BILD/GESCHICHTE: Festschrift für Horst Bredekamp 9783050061146, 9783050042619

Der Titel BILD/GESCHICHTE lässt eine Vielzahl von Verbindungen assoziieren – von der Geschichtlichkeit der Bilder bis zu

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German Pages 603 [604] Year 2007

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BILD/GESCHICHTE: Festschrift für Horst Bredekamp
 9783050061146, 9783050042619

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BILD/GESCHICHTE Festschrift für Horst Bredekamp

BILD/GESCHICHTE Festschrift für Horst Bredekamp Herausgegeben von Philine Helas, Maren Polte, Claudia Rückert und Bettina Uppenkamp

Akademie Verlag

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung BURDA AKADEMIE Z U M DRITTEN JAHRTAUSEND

SC HERING BERLIN

Fritz Thyssen Stiftung

1

ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius

Einbandgestaltung unter Verwendung einer Abbildung aus Christoph Scheiner: Rosa Ursina sive Sol ex admirando facularum et macularum suarum phenomeno varius ..., Bracciano 1626-1630 Vor- und Nachsatz: Eva-Maria Schön, Labor, Installation im neuen Berliner Kunstverein, 1999

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-05-004261-9 © Akademie Verlag G m b H , Berlin 2007 Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach D I N / I S O 9706. Alle Rechte, insbesondere die der Ubersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Layout und Satz: Petra Florath, Berlin Druck und Bindung: Druckerei zu Altenburg Printed in the Federal Republic of Germany

Inhalt

XI Vorwort

Disziplinäre Perspektiven 3 Susanne von Falkenhausen Verzwickte Verwandtschaftsverhältnisse: Kunstgeschichte, Visual Culture, Bildwissenschaft 15 Karl Clausberg Im Eldorado der ,wahren' Bilder? Naturwissenschaften machen Kunstgeschichte 23 Jürgen Mittelstraß Phönix und Eule. Anmerkungen zur kognitiven Struktur wissenschaftlicher Disziplinen 31 Otto Karl Werckmeister Von Marx zu Warburg in der Kunstgeschichte der Bundesrepublik 39 Werner Busch The Englishness of the Museum.

Britamüciim

Vernetztes Wissen 57 Hartmut Böhme Koralle und Pfau, Schrift und Bild im Wiener

Dioskurides

73 Sybille Krämer Karten - Kartenlesen - Kartographie. Kulturtechnisch inspirierte Überlegungen 83 Barbara Maria Stafford Mens-Incognita. Landfalls on an Invisible Interior

87

Monika Wagner Besuch aus dem All. Der Stein vom Mond und die Magie der Berührung

101

Jochen Brüning Sammlung und Synthese

109

Friedrich Kittler Museen an der digitalen Grenze

119

Dorothee Haffner „Die Kunstgeschichte ist ein technisches Fach". Bilder an der Wand, auf dem Schirm und im Netz

Bild und Erkenntnis 133

Wolfram Hogrebe Der doppelte Tod. Eine Miszelle

139

Horst Wenzel Der Schuß ins Auge. Zum Imaginationstheater mittelalterlicher Bilderhandschriften

155

Charlotte Schoell-Glass Superlative der Gebärdensprache: Kindermord

171

Andreas Beyer Hermetischer Kosmos. Aby Warburg und Roberto Longhi in Ferrara

183

Ulrich Raulff Das Lächeln am Fuße der Seite. Noten zu einer Gelehrtenfreundschaft: Ernst Kantorowicz und Erwin Panofsky

195

Gottfried Boehm Gombrichs Konzept des Bildes. Offene Fragen und mögliche Antworten

205

Hans Belting Himmelsschau und Teleskop. Der Blick hinter den Horizont

219

Herbert Moiderings Eine andere Erziehung der Sinne. Marcel Duchamps New Yorker Atelier als Wahrnehmungslabor

235

Thomas Macho Hitchcocks Bildmagie

245

Stephan von Huene Der Mann von Jüterbog

Transformationen 253

Berthold Hinz Orestes im Mittelalter. Motive mythologischer Sarkophage in romanischer Skulptur

263

Henning Wrede Wissensmehrung und Stilwandel: die antiken Wurzeln des Barock

275

Elisabeth Kieven Die Verwandlung der Stadt. Römische Festarchitekturen des 18. Jahrhunderts

287

Matthias W i n n e r Poussins Flora und die Flora des Praxiteles

299

Werner Röcke „Johannes ißt vom Kopf, Petrus vom O h r des Kalbs". Transgressionen des Heiligen und Profanen in der Cena Cypriani (5. Jahrhundert)

309

Jürgen Müller Italienverehrung als Italienverachtung. Hans Sebald Behams Jungbrunnen

319

von 1536 und die italienische Kunst der Renaissance

Roberto Zapperi Sancho Pansas dreitausenddreihundert Geißelhiebe

327

Herbert Beck Schöpferische Zerstörung

343

J ö r g Friedrich Die Melancholie der Rigatoni in der Amatriciana oder: Römische K o c h kunst als Ideenlieferant für ein Architekturprojekt. E n t w u r f für das neue M u s e u m für Audiovisuelle Kunst im Palazzo

della Civiltà

Italiana

in R o m , 2 0 0 2

Bild-Politik 353

Peter Seiler Die Idolatrieanklage im Prozeß gegen Bonifaz V I I I .

375

Ingeborg Walter Freiheit für Florenz. Donatellos Judith sopra Minerva in Rom

383

Marilyn Aronberg Lavin Piero and the Music of the Fall

und ein Grabmal in Santa Maria

397

Frank Fehrenbach Much ado about nothing. Leonardo's Fight for the Standard

413

Adam Labuda Kleidung als Bedeutungsträger. Zur Zehn-Gebote-Tafel Marienkirche in Danzig

aus der

431

Ulrich Reinisch Der ,Contrat social' und die Ordnung der Straße

447

Thomas W. Gaehtgens Pajous Skulptur des Pascal. Zur Einheit von Naturwissenschaft und Glaube in d'Angivillers Skulpturenauftrag der Hommes illustres

461

Michael Diers Ein Scherbengericht. Zur politischen Ikonographie von Heinrich von Kleists Lustspiel Der zerbrochne Krug

481

Monika Flacke Geschichtsausstellungen. Zum ,Elend der Illustration'

491

Irvin Lavin „We must leave the city to our children exactly as we found it"

499

Dieter Grimm Uber einige Schwierigkeiten des Verfassungsrechts mit der Kunst

Selbstbilder in Kunst und Wissenschaft 513

Gerhard Wolf Der Lällekönig. Einsteins Arbeit an seiner Ikone

525

Peter Cornelius Claussen Ein Künstler absolut im Abseits: Christoph Gottfried Ringe. Maler Erfinder - Selbstdenker

537

Frank Zöllner Ökonomie und Askese: Vincent van Gogh als „célibataire français"

549

Hubert Burda Wer sieht sich wie und möchte welches Bild von sich? Uber die Selbstinszenierung in Bildnissen von Jan van Eyck bis Andy Warhol

563

Ruth Tesmar Entsprechungen, 2006

569

Petra Kipphoff Der Rehmstackerdeich oder Bau und Nebenbau

574

Stephan von Huene Pasadena Eva-Maria Schön 10 Schriftbilder, aus der Serie 2000-2006 (zwischen den Beiträgen)

Anhang 579

Namensregister

Vorwort

Wer je einen Vortrag von Horst Bredekamp gehört, eine Vorlesung besucht, an einem Seminar teilgenommen hat, weiß das eine: Am Anfang ist das Bild, die künstlerische Form, und Kunstgeschichte ist nichts als ein ständiges Ringen um Worte, um dem geschichtlichen Leben der Bilder wissenschaftlich beizukommen. Wenn das vorliegende Buch den Titel B I L D / G E S C H I C H T E trägt, so weil diese beiden Begriffe in der Vielzahl von Verbindungen, die sie assoziieren lassen - von der Geschichtlichkeit der Bilder bis zur Rolle der Bilder als ,Akteure' in der Geschichte - die Pole bezeichnen, um die Horst Bredekamps Forschungen kreisen. Eine Entkoppelung von Bild und Geschichte verhindert prinzipiell ein kritisches Verständnis von Bildern. Genau darin liegt die Problematik einer Bildwissenschaft, wie sie als interdisziplinäres Forschungsfeld seit gut zehn Jahren von Natur- wie Geisteswissenschaften postuliert und praktiziert wird. Diese vermeintlich neue Disziplin ist, wie Bredekamp zu betonen nicht müde wird, keineswegs eine Errungenschaft der jüngeren Zeit, sondern war immer schon ein genuiner Teil der Kunstgeschichte. Bildwissenschaft hat nur Bestand, wenn sie auch Bildgeschichte ist, und es ist die Kunstgeschichte, die dafür das methodische Rüstzeug entwickelt hat und es stets aktualisiert. Zum einen resultiert dies aus ihrer unmittelbaren Abhängigkeit von Reproduktionen der Kunstwerke. Entsprechend erfordert kunsthistorisches Arbeiten eine Differenzierung zwischen Abbild und Bild, was eine Reflexion über deren Status wie Beziehung impliziert. Zum anderen gehört es zu den Selbstverständlichkeiten einer historisch-kritischen Kunstgeschichte, auch scheinbar nur dekorative und operative Artefakte gleichwertig zu Werken der sogenannten hohen Kunst zu behandeln. Für die Analyse komplexer visueller Gebilde hat das Fach Methoden der Beschreibung und Interpretation ausgebildet, während andere Disziplinen sich gerne der suggestiven Kraft des Bildes bedienen. So sehr sich Horst Bredekamp gegen eine solche Art der Inanspruchnahme von Bildern durch andere Fächer wendet, so sehr ist ihm selbst daran gelegen,

XI

Vorwort

die klassischen Grenzen der Kunstgeschichte auszudehnen. Unorthodox und frei denkend bewegt er sich in unterschiedlichsten Themenfeldern. Zeitlich reicht der Horizont seiner Arbeiten von der Antike bis zum aktuellen Kunstgeschehen. Sie umfassen die Sozial- und Konfliktgeschichte von Bildern ebenso wie psychologische und mentalitätsgeschichtliche Aspekte mit einer besonderen Sensibilität für die Magie und Macht der Bilder. Dazu gehört auch die Frage nach der Deutung und Umgestaltung der Welt durch das Individuum, ob als Künstler, Auftraggeber oder Forscher, die Thematisierung des kreativen Aktes und die Analyse, wenn nicht Zelebration künstlerischer Souveränität. Die Verschränkungen von Kunst und Natur sowie die Sammlungsgeschichte wären als weitere Schwerpunkte zu nennen. Eine konsequente Weiterfährung des dabei entwickelten Konzeptes eines bildlichen Denkens sind die als Trilogie angelegten Arbeiten über Thomas Hobbes, Gottfried Wilhelm Leibniz und Galileo Galilei, sowie die Thesen zu Charles Darwins ,Korallen'. In diesen Büchern analysiert Bredekamp die komplexe Rolle von Bildern in Prozessen der Ideenfindung, Hypothesen- und Theoriebildung unter einer wissenschaftshistorischen Perspektive. Das leidenschaftliche Engagement für die Kunstgeschichte schließt auch die intensive Auseinandersetzung mit der Geschichte und den Methoden des Faches, vor allem mit Aby Warburg, ein. Bredekamp spricht der Kunstgeschichte eine aktuelle Bedeutung nicht nur darin zu, daß er die Brisanz ihrer Gegenstände betont, sondern auch, indem er sie als unverzichtbar für bildlastige wie bildgläubige Gesellschaften herausstellt. Durch Horst Bredekamps Arbeiten zu den unterschiedlichsten Forschungsgebieten ziehen sich zwei rote Fäden, die er nie aus den Augen verliert. Zum einen ist dies die Formensprache der Werke selbst, die er vor allem in der Gattung der Skulptur mit höchster Präzision zu fassen sucht, sei es in der spanischen Romanik, bei Donatello und Cellini oder angesichts der Monster von Bomarzo. Dabei beschränkt er sich nicht auf die reine Beschreibung der Form, sondern ihm geht es stets um deren Sprengkraft und komplexe Aussagefähigkeit als Reflex künstlerischer Kreativität wie um die Einspiegelung politischer, sozialer und ideengeschichtlicher Momente, vom Florenz der Medici über das Rom der Päpste bis hin zu den aktuellen Schauplätzen kriegerischer Auseinandersetzung. Zum anderen ist dies die fundamentale Bedeutung des Denkens in und durch Bilder, das auch in Texten wirksam wird. Untrennbar verbunden mit seiner Forschertätigkeit ist Bredekamps intensiver und beharrlicher wissenschaftspolitischer wie organisatorischer Einsatz für die Kunstgeschichte und die Geisteswissenschaften im allgemeinen. Das vorliegende Buch, das einen großen Kreis von Kolleginnen und Kollegen, Freundinnen und Freunden aus unterschiedlichen Disziplinen vereint, würdigt die skizzierte Weite und Vielfältigkeit des wissenschaftlichen Engagements von

XII

Vorwort

Horst Bredekamp. Die materia prima der Kunstgeschichte, die Kunstwerke selbst, dürfen dabei nicht fehlen. So basiert nicht nur das Vor- und NachsatzPapier auf einer Arbeit von Eva Maria Schön, ihr verdankt der Band auch die Bildlegenden, die zwischen den Beiträgen erscheinen und Bilder im Kopf entstehen lassen. Stephan von Huene ist mit einer Fotodokumentation des ,Eintänzers' Der Mann von Jüterbog und einigen frühen Zeichnungen vertreten, die uns freundlicherweise Petra Kipphoff aus dem Nachlaß zur Verfügung gestellt hat. Ruth Tesmar gestaltete für Horst Bredekamp eine Grafikfolge, von der hier ein Auszug zu sehen ist; der Beitrag von Jörg Friedrich ist zwischen Bild und Schrift, Kunst und Kulinarischem angesiedelt. Die Gliederung des Bandes folgt weder einem chronologischen noch geographischen Ordnungsprinzip. Vielmehr wurden Sektionen gebildet, welche zentrale Forschungsbereiche von Horst Bredekamp repräsentieren und die Vernetzung seiner Interessen in der aktuellen Forschungslandschaft dokumentieren. Mit der Geschichte und Bedeutung der Kunstgeschichte, ihrer Positionierung innerhalb der Geisteswissenschaften wie in der aktuellen Wissenschaftslandschaft beschäftigt sich der erste Teil dieses Bandes unter dem Titel Disziplinare Perspektiven. Im zweiten Kapitel Vemetztes Wissen geht es um die Medien der Wissenschaften von der Antike bis in die Gegenwart. Die Beiträge konfrontieren mit sehr unterschiedlichen ,Wissensträgern'. Zur Sprache kommen hier die Struktur von Wissensvermittlung sowie die Frage nach der Relevanz von Verbildlichungen im weitesten Sinne, von Illustrationen in mittelalterlichen Handschriften über Karten und Fotografien bis hin zu digitalen Bildern. Bild und Erkenntnis ist das dritte Kapitel überschrieben, das Beiträge zur Rolle von Bildern als Impuls, Medium und Produkt von Denkprozessen vereint. Es sind Analysen, die, verklammert mit einem ikonographischen Zugriff, die Wirksamkeit von spezifischen Bildprägungen und die produktive Funktion von Reproduktion untersuchen, aber auch Einblicke in die Geschichte der Geisteswissenschaften geben. Unter Transformationen sind Texte versammelt, die sich den Prozessen der Umformung, auch der ephemeren, und der Umdeutung widmen. Dies meint in erster Linie die Auseinandersetzung mit der Antike, die ebenso die künstlerische Orientierung an den als vorbildlich begriffenen Werken bedeuten kann wie deren Adaption und Uberführung in andere Bedeutungshorizonte. Dazu gehört die Ironisierung oder die kritische Auseinandersetzung mit den von ihr verkörperten Werten. Es geht aber ebenso um künstlerische Schöpferkraft, die in der Destruktion wirksam wird, die produktive Zerstörung, die Vernichtung oder Uberblendung eines Werkes. Deutlich wird in dieser Sektion auch, daß literarische und bildende Künste ihren unterschiedlichen Medien zum Trotz mit strukturell durchaus vergleichbaren Transformationsstrategien operieren.

XIII

Vorwort

Bild-Politik ist die umfangreichste Abteilung des Bandes überschrieben. Sie handelt von Architektur und Bildern, aber auch von Literatur und Musik im Wechselverhältnis mit sozialen und politischen Prozessen vom Mittelalter bis in die Gegenwart. Sie übergreift Phänomene wie die Idolatrie, die Politisierung und Instrumentalisierung von Kunstwerken ebenso wie die künstlerische Auseinandersetzung mit sozialen Realitäten. Einige Beiträge sind hochaktuellen Fragen gewidmet, etwa nach der gesetzlichen Verankerung der Freiheit der Kunst oder dem Umgang mit dem kulturellen Erbe. Mit den Selbstbildern in Kunst und Wissenschaft geht es abschließend um Künstler und Wissenschaftler, die auf ihr Selbstbild bzw. ihre Mitwirkung - sei es affirmativ oder subversiv - an der Konzeption ihrer öffentlichen ,Ikone' hin befragt werden. Einen Ausklang findet das Buch mit einer persönlichen Würdigung des Wirkens von Horst Bredekamp. W i r danken an erster Stelle den Autorinnen und Autoren und den Künstlerinnen und Künstlern, die den Band mit ihren Werken bereichert haben. Für die sportliche Note sorgen die Fotografien von Barbara Herrenkind. Zum Gelingen trugen im Hintergrand verschiedene Personen bei: Maren Schneider stand uns mit Rat zur Seite. Gerd Giesler und Katja Richter betreuten das Buch verlegerisch, Petra Florath gab ihm seine Gestalt. Bei der Redaktion half Julien Lehmann, Margrit Lorenz bei organisatorischen Angelegenheiten. Die finanzielle Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung, der ScheringAG, der Hubert Burda Stiftung und der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius ermöglichte das Erscheinen des Bandes in dieser Form. Ihnen allen sei herzlich gedankt! Philine Helas, Maren Polte, Claudia Rückert und Bettina Uppenkamp Rom, Brüssel, Berlin, Hamburg 2007

XIV

Disziplinäre Perspektiven

Susanne von Falkenhausen

Verzwickte Verwandtschaftsverhältnisse: Kunstgeschichte, Visual Culture, Bildwissenschaft

Verwandtschaft ist bekanntlich eine Struktur, die ihre prekäre Balance der Kräfte wie ihre zeitliche Dauer sowohl in der Definition und Performanz der Rollen ihrer Akteure als auch in den Beziehungen zwischen ihnen, durch Abgrenzung wie durch Gabentausch, sicherzustellen versucht. Diachrone Dynamiken der Generationen wie synchrone der Konkurrenz um Anerkennung und Macht sind hier in einander verflochten. Bezogen auf die drei,Verwandten' im Titel könnte das heißen: Die Kunstgeschichte ist nun, mit der Jahrtausendwende, in den Status einer ,Vater/Mutter'-Disziplin hineingewachsen: traditionsbewußt, in den Augen der ,Söhne/Töchter' Visual Culture Studies und Bildwissenschaft veraltet, engstirnig und nicht mehr auf dem letzten Stand. Ohne eines der Familienmitglieder bevorzugen zu wollen, möchte ich im folgenden kurz die Prozesse der Abgrenzung wie des Tausches, die im Namen des ,Bildes' und des ,Visuellen' als kleinsten gemeinsamen Nennern des Clans zu beobachten sind, nachvollziehen. U m die Felder des Bildes und der Visualität finden seit Jahren wissenschaftspolitische Auseinandersetzungen der Zuständigkeiten statt. In den Termini ,Bild' und ,Visualität' zeichnen sich bereits die Unterschiede in den Strukturen und Kulturen von Wissen, Wissenschaften, Erkenntnishorizonten und Institutionen zwischen dem deutschsprachigen und angloamerikanischen Wissenschaftsbetrieb ab. Beteiligt sind im deutschsprachigen Raum für die Bildwissenschaft neben der Kunstgeschichte unter anderen die Literaturwissenschaft, die Psychoanalyse, die Soziologie, die Anthropologie, die Geschichte, die Kognitionswissenschaften, die Kommunikationswissenschaft, die Linguistik, die Neurowissenschaft, die Philosophie, diverse Naturwissenschaften. Gerade die Kunstgeschichte scheint recht isoliert dazustehen, während sich um das ,Bild' Koalitionen zwischen bis dato eher ,bildfernen' Wissenschaften gebildet haben. 1 In den USA formiert sich der Wissenschaftsverbund zur Visual Culture 1

Vgl. z.B. den S a m m e l b a n d : B i o w i s s e n s c h a f t . Disziplinen, T h e m e n , M e t h o d e n , hrsg. v.

KJaus S a c h s - H o m b a c h , F r a n k f u r t a. M

2005.

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Susanne von Falkenhausen

hingegen bisher neben der Kunstgeschichte aus Studies in den kulturorientierten Humanities wie der Kulturanthropologie, der Film- und Medienwissenschaft oder der Literaturwissenschaft. Auch hier jedoch ist die Kunstgeschichte keineswegs im Zentrum der wissenschaftspolitischen Formation Visual Culture. Ihre relative Isolation hat in den USA dazu geführt, daß viele Kunstgeschichtlerlnnen sich heute eher als Visual Culture-Vertreterlnnen denn als Vertreterinnen ihrer Herkunftsdisziplin bezeichnen würden. Eine solche Strategie greift in Deutschland wohl deshalb nicht, weil es ein vergleichbar institutionalisiertes Feld (noch) nicht gibt, während die Universitäten in den USA seit zehn Jahren Studienprogramme zur Visual Culture etabliert haben, mit Beteiligten aus vielen Disziplinen.2 Die Annäherungen von Kunsthistorikerinnen, vor allem in den Vereinigten Staaten, an die Visual Culture Studies gehen zumeist mit einem Leiden an ihrer Herkunftsdisziplin einher.3 Zwar mußte sich die US-amerikanische Kunstgeschichte nicht aus den nationalistischen Implikationen europäischer Kunstgeschichtsschreibung lösen, aber sie scheint belastet zu sein mit Verdikten des Formalismus, des Asthetizismus (was oft genug als dasselbe erachtet wird), der Dominanz der weißen Oberschicht europäischer Provenienz. Die Rhetorik von Auseinandersetzungen verläuft gerne über - negative Zuschreibungen, die der jeweils eigenen Profilierung dienen können, zum einen, wenn die ,junge' Generation entweder noch nicht weiß, ,wer' sie ist oder sein könnte, oder wenn sie aus dem Korsett einer nicht mehr zeitgemäßen Bestimmung und Praxis heraus will, zum anderen, wenn ,Vater/Mutter' zur Rettung des Bestandes aufrufen. Für ersteres scheint die Kunstgeschichte als Negativfolie gute Dienste zu leisten: Der Bildwissenschaft ist ihr Gegenstandsbereich zu beschränkt, den Visual Culture Studies ist sie zu elitär, ästhetisch, unpolitisch, kolonial, national westlich hegemonial, bildungsbürgerlich und künstlergenialisch ausgerichtet - Einwände, die den Kunsthistorikerinnen meiner Generation nur zu vertraut sind und die seit den siebziger Jahren in der Bundesrepublik zu verwandtschaftlich-generationalen Auseinandersetzungen innerhalb der Kunstgeschichte geführt haben, mit dem Resultat, daß sich die kunsthistorische Praxis enorm verändert hat. 2 Vgl. Margaret Dikovitskaya: Visual Culture. T h e Study of the Visual after the Cultural Turn, Cambridge 2005, mit einer institutionellen Geschichte des Feldes und ausführlichen Interviews einiger seiner Protagonistinnen, darunter Michael Ann Holly, die zu Beginn der neunziger Jahre an der Rochester University das erste universitäre Studienprogramm mitgründete. 3 Vgl. z. B. Keith Moxey: T h e Social History of Art in the Age of Deconstruction, in: History of the Human Sciences 5/1, 1992, 37-46. Ein anderes Beispiel Douglas Crimp: Getting the Warhol we deserve, in: Social Text 59, 17/2, 1999, 49-65, ist eine Auseinandersetzung mit der traditionellen Kunstgeschichte aus der Perspektive einer Visual Culture im Sinne der Queer Studies.

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Verzwickte Verwandtschaftsverhältnisse: Kunstgeschichte, Visual Culture, Bildwissenschaft

Soweit die drastisch verkürzte Bestandsaufnahme einer Situation, die sich entwickelte, nachdem die Ausrufung des pictorial turn4, dem in Deutschland der iconic turn5 folgte, Anlaß zu der Hoffnung gegeben hatte, den in der deutschen Kunstgeschichte ungeliebten linguistic tum und seine poststrukturalistischen französischen Verwandten ad acta legen und gleichzeitig die wissenschaftspolitische Bedeutung des Fachs stärken zu können. Inzwischen jedoch scheint es eine Art bösen Erwachens zu geben: Rund um das Bild wuchsen (die botanische xMetapher scheint gar nicht so fehl am Platze zu sein) interdisziplinäre Wissenschaftscluster quer zu den Human-, Natur- und Technikwissenschaften, denen es gelungen ist, vom forschungspolitischen Hunger auf Interdisziplinarität ebenso wie von der Ausrufung des neuen Paradigmas zu profitieren. Die Kunstgeschichte jedoch ist in diesen Clustern schwach vertreten. Das Erstaunen mancher Kunsthistorikerinnen ist in Deutschland groß: Wie konnte das passieren, daß ausgerechnet jene Disziplin, die bis dato für die Ästhetik des Visuellen in ihrer Anwendung und Erscheinung im künstlerischen Artefakt zuständig gewesen war, nun von der Literaturwissenschaft, der Anthropologie, der Philosophie, den sogenannten Lebenswissenschaften, ja gar der Informatik marginalisiert wurde, wenn es um das Bild ging? Wurde die Kunstgeschichte etwa gerade auf Grund ihrer Zuständigkeit für das Ästhetische von Bild und Visualität marginalisiert? Schließlich produzieren weder die Kunstgeschichte noch die Ästhetik prognosefähiges Wissen für einen globalisierten Wissenschaftsbetrieb, im Gegensatz zu anderen Disziplinen, die sich dem Bild zugewandt oder über bildgebende Verfahren ihre Erkenntnis- wie Darstellungsstrategien verändert haben. Ich denke jedoch, daß diese Kompetenz oder Zuständigkeit für die Ästhetik noch keine ausreichende Erklärung bietet für die Randposition in Sachen Bildwissenschaft, in der sich die Kunstgeschichte wiederfindet. Es soll nun nicht darum gehen, Argumente für eine zentrale Rolle der Kunstgeschichte in den bildwissenschaftlichen Clustern zu finden, und das nicht nur, weil ich durchaus nicht sicher bin, ob eine Position als Leitwissenschaft eines Clusterparadigmas von womöglich mäßig langer Halbwertzeit der Kunstgeschichte Vorteile strategischer Art bringen könnte. Mich interessieren vielmehr die Dynamiken und Hintergründe dieser Aufsplitterung der Zuständigkeiten für das Bild/das Visuelle zwischen der Disziplin Kunstgeschichte, dem

4 Vgl. W . J. T. Mitchell: T h e Pictorial Turn, in: Artforum 30, 1992, 8 9 - 9 4 ; dt.: Der Pictorial Turn, in: Christian Kravagna (Hrsg.), Privileg Blick. Kritik der visuellen Kultur, Berlin 1997, 1 5 - 4 0 . 5 Gottfried Boehm: Die W i e d e r k e h r der Bilder, in: ders. (Hrsg.), W a s ist ein Bild?, .München 1994, 11-38.

5

Susanne von Falkenhausen

Cluster Bildwissenschaft und der Indiscipliné' Visual Culture. Auch möchte ich versuchen, die Dichotomie von linguistic und pictorial oder visual turn respektive von Textualität/Sprache versus Visualität/Bild 7 (wobei der Status dieser Begriffe nicht analog ist) aus dem Zentrum der Auseinandersetzung zu verschieben, denn ich nehme an, daß der Streit um das heuristische Primat von Sprache oder Bild seinerseits Symptom tiefergehender Konflikte und Veränderungen gegenwärtiger Wissenskultur ist.

Essentialisierungen Die Visual Culture Studies haben in England und den USA bereits eine Diskursgeschichte akkumuliert, Reader und Einfiihrungsliteratur produziert und dabei durchaus kein einheitliches Bild ihrer Theorien und Methoden hervorgebracht; eher noch könnte ihr erkenntnisleitendes Interesse auf einen Nenner gebracht werden. In einer extremen Verkürzung würde ich folgende Formulierung vorschlagen: In den Visual Culture Studies geht es um die Erforschung der begrenzten Ressource Sichtbarkeit. Die Implikationen sind vielfältig und verbunden mit einer politischen Agenda, die in der US-amerikanischen Variante eines Einwanderungslandes am deutlichsten hervortritt. Zur Ressource im politischen Sinne wurde Sichtbarkeit im Verbund mit den Identitätspolitiken, welche aus den Emanzipationsbewegungen der sechziger und siebziger Jahre hervorgegangen waren. Die Verschiebung vom Ringen um politische und ökonomische Teilhabe hin zur Sichtbarkeit ging vonstatten über die Idee, daß die Anerkennung marginalisierter Gruppen, in ihrer über die Differenzen von Geschlecht, Ethnie oder sexueller Orientierung determinierten ,Identität', mit einer Repräsentation innerhalb der jeweils hegemonialen Kultur oder auch gegen sie zu erkämpfen sei. Hier engagier(t)en sich die Cultural Studies. 8 Aus den Cultural Studies entwickelten sich die Visual Studies oder Visual Culture Studies, welche diesen Aspekt der Repräsentation auf das Feld der Sichtbarkeit zuspitzten: „Such a history of visual culture would highlight those moments where the visual is contested, debated and transformed as a constantly challen-

6 W . J . T. Mitchell: Interdisciplinarity and Visual Culture, in: Art Bulletin 77, 1995, 540-544, hier 541. 7 So geht es z.B. Sigrid Schade in ihrer Kritik am „Wunsch der Kunstgeschichte, Leitwissenschaft zu sein", darum, die Geltung des semiologischen Ansatzes auch für die Analyse von Bildern zu verteidigen, mithin der Sprachwissenschaft das methodologische Primat zuzusprechen, vgl. Sigrid Schade: Vom W u n s c h der Kunstgeschichte, Leitwissenschaft zu sein. Pirouetten im sogenannten „pictorial turn", in: Zeitschrift des schweizerischen Instituts für Kunstwissenschaft - Zum 100jährigen Bestehen, Zürich 2001, 1-11. 8 V g l . Stuart Piali (Hrsg.): Representation. Cultural Representations and Signifying Practices (1977), London/Thousand Oaks/New Delhi 1997.

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Verzwickte Verwandtschaftsverhältnisse: Kunstgeschichte, Visual Culture, Bildwissenschaft

ging place of social interaction and definition in terms of class, gender, sexual and racialized identities." 9 Mirzoeff, der diese Bestimmung von Visual Culture geliefert hat, fugt ihr eine weitere hinzu, die zwei determinierende Elemente für die Notwendigkeit von Visual Culture Studies behauptet - die Neuen M e dien und die Postmoderne: „Modern life takes place onscreen" 10 beginnt seine Introduction to Visual Culture, und: „it is the visual crisis of culture that creates postmodernity, not its textuality." Postmoderne Kultur sei „most postmodern when it is visual". M i t der Repräsentation von Identitäten, den Neuen Aledien, der mit ihnen einhergehenden visuell dominierten Alltagskultur und der Epochenbestimmung der Postmoderne ist der politische, mediale wie historische Rahmen der Visual Culture auf eine Weise abgesteckt, welche ihre Genese aus einer politischen Agenda der Identitätspolitiken der letzten Jahrzehnte verdeutlicht. In diesen Setzungen lauert jedoch bereits die Falle der Essentialisierungen: zum einen über die Implikationen der Identitätspolitiken (die auch bei den jeweils betroffenen Gruppen umstritten sind), zum anderen mit der behaupteten Dominanz des Visuellen, zuletzt auch mit der Behauptung einer essentiell postmodernen Visualität. Vehement hat sich Mieke Bai in ihrem Text Visual Essentialism and the Object of Visual Culture gegen diese Tendenz geäußert." M i t „Visual Essentialism", einer griffigen Formel, welche die Schlüsselproblematik der Debatten um die Politiken der Identität für ihre Kritik an den bisherigen Strategien und Definitionen von Visual Culture aufgreift, beschreibt sie den „purity-assuming cut between what is visual and what is not" i : ; einen Schnitt, der auf vielen Ebenen der Versuche, den Gegenstand von Visual Culture zu definieren, zu beobachten ist und zwangsläufig nicht nur Ein- und Ausschlüsse zur Folge hat, sondern auch von dem Begehren angetrieben ist, eine unangreifbare Fundierung und Fixierung des Feldes zu erreichen." Bai greift in einem M o m e n t in die interne Debatte der Visual Culture ein, als die Konsequenzen der Institutionalisierung dieser Indiscipline bereits beobachtbar sind: Der Druck, den Gegenstand zu definieren, die Kanonisierung von Objekten, Texten wie Methoden, das Patroullieren der Grenzen einer Disziplin, die keine ist, oder besser, keine werden sollte, führt ihr zufolge in eine falsche Richtung. Bai situiert den Gegenstand der Visual Culture Studies in jenem Beziehungsgeflecht selbst, das auch als Blickregime bezeichnet wird: Praktiken des Sehens, welche die Sehenden und das Gesehene nicht in einem Subjekt-Objekt-Ver-

9 Nicolas Mirzoeff: An Introduction to Visual Culture, London/New York 1999, 4. 10 Dieses und die beiden folgenden Zitate ebd., 3. 11 M i e k e Bai: Visual Essentialism and the Object of Visual Culture, in: Journal of Visual Culture 1/2, 2003, 5 - 3 2 . 12 Ebd., 6. 13 In ihrem Text analysiert sie diese definitorischen Strategien, die ich hier nicht im Detail verfolgen will, systematisch.

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Susanne von Falkenhausen

hältnis gegenüberstellen, sondern in einer gegenseitigen Bedingtheit positionieren, die Effekt und Produktion in der Dynamik von Diskursen verschränkt. Worauf es mir nun ankommt, ist nicht die Auseinandersetzung darüber, mit welchem Instrumentarium die Analyse dieses gegenständes' gelingen könnte, oder anders: Ich will nun nicht zurück in die Konfrontation von linguistic und visual turn, indem ich mit Bai argumentiere, die bekanntermaßen einen semiologischen, gemeinhin als textorientiert angesehenen Ansatz vertritt. 14 Mir kommt es hier auf ihre Kritik an Phänomenen an, die meines Erachtens in der Ausdifferenzierung der ,Familien'-Positionen von Kunstgeschichte, Bildwissenschaft und Visual Culture Studies eine zentrale Rolle spielen: Definition durch Abschottung in enger Wechselwirkung mit Identitätsbildung und Essentialisierung. Die Bildwissenschaft des deutschsprachigen Raumes ist von anderen Begriffsbildungen geprägt. An der Formel des iconic turn, die Gottfried Boehm 1994, zwei Jahre nach der Erstveröffentlichung von Mitchells pictorial turn und ein Jahr nach Martin Jays Kritik 15 einer Sehfeindlichkeit der französischen Philosophie, geprägt hat, wird bereits deutlich, wie sich die Perspektiven von jenen des visual turn unterscheiden. 16 Mit dem Bild in der philosophischen Abstraktion des Ikonischen verschiebt sich buchstäblich der Blick von den Praktiken des Sehens oder dem Blickregime, zu einem Gegenstand, der nun auf den letztgültigen Nenner gebracht werden muß: „Was ist ein Bild?" 17 Die Motivationen für diese Frage nach einer Definition dessen, was ein Bild sei, sind vielfältig; verstanden aus dem Zusammenhang einer Entkräftung des linguistic turn jedoch geht es Boehm zufolge vordringlich um eine ,,neue(n) Verhältnisbestimmung, die das Bild nicht länger der Sprache unterwirft, vielmehr den Logos über seine eingeschränkte Verbalität hinaus, um die Potenz des Ikonischen" zu erweitern und zu transformieren. 18 In einem eleganten SprachWÄ/spricht er 14 So zum Beispiel in ihrem Buch: Reading Rembrandt. Beyond the Word-Image Opposition, New York 1991, mit dem sie den Methodenkanon der kunsthistorischen RembrandtForschung in Frage stellte. 15 W. J. T. Mitchell: The Pictorial Turn, in: Artforum, 1992, March, 89-94; Martin Jay: Downcast Eyes. The Denigration of Vision in Twentieth-Century French Thought, Berkeley/Los Angeles/London 1993. 16 Die , Vision' aus Jays Buchtitel wird im übrigen in der deutschen Rezeption in einer aufschlußreichen Verschiebung in das deutsche ,Bild' transformiert, von einer Relation, einem Akt oder einem Prozeß in einen Gegenstand; vgl. Horst Bredekamp: Drehmomente - Merkmale und Ansprüche des iconic turn, in: Christa Maar/Hubert Burda (Hrsg.), Iconic Turn. Die neue Macht der Bilder, Köln 2004, 15-26, hier 16. 17 Vgl. den von Gottfried Boehm herausgegebenen Band: Was ist ein Bild?, München 1994. 18 Gottfried Boehm: Jenseits der Sprache? Anmerkungen zur Logik der Bilder, in: Maar/ Burda 2004 (wie Anm. 16), 28-43, hier 30. Boehm argumentiert subtil mit den Argumenten der Sprachkritik, u. a. mit der Sprachphilosophie Wittgensteins, um dieses Verhältnis aus dem Ungenügen der Sprache, Sinn auch jenseits von Eindeutigkeiten zu generieren, als ein Notwendiges zu begründen.

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Verzwickte Verwandtschaftsverhältnisse: Kunstgeschichte, Visual Culture, Bildwissenschaft

vom „Schatten der Sprache [...], der sich über das Ikonische legt."" Mitchell hatte eine andere Metapher für dieses Verhältnis gefunden, die nicht nur eine andere Gewichtung von Sprache und Bild aufweist, sondern auch von der Figur des Ikonischen als Opfer des Sprachlichen weg hin zu den Kommunikationswegen zwischen beiden, vom Kategorialen hin zur Praxis einer Beziehung führt: „Einem Bild einen Ausdruck zu verleihen, bedeutet das kunstvolle Legen bestimmter Spuren, die es uns gestatten, als Bauchredner aufzutreten und dem Bild eine Beredtheit, und zwar vor allem eine nichtvisuelle, sprachliche Beredtheit zu verleihen." 20 Dagegen liest sich Beltings Versuch der kategorialen Festlegung eines Primats des Bildes wie ein verzweifelter Aufruf zur Rettung des Körpers gegen seine medientechnologische Virtualisierung: „Schon muß man darum kämpfen, den Beweis führen zu können, daß der Bildbegriff allein als anthropologischer Begriff gerechtfertigt war. Nur hier, und nicht im technologischen Diskurs, läßt sich der Doppelsinn des Bildes - des Bildes an der Wand und des Bildes im Kopf, die dennoch beide interagieren - begründen. Wir selbst sind als lebende Medien der ,Ort der Bilder' und nicht die Apparate." 21 Mit rhetorischer Vehemenz treibt Belting nicht erst seit seiner Bildantbropologie von 2001, die Hanne Loreck zu den „antisemiologischen und antidekonstruktivistischen Rettungsversuche(n) eines emphatischen Bild- wie Körperbegriffs" zählt 22 , die „Bild"- oder „Bilderfrage" voran. Er beklagt nicht nur, wie Boehm, eine Verarmung durch allzu großes Vertrauen in die Logik der Sprache, sondern weist auf ein ganzes Korrelat von Feinden, die entweder Körperbild oder Bildkörper rauben: die „digitalen Bildwelten" virtueller Körper, der „genetische Code", der uns „in einem analogen Ikonoklasmus die visuelle Evidenz dessen, was wir heute vom Körper wissen", entzieht. 2 ' Der Modus einer Formulierung wie der ,Bilderfrage', die im übrigen häufiger im bildwissenschaftlichen Diskurs auftaucht, läßt strukturell an andere ,Fragen' denken, in denen es um Ängste, Faszinosa, Rätsel, um eine Wiederkehr des Verdrängten geht: die Frauenfrage, die Arbeiterfrage, die Judenfrage. Fragen dieser Art rufen nach kategorialen Antworten, nach Definitionen. Sie heben ab auf ein

19 Ebd., 33. 20 W . J . T. Mitchell: Was ist ein Bild?, in: Volker Bohn (Hrsg.), Bildlichkeit, Frankfurt a. Λ1. 1990, 1 7 - 6 8 , hier: 52 f. 21 Hans Belting: Echte Bilder und falsche Körper - Irrtümer über die Zukunft des M e n schen, in: Maar/Burda 2004 (wie Anm. 16), 3 5 0 - 3 6 4 , hier 363. 22 Vgl. Hans Belting, Bild-Anthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft, .München 2001. Vgl. dazu die ,differenztheoretische Lektüre' von Hanne Loreck: Bild-Andropologie? Kritik einer Theorie des Visuellen, in: Susanne von Falkenhausen/Silke Förschler/Ingeborg Reichle/Bettina Uppenkamp (Hrsg.), M e d i e n der Kunst. Geschlecht, Metapher, Code. Beiträge der 7. Kunsthistorikerinnen-Tagung in Berlin 2002, M a r b u r g 2004, 12-26, hier 17. 23 Belting 2004 (wie Anm. 21), 351.

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jeweils Anderes, das es ein- wie auszugrenzen und zu kontrollieren gilt. Sie tun das, was Bai Essentialisierung nennt: Sie Schotten ab, suchen nach Reinheit des als erklärungsbedürftig ausgewiesenen Phänomens im Sinne des Unvermischten und: Sie machen Politik. Hanne Loreck begründet triftig, daß es in der Bildwissenschaft beim Rekurs auf ein Humanum als anthropologische Invarianz um die Abwehr der kritischen Potentiale jener Differenztheorien geht, die sich der Kritik an totalisierenden Systemen und Diskursen gewidmet haben. Die Rückkehr zu Universalien mit deutlich prämodernen Zügen wird da jedoch kaum Heilung bringen, auch wenn diese in postindustriellen und posthistorischen Gewändern auftreten, wie dies gerade auch in der Mythenbildung zu digitalen Technologien und ihren naturwissenschaftlichen Anwendungen besonders in den bildgebenden Verfahren der Fall ist, welche dieselbe Perspektive zur Legitimation aufzurufen in der Lage sind. Symptomatisch wäre hier ζ. B. der Mythos der Präsenz: Appliziert auf die technischen Möglichkeiten der Realzeit-Repräsentation - Real-Time als radikale Mimesis im Temporalen werden die neuen Kommunikationstechnologien über die Mythisierung dieser bildtechnologisch realisierten Unmittelbarkeit und Gegenwärtigkeit naturalisiert und verschaltet mit dem Invarianz-Apriori der Anthropologie. Derart kann, über einen ontologisierten Bildbegriff, auch die Entwicklung von Techniken der Kontrolle und Steuerung (Psycho- wie Kulturtechniken), zwischen Neurowissenschaft, Bioengineering, Genetik, Kybernetik und Social Engineering als Aufklärung und Bewahrung des Humanum verkauft werden. So zieht sich das Bild als heuristisches Krisensymptom zwischen Paradigma und Metapher in den letzten zehn Jahren durch Human- wie Naturwissenschaften. Ist es zur Projektionsfläche für einen Traum von Ganzheit geworden, quer zu den verwirrenden Bedingungen wissenschaftlicher Positionierungen im Zeitalter der „Exzellenz"24 und zu Utopien sozialer Wirksamkeit im globalen Postindustrialismus? Geht es bei der diskursiven Omnipräsenz des Bildes in den Wissenschaften als einer Art Letztinstanz dessen, was der Aufklärung bedarf und dann umschlägt in die Naturalisierung eines Nichthinterfragbaren,

24 „Excellence is non-referential, a unit of value entirely internal to the system, [...] AJI the system requires is for activity to take place, and the empty notion of excellence refers to nothing other than the optimal input/output ratio in matters of information." Bill Readings: Be Excellent. Culture, the State, and the Posthistorical University, in: Alphabet City 3, 1993, zit. nach: Stephen Melville: Art History, Visual Culture, and the University, in: October 77, 1996, 52-54, hier 52 (Melvilles Statement zum umstrittenen Visual Culture Questionnaire). Melville fragt sich im übrigen, ob Visual Culture Studies eher als letzter Widerstand der Universitätder Kultur gegen die Universität der Exzellenz zu verstehen sei oder als Appropriation dessen, was von der Universität der Kultur noch Übriggeblieben sei, durch die Universität der Exzellenz. Zehn Jahre später ist noch nicht klar, ob die deutsche Universität der Exzellenz sich überhaupt mit Kultur beschäftigen wollen wird. Zur .University of Excellence' vgl. auch Bill Readings: The University in Ruins, Cambridge 1996.

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um ein Befragen wie Bestätigen und Beschwören eines Phänomens, das Brüche und Widersprüche in heutigen intellektuellen Konstruktionen zu überblenden vermag? Und die Kunstgeschichte? Vereinfacht könnte man sagen, daß die Kunstgeschichte ein Kind jener Epoche sei, in welcher die klassifizierende Beobachtung zum Leitmotiv von Wissenschaften wie der Botanik geworden war. Die Klassifizierungskategorien sind bekannt: Epochen, Gattungen, Stile, Regionen, Händescheidung. Aufbrüche aus der Enge dieser Erkenntnisziele, die in erster Linie der einsetzenden Sammlungs- und Museumsdynamik geschuldet waren (bzw. umgekehrt) gab es seither viele; sie haben das Fach bereits seit dem späten 19. Jahrhundert differenziert und anderen, darunter vor allem kulturhistorischen Horizonten angenähert. Aus europäischer Perspektive kann es deshalb jene allzu eindimensionale Polarisierung zwischen Visual Culture und Kunstgeschichte kaum geben, welche in den Debatten um Visual Culture versus Kunstgeschichte im angloamerikanischen Raum zur Profilierung der Visual Culture als antielitär, multikulturell, postkolonial und demokratisch gegenüber der Negativfolie einer ästhetisch, elitär, formalistisch bis hegelianisch, künstlergenialisch und nationalistisch orientierten Kunstgeschichte eingesetzt wurde. 2 ' Selbstverständlich gab und gibt es alle diese „Kunstgeschichten", oder besser diese Narrative in der Kunstgeschichte, ebenso wie jene anderen, die wiederum dem ursprünglich politisch-kritischen Programm der Visual Culture Studies nahe stehen. Daraus läßt sich jedenfalls ein Schluß ziehen: Die Disziplin oder In/disziplin ist es nicht, die bereits den als fortschrittlich erachteten Erkenntnishorizont determiniert. Für die Kunst wäre im übrigen eine analoge Formulierung die, daß weder ein bestimmter Formenkanon (z.B. die Montage, Peter Bürgers Kriterium der Avantgarde 26 ) noch bestimmte Medien (z. B. der Film für Walter Benjamin 27 ) Garanten für das politisch .richtige' Programm sein können. U m -

25 Hier kann als symptomatisches Beispiel für den daraus resultierenden Legitimationsdruck der amerikanischen Kunstgeschichte die Methodendiskussion angeführt werden, die in einigen N u m m e r n des Art Bulletin in den Jahrgängen 1994, 1995 und 1996 stattfand. Unter Titeln wie A Range of Critical Perspectives (Art Bulletin, Dezember 1995) oder Aesthetics, Ethnicity, and the Histoìy ofAn (ebd., Dezember 1996) diskutierten Vertreter der Kunstgeschichte und der Visual Culture Studies. 26 Vgl. Peter Bürger: Theorie der Avantgarde, Frankfurt a. Λ1. 1974, bes. 98. Vgl. dazu auch: W. Martin Lüdtke (Hrsg.): „Theorie der Avantgarde" Antworten auf Peter Bürgers Bestimmung von Kunst und bürgerlicher Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1976. 27 Womit einmal mehr auf Walter Benjamins Kunstwerk-Aufsatz angespielt sei: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1936), dt. Erstveröffentlichung Frankfurt a. M. 1955.

