Bilder predigen: Gottesdienste mit Kunstwerken 9783666630477, 9783525630471, 9783647630472


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Bilder predigen: Gottesdienste mit Kunstwerken
 9783666630477, 9783525630471, 9783647630472

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© 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630471 — ISBN E-Book: 9783647630472

DIENST AM WORT Die Reihe für Gottesdienst und Gemeindearbeit Band 152

Vandenhoeck & Ruprecht © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630471 — ISBN E-Book: 9783647630472

Hans-Georg Ulrichs (Hg.)

Bilder predigen Gottesdienste mit Kunstwerken

Mit digitalem Material unter www.v-r.de/bilder_predigen Passwort: vSGYEfyc

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Umschlagabbildung: Frauenfigur aus dem Nana-Projekt (s. Seite 79 ff.) von Regine Klusmann Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-63047-1 ISBN 978-3-647-63047-2 (E-Book) © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U. S. A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Satz: textformart, Göttingen Druck und Bindung: E Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

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Inhalt

Bildhaft predigen. Eine kritische Ermutigung 7 1 In der Bibel lesen 19

Martina Reister-Ulrichs „Mutter und Schwester des Künstlers, in der Bibel lesend“ von Hans Thoma (1866)

2 Jesu Geburt: Neuanfang ist möglich 25

Gregor Etzelmüller

„Darstellung der Geburt Jesu“, anonym (Stadtkirche Hersbruck, um 1480) 3 Ein Platz für mich 33

Hans-Georg Ulrichs

„Abendmahl“ von Fritz von Uhde (1886) 4 Aufkeimende Lust am Leben 41

Peter Noss

„Triptichon“ von Heinz Kupfernagel (ohne Jahr) 5 Ostern: Fest des Sehens 47

Christian Stäblein

„Harbingers of Resurrection“ von Nikolai Nikolaevich Ge (1867) 6 Tanzende Freude  57

Kirsten Elisabeth Christensen „Ausgießung des Heiligen Geistes“ von El Greco (1604/1614)

5 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630471 — ISBN E-Book: 9783647630472

7 Sturzgläubig 63

Karl Friedrich Ulrichs „Die Bekehrung des Paulus“ von Caravaggio (1600/1601)

8 Wer bin ich? 71

Monika Lehmann-Etzelmüller „Selbstbildnis“ von Paula Modersohn-Becker (1906)

9 Schönheit kommt von Gott 79

Regine Klusmann

„Nanas“ nach Niki de Saint Phalle 10 Gott im Wald 91

Jan Rohls

„Das Kreuz im Gebirge“ (Tetschener Altar) von Caspar David Friedrich (1807/1808) 11 Der große Weg – zum Vater 103

Birgit Niehaus

„Der große Weg“ von Friedensreich Hundertwasser (1955) 12 Gegen das Erschrecken den Glauben 113

Kathrin Oxen

„Die Zeit ist ein Fluss ohne Ufer“ von Marc Chagall (1930–1939) 13 Engel der Auferstehung 119

Sören Suchomsky

„Flug zum Himmel“ von Hieronymus Bosch (um 1500) Verzeichnis der Mitarbeiter/innen 125

6 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630471 — ISBN E-Book: 9783647630472

Bildhaft predigen. Eine kritische Ermutigung Erstens …

Der Protestantismus gilt sowohl im Selbstverständnis als auch in der Fremdwahrnehmung als eine Religion des Wortes. Mit spürbarem Stolz und ostentativer Entschiedenheit schmücken Inschriften wie „Gottes Wort“, das „eine Wort Gottes“ und das Wort, „das im Anfang war“, Kirchen und theologische Hörsäle. Gewiss hat sich dieser permanente Bezug auf das „Wort“ in die protestantische Mentalität eingeschrieben. Kulturhistorisch ist kaum zu leugnen, dass der Protestantismus als Lesereligion einen ungeheuren Bildungsaufschwung hervorrief  – was freilich realhistorisch durch die dürftigen Alphabetisierungsquoten bis etwa 1800 relativiert werden muss. Aus der engen Bezogenheit auf das Wort nun aber den Schluss zu ziehen, der Protestantismus habe gerade deshalb kein rechtes Verhältnis zu nonverbalen Künsten entwickelt – vielleicht mit Ausnahme von Musik – und dies sei auch heute noch zu beobachten oder gar als normativ anzunehmen, stellt entweder ein Missverständnis innerhalb des Protestantismus dar oder entpuppt sich als ein konfessionspolemisches Relikt. Gerade indem der Protestantismus die Kultur von einer religiösen Dominanz zu befreien half, ermöglichte er Kunsträume. Im Zusammenhang mit dem Zweiten Gebot nach biblischer Zählung ist es etwa für den Heidelberger Katechismus (1563) in der Antwort auf Frage 97 eine Selbstverständlichkeit, dass alles Geschaffene abgebildet werden kann. Bilder dürfen und können Gott 7 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630471 — ISBN E-Book: 9783647630472

selbst nicht abbilden, so wie es auch immer eine grundsätzliche Differenz zwischen unserem Erkennen von Gott und Gott selbst gibt. Bilder müssen nicht der Religion dienen, sie müssen nichts „Heiliges“ wiedergeben – und dann stehen sie auch nicht in der Gefahr, durch Abbildungen von „Heiligem“ mit Gott selbst verwechselt zu werden. Nicht zuletzt diese Befreiung führte als Paradigmenwechsel zu der Epoche der großen Maler der Niederlande im sogenannten „Goldenen Jahrhundert“. Die Kunst konnte sich endlich dem realen und dem ganzen Leben zuwenden. Immer freier und säkularer wurde die Kunst, zu oft bitter erstritten gegen kirchliche Macht: Renaissance, Reformation und Aufklärung sind Marksteine dieser Entwicklung. Und doch blieb die Kunst weiterhin beeinflusst von der institutionalisierten Religion und fand bei ihr Themen und Formen auch für die je gegenwärtigen künstlerischen Auseinandersetzungen mit Fragen des Lebens. Gleichzeitig war auch der Bereich des Protestantismus nie frei von künstlerischer Gestaltung: Musik, Literatur, bildende Kunst, Architektur. Kunst, auch bildende Kunst, gehörte immer zum Protestantismus. In nicht wenigen Bereichen war das 19. Jahrhundert ein besonderer Kunstzeitraum. Umso schwerer scheint sich der Protestantismus mit der modernen Kunst des 20. Jahrhunderts getan zu haben. Ging hier die Schere zwischen freier Kunst und der etablierten Religion doch zu weit auseinander? Verlor sich hier eine beiderseitige „Anschlussfähigkeit“? Entwickelte sich die Kunst schneller oder doch anders als die Religion als transzendierender Ausdruck des gelebten Lebens? Für das 20. Jahrhundert wäre es gewiss eine lohnende Aufgabe, etwa die offenbaren und auch die verborgenen Zusammenhänge zwischen der Hegemonie der Theologie Karl Barths und einem eher spröden protestantischen Kunstverständnis in den ersten Nachkriegs8 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630471 — ISBN E-Book: 9783647630472

jahrzehnten aufzuspüren. Wie gesamtgesellschaftlich wurde auch in den künstlerischen Bereichen Religion als etwas, das sich dem Ende zuneigt, als etwas nachgerade Anachronistisches wahrgenommen, während Kunst gleichzusetzen war mit geistiger Avantgarde. Bereits vor mehr als einer Generation wurde hier eine neue Tendenz wahrgenommen und in den 90er Jahren meinte man eine Renaissance des Religiösen in der Gesellschaft analysieren zu können, was sich entsprechend in der zeitgenössischen Kunst – wenn nicht explizit, dann doch implizit – widerspiegele. Auch in der Theologie wurden die Möglichkeiten der autonomen Kunst neu thematisiert.1 Kurz vor dem Milleniumswechsel begann die Evangelische Kirche in Deutschland mit einer breit angelegten Debatte, das Verhältnis von Protestantismus und Kultur aktuell zu bestimmen.2 Grundlegend trug bereits die Initiativschrift den Titel „Gestaltung und Kritik“ (1999): Kultur in unseren Lebenszusammenhängen war und ist auch mitgeprägt und insofern mitgestaltet von Religion und aus dieser gemeinsamen Geschichte erwächst dem Protestantismus die Aufgabe, die seit der Aufklärung als notwendig autonom zu denkende Kultur – kritisch, also unterscheidend – zu begleiten. Ein kulturell desinteressierter Protestantismus ist nicht denkbar.

1 Anregend bis heute: Heinz-Ulrich Schmidt, Bildpredigt. Anmerkungen zu einer vernachlässigten Predigtkategorie, in: ders./Horst Schwebel (Hgg.), Mit Bildern predigen. Beispiele und Erläuterungen, Gütersloh 1989, 7–15. Der Band umfasst zahlreiche Bildpredigten zu modernen – gewagten! – Kunstwerken. Vgl. in diesem Band auch Horst Schwebel, Wer Augen hat, der höre. Thesen zur Bildpredigt, aaO., 93–95. 2 Vgl. Petra Bahr / Klaus-Dieter Kaiser, Protestantismus und Kultur. Einsichten eines Konsultationsprozesses, Gütersloh 2004.

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Zweitens …

Sozialgeschichtliche Untersuchungen und manche Literaturwerke zeigen, dass das evangelische Pfarrhaus seit nun mehr fast 500 Jahren kulturaffin ist. Musizierende Pfarrerskinder gehören dazu wie schreibende Pfarrer; Pfarrfrauen freilich bleiben historiographisch eher im Hintergrund. Seit zwei Generationen nun gehören auch die Pfarrerinnen selbstverständlich zu dieser Bildungselite, die Kunst konsumiert und Kunst vermittelt. Ganz selbstverständlich wurden und werden Bilder als Medien der Vermittlung biblischer und anderer religiöser Inhalte verwendet. Statuen, Gemälde, Kirchenfenster tradierten biblische Gehalte – auch den Nicht-Lesekundigen konnte so die „Schrift“ vor Augen gestellt werden. Bibelausgaben und religiöse Literatur waren und sind illustriert. Offenkundig versprach man sich eine leichtere Vermittelbarkeit durch eine größere Anschaulichkeit. Kein religionspädagogisches Material kommt aus ohne Bilder; völlig selbstverständlich werden im kirchlichen Unterricht Bilder unterschiedlicher Art verwendet. Weniger unstrittig ist der Gebrauch von Bildern im Gottesdienst. Die Formen und Farben des Kirchenbaus werden bereits vorreflexiv wahrgenommen und beeinflussen Sprechende und Hörende im Gottesdienst, eventuell vorhandene Bilder und Plastiken präjudizieren Vorstellungsmöglichkeiten. Es ist evident, dass Gottesdienste in einem nüchternen Gemeindehaus mit dem Charme der 60er Jahre anders erlebt werden als in klassischen Kirchenbauten, feiern die Sinne doch mit. Eine sinnensensible Gottesdienstgestaltung, die Kunst ernst nimmt, beginnt bereits bei der Wahrnehmung des Raumes, in dem nicht nur verkündigt wird, sondern 10 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630471 — ISBN E-Book: 9783647630472

der gewollt oder ungewollt selbst ein Stück Verkündigung darstellt. Zwar benutzen nicht wenige Pfarrer und Pfarrerinnen Bilder bei der Verkündigung, aber es bleibt nicht selten ein gewisses Unbehagen auf allen Seiten zurück. Man mag es nicht für befriedigend halten, wenn Bilder im Gottesdienst lediglich versuchen, dem allgemeinen Trend von Medialisierung und Unterhaltung zu entsprechen und den angenommenen Gewohnheiten der Zeitgenossen nachzukommen. Wäre eine bilderfreie Zone bei der allumfassenden Bilderflut nicht auch wohltuend, vielleicht sogar eine besondere Chance, sich neu zu konzentrieren? Kommt nach dem Entertainment als verharmlosende Form der Unterhaltung und dem Infotainment als niederschwelliger Form von Bildungsbemühungen nun auch noch das „Theotainment“ als Gottesdienstformat, das ohne Medien und Bilder nicht auszukommen vermag? Warum nicht, könnte fröhlich entgegnet werden, wenn doch auf diese Art Menschen mit den intendierten Inhalten erreicht werden? Schlichte, niederschwellige, unterhaltsame Begegnungen mit Kunst müssen nicht diffamiert werden. Wir hören ja auch gern Musik, ohne die letzten Geheimnisse der Kompositionstechnik beim Hören analysieren zu wollen. Auch Bilder sehen kann eben einfach nur schön sein. Aber es sind darüber hinaus gewiss sachgemäße Gründe für den bewussten Einsatz von Bildern im Gottesdienst – und bei an­ deren gemeindlichen Veranstaltungen – zu identifizieren: Biblische Sprache ist bilderreiche Sprache. Viele alttestamentliche Texte sind selbst im Hören ganz „anschaulich“, viele Geschichten sind geradezu richtig „großes Kino“. Jesus hat nach den neutestamentlichen Überlieferungen bildhafte und bildhaltige Gleichnisse und Beispielgeschichten erzählt. Buchstäblich von der ersten bis zur letzten Seite 11 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630471 — ISBN E-Book: 9783647630472

der Bibel, von der Schöpfung und dem Garten Eden bis hin zum himmlischen Jerusalem werden Bilder beschrieben und erzählt. Diese biblische Bildsprache geht einher mit der Beobachtung, dass wir grundsätzlich über ein eidetisches, also bildhaftes Gedächtnis verfügen. Wir „speichern“ Bilder. Das wusste etwa Paul Gerhardt, der mit den Worten seiner Weihnachts-, Passions- und Osterlieder Bilder zu malen verstand. Auch aktuelle homiletische Entwürfe setzen auf die Verbildlichung, auf bildhafte Sprache, damit die Hörer ins Bild treten können.3 Durch Geschichten und Beschreibungen sollen – nicht zuletzt bewegte – Bilder bei den Hörenden entstehen. Nun wird man einwenden können, dass gerade die Vermittlung von „Bildern“ durch Sprache die Bilder und damit auch deren Gehalte nicht festlegen, sondern freihalten. Das Bild vom verlorenen Sohn, wie er bei den Schweinen sitzt, mag sich jeder Hörer und jede Leserin individuell und damit verschieden vorstellen. Und doch ist es ebenso wenig von der Hand zu weisen, dass Bilder auch der Sprache der Bibel entsprechen. Warum sollte man nicht über eine Bild gewordene Vorstellung einer anderen Person über den Glauben ins Gespräch kommen können?

Drittens …

Bilder haben das Potenzial, anregend zu sein. Dass die homiletische Aufgabe und die Predigtpraxis durch Bilder vereinfacht werden und damit Bilder zu einer Erleichterung des pfarramtlichen Alltags beitragen, ist dagegen kaum anzu3 Martin Nicol, Einander ins Bild setzen. Dramaturgische Homiletik, Göttingen 2002, v. a. 65–72.

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nehmen. Bilder zu verwenden – sei es im Unterricht, sei es in der Verkündigung – bedeutet eine größere Anstrengung und ein Mehr an Arbeit. Die sonst und gewohnt überschaubaren Verhältnisse geraten möglicherweise in Bewegung, müssen beobachtet, analysiert und eventuell neu austariert werden. Beim bekannten homiletischen Dreieck von Text, Prediger und Hörer gibt es drei bilaterale und ein viertes Verhältnis, nämlich das Dreiecksverhältnis insgesamt. Wenn nun ein Werk der bildenden Kunst hinzugenommen wird4, sind die Verhältnisse nicht mehr ganz so übersichtlich. Welches Verhältnis entsteht zusätzlich zwischen dem Kunstwerk bzw. dem Künstler und dem Bibeltext? In welchem Verhältnis steht die predigende Person zum Bild? Und was assoziieren Hörer und Hörerin angesichts des Bildes? Entstehen neue Kommunikationsmöglichkeiten und Konsense oder werden Differenzen und Dissense hervorgerufen? Einfacher wird die homiletische Situation durch den Einsatz von Bildern also nicht, möglicherweise aber reizvoller. In jedem Fall gilt: Bildpredigten sind eine anspruchsvolle Aufgabe.5 Folgen wir den Gegebenheiten des homiletischen Dreiecks und seiner Irritation durch das Bild als einem weiteren Referenzpunkt. Zunächst beschäftigt sich der Prediger und die 4 Ganz ausgeschlossen ist es nicht, dass das Bild den Text ersetzt; dann bliebe es beim Dreieck. Frühere Arbeiten zum Thema Bildpredigt aus protestantischen Federn warnen davor, dass das Bild den Bibeltext in den Hintergrund drängt oder gar ersetzt. Aber lassen sich biblische und damit theologisch verantwortbare Gehalte nicht auch ausnahmsweise ohne direkten Textbezug als Evangelium kommunizieren? 5 Vgl. zu dieser homiletischen Aufgabe auch Johannes Block, Das Bild als Homilet. Bilder mit biblischem Bezug in der Predigt, in: ders./Wolfgang Ratzmann (Hgg.), Seht, was ihr hört! Predigen mit Bildern. Perspektiven aus Kunstwissenschaft, Pädagogik und Theologie (Beiträge zu Liturgie und Spiritualität 14), Leipzig 2005, 95–115.

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Predigerin mit dem ausgewählten Bild – bereits die Auswahl ist eine zu erbringende Leistung. Dabei macht es einen Unterschied, ob das Bild einen biblischen Text interpretiert oder ob es sich um ein Werk der darstellenden Kunst ohne biblischen Bezug handelt. In jedem Fall wird aber der Prediger, der sonst in erster Linie als Experte der Textauslegung gilt und der diesen Text und seine angenommene Intention auf Grund seiner Kenntnisse über und seiner Erfahrungen mit den Hörenden zu Gehör bringt, sich das Bild erschließen. Neben und nach dem unmittelbaren Eindruck wird er oder sie nicht umhin können, wie bei den exegetischen Vorarbeiten am biblischen Text auch das Bild ernsthaft, also historisch-kritisch und kunstwissenschaftlich verantwortet, in den Blick zu nehmen.6 Gewiss gibt es einen „Überschuss“ an Deutbarkeit, aber die Interpretation ist nicht willkürlich, sondern muss vernünftige Anhalte finden und für die Gesprächspartner nachvollziehbar sein. Die Interpretation wird verschieden schwierig sein, je nach Vorkenntnissen und auch den kunstgeschichtlichen Vorlieben des Predigers und der Predigerin, je nach Kunstwerk: Sicher ist traditionell Figürliches leichter zugängig als Abstraktes und Gegenstandsloses. Auch bei Bildern gibt es den „garstigen Graben der Geschichte“ und andere limitierende Zugangsfaktoren. Wie bei der Textexegese wird man achtsam sein müssen, dass nicht nur das Eigene 6 Klaus Raschzoks neun Arbeitsschritte (auch wiedergegeben bei J. Block [wie Anm. 5], 109 f.) können wirklich nur als Empfehlung gelten und sollten nicht als starre Methode abschrecken: 1.  erste Beobachtungen am Bild, 2.  schriftliche Bildbeschreibung, 3.  kunstwissenschaftliche Basis­ information, 4. Dialog der ersten drei Schritte, 5. Vergleich mit der biblischen Erzählung, 6.  erste Fokussierung und Interpretationsperspektive, 7. Bezugnahme des Bisherigen auf den Glauben an den dreieinigen Gott als systematisch-theologische Reflexion, 8.  zeitintensive kreative Phase, 9. Konzept und Niederschrift der Interpretation.

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im Bild entdeckt wird, sondern man offen bleibt für Neues. Wichtig wäre doch wohl der Mut, die Freiheit der Kunst zu akzeptieren. Wie bei früheren und gegenwärtigen Kommentaren biblischer Texte finden wir im Künstler bzw. in seinem Werk einen Gesprächspartner, bei nicht-biblischen Bildern ein Werk und einen Künstler, die ihrerseits wichtige Aussagen über Lebensfragen zu machen haben. Eine Interpretation wird immer auch bescheiden sein, und zwar im Hinblick auf das Bild und im Hinblick auf die Hörer der Interpretation: Zum einen wird es nicht nur die eine und alles auslotende Interpretation geben – der Interpret ist weder Schulmeister des Künstlers noch der aller früheren Interpreten. Zum anderen hüte er sich davor, sich zum Beherrscher der Blicke der Predigthörer aufzuspielen. Es gibt keine 1:1-Interpretation. Exkludierende Formulierungen sind hier nicht am Platze. Jede Bildpredigt wird bescheiden Sehens- und Verstehensangebote machen und behutsam die Blicke lenken helfen. Mit banalen Bewertungen wie „schön“, „gekonnt“ oder „brillant“ wird man weder dem Bild noch den Hörern und Hörerinnen der Interpretation gerecht: Vielleicht empfinden manche dieses Bild ganz anders und sehen deshalb tatsächlich ein anderes Bild. Statt eines gelingenden Mehr an Interpretation und Verstehen entsteht ein Unverständnis. Der Abstand zwischen Prediger und Gemeinde wird verbreitert und ein Verständnis des biblischen Textes und damit eine religiöse Selbstdeutung der Hörenden ver­unmöglicht. Aus dem Bild als einem hilfreichen Medium und einem ernstzunehmenden Gesprächspartner kann auch ein Hemmschuh werden. Eine nicht zu unterschätzende Gefahr ist, dass mit Bildpredigten nicht – wie gewünscht – eine breitere Adressatenschicht erschlossen und erreicht, sondern die Milieuverengung des bildungsbürger­lichen Protestantis­mus noch fort15 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630471 — ISBN E-Book: 9783647630472

geschrieben wird. Mit einem „exquisiten Kunstsinn“ kann man über die Köpfe der Menschen hinwegpredigen. Sodann wäre die Aufmerksamkeit auf die Hörer zu richten, die zwar dem Prediger lauschen, aber doch auch an ihm vorbei und vor seinen Worten in einem Verhältnis zum biblischen Text, nun auch noch zusätzlich zum Bild stehen. Sie dürfen von der Bildpredigt nicht negativ überrascht werden. Eine Bildpredigt sollte nicht verschwiegen, sondern im Vorfeld angekündigt sein. In nicht wenigen Gemeinden gibt es schon traditionelle Anlässe für Bildpredigten, etwa die zweiten Feiertage oder bestimmte Gottesdienst-Reihen. Solche Fixierungen können sich für die Gemeinde als hilfreich erweisen. In den Sonntagsgottesdiensten werden nur geringe Teile der Gemeinde erreicht, missionarisch wirken sie in der Regel nicht. Auch Kasualien im weiteren Sinne eignen sich für Bildpredigten, weil dort nicht zuletzt mit kirchlich nicht mehr allzu eng verbundenen Hörern zu rechnen ist. Ebenso können kleinere Formen der Verkündigung (Andachten) und zielgruppenorientierte Angebote, bei denen man auf gruppenspezifische Erfahrungen und andere Gemeinsamkeiten zurückgreifen kann, gerade im Hinblick auf die Hörer gute Gelegenheiten für Bildpredigten sein. Bei aller Unmittelbarkeit der Wirkung des Bildes wird doch dem Hörer und der Hörerin – wie auf andere Art zuvor dem Interpreten – einiges abverlangt: Er oder sie soll ein ihm oder ihr unter Umständen vorher völlig unbekanntes Bild ansehen und für sich verstehen, er oder sie soll den Ausführungen des Predigers folgen, den biblischen Text zu all dem in Beziehung setzen und schließlich sich damit identifizieren oder gar neu interpretieren. Durch eine derartige Überlastung können durchaus Fremdheitserfahrungen gemacht werden. Besonders im Hinblick auf die Sehenden und Hörenden wird in 16 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630471 — ISBN E-Book: 9783647630472

einer Bildpredigt hoffentlich das Wichtige vom Unwichtigen gut zu unterscheiden sein. Schließlich wird man bei allen Schritten der Erarbeitung und des Vollzugs darauf achten müssen, was mit dem Text geschieht. Selbst wenn man nicht naiv von lediglich einem einzigen Textsinn ausgeht, wird man wie bei der Textexegese und beim hörenden Verständnis kritisch fragen, ob mögliche Textsinne durch die Bildinterpretation verunklart werden. Treffen sich angenommener Aussagesinn des biblischen Textes mit dem Bild bzw. seiner Interpretation? Illustriert das Bild einen Textsinn? Hilft das Bild, den Text zu öffnen, tritt man so nicht nur ins Bild, sondern auch in den Text hinein? Der beste Fall wird sein, wenn das Bild einen möglichen Textsinn oder eine daraus abzuleitende Bedeutung erst zu erschließen ermöglicht. Eine wichtige Kontrollfrage könnte sein, ob das Bild eine – wie auch immer geringe und kurze – Irritation im Hinblick auf den Text und unser Verständnis darstellt. Sind alle Faktoren zu rasch kongruent, könnten Kurzschlüsse zugrunde liegen. Wer das übersieht, beraubt sich der Möglichkeiten, die eine Bildpredigt bietet.

