände der Reihe folgen dem Prinzip der deutlichen Distinktion zwischen Chronik und Werkbetrachtung: Ein erster Teil enthält je eine sehr ausführliche Chronik, die einen Lebensabriss des dargestellten Komponisten und ausgewählte Ereignisse aus Politik, Gesellschaft und Kunst auflistet, im zweiten Teil der Bände werden dann Einzelaspekte des Werkes dargestellt. Diese scharfe Distinktion arbeitet dem Vorwurf entgegen, »die Deutung eines musikalischen Werkes« sei »ein Stück tönende Biographie«, die, so Dahlhaus, die biographische Methode »in Verruf geraten«1182 ließ. Dass dabei die Gewichtung deutlich auf der musikhistorisch-analytischen Werkbetrachtung liegt, während die biographische Chronologie als Prolegomenon erscheint, 1179 1180 1181 1182
Finscher 2000, S. 7. Hirsbrunner 1981, S. 9, Hervorhebungen M. U. Finscher 2000, S. 7. Dahlhaus (Hg.) 1975, S. 9.
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legt eine Hierarchie fest, die sich auch auf sprachlicher Ebene wiederfinden lässt: Das Leben wird (knapp) dokumentarisch-chronologisch protokolliert, das Werk musikwissenschaftlich-deskriptiv behandelt. Wenn auch die Ausgestaltung dieses Modells von den Autoren der Reihe individuell unterschiedlich umgesetzt wurde, bleibt der Grundsatz bestehen: Eine gleiche Sprachebene von biographischem und werkbetrachtenden Teil wird bewusst vermieden, um auf diese Weise die Unvereinbarkeit der beiden Bereiche so deutlich wie möglich zu machen. Denn so Dahlhaus in seinem Beethoven-Band dieser Reihe: »Die wissenschaftliche Präzisierung der Biographik einerseits und der musikalischen Analyse andererseits führt zu einer Trennung der Bereiche, die nahezu unaufhebbar ist.«1183
»eine bemerkenswerte Zurückhaltung der Musikwissenschaft« Biographie und Musikwissenschaft in den 1970er und 1980er Jahren Auf dem 1983 von Carl Dahlhaus und Egon Voss veranstalteten Wagner-Symposium in München war Reinhold Brinkmann eingeladen, über »Wagnerliteratur und Wagnerforschung« zu sprechen. In seiner »Improvisation über ein so nicht gegebenes Thema« wandelte Brinkmann jedoch das Thema ab (»Musikforschung und Musikliteratur«) und nahm konkret Stellung zur »Situation der wissenschaftlichen Biographik«. Die Gedanken, die Brinkmann hier formulierte, sind in zweierlei Hinsicht bemerkenswert. Zum einen aufgrund ihrer klaren Analyse des Verhältnisses von Musikwissenschaft und Biographik, zum anderen, da sich unter den Veranstaltern und Rednern Personen befanden, die zu den Hauptvertretern jener anti-biographischen Position innerhalb der Musikwissenschaft zählten, die Brinkmann scharf kritisierte: Für unsere Thematik und angesichts der Zusammensetzung […] des Podiums scheint mir ein anderes Feld vorrangig der Diskussion würdig. Ich meine die Situation der wissenschaftlichen Biographik. Daß diese heute und zumal auch in der Musikwissenschaft ein Problem darstellt, ein generelles Problem, erscheint offensichtlich. […] in Frage steht die große wissenschaftliche Biographie, jenes Genre, in das einerseits frühere Generationen unseres Fachs immensen Gelehrtenfleiß und höchste intellektuelle Anstrengung investierten, das als Krönung eines Forscherlebens verstanden werden konnte, und das andererseits die Summe des jeweiligen Wissens und Denkens über eine historische Gestalt und aus eigener neuer Sicht eine neue Zeichnung der künstlerischen Physiognomie unternahm. Auf diesem 1183 Dahlhaus 1980, S. 29.
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Feld ist eine bemerkenswerte Zurückhaltung der Musikwissenschaft zu beobachten, die mir in mehrfacher Hinsicht problematisch und bedauernswert erscheint – für das Fach selbst und für das Schreiben über Musik und Musiker außerdem.1184
Es ist lohnend, sich die vier Analyseschritte genauer anzusehen, die Brinkmann im Folgenden unternimmt, um die Hintergründe für die »bemerkenswerte Zurückhaltung« auszuloten. Dass Brinkmanns Gedanken sich nicht zuletzt auch als Replik auf Dahlhaus’ anti-biographische Haltung verstehen, ist dabei kaum zu verkennen. Als ersten Punkt benennt Brinkmann den Perspektivenwechsel, der – vom »Vertrauen in die Intaktheit der ›Ich-Welt‹-Beziehung«1185 erschüttert – vom Individuum weg zu strukturanalytischen Methoden geführt habe. Diese disziplinenübergreifende Entwicklung habe sich innerhalb der Musikwissenschaft »durch die Gegenstandsspezifik abgestützt: in keiner anderen Kunstgattung ist der Anspruch ästhetischer Autonomie als Resultat einer historischen Entwicklung für die Gegenwart so ungebrochen wie in der Musik.« Gestützt durch einen »Nachholbedarf im Bereich der Werkinterpretation [und] die Aneignung und Differenzierung der werkimmanenten Methoden aus den Literaturwissenschaften« sei das Individuum gänzlich aus dem Blick geraten. Worauf Brinkmann dabei zu Recht verweist, ist, dass just diese Hinwendung zum Werk (als Notentext) unter genau jenen Prämissen geschieht, die mit dem Perspektivwechsel in der Kritik stehen sollten: »Denn das Gesamtausgabenwesen, das geschichtlich und methodisch der doch gleichen Idee einer an den großen Einzelnen orientierten Heroengeschichtsschreibung entspringt wie die biographische Methode, blüht unverdrossen und ist von keinem Zweifel eines modernen wissenschaftlichen Gewissens angekränkelt.« Von einem Paradigmen-Wechsel im Hinblick auf die Kohärenz von Geschichtsdarstellungen spricht Brinkmann im zweiten Punkt: Hatte sich die Musikwissenschaft bis in die 1970er Jahre analog zu einer als »organisch« angenommenen Entwicklung von Künstlerpersönlichkeit und Werk einer kohärenten und stringenten Narration verpflichtet gesehen – bestärkt noch durch die (auch narrative) Überzeugungskraft der Heroenbiographik –, beobachtet Brinkmann ein Schwinden des narrativen Elements. Anhand von Dahlhaus’ Die Musik des 19. Jahrhunderts analysiert Brinkmann, dass hier einzelne Problemfelder »in einem komplizierten Essay-Geflecht ineinander[greifen]«. Dieser Verzicht auf kohärente Narration sei es schließlich, der Biographik – im konkreten Fall die Frage einer biographischen Verortung von Richard Wagner im 19. Jahrhundert – letztlich verhindere: »Von einer solchen Darstellungs-
1184 Brinkmann 1985, S. 151. 1185 Dieses und die folgenden Zitate aus: ebda., S. 152ff.
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form und ihren wissenschaftstheoretischen Prämissen her ist der Schritt zu einer narrativen Biographik in der Tat weit, wenn nicht unmöglich.« Im dritten Punkt spricht Brinkmann die fachgeschichtliche Disposition nach 1945 an: In der Musikwissenschaft habe man die personellen Verstrickungen zur Zeit der NS-Herrschaft durch »überindividuelle« Themen zu kaschieren versucht, bzw. sich auf biographische Quellen-Sichtung beschränkt: »Statt eine interpretierende Biographie zu schreiben, edieren Wissenschaftler heute lieber Dokumentenbände, Schriftsteller und andere interessierte Zeitgenossen übernehmen die von der Wissenschaft verschmähte oder nicht gewagte Aufgabe [des Biographieschreibens].« Am konkreten Beispiel der von Egon Voss verantworteten Wagner-Dokumentarbiographie1186 legt Brinkmann jedoch das Problem der Schein-Objektivität durch »Deutungs-Abstinenz« offen: Voss hatte die sogenannte Fidelio-Episode getilgt, »weil sich inzwischen herausgestellt hat, daß Wagners Schilderung [in seiner Autobiographie] vermutlich gar nicht der Wahrheit entspricht.«1187 Brinkmann kritisiert: Hier aber liegt gegenüber den möglichen Irrungen und Wirrungen der engagierten Biographie das Problem einer auf die bloße Vermittlung positiven Wissens reduzierten Dokumentation. Sie läßt sich so die einzigartige Chance entgehen, aus einer derartigen Diskrepanz das biographische und das wirkungsgeschichtliche Phänomen Wagner zu begreifen. Gerade ein solcher offenbarer Widerspruch zwischen Selbstdarstellung und Faktum bedarf der dann erhellenden Interpretation, wobei das gesamte Spektrum zwischen bewußter Fälschung aus strategischer Absicht bis hin zum psychologischen Problem einer unbewußten Verdrängung auszuloten wäre, um jene schillernd-faszinierende Künstlergestalt als individuellen wie das 19. Jahrhundert prägenden Gegenstand darstellen zu können.
Im vierten Punkt kommt Brinkmann nochmals auf das Element des Narrativen zu sprechen:1188 Biographik setze »Erzählen-Können« voraus – nicht 1186 Voss 1982. 1187 Brinkmann zitiert an dieser Stelle Voss (Voss 1982, S. 8). 1188 Der Historiker Johannes Süßmann plädiert übrigens nach eingehenden Studien über historisches Schreiben zwischen 1780 und 1824 dafür, die Scheu vor Narrativem in der Geschichtswissenschaft endgültig abzulegen: »diese Einsicht […] besagt, daß die erzählende Darstellung ebenso wissenschaftlich ist und ebenso berechtigt wie ein Forschungsaufsatz oder eine Strukturanalyse. Sie besagt, daß unter den verschiedenen Repräsentationsmöglichkeiten der Historie die Geschichtsschreibung heute so gut wie je einen legitimen Platz beanspruchen darf – ja sogar einen bevorzugten, wenn das von ihr konstruierte Geschichtsbild reicher ist, vielfältiger, komplexer, bewegender, relevanter als ein begrifflich argumentativ entfaltetes. Nicht zuletzt besagt diese Einsicht, daß die erzählenden Historiker frei sind in der Wahl ihrer Mittel. Je nach Frage, Problemstellung, Gegenstand können sie als Erzähler vom Thriller die Montagetechnik übernehmen oder sich an den Aristotelischen Einheiten orientieren,
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nur im Sinne von Verständlichkeit, sondern auch im Sinne einer Kongruenz zum dargestellten Gegenstand: »Es ist eine Sprachmächtigkeit gefordert […], welche dem Komplexitätsgrad, der Kunsthöhe ihres Gegenstandes […] entspricht – und gleichzeitig ein lesbares Buch ergibt. Wer aus unserer Zunft will sich das zutrauen?« Mit dem Hinweis auf die Balance zwischen Sprachmächtigkeit und Lesbarkeit entgegnet Brinkmann damit dem latenten Vorwurf der Anbiederung an das Populare. Noch 2001 formulierte er in der Dankesrede zur Verleihung des Ernst von Siemens Musikpreises unter den »Kriterien für eine Musikwissenschaft der nahen Zukunft« die Vision eines »Erzählen-Könnens« der Musikwissenschaft: »Ich sehe Musikwissenschaftler bei Poeten in die Lehre gehen und eine verständliche und doch reich nuancierte Sprache sprechen und schreiben. Die Entwicklung dieser dem ästhetischen Gegenstand angemessenen und den Adressaten gleichwohl erreichenden hermeneutischen Sprache wird die Umwandlung der Musikwissenschaft in ein auch öffentlich relevantes Fach krönen.«1189 Eine solche Balance sah im Übrigen Serge Gut in Constantin Floros’ Büchern über Mahlers Sinfonik realisiert, bezeichnenderweise möchte man meinen, denn es waren u. a. diese Arbeiten, die die Kontroverse um Floros’ Methode der semantischen Analyse beförderten: »II faut également louer la clarté, la limpidité et l’élègance du style. Alors que bien des musicologues d’Outre-Rhin se croient obliges d’écrire dans un langage obscur, confus et souvent hermétique, C. Floros sait nous prouver que, sous sa plume, l’allemand peut être d’une lecture fort séduisante, tout en restant profond et précis.«1190 Mit diesen vier Punkten war Wesentliches zum Verhältnis von gegenwärtiger Musikwissenschaft und Biographik angesprochen. Dies zeigte sich in den Folgejahren: Carl Dahlhaus etwa widersprach allen vier genannten Punkten Brinkmanns; in seiner Beethoven-Biographie von 1987 setzte er sich intensiv mit der Frage des Verhältnisses von Werk und Biographie auseinander, auch wenn Brinkmann hier mit keinem Wort Erwähnung fand. Für die Situiertheit können sie einem stream of consciousness darstellen wie im modernen Bewußtseinsroman oder sich, dem nouveau roman entsprechend, auf eine radikale Außensicht zurückziehen, können sie ihre Handlung in offene, fragmentarische Fabeln gliedern oder in geschlossene, können sie eine bestimmte Perspektive auf das Erzählte einnehmen oder viele wechselnde. Sie brauchen keine Scheu zu haben, von der fiktionalen Literatur zu lernen, von der künstlerischen sowenig wie von der unterhaltenden, vom Film sowenig wie von anderen Medien, sie dürfen alle erzählerischen Mittel gebrauchen – sofern sie dabei stets und in jeder Einzelheit ihrer pragmatischen Pflicht als Geschichtsforscher genügen, sofern sie den durch das Erzählen konstituierten Gegenstand als methodisch reguliertes, hypothetisches Geschichtsdenken kennzeichnen.« Süßmann 2000, S. 265. 1189 Der Auszug aus der Rede wird hier zit. nach Brinkmann 2009, S. 363. 1190 Gut 1988, S. 246.
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des Faches Musikwissenschaft im 20. Jahrhundert blieb die Frage der Biographie – gerade auch ihre Ablehnung – ein Angelpunkt.
Wider das Triviale: Carl Dahlhaus’ Polemik von 1975 und ihre Folgen Mit seiner Polemik »Wozu noch Biographien?«, die 1975 in der Zeitschrift Melos/Neue Zeitschrift für Musik erschien, hatte Dahlhaus eine Auseinandersetzung mit der Biographik angestoßen, die neuerlich das Verhältnis von Biographie und Musikwissenschaft zur Diskussion stellte, dabei die dritte gravierende Zäsur der antibiographischen Diskussion markierte, und die zugleich den Beginn von Dahlhaus’ eigener Beschäftigung mit bzw. der Ablehnung von Biographik bedeutete. Die Polemik war eine Abrechnung mit der Biographik des 19. Jahrhunderts – und zwar sowohl mit der Gattung selbst als auch mit ihrer Leserschaft – und damit eine Positionsbestimmung, die eine Musikwissenschaft ohne Biographik postulierte. Dahlhaus zählte in seinem knappen Text1191 zunächst eine Reihe von Prämissen auf, die im 19. Jahrhundert die Biographie wenn nicht legitimiert, so doch zumindest befördert hatten, die gegenwärtig (1975) aber nicht mehr relevant seien: Die Monumentalbiographie sei »charakteristisch für den Geist des Jahrhunderts« gewesen, in dem sich »das bürgerliche Individuum zu öffentlicher Geltung brachte«. Sie habe der nationalen, bürgerlichen Identifikation und im Sinne »moralische[r] Exempla classica« als Vorbild für Heranwachsende gedient, und die Kunstreligion habe die Künstlerlegende, und mit ihr die Märtyrer- und Heroengeschichte befördert. Gegenwärtig aber suche, so Dahlhaus, die Jugend nicht in der Geschichte nach Vorbildern, die Historik – und mit ihr die Biographie – sei von einer Leitwissenschaft zu einer »peripheren Disziplin« herabgesunken, der Bedarf an Denkmälern sei erschöpft und Künstlerlegenden obsolet. Neben diesen veränderten Rahmenbedingungen – deren historische Einordnung in die Zeit und die Fachgeschichte um 1975 einer eigenen Betrachtung wert wäre – ist es aber vor allem das Verhältnis von Biographie und Werk, das Dahlhaus auf den Prüfstand stellte, mithin eine genuin methodische Frage an die Musikwissenschaft: Das Leben, das man in den Werken wiederzuerkennen trachtete, war entweder das äußere, empirische oder das innere, intelligible, das Subjekt, als dessen tönende Selbstdarstellung man Musik begriff, also entweder der reale Beethoven oder Wagner, wie er sich in biographischen Dokumenten zeigte, oder aber ein 1191 Die folgenden Zitate sind dem einseitigen Text von Dahlhaus entnommen: Dahlhaus 1975b.
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ideales Ich, das man – in einem hermeneutischen Zirkelschluß – aus den Werken rekonstruierte, um dann umgekehrt die Werke als Ausdruck des idealen Ich interpretieren zu können.
Ob es möglich sei, den Lebensweg eines komponierenden Menschen mit dessen Werken überhaupt sinnvoll in Beziehung zu setzen, beantwortet Dahlhaus mit einem klaren Nein: »Die biographische Fundierung musikalischer Werke ist auch dort, wo sie rekonstruierbar erscheint, für die Interpretation irrelevant«. Dahlhaus’ Fazit: Da die Voraussetzungen für Biographien, wie sie im »langen« 19. Jahrhundert gegeben war, fehlen, und da biographische Aspekte für die Interpretation (Analyse) von Musik irrelevant seien – »wozu dann noch Komponisten-Biographien?« Es ist durchaus lohnend, diese Polemik mit einem Buch Dahlhaus’ zu konfrontieren, das eine Biographie sein könnte, und doch vorgibt, keine zu sein: Ludwig van Beethoven und seine Zeit aus der oben im Zusammenhang mit der Chronik bereits erwähnten Reihe Große Komponisten und ihre Zeit. Der Frage, ob es sich bei diesem Buch um eine Biographie handele, erteilt Dahlhaus gleich im Vorwort eine Absage, vielmehr nennt er das Buch eine »Darstellung, die ihren fragmentarischen Charakter nicht verleugnet, Interpretationsansätze zu zeigen, deren gemeinsames, von verschiedenen Seiten angesteuertes Ziel eine Rekonstruktion von Beethovens ›musikalischer Poetik‹ ist.«1192 Eine »›große‹ Beethoven-Biographie«, sei, so Dahlhaus, bislang nicht geschrieben worden, da (und hier scheint das Argument der Polemik, das die Voraussetzungen für Biographik nicht mehr gegeben sei, durch) »die Zeit der Monumental-Biographien […], mit dem Ersten Weltkrieg zu Ende« gegangen sei. Es sei freilich eine Utopie »zu hoffen, daß in näherer oder ferner Zukunft ein Werk geschrieben werde, das die in Jahrzehnten gehäuften ›Beiträge‹ zusammenfaßt und deren innere Einheit kenntlich macht«.1193 Eine klare Absage an eine umfassende Beethoven-Biographie, wie dies nach der Polemik von 1975 zu erwarten gewesen wäre, ist dies freilich nicht. Genauso wenig ist es eine Kehrtwende, sondern vielmehr der Auftakt zu einer Musikgeschichte »ohne ein fest umrissenes Subjekt«,1194 ein Konzept, das Dahlhaus in seinem Aufsatz »Zur Frage nach dem Subjekt in der Musikgeschichte«1195 skizzierte und im Beethoven-Buch der Laaber-Reihe zu realisieren suchte. Dass aber mit diesem Konzept das Biographische (zusammen mit dem Subjekt), vor allem auch das Monumentalbiographische, endgültig aus der Musikgeschichte verabschiedet sei, davon kann bei Dahlhaus keine Rede sein. Im Gegenteil: 1192 1193 1194 1195
Dahlhaus 1987, S. 7. Ebda. Ebda., S. 86. Dahlhaus 1977.