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gekehrt gilt jedoch die banale Weisheit, daß der Erkenntnishorizont die Methode(n) organisiert, ob ausgewiesenermaßen oder nicht. Eine anthropologisch verstandene Kunstgeschichte würde Kunst als Grundbedürfnis des Menschen erforschen: der Mensch und sein Kunst-Bedürfnis als kategoriale Invarianzen, in merkwürdiger Unschlüssigkeit kombiniert mit dem historischen Wandel der derart bestimmten Kunst. Kunst würde in dieser Perspektive bezeugt bis zu den frühesten kulturellen Artefakten und Bildzeugnissen, in einer ahistorischen Entgrenzung der Kategorie Kunst. Eine solche Bewegung jedoch würde die Fähigkeit der Kunstgeschichte zur Reflexion ihrer Gegenstandsbestimmung, wie sie mit der Historisierung der Kategorie Kunst selbst gegeben ist, aushöhlen und in der Konsequenz ihr kritisches Potential, das auch daraus erwächst, den sich wandelnden Status von Kunst als soziokulturelle Praxis zu befragen. Sie wiche zudem weit hinter jene Position zurück, die seit dreißig Jahren bis in die Einführungen in das Fach vorgedrungen ist und die Martin Warnke nüchtern auf einen Nenner gebracht hat: „,Kunst' aber ist ein abstrakter Begriff. Ihre konkrete Erscheinungsform ist das Kunstwerk, ein Artefakt, das sich von anderen menschlichen Artefakten dadurch unterscheidet, daß ihm die besondere Eigenschaft, Kunst zu sein, zugesprochen wird."28 Heute sind auch die Prozesse dieser Zuschreibung Gegenstand der Kunstgeschichte. Eine derartige relational orientierte Bestimmung hat noch einen weiteren Vorteil: Sie verabsolutiert weder den Sehsinn noch die Visualität und auch nicht das Bild und erspart sich so jene grundlegenden Probleme von Visual Culture Studies und Bildwissenschaft, die vom Definitionsimpetus aus der Abgrenzung gegenüber der Sprache herrühren. Nach den Positionierungsmanövern der Familienmitglieder nun zu den möglichen - Beziehungen: Berührungen zwischen Kunstgeschichte und Bildwissenschaft ergäben sich dort, wo die Kunstgeschichte die strenge Historizität ihres Gegenstandes in der eben skizzierten Reflexionsdynamik für eine Bildgescbichte ins Spiel brächte, ohne auf eine fö/i/geschichte beschränkt zu sein. Kunstgeschichte brächte so die historische Dimension als kritische ins Spiel, nicht jedoch als Ergänzungsfigur zur ontologisierenden Invarianz anthropologischer Prägung. Auf der Ebene eines diskurshistorisch orientierten Konstruktivismus können sich hingegen Kunstgeschichte und Visual Culture Studies wechselseitig erhellen: Kunstgeschichte stellt die Kunst in die Diskursformationen des Visuellen und ihre Geschichte ein und reicht insofern nicht nur über die Kunst, sondern auch über ein allgemein Visuelles hinaus. In der Kontextforschung, deren Fragehorizonte durchaus Gemeinsamkeiten mit den Visual Culture Studies aufweisen, ist dies bereits etablierte kunsthistorische Praxis. 28

Martin Warnke: Gegenstandsbereiche der Kunstgeschichte, in: Hans Belting/Heinrich

Dilly/Wolfgang Kemp/Willibald Sauerländer/Martin Warnke (Hrsg.), Kunstgeschichte. Eine Einführung, Berlin 3 1988, 1 9 - 4 4 , hier 24 [Hervorhebung SvF].

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Umgekehrt jedoch führt auch eine denkbare Bewegung von der Kunstgeschichte zurück zu den Visual Culture Studies: Gerade der Status von Kunst als einer ausgewiesenen Praxis mit dem entsprechenden Apparat (von der Ausbildung bis zu den Institutionen), also als diskursives wie außerdiskursives Faktum qua synchroner wie diachroner Zuschreibung, vermag wie in einem Brennglas exemplarische Aufschlüsse für den zentralen Gegenstand der Visual Culture Studies zu bündeln: über die Praktiken des Sehens im Felde der Macht.

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Vier Studien wirbelnden Wassers, das an locker geflochtenes Haar erinnert 152 χ 213 m m Tuschzeichnung auf weissem Papier

Karl Clausberg

Im Eldorado der ,wahren' Bilder? Naturwissenschaften machen Kunstgeschichte*

Bildwissenschaften und Bilderdebatten haben Hochkonjunktur. Nicht nur die Kunstgeschichte diskutiert seit fast zwei Jahrzehnten ihre pictorial und iconic turns, auch in den Naturwissenschaften wird die Rolle von Bildern, das heißt, von Bildgebungsverfahren, zunehmend problematisiert. Gerade ist eines der führenden Zentralorgane der harten Wissenschaften, nature (Bd. 434, 17. März 2005), mit einem beachtlichen Sonderteil über Art for Science's Sake erschienen, in dem sogar die verführerische Rede von der ,Kunst der Wissenschaft' zwischen den Zeilen aufzublitzen scheint. Andererseits stößt man in den Reihen der alteingesessenen Kunstgeschichte, die vor einem Jahrhundert noch regen Umgang mit Wahrnehmungspsychologie und sogar Hirnforschung hatte, auf kaum verhohlenes Unbehagen gegenüber neuerlichen Kontaktanbahnungen und Ausweitungen des angestammten Fachgebiets. Umgekehrt haben die naturwissenschaftlichen Disziplinen häufig genug ihre eigene, mit Bildproblemen angereicherte Vorgeschichte aus den Augen verloren. Daher die f r e u n d lichen' Übernahmeversuche von Seiten der alten ,Wissenschaft aller Wissenschaften', der Philosophie, die sich als theoretisch zuständige Bilderinstanz versteht, und entsprechend kritische Reaktionen. So hat Hartmut Böhme im Einstein-Jahr (FAZ, 8. Januar 2005) seine Überlegungen zum Bildergebrauch - Was sieht man, wenn man sieht? Zur Nutzung von Bildern in den neuzeitlichen Wissenschaften - mit einem düsteren Ausblick abgeschlossen, der für Bildwissenschaftler recht provokant klingt: niemals habe es einen radikaleren Ikonoklasmus gegeben als denjenigen, den die modernen Naturwissenschaften der Bildkultur zugefügt hätten. Es könne ein Bild der Welt, ein [allumfassendes] Welt-Bild nicht mehr geben. Computeranimationen und dergleichen seien nur exoterische Masken der absoluten Unsichtbarkeit. Und so weiter.

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E r g ä n z t e u n d erweiterte Fassung eines Beitrags im N e w s l e t t e r 2005 des Wissenschafts-

kollegs zu Berlin.

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Sind es also haltlose ästhetische Träume der Vergangenheit, wenn wir auch und gerade von technisch erzeugten Bildern einsichtige Offenbarungen erhoffen? Die Naturwissenschaften scheinen noch voller Zuversicht und nicht bereit, an den eigenen Grundüberzeugungen zu rütteln. Aktuelles Beispiel: Hirnforschung. Mittlerweile gehört es zwar schon zum guten Ton dieser Disziplin, dezente Zweifel an der unbedingten Wahrhaftigkeit oder jedenfalls Eindeutigkeit mancher ihrer künstlichen Bilder zu äußern. Aber der Grandton signalisiert weiterhin, daß nach Maßgabe ihrer Ausgangsbedingungen der bildlichen Wahrheit doch vertraut werden kann. Wenn lokal intensivierte Stoffwechselprozesse Hirnareale in künstliche Flammen zu setzen scheinen, dann muß man eben wissen, daß hier schwellenwertbezogen nur überdurchschnittliche Aktivitäten sichtbar gemacht sind; und man sollte ebenso auch wissen, daß die zeitliche Auflösung von stoffwechselmessenden Untersuchungsverfahren mit ein bis zwei Sekunden angesichts der in Millisekunden ablaufenden neuronalen Prozesse miserabel ist. Wird höhere zeitliche Auflösung gewünscht, so müßte neuere verfeinerte Technik her oder auf altbewährte wie zum Beispiel das Elektroencephalogramm (EEG) zurückgegriffen werden. Aber wären EEG-Kurven, die ihrerseits nur eine miserable räumliche Auflösung bieten, heute noch titelseitenfähig? - Ist hier eine Kunstgeschichte der kognitiven Wissenschaftsstile, ihrer Bildvorlieben und Moden zu beobachten, die sich insgeheim mit der Extravaganz und Opportunität der Bilder schon angefreundet oder abgefunden hat? Von Seiten praktisch orientierter Naturwissenschaften wie der Medizintechnik wird unumwunden zugegeben, ja unverblümt damit kokettiert, daß das Einwerben von Forschungsgeldern und Drittmitteln offensiven Bildereinsatz erfordert. Der Gebrauch von Bildern aus der Wissenschaft hat also ökonomisch-politische Dimensionen, muß sich auch am öffentlichen Laienverstand orientieren. Kein Wunder also, daß Wissenschaftsbilder von Werbeagenturen verarbeitet werden oder wissenschaftlich anmutende Bilder an ihre Stelle treten. Sind wir demnach mit einer für (Kunst-)Historiker vertrauten Sachlage konfrontiert, welche den literati - den Schriftgelehrten, die jetzt auch Bildgelehrte sind - das wahrhaftige Wissen vorbehält, während die illiterati sich mit einer gleichwohl überzeugenden Biblia-Pauperum-Yersion der Wissenschaften zufriedengeben sollen? Solche Vergleiche mögen auf den ersten Blick reichlich anachronistisch erscheinen. Aber die Parallelen rücken näher, wenn man den Wahrheitsanspruch der Naturwissenschaften und ihrer Bilder als Richtschnur nimmt. Die Forschung wartet wöchentlich mit neuen Erfolgsmeldungen auf: So war in nature (Bd. 432, 16. Dezember 2004) zu lesen, daß es erstmals mit Hilfe eines ultrakurzen Femtosekunden-Laserblitzes gelungen ist, die ,Wolke' eines einzelnen Elektrons im Moment einer einzigen Atomumkreisung tomographisch abzubilden. Direkte Beobachtung von Elektronenwolken während molekularer Reaktionen rückt in Sichtweite, so der begleitende Fachkommentar. Wieviel 16

Im Eldorado der ,wahren' Bilder?

der kosmologischen Zeitskala, die sich zwischen dem Alter des Universums (ca. 14 Milliarden Jahre) und dem minimalen Planck-Zeitquantum (10~+5 sec) aufspannt, nutzen und kontrollieren wir? Das war schon zwei Monate zuvor die ungeniert zuversichtliche Grundsatzfrage eines concept-essay in nature (Bd. 431, 7. Oktober 2004) gewesen. Antwort (unter anderen): Laserblitze von Femtosekundendauer (IO" 1 ' sec) und darunter können Atome und subatomare Teilchen zugleich ,beleuchten' und manipulieren. Deren Abbildung wird auf Grund der besonderen Charakteristik ultrakurzer Laserpulse auch zum präzise kontrollierbaren Eingriff. - Offnet sich hier nicht ein minutiös abgestecktes Mikro-Eldorado der naturstudierenden und -manipulierenden Bildwissenschaften? Und weiter: Ist das nicht der beste Beweis für die erkenntnisfördernde Macht der Bilder gerade in jenen Bereichen, die sich zunächst dem physiologischen Sehvermögen des Menschen entziehen? Die lange Vorgeschichte solcher Naturstudien gehört auch zur Bildertradition der Kunstgeschichte. Im fortschreitenden Mittelalter hatten sich in den Marginalien illuminierter Handschriften penible Kleinportraits von Pflanzen und Tieren herausgebildet. Medizin und Pharmazie drängten zu neuerlicher Naturwahrhaftigkeit. Spektakuläre Landschaftsmalereien und Raumperspektiven waren die Nutznießer solcher unscheinbaren Vorarbeiten. Genaueste zeichnerische Wiedergabe - dafür stehen Namen wie Leonardo und Dürer machte die Kunstübung zur Spitzenwissenschaft im Zeitalter der sogenannten Renaissance. Doch der normale Sehsinn behielt nicht lange diese Führungsrolle; darüber besteht weitgehende Einigkeit. Mit der Perfektionierung optischer Instrumente geriet das eben erst gewonnene Vertrauen in die bildgebende Erkenntniskraft der Augen in eine neuartig profunde Krise: „Denn unsere Augen geben uns lange nicht den Begriff von all den Dingen, den wir durch ein Mikroskop oder mit Hilfe unserer Vernunft erlangen." Das schrieb der Oratorianer-Pater Nicolas Malebranche (1638-1715) im ersten seiner 1674 erschienenen drei Bücher über die Erfoischung der Wahrheit. Kleinste Körper wie Maden oder Milben entgingen dem Blick. Diese Tierchen würden vielleicht von anderen noch kleineren gefressen, die ihnen wegen ihrer außerordentlichen Kleinheit ebenso unsichtbar seien wie die ersteren für uns, so Malebranche. Vielleicht gebe es in der Natur immer kleinere Wesen bis ins Unendliche, hätten wir doch von der Teilbarkeit der Materie bis ins Unendliche ganz evidente mathematische Demonstrationen. Sein Fazit: Nur im Verhältnis zu unserer eigenen Körpergröße stellt unser Sehen die Welt dar, nicht aber, wie sie ihrer Natur nach beschaffen ist. - Ist es nicht evident, daß Malebranche in einer ersten verständlichen Schockreaktion auf die erstaunlichen Leistungen der Mikroskopie fälschlich eine mathematische Unendlichkeit des Immer-Kleineren mit der vermeintlich physikalischen gleichgesetzt hat? Und: Werden nicht immer noch falsche Unendlichkeiten für das Versagen menschlicher Einsichtsfähigkeit verantwortlich gemacht?

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Erstaunlich, daß Malebranche im ersten Buch Von den Irrtümern der Sinne zunächst den Gebrauch des Mikroskops sogar als gleichbedeutend mit Vernunft einstufte, obwohl er eigentlich beabsichtigte, „die Gewalt der Augen über die Vernunft zu entkräften." Abgründe für die Wahrnehmung und für das Vorstellungsvermögen waren auch auf der anderen Seite der kosmischen Größenskala aufgetaucht: Sonne, Mond und andere weit entfernte sphärische Körper erscheinen uns flach, so Malebranche. Deshalb glaubten wir auch, daß alle Sterne und das Blaue am Himmel in gleicher Entfernung von uns abstünden und gleichsam in einem elliptischen, rund erhabenen Gewölbe aufgestellt wären. Ein Jahr später, 1675, hat der dänische Astronom Ole Römer (1644-1710) erstmals gewagt, die Größe der Lichtgeschwindigkeit aus Beobachtungen der Jupitermonde abzuleiten. So bestätigte sich Francis Bacons Vermutung von 1620 (Novum Organum 2, Aphorismus 46), daß uns die Strahlen der Himmelskörper wegen ihrer ungeheuren Entfernung wohl kaum unverzüglich zu Gesicht kommen können. Von da an begann der instrumentierte Blick in die gigantischen zeitlichen Tiefen des für uns sichtbaren Weltenraums zu stürzen. Aber der Schwindel angesichts solcher Abgründe hat längst relativ nüchternen Größenabschätzungen Platz gemacht - zumindest bei professionellen Physikern, Astronomen und Kosmologen. Gleichwohl: Malebranches Erforschung der Wahrheit markierte einen bedeutsamen Wendepunkt: Der Mensch war nicht länger das altertümliche Maß aller Dinge, sondern allenfalls Mittelmaß zwischen astronomischen und mikroskopischen Dimensionen. Aber der Verlust der allumfassenden Mitte führte nicht zwangsläufig und ausschließlich zu falschen Illusionen, sondern auch zu beachtlichen Fortschritten der Selbsterkenntnis. Die neue Bescheidenheit war jedenfalls von einer neuartigen Aufmerksamkeit fürs menschliche Wahrnehmungsvermögen begleitet; es hat in der Malerei des 17. Jahrhunderts charakteristische Bildformen hervorgebracht. Rembrandt und seine Zunftgenossen malten auffällig häufig höhlenartige Schauplätze, die beharrlich an Schädelinnenansichten und -ausblicke erinnern. Selbstwahrnehmung ohne Spiegel, in der sich der eigene Körper in Formen der Umwelt projizierte und präsentierte, avancierte im 19. Jahrhundert zum Leitbild der Sinnesphysiologie und Erkenntnistheorie. Die ,Selbstschauung Ich' wurde vom Fichte-Schüler Karl Christian Friedrich Krause (1781-1832) und vom ,großen Physiologen' Johannes Müller (1801-1858) schon zu Beginn des Jahrhunderts programmatisch beschrieben. 1859 hat Friedrich Ueberweg (1826-1871), der spätere Königsberger Philosophiehistoriker, dann die höchst bemerkenswerte Analogie einer mit Bewußtsein begabten camera obscura benutzt, um das sinnesphysiologisch gegebene Problem des subjektiven Wahrnehmungsraumes zu durchdenken. Sein Ergebnis: für die besagte Kamera würde das zweidimensionale Projektionsbild zum ,Raum' ihrer Erfahrungswelt; eine Außenansicht ihrer selbst könnte sie eben-

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sowenig erreichen wie Menschen höhere Dimensionen wahrzunehmen vermöchten. Allenfalls könne die beseelte Kamera ins Sichtfeld ragende Teile ihres eigenen ,Körpers' aufnehmen und diesen Körper folglich als Teil ihrer zweidimensionalen Bewußtseinswelt betrachten und sinngemäß ergänzen. Wenn die Fotoplatte aber den gesamten Bewußtseinsraum repräsentiere, so Ueberweg, dann würde die Kamera ihren ,Körper' nicht da finden, wo er realiter ist, sondern an dessen projektivem Ort auf der Platte. Der ,Denkraum' objektiver Physik und der subjektive ,Sehraum', die von Ewald Hering (1834-1918) drei Jahre später nachhaltig autorisierten Kategorien sinnesphysiologischer Optik, waren grundsätzlich unvereinbar. - Solchen bildhaft-erkenntnistheoretischen Denkfiguren, die mit Ueberwegs optotechnischer Condillac-Paraphrase einen zukunftsträchtigen Höhepunkt erreichten, hat Ernst Machs ,Blick aus dem linken Auge' (Holzstich in: Beiträge zur Analyse der Empfindungen, 1886) ein epidemisches Denkmal gesetzt, das noch heute fortwirkt. War dergestalt die Erforschung der Wahrheit in Zirkelprozesse der bildhaften Selbstbeobachtung eingemündet, so hatten andere Traditionen der Naturdarstellung noch direkter zu mathematisch-physikalischen Gegebenheiten geführt. Mittelalterliche Kunst stand noch nicht unter dem Diktat perspektivischer Korrektheit und illusionistischer Sehfeldwiedergabe. Es war zum Beispiel durchaus möglich, Menschen neben anderen Lebewesen als Bewohner auf einem globalen Winkeldiagramm der Jahreszeiten anzusiedeln; so geschehen in den Luccheser Illustrationen zum Liber divinorum operum der Hildegard von Bingen (1098-1179) vom Anfang des 13. Jahrhunderts. Ramon Lull (12351315), der katalanische Stammvater der Computistik, wurde ein Jahrhundert später im Karlsruher Breviculum zwischen mobilen Begriffsregistern sprachliche Windmühlenflügel schlagend dargestellt. Gegenstände der Visualisierung waren Diagrammatik und Aussagenlogik. Mittelalterliche Weltbilder glichen mitunter viel eher physikalischen ,Phasenräumen' {state spaces) und Verlaufsschaubildern. Solche Bildtraditionen wurden weitab von ästhetisch verselbständigten, projektiv-impressionistischen Veduten als eigenständige naturwissenschaftliche Veranschaulichungspraxis weiterentwickelt. Neben solchen eher piktographischen Bildgebungsverfahren, die allmählich auch zu mathematisch-physikalischen Formelsprachen umgebildet wurden, hat sich eine besondere Kategorie von naturbezogenen Illusions-Kunststücken etabliert: man könnte sie als wissenschaftliches Bildertheater' apostrophieren. Nicht purer Augenschein und auch nicht diagrammatisch-funktional systematisierte Zusammenhänge, sondern theatralische Inszenierungen waren das Anliegen solcher Bilddarbietungen, die chemisch-physikalische Experimente ikonographierten. Bekanntes Beispiel: Joseph Wright of Derbys Liiftpumpenexperiment (1768), in dem das prekäre Verhältnis von Physik, Theologie und Aufklärung dargestellt wurde. Solche ,Bildertheater' haben schließlich in den Vorführungen wissenschaftlicher Gesellschaften und Volkserziehungsanstalten

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wie der Berliner Urania und dann im Deutschen Museum in München ihre sinngemäße Nachfolge gefunden. Fazit: Naturstudien und Selbstwahrnehmung, Diagrammatik und wissenschaftliches Bildertheater haben sich als wichtige forschungsbezogene Visualisierungskategorien im Verlauf der Kunstgeschichte herausgebildet; mehr noch: sie sind selbst wesentliche Teile der Kunstgeschichte gewesen. Zwar ist unübersehbar, daß sich manche Schlüsselbereiche, zum Beispiel die Aspekte des neuzeitlichen Mikro- und Makrokosmos, zunehmend aus dem Prospektbestand der engeren Kunstgeschichte herausgelöst haben und zu Gegenständen vermeintlich bloß wissenschaftlicher Illustration wurden, während andererseits die im 19. Jahrhundert akademisch etablierte Kunstwissenschaft sich mehr und mehr auf ästhetische Sonderprobleme konzentrierte. Aber vor dem Horizont einer weiter ausgreifenden Bildwissenschaft, die sich mit den generellen Bedingungen und Möglichkeiten visueller Erfahrung und Erkenntnis beschäftigt, beginnen naturwissenschaftliche und kunsthistorische Betrachtungsweisen wieder zusammenzurücken. Wie hier angedeutet sind die modernen Uberschreitungen des normalen Sehvermögens in Kontexten der kunstvollen Naturwiedergabe entstanden und deswegen in ihrer ganzen Tragweite auch nur in historischen Dimensionen zu verstehen. Nur so läßt sich die ungebrochene explikative Macht der Bilder erfassen und kritisieren. Den Bildern ist aber auch noch eine andere, vorrationale Übermacht zugewachsen: die Macht der suggestiven Beweglichkeit und virtuellen Belebtheit. In der apparativen Erzeugung und medialen Vervielfältigung, die im 19. Jahrhundert mit der Photographie einsetzte, reproduzierte und potenzierte sich auch jener eigenartige Illusionscharakter, auf den die Sinnesphysiologie gestossen war: „wo aber die Bilder sind, dahin setzt das Bewußtsein die Wesen", so Ueberwegs Worte von 1859. „Vom Bild einer Raumwelt, welches wir bei offenen Augen träumen", schrieb 1862 Ewald Hering, der neben Hermann von Helmholtz wichtigste ,Optiker' in der zweiten Jahrhunderthälfte, in seinen bahnbrechenden Beiträgen zur Physiologie. Drei Jahrzehnte später präsentierte sich Henri Bergson in Matière et mémoire gleich eingangs programmatisch als ,Bild unter Bildern'. Einen konsequenten Schluß- und Fluchtpunkt solcher Symptomatik hat Ludwig Klages 1921 in seiner Schrift Vom Wesen des Bewußtseins geliefert: „Nicht Dinge, sondern Bilder sind beseelt: das ist der Schlüssel zur ganzen Lebenslehre." Diesen Schlüssel aber könnten Naturwissenschaften nicht besitzen, weil sie anstelle der ursprünglichen Wirklichkeit der Bilder, so Klages, die abgeleitete Wirklichkeit bloß unterstellter Dinge setzten. Mit dem Siegeszug der neuen Medien scheinen sich die Bilder jetzt vollends verselbständigt zu haben: den unbewegt-leblosen und kinematisch-lebhaften sind die wahrhaft lebendigen gefolgt, wenn man sich Peter Weibels elektronischer Zoologie anschließt. Biologische Informationstheorien haben ihrerseits derart imaginären Lebensvorstellungen Vorschub geleistet: Waren es früher 20

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die ,Gene' und ,Genmutationen\ die den Fortschritt der feuchten Evolution in Gang hielten, so sind es mittlerweile deren immateriell geist(er)hafte Entsprechungen, die J\4eme' (Richard Dawkins folgenreiche Begriffsprägung), die nun sogar Prozesse kultureller Fortpflanzung übernommen haben sollen. Kein Wunder, daß auch den Bildern schließlich ein deutlich von ihren Erzeugern abgehobenes Eigenleben zugeschrieben wird. In seinem neuesten Buch What Do Pictures Want? hat W. J. T. Mitchell 2005 die Idee ausgebreitet, daß Bilder eine eigene Gattung von autonomen Lebewesen sein könnten, die selbst für Menschen nicht immer durchschaubare Schicksale und Anliegen - eben Lives and Loves, so der Untertitel - haben. Im Unterschied zur Imagination des 19. Jahrhunderts erscheint Mitchells Bilder-Spezies nicht mehr ausschließlich ans humane Wahrnehmungs- und Erinnerungsvermögen gebunden. Man wird eher an Parasiten denken, die menschliche Wirtspersonen nur noch zur Vermehrung benutzen und ihrem Wesen nach fremdartig sind. Bilder als ,aliens\ die etwas von uns wollen, was wir nicht verstehen? Die Logik will nicht einleuchten, aber man spürt, daß eine andere, unheimliche Seite unserer kulturellen Galaxie anvisiert ist. - Ich fühle mich an eine ScienceFiction-Erzählung aus dem Jahre 1952 erinnert; Margaret St. Clairs Prott·. Einem Weltraum-Scout mit telepathischen Fähigkeiten gelingt es beim Flug zwischen den Sternen, Kontakt zu einer Schar von elektromagnetischen Lebewesen aufzunehmen. Nach anfänglichem Zögern beginnen die protts etwa menschengroße, fahl-leuchtende, Spiegeleiern ähnelnde Gasplasmazellen - aufdringlich zu werden. Sie wollen unablässig über „... ing the ... " reden. Die Bedeutung dieses fremdartigen Anliegens bleibt dem menschlichen Adressaten quälend verschlossen. Er begreift schließlich, daß er mit der Rückkehr zur Erde eine Pandemie dieser kommunikationslüsternen Quälgeister auslösen würde, und beschließt heroisch, im Raum zu bleiben und nur eine Warnung zurückzuschicken. Aber das reicht, um das Desaster auf den Weg zu bringen. Trotz alledem und ebendeswegen: Bilder sind eine menschliche Domäne. Der größte Teil unserer Hirnaktivitäten bezieht sich auf Bilder und bildartige Schemata. Man benötigt nicht Nano- und Kosmowissenschaften, um die Schlußfolgerung zu ziehen, daß die eigentlichen Welten der Wissenschaft und Forschung bildlos sein müssen. Für uns sind sie schon immer und vor allem in Formen der visuellen Erfahrung zugänglich gewesen. Man mag daraus einen radikalen Konstruktivismus oder ikonoklastische Theogonien ableiten. - Eine historisch verankerte Bildwissenschaft, die mit Augenmaß auch auf die extremsten Forschungsansätze und -extrapolationen einzugehen versteht, sollte als vernünftige Alternative akzeptabel sein! Und für die Kunstgeschichte' als Universitätsfach muß es um die grundsätzliche Entscheidung gehen, sich solchen Herausforderungen zu stellen oder auf gewohnten Schmalspurgeleisen weiterzufahren.

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Ausländische Wasservögel

An einem Weiher in einem Parke steht links vorn ein Pelikan neben fünf ausländischen Enten und ebenso vielen Küchlein. Links ein Postament, auf dem eine Taube sitzt. Im Mittelgrund ein Teich mit anderen Wasservögeln.

Leinwand 0,30 cm χ 1,57 cm

Jürgen Mittelstraß

Phönix und Eule Anmerkungen zur kognitiven Struktur wissenschaftlicher Disziplinen

Vorbemerkung·. Kein Kopf denkt wie der andere, und für Disziplinen gilt dies ebenso. Es gibt unterschiedliche individuelle und unterschiedliche disziplinare Denkstile; die einen machen die Originalität des Denkens, die unverwechselbare Handschrift des Einzelnen aus, die anderen die besonderen Weisen der Wissensbildung in Wissenschaftsform. Kein Kunsthistoriker, kein Physiker und kein Philosoph denkt und arbeitet auf seinem Felde wie der andere, und keine Disziplin, hier beispielhaft die Kunstgeschichte, die Physik und die Philosophie, denkt und arbeitet wie die andere. Vor die angestrebte Objektivität ist die Subjektivität gestellt - nicht nur aus den von Kant formulierten und als Kopernikanische Wende charakterisierten erkenntnistheoretischen Gründen - , und vor die immer einmal wieder angestrebte Einheit der Wissenschaft (etwa im Sinne einer ,Einheitswissenschaft' im Logischen Empirismus) die disziplinare Ordnung. Wäre dem nicht so, verlöre nicht nur das individuelle, sondern auch das disziplinare Denken seine Farbe, würde alles Wissen grau. Am Ende alles Wissens stünde nicht dessen unendlicher Reichtum - im Kaleidoskop der Köpfe und der Theorien - , sondern ein System oder eine Formel, oft als Weltformel bezeichnet und unbedacht als das höchste Ziel allen wissenschaftlichen Denkens ausgegeben. Alles Kognitive wäre gleich, womöglich selbst eine Formel oder durch eine solche ausdrückbar. Und alle Wahrheit wäre dieselbe, weil es keinen Platz für unterschiedliche Einsichten mehr gäbe. Auf die unterschiedliche Selbstwahrnehmung von Philosophie und Wissenschaft und deren Umgang mit der Wahrheit gebracht: Der Irrtum der Philosophie ist nicht die Wahrheit, sondern die Vorstellung, daß es nur eine Wahrheit gibt; der Irrtum der Wissenschaft ist nicht der Reduktionismus (als Forschungsprogramm), sondern die Vorstellung, daß er die Wahrheit ist. Die folgenden Anmerkungen beziehen sich auf die kognitive Struktur wissenschaftlicher Wissensbildung im allgemeinen, und zwar unter den Gesichtspunkten (wissenschaftliche) Rationalität definierender Kriterien und transdisziplinärer Wissensformen. Sie haben sowohl in formaler als auch in inhaltlicher Hinsicht Thesencharakter. Und da das Denken nicht zuletzt - und wohl zu 23

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allererst - ein Unterscheiden ist, beginne ich mit Unterscheidungen - in der Annahme, daß diese auch bei der Klärung der Frage nach der kognitiven Struktur unterschiedlicher wissenschaftlicher Disziplinen, d.h. unterschiedlicher Formen der wissenschaftlichen Wahrnehmung, des wissenschaftlichen Vorgehens und der wissenschaftlichen Darstellung im disziplinaren Vergleich, hilfreich sein könnten. 1. Wissenschaft besitzt eine Theorieform und eine Forschungsform. In ihrer Forschungsform sucht Wissenschaft herauszufinden, was der Fall ist; in ihrer Theorieform stellt Wissenschaft dar, was sie herausgefunden hat, was sie weiß und wie, d. h. in welcher Form, sie etwas weiß.1 In ihrer Forschungsform ist Wissenschaft Ausdruck von Objektrationalität (Wissen, was der Fall ist), in ihrer Theorieform ist Wissenschaft Ausdruck von Begründungsrationalität (Wissen, warum etwas der Fall ist und welchen konstruierenden und rekonstruierenden Handlungsformen es seine Existenz verdankt). Davon zu unterscheiden ist die institutionelle Form der Wissenschaft (in ihrer Theorie- und Forschungsform). Diese findet ihren Ausdruck in den unterschiedlichen Wissenschaftseinrichtungen und in den Disziplinen. 2. Theorie ist Darstellung, deren Architektur Darstellungsnormen folgt; Forschung ist Handlung, deren Architektur Handlungsnormen folgt. Darstellungsnormen, ζ. B. solche, die einen axiomatisch-deduktiven Aufbau des Wissens vorsehen, und Handlungsnormen, ζ. B. solche, die eine pragmatische Ordnung von Handlungsfolgen betreffen, gehören nicht derselben Klasse (von Normen) an, aber sie beziehen sich im Wissenschaftskontext aufeinander: eine pragmatische Ordnung (im Forschungskontext) gegründet' auch eine theoretische Ordnung, und eine theoretische Ordnung (im Theoriekontext) ,lenkt' auch eine pragmatische Ordnung. Anders ausgedrückt: Forschung ist stets theorieorientiert, Theorie ist stets forschungsorientiert. Forschung, die nicht theorieorientiert ist, verliert ihre wissenschaftliche Identifizierbarkeit; Theorie, die nicht forschungsorientiert ist, wird dogmatisch und stirbt ab. 3. Gibt es, wie zu Beginn behauptet, unterschiedliche disziplinare Denkstile, nunmehr im Sinne unterschiedlicher Theorie- und Forschungsstile verstanden? Es gibt sie zunächst in der Weise, daß Einheitskonzepte, die über die Theorieform und über die Forschungsform von Wissenschaft hinaus auf eine einheitliche Wissensform der Wissenschaft zielen, nicht realisierbar sind. Derar-

1 Vgl. Kuno Lorenz: The Concept of Science. Some Remarks on the Methodological Issue Construction' versus ,Description' in the Philosophy of Science, in: Peter Bieri/Rolf Peter Horstmann/Lorenz Krüger (Hrsg.), Transcendental Arguments and Science, Dordrecht 1979, 177-190.

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tige Konzepte beziehen sich (historisch und systematisch) (1) auf die Idee einer Einheit der Wissenschaftssprache, (2) auf die Idee einer Einheit der Gesetze und (3) auf die Idee einer Einheit der wissenschaftlichen Methode. 2 Zur Einheit der Wissenschaftssprache: Es gibt eine derartige Einheit im Sinne einer Einheitlichkeit der Prinzipien wissenschaftlicher Begriffsbildung, doch folgt aus dieser nicht die Einheit der Wissenschaft (im formalen und inhaltlichen Sinne). Ein Beispiel dafür bildet das ursprünglich auf einer Verifikationstheorie, später auf einer Kontexttheorie der Bedeutung beruhende Programm (im Logischen Empirismus), nach dem alle Sachverhalte in physikalischer Sprache ausdrückbar oder ihre Beschreibungen in diese übersetzbar sind. Die hier ins Auge gefaßte Einheit erfaßt allenfalls eine einheitliche Beschreibung der Sachverhalte, nicht ihre einheitliche Erklärung. Disziplinen können in ihrer Theorieform und in ihrer Forschungsform damit völlig verschieden und auch gegeneinander isoliert sein (Beispiel: die Chemie und die Soziologie), auch wenn sie ihre (empirischen wie theoretischen) Begriffe nach denselben Prinzipien bilden. Zur Einheit der Gesetze: Es gibt, etwa auf dem Wege eines erfolgreichen Reduktionsprogramms, keine derartige Einheit in Form einer inhaltlichen Vereinheitlichung der Wissenschaften in einem System, in dem spezielle Aussagen auf allgemeine Gesetze und diese wiederum auf umfassende (im Logischen Empirismus erneut physikalische) Theorien zurückgeführt werden, die am Ende in einem universellen Gesamtansatz aufgingen. Gäbe es sie, wären alle Sachverhalte nicht nur (wie im Falle einer gesuchten Einheit der Wissenschaftssprache) auf eine einheitliche Weise beschreibbar (semantische These), sondern auch auf eine einheitliche Weise erklärbar (syntaktische These, Beispiel: der Versuch einer Reduktion der Psychologie auf die Neurophysiologie). Reduktionsprogramme behindern daher auch den wissenschaftlichen Fortschritt mehr, als sie ihn befördern. Zur Einheit der wissenschaftlichen Methode: Es gibt keine derartige Einheit, es sei denn, man verstünde unter ihr die Art und Weise, wie in der Wissenschaft allgemein Geltungsansprüche begründet werden, und in diesem Sinne die Einheit der wissenschaftlichen Rationalität bzw. der wissenschaftlichen Rationalitätskriterien. Die wiederum ist zu allgemein, um ein Einheitskonzept in theoretisch-struktureller Hinsicht zu stützen. Außerdem sind auch Rationalitätskriterien nichts Statisches, sondern etwas Dynamisches - auch sie entwickeln sich. Dazu:

2 Vgl. Martin Carrier/Jiirgen Mittelstraß: Die Einheit der Wissenschaft, in: .Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Jahrbuch 1988, Berlin/New York 1989, 9 3 - 1 1 8 .

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4. Rationalitätskriterien oder Rationalitätsstandards sind rationalitätsdefinierende Normen, die sowohl die Theorieform als auch die Forschungsform der Wissenschaft bestimmen. Es läßt sich zeigen, daß dies keine ,unbewegliche' Ordnung ist. Rationalitätskriterien oder Rationalitätsstandards bestimmen nicht nur den Forschungsprozeß, indem sie ihn methodisch leiten, sie folgen ihm auch. Sie können sich im Forschungsprozeß verändern, ohne allerdings selbst zu empirischen Teilen empirischer Forschung zu werden. Als Beispiel mag hier die Norm oder das Prinzip der Reproduzierbarkeit dienen. Reproduzierbarkeit ist eine allgemeine wissenschaftliche Norm - sie sichert die Kontrollierbarkeit wissenschaftlicher Aussagen - und eine besondere experimentelle Norm. Als solche besagt sie, daß Experimente zu jeder Zeit und an jedem Ort von einem sachkundigen Experimentator wiederholbar sein müssen, wobei klar ist, daß die Reproduzierbarkeit der Experimente die Reproduzierbarkeit der Experimentier- und Meßgeräte einschließt. Anders ausgedrückt: Ein Experiment ist die Reproduktion eines anderen Experiments, wenn sich die Beschreibung der experimentellen Sachverhalte allenfalls in singularen (benennenden) Termen (Nominatoren), nicht in generellen Termen unterscheidet bzw. wenn ein Experiment von einem anderen nur in seiner raum-zeitlichen Kennzeichnung abweicht und von anderen Experimentatoren durchgeführt wird. Eben diese Bestimmung aber stößt auf theoretische und auf praktische Schwierigkeiten.3 Zu den theoretischen Schwierigkeiten gehört der Umstand, daß sich zwei (experimentelle) Sachverhalte im Sinne ihrer Reproduzierbarkeit in keinem relevanten Merkmal unterscheiden dürfen. Ein und dasselbe Merkmal, z.B. Ortsveränderungen bei Fallexperimenten (etwa am Nordpol oder am Äquator) oder Materialveränderangen (etwa der Interferometerarme beim MichelsonMorley-Experiment), kann in einem Zusammenhang wichtig, in einem anderen Zusammenhang unwichtig sein. Die Frage, unter welchen Umständen ein Experiment die Reproduktion eines anderen ist, ist nicht nur vom experimentellen Kontext, sondern auch vom theoretischen Kontext eines Experiments abhängig. Erst im Rahmen dieses Kontextes kann eindeutig gesagt werden, welche Merkmalsänderungen irrelevant sind, damit auch, wann ein Experiment als Reproduktion eines anderen gelten kann. Zu den praktischen Schwierigkeiten gehört die experimentelle Befassung mit Regelmäßigkeiten, die nicht deterministisch, sondern statistisch sind (z.B. in der Psychologie oder in der Quantenphysik). Das Problem der Reproduzierbarkeit liegt hier darin, daß auch dann, wenn Anfangs- und Randbedingungen

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Das Folgende ist weiter ausgeführt in: Jürgen Mittelstraß: Rationalität und Reprodu-

zierbarkeit, in: Peter Janich (Hrsg.), Entwicklungen der methodischen Philosophie, Frankfürt a. M . 1992, 5 4 - 6 7 .

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so weit wie technisch möglich konstant gehalten werden, die Ergebnisse variieren. Auch größtmögliche Gleichheit der Ausgangssituation garantiert keine Gleichheit der Resultate. Reproduzierbarkeit bedeutet hier die Reproduktion statistischer Kenngrößen eines experimentellen Ablaufs, d.h., eine Reihe von Einzeluntersuchungen muß als ein Experiment gelten. Ein Reproduzierbarkeitspostulat, das als Rationalitätskriterium im Wissenschaftsprozeß unverzichtbar ist, läßt sich also (aus theoretischen und praktischen Gründen) nicht völlig unabhängig von diesem Prozeß halten. Nicht nur die Forschung lernt; es lernt im Forschungsprozeß auch die Rationalität, die ihn lenkt. 5. Transdisziplinarität der Forschungsform: Probleme, z.B. Umwelt- und Energieprobleme, tun uns und der Wissenschaft immer weniger den Gefallen, sich selbst disziplinär zu definieren. Sie wachsen über die Theorie- und Forschungsformen der Disziplinen hinaus, werden transdtsziplinär.4 Transdisziplinäre Problemstellungen erfordern daher auch transdisziplinäre Forschungswege. Die führen (1) über das disziplinäre Wissen - wissenschaftliche Transdisziplinarität kann wissenschaftliche Disziplinarität nicht ersetzen - , aber eben auch (2) über das disziplinäre Wissen und die disziplinären Gewohnheiten der Wissensbildung (in Theorie- und Forschungsform) hinaus. Das gilt keineswegs nur für Standardbeispiele wie die Umweltforschung oder die Energieforschung. Auch das Problem der theoretischen Beschreibung der Wärme gehört z.B. (zumindest unter einem wissenschaftshistorischen Aspekt) hierher: So galt die Wärme zunächst als eine innere Bewegung der Materie und damit als Gegenstand der Physik. Mit der so genannten Wärmestofftheorie (Boerhaave, Lavoisier) wechselte sie in die Chemie und kehrte anschließend mit der kinetischen Wärmetheorie erneut in die Physik zurück. Das bedeutet: Disziplinäre Zuordnungen von Problemen sind selbst nicht ,naturgegeben'; sie folgen vielmehr der wissenschafdichen Entwicklung, und d. h. auch: der Disziplinengeschichte. Transdisziplinarität betrifft im übrigen Wissenschaft weit stärker im Aspekt der Forschung, d.h. in ihrer Forschungsform, als im Aspekt der Theorie, d.h. in ihrer Theorieform (der Darstellung dessen, was eine Disziplin weiß). 1 Das hat auch Konsequenzen für das Wissenschaftsverständnis selbst. Wissenschaft gilt noch immer primär als e i n p r o p o s i t i o n a l e s und als ein instrumeiitelles Wissen, d. h. als ein Wissen in Theorie- und Methodenform, ihre Forschungsform als etwas Vorläufiges, als etwas, das noch keinen Eingang in eine Theorieform

4 Zum Begriff der Transdisziplinarität vgl. J ü r g e n Mittelstraß: Wohin geht die Wissenschaft? Uber Disziplinarität, Transdisziplinarität und das Wissen in einer Leibniz-Welt, in: ders., Der Flug der Eule. Von der Vernunft der Wissenschaft und der Aufgabe der Philosophie, Frankfurt a. M . 1989, 6 0 - 8 8 . 5

Vgl. wiederum Carrier/Mittelstraß 1989 (wie Anm. 2), 1 1 6 - 1 1 7 .

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gefunden hat. Diese Auffassung ist irreführend; die eigentliche Wirklichkeit der Wissenschaft ist nicht ihre Theorieform, sondern ihre Forschungsform. Forschung aber ist im wesentlichen ein Handeln, zwar unter Theorie- und Methodenbedingungen, aber eben selbst nicht als Theorie oder Methode. Das ist Forschung nur, wenn sie sich in ihren Resultaten und in ihren Wegen beschreibt. Hätte Wissenschaft nur oder im wesentlichen Sinne Theorie- und Methodenform, wäre Forschung selbst etwas Transwissenschaftliches, wüchse sie aus der Wissenschaft heraus. Das aber bedeutet - nunmehr unter dem Aspekt kognitiver Strukturen wissenschaftlicher Disziplinen - , daß ein Begriff von Wissenschaft, der nur die theoretischen und die Methodenseiten wissenschaftlicher Arbeit erfaßt, zu kurz greift. Forschungsgegenstände, Theorien und Methoden, die bisher die Selbstwahrnehmung und das wissenschaftssystematische Selbstbewußtsein der Disziplinen im wesentlichen ausmachten, erfassen Forschung nur in ihren theoretischen' Strukturen, gewissermaßen unter ihrer antizipierten Theorieform, nicht in ihrer eigentlichen Praxis. Die Zukunft der Wissenschaft aber liegt weniger in dem, was sie in Theorie- und Methodenform weiß, als vielmehr darin, was sie in konkreten Forschungssituationen, befaßt mit selbst erfundenen' oder sich in der (gemeinsamen) Welt aufdrängenden Problemen, die mehr und mehr einen disziplinaren Zuschnitt verlieren, tut. Transdisziplinarität ist in erster Linie ein Forschungsprinzip, kein Theorieprinzip. Kognitive Strukturen, die sich bisher weitgehend disziplinar definierten (und als solche klar waren), werden sich diesem Umstand anpassen müssen - und sie werden in dieser Anpassung ihre disziplinäre Klarheit verlieren. Disziplinen, die sich dieser Entwicklung verweigern, werden hinter der wissenschaftlichen Entwicklung, gemeint ist die Forschungsentwicklung, zurückbleiben. Wissenschaftliche Leistung wird mehr und mehr transdisziplinär erbracht, wenn auch weiterhin disziplinär gemessen werden. Nur werden auch die disziplinären Maße und die sie bestimmenden wissenschaftlichen Rationalitätsnormen (siehe Reproduzierbarkeit) zunehmend in transdisziplinäre Forschungsprozesse hineingezogen werden. Auch sie sind ,offen' - wie der Wissenschaftsprozeß selbst. Schlußbemerkung: Wohin geht die Wissenschaft? Wird sie in ihrer Darstellungs- bzw. Theorieform ihren alten Traum von der Einheit alles Wissenschaftlichen (endgültig) begraben und gleichzeitig in ihrer Forschungsform im Prinzip der Transdisziplinarität eine ganz andere Einheit finden? Werden die Köpfe der wachsenden industriellen Formen der Wissenschaft, in denen sie selbst austauschbar werden6, wieder Herr werden, unterschiedliche Denk6 Vgl. Helmuth Plessner: Zur Soziologie der modernen Forschung und ihrer Organisation in der deutschen Universität - Tradition und Ideologie (1924), in: ders., Diesseits der Utopie. Ausgewählte Beiträge zur Kultursoziologie, Frankfurt a. M. 1974, 130 ff.

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Stile nicht als Störung des ,Wissenschaftsbetriebs', sondern als Motoren im offenen Wissenschaftsprozeß, der sich seine Ziele immer wieder neu setzt, wahrgenommen werden? Werden z.B. zu unterschiedlichen Denkstilen und ihren Forschungs- und Darstellungsformen neue Bilderformen, Formen einer denkenden Visualität, treten? Pointiert ausgedrückt: Werden die Bilder neben den Theorien, die wir geschaffen haben, mit und f ü r uns denken, insofern sie, wie das Horst Bredekamp in einer beeindruckenden Analyse des Darwinschen Evolutionsdiagramms formuliert hat, Gedanken bergen, „in denen sich die Grenzen des Diskursiven ausloten""? W i r wissen es nicht. Die Frage, wohin die Wissenschaft, wohin das wissenschaftliche Denken geht, ist eine unbeantwortbare Frage - nicht weil die W i s senschaft über sich selbst nicht Bescheid wüßte, sondern weil sie ungeheuer erfinderisch ist, weil sie sich in ihren Problemen und Problemlösungen, in ihren Fragen und Antworten, in ihren Zielen und Zwecken selbst immer wieder neu erfindet. U m eine früher verwendete Metapher zur Bestimmung des Unterschieds zwischen Wissenschaft und Philosophie noch einmal zu verwenden*: Das wissenschaftliche Denken realisiert sich in seinen Werken und vernichtet sich, indem es sich ständig neu erfindet, mit seinen Werken. Sein Symbol ist Phönix, wie die Eule das Symbol der Philosophie ist. Wissenschaft schafft sich selbst, wie sich die Philosophie ständig selbst, und was sie gesehen hat, anblickt. Wissenschaft lebt von der Sterblichkeit des Wissens, Philosophie von der Unendlichkeit der Reflexion, die nichts vergißt, während die Wissenschaft vergißt und Neues entdeckt. Die Unendlichkeit der Reflexion begegnet der Endlichkeit des Wissens, in der wiederum dessen eigentümliche Unendlichkeit, das nicht Zuendekommen des (wissenschaftlichen) Wissens, begründet liegt. Hinzu treten unterschiedliche individuelle und disziplinäre Denkstile, die ihre eigene Unendlichkeit haben. Kein Kopf denkt wie der andere - und keiner findet ein Ende.

7 Horst Bredekamp: Darwins Evolutionsdiagramm oder: Brauchen Bilder Gedanken?, in: Wolfram Hogrebe/Joachim Bromand (Hrsg.), Grenzen und Grenzüberschreitungen (XIX. Deutscher Kongress für Philosophie Bonn, 2 3 . - 2 7 . September 2002). \orträge und Kolloquien, Berlin 2004, 8 6 3 - 8 7 7 . 8 J ü r g e n Mittelstraß: Gibt es Grenzen des Wissens?, in: ders., Wissen und Grenzen. Philosophische Studien, Frankfurt a. M . 2001, 135-136.

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ARCHITEKTONISCHES CAPRICCIO 36,5 χ 28,7 cm Feder in Braun und Schwarz, Pinsel in Braun und verschiedenen Grautönen, Rötel, hellgraublau und grau laviert und cremefarben gehöht, Pentimente mit weisser Deckfarbe, grosse Partien sind fleckhaft mit dem Pinsel gedunkelt.