Viertens …

In diesem Band sind Predigten aufgenommen, die sich der pfarramtlichen und theologischen Praxis verdanken. Männer und Frauen sind nahezu gleich vertreten. Überproportional finden sich Texte der jüngeren und mittleren Generation. Predigten zu kirchenjahreszeitlichen Festen stehen neben Predigten in Kasualgottesdiensten. Kunstwerke vom späten Mittelalter bis zum Ende des 20. Jahrhunderts werden interpretiert. Manche Prediger beschauen die Bilder lang und ver17 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630471 — ISBN E-Book: 9783647630472

tiefend, andere wiederum nehmen nur kurz, dann aber nicht selten final darauf Bezug. Manche bevorzugen einen illus­ trierenden Gebrauch, andere wiederum konfrontieren Herkömmliches mit dem Bild. Manche deuten die Bibel, andere erhellen die menschliche Existenz und führen zum Glauben. Viele Herangehensweisen bei Erarbeitung und Realisierung von Bildpredigten sind möglich und gut vertretbar; es gab weder früher noch wird es gegenwärtig und zukünftig die (!) Bildpredigt geben. Weder explizit noch implizit wird mit diesem Band eine neue (praktische) Theologie des Bildes angestrebt. Gerade die wahrzunehmende und damit eben zu interpretierende Kunst wird – wie auch der Glaube – immer ein Wagnis der Freiheit bleiben. Diese Predigten sollen besonders in ihrer Buntheit Mut machen, Kunst  – und in diesem Fall nun die bildende Kunst  – als homiletische Chance und Herausforderung anzunehmen. Sie können in ihrer Vielfalt auch erahnen lassen, dass es möglich ist, etwas, was leider all zu oft im Protestantismus unbeachtet ist, zu erleben: Gott, den Glauben und die Kunst im Gottesdienst zu genießen.

18 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630471 — ISBN E-Book: 9783647630472

1 In der Bibel lesen Martina Reister-Ulrichs

„Mutter und Schwester des Künstlers, in der Bibel lesend“ von Hans Thoma (1866)

Abdruck mit freundlicher Genehmigung der „Vereinigung der Freunde der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe e. V.; dieses Bild steht auf www.v-r.de zum Download bereit; loggen Sie sich ein (s. S. 3)

Liebe Gemeinde

Anfang des Jahres bekam ich einen Wandkalender geschenkt mit dem Titel „Frauen lieben Bücher“. Die Bilder, die er auf seinen zwölf farbigen Blättern zeigt, stammen ausnahmslos aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Und obwohl die Gemälde aus den Pinseln ganz unterschiedlicher Maler stammen, ähneln sie sich. Sie zeigen junge Frauen in hellen Gewändern, die in schönen Salons in Sesseln sitzen, die man „Fauteuil“ nennen sollte, um sie angemessen zu beschreiben. Oft stehen kunstvoll arrangierte Blumensträuße in edlen Vasen auf zierlichen Beistelltischchen. Andere Frauen sind auch 19 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630471 — ISBN E-Book: 9783647630472

während eines Spaziergangs durch die frühlingsgrünen Anlagen eines Parks abgebildet, ein Hündchen folgt ihnen in gebührendem Abstand, eine Katze wird gedankenverloren gestreichelt. Ob drinnen oder draußen: Alle Frauen sind in die Lektüre ihres Buches versunken; diejenigen, die gerade von seinen Seiten aufschauen, bleiben doch mit Blicken schwer in seinem Zauberbann gefangen. Sämtlich haben sie die Welt um sich her vergessen, die allerdings auch nicht mehr von ihnen zu verlangen scheint, als dass sie lesen, lesen, lesen. Als Bücher liebende Frau gefallen mir diese Bilder und ich fühle mich den dargestellten Frauen durchaus verwandt. Abgesehen vielleicht vom formvollendeten Faltenwurf ihrer Kleidung finde ich mich in vielen ihrer Posen wieder. Immer habe ich gern gelesen und oft bin ich dabei in den Kosmos eines Buches abgetaucht. Nicht selten hätte ich die Wirklichkeit gegen ein gutes Buch eingetauscht. So wie es Kurt Tucholsky zum Ausdruck bringt: „Manchmal, o glücklicher Augenblick, bist du in ein Buch so vertieft, dass du in ihm versinkst – du bist gar nicht mehr da. Herz und Lunge arbeiten, dein Körper verrichtet gleichmäßig seine innere Fabrikarbeit, – du fühlst ihn nicht. Du fühlst dich nicht. Nichts weißt du von der Welt um dich herum, du hörst nichts, du siehst nichts, du liest. Du bist im Banne eines Buches.“ Im Banne eines Buches befinden sich auch die Frauen auf dem Bild, das wir betrachten wollen. Den Weg in den Kalender der Bücher liebenden Frauen hat es trotzdem nicht geschafft. Es ist ein Werk des im Schwarzwald aufgewachsenen Malers Hans Thoma aus dem Jahr 1866. Die Frauen, die es porträtiert, sind seine Mutter Rosa und seine Schwester Agathe. Die Ältere – sie ist auf dem Bild 62 Jahre alt – hält ein aufgeschlagenes Buch in Händen, das vor ihr auf einem Tisch 20 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630471 — ISBN E-Book: 9783647630472

liegt. Von dem ist nur die Kante der Tischplatte zu erkennen. Die Finger ihrer rechten Hand sind bis auf den Daumen, der zwischen seinen Seiten liegt, unter das Buch geschoben, wodurch es leicht angehoben wird und einen besseren Einblick gewährt. Das Buch wird gewiss nicht zum ersten Mal auf­ geschlagen, denn es zeigt deutliche Gebrauchsspuren und der Buchrücken ist an vielen Stellen geknickt. Zum Lesen hat Rosa eine Brille aufgesetzt, die auf ihrem Nasenrücken leicht nach vorne gerückt aufliegt. Wenn sie aufschaute von der Lektüre (womit nicht zu rechnen ist), würde sie über die runden Brillengläser hinweg dem Betrachter direkt in die Augen schauen. Das graue Haar ist nach hinten gekämmt; Gesicht und Stirn sind von Falten durchzogen, von den Nasenflügeln laufen zwei tiefe Furchen zu den Mundwinkeln hinab. Rechts neben der Mutter sitzt ihre achtzehnjährige Tochter. Sie ist dicht an die Mutter heran gerückt, um ebenfalls in das Buch schauen zu können. Die rechte Hand liegt in vertraulicher Geste locker auf der Schulter der Mutter, deren aufrechte Haltung auch ihr einen Halt bietet, die linke liegt auf der aufgeschlagenen Seite und zeigt vielleicht die Zeile an, die gerade gelesen wird. Es könnte sein, dass die Mutter laut vorliest; ihre Lippen sind ein klein wenig geöffnet. Die beiden Frauen sind einfach und ähnlich gekleidet. Sie tragen weiße, kurzärmelige Blusen mit gebauschten Ärmeln, darüber ein einfaches hoch geschlossenes Kleid in dunklem Blau bzw. erdigem Rot; bei Agathe ist auch eine Schürze zu erkennen. Das rote Kopftuch, das Rosa um den Kopf gebunden hat, trägt Agathe um den Hals geknotet, so dass ihre vollen dunklen, nach hinten gescheitelten Haare gut zu sehen sind. Von dem Raum, in dem die beiden sich aufhalten, ist nichts weiter zu erkennen; der Hintergrund ist in einem einfarbig dunklen Grundton gehalten, links ist die Falte eines Vorhangs zu er21 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630471 — ISBN E-Book: 9783647630472

kennen. Dort muss ein Fenster sein, denn das Licht fällt von links ins Bild. Die rechte Gesichtshälfte von Rosa liegt im Schatten, während Agathe über die Schulter der Mutter hinweg sich nach vorne über das Buch hin beugt, so dass ihr Gesicht in einem hellen Licht erscheint. Das Bild konzentriert sich ganz auf die beiden Frauen und das Buch. Aus dem Titel erfahren wir, um welches Buch es sich bei dieser Andacht handelt: „Mutter und Schwester des Künstlers, in der Bibel lesend.“ Auch diese beiden Frauen widmen sich ganz und gar der Lektüre ihres Buches, aber doch in ganz anderer Weise als die eingangs beschriebenen Kalenderdamen. Vertieft sind sie, aber nicht versunken. Nicht entrückt, nicht verzückt, sondern mit großer Ernst­ haftigkeit beugen sie sich über seine Seiten. Dieses Buch entführt nicht aus der Welt in ein besseres Reich der Phantasie, es führt mitten in die Welt hinein. Was hier geschieht, ist so lebensnotwendig wie Essen und Trinken, so unverzichtbar wie der Rhythmus von Wachen und Schlafen. Wir sehen geradezu einen biblischen Vers in Szene gesetzt: Der Mensch nicht lebt vom Brot allein, sondern von einem jeden Wort, das aus des Herrn Mund geht (5 Mose 8,3). Und doch ist „in Szene gesetzt“ nicht richtig. Denn auf diesem Bild ist nichts inszeniert. Was hier abgebildet wurde, ist keine Pose, sondern unmittelbarer Lebensvollzug, der in einem scheinbar unbeobachteten, ganz intimen Augenblick eingefangen wird. „Es gibt Güter, die man ererbt, ohne dass man sich deren bewusst wird, aber sie begleiten doch unser Leben wie geheimnisvolle Mächte.“ So schreibt Hans Thoma später in seinen Lebenserinnerungen. „Meine Mutter war eine fromme Frau  – in aller Not, mit der sie oft heldenhaft zu kämpfen hatte, war sie voll gläubigen Gottvertrauens. Das Evangelium 22 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630471 — ISBN E-Book: 9783647630472

war in ihrem einfachen, schlichten Sinn lebendig geworden. Ich war ja ein Kind der Zeit nicht in ihrem Sinne gläubig, aber auch mich leitete etwas wie Glaubensstärke und Gottvertrauen, und wenn ich dies mit modernen Ansichten anders nennen musste, jetzt sehe ich, dass es nur umgewortet und im Wesen das gleiche war. Es ist eine Kraft des Lebens, die im Gottesbewusstsein, im Bewusstsein des Zusammenhangs aller Weltgeschehnisse und alles Weltdaseins beruht.“ Alles, was Hans Thoma in diesem Rückblick über seine Mutter und ihr unbewusstes Erbe schreibt, hat er schon auf diesem frühen Bild dargestellt. Es ist einfach, schlicht, lebendig. Es zeigt Glaubensstärke und Gottvertrauen, Kraft des Lebens. Und woher rührt solche Glaubensstärke und solches schlichte Gottvertrauen? Woher wächst der frommen Mutter die Kraft des Lebens zu? Auch darauf hat Hans Thoma mit seinem Porträt eine Antwort gegeben. Diese Kraft des Lebens kommt aus der Bibel. Sola scriptura – allein aus der Schrift. Das Anliegen Martin Luthers, dass jedermann und jede Frau die Bibel selber lesen kann und dass dies Tun so selbstverständlich ist wie jedes andere elementare Bedürfnis, ist hier Wirklichkeit geworden. Die ehemalige Hamburger Bischöfin Maria Jepsen hat das Verhältnis der in dieser Tradition stehenden Protestanten und Protestantinnen zu ihrem Buch einmal sehr schön beschrieben. Ihr Text könnte ein Kommentar sein zu diesem Bild Hans Thomas: „Unter den Kindern Gottes sind die Protestanten die Ernsten. Gott hat so viele Kinderscharen. Die Protestanten sind die Stillen unter ihnen, selten ausgelassen und kaum prächtig gekleidet. Die Belesenen sind sie, die fast nie ohne ihr Buch unterwegs sind; sie sind die, die wenn die anderen lachen oder tanzen oder springen, sich unter einen Baum setzen und nicht mithüpfen, sondern ihr Buch auf23 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630471 — ISBN E-Book: 9783647630472

schlagen und darin lesen. Nie haben sie einen Salto versucht? Nie verkleiden sie sich? Nie springen sie kopfüber ins Wasser? Sie lesen in ihrem Buch. Mit glühenden Ohren und begierigen Augen und klopfendem Herzen lesen sie Zeile um Zeile. Das ist ihr Glück: sich zu freuen an dem, was da geschrieben steht seit alten Zeiten. So fühlen sie sich Gott am nächsten. Unter den Konfessionen sind die Protestanten die Bücherwürmer, Leseratten.“ Schon oft habe ich mich gefragt, welchen Text die beiden Frauen da eigentlich gerade lesen. Wenn ich versuche, meine Bibel im Verhältnis zu der auf dem Bild ungefähr an derselben Stelle aufzuschlagen, finde ich eine Stelle aus dem 2. Timo­theusbrief (3,14 f.). Und lese: „Du aber bleibe bei dem, was du gelernt hast und was dir anvertraut ist; du weißt ja, von wem du gelernt hast und dass du von Kind auf die heilige Schrift kennst, die dich unterweisen kann zur Seligkeit durch den Glauben an Jesus Christus.“ Ja, muss ich denken, so soll es wohl sein: durch Lesen zur Seligkeit. Amen.

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2 Jesu Geburt: Neuanfang ist möglich Gregor Etzelmüller

„Darstellung der Geburt Jesu“, anonym (Stadtkirche Hersbruck, um 1480)

Dieses Bild ist als Postkarte zu beziehen über das Gottesdienstinstitut in Nürnberg (www.gottesdienstinstitut.org).

Liebe Gemeinde

Ein Kleinod aus einer evangelischen Kirche in Bayern: die Darstellung der Geburt Christi aus der Stadtkirche zu Hersbruck. Ein uns unbekannter Künstler hat dieses Gemälde 1480 geschaffen, 37 Jahre vor Beginn der Reformation. Es wundert mich nicht, dass dieses Bild in einer evangelischen Kirche bis heute überlebt hat. Viel mittelalterliches 25 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630471 — ISBN E-Book: 9783647630472

Bildgut ist gerade von den lutherischen Kirchen bewahrt worden. Die lutherische Reformation hat in Bildern wie dem unsrigen etwas von ihrer eigenen Geschichte erkannt. Wenn du wissen willst, wer Gott ist – und was Gott für dich tut, dann darfst du nicht in den Himmel schauen, dann sollst du dir nicht deine eigenen Gedanken bilden, dann schau auf Jesus von Nazareth, auf sein Leben, höre auf seine Verkündigung, entdecke in seinen Taten und Worten, wer Gott ist – und was Gott für dich tut. Das war die Verkündigung der Reformatoren. Dieser Zuwendung zum Menschen Jesus von Nazareth begegnen wir in der Kunstgeschichte schon einige Jahrzehnte vor der Reformation. Im 14. und 15. Jahrhundert tritt an die Stelle der Faszination durch den himmlischen Weltenherrscher die Darstellung insbesondere der Geburt und des Todes Jesu. Wenn du wissen willst, wer Gott ist – und was Gott für dich tut, dann darfst du nicht in den Himmel schauen, dann schau auf Jesus von Nazareth, auf sein Leben. Diese Botschaft der Reformation gewinnt in dem Städtchen Hersbruck schon 1480 eine sichtbare Gestalt: in der Darstellung der Geburt Christi. Die Darstellungen der Geburt Jesu, die entsprechenden biblischen Erzählungen bei Matthäus und bei Lukas sind ein Schatz unseres Glaubens. Wenn wir den erwachsenen Jesus durch Galiläa ziehen sehen und dann nach Jerusalem hin­ aufsteigen, dann erscheint er uns doch oftmals fremd. Wenn alle Welt Angst hat, liegt er im Boot und schläft. Wir aber sind gefangen in unserer Angst … Wenn einer dir auf die rechte Backe haut, dann halte ihm auch die linke hin. Vielleicht haben wir gelernt, nicht gleich zurückzuschlagen, aber 26 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630471 — ISBN E-Book: 9783647630472

die meisten von uns würden sich in einer ähnlichen Situation wohl lieber still und heimlich zurückziehen. Als Jesus im Tempel zu Jerusalem die Händler erblickt, wird er zornig und stößt die Tische der Geldwechsler um. Mag sein, dass der ein oder andere von uns in den letzten Monaten auch oftmals zornig geworden ist, aber zum Revolutionär sind wir darüber nicht geworden. Anders als Jesus sind wir in unsere Geldwirtschaft einfach viel zu sehr verstrickt. In der Tat: Jesus war anders. Aber: Er hat begonnen wie wir. Er ist geboren worden. Wie diese Hersbrucker Darstellung der Geburt Christi eindrucksvoll verdeutlicht: Er hat mit dem Rücken auf dem Boden gelegen, mit Armen und Beinen gestrampelt, war hilflos, hat gelächelt, zu seiner Mutter geblickt. Er hat angefangen wie wir. Wenn wir das bedenken, wenn wir das auf der Dar­stellung der Geburt Christi erkennen, dann wird deutlich: Die Botschaft von der Geburt Christi stellt unser Leben unter eine große Verheißung. Es ist noch nicht entschieden, was wir sein werden. Nirgendwo ist bestimmt, dass wir immer nur die bleiben werden, als die wir uns gegenwärtig kennen. Die Möglichkeiten des Menschen sind noch längst nicht ausgekostet. Gewiss: Zu den Möglichkeiten des Menschen zählen auch Lieblosigkeit, Unrecht und Gewalt. Zu den Möglichkeiten des Menschen zählt, dass einst vor Pilatus eine Menge steht, die da schreit: Kreuzige ihn! Aber Jesus von Nazareth zeigt uns: Zu den Möglichkeiten des Menschen gehört auch, dass einer zwei Meilen mitgeht, wo man ihn nur um eine bittet. Zu den Möglichkeiten des Menschen gehört auch, dass einer mutig der rechten Gewalt in unserem Land entgegentritt und als Polizist in diesem Sinne für Recht und Ordnung eintritt. Zu den Möglichkeiten des Menschen gehört auch, 27 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630471 — ISBN E-Book: 9783647630472

dass einer noch am Kreuz sagt: Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun. Ein solches Leben strahlt aus, das deutet unser unbekannter Künstler mit dem Strahlenkranz an. Ein solches Leben fasziniert. Und das nackte Kind auf dem Boden ist auch eine Frage an uns: Woran glaubt ihr? Woran orientiert ihr euer Leben? An der Resignation und der Enttäuschung – oder an dem möglichen Neuanfang? Auf dieser Darstellung wird Christus in einer Ruine geboren, aus dem Mauerwerk wächst bereits Gras. Es ist, als wollte der unbekannte Künstler sagen: Selbst dort, wo unser Leben vom Tod gekennzeichnet ist, wo es scheinbar keine Zukunft mehr gibt, ist noch ein Neuanfang möglich. Vor fünf Jahren habe ich eine gute Freundin meiner Eltern beerdigt. Kurze Zeit, nachdem sie mit ihrem Mann in die Schweiz gezogen war, diagnostizierte man Krebs. Nur wenige Monate später starb sie. In den letzten Jahren haben wir ihren Mann immer wieder besucht: Wir kamen in ein Haus, das zwar sehr gepflegt, aber ganz ohne Leben war. Zu Weihnachten fiel uns das Schreiben schwer: Wir wussten ihn, der gerade an Weihnachten keine Gesellschaft wollte, allein in seinem Haus, das nur noch die Ruine seiner vergangenen Zukunftsträume war. Dieses Jahr fiel uns das Schreiben leichter: Unser Freund hat eine neue Frau kennengelernt, blüht auf und fängt wieder an zu leben. Vom Jesuskind wandert unser Blick zu Maria  – und etwas im Hintergrund zu Joseph. Da ist es: das traute, hoch­ heilige Paar, das aber auf den zweiten Blick so traut und hochheilig gar nicht gewesen ist. Wie heißt es beim Evangelisten ­Matthäus? „Die Geburt Jesu Christi aber geschah so: Als Maria, seine Mutter, dem Josef vertraut war, fand es sich, ehe er sie heimholte, dass sie schwanger war“ (1,18). Ver28 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630471 — ISBN E-Book: 9783647630472

traut waren sie, also verlobt, aber noch nicht verheiratet. Bedenkt man, dass es zur Zeit Jesu durchaus üblich war, mit 14 oder 15 Jahren zu heiraten, dann haben wir in Maria – verlobt, aber noch nicht verheiratet – ein 13-jähriges schwangeres Mädchen vor uns. Ich erinnere mich an den Film „Juno“, der von einem jungen Mädchen handelt, das schwanger wird und ein Kind zur Welt bringt. Von der in diesem Film beschriebenen Wirklichkeit dieses Mädchens erkennen wir auf der Darstellung aus der Hersbrucker Stadtkirche nichts. Papst Benedikt XVI. hat einmal in seinen frühen Jahren, als er noch Theologieprofessor war, gesagt: Es würde sich am Wunder der Weihnacht nichts ändern, wenn Maria und Josef verheiratet gewesen wären und Josef sich als der leibliche Vater Jesu herausstellte. Recht hat er! Aber könnte er noch einen Schritt weitergehen? Es sind ja die biblischen Erzählungen selbst, die uns nötigen wahrzunehmen, dass Jesus der Sohn eines 13-jährigen Mädchens ist, über dessen Vater man nichts Genaues weiß. Das klingt skandalös. Aber es entspricht der Lebensweise Jesu, der sich gerade denen zugewandt hat, die durch alle moralischen Raster fielen: den Prostituierten, den Zöllnern, den Sündern. Sünde ist für Jesus keine moralische Kategorie: Die Sünder – das sind nicht die, die besonders schlimm sind, sondern die, die besonders arm dran sind, denen das Leben immer wieder die Wege verstellt. Sünder sind Menschen, denen – ob selbst daran schuldig oder nicht (und wer wollte das eigentlich beurteilen?) – immer wieder Lebensmöglichkeiten geraubt werden. Gerade zu diesen sah Jesus sich gesandt: Nicht die Gesunden bedürfen des Arztes, sondern die Kranken. Im Lächeln, mit dem das Kind einer 13-Jährigen seine Mutter anstrahlt, im Lächeln, das Jesus Maria schenkt, zeigt sich die Liebe Gottes eindrucksvoll und unerwartet. Wenn 29 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630471 — ISBN E-Book: 9783647630472

du wissen willst, wer Gott ist – und was Gott für dich tut, dann sollst du dir nicht deine eigenen Gedanken bilden: Wie leicht könntest du glauben, dass Gott mit jemand wie dir nichts zu tun haben will. Dann schau vielmehr auf Jesus von Nazareth, auf das Lächeln, das er einer 13-jährigen Mutter schenkt, auf seinen Mut, bei den Zöllnern einzukehren und sich von einer von Frau salben zu lassen, die alle missachten. „Siehe, Finsternis bedeckt das Erdreich und Dunkel die Völker, aber über dir geht auf der Herr und seine Herrlichkeit erscheint über dir.“ (Jesaja 60,2) Die Liebe Jesu zu den Sündern, zu denen, die das Leben nicht mehr allein meistern, sucht Nachfolger und Nachahmerinnen. Die Liebe Gottes soll Maria nicht nur aus dem Lächeln des Kindes erschließen, sondern auch in der Treue ­Josephs erfahren. Auf unserer Darstellung der Geburt Christi hält Joseph eine kleine Kerze in seiner Hand, schützend hält er die andere Hand über das Licht. Das Licht, welche das Angesicht der jungen Mutter erhellt, kommt auch von dieser Kerze. Braucht man denn angesichts der himmlisch leuchtenden Engel eine solche Kerze? Mit Nachdruck möchte ich antworten: Ja. Denn der Mensch lebt nicht vom Licht der Engel allein, er lebt nicht von der Religion allein. Einem jeden Menschen sollen andere zur Seite stehen, die Licht in seine Dunkelheit bringen. Joseph ist vielleicht die am wenigsten in unsere Zeit passende Figur der Weihnachtsgeschichte. In einer Gesellschaft, in der heimliche Vaterschaftstests ein großes Geschäft sind, in einem Staat, der solche Vaterschaftstests als Rechtsbeweis einstuft, in einer Kultur, in der Misstrauen gesät und gepflegt wird, in einer solchen Zeit ist das Verhalten Josephs wahrhaft wunderbar. Da ist einer, der weiß, dass er nicht der Vater des Kindes ist, aber er bleibt bei seiner Frau, nimmt die Verant30 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630471 — ISBN E-Book: 9783647630472

wortung, die ihm gegeben ist, auf und wird dem Sohn ein Vater. In Nazareth jedenfalls wird man später sagen: „Ist er nicht der Sohn des Zimmermanns?“ (Matthäus 13,55) Und ich würde sagen: Wo ein Mensch für ein Kind Verantwortung übernimmt, wo ein Mensch nicht mehr in den Kategorien von Abstammung, sondern von Verantwortung denkt, da wird das Wunder der Weihnacht Gegenwart. Und nun sage niemand: Dem Joseph sei ja auch ein Engel erschienen, sondern lasst uns vielmehr sagen: Wo ein Mann wie Joseph handelt, da ist wohl ein Engel am Werk gewesen. Hinter Maria und Joseph öffnet sich der Blick auf die Tiere und die Hirten, auf Natur und Arbeitswelt. Damit sind zwei Themenfelder angesprochen, die uns in den letzten Jahren politisch besonders beschäftigt haben: die Klimakatastrophe und die Finanzkrise. Die Geburt Christi hat nicht nur etwas mit unserem persönlichen Leben zu tun, sie ereignet sich inmitten der großen Weltgeschichte. Schon in der Bibel ist dieser Zusammenhang gesehen: Die Geburt Christi und die Volkszählung des Augustus, die Geschichte Jesu und die große Weltgeschichte gehören zusammen. Auf unserer Darstellung ereignet sich die Geburt Christi inmitten einer Welt voller Pflanzen und Tiere. Nicht nur Ochs und Esel sind da. Wenn wir genau hinsehen, können wir ganz unten blühende Blumen entdecken  – und einen Schmetterling etwas unterhalb der Schulter Jesu. Links, auf dem Wanderbeutel sitzt ein Specht – und oben im Giebel ein Distelfink. Der Schöpfer, der all dies geschaffen hat, wird als Kind inmitten seiner Schöpfung geboren. Gott überlässt seine Schöpfung nicht sich selbst. Darauf gründet inmitten aller beängstigenden Schlagzeilen unsere Hoffnung. Würde die Zukunft der Schöpfung allein an uns liegen, dann hätten wir wohl schon alle Hoffnung fahren lassen. Aber wer von 31 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630471 — ISBN E-Book: 9783647630472