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Die brisante Frage nach dem Verhältnis von Werk und Biographie rückt hier umso deutlicher in den Vordergrund. Explizite Antworten gibt Dahlhaus im Vorwort des Beethoven-Buches zu dieser Frage, in dem er für die Notwendigkeit der (reihenspezifischen biographischen) Chronik argumentiert: Die »Chronik« ist nicht als Schrumpfform einer Biographie gemeint, sondern als Indiz für die Überzeugung des Verfassers, daß man einerseits […] ein Datengerüst braucht, um Werke und Ereignisse aufeinander beziehen zu können, daß aber andererseits die Probleme, mit denen das Verhältnis zwischen Kunstwerk und Biographie belastet ist, von einer Lösung so weit entfernt sind, daß sich nicht einmal sagen läßt, welche Arten von Tatsachen in einer Lebensgeschichte überhaupt zu erzählen wären.1196
Auch die Frage eines »Beethoven-Bildes« lässt Dahlhaus mit dem Hinweis unbeantwortet, die Größe dieser Fragestellung könne »durch die Arbeit eines Einzelnen« nicht »erfüllt werden«.1197 Implizite Kritik an Eggebrechts 1972 erschienenem Buch Zur Geschichte der Beethoven-Rezeption mag bei dieser Einschätzung ebenso eine Rolle gespielt haben wie der Topos der Bescheidenheit: Scheinbar unbemerkt aber kehrt mit dieser »Vergrößerung« der Aufgabe auch eine Monumentalisierung Beethovens zurück – eine indirekte Monumentalisierung, wie sie auch (davon wird unten noch die Rede sein) nach der Extraktion des biographischen Subjekts einsetzt. Was sich im Vorwort andeutet, wird im ersten Hauptkapitel dann zur Gewissheit: Überschrieben mit dem Titel »Werk und Biographie« widmet es sich in vier Argumentationsschritten (»Die biographische Methode«, »Musikalische Form und ästhetischer ›Außenhalt‹«, »›Intitulata Bonaparte‹« und »Ästhetisches und biographisches Subjekt«) der brisanten Frage von deren Verhältnis, rückt damit diese Frage gewissermaßen als Leitgedanken ins Zentrum des gesamten Beethoven-Buches. Die enge Beziehung zwischen Werk und Biographie begründe sich, so Dahlhaus, auf der irrigen Annahme, dass Legenden und Anekdoten historischen Wahrheitsgehalt beanspruchten, »in dem Maße aber, in dem legendäre und anekdotische Vorstellungen durch historische Kritik zurechtgerückt werden, schwindet die Möglichkeit, Werk und Biographie sinnfällig zu verknüpfen«.1198 Damit bedeutet ihm die Abkehr vom Biographischen eine wissenschaftliche Aufwertung der Werkanalyse (Dahlhaus spricht u. a. von der 1196 Dahlhaus 1987, S. 8. 1197 Ebda. 1198 Ebda., S. 29. Einen symbolischen Wahrheitsgehalt gesteht Dahlhaus Anekdoten freilich zu, ohne zu konkretisieren, was darunter zu verstehen sei.
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»Analyse als ›objektivierten Geist‹«1199), zumal das kritische Verifizieren von Anekdotischem nur zur Präzisierung einer lebensgeschichtlichen Darstellung führen könne, die »neben der Werkinterpretation herläuft, ohne entscheidend in sie einzugreifen.«1200 Diese Unterordnung der Biographie unter die Werkanalyse wird auch an jenem Punkt deutlich, an dem Dahlhaus Adlers Kategorie der »Hilfswissenschaft« paraphrasiert: »Daß biographische Untersuchungen für die Interpretation von Kunstwerken nützlich oder sogar unentbehrlich sein können, leugnet niemand.«1201 Auffallend aber neben der Unterordnung vor allem die Abwertung mithilfe des Begriffs des Trivialen, der mehrfach in diesem Kapitel auftaucht,1202 immer im Bezug auf die Biographie selbst oder auf werkanalytische Methoden, die biographische Momente einbeziehen. So bezeichnet er beispielsweise die Annahme, »daß man die Biographie eines Komponisten erzählt, um das Werk begreiflich zu machen«, als Trivialität – ein deutlicher Seitenhieb auf die Methode Constantin Floros’.1203 Abwertend auch der Hinweis, dass es die »Nebenwerke« seien (als Beispiele aus dem Œuvre Beethovens nennt Dahlhaus hier die Tänze, Liedbearbeitungen und »ein großer Teil der Klaviervariationen«), die »zu einem Rückgriff auf die Biographie, und zwar die empirisch-sozialgeschichtliche« zwängen,1204 sowie der »unbestreitbare Nutzen biographischer Rückgriffe für die Erhellung von Einzelheiten«, die Dahlhaus jedoch als »bloß peripheres Moment« betrachtet.1205 Konkret benennt Dahlhaus als derartige »Einzelheiten« die Umstände der Widmung an Erzherzog Rudolph im Kontext der Klaviersonate op. 81a. Diese bei einer Analyse zu kontextualisieren und damit biographische Details heranzuziehen, führe nicht nur in die Irre, sondern sei auch mit der Gefahr der unangemessenen Popularisierung verbunden: »Bei einem Werk, dessen biographische Voraussetzungen bekannt sind und immer bekannt waren, ist die Unterscheidung des ästhetischen Subjekts vom biographischen um so dringender, je mehr die Popularästhetik dazu neigt, die Differenz zu verwi1199 Dahlhaus 1987, S. 32. Zur Konstruktion von Objektivität in Musikanalyse vgl. auch Huber 2009. 1200 Dahlhaus 1987, S. 29. 1201 Ebda., S. 30. 1202 Ebda., S. 29, 33 et passim. Ähnlich übrigens auch die Begriffe »Naivität« (vor allem im Kontext der »biographisch-psychologischen Methode«) und des »Laien(tums)«. 1203 Ebda., S. 29, dann auch im Folgenden: »Wer ein Kunstwerk als Dokument entziffert – also aus Ideen und Ausdruckscharakteren, die er darin zu erkennen glaubt, biographische Rückschlüsse zieht –, neigt unwillkürlich dazu, den gleichen Weg in umgekehrte Richtung zu gehen und aus biographischen Zeugnissen die Ideen und Ausdruckscharaktere der Werke zu ›begründen‹, ihnen also gewissermaßen ein Programm zu unterlegen, das in der Biographie des Komponisten besteht.« 1204 Ebda., S. 31. 1205 Ebda.
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schen.«1206 In diesem Fall geht es um die Widmung von 1809 an den aus Wien abreisenden Erzherzog, die Dahlhaus dem Erstdruck der Sonate von 1811 gegenüberstellt. Es sei verfehlt, »das Werk unreflektiert als Dokument aufzufassen, dessen ästhetisches Verständnis im biographischen wurzeln muß«, denn Beethoven habe nicht die Abwesenheit des Erzherzogs, sondern die »anonyme Öffentlichkeit, nicht ein[en] geschlossene[n] Freundeszirkel« im Sinn gehabt.1207 Das Argument freilich geht an dieser Stelle ins Leere, denn Dahlhaus setzt mit dem geänderten Adressatenkreis nicht das biographische Moment der Widmung aus, sondern ersetzt es lediglich durch einen anderen biographischen Kontext (den des für einen anonymen Markt Komponierenden). Warum aber, so wäre zu fragen, nimmt er dies nicht als biographischen Kontext wahr? Die Antwort liegt in der Bewertung der Sonate: Nur »Nebenwerke« seien, so hatte Dahlhaus ausgeführt, durch Rückgriffe auf die empirisch-sozialgeschichtliche Biographie erklärlich, nicht aber »Hauptwerke«, zu denen Dahlhaus Beethovens op. 81a zweifellos zählt. Da aber »Hauptwerke« vor der »Gefahr, einer ›mythisierenden‹ Biographik zu verfallen«,1208 zu schützen seien, bleibt für diese Kategorie von Werken nur die vom biographischen Subjekt losgelöste Analyse, die Dahlhaus dann auch im Folgenden unternimmt. Dazu führt er die Kategorie des »ästhetischen Subjekts« ein, »in das sich das biographische gleichsam zurückzieht«.1209 Mit dem »ästhetischen Subjekt« kann Dahlhaus ihm relevant erscheinende Rudimente des »biographischen Subjekts« für seine Analyse zulassen, da es aber über dem »biographischen Subjekt« steht, ist Letzteres immer wieder in seine Nebenrolle zurückführbar – die auffallend wertende Begriffswahl ist hierbei von Bedeutung: »Es ist jedenfalls nicht abwegig, das ästhetische Subjekt, das ›hinter‹ einem Werk steht, als primär hervorbringendes – und erst sekundär in biographisch faßbaren Zusammenhängen lebendes – Subjekt aufzufassen, dessen Tätigkeit dann in einer adäquaten Werkrezeption nachvollziehbar ist. […] Das ästhetische Subjekt ist gewissermaßen das im Werk überdauernde, ihm als ›Energeia‹ einbeschriebene kompositorische Subjekt.«1210 Entsprechend bezeichnet Dahlhaus auch einen Unterschied, welche Werke eher über ein »ästhetisches« und welche eher über ein »biographisches Subjekt« zu entschlüsseln seien: »Die relative Legitimität oder Illegitimität der biographischen Methode ist partiell von der Nähe oder Ferne eines Werkes zur klassizistischen Ästhetik 1206 1207 1208 1209 1210
Ebda., S. 64. Ebda. Ebda., S. 31. Ebda., S. 71. Ebda., S. 71f.
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abhängig. ›Objektiv‹ gerichtete Epochen oder Gattungen, wie die Klassik und das Drama der geschlossenen Form, sind einer biographischen Erschließung in geringerem Maße zugänglich als ›subjektiv‹ orientierte, wie die Romantik und die ›Erlebnislyrik‹.«1211 Dahlhaus’ Trennung zwischen biographisch kontextualisierbaren »Nebenwerken« und von lebensgeschichtlichen Kontexten freien »Hauptwerken«, zwischen »trivialem« Leben-Werk-Zusammenhang und der Einführung eines vom Biographischen weitgehend freien »ästhetischen Subjekt« als Grundlage einer Werkanalyse, führt ihn konsequenterweise zu einer zweiten Ebene: »Und aus der Reflektiertheit des Kompositionsprozesses resultiert wiederum die Forderung einer analogen Reflektiertheit des musikalischen Hörens«.1212 Nur eine »unreflektierte« Betrachtung eines musikalischen Kunstwerks bedürfe einer biographischen Interpretation, das Populare bedürfe des Biographischen, das dem goutierenden Konzertpublikum, nicht aber der wissenschaftlichen Auseinandersetzung angemessen sei. Damit ist die eigentliche Trennung erkennbar: zwischen dem Komponisten, seinem Werk und dem »reflektierenden«, d. h. wissenschaftlich ausgebildeten Hörer einerseits und dem an Biographischem interessierten, »unreflektierten« Hörer andererseits, dem damit das Eigentliche – Komponist und Werk – verschlossen bleiben muss. Diese Argumentationsschritte – von der Wertung von Kompositionen als trivial, da biographisch kontextualisierbar, versus hochwertig, da nur mithilfe des »ästhetischen Subjekts« analysierbar, bis zur Rezeptionshaltung, die sich ähnlich kategorisieren lasse in ein biographisch einfühlendes, triviales Hören versus objektiv-analytisches Hören – finden übrigens eine auffallende Entsprechung in jener Definition des Begriffs »Klassik«, die Ludwig Finscher 1967 vorlegte. Auch hier sind es ausgewählte »Hauptwerke«, die allein den Begriff des Klassischen für sich reklamieren können, vor allem aber ist ein besonderer Hörer-Typus aufgerufen, wie ihn auch Dahlhaus mit der »Forderung einer analogen Reflektiertheit des musikalischen Hörens« benannt hatte. Bei Finscher heißt es: »Wiederum deutet dieses Ineinander so vieler und so verschiedener Elemente der Ordnung auf einen neuen Typus des Hörers, der der Musik der Wiener Klassik ideell zugeordnet zu sein scheint – Einheit und Ordnung des Ganzen ist zwar in jedem Falle dem Werk selbst immanent, verlangt aber, um erkannt und nachvollzogen zu werden, in der Apperzeption eine differenzierte Aktivität«.1213 Dass diese Vorstellung von Hörertypus und Werk(analyse) einer Ästhetik Vorschub leistet, die das Werk aus seinen Entstehungszusammenhängen und 1211 Ebda., S. 31. 1212 Ebda., S. 72. 1213 Finscher 2003, S. 221.
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allen damit verbundenen Parametern isoliert, macht freilich wiederum den Weg frei für eine Genie-Ästhetik, wie sie sich in der Heroenbiographik des 19. Jahrhunderts Bahn brach. Diesen Zirkelschluss nicht auflösen zu können, blieb Dahlhaus’ Dilemma in der Auseinandersetzung mit Biographik. Seinem Werkverständnis hätte eine Monumentalbiographie entsprochen, ein Genre freilich, das er ebenso klarsichtig wie kritisch als bürgerliches Medium der Selbstdarstellung decouvriert hatte, doch sein Gegenentwurf eines »ästhetischen Subjekts« kam dem emphatisch-heroischen Beethoven-Bild des 19. und frühen 20. Jahrhunderts gerade besonders nahe. Von diesem Widerspruch ist letztlich auch die theoretische Reflexion über Biographik von Dahlhaus geprägt, die zwei Jahre nach der Polemik und zehn Jahre vor dem Beethoven-Buch erschien, und zwar in den Grundlagen der Musikgeschichte, hier vor allem im Kapitel »Zur Frage nach dem Subjekt der Musikgeschichte«.1214 Auffallend ist in diesem Text, dass es – wie auch bei Adler – der Aspekt der Narrativität ist, den Dahlhaus eingangs als Grund dafür anführt, »warum die Historie gefährdet erscheint«.1215 Narration als Prämisse von Geschichtsschreibung habe ihren Ursprung, so Dahlhaus, in der Biographie: Die Frage, was denn eigentlich das Zusammenschließende sei, das eine Geschichte erzählbar macht, zielt offenbar, so scheint es wenigstens, auf ein Subjekt der Geschichte, dessen im Wechsel sich durchhaltende Identität eine bruchlose Kontinuität verbürgt, ohne die das Bild vergangener Vorgänge in beziehungslose Stücke auseinanderfallen würde. Die Idee eines Subjekts der Geschichte – als Bedingung von deren Erzählbarkeit – verdankte ihre bis vor wenigen Jahrzehnten unangekränkelte Plausibilität offenkundig dem Modell der Biographik, an dem sich die Historiographie, auch die musikalische, über weite Strecken orientierte, und zwar noch dort, wo sie sich dessen gar nicht bewußt war.1216
Dahlhaus zieht als Beweise nicht näher genannte »Darstellungen der neueren Musikgeschichte« heran, sowohl ihre inhaltliche Konzeption als auch ihre sprachliche Darstellung dabei in den Blick nehmend, denn auch jene Musikgeschichten, in denen – statt dem Fokus auf Einzelpersonen (Komponisten) – »eine musikalische Gattung oder ein Stil das Subjekt der Geschichte bildet, […] verrät bereits die ›lebensgeschichtliche‹ Metaphorik, zu der die Historiker der Kunst seit Winckelmann und Herder unwillkürlich immer wieder greifen, daß die ›Lebensalter‹ einer musikalischen Gattung oder eines Stils als
1214 Dahlhaus 1977, S. 76–89. 1215 Ebda., S. 76. 1216 Ebda.
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Analoga zu denen einer Person aufgefaßt werden«.1217 In der Darstellung, mithin im Erzählen, rekurrierte eine Vielzahl von Musikgeschichten im Biographischen. Diese Dominanz kritisiert Dahlhaus vor allem mit den Argumenten der in den 1970er Jahren aktuellen Geschichtswissenschaft (u. a. Hans Robert Jauss): Es gehe dem »modernen Historiker« nicht mehr darum, als »allwissender Erzähler« zu fungieren und die Geschichtsschreibung als Pendant zum Roman fortzuführen. Vielmehr neige er dazu, »einen Vorgang unter verschiedenen Perspektiven darzustellen, die sich manchmal durchkreuzen, statt sich zu ergänzen«, außerdem neige er zu einer Skepsis »gegen die Setzung fester Anfänge und Schlüsse«, versuche »die Illusion lückenloser Kontinuität zu vermeiden«, indem er »den Gang der Erzählung durch sperrige, querstehende Fakten« störe, und mache »fühlbar, daß die Geschichte, wie er sie erzählt, außer der Darstellung eines Stücks Vergangenheit ein Dokument über die Gegenwart ist, aus deren Situation heraus er schreibt.«1218 Mit diesen so formulierten Ansprüchen an eine moderne Geschichtsschreibung befindet sich Dahlhaus inmitten der historiographischen Debatten der 1970er Jahre. Da er eingangs aber den Ursprung des Erzählenden in der Geschichtsschreibung ausschließlich in der Biographie ausgemacht hatte, zieht nun das Unbehagen an einer kohärenten Erzählbarkeit von Geschichte die konsequente Ablehnung des Biographischen – als Garant von kohärenter Darstellbarkeit – nach sich. Dahlhaus’ Ablehnung des Biographischen, so könnte man also pointiert formulieren, ist die Ablehnung einer narrativen Kohärenz in der Musikgeschichtsdarstellung. Es war just jene Konsequenz, die Dahlhaus daraus zog – Musikgeschichtsschreibung nicht in großen Zusammenhängen, sondern in komplex ineinander verschachtelten Einzelaspekten zu beschreiben –, die Brinkmann zu seiner deutlichen Kritik veranlasst hatte. Mit seiner Forderung nach einer »Sprachmächtigkeit […], welche dem Komplexitätsgrad, der Kunsthöhe ihres Gegenstandes […] entspricht – und gleichzeitig ein lesbares Buch ergibt«,1219 versuchte Brinkmann nicht nur, das Narrative wieder in die Musikgeschichtsschreibung zu integrieren, sondern damit auch dem latenten Vorwurf des Trivialen, der sich für Dahlhaus mit Narration und Biographie untrennbar verband, aufzulösen. Es lag im Übrigen nicht in Dahlhaus’ Erwägung, dass die Biographie selbst Gegenstand kritischer Reflexion und die Vorstellung eines kohärenten biographischen Subjekts selbst zur kritischen Disposition stehen könnte. Die allgemeine Theorie- und Methodikferne der Biographik, die Helmut Scheuer 1217 Ebda., S. 76f. 1218 Ebda., S. 81. 1219 Brinkmann 1985, S. 154.