Otto Karl Werckmeister

Von Marx zu Warburg in der Kunstgeschichte der Bundesrepublik

Marxistische Kunstgeschichte in der Bundesrepublik Der Aufstieg einer marxistischen Kunstgeschichte als methodologische Minderheitsposition in Westeuropa nach 1968 ging je nach den politischen Verhältnissen verschiedenartig vor sich. In der Bundesrepublik fügte er sich in eine öffentliche Kampagne gegen die personelle Fortdauer akademischer Eliten aus dem nationalsozialistischen Vorgängerstaat ein. Dabei wurde die scheinbar unpolitische konservative Grundeinstellung führender Kunsthistoriker, die sich im Dritten Reich politisch kompromittiert hatten, einer Ideologiekritik marxistischer Observanz unterzogen. Dieser wissenschaftspolitische Vorgang verlief parallel zu einem stufenweisen Regierungswechsel, der sich über fast drei Jahre erstreckte. Am 1. Dezember 1966 mußten die Christlichen Demokraten, die seit der Gründung der Bundesrepublik im Jahre 1949 die Regierung geführt hatten, eine Koalition mit der sozialdemokratischen Opposition eingehen. Dies rief eine selbsterklärte außerparlamentarische Opposition' linker gesellschaftlicher und kultureller Kräfte auf den Plan, die die verfassungsmäßige Stabilität der Bundesrepublik zu gefährden schien. Als schließlich im Oktober 1969 eine Koalition der beiden sozialdemokratischen und liberaldemokratischen Minderheitsparteien die Christlichen Demokraten vollends aus dem Amt drängte, hatte sich die ,außerparlamentarische Opposition' mit einer ausgeprägt marxistischen Ideologie in der Öffentlichkeit dauerhafte Resonanz verschafft. Eine andersgeartete marxistische Herausforderung an die konservative Wissenschaftskultur der Bundesrepublik kam aus der Deutschen Demokratischen Republik, wurde jedoch ignoriert. Diese Volksrepublik' unter kommunistischer Vorherrschaft und sowjetischer Kontrolle stellte sich als erster sozialistischer Staat auf deutschem Boden dar. In der Bundesrepublik mußte eine kulturelle Opposition von links, die demokratische Verhältnisse radikalisieren wollte, auf einen kategorischen Abstand von ihrer marxistisch-leninistischer Staatsdoktrin bedacht sein. 31

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Rudimentäre Tradition und Kritische Theorie In diesem ideologisch angespannten Umfeld politischer Auseinandersetzungen griffen jüngere Assistenten und Studenten, die marxistische Kunstgeschichte aus der Opposition zum akademischen Establishment heraus entwickelten, auf die Frühschriften von Marx und Engels zurück, die noch vor den kanonischen Texten der kommunistischen Orthodoxie datierten. Die Kritik der kapitalistischen Gesellschaft, die ihrem Wissenschaftsverständnis zu Grunde lag, zielte weder auf eine Ermächtigung der Arbeiterklasse noch auf einen sozialistischen Staat. 1 Ein derartiger Zugriff auf marxistische Theorie konnte sich innerhalb der Kunstgeschichte nur auf eine schmale Tradition berufen. Die wenigen, institutionell marginalisierten Wissenschaftler im Exil, die in den fünfziger Jahren eine dezidiert marxistische Kunstgeschichte betrieben hatten, allen voran die beiden Ungarn Arnold Hauser und Frederick Alitai und der Deutsche Max Raphael, waren nicht weiter gegangen, als hergebrachte Klassifizierungen und Periodisierungen der konventionellen Kunstgeschichte marxistisch zu interpretieren. Ihrem Geschichtsverständnis fehlte eine langfristige Perspektive kapitalistischer Modernisierung und revolutionären Wechsels, wie sie die politische Theorie des Marxismus entwirft. Um die Kluft zwischen einer derart rudimentären marxistischen Kunstgeschichte und dem Reflexionsniveau marxistischer Theorie in ihrer eigenen Kultur zu schließen, stützten sich die neuen marxistischen Kunsthistoriker und Kunsthistorikerinnen der Bundesrepublik auf das Korpus der Literatur, das vom Frankfurter Institut für Sozialforschung seinen Ausgang nahm. Dieses Institut war 1924 als Forschungszentrum für die politische Bildung der Arbeiterbewegung gegründet worden, hatte sich seit Beginn der Wirtschaftskrise auf akademische Forschung zurückgezogen und hatte im New Yorker Exil aus pragmatischen Gründen jede tagespolitische Festlegung vermieden. Nach der Rückkehr an die Frankfurter Universität übte es mit seiner mittlerweile ausformulierten ,Kritischen Theorie' auf die oppositionelle Kultur der Bundesrepublik einen maßgeblichen Einfluß aus. Während der Studentenbewegung 1968 aktivierten Herbert Marcuse, ein früheres Mitglied, und Jürgen Habermas, einer der Direktoren, die marxistischen Ursprünge dieser Theorie zur Begründung oppositionellen Verhaltensformen der akademischen Kultur.2

1 Martin Warnke (Hrsg.): Das Kunstwerk zwischen Wissenschaft und Weltanschauung, Gütersloh 1970; kritische berichte 1-8, 1973-1980. 2 Rolf Wiggershaus: Die Frankfurter Schule. Geschichte, theoretische Entwicklung, politische Bedeutung, München 1987, 676 ff.

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Von M a r x zu W a r b u r g in der K u n s t g e s c h i c h t e der Bundesrepublik

Warnke und Bredekamp Die neue marxistische Kunstgeschichte der Bundesrepublik trat im Ulmer Verein, einer oppositionellen Untergruppierang des Deutschen Kunsthistorikerverbandes, an die Öffentlichkeit. Dieser war 196B gegründet worden, um durch eine demokratische Öffnung von Publikationsorganen, Tagungen und akademischen Einstellungsverfahren die Interessen jüngerer Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen gegen die herrschenden Verhältnisse zu befördern. Innerhalb zweier Jahre wurde seine Zeitschrift, die kritischen berichte, zur westdeutschen Plattform marxistischer Kunstgeschichte. 1970 organisierten seine aktivsten Mitglieder auf dem Kölner Kongreß des Deutschen Kunsthistorikerverbandes eine provokative Sitzung mit dem Titel Das Kunstwerk zwischen Wissenschaft und Weltanschauung, deren Programm darin bestand, nationalsozialistische Denkschemata in der deutschen Kunstgeschichte der Nachkriegszeit aufzudecken.' Zwei der prominentesten Mitglieder des Ulmer Vereins waren Martin Warnke, der 1970 zum Professor an der Universität Marburg ernannt wurde, und Horst Bredekamp, der 1975 bei Warnke promovierte. Der Aufstieg dieser beiden Gelehrten während der folgenden dreißig Jahre im kunstgeschichtlichen System der Bundesrepublik als Professoren an der Universität Hamburg und der Berliner Humboldt-Universität ist eng verbunden mit dem Paradigmawechsel von Marx zu Warburg, der sich während dieser Zeit vollzog. Warnkes Buch Bau und Uberbau von 1976, das dieser aus seinen Seminaren in Marburg entwickelte, und Bredekamps Buch Kunst als Medium sozialer Konflikte von 1975, eine überarbeitete Fassung seiner Dissertation, sind die beiden herausragenden Werke aus der marxistischen Phase der westdeutschen Kunstgeschichte. 4 Beide Bücher bieten umfassende Analysen mittelalterlicher Kunst - Architektur bei Warnke, religiöse Bildkunst bei Bredekamp - als Auseinandersetzungsform von Klassenverhältnissen - konsensuellen bei Warnke, konfliktiven bei Bredekamp. In Bau und Uberbau geht Warnke von einer soziologischen Analyse der veröffentlichten Schriftquellen über den Baubetrieb im iMittelalter aus. Er erhellt die Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Segmenten mittelalterlicher Gesellschaften, die erforderlich war, um in der kirchlichen Baukunst überregionalen Maßstäben („Anspruchsniveaus") künstlerischer Leistung zu genügen. Er

3

W a r n k e 1970 (wie A n m . 1); vgl. O t t o Karl Werckmeister: Radical Art History, in: Art

J o u r n a l 42, 1 9 8 2 , 2 8 4 - 2 9 1 . 4

M a r t i n W a r n k e : Bau u n d U b e r b a u . Soziologie der mittelalterlichen Architektur nach den

Schriftquellen, F r a n k f u r t a. M . 1976, 2 1979; H o r s t Bredekamp: K u n s t als M e d i u m sozialer Konflikte. Bilderkämpfe von der Spätantike bis zur Hussitenrevolution, F r a n k f u r t a. M . 1975.

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Otto Karl Werckmeister

zeigt, wie Könige und Bischöfe, Mönche und Bürger, Adlige und Volksmassen ihre gesellschaftliche Gegnerschaft zurückstellen und ihre Rechte und Ressourcen bündeln mußten, um eine Architektur hervorzubringen, die den Zusammenhalt christlicher Gemeinschaften oberhalb von Klassentrennungen zur Anschauung bringt. In Kunst als Medium sozialer Konflikte behandelt Bredekamp die anhaltenden, oft mörderischen Debatten über die theologische Legitimität religiöser Bildkunst vom frühen Christentum bis zum byzantinischen Bilderstreit und weiter bis zur hussitischen Reformation. Dahinter deckt er Klassenkämpfe zwischen weltlichen Herrschern und kirchlichen Institutionen um die politische Kontrolle und die wirtschaftliche Ausbeutung ihrer Untertanen auf. Er zeigt, wie diese Instanzen Bilder Christi und der Heiligen als Instrumente einsetzten, um sich eine Bevölkerung gefügig zu machen, die der Bildmagie verfallen war. Radikaler als Warnke, bezog sich Bredekamp auf die Kritik der Religion als Institution der Herrschaftsausübung, die der junge Marx in den Notizen für seinen Enzyklopädieaufsatz Uber religiöse Kunst entworfen hatte.5

Die Wende zur konservativen Politik Zwischen 1978 und 1982 mußten marxistische Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen in den kapitalistischen Demokratien Europas und der USA zur Kenntnis nehmen, daß ihre antikapitalistischen Grundsatzpositionen den demokratischen Mandaten neu gewählter konservativer Regierungen zuwiderliefen. Diese Regierungen suchten einer weltweiten Rezession, die seit 1973 im Gange war, zu begegnen, indem sie die Produktion durch defizitäre Haushaltspolitik ankurbelten, einen Rüstungswettlauf mit der Sowjetunion entfachten und eine politische Entmachtung der Gewerkschaften durchsetzten. In diesem veränderten politischen Umfeld verlor die Wiederbelebung einer marxistischen Wissenschaft, Kunstgeschichte einbegriffen, ihre ideologische Resonanz in der Öffentlichkeit, denn sie konnte ihren radikaldemokratischen Anspruch nicht mehr einlösen. Sie wurde von einer introvertierten Sozialgeschichte der Kunst überholt, der es um künstlerische Berufspraxis, Interessen von Auftraggebern und kulturelle Funktionen von Kunstwerken ging, und die von poststrukturalistischen Theorien gesellschaftlicher Abweichung und von konkurrierenden Selbstermächtigungsansprüchen benachteiligter Minderheiten getragen wurde. Zu der dynamischen Vereinbarung von Wirtschaft, Gesellschaft und Politik, wie sie die marxistische Tradition entwirft, drang sie nicht mehr vor. 5 Mikhail Lifshitz: The Philosophy of Art of Karl Marx, New York 193 8, 2 7; vgl. Otto Karl Werckmeister: Kunst und Ideologie bei Marx, in: ders., Kunst und Ideologie bei Marx und andere Essays, Frankfurt a. M. 1974, 7-35, vgl. 11-12.

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Von iMarx zu Warburg in der Kunstgeschichte der Bundesrepublik

Zehn Jahre lang arbeiteten westdeutsche Kunsthistoriker unter maßgeblicher Beteiligung von Warnke und Bredekamp daran, das Werk Aby Werburgs und seiner Bibliothek zu einem Modell für eine depolitisierte Sozialgeschichte der Kunst aufzuwerten, das tragfähiger war als jene Theorien des Tages. Doch auch diese Neuorientierung fügte sich in die „Zitadellenkultur" der achtziger Jahre ein 6 , die gesellschaftliche Krisen wohl zur Kenntnis nahm, ja beklagte, doch ihre politische Behebung nicht mehr in Rechnung stellte.

Warburgs Wiedergewinnung Ein internationaler Warburg-Kongreß, der 1990 in Hamburg stattfand, ratifizierte Warburgs postume Erhebung zur Schlüsselfigur für die aktuelle Kunstgeschichte." Es traf sich, daß er in das Jahr der deutschen Wiedervereinigung fiel, die die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Systeme der Bundesrepublik intakt und dominant, die der Deutschen Demokratischen Republik aufgelöst und diskreditiert hinterließ. In einem historischen Augenblick, da die neu erlangte staatliche Einheit als Triumph sowohl der demokratischen Freiheit über die kommunistische Unterdrückung als auch des produktiven Kapitalismus über den bankrotten Sozialismus gefeiert wurde, schien es mit der marxistischen Tradition vorbei zu sein. Jetzt wurde die Rekonstruktion einer historischen Kultur für die ,Berliner Republik' zur politischen Aufgabe für die Wissenschaft, Kunstgeschichte einbegriffen. Deren langgehegte Sehnsucht nach Traditionen, die hinter die nationalsozialistische Diktatur zurückreichen, ohne von dieser kompromittiert zu sein, wurde kulturpolitisch relevant. Vor allem gab es hier einen Konsens darüber, daß die Vertreibung jüdischer Wissenschaftler unter Hitler dem Fach seine aufgeklärtesten Vertreter entrissen hatte. Die Tradition der Bibliothek Warburg, des bedeutsamsten gemeinschaftlichen Beitrags jüdischer Wissenschaftler zur deutschen Kunstgeschichte, bot sich zur Wiedergewinnung an. Der Weltruf, den ihre Vertreter in der Emigration erlangt hatten, bestätigte ihre Dauerhaftigkeit. Bald nach dem Hamburger Warburg-Kongreß wurde mit Warnkes maßgeblicher Beteiligung das ursprüngliche Gebäude der Bibliothek Warburg in Hamburg restauriert und unter dem Namen Warburg-Haus zu einem wirkungsvollen Forschungszentrum ausgebaut.

6 Otto Karl Werckmeister: Zitadellenkultur, München 1989. 7 Horst Bredekamp/Michael Diers/Charlotte Schoell-Glass (Hrsg.): Aby Warburg. Akten des internationalen Symposions, Hamburg 1990, Weinheim 1991.

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Von der Sozialgeschichte zur Bildanthropologie Warburg hatte seine Sozialgeschichte der Kunst auf Renaissance und Reformation beschränkt, ohne sie zum Paradigma zu erheben. Mit nüchterner Genauigkeit hatte er die professionellen, soziologischen und ideologischen Mechanismen einer künstlerischen Kultur entwirrt, die sich die bürgerliche Florentiner Kaufmannsklasse leisten konnte. Aber er war nicht so weit gegangen, ihre Funktionen innerhalb gesamtgesellschaftlicher, geschweige denn politischer Prozesse zu bestimmen. In Warburgs teleskopierter Wechselwirkung von Kunstproduktion und Gesellschaftsprozeß nimmt Geld den Platz von Arbeit als Substanz des Reichtums ein, der künstlerische Höchstleistung verbürgt. Gesellschaftliche Gruppen, die nicht an dieser Transaktion von Kunst und Geld beteiligt sind, geraten dabei aus dem Blick. Die Aufgabe von Künstlern besteht darin, eine ästhetische Lebenswelt zu gestalten, deren literarische Gelehrsamkeit, theologische Schlüssigkeit und emotionale Ambivalenz die Selbstreflexion ihrer Mäzene spiegelt. Deren Bemühungen um künstlerische Engfiihrungen ihrer Finanzberechnungen, Frömmigkeitsbezeugungen und Horoskopfixierung fügen sich zu einer Conditio humana eigener Art. Doch nicht diese kritische Auflösung des ,Renaissance'-Ideals in eine kulturpolitische Ideologie der Florentiner Kaufmannsklasse oder in eine Vorstellungsform des Aberglaubens in der Reformationspropaganda befeuerte die wissenschaftliche Einbildungskraft der Redner auf dem Hamburger Kongreß. Vielmehr schlugen Warburgs spätere Spekulationen über die lebenserhaltende Macht symbolischer Bilder als anthropologische Konstante, das verzögerte Resultat seiner Expedition zum ,Schlangenritual' der Indianer von Arizona8, und das unabgeschlossene Großprojekt seines Mnemosyne-Atlasses9, den Kongreß in ihren Bann. Begeistert pries Bredekamp Warburg als einen der einflußreichsten Denker des Jahrhunderts, von gleicher Bedeutung wie Albert Einstein und Sigmund Freud.10 Damit wurde die internationale Geltung, zu der die Kunstgeschichte der Bundesrepublik durch ihre professionelle Modernisierung aufgestiegen war, in einem wissenschaftsgeschichtlichen Durchbruch vom Beginn des Jahrhunderts verankert. Diese Traditionsbildung sparte die kritischen Beiträge einiger Kongreßteilnehmer zu ihrer politischen Revision zwanzig Jahre vorher

8 Aby Warburg: Schlangenritual. Ein Reisebericht, Berlin 1996. 9 Aby Warburg: Der Bilderatlas MNEMOSYNE, hrsg. v. Martin Warnke unter Mitarbeit v. Claudia Brink, in: Gesammelte Schriften. Studienausgabe, hrsg. v. Horst Bredekamp u. a., Abteilung 2, Bd. 11,1, Berlin 2000. 10 Horst Bredekamp: ,Du lebst und thust mir nichts'. Anmerkungen zur Aktualität Aby Warburgs, in: Bredekamp/Diers/Schoell-Glass 1991 (wie Anm. 7), 1-7.

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Von Marx zu W a r b u r g in der Kunstgeschichte der Bundesrepublik

aus. Warburgs Kunstgeschichte wurde zur Quelle einer transhistorischen Bildwissenschaft und einer Anthropologie der künstlerischen Kultur, den neuen Zielvorstellungen des Fachs.

Flucht aus der Geschichte Die Verlagerung von Warburgs Interesse von der Sozialgeschichte der Kunst auf eine Anthropologie des Bildausdrucks fiel mit dem politischen Umsturz vom selbstgewissen Wilhelminischen Kaiserreich zur krisengeschüttelten W e i marer Republik zusammen. Seine mikroanalytische Untersuchung des ,Schlangenrituals' und sein makrosynthetisches Projekt des Mnemosyne-Athsses visierten Fluchtpunkte aus der Geschichte an. Beide sollten eine zeitübergreifende Bildersphäre fassen, über deren Herkunft man nichts weiß. W e r sich Bilder machen will, beschwört sie herauf, erfindet sie nicht. W a r b u r g und die meisten, wenn nicht alle seiner Mitarbeiter waren jeder Geschichtsphilosophie abhold, die Kunst dem Geschichtsprozeß unterordnet. Hierin unterschieden sie sich von einer Tradition, die von Hegel zu Marx und weiter zu Denkern der Gegenwart wie Jürgen Habermas oder Perry Anderson führt. Warburgs philosophische Autorität war vielmehr Friedrich Nietzsche, nicht nur, weil dieser die destabilisierende ,dionysische' Mentalität in der klassischen Antike aufgewertet hatte, sondern auch, weil er Kunst als lebenssteigernde Leistung einer Kultur begriff, die die historischen Verhältnisse transzendieren kann. Es war daher kein Zufall, daß die Wendung von Marx zu Warburg mit dem Aufstieg Nietzsches zur wichtigsten geistesgeschichtlichen Bezugsfigur in der öffentlichen und akademischen Kultur der Bundesrepublik während der achtziger Jahre einherging. 1 1 M e h r e r e Redner auf dem H a m b u r g e r Kongreß behandelten W a r b u r g s anthropologische Vertiefung der kunstgeschichtlichen Wissenschaft als Vermächtnis, das es fortzuführen gelte. Sie erhoben die Suche des Subjekts nach kultureller Selbstorientierung, um die es ihm ging, zur Schlüsselfrage einer geschichtslosen ,Moderne'. Unübertroffen flamboyant verglich Kurt Forster die Bibliothek Warburg mit einem elektrischen Schaltkreis und den Mnemosy77e-Atlas mit El Lissitzkis Fotomontagen. 1 2

11 Steven E. Aschheim: T h e Nietzsche Legacy in Germany 1890-1990, Berkeley/Los Angeles 1992. 12 Kurt W . Forster: Die Hamburg-Amerika-Linie, oder: Warburgs Kulturwissenschaft zwischen den Kontinenten, in: Bredekamp/Diers/Schoell-Glass 1991 (wie Anm. 7), 11-37, vgl. 20-21,29-30.

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Otto Karl Werckmeister

Rückblick Im Jahrzehnt nach dem Hamburger Kongreß beriefen sich Warnke und Bredekamp in ihren erfolg- und einflußreichen institutionellen Unternehmungen an den Universitäten von Hamburg und Berlin auf Warburgs Vorbild. So konnten sie Grundproblemen der Modernisierung in der politischen Kultur der Bundesrepublik mit der historiografischen Autorität einer kunstgeschichtlichen Tradition begegnen. Warnkes Projekt für das Warburg-Haus unter dem Schlagwort politische Ikonografie' zielt auf eine Typologie von Bildformeln der politischen Kultur, die historische Perioden und politische Systeme übergreift." Bredekamps Projekt für das Helmholtz-Zentrum zielt auf eine Wissenschaft der Bilder jenseits von Kunst und ästhetischem Ausdruck als elementaren, ja physiologischen Vorstellungsformen des Wissens und der Kommunikation. 14 Im Rückblick lassen sich sowohl die Kontinuitäten als auch die Veränderungen in den theoretischen Voraussetzungen, methodischen Vorgehensweisen und thematischen Interessen der hier skizzierten Wende von Marx zu Warburg in der Kunstgeschichte der Bundesrepublik zeitgeschichtlich beurteilen. Sie stehen im Zusammenhang mit der wissenschaftsgeschichtlichen Traditionsbildung, die während der frühen neunziger Jahre die robuste wirtschaftliche und politische Selbstorientierung der ,Berliner Republik' flankierte. Heute, in voller gesellschaftspolitischer Krise, sind diese Voraussetzungen nicht mehr gegeben.

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URL: (06. 07. 2006). URL: (06. 07. 2006).

Werner Busch

The Englishness of the Museum Britannicum

Aus heutiger Sicht ist das Museum Britannicum ein höchst sonderbares Unterfangen. 1 Stutzig machen sollte, daß der gesamte englische Hochadel das Werk subskribiert hat, Wissenschaftler und Künstler haben sich entschieden zurückgehalten. Von Künstlerseite findet sich allein Benjamin West, zwar schon Akademiemitglied, aber noch lange nicht Akademiepräsident, dafür aber bevorzugt von Georg III. als Historienmaler beschäftigt - das mag eine bewußte Anknüpfung an die Reihe der Dukes und Earls erklären, zumal das Werk dem Prinzen von Wales gewidmet ist. Die Erstausgabe erschien 1778, die von Peter Bovle korrigierte und herausgegebene zweite Ausgabe 1791. Das Nachwort merkt an, daß der Zeitpunkt des Erscheinens der Erstausgabe ungünstig sei: mitten im amerikanischen Freiheitskrieg, in dem sich die Kolonien vom Mutterland lossagten - ein Grund mehr für den gebürtigen Amerikaner West, ein Bekenntnis zu England abzulegen. Die Autoren des Museum, John und Andrew van Rymsdyck, die vor allem auch die Zeichner der auf dreißig Tafeln dargestellten Objekte sind, haben die potentiellen Adressaten befragt, was sie in dem Werk dargestellt sehen wollten: jeder etwas anderes. Darum hätten sie eine Mischung aus „Antiquities" und „Natural Curiosities" wiedergegeben, nach drei Kriterien: ein paar feine Dinge, einige eher mittelmäßige und „a few perhaps quite indifferent". :

1

J o h n u n d Andrew van Rymsdyck: M u s e u m Britannicum. Being an Exhibition of a G r e a t

Yariety of Antiquities and N a t u r a l Curiosities. Belonging to T h a t N o b l e and M a g n i f i c e n t Cabinet, t h e British ¿Museum. Illustrated with C u r i o u s Prints, Engraved after the Original Designs, f r o m N a t u r e , O t h e r Objects; and with Distinct Explanations of Each Figure, L o n don 1778; J o h n und A n d r e w van Rymsdyck: M u s e u m Britannicum; o r a Display in T h i r t y Two Plates, in Antiquities and N a t u r a l Curiosities, in T h a t N o b l e Cabinet, t h e British M u s e u m , hrsg. v. P. Boyle, L o n d o n 2 1791. Das .Museum findet in der L i t e r a t u r n u r selten E r w ä h n u n g , beinah zu e r w a r t e n d e A u s n a h m e : Barbara M . Stafford: Kunstvolle Wissenschaft. Aufklärung, U n t e r h a l t u n g u n d der N i e d e r g a n g der visuellen Bildung, A m s t e r d a m / D r e s d e n 1998 (zuerst engl. 1994), 2 9 0 - 3 0 3 . 2

Rymsdyck 1791 (wie A n m . 1), IV.

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Das ist nur zu wahr, das Werk verzichtet offenbar willentlich auf jede irgendwie nachvollziehbare Ordnung, es gibt noch nicht einmal Gegenstandsabteilungen, sondern nur einen bunten Strauß. Das Museum hat Folioformat, die Abbildungen haben immerhin eine Plattengröße von etwa 33 x23 cm. Bei größeren Gegenständen finden sich zwei, bei kleineren mehrere auf einer Seite, sie können, müssen aber nicht unbedingt etwas miteinander zu tun haben. Auf Tafel I haben wir oben ein aus einem Pflanzenblatt gebautes bengalisches Vogelnest und unten ein Wespennest aus Spanisch-Westindien, auf Tafel II oben einen Oculus Mundi genannten Stein aus China, der, in Wasser getaucht, durchsichtig wird, unten eine Muschel mit Perle. Gefolgt auf Tafel III von einem verkrusteten Schwert und einem gleichermaßen verkrusteten Totenkopf, beide im Tiber in Rom gefunden. Der Kommentar macht sich Gedanken über verschiedene Formen der Versteinerung, im Wasser, im Sand etc. Tafel IV bringt ein unbekanntes metallenes, wohl antikes Objekt, die „Antiquaries" sollen sich darüber den Kopf zerbrechen, gekoppelt ist es mit römischen Insignien. Und so geht es weiter: eine Tafel liefert Eier, beginnend mit einem auffällig blauen Vogelei bis hin zu Krokodilseiern, ein verrottetes Hufeisen aus einer ungarischen Kupfermine scheint nun aus verkupfertem Eisen zu bestehen. Kommentar und Anmerkungen versuchen den Erkenntnisstand zu referieren und zu kommentieren. Kulturgeschichtliches hat sein Vorkommen, etwa wenn eine Muschel abgebildet wird, Pinna marina genannt, was Linné 1748 Pinna Nobilis entspricht, vulgo Steckmuschel. Sie ist gekoppelt mit einem Handschuh (Abb. 1). Das Verbindende besteht darin, daß der Steckmuschel in der Mitte der inneren Muschelschale seidige Fasern wachsen, mit denen sie sich im Sand verankert, man spricht auch vom Bart der Muschel, in der Antike byssus genannt. Dieser byssus ist schon in der Antike in Form von Fransen in Handschuhe eingearbeitet worden. Das Verfahren hat sich, wie die Autoren anfuhren, in Süditalien bis in die Gegenwart gehalten und auch aus Andalusien lassen sich Beispiele beibringen, wie das abgebildete. Und so geht es weiter, auch mit fragwürdigen Zuschreibungen, etwa wenn ein Stein vom Turm zu Babel vorgeführt wird. Ägyptisches, Römisches, Amulette, Versteinerungen, antike Tränengläser, Korallen in Handform, die Krönung vielleicht ein menschliches Horn, das Mrs. French aus Kent aus dem Hinterkopf gewachsen sein soll, kombiniert mit Kastagnetten „very ancient". Was im Himmel mag dieses Konglomerat bezwecken? Liest man die Einleitung sorgfältig, besonders die Anmerkungen, so wird deutlich, daß dies eine Werbeschrift ist, die nachdrücklich - auch die Öffnungszeiten werden genannt - den Besuch des Museum Britannicum empfiehlt - jener Sammlung, die den Grundstock des heutigen British Museum bildete, hervorgegangen aus der Stiftung der Sammlung von Sir Hans Sloane 1744 an die Nation, seit 1753 im vom Staat gekauften Montagu House beherbergt, 1756 vermehrt durch die ägyptischen Antiquitäten von Colonel William Lethieullier, 1757 durch die 40

T h e Englishness of the Musami

Britannicum

Abb. 1: Museum Britannicum, Tafel XII, Fig. 1 Steckmuschel, Fig. 2 1 Lmdschuh

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Antikensammlung von Thomas Hollis, 1772 (nicht 1771, wie die Autoren angeben) durch Sir William Hamiltons Antiken, mit den Vasen im Zentrum, 1802 durch die ägyptischen Altertümer aus Napoleons Raubzug, 1805 schließlich durch die antiken Skulpturen von Charles Townley bis hin zu den Elgin Marbles, die 1816 vom britischen Staat übernommen wurden und die Struktur der Sammlung, vor allem ihr Ausstellungskonzept, ein fur allemal radikal änderten und zum Neubau führten. 3 An Montagu House war zuvor schon angebaut worden, um Townleys Antiken unterbringen zu können. Die treibende Kraft hinter den Plänen der Errichtung eines Museum Britannicum war die Society of Dilettanti, einst ein Dining Club für Gentlemen mit Operninteresse, die samt und sonders auf der Grand Tour gewesen waren und spätestens seit dem Zeitpunkt der Bildungsreise sammelten. Das Interesse verschob sich, die Society finanzierte Ausgrabungen und systematische Aufnahmen von Antiken und ihre Publikation mit Stuart und Revetts Antiquities of Athens im Zentrum (Bd. 1, 1756; Bd. 2, 1789; Bd. 3, 1794). Ursprünglich wollte die Society ein eigenes Museum bauen. Noch 1785 machte Lord Camelford, selbst Mitglied der Society, dem Sekretär Joseph Banks den Vorschlag, eine Häuserzeile in Oxford Street, die ihm gehörte und an die sich sein eigenes Wohnhaus anschloß, zu einem Club- und Museumsgebäude umbauen zu lassen. Pläne ließ er von Sir John Soane fertigen. Einzige Bedingung dieses großzügigen Angebotes: Lord Camelford wollte einen unmittelbaren Zugang von seiner privaten Wohnung in das geplante öffentliche Museum. 4 Das ist bezeichnend genug: selbst wenn die Sammlungen der Mitglieder öffentlich zugänglich sein sollten, wie im Museum Britannicum, so war nicht daran gedacht, die Form der Privatsammlung gänzlich aufzugeben. Es sollte ein Sammlermuseum werden, die Bestände der einzelnen Sammlungen sollten beisammen bleiben, selbst die Inszenierungspraxis sollte über weite Strecken beibehalten werden. So setzt auch das British Museum in seiner Frühphase die Tradition der englischen Privatsammlungen fort. Das hatte einschneidende Konsequenzen. Zum einen haben die Stadtwohnungen wie die Landsitze des englischen Adels Räume mit eindeutigen Funktionen: library, dining-room, drawing-room, gallery, parlour etc. J Uber alle Räume breitete sich die Sammlung aus, die zentralen Kommunikationsräume waren die library und der dining-room. Hier war die Inszenierung am ausgeprägtesten, sie erschöpfte sich nicht in Ästhetik - Symmetrie, Pendantanordnung, Grö-

3 Wolfgang Ernst: Historismus im Verzug. Museale Antike(n)rezeption im britischen Neoklassizismus (und jenseits) (Beiträge zur Geschichtskultur Bd. 6), Hagen 1992, 204, 207, 213 ff. Der Arbeit von Ernst wird im folgenden einiges verdankt. 4 Ebd., 130. 5 Marc Girouard: Life in the English Country House. A Social and Architectural History, Harmondsworth -'1980, bes. Kap. 6 - 8 .

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Britannkum

ßenstaffelung - , sondern folgte nicht selten einer Privatmythologie des Hausherrn. Er, antike Uberlieferung hin, antike Uberlieferung her, schrieb den Gegenständen ihre Bedeutung zu, versuchte sie durch Kombination zu steigern, entwarf eine private Ikonographie, sammelte gezielt, um den eigenen Kosmos abzurunden, bestellte bei den Agenten in Italien ikonographisch Bestimmtes und sei es, daß es für den Sammler entsprechend zugerichtet wurde. Attribute konnten hinzugefügt werden, ebenso Sockelinschriften, den Figuren wurden neue Köpfe aufgesetzt, nicht nur Bartolomeo Cavaceppi restaurierte entsprechend/' Die großen englischen Händler, Thomas Jenkins, Gavin Hamilton oder James Byres lieferten Gewünschtes. Sir William Hamilton, der britische Gesandte in Neapel und selbst einer der bedeutendsten Sammler und Ausgräber, konnte ebenfalls als Vermittler dienen. 7 Ihren Niederschlag fand die Privatmythologie auf dreierlei Weise: in Sammlungskatalogen, in denen sich antiquarisches Wissen mit gezielter Privatmythologisierung verband, und die Grenzen zwischen historischem Faktum und literarischer Fiktion fließend waren, nicht selten verfaßt von antiquarischen Profis. Ferner durch den Hausherrn selbst, der in der Kommunikation mit gleichgestellten Gästen und Besuchern als Cicerone des eigenen Kosmos fungierte und drittens in Bildern der Sammlung, die nicht etwa bloß das Aussehen der Sammlungsräume dokumentierten, sondern in einem Idealbild der Sammlung den unterlegten Sinn forcierten. Im Falle von Charles Townley lassen sich die verschiedenen Dimensionen in ihrem Zusammenspiel besonders gut greifen. Townley war ein begnadeter Führer durch seine eigene Sammlung, er galt nicht nur als äußerst kenntnisreich, sondern würzte seine Führungen „by pleasantry and anecdote"", wobei die Anekdoten sich auf Auffindungs- und Erwerbungsumstände bezogen haben dürften, „pleasantry" dagegen wohl nicht nur kleine Scherze meint, sondern eher einen spielerischen Umgang mit der Bedeutungsdimension der Gegenstände. Immer geht es dem Engländer um deren Verlebendigung, nicht um die Markierung historischer Ferne, sondern um fortlebende Wirksamkeit, und intellektuelle spielerische Umkreisung läßt sie für die Vorstellung agieren. Wenn Townley seine Sammlung von Johann Zoffany im Gemälde darstellen läßt nach dem Vorbild von dessen Tribuna-Bi\d, in dem im Zentrum der Uffizien

6 Kat. Vases and Volcanoes. Sir William Hamilton and his Collection, hrsg. v. Ian Jenkins/ Kim Sloan, T h e British Museum, London 1996; Kat. Grand Tour. T h e Lure of Italy in the Eighteenth Century, hrsg. v. Andrew Wilton/Ilaria Bignamini, Tate Gallen-, London 1996 und natürlich: Francis Haskell/Nicholas Penny: Taste and the Antique. T h e Lure of Classical Sculpture. 1500-1900, New Haven/London -'1982. 7 Kat. Vases and Volcanoes (wie Anni. 6); bes. Kat. Grand Tour (wie Anm. 6), 257. 8 Ernst 1992 (wie Anm. 3), 177 (Henry Ellis nach einem Besuch bei Townlev), ausführlich zu Townley ebd., 165-200; ferner Kat. Grand Tour (wie Anm. 6), 257-262.

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eine Idealversammlung bedeutender Kunstwerke vorgestellt wird, von englischen Grand Touristen betrachtet und nicht selten individuell auf diese bezogen, so daß eine Lektüre des Bildes auf mehreren Ebenen möglich ist, dann ist die Townleysche Bibliothek ebenfalls Erscheinungsort der wichtigsten Antiken dieses Sammlers, und der Diskurs am Tisch kreist um Townleys Lieblingsskulptur, die sogenannte Iris oder Klythia, die spielerisch als Townleys Braut bezeichnet wurde. 9 Wortführer im Diskurs ist Pierre-François Hugues d'Hancarville, während Townley gesondert in strengem Profil den um ihn drapierten antiken Büsten zugeordnet ist: auch hier im doppelten Sinn eine Verschränkung von Kunst und Leben. In Townleys Haus schrieb d'Hancarville sein Hauptwerk Recherches sur Γorigine, l'esprit et les progrès des arts de la Grèce, 3 Bände, London 1786 - schon der Titel ist höchst bezeichnend: der Ursprung ist im Mythos der Vorzeit verborgen, sein Geist wirkt bis in die Gegenwart, animiert immer noch die überlieferte antike Skulptur - aber nur, wenn der Sammler diesen Geist wach hält. Townley hatte in den sechziger und siebziger Jahren gleich drei ausgesprochen ausführliche Grand Tours unternommen, eine vierte wurde nur durch den Ausbruch des Krieges mit Frankreich verhindert. Er sah in Rom die Entstehung des Museo Pio-Clementino, an dessen Zustandekommen auch die Society of Dilettanti direkt und indirekt Anteil hat, er pflegte engsten Austausch mit den Antiquaren und Sammlern, kaufte in großem Stil, er forschte selbst intensiv. Für die Anfertigung des Kataloges seiner Sammlung beschäftigte er den selbsternannten Baron d'Hancarville, trotz dessen mehr als fragwürdigem Charakter. D'Hancarville hatte schon für Sir William Hamilton den ersten Band von dessen Vasenwerk verfaßt, war, weil heftig verschuldet, mit den Druckplatten nach Florenz durchgebrannt, fand hier kurz eine Anstellung beim Großherzog, doch die Gläubiger holten ihn ein, Sir William konnte ihn auslösen, um nicht nur sein reich illustriertes Vasenwerk zu retten: d'Hancarville war auch mit der Abfassung des Katalogs der übrigen Sammlungen von Sir William beschäftigt, zwei Manuskriptbände sind im British Museum erhalten.10 Und spätestens hier finden sich d'Hancarvilles mystische Spekulationen über den Ursprung der Künste ein erstes Mal breit entfaltet. Ihn interessierten besonders antike Gemmen, Siegel in Skarabäusform, Amulettsteine, die er extrem früh datierte und an okkulte Mysterien band, vor allem an den Kult von Bacchus und Ceres in Eleusis und an den Kult der für ihn ältesten Gottheit,

9 Ernst 1992 (wie Anm. 3), 173-184; Kat. Grand Tour (wie Anm. 6), 257-258, Kat. Nr. 215. Ronald Paulson: Emblem and Expression. Meaning in English Art of the Eighteenth Century, London 1975, 138-148, 152-153; Oliver Millar: Zoffany and his Tribuna, London 1966. 10 Zu d'Hancarville: Francis Haskell: Past and Present in Art and Taste. Selected Essays, New Häven/London 1987, 3 0 - 4 5 und Kat. Vases and Volcanoes (wie Anm. 6), 45-51, 96-100; Ernst 1992 (wie Anm. 3), 178-180.

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The Englishness of the Museum Britamiicuvt der Erdgöttin Kybele. Noch weiter zurück zu reichen schienen ihm große formlose, aber geheiligte Steine, die d'Hancarville „pierres parlantes" oder „animées" nannte, er suchte Rechtfertigung dafür in antikem Schrifttum in den gewagtesten Konstraktionen, immer beeindruckend jedoch in der Mischung aus vielfältigen Quellenverweisen und höchst suggestiver Darstellungsweise." D'Hancarville stand mit derartigen Spekulationen zeitgenössisch nicht allein. Richard Payne Knight, mit allen bisher genannten Antiquaren und Sammlern in regem Austausch, publizierte 1786 An Account of the Remains of the Worship of Priapus lately existing at Iseimia, in the Kingdom of Naples in two letters; one from Sir William Hamilton, Κ. B. His Majesty's Minister at the Conn of Naples, to Sir Joseph Banks, Bart.President of the Royal Society; And the other firmi a Person residing at Isernia; to which is added, (und das stammt von Richard Payne Knight) A Discourse of the Worship of Priapus, And its Connexion with the mystic Theology of the Ancients. Es wird nicht erwähnt, wer die Publikation finanziert hat: die Society of Dilettanti. Sir William hatte sich fünf der phallischen Exvotos zur Verehrung der Heiligen Cosmas und Damian aus Isernia beschaffen können und sie 1784 bei seinem Besuch in England dem British Museum übergeben, wo sie neben seiner Kollektion antiker Priapi aufgestellt wurden. Sie zieren in versammelter Form das Titelblatt von Richard Payne Knights Traktat.1-1 Was aus alledem erhellt, ist das Folgende, das auch zum Verständnis des Museum Britamiiaim nicht unwichtig ist: die englische antiquarische Tradition wird vom Adel des 18. und des beginnenden 19. Jahrhunderts getragen, er nutzt sie zur Formulierung einer Privatmythologie, er sucht nach einem Ausgleich zwischen privatem Ansprach und öffentlicher Wirksamkeit, er treibt die Wissenschaft voran, indem er sie instrumentalisiert, er will, so wurde es auch zeitgenössisch formuliert, Kunst und Leben zusammenfallen lassen, die antiken Überbleibsel reanimieren (darum war die Entdeckung des Nachlebens antiker Kulte in christlicher Gegenwart so wichtig), vor allem aber ein Modell zur Erklärung der Ursprünge von Kult, Kunst und Wissenschaft entwickeln, mit entschiedenem Rekurs auf antikes Schrifttum. Man sollte diese Form der Geschichtsschreibung nicht gering schätzen, nur weil sie nicht dem kontinentalen, vor allem deutschen historistischen, geschichtsphilosophischen Modell entspricht, das sich als unaufhaltsam erwies, insbesondere in der musealen Konzeption: die Aufstellung der Werke in Kunstmuseen nach Schulen, vor allem aber in streng chronologischer Form waren das Resultat. Diese Form tendiert dazu, den Gegenständen das Leben auszutreiben.

11 Kat. Vases and Volcanoes (wie Anm. 6), 98-100. 12 Kat. T h e Arrogant Connoisseur. Richard Payne Knight. 1751-1824, hrsg. ν. Michael Clarke/Nicholas Penny, Witworth Art Gallery, Manchester 1982; Kat. Vases and Volcanoes (wie Anm. 6), Kat. Nr. 142.

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Jeder private Kunstsammler, ist er ehrlich und sammelt er nach Gusto, hängt nach wie vor dem englischen Modell an, das die Postmoderne wiederentdeckt hat und mit ihm ζ. B. Sir John Soanes privates Museum in Lincoln's Inn Fields, in dem er wenigstens für sich selbst und seine Sammlung in drei miteinander verbundenen Häusern seine alte Idee für das Museum der Society of Dilettanti verwirklicht hat. Und auch er vermachte sein Museum testamentarisch dem Staat - mit der Auflage, daß nichts verändert werden dürfte, so daß noch heute sein privater Kosmos vor Augen steht, der ebenfalls um Ursprungsgedanken kreist und seinen Ausgang im Kellergeschoß im ägyptischen Sarkophag von Seti I. nimmt, dem wohl bedeutendsten Stück der ganzen unendlichen, bis in Soanes Gegenwart reichenden Sammlung. 13 Die Sepulkralkammer mit dem Sarkophag bekommt bezeichnenderweise ihr Licht durch das ganze Haus hindurch vom dome - aus dem Dunkel der Vergangenheit ins Licht der Gegenwart, die die Musealisierang der Vergangenheit in lebendiger Weise unternimmt, gestiftet aus subjektiver Sicht. Der Sarkophag war erst 1815 bei von Engländern geleiteten und finanzierten Ausgrabungen in der Nekropole des ägyptischen Theben entdeckt, nach England verschifft und im British Museum deponiert und ihm zum Kauf angeboten worden. Das Museum konnte oder wollte die geforderten 2.000 Pfund nicht aufbringen, so schlug Sir John Soane 1824 zu und kehrte noch einmal den Weg der Kunstwerke um: aus dem Museum in die Privatsammlung, die wieder zum Museum werden sollte. Den Adventos des Sarkophags ließ Soane mit einem dreitägigen Fest feiern. In Soanes eigener Beschreibung zum Sarkophag heißt es, er sei „covered externally and internally with hieroglyphics, comprehending a written language, which is to be hoped the labours of modern literati will render intelligible". 14 Schon zwei Jahre zuvor hatte Jean-François Champollion das Rätsel der Hieroglyphen mit Hilfe des Steins von Rosette, der sich bekanntlich im British Museum befindet, gelöst und damit einen weiteren Baustein zur Entmythologisierung und Historisierung der Frühgeschichte geliefert. Das Ende der britischen Sammler- und Sammlungskultur zeichnet sich deutlich ab. Den Anfang vom Ende markiert das Museum Britannicum bzw. Sir Hans Sloanes Stiftung 1744. Die Publikation fußt offenbar gänzlich auf Beispielen aus Sloanes kunst- und wunderkammerartigen Sammlung. Aus einem unglaublichen Wust, zu dem 32.000 Münzen und Medaillen, 2.256 Edelsteine, 5.843 Muscheln, 5.439 Insekten oder 12.506 Pflanzen gehörten, von der 50.000 Bände umfassenden Bibliothek zu schweigen, wählten die Autoren den Bruchteil eines Bruchteils, noch dazu nach heute geradezu irrwitzig erscheinenden Kriterien

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A New Description of Sir John Soane's Museum, London 2 1969, 35-37. Ebd., 36.

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aus, offenbar durchgehend winzige und möglichst unbedeutende Objekte, die dennoch „curiosity" wecken sollten. W o d u r c h ? Durch absolute, geradezu mikroskopische N ä h e und absolute Genauigkeit in der W i e d e r g a b e : Porengenauigkeit. Die Technik der Tafeln ist mir zuerst ein Rätsel gewesen. Grundlage ist die Radierung, die Autoren verwahren sich ausdrücklich in der Einleitung gegen die V e r w e n d u n g von Kreuzschraffuren als einem Kunstmittel, das der Naturerscheinung nicht nahe g e n u g sei. Die Stecher haben sie in seltenen Fällen, kaum sichtbar, dennoch verwendet. Die zarten tonalen Ü b e r g ä n g e im Flächenton, der auf die W i e d e r g a b e von Stofflichkeit und Glanz zielt, weisen jedoch ein ungewöhnlich feines Korn auf, das zu diesem Zeitpunkt die in den fünfziger J a h r e n erfundene Aquatinta liefern konnte. Allerdings muß die Aquatinta zur Tonabstufung jeweils neu ätzen, was feine U b e r g ä n g e im G r u n d e g e n o m m e n verhindert, vielmehr unterschiedliche tonale Flächen eher aneinanderstoßen läßt. H i e r jedoch sind die U b e r g ä n g e so fein, daß es sich wohl eher u m eine gänzlich neue, aus Frankreich importierte Technik handeln dürfte: „vernis mou", W e i c h g r u n d ä t z u n g , so gut wie gleichzeitig in England von T h o m a s Gainsborough und George Stubbs verwendet. Die Feinheit ist schier atemberaubend. Die Autoren, die sich als M a l e r bezeichnen, argumentieren ausdrücklich gegen jede akademische Idealisierung, haben Joshua Reynolds' permanente W a r n u n g vor der W i e d e r g a b e der „minutiae", der „particularities" und „peculiarities" im Visier (vor allem im 4. und 6. Diskurs von 1771 und 1774) und forcieren das genaue G e g e n t e i l . b Ihr Nachahmungsbegriff diskreditiert die Reynoldssche Auffassung namentlich als manieriert, sieht ihn als einen „Nat u r e - M e n d e r " , der Flickschusterei an der N a t u r betreibt, bloße Effekthascherei verfehle die Natur, sie wollen „every minute part" entdecken, fordern N a turhingabe, die die Frage eines Stils der Darstellung gar nicht erst aufkommen läßt, und auch im Text verzichten sie nachdrücklich auf jedes „embellishment", „piain writing" ist das Ziel. 1 6 Eine zweite Kunstform neben der akademischen soll etabliert werden, wie sie auch von Künstlern betrieben wurde, die sich (noch) der übermächtigen Akademie verweigerten, wie Joseph W r i g h t of Derby und George Stubbs, die im Konkurrenzunternehmen der Society of Artists ausstellten, bei der auch Stecher Zutritt und Ausstellungsmöglichkeit hatten. Es sind die Künstler, die nicht selten einen naturwissenschaftlichen Anspruch an ihre Kunst stellen, die aus der Provinz stammen und - verkürzt gesagt - der industriellen Revolution, ihrem Erkenntnisstand und Wirklichkeitsverständnis zuarbeiteten.

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Sir Joshua Reynolds: Discourses on Art, hrsg. v. Robert R. Wark, N e w Häven/London

Ί988, 57-62, 69-72, 102-103. 16

Rymsdyck 1791 (wie Anm. 1 ), V.