Gottes Schöpfung spricht, der sagt immer zugleich: Gott ist rettend gegenwärtig. Das Kind, das dort nackt auf dem Boden liegt, infiziert uns nicht nur mit Hoffnung für unser eigenes Leben, sondern mit Hoffnung für die ganze Schöpfung. Wer von dieser Hoffnung ergriffen wird, handelt wie die Hirten auf dem Bild: Die drei Hirten haben ihre Herde schon verlassen. Man kann die Schafe weit hinten etwas unterhalb der himmlischen Engelschar sehen. Der Hirte im grünen Gewand kniet nieder und betet das Kind an. Der zweite im roten Gewand zeigt auf das Kind und erzählt dem dritten Hirten, was hier geschehen ist. Anbetung und Verkündigung – die Hirten feiern Gottesdienst. Ob darin auch eine Antwort auf die Finanz- und Wirtschaftskrisen unserer Zeit zu sehen ist? Was unsere Welt braucht, sind Menschen, die Abstand nehmen können von den Dingen des täglichen Lebens, von den Sorgen der Finanz- und Weltmärkte. Hilfreiche Perspektiven tun sich nur da auf, wo man wirklich einmal innehält. In der Unter­ brechung liegt die Kraft des Neuanfangs. Die Hirten laufen zum Kind in der Krippe. Am Weihnachtsfest stellt sich die Frage, ob damit nicht auch der Wirtschafts- und Sozialpolitik das rechte Maß gegeben ist: Nicht um ein abstraktes Wirtschaftswachstum muss es gehen, sondern darum, Voraussetzungen zu schaffen, dass Kinder in dieser Welt und in unserem Land so aufwachsen, dass sie ihre Begabungen entfalten können. Deshalb singen wir und rufen die Geängstigten und Trauernden, aber auch die Unternehmer und Politiker: „Kommet, ihr Hirten, ihr Männer und Frauen, / kommet, das lieb­liche Kindlein zu schauen, / Christus, der Herr ist heute geboren. / … Nun soll es werden Friede auf Erden, / den Menschen allen ein Wohlgefallen. / Ehre sei Gott!“ (EG 48,1.3) 32 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630471 — ISBN E-Book: 9783647630472

3 Ein Platz für mich Hans-Georg Ulrichs

„Abendmahl“ von Fritz von Uhde (1886)

Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Staatsgalerie Stuttgart; dieses Bild steht auf www.v-r.de zum Download bereit; loggen Sie sich ein (s. S. 3)

Liebe Gemeinde

Nun haben sie sich um einen Tisch versammelt, diejenigen, die so lange auf dem Weg gewesen sind: Jesus, ein Wanderprediger mit großem Charisma, und zwölf Getreue, die alles haben stehen und liegen lassen, um mit ihm zu gehen und ihm nachzufolgen. Große Worte hatten die Jünger von ihrem jungen Anführer gehört und Zeichen und Wunder gesehen. Ein langer Weg ist es gewesen, eine „Reise nach Jerusalem“ der anderen Art. Eigentlich hätten sie hochgestimmt sein müssen. In Jerusalem waren sie nachgerade triumphal eingezogen: Die Menschen waren Jesus hoffnungsvoll ent­gegen gezogen und hatten ihn wie einen König des Friedens in der Friedensstadt Jerusalem begrüßt. Mit Palmzweigen hatten sie ihm zugewinkt. 33 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630471 — ISBN E-Book: 9783647630472

Vom Jubel des Einzugs an Palmsonntag ist nun offenbar nichts mehr übrig geblieben. Erschöpfte Menschen sitzen beieinander. Nur wenige Szenen mit Jesus spielen sich in geschlossenen Räumen ab. Jesu Welt ist nicht das Private, das Abgeschlossene, sondern die Öffentlichkeit, auch die unstete Wanderschaft. Nun ist er mit seinen Leuten zu Gast in einem Haus. Und draußen, so sehen wir es durch das Fenster, ist es unwirtlich und kummervoll: Kalt ist der Abendhauch. Alle Blicke gehen auf Jesus, der gerade zu Ende gesprochen zu haben scheint. Der Evangelist Lukas malt diese Szene so: 14 Und als die Stunde kam, setzte er sich nieder und die Apostel mit ihm. 15 Und er sprach zu ihnen: Mich hat herzlich verlangt, dies Passalamm mit euch zu essen, ehe ich leide. 16 Denn ich sage euch, dass ich es nicht mehr essen werde, bis es erfüllt wird im Reich Gottes. 17 Und er nahm den Kelch, dankte und sprach: Nehmt ihn und teilt ihn unter euch; 18 denn ich sage euch: Ich werde von nun an nicht trinken von dem Gewächs des Weinstocks, bis das Reich Gottes kommt. 19 Und er nahm das Brot, dankte und brach’s und gab’s ihnen und sprach: Das ist mein Leib, der für euch gegeben wird; das tut zu meinem Gedächtnis. 20 Desgleichen auch den Kelch nach dem Mahl und sprach: Dieser Kelch ist der neue Bund in meinem Blut, das für euch vergossen wird! 21 Doch siehe, die Hand meines Verräters ist mit mir am Tisch. 22 Denn der Menschensohn geht zwar dahin, wie es beschlossen ist; doch weh dem Menschen, durch den er verraten wird! 23 Und sie fingen an, untereinander zu fragen, wer es wohl wäre unter ihnen, der das tun würde. 24 Es erhob sich auch ein Streit unter ihnen, wer von ihnen als der Größte gelten solle. 25 Er aber sprach zu ihnen: Die Könige herrschen über ihre Völker, und ihre Machthaber 34 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630471 — ISBN E-Book: 9783647630472

lassen sich Wohltäter nennen. 26 Ihr aber nicht so! Sondern der Größte unter euch soll sein wie der Jüngste und der Vornehmste wie ein Diener. 27 Denn wer ist größer: der zu Tisch sitzt oder der dient? Ist’s nicht der, der zu Tisch sitzt? Ich aber bin unter euch wie ein Diener. 28 Ihr aber seid’s, die ihr ausgeharrt habt bei mir in meinen Anfechtungen. 29 Und ich will euch das Reich zueignen, wie mir’s mein Vater zugeeignet hat, 30 dass ihr essen und trinken sollt an meinem Tisch in meinem Reich und sitzen auf Thronen und richten die zwölf Stämme Israels. (Lukas 22,14–30) Jesus ist inmitten der Menschen. Und das im doppelten Sinne. Denn er ist zunächst einmal nicht mehr derart herausgehoben wie bei Leonardo da Vinci, dem großen Vorbildgeber der Abendmahlsdarstellungen, der Jesus in der Mitte quasi als Herrscher platziert und dann links und rechts die Jünger positioniert hatte. Hier ist der Kreis am Tisch geschlossen. Jesus ist durch den Lichteinfall und durch die Kleidung hervorgehoben, aber er ist doch nicht Gegenüber, sondern Teil der Gemeinschaft. Und dann ist Jesus bei den Leuten, indem der Raum in die Gegenwart des Künstlers gehört und in den europäischen Kulturraum, wie Butzenscheiben und Kronleuchter andeuten. Der Versammlungssaal ist sehr schlicht eingerichtet, dem Anlass aber entsprechend feierlich ausgeschmückt, etwa mit einer Tischdecke. Jesus gehört auch in die Zeit des Malers und damit letztlich ebenso in unsere Gegenwart heute. Licht und Schatten liegen auf der Szene, das aber nicht aus Zufall oder weil eben alles irgendwie ambivalent ist, sondern um der inhaltlichen Ausgestaltung willen. Das Licht fällt auf Jesu Gesicht und auf die weiße Tischdecke: Hier also geschieht die Hauptsache. Der Tisch steht parallel zu Fenster 35 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630471 — ISBN E-Book: 9783647630472

und Wand, ist aber im Bild schräg gestellt. Nicht statisch erscheint die Szene, auch deshalb, weil links im Licht sich jemand hinzusetzen scheint – und am rechten Tischende verschwindet einer langsam im Schatten. Vier Jahrhunderte nach Leonardo kann jemand besser, tiefer, ergreifender diese Szene darstellen. Fritz von Uhde heißt der Maler, der am Ende des 19.  Jahrhunderts zahlreiche religiöse Szenen ins Bild gesetzt hat. Jesus und die Jünger – sie gehören zusammen, sitzen am Tisch beisammen und werden doch so unterschiedlich dargestellt. Jesus erscheint jung, sanftmütig, nicht grundsätzlich erschöpft vom Zurückliegenden, nicht affiziert, eher ein wenig apathisch. Die Gestalt Jesu ist hier nach kunstgeschichtlichen Traditionen durchaus als Typ stilisiert: vom Lichte beschienen, rein und zart. Als Einziger hat Jesus eine solch erfundene Frisur: vorne kurz und hinten lang. Nur Jesus sitzt auf einem Stuhl mit Lehne, als ob damit ein Thron an­ gedeutet werden soll. Jesus wird harmlos stilisiert, um den Skandal größer werden zu lassen. Denn auch wenn Jesus die zentrale Person des Bildes ist und das Abendmahl auf der erleuchteten Tischdecke im Mittelpunkt steht, liegt doch ein Fokus dieses Gemäldes auch auf den anderen Menschen. Sie sind nicht stilisiert, sondern sehr unterschiedlich, wobei es mehrere Brüderpaare zu geben scheint. Alle aber wurden detailliert und tiefgründig vom Maler ausgearbeitet. Eine gemeinsame Haltung haben sie in ihrer Orientierung auf Jesus hin. Sie sind arm und erschöpft an Leib und Seele, alle zeigen eine gebeugte Haltung. „Kommt her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken.“ Dieses Wort aus dem MatthäusEvangelium (11,28) gilt allen, die Jesu Worte vernehmen, damit aber auch seinen Jüngern. Einer von ihnen, wohl der 36 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630471 — ISBN E-Book: 9783647630472

Lieblingsjünger, ist nicht nur erschöpft, ungläubig oder entsetzt, sondern ganz verzweifelt und legt sein Gesicht auf die Rückenlehne von Jesu Stuhl. Die Jünger sehen derart unterschiedlich aus, dass man sich fragt, ob wirklich alle Fischer waren. Ist nicht auch ein junger Akademiker dabei, der Jesus gerade gegenüber sitzt? Handwerker und Verwaltungsangestellte? Junge Männer, Männer in den sogenannten besten Jahren und alte Männer, jeweils vier. Bemitleidenswert der zottelige Greis, der dritte von links, ungepflegt und hinfällig. Er soll nach dem Vorbild Anton Bruckners gebildet worden sein; diesen Musiker hatte der Maler während der Vorbereitungen auf dieses Gemälde in der Münchner Künstlerszene kennengelernt. Wegen der herausragenden Physiognomie hatte sich von Uhde sofort entschlossen, dieses Gesicht für einen der Apostel zu verwenden, so wie er auch sonst auf der Suche nach Gesichtern zeitgenössischer Menschen für seine Bilder war. Eklatant ist dann der Mann am linken Kopfende gemalt. Ein zeitgenössischer Kritiker nannte diese Person den „famose[n] alte[n] Zuchthausknabe[n]“ mit „Mörderphysiognomie“. So mögen im 19.  Jahrhundert Männer ausgesehen haben, die viele Jahre lang im Gefängnis gesessen haben: eingefallener Mund, Sträflingskleider, kurz geschorene Haare. – Genau so sehen also die erwählten und berufenen Leute aus, die Jesus bei sich haben wollte. In Armut sind sie mit ihm gegangen, wie Jesus es nochmals ausdrücklich in Erinnerung ruft: Ohne Schuhe wurden sie von ihm ausgesandt (Lukas 22,35). Von Uhde malt sie alle barfuss. „Zeigt her eure Füße, zeigt her eure Schuh“? Nein, die Jünger haben weiß Gott nichts vorzuzeigen. Es ist, als ob Jesus sein Gleichnis vom „Großen Abendmahl“ bereits angefangen hat zu erfül37 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630471 — ISBN E-Book: 9783647630472

len: dass die Armen und die von den Landstraßen und Zäunen zu Tisch gebeten werden (Lukas 14,15–24). Von höchster Stelle wurde dieses Bild abgeurteilt. Kronprinz Wilhelm verdrehte den Titel und nannte das Bild nicht „Abendmahl“, sondern „Anarchistenfraß“. Nicht, dass Jesu Lehre eine besondere Nähe zur Anarchie hätte, aber dem Kronprinzen muss es wohl ohne Ordnung gar umstürz­ lerisch vorgekommen sein, dass nicht herrliche Typen, hochherrschaftliche Gestalten, sondern zerrissene Gestalten bei Jesus Platz gefunden haben. Nicht die gesellschaftlichen Eliten befinden sich in Jesu Nähe, sondern das „Lumpenproletariat“. Eigentlich hätten der Kronprinz und alle braven Christen darauf vorbereitet sein können, speiste Jesus doch an der Tafel des Sünders (Lukas 5,27–32; 19,1–10) und gewährte der Sünderin Nähe (Lukas 7,36–50). Was für ein Skandal, dass nun ausgerechnet diesem Haufen verheißen wird, mit Christus auf den Thronen zu sitzen, um die zwölf Stämme zu richten, wie Jesus kurz danach erläutert (Lukas 22,30). Der alte Strafgefangene am linken Kopfende ist Petrus und auf diesen Fels will Christus seine Kirche bauen (Matthäus 16,18 f.)  – was muss das bloß für eine Kirche sein?! Unerträglich in der Perspektive des wohltemperierten Christentums. Hatte die Kirche es nicht geschafft, groß und mächtig zu werden, stand nicht in Rom mit dem Petersdom diese steingewordene Macht der Kirche und wurde nicht in Berlin gerade zur Zeit von Uhdes immer wieder über eine evangelische Variante dieser sehr weltlichen Potenz der Kirche debattiert? Und dann soll man sich stattdessen erbauen an solchen Landstreichern? Ist das also „die Gemeinschaft des Leibes Christi“, wie Paulus das Abendmahl nennt, ist dies die Kirche? Die Kirche nicht herrlich und schmuck und wohlhabend, sondern erschöpft und 38 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630471 — ISBN E-Book: 9783647630472

gebrochen, aber ganz von der Zusage ihres Herrn lebend? In seiner Nähe? In Gemeinschaft mit ihm? Bevor wir zu romantisierend werden, sei auf eine andere Pointe hingewiesen, denn hier findet sich nicht nur eine „Kleine-Leute-Frohe-Botschaft“, sondern eine Einladung, die freilich auch schmerzt. Im Hintergrund rechts im Halbdunkel stiehlt sich jemand davon: Es ist Judas. Er zwar auch noch zu Christus gebeugt, doch bereits im Fortgehen. Sein Platz am Tisch wird frei. Auch er aß mit Jesus, auch er gehörte zu den Jüngern. Lukas beschreibt ihn nicht als moralisch verlotterten Jünger, dann könnten wir ihn schnell und billig abtun, sondern als Opfer des Teufels (Lukas 22,3). Vorne links steht ein leerer Schemel, ein freier Platz, der Judasschemel. Der Platz soll nicht unbesetzt bleiben, die Tischgemeinschaft muss wieder komplett werden. Auf den freien Platz könnte sich gleich der Maler oder der Betrachter des Bildes setzen. Es ist der Platz, diagonal dem entweichenden Judas gegenüber, der nun für den Maler und für den Betrachter der nächstgelegene ist. Wir müssen nur einen Schritt gehen, einen Sprung ins Gemälde, in diese Szenerie wagen, und schon sind wir Gäste an Jesu Abendmahl. Nicht nur die abgerissenen Typen dürfen bei Jesus sein, sondern auch wir. Der freie Platz an Jesu Tisch ist unser freier Platz, der Judasschemel als der uns für frei gegebene Stuhl. Das Mahl, zu dem Jesus einlädt, ist auch für uns bestimmt. Auch wir gehören zu denen, die Jesus bei sich haben will. Wir nehmen den Platz des Judas ein. Das ist wahrlich eine andere Art von „Reise nach Jerusalem“. Bei dem so benannten Spiel ist ja immer ein Stuhl zu wenig, so dass es einen Kampf um die freien Plätze gibt. Der Überzählige, der keinen Platz mehr gefunden hat, muss das Spiel verlassen  – es ist aus mit ihm. Hier aber ist ein Platz 39 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630471 — ISBN E-Book: 9783647630472

frei geworden, frei durch den unglückseligen Judas. An seiner Stelle, quasi anstatt des Verworfenen, aber doch gerettet, haben wir Platz bei Jesus. So sind wir Teilnehmende an dem, was im christlichen Glauben als Heil bezeichnet wird: Teilnehmende an Jesu Tafel, als er sich dahingibt und austeilt. Das Kommende der Jesusgeschichte und der Jesusgemeinschaft gilt auch für uns, damit wir dann ebenso nach Ostern mit Freude am Tisch des Herrn sitzen, ohne den leiblichen Jesus, aber mit dem Glauben an den Auferstandenen. „Nächstes Jahr in Jerusalem!“, so grüßen sich Juden am Schluss des Passahfestes. Die Sehnsucht nach Gottes Nähe bleibt. Unser ganzes Leben sind wir auf einer solchen Reise nach Jerusalem. Wir sind noch unterwegs. Aber indem wir am Abendmahl teilnehmen, weil wir dort unseren Platz gefunden und eingenommen haben, haben wir schon jetzt Teil an Christus. Amen.

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4 Aufkeimende Lust am Leben Peter Noss

„Triptichon“ von Heinz Kupfernagel (ohne Jahr)

Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Künstlers; Informationen unter www. heinz-kupfernagel.de; dieses Bild steht auf www.v-r.de zum Download bereit; loggen Sie sich ein (s. S. 3); Foto: Volker Krieger, Stintenburg

Liebe Gemeinde

Wer bin ich eigentlich, dass ich hier stehe und predige? Manche sagen mir: „Gut! – Mach es so und nicht anders!“ Andere sagen: „Das ist falsch, was du sagst! Gib deinen Standpunkt auf!“ Oft frage ich mich selbst, ob meine Art zu predigen und Diener Gottes zu sein, richtig ist. Bin ich in der Lage, gut zu sprechen? Kommt das rüber, was ich im Evangelium lese, spüre, glaube? Zweifel, Fragen und Angst gehören zum Predigen genauso wie Selbstbewusstsein, gutes Auftreten, offene Ohren und Worte. Dabei ist das Amt des Predigers ja gar nicht exklusiv – sondern jede Christin, jeder Christ hat Teil am Priester41 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630471 — ISBN E-Book: 9783647630472

tum aller Glaubenden. Bin ich angestrahlt vom öster­lichen Licht, trage ich den Glauben hinaus aus der Kirche in den Alltag der Welt. Es ist wie bei Don Camillo, dem Pfarrer in dem kleinen italienischen Dorf, den wir vor allem aus der Verfilmung mit Fernandel kennen. Ständig ist er im Streit mit dem kommunistischen Bürgermeister Peppone, der zugleich sein bester Freund ist. Er greift gern zu unkonventionellen Mitteln, um seine Ziele durchzusetzen. Aber immer kehrt er in seine kleine Dorfkirche zurück, um dort unter dem Kreuz des Auferstandenen Zwiesprache zu halten mit seinem Herrn, als dessen Mitarbeiter er sich berufen fühlt. Zweifel, Angst und Fragen plagen ihn – und es sind gerade die Widersprüche, die ihn so sympathisch machen: seine unbekümmerte Art und seine Demut. Wie auch anders könnte es gehen? Jetzt ist die Zeit zu handeln  – und nicht irgendwann. „Das Glockenmonopol der Kirche wird ein Ende haben“, ruft Widersacher Peppone aus, er kauft eine Glocke und lässt sie vor dem Rathaus errichten. Aber in der Nacht raubt jemand den Klöppel. Das ist ein wahres Glück, weil die Glocke Peppone unter sich begraben wird, ohne dass er verletzt wird. So hat Camillo dem Bürgermeister das Leben gerettet – was er in der Kirche unter dem Kreuz gleich beichtet. Im 2. Brief des Paulus an die Gemeinde in Korinth heißt es: 1 Als Mitarbeiter aber ermahnen wir euch, dass ihr die Gnade Gottes nicht vergeblich empfangt. 2 Denn er spricht (Jesaja  49,8): „Ich habe dich zur Zeit der Gnade erhört und habe dir am Tage des Heils geholfen.“ Siehe, jetzt ist die Zeit der Gnade, siehe, jetzt ist der Tag des Heils! 3 Und wir geben in nichts irgendeinen Anstoß, damit unser Amt nicht verläs42 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630471 — ISBN E-Book: 9783647630472

tert werde; 4 sondern in allem erweisen wir uns als Diener Gottes: in großer Geduld, in Trübsalen, in Nöten, in Ängsten, 5 in Schlägen, in Gefängnissen, in Verfolgungen, in Mühen, im Wachen, im Fasten, 6 in Lauterkeit, in Erkenntnis, in Langmut, in Freundlichkeit, im heiligen Geist, in ungefärbter Liebe, 7 in dem Wort der Wahrheit, in der Kraft Gottes, mit den Waffen der Gerechtigkeit zur Rechten und zur Linken, 8 in Ehre und Schande; in bösen Gerüchten und guten Gerüchten, als Verführer und doch wahrhaftig; 9 als die Unbekannten, und doch bekannt; als die Sterbenden, und siehe, wir leben; als die Gezüchtigten, und doch nicht getötet; 10 als die Traurigen, aber allezeit fröhlich; als die Armen, aber die doch viele reich machen; als die nichts haben, und doch alles haben. (6,1–10) Kräftige Worte über die Umkehrung der Verhältnisse – ein wahrhaft österlicher Text! Es kommt ganz darauf an, wie ich solche Worte lese und höre. Mit einem Schmunzeln gelesen machen sie deutlich, dass manchmal ein unkonventioneller Weg der bessere ist. Denn gerade angesichts der Härte der Wirklichkeit brauchen wir ein fröhliches Herz, eine kräftige Portion Unbekümmertheit. Der Text beschreibt den Weg der Nachfolge Christi: desjenigen, der all das erlitten hat. – Das Taghelle, das grelle Licht ist mir gleich aufgefallen bei dem Bild von Heinz Kupfernagel: Über der düsteren Szene der Kreuzigung leuchtet es hell! Drei Teile hat das Bild, das Triptychon: Nehmen wir die beiden Geschichten „am Rande“ hinzu, wird es noch heller: links der Selbstmord des Judas, dessen Verrat nun offen zu Tage tritt und dessen Lohn, die Silberlinge auf dem Acker liegen; rechts hört Petrus am nächsten Morgen den dreifachen Weckruf des Hahns, nachdem er geleugnet hat, dass er mit 43 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630471 — ISBN E-Book: 9783647630472

Jesus bekannt ist. Ein Widerspruch ist diese Helligkeit nicht, vielmehr ganz konsequent. Gäbe es das in die Geschichte vom Kreuz hinein scheinende Osterlicht nicht, wäre es dunkel geblieben, hätten die Taten der Trübsal, die Hinrichtung des Unschuldigen, der Verrat und die Leugnung am Ende gesiegt. Ganz bewusst hat Heinz Kupfernagel diesen Kontrast in dem Tryptichon als zentrales Motiv der Wende betont: das Umdrehen der Medaille, deren zwei Seiten untrennbar zusammengehören. Wenn wir das Bild in der Mitte genauer betrachten, wirft es weitere Schatten – und Lichtstrahlen zu uns herüber, die wir dieses Kunstwerk betrachten. Denn die Geschichten sind bis heute keineswegs zu Ende erzählt! Wer genau hinsieht, erkennt, dass Jesu Körper gar nicht an einem Kreuz, sondern an einem Pfahl hängt, gefesselt mit Seilen. Die Soldaten rechts marschieren im Gleichschritt einer modernen Armee – nur einer schaut auf die Szene zurück, in der links Maria unter dem Kreuz vor dem vom Gekreuzigten herab scheinenden Licht erstaunt. Nicht die Welt hat sich grundlegend geändert seit damals – aber etwas in ihr hat sich für immer verändert. Während rechts die Ruinen der Zerstörung und das Blut der Ermordeten aus Kriegen und Terror zum Himmel schreien, verändert sich links die Niederlage in einen Gewinn. Maria ist nicht allein, ein Mann mit Zylinder hebt sie und eine Hand greift zur Rose am Boden: Zeichen von Schmerz und verlorenem Leben – und von Liebe und Hoffnung zugleich. Wer hinschaut, erkennt das Licht und wird sanft von ihm umfangen. Wer sich jedoch einreiht in Gewalt und Terror, kann es nicht sehen. In der tiefsten Niederlage wendet sich das Blatt für den, der daran glaubt. So verbindet sich die 44 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630471 — ISBN E-Book: 9783647630472

Aussage des Bildes mit den Worten des Paulus, die von Heil­ werden und Gnade durch den Glauben sprechen – trotz aller Geschehnisse in unserer Welt. Don Camillo ist in den Bildern dieses Triptychons nicht zu sehen. Aber es ist diese Zwiesprache mit Christus, mit diesem Gekreuzigten, den Heinz Kupfernagel so ausdrucksmächtig gemalt hat, die aufkeimende Lust am Leben, die sichtbar werdende Freiheit, die Film, Bild und Text mitein­ ander verbinden. Der Künstler steht genauso unter dem Kreuz wie der Betrachter. Es ist die Aufmerksamkeit, die Fähigkeit, das auszuhalten, den Blick nicht abzuwenden. Dazu ermuntert Paulus uns und macht uns Mut. Die Welt verändert sich nicht – aber wir sind verändert worden! Kunst ist Verschwendung und Leidenschaft. Wir brauchen sie, weil es noch mehr gibt als die Sorge für den Alltag, weil es mehr gibt als die Gerechtigkeit: die Hoffnung, den Glauben daran, dass nicht Passion und der Tod das letzte Wort haben, sondern Ostern und das Leben. Amen.