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vor allem auf die Heroenbiographik zurückführt – »[a]ls einzelne Geschichte von einem Helden mit ihrer Nähe zum literarischen Schema des Entwicklungsromans war die Biographie bestenfalls ästhetisch zu bewerten, sie war aber nicht theorie- und damit wissenschaftsfähig«1220 –, stand auch für Dahlhaus unverrückbar fest, zumal der Ausschluss aus dem Kanon wissenschaftlicher Methodik durch Adler nachwirkte und die Musikerbiographik an sich einer kontinuierlichen Methodenkritik fernhielt. So differenziert Dahlhaus mit den historiographischen Diskussionen der Zeit umgeht: Eigentümlich eingeschränkt hält sein Biographie-Verständnis an der Heroenbiographik des 19. Jahrhunderts fest, als wäre die Biographik an sich keiner Veränderung unterworfen und keiner kritischen Auseinandersetzung würdig. Umso bemerkenswerter erscheint dabei, dass diese Theorie letztlich jedoch genau jener Monumentalbiographik wieder in die Hände spielte, die Dahlhaus 1975 so vehement attackiert hatte. Dahlhaus’ Ringen mit der Biographie, vor allem seine Kernfrage, ob und wie Biographisches mit Werkanalytischem in Verbindung stehe und wie man dies zur Sprache bringen könne, zeigte rasch und nachhaltig Reaktionen, das Thema Biographie und Musikwissenschaft blieb auf der disziplinären Agenda. Bereits 1975 antwortete Hermann Danuser auf Dahlhaus’ Polemik.1221 Er stimmte Dahlhaus in der Kritik an der Biographik des »langen« 19. Jahrhunderts zu, reklamierte aber die Notwendigkeit, eine neue Verbindung zwischen Biographie und Analyse zu suchen, und forderte eine andere Biographik, »deren Schwerpunkt auf der Poetik im weitestem Sinne läge«.1222 Danuser plädierte gleichwohl »auch für ein musikwissenschaftliches Denken, das analytisch auf das Einzelwerk und das dieses prägende ›idiomatische Gefüge‹ (Elmar Budde) abzielt, von Sinn und Nutzen sein könnte«.1223 Dabei solle sich, so Danuser in Anlehnung an Adlers Begriff, die Biographie ihrer Funktion als »Hilfswissenschaft« bewusst sein, deren Ziel vor allem in der genauen Darstellung der Entwicklung des kompositorischen Denkens läge, insoweit es sich explizit in Worten, unter Umständen auch in Taten äußert. Der prosaische Alltag, das Leben eines Komponisten dürfe von ihr nicht als Selbstzweck, der ihre Forschungen zu rechtfertigen vermöchte – ein Komponist überlebt allein in seinem Werk –, sondern einzig aus der Absicht heraus untersucht werden, bis ins Detail herauszuarbeiten, wie dieser Alltag, wozu auch 1220 Scheuer 1995, S. 125. 1221 Danuser 1975. 1222 Es ist naheliegend, dass Dahlhaus’ Intention, mit dem Beethoven-Buch von 1987 »eine Rekonstruktion von Beethovens ›musikalischer Poetik‹« (Dahlhaus 1987, S. 7) zu schaffen, wiederum hierauf rekurrierte. 1223 Danuser 1975, S. 287.
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alle künstlerischen und intellektuellen Anregungen sowie die Rezeptionserfahrungen des eigenen Werkes zu rechnen wären, sich zu dem geschichtlich wandelbaren Bewußtsein konkretisiert, das in den spezifisch poetologischen Intentionen die unmittelbare Voraussetzung für die kompositorische Gestaltung der Gebilde selbst darstellt.1224
Mit diesen Anforderungen an eine ›neue‹ Biographie als Hilfswissenschaft der Musikwissenschaft – die freilich so neu gar nicht sind, hatte doch Spitta schon seine Bach-Biographie nicht als »eine eng umgrenzte ›Künstlergeschichte‹, sondern vielmehr als eine umfassende, spezifisch musikhistorische Darstellung, deren Basis letztlich die Erforschung der gesamten Musik zur Bach-Zeit sein mußte«,1225 aufgefasst – ist das Dilemma zwischen Dahlhaus’ »ästhetischem« und »biographischem Subjekt« freilich nur graduell verschoben. Und so liest es sich wie eine Antwort, wenn Dahlhaus 1987 im Beethoven-Buch schreibt: »Daß biographische Untersuchungen für die Interpretation von Kunstwerken nützlich oder sogar unentbehrlich sein können, leugnet niemand. Manche Details bleiben ohne Rückgriff auf Biographisches schlechterdings unverständlich; nicht selten gehört ein Stück Entstehungsgeschichte, das gekannt werden muß, zum Werk selbst als ästhetischem Gegenstand.«1226 Danuser meldete sich 1986 mit einem Beitrag »Biographik und musikalische Hermeneutik. Zum Verhältnis zweier Disziplinen der Musikwissenschaft« erneut zu Wort.1227 Hierbei bezog er sich nochmals auf Dahlhaus’ Polemik von 1975 und konstatierte: Es bleibt erstaunlich (und könnte als Indiz der Triftigkeit von Dahlhaus’ These verstanden werden), daß sich auf seiten der Biographen kein lautstarker Protest regte gegen diese gezielte und keineswegs leer-polemische Provokation, mit der sie ein maßgeblicher Musikwissenschaftler der Gegenwart traf. Der Grund dürfte darin liegen, daß die unaufhörlich anwachsende Masse von Musiker-Biographien, deren publizistische Wirklichkeit jegliche Legitimitätszweifel im Keime zu ersticken scheint, ihre Kehrseite hat in einem recht rudimentären theoretischen Zustand dieser Biographik, der bedenklich absticht gegen die außerordentlich reiche Literatur zur Biographik vorab in der Geschichts- und Literaturwissenschaft. Wo keine theoretischen Positionen zu verteidigen sind, verhallt eben selbst das drastischste Verdikt ohne Resonanz.1228
1224 1225 1226 1227 1228
Ebda. Sandberger 1997, S. 45. Dahlhaus 1987, S. 30. Danuser 1986, erweiterter Wiederabdruck: Danuser 1990. Danuser 1986, S. 59.
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Bemerkenswert scheint hier die implizite, aber doch deutliche und scharfe Grenzziehung zwischen Biographie und Musikwissenschaft, genauer gesagt zwischen theoriefernen, der Popularität zuneigenden, dem verlegerischen Kalkül entsprechenden1229 »Biographen« und dem »maßgeblich[en] Musikwissenschaftler der Gegenwart«. Jene schon bei Schönberg auffällige Trennung zwischen Naivität und Verstand lässt dabei den naheliegenden Gedanken bezeichnenderweise außer Acht, dass dem Musikwissenschaftler selbst eine theoretische Auseinandersetzung mit der Musikerbiographik angelegen sein könnte – wie Danuser dies zu Recht für die Nachbardisziplinen Geschichte und Literaturwissenschaft mit ihrer »außerordentlich reiche[n] Literatur zur Biographik« beobachtet hatte. Fazit von Danusers Auseinandersetzung mit Musikerbiographik blieb, im 1990 erschienenen, erweiterten Wiederabdruck des Aufsatzes von 1986, ihre Verortung als »Hilfsdisziplin«.1230 Zwar erkennt er die Bedeutung an, die die biographische Methode für die »musikalische Poetik« und für die Kontextualisierung von Musikwerken habe, bleibt aber in der Argumentation in direkter Nachfolge Dahlhaus’, wenn er von der »biographischen Wirklichkeit« ausgeht, die sich »aus lebens- und kunstgeschichtlichen Faktoren oder, präziser formuliert, aus außerkünstlerischen und künstlerischen Momenten einer Lebenstotalität« zusammensetze.1231 Und auch wenn nicht von biographischer Wahrheit, sondern von »Wirklichkeit«, von lebens- und kunstgeschichtlichen Faktoren, nicht von »Fakten« die Rede ist, erweist sich Danusers Verständnis von Biographik als eines, das in der Biographie (und auch in autobiographischen Dokumenten1232) eine objektive Darstellung von Realität sieht, die bezeichnenderweise im Gegensatz steht zu der »inneren Biographie«, wobei diese Gegenüberstellung an Dahlhaus’ Modell des »biographischen« versus »ästhetischen Subjekts« erinnert. Der Aspekt des Narrativen scheint Danuser dabei ein zentrales Unterscheidungskriterium zwischen »außen« und »innen«: Die »inneren« Dimensionen autonomer Musik lassen sich, so Danuser, »im Unterschied zu einem äußeren Programm oder einer äußeren Biographie, nicht auf der Ebene der Verbalsprache formulieren […], es sei denn mittels Metaphern oder mittels bloßer Analogien«.1233 Der Erzählbarkeit des Biographischen wird hier das Nicht-Erzählbare der inneren Dimensionen autonomer Musik ge1229 Dies ergibt sich aus dem Hinweis Danusers auf die »unaufhörlich anwachsende Masse von Musiker-Biographien, deren publizistische Wirklichkeit jegliche Legitimitätszweifel im Keime zu ersticken scheint«. 1230 Danuser 1990, S. 595. 1231 Ebda., S. 586f. 1232 Vgl. Danusers Analyse von Berlioz’ Symphonie fantastique oder Smetanas Streichquartett Nr. 1 e‑Moll (»Aus meinem Leben«), ebda. 1233 Danuser 1986, S. 68, wie auch Danuser 1990, S. 583.
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genübergestellt – im Übrigen auch noch dort, wo das biographische Erzählen das »Ideal eines ›organischen Ganzen‹« zugunsten von am modernen Roman orientierten »Prinzipien des Fragmentarischen, Diskontinuierlichen« aufbrach. Denn obwohl Danuser hier betont, dass die »Fiktionalität der Lebensschilderung« damit gebrochen sei, und der »auktoriale Anteil an der biographischen Darstellung narrativ auszuweisen«1234 sei, bleibt er bei der auf Dahlhaus fußenden These, dass es »konstitutiv zu einem Musikwerk [dazugehöre], daß es die biographische Dimension übersteigt und erst dann, wenn es sich aus dieser lebenswirklichen Abhängigkeit vom Komponisten gelöst hat, wahrhaft zu einem Kunstwerk wird«.1235 Der Kunstwerk-Begriff aber erinnert – gerade auch in seiner lebenswirklichen Un-Abhängigkeit – an Dahlhaus’ HauptwerkBegriff, den dieser – im Gegensatz zu den sozialgeschichtlich-biographisch zu fundierenden »Nebenwerken« – etabliert hatte. Nachwirkungen der Dahlhaus-Polemik zeigten sich schließlich noch in den späten 1990er Jahren, erkennbar etwa im Vorwort des 1997 erschienenen Bandes Biographische Konstellation und künstlerisches Handeln, in dem der Herausgeber Giselher Schubert von einer »mittlerweile gängige[n] Kontrastierung von biographischer und philologischer Arbeit« spricht, freilich nicht ohne zu betonen, dass hier »ein Gegensatz vor[getäuscht wird], der in Wirklichkeit nicht besteht«.1236 Wie Leben und Werk aufeinander zu beziehen seien, in welchem Verhältnis damit Biographie und Werkanalyse stünden, bleibt für die Autoren des Bandes allerdings zumeist eine offene Frage, etwa wenn Michael Heinemann in seinem Beitrag über »Liszts Maskeraden« konstatiert: »Methodisch, so scheint es, ist bislang nicht hinreichend gesichert, wie ein Brückenschlag von den Dokumenten und empirischen Daten von Liszts Leben hinüber zu einer Interpretation seiner Werke zu riskieren ist, die eine dichte Beschreibung sein könnte, statt lediglich Details der Kompositionstechnik zu bilanzieren.«1237
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Danuser 1986, S. 64, wie auch Danuser 1990, S. 577. Ebda., S. 581f. Schubert (Hg.) 1997, S. 7. Heinemann 1997, S. 84.
3. Die (Un)Sichtbarkeit des Biographen
Abschließend mag die Perspektive auf diejenigen hingelenkt werden, die Biographien verfassen. Diese Überlegungen knüpfen dabei nicht nur an die bereits skizzierten Auseinandersetzungen um die Subjektivtität von Historiographie an, sondern ermöglichen auch, sich im Sinne einer kritischen Biographieforschung eine Arbeitsgrundlage zu schaffen, auf der ein erkenntnisreicher Umgang mit Biographik möglich sein kann. Im Sinne Roland Barthes, »dass der Fotograf hauptsächlich der Zeuge seiner eigenen Subjektivität ist, das heißt der Art und Weise, wie er sich selbst als Subjekt zu einem Objekt verhält«,1238 tritt der Biograph oder die Biographin als Akteur/in von (Lebens-) Geschichtsschreibung in den Vordergrund, was voraussetzt, die Biographie als Re-Konstruktion von Vergangenheit zu verstehen – mit allen Implikationen einer Historiographie, die sich ihrer Akteure bewusst ist.1239 Stellt man die Frage nach der Präsenz des Biographen oder der Biographin im Text, berührt diese unmittelbar Grundsatzfragen der Historiographie und ihren Zusammenhang mit der Subjektivität des Historikers bzw. der Historikerin. Dass Geschichte nur in Relation zum historiographisch agierenden Subjekt verstanden werden könne, gehört dabei seit langem zu geschichtswissenschaftlichen Reflexionen. Um nur wenige, selbst bereits historische Positionen hierzu ins Gedächtnis zu rufen: Johann Martin Chladenius hatte um die Mitte des 18. Jahrhunderts betont: Diejenigen Umstände unserer Seele, Leibes und unserer gantzen Person, welche machen, oder Ursach sind, daß wir uns eine Sache so, und nicht anders vorstellen, wollen wir den Sehepunckt nennen. Der Sehepunckt ist der innerliche und äußerliche Zustand eines Zuschauers, in so ferne daraus eine gewisse und besondere Art, die vorkommenden Dinge anzuschauen und zu betrachten, fliesset. […] In der historischen Erkenntnis kommt […] fast alles darauf an.1240 1238 Barthes 2002, S. 84. 1239 Vgl. hierzu jüngst auch den Aufsatz von Thomas Etzemüller, der den Entwurf einer Analyse der Subjektivierungsprozesse in der Wissenschaft vorlegt und dabei fragt: »Wie sehen die Mechanismen aus, mit denen ›Wahrheiten‹ generiert und derart etabliert werden, dass sie als unhinterfragbar ›wissenschaftlich‹ gelten, also mit einer Autorität ausgestattet sind, die dann konkrete Effekte auf die soziale Ordnung und das Leben einzelner Menschen ausüben kann.« Etzemüller 2013, S. 175f. 1240 Chladenius 1969 [1742], S. 187. Den Hinweis verdanke ich Annette Kreutziger-Herrs Einleitung zum Band Mozart im Blick. Inszenierungen, Bilder und Diskurse (vgl. Kreuziger-Herr 2007, S. 20.) Vgl. zu Chladenius Geschichtsauffassung außerdem Süßmann 2000, 57ff., dort besonders zu der durch die Theorie der »Sehepunckte« ausgelöste Methodik des Erzählens, ebda. S. 59f.
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Und wenig später meinte auch Friedrich Schiller über seine Rolle als Historiker: »Die Geschichte wird unter meiner Feder, hier und dort, manches, was sie nicht war«.1241 Und Ranke hatte sich zwar dafür ausgesprochen, idealiter das sprechende Ich des Historikers auszuschließen, meldete aber zugleich Zweifel darüber an, dass dies möglich sei: »Ich wünschte mein Selbst gleichsam auszulöschen, und nur die Dinge reden, die mächtigen Kräfte erscheinen zu lassen.«1242 Johann Gustav Droysen hingegen war davon überzeugt, dass dies nicht möglich sei: »Nur scheinbar sprechen hier die ›Tatsachen‹ selbst, allein, ausschließlich, ›objektiv‹. Sie wären stumm ohne den Erzähler, der sie sprechen läßt«.1243 Theodor Lessing schließlich formulierte noch pointierter: »Was aber ist dieses durch Geschichte schreitende geschichtliche Subjekt anders, was kann es anders sein als eine ichbezügliche Spiegelung unseres eigenen Bildes? Eine Art Anbild-Mensch mit allen Interessen, Glücksbedürfnissen und Erhaltungsstrebungen unserer Gattung?«1244 Mit einem Sprung in neuere Diskussionen in den Geschichtswissenschaften sei in diesem Zusammenhang etwa auf Klaus Füßmanns Kriterien der Historiographie verwiesen, unter denen sich die Perspektivität – mithin der Aspekt des unweigerlichen »Blickwinkels, der sich sui generis aus der lebensweltlichen Verwurzelung des menschlichen Geschichtsbewußtseins ergibt«1245 –, die Selektivität – mithin das Bewusstsein, dass jede Form der Geschichtsdarstellung als vom Historiker oder von der Historikerin getroffene Auswahl zu verstehen ist – und die Sequenzialität – mithin das »Moment der inneren Verknüpfung der selektierten Geschehensmomente«,1246 ein Gesichtspunkt, bei dem der narrative (und damit auch subjektive) Charakter der Geschichtsdarstellung besonders deutlich wird – befinden. Füßmann, der sich auf Historiker und Geschichtstheoretiker wie Hans Michael Baumgartner, Thomas Nipperdey und Hayden White bezieht, rückt dabei auch die Narrativität von Geschichtsdarstellungen in den Fokus und akzentuiert damit den Schreibenden. Die Notwendigkeit, vor allem aber die Möglichkeit einer auf Philologie gestützten Objektivität, enttarnt Füßmann als Trugschluss. So unterschiedlich die Argumentationen, so klar wird in allen, dass Geschichtsschreibung immer von der schreibenden Person ausgeht – und das 1241 Brief an Gottfried Körner, 12. Februar 1788, Schiller/Körner 1974, S. 16, Hervorhebung M.U. 1242 Von Ranke 1870, S. 103. Vgl. auch Jaeger/Rüsen 1992, Hervorhebung M.U. 1243 Droysen 2011 (Grundriss der Historik, IV.: Die Darstellung, § 46), S. 23. Und Droysen zählte die Biographie (wie auch andere monographischen Formen) zur Form der »erzählenden Darstellung« (ebda., § 91). 1244 Lessing 1983, S. 22. 1245 Füßmann 1994, S. 33. 1246 Ebda., S. 34.
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selbst dann, wenn die schreibende Person ebendies narrativ zu verbergen sucht, selbst dann, wenn sie methodische Wege zu beschreiten versucht, diese Perspektivität auszuschalten. Allen Modellen ist dabei eigen, dass sie im Kern verständlich machen, dass das forschende und schreibende Subjekt nicht als »anima candida«,1247 sondern als Individuum wahrzunehmen ist. »Diese Frage entspringt der Erkenntnis, dass die Darstellung von Geschichte untrennbar mit uns verbunden ist – wir, die wir uns heute der Geschichte zuwenden und entscheiden, was erinnert werden soll, was vergessen werden kann. Das beobachtende Individuum ist in das Blickfeld gerückt, das Individuum, das erzählt und mit seiner Sprache Geschichte(n) erzählt.«1248 Dass diese Anerkennung des eigenen forschenden Subjekts kein Makel sei, betonte übrigens bereits Chladenius. Es ist »eine unhintergehbare Besonderheit, die die ›Wahrheit der Geschichte und Erzehlungen‹ keineswegs zu mindern braucht, ja die im Sonderfall der ›gründlichen‹ Erzählung sogar aufgehoben ist«.1249 Sowenig an dieser Stelle die Frage historiographischen Erzählens und der »Stimme« des Historiker/der Historikerin adäquat ausgebreitet werden kann, sollte gleichwohl erkennbar werden, dass, wenn gegenwärtig vom Einfluss des forschenden und schreibenden Subjekts auf Geschichtsdarstellung die Rede ist, nicht allein von einem Phänomen der Moderne, einer Folge des linguistic turns gesprochen werden kann. Die Modelle historiographischen Schreibens, die schreibende Subjekte tatsächlich in Betracht ziehen, haben eine lange Tradition. Zugleich aber sind immer schon starke Gegenbewegungen – Versuche der Objektivierung – wahrnehmbar gewesen, vor allem im 19. Jahrhundert, in dem sich, wie beschrieben, auch die Musikwissenschaft als historische Disziplin etablierte. Auffällig jedenfalls, dass von der »Stimme« des Autors oder der Autorin in den frühen konzeptionellen Texten des Faches keine Rede ist. Für die Akteure, die die Musikwissenschaft als universitäres Fach zu etablieren und zu festigen suchten, schienen die Diskussionen um die »Stimme« des Historikers bzw. der Historikerin – und damit die Diskussion um eine mögliche Subjektivität von Geschichtsschreibung – wenig zielführend, galt es doch, sich insbesondere gegen das weitgreifende populäre Musikschrifttum des ausgehenden Jahrhunderts abzusetzen und ein entgegengesetztes, streng wissenschaftliches Profil zu gewinnen, dessen Anspruch auf Objektivität herauszustellen war. So verständlich damit ist, dass die frühe Musikwissenschaft wenig an dieser historiographischen Debatte partizipierte, so wird auch erklärlich, dass insbesondere jene Gattung, in der angenommen wurde, dass hier die Stimme des 1247 Vgl. dazu S. 431. 1248 Kreutziger-Herr 2007a, S. 17f. 1249 Im Anschluss an Chladenius Süßmann 2000, S. 60.