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Wright beschäftigte zur Wiedergabe seiner Gemälde professionelle Mezzotinto-Stecher von höchster Qualifikation, die die zartesten tonalen Übergänge zu schaben in der Lage waren. Stubbs wollte seine ungemein detaillierten Zeichnungen zur Anatomie des Pferdes von 1756-58 ebenfalls von Spezialisten stechen lassen - sie lehnten reihenweise aufgrund der Komplexität ab. Stubbs brachte sich das Stechen selbst bei, publizierte The Anatomy of the Horse 1766 im Kupferstich, verfeinerte die Technik im folgenden für die Wiedergabe seiner Werke extrem und erzielte tonale Feinheiten sondergleichen schließlich durch eine hochkomplexe Mischung, bestehend aus Stich und Radierung als Basis und stipple (Punktiermanier), Aquatinta und gelegentlich soft-ground etching (vernis mou, Weichgrundätzung) als Differenzierungsmittel.17 In die ohne Newtons Farbtheorie in den Opticks nicht denkbare Geschichte der Verfeinerung des Sehens auf naturwissenschaftlicher Basis gehören auch die Wiedergaben im Museum Britannicum. Zugleich aber scheint die Vorstellung von der Hingabe ans Detail als Erkenntnismedium in physikotheologischer Tradition zu stehen: auch das scheinbar nichtigste und winzigste, das was „perhaps quite indifferent" ist, ist es wert, als Gottes Schöpfung betrachtet und studiert zu werden. Mit Barthold Heinrich Brockes Motto zu seinem „Irdischen Vergnügen in Gott" von 1721-48 gesprochen: „Nicht der Planeten Gross' allein; / Ein Stäubchen, ist bewunderns werth." Und das „Stäubchen" ist nur in einem extrem genauen Wiedergabemodus zu veranschaulichen. Daß Gedanken vom mythischen Ursprung der Kunst, vom fortlebenden animistischen Geist, der Verbindung zur Gegenwart hält, wie sie d'Hancarville in Townleys Haus endgültig ausformuliert hat, auch für die Autoren des Museum Britannicum eine Rolle gespielt haben, sei anhand eines einzigen Beispiels verfolgt. Es handelt sich um einen auf Tafel ΧΧΓΠ abgebildeten Bildstein (Abb. 2), einen gemusterten Schiefer, zu den sogenannten Grapholithi, den bezeichneten Steinen, gehörig, auf dem die „hand of nature" eine schöne Landschaft mit Bäumen, Pflanzen und Wolken gemalt hat - ausdrücklich keine klassische, sondern eine Ruisdaelsche nach der Natur. Die Autoren kennen die Tradition derartiger Bildsteine, sie zitieren den Ursprung dieser Tradition, Plinius' Bemerkungen zum Achat des Königs Pyrrhus oder Athanasius Kirchers Bewunderung für derartige „lusus naturae" in seinem Werk Mundus subterraneus von 1664, in dem die Rede davon ist, daß religiöse Schriftzeichen sich auf Steinen

17 Zu den Mezzotinti nach Wright: Kat. Wright of Derby, hrsg. v. Judy Egerton, Tate Gallery, London 1990, 231-258; zu Stubbs: Kat. Stubbs and the Horse, hrsg. ν. Malcolm Warner/Robin Blake, Kimball Art Museum, Fort Worth; Walters Art Museum, Baltimore; National Gallery, London, New Häven/London 2004, Kap. 2, 19-41; Kat. George Stubbs 1724-1806, Tate Gallery, London 1984, 218-241, bes. 224; George Stubbs: T h e Anatomy of the Horse, hrsg. v. Constance-Anne Parker, London 2005 (nach der Edition von 1853 mit dem kompletten Text).

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Abb. 2: Museum

Britannicum,

Britamiicum

Tafel X X I I I , Fig. 1 Bildstein

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fanden.18 Worauf die Autoren verblüffenderweise nicht hinweisen, obwohl es ihnen durchaus geläufig gewesen sein müßte, ist die große Sammlung von Bildsteinen in der Royal Society.19 Diese Wunderwerke der Natur, in denen ihre Gestaltungskraft zum Ausdruck kommt, sind auch breit in der Traktatliteratur illustriert worden, ihren Ort fanden sie in kunst- und wunderkammerartigen Sammlungen. Conrad Gesner (1565) sah in ihnen eine eigene Klasse der Fossilien, Ulisse Aldrovandi (1648) war besonders auf Tierdarstellungen im Marmorschnitt aus, Robert Plot (1677) liebte Stern- und Muschelsteine.20 Daß auf den Bildsteinen Natur Kunst täuschend nachahmt, konnte als Rechtfertigung eines antiidealistischen Nachahmungsbegriffes gelesen werden, wie ihn die Autoren des Museum mit Aplomb vertraten. Natur ist, wie sie ist, nicht, wie sie sein soll. Natur ist die Kunst Gottes. Nun verschränken sich bei der Beurteilung der Bildsteine verschiedene Denktraditionen zum Verhältnis von Natur und Kunst, von denen zumindest zwei sorgfältig geschieden werden sollten. Für beide hat Plinius Grund gelegt. Es geht um Notwendigkeit oder Zufall. Der Achat des Königs Pyrrhus soll Apoll und die neun Musen gezeigt haben. Sie waren, heißt es ausdrücklich bei Plinius, nicht von Künstlerhand geschaffen, sondern „naturae sponte", nach dem Willen der Natur.21 Das Adverb „sponte" kann nicht nur „nach dem Willen" bedeuten, sondern genauerhin auch „aus eigenem Antrieb" oder „ohne Hilfe von anderer Seite". Die Natur und nur sie ist in eigener Absicht tätig geworden. Dieses Beispiel findet sich im Buch über die Steine. Die Gründungsgeschichte der anderen Denktradition findet sich im 35. Buch, das bekanntlich den Farben der Malerei und der Plastik gewidmet ist, und betrifft den Künstler Protogenes, der verzweifelt den Schaum am Mund eines Hundes zu malen suchte, in verschiedenen Anläufen nicht zurecht kam, die Farbe immer wieder abwischte und schließlich in Wut den Farbschwamm auf das Bild warf, worauf der Schaum perfekt dargestellt schien: „casus pinxerit" - der Zu-

18 Rymsdyck 1791 (wie Anm. 1), 5 9 - 6 0 . 19 Lorraine Daston/Katharine Park: W u n d e r und die O r d n u n g der Natur. 1150-1750, Berlin 2002 (zuerst engl. 1998), 352. 20 Horst W. Janson: T h e „Image Made by Chance" in Renaissance Thought, in: Miliard Meiss (Hrsg.), De artibus opuscula XL. Essays in H o n o r of Erwin Panofsky, N e w York 1961, Bd. 1, 254-266; ders., Chance Images, in: Philip P. Weiner (Hrsg.), Dictionnary of the History of Ideas. Studies of Selected Pivotal Ideas, Bd. 1, N e w York 1973, 340-353; Jurgis Baltrusaitis: Imaginäre Realitäten, Fiktion und Illusion als produktive Kraft. Tierphysiognomie - Bilder im Stein - Waldarchitektur - Illusionsgärten, Köln 1984 (zuerst franz. 1983), 55-89; Horst Bredekamp: Antikensehnsucht und Maschinenglauben. Die Geschichte der Kunstkammer und die Zukunft der Kunstgeschichte, Berlin 1993, 20, 42, 6 4 - 6 5 (überarbeitete Neuausgabe Berlin 2000, 19 ff., 42-43, 66 ff.); Daston/Park 2002 (wie Anm. 19), 327-340. 21 C. Plinius Secundus d. Α.: Naturkunde, Lateinisch-deutsch, Buch 37: Steine. Edelsteine, Gemmen, Bernstein, hrsg. u. übers, v. Roderich König in Zusammenarbeit mit Joachim Hopp, München 1994, 18-19 (III, 5 u. 6).

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The Englishness of the Museum Britannicum fall hat gemalt; und gleich darauf heißt es noch einmal „fecitque in pictura fortuna naturam", „so hat in der Malerei der Zufall die Naturwahrheit geschaffen". 22 Da in der Traktatliteratur häufig in Bezug auf die Steinbildungen vom Spiel der Natur die Rede ist, hat die Forschung nicht selten beide Traditionen anstandslos vermischt. Dabei entgeht ihr der tiefere Sinn der Steinbildungen selbst. Zumal sich die Protogenes-Geschichte leicht mit Leonardos Bemerkungen zur Möglichkeit, auf fleckigen Mauern Landschaften, ja, ganze Schlachten zu erkennen, verbinden ließ.23 Leonardo, das sei betont, hebt nicht auf die Zufallsbildungen ab, sondern auf die Projektionsleistung und das Vorstellungsvermögen des Betrachters, der das Gesehene und Imaginierte als Anregung nutzen und dann in eine vollständige und klare Form bringen kann. Schon Horst W. Janson hat nachweisen können, daß das Leonardosche Verfahren bei Alberti in De Statua vorgebildet ist, aber auch antike Vorläufer besitzt. 24 Dieses Verfahren der künstlerischen Konkretisierung des im Naturbild Imaginierten verband sich, vor allem im 17. Jahrhundert, insofern mit den Bildsteinen, als deren zumeist Landschaften ähnelnde Strukturen weitergemalt wurden, indem Figuren inseriert wurden, die sich mit dem von Natur aus Angelegten vertrugen. Philipp Hainhofer in Augsburg trieb einen schwunghaften Handel mit derartigen fortgemalten Steinen als Kunst- und Wunderkammerobjekten. Florentiner Steine, so schrieb er, seien besonders geeignet dafür. 2. Der Florentiner Stein wird zu einem terminus technicus, der auch noch dem Museum geläufig ist. Wichtiger in unserem Zusammenhang ist jedoch die Tradition, in der die Natur allein, selbstbildend tätig wird. Denn ihr läßt sich die Kirchersche Kosmogonie-Vorstellung von einer unterirdisch-mineralogischen Welt verbinden, aus der die Kette der Wesen von Gott bewirkt auftaucht, in der die Steine als Organismen verstanden werden, aus denen sich in alchemistischer Metamorphose die Pflanzen und Lebewesen bis hin zum Menschen entwi-

22 Ders., Buch 35: Farben, .Malerei, Plastik, hrsg. u. übers, v. Roderich König in Zusammenarbeit mit Gerhard Winkler, München 1978, 78-81, (1. Zitat 78; 2. Zitat 80) 23 Zum Begriff „lusus naturae": Jean Céard: La nature et les prodigues: L'insolite au X \ l e siècle en France, Genf 1977; Baltrusaitis 1984 (wie Anm. 20), 5 9 - 6 0 ; Paula Findlen: Jokes of Nature and Jokes of Knowledge. Playfulness of Scientific Discourse in Early Modern Europe, in: Renaissance Quarterly 43, 1990, 292-331; Bredekamp 1993/2000 (wie Anm. 20), 66 ff., 77 u. Anm. 139; zu Leonardos Fleckenlandschaften ist die Literatur Legende; für den hiesigen Zusammenhang die Quellen: Leonardo da Vinci. Sämtliche Gemälde und die Schriften zur Malerei, hrsg. von André Chastel, München 1990, 212, 385; die Tradition des Topos: Ernst Kris/Otto Kurz: Die Legende vom Künstler. Ein geschichtlicher Versuch. .Mit einem Vorwort von Ernst H . Gombrich, Frankfurt a. M. 1980 (zuerst 1934), 71-73; Janson 1961 (wie Anm. 20), 260-262, 2 6 4 - 2 6 5 ; Baltrusaitis 1984 (wie .Anm. 20), 55. 24 Janson 1961 (wie Anm. 20), 2 5 4 - 2 5 5 , 260-261. 25 Baltrusaitis 1984 (wie Anm. 20), 55-59; Daston/Park 2002 (wie Anm. 19), 301-305, 312, 327-328.

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ekeln. 26 In dieser bis Gottfried Wilhelm Leibniz oder Jean-Baptiste-René Robinet wirksamen Vorstellung sind die Bildsteine als Präfigurationen der belebten Welt zu verstehen. Ausdrücklich heißt es bei Robinet: „Es ist kein Spiel des Zufalls, sondern es sind Erzeugnisse einer Vielzahl von besonderen Verwirklichungsweisen des einzigen Urbildes aller Wesen [...]". 27 Wenn im 1777 in Nürnberg publizierten Recueil von Georg Wolfgang Knorr und Johann Ernst Immanuel Walch dagegen mit Bezug auf die Bildsteine von zufälligen Bildungen und Spielen der Natur die Rede ist28, dann wird das Spiel mit Ähnlichkeiten als bedeutungslos verstanden, und die Kette der Wesen ist zerrissen, Entmythologisierungs- und Säkularisierungsvorstellungen greifen Raum. Dieser Punkt ist im Museum noch nicht erreicht. Der Antihistorismus des Adels, der mit antiquarisch fundierten Privatmythen die Tradition des Allzusammenhanges am Leben hält, steht davor. Abschließend sei vorsichtig ein Gedanke geäußert, der angeregt ist von der Vorstellung, daß die Natur als Präfiguration der Kunst zu denken ist. In den Kunst- und Wunderkammern finden sich Objekte, die den Übergang von unterirdischer Natur zu oberirdischer Kunst ausdrücklich thematisieren. Ernst Kris, der diesen Typus untersucht hat, schildert den Entwurf eines Tischbrannens als Tafelaufsatz von Wenzel Jamnitzer folgendermaßen: „Auf mächtigen Steinblöcken ruht der ganze Brunnen. Man ist versucht, ihm eine inhaltliche Motivierung zu unterschieben, etwa den Gedanken, daß sich auf dem sicheren Boden der Natur die reichentfaltete Pracht des Kunstwerkes aufbaue". 29 In der Tat ist der bloße Fels als Fuß des Aufsatzes, als Grotte, als Revier der aus dem Untergrund kommenden Zwischenwesen, der Wassernymphen, markiert. Bei einem 1596 datierten Kugellaufautomaten von Christian Markgraf findet im unteren Teil reales Felsgestein Verwendung, die darauf aufwachsenden Grottenbögen dagegen sind gemalt. 30 Es ist die Grotte der Diana, die mit ihren

26 Arthur O. Lovejoy: Die große Kette der Wesen. Geschichte eines Gedanken, Frankfurt a. iM. 1985 (zuerst engl. 1933), insbes. zur Leibnizschen Tradition, 176-220; zu Kircher bes.: Baltrusaitis 1984 (wie Anm. 20), 6 4 - 7 1 ; Bredekamp 2000 (wie Anm. 20), Kap. Die historische Kette, 19-39. 27 Jean-Baptiste-René Robinet: De la nature, Bd. 4, Amsterdam 1766, 212, zit. bei Baltrusaitis 1984 (wie Anm. 20), 81. 28 Georg Wolfgang Knorr/Johann Ernst Immanuel Walch: Recueil des monuments des catastrophes que le globe terrestre a essuyées, Nürnberg 1777, zit. bei Baltrusaitis 1984 (wie Anm. 20), 82. Zu den Historisierungskonsequenzen s. auch: Wolf Lepenies: Das Ende der Naturgeschichte. Wandel kultureller Selbstverständlichkeiten in den Wissenschaften des 18. und 19. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 1976; Ernst 1992 (wie Anm. 3), Kap. VII, 201-227. 29 Ernst Kris: Der Stil „rustique". Die Verwendung des Naturabgusses bei Wenzel Jamnitzer und Bernard Palissy, in: Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen in Wien NF 1, 1926, 137-208, Zitat 151. 30 Ebd., 171-172.

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T h e Englishness of the

Museum Britannici/m

Nymphen von Aktäon überrascht wird. Und in Ovids Metamorphosen, in denen die Geschichte des unglücklichen Jägers erzählt wird, findet eben dieses Natur-Kunst-Verhältnis seine zentrale Formulierung: „Hier lag", heißt es zu Dianas Grotte, „eine umschattete Höhle im hintersten Winkel, / Keinerlei Schöpfung der Kunst; die Natur, in eigener Erfindung, / Hatte ein Kunstwerk geformt: aus lebendigem Bimsstein und leichtem Tuff einen Bogen gezogen, der hier an der Stelle gewachsen"." Bei Ovid bleibt die Natur die Künstlerin, Markgrafs Automat umspielt den Ubergang von Natur zu Kunst. Es ist die Geburt von Kunst und Gegenstand aus dem Schoß der Mutter Erde, architekturterminologisch verkörpert von der Rustica. Vasari läßt die Grotte, die Giovanni da Udine im Garten der Villa Madama anlegte, „aussehen, als sei sie wahrhaftig ein natürlicher Gegenstand".' 2 Dieses Umspielen der Grenze hat eine lange Tradition, bis hin zur romantischen Arabeske eines Philipp Otto Runge oder Eugen Napoleon Neureuther. Die Arabeske wächst aus dem abstrakten ornamentalen Urgrund in die gegenständliche Konkretion auf. Auch in der romantischen Arabeske gibt es einen Quellpunkt, einen, wie Friedrich Schlegel schreibt und Walter Benjamin zitiert, „Übergang, der immer ein Sprung sein muß": im romantischen Denken leistet diesen Sprung die Reflexion." Auch die Leonardosche Projektion, die die flächige Mauer in der Vorstellung zu einer Landschaft macht, braucht den Sprung der Imagination. Daß dies am Anfang des 16. Jahrhunderts vorgetragen wird, von einem Künstler, der wie kein anderer die Natur untersucht und sich auf sie verpflichtet, der zeichnerisch in ungezählten Anläufen das Entstehen der Naturformen und abläufen umkreist und im sfumato nach einem tonalen Äquivalent für atmosphärische Übergänge sucht, läßt den Gedanken aufkommen, ob nicht zeichnerische und malerische Skizze, deren Eigenwert besonders in der venezianischen Kunst des 16. Jahrhunderts entdeckt wurde' 4 , dem geschilderten Naturbegriff

31 Publius Ovidius Naso: Metamorphosen, hrsg. u. übers, v. H e r m a n n Breitenbach, Stuttgart 1988 (zuerst 1958), 3. Buch, 95, Z. 1 5 6 - 1 6 0 . 32 Giorgio Vasari, Le Vite, hrsg. ν. Gaetano Milanesi, Bd. 6, Florenz 1881, 556; Giorgio Vasari, Le Vite, hrsg. ν. Rosanna Bettarini u. komm. ν. Paolo Barocchi, Bd. 5, Florenz 1984, 451. - Zur Erde als Mutterleib: Horst Bredekamp: Die Erde als Lebewesen, in: kritische berichte 9, 1981, 5 - 3 7 . 33 Friedrich Schlegel: 1794-1802. Seine prosaischen Jugendschriften, hrsg. v.Jakob Minor, W i e n 1906, Bd. 2, 176; W a l t e r Benjamin: Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik, hrsg. v. Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a. M . 1972, 22; Karl Konrad Polheim: Die Arabeske. Ansichten und Ideen aus Friedrich Schlegels Poetik, München/Paderborn/ W i e n 1966; W e r n e r Busch: Die notwendige Arabeske. Wirklichkeitsaneignung und Stilisierung in der deutschen Kunst des 19. Jahrhunderts, Berlin 1985, 4 4 - 7 5 ; Günter Oesterle: Stichwort „Arabeske", in: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Karlheinz Barck u. a. ( Hrsg.), Bd. 1, Stuttgart 2000, 2 7 2 - 2 8 6 . 34 Siehe bes.: Beiträge zur Geschichte der Olskizze vom 16. bis zum 18. Jahrhundert. Ein Symposion aus Anlaß der Ausstellung „Malerei aus erster Hand - Olskizzen von Tintoretto

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das Entscheidende zur Rechtfertigung ihres Wirklichkeitszugriffs verdanken. Denn Zeichnung und Olskizze in dieser Tradition zielen nicht auf die Festlegung des Gezeigten im Umriß, zielen nicht auf Objektivierung und idealistische Normierung, sondern deuten bloß an, suchen im Prozeß des Malens und Zeichnens nach der Form, belassen die Dinge im Vorläufigen und brauchen so den Anteil, die Projektion des Betrachters. Sie zeigen das Entstehen der Dinge aus dem abstrakten Stoff der Kunstmittel in die künstlerische Konkretion. Die klassisch-akademische Kritik hat diese Form der Kunst immer auf einen bloßen Naturzugriff reduziert. Aber vielleicht ist es gerade diese Form bis hin zur extremen Wirklichkeitsverpflichtung des Museum Britannicum, die die Kunst in durchaus naturmystischer Tradition als Verlebendigung begreift.

bis Goya" im Herzog Anton Ulrich-Museum Braunschweig, hrsg. v. Herzog Anton UlrichMuseum Braunschweig, Braunschweig 1984, bes. der Beitrag von Linda Freeman Bauer: Some Early Views and Uses o f the Painted Sketch, 1 4 - 2 4 .

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Vernetztes Wissen

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Koralle und Pfau, Schrift und Bild im Wiener Dioskurides

Ja, er sehnte sich nach dem Meer, auf dessen Grund die Korallen wuchsen, vielmehr, sich tummelten - nach seiner Uberzeugung. Weit und breit gab es keinen Menschen, mit dem er von seiner Sehnsucht hätte sprechen können, in sich verschlossen mußte er es tragen, wie die See die Korallen trug.

Joseph Roth, Der Leviathan, 1940

1. Die Koralle Dem überaus wertvollen Codex medicus gi-aecus 1 der Wiener Nationalbibliothek aus dem Jahr 512, Wiener Dioskurides genannt 1 , ist mit den Blättern 388r-392r ein anonymes Gedicht in 216 Hexametern angefügt: Carmen de viribus herbanim (zugeschrieben: Rufus von Ephesus, ¡.Jahrhundert). 2 Es behandelt sechzehn, Göttern zugeordnete Heilpflanzen, darunter den „Meerbaum" oder die „Meereiche" (enaliádrus), nämlich die in der Antike als Pflanze mißverstandene 1

Z i t i e r t nach der verkleinerten, aber vollständigen Faksimile-Ausgabe: D e r W i e n e r D i o s -

kurides: C o d e x medicus graecus 1 der Osterreichischen Nationalbibliothek, K o m m e n t a r von O t t o Mazal, 2 Teile, G r a z 1998/1999. Abgekürzt zitiert als: F o l i o - N u m m e r r/v. Die K o m m e n t a r e von O t t o Mazal: Mazal I + Seitenzahl (= K o m m e n t a r zu Bd I): Mazal II + Seitenzahl (= K o m m e n t a r zu Bd. II). 2 R u f u s von E p h e s u s ist ein P h a r m a k o l o g e , der auf d e m zweiten Arzte-Frontispiz Platz findet, e i n e m (erstmalig) g o l d g r u n d i g e n , quadratisch g e r a h m t e n u n d m i t Blüten geometrisch o r n a m e n t i e r t e n K o m p o s i t b i l d mit Darstellungen der diskutierenden G e l e h r t e n Galen, des R h i z o t o m o s (Wurzelschneider) u n d Arztes Krateuas, Dioskurides, sowie des Apollonius von P e r g a m o n , von Kition o d e r von M y s (letzteres wahrscheinlich), des Spezialisten für G i f t l e h r e Andreas, des hellenistischen L e h r d i c h t e r N i k a n d r o s sowie unten rechts R u f u s / R u p h o s (fol. 3v). Vgl. Mazal 1998/1999 (wie A n m . 1), I, 1 9 - 2 2 . Ferner: K u r t W e i t z m a n n : Spätantike und f r ü h christliche Buchmalerei, M ü n c h e n 1977, 63.

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Koralle. 3 Sie wird auf fol. 391v ganzseitig abgebildet (Farbtafel I). In griechischen Majuskeln fol. 392r heißt es: „Die heilige Eiche, die im Schöße des Meeres wächst, in den dunklen Wellen, den blattlosen Sprößling, der dem Herrn des Meeres selbst, Poseidon, heilig ist, die alle Erdenbewohner als Heilmittel gegen Leiden ansprechen, nimm mit kunstvollem Sinn und klugem Ratschluß, wenn am Olymp die Göttin Selene im Abnehmen erblickt wird. [...] Dieses Gewächs ist nämlich ein Heil- und Abwehrmittel gegen alles Böse, das die Erde und die Meeresflut trägt. Es spendet den Embryos Leben, wenn es die Frauen unter dem Bauch tragen. Verwende es gegen die aufkommenden Angstzustände in der Nacht, gegen böse Bezauberung der Menschen und grausiges Leid. Das Gewächs behütet auch den Körper und verscheucht unsagbares Böses. [...] Dieses Gewächs erfand die Allmutter Natur. Ihr Menschen, bewundert nicht mehr die geflügelten Pfaue; denn auch diese entfalten ihr dunkles Gefieder um der Bezauberung willen." (Wiener Dioskurides, Mazal II, 52) Ikonographisch nimmt die Koralle im Carmen de viribus herbarum eine prominente Stellung ein. Sie erhält als einzige eine sorgsame Darstellung. Selbst das sagenhafte Moly, das Odysseus von Hermes als Schutz vor der Verzauberung durch Kirke erhält, bleibt ohne Darstellung (Od. X, 286-306; vgl. Plinius Hist. Nat. XXV, 26 4 ). Aus einem angedeuteten, flach elliptischen Meeresgrund steigt die brauntönige (nicht rote) Koralle auf, ohne Zentralstamm, sondern sogleich in verschlungener Mannigfaltigkeit. Sie ist mitnichten ,Baum', sondern ein filigran verbuschtes Gebilde, dessen Dreidimensionalität durch unterschiedliche Hell/Dunkeltöne der Zweige angedeutet ist. Ihre Form weist nicht nur eine nach oben hin zunehmende Ausdifferenzierung auf, sondern die Verästelungen durchkreuzen sich vielfach und sind miteinander verwachsen. Der „Eindruck eines Spinnengewebes oder eines feinen Netzes", den Kurt Weitzmann gewinnt 5 , trifft nicht nur für die oberen Filigran-Strukturen, sondern schon für die unteren kräftigen Verästelungen zu.

3 Die Frage, ob Korallen Pflanzen seien, diskutiert noch das Große Universal-Lexicon von Zedier (Bd. VI, 1733, Sp. 1210-14). Die Frage wird verneint. Breit werden indes noch die Heilwirkungen der Koralle referiert, nur die magischen Fernwirkungen, etwa gegen Hagelschlag, werden als Aberglauben abgetan. Dergleichen findet man z. B. noch in Konrad von Megenbergs Buch der Natur, im Buch über die Edelsteine (VI, 15, wie Anm. 13) 436. - Z u r Entwicklung der neuzeitlichen Korallen-Forschung siehe Alexander von Schouppé: Episodes of Coral Research History up to the 18th Century, in: Petra Oeckentorp-Kiister (Hrsg.), Proceedings of the VI. International Symposium on Fossil Cnidsaria and Profera. Courier Forschungsinstitut Senckenberg Bd. 164, 1991, 1-16. 4 Referenzen auf Plinius immer: Gaius Plinius Secundus: Historia naturalis/Naturkunde, lat.-dt. hrsg. u. übers, v. Roderich König in Zusammenarbeit mit Joachim H o p p und Wolfgang Glöckner. 37 Bände, Zürich u. a. 1990-2004; abgekürzt als Hist. N a t + Bandnummer + Kapitel-Nummer. 5 Weitzmann 1977 (wie Anm. 2), 69.

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Koralle und Pfau, Schrift und Bild im Wiener

Dioskurides

Man kann dies als eine ungewollte Wahrheit des Bildes bezeichnen: in den Vernetzungen des Geästs setzt sich, obwohl die Koralle als Pflanze gilt, das NichtPflanzliche durch. Der Korallenstock verbindet nämlich durch die rekurrenten Verstrebungen alle in ihm lebenden Polypen quasi zu einem lebendigen Organismus, einem autopoietischen System. Kein antiker Wissenschaftler konnte dies wissen; doch in der Illustration des Codex ist diese ,Wahrheit', durch welche alle tierischen Individuen des Stocks zu einem System verbunden sind, absichtslos ,zum Bild' geworden. Dazu mag man auch den auffälligen Hybrid zählen, der unten links, in hellerem Braun, seitwärts entsproßt - im Aussehen eines seltsamen Fabeltiers. Das pflanzlich Verbuschte dagegen zeigt sich, gegenüber den netzartigen Schleifen, in der durchgehaltenen Aufwärtsdynamik, die in immer feinere Lineaturen dreidimensional aufgefächert ist und allseits heteroarchisch in dünne Zweiglein ausläuft. In der unteren Zone verdicken sich mehrfach die Verzweigungen zu Knollen, die - in der Annahme, es handele sich um eine Pflanze - oft für die Früchte der Koralle gehalten wurden. Im Wasser schwimmen verschiedene Meerestiere und Fische. Rechts ragt eine nackte Frau aus den Fluten hervor, mit dem linken Arm, der ein Ruderblatt hält, lässig auf ein Seemonster gelehnt. Sie ist, nach Mazal, die Meeresgöttin Thalassa. 6 Mit ihrer Rechten weist sie auf die Koralle. Ihr Haupt trägt Krebsoder Hummerscheren, wie öfters auch Okeanos. Die abgebildete Koralle in ihrer rätselhaften und zwittrigen Formgebung, die im Pflanzenreich vorbildlos ist und doch als Milieu tierischen Lebens nicht erkannt werden kann, verkörpert derart das Leben im und aus dem Meer, wahrlich ein Kunstkörper der „Allmutter Natur". Der Textkommentar entspricht der ikonographischen Sonderstellung der Koralle. Er erklärt die Koralle, selbst für Poseidon, als heilig. Sie ist ein apotropäisches Universalmittel. Offensichtlich ist sie mit Eros und Prokreation verbunden: nicht nur den Embryos zu Leben verhelfend, ist die Koralle, mit Rosenöl vermischt und ins Gesicht gesalbt, auch ein Mittel, das Aphrogeneia (Aphrodite) zur Helferin werden läßt (Mazal II, 52).' Die Koralle, indem sie alle negativen Einflüsse magisch abwehrt und das Leben befördert, ist geradezu das Symbolon der Lebenskraft. Nicht umsonst wird sie als „Erfindung der Allmutter Natur" angesprochen: ein Ehrentitel. Dies bezeichnet sie als Synthese von Kunst und Natur. Keiner anderen der 383 aufgeführten Heilpflanzen des Wiener Dioskurides wird eine derartige Dignität zugesprochen. Diese symbolische Leitfunktion der Koralle als heiliges Symbol des Lebens ist eine Besonderheit des Carmen. Im Original-Text des Dioskurides wird die Koralle sachlich be6 Mazal 1998/1999 niaturen des Wiener 1936, 114-136, hier: 7 Mazal 1998/1999

(wie Anm. 1), II, 47, vgl. Paul Buberl: Die antiken Grundlagen der M i Dioskurides, in: Jahrbuch des Deutschen Achäologischen Instituts 51, 133. (wie Anm. 1), II, 47.

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schrieben und ihre pharmakologische Wirksamkeit dargestellt (Dios. V¡ 138).8 Dies gilt auch für Plinius (Hist. Nat. XXXII, 22). Beide Autoren sprechen die Koralle als Pflanze an und benennen die seither topische Eigenschaft, daß die im Meer weiche Koralle an der Luft erhärtet (versteinert). Von Heiligkeit keine Spur. Ovid bettet die Versteinerung der Koralle in den Perseus-Mythos ein und kreiert ein Aition der Koralle: nachdem Perseus das Meerungeheuer getötet und Andromeda befreit hat, verstreut er weiche Seepflanzen auf den Strand und bettet das Medusenhaupt auf eine Staude, die dadurch versteinert. Nymphen wiederholen freudig diese wunderbare Metamorphose; so entstehen die Korallen und der ihnen als beständige Natur (eadem naturam) eigentümliche Formwandel: weiche Pflanze im Wasser, Stein an der Luft (Ovid, Met. IV, 740—752).9 Man darf diesen Formwandel komplementär sehen zur Erweichung der Elfenbein-Statue Pygmalions zu rosig-warmem Fleisch (Ovid, Met. X, 243-97). Beide Metamorphosen sind Mythen der Kunst, die stets Metamorphose ist: Kunst ist sowohl die Animation der toten Materie zu warmem Leben (Pygmalion) wie die Transformation vergänglicher Organik zu zeitloser Dauer (Koralle). Beides sind mythische Fassungen einer Theorie der Plastik.

2. Der Pfau Aufschlußreich ist, daß die Menschen angesichts der Koralle aufgefordert werden, nicht mehr die geflügelten Pfauen zu bewundern. Immerhin ist der Pfau das Attributtier der Göttermutter Hera. Aus Indien stammend, gelangt er über den mittleren und vorderen Orient in den griechischen Raum zuerst über Samos, wo Pfauen im Inneren des Hera-Heiligtums gehalten wurden. Hier im Wiener Dioskurides indes wird sein Gefieder, dem Hera die Augen des getöteten Argos einsetzte 10 , als negative Bezauberung abgewertet. Als Bild erscheint der

8 Vollständige deutsche Ubersetzung von Dioskurides' De re medica (Peri haplón pharmákon, De materia medica) aus dem 1. Jh. η. Chr.: Pedanios Dioskurides: Arzneimittellehre in fünf Büchern, übers, u. hrsg. v. Julius Berendes, Stuttgart 1902. 9 Vgl. das Gemälde von Giorgio Vasari: Perseus und Andromeda. Studiolo di Francesco I de'Medici, Palazzo Vecchio, Florenz, oder die Zeichnung von Claude Lorrain: Perseus und die Entstehung der Korallen, ca. 1671, Robert Lehman Collection, Metropolitan Museum of Art, New York. 10 Diese Legende entstammt dem Umkreis des Mythos von Io. Diese Geliebte wird von Jupiter zum Schutz vor der eifersüchtigen Hera in eine weiße Kuh verwandelt. Hera erbittet von Jupiter die Kuh als Geschenk und läßt sie vom vieläugigen Argos Panoptes bewachen. Im Geheiß Jupiters gelingt es Hermes, Argos durch die berückenden Klänge der Syrinx und Zaubermittel einzuschläfern und zu enthaupten. Hera setzt die Augen des Argos dem Pfau auf die Flügel. Bei Ovid heißt es: et gemmis caudam stellantibus implet (Ovid, Met. I, 567-746, hier: 722; vgl. Aischylos: Gefesselter Prometheus 561- 886). Die Metaphern weisen die Pfauenaugen als Edelsteinschmuck aus, mit stellarem Glanz, worin die Verstirnung des Pfaus schon vorweggenommen scheint. Der Schmuckcharakter ist beiden, Pfauenauge wie Koralle,

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Koralle und Pfau, Schrift und Bild im Wiener Dioskurides

Pfau - erstaunlicher Weise - als allererstes Blatt fol. lv (Farbtafel II). Trotz der Beschädigung erkennt man die zum Rad gespreiteten Federn in ähnlich filigraner Fächerung, wie sie die Koralle zeigt. Nun ist der Pfau an diese prominente Stelle im Bildprooimion fälschlich geraten - nämlich erst 1406 bei der N e u bindung und Restaurierung des Codex durch Johannes Chortasmenos, Patriarchatsnotar am Johannes-Kloster in Alt-Petra, Konstantinopel. Der Pfau ist nach Auffassung von Otto Mazal richtig nach fol. 473 zu rücken, als erstes Blatt der angehängten Paraphrase der Omithiaka (fol. 474r-485v) des unbekannten Dionysos." Der Pfau hätte damit eine ikonologisch ähnlich herausgehobene Stellung unter den Vögeln wie die Koralle im Caimen. Der Text zum Pfau ist leider verloren, so daß nicht beweisbar ist, ob der Bezug im Korallen-Text auf den Pfau in irgendeiner Korrespondenz zur Pfauen-Darstellung steht. Die Negativwertung des Pfaus gegenüber der heiligen Koralle ist von der antiken Überlieferung nur teilweise nachvollziehbar. Als Hera-Vogel ist er der Korrespondent des Adlers Jupiters und hat keinen schlechten Leumund; er ist Attribut der Macht Heras und stellt mit seinen zum Rad aufgeschlagenen Sternenaugen ein Symbol des Himmelsrunds dar, besonders in Verbindung mit Iris und ihrem als Himmelsbrücke dienenden Regenbogen. Bei den römischen Luperkalien im letzten Monat des Jahrs, dem Februar, der Juno Februalis gewidmet, wird er in Reinigungs- und Fruchtbarkeitsriten geopfert. 12 Freilich wurde der Pfau, seit er als kostbares Tier im nachperikleischen Athen Mode wurde, schon bei den Komikern luxussatirisch verspottet; bei Ovid (Met. XIII, 802) wird er als hochmütig bezeichnet, was der späteren Deutung als Symbol der Superbia vorarbeitet. 13 So konnte er im Westchristentum negativ zum Attribut der Eitelkeit werden, was damit zusammenhängen mag, daß er als Luxus-Vogel schon zu Zeiten Ciceros und besonders in spätrömischer Kaiserzeit in dekadenten Gelagen verspeist und seine Federn als Modeattribut oder Helmzier benutzt wurden. In der Tradition der herrscherlichen Gastrosophie, die die Sünde der Luxuria bezeugt, ist er auch im Mittelalter seit dem 11. Jahrhundert bezeugt und hält sich als somit negatives Emblem der Völlerei bis zum 17. Jahrhundert, etwa bei Jan

gemeinsam. Dieser Mythos ist ein seit dem 16. Jahrhundert öfters aufgegriffenes Bild-Thema. - Zur Ikonologie des Pfaus vgl. besonders Ernst T h o m a s Reimbold: Der Pfau. .Mythologie und Symbolik, München 1983. 11 Diese These stellte zum ersten Mal auf: Anton von Premerstein: Anicia Juliana im Wiener Dioskurides-Codex, in: Jahrbuch der kunsthistorischen Sammlungen des allerhöchsten Kaiserhauses 24, 1903, 105-124. Dem schließt sich auch Buberl 1936 an (wie Anm. 6), 135, der zusätzlich annimmt, daß nach fol. 473 nicht nur der Juno-Vogel sondern auch der Adler als Jupiter-Vogel gestanden haben könnte. 12 Reimbold 1983 (wie Anm. 10), 30-31. 13 Pauly's Realencyklopädie der Classischen Altertumswissenschaft. Bd. XIX, 2, Stuttgart 1938, 1414-1421.

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Hartmut Böhme

Bruegel d. Ä. oder Willem Buytewech. 14 Im Emblembuch (1564) des Joannes Sambucus (1531-1584) wird der Pfau als erotische Täuschung gegeißelt. 15 Derart ein Warnbild ist der Pfau schon im Physiologusi6, wo er ein selbstverliebt paradierendes Tier ist (so schon Plinius Hist. Nat. X, 43 f.), das über seine häßlichen Füße erschrickt, und so dem Menschen ein Beispiel für die ,Umkehr' zu einem gottgefälligen Leben bietet - dies ist christliche Allegorie. In dieser Weise wird der Pfau im Korallen-Text des Wiener Dioskurid.es diskreditiert, insofern er hier die fälschlich bewunderte Schönheit darstellt. Doch kann die bildliche Darstellung des Pfaus, wie sie in fol. lv erscheint, von diesem Negativsinn nicht infiziert sein. Was würde es aber bedeuten, wenn man annimmt, daß Johannes Chortasmenos 1406 den Pfau nicht irrigerweise, sondern absichtlich dem Wiener Dioskurides vorangestellt hat? Immerhin ist es Chortasmenos, der den Codex eigenhändig neu durchnumeriert und einen neuen Index in griechischen Minuskeln beifügt. 17 Der Pfau erscheint auf fol. lv, wobei die Seitenziffer „1" auf fol. Ir genau der Beginn der handschriftlichen Zählung des Chortasmenos ist: hier nennt er sich und den Auftraggeber namentlich und datiert die Restaurierung des Codex. Wie sollte ihm da, der den Codex so sorgfältig paginiert, entgangen sein, daß er diese urkundliche Bezeugung seiner Tätigkeit auf die leere Gegenseite der Pfau-Darstellung geschrieben hat, die eigentlich nach fol. 473 gehört? Ist ein solcher Irrtum bei einem so sorgfältigen Mann vorstellbar? Wenn aber die Verschiebung des Pfaus ins Prooimion absichtlich vorgenommen wurde, was könnte der Sinn sein - nun im Jahre 1406? Seit der Fertigstellung des Codex, der noch völlig ein Dokument griechischrömischer Pharmakologie und wissenschaftlicher Bildkunst ist, sind 900 Jahre vergangen. Welche ikonologischen Traditionen, die die Verschiebung des Pfaus an die Spitze des Codex begründen könnte, bieten sich an? Wie sieht unterdessen, im christlichen Mittelalter, die Ikonographie des Pfaus aus? Frühchristlich ist der Pfau, weil sein Fleisch als unverweslich galt, ein Symbol der Auferstehung und Unsterblichkeit (vgl. Augustinus, De civitate dei XXI, 4 u. 7). Damit

14 In der Fünf-Sinne-Serie von Jan Bruegel d. A. (Der Geschmackssinn, 1618, Ol auf Holz, 64 χ 108 cm, Museo del Prado, Madrid) und bei Willem Buytewech (Das Bankett im Freien, ca. 1615, Ol auf Holz, 71 χ 94 cm, Staatliche Museen Preußischer Kulturbesitz, Gemäldegalerie Berlin). 15 Arthur Henkel/Albrecht Schöne (Hrsg.): Emblemata. Handbuch zur Sinnbildkunst des XVI. und XVII. Jahrhunderts; Stuttgart 1967, hier: 808-809. Im sensus allegoricus wird der Pfau auch ausgelegt bei Konrad von Megenberg: Das Buch der Natur (1350), hrsg. v. Franz Pfeiffer, Stuttgart 1861, Reprint Hildesheim 1971, 212-215. Hildegard von Bingen hält den Pfau für ein Zwitter zwischen Vogel und Landtier, er kommt nicht eben gut weg (Hildegard von Bingen: Naturkunde, hrsg. v. Peter Riethe, Salzburg 1989, 106). 16 Der Physiologus, übertr. u. eri. ν. Otto Seel, Düsseldorf/Zürich 61992, 78. 17 Leider hat Chortasmenos seinen neuen Index nur bis fol. 352r geführt. 62

Koralle u n d Pfau, Schrift u n d Bild im Wiener

Diosknrides

deuteten die frühen Christen eine Stelle in Plinius (Hist. Nat. XX, 20) um, wo die jährliche Erneuerung des prächtigen Gefieders im Mai poetisch als Wiedergeburt gefaßt wurde („donec renascitur alia scilicet cauda cum flores"). In frühchristlicher Kunst, schon in der Katakomben-Malerei, tritt der Pfau oft in Paradiesgarten-Darstellungen auf, wobei das Paradies als seliges Jenseits der Märtyrer gedeutet wurde. 18 Der Pfau figuriert hierbei die Ewigkeit der erlösten Seele. Dies kann auch als Umdeutung der Apotheose römischer Kaiserinnen verstanden werden, deren postmortale Verewigung auf Konsekrationsmünzen häufig durch den Pfau symbolisiert wurde. Vielleicht geht dies auf orphischpythagoreische Traditionen des Pfaus als Seelenvogel zurück. Dies konnte auch christlich umgedeutet werden; so läßt der Kirchenvater Tertullian (in De anima) den Pfau die Seelen verdienter Toten aufnehmen. 1 9 Besonders markant sind die Beispiele frühmittelalterlicher Steinkunst in Ravenna, wo Pfauen in paariger Anordnung, zumeist das Monogramm Christi flankierend, Tod und (ewiges) Leben symbolisieren. In Byzanz wird ein eigener Pfauenstil geprägt, der bis Spanien ausgreift. Auf dem Mosaik einer Christi-Geburt-Darstellung in der Erlöserkirche des Klosters Chora in Konstantinopel Anfang des 14. Jahrhunderts - also zur Zeit der Restaurierung des Wiener Diosknrides - erscheint der Pfau neben der Geburtsszene.· 0 Zur selben Zeit zeigt Meister Bertram den Pfau auf seinem Grabower Genesis-Altar (1383) mitten unter den soeben von Gott geschaffenen Tieren. Stefano da Zevio piaziert zwei Pfauen prominent im ,hortus conclusus' der Maria (ca. 1410). Ein anonymer französischer Miniaturist um 1400 gestaltet die Vision des apokalyptischen Johannes vom Gottesthron derart, daß die Mandorla, die die Thron-Szene umgibt, von einem Engel getragen wird, dessen wunderbare Flügel nur aus Pfauenfedern zusammengesetzt sind. Fra Angelico zeigt den Pfau - ikonologisch dem byzantinischen ¿Mosaik entsprechend - in seinem Rundgemälde der Anbetung der heiligen drei Könige (ca. 1445) oberhalb der Anbetungsszene auf dem Dach des Bethlehemer Stalls, den Kopf zurück auf Maria gewendet. Diese christliche Nobilitierung des Pfaus setzt sich bei Sandro Botticelli, Antonella da Messina, Hieronymus Bosch, Hans Memling, Domenico Ghirlandaio, Filippo Lippi, Jacobo Bassano, Carlo Crivelli und vielen anderen fort." 1

18

R e i m b o l d 1983 (wie A n m . 10), 28, 3 7 - 4 0 .

19

R e i m b o l d 1983 (wie A n m . 10), 3 2 - 3 3 .

20

Reimbold 1983 (wie A n m . 10), 3 9 - 4 1 , bes. Abb. 1 8 - 3 0 .

21

N a c h w e i s e der g e n a n n t e n Bilder: M e i s t e r B e r t r a m , Schaffung iler Tiere, Teil des G r a b o -

wer Altars, 1383, Kunsthalle H a m b u r g ; S t e f a n o da Zevio, Madonna

im Rosenhaag, u m 1410,

M u s e o di Castelvecchio, Verona; Französischer .Miniaturist, Vision des Gottesthrones

(Pariser

Apokalypse), u m 1400, Bibliothèque nationale de France, Paris; Fra .Angelico, Die Anbetung

der

Heiligen Drei Könige, u m 144S, N a t i o n a l G a l l e n ' of Art, W a s h i n g t o n .

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Hartmut Böhme

Dabei zeigt sich, daß der Pfau von der Schöpfung und dem Paradies über Maria im Rosenhaag, die Ankündigung, die Geburt Jesu, die Anbetung durch Könige und Hirten bis zum Abendmahl und zur Passion und weiter zu Apokalypse und Weltgericht die entscheidenden Stationen der Heilsgeschichte begleitet. Insbesondere scheint der Pfau mit Maria, der Gottesmutter, und dem Kind verbunden. Das macht Sinn, war der Pfau doch zuvor Attribut der Göttermutter Hera (so ersetzt das Fest,Maria Reinigung' die Luperkalien zu Ehren Junos mit den Pfauenopfern). Wenn es Absicht und nicht Irrtum oder Zufall war, daß der Pfau den Introitus im Wiener Dioskurides bildet, dann kann dies nur mit der Karriere des Pfaus zu einem heiligen Tier innerhalb der christlichen Ikonologie seit dem frühen Mittelalter zusammenhängen. Wie die Koralle im Carmen über die den paganen Göttern zugeordneten Pflanzen eine herausragende Position einnimmt (und der Pfau abgewertet wird), so bedeutet die Positionierung des Pfaus an den Beginn des Wiener Codex eine Christianisierung des gesamten paganen Kontextes. Ist die Koralle eine Kunst-Erfindung der „Allmutter Natur", so ist der Pfau ein Geschöpf Gottes und Begleittier der christlichen Heilsgeschichte, die noch die pagane Natur einrahmt und integriert.

3. Korallen Wenn nun der Pfau mit Maria und dem Jesuskind besonders verbunden scheint, ist es für unseren Zusammenhang bedeutsam, daß etwa zeitgleich der Jesusknabe, auf dem Arm der Maria, um den Hals öfters eine rote Korallenkette trägt, an der zusätzlich ein Korallenzweig hängen kann. Dafür finden sich Beispiele schon in frühchristlichen Darstellungen der Madonna mit Kind in den Katakomben des 2. bis 4. Jahrhunderts. 22 Seit dem 12. und 13. Jahrhundert erscheint die Koralle verstärkt auf Gemälden und in der Buchmalerei, teils als Schmuck der Madonna, teils als apotropäischer Talisman am Hals des Jesuskindes, was dem magischen und heilbringenden Charakter der Koralle entspricht und weshalb sie auch in Gemmen und bei Reliquienausstattungen oft Verwendung findet. Beispiele für dieses Eindringen magischer Motive des Volksglaubens in repräsentative Altar- und Andachtsbilder der Madonna mit Jesuskind finden sich etwa im Mittelteil des Altars von S. Iacopo a Nucciana, auf dem Gemälde Madonna col figlio e Santi von Matteo di Giovanni in Siena, dem Altarbild Madonna tra Angeli e Santi e monaca afferente eines Meisters der fiorentinischen Schule, dem Altarbild La Vergine col Bambino Gesù e Angeli von Barnaba da Modena, der Madonna con Bambino e due Angeli Musici des Meisters dell'Annunciazione di Bozzi, dem goldgrundigen Madonna mit Kind-Ge.mi\àt aus der Schule des Duccio di Boninsegna, dem Altarbild 5. Anna con la Vergine e il Bambino aus der 22 Zum folgenden vgl. Giovanni Tescione: Il Corallo nelle Arti Figurativa, Neapel 1972, 91-113, hier 93.