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5 Ostern: Fest des Sehens Christian Stäblein

„Harbingers of Resurrection“ von Nikolai Nikolaevich Ge (1867)

Dieses Bild steht auf www.v-r. de zum Download bereit; loggen Sie sich ein (s. S. 3)

Liebe Gemeinde

Osterzeit. Fest für die Augen. Zeit für Bilder, zum Malen. Gerne auch auf Ostereier. Ich beginne mit einer klitzekleinen Malgeschichte: Der Vater hat dieses Mal für einen Nachmittag das Ostervorprogramm mit den Kindern übernommen. Eier auspusten. Tuschkästen aufbauen. Malkittel anziehen. Pinsel austeilen. „Malt ein paar schöne Osterbilder drauf auf die Eier“, hat er gesagt. „Gib mal ein Beispiel“, hat die Mittlere gefragt. „Hm. Blumen, also: Osterglocken. Oder Hasen. Oder fröhliche Menschen draußen.“ „Ich kann keine Hasen und keine Menschen“, hat der Kleine gesagt. 47 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630471 — ISBN E-Book: 9783647630472

„Osterglocken auch nicht.“ „Na, dann mal halt … ein Kreuz.“ „Ein Kreuz? Ist doch Ostern, nicht Karfreitag“, hat die Mittlere protestiert. Der Vater wollte schon zum Erklären ansetzen – Kreuz, Zeichen für Jesu Sieg über den Tod, aber da hat der Kleine gesagt: „Ja, ich weiß jetzt, was ich male!“ Zufrieden kramt der Vater nach seiner Zeitung, aber er schafft keinen halben Artikel, da ruft der Kleine: „Fertig!“ „Zeig mal.“ Der Kleine gibt stolz sein bemaltes Ei. Darauf mit kantigem braunem Pinselstrich ein Rechteck. Nach außen etwas heller werdend. Nach innen fast schwarz. Das Rechteck liegt etwas schief auf der runden Eioberfläche. Mehr ist nicht zu sehen. Der Vater schaut den Kleinen an. „Was soll das sein?“ Der Kleine, über das ganze Gesicht strahlend: „Das Wichtigste an Ostern.“ Stirnrunzeln. „Soll ich es Dir ins Ohr flüstern?“, fragt der Kleine und tut es natürlich. Da staunt der Vater nicht schlecht. Der Kleine hat recht. Das Wichtigste an Ostern. Sie haben es sicher längst erraten, liebe Gemeinde, Ostern ist ja seit alters her ein Fest des Sehens und der Augen. Sie haben vermutlich Erfahrung im Bemalen von Eiern mit Ihren Kindern oder Enkeln oder Nachbarskindern oder im Kindergottesdienst. Ein Rechteck – was kann das schon sein an Ostern? „Kamen Maria von Magdala und die andere Maria, um nach dem Grab zu sehen. … Und siehe, der Engel des Herrn ist da, der sagt: Kommt her und seht die Stätte, wo er gelegen hat. Und siehe, er wird vor euch hingehen nach Galiläa, dort werdet ihr ihn sehen. Siehe, ich habe es euch gesagt.“ – Siehe, siehe, seht die Stätte, seht, wo ihr ihn sehen werdet. Wenn man auf die Worte von heute hört, könnte man meinen: So viel Sehen ist selten in der Bibel wie bei diesen Versen rund um das, was der Kleine da als sonderbares Rechteck gemalt hat: das leere 48 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630471 — ISBN E-Book: 9783647630472

Grab. Ostern ist ein Fest des Sehens, das bläuen diese Verse geradezu ein mit ihrem Betonen, was zu sehen und was auch nicht zu sehen ist. Denn: Er ist nicht hier, er ist auferstanden, sagt der Engel des Herrn. Das Grab ist leer. Ein Seh-Fest also ist Ostern, ein Fest des Sehens, weil da paradoxerweise etwas nicht mehr sichtbar ist. Der Tod, das, was unsere Augen sonst bannt und hält, ist nicht zu sehen. Ostern wie gemalt – das sind nicht nur die vielen Eier, die hier vorn im Altarraum in guter Tradition wieder den brennenden Osterstrauch schmücken. Ostern einfach wie gemalt  – das ist auch die Szenerie, die Matthäus erzählt. Für einen Moment möchte ich fragen: Was würden wir denn davon malen, wie würden Sie und ich das malen, was da vor Augen geführt wird mit: „Siehe, sie kamen um zu sehen“. Sagen wir, wir hätten nicht ein Ei dafür Platz, sondern ein ganzes Blatt, eine Leinwand oder ein Kirchenfenster groß. Ja, warum nicht ein Kirchenfenster? Sie können das jetzt nicht sehen, aber drüben in der Kloster­k irche1 ist mit dem Abriss der Orgelempore ein fast vergessenes Fenster in der Kirche wieder sichtbar geworden. Das sogenannte Auferstehungsfenster, direkt neben der Totenpforte, die raus auf den Friedhof führt. Noch ist das einfaches Glas, wurde es doch bisher durch die Empore kaum beachtet. Aber es wäre der ideale Ort für die Auferstehungsgeschichte. Gemalt. Stellen wir uns das für einen Moment vor. Wie und was würden wir malen?

1 Die Klosterkirche Loccum befindet sich zum Zeitpunkt der Predigt in Sanierungsarbeiten für die 850-Jahr-Feier 2013. Sie ist geschlossen, der Gottesdienst findet im Refektorium des Klosters statt.  – Unterdes hat Johannes Schreiter den Auftrag erhalten, dieses Auferstehungsfenster in Loccum zu gestalten.

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Beginnen wir mit dem Grundton des Bildes. Welche Farbe soll der Hintergrund haben? Welche Stimmung ist da für Sie? Ich lese noch mal den ersten Satz aus dem Evangelium heute: „Als aber der Sabbat vorüber war und der erste Tag der Woche anbrach, kamen Maria von Magdala und die andere Maria, um nach dem Grab zu sehen.“ – Als der Sabbat vorüber war und der erste Tag der Woche anbrach – ich stocke. Ist es dunkel oder hell in der Szenerie, als die beiden auf­ brechen? Der Sabbat vorüber  – nach jüdischer Sitte ist das Samstag abends, wenn die Sonne untergeht. Als der erste Tag der Woche anbrach. Das dürfte eher der anbrechende Morgen sein, also aufgehende Sonne. Das mag spitzfindig klingen, aber das macht doch einen deutlichen Unterschied. Wie ist der Hintergrund der Osterszene für Sie? Schauen Sie Ostern innerlich mitten im Dunkel zum Lichtpunkt? Oder schauen Sie aus dem Sog des aufgehenden Lichtes auf das Dunkle zurück? Das ist eine spannende Glaubensfrage, auch in diesen Tagen. Schauen wir aus einer aus den Fugen geratenen Welt zwischen Kriegen in vielen Weltregionen und entsetzlichen Naturkatastrophen, schauen wir aus diesem Chaos heraus auf den Lichtpunkt der Auferstehung – das, worauf wir hoffen, was in all dem Dunkel oft so schwach und klein und übersehbar scheint? Oder blicken wir aus dem Licht des Oster­glaubens auf eine Welt, die dieses Licht noch nicht fassen kann, aber doch davon überstrahlt wird? Lassen Sie uns für einen Moment aus diesem Gedankengang herausspringen. Letzte Woche, ich lasse meinem Wagen neue Reifen aufziehen. Ziemlich früh noch. Aber schon herrliche, kräftige Sonne. In der Kaffee-Ecke, ebenfalls auf Sommerreifen wartend, ein Mann, der mich beim Lieder­ gucken im Gesangbuch beobachtet und das Gespräch be50 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630471 — ISBN E-Book: 9783647630472

ginnt mit „Na, kennen Sie alle?“ Ich muss etwas verdutzt dreinschauen, aber die Frage erklärt sich schnell: Er ist Musiker im Nebenberuf, ein freundlicher Mann. Als ich sage, ich sei Pastor und hätte am Sonntag zu predigen, sagt er: „Oh, gut, haben Sie schon ein Thema? Ist ja zur Zeit sicher nicht so einfach.“ „Was?“ „Na, predigen. Bei dem, was so los ist.“ „Aha“, sage ich. „Sie meinen, die Welt ist ziemlich finster zur Zeit?“ „Stimmt. Die Bürgerkriege und Umstürze, die Naturkatastrophen.“ Nach einer Weile er: „Ist es nicht immer so dunkel?“ Ich: „Finden Sie? Ist es nicht auch immer ziemlich hell?“ Er sitzt so vor der Sonne, dass ich sein Gesicht kaum sehen kann. „Sonntag ist jedenfalls Ostern, da will ich über die Auferstehung predigen.“ Er, freundlich: „Na dann haben Sie ja Ihr Thema.“ Und dann wieder mit freundlichem, leicht bedauerndem Ton: „Einfach wird das nicht.“ Ich warte. Hoffe auf mehr, aber jetzt kommen wir vom Thema ab. Oder besser, bleiben beim Thema, aber beim Dunkel. Er erzählt von seinen Sorgen, Alltagsdunkel. Ich horche. Nicke. Denke: Ach, wenn man uns zuhörte, wir würden wahrscheinlich ganz gute Wächter abgeben. Ja, die Wächter, von denen Matthäus erzählt, dass sie der römische Statthalter Pilatus hat aufstellen lassen, um das Grab zu bewachen. Um sicher zu gehen, dass keiner den Leichnam Jesu klaut und dann behauptet, der Tote würde doch noch leben. Dafür, oder besser: dagegen die Wachen des Pilatus am Grab. Damit keiner irgendeinen Schwindel erfindet und die Welt heller macht als sie ist. Diese Wachen, denke ich, die müssten unbedingt auf das Bild. Die Frage ist nur, wie man sie malt. In der Ostergeschichte heißt es: „Als der Engel erschien, erschraken die Wachen aus Furcht und wurden, als wären sie tot.“ So, überwältigt, niedergeworfen, so geistern die Wachen durch die Ikonographie dieser Szene. 51 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630471 — ISBN E-Book: 9783647630472

Diese Szene zu malen ist wahrlich keine neue Idee. Es gibt unzählige Bilder hierzu in der Kunstgeschichte, viele versuchen, genau diesen Moment mit den Wachen einzufangen. Ob es nun Matthias Grünwaldt oder der Niederländer Diereck Bouts aus dem 15. Jahrhundert ist, keiner hat es sich nehmen lassen, den Wachen ein Gesicht zu geben. Zu Recht, sie sind ja ein spannendes Motiv. Sie zeichnet nicht nur ihre Skepsis aus angesichts der scheinbar ewigen Gewissheit, dass nichts so sicher ist wie der Tod. Nein, unter die Wachleute würde ich auch jene malen, die die Redlichkeit des christlichen Glaubens immer wieder herausfordern und sich nicht mit bunten Naturvergleichen und hübschen Ostereiern abspeisen lassen. Unter den Wachleuten sind die klugen Philosophen des Atheismus ebenso wie die Verwundeten des Alltags. Ja, das sage ich offen, von Zeit zu Zeit könnte man mich auch gut unter die Grabwächter malen wie an jenem Morgen im Gespräch mit dem freundlichen Mann beim Reifenwechsel in der Kaffee-Ecke. Wie oft sind meine Augen erstarrt im Blick auf den Tod. Wie oft bleibt nur die eine Hoffnung, dass der Engel erscheint, so wie es bei Matthäus heißt: „Die Wachen aber erschraken aus Furcht und wurden, als wären sie tot.“ Als wären. Aber eben nicht wirklich. Sondern überwältigt von dem Neuen. Erste Zeugen sozusagen. So wie die Frauen. Sie gehören natürlich unbedingt auf das Bild. Aber wohin genau? Die Frauen, Maria von Magdala und die andere Maria, sind die Bewegung in der Geschichte, sie sind nicht an einer Stelle zu fixieren wie die Wachen. Die Frauen kommen, um zu sehen. Sie sehen, was sie nicht erwartet haben. Sie hören, was sie sehen werden. Sehen Jesus. Sollen weiter sagen, was sie gesehen haben und sehen werden. Die Frauen, Maria von Magdala und die andere Maria sind 52 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630471 — ISBN E-Book: 9783647630472

nicht leicht zu platzieren. Was würden Sie meinen? Mit dem Blick ins leere Grab? Erschrecken in den Augen!? Mit dem Blick zum Engel: Er ist nicht hier, er ist auferstanden. Beginnende Freude in den Augen. Mit dem Blick zu Jesus? Siehe, da begegnete er ihnen. Furcht und Freude, Zittern und Jubeln in den Augen. Welche Szene gehört auf das Auferstehungsbild, das ich, das wir malen würden? In jedem Fall doch nicht nur eine. Ich stelle mir vor, die Frauen müssten mindestens zwei, wenn nicht dreimal auf dem Bild sein. Hin zum Grab. Weg vom Grab. Und beim Ruf in die Welt: Er ist auferstanden! Diese Dynamik müsste man einfangen. Hin zum Grab, weg vom Grab. Das ist sozusagen die Osterdynamik. Es ist ja nicht nur ein Fest des Sehens, es ist auch ein Fest der Bewegung. Osterspaziergang. Osterlauf. Hin zum Grab. Weg vom Grab. Vielleicht müsste man Menschen mit wehenden Haaren und wehenden Mänteln malen. Menschen, Frauen und Männer und Kinder, wie sie angerannt kommen aus den Kellern ihrer Angst, aus den Gefängnissen ihres Nicht-vergeben-könnens. Und sie alle rufen womöglich: „Geht, seht, er wird vorangehen.“ Da können so viel Steine liegen – und die werden da liegen, keine Frage, Steine und Kreuze, und da können so viele Wachen festhalten, und die werden festhalten, keine Frage – und doch rufen sie mit wehenden Haaren: „Er lebt, er geht voran, durch den Tod, nach dem Tod.“ Vielleicht reicht das schon, wenn das ganze Osterauferstehungsbild voller wehender Haare ist, wehend von dem Wind, dem Geist, der da ins Leben zurückholt, so dass der Weg hin zum Grab und weg vom Grab führt, weg und hin zu den anderen. In diesem Fall habe ich ein konkretes Bild vor Augen, eines, das der russische Maler Nikolai Ge im 19. Jahrhundert gemalt hat. Realistisch und doch von irgendwie großartig 53 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630471 — ISBN E-Book: 9783647630472

mystischen Farben eingehüllt sieht man Maria von Magdala auf die Tore Jerusalems zueilen, die Tücher um ihren Körper vom Wind nach hinten gezogen, sie sehen fast wie Flügel aus, die Haare fest und flatternd im Wind, die Wachen im Dunkeln rechts gar nicht beachtend, auch das zerbrochene Kreuz auf dem Fußboden fällt im Dunkeln kaum noch auf. Nur dieses Gesicht geht da dem Licht entgegen, die gute Botschaft hat sie im Rücken. Seht, der Tod ist besiegt. Das ist die Richtung, das ist die Bewegung. Der Hintergrund, die Wachen, die Frauen, die Menschen im Sog der Bewegung. Schon jetzt ist da ziemlich viel auf unserem Bild, auf unserem Fenster. Und dabei fehlt, wenn wir in die Worte von heute horchen, noch der Engel des Herrn und dann auch Jesus selbst. Nun, gerade mit Blick auf diese beiden, die ich doch ohnehin nicht malen könnte, scheint mir das Bild von Nikolai Ge mit den wehenden Haaren sehr passend. Sie verdecken gewissermaßen die Sicht auf das, was ich nicht malen wollen würde. Und auch auf das, was wir ohnehin nicht malen können. Denn – da ist die Szene von heute natürlich sprechend: Von der Auferstehung selbst gibt es kein Bild, keine Beschreibung, keine Anschauung. Weder hier noch irgendwo. Alles, was da zuerst ist, ist: Das Grab ist leer. Am österlichen Fest des Sehens steht am Anfang die Erfahrung, dass das, was beschaut werden soll, nicht mehr zu sehen ist. Das Rechteck des Kleinen, diese Andeutung des leeren Grabes auf dem Osterei ist ein ziemlich gutes Bild. Dass der Vater das nicht gleich erkennt! Nicht verwunderlich, weil das, was da zu sehen ist, so unglaublich überwältigend und doch ohne jede Anschauung ist. Weil das so ist, ist das Oster­ fest eines, bei dem zum Sehen und zur Bewegung unbedingt noch etwas dazu kommt: Worte. Worte Gottes aus dem 54 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630471 — ISBN E-Book: 9783647630472

Mund seines Boten, Worte, die die Sicht der Dinge bestimmen. Worte für heute und alle Zeit: Fürchtet euch nicht! Er ist auferstanden von den Toten. Und siehe, er wird vor euch hergehen. Im Tod. Zum Leben. Siehe, so war es und so wird es sein. Amen.

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6 Tanzende Freude Kirsten Elisabeth Christensen

„Ausgießung des Heiligen Geistes“ von El Greco (1604/1614)

Dieses Bild befindet sich im Museo del Prado in Ma­ drid; es steht auf www.v-r.de zum Download bereit; loggen Sie sich ein (s. S. 3)

Liebe Gemeinde

Die Perlen des Glaubens, die nach einer Idee des schwedischen Bischofs Martin Lönnebo entstanden und dann in vielen Ländern bekannt geworden sind, werden auch bei uns 57 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630471 — ISBN E-Book: 9783647630472

zur Meditation und zum Gottesdienst gebraucht. An einem Band sind große und kleine Perlen in verschiedenen Farben aufgereiht. Sie sind unterschiedlichen Themen und Begriffen zugeordnet, die man zu den Tageszeiten, im Kirchenjahr oder zu bestimmten Anlässen meditieren kann. Ähnlich dem Rosenkranz kann dieser „Katechismus für die Hände“ das tägliche Glaubensleben prägen. Biblische Worte, kurze Gedanken und Gebete sind den einzelnen Perlen zugeordnet. Zwei gleiche Perlen finden sich dort nebeneinander aufgereiht, beide sind rot. Dies sind die Perlen der Liebe. Die Liebe ereignet sich immer in zwei Richtungen. Zum einen erfahre ich Liebe, Liebe auch von Gott. Dieser empfangenden Seite der Liebe entspricht die andere und dafür steht dann die zweite rote Perle: Ich gebe Liebe weiter. Ich kann lieben, weil ich mich als geliebt erfahren habe. Gottes Liebe soll weder bei dir noch bei mir aufhören. Die Liebe soll weiterfließen zu anderen Menschen, und zwar mit der Freude und dem Feuer, die der Heilige Geist in uns entfacht. Das ist es, was wir an Pfingsten feiern und wovon wir in den biblischen Texten hören. Pfingsten ist das Fest unserer Gemeinschaft des Geistes, der Liebe und der Freude. Der Heilige Geist bewegt uns. Die Bewegung, die von uns nicht zu kontrollieren ist, hat man sich vorgestellt wie die Bewegung von Feuerflammen, die wie Zungen herumzüngeln. So sind die Christen angefeuert, so sind sie gemeinsam bewegt – und dabei spielen Unterschiede von Herkunft und Stand und Wesen und Art und alles andere keine Rolle. Das Gefühl von Fremdheit einander gegenüber wird hinweggenommen von einem gemeinsamen Bewegtsein. Das ist die Erfahrung, die die ersten Christen gemacht haben, als das Brausen vom Himmel durch das Haus ging, in dem sich die Jünger nach Christi Himmelfahrt versammelt 58 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630471 — ISBN E-Book: 9783647630472

hatten. Das ganze Haus wurde von dieser Bewegung erfüllt und damit auch alle, die sich in diesem Hause aufhielten: Zu diesen kam eine Feuerzunge. Voller Geist waren sie, und das Empfangene gaben sie weiter durch die Predigt an alle, denn durch die Wirkung des Heiligen Geistes verstanden alle ihre Verkündigung. Die Bewegung, in die uns der Heilige Geist versetzt, ist nicht allein eine Denkbewegung, vielmehr ist der ganze Leib einbezogen. Genauso nämlich, wie es der Maler El Greco auf seinem Gemälde „Die Ausgießung des Heiligen Geistes“ von 1604 zeigt. Der Blick wird sogleich gelenkt auf die betende Frau in der Mitte, weil das Licht, das in den Falten ihres Kleides reflektiert wird, unsere Aufmerksamkeit anzieht. Aber durch den Blick der Frau werden wir weiter bewegt, bewegt weiter nach oben, so dass wir entdecken, was allen die Bewegung gibt. Ganz zuoberst im Bild schwebt eine Taube; mit der der Heilige Geist symbolisiert wird. Die Heiliggeisttaube ist dargestellt mit segnenden Flügeln, still und voller Frieden. Die Kraft, die von der Taube ausgeht, wird nach unten in die menschlichen Körper gesendet, sie wird gesendet in die Kirche hinein, in diejenigen hinein, die sich versammelt haben, um den Glauben an Jesus als den Christus zu bekennen, genauso, wie wir es heute auch hier an diesem Pfingstfest tun. Auf dem Bild werden alle Jünger von dieser Bewegung der Freude berührt, die die Körper der Menschen nach oben strecken und recken lässt, gerade indem der Heilige Geist über sie ausgegossen wird. Der geradezu ekstatische Ausdruck wird betont durch die Art und Weise, wie El Greco die Jünger mit ihren langen und schlanken Figuren gemalt hat – wie eine tanzende Bewegung. Wenn die Freude dieses Festes uns berührt, dann ist es nicht nur die Reglosigkeit oder die Trägheit des bloßen Gedankens, die gelöst wird, sondern 59 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630471 — ISBN E-Book: 9783647630472

auch die bewegungslosen Körper werden befreit. Pfingsten ist das Fest der tanzenden Freude. El Greco wurde auf Kreta geboren, wo er die Tradition der byzantinischen Malerei mit ihren klaren Formen kennengelernt hatte. Er entwickelte dann einen geradezu expressiven Malstil, den wir hier sehr deutlich auf dem Gemälde vom Pfingstwunder wahrnehmen können. Das Auftreten des Heiligen Geistes lässt weder die Jünger und die Frauen noch den Künstler selbst unberührt. Die tanzende Freude und die nach oben gereckten Arme geben die Bewegung weiter in den ganzen Kreis. Es ist wie mit der empfangenen Liebe, die dann als weitergegebene Liebe die Bewegung aufnimmt und Bewegung aus sich heraussetzt. Gottes Liebe und Gottes Freude sind Bewegung, die uns und dann auch andere in Bewegung bringt. Das zeigt auch der liebevolle Blick der Maria Magdalena, der zu Maria in der Mitte des Bildes gerichtet ist. Es sieht so aus, als wolle sie zu Gott beten: „Gib mir die Kraft, für sie da zu sein, für sie, die so viel gegeben hat und die ihren Sohn hat leiden sehen müssen.“ Maria Magdalena ist die Erste, die, entfacht vom Feuer des Himmels, das Wort des Lebens weitergibt, auch zum Trost für diese Welt. Sie weiß, dass alle, die Christus lieben, an seinem Wort festhalten – und in der Freude der Auferstehung bleiben. Der Fürsprecher, der Tröster, der Heilige Geist erinnert sie daran, was Jesus sagte und wie er gelebt hat. Er erinnert sie daran, wie Christus darum wusste, dass alles begründet wird im Wesen der Liebe, die empfangen und die weitergegeben wird. Wenn ich berührt und bewegt bin, dann berühre und bewege ich andere. Das ist das Wunder von Pfingsten: Wenn der Hauch des Heiligen Geistes in uns hineinbläst, dann wird die Glut angefacht, die wir Menschen seit dem Schöpfungsmorgen in uns 60 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630471 — ISBN E-Book: 9783647630472

tragen, da werden schöpferische Kräfte in uns aufgeweckt. Diese Bewegung endete nicht im und mit dem Jüngerkreis, genauso wenig, wie die Bewegung ein Ende fand, als El Greco sein Bild zu Ende gemalt hatte. Diese Bewegung endet nicht. Ich sehe doch, wie der eine Jünger – der zweite von rechts in der obersten Reihe – sein Gesicht zu den damaligen und zu den heutigen Betrachtern richtet, mit seinem auffordernden, ja geradezu bittenden Blick uns Betrachter mit ins Bild zieht, uns diese Bewegung weitergibt, weitergibt aus dem Kreis der ersten Jünger, weitergibt aus den Begrenzungen des Gemäldes, hin zu den Betrachtern, zu uns. Die Bewegung des Heiligen Geistes endet nicht, sie endet niemals: Liebe und Wahrheit, Glaube und Hoffnung, sie setzen uns in Bewegung. So werden wir vorausgreifend ergriffen von Gottes gutem Willen für uns alle, so dürfen wir bereits hier und bereits jetzt eine Ahnung erfahren von dem, was Gottes Verheißungen für diese Erde sind. Gottes Gegenwart im Wort und in den Sakramenten – in Taufe und Abendmahl – lässt uns wahrnehmen und verstehen, dass wir Menschen nicht dem Zerstörerischen überlassen sind, dem wir in diesem Leben auch ausgesetzt sind, sondern dass wir schon jetzt Teil haben, gemeinsam teilhaben an Gottes Geist, der tröstet und heilt, der stärkt und Anteil gibt. Pfingsten feiern wir, dass der Geist zu uns kommt, uns entfacht, aufweckt, Wohnung in uns nimmt – und uns bewegt. Pfingsten ist eine biblische Geschichte, die vor langer Zeit stattgefunden hat. Pfingsten ist aber auch heute und hier. Deshalb müssen wir nicht ängstlich sein und mutlos. Wir können vielmehr teilnehmen am Tanz der Freude. Amen.