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Autors weitaus stärker ausgeprägt sein müsse als in anderen Texten, als nicht in das methodische Portfolio der Musikwissenschaft integrierbar gedacht wurde: die Biographik. Denn die Virulenz der Frage nach dem Subjekt des Historiographen/der Historiographin wurde dort als höher eingeschätzt, wo es nicht um die Darstellung von Geschichte in über-individueller Perspektive ging, sondern um die Darstellung individuellen Lebens. Das höhere Maß am Empathie,1250 das Frauen allgemein zugesprochen wurde, ließ sie daher auch als Biographinnen besonders geeignet scheinen. Wendet man sich den nicht-musikwissenschaftlichen Überlegungen zu, inwiefern der Biograph/die Biographin als »Stimme« wahrzunehmen ist, ist nicht zuletzt an die von Jürg Kollbrunner so benannte »vierfache lebensgeschichtliche Gewordenheit« der Biographik zu erinnern: (1) Elemente der Lebensgeschichte des Beschriebenen, (2) Elemente der Lebensgeschichte des Biographen, (3) Elemente der Lebensgeschichte des Lesers (»Jeder Leser liest jeden Text nämlich wiederum vor dem Hintergrund seiner eigenen Lebensgeschichte so, wie er kann und will, und nicht so, wie der Autor es möchte«1251) und (4) die Selbststilisierung des Biographierten. »Die ›biographische Wahrheit‹«, so Kollbrunner, »setzt sich also […] auch aus der berichteten (partiell auch verzerrten) Selbstwahrnehmung des Beschriebenen und dem Verständnis der Mechanismen seiner Selbstinszenierung durch Biograph und Leser zusammen.«1252 Mit dem zweitgenannten Element aber kommt insbesondere die Biographin/der Biograph ins Blickfeld, so wie Klaus-Jürgen Bruder die Relation zwischen Biograph und Biographiertem als »Bestandsaufnahme des Forschers« bezeichnet hatte, die mehr von ihm und seinen Vorstellungen präsentiere als vom biographierten Gegenüber.1253
Die Subjektivität der ›objektiven‹ Biographin Lina Ramann Ob ein Autor oder eine Autorin die notwendige Distanz zu ihrem Gegenstand habe, wurde in der Musikwissenschaft der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts immer wieder dann diskutiert, wenn die Frage zu beantworten war, ob ein zeitgenössischer Komponist durch einen (womöglich befreundeten) Musikwissenschaftler biographiert werden solle. Doch während die Zeitgenossenschaft noch im 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts gerade als ein besonderes Qualitätsmerkmal und als Garant für ›Wahrheit‹ angesehen 1250 1251 1252 1253
Dazu auch Fetz 2009, S. 47–51. Kollbrunner 2003, S. 283. Ebda., S. 282f. Bruder 2003, S. 27.
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wurde (Rochlitz, Niemetschek u. a.), galt dies im letzten Jahrhundertdrittel nicht mehr. Im Gegenteil: Spitta beispielsweise lehnte eine Biographie über Brahms mit dem Argument ab: »Werden und Wirkung von Geschehnissen oder Persönlichkeiten kann man nicht darstellen, wenn man im Strome mitschwimmt. Wer seit länger als dreißig Jahren jedem Schritt, den Brahms als Componist gemacht hat, mit lebhafter innerer Theilnahme gefolgt ist, kann über diese Schritte im Einzelnen genau unterrichtet sein. Er wird sich nicht anmaßen dürfen, über den ganzen Mann etwas geschichtlich Aufklärendes sagen zu wollen.«1254 Gleichwohl entstanden zahlreiche Biographien aus just dieser Konstellation des Im-Strome-Mitschwimmens: Zahlreiche Biographinnen und Biographen – von Max Kalbeck, Marie Lipsius, Lina Ramann bis hin zu Guido Adler selbst – schrieben nicht nur über Zeitgenossen, sondern traten mit ihnen in direkten Austausch, um Quellen aus »erster Hand« für ihre Biographien zu erhalten: Briefe und andere Schriften, aber auch Interviews – mündlich oder schriftlich geführt – galten als gute Möglichkeit, biographische Informationen zusammenzutragen. Dass dabei das Problem möglicher Beeinflussung, ja Übertragung im Raume stand, wurde von den meisten Autorinnen und Autoren klar erkannt. Die Liszt-Biographin Lina Ramann etwa reflektierte intensiv ihre Perspektive auf den von ihr biographierten Gegenstand, ihr Verhältnis als Biographin zu Liszt als biographiertem Subjekt ebenso wie zu ihren Quellen, darunter die Gespräche mit der Zeitzeugin und Liszt-Lebensgefährtin Carolyne zu Sayn-Wittgenstein.1255 Ausgehend von ihrer positiv aufgenommenen musikanalytischen Studie zu Liszts Christus-Oratorium war Ramann von dem Verleger Julius Schuberth beauftragt worden, »ein Buch über Liszt’s Kompositionen zu schreiben«.1256 Diesen Plan griff Ramann auf und dimensionierte ihn sofort groß: Es solle ein »Werk [werden], das jedes andere über Liszt auf viele Jahre hinaus überflüssig machen soll«,1257 so Ramann an Schuberth. Ihre Disposition ging dabei von Werkanalysen aus (»sein gesammtes Schaffen betr[effend]«), wobei »selbstverständlich […] Biographisches unterlaufen [müßte]«.1258 Dass sich aber zumindest nach Erscheinen der dreibändigen Liszt-Biographie (1880–1894) die Gewichtung zwischen Werkanalytischem und Biographischem verschoben hatte, erweist sich darin, dass Ramann 1895 ein Konvolut zur Veröffentlichung zusammenfasste, das als »Entstehungstagebuch« (1873–1887) über ihre Selbst1254 1255 1256 1257 1258
Philipp Spitta: »Johannes Brahms«, in: Spitta 1892, S. 387–427, hier S. 387. Ramann 1983. Ebda., S. 31. Ebda., S. 32. Ebda.
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wahrnehmung als Biographin Auskunft gibt.1259 Im Vorwort heißt es dazu: »Die vorliegenden Aufzeichnungen [sind] Momentsphotographien, [die] […] die Stimmung, den Gedanken, die Geste, die zwanglose Bewegung unseres persönlichen Verkehrs, das der Zeit entfliehende Jetzt, festhalten.«1260 Neben der Betonung, dass es ihr persönlicher Kontakt zu Liszt war, der ihr – auch in Abgrenzung zu früheren Liszt-Biographien1261 – ermöglichte, auf Informationen aus erster Hand zu stützen, markierte Ramann auch den Unterschied dieser unmittelbaren Aufzeichnungen, die sie als »quasi autobiographische Dokumente«1262 bezeichnet, und der späteren Liszt-Biographie: Jetzt will mir scheinen: […] Mein ›Tagebuch‹ sei von Anbeginn ein ›Nachlaß‹, dessen Blätter künftigen Generationen das persönliche Schalten und Walten des großen Tondichters intimer, gegenwärtiger, unmittelbarer übergäbe als eine Biographie deren höhere Geschichtsnatur sich an das Wesentliche wendet und das Zufällige ausscheidet, während hier keine Abstraktion ist, dabei aber doch das Wesentliche aus dem Zufälligen, sozusagen, lebenden Auges herausblickt. Tagebuch und Biographie dürften sich zu einander verhalten, wie die Momentsphotographie und die zwanglose Skizze nach der Natur zu künstlerisch durch[ge]arbeitetem Geschichtsbild – ein geschwisterliches Band aber verflicht beide.1263
»Zwanglos« ist hierbei freilich nicht als »unmittelbar« oder gar »unbedacht« misszuverstehen. Denn immer wieder tauchen in der Beschreibung jener Gespräche und in den Tagebuchnotizen Reflexionen über das Verhältnis zwischen ihr als Biographin und Liszt auf, die erkennen lassen, dass ihr die Problematik von Empathie, Übertragung und das Ringen um »Objektivität« sehr bewusst waren: Er saß auf dem Sopha in meine wollene Decke gewickelt. Ich las ihm mein d’Agoult-Kapitel vor. Er war sehr gespannt, ich durfte kaum pausiren. Zu meiner Genugtuung war er befriedigt – fand mein Plaidoyement ›fein, originell und psy1259 Die sogenannten Lisztiana, die zwischenzeitlich als verschollen galten, wurden freilich erst 1983 publiziert. Vgl. dazu die Vorbemerkungen des Herausgebers Friedrich Schnapp in Ramann 1983, S. 9–10. 1260 Ebda., S. 5. 1261 Ramann nennt insbesondere die Liszt-Biographie von Gustav Schilling (Franz Liszt. Sein Leben und Wirken aus eigener Anschauung dargestellt, Stuttgart 1844), deren Fehler sie zu korrigieren habe: »Biographisch habe ich viel umzustoßen und richtig zu stellen: Gustav Schilling hat manches gesündigt – Geschichten-Schreibung anstatt Geschichtsschreibung. Ich hatte mehrfach auf ihn gefußt, habe nun eine heillose Arbeit, und muß dazu ganze Parthien, auf die ich große Sorgfalt verwendet, streichen. – –« Tagebucheintrag vom 12. Juni 1875. Ramann 1983, S. 50. 1262 Ebda., S. 5. 1263 Ebda.
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chologiesch‹. Nun erzählte er viele Details, die mir jetzt erst ein volles Bild geben. Mir war schwül zu Muthe, aber ich warf die Stimmung weg und wurde »objektiv«. Das mochte auf ihn zurückwirken: er ward ganz frei, wie Mann gegen Mann.1264
Dieses – von ihr bezeichnenderweise männlich konnotierte – Ringen um »Objektivität« glaubte Ramann gegenüber Liszt immer wieder herstellen zu müssen – und zu können. Eine Ermahnung Liszts »Verwickeln Sie sich nicht in zu vielen Details. Meine Biographie ist weit mehr zu erfinden als nachzuschreiben« (3. Juli 1878) kommentierte sie: »Eine merkwürdige Nachschrift! ›Erfinden‹ – wer Liszt nicht kennt, könnte irre an ihm werden.«1265 Größere Schwierigkeiten stellten sich freilich in den Gesprächssituationen mit Fürstin Carolyne zu Sayn-Wittgenstein ein, die Ramann in Rom zwecks biographischer Interviews besuchte (vgl. auch Tafel 20). Etwa 30-mal trafen sich die beiden Frauen zu »biographischen Gesprächen«. Die Fürstin rang dabei um die Frage der Objektivität: Einerseits bezeichnete sie sich selbst als »›Frau Wahrheit‹ – La Vérité«,1266 dann aber hoffte sie auf die »Objektivierung« durch die Biographin. Sie schrieb in einem Brief vom 29. Dezember 1875 an Lina Ramann: Ich fühle, daß Ihr Herz und Ihr seltener Verstand, wie Ihr noch selteneres Verständnis sich ganz besonders dazu eignen die Biographie Liszt’s mit einem tief eingehenden Colorit zu malen. […] Ich werde natürlich immer von meinem Standpunkt aus reden […]. Sie werden es von Ihrem Standpunkt aus ganz gewiß begreifen und auch mit Ihrer männlichen Objektivität wiedergeben […]! […] Fürchten Sie übrigens nicht, daß ich Ihnen eine gewisse Beleuchtung aufdrängen möchte. Nein. Ich erzähle Ihnen nur Wahres. Sie machen damit, was Sie wollen. […] Es handelt sich hier nicht um eine Photographie, aber um ein Kunstwerk.1267
Ramann schätzte zunächst die Offenheit der Fürstin: »Sollte mir, jetzt da alles Material mir zugeht, alle Quellen mir zusprudeln und eine volle Einsicht und Übersicht in das Wesen, den Stoff, in die Erdbedingung zur Frucht gegeben ist, nicht gelingen das ganze Lebensbild ›Liszt‹ zu fixiren, wenigstens seine Grundzüge der Zukunft zu sichern –: wird keine kommende Zeit je ein wahrheitgetreues Bild schaffen können.«1268 Bereits aber bei ihrer Abreise aus Rom melden sich Zweifel: Was Ramann in der Mann-gegen-Mann-Situation mit Franz Liszt als »objektiv« und »frei« 1264 1265 1266 1267 1268
Ramann, in einem Brief an Ida Volckmann vom Juni 1875. Ramann 1983, S. 52f. Ebda., S. 129. Ebda., S. 77. Ebda., S. 63f. Ebda., S. 78.
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erlebt hatte, assoziiert sie nun, nach den etwa 30 biographischen Sitzungen im Salon der Fürstin, den diese als »biographischen Käfig« bezeichnet hatte, als unfrei, als »gebunden«. Auf den Abschiedsbrief der Fürstin, in dem diese die Metapher des aus dem »biographischen Käfig« befreiten Vogels aufgerufen hatte (»Frau Wahrheit, spricht die Sage, sitzt in tiefem, dunklen Brunnen – Mit ihr sind Sie gesessen im Dunkel – im biographischen Käfig! – Jetzt ist der melodische Vogel frei und sein Gesang wird Rafaelisch, schön«) antwortete Ramann: Wohl öffnet Frau Wahrheit dem Vogel den Käfig, Doch ist er nicht frei. Was er erlauscht im Dunkeln, sitzend am quellenden Born: Das trägt er als Inhalt hinaus in die Welt. Doch während er frei sich bewegt, Ist er von Ihnen gebunden, gebunden Durch Wahrheit, die er getrunken am Quell.1269
Ramanns Vermutung, dass »Frau Wahrheit« den Vogel nicht freilassen würde, sollte sich bewahrheiten: »Nach vielem, meinem M[anu]s[kript] Zustimmendem, seitens der Fürstin, kam heute eine Post, die alles Gesagte aufhebt, ja verneint … Ich kann nur mit meinen eigenen Augen sehen, mit meinen eigenen Ohren hören, mit eigenem Gehirn denken – – – «.1270 Weitere Einladungen der Fürstin nach Rom schlug Ramann aus. Sie gab gesundheitliche Gründe an, befürchtet aber offenbar auch weitere Versuche der Einflussnahme. Im Briefwechsel mit der Fürstin wird deutlich, dass sie zwar die Quelle des biographischen Gesprächs wertschätzte, zugleich aber auf ihre eigene Position als Biographin Wert legte. Nach weiterer Kritik seitens der Fürstin antwortete Ramann am 14. August 1878: »Die Reihe der Jahre ist zu lang, wo ich selbständig den Dingen gegenüber stehe, um auf einmal – Andere für mich denken zu lassen.« Sie unterstreicht, mit »Ruhe, Objektivität und Besonnenheit« gearbeitet und geschrieben zu haben, und ergänzt: Die Anforderungen, die Sie, verehrte Frau, an einen Liszt-Biographen stellen, wird niemand genügen weder unter den Romanschriftstellern, noch unter den Geistlichen, noch unter den Gelehrten, noch unter den Künstlern! […] Keinem Meister aber wie Liszt gegenüber, wird man die Zügel der Phantasie strenger halten müssen, wenn man glaubwürdig erscheinen will. Und was Sie von romanhafter Darstellungen sagen, dem kann ich ebenfalls nicht nachkommen, weil sie dieser Aufgabe gegenüber ganz gegen meine Ansichten streiten, selbst wenn meine Feder eine ge1269 Ebda., S. 98. Nach ihrer Rückkehr erhält L.R. eine Fotografie der Fürstin als Erinnerung an Rom mit der Widmung: »Imitation unseres ›biographischen Käfigs‹ 1876, Rom Via del Ba**ino No 89«, abgedruckt ebda., S. 103, vgl. Tafel 20. 1270 Ramann, Tagebuch vom 16. Februar 1877, zit. nach Ramann 1983, S. 111.
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borene Romanfeder wäre. Leider und tausendmal leider! Daß Liszt’s mehrdeutiges Leben zu sehr Veranlassung geworden, ihn in der Phantasie des Publikums aller Klassen mehr zu einem Romanhelden als zum berufenen Kirchenkomponisten zu machen, so, daß man sich hüten muß dieser Neigung des Publikums geflissentlich entgegen zu kommen. Es wird bald genug die Zeit da sein, wo man sich seines Lebens als willkommenen Romanstoffes bemächtigt – dann werden wir weinen … Dem muß vorgearbeitet, resp. eine Grenze gegeben werden. – Söhnen Sie sich darum aus, verehrte Frau, mit meiner Art die Dinge wieder zu geben, auch wenn weniger brillant im Styl. Aber gerade darum wird sie ihn dem Herzen Tausender näher bringen. Ohne mich zu rühmen, kann ich sagen, daß ich ihm viele warme Herzen gewonnen – durch meine, auch im Leben, nicht romanhafte Weise.1271
Auch visuell hielt Lina Ramann ihre Position als Biographin in Relation zu Liszt fest, inszenierte sich in auffälliger Weise: Die 1886 entstandene Photographie1272 (Tafel 21) zeigt eine Gruppe, die sich um Liszt gruppiert, der, als Zentrum in Szene gesetzt, in der Mitte zu sehen ist. Zu seiner Rechten sitzt eine 53-jährige Frau, deren Blick sich nicht dem Photographen zuwendet, sondern direkt Franz Liszt gilt. Sie schaut ihn von der Seite an, ernst und genau, es ist Lina Ramann. Zusammen mit Marianne Brandt,1273 die Liszt in ähnlicher Pose zur Linken sitzt, bilden diese beiden Frauenfiguren einen eigenen »Rahmen« für Liszt innerhalb der Gesamtkonzeption des Bildes. Auffallend ist dabei, daß Ramann eine deutliche Distanz wahrt: Während auf dem gesamten Bild drangvolle Enge herrscht, bleibt hier eine Lücke zwischen ihr und Liszt. Die Bildkomposition des um Selbstinszenierungen wohlbewussten Liszt ist sprechend. Eine besondere Beziehung ist zwischen ihm und seiner Biographin zu sehen gegeben.
Biographische Interviews, eine »Wahrheit zu zweit« Durchaus lohnend ist, insbesondere mit Blick etwa auf das biographische Arbeiten von Lina Ramann, Marie Lipsius und anderen sowie Autobiographien, die aus einer Interview-Situation heraus entstanden sind, wie etwa die Schostakowitsch-Memoiren von Solomon Volkow oder die Erinnerungen von Igor Strawinsky, das Setting des biographischen Interviews analytisch zu betrachten. Klaus-Jürgen Bruder1274 nimmt in diesem Kontext die Rolle des Interviewers oder der Interviewerin in den Blick, die sich als Schlüsselrolle 1271 Ebda., S. 131f. 1272 Burger (Hg.) 1986, S. 319. 1273 Marianne Brandt war Sängerin (u. a. sang sie die Kundry bei der Uraufführung des Parsifal), Schülerin von Pauline Viardot und mit Liszt befreundet. 1274 Bruder 2003.