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Koralle und Pfau, Schrift und Bild im Wiener

Dioskurides

toscanischen Schule des 14. Jahrhunderts. 23 Auch nach 1406 - dem Jahr der Restaurierung des Dioskurides-Codex - ist die magische Koralle in Darstellungen der Madonna mit Kind weit verbreitet, so bei Piero della Francesca, bei Raffael, Giovanni Canavesio, Luca Giordano, Boccacino, Hans Fries, Filippo Mazzola, Carlo Crivelli, Perugino, Dieric Bouts d. Α., im Gemälde eines unbekannten flämischen Meisters aus der Nähe Memlings u. a. m. Das Korallenrot vergegenwärtigt indes auch, schon im Augenblick der iMutterKind-Symbiose, das Opferblut, das zu vergießen das Schicksal Jesu ist, wobei die Koralle als Lebenssymbol zugleich das mit Jesus erlangte ewige Leben darstellt. Die Koralle, schon bei Ovid das Exempel einer Metamorphose des Vergänglichen in Beständiges, symbolisiert im Christentum die Verwandlung von Fleisch in ewiges Leben (dies ist auch die Bedeutung des unverweslichen Pfaus). Als Amulett am Hals Jesu entspricht die Koralle hingegen dem Volksglauben, wonach die Koralle vor dem bösen Blick behütet (die Talisman-Funktion ist schon im Text-Kommentar des Carmen im Dioskwides-Codex enthalten). Auch war die Koralle als Lebenselixier und Allheilmittel in Gebrauch. So bleibt die Koralle seit der Antike durch die Jahrhunderte präsent: als heiliges Objekt der Meergöttinnen und -götter, als apotropäischer Talisman, als prokreativ-erotisches Zaubermittel, als Exempel der natürlichen Metamorphosen, als Symbolon des Lebens und Symbol der Kunst, als Pharmakon der Arzte, als Beute der Korallenfischer, als Schmuck, als Amulett am Hals Jesu und Symbol seiner Passion und Wiederauferstehung, als Sammelobjekt in Kunst- und Wunderkammern, als Element in erfindungsreichen Assemblagen, die Ars und Natura verbinden, als Gegenstand von Stilleben-Künstlern wie als Studienobjekt von Naturwissenschaftlern. 24 Die Koralle ist die Naturform, die als solche schon Kunst ist, ein Mittleres zwischen erstem (mineralischem) und zweitem (pflanzlichem) wie schließlich auch drittem (tierischem) Naturreich. Und als Form, in ihrer rekurrenten Verzweigungsstruktur, ist sie und repräsentiert zugleich, was systema naturae heißt. Text und Bild der Koralle im Wiener Dioskurides können als das Konzentrat all dieser Bedeutungsschichten angesehen werden, welche in den nachfolgenden Jahrhunderten ausdifferenziert werden.

4. Mandragora - Bild und Text Im Bildprooimion des Wiener Dioskurides finden sich neben den beiden ArzteBildern und dem (ältesten überhaupt bekannten) Widmungsblatt für Juliana Anikia, der der Codex von der Gemeinde der von ihr gestifteten Marien-Kirche in Honoratae geschenkt wird, zwei Autorenbilder: Dioskurides und die Heuresis 23 Siehe Tescione 1972 (wie Anm. 22), Abb. nach 16, 32, 48, 112, 128, 144. 24 In letzteren Kontexten ist die Koralle allerdings erst nach 1406 nachweisbar. Dem wird hier indes nicht mehr nachgegangen.

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H a r t m u t Böhme

Abb. ] : Erstes Autorenbildnis, Wiener Dioskurides, fol. 4ν

(fol. 4v) sowie Dioskurides und die Epinoia (fol. 5ν; Mazal I, 22-25) (Abb. 1, Abb. 2).2> Im ersten Blatt erblicken wir den im Chiton gekleideten Dioskurides sitzend, seine Rechte nach einer Mandragora ausstreckend, die die vor ihm stehende Frau darreicht; sie wird durch die Beischrift als Heuresis (die Findigkeit) ausgewiesen. Zu ihren Füßen verendet ein Hund. Dies nimmt auf ältere Uberlieferungen Bezug, nicht aber auf den originalen Dioskurides, der die Mandragora nüchtern unter pharmakologischen Gesichtspunkten abhandelt (Diosk. IV, 76). Besonders wichtig war der anästhetisierende Einsatz der Mandragora in Wundmedizin und Chirurgie. 26 Bereits Theophrast (Hist. Plant. IX, 8,8) kolportiert - als Aberglauben! - die tödliche Gefahr, wenn man die Mandragora direkt aus der Erde zieht und nicht rituelle Regeln und Gebete einhält (ähnlich Plinius, Hist. Nat. XXV, 147-50). Von ihrem Vorkommen in zwei Geschlech-

25 Zum folgenden vgl. auch Buberl 1936 (wie Anm. 6), 129-33. 26 Vgl. die deutsche Übers, v. Dioskurides 1902 (wie Anm. 8), 408-11. E r nennt die Mandragora auch „Kirkaia", Kraut der Kirke, was auf gewisse Unsicherheiten in der Unterscheidung von Moly und Mandragora schließen läßt. Ähnlich nüchtern wie Dioskurides handelt Hildegard über den/die Alraun/Mandragora: weit entfernt von den magischen Legenden um den Alraun, siehe Riethe 1989 (wie Anm. 15), 28.

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Koralle und Pfau, Schrift und Bild im Wiener

Abb. 2: Zweites Autorenbikinis, Wiener Diosknrides.

tern und ihrer M e n s c h e n ä h n l i c h k e i t ist nicht die Rede."

Diosknrides

fol. Jv

Erst J o s e p h u s Flavius

( B e l l u m J u d a i c u m VII, 1 7 7 - 1 8 9 : h ) erzählt davon, daß m a n einen Kreis u m die nun a n t h r o p o m o r p h e Z a u b e r w u r z e l Baaras g r a b e n , einen H u n d an sie testbinden u n d diesen dazu verlocken solle, die W u r z e l h e r a u s z u r e i ß e n , so daß er stirbt, m a n selbst aber die Wurzel

g e w i n n e . D e r Illustrator des

Henresis-Blattes

m u ß diese U b e r l i e f e r u n g k e n n e n . Im C o d e x fehlen Text und Illustration zur w e i b l i c h e n u n d m ä n n l i c h e n .Mandragora, die nach fol. 226 hätten stehen m ü s sen ( M a z a l I, 84). Statt dessen sind fol. 2 8 7 - 8 9 drei Blätter in g r i e c h i s c h e n M i nuskeln des 13. J a h r h u n d e r t s , e i n g e f ü g t , die eine Abschrift des v e r l o r e n e n Textes nach fol. 2 2 6 ü b e r die M a n d r a g o r a enthalten, versehen m i t der primitiven S t r i c h z e i c h n u n g eines M a n d r a g o r a - M ä n n l e i n s (Abb. 3). Zu dieser Zeit war die J o s e p h u s - L e s a r t für die M a n d r a g o r a längst topisch (Farbtafel III)."'' 27 Theophrast: Enquiry into Plants and Minor Works on Odours and Weather Signs. (I listona Plantarum), hrsg. v. .Arthur Hort, 2 Bde. Harvard University Press 1980, hier: 14-15 u. 258-259. 28 Flavius Josephus: Bellum Judaicum/T lie Jewish War, hrsg. v. Henrv St. John Thackerav. Cambridge/London 4 1967, Bd. II, 557-558. 29 So noch bei Johannes Wonneke von Kaub: In diesem Buch ist der herbarv. oder Kreuterbuch: genant der gart der gesuntheit, Straßburg 15 15. Wenig später zitiert Leonhart Fuchs in seinem New Kreüterbuch von 1543 zwar noch den anthropomorphos als gebrauchliche

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Hartmut Böhme

!

Abb. 3: Mandragora-Männlein, Wiener Dioskurides, hier: spätere Einzeichnung 13. Jh., fol. 289r (Detail)

Das Heuresis-Blatt thematisiert die Gefahren und den Spürsinn des Rhizotomos, dessen investigative Seite im Patronat der Heuresis steht. Heuresis nimmt hier die Stelle der Muse in antiken Dichter-Darstellungen ein. Die gelehrte Seite ist Thema des zweiten Bildes, des Epinoia-Blattes.30 Es ist nicht mehr im Freien, sondern in einem architekturalen Innenraum situiert, dem Studio. Hier geht es um die explorative und repräsentierende Tätigkeit des Wissenschaftlers, nicht mehr in der Rolle des Rhizotomos, sondern des Phytopharmazeuten. Er steht im Patronat der Denkkraft (Epinoia): mittig stehend, hält sie die MandraBezeichnung der Mandragora, weist aber alle magischen Legenden Betrügern zu. Er vermeidet in der Illustration jede Menschenähnlichkeit, so auch in der nachgelassenen Handschrift: Brigitte Baumann/Helmut Baumann-Schleihauf (Hrsg.): Die Kräuterhandschrift des Leonhart Fuchs, Stuttgart 2001, 33, 365; Leonhart Fuchs: New Kreiiterbuch, Basel 1543, Cap. CCI. Der Volksglauben an die/den Mandragora/Alraune und das sog. Galgenmännlein hält sich viel länger, literarisch noch bis zu Ludwig Tieck und darüber hinaus. 30 Die abgebildeten Arzte sehen sich nicht ähnlich. Daraus hat man geschlossen, was nicht erweislich ist, daß auf dem Heuresis-Bild der Abgebildete nicht Dioskurides, sondern Krateuas sei.

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Koralle und Pfau, Schrift und Bild im Wiener

Dioskurides

gora in Händen. Links vor ihr auf einem Hocker der Zeichner, der sich zur Mandragora umdreht, um sie in Augenschein zu nehmen, während seine Malhand an einem aufgespannten Pergament arbeitet. Vor sich, auf einem kleinen Bord, die Farben. Rechts der Epinoia sitzt Dioskurides, den Blick auf einen voluminösen Codex gerichtet, in den er schreibt. Der praktischen Erkundung, als erster Stufe, folgt die an Autopsie rückgebundene doppelmediale Evaluation: in Bild und Schrift, in exemplarischer Repräsentation und textueller Auswertung. Die Schrift wiederum teilt sich in die nomenklatorische, deskriptive (morphologische), wirkungsanalytische und therapeutische Ebene. Man erkennt, daß in den beiden Autoren-Bildnissen des Wiener Dioskurides ein multifaktorelles, ausdifferenziertes Programm von Wissenschaft entworfen wird, das besonders in der Kooperation von Bild und Schrift auf höchstem Niveau durchgeführt wird. Erkenntnis ist immer an Praxis und Denkkraft gebunden, an Finden und Analysieren, an Autopsie und Evaluation, an Darstellen und kognitivem Ordnen, und damit: an Bild und Schrift. Darum muß der Wissenschaftshistoriker zugleich Bildwissenschaftler und Textphilologe sein.

5. Uberlieferung als Koralle Man hat, was hier nicht mehr verfolgt werden kann, durch überlieferungsgeschichtliche Analyse die Archetypen des Wiener Dioskurides, sowohl für den textlichen wie den ikonographischen Teil, herausgefunden. Erstaunlich ist, daß die auf ältere Bildquellen zurückgehenden Darstellungen diejenigen von besserer Qualität sind: sie arbeiten weniger zeichnerisch-flächenhaft, weniger symmetrisch und schematisch, sondern durch Schattierung und Abtönungen plastischer, üppiger, lebensvoller, farbkräftiger, in größerer naturalistischer Nähe zur Mannigfaltigkeit der Pflanzenmorphologie. Man darf hinzufügen, daß die künstlerische Qualität der Pflanzen-Abbildungen - nach Jahrhunderten flacher Umrißzeichnungen - erst wieder durch Albrecht Dürer, Hans Weiditz, der für den Arzt und Botaniker Otto Brunfels arbeitete (1532-37), ansatzweise bei dem Dioskurides-Kommentator und Botaniker Pietro Andrea Mattioli (1554), in den nachgelassenen Handzeichnungen Conrad Gesners (um 1560) oder den handkolorierten Illustrationen zu Leonhart Fuchs' De historia stirpium commentarli insignes (Basel 1542) erreicht wurde: mehr als tausend Jahre nach der auf höchstem Bildniveau operierenden antiken Botanik. 31 Erst Leonhart Fuchs agierte ähnlich wie der Wiener Dioskurides in vergleichbarer Sorgfalt in beiden Medien,

31 Ich sehe hier ab von der komplizierten Vorgeschichte des erreichten Gipfels veristischer und zugleich, im Interesse der Wissenschaft, typisierter Darstellung von Pflanzen. Hier wäre die mittelalterliche Buchkunst zu nennen, aber auch Jan van Eyck oder Joris Hoefnagel, sowie die neue Gattung des Stillebens.

69

Hartmut Böhme

Abb. 4: Schlafmachentie Schlutte (Physakis somnífera L.), Wiener Dioskurides, fol. 3 5ν

insofern er die darstellerische Seite von Künstlern, besonders Heinrich Füllmaurer und Albrecht M e y e r sowie dem Reißer und Formschneider Veyt Rudolff Speckle, besorgen ließ, während er die textliche Seite übernahm und sich auf sorgsame Bildanweisungen und -kritik beschränkte. 32 Es entspricht präzise dem Epinoia-Bild des Wiener Dioskurides, wenn Fuchs - wohl das erste Mal in der Buchdruck-Geschichte - in der Historia stirpium als handkolorierte Holzschnitte nicht nur sich, sondern auch die ,Pictores Operis' Füllmaurer und Meyer bei ihrer Zeichen-Arbeit sowie gar den ,Sculptor' Speckle zeigte. Darin drückt sich die Achtung vor dem Bild aus, das für den wissenschaftlichen Erkenntnisprozeß völlig unverzichtbar ist. 33 Der Wiener Dioskurides ist das wohl wertvollste Zeugnis, das uns eine Ahnung von der Qualität späthellenistischer und römischer Wissenschaftsillustration vermittelt (Abb. 4). Der Codex ist ein Knoten im Netz von textuellen und iko-

32 Letzteres ist jetzt gut nachvollziehbar durch Baumann/Baumann-Schleihauf 2001 (wie Anm. 29). 33 Ais unkolorierter Holzschnitt auch in: Leonhart Fuchs: New Kreiiterbuch, Basel 1543, nach dem Titelblatt sowie am Schluß des Buches, nach CCCXLVI. Abbildungen auch in: Baumann/Baumann-Schleihauf 2001 (wie Anm. 29), 34, 38, 45.

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Koralle und Pfau, Schrift und Bild im Wiener

Dioskurides

nographischen Überlieferungen. 34 Die Geschichte des Codex, die hier nicht darstellbar ist, stellt selbst ein Kette von Translationen dar, die durch byzantinische, weströmische, griechische, mönchische, türkische, jüdische und wieder christliche Hände lief, bis er 1569 durch den Gesandten des Wiener Hofs, Augerius von Busbeck, vom Sohn des jüdischen Leibarztes Suliman II. abgekauft und der Hofbibliothek Maximilians II. einverleibt wurde. Beischriften aus vielen Jahrhunderten in griechischer, hebräischer, lateinischer, persischer, arabischer und türkischer Sprache zeugen von der multikulturellen Benutzung des Codex. Abschriften wurden gefertigt, Varianten erzeugt, von denen die berühmtesten der DioskuridesNeopolitanus aus dem 7. Jahrhundert 31 und die Ägyptisch-Palästinensische Handschrift vom Ende des 8. Jahrhunderts sind. Immer wieder wurde, unabhängig vom Wiener Dioskurides, der Text von De re medica abgeschrieben und illustriert, ins Lateinische und Arabische, dann auch ins Spanische, Französische, Deutsche übersetzt, kommentiert und amplifiziert, um schließlich den Mastertext für die Goldene Epoche der Botanik im 16. Jahrhundert in England, Frankreich, Italien und Deutschland abzugeben. Wollte man die Genealogien, die Uberlieferungs- und die Wirkungsgeschichten des Wiener Dioskurides ν on 512 und des Dioskurides-Textes vom 1. Jahrhundert in ein Bild bringen: es wäre kein Baum, sondern eine Koralle. Vielleicht prozessiert nicht nur die Evolution in der eigenartigen Verzweigungs- und Netzform der Koralle, wie Horst Bredekamp annimmt; vielleicht sind auch die Wege, Vermittlungen, Translationen, Diffundierungen, die konzentrierten Knoten und die medialen Kanäle, die Rekurrenzen und Referenzen des lebendigen Geistes am besten begriffen im Bild der Koralle. Denn ich habe Nissen Piczenik gekannt, und ich bürge dafür, daß er zu den Korallen gehört hat und daß der Grund des Ozeans seine einzige Heimat war. Joseph Roth, Der Leviathan,

1940

34 Neben Alazal I/II 1998/1999 (wie Anm. 1) und Buberl 1936 (wie Anm. 6) vgl. dazu: Otto Pacht: Die früheste abendländische Kopie der Illustrationen des Wiener Dioskurides, in: Zeitschrift fiir Kunstgeschichte 38, 1975, 201-214. - Erich Bethe: Buch und Bild im .Altertum, LeipzigAVien 1945. - Alfred Stückelberger: Bild und Wort. Das illustrierte Fachbuch in der antiken Naturwissenschaft, Medizin und Technik, .Mainz 1984. - Heide Grape-Alpers: Spätantike Bilder aus der Welt des Arztes. Medizinische Bilderhandschriften der Spätantike und ihre mittelalterliche Uberlieferung, Wiesbaden 1977. 35 Harald Riedl: Dioskurides. Die Handschrift aus Neapel. Codex Neopolitanus, Graz 1988.

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Hartmut Böhme Bildnachweis: Taf. I: Pedanius Dioscorides: Der Wiener Dioskurides, Codex medicus Graecus 1 der Osterreichischen Nationalbibliothek, in: Glanzlichter der Buchkunst, Bd. 8, Teil 2, Graz 1999; Taf. II: Pedanius Dioscorides: Der Wiener Dioskurides, Codex medicus Graecus 1 der Osterreichischen Nationalbibliothek, in: Glanzlichter der Buchkunst, Bd. 8, Teil 1, Graz 1998; Abb. 1: Pedanius Dioscorides, Bd. 8, Teil 1; Abb. 2: Pedanius Dioscorides, Bd. 8, Teil 1; Abb. 3: Pedanius Dioscorides, Bd. 8, Teil 2; Taf. III: Medicina antiqua: Codex Vindobonensis 93 der Osterreichischen Nationalbibliothek, komm. v. Hans Zotter, in: Glanzlichter der Buchkunst, Bd. 6, Graz 1996; Abb. 4: Pedanius Dioscorides, Bd. 8, Teil 1.

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Sybille K r ä m e r

Karten - Kartenlesen - Kartographie Kulturtechnisch inspirierte Überlegungen

1. Der Kontext: Bildlichkeit - Räumlichkeit - Kartographie Das Bildliche ist aus der Aufrnerksamkeitsnische hervorgetreten, die ihm Kunstwissenschaft, Film- und Fotowissenschaft bereitgehalten haben und ist auf ,Augenhöhe' der kulturhistorischen und zugleich geisteswissenschaftlichen Bedeutung von Sprachen und Texten angekommen. Räumlichkeit ist ein Ordnungsprinzip von Bildern. Ist es nun zufällig, daß im Zuge der Hinwendung zum Bildlichen auch das Räumliche gegenwärtig eine Renaissance erlebt? 1 Lange, vielleicht allzu lange, schienen die neuen Medien, mit der ihnen eigenen Schrumpfung des Raumes, das Ortsprinzip obsolet zu machen:,Entortung',,Auflösung von Lagebeziehungen',,Vernichtung des Raumes' waren die Schlagworte, welche im vorauseilenden Gehorsam gegenüber der Informatisierungs- und Virtualisierungstendenz, die Irrelevanz des Raumprinzips propagierten. Doch wenn Medien auch Räume überwinden, so lösen sie diese keineswegs auf. Ist tatsächlich - wie Immanuel Kant dachte - der Raum die überhistorisch sich durchhaltende Bedingung der Möglichkeit unserer Erfahrung? Oder bilden nicht vielmehr die raumergreifenden und raumbegreifenden ,Praktiken' die historisch veränderlichen Bedingungen, unter denen Raumkonzepte und Raumvorstellungen dann ihre jeweilige epochale Gestalt annehmen?

1

Z u r H i n w e n d u n g zur Räumlichkeit vgl. Vittoria Borsó/Reinhold Görling (Hrsg.): Kultu-

relle Topologien, Stuttgart 2004; Rudolf Maresch/Niels W e r b e r (Hrsg.): R a u m

Wissen

M a c h t , F r a n k f u r t a. M . 2 0 0 2 ; S i g r i d L a n g e ( H r s g . ) : R a u m k o n s t r u k t i o n e n in d e r M o d e r n e K u l t u r , L i t e r a t u r , F i l m , B i e l e f e l d 2 0 0 1 ; K a r l S c h l ö g e l : D i e W i e d e r k e h r d e s R a u m e s , in: F r a n k f u r t e r A l l g e m e i n e Z e i t u n g , 19. J u n i 1 9 9 9 ; K a r l S c h l ö g e l : I m R ä u m e l e s e n w i r d i e Z e i t . U b e r Z i v i l i s a t i o n s g e s c h i c h t e u n d G e o p o l i t i k , . M ü n c h e n 2 0 0 4 ; P e t e r S l o t e r d i j k : S p h ä r e n I—III, F r a n k f u r t a. M . 1 9 9 8 - 2 0 0 4 ; E d w a r d S o j a : P o s t m o d e r n G e o g r a p h i e s . T h e R e a s s e r t i o n of S p a c e in C r i t i c a l S o c i a l T h e o r y , L o n d o n 1 9 8 9 ; E d w a r d W e n z e l : R ä u m e d e r W a h r n e h m u n g , in: S p r a c h e u n d L i t e r a t u r 94, 2004, 1 - 9 .

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Das ,Karderen' nun ist eine Praktik, die den Raum zugleich repräsentiert, wie auch konstituiert. Die gegenwärtig zu verzeichnende ,Rematerialisierung' und ,Erdung' der Diskurse2, die einhergeht mit der Wiedergewinnung der Schwerkraft des Räumlichen, kann also einen Anhaltspunkt finden in der kultur- und geisteswissenschaftlichen Beschäftigung mit der Kartographie. Denn Raumverständnisse und Raumkonzepte werden zugänglich und entzifferbar anhand der Karten, die wir von wirklichen und fiktiven Räumen entwerfen.

2. Raumrelationen als Darstellungsmedium ,Kartieren' ist die graphische Einzeichnung einer Verbindung zwischen Orten in Gestalt einer räumlichen, zweidimensionalen Darstellung.3 Karten sind flach; sie zeigen Oberflächen. Die Orte und ihre Verbindungen auf dieser Fläche können reale sein, müssen es aber nicht. Auch irreale Orte sind kartierbar und die Verbindungen, die aufgezeichnet werden, können auch ideeller, religiöser, sozialer, politischer, technischer, symbolischer oder moralischer Art sein. Immer aber bedient sich die ,Sprache', mit der diese Verbindungen artikuliert werden, des Mediums räumlicher Verhältnisse. In der Karte werden Räume also nicht nur dargestellt, sondern das Räumliche wird zum Organisationsprinzip des Darstellens selbst. In dieser Weise kartierbar sind dann reale, ideale und fiktive Welten, wirkliche Landschaften ebenso wie Wissenswelten.

3. Orientierung Karten dienen der Orientierung.4 ,Orientierung' meint ursprünglich das Ausrichtung am Sonnenaufgang (Orient), meint ein ,Einosten'. Es muß etwas Beharrendes gegeben sein, das als Anhaltspunkt von Orientierung dient. Karten verschaffen einen Uberblick ausgehend von einem ihnen inhärenten Stand- und Gesichtspunkt. Mit der neuzeitlichen Kartierungstechnik, deren Prototyp der Globus ist, wird dieser ,Gesichtspunkt' ein apollinischer.5 Durch Karten gewinnen wir in komplexen Situationen einen Uberblick, der es uns erlaubt, in räumlichen Gegebenheiten zu handeln. Karten eröffnen Spielräume für das Verhalten: meist sind mehrere Wege möglich. Daher müssen Karten lesbar, ihr Code unschwer entschlüsselbar sein. Das Kartenerstellen und das Kartenlesen sind elementare Kulturtechniken unseres Orientierungshandelns. Gleichwohl - das darf nicht

2 Maresch/ Werber 2002 (wie Anm. 1). 3 Denis Cosgrove: Bedeutung kartieren, in: An Architektur 11,5, 2004, 2 0 - 2 5 , hier 20. 4 Zum Orientierungsbegriff Beiträge in Werner Stegmaier (Hrsg.): Orientierung. Philosophische Perspektiven, Frankfurt a. M . 2005. 5 Denis Cosgrove: Apollo's Eye. A Genealogy of the Globe in the West, Baltimore 2001.

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Karten - Kartenlesen - Kartographie

vergessen werden - gibt es eine Fülle von Karten, die dem Orientieren im engeren Sinne, also auch dem Reisen nie gedient haben/'

4. Visualität Nicht zufällig ist das Visuelle besonders geeignet, wenn wir Uber-Blick und Uber-Sicht gewinnen wollen. Hans Jonas hat die epistemische Privilegierung des Sehsinnes zurückgeführt auf die Gleichzeitigkeit von Objekten im Gesichtsfeld. Kraft der Simultaneität, die allem Bildlichen eigen ist, können wir vergleichen, somit Verbindungen und Verhältnisse einsehen. Überdies erfolgt das Sehen aus einer Distanz heraus: Wir nehmen in der Anschauung Abstand, sind also - in der Beobachterdistanz - nicht in kausaler Verwicklung und in unmittelbarer Interaktion mit dem Gesehenen. Was auf dem Auge zu liegen kommt und uns überhaupt zu nahe tritt, können wir nicht mehr sehen. Auch wenn die Nobilitierung des Sehens durch Hans Jonas teilweise das kulturhistorische Dispositiv des Auges zum anthropologischen Phänomen naturalisiert und auch wenn die Rolle der Bewegung für das visuelle Erfassen von Dingen bei Jonas entschieden zu kurz kommt, zehrt der Gebrauch von Karten zweifelsohne vom erkenntnistechnischen Vergleichspotenzial der Simultaneität. In dieser Gleichzeitigkeit des Präsentierten visualisieren Karten immer auch Unsichtbares: zum Beispiel Relationen.

5. Körper als Bezugssystem Das erste Bezugssystem, über das Räumliches die Orientierung strukturieren kann, ist der Körper: Oben/unten, links/rechts, vorne/hinten, innen/außen sind Unterschiede, die - ausgehend von der Position des eigenen Leibes - eine Umgebung gliedern und ausrichten. 8 Diese Unterschiede sind mit einem kulturanthropologischen Wert-Index markiert: ,oben' vor ,unten', ,rechts' vor ,links', ,vorne' vor ,hinten', ,innen' vor ,außen'. Das ungerichtete, niveaulose, indifferente Räumliche gewinnt kraft unserer körperlichen Positionierung eine elementare Gerichtetheit und eine qualitative Differenz. Für Ernst Cassirer ist es das Charakteristikum gerade der mythischen Raum-Entwürfe, daß sie KörperDaten in die symbolische Ordnung des Raumes übertragen. 0 Tatsächlich erhal6 Christian Jacob: Towards a Cultural History of Cartography, in: Imago mundi 48, 1996, 191-198, hier 195 am Beispiel hellenistischer Karten. 7 Hans Jonas, Der Adel des Sehens, in: Ralf Konersmann (Hrsg.), Kritik des Sehens, Leipzig 1997, 2 5 7 - 2 7 1 . 8 Götz Großklaus: Medienphilosophie des Raums, in: Ludwig Nagl/Mike Sandbothe (Hrsg.), Systematische Medienphilosophie, Berlin 2005, 3 - 2 0 , hier 3 ff. 9 Zur .mythischen Geographie' Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, 2. Teil: Das mythische Denken, Darmstadt "1994, 114 ff.

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ten sich Körper-Indices als Strukturierungsachsen räumlicher Ordnung weit über die der Mythographie hinaus·, in der Gutenberg-Ara legen noch die ,Kopfzeile' und die ,Fußnote' davon Zeugnis ab.

6. Semiotik der Karten Nicht zu schnell und zu einseitig sollten die (modernen, ,transparenten') Karten der Bildwissenschaft zugeschlagen werden.10 Es ist kein Zufall, daß wir vom ,Lesen' der Karten sprechen. Tatsächlich sind Karten ,Mischwesen', angesiedelt zwischen Bild und Sprache und in ihrem Darstellungspotenzial von beiden symbolischen Ordnungen zehrend. Bild und Sprache sind nicht auf ihren Zeichencharakter reduzierbar, aber sie sind gleichwohl auch Zeichen; die semiotischen Dimensionen des Ikonischen und des Diskursiven kreuzen sich in der Karte. Heutige Karten arbeiten zuerst einmal mit graphischen Variablen: Größe, Helligkeitswert, Farben, Muster, Richtung, Formen, die zwei Dimensionen der Fläche." Diese Variablen werden miteinander kombiniert und es wird ihnen eine ,Bedeutung' zugewiesen, so daß kartografische Zeichen gebildet werden: Rote Kreise verschiedener Größe fiir Städte, schwarze Linien verschiedener Dicke für Straßen, blaue für Flüsse... Diesen semiotischen Grundelementen und ihren Kombinationen wird gerne ein wortartiger12 oder satzartiger13 Charakter zugeschrieben. Es ist die Konventionalisierung, welche Karten etwa von den Satellitenbildern unterscheidet. Karten sind keine ,dichten', sondern ,diskjunkte' Symbolsysteme. Können wir also von einer , Grammatik der Karten ' sprechen? Jedenfalls sehen wir, wie schon auf der untersten Ebene im Aufbau von Karten das Bildlich-Visuelle und das Sprachlich-Syntaktische sich verschwistern. So ist es möglich Relationen visuell darzustellen, die immer auch in sprachliche Ausdrücke übersetzbar sind: Relationen der Lage (A liegt östlich von B) und Relationen der Quantität (A ist größer, höher, länger als B): Diese disjunkte Struktur unterscheidet Karten von Fotos und Gemälden.14 Ist die Karte - um es paradox auszudrücken - ein versprachlichtes Bild? Verkörpert sie jene (außerordentliche) Sorte von Bildern, die vollständig in Sprache übersetzbar sind?

10 „Die Kartografie entwickelt sich damit zu einer interdisziplinären Bildwissenschaft." Gyula Pápay: Kartografie, in: Klaus Sachs-Hombach (Hrsg.), Bildwissenschaft. Disziplinen, Themen, Methoden, Frankfort a. M. 2005, 281-295, hier 285. 11 Jacques Bertin: Sémiologie graphique. Les diagrammes - les réseaux - les cartes, Paris 1967, zit. nach Pápay 2005 (wie Anm. 10), 288. 12 Wolf Günter Koch: Zum Wesen der Begriffe Zeichen, Signatur und Symbol in der Kartographie, in: Kartographische Nachrichten 48, 3, 1998, 205-215. 13 Dagmar Schmauks: Landkarten als synoptisches Medium, in: Zeitschrift für Semiotik 20, 1-2, 1998, 8 - 2 4 , hier 12. 14 Pápay 2005 (wie Anm. 10), 290.

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Karten - Kartenlesen - Kartographie

7. Indexikalität Eine Karte zur Orientierung benutzen kann nur, wer sich selbst in der Karte zu verorten weiß. Die Indexikalität ist ein notwendiges Inkrement des Kartengebrauches. Indexikalität heißt: wie die Pronomen ,ich' und ,hier' oder wie der ausgestreckte Zeigefinger auf etwas zu verweisen, das seine Bedeutung ändert mit demjenigen, der sich dabei artikuliert. Mit dem Index dringt die Singularität ein in die universellen Formen arbiträrer Semiosis: Es ist der rote Pfeil am U-Bahn-Plan, der markiert: ,hier bin ich im U-Bahn-Netz'. Schon vor den computergenerierten virtuellen Realitäten wird die Möglichkeit des ,Eindringens' des Nutzers in die Karte, mit der er zum Element des dargestellten Territoriums avanciert, elementares Gebrauchsprinzip von Karten. Beim Kartenlesen wird das ,Ich-bin-hier' zum ,Ich-bin-dort': eine merkwürdige Verschmelzung der deiktischen Geste, die vom Körper weg auf die Karte zeigt und dabei zugleich auf sich selber zeigt: Der Kartenutzer wird als räumlich positionierter Körper Inkrement der Karte. Unschätzbar die intellektuellen Folgen dieser Fähigkeit, uns selbst in einer kartenartigen Darstellung empirisch zu verorten. Die Indexikalität

wird zur Bedingung der Möglichkeit operativer Handhabung von Kar-

ten. Erst die indexikalisch wirkende Kompaßnadel verwandelt den Ozean in einen semiotisierbaren Raum.

8. Ubiquität und Pragmatizität von Karten Karten sind Elemente materieller Kultur; sie sind Dinge und sie sind zugleich Darstellungen, Repräsentationen, Symbole von etwas. Karten müssen handhabbar, gar ,handlich' sein und finden oftmals im Nahraum unseres Leibes ihren Platz. Zumindest müssen wir nahe an die Karte herantreten, um sie lesen zu können. Der Linienplan an Bushaltestellen, die Faltkarte der U-Bahn, die Wetterkarte in der Tagesschau, der Lageplan der Universitätsgebäude, aber auch das Navigationssystem im Auto und die planetarische Zoom-Funktion von E A R T H : ist uns noch bewußt, wie tief und selbstverständlich Karten in unsere alltäglichen und außeralltäglichen Lebensformen verwoben sind? Mit der Diagnose von diversen ,turns' sind wir allzu schnell bei der Hand (,Wende': übrigens auch ein sich auf Räumliches beziehendes Konzept), aber zumindest erlangt der so oft zitierte ,iconic turn' durch den jüngst aufgerufenen ,topographical turn' 1 ' eine pragmatische Profilierung. Im Gebratich von Karten zeigt das Bildliche seine operative Dimension. Visualisierung macht nicht nur überschaubar (wie Jonas annahm), sondern auch handhabbar und beherrschbar. 15

Sigrid Weigel: Zum topographical turn'. Kartographie, Topographie und Raumkonzep-

te in den Kulturwissenschaften, in: Kulturpoetik 2, 2, 2002, 151-165; Schlögel 2004 (wie Anm. 1).

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Diese operative Funktion vereint Kartographie, Diagrammatik und Schriftbildlichkeit. Verändert und erweitert sich in diesem Horizont der Bildbegriff, aber auch unser Konzept von Visualisierung? Zeichnet sich eine „Diagrammatologie" ab?

9. Kognitive Karten - soziale Konstruktionen Die Karte eines Raumes zu entwerfen, heißt, über diesen Raum kognitiv zu verfügen.16 Die ,kognitive Karte', die (vielleicht) überall da mental instantiiert ist, wo wir uns in Umgebungen zurecht zu finden wissen, ist auch Kondensation ,kollektiver Vorstellungswelten': Historische, technische, mediale, also kulturelle Rahmenbedingungen präformieren unser kartierbares Wissen vom Raum. Karten sind nicht nur Projektionen von ^Mimwissen, sondern auch von WeltfaVdern und vor allem auch: von Absichten, die wir mit der Kartierung verfolgen. Was ausgelassen, was ausgewählt, wie farblich nuanciert wird, wie und mit welchem Maßstab dargestellt wird, in welcher Weise Nichtwissen sich niederschlägt in der Karte: Das alles sind Fragen, die darauf aufmerksam machen, daß das Phänomen der ,Autorschaft' selbst bei Karten nicht obsolet wird. Karten sind immer auch soziale Konstruktionen, die in soziale Gebrauchszusammenhänge eintreten." Wie sähe eine Karte aus, in der nicht räumliche Entfernungen, sondern Reisezeiten den Abstand der Orte bestimmten? Die Karte ist - in den Worten von Denis Cosgrove - ein Dreh- und Angelpunkt, um den sich ganze Bedeutungssysteme drehen. In Karten tritt die kulturelle - aber auch politische18 Konstitution von Räumen zutage.19

10. Graphismus Versorgt uns der Blick aus dem Flugzeugfenster nicht mit jener Ansicht von Landschaften, die wir auf Landkarten wieder finden? Je höher das Auge über der aufzuzeichnenden Landschaft piaziert ist, umso mehr scheint dieser natürliche' Anblick einer Karte zu entsprechen: Und doch ist die Konventionalisierung und kartographische Grammatikalisierung der unüberbrückbare Abstand, welcher die Ansichten aus der Vogelperspektive des Flugzeugs von der Ansicht einer Karte unterscheidet. Übrigens kann die kartographische Einführung der

16 Roger M. Downs/David Stea: Kognitive Karten und Verhalten im Raum - Verfahren und Resultate der kognitiven Kartographie, in: Harro Schweizer (Hrsg.), Sprache und Raum, Stuttgart 1985, 1 8 - 4 3 . 17 Jacob 1996 (wie Anm. 6). 18 David Gugerli/Daniel Speich: Topografien der Nation. Politik, kartografische Ordnung und Landschaft im 19. Jahrhundert, Zürich 2002. 19 Cosgrove 2004 (wie Anm. 3), 25.

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Karten - Kartenlesen - Kartographie

in der Renaissance technisch noch unmöglichen' ,Vogelperspektive' - oder sollten wir sagen: der Perspektive des Auges Gottes? - in seinen intellektuellen Effekten kaum hoch genug veranschlagt werden. 20 Es ist der Verzicht auf die zentralperspektivische Repräsentation, die etwas zur Karte eines Territoriums werden läßt. Die unterlassene Imitation von Dreidimensionalität unterscheidet die Karte vom (gewöhnlichen) neuzeitlichen Tafelbild. Deshalb sprechen wir zu recht von Kartoiwp/w. Schriftbilder 21 , Kartenbilder, Diagramme: Sie alle nutzen die Zweidimensionalität der Fläche als ein Darstellungsmedium. Und im Rahmen dieser Zweidimensionalität ist die Linie - wie auch bei Schrift und Diagramm - das elementare Konstruktionsprinzip. Anders allerdings als bei der Schrift, scheint der Evolution der Kartierung ein naturalisierendes, abbildliches Telos inne zu wohnen: das Ideal nämlich, daß das Repräsentierte und die Repräsentation in Charakteristika, welche die räumliche Struktur betreffen, zur Ubereinstimmung kommen. Der Maßstab wird im Zuge eines solchen Anspruches unabdingbar: nicht nur, weil er Karte und Territorium verbindet, sondern weil er zugleich jenes vergrößernde und verkleinernde Zoomen, das wir bei EARTH so plastisch erleben können, auch für die Karten erlaubt. Ist also die Karte Spiegel und Abbild ihres Teirains? Sie ist es selbstverständlich nicht..

11. Kartographische Vernunft? 22 Die Koinzidenz von Mathematisierung und Subjektivierung Mit der Entstehung von zentralperspektivischem Gemälde und formalen Schriften verändert sich in der frühen Neuzeit das Raumkonzept grundlegend. Die Rationalisierung der Visualität in der zentralperspektivischen Konstruktion, sowie die Visualisierung der Ratio in der Kalkülisierung greifen ineinander und befördern die Vorstellung von einem homogenen, mathematisierbaren Raum. Die Relation zwischen Körpern und Orten gilt nicht länger als eine Bedeutungsrelation, gestiftet durch religiöse und soziale Besetzungen. Das, was den Raum zusammenhält', ist jetzt seine durchgängige Quantifizierbarkeit, also Formalisierbarkeit: Raum kann vermessen werden. Schon die zentralperspekti20 Jacob 1996 (wie Anm. 6), 193. 21 Sybille Krämer: ,Schriftbildlichkeit' oder. Uber eine (fast) vergessene Dimension der Schrift, in: Horst Bredekamp/Sybille Krämer (Hrsg.), Bild, Schrift, Zahl, München 2003, 157-176; Sybille Krämer: Operationsraum Schrift. Ein Perspektiven-Wechsel im Schriftverständnis, in: Gernot Grube/Werner Kogge/Sybille Krämer (Hrsg.), Schrift. Kulturtechnik zwischen Auge, Hand und Maschine, M ü n c h e n 2005, 13-32 22 Diesen Begriff gebraucht Franco Farinelli: Von der Natur der Moderne. Fine Kritik der kartographischen Vernunft, in: Dagmar Reichert (Hrsg.), Räumliches Denken, Zürich 1996, 267-302.

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vische Projektion schafft eine visuelle Syntax, in welcher Körper und ihre Zwischenräume nur noch als Verkörperung geometrischer Verhältnisse gelten, also durch Lagebeziehungen spezifiziert werden. Descartes zieht in seinem in der Ausdehnung verankerten Körperkonzept (res extensa) daraus die philosophische Konsequenz.23 Er begründet überdies die Analytische Geometrie, indem er Punkte als Zahlenpaare anschreibt, so daß geometrische Probleme durch Berechnung gelöst, mithin Figuren als Formeln darstellbar werden. Möglich ist diese Synthese von Geometrie und Arithmetik nur durch die Konstruktion eines Koordinatensystems, das es erlaubt, geometrische Figuren als verkörperte Zahlenverhältnisse in einem durch die Koordinatenachsen ausgerichteten Raum zu ,verorten'. ,Ortsbezug' und,'/.ählbarkeit' fallen zusammen. Kaum plastischer kann diese Formalisierang und Entsemantisierung von Körpern, Figuren und Räumlichkeit hervortreten als im Netzwerk der kartographischen Längen- und Breitengraden, mit denen der Erdglobus und dann auch die planen Erdkarten die Fläche der Darstellung rastern. So wurde die Ortlosigkeit des Meeres, dessen fluide Oberfläche Spurbildung nicht erlaubt und die Seefahrt vor schwerwiegende Navigationsprobleme stellt, zu einer Fläche, die re-territorialisiert wird, indem jeder ihrer Punkte als eine Zahlenkonstellation ausdrückbar und anpeilbar ist. Mit Gerhard Mercators Weltkarte genügte es, wenn das Schiff den Winkel, der zum Zielhafen führt, auf der Karte ermittelt und dann in der Querung der Ozeane diesen Kurswinkel auch einhält (,Loxodrome').24 Die Mercator-Projektion macht Orientierung auf dem Meer zu einem Berechnungsakt. Doch zugleich lernen Nautiker, daß eine Seemeile nicht irgendwo, sondern immer links oder rechts neben der eigenen Position mit dem Stechzirkel abgegriffen werden muß, da diese Skala nicht äquidistant ist. Tatsächlich ist die universelle Berechenbarkeit von Lageverhältnissen, die einen homogenen, mathematisierbaren Raum voraussetzt, zutiefst verwoben mit der Idee des Subjekts als ,Nullpunkt' jenes Koordinatennetzes, das die Welt quantifizierbar macht.25 Die Nutzung der Null als Ausgangspunkt für die Erfindung des Koordinatensystems bei Descartes einerseits und sein selbstbezügliches ,cogito', das auch im Bezweifeln sich noch als denkend erfährt und damit zur Wurzel von Wissen und Wissenschaft avanciert, greifen ineinander. Die Objektivierung der Kartographie, mit ihrem Anspruch immer präzisere, ,realistischere' Karten hervorzubringen und die Subjektkonstitution von Erkenntnis sind die zwei Seiten einer Medaille. 23

Sybille Krämer: Verschwindet der Körper? Ein Kommentar zu virtuellen Räumen, in:

Rudolf Maresch/Niels Werber (Hrsg.), Raum, Wissen, Macht, Frankfurt a. M . 2002, 4 9 - 6 8 , hier 58. 24

Mark Monmonier: Rhumb Lines and Map Wars. A Social History of the Mercator Pro-

jection, Chicago 2004. 25

Sybille Krämer: Das Geld und die Null. Die Quantifizierung und die Visualisierung des

Unsichtbaren in Kulturtechniken der frühen Neuzeit, in: Klaus W. Hempfer/Anita Traninger (Hrsg.), Macht Wissen Wahrheit, Freiburg 2005, 7 9 - 1 0 0 .

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Karten - Kartenlesen - Kartographie

12. Zum Narrativ des Naturalismus: die transparente' Karte In einer naturalistischen Sicht sind Karten transparent 26 : ein neutraler Informationsträger, dazu gut, die externe räumliche Ordnung der Welt in ein vereinfachtes, klassifizierendes, zweidimensionales Abbild zu überführen. Das Narrativ dieses naturalistischen Paradigmas läßt sich so beschreiben: Kartieren zielt auf ein korrektes, relationales Modell eines Terrains. Die Verhältnisse, die abzubilden sind, - so jedenfalls die naturalistische Maxime - existieren unabhängig von der Karte; alle Orte und ihre Relationen sind exakt berechenbar. Daher auch ist der Fortschritt der Kartographie immer gebunden an den Fortschritt der Meßkunst und ihrer Instrumente. Mit diesem Anspruch, ein exaktes Abbild zu schaffen, unterscheidet sich das Kartieren von der Malerei und die Karte vom Tafelbild. Kraft ihrer Abmessung und Standardisierung scheint die europäische Kartographie, die sich in der frühen Neuzeit dem Aufstieg der mathematisierten Wissenschaften verdankte, geradezu als Inkarnation des,Reinheitsgebotes' exakter Repräsentation. Sie ist das Flaggschiff einer ,Ethik der Genauigkeit', welche dann wiederum die Karten, die anderen Darstellungsprinzipien folgen, subjektivieren, ideologisieren und exotisieren muß. Aber ist die Transparenz der Karte nicht erkauft mit der operationalen Erfindung ihrer Gegenstände? So jedenfalls sieht es Wolfgang Schaffner. 2,

13. Zum Narrativ der Dekonstruktion: die ,opake' Karte Doch im Zuge der kritischen Einstellung dekonstruierender Arbeit in den c u l tural studies', setzt sich eine zunehmend ,opake Einstellung' 28 gegenüber Karten durch. 29 Auch wissenschaftlich entworfene Karten verkörpern nicht nur die Regeln der Mathematik und der Vernunft sondern auch die Normen und Werte gesellschaftlicher Traditionen: Karten fungieren immer auch als Macht-Wissen.30 In dieser dekonstruierenden Perspektive widerfährt der Karte allerdings eine ,Diskursivierang': Sie wird angesehen wie ein Text.51 Und so, wie alle pro-

26 Cosgrove 2004 (wie Anm. 3), 21. 27 „Die Geschichte der modernen Kartographie zeigt sich damit von Anfang an in die Aporien einer Repräsentation verstrickt, die Transparenz nur in der Form der operationalen Erfindung ihrer Gegenstände erreicht. Das Dargestellte, die Landschaft, der menschliche Körper usw. sind Produkt und nicht Ursprung der topographischen Repräsentation." W o l f g a n g Schäffher: Operationale Topographie, Repräsentationsräume in den Niederlanden um 1600, in: Hans J ö r g Reinberger/Michael Hagner/Bettina Wahrig-Schmidt (Hrsg.), Räume des Wissens, Berlin 1997, 6 3 - 9 0 , hier 66. 28 Cosgrove 2004 (wie Anm. 3), 21. 29 J a c o b 1996 (wie Anm. 6). 30 John Brian Harley: Das Dekonstruieren der Karte, in: .An Architektur 11,5, 2004, 4 - 1 9 , hier 5.

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Sybille Krämer

positionalen Texte auch rhetorische Züge ausweisen, so werden in Karten dann ,rhetorische Aussagen' aufgespürt: Karten berufen sich auf Autoritäten, sprechen Leser durch Farben, Ausschmückungen, Typographien etc. an. Die einzelnen Schritte der Kartenproduktion, Auswahl, Auslassung, Vereinfachung, Klassifikation, Hierarchisierung, bergen also alle - mit den Worten Harleys eine rhetorische Dimension. 32 Es geht nicht darum, das Wissenschaftliche und das Rhetorische gegeneinander auszuspielen, sondern angesichts des naturalistischen Paradigmas wissenschaftlich erzeugter Karten, die den Karten impliziten, nicht-propositionalen Elemente zu vergegenwärtigen. Aber kann diese ,Diskursivierung', welche die symbolische Modalität der Karten Texten anverwandelt, das letzte Wort einer kritischen Kartographie bleiben?

31 Wir müssen „den kartografischen Text selbst betrachten. Das Wort ,Text' ist (in diesem Zusammenhang) bewußt gewählt." Harley 2004 (wie Atim. 30), 11. 32 Harley 2004 (wie Anm. 30), 15.