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7 Sturzgläubig Karl Friedrich Ulrichs

„Die Bekehrung des Paulus“ von Caravaggio (1600/1601)

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Liebe Gemeinde 1. Das Bild …

Keine Zeit verlieren und keinen Zorn! Noch am Abend, kaum hatte er die Durchsuchungs- und Haftbefehle in der Tasche, war er aufgebrochen. Was er gehört hatte aus jener Stadt, erfüllte ihn mit Sorge und Wut. Diese Leute ließen sich nicht beeindrucken von den bisherigen Maßnahmen, die ge63 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630471 — ISBN E-Book: 9783647630472

gen sie unternommen wurden – jedenfalls nicht von denen vor Ort. Darum war er so eilig los geritten, dass er mit dem bloßen Rücken des Pferdes vorlieb genommen hatte. Bis der Stallknecht mit dem Sattel so weit war, konnte er unmöglich warten. Rechtzeitig eingreifen, die Sache schon im Keim ersticken, das war das Gebot der Stunde. Die Nachtluft machte seinen Kopf klar und sein Herz kühl. Es war gut, so unterwegs zu sein. Ein Ziel zu haben und einen Auftrag und ein Schwert an der Seite, das macht den Rücken gerade. Die Hufe seines Pferdes knirschten in gelassenem Rhythmus auf dem steinigen Weg. Das war vor dem Bild. Und was ist jetzt im Bild? Das Knirschen ist nicht zu hören, wohl aber das Schnauben des Tieres. Und die Stimme des Begleiters, der es beruhigen will. Das Pferd ist also noch da, er spürt es, nun hoch aufragend über ihm, wie eben alles riesengroß ist, wenn man vom hohen Ross fällt und am Boden liegt. Bedrohlich der mächtige Huf, doch das Tier bemüht sich, seinen gestürzten Reiter nicht noch mehr zu verletzen. Und sein Rücken schmerzt. Der Sturz ist ein dumpfer Schlag gewesen, der ihm für bange Momente die Luft genommen hat. Unwillkürlich hat er die Arme nach oben gereckt, so, wie man es manchmal in einem Traum tut, in dem man fällt und fällt. Aber dieser Fall ist kein Traum  – er spürt ja die Nähe des Tieres und den Schmerz in seinem Rücken, aber wie in jenen Albträumen gelingt es ihm nicht, die Augen zu öffnen. So hell es eben blendete, so dunkel bleibt es nun. Umso klarer hört er das Pferd: Jetzt schnaubt es noch einmal, ein leises widerwilliges Wiehern, das Klirren des Zaumzeugs, die vertraute Stimme des starken, standhaften Begleiters. „Saul, Saul, was verfolgst du mich?“ Wer spricht zu ihm? Eine fremde Stimme. Einer von diesen Leuten, denen sein 64 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630471 — ISBN E-Book: 9783647630472

heiliger Zorn gilt? Sein Fall ein Überfall! Wo ist sein Schwert, mit dem er sich schützen wollte vor denen, die ihm unterwegs ans Leben und Eigentum wollen, das Schwert, mit dem er vorgehen wollte gegen die, die ihn in seinem Glauben unerträglich verunsicherten? Hatte das Schwert am Gürtel ihn seiner Macht versichert, zeigt ihm das entglittene Schwert drastisch seine Machtlosigkeit. Mühsam fragt er: „Wer bist du?“ Über seine ängstliche Stimme ärgert er sich und darüber, dass ihm in vorauseilendem Gehorsam die Anrede „Herr“ herausrutscht. „Ich bin Jesus, den du verfolgst.“ Jesus, der gekreuzigte Prediger aus Galiläa? Jesus, den seine Anhänger „Herr“ nennen, weil er von den Toten auferstanden sei? Dieses lächerliche Phantom verfolgt er doch gar nicht, sondern jene gefährlichen Phantasten, die sich auf Jesus berufen. Mit ihnen, die Saul verfolgt, weil sie an ihn glauben und ihn „Herr“ nennen, identifiziert sich dieses Phantom: „Was verfolgst du mich?“ Was verfolge ich den, dem ich am Boden liegend ausgeliefert bin, den ich höre, aber nicht sehe, dessen Namen ich verfluche, der mich bei meinem Namen ruft – und das gleich doppelt? Das passiert alles im Bild. Und was geschieht danach? Er wird gleich, sobald er den starren Schrecken überwunden hat, mühsam aufstehen, seinen Körper betasten, sich vorsichtig strecken, um sich schauen und – nichts sehen. Hände wird er spüren am seinem Arm und an seiner Hand. Sie werden ihn die wenigen Kilometer in die Stadt führen. Jemand wird sein Schwert an sich nehmen; ihm nützt es jetzt nichts mehr. Er wird drei lange Tage dahinvegetieren, bis wieder eine fremde Stimme ihn ansprechen wird, die mangelnde Vertrautheit durch Vertraulichkeit ersetzend: „Bruder Saul!“ Und dann wird wieder die Rede sein vom „Herrn“, sehen wird er, aufstehen und glauben. 65 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630471 — ISBN E-Book: 9783647630472

2. … sehen …

In Caravaggios Gemälde „Conversione di Paolo“ (1601) wird mit Sehen und Hören gespielt und mit Glauben. Wir sehen noch einen Abglanz des Lichts, das Paulus sieht, bevor er nichts mehr sehen kann. Wir hören aber nicht, was er hört und spricht. Sein Begleiter hört wohl, sieht aber nichts und hat jetzt auch keinen Blick für Paulus, auf den unser Blick zuerst fällt. Weil wir nicht hören, was im Bild gesprochen wird, fügen wir die uns aus der Bibel bekannten Worte hinzu. Sie werden darin zu unseren Worten, so wie die Betrachter des Bildes in der Cappella Cerasi in der Kirche Santa Maria del Popolo in Rom die Perspektive des Gestürzten einnehmen am Fuße des großen Bildes (230 cm auf 175 cm). Der Gestürzte im Dialog mit dem erhöhten Christus; ich Betrachter spreche für den Mann am Boden, mir und jedem in der Kapelle stehend sagt Christus: „Steh auf und geh in die Stadt; da wird man dir sagen, was du tun sollst.“ Ein Bild, das mich von sich weg weist, in die Stadt schickt, in die Begegnung mit Menschen, die glauben wie Hananias und mir etwas zu sagen haben. Der Bildraum ist verdichtet, das Bild wirkt wie eine Bühne, der Gestürzte wird aber nicht den Betrachtern als Objekt dargeboten, sondern ihnen nahe gelegt, indem er dorthin fällt, wo die Betrachter stehen. Paulus wird perspektivisch stark verkürzt am Boden liegend gezeigt. Es scheint, als rage er aus dem Bild heraus, er liegt da, wo wir stehen. Hilflos wie ein Käfer liegt Saulus auf dem Rücken. Ich verspüre einen Impuls hinzugehen, ihm aufzuhelfen, ihn zu trösten; was dann bald sein Begleiter tun wird, nachdem er das Pferd beruhigt hat. Ein zweiter Blick lässt uns auch sehen, was Caravaggio – verglichen mit der biblischen Erzählung – nicht malt, womit 66 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630471 — ISBN E-Book: 9783647630472

er unseren Blick und unseren Glauben konzentrieren und radikalisieren will: Auf die Darstellung von Hintergrund verzichtet er, ihn interessiert nicht die Landschaft auf dem Weg kurz vor Damaskus, nur den Weg, den Saul in diesem Augenblick in seinem Inneren erlebt, sollen wir ahnen. Auch Christus ist nicht zu sehen, außer Paulus sehen wir nur seinen Begleiter hinter dem Pferdekopf. Das Licht findet sich in der rechten oberen Ecke kaum angedeutet, es ist vor dem dunklen Hintergrund nur als Widerschein auf dem gefallenen Saul zu sehen – und auf der Stirn des hilf- und verständnislosen Pferdebändigers sowie auf der Flanke des Tieres. Gottes Wirklichkeit, Willen und Wesen können wir nicht mit den Händen greifen und ins Auge fassen, sie tauchen uns Menschen aber in einen Glanz. Mein Blick kehrt immer wieder zu den ausgestreckten Arme zurück: Greift er noch ins Leere, wehrt er verzweifelt noch das Licht ab oder empfängt er schon das Licht und streckt sich nach dem Herrn aus? Ein vieldeutiges Symbol für uns: In allen diesen Spielarten erfahren wir unseren Glaube auch. Diese Mutter aller Bekehrungsgeschichten wird gerade für uns erzählt, die keinen Glaubenssturz erlebt haben. Wir Glaubensnormalos brauchen die Erinnerung daran, wie radikal Glaube ist, wie Grund stürzend und umwerfend. Glauben ist uns nicht in die Hand gegeben, ist nicht handhabbar, nicht beliebig manipulierbar, Glaube gründet im Boden unserer Existenz – dazu passt, dass Paulus selbst den Anfang seines Glaubens nie als Bekehrung bezeichnet, sondern von „Offenbarung“ und „Berufung“ spricht. Und unsere Wege im Glauben beginnen damit, dass wir uns mühsam auf­ rappeln müssen und auf Hilfe für die nächsten Schritte angewiesen sind.

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3. … und lesen, was Caravaggio gelesen hat

Zweierlei ist gemalt, was der biblische Text nicht erwähnt. Caravaggios Bild ist so stark, dass wir überrascht sind, wenn wir die Geschichte nachlesen: Vom Pferd ist nicht die Rede, wohl aber vom pferdetypischen „Schnauben“, mit dem der Zorn des Glaubensverfolgers ausgedrückt wird. Wo geschnaubt wird, ist ein Pferd. Die Wut des Verfolgers findet Gestalt im Pferd. Davon herab fällt er tief. Wir kennen das von unserem Wüten. Die Nüstern des Pferdes scheinen die rechte Hand des Gestürzten berühren zu wollen. Paulus spürt den warmen Atem des großen Tieres und die vorsichtige Berührung durch die weichen, bebenden Lippen, die die großen Zähne verbergen. Kein Blecken, kein Schnauben mehr. Wie der neue Glaube: groß, stark, tüchtig zum Tragen, schnell und ausdauernd auf Wegen, aber ruhig, vorsichtig mit dem, der gestrauchelt ist. Und auch das Schwert ist im neunten Kapitel der Apostel­ geschichte nicht erwähnt. Paulus wird in der Kunstgeschichte regelmäßig mit einem Schwert dargestellt – als Symbol dafür, dass er als Märtyrer getötet wird. Hier ist es sein Schwert, das Instrument angemaßter Rechtgläubigkeit. Es ist ihm aus der Hand gefallen. Allen, die ihre Wahrheit mit Gewalt durchsetzen wollen, wird es so geschehen, wenn ihnen Christus begegnet. Und nur als Nebenbemerkung: Eine bittere Anekdote ist es, dass nur wenige Jahre später Caravaggio eben mit einem solchen Schwert in einem Hand­ gemenge den jungen Ranuccio Tomassoni tödlich verletzen wird. Hören wir, was Caravaggio gelesen hat, um uns sehen zu lassen:

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Saulus aber schnaubte noch mit Drohen und Morden gegen die Jünger des Herrn und ging zum Hohenpriester 2 und bat ihn um Briefe nach Damaskus an die Synagogen, damit er Anhänger des neuen Weges, Männer und Frauen, wenn er sie dort fände, gefesselt nach Jerusalem führe. 3 Als er aber auf dem Wege war und in die Nähe von Damaskus kam, umleuchtete ihn plötzlich ein Licht vom Himmel; 4 und er fiel auf die Erde und hörte eine Stimme, die sprach zu ihm: Saul, Saul, was verfolgst du mich? 5 Er aber sprach: Herr, wer bist du? Der sprach: Ich bin Jesus, den du verfolgst. 6 Steh auf und geh in die Stadt; da wird man dir sagen, was du tun sollst. 7 Die Männer aber, die seine Gefährten waren, standen sprachlos da; denn sie hörten zwar die Stimme, aber sahen niemanden. 8 Saulus aber richtete sich auf von der Erde; und als er seine Augen aufschlug, sah er nichts. Sie nahmen ihn aber bei der Hand und führten ihn nach Damaskus; 9 und er konnte drei Tage nicht sehen und aß nicht und trank nicht. 10 Es war aber ein Jünger in Damaskus mit Namen Hananias; dem erschien der Herr und sprach: Hananias! Und er sprach: Hier bin ich, Herr. 11 Der Herr sprach zu ihm: Steh auf und geh in die Straße, die die Gerade heißt, und frage in dem Haus des Judas nach einem Mann mit Namen Saulus von Tarsus. Denn siehe, er betet 12 und hat in einer Erscheinung einen Mann gesehen mit Namen Hananias, der zu ihm hereinkam und die Hand auf ihn legte, damit er wieder sehend werde. 13 Hananias aber antwortete: Herr, ich habe von vielen gehört über diesen Mann, wie viel Böses er deinen Heiligen in Jerusalem angetan hat; 14 und hier hat er Vollmacht von den Hohenpriestern, alle gefangen zu nehmen, die deinen Namen anrufen. 15 Doch der Herr sprach zu ihm: Geh nur hin; denn dieser ist mein auserwähltes Werkzeug, dass er meinen Namen trage vor Heiden und vor Könige und vor das Volk Israel. 16 Ich will ihm zei69 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630471 — ISBN E-Book: 9783647630472

gen, wie viel er leiden muss um meines Namens willen. 17 Und Hananias ging hin und kam in das Haus und legte die Hände auf ihn und sprach: Lieber Bruder Saul, der Herr hat mich gesandt, Jesus, der dir auf dem Wege hierher erschienen ist, dass du wieder sehend und mit dem Heiligen Geist erfüllt werdest. 18 Und sogleich fiel es von seinen Augen wie Schuppen und er wurde wieder sehend; und er stand auf, ließ sich taufen 19 und nahm Speise zu sich und stärkte sich.

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8 Wer bin ich? Monika Lehmann-Etzelmüller

„Selbstbildnis“ von Paula Modersohn-Becker (1906)

Dieses Bild befindet sich im Landesmuseum Hannover / ARTOTHEK; es steht auf www. v-r.de zum Download bereit; loggen Sie sich ein (s. S.  3); als Kunstpostkarte zu beziehen: Verlag Haus am Weyerberg, Fritz-Overbeck-Weg 4, 27726 Worpswede.

Liebe Gemeinde

Schlicht „Selbstbildnis“ hat Paula Modersohn-Becker ihr Bild genannt. Wenn ein Maler oder eine Malerin ein Bild von sich selbst malt, legt er oder sie auch ein Stück der eigenen Seele hinein. Es geht nicht nur um das Aussehen. Einem guten Maler gelingt es, auch seine Fragen und Ängste, seine Freude und 71 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630471 — ISBN E-Book: 9783647630472

seine Not, seine Vergangenheit und den Blick in die Zukunft in das Bild zu legen. Paula Modersohn-Becker konnte das. Sie hat auffallend viele Selbstbildnisse gemalt. Sie hat sie immer dann gemalt, wenn sie wieder an einer Wegkreuzung ihres Lebensweges stand. Soll ich dahin gehen oder dorthin? Wer möchte ich sein? Wer bin ich? Auf einem anderen Selbstbildnis ist sie mit einem gewölbten Bauch zu sehen. Dabei war sie zu diesem Zeitpunkt gar nicht schwanger. Sie hat in diesem Bild ihre Frage gemalt: Soll ich dem Wunsch meines Mannes folgen und ein Kind bekommen? Möchte ich eines? Ihr Blick ist fragend. Antworte mir. Paula Modersohn-Becker war wohl die verkannteste Malerin an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Erst als sie tot war, wurde ihr Ausnahmetalent begriffen. Erst als man es ihr nicht mehr sagen konnte, wurde erkannt, dass sie wohl die wichtigste Malerin der Künstlerkolonie in Worpswede in der Nähe von Bremen war. Die innovativste. Eine, die etwas völlig Neues versuchte. Eine Wegbereiterin der Moderne war sie. Heute hängen ihre Gemälde weltweit in den besten Museen. Aber Zeit ihres Lebens hat niemand erkannt, wer sie ist und wer sie sein wird. Sie wollte malen, aber ihr Vater pochte auf eine „ordentliche“ Ausbildung. Man kann es verstehen, er sorgte sich um die Zukunft seiner Tochter. Sie wollte malen, aber die Mutter bestand auf einen Hauswirtschaftskurs, damit sie lernte, was eine Frau zu beherrschen hatte. Kochlöffel und Teegeschirr statt Staffelei und Farben. Sie wollte malen, anders und nie gesehen malen, aber die ersten Kritiken waren vernichtend. Dass eine junge Frau aus Bremen einfach nur einen völlig neuen Weg beschreitet, mit realistischen Bildern von abgearbeiteten Frauen aus dem Armenhaus, die klobige Züge tragen und große Händen haben, mit Kinderbildnissen, die Armut 72 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630471 — ISBN E-Book: 9783647630472

und Verletzlichkeit zeigen, und mit Birkenwegen, auf denen die Birken in ihrer Zartheit zu schweben und zu tanzen scheinen, all das konnte niemand begreifen. Sie wollte malen, lernen in Paris, aber selbst ihr Mann, obwohl auch er ein Maler, erkannte nicht wirklich, wer sie war. Geh nicht nach Paris, bleib doch hier, wir haben es doch so schön zu Hause, das war seine Botschaft an sie. Sie machte sich dennoch heimlich auf den Weg. Auf einem Stilleben wurden Blumen und edles Essen erwartet. Sie malte Wasserkrüge und Milchsuppe. Paula Modersohn-Becker wollte malen, aber die Konventionen ihrer Zeit schrieben ihr etwas anderes vor. Sei zuerst Tochter, Ehefrau, Mutter, führe den Haushalt und erfülle die Pflichten, malen kannst du doch auch so nebenbei. Und so gut wie ein Mann kann eine Frau ja wohl sowieso nicht malen. Und wenn schon malen, geht es nicht etwas gefälliger? Etwas weniger spröde? Nur wenige haben wirklich an sie geglaubt. Der Dichter Rainer Maria Rilke, der sie verehrte. Das Ehepaar Hoetger, Kunstsammler und Kunstkenner in Paris. Ihre Freundin Clara Westhoff, selbst Künstlerin, Bildhauerin. Auf dem „Selbstbildnis“ von 1906 ist Paula ModersohnBeckers Gesicht sehr groß. Es ist zu groß. Es sprengt den Rahmen. Es will über die gesetzten Grenzen heraus. Der Rahmen, der ihr verpasst wird, ist ihr zu eng und zu klein. Die Gesichtszüge sind seltsam starr. Der Haaransatz ist eine scharfe Linie. Nur der Blick der Augen, forschend, fragend, wirkt lebendig. Auffallend ist, wie sie die Hand ans Kinn hält. Es sieht so aus, als würde sie sich eine Maske vor das Gesicht halten. Den Großteil des Jahres 1906, als das „Selbstbildnis“ entsteht, ist Paula Modersohn-Becker in Paris. Es war ihr vierter Aufenthalt dort. Als sie in Paris war, hat sie regelmäßig den 73 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630471 — ISBN E-Book: 9783647630472

Louvre besucht, um andere Maler zu studieren. Sie hat auch Porträts aus römischer Zeit studiert, Bilder von Toten, die die Angehörigen auf die Grabstelen malen ließen. Die Maske in ihrer Hand erinnert an diese Totenbildnisse. Es ist eine Totenmaske, die sie sich da vor das Gesicht hält. Vor einigen Jahren stellte das Paula Modersohn-Becker-Museum in Bremen die Selbstbildnisse und antike Grabporträts neben­ einander. Die Ähnlichkeit war oft verblüffend. Aber warum hat sich Paula Modersohn-Becker mit einer Maske gemalt? Manchmal sind Masken etwas Nützliches. Wir ziehen eine Maske auf, eine aus Professionalität, aus Freundlichkeit, aus ruhigem Gleichmut, weil wir nicht jedem zeigen wollen, wie es in uns aussieht. Es sollen und müssen ja nicht alle wissen, wie es mir gerade geht. Dann lächeln wir, obwohl wir ganz viel Traurigkeit im Herzen haben. Dann packen wir Aufgaben an, obwohl die Müdigkeit so groß ist. Dann halten wir Smalltalk, obwohl es ganz anderes zu sagen gäbe. Vielleicht brauchen wir diese Masken sogar – in einer Umgebung, die uns kalt und unbarmherzig erscheinen mag. Aber wer die Masken fallen lässt, wird auch Wunderbares erfahren können: Mitgefühl und Verständnis. Wir werden arm, wir werden einsam, wenn wir niemanden mehr haben, bei dem wir die Masken fallen lassen können und unser verletzliches Angesicht zeigen, bei dem wir auch schwach und elend und schutzlos sein dürfen. Auf diesem „Selbstbildnis“ von Paula Modersohn-Becker wird die Maske zur Totenmaske. Das geschieht dann, wenn die Träume nicht mehr hervorkommen dürfen, die Wünsche an das Leben, der Glaube an sich selbst. Irgendwann zeigt Paula Modersohn-Becker die meisten ihrer Bilder nicht mehr vor. Als sie nur ein Jahr später mit 31 Jahren stirbt, ist ihr Mann erstaunt, wie viel Malerei sie hinterlässt, die er noch 74 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630471 — ISBN E-Book: 9783647630472

nie gesehen hat. Vielleicht hat Paula Modersohn-Becker sich mit Maske gemalt, weil sie nie so ganz sie selbst sein durfte. All zu oft hat die Künstlerin im Kampf gegen die biedere Normalität, die bürgerliche Konvention verloren. Die Frage „Wer bin ich?“ blieb immer ohne eine klare Antwort. Wer bin ich? Wer bin ich, wenn alle Masken fallen? – Dietrich Bonhoeffer hat dazu im Gefängnis ein Gebet geschrieben. Da heißt es: Bin ich das wirklich, was andere von mir sagen? Oder bin ich nur das, was ich selbst von mir weiß? Unruhig, sehnsüchtig, krank, wie ein Vogel im Käfig, ringend nach Lebensatem, als würge mir einer die Kehle, hungernd nach Farben, nach Blumen, nach Vogelstimmen, dürstend nach guten Worten, nach menschlicher Nähe, zitternd vor Zorn über Willkür und kleinlichste Kränkung, umgetrieben vom Warten auf große Dinge, ohnmächtig bangend um Freunde in endloser Ferne, müde und leer zum Beten, zum Denken, zum Schaffen, matt und bereit, von allem Abschied zu nehmen? Wer bin ich? Der oder jener? Bin ich heute dieser und morgen ein andrer? Bin ich beides zugleich? … Wer bin ich? Einsames Fragen treibt mit mir Spott. Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott. Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, herausgegeben von Eberhard Bethge, München 1985, 381 f.: Beilage zum Brief an Eberhard Bethge vom 8.7.1944

Wer bin ich? Bin ich Paula, die eigenwillige Künstlerin oder Paula, die angepasste Tochter und Ehefrau? Bin ich der eine, 75 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630471 — ISBN E-Book: 9783647630472

der mutig und tapfer mit der Last seines Lebens, der Krankheit, der täglichen Trauer umgeht – oder bin ich der andere, der weinen will wie ein Kind im Arm der Mutter? Bin ich die eine, die immer so selbstsicher und souverän ist, den anderen immer eine Nasenlänge voraus – oder bin ich die andere, die mit der tiefen Verunsicherung in sich lebt und mit ihr kämpft? Bin ich der eine, der immer allen hilft, auf den man sich hundertprozentig verlassen kann  – oder der andere, der fragt: Und wo bleibe ich? Bin ich die eine, der nie etwas zu viel wird – oder die andere, die innen so leer und ausgebrannt ist? Bin ich der eine, der so gut klar kommt mit dem Leben allein – oder bin ich der andere, der kaum weiß, wohin mit seiner Zeit, mit seiner Sehnsucht, mit seiner Liebe? Wer bin ich? Dietrich Bonhoeffer hat eine Antwort auf seine Frage gefunden: „Wer bin ich? Einsames Fragen treibt mit mir Spott. Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott!“ Dein bin ich, o Gott. Wenige Worte, aber viel Ermutigung, viel Trost und viel Liebe. Ich gehöre nicht den Meinungen und Urteilen anderer Menschen. Dein bin ich, o Gott. Ich gehöre nicht den Aufgaben und der Arbeit, die ich tue. Dein bin ich, o Gott. Ich gehöre nicht der Traurigkeit, der Einsamkeit, dem Versagen und der Schwäche, die ich in mir finde. Dein bin ich, oh Gott. Das ist befreiend, Gott zu gehören, der mich erforscht und kennt (Psalm 139,1). Gelassener können wir umgehen mit den Erwartungen anderer. Unser Wert hängt nicht vom Urteil anderer ab. Mutiger kann ich die Masken abnehmen und den Menschen um mich her etwas zutrauen. Ehrlicher kann ich werden mit meinen Ängsten, Grenzen und Schwächen. Dein bin ich, o Gott, und darum gehöre ich ganz mir.