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für das Interview-Ergebnis, mithin für die sich aus dem Interview ergebenden Quellen (biographischer) Geschichtsschreibung entpuppt. Denn keineswegs, so Bruder, seien die Auskünfte, die eine interviewte Person ihrem Gegenüber gibt, unabhängig von dessen Person, dessen Fragen. Der Interviewer ist »Ko-Produzent« der erzählten Geschichte, wenngleich er diese Rolle zu minimieren bemüht sein wird, um die Authentizität der Aussagen nicht zu gefährden: Er neige dazu, »von sich zu abstrahieren, als habe die Antwort gerade nichts mit ihm zu tun, als sei sie gerade von ihm unabhängig«.1275 Von Unabhängigkeit kann aber zu keinem Zeitpunkt die Rede sein. So nimmt etwa das Geschlecht des Interviewers einen maßgeblichen Einfluss auf die Antworten des Befragten, wie Sylka Scholz nachweisen konnte, etwa indem »Lebensgeschichten [von Männern] gegenüber männlichen Interviewern detaillierter und länger ausfallen«1276 als gegenüber Interviewerinnen. Den Grund hierfür sieht Scholz in der als Gemeinsamkeit erlebten (männlichen) Erfahrungswelt, die die Erzählung in Gang halte. Unter diesem Gesichtspunkt ist der Bericht Lina Ramanns interessant, die über ein biographisches Gespräch mit Franz Liszt berichtet, dass sich dieses erst in jenem Moment »ganz frei« entwickelt habe, als die Illusion eines Gesprächs »Mann gegen Mann« Raum griff.1277 Das Erkenntnisinteresse des Fragenden nimmt starken Einfluss auf die Aussagen des Befragten. Der Interviewer will eine Antwort auf die Forschungsfrage, die die seine ist und nicht die des Befragten. Und vor allem ist der Interviewer gar nicht an der Antwort als einer Antwort auf die Interview-Situation interessiert, sondern er sucht in ihr eine Auskunft über das Verhalten, Denken und Fühlen des Interviewpartners »außerhalb« der Interview-Situation. Der Interviewer ist umgetrieben von der Frage nach der Beziehung der erzählten Geschichte zur Geschichte außerhalb der Interview-Situation […]. Ob und zu welchem Grad die Antworten im Interview Gültigkeit über die Situation der Befragung hinaus besitzen, kann durch das Interview nicht erfasst werden.1278
Sowohl der Interviewer als auch die geschlossene Situation des Interviews selbst nehmen mithin großen Einfluss auf das, was zur Sprache kommt. Die außerordentlich große Rolle, die Bruder damit dem Interviewer einräumt, wird in der Musikwissenschaft selten berücksichtigt. Zu Unrecht, wie das Beispiel der Volkowschen Schostakowitsch-Memoiren zeigt: Jenseits der in 1275 1276 1277 1278
Ebda., S. 12. Scholz 2003, S. 149. Vgl. Ramann 1983, S. 52f. Bruder 2003, S. 12.
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der Schostakowitsch-Literatur bis heute strittigen Frage um die »Echtheit« der aus Interviews hervorgegangenen Memoiren müssten stattdessen das Interview-Setting sowie die Rolle des Interviewers als »Ko-Produzent« im Vordergrund stehen.1279 Bruder nimmt schließlich auch den Part des Interviewten in den Blick: »Was er sagt, ist sicher das, was er – für die Situation des Interviews – für sagbar hält […]. Seine Antwort ist gelenkt durch seine Annahmen über die Bedeutung der Interview-Situation für sein Verhalten, für seine Selbstdarstellung«.1280 Es sei eine »Wahrheit zu zweit«, die auf diese Weise entsteht: »Es geht also im ›biographischen Interview‹ nicht um ›biographische Wahrheit‹, sondern es geht um die Darstellung (meines Selbstbildes) – vor einem anderen und für diesen. Es geht um die ›Wahrheit‹ dieser Darstellung, die ›Wahrheit des Gesprächs‹ […] – eine ›Wahrheit zu zweit‹. Diese wäre jeweils eine andere, je nach dem anderen, mit wem sie gebildet wird.«1281 Bruder führt für die Berücksichtigung dieser Interessenslenkung den aus der Psychoanalyse stammenden Begriff der Übertragung ein: Die Frage nach der ›Wahrheit‹ der Äußerung […] ist immer gebunden an die der Übertragung. Sie ist abhängig von der Bedeutung der Interviewsituation für den Befragten. Übertragung wiederum […] ist gebunden an das ›psychoanalytische Experiment‹. Dies setzt der Verallgemeinerung auf andere settings, wie das biographische Interview, enge Grenzen. Der Rekurs auf die Psychoanalyse kann also im Rahmen des biographischen Interviews lediglich dessen Grenzen aufzeigen.1282
Jene Grenzen im Übrigen, die auch Sigmund Freud deutlich benannte: »Wer Biograph wird, verpflichtet sich zur Lüge, zur Verheimlichung, Heuchelei, Schönfärberei und selbst zur Verhehlung seines Unverständnisses, denn die biographische Wahrheit ist nicht zu haben, und wenn man sie hätte, wäre sie nicht zu brauchen.«1283 Was aus Sicht des Psychologen Bruder mithin als Defizit formuliert ist, kann aus der Perspektive der biographischen Forschung als Erkenntnisgewinn interpretiert werden: die Gewissheit, dass biographische Interviews keineswegs »Wahrheiten« zutage fördern, sondern Selbstbilder und eng umgrenzte Aussagen, daneben aber vor allem auch Leerstellen (Nicht-Erwähntes), das ebenso viel über das Selbstbild aussagen kann wie das Berichtete. Aus seiner Analyse biographischer Interviews zieht Bruder den Schluss, dass diese eine nur eng begrenzte Aussagekraft besitzen, die sie zudem nur in 1279 1280 1281 1282 1283
Dazu auch Unseld 2006d. Bruder 2003, S. 13. Ebda., S. 12. Ebda., S. 17. Freud/Zweig 1968, S. 137. Vgl. dazu auch Bruder (Hg.) 2003.
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der Zusammenschau mit anderen Texten offenbaren: »Wir haben – im biographischen Interview – nur einen Text, produziert in Antwort auf die Deutung der Interviewsituation durch den Interviewten. Und diesen Text können wir erst wieder interpretieren, wenn wir ihn neben andere Texte stellen: – andere Interviews, Texte anderer Gattungen, anderer Medien, andere Diskurse.«1284 Kontextualisierung ist ihm oberste Prämisse, will man aus dem Quellenmaterial biographischer Interviews zu biographischer und/oder historiographischer Darstellung gelangen. Diese nimmt Bruder abschließend in den Blick: Die normale Situation des Historikers ist aber nicht eine dyadische wie im biographischen Interview oder im psychoanalytischen Experiment, sondern eine Dreieckssituation: Das Material, mit dem er die Biographie des Subjekts zu (re-) konstruieren sich zum Ziel gesetzt hat, muss nicht vom Subjekt stammen, […] es ist meist von einer dritten Person produziert worden – und sei es »nur zusammengestellt«. Durch das Material, mit dem es der Historiker zu tun hat, kommt eine »dritte« Person ins Spiel: der »Protokollant«. Diese dritte Person übt also ebenfalls ihren Einfluss in der Sicherung/Verdunkelung der »biographischen Wahrheit« aus: ihre Vorstellungen, Absichten, Interessen gehen in die Auswahl des Materials, bzw. in dessen Herstellung ein. Man könnte insofern von einer »Gegenübertragung« dieser dritten Person sprechen. Sie bringt die Gegenübertragungsbeziehung des Historikers nicht zum Verschwinden, sie verdoppelt sie durch den ihr eigenen »Widerstand«.1285
Das durch Übertragungen gekennzeichnete Beziehungsdreieck von biographiertem Objekt, Biograph und Protokollant wird schließlich um die Instanz der »Mitwelt« ergänzt: »Kollegen, visible und invisible, die scientific community, die communities der verschiedenen Diskurse von Kultur, Politik, Gesellschaft, die Öffentlichkeit der Medien, die allgemeine, verallgemeinerte, veröffentlichte Meinung, den Diskurs der Macht. Dass der Historiker mit seinem Material allein ist, heißt nicht, dass er sein Material für niemanden – außer für sich selbst – bearbeitet. Er (re-)konstruiert die Biographie für seine ›Mitwelt‹, […] für die ›Nachwelt‹.«1286
Sichtbar? Spuren im Text Damit aber ist noch einmal zur Konstellation zwischen Biographin und Biographiertem, zu Ramann und Liszt zurückzukehren. Ramann war sich dieser »Wahrheit zu zweit« bewusst, doch daraus methodische Konsequenzen für 1284 Bruder 2003, S. 17. 1285 Ebda., S. 23f. 1286 Ebda., S. 25.
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ihr Schreiben zu entwickeln, schien ihr schwerzufallen; sie reagierte mit Ablehnung auf Sayn-Wittgensteins weitere Versuche der Einflussnahme. Und dass nicht nur die Fürstin im »biographischen Käfig« gefangen war, sondern auch sie als Autorin, meinte sie mit einem »Ruck« zur Objektivität (»[…] ich warf die Stimmung weg und wurde ›objektiv‹«) abstreifen zu können. Man könnte – im Wissen darum, dass von Chladenius über Schiller bis Droysen bereits über die Subjektivität des Historikers nachgedacht worden war – behaupten, dass Ramann hier der Mut zu einer den eigenen »Sehepunckt« reflektierenden Methodik fehlte. Doch Ramann, die als Frau nicht in der akademischen Musikwissenschaft aufgenommen war, fehlte hier nicht nur die »Anerkennungslogik«, sondern war – gerade im Fach Musikwissenschaft – mit dieser Überzeugung keineswegs allein. Guido Adler etwa war selbstverständlich davon überzeugt, dass er – gleichwohl er freundschaftlich mit einigen Komponisten verbunden war, über die er wissenschaftlich arbeitete – in seinen wissenschaftlichen Publikationen »Persönliches ausgeschaltet«1287 habe. Das »Ausschalten des Persönlichen«, die an einer subjektiven Alltagsbiographie »unbeteiligte« Wissenschaftlerexistenz, nannte Heinrich Besseler eine »anima candida«,1288 was in seinem Fall sicherlich als besonders problematisch zu gelten hat, war dies für ihn doch das Argument, das wissenschaftlich handelnde Subjekt von einem alltäglichen (auch politisch) agierenden Subjekt getrennt zu halten, vor allem Letzteres als »irrelevant« zu deklarieren und letztlich auszublenden. Ausgeblendet wurden damit aber in erster Linie Besselers Verstrickungen in die Nazi-Ideologie, die erst 1970 auf dem Internationalen Kongress der Gesellschaft für Musikforschung zu einem öffentlichen Eklat führten, was in eine kontrovers geführte Debatte um die Art und Weise, ob und wie das Subjekt des Musikwissenschaftlers mit dessen Arbeit in Verbindung zu bringen sei, mündete.1289 Die Tatsache, dass Willy Hess zeitgleich eine idealisierende Heroengeschichtsschreibung für einen der von den Nationalsozialisten am stärksten vereinnahmten Komponisten reklamiert, scheint dabei kaum ein Zufall. Die Argumentation, dass in Anbetracht der die humanistischen Ideale verkörpernden Person persönliche Verfehlungen zu übergehen seien, ist jedenfalls erstaunlich ähnlich: Der Begriff »Humanismus« erhält die Funktion der unhinterfragbaren Überhöhung, wie etwa im Nachruf von Edward E. Lowinsky, der seinen Lehrer Besseler noch 1971 als »one of the few great humanists in our discipline« bezeichnete.1290 Vergleichbar 1287 Adler 1935, S. VII. 1288 Aus dem Nachruf Besselers auf seinen Lehrer Friedrich Ludwig. Vgl. Schipperges 2005, hier bes. S. 385f. 1289 Vgl. dazu Lütteken 2000. 1290 Vgl. Schipperges 2005, S. 22.
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argumentiert Willy Hess, der immer wieder betont, dass Beethovens Musik als »Durchdringung eines vollkommen subjektiven Musikausdruckes« zu verstehen sei und »mit den Idealen höchster Menschlichkeit und einer Reinheit der Empfindung« einher gehe. Insofern erhielt das Ausblenden des wissenschaftlichen Subjekts nach 1945 eine besondere Bedeutung und Brisanz für Musikwissenschaftler, die mit dem Hitler-Regime mehr als nur sympathisiert hatten. Die Nachkriegskarriere schien nur durch das Verdrängen individueller Schuld möglich zu sein. Anselm Gerhard erkannte in diesem Zusammenhang noch im Jahr 2000 eine deutliche Berührungsangst mit jenen Wissenschaftlerbiographien, die während des Dritten Reiches aktiv waren, zumal »praktisch keine Musikforscher« auszumachen seien, »die sich unter dem Terror der Diktatur eine unangreifbare persönliche Integrität hätten bewahren können«.1291 Inwiefern die schreibende Person als Akteur in der Musikwissenschaft sicht- oder unsichtbar sein könne oder solle, blieb freilich auch jenseits der Debatte um nationalsozialistische Vergangenheiten brisant. Noch einmal ist dabei zu Dahlhaus zurückzukehren, der in seinen 1977 veröffentlichten Grundlagen der Musikgeschichte aus einer anderen Perspektive auf die »Frage nach dem Subjekt der Musikgeschichte« eingeht: Welches Subjekt kann es für Musikgeschichtsschreibung geben und ist es für die Kohärenz musikhistoriographischer Darstellung notwendig? Bezeichnenderweise kommt Dahlhaus hier – nachdem er wie beschrieben die Biographie und ihren Subjektbegriff als Grundlage von veralteter Musikgeschichtsschreibung verabschiedet hatte – auf den Historiker und dessen Subjektstatus zu sprechen. Gegen den »Kontinuitätsbegriff der Historiker des 19. Jahrhunderts[, der] mit dem der Romanciers substanziell zusammenhing«,1292 gehe, so Dahlhaus, eine methodische Richtungsänderung einher, die nicht nur den »allwissenden Erzähler« und die Sicherheit von Zäsuren verabschiede und stattdessen eine Polyperspektivität einführe, sondern auch einen »modernen Historiker« fordere, der die Autonomie des Subjekts reflektiere: »[…] er macht fühlbar, daß die Geschichte, wie er sie erzählt, außer der Darstellung eines Stücks Vergangenheit ein Dokument über die Gegenwart ist, aus deren Situation heraus er schreibt.«1293 Dahlhaus’ Text vermittelt den Eindruck, als habe er erst mit der vollständigen Abkehr vom biographischen Subjekt als Zentrum für Musikgeschichtsschreibung diesen Raum für ein wissenschaftliches Subjekt geschaffen. Die in den 1970er Jahren geführte Debatte erhielt mit der Mozart-Biographie von Wolfgang Hildesheimer einen Paukenschlag, verhandelt der Autor 1291 Gerhard 2000, S. 7. 1292 Dahlhaus 1977, S. 80. 1293 Ebda., S. 81, Hervorhebungen M. U.
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doch ausführlich die Frage nach der Subjektivität des Biographen: »Ich hab in der Einleitung zu meinem Mozartbuch meine Subjektivität so deutlich erklärt wie nur möglich, und habe später im Text jede Möglichkeit wahrgenommen, sie nicht nur zu betonen, sondern mich stets wieder zu ihr zu bekennen. Ich habe sie als einzig richtige Methode dargestellt, einen solchen Stoff zu bewältigen.«1294 Und in der Tat kann man bei einer die biographischen Leerstellen mit Spekulationen aufgefüllten Herangehensweise davon sprechen, dass hier »Mozart nach dem Gusto des Autors […] frisier[t]« worden sei.1295 So exponiert hier die Subjektivität des Biographen zutage tritt, so unterschwellig gerinnt Hildesheimers Subjektivitätsanspruch zu einer eigenartig starren, Objektivität erheischenden Form, indem er eine biographische Haltung einnimmt, die Vergangenheit nicht als offene, lückenbehaftete und modellierte Erinnerung mit einem (tatsächlichen) forschenden und schreibenden Subjekt im Zentrum darstellt, sondern eher den Zweifel am (Nicht-)Wissenkönnen festschraubt. Ernst Lichtenhahn beschreibt dieses Phänomen anhand von Hildesheimers Umgang mit den Mozart-Briefen: »Die breit und ausführlich zitierten, sorgfältig und scharfsinnig kommentierten Briefe erscheinen in Hildesheimers Beleuchtung als wertvolle Bausteine zum Psychogramm, doch als solche werden sie von ihm selber zugleich wieder verworfen, in Frage gestellt als ›artifiziell‹, berechnend auf den Empfänger gemünzt, wenig aussagekräftig, im Grunde genommen unwesentlich.«1296 Wie weit die Infragestellungen gehen, hat Martin Geck jüngst zur Sprache gebracht und kommentiert, dass »vieles […] unnötig spekulativ« sei.1297 Geht man der Spur dieses gut getarnten Objektivitätsanspruchs nach, wird man bereits in Hildesheimers Vorwort fündig. Hier hebt er die Notwendigkeit hervor, Subjektivität zu überwinden und schlägt dazu nicht nur den pluralis 1294 Hildesheimer 1984a, S. 135. Das Zitat ist einer Rede entnommen, die Hildesheimer 1982 in Freiburg hielt und in der er sich ausführlich über seine Rolle als Biograph äußerte. 1295 Geck 2007, S. 98. Als Beispiele für den spekulativen Ansatz Hildesheimers nennt Geck die Aussagen Hildesheimers über Constanze Mozart sowie über die Frage, inwieweit Mozart Kirchgänger gewesen sei. 1296 Aus »Ein Buch des Widerspruchs – und seine Folgen. Wolfgang Hildesheimers ›Mozart‹, dreissig Jahre danach« (Neue Zürcher Zeitung, 21./22. Januar 2006, S. 29f.), hier zit. nach Geck 2007, S. 95. 1297 Ebda., S. 95, Hervorhebung M. U. Interessant ist hierbei besonders, wie Geck als Biograph selbst mit Spekulationen umgeht: Unerwiesenes oder Vieldeutiges – wie etwa die Frage nach Mozarts Spielleidenschaft – stellt Geck vor und lässt in offenen Gedankenräumen alte und neue Thesen sich begegnen, um dann einen Schlussstrich zu ziehen: »Ehe wir tief in Spekulationen geraten und damit selbst zu Spielern werden, ziehen wir das Fazit: Ob Mozart in größerem Umfang gespielt hat, ist nicht bekannt.« Geck 2005, S. 176.