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Barbara Maria Stafford

Mens-Incognita Landfalls on an Invisible Interior

T h e formerly inaccessible space currently being mapped that I am referring to has little in common with the monster-infested geography of Herodotus. N o t hot and expansive, but wet and convoluted, the body's remaining ,,no-places" are being systematically scanned. T h e emerging brain sciences are slicing through obscuring tissues, rendering them translucently phantasmatic with glowing imaging modalities: fluorescence, ultrasound, computed tomography (CT), positron emission tomography (PET), single photon emission computed tomography (SPECT), and now in vivo molecular imaging (involving novel contrast agents) that non-invasively illuminate the darkness cloaking marvelous scenes of vascular and metabolic events.1 But I am in pursuit of other fathomless seas of the soma. As important as the instrumental probing of a wide gamut of cellular pathologies is - from tiny cysts in the liver to the clumped bundles of peptides symptomatic of Alzheimer's disease - the human brain's regional micro-environments have become the preferred destination for massive ongoing scientific depth studies. Everything that formerly was believed about the mind - that farflung universe concealed inside our heads - is being opened to intense exploration. In addition to analysing the modularity of vision2, i.e., the many visual areas of the brain and their specialized roles in processing form, color, motion, distance, as well as the distinguishing of figure from background, context and content, segregated and integrated - , aggregated and differentiated - , homogeneous and heterogeneous-, autonomous and independent- features', the search is on for even more elusive functions. For example, what is the role of past experience in episodic memory or foveal attention? And then there is the concerted *

Erschienen in der Internetzeitschrift Atopie im J a h r 2005, U R L : (26. 07. 2006). 1 Vivien Marx: Molecular Imaging, in: Chemical and Engineering N e w s 25, 2005, 2 5 - 3 6 . 2 Semir Zeki: Inner Vision. An Exploration of Art and the Brain, Oxford 2004, 5 8 - 7 0 . 3 György Buzsáki: Similar is Different in Hippocampal Networks, in: Science 309, 2005, 569.

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Barbara Maria Stafford

effort to conquer that most enigmatic territory lodged beneath the skin. T h e return of consciousness" 4 as a cross-disciplinary research agenda is, surely, one of the major intellectual issues of our time. Neither dissection nor imaging technologies have been able to explain fully this mysterious capacity for summarizing the contents of our entire body both as a precis of animal physiology and as a bundled compound, that is, as an imaging, speaking, thinking, and evolving higher-order being. What are the implications, then, for a broad range of imagists of having now to consider the centuries-old notion of „mental phenomena" (the various manifestations of sensory awareness, introspective and retrospective self-awareness, affective internal states) as wholly the result of the material brain? T h i s complex issue is wrapped up in the phrase, the „neural correlates of consciousness" - i.e., what David Chalmers terms the „hard problem" of the relation of the brain's operations to the varieties of subjective experience that make up the conscious life of a subject. 5 T h e attempt to resolve this fundamental relational problem between the visible and the invisible also appears in global workspace models - concerned with integrating third-person data about brain structure and function with the rich first-person qualitative detail accompanying the stream of consciousness. Otherwise stated, how can the existence of millions of distributed, yet interconnected, neurons and billions of synapses give rise to this intensely personal feeling that there is a flowing continent underneath the skull and behind the face that belongs only to us and that can never be peeled away? I propose this gripping scientific topic that, as Paul Churchland claims, „has yet to find a governing research paradigm" 6 calls for new practices of landfall by humanists studying every conceivable aspect of visualization. I have described elsewhere what a cognitive history of images, for example, might look like. 7 Here, I can only suggest that everything from non-hermeneutic „presence" 8 (the spatial, tactile, temporal connection between the world and its objects), to the venerable dichotomization of the material and the immaterial, appearance

4 Robert A. Wilson: Boundaries of the Mind. T h e Individual in the Fragile Sciences: Cognition, Cambridge 2004, 214. 5 David Chalmers: Consciousness, in: Richard L. Gregory (ed.), T h e Oxford Companion to the Mind, Oxford 2 2004, 207. 6 Ibid., 208. 7 Cf. Barbara M. Stafford: Romantic Systematics and the Genealogy of Thought. T h e Formal Roots of a Cognitive History of Images, in: Configurations (october 2006); cf. Barbara M. Stafford: Levelling the New Old Transcendence. Cognitive Coherence in the Era of Beyondness, in: New Literary History 35, 2004, 321-338. 8 Hans Ulrich Gumbrecht: Production of Presence. What Meaning Cannot Convey, Stanford 2004, 18.

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Mens-Incognita. Landfalls on an Invisible Interior

and reality, to the fragile terrain of personal, national, and ethnic identity, to the interweavings of biology with culture, needs to be rethought in light of ongoing neurological findings. New media artists are leading the way. Mark Hansen has commented on the priority of the „proto-sensory" and its importance for the concept of the interface - the fact that the body is the site where all sensory information is processed and where information from the separate senses can be exchanged, fused, crossmapped. 9 But, as 1 have been arguing, it is not just sight that has become automated, nor vision that has become bodily-based. T h e cognitive turn has irrevocably corporealized, physicalized, and partly autonomized all those mental experiences we traditionally consider to be fundamental to humanistic inquiry: self-determination, self-representation, mental imagery, dreaming, the waking realm of occurent thought, short-term and long-term memory. 10 N o t only does vision - and sensory perception more generally - have to be rethought because of the growing phenomenon of machinic vision in our futuristic optical technologies (alluded to at the beginning of this essay). Students of all aspects of sensory knowing must come to grips with the fact that, no matter how sharp the conflicts, the neurosciences have nonetheless forever altered how we understand perception, consciousness, intuition, and reasoning as cultural constructs and social behaviours. N o t only do we ignore their discoveries at our peril, but we lose a wonderful opportunity to reconceptualize all our old problems afresh and to conjure up new ones we never imagined before. It is this emergent world of highly coordinated adaptive systems, of coalitions of active neurons, of mysterious qualia, (the redness of red, the painfulness of pain), and the micro-spaces between two nerves 11 , that we must start to correlate with the normal, cluttered and ambiguous visual environment of which we are actually aware and the forms of communication that differentially manifest thought within it.

9 Mark Β. N . Hansen: New Philosophy for New Media, Cambridge 2004, 27. 10 Cf. Barbara M. Stafford: T h e Remaining 10%. T h e Role of Sensory Knowledge in the Age of the Self-Organizing Brain, in: James Elkins (ed.), Visual Literacy (forthcoming). 11 Jos J. Eggermont: T h e Correlative Brain. T h o u g h t and Experience in Neural Interaction, Berlin 1990, 209.

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Melonen, Kürbisse, Aprikosen, Trauben, Äpfel Leinwand 49,5 χ 65 cm

Der geplatzte Kürbis ähnelt jenem auf dem Bilde mit der Glaskaraffe, während der Pfirsichzweig fast identisch ist mit jenem des Bildes, in dem die Halbedelsteinschale erscheint.

Monika Wagner

Besuch aus dem All Der Stein vom Mond und die Magie der Berührung

Die taktile Verifizierung der körperlichen Wiederkehr aus einer Welt jenseits des irdischen Lebens ist in der christlichen Ikonographie durch zahlreiche Darstellungen des ungläubigen Thomas bekannt. Durch die Berührung des Leibes, durch die taktile Überprüfung - so jedenfalls argumentieren die Bilder - überzeugte sich der zweifelnde Jünger von der Realpräsenz des gekreuzigten, gestorbenen und wieder auferstandenen Gottessohns.1 Caravaggio hat in seinem berühmtem, um 1603 datierten Gemälde die auf Nähe ausgerichtete taktile Sinnlichkeit demonstrativ vor Augen geführt (Abb. 1): Mit angestrengter Miene und aufgerissenen Augen schaut der in die klaffende Leiböffnung hineinfingernde Thomas, dessen Hand von Christus geführt wird, dem Tun dieser Hand hinterher. Der ganze Körper beugt sich zögernd nach vorn, um der tastenden Hand zu folgen. Sie scheint das Unfaßliche zu spüren. Und wie zur Rückversicherung seiner eigenen Leiblichkeit faßt sich Thomas mit der anderen Hand in die Hüfte. Caravaggio hat die taktile Inspektion als intimes Erlebnis inszeniert, zu dem sich der Betrachter selbst in Reichweite zu befinden scheint. Der ungläubige Thomas, der seinen eigenen Augen nicht traut, überprüft den täuschungsanfälligen Gesichtssinn durch das körperliche Ertasten. Thomas agiert stellvertretend für alle Zweifler. Zwar rangierte der physisch agierende Tastsinn lange Zeit niederer als die Fernsinne, insbesondere als das „göttliche Auge", dafür aber galt er als untrüglich. Zwischen das Tasten und das Betastete konnte sich kein trügerischer Augenschein piazieren. Doch dieses essentialistische Konzept ließ den Tastsinn auch den sinnlichen Verführungen ausgeliefert erscheinen. An die Stelle einer taktilen Authentifizierung der Inkarnation des Gottessohns durch den Jünger Christi traten später - in der christlichen Kirche - die

1 Hartmut Böhme: Der Tastsinn im Gefüge der Sinne, in: Uta Brandes/Claudia Neumann (Red.), Tasten, hrsg. v. Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland Bonn (Schriftenreihe Forum Bd. 7), Göttingen 1996, 185-210.

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Monika W a g n e r

Abb. 1: Caravaggio, Der ungläubige Thomas, um 1603, Ol auf Leinwand, I 0 7 x 146 cm, Bildergalerie Potsdam Sanssouci, Stiftung Preußische Schlösser und Gärten BerlinBrandenburg

Reliquien. Auch sie zehrten von der Magie der Berührung. Sie körperlich zu berühren, beanspruchte von höherem Wert zu sein als ihr bloßer Anblick und machte sie so begehrenswert, daß sie unter Glas gelegt werden mußten. 2 Bei der Berührung von Reliquien ging es indessen weniger um die Verifizierung eines authentischen Materials (authentifiziert waren sie ohnehin), als vielmehr darum, sich durch Berührung der Teilhabe am christlichen Heilsversprechen zu versichern. Beides, die longue durée einer kulturellen Praxis der taktilen Verifizierung durch Berühren einerseits, andererseits der Berührung um einer magischen Teilhabe willen, ist noch in unserem profanen, auf Visualität ausgerichteten Medienzeitalter von Bedeutung. Das gilt natürlich insbesondere dann, wenn es um bislang nur dem Auge Zugängliches geht. Dazu gehört z. B. alles Außerirdische. Offenbar sind Bilder - etwa fremder Himmelskörper - zwar höchst phantasieanregend, doch die Berührung physischer Zeugnisse dieser fremden Welten hat eine bei weitem höhere Anziehungskraft. Im folgenden geht es um die Inszenie2 Gia Toussaint: Die Sichtbarkeit des Gebeins im Reliquiar - eine Folge der Plünderung Konstantinopels?, in: Bruno Reudenbach/Gia Toussaint (Hrsg.), Reliquiare im Mittelalter (Hamburger Forschungen zur Kunstgeschichte Bd. 5), Berlin 2005, 8 9 - 1 0 6 .

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Besuch aus d e m Al]

Ahl). 2: D i e A s t r o n a u t e n C o l l i n s , A r m s t r o n g u n d A k l r i n b e t r a c h t e n e i n e n . M o n d s t e i n i m G l a s z v i i n d e r (1 5. ι λ

1%9)

r u n g von T a k t i l i t ä t , n i c h t allein in d e r K u n s t s p h ä r e , die v o n v o r n h e r e i n m i t d e m a l s - o b o p e r i e r t , s o n d e r n a u c h in d e r m u s e a l e n Praxis, w o d e m B e r ü h r u n g s b e d ü r f n i s von , e c h t e n ' a u ß e r i r d i s c h e n T r o p h ä e n m i t e i n e r r e l i q u i e n ä h n l i c h e n Präsentation und Authentifizierung begegnet wird. Als a m 2 4 . J u l i 1 9 6 9 d a s R a u m s c h i f f Apollo

11 n a c h d e r e r f o l g r e i c h e n L a n -

d u n g auf d e m M o n d m i t d e n drei a m e r i k a n i s c h e n A s t r o n a u t e n C o l l i n s , A r m s t r o n g u n d A k l r i n zur E r d e z u r ü c k k e h r t e , w a r e n 22 K i l o g r a m m S t e i n e v o m M o n d an B o r d . -Am 5. A u g u s t 1 9 6 9 w u r d e die Box m i t d e m l u n a r e n G e s t e i n im Y a k u u m l a b o r g e ö f f n e t , u m e i n e m ö g l i c h e K o n t a m i n a t i o n tier E r d e zu v e r h i n dern.· 5 A u c h die A s t r o n a u t e n b e g e g n e t e n den f r e m d e n S t e i n e n z u n ä c h s t n u r o p tisch d u r c h e i n e n h e r m e t i s c h v e r s c h l o s s e n e n G l a s z y l i n d e r , w i e e i n e r M o n s t r a n z (Abb. 2). In d e n n ä c h s t e n M o n a t e n g i n g e n P r o b e n d e r k o s t b a r e n S t e i n f r a c h t an 140 w i s s e n s c h a f t l i c h e I n s t i t u t i o n e n in d e r g a n z e n W e l t m i t d e m A u f t r a g , c h e m i s c h e u n d p h y s i k a l i s c h e A n a l y s e n v o r z u n e h m e n . Als i m J a h r d a r a u f , im S o m m e r 1970, e i n i g e d e r G e s t e i n s b r o c k e n u n t e r den A u g e n d e r W e l t ö f f e n t l i c h k e i t im A m e r i k a n i s c h e n P a v i l l o n d e r W e l t a u s s t e l l u n g in O s a k a u n t e r s t r e n g e r B e w a -



J u d v A l l t o n : 2 5 Years o f C u r a t i o n M o o n K o c k s , L R I . : < h t t p : / / c u r a t o r . j s c . n a s a . g n v / l u n a r /

lneu-s/lnjul (25. 07. 2 0 0 6 ) .

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chung gezeigt wurden, standen Tausende von Schaulustigen Schlange, um die ersten Steine vom Mond zu sehen. Ein knappes Dutzend dieser ,Pilger' fiel seiner Schaulust zum Opfer und wurde in dem unvergleichlichen Gedränge vor den durch Panzerglas geschützten außerirdischen Steinen verletzt. Die Steine vom Mond trafen auf einen geradezu perfekten Aufmerksamkeitswert für das schlichte Material. Denn von Italien bis in die USA wimmelte es seit etwa zwei Jahren in Kunstausstellungen nur so von Steinen als Exponaten. Steine, gleichgültig welcher Art, figurierten in den zeitgenössischen Kunstformen meist als Zeugen von Uranfänglichkeit und einer unermeßlichen Naturgeschichte, auch wenn sich letztere, wie Robert Smithson es immer wieder thematisierte, durch die Industrialisierung ihrem vorzeitigen Ende zu nähern schien. Beide Diskurse, der um „kosmische Geologie" und der um Entropie und Earth Art ergänzten sich und sorgten dafür, daß den Steinen vom Mond eine enorme Aufmerksamkeit zuteil wurde. Die Arbeiten der Arte Povera, der Spurensicherung und der Earth Art wurden als Inbegriff einer neuen Kunst der Materialität und einer ihr eigenen ,Authentizität' wahrgenommen. Von Seiten der Künstler ließe sich wohl eher von einem Angebot zur Reflexion des Authentischen sprechen. Jedenfalls waren die Steinhaufen Teil einer breiten künstlerischen Strömung, in der, verallgemeinert gesprochen, an die Stelle der Repräsentation von Ereignissen und Zuständen die Präsentation von Relikten trat. Sie richten sich nicht allein an das Auge, sondern argumentieren gleichermaßen mit Taktilität. Darin zeigt sich ein Interesse am Durchbrechen der dominanten „Kultur der Distanz"4 - Am direktesten hat wohl Valie Export 1968 im Tapp- und Tastkino Nähe und Taktilität unter Ausschluß des Visus zum Thema erhoben und in der erotischen Begegnung von Haut zu Haut erfahrbar gemacht. Seit den 60er Jahren begannen zum einen die Bilder technischer Medien, zum andern die Dinge und Materialien einer Kunst nach dem „Ausstieg aus dem Bild" tradierte künstlerische Medien zu verdrängen. Beides, Dinge und Materialien einerseits, Bilder technischer Medien andererseits, werden entsprechend häufig miteinander kombiniert, wie etwa in Smithsons Non-Sites. Dies charakterisiert jedoch nicht allein einen Bereich der Künste, in dem die wechselseitige Authentifizierung von Dingen bzw. Materialien und Fotos dazu dient, als Relikt realer oder fiktiver Ereignisse und Prozesse glaubwürdig zu erscheinen. Vielmehr knüpften Künstler, die sich der Strategie des Einsammelns von Materialien in Verbindung mit fotografischen Belegen bedienten, auch an kulturelle Praktiken an, wie sie in historischen und kulturhistorischen Museen verankert sind. 4 Helmut Lethen: Versionen des Authentischen. Sechs Gemeinplätze, in: Hartmut Böhme/ Klaus R. Scherpe (Hrsg.), Literatur und Kulturwissenschaften, Reinbek bei Hamburg 1996, 219.

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Besuch aus dem All

Als spektakulärstes historisches Ereignis, das auf diese Weise im ¿Museum beglaubigt, erinnert und als Beginn eines neuen Zeitalters, dem Beginn des christlichen vergleichbar, in das Gedächtnis der Menschheit eingeübt wird, gilt die Raumfahrt mit ihrem bisher populärsten H ö h e p u n k t : der L a n d u n g des ersten b e m a n n t e n Raumschiffs auf dem M o n d . N a c h dem Sputnik-Schock der 50er Jahre beanspruchte die USA damit die Vorherrschaft im Weltraum. Im Verhältnis zur Bedeutung der M o n d l a n d u n g im öffentlichen Bewußtsein war die Resonanz von Seiten der Künstler auffallend gering, obwohl die NASA, die zivile amerikanische L u f t - und Raumfahrtbehörde, eine Reihe von Künstlern zu einem speziellen M o n d p r o g r a m m einlud und ihnen auch umfangreiches fotografisches Material zur Verfügung stellte. Genau darin aber lag das P r o blem: Es gab kein anderes Material und damit auch kein anderes Wissen über die amerikanische Raumfahrt als dasjenige, welches die NASA zur Verfügung stellte. Künstler reagierten auf diese Situation entweder mit abstrakten K o n zepten wie ζ. B. Edward Ruscha, oder indem sie sich, wie Robert Rauschenberg, der zu den von der NASA Eingeladenen zählte, auf harmlose Weise der freigegebenen Fotos bedienten. Lawrence Alloway hat diese Konstellation, in der die NASA Auftraggeber für die Herstellung eines epochalen Ereignisses war, mit der Auftragssituation für Rubens' weltberühmten Medici-Zyklus verglichen/ Im Hinblick auf die Abhängigkeit der Künstler von der Information und K o n trolle durch den Auftraggeber hatte er damit nur allzu Recht. Deshalb ist allerdings im 20. J a h r h u n d e r t auch kein an Rubens' Medici-Zyklus heranreichendes Werk zur Raumfahrt entstanden. W ä h r e n d Rauschenberg in dem gezielt doppeldeutig betitelten 30teiligen Stoned Moon Book disparate Fotos von der Raumfahrt im Abklatschverfahren zusammenfügte 6 , darunter auch das Foto eines Steins vom M o n d samt seiner Untersuchungsapparatur im Vakuumlabor, begegneten Sigmar Polke und G e r hard Richter den Bildern von der Raumfahrt wesentlich kritischer. Sie haben die A u f n a h m e eines Steins vom M o n d genutzt, jedoch in medienkritischer Absicht. In einem Gemälde aus dem Jahr 1968 n a h m Polke auf das Sui-ceyor Programm der NASA Bezug (Abb. 3), das der bemannten M o n d l a n d u n g vorausging und dazu diente, das Terrain auf dem M o n d zu sondieren, unter anderem mit einer automatischen Kamera. D e r M o n d , seit Jahrtausenden vor allem in der D i c h t u n g bereist u n d bevölkert u n d in der zweiten Hälfte des 19. J a h r h u n derts durch teleskopische Fotografien der Mondoberfläche vertraut, die Galileis bahnbrechende Erkenntnisse von den Kratern und Bergen belegten, wurde durch die Kameras der u n b e m a n n t e n M o n d f ä h r e n neu ausgeleuchtet. In den

5 Mar) - Lynn Kotz: Rauschenberg. Art and Life, New York 1990, 179. 6 Kat. Robert Rauschenberg. Zeichnungen, Gouachen, Collagen 1949 bis 1979, Ausstellung Kunsthalle Tübingen, 5. M a i - 2 4 . Juni 1979, hrsg. v. Götz Adriani, .München 1979.

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Das zehnte Foto, das in Pasadena aufgezeichnet wurde, is zeigt die Uondoberfiäche am Landeplatz von „Sumyor-r. Oer Stein im Bild links vorne ist 1S.0 cm hoch und 30.8 cm lang. Oie heilen Punkte sind Sonnenreflexe.

A b b . 3: S i g m a r P o l k e , Pasadena,

1968,

Dispersion auf Leinwand, 190 χ ISO cm, M u s é e National d'Art M o d e r n e , C e n t r e Georges Pompidou, Paris

Abb. 4: Foto von der U m g e b u n g des Landeplatzes von Surveyor 1, 1966

fotografischen Ansichten aus der Umgebung des Surveyor-Landeplatzes ging jedoch jede Übersicht, jede Ordnung, wie sie sich der visuellen Distanz verdankt, verloren (Abb. 4). Damit entstand für Laien das Problem, die technischen Ablichtungen überhaupt als Bilder von etwas wahrzunehmen. Polke hat, ähnlich wie Gerhard Richter in seinen Mondlandschaften von 1968, die Frage nach dem Informationswert der Fotos weiter zugespitzt. Eine gewisse Unscharfe, die in der Dokumentarfotografie als Indiz des Dabeigewesenseins, des Authentischen gilt', kippt beim Motiv eines x-beliebigen Steins ins allgemeine Rauschen der Desinformation. Hinzu kommt, daß in der Übertragungskette von der Aufnahme, ihrer Übermittlung und schließlich ihrer Umsetzung in den Raster des Pressedrucks die den Gegenständen eigenen Texturen verloren gehen. Was bleibt, ist ein formloses, vom Medium texturiertes Etwas, ein Flecken. Polke bezweifelt mit dem handgemalten Bild, dessen Raster die Zeitungsoberfläche suggeriert, den visuellen Informationswert des Fotos vom Mond. Ja, er steigert den Zweifel durch die detaillierte Bildlegende, die dem Foto wie im Bildjournalismus üblich, beigefügt wurde: „Das zehnte Foto, das in Pasadena aufgezeichnet wurde. Es zeigt die Mondoberfläche am Landeplatz von Surveyor 7

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Lethen 1996 (wie Anm. 4); W o l f g a n g Ulrich: Geschichte der Unscharfe, Berlin 2002.

Besuch aus d e m All

A b b . 5: F o t o des A b d r u c k s von Kdwin A l d r i n s . M o o n b o o t auf d e m .Mond, A p o l l o 11

1. Der Stein im Bild links vorn ist 15,0 cm hoch und 30,5 cm lang. Die hellen Punkte sind Sonnenreflexe". Im Unterschied zu Rauschenberg, der das Foto eines Steins vom .Mond samt Apparatur reproduzierte und im Kontext lesbar machte, trieb Polke Text und Bild möglichst weit auseinander. Dadurch wird offensichtlich, wie a n h ä n g i g beide voneinander sind. Erst durch den Text gewinnt der dunkle Fleck im Foto überhaupt Bedeutung, u m g e k e h r t würde der Text ohne das Bild sinnlos. M i t Christian Strub ließe sich sagen: H i e r wird G l a u b w ü r d i g k e i t zum Problem, weil „im Bewußtsein der prinzipiellen m i m e t i schen Differenz zwischen Darstellung und Dargestelltem Zweifel an der Darstellungstransparenz existieren"." Genau die hat Polke ins M s i e r g e n o m m e n . D e m g e g e n ü b e r gehört das prägnante Foto mit d e m Abdruck vom Edwin Aldrins .Moonboot auf der M o n d o b e r f l ä c h e zu den weltweit am häufigsten reproduzierten Bildern (Abb. 5). Im Unterschied zu l a u s e n d e n anderer Fotos, die auf dem M o n d entstanden, ist hier nur die Spur eines Astronauten zu sehen, der jedoch aus dem Bild verschwunden ist. Dieses Foto gilt als D o k u m e n t der ersten

S

C h r i s t i a n S t r u b : T r o c k e n e R e d e ü b e r m ö g l i c h e O r d n u n g e n der Authentizität, in: J a n

B e r g / H a n s - O t t o H ü g e l / H a j o K u r z e n b e r g e r (Hrsg.), A u t h e n t i z i t ä t als D a r s t e l l u n g , H i l d e s h e i m 1997, 10.

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Monika W a g n e r

Abb. 6: Albrecht Dürer, Hitnmelfahil Holzschnitt, 12,6 χ 9,7 cm

Christi,

um 1510,

Berührung eines fremden Himmelskörpers durch einen Menschen und als entscheidender Schritt in der Eroberung des Alls. Obwohl sich die Spur in einem nach irdischen Maßstäben instabilen Material, dem lockeren Mondstaub, dem sogenannten Regolith, abzeichnet, werde sie dort, im poetisch als „Mare Tranquilitas" getauften Gebiet, laut NASA, wohl Millionen von Jahren erhalten bleiben. Das heißt, der ephemere Staub, in der Semantik der irdischen Materialien der Inbegriff des Formlosen und Instabilen, wird hier zum Speichermedium. Der Kultstatus, den das Foto dieser Einschreibung in die Mondoberfläche gewonnen hat, steht in Verbindung mit dem Bewußtsein vom Abdruck als einer authentischen Spur, die einer physischen Berührung geschuldet ist.1' M a n mag vielleicht sogar an die von Sulpicius Severus überlieferten, ebenfalls wunderbarerweise „im Staub eingedrückten Umrisse der Füße Christi" bei der Himmelfahrt am Olberg denken (Abb. 6), ein Motiv, das bis ins 16. Jahrhundert 9 Vgl. Georges Didi-Huberman: Ähnlichkeit und Berührung. Archäologie, Anachronismus und Modernität des Abdrucks, Köln 1999.

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Besuch aus dem All

hinein vielfach dargestellt wurde 10 - so auch noch in dem Holzschnitt aus Dürers Kleiner Passion. Jedenfalls korrespondiert das Bild von der Spur der letzten körperlichen Berührung der Erde durch Christus mit dem von der ersten Berührung des Erdtrabanten durch einen Menschen. Die Fotografie korrespondiert mit dem physischen Abdruck des Schuhs im Mondstaub. Denn der Abdruck des Lichts, wie die Fotografie von Beginn an bezeichnet wurde, scheint keinen Zweifel an der Darstellungstransparenz aufkommen zu lassen. Das Medium übermittelt den physischen Abdruck als optische Taktilität. Man kann mit Hans Belting oder Vilém Flusser die Vorstellung von der fotografischen Berührung, die ihren materiellen Kern in dem gemeinhin als immateriell charakterisierten Licht hat, als Magie kritisieren. Dennoch zeichnet diese technisch begründete Nabelschnur des visuellen Zeichens zum Referenten fotografische Bilder gegenüber allen anderen aus, und davon zehrt die Fotografie im öffentlichen Bewußtsein trotz aller Zweifel an ihrer Glaubwürdigkeit. In einer weiteren Arbeit zum Thema Raumfahrt hat sich Polke mit der Evidenz der Bilder im Verhältnis zur Beweiskraft von Materialien und Dingen auseinander gesetzt. Schon seit Juri Gagarins Flug in den Weltraum, vor allem aber seit der erste Surveyor auf dem Mond gelandet war, florierten Spekulationen über extraterrestrische Zivilisationen. 1966, im Jahr der ersten SnrveyorLandung auf dem Mond, entstand Polkes Installation Vitrinenstück mit dem Bild, das auf Befehl höherer Wesen gemalt wurde (Abb. 7)." Das Gemälde zeigt zwei fragile, wie riesige Fragezeichen erscheinende Flamingos. Der Autor ist durch ein Typoskript, das von der abenteuerliche Begegnung mit den höheren Wesen erzählt und durch ein Porträtfoto vertreten. Das Foto zeigt, wie er über „Untertassen" am Ohr Befehle zu empfangen scheint. Damit wird natürlich auf die Geschichten von fliegenden Untertassen als Missionäre fremder Galaxien angespielt. Als handfeste Belege für die Existenz dieser höheren Wesen werden in der Vitrine deren physische Hinterlassenschaften vorgeführt (Abb. 8). Erbsen, Streichhölzer, Untertassen, das objekthafte Fragment eines Bildes sowie ein Buch mit Fotos, treten als Relikte auf und stellen durch ihre greifbare Evidenz die irdische Existenz der unsichtbaren Wesen unter Beweis. Indem Polke die so behauptete Zeugenschaft der Dinge und Materialien im Verhältnis zu Bildern und Texten zur Debatte stellt, rekurriert er auf kulturelle Praxen des Beweises durch greifbare Belege, wie sie in vergleichbaren Präsentationsformen in Museen gängig sind, so als seien ihre Besucher ungläubige Jün-

10 Gerhard Wolf: Fels und Wolke, in: Kat. Glaube, Hoffnung, Liebe, Tod, Ausstellung Kunsthalle W i e n , hrsg. v. Christoph Geissmar-Brandi/Eleonora Louis, Klagenfurt 1995, 454-459. 11 Martin Hentschel: Die Ordnung des Heterogenen. Sigmar Polkes W e r k bis 1986, Phil. Diss. Bochum 1991, 2 5 8 - 2 7 0 .

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A b b . 7: S i g m a r P o l k e , Vitrinemtück,

1966, L e i h g a b e d e s

W i t t e l s b a c h e r Ausgleichfonds S a m m l u n g 1 l e r z o g F r a n z von B a y e r n an d i e B a y e r i s c h e n S t a a t s g e m ä l d e s a m m l u n g e n M ü n c h e n

ger. Auch die NASA hatte sich veranlaßt gesehen, den weltweit verbreiteten Bildern vom Mondflug nicht allein physische, sondern sogar berührbare Materialien hinzuzufügen, wohl nicht nur, weil die Landung des ersten bemannten Raumschiffs - Apollo 11 - auf dem Mond von Anfang in Zweifel gezogen wurde und die anhaltende Debatte inzwischen Tausende von Seiten im Internet füllt. 12 Nach der spektakulären Präsentation der Steine vom Mond auf der Weltausstellung in Osaka wurden zwei große, mit der NASA zusammen arbeitende Einrichtungen, das Lyndon B. Johnson Space Center in Houston/Texas und das_7· F. Kennedy Space Center in Cape Canaveral/Florida, als nationale Raumfahrtmuseen gegründet. Mit diesen Museen soll der Erfolg der Mondlandung und ihr Ertrag für die gesamte Menschheit kommuniziert werden. Er ist wesentlich in den Steinen enthalten und soll an ihnen - nicht nur für die Wissenschaft - erfahrbar werden.

12

V g l . F l o r i a n R ö t z e r : S c h a u t die S t e i n e an: W i r w a r e n auf d e m M o n d ! U R L : (26. 07. 2 0 0 6 ) .

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Besuch aus dem .AJI

mmmm

Abb. 8: Sigmar Polke, Vitrinenstück·. Vitrine mit Erbsen, zwei Untertassen, Zündhölzern ohne Köpfe, Bildfragment, Fotografie, Tvposkript, 1966, Leihgabe des Wittelsbacher Ausgleichfonds Sammlung Herzog Franz von Bayern an die Bayerischen Staatsgemäldesammlungen München

Abb. 9: Steine vom .Mond, Raumfahrtmuseum 1 louston/'Iexas D i e e n o r m e B e d e u t u n g von G e s t e i n s p r o b e n v o m A l o n d im S i n n e eines purs pro tota für das U n i v e r s u m hatte s c h o n der N o b e l p r e i s t r ä g e r für C h e m i e , H a rold U r e v , h o c h e i n g e s c h ä t z t : „ B r i n g e n Sie m i r ein S t ü c k vom .Mond und ich w erde I h n e n sagen, wie u n s e r S o n n e n s y s t e m e n t s t a n d e n i s t " . " D i e S t e i n e verh i e ß e n den Z u g a n g z u m W i s s e n u m den K o s m o s und d a m i t auch u m die Z u kunft. I n z w i s c h e n hat m a n aus den S t e i n e n v o m M o n d n i c h t n u r das Alter tier E r d e , s o n d e r n auch ihr v o r a u s s i c h t l i c h e s E n d e e r r e c h n e t . I h r e r h e r a u s r a g e n d e n B e d e u t u n g e n t s p r e c h e n d , sind die S t e i n e v o m .Mond in den R a u m f a h r t m u s e e n als spektakulärste A u s s t e l l u n g s o b j e k t e inszeniert. In H o u s t o n b i l d e n sie den a b s c h l i e ß e n d e n H ö h e p u n k t des M u s e u m s r u n d g a n g s unti w e r d e n in e i n e m o k t o g o n a l e n R a u m p r ä s e n t i e r t (Abb. 9).

13

Zit. n. Der Spiegel 1 4 . 0 7 . 1 9 6 1 , 9 8 .

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Die Steine vom Mond gelten - nicht nur im metaphorischen Sinn - als härteste' Beweise für die Mondlandung. Allerdings ist ihre Beweiskraft abhängig von der Glaubwürdigkeit des Systems der Inszenierung. Nur im Kontext der Raumfahrtmuseen, in direkter Nachbarschaft zu den Forschungseinrichtungen, erzählen diese Steine, denen man ihre Herkunft nicht ansehen kann, da sie prinzipiell aus denselben Ausgangsmaterialien bestehen wie die Erde, von ihrem Ursprung. In einem anderen Kontext wären sie vollkommen bedeutungslos (sie sind geologisch so wenig unterscheidbar wie Heiligengebein - chemisch gesehen - von Knochen profaner Lebewesen). Sie benötigen als Beglaubigung ihrer Herkunft die technischen Apparaturen der Raumfahrt und die Bilder von der Mondlandung - wie sie ihrerseits das Unternehmen Apollo belegen und es aus der Kategorie des Abenteuers und der science fiction herausholen. Folgt man John F. Kennedy, der das politische „Go" für das Programm zum bemannten Mondflug gegeben hatte, so sind die drei Astronauten, die 1969 auf dem Mond landeten, nur als Stellvertreter anzusehen. Acht Jahre vorher hatte Kennedy in einer legendären Rede die Mondfahrt als nationale Aufgabe charakterisiert: „But in a very real sense, it will not be one man going to the moon [...] it will be an entire nation". 14 Und er propagierte die nationale Mission als Sieg für die gesamte Menschheit. Die Herkunft des Universums für die Menschheit begreiföar zu machen, ist Aufgabe der musealen Steininszenierungen. In Houston wurde ein einzelner schwarzer Stein vom Mond als touchstone inszeniert. Ihm kommt auch in der Publikumsgunst der höchste Rang zu. Der Stein zum Berühren wird mit „touch the moon" beworben. Daß ein Stein denjenigen Ort repräsentiert, von dem er herstammt, ist eine seit der Antike geläufige Tradition. Darauf haben sich noch Künstler wie Walter de Maria mit seiner 5-Continent-Sculpture bezogen, die 320 Tonnen weißen Marmors aus fünf Erdteilen enthält. Während man in der Präsentation der Steine vom Mond durch Separierung jeden einzelnen als Repräsentanten inszeniert, hat de Maria durch die Vermischung der Brocken ihre Zusammengehörigkeit und Gleichheit betont.15 In Houston wird kein rauer Bruchstein gezeigt, sondern ein einzelner, kaum Handteller großer dunkler, hoch verdichteter Granit mit glatt polierter Oberfläche. Er ist auf einer gläsernen Platte befestigt und in einer zirka 3 Meter hohen Panzerglas-Vitrine ausgestellt."· Schwarzer Granit ist nicht nur durch Sciencefiction-Filme hochgradig aufgeladen (Stanley Kubricks Odyssee im Weltraum), sondern er ist auch in den USA der bedeutungsvollste Memorialstein (Vietnam 14 Rede im Kongreß am 25. 05.1961, URL: (25. 07. 2006). 15 Monika Wagner: Das Material der Kunst. Eine andere Geschichte der Moderne, München 2001, 172-174. 16 Die Inszenierung des touchstone ist nicht als Foto zu haben.

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Besuch aus dem All

War Memorial in Washington). Die hoch aufragende Vitrine mit dem touchstone steht in der Mitte des fensterlosen Raums, dessen oktogonale Form, wie sie für christliche Taufkapellen üblich war, ihm höchste Bedeutung verleiht. Tresorartige Stahltüren trennen ihn von den übrigen Schauräumen mit Mondpanoramen und Astronautenanzügen ab. In den Wänden ringsum sind Glasschaukästen eingelassen, die wissenschaftliche Laborsituationen zur Analyse der Steine vom Mond zeigen. Nur diese Schaukästen und die frei stehende Vitrine mit dem touchstone sind erleuchtet. Von allen Seiten sichtbar, erscheint der kompakte schwarze Stein vom Mond in der transparenten Vitrine, als schwebe er schwerelos im Licht. Während alle übrigen Schaukästen nur ,Imitationen' von Mondsteinen enthalten, deren Originale in Panzerschränken lagern, stammt der touchstone nach den Angaben des Raumfahrtmuseums tatsächlich vom Mond. Allerdings läßt sich das selbst taktil nicht überprüfen. Nur der Inszenierungsrahmen der NASA scheint dies zu garantieren. Ein schmaler Schlitz in der Glasscheibe der zentralen Vitrine lassen die Hand des Besuchers bis zum Gelenk hindurch schlüpfen, die sich dann leicht zurück biegen muß, um den höher gelegenen Stein auf der Glasplatte mit der Fingerkuppe berühren zu können. Dadurch wird verhindert, daß der begehrte Stein entwendet werden kann. Die Präsentation des Steins vom Mond in der gläsernen Vitrine ist also nicht allein auf Sichtbarkeit ausgerichtet, sondern fordert jeden Besucher zur Berührung auf. Das wird durch entsprechende Informationen bekräftigt: Uber die Steine vom Mond komme man - und darin liegt die Bindekraft dieser Inszenierung - dem Ursprung unseres Planeten, ganz nahe. Denn die jüngsten Steine des Monds entsprechen den ältesten der Erde - Erde und Mond besitzen eine gemeinsame Genese.1 „You are touching a piece of the cosmos, that is 3,8 billion years old." Damit wird sublimer Schauer evoziert, ist doch über die Berührung des Steins eine physische Kette zum Kosmos insinuiert, die ebenso unauslotbar erscheint wie die jedes Vorstellungsvermögen sprengende Altersangabe. Mit der Berührung soll diese Kette bestätigt werden. Die solchermaßen als krönender Abschluß des Rundgangs durch das Raumfahrtmuseum inszenierte Berührung eines Steins vom Mond läßt sich demnach als magische Teilhabe an dem Wissen, das diese Steine verkörpern, verstehen. Um die Teilhabe „der Menschheit" weiter zu befördern, das lunare Material jedoch begrenzt ist, verfuhr man ähnlich wie bei Reliquien des Mittelalters. Das immer größer werdende Interesse von immer mehr Institutionen für die extraterrestrischen Steine führte dazu, daß Teile des Mondgesteins in immer kleinere Brocken aufgespalten wurden. Die NASA hat diese Partikel vorübergehend an wissenschaftliche Institutionen ausgeliehen, doch nur wenige Einrichtungen dürfen die Steine vom Mond dauerhaft behalten. 17

David M . Harland: Exploring the Moon, Chichester 2000, 3 3 0 - 3 3 2 .

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Monika Wagner

Allerdings scheint die Steinteilung bei weitem nicht auszureichen, um das Bedürfnis nach ,echten Steinen' vom Mond zu befriedigen. Obwohl die NASA - später auch die rassische Raumfahrtbehörde - die absolute Kontrolle über das extraterrestrische Material ausübt, vermehren sich die Mondsteine verblüffenderweise unablässig. Im Internet findet ein reger Handel mit ihnen statt.' 8 Das geologische Museum der Universität Hamburg wirbt sogar mit einem „Stück vom Mars", obwohl vom Mars zwar jüngst Bilder gesendet, aber bisher noch keine Steine gesammelt oder gar zur Erde befördert wurden. Möglich wird diese wundersame Vermehrung durch die gleichermaßen als Mond- bzw. Marssteine bezeichneten Meteoriten. 19 Sie sind, nicht nur in Windhook, wo sie im öffentlichen Raum installiert schon bald ungebetene Liebhaber fanden, sondern inzwischen vor allem in naturgeschichtlichen Museen zu sehen, wo sie nach dem Vorbild der Steine vom Mond als touchstones der Geschichte unseres Sonnensystems dienen. Das Berühren der Steine vom Mond soll für jeden verifizierbar machen, daß das extraterrestrische Material so real ist wie irdisches. Indem die Inszenierung dieser taktilen Erfahrung Anleihen bei der christlichen Ikonographie macht, und dem Besucher die Rolle des ungläubigen Thomas zuweist, der fühlen kann, daß das Fremde zugleich das Eigene ist, wird eine Gemeinschaft gestiftet, durch die das neue Zeitalter der Raumfahrt für alle real werden soll. Vielleicht läßt sich daran ermessen, welches Potential dem Taktilen im Medienzeitalter beigemessen wird. Bildtiachweis: Abb. 1: Maurizio Marini: Caravaggio, Rom 1989, 177; Abb. 2: URL: chttp:// www.apolloarchive.com/apollo_gallery.html>; Abb. 3: Kat. Sigmar Polke - Die drei Lügen der Malerei, Ausstellung Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland Bonn/Hamburger Bahnhof Berlin, Bonn 1997, 97; Abb. 4: Archiv der Autorin; Abb. 5: Unicum 11, 1996, 27; Abb. 6: The Illustrated Bartsch, hrsg. v. Walter L. Strauss, New York 1980, Bd. 10 (Tafeln), 145; Abb. 7: Kat. Sigmar Polke, 152; Abb. 8: Kat. Sigmar Polke, 155; Abb. 9: Archiv der Autorin.

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Ihr Kaufpreis liegt gegenwärtig bei etwa 3 000 Euro pro Gramm. Nives Widauer (Hrsg.): Meteoriten - was von außen auf uns einstürzt, Zürich 2005.

Jochen Brüning

Sammlung und Synthese

Suchet den ruhenden Pol in der Erscheinungen

Flucht

1. Die Teile und das Ganze Uber das Verhältnis vom Teil zum Ganzen ist Vieles gesagt worden. Was am ehesten in Erinnerung bleibt, ist die Redewendung vom Ganzen, das mehr ist als die Summe seiner Teile, eine Aussage, der wir im Folgenden etwas nachspüren wollen. Wenn wir von Teilen sprechen, die ein Ganzes ergeben, so gehen die Teile offenbar dem Ganzen voraus. Es geht also um wohlbestimmte Objekte, die geeignet zusammengefügt werden müssen, um ihre Individualität als Folge dieser Fügung in einer größeren Identität aufgehen zu lassen. Es ist leicht, Beispiele für dieses Phänomen aufzuzählen: das aus farbigen Einzelteilen zusammengesetzte Mosaik, das aus Holzbalken verschiedener Art zusammengebaute Haus, das bewegte Bild einer großen Prozession, die chemische Verbindung unterschiedlicher Substanzen zu etwas Neuem, die aus vielen Noten gebildete harmonische Musik, schließlich der aus den 24 Buchstaben des lateinischen Alphabets zusammengesetzte Roman. Den meisten dieser Beispiele ist gemeinsam, daß die Teile eine gewisse Gleichartigkeit besitzen und daß die Zusammenfügung nach einer Art kombinatorischem Schema erfolgt. Das so gebildete Ganze verhält sich aber zu seinen Teilen durchaus komplizierter als die mathematische Menge zu ihren Elementen. Als besonders schwierig erwies sich für lange Zeit die Natur der chemischen Bindung, die der vorwissenschaftlichen Erfahrungswelt der Alchemie noch äußerst rätselhaft erschien, erklärbar nur durch magische Analogien. Dies vor allem deshalb, weil sich nicht verband, was der Alchimist verbinden wollte, sondern nur das, was ,νοη sich aus' dazu bestimmt und geneigt war. Erst das periodische System der Elemente und die Quantenmechanik ließen die chemische Synthese als eine Fügung von Teilen in Analogie zu den anderen Beispielen erscheinen; festzuhalten bleibt jedoch, daß eben diese Fügung auch misslingen kann. Sie ist 101

Jochen Brüning

deshalb als ein besonderer Akt zu sehen, symbolisiert durch den letzten Stein in einem Bauwerk, die Signatur unter das vollendete Gemälde oder den Schlußstrich unter das Manuskript. Wenn die Fügung nicht von vornherein gesichert ist, dann kann auch über die Auswahl der Teile nicht von vornherein Klarheit bestehen, sie müssen aufgrund von Erfahrungen oder Vermutungen zusammengebracht, zusammengesammelt werden. Das Wort .sammeln' bezeichnet den betrachteten Vorgang sehr treffend, denn in seiner ursprünglichen Wortbedeutung finden wir das sorgfältige Suchen und Zusammenbringen von Objekten mit einer gewissen Gleichartigkeit. Dabei bezeichnet zusammenbringen' zunächst nur die Schaffung räumlicher Nähe und deutet noch keinen geordneten Zustand an, von dem eine ganzheitliche Wirkung ausgehen könnte. Davon wird man erst dann sprechen können, wenn das gesamte Material zunächst geordnet und dann in angemessener Weise zusammengefügt ist. Ob es dabei um das Werden einer Ausstellung geht, von der Recherche der Objekte über den physischen Transport bis zur räumlichen Inszenierung, oder um das Buch, das nur langsam und in vielen Anläufen dem Zettelkasten entsteigt, stets wird eine langdauernde, anstrengende Arbeit nach zahllosen Einzelschritten jäh in ein Ganzes gegossen, das - im besten Fall - die Mühsal des Entstehungsprozesses nicht mehr erkennen läßt. Erst das Wunder der Fügung läßt uns nach der Bedeutung der Teile fragen, in der Hoffnung, ihnen ihr Geheimnis abgewinnen zu können. In übersichtlichen Fällen mag daraus eine Methodik entstehen, die zu verlässlichen Ergebnissen führt, ein Handwerk vielleicht, eine Kunstlehre oder am Ende gar eine Wissenschaft. Dann wird die geheimnisvolle Synthese fast gänzlich auf die regelgerechte Kombination der Elemente reduziert, dann wird das Glück des Gelingens durch die Sicherheit des Algorithmus ersetzt, und an die Stelle der dem menschlichen Flehen erreichbaren Götter tritt das unnahbare Wirken der Kausalität. Freilich war die analytische Methode, die Auflösung des Ganzen auf der Suche nach seinen Elementen, außerordentlich erfolgreich, vom Zerschlagen des ersten Feuersteins bis zur Simulation unserer Sinneswelt aus den zwei Elementen 0 und 1, aber sie erfaßt dennoch nur einen kleinen Teil dessen, was uns begleitet und beeindruckt. Wir brauchen nur an die gewaltige Zahl von Syntheseleistungen zu denken, die unser Körper in jeder Stunde bewältigt, ohne daß wir davon wissen, oder - aus gegebenem Anlaß - an die Seltenheit wirklich großer Fußballspiele. Immerhin zeigt die überall anzutreffende Wertschätzung des Gelingens, in welchem Ausmaß die Fügung zum Ganzen individuell und kollektiv den Lebensrhythmus bestimmt.