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Schauen wir noch einmal auf das „Selbstbildnis“ Paula Modersohn-Beckers. Das Gesicht, das den Rahmen sprengt. Ich stelle mir vor, Paula nimmt die Maske ab, und ich sehe ihr Gesicht, lebendig und schön, verletzlich und unversteckt. Nur selten hat Paula Modersohn-Becker die Maske ganz abnehmen können in ihrem kurzen Leben. Aber in ihrer Kunst ist sie immer ganz sie selbst. Sie hat nie auf die gehört, die sagten, sie solle doch anders malen. Gefälliger, weiblicher, braver. In ihren Bildern, den Sonnenblumen und der Milchstippe, den Kindern aus dem Armenhaus und den abgearbeiteten Bäuerinnenhänden ist sie ganz sie selbst. Da kann ich sie finden und sie hat die Maske abgenommen und ich lese in ihrem Gesicht den Wunsch, etwas zu schaffen, den leisen Triumph, weil sie nicht aufgehört hat, an sich zu glauben und ganz viel Lebendiges und Angefangenes, das noch nicht zu Ende erzählt ist.  – „Wer bin ich? Einsames Fragen treibt mit mir Spott. Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott!“

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© 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630471 — ISBN E-Book: 9783647630472

9 Schönheit kommt von Gott Regine Klusmann

„Nanas“ nach Niki de Saint Phalle

Eva Schlenker-Gorenflo / Marianne Kuhn /  Regine Klusmann; Bilder zum Download auf www.v-r.de; loggen Sie sich ein (s. S. 3) Die folgende Predigt wurde von Regine Klusmann und den Frauen des „Weibertreffs“ Rheinfelden anlässlich eines Frauensonntags geschrieben. Während eines Wochenendworkshops „Nanas bauen“ mit Daniela Häbig (www.daniela-haebig.de) entstanden aus Draht und Pappmaché die abgebildeten Figuren frei nach dem Vorbild von Niki de Saint Phalle. Die Form- und Farbgebung war jeder Frau selber überlassen; jede Figur ist ein Unikat.

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Liebe Gemeinde 1. Sprecherin

Wisst ihr nicht, dass euer Leib ein Tempel des Heiligen Geistes ist, der in euch ist und den ihr von Gott habt, und dass ihr euch nicht euch selbst gehört? Denn ihr seid teuer erkauft; darum preist Gott mit eurem Leibe. (1 Korinther 6,19)

2. Sprecherin

Der Körper  – einerseits unsere Hülle, die funktionieren muss, damit wir leben können. Der Körper andererseits, vor allem der weibliche, ist überall gegenwärtig: in großforma­ tiger Werbung, in Film und Fernsehen, in Kunst und Literatur, in zahlreichen Lifestile Magazinen. Schönheit, Wellness, Fitness und Diäten füllen ganze Zeitschriftenregale. Gleichzeitig boomt die Kosmetikindustrie, „Germany’s Next Top Model“ hat gigantische Einschaltquoten, Botox und Schönheitsoperationen werden offensichtlich immer alltäglicher. Die Models, die die berühmten Laufstege der Welt bevölkern, leiden nicht selten an Magersucht. Lachen ist sowieso verpönt. Alles cool, alles glatt, alles perfekt.

3. Sprecherin

Niki de Saint Phalles „Nanas“ sind anders: Sie sind bunt und fröhlich und meistens dick! Es macht Spaß, sie anzusehen und zu fühlen  – mit ihren üppigen runden Formen, ihren 80 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630471 — ISBN E-Book: 9783647630472

Farben und Mustern. Für mich sind sie Ausdruck der Freude am Körper und seinen Formen.

1. Sprecherin

„Nana“ erinnert beispielsweise an die schwarze Nanny, die in der amerikanischen Küche der betuchten Familie de Saint Phalle den Haushalt führte und kochte. Dort hielt sich die kleine Niki in ihrer Kindheit am liebsten auf. „Nana“ ist aber auch ein vieldeutiger Begriff aus dem Französischen für eine moderne, selbstbewusste, erotische und irgendwie verruchte Frauengestalt. Mit ihren bunten und drallen Figuren eroberte die anglo-französische Künstlerin Niki de Saint Phalle in den sechziger und siebziger Jahren die Welt. Sie schreibt selber dazu:

2. Sprecherin

„Durch alle Zeit und Kultur hindurch sind Mythen und Symbole periodisch wieder gefunden und neu erschaffen … So sind zum Beispiel die ‚Nanas‘ Skulpturen ganz aus un­serer Zeit – und doch muss man bei einigen sofort an die Venus von Willendorf denken.“ Diese Figur aus der Altsteinzeit ist Österreichs bekanntestes archäologisches Fundstück.

3. Sprecherin

„Nanas“ sind frei für Freude, Beweglichkeit, Losgelöst-Sein. Nirgendwo wird ihre Weiblichkeit versteckt. Sie wird betont 81 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630471 — ISBN E-Book: 9783647630472

herausgelockt, jede Rundung wird übertrieben. Ihre Hautfarbe ist international. Mal weiß, mal gelb, mal schwarz, mal rot. Manchmal sind sie auch von oben bis unten bunt angemalt, als ginge es zu einer Feierlichkeit bei Indianern oder bei den Aborigines. Die Azteken in Mexiko stellten ähnliche weibliche Figuren schon vor fünfzehnhundert Jahren her, die Göttinnen verkörperten. Die Brust wurde mit der Blume, die Hüfte mit der Eidechse verziert, der Leib mit der Schlange. Die Schlange galt ihnen als Fruchtbarkeitssymbol.

2. Sprecherin

„Manche Züge der ‚Nanas‘ stammen aus der frühen Antike, in anderen zeigt sich der Einfluss von Picasso oder Léger. Oder die Farben erinnern an Matisse. Und doch bleiben sie ganz und gar ‚Nanas‘.“

3. Sprecherin

Die „Nanas“ stellen das Ewig-Weibliche dar. Viele verbinden mit Weiblichkeit ihre Vorstellung von Mutterschaft. Andere denken dabei an Schönheit, an Grazie, an Tanz und Musik. Manch eine/r stellt sich Erdhaftigkeit darunter vor, Üppigkeit, Weichheit und Farbe, aber auch Einfühlungsvermögen und Intuition.

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2. Sprecherin

„Wir haben neue Lösungen zu finden. Was ich vorschlage, ist eine Lösung der Freude. Ich glaube, nur Frauen können sie verwirklichen. Männer sind bewundernswert, wenn es darum geht, Dinge zu erfinden. Aber die Welt besser zu machen – das ist an uns.“

3. Sprecherin

So meinte Niki in den sechziger Jahren. Schließlich schickte sie ihre „Nanas“ in die Welt mit dem Ruf: „Nanas an die Macht!“ Aber die Künstlerin wollte nicht allein den Frauen das Wort reden. Sie wollte vielmehr ein Element wieder sichtbar machen, das sehr vernachlässigt wurde. Ein Element, das sowohl Frauen wie Männern zu mehr Menschlichkeit verhilft. Und darunter versteht sie auch die Freiheit, die den anderen nicht beengt.

1. Sprecherin

„Aber ihr seid reingewaschen, ihr seid geheiligt, ihr seid gerecht geworden durch den Namen des Herrn Jesus Christus und durch den Geist unseres Gottes. Alles ist mir erlaubt, aber nicht alles dient zum Guten. Alles ist mir erlaubt, aber es soll mich nichts gefangen nehmen … Wisst ihr nicht, dass euer Leib ein Tempel des heiligen Geistes ist, der in euch ist und den ihr von Gott habt, und dass ihr euch nicht euch selbst gehört? Denn ihr seid teuer erkauft; darum preist Gott mit eurem Leibe.“ (1 Korinther 6,11 f.19 f.) 83 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630471 — ISBN E-Book: 9783647630472

3. Sprecherin

Doch was haben die „Nanas“, der Spaß am Körper, mit der Bibel, dem Christentum zu tun? Irgendwie will das gar nicht zueinander passen. Hat nicht gerade die Kirche in ihrer Geschichte oft gepredigt, dass der Körper – vor allem der der Frau – die Quelle der Sünde ist?

1. Sprecherin

Schau doch einmal genauer hin: Schon zur Zeit Jesu geschieht etwas sehr Ungewöhnliches: Jesus wird als Sohn Gottes proklamiert. In ihm hat Gott selber einen menschlichen Körper angenommen. Er selbst ist „Fleisch“ geworden. Das war schon was Besonderes. Denn in der damaligen Zeit herrschte eine sehr körperfeindliche Kultur und das Heil der Welt wurde eher in der Überwindung der Leiblichkeit erwarte.

3. Sprecherin

Das kann ich mir vorstellen. Es gibt eine Bibelstelle, die davon berichtet, dass vor allem der Körper der Frau als unrein galt, etwa während der Menstruation und nach der Geburt von Kindern. Sieben Tage nach der Geburt eines Sohnes und vierzehn Tage nach der Geburt einer Tochter (vgl. 3 Mose 12).

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1. Sprecherin

Ja, das dachte man damals so. Wobei eine solche Regelung auch ein Stück weit dem Schutz der Frau diente. Aber eine kultische Unreinheit lässt sich damit nicht begründen. Und stell dir vor – noch heute ist es orthodoxen Frauen untersagt, während ihrer Menstruation das Abendmahl zu empfangen – seit Neuestem dürfen sie dann immerhin in die Kirche kommen, um zu beten.

3. Sprecherin

Aber gibt es nicht im Neuen Testament Geschichten, in denen sogenannte „unreine“ Frauen Jesus sogar berühren?

1. Sprecherin

Gut aufgepasst! Dann kennst Du sicher die Geschichte der blutflüssigen Frau (Markus 5,25–34). Sie berührt Jesus am Gewand und wird geheilt. Jesus setzt sich über die Grenzen der Konvention seiner Religion und Gesellschaft hinweg. Bei ihm ist der Körper so wichtig, dass er nicht überwunden, sondern geheilt wird. Heil und Heilung sind eng miteinander verwoben und immer auch auf den realen Körper bezogen.

3. Sprecherin

Der Körper wird also bei Jesus gar nicht abgewertet? 85 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630471 — ISBN E-Book: 9783647630472

1. Sprecherin

Nein, er ist Gottes gute Schöpfung.

3. Sprecherin

Wie ist es dann passiert, dass später die Kirche sich solche Dinge auf die Fahnen geschrieben hat, wie „Recht ist das Haus, wo der Mann befiehlt und das Weib gehorcht. Recht ist der Mensch, wo der Geist herrscht und das Fleisch dient.“1

1. Sprecherin

Vielleicht konnte das Christentum nur überleben, weil es sich immer wieder auch ein Stück weit an die herrschende Kultur angepasst hat. Und in diesem Fall war es die Leibfeind­ lichkeit der griechischen Philosophie. Die ersten Theologen waren von dieser Philosophie geprägt, so auch Paulus, der schon ein eher ambivalentes Verhältnis zum Körper hatte. Aber er unterscheidet immerhin noch den Körper und das Fleisch. Der Körper ist für ihn der Tempel des heiligen Geistes. Gottes gute Schöpfung, mit der wir pfleglich umzugehen haben. Auf der anderen Seite ist das Fleisch. Dort wohnt die Sünde und lauert darauf, Macht über uns zu gewinnen.

1 Aurelius Augustinus, Vorträge über das Johannes-Evangelium, 2.  Vortrag, Abschnitt 14 (Auslegung zu Johannes 1,13)

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2. Sprecherin

Na ja, das gibt es doch heute auch. Ich meine diese vielen Dinge, die darauf lauern, über unseren Körper Macht zu gewinnen.

1. Sprecherin

Was meinst du damit?

2. Sprecherin

Ich denke zum Beispiel an den Schlankheitswahn. Kleider­ größe 36 ist auf den Laufstegen der Welt angesagt. Und wir haben uns dem anzupassen. Außerdem sollen wir nicht nur schlank sein, sondern auch noch sportlich fit, schön, immer gut gepflegt, gesund und natürlich auch noch erfolgreich …

3. Sprecherin

Stimmt. Wenn man meint, diesen Idealen entsprechen zu müssen, dann kann das ganz schön Macht über uns gewinnen. Auch Macht über den Körper, der dann auf Teufel komm raus diesen Vorstellungen angepasst wird.

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2. Sprecherin

Ja, der Verschlankungsknopf der neuesten Digitalkameras ist da nur ein harmloses Beispiel. Da werden wir als Objekte durchs Objektiv nämlich auf Knopfdruck fünf Kilo leichter …

3. Sprecherin

Das ist eher harmlos. Schwieriger wird es, wenn wir z. B. aus gesundheitlichen oder Altersgründen diesem Ideal nicht mehr entsprechen können. Sind wir weniger vollkommen, wenn wir behindert sind oder wenn wir schon unzählige Falten im Gesicht und graues Haar haben?

1. Sprecherin

Paulus würde dagegen sagen: Nein. Selbst dann ist der Leib der Tempel des heiligen Geistes. Selbst dann ist er Gottes gutes Geschöpf. So gut, dass ein Teil von ihm darin wohnt. Und so schreibt er „Alles ist mir erlaubt, aber nichts soll mich gefangen nehmen.“ (1 Korinther 6,12b)  Das heißt, nichts soll über mich Macht gewinnen: kein Schlankheitswahn, kein Erfolgswahn, kein Schönheitswahn.

3. Sprecherin

Nichts soll dich gefangen nehmen. Du gehörst mit Haut und Haaren zu Gott. Und das ist gut. Das macht dich schön. 88 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630471 — ISBN E-Book: 9783647630472

2. Sprecherin

„Bei mir bist du schön.“ – Das könnte dann ja fast von Paulus stammen.

1. Sprecherin

Na, wohl nicht ganz, aber der Gedanke ist reizvoll. Lied: Bei mir bist du schön (1932), von Shalom Secunda (Musik) und Jacob Jacobs (Text)

2. Sprecherin

Ein toller Text: „Mir bist du teurer als Geld. Für mich hast du das gewisse Etwas. Weil: Für mich bist du schön, für mich hast du Charme, für mich bist du einzigartig.“

1. Sprecherin

„Ihr seid teuer erkauft“, schreibt Paulus. Das ist das, was uns wertvoll macht. Der Geist Gottes, die Liebe Gottes.

2. Sprecherin

Fällt es dir auch manchmal auf, dass Menschen dieses Wissen, dass sie gut und geliebt sind, regelrecht ausstrahlen? Und dass sie so eine ganz andere Schönheit und Würde 89 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630471 — ISBN E-Book: 9783647630472

nach außen tragen als die Models unserer Frauenzeit­ schriften?

3. Sprecherin

So wie die „Nanas“. In ihrer aufrechten Körperhaltung, ihrer tänzerischen Art drücken sie etwas von dieser inneren Würde und Schönheit aus. Ich bin geliebt – dass scheint jede von ihnen zu sagen.

2. Sprecherin

„Wahre Schönheit kommt von innen.“ – So lautete ein Werbeslogan. Ich glaube, das stimmt. Gott hat mich lieb. Er hat mich ausgewählt. Und das gibt mir einen Wert und eine Würde, die weiter reicht als alle Äußerlichkeiten. Amen.

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10 Gott im Wald Jan Rohls

„Das Kreuz im Gebirge“ (Tetschener Altar) von Caspar David Friedrich (1807/1808)

Dieses Bild befindet sich in der Galerie Neue Meister, Staatliche Kunstsammlungen Dresden; es steht auf www.v-r.de zum Download bereit; loggen Sie sich ein (s. S. 3); als Kunstpostkarte zu beziehen: Gottesdienst-Institut Nürnberg, www.gottesdienstinstitut.org

Liebe Gemeinde

In den Weihnachtstagen des Jahres 1808 stellte der Maler Caspar David Friedrich in seinem Dresdner Atelier ein Gemälde aus. Es war ein Bild, das eigentlich für eine gräfliche Schlosskapelle bestimmt war, aber schließlich seinen Platz im Schlafzimmer des jungvermählten adeligen Ehepaares fand. Das Gemälde erregte sofort Aufsehen, rief glühende 91 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630471 — ISBN E-Book: 9783647630472

Begeisterung und schroffe Ablehnung hervor. Denn in seiner Art war es völlig neuartig. Es zeigte eine Landschaft, aber die Landschaft war religiös, gesehen mit den Augen romantischer Frömmigkeit. Das Bild, eines der bekanntesten der deutschen Romantik, zeigt ein Kreuz im Gebirge. Wegen seines ursprünglichen Bestimmungsortes, der Schlosskapelle in Tetschen, heißt es der „Tetschener Altar“. Ein Altarbild weder mit einer Christus- oder Heiligengestalt, sondern mit einer Landschaft samt Kruzifix, das war neu. „Es ist eine wahre Anmaßung, wenn die Landschaftsmalerei sich in die Kirche schleichen und auf Altäre kriechen will“, entrüstete sich ein zeitgenössischer Kunstkritiker. Es sei eine Anmaßung, von einem Stück Landschaftsmalerei zu verlangen, dass es den Menschen religiös rühre. Der Mensch, der zu Liebe, Dankbarkeit und Bewunderung gegen seinen Schöpfer bewegt werden wolle, der gehe in die freie Natur, auf die Berge oder in den Wald. Da überkomme ihn die Rührung, nicht aber vor einem Gemälde, das einen mit Tannen bestandenen Berg mit Gipfelkreuz im Abendrot zeige. Friedrich, der Maler aus Greifswald, lieferte selbst einen Kommentar zu seinem für damalige Verhältnisse ungewohnten Bild. „Auf dem Gipfel des Felsens“, so schreibt er, „steht hoch aufgerichtet das Kreuz, umgeben von immergrünen Tannen, und immergrüner Epheu umwindet des Kreuzes Stamm. Strahlend sinkt die Sonne, und im Purpur des Abendrotes leuchtet der Heiland am Kreuz.“ Nun, das muss man mögen. Aber wichtiger noch: Was hat das zu bedeuten? Was soll das Kreuz auf dem Felsen, was sollen die Tannen, die es umgeben? Hören wir wieder den Originalton Caspar David Friedrichs: „Auf einem Felsen steht aufgerichtet das Kreuz, unerschütterlich fest wie unser Glaube an Jesum Christum. Immergrün durch alle Zeiten während, stehen die Tannen 92 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630471 — ISBN E-Book: 9783647630472

um das Kreuz, wie die Hoffnung der Menschen auf ihn, den Gekreuzigten.“ Die Tannen als Allegorie der christlichen Hoffnung. Sie grünen bekanntlich nicht nur zur Sommerszeit, nein, auch im Winter, wenn es schneit. Das Kreuz in der Landschaft, das ist ein Thema, das den Maler Friedrich ein Leben lang beschäftigt hat. Noch kurz vor seinem Tode malte er ein Bild, das den Titel trägt „Kreuz im Walde“. Das Kreuz, von den Strahlen der Sonne beschienen, steht vor einem Tannenwald, der in seiner Form an eine gotische Kathedrale erinnert. Am Fuß des Kreuzes entspringt eine Quelle, die durch eine öde Feldschlucht fließt, Sinnbild des Evangeliums, der Leben spendenden Heilsbotschaft, die das aufgrund der Sünde erstorbene Leben erneuert. Was bringt einen Maler dazu, die eingefahrene Straße christlicher Ikonographie zu verlassen? Warum malt er keine Pietà, warum keinen Gnadenstuhl, warum keine Kreuzabnahme, keine Auferstehung? Warum malt er stattdessen einen Wald mit Kruzifix? Warum diese Lust am Wald? Die Zeiten, in denen man seinem Glauben sicheren Ausdruck verleihen konnte in einem festen Kanon von Themen, sie waren dahin. Spätestens der Sturm der Französischen Revolution hatte die bislang gültige kirchliche Kunst hinweggefegt. Und es war keineswegs nur der materialistisch gesonnene Atheist oder der skeptische Agnostiker der Aufklärung, der sich im Bilderbogen der überkommenen christlichen Malerei nicht mehr zurechtfand. Selbst das fromme Individuum fühlte sich in ihm nicht mehr heimisch. Man fand Gott weniger in der biblischen Geschichte von der Erschaffung Adams bis zur Wiederkunft Christi, sondern eher im Leben und Weben der Natur. Philipp Otto Runge, auch er wie Friedrich Maler der religiösen Landschaft, fühlte sich ergriffen vom Wald. Er spürte 93 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630471 — ISBN E-Book: 9783647630472

dort den lebendigen Atem Gottes. Die Natur ist für ihn kein mechanisches Räderwerk. Sie ist ein lebendiges Ganzes, durchpulst von produktiven Kräften, ausgestattet mit einer Seele. Sie ist ein Buch, geschrieben von demselben Autor wie die Bibel, allerdings in einer Chiffrenschrift, die entziffert sein will. In jedem Moos, in jedem Gestein ist die Handschrift des göttlichen Schöpfergeistes erahnbar. Überall in der Natur, in Feld und Wald offenbart er sich, im Rauschen des Waldes wie im Plätschern des Baches, in der sonnenbeschienenen Lichtung, im weichen Moos, in den massigen Felsen und im Gesang der Waldvögel. Es ist keineswegs ein neutrales Bild, das die romantischen Maler von der Natur entwerfen. Sondern sie malen die Natur so, wie sie sie fühlen, als eine Offenbarung des göttlichen Universums. Daher ist es auch nicht einfach eine Landschaft, die Friedrich zum Altarbild erhob. Es ist die von Gott durchdrungene Natur, die Natur als Offenbarung Gottes. So seltsam es für heutige Ohren auch klingen mag: Runge sah einen engen Zusammenhang gerade zwischen dem protestantischen Glauben und der romantischen Landschaftsmalerei. Wie Katholizismus und Historienmalerei so gehörten Protestantismus und Landschaftsmalerei zusammen. Ist die Landschaftsmalerei doch abstrakter als das Geschichtsbild und daher der höheren Abstraktheit des Protestantismus angemessener als etwa das von Personen nur so wimmelnde „Jüngste Gericht“, das der Romantiker Peter Cornelius in den Chor der Ludwigs­ kirche in München malte. Das Landschaftsbild sollte die religiöse Stimmung des Gemüts durch die Nachbildung einer entsprechenden Stimmung der Natur ausdrücken. Gott sollte in der Landschaft, in der Natur, gefühlt und geahnt werden. 94 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630471 — ISBN E-Book: 9783647630472