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concordiae als inter-subjektive Klammer zwischen Autor und Leserschaft vor, sondern betont zugleich dessen Bedürfnis nach Objektivität: »In der Biographie […] muß dieser Grad [der Objektivität] als das ausschlaggebende Kriterium gelten. Denn der Leser will die Vermittlung, nicht den Vermittler.«1298 Aus dieser gespaltenen Haltung – einerseits die Subjektivität des Autors reklamierend, andererseits dem Bedürfnis nach Objektivität nachkommend – erkennt Hildesheimer keinen Widerspruch, denn »[d]er Biograph bleibe immer eingedenk seiner Subjektivität: dem Helden gegenüber. Mit Objektivierung meine ich hier, daß er, der Biograph, sich selbst als einen sieht, der sich von Vorurteil und Affekt weitgehend freigemacht hat, und der wohl einen Schritt näher zur Einschätzung seiner selbst gekommen ist als andere, vor allem als jene, denen er sich mitteilt.«1299 An dieser argumentativen Volte lässt sich erkennen, warum Geck in Hildesheimers Mozart eine methodische Rückwärtsgewandtheit erblickt: Die Subjektivität des Autors wird reklamiert, um dann das daraus entstehende subjektive biographische Bild durch die Tatsache, dass der »Biograph […] als einer […], der sich von Vorurteil und Affekt weitgehend freigemacht hat«, in übergeordneter Objektivierung zu überhöhen: Hildesheimer habe damit, so Geck »die alten Werte nur verstohlen reaktiviert, während vordergründig ein modernes, weil seinen Gegenstand bis ins Letzte problematisierendes Mozart-Bild präsentiert wurde.«1300 Von einer tatsächlich wahrgenommenen und reflektierten Subjektivität des Biographen ist Hildesheimer mithin weit entfernt.1301 Mit einer gänzlich anderen Haltung zum forschenden und biographierenden Ich sei abschließend der Blick auf eine weitere Position geworfen. Beatrix Borchard rückte die eigene, forschende und schreibende Person unmittelbar in den Vordergrund: Wien. Im Antiquariat Doblinger: Ich krame in einem Notenstapel: Klavieralben, Gesangsalben, […] ich suche nichts Spezifisches, plötzlich ein Titelblatt mit Laute: Das deutsche Lied […]. Zu Haus angekommen stelle ich fest, daß ich diese Liedauswahl bereits besitze. Ich habe sie nur nie mit Amalie Joachim in Verbindung gebracht, da auf dem Titelblatt nur der Name des Herausgebers steht. Nur aus der ersten Innenseite, die ich noch nie bemerkt hatte, geht hervor, daß Reimanns Ausgabe auf gemeinsamen Konzerten mit Amalie Joachim basiert.1302 1298 1299 1300 1301
Hildesheimer 1977, S. 10. Hildesheimer 1984a, S. 137, Hervorhebung M.U. Geck 2007, S. 97. Dahlhaus’ Kritik an Hildesheimer greift im Übrigen diese Volte auf, um seinerseits fortzuschreiben, dass Biographik keinerlei Erkenntnisgewinn für die Musikbetrachtung bringe. Vgl. dazu ebda., S. 99f. 1302 Borchard 2005b, S. 143. Das Zitat ist im Original kursiv wiedergegeben, auf diese Weise unterscheidet Borchard die deutlich subjektiv gefärbten »Ich-Passagen« von
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Aus der Forscherinnensituation und dem Nacherzählen des Erkenntnisprozesses wird an dieser Stelle nicht nur das Wissen über die bei Simrock erschienene Liedausgabe Das deutsche Lied 1303 berichtet, sondern auch das, was bislang nicht bekannt war bzw. nicht erinnert wurde – praktiziertes »Lückenschreiben« in Verbindung mit dem Hinweis auf Bruchstückhaftigkeit und die Modellierfähigkeit von individueller und kollektiver Erinnerung. Von Adlers »ausgeschalteter« Persönlichkeit ist diese methodische Reflexion denkbar weit entfernt.
den eher deskriptiv angelegten. 1303 Zum Vergleich der beiden Ausgaben vgl. ebda., S. 142ff.
Anstelle eines Fazits: Anforderungen an eine gegenwärtige musikwissenschaftliche Biographik
Das Thema Biographie und Musikgeschichte scheint an diesem Punkt in vielen einzelnen Gedankensträngen offen zu liegen: Neben Einblicken in die Geschichte der musikalischen Biographik und einer Auseinandersetzung damit, welche (musik)kulturellen Prämissen notwendig waren, Musikerinnen und Musiker als biographiewürdig wahrzunehmen, nach einzelnen Studien zu biographischen Konzepten in der Musik und der Musikgeschichtsschreibung des 18. bis 21. Jahrhunderts und der Frage an die Musikwissenschaft, wie sie ihr Verhältnis zur Biographik definiert, liegen nun die Fäden bereit, um zusammengeknüpft zu werden. Das Ergebnis dieses Zusammenknüpfens sei dabei nicht als konsistentes Theoriegebäude einer musikwissenschaftlichen Biographik gedacht, sondern als Ausgangspunkt für das Nachdenken über Anforderungen, die an eine gegenwärtige musikwissenschaftliche Biographik zu stellen sind, und zugleich als Plädoyer, den interdisziplinären Austausch der derzeitigen Biographikforschung für die Musikwissenschaft zu nutzen. Die Unausweichlichkeit, in der Musikgeschichte mit biographischen Bildern konfrontiert zu sein – und dies selbst (und vielleicht auch besonders) dann, wenn Personen als »biographische Subjekte« im Hintergrund verortet werden, von wo aus sie je diffuser umso wirkmächtiger fortbestehen –, fordert dazu auf, sich explizit der Konstruktivität dieser biographischen Bilder zu stellen. Hierbei spielen insbesondere sechs Fragen eine zentrale Rolle: Zu welchem Zeitpunkt entsteht ein biographisches Bild? Wer initiiert es, setzt es um? Welche Modelle werden dabei aufgegriffen? Welche Intentionen verbinden sich mit ihm? Wie lange überdauert das biographische Bild und wer knüpft daran an? Nimmt man diese Fragen ernst, kann von einem »biographischen Subjekt«, also einem W. A. Mozart, der etwa aus Jahns Mozart-Biograpie besonders plastisch oder besonders authentisch entgegentrete, keine Rede mehr sein. Vielmehr wird die Biographie auf diese Weise vor allem ein Dokument ihrer Zeit und der ihr eigenen kulturellen Muster des Erzählens: Die Entstehungszeit von Jahns Biographie zur Mitte des 19. Jahrhunderts steht für eine bereits gut etablierte Jubiläumskultur für Musiker, steht darüber hinaus auch für den noch nicht akademischen Stand einer Musikwissenschaft, die sich methodisch zu orientieren hat. Damit rückt auch der Biograph selbst, sein Denkstil und Handlungsumfeld in den Vordergrund, außerdem der Verlag, die Zielgruppe des mehrbändigen Werkes, schließlich auch die Fragen, an welchen biogra-
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phischen Modellen sich Jahn orientierte, woher diese rühren und worauf sie selbst wieder Einfluss nehmen. Womit auch die Rezeption der Jahnschen Biographie angesprochen ist, die in diesem Fall besonders intensiv war: Jahns Biographie galt lange als Standard-Werk der Mozart-Biographik. An diesem Punkt dürfte vollends erkennbar sein, dass vom Biographierten selbst kaum noch die Rede ist. Der Biographierte tritt vor der Vielfalt und eigenen Historizität seiner biographischen Bilder in den Hintergrund. Dies ist kein Verlust, sondern Einsicht in die Überzeugung, dass auch hier eine Gewissheit, wie es (bzw. er) gewesen ist, nicht möglich ist. Eine der Konsequenzen aus dieser Einsicht, dass die »biographische Wahrheit […] nicht zu haben« ist, lautet daher, sich aktiv mit den biographischen Bildern auseinanderzusetzen: ein Rückblick auf die Biographiegeschichte nicht als Möglichkeit, sondern als Notwendigkeit. Denn er fördert jene »gestanzte[n] Meinungen« zutage, »die den Impuls einer eigenen Empfindung oder einer eigenen Einsicht […] umstandslos aufnehmen, ablenken und dem Allgemeinen zuführen«.1304 Betrachtet man die Musikkultur unter diesen biographieimmanenten Voraussetzungen, gewinnt die Musikgeschichte an Kontur, denn in den Fokus gelangt ein breiteres Feld an Akteuren. So wird etwa in Ansehung des Genie-Modells klar, dass die Exponiertheit eines Schöpfers, sein Außenseiterstatus, zum Programm des Genie-Modells gehört, nicht musikkulturelle Gegebenheiten abbildet. Das biographische Modell darf nicht mit musikhistorischen Gegebenheiten verwechselt werden. Wer aber formuliert diese Modelle? Welche Materialien nutzt er dafür? Wo werden diese gemacht, bereitgestellt, archiviert? Das große Feld der Medien der Erinnerungskulturen tut sich an dieser Stelle auf und lässt erkennen, dass es für »den Komponisten« als biographierbares und historisierbares Subjekt eine ganze Reihe von Aktivitäten und Akteuren bedarf, die dieses Modell entwerfen. Dass die Biographie dabei ein geeignetes Medium war, Modelle wie die des Komponisten als Genie auszuformulieren und zu bekräftigen, steht außer Frage. Diesen ihren Konstruktionscharakter aber auszublenden, hieße, den Konstruktionscharakter des Modells »Genie« zu verschleiern (und damit nicht zuletzt auch zur Unsichtbarkeit der damit befassten Akteure beizutragen). Einen weiteren Punkt gilt es anzusprechen: Biographiewürdigkeit ist nicht absolut, sondern unterliegt vielmehr einem Wandel, der Rückschlüsse auch auf das jeweilige Musikverständnis zulässt. Wenn im 18. Jahrhundert Musiker als biographiewürdig entdeckt werden, so liegt hier – wie gezeigt – ein Wandel in der Musikkultur zugrunde, die die Musik als Kunst aufwertet und damit auch den die Musik schaffenden Künstler. Auch die Frage, inwieweit Musikerinnen als biographiewürdig gelten, lässt Rückschlüsse zu: Während 1304 Dibelius 1972, S. 116.
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bei Ernst Ludwig Gerber noch ein erheblicher Anteil an Musikerinnen diverser Professionen berücksichtigt wurden, war es insbesondere die Heroenbiographik im 19. Jahrhundert, die für Musikerinnen (wenn überhaupt dann) nur wenig Raum ließ: als Interpretin oder als die dem Genie zugeordnete Muse. Gegenwärtig hat es den Anschein, als dass Biographiewürdigkeit keine Beschränkungen kennt. Nicht nur alle musikalischen Professionen werden berücksichtigt, sondern auch Männer wie Frauen, historische wie aktuelle, alle Sparten und Genres der Musik ohnehin. Wenn damit gleichsam biographische Barrierefreiheit besteht, so liegen doch Unterschiede der biographischen Zugänge noch immer vor, allerdings weniger offensichtlich. Wenn etwa inzwischen Biographien über Komponistinnen möglich sind, bleiben doch gläserene Zugangsbeschränkungen zu den »großen« biographischen Reihen der Verlage: In der Laaber-Reihe Große Komponisten etwa ist bislang keine Komponistin aufgenommen worden und die Verlagsankündigung (bis ins Jahr 2016) sieht auch weiterhin keine solche vor.1305 Was man als verlegerische Entscheidung abtun könnte, ist – in Kenntnis der Geschichte der Musiker(innen) biographik und in Kenntnis der Fachgeschichte und ihres Verhältnisses zur Biographik, in deren Zusammenhang diese Reihe ja durchaus eine gewichtige Rolle gespielt hat1306 – gleichwohl ein nennens- und beachtenswertes Phänomen. Mit Andreas Reckwitz ist dieses als eine jener »rationalitätsverbürgenden Invisibilisierungen«1307 zu benennen, die eben nicht zufällig sind, sondern auf disziplinären Grundannahmen beruhen, die es zu diskutieren gilt. An diese »rationalitätsverbürgenden Invisibilisierungen« heranzutreten und sich mit ihnen auseinanderzusetzen, heißt auch, die Fachgeschichte in den Blick zu nehmen. Das ambivalente Verhältnis der Musikwissenschaft zur Biographik ist bis in die Gegenwart Teil dieser Fachgeschichte. Insbesondere ist das Potential zu »methodologische[m] Streit«1308, das Beatrix Borchard in der Biographik sieht, untrennbar mit dieser verbunden. Eine produktive Auseinandersetzung mit der Frage, in welchem Verhältnis Biographie und Musikwissenschaft zueinander stehen (sollten), ist ohne die Kenntnis der Fachgeschichte kaum möglich. Damit gilt aber auch festzuhalten, dass sowohl die biographischen Anfänge des Fachs wie auch die anti-biographischen Tendenzen seit Guido Adler als historisch zu verstehen sind, nicht als normativ. Und auch die Ablehnung, die Dahlhaus der Biographik entgegenbrachte, ist Teil der Fachgeschichte während des sogenannten »Kalten Krieges«, erkennbar als 1305 http://www.laaber-verlag.wslv.de/index.php?ID_Liste=85 (letzter Zugriff: 23. April 2014). 1306 Vgl. die Ausführungen zu Dahlhaus’ Beethoven-Band innerhalb der Reihe im Kapitel Wider das Triviale: Carl Dahlhaus’ Polemik von 1975 und ihre Folgen. 1307 Reckwitz 2008b, S. 37. 1308 Borchard 2005b, S. 589.
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Abwehr gegen eine marxistische Musikwissenschaft, wie sie Georg Knepler oder Harry Goldschmidt vertraten. Sie ist zugleich Teil der Klassik-Diskussion der späten 1960er/1970er Jahre und insbesondere auch der Beethoven-Forschung. Aus »Wozu noch Biographien?« ist zwar auch eine grundlegende Ablehnung jeglicher Heroisierung abzulesen, die mit anachronistischen biographischen Modellen abzurechnen versucht, Dahlhaus verliert dabei freilich gründlich aus dem Blick, dass es »die« Biographik nicht geben kann, sondern jede Zeit »ihre« Biographik sich zu erarbeiten hat. Die geschichtstheoretischen Positionen Dahlhaus’ hätten diesen Schritt hin zu einer »neuen«, kritischen Biographik durchaus zugelassen, zu übermächtig aber schien offenbar das Erbe der Heroenbiographik, für eine Werkautonomie zu verdächtig war eine Biographik, der die Vorstellung eines Leben-Werk-Zusammenhangs zugrunde lag, und zu wichtig war die (wissenschafts)politische Abgrenzung gegen ostdeutsche Musikwissenschaft, als dass all dies ohne jenen publizistischen Paukenschlag überwindbar erschienen wäre. Zu den Voraussetzungen eines sinnvollen Umgangs mit Biographik in der Musikwissenschaft gehört neben der Fachgeschichte auch die Biographiegeschichte selbst. Dass beispielsweise mehrere Regalmeter an Mozart-Biographik existieren, ist eine unleugbare Tatsache, die keinen zukünftigen Mozart-Biographen und keine zukünftige Mozart-Biographin unberücksichtigt lassen kann: Unzweifelhaft werden sie sich in diese Biographiegeschichte einschreiben. Die Verankerung innerhalb der Biographiegeschichte zeitigt freilich mehrere Konsequenzen: biographieschreibend, indem diese Verankerung mitreflektiert werden muss, biographielesend, indem der innerbiographische Rezeptionsprozess Wesentliches über die Biographie selbst preisgibt. Anders gesagt: Liest man die Mozart-Biographie von Nissen unter den Erwartungen kritisch-philologischer Quellenarbeit, führt dies unvermeidlich zu Fehlschlüssen: Sie entstand in Kompilationstechnik, was nicht nur aus ihrer Entstehungsgeschichte heraus zu erklären ist, sondern auch aufgrund ihres biographiehistorischen Orts. Es hieße Biographik grundlegend missverstehen, versuchte man etwa aus der überbordenden Fülle an Mozart-Biographien diejenige herauszusuchen, die Mozart am genauesten, am treffendsten, am »wahrsten« darstelle. Im Bewusstsein um die Konstruktivität von Biographie, die sie mit der Geschichtsschreibung teilt, kann es nicht darum gehen, eine biographische »Wahrheit« zu erlangen. Die Kriterien der historiographischen Formung, wie sie Klaus Füßmann aufgestellt hat, gelten für die Biographik ohne Abstriche: Das biographische Bild, das jede Biographie transportiert, ist ein Spiegel seiner Entstehungszeit, in dem die Verortung seines Schreibers oder seiner Schreiberin ebenso erkennbar ist wie die Leserschaft, auf die es hin konzipiert ist. Der Anspruch auf Realitätshaltigkeit trifft immer auch auf den individuellen »Se-
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hepunckt« des Biographen oder der Biographin mit seiner oder ihrer Vorstellung eines biographischen Modells, in das das biographierte Objekt gefasst wird. Zu einer sinnvollen Annäherung an Biographik gehört damit auch, sich der Person zu vergewissern, die schreibend tätig wird: Von welchen wissenschaftlichen, biographischen oder auch literarischen Voraussetzungen geht sie aus? Wie ist sie geschichtstheoretisch, wie biographietheoretisch verankert?1309 Sowohl den »Sehepunckt« als auch das biographische Modell des Biographen oder der Biographin mitzudenken, ist daher in der Rezeption von Biographien notwendig, sie grundsätzlich offenzulegen wäre als Anspruch an eine gegenwärtige Biographik zu formulieren. Zugleich sind die Lesenden damit in die Pflicht genommen, sich diesen im Rezeptionsprozess aktiv zu nähern, Lesen als Konstruktionsleistung zu begreifen, bei der eigene biographische Bilder mit dem des Autors/der Autorin konfrontiert und/oder in Einklang gebracht werden. Die Grundannahme, dass die »biographische Wahrheit« nicht zu greifen ist, überkreuzt sich im Laufe der historischen Debatten des 20. Jahrhunderts mit Überlegungen zur Darstellbarkeit von Vergangenem, mit Fragen des linguistic turn und einer memoriksensiblen Geschichtsschreibung. Insofern liegt an dieser Stelle keine biographischspezifische Besonderheit vor. Damit aber steht im Raum, die Biographie – zumindest jene, die sich diesen Fragen der Darstellbarkeit von Vergangenem stellt – in puncto Literarizität der Geschichtsschreibung gleichzustellen,1310 und ihr die damit immer wieder attestierte Zwischenposition1311 zwischen Wissenschaft und Literatur zumindest insofern abzusprechen, so es sich nicht explizit um literarische oder fiktionale Biographien (wie Puschkins Mozart und Salieri, Dieter Kühns Beethoven und der schwarze Geiger oder Wolfgang Hildesheimers Marbot) handelt. Dessen eingedenk ist zu überlegen, inwiefern biographische Methodik in ihren zentralen Punkten an historischer Methodik partizipiert, etwa in Fragen des Umgangs mit Quellen.
1309 Hierzu entsteht derzeit am Institut für Musik der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg die Dissertation von Lisbeth Suhrcke über die Biographin Marie Lipsius. 1310 Zur Narration in der Geschichtsschreibung sei nochmals auf Süßmann 2000 und Fulda/Tschopp (Hg.) 2002 verwiesen. 1311 »Wenn die Biographie lange Zeit kein bevorzugter Gegenstand wissenschaftlicher Forschung war, dann hat dies seine Ursache im Übrigen aber auch darin, dass sie an einer prekären Schnittstelle von Kunst und Wissenschaft angesiedelt ist: Einerseits ist sie – zumindest wenn man ein weites Literaturverständnis zugrunde legt – ein literarischer Text und damit Objekt literaturwissenschaftlicher Analyse; andererseits aber ist sie in allen historisch arbeitenden wissenschaftlichen Disziplinen selbst Instrument der Forschung«. Viehöver 2010, S. 182.
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»Die Gedächtnisgeschichte fragt nicht ›Wie ist es eigentlich gewesen?‹, sondern ›Wie (warum, von wem und wann) wird es erinnert?‹«1312 Geht man von einer memoriksensiblen Geschichtsschreibung aus, sind Quellen als Erinnerung, festgehalten in je spezifischer Medialität, zu verstehen. Damit aber sind jene Fragen, die Assmann für die Gedächtnisgeschichte formuliert – wie, warum, von wem und wann wird erinnert –, der Schlüssel zum Dekodieren der Quelle. Dies betrifft Ego-Dokumente und Kompositionen ebenso wie Chroniken, Geschichtsdarstellungen, Photographien u. v. m. Es gilt zu berücksichtigen, wer erinnert, für wen erinnert wird, welches Medium gewählt wird und warum, welche Möglichkeiten (und Unmöglichkeiten) der Darstellung mit diesem Medium verbunden sind, wann das Erinnerte dokumentiert wird und wie weit dabei der zeitliche Abstand zum Erinnerten ist. Erinnertes bedarf daher im Zusammenhang mit historiographischer oder biographischer Verarbeitung immer der Kontextualisierung.1313 Diese bedeutet freilich nicht, dass sich eine Musikwissenschaft, die sich den Herausforderungen der Gedächtnisgeschichte stellt, die Spezifik ihres Gegenstandes verlöre.1314 Es geht vielmehr darum, mit Fragen an Quellen heranzutreten, anstatt eindeutige Antworten von ihnen zu erwarten. Die Mozartsche Fußtritt-Anekdote sei hierbei nochmals aufgegriffen: In den Briefen, die diesen Vorfall zum Thema haben, schreibt Mozart mehrfach von einem Fußtritt. Eine historische Tatsache – oder doch ein briefliches factum? Anzunehmen ist, dass sich aus dem Dissens zwischen Fürsterzbischof und Hofangestelltem ein (wie auch immer stattgehabter) Abschied aus dem Hofdienst ergeben hat. Aber worum handelt es sich beim beschriebenen Fußtritt? Wenn wir an die brieflichen Äußerungen mit dem Fragen-Portfolio einer kritischen Biographik herantreten, werden Lesarten jener Quelle deutlich, die über eine positivistische Lesart (= Fußtritt) weit hinausgehen. Exakter ist damit die Situation noch immer nicht zu greifen, im Grunde verliert sogar der Blick an Schärfe, denn die Gewissheit geht verloren, dass der Arcosche Fußtritt stattgefunden hat. Gewonnen ist damit freilich ein tieferes Verstehen der Zusammenhänge: der Aushandlungsprozess um künstlerische Reputation und das Ringen um den neuen Status eines vom Hofdienst unabhängigen Musikers. Den Arcoschen Fußtritt unhinterfragt anzunehmen und ihn als musikhistorischen und/oder biographischen Baustein zu gebrauchen, heißt möglicherweise, die Selbstdarstellung eines Künstlers als historische Realität misszuverstehen. Überdenkenswert daher, Briefe und andere Quellen unter ähnlichen Prämissen zu begreifen, wie sie für die Auto1312 Assmann 2005a, S. 24. 1313 Vgl. dazu am Beispiel eines Widmungsschreibens Unseld 2007b. 1314 Hermann Danuser spricht von seiner »Sorge um die Spezifik von Musikwissenschaft in einer Zeit, in der Rufe nach ihrer Kontextualisierung immer lauter zu vernehmen sind.« Danuser 2011, S. 43.