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S a m m l u n g und Synthese

2. Synthese Ich habe vor einiger Zeit den Begriff des ,Sammlungszyklus' geprägt, um mit dem eben beschriebenen Prozess der Fügung von Teilen zum Ganzen operieren zu können. Ein solcher Sammlungszyklus besteht definitionsgemäß aus den drei Phasen des ,Sammeins', ,Ordnens' und ,Gestaltens'; diese Begriffsbildung unterscheidet sich in ihrer systematischen Anlage deutlich von ähnlich klingenden Triaden oder Tetraden, die im Zusammenhang mit (musealen) Sammlungen im Umlauf sind. Allein die im vorigen Abschnitt gegebenen Beispiele machen deutlich, was mit ,Sammeln' und ,Ordnen' gemeint ist, während ,Gestaltung' den vollendenden Akt bedeutet, den wir gerade ,Fügung' genannt haben. Wir wollen nun Sammlungszyklen in einem viel größeren Rahmen betrachten, um zu zeigen, daß ,Synthese' in jedem Verständnis eben solche Gestaltungsakte von Sammlungszyklen bezeichnet. Damit soll die Notwendigkeit dieses dritten und zunächst vielleicht etwas künstlich anmutenden Elementes in einem Sammlungszyklus deutlich gemacht werden, die meiner Erfahrung nach nicht sofort einsichtig ist. Im Übrigen ziehe ich die Bezeichnung ,Gestaltung' deswegen anderen Begriffen (wie ,Fügung' oder ,Synthese') vor, weil sie die wenigsten spezifischen Konnotationen evoziert. Die in der Welt des Lebendigen am meisten verbreitete und für meine Begriffsbildung paradigmatische Form des Sammlungszyklus ist die Nahrungsaufnahme. In diesem Zusammenhang bietet sich die folgende Interpretation der drei Stufen eines Sammlungszyklus an: .Sammeln' bezeichnet den Akt des An-sich-Bringens, der .Appropriation' der Nahrung. ,Ordnen' bezeichnet den Akt der (mechanischen und chemischen) Anpassung an den eigenen Stoffwechsel, der ,Assimilation'. ,Gestalten' bezeichnet den Akt der .Synthese' von verwertbaren Stoffen aus den assimilierten Produkten der Nahrung. Die chemische Synthese ist hier also im Sinne der Fachsprache mit dem Gestaltungsakt identisch. Bei genauerer Betrachtung bemerken wir allerdings, daß wir es bei der Nahrungsaufnahme in Wahrheit mit einer Kaskade von Stoffwechselzyklen zu tun haben, daß wir sie als eine Kette einzelner Sammlungszyklen interpretieren müssen, deren Endprodukte jeweils Objekte des Sammeins in einem neuen Sammlungszyklus werden. Solche Hierarchien von verketteten Sammlungszyklen werden immer zu bilden sein, wenn wir ein dynamisches G e schehen so analysieren wollen - denn alles, was ist, kann auch gesammelt werden. Die herausgehobene Rolle von Sammlungszyklen läßt sich in allen Bereichen des Tier- und Pflanzenreiches ausmachen. Zur jeweiligen Ausführung gehört ein breites Spektrum von Techniken, die vorwiegend durch das stammesgeschichtliche Erbe und nur zum kleinen Teil durch individuelle Erfahrung

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geprägt sind. Die evolutionäre Entwicklung der biologischen Technizität findet in den Sammlungszyklen ihre Begründung. Aus der biologischen fließt auch die frühe, Werkzeuge gebrauchende menschliche Technizität und damit das ,Werk', das vollbracht wird und das die ,Arbeit' gliedert. Auch das Werk als Bezeichnung ist nichts als ein Gestaltungsakt, den je unterschiedliche Handlungen begleiten: Die abgefüllte Weinflasche wird verkorkt, der fertige Schuh wird poliert, der Braten wird angerichtet und serviert. Die mittels der erweiterten Techniken möglichen Werke greifen weit hinaus in die Welt und beschränken sich keineswegs mehr auf die Nahrungsaufnahme (obwohl das Kochen ein reiches und faszinierendes Anwendungsfeld bietet). Die Entwicklung des Technischen schafft nicht nur die Möglichkeit, vom Zerlegen, Zerschneiden und Zerschlagen zum Zusammensetzen überzugehen, sondern auch, durch Verfeinerung und Optimierung des Zerlegens die ,Elemente' des betrachteten handwerklichen Zyklus zu bestimmen, der Synthese also die empirische Analyse an die Seite zu stellen. Von hier aus und in dieser Weise beginnt der Glaube an die ,Harmonie', als die Fügung endlich vieler Elemente, seinen Siegeszug. Die biologische Technizität des Menschen und seine mimetischen Fähigkeiten haben die Voraussetzungen für seine besonderen Kommunikationsformen geschaffen, die von der Gebärdensprache und der gesprochenen Sprache ausgehen. Die so entstehenden kommunikativen Netzwerke verstärken den generalisierenden Aspekt der humanen Evolution, die biologisch basierten, individuell gebundenen und durch Nachahmung verbreiteten Techniken werden erweitert durch einen kommunikativ basierten symbolischen Kalkül, dessen Produkte neuartige ,Kulturtechniken' sind, von einer Abstraktheit, die ungeahnte Optionen für weitere Verallgemeinerungen eröffnet. Parallel zu dieser Entwicklung treten Sammlungszyklen auf, die sich mehr und mehr von der biologischen Basis entfernen und kulturelle Objekte zum Gegenstand haben, die nur noch durch die verwendeten Techniken auf ihre Realität schließen lassen. Dazu gehören die Rituale, die als Synthesen von Handlungskomplexen oder Entwicklungsabschnitten interpretiert werden müssen: Jagd- und Ernterituale auf der einen Seite, Initiationsriten und Todesrituale auf der anderen. Das jeweilige Ritual beinhaltet die Synthese dessen, was geschehen ist, und schafft zugleich die Voraussetzung für den nächsten Abschnitt, der periodische Wiederholung des gerade Geschehenen bedeuten kann - wie bei der Jagd oder etwas gänzlich Neues - wie das Weiterleben nach dem Tod. Sobald Techniken kulturell basiert sind, müssen ihre konstitutiven Elemente in regelmäßiger Erneuerung an die nachfolgende Generation weitergegeben werden; sie sind also ihrem Wesen nach nicht anders als periodisch (und zugleich periodisierend) erlebbar. Wird der Tod einbezogen, so entsteht das Postulat einer nachfolgenden Phase mit Notwendigkeit aus den technischen Bedingungen des Umgangs mit dem Lebensende; die frühen Begräbnisstätten sind nicht für im-

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S a m m l u n g und Synthese

mer verschlossen, sondern lassen Schlupflöcher offen (,Seelenlöcher'). Die Zeitkapsel als Symbol eines ein für allemal vollendeten Sammlungszyklus ist nicht denkbar, weil sie sich den Bedingungen ihrer Existenz verweigern würde. Der Untergang der Welt bleibt untrennbar mit ihrer Neuschöpfung verbunden, vom Fenriswolf bis zum Big Bang. Fassen wir organisierende Sammlungszyklen ins Auge, die entwickelte Kulturtechniken voraussetzen, so beobachten wir denselben Aspekt der Transitivität und Permeabilität. Ein Haus ohne Türen, eine Stadt ohne Tore sind nicht denkbar und existieren nicht, so sehr man sich auch bemüht, den Zugang durch immer raffiniertere Mechanismen zu qualifizieren. Natürlich weist auch die am höchsten geschätzte Kulturleistung (nicht nur der westlichen Welt), die singuläre geistige Schöpfung, alle Charakteristika eines Sammlungszyklus auf. Ob Kunstwerk oder wissenschaftliche Abhandlung, alles beginnt mit der Sammlung des Materials, die sich aller möglichen, durchaus auch gewaltsamer Techniken bedient, gefolgt und begleitet von unerlässlichen und zeitraubenden Ordnungsprozessen, abgeschlossen durch eine Phase der Gestaltung, die sich, bei aller scheinbaren Vielschichtigkeit, vor allem dadurch auszeichnet, daß sie ein Ende findet im eigentlichen Gestaltungsakt. Die Rückwirkung der Anstrengung auf das schöpferische Individuum verführt zu den vertrauten Ewigkeitsphantasien, dem Traum von einem Werk aere perennili?, paradoxerweise wird diese Illusion genährt von denselben kommunikativen Mechanismen, die periodische Erneuerung garantieren sollen. Doch bleibt es bei dem Gesetz des Herodot, der das geistige Sammeln beschränkt auf das λέγειν τα λεγόμενα. Nur eine neu ordnende und bewertende Gestaltung dessen, was schon gesammelt wurde, bleibt uns möglich, ist uns aber auch nötig, wenn unser kulturell basiertes Gedächtnis erhalten bleiben soll. Der Trost liegt darin, daß die unübersehbare und unüberschaubare Weiterentwicklung der menschlichen Techniken sich in einem ,relentless march of ideas' vollzieht, in dem jede individuelle Leistung dem Beitrag eines Staffelläufers ähnelt, der den Stab gut aufgenommen und erfolgreich weitergegeben hat. Die Hegeische Dialektik nimmt, bei aller Enge des Ansatzes, diese wichtige Einsicht auf. Die Synthese löst einen Gegensatz genau im Sinne der Gestaltung eines Sammlungszyklus: Sammlung der Argumente für These und Antithese, Anordnung und Gewichtung ihrer wechselseitigen Verhältnisse und die gestaltende Formulierung der konfliktlösenden Synthese sind genau die drei Phasen, die wir postuliert haben. Der Gang der Welt wird aber schon im nächsten ¿Moment die Synthese zur These degradieren, weil mit einer neuen Antithese der nächste Sammlungszyklus beginnt. An dieser Stelle ist es wichtig zu unterstreichen, daß ein Sammlungszyklus nicht notwendig als eine individuelle Leistung gedacht werden muß, wie es die paradigmatischen Beispiele nahelegen. Kooperative Phänomene sind bereits

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aus der Physik dissipativer Systeme bekannt und sind in weit größerer Zahl im Bereich des Lebendigen anzutreffen; noch deutlicher werden überindividuelle Sammlungen und ihre Zyklen im sozialen Bereich. Es beginnt mit kaum glaublichen Gemeinschaftsleistungen in singulären Bedrohungslagen, regelmäßigere Formen finden sich in den Zusammenschlüssen Gleichartiger zu Vereinigungen mit festen Regeln, wie sie alle sozialen Strukturen begleiten. Diese Gruppenbildungen werden nicht von ihren zumeist strengen Hierarchien geformt, wie man meinen könnte, sondern sie bringen sie als die notwendigen Ordnungsmechanismen aus sich hervor; ihre Gestaltungsakte vollziehen sich in den verschiedenen Ritualen der Gemeinsamkeit. Schließlich sind ,Kulturen', als Ganzes betrachtet, wohl auch nichts anderes als ständig vollfährte Sammlungszyklen der Gemeinsamkeit, in denen kleine und größere Synthesen gelingen müssen, so daß die ,Kultur' selbst als ein übergeordneter Sammlungszyklus erscheint, der sich zu der Vielzahl der sie konstituierenden Sammlungszyklen verhält wie der Körper zu den von ihm umschlossenen und ihn erhaltenden Lebenszyklen. Jedenfalls besteht eine Kultur aus einer Anzahl von Individuen in einem Zustand hoher wechselseitiger Verkettung, die durch ständig vollzogene Sammlungszyklen verifiziert und gefestigt wird. Dabei bleiben Grenzen fließend, wie es Ernest Renans Diktum von der ,täglichen Volksabstimmung mit den Füßen' als Beschreibung einer Nation verdeutlicht, wenn auch hier die Idee des Sammeins auf das Bewohnen des H o heitsgebietes verengt wird. Die gemeinsame Sprache stellt ein konkreteres, aber ebenfalls nicht leicht dingfest zu machendes Produkt des gemeinsamen Sammeins, Ordnens und Gestaltens dar, das ohne seinen täglichen Vollzug sofort verschwindet. N o c h deutlicher sichtbar wird der Sammlungsaspekt in den Versammlungshausem

früher Kulturen, die gleichzeitig Museen, Stätten der

wesentlichen Rituale und Orte der Rechtsfindung wie der Begegnung sind, zum Beispiel die Marae der Maori. Neueren Entwicklungen begegnen wir in Gruppen von Wissenschaftlern, die völlig geschlossen arbeiten und agieren, ohne dabei auf persönlichen Kontakt angewiesen zu sein, oder in dem ebenso kuriosen wie eindrucksvollen Projekt der offenen Internet-Enzyklopädie Wikipedia. E s scheint, daß neue Kulturtechniken im Entstehen sind, die das Wesen nichthierarchischer Selbstorganisation durch „Selbst-Sammlung" begreifbarer werden lassen (und so vielleicht auch zu neuen Modellen fur die Arbeitsweise des menschlichen Gehirns führen werden).

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Sammlung und Synthese

3. „Denn alles, was entsteht, ist wert, daß es zugrunde geht" Sammlungszyklen können scheitern, und das Schicksal jeder einzelnen Sammlung ist schließlich Zerstreuung. Daraus folgt, daß der Antrieb zum Sammeln unabhängig von seinem jeweiligen Erfolg, dem Sammlungszyklus nämlich, existieren muß; tatsächlich sind die gelungenen Sammlungszyklen gegenüber den aus irgendwelchen Gründen fehlgeschlagenen deutlich in der Minderheit, wie alle unsere Beispiele belegen. W i r kommen deshalb nicht umhin, einen universellen ,Sammeltrieb' als die (alles) bewegende Kraft anzunehmen. Wenn wir aber einen Antrieb zum Sammeln, eine Kraft der Verkettung unterstellen, dann ist diese auch zugleich die Ursache der Zerstreuung, als Terminus für die Auflösung einer gelungenen Synthese. Denn die Gesamtheit alles Sammelbaren, umso mehr die M e n g e jedes spezifischen Sammlungsgutes, ist begrenzt und nicht beliebig vermehrbar. Zerstreuung ist deshalb eine notwendige Folge des Sammlungstriebes und damit zugleich die Voraussetzung für das Gelingen neuer Sammlungszyklen. Was besteht, ist das Ergebnis von Sammlungszyklen, damit Sammlungsgut neuer Sammlungszyklen, entweder als Ganzes oder in einzelnen Teilen, entweder in einem Prozeß des ,Selbst-Sammelns' oder des Gesammeltwerdens. Die Qualität des Neuen hängt nicht nur vom glücklichen Gelingen der Synthese ab, sondern vor allem auch von der Qualität des zusammengefügten Sammlungsgutes. Daran erinnert uns zum Beispiel ein außergewöhnliches Menu oder, nachhaltiger noch, die gelegentliche Erkenntnis, wieviel wir denen verdanken, die uns vorausgegangen sind und deren ,Substanz' wir repräsentieren. Nichts anderes wird in der Redewendung vom ,Standing on the Shoulders of Giants' ausgedrückt oder in den genealogischen Listen früher Kulturen, die noch heute Bestandteile von Begrüßungsritualen (ζ. B. der Maori) sind. Das ,ZugrundeGehen' von Bestehendem ist also keineswegs nur eine verdiente Strafe, sondern die wertvolle Voraussetzung für etwas Neues, das sich nach grundsätzlich bekannten Regeln bildet und trotzdem niemals ganz vorhersagbar ist. So wird verständlich, wie die ,böse' Kraft der Zerstörung unbeabsichtigt doch immer wieder das ,Gute' schafft - denn Sammeln und Zerstreuen sind zwei untrennbar verbundene Aspekte des Sammeltriebes. Die Zerstörung ist sicher der dramatischste, aber keinesfalls der wichtigste Aspekt der Zerstreuung. Schon ein flüchtiger Blick in die Lebenswelt zeigt, wie sorgfältig das Wirken der Evolution die Abfolge der Sammlungszyklen aufeinander abgestimmt hat, wie vollständig die vorhandenen Ressourcen wieder und wieder genutzt werden. Die menschlichen Gesellschaften haben genauso ausgefeilte Mechanismen zur gedeihlichen Abfolge von Sammlung und Zerstreuung geschaffen, die das ökonomische und soziale Leben bestimmen. Der Jäger und der Bauer bewältigen das Sammlungsproblem der Konservierung und La-

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gerung von zufälligem oder geplantem Uberfluß, der Kaufmann sorgt für seine effektive Zerstreuung. Die Künstler wie die Wissenschaftler erzeugen Wissen, dessen Existenz abhängt von seiner effektiven Zerstreuung, als Bedingung andauernden Vollzuges, und das sich erst aus der Zerstreuung interaktiv neu formiert. Alexander von Humboldt, der große Reisende und aufopfernde Sammler der Natur wie der Kultur, wußte wie nur wenige, daß die unmittelbare Weitergabe seiner Schätze die Bedingung weiteren Sammeins war; er behielt fast nichts für sich selbst, nicht einmal die zahllosen Briefe, die er von den Großen seiner Zeit erhielt. Goethe hingegen, der so viel über die Natur des Sammeins wußte, richtete sich in einem Museum ein, das noch heute sehenswert ist. Angesichts der Notwendigkeit des Verbrauchens prägt die Sorge um die Nachhaltigkeit der Versorgung und die Nachnutzung der Ressourcen auch unser Alltagsleben. Der moderne Traum vom verlustfreien Strom der Materialien wurde wunderbar prägnant gestaltet in Carl Barks' Entenhausener Geschichte vom ,Großen Zerstörer', in der Donald Duck das gewalttätige Geschäft des Abbruchunternehmers in die Kunst des vollendeten Recycling verwandelt: Wenn er nach kurzer, virtuoser Arbeit den Ort des Geschehens verläßt, liegt die Substanz des verschwundenen Hauses nach Materialien geordnet bereit zur sofortigen Wiederverwendung. Mit einer feinen Pointe endet die Geschichte als Lehrstück über das Mißlingen der Synthese, wenn die technische Perfektion schließlich an einer winzigen Fliege scheitert. Es sollte demnach ein Zusammenhang zwischen der Fortdauer des Sammeltriebes und der Masse des Gesammelten bestehen; das Sammlungsgut dämpft wie eine Reibungskraft und schwächt so die lebenserhaltende Sammlungskraft (und auch das weiß Faust: „Was man nicht nützt, ist eine schwere Last"). Deshalb erscheint es reizvoll, den Begriff des Sammlungszyklus weiter theoretisch zu erproben, nicht zum Wenigsten deshalb, weil er einen dynamischen Grundbegriff des Denkens liefert, der eine Unterscheidung zwischen der biologischen und der kulturellen Ebene zunächst nicht erforderlich macht. Seine große Offenheit gegenüber den Objekten des Sammeins macht es zudem überflüssig, den Rahmen des Seienden von vornherein abzustecken. Schließlich wird in dieser Sicht das, was ist, immer erst als das gerade Gewordene wirklich, so daß a priori auch keine Schwierigkeiten mit der Abbildung des Werdens und Vergehens bestehen. Freilich ist die Begriffsbildung bislang außerordentlich allgemein und bedarf einer feineren Differenzierung und Erprobung an interessanten Gegenstandsbereichen. Es muß also weiter gesammelt werden!

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Friedrich Kittler

Museen an der digitalen Grenze 1

Das Museum ist, nach einem bösen Wort Paul Valérys2, entstanden, als Plastik und Malerei ihre Mutter, die Architektur, an den Tod verloren haben. Wie \Λ aisenkinder schweiften die beiden Künste durch eine Welt ohne Heimstätte, bis ihnen das Museum Zuflucht bot. Prosaischer und wohl auch historischer gesprochen: Das Museum als funktional ausdifferenzierte Architektur dürfte derselben Epoche wie sein primärer Inhalt, eine funktional ausdifferenzierte Kunst nämlich, verdankt sein. Das heißt selbstredend nicht, es hätte vor jener Epochenschwelle keine Sammlungen oder, wie Horst Bredekamp präzisiert hat 5 , keine Wunderkammern gegeben. Aber die Gegenstände, die in frühneuzeitlichen Wunderkammern zusammenkamen, umfaßten neben Kunstwerken (und das hieß vor allem Antiken) eben auch Wunderbares aus Wissenschaft, Technik und Natur: fossile Funde, physikalische Geräte, zoologische Monstrositäten und so fort. Umgekehrt bestand die historische Zäsur, die das moderne Museum hervorbrachte, wesentlich darin, alles auszuscheiden, was nicht in seiner ästhetischen (und damit interesselosen) Gegenwart aufging, sondern zugleich in Zusammenhängen der Funktion oder des Gebrauchs stand. Die von der heutigen Systemtheorie wieder so gefeierte Autonomie der Kunst besagte also schlichter, daß ihre Werke in Museen fanden oder gar von vornherein für Museen hervorgebracht wurden. Und wenn die Funktion von Wunderkammern darin gelegen hatte, dem Sammler, also mit Notwendigkeit einem Inhaber politischer oder ökonomischer Macht, auch die Macht von Wissenschaften und Technologien zu erschließen, so bestand die Funktion von Museen gerade umgekehrt darin, einer

1

Dieser Beitrag ist 1995 für einen V o r t r a g in der F u n d a c i ó Antoni T a p i e s in Barcelona

entstanden. 2

Vgl. Paul Valéry: L e P r o b l è m e des musées, in: Œ u v r e s , hrsg. v . J e a n Hytier, Paris 1960,

Bd. 2, 1 2 9 0 - 1 2 9 3 . 3

Vgl. H o r s t Bredekamp: Antikensehnsucht u n d M a s c h i n e n g l a u b e n . Die G e s c h i c h t e der

K u n s t k a m m e r u n d die Z u k u n f t der Kunstgeschichte, Berlin 1993.

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Menge von Besuchern die Macht des Sammeins selber unterm Schleier des Genießens ebenso darzubieten wie zu verbergen. Jene Umwidmung, die um 1800 aus fürstlichen Gebäuden, Parkanlagen, Galerien usw. lauter öffentliche Anlagen machte, überführte auch Trophäen in Denkmäler und Beutestücke in Kunstwerke. Damit aber hörte das technische Wissen auf, Ziel oder Wirkung der Sammlung zu sein; es wurde zu ihrer ebenso notwendigen wie verborgenen Bedingung. Kein Museum ohne Adressierung, Archivierung, Katalogisierung; kein Museum aber auch, daß seinen Besuchern den Zugang zu diesen Technologien nicht vorenthielte. Unter all den Technologien, die (frei nach Heidegger) ihr Wesen verbergen, scheint keine folgenreicher gewaltet zu haben als die Geschichte. Wenn Tafelbilder an den Museumswänden seit 1800 in chronologischer Reihenfolge hängen, wird die Zeitachse zu einer Selbstverständlichkeit, die nicht nur alle gewesene Kunst orientiert, sondern auch künftigen Neuerwerbungen schon ihren Platz vorzeichnet. Auf den Schlußseiten der Phänomenologie des Geistes hat Hegel, kein geringerer als Hegel, die Geschichte insgesamt „eine träge Bewegung und Aufeinanderfolge von Geistern" genannt und diese Prozession im nächsten Halbsatz „einer Galerie von Bildern" gleichgesetzt. 4 Bildgewordene Geschichte und chronologisch geordnetes Museum fielen also zusammen. Als Denons Louvre und Schinkels Altes Museum in ihrer historischen Bilderordnung dieses Herrnwort in Ausstellungspraxis umsetzten, unterschrieben sie aber, wissentlich oder nicht, zugleich Hegels philosophische Konsequenz, daß Bildergalerien im besonderen und Kunstwerke im allgemeinen „nach der Seite ihrer höchsten Bestimmung für uns ein Vergangenes" sind.5 Es ist diese unrettbare Vergangenheit historisch gewordener Museumsinhalte, die an den Besuchern als Gespenst oder Heimsuchung wiederkehrt. Gegenüber einer Technologie, die ihr eigenes Verschwinden inszeniert, bleibt ihnen zuletzt nur das Gefühl, ein Erlebnis gehabt zu haben. Der Philosoph, der dieses Erlebnis auf seinen Begriff und die sogenannte Geistesgeschichte damit auf ihren Weg brachte, hieß bekanntlich Dilthey. U m die Jahrhundertwende herum, berichtet Dilthey selber, habe er einmal die Münchner Pinakothek besucht, aber aus aller Ordnung der Bilder keinen historischen Sinn, geschweige denn ein Erlebnis gewonnen. In der folgenden Nacht jedoch, wieder zu Hause in Berlin, durchlief ein schlafloser Dilthey die Münchner Bildergalerie noch einmal als inneren Film - und aus den nackten Daten an Museumswänden wurde doch noch das geistesgeschichtliche Erlebnis ihres Besuchers.

4 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes, hrsg. v. Johannes Hoffmeister, H a m b u r g 1952, 563 f. 5 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Ästhetik, hrsg. v. Friedrich Bassenge, Berlin/Weimar 1965, Bd. 1,22.

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Museen an der digitalen Grenze

Im Halbschlaf eines Berliner Geheimrats oder auch in der Virtual Reality heutiger Besucher, also in Erinnerung oder Schwindel zu enden, ist aber das Schlimmste, was Dingen der Uberlieferung widerfahren kann. Denn wenn schon „die Versetzung in die Sammlung sie ihrer Welt entrissen" hat6, tilgen Erinnerung oder Virtualisierung auch noch ihre Ständigkeit. Am Ende solcher Tilgungen bleibt nur mehr eine Menge von Daten zurück. Die Zuflucht, die das Museum laut Valéry den Bildern und Statuen bietet, hieße in den kalten Begriffen der Informatik also Speicherung. Denn von den drei Funktionen einer Universalen Diskreten Maschine - Speicherung, Übertragung und Verarbeitung ihrer Eingangsdaten - fallen zwei, die Übertragung und die Verarbeitung, im Museum aus: An Dingen, die zumeist ein regelrechter Staatsauftrag der Aufbewahrung anbefiehlt, darf nichts mehr verändert werden; an Dingen, die aus dem Magazin eines Museums für seine Ausstellungsräume selektiert worden sind, zählt schon die Präsentation als Übertragung. Sicher, das Museum hat gerade nach seiner Trennung von Wissenschaft und Technik auch andere Medien eingesetzt, die ihrerseits Daten übertragen oder verarbeiten. Bei der Beschaffung, Bestimmung und Restaurierung von Sammelgegenständen sind Medien der Datenverarbeitung - von der Röntgenfotografie bis zur Spektralanalyse - längst unabdingbar geworden. Sie werden nur nicht noch einmal ausgestellt. Umgekehrt sind auf der benutzerzugewandten Seite, als Schnittstelle mithin, verschiedenste Aledien der Datenübertragung, sobald sie verfügbar waren, zum Einsatz gelangt. Die große Debatte, die Museumsarchitekturen über optimales Oberlicht geführt haben, fiel nicht umsonst ins Zeitalter von Diorama und Panorama. Und wenn Sir John Soane sein Londoner Museum mit farbigen Fenstern ausstattete, deren illudierender Schein die ausgestellten Gegenstände ins Licht einer unwiederbringlichen Vergangenheit tauchte, bahnte sich der Historismus schon den Weg zum Historienfilm. Vor allem aber war es die Fotografie, die dem Museum und damit den Kunstwerken selber die Möglichkeit technischer Übertragung zugetragen hat. Walter Benjamins endlos zitiertes Argument, wonach Kunstwerke im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit jede Aura oder Ferne einbüßen, gilt nirgendwo strenger als im Museum, dessen Foyer ja kaum mehr ohne Postkartenständer auskommt. Und doch bleibt selbst das Medium Fotografie dem Museum so äußerlich, wie seine hochtechnischen Analysemedien nur im Verborgenen walten. Zur Illustration sei an den kühnen Entschluß erinnert, im Musée d'Orsav das 19. Jahrhundert nicht bloß in Tafelbildern und Statuen, sondern auch in jenen optischen und akustischen Medien auszustellen, deren Entwicklung seine Größe ausmacht. Nur zeitigte der kühne Entschluß die schüchternsten Folgen. Ers-

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Martin Heidegger: Holzwege, Frankfurt a. ΛΙ. 4 1963, 30.

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tens prunken Tafelbilder und Statuen im Hauptsaal, während Fotografie und Film, Phonograph und Grammophon an den Rand des Unzugänglichen verdrängt sind. Und zweitens bleibt die kategoriale Trennung zwischen Kunst und Technik auch dann noch in Kraft, wenn Kunstwerke längst in Zeitalter eingetreten sind, wo sie nicht sowohl Reproduzierbarkeiten als vielmehr Reproduktionen werden. Bekanntlich hat La source, ihrem Titel und Maler zum Trotz, selber eine Quelle: das Aktfoto einer Pariser Prostituierten. Aber nicht einmal fürs 19. Jahrhundert erlaubt die Kunstmoral, daß dieses Foto zusammen mit jenem Tafelbild den Hauptsaal des Musée d'Orsay schmücken dürfte. Das Museum, mit anderen Worten, ist ein hybrides Medium, das seine elementare Speicherfunktion historisch oder opportunistisch, aber jedenfalls nicht systematisch an andere Verarbeitungs- und Übertragungsmedien gekoppelt hat. Die Trennung zwischen Kunst und Technik, wie sie das klassische Museum gestiftet hat, bleibt von modernen Präsentationsformen unberührt. Und obwohl jene anderen Medien - unterm Druck technischer Hochschulen oder militärisch-industrieller Komplexe - schließlich selber zur Ehre ihrer Speicherung aufrückten, kehrte die Epoche der Wanderkammern doch nicht zurück. Es entstanden vielmehr, in einer Verdopplung des Kunstmuseums, vom Smithsonian Institute bis zum Deutschen Museum lauter technische Spezialsammlungen. So ist spätestens seit der Jahrhundertwende zwar wieder alles speicherungswürdig, aber nur nach dem Schema oder Schisma zweier Kulturen, von denen jede die andere ignoriert. In technischen Museen bleibt die Frage aus, wie Medien an die Stelle von Künsten getreten sind, in künstlerischen die Frage, was Künste den Medien und Medien den Künsten verdanken. Diese gegenseitige Gleichgültigkeit mag machbar und gangbar gewesen sein, solange unter den technischen Medien die Ubertragungsmedien dominierten, während das Museum weiterhin auf Speicherung spezialisiert blieb. Im Kontext eines Informationssystems jedoch, das das Prinzip Übertragung tendenziell kassiert, weil es alle Übertragung auf die Verarbeitung und Berechnung von Daten zurückführt, wirkt bloße Speicherung schon als solche einigermaßen dysfunktional. Daß Dinge für eine geplante Ewigkeit abgelegt sind, während ihre Verarbeitung gerade bis zum Ordnen oder Katalogisieren und ihre Übertragung gerade bis zu Leihgaben an andere Museen reicht, macht sie noch nicht zu Informationen. Um so begreiflicher ist die jüngste Hoffnung des Museums, dieser einstigen Zuflucht erbeuteter Bilder und kolonialisierter Ruinen, selber eine neue Zufluchtsstätte zu finden. Bekanntlich ist das virtuelle, d. h. computerisierte Museum heute in aller Munde. Als virtuelles Museum würde eine Architektur, die aus dem Tod der Architektur hervorgegangen wäre, in den filigranen Mikrometern von Computerarchitekturen aufgehen können. Seine Verlockung bezieht dieses Projekt allerdings nicht aus einem neuen Begriff des Museums, sondern aus jüngsten Entwicklungen der Computerhardware. Solange die ersten Generationen einer Maschine, die ihrem Erfinder zu-

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folge alle anderen Maschinen sein kann, auf die Simulation mathematischer Köpfe und Maschinen beschränkt blieben, brauchte ihre Architektur keine Anstalten zu machen, die Sinnlichkeit oder Ästhetik von Endbenutzern zu umgarnen. Ihre einzige Aufgabe war, (wie der Computer]argon so genau formuliert) Zahlen zu fressen. Erst Entwicklungen der letzten zwei Jahrzehnte haben den Computer zu einem Medium gemacht, das im Prinzip und wohl auch schon in nächster Zukunft alle anderen Medien wird sein können. Diese Implosion hat nicht nur den musealen Sinn, daß Computer die Inhalte anderer Medien in umcodierter Form abspeichern (was schließlich nach McLuhan jedes historisch neue Medium seinen Vorgängern angetan hat), sondern vorab den technischen Sinn, daß Computer all jene Verfahren oder Prozeduren, mit denen andere Medien ihre Inhalte hervorbringen, in die unüberbietbare Ökonomie mathematischer Algorithmen überführen. Zum wahrhaft erstenmal in der Mediengeschichte ist das, was gespeichert oder übertragen wird, eben darum auch schon berechenbar. Der Sachverhalt, daß Computer zu universalen Medien werden, macht dem Zahlenfressen also beileibe kein Ende. Aber er bringt die Technologie zu den Künsten in eine Nähe, die eines Tages womöglich sogar den griechischen Wortsinn von techne wieder wahrmachen könnte. Erstens und bekanntlich entstehen Schnittstellen, die die internen und damit numerischen Zustände der .Maschinen auf graphische, d.h. zweidimensionale, oder gar virtuelle, d.h. dreidimensionale Benutzeroberflächen abbilden. Zweitens und weniger bekanntlich erfordern zu Medien gewordene Computer aber auch Programmiertechniken und Datenstrukturen, in denen Kontexte der sogenannten Welt oder, genauer, der Alltagssprachen zu formalsprachlicher Abbildung kommen. Zumindest der erste Effekt dieser Mediatisierung hat Folgen gezeitigt. Seitdem Maschinen mit audiovisuellen Benutzeroberflächen bereitstehen, umwerben Künste, die terminologisch sofort zu Computerkünsten mutierten, die Technik; seitdem arbeiten auch Museen daran, virtuelle Benutzeroberflächen auszubilden. Es steht aber zu befürchten, daß diese neue Allianz nur die vielen Hybridmedien fortsetzt, die das Museum seit seiner Asthetisierung schon benutzt hat. Wie einst die Dioramen, Oberlichter und Filme sollen computersimulierte Räume dort Einheiten, Zusammenhänge und Kohärenzen stiften, wo der faktische Sammlungsbestand wesentlich aus Lücken besteht. Aber wenn Computersimulationen Lücken schließen, also wie etwa bei einer berühmten IBM-Aktion die Ruinen der Abteikirche von Cluny zur virtuellen Realität hochrechnen, entsteht nicht nur eine Anschauung für Benutzer, sondern auch ein Datensatz, den es nie zuvor gegeben hat.7 Die Ruine ist, über ihre Komplettierung im Imaginären hinaus, zugleich im Symbolischen und Algo-

7

Horst Cramer/Manfred Koob (Hrsg.): Cluny. Architektur als \1sion, Heidelberg 1993.

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rithmischen gespeichert. Jeder Stein, gleichgültig ob er erhalten oder nur erschlossen ist, hat in eine Objektstraktur gefanden, die ihn nach Maßen und Eigenschaften adressierbar macht. Jeder Stein ist abrufbarer Datensatz und abrufbare Prozedur seiner Wiedergabe zugleich. Mit anderen Worten: Computersimulationen bilden keine bloßen Benutzerschnittstellen, sondern selbst ein Museum. Genauer gesagt, ein Museum, das wie einst in Alexandria auch als Bibliothek fungiert, die neuzeitliche Trennung von Texten und Bildern, Büchereien und Galerien also gar nicht mitgemacht hat. Schon deshalb käme alles darauf an, daß faktische Museen an diese ihre Reduplikation im Miniaturformat, diese fraktale Abbildung von Exponaten und Katalogen zugleich, systematischen Anschluß fänden. Denn soweit man sehen kann, findet augenblicklich eher das Gegenteil statt. An zahllosen Stellen, im kleinen wie im großen, bilden sich museale Datenbanken, die weder voneinander noch von informatischen Standards zureichend Kenntnis nehmen, weil sie nur den Multimedia-Traum höherer Benutzerfreundlichkeit verfolgen. Aber je museumspädagogischer solche Hypertexte oder Hypermediashows auftreten, desto gründlicher verfehlen sie die Möglichkeit elektronischer Vernetzung. Auch und gerade Besuchern sollten nicht bloß liebevoll vorsortierte Informationen zugänglich gemacht werden, sondern alle verfügbaren. Dem Eigenbau oder der Redundanz gegenüber hieße systematischer Anschluß also, daß das Museum, statt seine Grenzen freihändig zu übertreten, Schnittstellen zur neuen Gegebenheit digitaler Archive aufbaut. Denn es ist nicht die Präsentation, sondern die Struktur solcher Archive, die eine elementare Grenze des Museums durchbrechen kann. Was Valéry auf den Satz brachte, daß Bilder und Statuen nur als Waisen zur Ausstellung gelangen, war doch wohl ihre Isolation gegeneinander - eine Isolation, die Valéry und in seinem Schatten Adorno bis zum Folgesatz veranlaßte, jedes Kunstwerk lösche alle anderen aus. Dieser Hybris entgegenzutreten, wäre der Zweck digitaler Archivierung. Im Unterschied zu allen anderen Medien - mit der einzigen Ausnahme von Gutenbergs Buchdruck - sind digitale Speicher schon im Prinzip kombinatorisch. Sie bilden Listen von Listen, Bäume von Bäumen, Ringe von Ringen. Die Kombinatorik aber ist jenes einzigartige Reich, wo alle mathematischen Vereinfachungen vom Typ der Analysis scheitern, weil die Rechenzeiten bei steigender Komplexität in exponentiellen oder gar hyperexponentiellen Funktionen anwachsen. Ihre Komplexität übersteigt folglich alles Menschenmaß und nährt eben darum die Künstlermetaphysik oder den Wahn, kombinatorische Kontexte gar nicht erst zu suchen. Woraufhin nur mehr die Feier der isolierten Werke oder im Grenzfall gar des Torso bleibt. Aber nicht nur das Leben, das wir (laut Rilke) beim Anblick archaischer Torsi ändern müssen, ist eine historische Variable. Entscheidender sind Bandbreite und Reichweite verfügbarer Speichertechniken. Ganz so, wie Schachprobleme und Schachcomputer schon seit Turings Tagen zu den wenigen Versprechun114

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gen zählen, die die ardfizielle Intelligenz hat erfüllen können, so sollten digitale Archive dem Museum kombinatorische Kräfte verleihen (nicht ganz klar). Denn in letzter Analyse sind alle Dinge, die es ausstellt, Symbole im Wortsinn: zerbrochene Scherben einer tessera hospitalis, deren Zusammen fiigun g oder Kontextualisierung ansteht. Schon die imperialen und kolonialen Ursprünge des modernen Museums haben dafür gesorgt, daß die gefundenen Fragmente noch einmal wie zerstückelte Glieder über Magazine und Ausstellungsräume hin fragmentiert sind. Aber weil ihre Auflistung, um von der Zusammenfügung ganz zu schweigen, alle menschenmögliche Rechenzeit sprengt, kommen für solch gigantische Puzzlespiele, wie schon das Beispiel Cluny gelehrt hat, nur Computer in Frage. Der Museologie fiele also die Aufgabe zu, entsprechende Suchalgorithmen zu entwickeln oder doch nach ihren Vorgaben, also vor allem auf Gestalterkennung hin umzubauen. Erst nach diesem kombinatorischen Kraftakt wären die gehorteten Daten zugleich Information. Denn, um ein Hegelwort abzuwandeln, auch das archäologische Wissen ist nur so tief, wie es sich in seine Ausbreitung zu verlieren getraut. Die Ausbreitung, auf der kombinatorische Prozeduren operieren, setzt aber einen wie auch immer abstrakten Raum voraus, während die Zeit nur als Rechenaufwand zählt. Deshalb hat die digitale Archivierung über allen Informationsgewinn hinaus auch methodische Effekte auf das Archiv namens Museum. Sie könnte der Allianz, die das Museum seit 1800 mit der Geschichte oder gar dem Historismus eingegangen ist, wieder auflösen. Die chronologische Abfolge als leerste aller Ordnungen, in die gespeicherte Dinge zu bringen sind, wäre, sobald ihre kombinatorischen Verknüpfungen erst einmal ermittelt sind, durch eine Ordnung der Kopräsenzen ablösbar. In dieser von der Geschichte entkoppelten Struktur aber gewinnt das Museum gerade für die Geschichte eine neue und fundamentale Bedeutung. Heute nämlich, also unter Bedingungen technischer Medien, begreifen die Historiker, daß ihre Quellen durch Historisierung - etwa durch die Edition mittelalterlicher Handschriften - lediglich ins homogene Medium Gutenbergs überführt worden sind. Wenn aber solche Handschriften, also Aussagen im Sinn der Diskursanalyse, mit ihren Schriftzügen und Miniaturen, also Materialitäten im Sinn der Mediengeschichte, konstitutive Einheiten bilden, sind sie keine Dokumente, sondern multimediale Monumente, wie allerdings erst die Digitaltechnik sie archivierbar gemacht hat. Anstelle eines chronologischen Handschriftenstammbaums, um den es Historikern und Editoren des 19. Jahrhunderts ging, tritt die Kopräsenz aller Handschriften in einem digitalen Museum. Das Archiv, dessen Dimensionen, Datenstrukturen und Algorithmen sich gegenwärtig abzeichnen, scheint also imstande, alle Medien der Geschichte und Vorgeschichte aufzunehmen. Als Maschinen, die alle anderen Maschinen sein können, sind Computer (allerdings um den prinzipiell unberechenbaren Preis der Digitalisierung) auch universale Medien. Sie bieten den zerbrechlichen,

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vergänglichen und gefährdeten Dingen, wie sie Museen fällen oder vielmehr ausmachen, daher eine Hardware, die zumindest in einigen ihrer Implementierungen die Archivierung auf Dauer stellen dürfte. Zugleich aber folgt aus der Universalität des Mediums Computer ein von der Mengenlehre her bekanntes Paradox: Das Medium, das alle Medien archiviert, kann sich nicht selbst archivieren. Zum Schluß möchte ich dieses Paradox, das alle Träume von erschöpfender Musealisierung oder (mit Borges gesprochen) von unerbittlichem Gedächtnis untersagt, in zwei Hinsichten streifen: zunächst vom Museum und dann von der Computertechnik selber her. Technische Museen, wie sie seit dem Smithsonian Institute entstanden sind, um dem Ende des Schriftmonopols die gebührende Rechnung zu tragen, haben mit historischen Medien keine Not. Im Gegenteil, erst unter hochtechnischen Bedingungen zieht das alte unscheinbare Handwerkszeug der Informationsverarbeitung die Aufmerksamkeit und mit ihr neue Forschungszweige an. Aber weder jene Museen noch diese Forschungszweige - in Frankreich etwa die genetische Edition 8 - scheinen imstande, die Unscheinbarkeit hochtechnischer Medien selber zu bewältigen. Offenbar verträgt das Museum nur Computer aus jener Steinzeit, als Zuse in Deutschland noch mechanische Relais und von Neumann in den USA noch klobige Elektronenröhren einsetzen mußten. Die integrierten Schaltkreise von heute, einige Millionen Transistoren, heißt das, in Reinsiliziumplatten von Daumengröße aufgebracht, spotten dagegen jeder Ausstellung. Wie die Künste, mit deren Autonomie das moderne Museum ja begann, scheint auch das Museum selbst seine Grenze an Dingen zu haben, die von den fünf Sinnen beherrschbar und insofern handwerklich sind. Was immer ins Auge fällt und bei der Hand liegt, also in Heideggers Wortsinn zuhanden ist, kann durch Musealisierung auch zur Vorhandenheit eines Exponats umschlagen. Im strengen Sinn hochtechnisch ist dagegen gerade das, was nur unter der Bedingung funktioniert, die Bandbreite der Sinne und die Laufzeit der Nerven zu hintergehen. Mag architektonische Pracht dereinst die Kunst von Königen und museale Ausstellung der Triumphzug von Kolonialimperien gewesen sein, so haben die Mächte von heute ihre Gewalt an einer Miniaturisierung oder Unwahrnehmbarkeit, die noch immer ohne Grenzen scheint. Computermuseen, wie sie zur Zeit aus unterschiedlichsten Böden sprießen, wären daher verurteilt, nur Deckelhauben, Anzeigegeräte oder Benutzerschnittstellen ausstellen zu können, alles das also, was den umgehenden Computeranalphabetismus eher fördert als abbaut. Aber weil die Siliziumtechnologie selber von der Unwahrnehmbarkeit ihrer Sache am meisten und ersten betroffen ist, verfügt sie und nur sie über Gegenmittel. Soweit man sehen kann, sind Entwurfsverfahren wie das Computer Aided. Design und Medien wie die Virtual Rea8

Vgl. Anne Cadiot/Christel Haffner (Hrsg.): Les manuscrits des écrivains, Paris 1993.

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l i t y nicht entwickelt, um Autofirmen oder Spielautomatenhallen zu beglücken, sondern um in Zeit und Raum den immensen Dimensionsunterschied zwischen Alltag einerseits, Mikroelektronik andererseits zu überbrücken. Das könnte Museen und zumal Computermuseen eine Lehre sein. Virtual Reality wäre keine Fortsetzung des Historienromans oder Historienfilms mit anderen Mitteln und Medien mehr, keine Wiederkehr von Soanes Unternehmen, unwiederbringliche Vergangenheiten im Museum wiederkehren zu lassen. Virtual Reality wäre der einzig mögliche, wenn auch immer noch virtuelle Weg, die Architektur digitaler Medien betretbar zu machen. Ganz wie Besucher bislang das Labyrinth der Galerien und Säle als Allegorie eines museologischen Plans durchirren dürfen oder müssen, würden sie in computersimulierten Virtual Realities das Labyrinth der Siliziumarchitektur selber durchirren. Damit aber fände das Museum auch unter hochtechnischen Bedingungen zu jener Autoreferenz, die unter Bedingungen der Gutenberggalaxis als Zusammenspiel von Exponaten und Katalogen so leicht zu haben war. Die neue Struktur seines Wissens würde doch noch semitransparent, weil seit jeher nur Ratten im Testlabyrinth zu Wissen kommen. Soviel zum museumspädagogischen Zweck, Computeranalphabetismen zu bekämpfen. Es geht aber nicht nur darum, einem neuen und finstereren Mittelalter vorzubeugen, wie Vìlém Flusser es in der Trennung zwischen Klerikern und Laien, Programmierern und Computeranalphabeten wahrhaft heraufdämmern sah. Es geht darum, eine Technik, die jede Erfahrung ihres Wesens verhindert, überhaupt zu speichern. Daß das Medium Computer zwar alle anderen Medien, aber nicht sich selbst archiviert, hat die massivsten Folgen von der Welt. Hardwarearchitekturen und Softwaredialekte, einst mit dem Versprechen angetreten, die unausrottbare Vieldeutigkeit der Alltagssprachen in einer universalen Metasprache aufzuheben, sind mittlerweile selber zum babylonischen Turm geworden. Aus ökonomischen Gründen, weil Milliarden Dollars nun einmal investiert sind, herrscht das Gesetz der Abwärtskompatibilität; aus komplexitätstheoretischen Gründen, weil nämlich Schreiben leichter als Lesen oder gar Entziffern ist, herrschen lauter Standards, die keine sind. Hochtechnische Macht wird also nicht bloß unwahrnehmbar, sondern opak wie die Kiesel, aus denen Silizium ja stammt. U m von ihrem babylonischen Turm nicht erschlagen zu werden, bleibt nur, ihn zu archivieren. Computermuseen - ich wage zu präzisieren: herstellerunabhängige - müßten Zustandsdiagramme und Sprachdefinitionen, Hardwarearchitekturen und Softwarelösungen so präzise speichern, daß wenigstens die Gültigkeit mathematischer Algorithmen gewahrt bleibt. Vor ein paar Jahren fehlte nicht viel, und jede tausendste Division im Intel-Imperium hätte nur fünf korrekte Stellen hinter der Null gehabt. Die Folgen für Frühwarnraketensysteme, Wettervorhersagen und Kernkraftwerke (die Hochtechnologien allerdings aus guten Gründen erst zu allerletzt übernehmen) brauchen keine Phantasie.

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Was bevorsteht oder besser noch getan werden muß, ist also eine Wiederkehr der Wunderkammern. Johann Valentin Andrea, der Gründer der Rosenkreuzer, hat einst die Forderung nach einem Archiv aufgestellt, das neben Kunstwerken, Werkzeugen und Geräten auch deren technische Zeichnungen enthielte. 9 Unter den hochtechnischen Bedingungen von heute bleibt nur die Wahl, ein solches Archiv zu beginnen oder Millionen namenloser Todesarten zu unterschreiben. In einer Stadt wie Barcelona, die nach Batailles Wort „wirklich und nicht nur im Alptraum der Kulisse eines Trauerspiels ähnelt", 10 spricht gegen die zweite Möglichkeit nichts. Computer sind (ihrem Erfinder zufolge) nur dazu da, die Macht zu übernehmen. Und dennoch besteht, wenigstens eine Zeitlang noch, das Museum der modernen Poesie (wie Deutschlands einziger Museologe es getauft hat)." Cape Kennedy, vormals Cape Canaveral, noch vormaliger Heeresversuchsanstalt Peenemünde: ein Weltraumshuttle hebt von der Erde ab. 70 Sekunden später explodiert eine der beiden Feststoffraketen, der Shuttle samt Mannschaft und Bordcomputer versinkt im Atlantik. Fünf Monate später wird der salzwasserdurchtränkte Computer von Tauchern geborgen und nach Yorktown Heights in die Forschungsabteilung von IBM geflogen. Denn die Theorie elektrischer Schaltkreise besagt, daß digitale Informationen einfach in Kondensatoren gespeicherte Spannungswerte sind, die im Normalfall zwar einige Volt betragen, aber auch nach dem Abschalten nie auf Null sinken können. Am Bordcomputer des abgestürzten Shuttle erfuhr diese Theorie ihre vermutlich erste Anwendung. Durch Reststromverstärkung von Millionen Transistorzellen soll es gelungen sein, den gesamten Betriebszustand jenes Bordcomputers zu genau jener Millisekunde auszulesen, als das System in allen Wortsinnen abstürzte. Nicht viel anders sähe ein Museum an der digitalen Grenze aus.

9 Vgl. Bredekamp 1993 (wie Anm. 2), 6 8 - 6 9 . 10 Georges Bataille: Das Blau des Himmels. Roman, München 1969, 21. 11 Vgl. Hans Magnus Enzensberger: Museum der modernen Poesie, Frankfurt a. M. 1960, und alle Texte vom Kurzen Sommer der Anarchie bis zum Mausoleum. Siebenunddreißig Balladen aus der Geschichte des Fortschritts, Frankfurt a. M . 1975.