Der Wald ist nicht nur ein bevorzugter Gegenstand roman­ tischer Landschaftsmalerei. Er ist nicht nur architektonisch ein Dom, gebildet aus Bäumen, sondern das Rauschen der Bäume erfüllt ihn auch so wie der Klang der Orgel das Kirchenschiff. Ja, die Romantiker beklagten geradezu die Ohnmacht der Tonkunst im Vergleich mit dem vollen Orgelgesang, der aus Berg, Tal und Wald in schwellenden Akkorden heraufquillt. Sie vernahmen im Rauschen des Waldes die Harfe des Weltgeistes die unendliche Melodie spielen. Schläft ein Lied in allen Dingen, die da träumen fort und fort. Und die Welt hebt an zu singen, triffst du nur das Zauberwort. So dachte nicht nur der schlesische Freiherr Joseph von Eichen­dorff, so dachten sie alle. Nur wenn man sie als den Versuch begreift, die Sphärenharmonie, die Musik der Natur und damit Gottes eigene Melodie anzustimmen, versteht man die Musik der Romantik. Es wundert daher auch nicht, dass der Wald zum bevorzugten Gegenstand der roman­ tischen Musik wurde. O Täler weit, o Höhen, du schöner grüner Wald, du meiner Lust und Wehen andächtger Aufenthalt. Nirgends wird die Verbindung von Wald und Musik so deutlich wie an der romantischen Oper schlechthin, an Carl ­Maria von Webers „Freischütz“. Man hat nicht zu Unrecht gesagt, die Hauptperson dieser Oper sei gar nicht der Freischütz, 95 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630471 — ISBN E-Book: 9783647630472

der glücklose Jägerbursche Max, sondern der Wald. Der erste Aufzug spielt auf einem Platz vor der Waldschänke, der zweite in einem Forsthaus im Wald und in einer furchtbaren Waldschlucht bei Nacht, der dritte Aufzug schließlich ist eine kurze Waldszene bei Tag. Der Wald wird hier zum Schauplatz des Kampfes zwischen Licht und Finsternis, Gut und Böse um die Seele des schlichten Jägerburschen Max, der sich auf einen Pakt mit dem Bösen, dem schwarzen Jäger ­Samiel und seinen Handlanger Kaspar, einlässt, um seine Braut Agathe, die Tochter des Erbförsters Kuno, zu gewinnen. Freikugeln sollen ihm helfen, beim alten Brauch des Probeschusses nicht zu versagen. „Wenn Wälder und Felsen uns hallend umfangen, / tönt freier und freud’ger der volle ­Pokal“, singen die böhmischen Jäger, indem sie auf sonniger Waldesflur ihre Gläser erheben. Doch der Wald kann sich auch von einer dunklen Seite zeigen, wie sie Max bei seiner nächtlichen Begegnung mit Samiel in der Waldschlucht erlebt hat. Der unheimliche nächtliche Wald als Symbol des Bösen. Dunkles Gehölz, hoch aufragendes Gebirge, ein stürzender Wasserfall, bleicher Vollmond, heraufziehendes Gewitter, verfaulte Bäume, große Eulen, krächzende Raben und Albträume. Erst als Max das Kreuz schlägt, ist der mitternächtliche schwarze Waldzauber vorüber. Die tonmalerische Musik zur Wolfsschluchtszene ist nicht nur die Schilderung einer Sturmnacht im Wald, sondern wie der unheimliche, aufgewühlte Wald selbst spiegelt die Musik den Seelen­ zustand des Jägerburschen. Und ebenso beschwören die gestopften Hornklänge der Freischützouvertüre die Vorstellung des Waldes herauf und lassen die Seele des Hörers in die geheimnisvolle Welt des Waldes eintauchen. Aus der Mitte des Waldes aber erhebt sich die Stimme der um ihren Max besorgten Agathe zu einem Gebet: 96 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630471 — ISBN E-Book: 9783647630472

Leise, leise, fromme Weise, schwing dich auf zum Sternenkreise! Lied, erschalle! Feiernd walle mein Gebet zur Himmelshalle. Zu dir wende ich die Hände, Herr, ohn’ Anfang und ohn’ Ende! Vor Gefahren uns zu wahren, sende deine Engelscharen. Waldesleid und Waldeslust. Ende gut, alles gut. So auch hier im „Freischütz“. Gewiss, im dunklen Wald kann sich der Mensch verirren, und Max hat sich verirrt, als er in der Wolfsschlucht den Pakt mit dem Bösen schloss. Aber aus dem Wald naht ebenso die Rettung in Gestalt eines Eremiten, der seine Klause in der Waldeinsamkeit hat. Doch mich umgarnen finstre Mächte! Mich faßt Verzweiflung, foltert Spott! O dringt kein Strahl durch diese Nächte? Herrscht blind das Schicksal? Lebt kein Gott? So fragt Max verzweifelt am Anfang der Oper. Doch am Schluss stimmen alle in die Gnadenbotschaft des Eremiten an den gestrauchelten Sünder ein: Wer rein ist von Herzen und schuldlos im Leben, darf kindlich der Milde des Vaters vertraun! Ja, laßt uns die Blicke erheben und fest auf die Lenkung des Ewigen baun.

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Hier begegnen wir Caspar David Friedrichs „Kreuz im Walde“ auf der Opernbühne wieder  – der Botschaft von Sünde und Gnade, verpflanzt in den böhmischen Wald und seine Musik. Das ist sicher eine Form der Frömmigkeit, eine Natur- und speziell Waldfrömmigkeit, die weit entfernt ist vom Katechismusglauben der alten Orthodoxie. Und doch: Sind wir damit nicht auch in der Nähe des „Kirchenfürsten“ des neueren Protestantismus, Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher? Was ist für ihn Religion? Anschauung und Gefühl des Universums, des Unendlichen im Endlichen. In dieser Bestimmung des Wesens der Religion ist doch die Naturund Waldfrömmigkeit der Romantik angelegt. Es ist dies eine Frömmigkeit, die Gott in erster Linie in der Natur offenbart findet. Das war keine romantische Laune, sondern man wusste sich einig mit zahlreichen Theologen und Philosophen der Vergangenheit, von Giordano Bruno über Jakob Böhme, die auch schon angesichts des fruchtlosen konfes­ sionellen Haders das lebendige Buch der Natur den Katechismen und Bekenntnisschriften vorgezogen hatten. War die Sprache, die Gott im Buch der Natur sprach, nicht deutlicher und klarer als die Sprache selbst der Bibel? War der Gott, dem man in der Natur begegnete, nicht jener Gott, von dem Paulus auf dem Areopag in Athen gesagt hatte: „Fürwahr, er ist nicht ferne von einem jeden unter uns. Denn in ihm leben, weben und sind wir“? (Apostelgeschichte 17,27 f.) „Wenn der Himmel über mir von unzähligen Sternen wimmelt“, schreibt der Maler Runge, „der Wind saust durch den weiten Raum, die Woge bricht sich brausend in der weiten Nacht, über dem Walde rötet sich der Äther, und die Sonne erleuchtet die Welt, das Tal dampft, und ich werfe mich im Grase unter funkelnden Tautropfen hin, jedes Blatt und jeder Grashalm wimmelt von Leben, die Erde lebt und 98 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630471 — ISBN E-Book: 9783647630472

regt sich unter mir, alles tönet in einem Akkord zusammen, da jauchzet die Seele laut auf, und fliegt umher in dem unermeßlichen Raum um mich, es ist kein oben mehr, keine Zeit, kein Anfang und kein Ende, ich höre und fühle den lebendigen Odem Gottes, der die Welt hält und trägt, in dem alles lebt und wirkt: hier ist das Höchste, was wir ahnen – Gott!“ Der Aufstieg des Waldes zum bevorzugten Ort der Begegnung mit Gott begann mit der Zerstörung der Natur durch die beginnende Industrialisierung. Der Wald wurde erst durch die Übergriffe der menschlichen Zivilisation zu jenem Heiligtum, als das ihn die Romantik betrachtet. Und nicht nur die frühen Romantiker um 1800 und die jugendbewegten Neuromantiker um 1900. Nein, noch der ganz gewöhnliche Bundesbürger, der sonntags den Kirchgang durch den Waldspaziergang ersetzt oder beide miteinander verbindet, zehrt von diesem romantischen Erbe. Und ob winter­ liche Waldweihnacht oder sommerlicher Waldgottesdienst, auch die Kirche hat sich die romantische Naturfrömmigkeit längst zu Eigen gemacht. Der Wald wurde in der Romantik zum Gegenbild einer als entfremdet erfahrenen Welt, zu jenem paradiesischen Ort, den der Mensch schuldhaft ver­ lassen hat und zu dem ihn die Sehnsucht immer wieder hintreibt. Es war der Dichter Johann Ludwig Tieck, der den Begriff „Waldeinsamkeit“ prägte, und in einem seiner Märchen lässt er einen Vogel singen: Waldeinsamkeit, die mich erfreut, so morgen wie heut’ in ew’ger Zeit, o wie mich freut Waldeinsamkeit. 99 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630471 — ISBN E-Book: 9783647630472

Und: „Mir geschieht kein Leid, / hier wohnt kein Neid.“ Die Waldeinsamkeit, das ist die verklärte Harmonie von Mensch und Natur, von der der Romantiker Tieck gleichwohl weiß, dass der Mensch sie, wenn auch selbstverschuldet, verlassen muss. Es liegt im Wesen des Menschen, die Unschuld seiner Seele gegen den Verstand einzutauschen und die Idylle zu zerstören. Die träumende Unschuld ist kein Zustand auf Dauer. Zumal im „Freischütz“ wird der Wald denn auch zu einem Sinnbild der Nachtseiten der Natur. Einer Religion, die sich in idyllischer Naturfrömmigkeit erschöpft, haftet daher ein Zug ins Regressive an. Die Sehnsucht nach der Einsamkeit der Wälder, ob religiös oder ökologisch motiviert, bringt ein unwiederbringlich verlorenes Idyll nicht zurück. Das alles nimmt der religiösen Landschaft der Romantik nichts von ihrem Wahrheitskern. Gelangten die Romantiker denn nicht zu einem tieferen Verständnis der Natur, als sie in ihr mehr erblickten als der aufgeklärte Verstand wahrhaben wollte? Sie zehrten ja von der Auffassung, dass der Mensch sich in der Natur selbst wiederentdecken kann, weil die Natur ebenso Geist ist, wie der Mensch auch Natur ist. In beiden offenbart sich Gott und die Natur ist nur deshalb Offen­ barung Gottes, weil sie ein in sich geordnetes zweckvolles Ganzes ist, damit aber etwas Geistiges, und kein rein mechanisches Räderwerk, keine bloße Maschine. Jener bereits eingangs erwähnte Kunstkritiker, der ­Caspar David Friedrichs „Tetschener Altar“ als Anmaßung kritisiert hatte, war sich des Zusammenhangs zwischen Bildern wie dem „Kreuz im Walde“ und der zeitgenössischen romantischen Theologie und Philosophie durchaus bewusst. „Wie ist es möglich“, schrieb er, „den Einfluß zu verkennen, den ein jetzt herrschendes System auf Herrn Friedrichs Komposition gehabt hat! Jener Mystizismus, der jetzt überall sich 100 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630471 — ISBN E-Book: 9783647630472

einschleicht und aus Kunst wie aus Wissenschaft, aus Philosophie wie aus Religion gleich einem narkotischen Dunste uns entgegenwittert!“ Man wird kaum fehlgehen, wenn man bei dem gescholtenen Mystizismus auch an die Religionstheorie Schleiermachers denkt. Die äußere Natur galt dem reformierten Prediger zu Berlin allerdings nur als Vorhof, nicht als das innerste Heiligtum der Religion. Mehr als in der Natur offenbarte sich ihm das göttliche Universum in der Geschichte. Das ist das Erbe der Humanitätsreligion von Aufklärung und Klassik. Doch wo der Mensch über dem Humanum seine Verbindung mit der Natur vergisst und die Natur nur noch als verwertbares Material betrachtet, da erhebt die romantische Naturauffassung zu Recht ihren Einspruch. Die religiöse Landschaftsmalerei der Romantik erinnert an diesen Eigenwert der Natur, dessen auch wir noch gewahr werden, wenn wir im Wald mehr erblicken als das Rohmaterial für schwedische Möbelhäuser und Tageszeitungen, hinter denen sich kluge Köpfe verstecken. Wer ahnte nicht, was gemeint ist, wenn die Dichter der Romantik vom Wald sprechen? Es liest sich wie ein Kommentar zu Caspar David Friedrichs „Tetschener Altar“, dem Kreuz auf dem tannen­ gesäumten Gipfel, wenn Joseph von Eichendorff schreibt: Der Wald aber rühret die Wipfel Im Traum von der Felsenwand. Denn der Herr geht über die Gipfel Und segnet das stille Land. Im Gottesdienst, in dem diese Predigt gehalten wurde, wurde zeitgenössische Musik mit Anklängen an den Wald aufgeführt (Joseph Haydn: Trompetenkonzert, Andante / Felix Mendels101 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630471 — ISBN E-Book: 9783647630472

sohn-Bartholdy: O Täler weit, o Höhen / Johannes Brahms: Waldesnacht, du wunderkühle). Rezitiert wurden: Johann Wolfgang von Goethe, Über allen Gipfeln ist Ruh; Ludwig Tieck, Franz Sternbalds Wanderungen; Joseph von Eichendorff, Ich stehe in Waldesschatten). Die Gemeinde sang: Nun ruhen alle Wälder (EG 477,1–4), Himmel, Erde, Luft und Meer (EG 504,1–6), Geh aus, mein Herz, und suche Freud (EG 503,1–5).

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11 Der große Weg – zum Vater Birgit Niehaus

„Der große Weg“ von Friedensreich Hundertwasser (1955)

Als Kunstpostkarte zu beziehen: Gottesdienstinstitut Nürnberg, www.gottes dienstinstitut.org

Liebe Gemeinde

Unser Leben verläuft meist auf krummen Bahnen. Denn in der Regel sind unsere Lebenswege voller Windungen und Brüche. Auch Umwege sind dabei, breite Wege und schmale Wege, schöne und schwierige. Das wissen Sie, liebe Jubelkonfirmandinnen und Jubelkonfirmanden, besser als ich. Denn Sie haben Ihr Leben schon viele Jahrzehnte gelebt und es mit allen Höhen und Tiefen erlebt. Jeder von Ihnen hat bereits einen großen Teil bewegtes Leben hinter sich. Das ist unsere Lebenserfahrung: Das Leben verläuft nicht auf geraden Wegen. 103 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630471 — ISBN E-Book: 9783647630472

Da würde uns der bekannteste Wiener Künstler Friedensreich Hundertwasser, der im Jahr 2000 im Alter von 71 Jahren verstarb, zustimmen. Denn er sagt: „Die gerade Linie existiert nicht in der Natur.“ Die Gerade sei gottlos und vom Teufel, verbrecherisch und unmoralisch, behauptet er sogar. Deshalb sind auch seine Bilder und seine Bauten bunt und vielfältig in den Formen. Gerades sucht man bei ihm  – so wie in der Natur, seinem Vorbild – vergeblich. Insofern bewegen wir uns mit unseren verworrenen Lebensläufen und un­ geraden Lebenswegen mitten im natürlichen Leben. Die Spirale ist für Hundertwasser und andere Künstler seiner Zeit seit den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts ein gutes Symbol für das Natürliche und für den ewigen Kreislauf von Sterben und Werden, für Leben und Tod. Sie wird für Hundert­wasser das wichtigste Symbol, das immer wieder in seiner Kunst auftaucht. Jede Spirale zeigt aber nicht nur die Wiederholung und das Zyklische, sondern auch die Progression. Denn keine Windung kommt zwei Mal vor und der Weg geht immer weiter, egal wie schwierig die Lebensumstände sein mögen. Erkennbar sind sogar Anfang und Ende. Die Spirale als Weg in die Mitte hat ebenfalls in der Spiritualität eine große Bedeutung. Man denke an das berühmte Labyrinth von Chartres, das ja kein sinnloser Irrgarten ist, sondern ein sinnvoller Weg zur Mitte hin. Und die Mitte steht für Gott. Kein Mensch verharrt jedoch ewig in der Mitte. Wir gehen den Weg aus der Mitte heraus in den Alltag  – gestärkt durch Gott. Deshalb möchte ich heute mit Ihnen den großen Weg, den Hundertwasser 1955 in einer Mischtechnik auf einer 160 mal 162 cm großen Leinwand gemalt hat, von der Mitte ausgehend nach außen verfolgen. Für Hundertwasser sind beide Richtungen in der Spirale mög104 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630471 — ISBN E-Book: 9783647630472

lich. Nach außen laufe sie, so sagt er, ins Leben und schließlich durch die scheinbare Auflösung ins Außerirdische. Es gibt so viele Wege durchs Leben, wie es Menschen gibt. Aber es gibt für uns alle hier nur einen Weg, der zum Vater im Himmel führt. Diesen Weg haben wir durch Jesus Christus kennengelernt. Ohne ihn wären wir auf dem Holzweg. Mit ihm sind wir auf einem guten und lebendigen Weg Richtung ewiges Leben, auch wenn er voller Windungen ist. Diesen Weg zum Vater im Himmel sind wir alle einmal angetreten am Beginn des Lebens mit unserer Taufe. Dann haben wir ihn noch einmal bekräftigt bei der Konfirmation oder Firmung. Das ist ja vom Wort und von der Bedeutung her dasselbe, denn es bedeutet: Stärkung. Gott selber macht uns firm, d. h. er stärkt uns durch sein Wort und Sakrament und durch seinen Segen. Auch wir bekräftigen unser „Ja der Taufe“ vor Gott, d. h. wir willigen ein, auf seinen Spuren durchs Leben zu gehen. So gehen wir unseren großen Weg unseres Lebens, indem wir Jesus nachfolgen. Blicken wir einmal auf das Bild des österreichischen Künstlers Friedensreich Hundertwasser. Sicher kennen sie andere Bauten und Bilder von ihm. Unverkennbar und bekannt ist er durch seine Farben- und Formenbuntheit. Seine Bilder und die von ihm erbauten und gestalteten Gebäude – Wohnhäuser, Kirchen, Schulen  – entführen uns in eine schöne bunte Welt. Ich möchte nun mit Ihnen zusammen dieses Bild „Der große Weg“ aus dem Jahr 1955 näher betrachten und es mit Gedanken zu unseren Lebenswegen konfrontieren. Manches interpretieren wir gewiss in das Bild hinein, aber so ist das mit der Kunst; sie ist offen dafür. Das, was wir sehen, ist eine rote Spirale; sie ist eingebettet in verschiedene Farben. Das könnte ein Lebensweg sein – so wie ihn jeder von uns geht und zum Teil schon gegangen ist. 105 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630471 — ISBN E-Book: 9783647630472

Vor uns liegt der große Weg unseres Lebens. Ich habe diesen Weg in fünf Wegstrecken eingeteilt und überblicke am Ende noch einmal alles.

1 Der Ursprung des Lebens: Geburt und Kindheit

Der große Weg geht innen los, da, wo es ganz blau ist. In der blauen Mitte entspringt unser Leben. An den Mutterleib erinnert mich das. Dort sind wir umspült von Wasser. Alle haben wir im Wasser unser Leben begonnen. Blau ist aber nicht nur die Farbe des Wassers und der Tiefe, sondern zugleich die Farbe des Himmels und damit die Farbe Gottes. Im Mutterleib hat Gott uns gebildet, heißt es in Psalm 139. Dort nimmt das Leben seinen Lauf, mit einem Gedanken Gottes, der jedem Lebensweg vorausgeht. In dieser göttlichen Tiefe – und auf Erden zunächst unsichtbar im Uterus einer Frau – beginnt der große Weg, der unser Leben ist. Der Lebensweg ist rot. Überall, bis fast zum Schluss, bleibt die rote Spur. Erst zum Ende hin vermischt sich das Rot mit dem Blau und wird so violett. Rot ist die Farbe der Liebe und der Leidenschaft. Unsere Lebensspur ist also eine, die von Liebe und der Lust zu leben geprägt ist. Wenn es nicht so wäre, könnten wir gar nicht existieren. Die Liebe von Vater und Mutter, von Geschwistern und Kindern, von Verwandten und von guten Freunden hält uns am Leben. Und natürlich die Liebe Gottes, die in jeder anderen Liebe wirksam ist. So beginnt unser Leben: in Gott. Und dann geht es weiter mit Liebe und viel Lebensenergie. Die ersten Spiralwendungen sind ganz dicht beisammen. Sie verlaufen gleichförmig und schnell größer werdend – wie das eben in den ersten Jahren ist, wenn wir heranwachsen. Ich betrachte die ersten zehn Spiralwendun106 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630471 — ISBN E-Book: 9783647630472

gen als unsere Kindheit. Das ist ein übersichtlicher Zeitraum mit großer Geborgenheit. Dann kommen größere grüne Flächen, in die unser Lebensweg eingebettet ist. Das Grün markiert unsere Jugendzeit und die nötige Stärkung unseres Lebens.

2 Die wilden Jahre des Lebens: Jugend und Konfirmation

Die nun kommende Wegstrecke sind die wilden jungen Jahre. Die Wege werden ungleichmäßiger und ausufernder. Das Grün am Rande des Weges kommt mir vor wie eine Oase. Sie heißt für mich Konfirmation. Sie liegt an der Übergangsstelle von der Kindheit zum Erwachsenenleben. Seit vielen Jahrhunderten wird dieser Übergang mit einem großen Fest gefeiert. Das ist bis heute so. An diesem Punkt gibt es viel Tradition in unserer Kirche. Fast alle, die wir getauft haben (und auch einige, die als Kinder nicht getauft wurden), gehen zur Konfirmation. Dieses Fest erinnert uns an den guten Hirten, der uns auf satte grüne Weiden und zum frischen Wasser führt. Das ist in den Wirren der jugendlichen Jahre ein guter Zuspruch und eine wichtige Stärkung. Ein Lied, das dazu passt, ist das alte Lied von Nikolaus von Zinzendorf: „Jesu, geh voran auf der Lebensbahn.“ Das wollen wir nun singen und die Predigt ein wenig unterbrechen und vertiefen durch die beiden Liedstrophen EG 391, 1 und 4.

3 Die Mitte des Lebens: Erwachsenes Leben

Ziemlich bald nach der grünen Oase, zum Teil auch schon vorher, ist viel Weiß zu sehen. Weiß ist die Farbe der Un107 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630471 — ISBN E-Book: 9783647630472

schuld, die Farbe des Hochzeitskleides und des Taufkleides. In den Zeiten der jungen erwachsenen Jahre haben Sie sicher viele Hochzeiten und Taufen gefeiert: die eigene vielleicht und die der Geschwister und Freunde, Taufen eigener Kinder oder im Kreis von Familie und Freunden. Feste des Lebens sind Momente, an die wir uns gern erinnern. Dann geht es ziemlich gleichförmig weiter auf unserem großen Weg: Jahre unseres Lebens, die wie im Fluge vorüberziehen, die geprägt sind von Arbeit, Beruf, Familie, Haushalt, vielleicht von Hausbau und Karriere. Die mittleren Jahre sind voller Leben, Lebendigkeit und Anstrengung. Der Weg wird dann mal breiter und wirkt zum Teil zerfleddert. Das ist so bei vegetativen Spiralen, wie Hundertwasser sie nennt. Das erwachsene Leben ist gefüllt mit vielen Ereignissen. Neben den Höhepunkten und schönen Seiten erwarten einen jeden von uns Widrigkeiten, die auf dem Weg liegen. „Dieser Weg wird kein leichter sein, dieser Weg ist steinig und schwer“, dichtet der Liedermacher Xavier Naidoo in unseren Tagen. Auch raue Wege müssen wir gehen. Wir verstehen oft nicht, warum, aber für niemanden gibt es ein Leben ohne solche Tage, Wochen, mitunter auch Jahre. Dafür brauchen wir göttlichen und menschlichen Trost, wahre Freundschaft, starke Familienbande und das Mitgefühl anderer. Gott bleibt auf allen Wegstrecken ein treuer Lebens­ begleiter. Wer das in seinem Leben erfährt, kann getrost weitergehen bis zum Ende.

4 Zeit der Reife: Blick zurück und nach vorn

Interessant ist an der roten Spur, dass sie zum Ende hin lila wird. Lila ist die Farbe der Umkehr und der Buße. Im Alter 108 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630471 — ISBN E-Book: 9783647630472

beginnt der Lebensrückblick, so oder so ähnlich wie wir das zu Beginn des Gottesdienstes im Sündenbekenntnis gehört haben. In die rote Lebens- und Liebesspur mischt sich immer mehr das göttliche Blau des Himmels. Das könnten Sie, die 80-Jährigen, nun besser beantworten als ich: Ist der Glaube wieder ein stärkeres Thema – je älter man wird? Jedenfalls ist der Tod durch den Verlust gleichaltriger Freunde und Bekannte sicher viel gegenwärtiger. Bereiten Sie sich gedanklich auf das Ende des Lebens vor? Es wäre gut. Das Bild von Hundertwasser legt es nahe, so wie das alte Psalmwort aus Psalm 90: „Herr lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.“ Tröstlich, wenn sich die Lebensspur immer mehr mit der Himmelsfarbe vermischt. Aus dem lila Lebensweg wird dann sogar immer mehr ein blauer Weg: näher hin zu Gott.