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biographik selbstverständlich sind, nämlich nicht als Dokumentation, sondern als »erinnernde Neuschöpfung«.1315 Mit dieser Form der Kontextualisierung, die im Übrigen nicht nur schriftliche Quellen betrifft, sondern durchaus auch musikalische und andere, wird jener »Ballon« wieder zurückgeholt, den Hans Heinrich Eggebrecht »in den Himmel des reinen Anschauens« entließ.1316 Denn kein Erinnerungsmedium ist von seiner Medialität, seiner Intentionalität und den Personen losgelöst, die es formen, die es rezipieren und die es im kulturellen Gedächtnis verankern. Auch die Musik – als Zeitkunst besonders auf die Transformation in Erinnerung konservierende Medien angewiesen1317 – ist davon nicht losgelöst. Die entsprechende Kontextualisierung führt damit nicht von den Quellen, nicht von der Musik weg, sondern genauer – wenn auch anders – zu ihnen und zu ihr zurück. Der Umgang mit solchen Lesarten von Quellen freilich wird zur Herausforderung, und die Narration gelangt nochmals unter neuen Vorzeichen auf die Agenda musikwissenschaftlicher Methodenreflexion. Beatrix Borchard hat diese Forderung mit ihrem Modell der »musikologischen Lebensforschung«1318 angenommen und drei Leitideen entwickelt: Lückenschreiben, Montage und Gegenschreiben. Die Idee der Montage stützt sich dabei auf die Notwendigkeit, nicht nur mit Quellen, sondern adäquat auch mit Quellenlücken umzugehen, zugleich auch auf die Notwendigkeit, die Perspektive des eigenen Forscherinnen-Ichs einzubringen. Diese Vorgehensweise führt zu einer historisch-biographischen Darstellung, die an die Stelle suggerierter Kohärenz das Prinzip der Offenheit setzt: Quellen werden jeweils zwar nach Möglichkeit kontextualisiert, stehen aber auch »roh« montiert beieinander, um sie im Prozess des Lesens dem Prozess der individuellen Aneignung anzuvertrauen. Die Idee des »Gegenschreibens« bezieht Borchard sowohl auf Quellenmaterial als auch auf bereits existierende biographische und historiographische 1315 Picard 1978, S. 67. 1316 »Ästhetische Musik ist das Gebilde, dessen Intention es ist, die Begründung seines Daseins in seiner sinnlichen Medialität selbst zu haben, so nämlich, daß nicht nur die gehaltlichen Intentionen (die ›Bedeutungen‹), sondern auch die Bedingungen, aus denen es entsteht, und die Zwecke, für die es entsteht, aufgehoben werden in die Identität des musikalischen Sinnes mit sich selbst. In diesem Aufhebungsprozeß [...] werden die Schnüre, die es mit der Umwelt verbinden, intentional durchschnitten und steigt das musikalische Gebilde als ästhetische Musik empor in den funktions- und zeitlosen Raum, wie ein Ballon, in den Himmel des reinen Anschauens.« Eggebrecht 1977, S. 207. Den Hinweis auf dieses Zitat verdanke ich dem Doktorandenkolloquium des Promotionsprogramms »Erinnerung – Wahrnehmung – Bedeutung. Musikwissenschaft als Geisteswissenschaft«. 1317 Unseld 2011c. 1318 Borchard 2005b, S. 29.
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Texte. Sie legt dabei den Prozess ihrer eigenen kritisch-kontextualisierenden Lektüre und der Reflexion der eigenen Lektüreleistung offen. Die eingehende Textanalyse (mit dem Blick auf Autorenintention, Anlass, Textfunktion und andere Parameter) wird selbst thematisiert, um dem Leser/der Leserin den Nachvollzug der Interpretation zu ermöglichen. Und schließlich reagiert auch das Modell einer polyperspektivischen Biographik auf das Problem der Narrativität: Indem mehrere biographische Bilder nebeneinander existieren, indem sie sich nicht ausschließen, sondern sich gegenseitig als Bilder erkennbar machen, kann die Biographie als Gedächtnisgeschichte möglich werden. Kann mit diesen Ansätzen eine kritische musikwissenschaftliche Biographik gelingen? Über diese Ansätze konstruktiv nachzudenken, stellt einen wichtigen Schritt in der Musikwissenschaft dar, um sich darüber zu verständigen, welchen Weg das Fach mit und gegen die Biographik gegangen ist, und welche Möglichkeiten im Austausch mit der interdisziplinären Biographikforschung für die Musikwissenschaft erwachsen: »Übrigens ist jede Methode bestreitbar, und keine allgültig. Jedes betrachtende Individuum kömmt auf seinen Wegen, die zugleich sein geistiger Lebensweg sein mögen, auf das riesige Thema [Geschichte] zu, und mag dann diesem Wege gemäß seine Methode bilden.«1319
1319 Burckhardt 2000, S. 135.
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506
Anhang
Personenregister A Abbt, Thomas 12 Abert, Hermann 26, 257, 266, 374, 387, 401, 402 Adelung, Johann Christoph 187 Adler, Guido 9, 25, 26, 31, 259, 266, 367, 373–381, 383–385, 387, 388, 393–398, 410, 413, 415, 423, 431, 435, 438 Agoult, Marie d’ 424 Alexander III. (Alexander der Große) 248 Alexander, Leni 301, 313–315, 354 Ambros, August Wilhelm 25, 265–369, 371, 377, 399, 400 Ambros, Peter 301–305, 315 Angelbauer (Leibkammerdiener Colloredos) 131 Angermüller, Rudolph 400, 401 Apell, David August von 241 Arco, Graf Karl Joseph Felix 67, 130, 132, 441 Armagnac, Cécile 291 Arnold, Ignaz Ferdinand 137, 141, 142, 165, 176, 182, 206, 209, 211 Arteaga y Pereira, Fernando 242 Aesopus (Äsop) 82 Assmann, Aleida 34, 39–46, 50, 55, 56, 58, 63, 154, 158, 159, 298, 388 Assmann, Jan 39–43, 59, 62, 119, 297, 441 B Bach, Carl Philipp Emanuel 9, 202 Bach, Johann Sebastian 11, 20, 25, 119, 165, 199, 203, 207–209, 223, 255, 256, 258,267, 268, 277, 281, 323, 335, 371, 378, 382, 390, 394, 416 Bachmann, Ingeborg 332 Balakirew, Mili 219, 220 Bale, Christian 363 Barthes, Roland 267, 272, 419 Bashford, Christina 147 Bashkirtseff, Marie (Moussia) 294, 295 Baumgartner, Hans Michael 420 Bayreuther, Rainer 129 Beauvoir, Simone de 294 Beethoven, Ludwig van 7, 14, 18, 20, 24, 33, 34, 112, 117, 135, 148, 151, 152, 166, 174, 177, 178, 181, 184, 188–190, 203–207, 213, 214, 219–226, 244, 248–251, 254, 256–261, 264, 267–287, 323, 340, 341, 380, 382–384, 390, 403, 406–411, 413, 415, 416, 432, 438, 439 Bellini, Vincenzo 242
Bendemann, Eduard 276 Berg, Alban 392, 393 Bergenthum, Hartmut 55 Berchtold zu Sonnenberg, Maria Anna von (geb. Mozart) 110, 112, 139, 140, 174, 184, 185, 190, 196 Besseler, Heinrich 431 Beuys, Joseph 280 Biba, Otto 236, 237, 240 Bindi, Vincenzo 242 Bitter, Karl Hermann 255 Blahetka, Leopoldine 239 Blanchett, Cate 363 Bödeker, Hans Erich 11, 12, 17, 28, 29 Bodmer, Johann Jakob 186 Borchard, Beatrix 29–31, 67, 126, 154, 155, 159, 267, 275, 284, 355, 385, 434, 438, 442 Boswell, James 14, 87, 102, Boulanger, Lili 163, 288, 289, 292–295, 342 Boulanger, Nadia 163, 288–295 Bourdieu, Pierre 358 Brahms, Johannes 151, 213, 372, 384, 392, 423 Brandt, Marianne 427 Breuning, Stephan von 191 Brinkmann, Reinhold 403–406, 414 Brooks, Jeanice 290, 291 Brown, J. D. 242 Brückner, Hans 243 Bruder, Klaus-Jürgen 319, 422, 427–430 Brunetti, Antonio 131 Budde, Elmar 415 Budde, Gunilla 74, 159, 164, 201, 273 Buffon, Comte de (Georges-Louis Leclerc) 148 Bülow, Hans von 163 Burckhardt, Jacob 22–24, 244, 252–255, 260, 443 Bürger, Christa 158 Burney, Charles 88, 89, 91, 94–96, 102, 367 Byatt, Antonia S. 353 C Callejo Ferrer, Fernando 242 Cameron, Julia Margaret 345 Campi, Antonia 238, 239 Carey, Henry 370 Carlyle, Thomas 22–24, 250, 256, 279–282 Carpani, Giuseppe 206 Cäsar, Gaius Julius 248 Catalani, Angelica 146 Ceccarelli, Francesco 131
Personenregister
Chamisso, Adelbert von 154–156, 158, 159 Chilesotti, Oscar 242 Chladenius, Johann Martin 12, 50, 419, 421, 431 Chrysander, Friedrich 21, 25, 82, 101, 112, 190, 211, 212, 236, 255, 258, 266, 369, 370, 371, 373, 374, 377, 378, 381, 382, 387, 394 Cianchettini, Francesco 144, 145 Cianchettini, Pio 144–146 Cianchettini, Veronica Elizabeth (geb. Dussek) 144– 146 Clementi, Muzio 145, 146 Cocteau, Jean 292 Colloredo, Graf Hieronymus von 67, 130– 133, 441 Conné, Robert 242 Conradi, Johann Gottfried 242 Cuenca, Francisco 242 D Dahlhaus, Carl 9, 23, 31, 260–262, 266, 267, 272, 386, 388, 391, 402–404, 406–418, 432, 434, 438,439 Damm, Sigrid 66 Dante (Alighieri) 320 Danuser, Hermann 415–418, 441 Deaville, James 160, 161, 398 Debussy, Claude 293 Deutsch, Otto Erich 26, 102, 106, 400 Dibelius, Ulrich 263, 437 Dies, Albert Christoph 206 Dinaux, Arthur 242 Diner, Dan 297–300 Drake, Friedrich 276 Droysen, Johann Gustav 21, 22, 50, 51, 53, 54, 62, 63, 275, 276, 379, 420, 431 Duckworth, Julia (Mrs. Herbert Duckworth) 345 Duschek, Franz Xaver 93 Duschek, Josepha 93, 94 Dussek, Johann Ludwig 144, 145 Dussek, Veronica → Cianchettini, Veronica Dussek, Sophia (geb. Corri) 144 Dylan, Bob 10, 353, 362, 363 E Eggebrecht, Hans Heinrich 33, 409, 442 Ehrlich, Heinrich 370, 397 Einstein, Alfred 27, 78 Elgar, Edward 273 Elias, Norbert 73 Elisabeth I., Königin von England 171 Epple, Angelika 22, 153, 154, 175, 388
507 Erll, Astrid 40, 42, 43, 45, 57, 58 Eschenburg, Johann Joachim 106, 165 Eybl, Martin 392 F Fassbinder, Rainer Werner 329 Fay, Amy 398 Felibien, André 121 Fénelon, François 110 Fétis, François-Joseph 238 Fetz, Bernhard 28, 30, 31, 287, 363, 422 Firmian, Graf Franz Lactanz 105, 337 Finscher, Ludwig 41, 189, 202, 260, 261, 402, 412 Floros, Constantin 406, 410 Forkel, Johann Nikolaus 11, 97, 148, 165, 199, 207–209, 211, 255, 367 Frank, Anne 299 Franklin, Marcus Carl 363 Fresnoy, Lenglet du 12 Freud, Sigmund 26, 139, 281, 355, 360, 380, 393, 429 Frevert, Ute 247, 256, 257, 260, 267, 276 Freytag, Gustav 150, 151 Friedrich II. (Friedrich der Große) 21 Fried, Johannes 53, 54, 62 Friedländer, Saul 298 Fuchs, Aloys 238, 341 Füßmann, Klaus 420, 439 Fux, Johann Joseph 202 G Gall, Franz Joseph 223, 224 Gassmann, Florian Leopold 238 Gassner, Ferdinand Simon 207, 340 Gatterer, Johann Christoph 11, 12 Geck, Martin 67, 112, 273, 274, 282, 361, 364, 433, 434 Gellert, Christian Fürchtegott 183 Gerber, Ernst Ludwig 69, 70, 85–87, 89–93, 101, 137, 153, 169, 204, 236, 237, 238, 257, 438 Gere, Richard 363 Gerhard, Anselm 31, 74, 139, 149, 284, 320, 322, 323, 325, 385, 432 Gervinus, Georg Gottfried 112, 258, 369, 370 Gibson, Mel 286 Gilman, Sander L. 31 Glinka, Michail 220, 221 Gluck, Christoph Willibald 95, 202, 210, 223, 228, 255, 256 Goehr, Lydia 18, 164, 213
508 Goethe, Christiane 66 Goethe, Johann Wolfgang von 13, 14, 172, 173, 182, 183, 186, 214, 257, 276, 306, 379 Goldtschmidt, Harry 386 Golizyn, Fürst Dmitri Michailowitsch 131, 133 Gorodetzki, Sergej 60 Gouges, Olympe de 256 Gräffer, Anton 207 Graupner, Christoph 9 Griesinger, Georg August 206 Grimm, Jacob 180, 181, 184, 185, 225, 226, 229 Grimm, Melchior 68 Grimm, Wilhelm 180, 181, 184, 185, 225, 226, 229 Gropius, Walter 356 Grosheim, Georg Christoph 174, 206, 252, 259, 261, 265 Gruber, Gernot 67, 68, 112, 130, 131, 132, 140, 189, 191, 202, 232, 250, 269 Gustav III., König von Schweden 198 Gut, Serge 406 H Hagen, Friedrich Wilhelm 188 Hagner, Michael 54 Hähnel, Ernst Julius 276 Halbwachs, Maurice 42, 43, 64 Händel, Georg Friedrich 21, 77, 88, 101, 102, 103, 112, 121, 143, 190, 202, 223, 256, 258, 259, 323, 369, 370, 378, 382, 394 Hangenauer, Lorenz 103 Hanslick, Eduard 367, 375, 392, 396 Haring, Keith 362 Hasse, Johann Adolph 77, 80, 95 Haydn, Joseph 142, 143, 145, 146, 203–206, 208, 210, 213, 223, 237, 240, 250, 251, 255, 256, 258–260, 264, 277, 382, 384 Haynes, Todd 10, 362, 363 Hegel, Georg Wilhelm 21, 23, 148, 155, 203, 245, 246–250, 260, 264, 266, 268, 270, 271, 274, 281, 282, 285 Heineke, Christian Friedrich 107 Heinemann, Michael 149, 150, 418 Held, Louis 352 Heldt, Guido 11, 148, 208, 209 Hemecker, Wilhelm 31 Henisch, Peter 268, 269 Hensel, Fanny (geb. Mendelssohn Bartholdy) 153, 154 Hentschel, Frank 17, 18, 74–78, 82, 83, 85, 130, 148, 164, 185, 255, 256, 273
Anhang
Herder, Johann Gottfried 12, 76, 165, 186, 276, 413 Hermand, Jost 277, 278, 283 Hess, Willy 151, 268, 280–286, 431, 432 Hesse, Hermann 390, 391, 395, 396 Hildesheimer, Wolfgang 66, 112, 432–434, 440 Hiller, Johann Adam 78, 93, 184 Hilmes, Carola 315, 316 Hilzinger, Sonja 118, 134, 136 Hindemith, Paul 246 Hinrichsen, Hans-Joachim 203, 204, 268, 274 Hirschmann, Julie 159 Hitler, Adolf 308, 432 Hodler, Ferdinand 343 Hoffmann, E. T. A. 14, 139, 184, 185, 205, 213–220, 222, 224, 246, 249, 253, 391 Holbein, Hans 133 Hölscher, Tonio 41 Hölszky, Adriana 10, 152, 318, 319, 323, 325–329, 333, 335, 336 Holz, Karl 206, 207, 340 Homer 182, 259 Howard, John 198 Hummel, Johann Nepomuk 238 Hurlebusch, Conrad Friedrich 77 Hüttenbrenner, Anselm 239, 341 J Jacobsthal, Gustav 367 Jahn, Otto 22, 234, 235, 255, 258, 264, 265, 266, 368, 369, 371, 372, 377–380, 387, 436, 437 Janáček, Leoš 244 Jauss, Hans Robert 414 Jenisch, Daniel 12, 109, 169, 170–172, 197, 209 Joachim, Amalie 434 Joachim, Joseph 20, 213, 371 Johnson, Samuel 14, 87, 102, 103, 135, 140, 189 Jonas, Michael 14, 87, 102, 103, 135 Joyce, James 354 K Kagel, Mauricio 280 Kahrer-Rappoldi, Laura (geb. Kahrer) 160, 161 Kalbeck, Max 151, 152, 423 Kalisch, Volker 375, 377, 387 Kandel, Eric 46, 64, 299 Kant, Immanuel 169, 172, 188, 216, 217 Kästner, Abraham Gotthelf 187 Katharina II. (Katharina die Große) 171
Personenregister
Keiser, Reinhard 77, 83, 88 Kempowski, Walter 300, 308 Kessel, Martina 273 Kiesewetter, Ralph Georg 238, 239 Kirnberger, Johann Philipp 202 Klassen, Janina 32, 33, 67, 149, 274 Klein, Christian 28, 30, 31, 58 Klein, Gideon 301, 305 Klein, Rudolf 400 Kleinová, Eliška 301–305, 315, 354 Klinger, Cornelia 164, 167, 353 Klinger, Max 276–278, 383 Klopstock, Friedrich Gottlieb 182 Knepler, Georg 386, 439 Knigge, Adolph Freiherr von 76, 185, 229 Koch, Gertrud 305, 306, 311 Koja, Stephan 278 Kollbrunner, Jürg 67, 422 Kończal, Kornelia 39, 50, 298 Konrád, György 297, 312 Konrad, Ulrich 13, 118, 134, 135, 172, 249, 250 Korff, Malte 262, 263, 264 Körner, Christian Gottfried 183, 420 Koschorke, Albrecht 15–17, 86, 87, 92, 180, 181, 193, 261 Kovács, Inge 396 Kretzschmar, Hermann 398 Kris, Ernst 61, 72, 118, 120, 122–128, 133, 137, 138, 147 Kristeller, Paul O. 74 Kühn, Dieter 31, 440 Kuhnau, Johann 77 Kurz, Otto 61, 120, 121, 122, 124–128, 137 Küster, Konrad 117, 119, 247 L Ladvocat, Jean Baptiste 197 La Mara → Lipsius, Marie Lange, Aloisia (geb. Weber) 109, 110, 192 Lavater, Johann Caspar 168, 184, 377 Le Beau, Luise Adolpha 15, 16, 162, 163, 288, 315 Ledger, Heath 363 Le Goff, Jacques 55 Leisewitz, Johann Anton 183 Leonardo da Vinci 285, 289, 292 Le Rider, Jacques 26, 275, 278, 353 Lessing, Gotthold Ephraim 182, 183, 186, 225, 276 Lessing, Theodor 420 Lichtenhahn, Ernst 433 Liliencron, Rochus 241 Lindberg, Paula 306, 311
509 Lipsius, Marie (alias La Mara) 160, 161, 423, 427, 440 Liszt, Franz 138, 150–152, 352, 418, 423–428, 430 Loos, Adolph 393, 395 Lorenzoni, Pietro Antonio 105, 337 Lowinsky, Edward E. 431 Ludwig XIV., König von Frankreich 71 Lully, Jean Baptiste 71, 93, 119, 121, 126–129, 147, 371 M Mach, Ernst 26, 297, 353 Maeterlinck, Maurice 292, 293 Mahler, Alma (geb. Schindler) 63, 154, 353, 356, 359, 360 Mahler, Gustav 63, 266, 356, 384, 393, 397, 406 Mainwaring, John 101, 103, 112, 121, 190 Mander, Karel van 133 Manker, Paulus 356 Marenzio, Luca 371 Maria Theresia 147, 168 Markart, Hans 393 Marpurg, Friedrich Wilhelm (alias Simeon Metaphrastes d. J.) 75, 90, 97, 99–101, 105, 107, 111, 119, 130, 367 Martines, Marianne 94–97 Marx, Adolf Bernhard 148, 151, 191, 258, 272 Mattheson, Johann 13–15, 17, 18, 34, 70, 71, 77–80, 83, 85–91, 93, 101, 103, 106, 107, 109, 111, 119, 121, 126–130, 132, 133, 136, 137, 147, 164, 169, 174, 175, 177, 184, 228, 367 Maurer, Michael 107, 108, 164, 165, 169 Meißner, August Gottlieb 199, 211 Mendelssohn Bartholdy, Abraham 153, 154 Mendelssohn Bartholdy, Fanny → Hensel, Fanny Mendelssohn Bartholdy, Felix 153, 154, 254, 385 Messerschmidt, Franz Xaver 120, 124, 167, 168, 338 Mesulam, Marek-Marsel 47, 49 Metaphrastes d. J., Simeon → Marpurg, Friedrich Wilhelm Metastasio, Pietro 94, 95, 96, 204, 218 Meyer, Andreas 396 Michelangelo (Buonarotti) 124, 230, 289, 292 Milton, John 146 Moller, Sabine 298, 299, 315 Monsaingeon, Bruno 288–290, 292, 295 Monteverdi, Claudio 371
510 Mörike, Eduard 61 Morris, Jane 344 Morton, Lawrence 60, 65 Mosel, Ignaz Franz Edler von 199 Mozart, Constanze (geb. Weber) 68, 103, 112, 135, 176, 178, 179, 191, 192, 195, 200, 433 Mozart, Leopold 18, 34, 63, 67, 75, 76, 102– 111, 130, 131, 134, 141, 142, 165, 178, 191, 200, 210, 216, 217, 337, 368 Mozart, Maria Anna → Berchtold zu Sonnenberg, Maria Anna von Mozart, Wolfgang Amadeus 7, 8, 10, 13, 17, 18, 22, 24, 27, 32, 34, 61, 62, 67, 68, 73, 75, 104, 109, 110–113, 118, 130–147, 153, 165, 169, 172–179, 181, 182, 185, 188, 190, 191, 193–196, 199, 200, 203–206, 209, 210, 213, 214, 218–221, 223, 224, 226, 227, 229–235, 240, 249, 250–256, 258–266, 268–271, 276, 277, 323, 335, 353, 361–364, 368, 369, 371, 372, 378, 382, 384, 399, 401, 432–434, 436, 437, 439, 441 Müller, Wilhelm Christian 270 Müllner-Gollenhofer, Josepha 239 N Nägeli, Hans Georg 13, 19, 202, 249–251, 279 Napoleon I. (Napoleon Bonaparte) 240, 248, 274 Naumann, Emil 254–257, 259 Naumann, Johann Gottlieb 199, 211 Neefe, Christian Gottlob 203 Neuenfels, Hans 318–325, 328, 331, 333–335 Niemetschek, Franz Xaver 112, 165, 169, 176, 190, 191, 199, 218, 219, 269, 423 Nietzsche, Friedrich 23–25, 149, 277, 278, 286, 388 Nipperdey, Thomas 420 Nissen, Georg Nikolaus von 17, 103, 104, 113, 174, 176, 178, 179, 193, 249, 252, 259, 261, 265, 269, 439 Nora, Pierre 42, 43 Nouwel, Walter 65 Novák, Vítězslav 302, 303 Novalis 187 O Ochs, Siegfried 306 Odojewski, Wladimir Fjodorowitsch 206, 214, 220–226, 230 Oesterle, Günter 41, 42, 55 Oexle, Otto Gerhard 52, 53 Olick, Jeffrey K. 42
Anhang
Oulibicheff, Alexander → Ulybyschew, Alexander Dmitrijewitsch P Paganini, Niccolò 149, 185, 246 Palm, Kurt 10, 361 Paul, Jean 184 Pearson, Karl 353 Pethes, Nicolas 40 Pfizer, Paul Achatius von 187 Pfitzner, Hans 35 Philipp, Claus 362, 363 Picard, Hans Rudolf 63, 442 Piccini, Niccolò 228 Piles, Roger de 121 Pillwein, Benedikt 193–197, 232 Pinochet, Augusto 313 Piré, Miki 289 Plath, Sylvia 318–322, 330–333, 335 Pleyel, Ignaz Josef 250 Pohl, Carl Ferdinand 142–146, 237, 238, 240, 258, 264 Pola, Ilse 313 Polko, Elise 398 Pope, Alexander 146 Printz, Wolfgang Caspar 11, 99 Proust, Marcel 47 Purcell, Henry 371 Puschkin, Alexander Sergejewitsch 188, 214, 220, 221, 226, 227, 229, 230–232, 440 Q Quadflieg, Peter M. 31 R Radiguet, Raymond 292 Ramann, Lina 150, 152, 351, 352, 398, 422– 428, 430, 431 Ranke, Leopold von 21, 420 Raphael 182 Rappoldi, Rudolf 160 Reckwitz, Andreas 26, 62, 64, 164, 167, 168, 170, 171, 173, 353, 438 Reichardt, Johann Friedrich 101, 112, 204 Reimann, Heinrich 434 Richey, Michael 77, 78 Riemann, Hugo 257, 367, 375, 381–383, 385, 387 Ries, Ferdinand 177 Riethmüller, Albrecht 275 Rimski-Korsakow, Nikolai 219, 221 Robbins, Joyce 42
Rochlitz, Friedrich 118, 134–136, 143, 165, 190–192, 204, 249, 250, 269, 423 Rock, Christa Maria 243 Rolland, Romain 279, 280, 367 Rosenstil, Léonie 289 Rossetti, Dante Gabriel 344 Rousseau, Jean-Jacques 148 Ruchatz, Jens 40 Rudolph, Erzherzog 410 S Salieri, Antonio 220, 223, 226, 227, 228, 229, 230, 231, 400, 401 Salomon, Albert 306 Salomon, Charlotte 301, 305–313, 315, 346–348, 354 Sandberger, Wolfgang 25, 266, 371, 372, 416 Sayn-Wittgenstein, Fürstin Carolyne zu 351, 423, 425, 431 Scarlatti, Alessandro 371 Schacter, Daniel L. 46, 47, 48 Schaden, Adolph von 241 Schama, Simon 286 Scheibe, Johann Adolf 77, 80–83, 99, 101, 109, 133, 175, 218 Scheuer, Helmut 14, 28, 29, 76, 109, 165, 167, 169, 170, 214, 258, 370, 414, 415 Schiller, Friedrich 50, 183, 249, 276, 420, 431 Schindler, Anton 177, 190, 191, 207 Schlegel, Caroline 158 Schlegel, Friedrich 188 Schlichtegroll, Friedrich von 112, 138, 139, 140–142, 145–147, 174–176, 178, 190, 191, 193–197, 215, 218, 219, 271 Schlichter, Annette 330 Schlosser, Johann Aloys 175, 176, 178, 207 Schmid, Anton 238, 255 Schmid, Siegfried 256 Schmidt, Leopold 257 Schneider, Manfred 149 Scholz, Sylka 428 Schönberg, Arnold 389, 390, 392, 417 Schopenhauer, Arthur 278 Schostakowitsch, Dmitri Dmitrijewitsch 427–429 Schubart, Christian Friedrich Daniel 78, 183–185 Schubert, Franz 67, 152, 248, 258, 276, 277 Schubert, Giselher 31, 418 Schuberth, Julius 423 Schumann, Clara (geb. Wieck) 32, 154, 155, 163, 257
Schumann, Robert 154–159, 190, 213, 223, 225, 277 Schurig, Arthur 68, 178, 179, 192, 200 Schütz, Heinrich 291, 371 Schwartz, Rudolf 387 Schweiger, Hannes 69, 70 Seyfried, Ignaz von 207 Shakespeare, William 120, 182, 285 Singer, Kurt 306 Smetana, Bedřich 273, 417 Smyth, Ethel 161 Sobol, Joshua 316, 350, 356–360, 363 Sonnleithner, Joseph 236, 237, 240 Spitta, Philipp 20, 25, 258, 264–267, 291, 292, 367, 369, 371–374, 377–380, 382, 387, 394, 416, 423 Spycket, Jérôme 290, 295, 296 Stadler, Maximilian 237 Stein, Gertrude 316, 354 Steiner, George 52 Steinfeld, Thomas 189 Stendhal 204, 206 Sterba, Editha 281 Sterba, Richard 281 Stratton, Stephen S. 242 Strawinsky, Igor 60–65, 427 Sulzer, Johann Georg 187 Süßmann, Johannes 165, 166, 405, 406, 419, 421, 440 Swieten, Gerard van 168, 338 Swieten, Gottfried van 168, 239 T Tartini, Giuseppe 390 Taruffi, Abate Giuseppe Antonio 95 Telemann, Georg Philipp 9, 16, 77, 88, 107 Thayer, Alexander Wheelock 255, 258, 267, 384 Thibaut, Anton Friedrich Justus 251, 260 Thurn-Valsassina, Johann Baptist Graf 104 Treitschke, Heinrich von 26, 258, 262 Tschuggnall, Karoline 298, 299, 314 U Ulybyschew, Alexander Dmitrijewitsch 112, 220, 221, 231–235, 258, 259, 265, 269, 368, 399 V Vasari, Giorgio 71, 189 Velázquez, Diego 285 Verdi, Giuseppe 152, 318–326, 328–333, 335, 336, 349
512 Viktor Emanuel II., König von Italien 323 Virgil 182 Vogler, Georg Joseph (Abbé Vogler) 107, 202 Volkow, Solomon 427, 428 Voltaire 21, 285 Voss, Egon 403, 405 W Wagner, Cosima 15 Wagner, Richard 15, 162, 323, 379, 384, 393, 403–405, 407 Wagner-Egelhaaf, Martina 14, 162, 163 Wald(-Fuhrmann), Melanie 70, 79, 87, 92, 101, 121, 166, 185, 268 Waldstein, Ferdinand von 203 Walther, Johann Gottfried 91, 236, 237 Warburg, Aby 42, 43, 120 Warnke, Martin 71–73, 131, 134 Weber, Constanze → Mozart, Constanze Weber, Aloisia → Lange, Aloisia Weber, Carl Maria von 206, 213, 273 Webern, Anton 392 Wegele, Franz Xaver von 241 Wegeler, Franz Gerhard 177, 190, 207 Weigel, Sigrid 298 Weininger, Otto 275, 279
Anhang
Welsch, Wolfgang 354 Welzer, Harald 40, 46–49, 55, 56, 64, 298, 299, 315 Wendt, Amadeus (Johann Gottlieb) 206 Wendt, Matthias 190 Werfel, Franz 323, 356 White, Hayden 420 Wieck, Clara → Schumann, Clara Winckelmann, Johann Joachim 413 Wishaw, Ben 363 Wolff, Christoph 267 Wölfl, Joseph 240 Woolf, Virginia 39, 316, 354 Wurzbach, Constantin 27, 240 Wutky, Cajetan 240 Y Young, Edward 183 Z Zimmermann, Christian von 7, 14, 21–23, 26, 27, 29, 117, 119, 130, 135, 139, 147, 244– 246, 249, 258, 267, 271, 279, 282, 353, 380 Zuckmayer, Carl 284, 285 Zumsteeg, Johann Rudolf 198 Zweig, Arnold 26, 393, 429
Abbildungsverzeichnis
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Abbildungsverzeichnis
Tafelteil Tafel 1: Franz Lactanz Graf Firmian: Leopold Mozart, Bleistiftzeichnung (um 1762). © Internationale Stiftung Mozarteum. Tafel 2: [vermutl. Pietro Antonio Lorenzoni]: Leopold Mozart, Ölbild (um 1765). © Internationale Stiftung Mozarteum. Tafel 3: Franz Xaver Messerschmidt: Gerard van Swieten, Mamorbüste (1770–1772). © akgimages/Erich Lessing. Tafel 4: Franz Xaver Messerschmidt: Der starke Geruch, »Charakterkopf« (nach 1770). Dauerleihgabe aus Privatbesitz. © Belvedere, Wien. Tafel 5: Der Biograph. Darstellungen merkwürdiger Menschen der drey letzten Jahrhunderte. Für Freunde historischer Wahrheit und Menschenkunde, Titelblatt (1802). Mit freundlicher Genehmigung der SUB Göttingen. Tafel 6: Ludwig van Beethoven: Übertragung der Rechte für eine Biographie an Karl Holz (August 1826). © Beethoven-Haus Bonn, Sammlung H. C. Bodmer. Tafel 7: Anselm Hüttenbrenner: Eigenhändige biographische Notizen. Titelblatt der Handschrift von Aloys Fuchs (1835). © Gesellschaft der Musikfreunde in Wien. Tafel 8: Ausschnitt aus dem Stern-TV-Magazin zum Programm des 8. April 2007 (Karfreitag). Abdruck mit freundlicher Genehmigung. Tafel 9: Lili Boulanger. Photographie (1913). Aus: La Vie Heureuse, 13. Juni 1913. © Centre International Nadia et Lili Boulanger. Tafel 10: Ferdinand Hodler: Der Traum (1897), Kreide, Tusche, Pastell, Aquarell, Öl und Gouache auf braunem Packpapier, auf Karton montiert. © akg-images. Tafel 11: Dante Gabriel Rossetti: The Roseleaf (Portrait von Jane Morris, 1870). © National Gallery of Canada. Tafel 12: Julia Margaret Cameron: Mrs. Herbert Duckworth (née Julia Jackson [Mutter von Virginia Woolf]), Photographie (um 1867). Los Angeles County Museum of Art, The Marjorie and Leonard Vernon Collection, gift of The Annenberg Foundation and Carol Vernon and Robert Turbin (M.2008.40.385), www.lacma.org. Tafel 13: Charlotte Salomon: Leben? oder Theater?, Ausschnitt aus dem 3. Aufzug. Collection Jewish Historical Museum, Amsterdam. © Charlotte Salomon Foundation, Charlotte Salomon ®. Tafel 14: Charlotte Salomon: Leben? oder Theater? Ausschnitt aus dem 3. Aufzug, Collection Jewish Historical Museum, Amsterdam. © Charlotte Salomon Foundation, Charlotte Salomon ®. Tafel 15: Charlotte Salomon: Leben? oder Theater? Ausschnitt aus dem 3. Aufzug, Collection Jewish Historical Museum, Amsterdam. © Charlotte Salomon Foundation, Charlotte Salomon ®. Tafel 16: Giuseppe Verdi als „Bauer von Roncole“ mit breitkrempigem Hut, Photographie (1892). © Casa Ricordi – BMG Ricordi SpA, Mailand. Tafel 17: Plakat für die Festlichkeiten in Busseto anlässlich von Verdis 100. Geburtstag. Aus: Anselm Gerhard und Uwe Schweikert (Hg.), Verdi-Handbuch, Kassel/Stuttgart/Weimar 2001, S. 24. Tafel 18: Joshua Sobol, Alma. A Show Biz ans Ende, Illustration im Textbuch. Tafel 19: Plakat zum Film I’m Not There (2007). © akg-images/Album/KILLER FILMS. Tafel 20: Fürstin Carolyne von Sayn-Wittgenstein in Rom, Photographie (1876). © akg-images / De Agostini Picture Lib./A. Dagli Orti. Tafel 21: Louis Held: Liszt im Kreis seiner Schüler, Gruppenphotographie (5. Juni 1886). © Ernst Burger.
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Anhang
Abbildungen Abb. 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7 und 8: eigene Darstellungen. Abb. 9: Guido Adler, »Umfang, Methode und Ziel der Musikwissenschaft«, in: Vierteljahrsschrift für Musikwissenschaft 1 (1885), S. 5–20, hier S. 16f.
Notenbeispiele Notenbsp. 1: Robert Schumann: Frauenliebe und Leben op. 42, Lied Nr. 8 (Klaviernachspiel). Aus: Clara Schumann (Hg.), Robert Schumanns Werke, Serie VIII: Für eine Singstimme, mit Begleitung des Pianoforte, Leipzig: Breitkopf & Härtel 1885, S. 17. Notenbsp. 2: Adriana Hölszky: Giuseppe e Sylvia, 6. Bild, T. 16–24. © 2000 by Breitkopf & Härtel, Wiesbaden.
MELANIE UNSELD CHRISTIAN VON ZIMMERMANN (HG.)
ANEKDOTE – BIOGRAPHIE – KANON ZUR GESCHICHTSSCHREIBUNG IN DEN SCHÖNEN KÜNSTEN (BIOGRAPHIK. GESCHICHTE – KRITIK – PRAXIS, BAND 1)
Auf welche Weise greifen Leben und künstlerisches Schaffen ineinander? Welche Rolle spielt die Persönlichkeit der Schaffenden bei der Vermittlung von Kunst, Musik und Literatur? Welche Funktionen haben Anekdoten in diesem Prozess? Und welchen Einfluss nehmen Künstlerbiographien auf Geschichtsschreibung und Kanonisierung? Die hier versammelten Beiträge aus Literaturwissenschaft, Geschichtswissenschaft, Komparatistik, Altertumswissenschaften, Anglistik, Skandinavistik, Kunstgeschichte und Musikwissenschaft geben unterschiedliche Antworten auf diese Fragen und gewähren dabei Einblicke in die aktuelle interdisziplinäre Biographieforschung. 2013. XVI, 389 S. 10 S/W-ABB. UND 5 NOTENBSP. BR. 155 X 230 MM. ISBN 978-3-412-20829-5
böhlau verlag, ursulaplatz 1, d-50668 köln, t: + 49 221 913 90-0 [email protected], www.boehlau-verlag.com | wien köln weimar