5 Ende und Neubeginn: bei Gott sein

Unten links steht nun zum Ende des Weges hin ein ziemlich dicker Brocken im Weg. Ein Stein, so würde ich sagen. Für mich ist er ein Sinnbild für den Tod. Dunkel ist er. Wie ein Grabstein sieht er aus, wie der Stein, der vor Jesu Grab lag oder einmal auf unserem Grab stehen wird. Zum Glück endet die Lebensspur hier nicht. Der blaue Weg, der himmlische Weg, der Weg Jesu Christi, zieht souverän am Stein vorbei. Weiter geht die Spur des Lebens, so wie das Leben trotz Tod weitergeht bei Gott. Wir sind mit unserem Weg angekommen im Vaterland. Allerlei wartet da noch auf uns: Ganz himmlisch blau geht es am Grabstein vorbei in der anderen Welt weiter. Wer mag, könnte sogar durch den Stein hindurchschlüpfen. Es scheint, als habe der blaue Himmel ein 109 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630471 — ISBN E-Book: 9783647630472

Loch in den Stein des Todes geschlagen, sodass wir durch ihn hindurchkommen. Viel können wir nicht sagen über das Leben nach dem Tod. Aber Jesus spricht im Johannesevangelium davon, dass dort im Vaterland, in seines Vaters Haus, viele Wohnungen für uns vorbereitet sind. Das goldene Hochhaus links oben  – so nenne ich es!  – steht stellvertretend für diese Wohnungen bei Gott. Da ist viel Platz. Einige, die von uns gegangen sind, leben schon dort. Wir werden hoffentlich auch irgendwann dort im Vaterland ankommen.

6 Der große Weg vom Anfang bis zum Ende: durchkreuzt von Christus

Vielleicht ist manchem von Ihnen schon etwas Bemerkenswertes aufgefallen: Die Spirale, der lange Lebensweg, wird durchkreuzt von einigen goldgelben Lilien. Am deutlichsten zu sehen sind Längst- und Querbalken der goldenen ­Striche. Sie bilden zusammen ein Kreuz. Ein Kreuz, das das ganze Leben, den großen Weg unseres Lebens durchwebt. So sieht es zumindest aus. Ich weiß nicht, was Hundertwasser sich dabei gedacht hat. Ich glaube nicht, dass er bewusst ein christliches Symbol in seine Spirale eingesetzt hat (obwohl er seine künstlerische Arbeit als religiöse Arbeit bezeichnet). Doch für uns ist ein Kreuz bedeutend. Es heißt: Jesus durchzieht mit seinem Leben und Sterben all unsere Lebenswege. Er kreuzt unsere Wege. An manchen Punkten ist uns das klarer, zu anderen Zeiten im Leben wohl überhaupt nicht. Aber egal, ob wir ihn wahrnehmen oder nicht: Jesus ist da – als Herr der Welt und als Herr unseres Lebens. Auf 110 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630471 — ISBN E-Book: 9783647630472

unseren Wegen, die er uns führt, bringt Jesus uns zum Vater. Denn niemand kommt zum Vater ohne ihn, sagt Jesus im Johannesevangelium. Alle Lebenswege auf Erden haben nur ein Ziel: bei Gott anzukommen. Alle Wege, so verworren oder klar sie auch sein mögen, seien sie kurz oder lang, ob sie im jungen Alter enden oder erst nach einem langen Lebensweg – alle Wege enden bei Gott in einer jenseitigen Welt. Passend dazu nennt Hundertwasser eine andere, ganz ähnlich aussehende Spirale, die er 1958 malt, „Sehnsucht nach dem Jenseits“. Deshalb lasst uns voller Sehnsucht und Hoffnung bitten: „Jesu, geh voran! Und wir wollen nicht verweilen, dir getreulich nachzueilen, führ’ uns an der Hand bis ins Vaterland“ (EG 391). Amen.

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12 Gegen das Erschrecken den Glauben Kathrin Oxen

„Die Zeit ist ein Fluss ohne Ufer“ von Marc Chagall (1930–1939)

© VG Bild-Kunst, Bonn 2012; dieses Bild steht auf www.v-r.de zum Download bereit; loggen Sie sich ein (s. S. 3); als Kunst­ postkarte zu beziehen: Gottesdienstinstitut Nürnberg, www.gottesdienstinstitut.org

Liebe Gemeinde

„Die Zeit ist ein Fluss ohne Ufer“  – so heißt dieses Bild von Marc Chagall. Auf den ersten Blick sind zu erkennen: eine Uhr. Ein Fisch. Eine Geige. Erkennbare Dinge. Wieder­ erkennbare Dinge. Und doch so dargestellt, dass sie uns verwirren. Statt gerade an der Wand zu hängen, schwebt die Uhr schräg in der Luft, das Pendel weit nach links. Das, was eine 113 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630471 — ISBN E-Book: 9783647630472

Uhr ausmacht, fehlt ihr. Keine Zeiger. Keine Sekunden, Minuten, Stunden. Statt im Wasser zu schwimmen, fliegt der Fisch in der Luft, hat Flügel wie aus Feuer, hat die Elemente getauscht, ist Wasser, Feuer, Luft zugleich. Statt sicher gehalten in der einen, statt des Bogens, geführt von der anderen Hand, schwebt auch die Geige leicht in der Luft, gespielt nur vom kleinen Finger. Erkennbare Dinge. Wiedererkennbare Dinge? Gab es das im vergangenen Jahr? Gab es die Uhr ohne Zeiger, Momente, vielleicht sogar Tage, die den Lauf der Zeit vergessen ließen? Augenblicke, die ausgenommen waren vom Blick auf die Uhr, den Kalender? In jedem Jahr vergesse ich zwischen Weihnachten und Silvester, welches Datum und welchen Wochentag wir gerade haben. Nach der Anspannung vor Weihnachten genieße ich es, mich diese wenigen Tage treiben zu lassen im Fluss der Zeit, ohne Wecker, ohne Uhr, ohne Kalender. Solche Augenblicke hatte das vergangene Jahr. Und es wird sie geben im neuen Jahr, neben allen Terminen und Verpflichtungen. Ein Wochenende im Frühling vielleicht, das erste Mal draußen sitzen bis in den Abend hinein. Der Urlaub im Sommer. Auch die beiden Tage im Spätherbst mit Grippe zu Hause. Die Uhr ohne Zeiger. Sie zählt die Stunden, die bleiben im Fluss der Zeit. Der Fisch aus Feuer, Wasser und Luft. Gab es das im vergangenen Jahr? Die überraschenden Momente, das Neue, das Wagnis, die Herausforderung? Der Fisch, der plötzlich Flügel bekommen hat? Ein Neuanfang, privat, beruflich, das ist schön, aber auch erst einmal ungewohnt. Das vertraute Element, die alten Bahnen verlassen. Flügel bekommen und die Flossen einfach vergessen. Der Fisch mit Flügeln. Er erhebt 114 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630471 — ISBN E-Book: 9783647630472

sich über das, was immer gleich weitergeht wie bisher. Das neue Jahr ist ein neues Jahr. Vergiss, wohin du gehörst. Verlass dein Element. Suche die Gegensätze, die Herausforderungen. Tu, was man als Fisch nicht tut, und das, wovon du glaubtest, du könntest es gar nicht. Die Geige, vom kleinen Finger gespielt. Ein Instrument, beherrscht mit Leichtigkeit, nicht durch eiserne Disziplin und fleißiges Üben. Gab es das im vergangenen Jahr? Wo lief es wie von selbst, ohne Anstrengung, nur mit dem Antippen des kleinen Fingers? Keine endlosen nervtötenden Tonleitern, auf und ab, auf und ab, sondern eine kleine fröhliche Melodie voller Leichtigkeit. Da ist etwas gelungen und ich habe gar nicht gemerkt, dass ich etwas dafür tun musste. Das wird es auch im neuen Jahr geben, nicht nur die verbissene Anstrengung, das mühsame Sich-Aufraffen, die Disziplin. Erkennbare Dinge. Wiedererkennbare Dinge, überraschend anders. Die Uhr ohne Zeiger, der Fisch mit Flügeln, die Geige, gespielt mit dem kleinen Finger. Sie erheben sich über den Fluss der Zeit, über sein ruhiges Strömen, über das, was immer schon da war und immer da sein wird. Die wiedererkennbaren Dinge schweben vor dem Hintergrund des Vertrauten, des immer Gleichen. Der Fluss, die Stadt, die beiden Menschen. Die Zeit, in der wir leben, der Ort, an dem wir sie ver­ bringen, die Menschen, mit denen wir sie teilen. Das fließt so ruhig dahin, dass wir es kaum mehr wahrnehmen. Auch das letzte Jahr ist vergangen, wie jedes Jahr vergeht, wie auch das neue Jahr vergehen wird. Die Uhr ohne Zeiger, den Fisch mit Flügeln, die Geige, vom kleinen Finger gespielt. Wo ich das entdecke, wird das vergangene Jahr wiedererkennbar sein in meiner Erinnerung. 115 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630471 — ISBN E-Book: 9783647630472

„Die Zeit ist ein Fluss ohne Ufer“, so hat Marc Chagall sein Bild genannt. Die Zeit fließt, nicht immer erheben sich die wiedererkennbaren und wunderbaren Dinge über sie. Sie trägt uns ruhig und verlässlich. Darin liegt etwas Tröstendes. Es geht weiter, das Leben. Du musst nicht festmachen am Ufer der Traurigkeit, du bleibst nicht liegen in dem Hafenbecken mit den himmelhohen Wänden. Du nimmst immer wieder Fahrt auf, schaukelnd auf dem Fluss und doch ge­tragen. Jeder, jede von uns ist so ein kleines Boot, wie es Chagall mit hineingemalt hat in sein Bild. In manchem Jahr geschieht nichts, was sich über den Fluss der Zeit erhebt. Aber es geht weiter, das Leben. Das ist seine manchmal sehr bittere Wahrheit und gleichzeitig seine Verheißung. Die Zeit ist ein Fluss ohne Ufer. Es geht weiter. Auch, wenn Zeiten, Orte, Menschen am Ufer zurückbleiben. Der Abschied gehört zu jedem Jahr. Wir lassen etwas hinter uns und beginnen etwas Neues. Ob wir wollen oder nicht, es geht weiter. Das neue Jahr wird uns zu neuen Ufern führen. Ein Abschied und ein Anfang. Altes, Vertrautes und Neues, noch Unbekanntes. Das Leben geht weiter. Das Leben geht weiter. Wann sagen wir das? Doch bei jedem Schmerz, beim Abschied, in der Trauer. Dort, wo die Vergangenheit die Gegenwart bestimmt und nicht die Zukunft. Wo nichts tröstet, wo Zeit einfach vergehen muss. Die Biegung des Flusses, die neue Richtung, sie wird erst im Blick zurück zu erkennen sein. Das Leben geht weiter. Das mussten sich Menschen zu allen Zeiten, an allen Orten sagen lassen. Im Abschied und in der Trauer, dort wo die Richtung nicht zu erkennen ist und man sich vorkommt wie ein Papierschiffchen, haltlos und nahe daran zu sinken. 116 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630471 — ISBN E-Book: 9783647630472

„Euer Herz erschrecke nicht! Glaubt an Gott und glaubt an mich!“ (Johannes 14,1) In einen solchen Abschied hinein, bei seinem Abschied von seinen Jüngerinnen und Jüngern sagt Jesus Christus diese Worte. Es geht weiter, auch wenn ich nicht mehr da bin, sagt Jesus. Worte, die die Jüngerinnen und Jünger wohl erst recht erschrecken lassen. Das ist es ja gerade. Es geht weiter, aber er ist dann nicht mehr da. Diese Ankündigung ist ja noch viel schlimmer, als ein plötzlicher Abschied es wäre. Sie beschleunigt den Herzschlag erst recht und schon jetzt, noch vor dem Abschied. Die Zeit möchte man anhalten in einem solchen Moment, das Unglück aufhalten, den Schmerz abhalten – und kann es doch nicht. Das Leben geht weiter, du kannst es nicht anhalten. Dieser Fluss hat kein Ufer, du kannst hier nicht anlegen. Gegen das Erschrecken hat Jesus nichts anzubieten als den Glauben. Und das ist doch manchmal auch so ein Papierschiffchen, taumelnd, kurz vorm Sinken. Eine Zumutung. Wer erschrocken ist, braucht doch Zuflucht, braucht Sicherheit. Der braucht doch ein rettendes Ufer, kein Schiffchen namens Glauben. Gegen das Erschrecken den Glauben. Mehr nicht und nicht weniger. Ein Schiffchen, tänzelnd auf dem Fluss der Zeit, der kein Ufer hat. Gegen das Erschrecken den Glauben, der die erkennbaren Dinge neu macht und wunderbar. Die Zeit fasst ihn nicht. Er nimmt uns heraus aus unserem Element und lässt uns vergessen, was wir alles nicht können und was es alles nicht gibt. Er spielt uns vor, was wir nicht üben können. Er ist über allen Zeiten, allen Orten und Menschen. Gegen das Er­ schrecken den Glauben. Diese Predigt wurde in einem Silvester-Gottesdienst gehalten.

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13 Engel der Auferstehung Sören Suchomsky

„Flug zum Himmel“ von Hieronymus Bosch (um 1500)

Hieronymus Bosch (1450–1516), „Der Aufstieg in das himmlische Paradies“. Öl auf Holz. Eine von vier Tafeln mit Jenseitsdarstellungen, zu besichtigen im Dogenpalast Venedig. Dieses Bild steht auf www.v-r.de zum Download bereit; loggen Sie sich ein (s. S. 3)

Liebe Gemeinde

Wenn Sie morgens schon mal sehr früh auf waren, dann haben Sie vielleicht diesen besonderen Zauber gespürt, den die Zeit kurz vor dem Aufgang der Sonne hat. Es ist noch dunkel. 119 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630471 — ISBN E-Book: 9783647630472

Aber der neue Tag sendet schon seine ersten Vorboten voraus. Der Morgenstern beginnt zu leuchten. Er kündet an, dass die Zeit der Finsternis ein Ende haben wird. Und dann – noch bevor die Sonne zu sehen ist – wird es vom Horizont her heller, ganz sacht, kaum merklich. Und wir freuen uns, dass ein neuer Tag beginnt. Dieser Augenblick ist ein Bild für den Advent. Auch der Advent ist eine Zeit, in der sich etwas ankündigt, das noch nicht da ist, das aber schon seine Vorboten ausschickt. „Die Nacht ist vorgedrungen, der Tag ist nicht mehr fern. So sei nun Lob gesungen, dem hellen Morgenstern.“ So heißt es in einem bekannten Adventslied von Jochen Klepper. Der Advent ist eine Zeit froher Erwartung. Aber auch eine Zeit des Wartens. Im Advent warten wir auf das Kommen Gottes. Die Dunkelheit ist noch da. Aber die Geburt Christi strahlt in diese Dunkelheit wie der Morgenstern in die Nacht. Denn Jesus Christus heißt, dass Gott Mensch geworden ist. Dass Gott nah ist. Dass Gott freundlich ist. Wenn wir diesen Morgenstern nicht beachten, ist es noch genauso finster wie zuvor, wenn wir aber seine Bedeutung erkennen, dann leben wir inmitten der Finsternis schon in der Vorfreude, auf das was kommen wird. Durch die Geburt des Erlösers kam das Licht der Liebe Gottes in unsre Welt. „Und das Licht scheint in der Finsternis, und die Finsternis hat’s nicht ergriffen“ (Johannes 1,5). In den vergangenen Tagen ist uns dieses Licht ganz konkret begegnet. An verschiedenen Orten unseres Ortes waren Lichtgestalten auf Häuserwände projiziert. Engelbilder aus der Kunstgeschichte leuchteten z. B. auf den Wänden der Kirche und der Volksbank in den dunklen Stunden des Tages entgegen. Auch Engel sind Wesen des Lichts. Sie sind Zei120 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630471 — ISBN E-Book: 9783647630472

chen der Anwesenheit Gottes. Lichtgestalten in den dunklen Stunden der Adventszeit. Diese Lichtgestalten begleiten uns durch den ganzen Advent. Es geht um Engel: um den Engel des Trostes, den Engel der Hoffnung, den Engel der Verkündigung, und heute: um die Engel der Auferstehung. Hieronymus Bosch hat das Motiv „Flug zum Himmel“ um das Jahr 1500 gemalt. Es ist eine von vier zusammen­ hängenden Tafeln mit Jenseitsdarstellungen. Auch dieses Bild ist in gewisser Weise ein adventliches Bild. Eine Vision des kommenden Tages. Dargestellt sind mehrere Menschen. Vor einem tiefschwar­ zen Hintergrund erheben sie sich in den Himmel. Sie sind nackt. Der schwarze Hintergrund könnte ein Sinnbild des Todes sein. Geleitet werden sie jeweils von einem oder zwei Engeln. Auch wenn das Bild „Flug zum Himmel“ heißt: Diese Menschen fliegen nicht. Sie scheinen vielmehr zu schweben: mühelos emporgehoben, als hätten sie kein Gewicht. Der Flug zum Himmel kostet keinerlei Anstrengung. Wenn diese Reise auch mühelos ist, willenlos ist sie keineswegs. Alles an diesen Menschen ist ausgerichtet auf das Ziel ihrer Reise, das sie fröhlich erwarten. Da ist keinerlei Zwang. Die Engel, die sie begleiten, führen sie, ohne sie zu berühren. Es ist, als würden sie durch die Gesten ihrer Arme lediglich die Richtung sanft korrigieren. Das Ziel der Reise selbst ist nicht mehr auf dem Bild dar­ gestellt. Man gelangt dorthin durch einen Tunnel aus Licht. Er öffnet sich auf der oberen Bildhälfte wie ein Tor zu einer anderen Welt. Was dahinter ist, was denen geschieht, die hindurch kommen, das sieht man nicht mehr. Es wird vom Licht verschluckt. Das Geheimnis des Himmels bleibt geschützt. Es entzieht sich dem Zugriff menschlicher Wissbegier. 121 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630471 — ISBN E-Book: 9783647630472

Das ist anders als auf anderen Werken des Malers, die Himmel und Hölle sehr konkret darstellen. Dass diese Konkretheit hier fehlt, kommt uns modernen Menschen sehr entgegen. Wir sind sehr vorsichtig geworden mit konkreten Darstellungen des Himmels oder gar der Hölle. Auf der einen Seite tun wir gut daran. Auf der anderen Seite ist gegen solche Bilder nichts einzuwenden. Man muss sich bewusst bleiben, dass es sich nur um einen Versuch handelt, sich vor­ zustellen, was alle unsere Vorstellung weit überragen muss. Der Glaube braucht Vorstellungen und Bilder vom ewigen Leben und der Auferstehung. Eine solche Vorstellung ist ja auch schon das Wort „Himmel“. Wenn wir sagen, dass Menschen nach dem Tod in den Himmel kommen, dann können wir nicht meinen, dass sie zu den Wolken auffahren. Vielmehr ist der „Himmel“ etwas, was wir in der Welt, in der wir leben, nicht genau verorten können. Wir benutzen das Wort „Himmel“, um auf etwas anderes hinzuweisen, das größer ist als alles, was wir sehen, wenn wir am Tag unseren Blick heben und nach oben schauen. Der Himmel, der bei Gott ist, ist etwas anderes als der Himmel, der über unseren Köpfen ist. Und doch hat er damit einiges gemeinsam: Er ist leuchtend hell, ohne jeg­liches Dunkel. Und vor allem grenzenlos. Wenn wir im „Himmel“ sein werden, sind wir frei von irdischen Sorgen und Nöten, leicht und unbeschwert. Der Glaube braucht solche Bilder vom ewigen Leben, sonst wüssten wir nicht, worauf wir hoffen sollen. Deshalb kann auch das Bild von Hieronymus Bosch eine Hilfe für un­seren Glauben sein. Denn auch wenn der „Himmel“ hier nicht real dargestellt ist, so sagt dieses Bild doch sehr viel darüber aus. Der „Himmel“ ist auf vielfältige Weise auf diesem Bild anwesend. Er ist da in den Armen, die sich nach oben öffnen, 122 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630471 — ISBN E-Book: 9783647630472

als würden sie Gutes empfangen. Er ist da in den aufwärts gewandten Blicken, die etwas sehen, von dem sie nicht mehr lassen wollen. Er ist da in der Leichtigkeit der Körper, die sich langsam schwebend nach oben erheben. Er ist da in den Gestalten der Engel, die wie Boten zwischen beiden Welten wandeln. Himmlische Begleiter, die uns behüten auf allen unsren Wegen, wie es in einem bekannten Psalm heißt. Also auch auf diesem letzten Weg. Der „Himmel“ ist da in dem Licht, das sich von oben her über das ganze Bild ergießt und die irdische Finsternis aufhellt. All das sind Hinweise darauf, was „Himmel“ für uns Menschen sein kann. Hinweise, die dennoch die Heiligkeit der Sache achten, auf die sie hinweisen. Das gilt auch für ein letztes Detail des Bildes. In der Mitte des Bildes sieht man eine Dreiergruppe: Ein Mensch geleitet von zwei geflügelten Himmelswesen. Der Mensch blickt erwartungsvoll nach oben. Er hat seine Hände gefaltet zum Gebet. Von einem der beiden Engel wird er gestützt. Der andere schaut ihn liebevoll an. Dieser Blick ist die einzige Bewegung auf dem Bild, die nicht nach oben geht! So stellt er eine Art Gegengewicht dar. Wo alles nach oben strebt, bewahrt er den Menschen davor, beim Aufstieg in das himmlische Paradies zu etwas Flüchtigem zu werden, in seiner konkreten Gestalt verloren zu gehen. Ein Blick, der erkennt und dadurch Halt gibt. Was für eine Vorstellung: Auf der letzten Reise, die uns allen bevorsteht, wird es jemanden geben, der seinen Blick nicht von mir wendet! Der mich mit liebevollen Augen ansieht. Augen, die um mich wissen. Die mich verstehen. „Wir sehen jetzt durch einen Spiegel ein dunkles Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht“, sagt Paulus. „Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber werde ich erkennen, wie ich erkannt bin.“ (1 Korinther 13,12) 123 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630471 — ISBN E-Book: 9783647630472

Gott selbst ist auf diesem Bild von Hieronymus Bosch nicht dargestellt. Wenn man aber bedenkt, dass Engel Gott repräsentieren, dann steht dieses Bild für die Vorstellung eines Gottes, der liebevoll auf den Menschen schaut. Und zugleich findet sich hier die Vorstellung vom Menschen, der anbetend vor Gott kommt – und sonst einfach Mensch ist: in all seiner Nacktheit und Verwundbarkeit. Wie sollte man auch nicht Mensch sein wollen, wenn Gott selbst sich nicht zu schade ist, uns zuliebe in der Gestalt eines nackten und bedürftigen Kindes zu erscheinen? So ist hier in der Mitte des Bildes die zentrale Botschaft über den „Flug zum Himmel“ dargestellt: Unsere letzte Reise geht zu Gott, dem eigentlichen Ziel menschlicher Sehnsucht. Es ist nicht einfach die Erwartung eines „Weiterlebens nach dem Tod“ oder eines „Schlaraffenlandes“, die den Himmel zu einem Ort der Freude macht, sondern die Gegenwart Gottes, der den Menschen liebt. So wie er uns liebt in der Gestalt Jesu Christi, in dem er selbst Mensch geworden ist. Diese Predigt war Teil  eines vierteiligen Predigtzyklus zum Thema „Engel“ und bezieht sich auf die Aktion „Engel am Weg“: In der Zeit vor dem 1. Advent wurden an verschiedenen Orten Engelmotive aus der Kunstgeschichte in den Morgenund Abendstunden großflächig auf Häuserwände projiziert, um die Aufmerksamkeit von Passanten und Passantinnen auf diese himmlischen Lichtgestalten zu lenken. Dabei war auch Hieronymus Boschs „Flug zum Himmel“ zu sehen, das auch bekannt ist als „Der Aufstieg ins himmlische Paradies“.

124 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630471 — ISBN E-Book: 9783647630472

Verzeichnis der Mitarbeiter/innen Kirsten Elisabeth Christensen, geb. 1963, Pfarrerin in Tøndern / DK Gregor Etzelmüller, PD Dr. theol., geb. 1971, Assistent an der Theologischen Fakultät der Universität Heidelberg Regine Klusmann, geb. 1964, Pfarrerin, Dekanin des Kirchenbezirks Überlingen-Stockach Monika Lehmann-Etzelmüller, geb. 1969, Pfarrerin in Hemsbach Birgit Niehaus, geb. 1965, Pfarrerin in Mainaschaff Peter Noss, Dr. theol., geb. 1963, Lehrbeauftragter an der Evangelischen Fachhochschule R-W-L Bochum Kathrin Oxen, geb. 1972, Pfarrerin, Leiterin des EKD-Zen­ trums für evangelische Predigtkultur in Wittenberg Martina Reister-Ulrichs, geb. 1968, Pfarrerin in Heidelberg Jan Rohls, Prof. Dr. theol., geb. 1949, Professor für Systematische Theologie an der Universität München Christian Stäblein, Dr. theol., geb. 1967, Konventual-Studiendirektor am Predigerseminar Loccum Sören Suchomsky, geb. 1977, Pfarrer in Karlsruhe 125 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630471 — ISBN E-Book: 9783647630472

Hans-Georg Ulrichs, Dr. phil., geb. 1966, Pfarrer der Universitäts- und der Studierendengemeinde Heidelberg Karl Friedrich Ulrichs, Dr. phil., geb. 1966, Pfarrer, Dozent am Evangelischen Predigerseminar Wittenberg

126 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630471 — ISBN E-Book: 9783647630472