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„Die Kunstgeschichte ist ein technisches Fach" Bilder an der Wand, auf dem Schirm und im Netz

W i e andere vermeintlich ,weiche' Geisteswissenschaften gilt die Kunstgeschichte als eine vorwiegend bücherorientierte Disziplin. Im Gegensatz dazu konstatiert Horst Bredekamp, die Kunstgeschichte sei „ein technisches Fach". Dieser scheinbar ironische Standpunkt hat große Berechtigung - ist doch die Kunstgeschichte (wie auch die Archäologie) seit jeher grundlegend auf Reproduktionen und eben auch auf die zugehörige Projektionstechnik angewiesen, um ihre Lehr- und Forschungsgegenstände in den Blick zu nehmen.

Bilder an der Wand Kunstgeschichte ist ohne Reproduktionen, ohne Fotografien nicht denkbar. Als Fach entsteht sie parallel zur Entwicklung der Fotografie, und ihren eigentlichen Aufschwung nimmt sie erst mit der Einführung der Lichtbildprojektion.' Als Ersatz für das Aufsuchen der Originale behalf man sich in den Lehrveranstaltungen anfangs mit Reproduktionen: zunächst als Druckgraphik, dann als Fotografien. Die einzelnen Tafeln wurden während des Vortrages vom Dozenten gezeigt und dann herumgereicht. Nachteilig dabei war, daß betrachtetes Objekt und gesprochener Text schon beim dritten oder vierten Zuhörer nicht mehr synchron waren, denn der Vortragende schritt natürlich schneller voran,

1 Mehrfach damit auseinander gesetzt hat sich, allen voran, Heinrich Dilly. Heinrich Dilly: Lichtbildprojektion - Prothese der Kunstbetrachtung, in: Irene Below (Hrsg.), Kunstwissenschaft und Kunstvermittlung, Gießen 1975, 153-172; wichtig auch ders. Die Bildwerfer. 121 Jahre kunstwissenschaftliche Dia-Projektion, in: Zwischen M a r k t und M u s e u m . Beiträge der Tagung „Präsentationsformen von Fotografie" (Juni 1994, Reiß-Museum der Stadt M a n n heim), Rundbrief Fotografie, Sonderheft 2, Göppingen 1995, 3 9 - 4 4 , als pdf-Datei verfügbar unter U R L : (04.07.2006). Zuletzt W i e b k e Ratzeburg: Mediendiskussion im 19. Jahrhundert. W i e die Kunstgeschichte ihre wissenschaftliche Grundlage in der Fotografie fand, in: kritische berichte 30/1, 2002, 22-39, sowie Ingeborg Reichle: Medienbrüche, in: kritische berichte 30/1, 2002, 4 0 - 5 6 ; bei Ratzeburg und Reichle die einschlägige jüngere Literatur.

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als die Reproduktion durch den Hörsaal wandern konnte. Abhilfe schuf hier erst die Lichtbildprojektion. Sie sorgte dafür, daß alle Zuhörer zur selben Zeit das Gleiche sehen und hören konnten. Erst durch diese Vortragstechnik konnte sich die Dramaturgie des Wechselspiels von Sprache und Lichtbildern entwickeln, die bis heute den kunstgeschichtlichen Lehrbetrieb kennzeichnet. Wesentlichen Anteil an der Entwicklung dieser fachspezifischen Technik hatte Herman Grimm (1828-1901), der von 1873 bis 1901 den ersten Lehrstuhl für Kunstgeschichte an der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität (der heutigen Humboldt-Universität) innehatte. 2 Er engagierte sich schon einige Jahre vor seiner Berufung für die Verwendung der Fotografie als Reproduktionsmedium für Kunstwerke und warb entschieden für diese Unterrichtsmethode, mit der man die zu besprechenden Kunstwerke weit besser veranschaulichen konnte als durch (bis dahin übliche) rein verbale Beschreibungen. 3 1875 begann er damit, den Apparat für neuere Kunstgeschichte einzurichten. Mangels ausgereifter Projektionstechnik und Finanzen standen ihm aber nur Fotografien und Stichwerke, keine Lichtbilder, zur Verfügung. Erst 1891 war es ihm möglich, ein Skioptikon und Lichtbilder zu erwerben. Grimm setzte die neue Projektionstechnik umgehend in seinen Vorlesungen ein und berichtete nach jedem Semester ausführlich über seine Erfahrungen. 4 Seine Artikel zeugen anschaulich von der - auch für ihn selbst - ungeheuer dramatischen Wirkung dieser Projektionen und lassen die Allmachtsphantasien des Vortragenden spüren, der erst durch die Projektion und die dadurch erzielte Vergrößerung die Kunstwerke zur eigentlichen Vollendung führt: „Es war eine neue Erfahrung für mich, so, indem Dürer's Werke in reinster Art sich erhöhten und vereinfachten, den deutschen Meister höhere Gestalt annehmen zu sehen. Er stand wie jemand vor uns, der erlöst war." 5 Bereits nach zwei Jahren umfaßte die Sammlung des Berliner ,Apparates' etwa 2400 „Glasplattenphotogramme". 6 Quelle dieser Lichtbilder war möglicherweise Bruno Meyer, 1874 bis 1884 Professor für Kunstgeschichte in Karls-

2 Waltraud Luft: Die Entwicklung des Kunstgeschichtlichen Instituts der Berliner Universität von seiner Gründung bis zum Jahre 1945, unpublizierte Diplomarbeit, Berlin (HU) 1957,8-11. 3 Herman Grimm: Notwendigkeit einer photographischen Bibliothek für das gesamte kunstgeschichtliche Material. Vorschläge zu deren Gründung in Berlin, in: ders., Über Künstler und Kunstwerke, I, 1865, 3 6 - 4 0 . 4 H e r m a n Grimm: Beiträge zur Deutschen Kulturgeschichte, Berlin 1897, darin: Die U m gestaltung der Universitätsvorlesungen über Neuere Kunstgeschichte durch die Anwendung des Skioptikons, 2 7 6 - 3 9 5 (ein Wiederabdruck dreier Artikel von 1892 und 1893). - Eine scharfsinnige Analyse dazu bei Dilly 1975 (wie Anm. 1), 162-165; vgl. auch Reichle 2002 (wie Anm. 1), 47-48. 5 Grimm 1975 (wie Anm. 4), 363. 6 Luft 1957 (wie Anm. 2), 9 - 1 0 .

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,Die Kunstgeschichte ist ein technisches Fach"

ruhe. 7 Er ist der eigentliche, wenngleich erfolglose Pionier des Einsatzes fotografischer Reproduktionen in der Kunstgeschichte. Seit 1873 propagierte er den Einsatz des Skioptikons und seit den frühen 1880er Jahren produzierte er Lichtbilder, denen allerdings (u.a. wegen ihrer Nähe zu Vorführungen der Laterna Magica, die mit Jahrmarktsdarbietungen assoziiert wurde) kein ökonomischer Erfolg beschieden war. 8 Bereits Meyer plädierte für die gleichzeitige Projektion von zwei verwandten Darstellungen (die er durch die Montage zweier Darstellungen in einem Diarahmen erreichte). Diese gleichzeitige Projektion zweier Objekte ermöglichte über das rein Illustrative hinaus ein didaktisches Vorgehen: das Vergleichen verwandter oder auch gegensätzlicher Kunstwerke oder das Zusammenstellen stilistischer oder chronologischer Reihen. Auch Herman Grimm erkannte und nutzte sofort die Vorteile dieser Methode. Aber erst Heinrich Wölfflin, seit 1901 der Nachfolger Grimms auf dem Berliner Lehrstuhl, war es, der in seinen Vorlesungen die suggestive Doppelprojektion mit zwei Diaprojektoren zum Standard machte und mit dieser formanalytischen Methode des Vergleichenden Sehens' ganze Generationen von Kunsthistorikern prägte. 9 Von dem umfangreichen Material des Apparûtes für neuere Kunstgeschichte haben sich trotz der Kriegsverluste in Diathek und Fotothek des heutigen Kunstgeschichtlichen Seminars der Humboldt-Universität zu Berlin einige Fotografien und ein beachtlicher Bestand an Lichtbildern erhalten. Bedingt durch Grimms Interessen liegt der Schwerpunkt hierbei auf deutschen, italienischen und französischen Kunstwerken und Denkmälern. Das Material stammt von den Fotoagenturen, die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts den jungen Markt unter sich aufteilten: Anderson und Brogi (Rom), Fratelli Alinari (Florenz), Carlo Naya (Venedig), Adolphe Braun (Dornach/Elsaß) und andere. Lichtbilder lieferte das Institut von Dr. Franz Stoedtner in Berlin, nach 1911 auch der Leipziger Seemann-Verlag. 10 Einen Großteil der Lichtbilder fertigte der hauseigene Fotograf an (ein Fotolabor war 1895 eingerichtet w orden). 11 1910 verfügte der ,Apparat' bereits über mehr als 15.000 Diapositive sowie über 250 Mappen

7 Ausführlich zu Bruno M e y e r vgl. Dillv 1975 (wie Arim. 1), 157-162 und Dilly 1995 (wie Anm. 1); ferner W i e b k e Ratzeburg: Die Anfänge der Photographie und Lichtbildprojektion in ihrem Verhältnis zur Kunstgeschichte, unpublizierte .Magisterarbeit, Berlin (FU und H U ) 1997. 8 Bruno Meyer: Glasplattenphotogramme für den kunstwissenschaftlichen Unterricht, im Projectionsapparat zu gebrauchen. Erstes Verzeichnis (Nr. 1—1000), Karlsruhe 1883. - Zu den übrigen Gründen für M e y e r s Mißerfolg vgl. Dilly 1995 (wie Anm. 1), 39—10. 9 Dilly 1995 (wie Anm. 1), 4 0 - 4 2 . 10 Zur Lichtbildproduktion des Seemann-Verlages vgl. Alfred Langer: Kunstliteratur und Reproduktion. 125 J a h r e Seemann Verlag, Leipzig 1983, 1 2 8 - 1 3 3 . 11 Luft 1957 (wie Anm. 2), 10.

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mit Fotografien und Stichen, Bücher gab es dagegen nur etwa 1300. 12 Die Projektionstechnik und die entsprechenden Unterrichtsmittel besaßen also für das Fach einen außerordentlich hohen Stellenwert. Die enge Verflechtung des Faches und seiner Technik manifestiert sich unter anderem in der Person des Lichtbildproduzenten Franz Stoedtners (1870-1946). Stoedtner, ein Schüler Herman Grimms, teilte dessen Begeisterung für die Projektionstechnik uneingeschränkt. Unmittelbar nach seiner Promotion gründete er 1895 das Institutfiir wissenschaftliche Projection, machte sich rasch einen Namen mit der Herstellung und dem Vertrieb von Lichtbildern und gehörte mit seinem Institut in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu den führenden Firmen auf diesem Sektor. 13 Da die Farbempfindlichkeit der Filme im späten 19. Jahrhundert noch einiges zu wünschen übrigließ und Fotografien von Gemälden häufig unbefriedigende Ergebnisse lieferten, wurden zunächst vorwiegend s/wAufnahmen von Skulpturen und Architekturen angefertigt. 14 Zur planmäßigen fotografischen Inventarisierung deutscher Kunstdenkmäler unternahm Stoedtner zahlreiche Exkursionen, und in den zehn Jahren vor dem Erscheinen des ersten Dehio-Bandes (1905) war das tatsächlich Grundlagenarbeit. Stoedtners erster Katalog von 1907 umfaßte bereits 14.000 Aufnahmen, in den 1940er Jahren verwaltete das Institut dann mehr als eine Viertelmillion Negative. Von Stoedtner stammen unter anderem Aufnahmen des Straßburger Münsters (Abb. 1), die früheste Fotografie des Bamberger Reiters und die ersten Aufnahmen des Altares in St. Wolfgang von Michael Pacher. Unzählige seiner Fotos sind Teil des kollektiven Bildgedächtnisses der frühen Kunsthistorikergenerationen geworden, und der große Einfluß seiner Aufnahmen auf die Wahrnehmung, Analyse und Interpretation der Kunstwerke durch Studierende, Lehrende und Forschende ist noch gar nicht untersucht. Neben der Produktion der Diapositive hielt Stoedtner (anfangs unter abenteuerlichen technischen Schwierigkeiten) zahlreiche kunsthistorische Vorträge, berichtete von seinen Reisen und machte das bildungsbürgerlich interessierte Publikum mit „Denkmälern der Kunst" bekannt. 15 Die zunächst für wissenschaftliche' Zwecke hergestellten Lichtbilder dienten damit, in Parallelverwer-

12 Max Lenz: Geschichte der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, Halle a. d. S„ 4 Bde., 1910-1918, hier Bd. 3, 1910, 265-266. 13 45 Jahre deutsche Lichtbildarbeit. Zum 70. Geburtstag Dr. Franz Stoedtners, Berlin 1940; vgl. auch Dilly 1995 (wie Anm. 1), 40. 14 Zur „Farbenblindheit" der frühen Fotografie und dem daraus resultierenden Reproduzieren von Gemälden nach Lithografien, Stichen und eigens angefertigten Grisaille-Kopien vgl. Helmut Heß: Der Kunstverlag Franz Hanfstaengl und die frühe fotografische Kunstreproduktion, München 1999, 118-125. 15 Franz Stoedtner: Aus meinem Leben, in: Der Bildwart 13/7, 1935/36, 196-199.

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,Die K u n s t g e s c h i c h t e ist ein t e c h n i s c h e s F a c h "

A b b . 1: S t r a ß b u r g , .Münster, Ansicht von W e s t e n , v e r m u t l i c h um 1V00: g r o ß f o r m a t i g e s L i c h t b i l d , h e r g e s t e l l t v o m Institut für vrissewcbaftliebe

Projection - Dr. Frutiz Stoedtner

tung, einer Form der Volksbildung, die sich im spaten 19. Jahrhundert zu etablieren begann und die sich bis heute gehalten hat. 16 Nicht nur fachlich, auch räumlich und personell gab es weitere Berührungspunkte zwischen der Berliner Kunstgeschichte und ihrer Technik. Zeitweise befand sich der Sitz des Stoedtner'schen Institutes in der L'niversitätsstraße 3b, also in direkter Nachbarschaft zum Hauptgebäude der Universität, wo de τ Apparut für iutiere Kunstgeschichte damals untergebracht war (Abb. 2).' Außerdem arbeitete Stoedtner bei seinen Fotokampagnen u. a. mit dem jungen Richard Hamann (1879-1961) zusammen. Hamann lernte bei Stoedtner das fotografische Handwerkszeug, wurde dann 1913 an das neu gegründete Institut in Alar-

16

Bis heute v e r m a r k t e n G l o b e t r o t t e r ihre ( A b e n t e u e r - ) R e i s e n zu e u r o p a i s c h e n und a u ß e r -

e u r o p ä i s c h e n K o n t i n e n t e n in F o r m von professionellen D i a v o r t r ä g e n und haben stets regen Zulauf. V g l . K a i - U w e K ü c h i c r - Wer Reiseerzähler, in: D I A / S L I D E / T R A N S P A R F X C Y . M a t e r i a l i e n zur P r o j e k t i o n s k u n s t (hrsg. von d e r N e u e n G e s e l l s c h a f t für B i l d e n d e Kunst), Berlin 2 0 0 0 , 1 7 4 - 1 7 8 . 17

Z a h l r e i c h e S t o e d t n e r ' s c h e L i c h t b i l d e r im Bestand des S e m i n a r s n e n n e n die U n i v e r s i -

tätsstraße 3b als F i r m c n a d r e s s c . M e i n D a n k g e h t an R e i n e r Koppe, den e h e m a l i g e n L e i t e r des M e ß b i l d a r c h i v s , für den H i n w e i s auf das M e ß b i l d .

Dorothee Haffner

Abb. 2: B e r l i n - M i t t e , Universitätsstraße 3b, N o r d f a s s a d e zur G e o r g e n straße m i t W e r b e t a f e l „Dr. F. S t o e d t n e r - L i c h t b i l d e r - P r o j e c t i o n " ( M e ß b i l d , u m 1925)

bürg berufen und baute dort das Bildarchiv Foto M a r b u r g auf. 18 Ebenso wie Stoedtner nutzte er ab 1940 die von den Nazis eroberten Gebiete für ausgedehnte Fotokampagnen und die Vergrößerung seines Fotoarchivs. 1947, schon im Pensionsalter, wurde H a m a n n dennoch als ,unbelasteter D o z e n t ' an das Berliner Seminar der (1949 umbenannten) Humboldt-Universität berufen und leitete es bis 1957. U m die Kriegsverluste an Studienmaterial auszugleichen, beschaffte er mit dem Preisgeld des DDR-Nationalpreises, der ihm 1949 verliehen wurde, ein großes Konvolut an Zweitabzügen von M a r b u r g e r Fotos, die heute den größten Teil der Fotothek des Seminars bilden. 1 '' 18

I'ritz Laupichler: Fotografien, Microfiches, M I D A S und D I S K U S : Das „Bildarchiv F o t o

M a r b u r g " als „Deutsches D o k u m e n t a t i o n s z e n t r u m f ü r Kunstgeschichte", in: K a i - U w e H e m ken (Hrsg.), Im Bann der M e d i e n (als C D - R o m erschienen), W e i m a r 1997, 1 1 6 4 - 1 2 0 2 . 19

Das Stoedtner'sche Institut w u r d e nach den Kriegszerstörungen u n d d e m T o d F r a n z

S t o e d t n e r s 1946 nach Düsseldorf umgesiedelt und bestand d o r t als „Lichtbildverlag D r . F r a n z S t o e d t n e r " bis in die 1970er J a h r e . N a c h Auflösung des Verlages gingen die Reste des Archivs m i t einer gewissen Folgerichtigkeit in den Besitz von F o t o M a r b u r g über. Vgl. H e i n z K l e m m (Hrsg.): Katalog Dr. Stoedtner. Kunstdias. Baukunst, Plastik, Malerei, Grafik, Kunsthandwerk, Düsseldorf 1975. Siehe auch U R L : < h t t p : / / w w w . f o t o m a r b u r g . d e / a r c h i v e / s t o e d t n e r . h t m b (04. 07. 2006).

124

„Die Kunstgeschichte ist ein technisches Fach"

In den 1940er Jahren waren Kleinbilddias auf den Markt gekommen. Wesentlich günstiger herzustellen und leichter handzuhaben als die großen gläsernen Lichtbilder, dienten sie nun zunehmend als Unterrichtsmaterial. Die großformatigen Lichtbilder wurden nur noch selten verwendet. Zu DDR-Zeiten gab es keinen Institutsfotografen mehr. Immerhin konnte das institutseigene Fotolabor von Dozenten und Studenten benutzt werden, und die Fotografin des Winckelmann-Institutes für Klassische Archäologie fertigte auch für die Kollegen der Kunstgeschichte Diapositive an. Allerdings war der Umfang der Diathek erheblich geringer als der eines westdeutschen Institutes. Mit der 1993 erfolgten Berufung Horst Bredekamps an das Kunstgeschichtliche Seminar der Humboldt-Universität gewann dann die Kunstgeschichte als technisches Fach erneut an Bedeutung.

Bilder auf dem Schirm Bredekamps Verhältnis zu Dias und ihrer Projektion ist ein äußerst sinnlichhaptisches. Wer Vorbereitungen zu einem seiner Vorträge miterlebt hat, bei denen der Raum unter anderem vollständig zu verdunkeln ist und die Projektion fehlerlos zu funktionieren hat, oder wer Bredekamp über die Brillanz der Farben und die wünschenswerte Schärfe und Auflösung der Diaprojektion sinnieren hörte, weiß das. Festgehalten hat er seine Ansprüche unter dem Titel Warum ist es so schwierig, ein Dia zu zeigen? in einer Glosse für die FAZ (Berliner Seiten vom 5. Oktober 2000). Sie schildert auch seine tief empfundene Abneigung gegenüber Overheadprojektoren mit der ungelenken Handhabung der Folien und ihrer in der Regel schiefen, unscharfen, unzureichenden Projektion. Um die Infrastruktur des Seminars zu verbessern, richtete Bredekamp je eine Stelle für das Fotolabor und die Leitung der Diathek ein. Gleichzeitig etablierte er die Neuen Medien als einen der Schwerpunkte in Lehre und Forschung. 1994/95 entstand am Seminar mit der Software imago eine der ersten kunsthistorischen Bilddatenbanken. Entwickelt wurde sie vom damaligen Assistenten André Reifenrath, unter der Maßgabe, von der Mehrheit der EDV-unerfahrenen Kunsthistoriker rasch und leicht benutzt werden zu können." 0 Die Recherche in den Datensätzen funktioniert hier vor allem mit Hilfe eines umfangreichen Schlagwortschatzes, der die Suche erheblich vereinfacht. Das Hauptproblem in der herkömmlichen Diathek ist die Tatsache, daß jedes Dia unter mehreren Schlagworten abgelegt werden kann: Künstler, Standort, Gattung, Epoche, Ikonographie etc. U m nun nicht zahllose Duplikate produzieren und einsortieren zu müssen, ist es notwendig, sich innerhalb der Auf20

André Reifenrath: Kunstgeschichte digital. U b e r die P r o b l e m e einer geisteswissenschaft-

lichen Bilddatenbank u n d deren L ö s u n g , in: h u m b o l d t - s p e k t r u m 2/1, 1995, 3 8 - 4 1 .

125

Dorothee Haffner

stellungssystematik für einen möglichen Ort, also ein Schlagwort zu entscheiden. Will man das Dia wiederfinden, muß man dieses Schlagwort kennen. Die Datenbank imago geht den umgekehrten Weg: Jedes Objekt wird mit zahlreichen passenden Schlagworten verknüpft, so daß das Objekt unter all diesen Begriffen wieder zu finden ist. Hilfreich ist die Datenbank-Suche nach diesen Schlagworten vor allem dann, wenn man nur ungenaue, ,unscharfe' Suchkriterien kennt (z.B. ,italienische Malerei des 16. Jahrhunderts mit einer Darstellung von Perseus und der Medusa') - was im kunsthistorischen Alltag häufig vorkommt. Versammelt sind all diese Schlagworte in einem Schlagwortschatz. Im allgemeinen als Thesaurus bezeichnet, handelt es sich dabei im dokumentarischen Sinne um eine monohierarchische Wortliste. Mehrere Oberbegriffe (u. a. Form/Funktion, künstlerische Gestaltung, Ikonographie, Kunstlandschaft) bieten in verschiedenen Hierarchien zahlreiche Schlagworte, die in den herkömmlichen Datenfeldern (Künstler, Titel, Datierung, Technik, Maße, Standort, Institution, Quelle der Reproduktion) keinen Platz finden. Da der Thesaurus optisch wie ein Karteikasten organisiert ist (Abb. 3), hat man alle vertretenen Hierarchien und Begriffsfamilien im Blick und kann sich rasch orientieren.21 So finden sich auch Ungeübte leicht zurecht. Hierin unterscheidet sich imago von bibliothekarischen Katalogen, aber zum Beispiel auch vom Marburger Bildindex für Kunst und Architektur, der zwar über zahllose Felder und eine detaillierte Erschließung verfügt, den Benutzer mit dieser Fülle aber häufig überfordert.22 Bei imago ist der umfangreiche Schlagwortschatz stets sichtbar, so daß die Suche assoziativ und intuitiv gestaltet werden kann. Damit greift die Datenbank Warburgs Prinzip der geisteswissenschaftlichen Arbeitsweise (des viel zitierten „guten Nachbarn" in systematisch aufgestellten Bibliotheken) auf und führt bei der Recherche häufig zu unerwarteten, überraschenden Resultaten.23 Wie ungewöhnlich eine derartige Entwicklung Anfang der 1990er Jahre innerhalb der Kunstgeschichte war, mag folgende Tatsache verdeutlichen: Der Leiter des Rechenzentrams der Humboldt-Universität, Peter Schirmbacher, wurde um ein Votum bezüglich der für die Entwicklung beantragten Gelder gebeten. Er hielt die Idee einer geisteswissenschaftlichen Datenbank für höchst 21 Ulrike Schlieper: Entwurf eines Thesaurus für die Bilddatenbank IMAGO ara Kunstgeschichtlichen Institut der Humboldt-Universität in Berlin, in: Cornelia Pieper/Ulrike Schlieper/Stefanie Wolf: Dokumentation - Präsentation - Qualität (Heike-Schöbel-Preis 1997) (Materialien zur Information und Dokumentation 7), Potsdam 2000, 79-133; Dorothee Haffher: Ein kunsthistorischer Thesaurus für die Diathek, in: AKMB news 7, 2001/2, 23-26. 22 Zu konsultieren unter URL: (04. 07. 2006). 23 Mittlerweile bieten auch andere Datenbank-Programme die Möglichkeit, mittels einer Systematik die erfaßten Objekte zu verschlagworten. Diese Programme kommen meist aus dem Bereich der Bild- oder Werbeagenturen, wie z.B. Cumulus (Fa. Canto, Berlin), jadis.net (Fa. Zweitwerk, Hamburg) und andere.

126

,Die Kunstgeschichte ist ein technisches Fach"

Qbjekte Aktionsbereich fcjodus SjNagwcirfef £instelungen Ansicht 2 Benytrei Adnwwtraton

• Sehlagworte | 7 Gatiei, Gaüeo (1564-1642^ Zeichnungen dei ΜοηφΗβίάι und dei Mondoberfüiche. Floienz. BWioteca Naaonate

Β Β ! S !

' Mond J É Meteorotegec': = •• Finsternis r Β NatürtchePhi '—Uoht h Kunstgattmg - Handîeichnung Künstlern) Β KünsHer G | - G a i t a . GaHeo Standort Β Italen

¡Äbf/agej ψ Wo S'jclif I ¡gLeucttpuR| (März 2006). 35

Das W e r k , das diesen Paradigmawechsel einleitete, waren die i Stoppages étalon. Vgl.

H e r b e r t Moiderings: K u n s t als E x p e r i m e n t . Marcel D u c h a m p s >

Kunststopf-Xonnalmaße,

M ü n c h e n , Berlin 2006. 36

Marcel D u c h a m p : N o t e s . Avant-propos Paul Matisse, préface P o n t u s H u l t e n , Paris

1999, 27 (Nr. 26r). 37

Dies gilt jedoch nicht für die zweidimensionalen Readymades Pharmacie, Apolinire

meled, L.H.O.O.Q.

Ena-

u n d jene Objekte, die T r ä g e r komplizierter Wortspiele waren wie bei-

spielsweise das R e a d y m a d e eines H u n d e k a m m s und das „Readymade aidé (à bruit secret)" von 1916. Vgl. Bonk 1989 (wie Anm. 5), 2 0 9 - 2 1 1 , 238.

229

Herbert Moiderings

chend aufwendig hat er sie 1914, 1934 und 1967 in dem normalerweise nur wertvollen Handschriften vorbehaltenen Faksimiledruck ediert. 38 Die in Duchamps New Yorker Ateliers eingesetzten Readymades ähneln von ihrer Funktion her mehr als traditionellen Kunstwerken jenen Gegenständen, die die neuere Wissenschaftsgeschichte „epistemische Dinge" nennt. 39 Dabei handelt es sich um naturwissenschaftliche Experimentalsysteme oder in diese eingebundene Objekte, die vorhandenes Wissen nicht illustrieren oder symbolisieren, sondern um die sich das Wissen erst bemüht. Sie sind das Unbekannte, das Unklare, das Zweideutige, kurz: das, was man noch nicht weiß. Als Bestandteil eines Experiments geben sie noch unbekannte Antworten auf Fragen, die der Forscher selbst noch nicht klar formulieren kann. 40 Im Unterschied zu dem so definierten epistemischen Objekt gibt das ästhetische Experiment, wie es Duchamp praktiziert, jedoch keine Antworten auf Fragen, sondern vergegenständlicht das Fragen selbst. So waren etwa die Readymades Fahrrad-Rad und Flaschentrockner keine dreidimensionalen Veranschaulichungen vierdimensionaler Gleichungen. Darin unterschieden sie sich von den faszinierenden mathematischen Modellen, die vor dem 1. Weltkrieg im höheren mathematischen Unterricht populär waren. In einem Gespräch mit Arturo Schwarz hat Duchamp die Funktion der Readymades am Beispiel des Fahrrad-Rads präzise beschrieben: „The Bicycle wheel is my first Readymade, so much so that at first it wasn't even called a Readymade. It still had little to do with the idea of the Readymade. Rather, it had more to do with the idea of chance. In a way, it was simply letting things go by themselves and having a sort of creative atmosphere in a studio, an apartment where you live. Probably, to help your ideas come out ofyour head. [Hervorh. H . M.] To see that wheel turning was very soothing, very comforting, a sort of opening of avenues on other things than material life of everyday."41 Die Readymades waren weder Kunstwerke noch wissenschaftliche Demonstrationsobjekte, sondern ästhetische Versuchsobjekte, deren Funktion darin bestand, eine schöpferische Atmosphäre für eine spekulative Vorstellungskraft zu schaffen, deren Ergebnisse sorgfältig aufgeschrieben und aufbewahrt wurden. Sie vergegenständlichten nicht neues, experimentell gewonnenes Wissen, sondern Nichtwissen beziehungsweise die Relativität und Brüchigkeit der scheinbar so

38 Die Notizen in der Schachtel von 1914 (Aufl. 5 Ex.) waren fotografisch reproduziert worden. Die sogenannte Grüne Schachtel erschien 1934 im Selbstverlag Rrose Sélavy (320 Ex.). Zur sogenannten Weißen Schachtel von 1967 vgl. Anm. 29. 39 Hans-Jörg Rheinberger: Experimentalsysteme und epistemische Dinge, Göttingen 2001,24-25. 40 Vgl. ebd., 22. 41 Zit. nach Arturo Schwarz: The Complete Works ofMarcel Duchamp, New York21970,442.

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Eine andere Erziehung der Sinne

sicheren epistemischen Grundlagen des modernen, wissenschaftlich organisierten Lebens. 42 Mit der neuen künstlerischen Arbeitsweise änderte sich auch der Status des Ateliers. Das Maleratelier verwandelte sich aus einer Produktionsstätte von Gemälden in ein Wahrnehmungs- und Theorielabor, in dem Gedankenexperimente in empirische Anschauung übersetzt wurden. Der Wohn- und Arbeitsraum des Ateliers wurde nun selbst als reales ,Bild' begriffen, als gestalteter Raum im Sinne eines reflektierten künstlerischen Wahrnehmungsraums. Es ist offenkundig, daß es bei der Installation der Readymades in Duchamps New Yorker Ateliers auf spielerisch-humvorvolle Weise um Fragen der Schwerkraft und der Relativität des Raumes geht. Da es im Rahmen dieses Beitrags nicht möglich ist, detailliert auf die komplexen dimensions- und wahrnehmungstheoretischen Spekulationen einzugehen, die den in der Boîte-en-valise dokumentierten Rauminstallationen mit Readymades zugrunde liegen, soll im folgenden eine kurze Zusammenfassung genügen. 43 Aus der Normallage verrückte Alltagsgegenstände bevölkern einen Raum, dessen Koordinaten auf dem Kopf stehen. Statt an der Wand ist das Garderobenbrett am Fußboden aufgehängt, ein Kleiderhaken hat sich von der Wand und eine Schneeschaufel vom Fußboden gelöst, sie hängen buchstäblich in der Luft. Selbst das Pissoirbecken Fountain hat hier eine andere Funktion als auf der hundertfach reproduzierten Illustration in der Zeitschrift The Blindman, wo es auf einem Sockel lag.44 In Duchamps Atelier schwebt es in einem Türdurchgang. Die um 1910 in der Pariser Avantgarde viel diskutierte nicht-Euklidische Geometrie hatte nicht nur das Euklidische Dogma der drei Raumachsen erschüttert, sondern ebenso die Vorstellung eines absoluten Raums mit festgelegten Richtungen. Der große Mathematiker Henri Poincaré, aus dessen Abhandlungen Wissenschaft und Hypothese (1902), Der Wen der Wissenschaft (1905) und Wissenschaft und Methode (1908) Duchamp sein Wissen über die moderne geometrische Raumtheorie hauptsächlich schöpfte, hatte dargelegt, daß es für einen Beobachter, der sich in einem bewegten System befindet, unmöglich ist, zu sagen, wo sich oben und unten, links und rechts befinden. Duchamp integrierte dieses Theorem in seine Überlegungen zur Wahrnehmung in einem vierdimensionalen Raumkontinuum. „Dans l'étendue 4 , le vertical et l'horizontal perdent leur sens fondamental (de base)" notierte er sich, „(de même que l'être plat2

42 Die Präsenz des Nichtwissens in der modernen Wissenschaftskultur hat seit einiger Zeit zunehmend auch das Interesse der Philosophen geweckt. Vgl. Wolfram Hogrebe: Echo des Nichtwissens, Berlin 2005. 43 Siehe dazu ausführlicher Moiderings 1987 (wie Anm. 34), 215 - 2 1 9 u. iMolderings 2004 (wie Anm. 3). 44 Vgl. Camfield 1989 (wie Anm. 14), 12.

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Herbert Moiderings

ignore si le plan qui le supporte est horizontal ou vertical)".45 Folgerichtig drehte er in einem visuellen Experiment den Raum seines New Yorker Ateliers um 90 Grad, indem er das Garderobenbrett statt an der Wand am Fußboden aufhängte (Tr¿buchet) (Tafel VI).46 Der von der Wand gelöste und in die entgegengesetzte Raumrichtung zu Trébuchet unter die Zimmerdecke versetzte ThonetKleiderhaken vertauscht oben und unten, das Richtungschaos verstärken das unter dem Türdurchgang schwebende Pissoirbecken und die von der Decke herabhängende Schneeschaufel, wobei letztere zugleich die einzig stabile Achse, geradezu ein Lot in diesem aus den Fugen geratenen Raum darstellt (Abb. 3 u. 4). In der Abhandlung Der Weit der Wissenschaft hatte Poincaré dargelegt, daß die Geometrie keine empirische Wissenschaft ist, die Erfahrung daher nicht beweisen kann, daß der Raum drei Dimensionen hat. „Sie beweist uns nur, daß es bequem ist, ihm drei zuzuschreiben [...] damit er ebensoviel habe wie der Raum der Vorstellung".47 Würde man die Reihen der Muskelempfindungen des Gesichts-, Tast- und Bewegungssinns in vier statt in drei Klassen einteilen, würden sich die räumlichen Erfahrungstatsachen ebensogut durch ein vierdimensionales Raummodell erklären lassen.48 Zum Verständnis dieser These beschreibt Poincaré ein Gedankenexperiment, das Duchamps visuelles Experiment mit einem in alle Richtungen beweglichen Raum inspiriert zu haben scheint. „Ich nehme an, ich sei in einem Zimmer eingeschlossen zwischen den sechs unüberschreitbaren Mauern, den vier Seitenwänden, der Decke und dem Fußboden; es ist mir unmöglich herauszukommen oder mir auszudenken, daß ich herauskäme. Könnte man sich denn nicht denken, daß die Tür sich öffne oder daß zwei Wände verschwänden? Selbstverständlich wird man antworten, muß man voraussetzen, daß die Wände unbeweglich bleiben. - Jawohl, aber ich habe doch das Recht, mich zu bewegen; und dann werden die Scheidewände, die wir uns in absoluter Ruhe denken, in Beziehung auf mich in Bewegung sein. - Gewiß, aber eine derartige relative Bewegung kann keine beliebige sein; wenn die Gegenstände in Ruhe sind, so ist ihre auf beliebige Achsen bezogene Bewegung die eines festen, unveränderlichen Körpers, aber die scheinbaren Bewegungen, die ihr euch ausdenkt, entsprechen nicht dem Gesetz der Bewegungen eines unveränderlichen starren Körpers. - Ja, aber nur die Erfahrung hat uns die Bewegungsgesetze eines unveränderlichen starren Körpers gelehrt, nichts würde uns hindern, uns auszudenken, das sie anders wären. Kurz, um mir einzubilden,

45 Duchamp du signe, (wie Anin. 31), 127. 46 Zum Titel vgl. Moiderings 1987 (wie Anm. 24), 42; Marcel Duchamp/Vitali Halberstadt: L'opposition et les cases conjuguées sont réconciliées, Paris/Brüssel 1932, 9; Ernst Strouhal: Duchamps Spiel, Wien 1994, 71-72. 47 Henri Poincaré: Der Wert der Wissenschaft, Leipzig/Berlin Ί 9 2 1 , 9Î. 48 Ebd., 99.

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Eine andere Erziehung der Sinne

daß ich aus meinem Gefängnis herauskäme, brauche ich mir nur einzubilden, daß die Wände zu verschwinden scheinen, wenn ich mich bewege".4'' Während das von Poincaré erdachte Experiment nur in der Vorstellung existiert, ist Duchamps Versuch ein empirisch-ästhetisches Experiment. Dadurch daß er erkannte, daß der theoretischen Festlegung der sechs Seiten eines Kubus in der alltäglichen Wahrnehmung deren Definition durch die Möblierung entspricht, war er in der Lage, Poincarés Gedankenexperiment, das in der Praxis nicht machbar ist, in Empirie zu überführen.'" Er transformierte seine Atelierwohnung in eine Art Versuchsraum, in dem die Wände zwar nicht verschwinden, aber durch die deplazierten Gegenstände ihre Richtungsdefinitionen als Seitenwände, Fußboden und Zimmerdecke verlieren. Selbst für diese Operation konnte Duchamp auf Anregungen des berühmten Mathematikers zurückgreifen. Woher kommt es eigentlich, daß wir dem Raum Richtungen beimessen? „Der Raum selbst ist tatsächlich gestaltlos, und nur die Dinge in ihm geben ihm eine Gestalt", war bei Poincaré zu lesen. „Wir könnten den Raum ohne Anwendung eines Meßinstrumentes nicht konstruieren; dies Instrument nun, auf das wir alles beziehen und dessen wir uns instinktiv bedienen, ist unser eigener Körper. Nur in bezug auf unseren Körper beurteilen wir die Lage der Gegenstände außer uns, und die einzigen räumlichen Beziehungen, die wir uns vorstellen können, sind ihre Beziehungen zu unserem Körper. Der letztere dient uns sozusagen als System von Koordinatenachsen". 1 ' Wie eine Randnotiz zu dieser Feststellung liest sich Duchamps Überlegung in der Weißen Schachtel·. „Gravité et centre de gravité font horizontal et vertical dans espace'. [...] La gravité n'est pas commandée physiquemment en nous par un des 5 sens ordinaires. Nous ramenons toujours une expérience de gravité à une autoconstatation imaginée ou réelle perçue intérieurement vers l'estomac". 5: Da Poincaré zufolge das dreidimensionale geometrische Raummodell letztlich auf einer gedanklichen Synthese von Körperempfindungen beruht, kann dieses nur das Ergebnis der Gewohnheit sein. „Wenn die Erziehung unserer Sinne sich in anderer Umgebung vollzogen hätte, wo wir anderen Eindrücken unterworfen wären, so würden sich ohne Zweifel ganz entgegengesetzte Gewohnheiten ausgebildet haben, und unsere Muskelempfindungen würden sich nach anderen Gesetzen [etwa denen der vierdimensionalen Geometrie, H. M.] assoziiert haben"/ ' Es

49 Ebd., 9 9 - 1 0 0 . 50 Zum Begriff des Gedankenexperiments in den Naturwissenschaften vgl. Roy Sorensen: T h o u g h t Experiments, N e w York 1992; James Robert Brown: T h e Laboratori,· of the .Mind, London 1991; W o l f g a n g Kienzier: W a s ist ein Gedankenexperiment?, in: Günter Abel (Hrsg.), Kreativität, XX. Deutscher Kongress für Philosophie, Berlin 2005, Bd. 1, 4 4 7 - 4 5 5 . 51 Henri Poincaré: Wissenschaft und .Methode, Leipzig/Berlin 1914, 87. 52 Duchamp du signe (wie Anm. 31), 123. 53 Henri Poincaré: Wissenschaft und Hypothese, Leipzig Ί 9 1 4 , 58.

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Herbert Moiderings

ist, als habe Duchamp diese andere Erziehung der Sinne auf spielerisch-humorvolle Weise provozieren wollen, als er sich und die Besucherinnen seines Ateliers buchstäblich ver-rückten Gegenständen aussetzte, die völlig neue Raumerfahrungen und Objektbeziehungen simulierten. Die durch die Readymades bewerkstelligten Achsen-Verrückungen in seiner Atelierwohnung hatten den Sinn, der Imagination auf die Sprünge zu verhelfen, einer Imagination, bei der es seit 1913 in erster Linie um die Vorstellung eines Abwesenden ging: um die Vorstellung einer unsichtbaren vierten Dimension, die sich den Grundsätzen der Mathematiker zufolge der Représentation' entziehen muß, da jede Vorstellung stets auf dreidimensional beschränkte Sinnesanschauungen zurückgeht. Sie dienten dazu, in Duchamps Lebens- und Arbeitsraum eine „kreative Atmosphäre" zu schaffen 54 , um Raum, überhaupt Wirklichkeit anders zu denken: Undefiniert, beweglich und offen. Die damaligen Besucherinnen seines Ateliers haben, wie aus ihren Erinnerungen hervorgeht, die theoretische Tragweite des Duchamp'schen Raumexperiments in keiner Weise erfaßt. Sie konnten nur ahnen, daß sich in dem, was ihnen als „Chaos" und nutzlos herumliegende Gegenstände entgegentrat, eine neue ästhetische Denkweise herausbildete. Diese Ästhetik, in der nicht die Objekte, sondern der Raum, das Ambiente beziehungsweise das Experiment, die paradigmatische Handlung das ,Kunstwerk' waren, ist erst in den raumrelationalen Kunstformen der Installationen und Interventionen seit den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts wiederentdeckt und weiterentwickelt worden. Bildnacbweis: Abb. 1: Paris, Privatsammlung; Tafel VT: Schachtelim Koffer 1941; Abb. 2, 3, 4, 5: Archiv des Autors.

54

234

Vgl.Anm. 41.

Thomas Macho

Hitchcocks Bildmagie

Begriffe der Bildmagie Magisch sind viele Bilder.1 Sie ziehen das Auge des Betrachters an; sie bezaubern durch Licht und Schatten, verschwiegene Blicke, paradiesische oder düstere Landschaften. Sie faszinieren, ohne zu zwingen; ihre ,Magie' entspringt einer ästhetischen Qualität. Ganz anders verhält es sich mit Bildern, die als magische Instrumente eingesetzt werden. Was sie bezwecken, hängt nicht ab von ihrer Schönheit, sondern von den Regeln einer spezifischen Operation: Ηοτν to Do Things with Pictures. Ein Gorgoneion an der Stadtmauer, ein Kruzifix oder ein Augenamulett muß kein Kunstwerk sein, um gegen böse Geister oder Hexen zu wirken. Eine Effigies muß nicht durch herausragende Gestaltung oder täuschende Ähnlichkeit mit dem Verstorbenen beeindrucken, um bei der Bestattung eines Königs eingesetzt werden zu können. Schandbilder müssen nicht immer von bedeutenden Künstlern gemalt werden (wie 1478 Botticellis Fresken der Pazzi-Verschwörer am Bargello, dem Gerichtsgebäude von Florenz', um die Verfolgung und Hinrichtung der Straftäter anzudrohen oder zu bezeugen). Die rezeptionsästhetischen und operativen Begriffe der Bildmagie wurzeln allerdings in einer älteren Vorstellungswelt, die an die Möglichkeiten überraschender und unvorhersehbarer Aktivitäten der Bildwerke selbst glaubte. Bilder und Statuen konnten sich verwandeln, in sprechende, sehende, blutende, liebes- und bewegungsfähige Subjekte; manchmal kamen sie zum Abendessen (wie der steinerne Gast in Don Giovanni') oder sogar ins Hochzeitsbett (wie Prosper Mérimées Venus von lile). Dabei übermitteln die Erzählungen aus der Romantik 1 Zum Begriff der Bildmagie s. Gerhard Wolf: Bildmagie, in: Metzler Lexikon Kunstwissenschaft. Ideen, Methoden, Begriffe, hrsg. v. Ulrich Pfisterer, Stuttgart/Weimar 2003, 4 8 - 5 6 . 2 Vgl. Horst Bredekamp: Repräsentation und Bildmagie der Renaissance als Formproblem (Carl Friedrich von Siemens Stiftung Bd. 61), München 1995, 33-37. 3 Vgl. T h o m a s Macho: Steinerne Gäste. Vom Totenkult zum Theater, in: Hans Belting/ Dietmar Kamper/Martin Schulz (Hrsg.): Quel Corps? Eine Frage der Repräsentation, M ü n chen 2002, 5 3 - 6 5 .

235

Thomas Macho

nur ein schwaches Echo jener vielfältigen Wahrnehmungen, die während mehrerer Jahrtausende - von den altägyptischen Mundöffhungsritualen bis zum Kult der wundertätigen Madonnenstatuen im Spätmittelalter - geteilt werden konnten. Noch von Kaspar Hauser berichtete sein Lehrer Georg Friedrich Daumer: „Der Anblick von Kruzifixen in der Kirche machte ihm ein ungeheures Entsetzen. Er sagte: Man solle diese gequälten Menschen von den Kreuzen herunternehmen, und wollte sich nicht dadurch beruhigen lassen, daß man ihm bemerklich machte, es seien nur Bilder." 4 Das aufklärerische Argument Daumers, „es seien nur Bilder", ist im 20. Jahrhundert gründlicher widerlegt worden als der Glaube an Vampire oder Wahrsagerei - weniger in den bildenden Künsten selbst als vielmehr durch die zunehmenden Einsatzmöglichkeiten technischer Bilder. Die operative Funktionalität dieser neuen Bilder wird zwar nicht mehr ausdrücklich durch magische Zwecke definiert; doch trägt das komplexe Verhältnis zwischen bildgebenden Verfahren und impliziten Handlungsanweisungen - sei es im Krieg, in der Medizin oder in der Politik - zur Ausprägung eines ,technomagischen' Bewußtseins bei, das bereits Edmund Leach - in Culture and Communication (von 1976) - treffsicher charakterisiert hat.5 Dieses technomagische Bewußtsein verfestigt sich in täglichen Medientrainings; Bilder fungieren als Wahrheitsbeweise, als verkörperte Affekte, als Tools der Identifikation, als Diagnosen und Prognosen, Zeugnisse verschiedenster Erwartungen und Versprechen. Sie bezaubern und faszinieren, werden instrumentell genutzt - und scheinen dabei noch selbständig zu handeln: in Filmen, Computerspielen, virtuellen Welten und Warenhäusern, in biotechnologischer Forschung und ästhetischer Chirurgie, die Pygmalion längst antiquiert erscheinen lassen.

Hitchcocks Dinge Es wäre lächerlich und trivial, den Filmen Alfred Hitchcocks - einem bewunderungswürdigen Lebenswerk - jene Anziehungskraft zu attestieren, die auch als ästhetische Bildmagie bezeichnet werden könnte. Hitchcocks visuelle Kompetenz, sein Denken und Erzählen in Bildern, wurde bereits von ungezählten Filmkritikern, darunter auch von Regisseuren wie François Truffaut oder Peter Bogdanovich, in vielen Aspekten analysiert und kommentiert. 6 Manche Stand4 Zit. nach: P. J. Blumenthal: Kaspar Hausers Geschwister. Auf der Suche nach dem wilden Menschen, München 2005, 200. 5 Vgl. Edmund Leach: Kultur und Kommunikation. Zur Logik symbolischer Zusammenhänge, Frankfurt a. M. 1978, 43-44. 6 Vgl. François Truffaut: Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht?, hrsg. v. Robert Fischer, München 2003; Peter Bogdanovich: Alfred Hitchcock - Ein Synonym für „Suspense", in: ders. (Hrsg.), Wer hat denn den gedreht? Gespräche mit Robert Aldrich u.a., Zürich 2000, 571-684.

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Hitchcocks Bildmagie

fotos aus Psycho oder The Birds haben sich darüber hinaus geradezu ins Bildgedächtnis des 20. Jahrhunderts eingebrannt: als Ikonen eines Entsetzens, das Hitchcocks Publikum mit seinen Heldinnen (wie Janet Leigh oder Tippi Hedren) teilte.' Die Nachhaltigkeit bestimmter Bilder Hitchcocks - die in keinem der zahlreichen Remakes (zuletzt etwa in Gus van Sants Psycho von 1998) wieder erreicht wurde - kann auf die strategische Einbeziehung des Publikums zurückgeführt werden. In seiner Kino-Theorie hat Gilles Deleuze diesen Gesichtspunkt besonders betont und Hitchcock als den Pionier vorgestellt, „der die Entstehung eines Films nicht mehr nur als Funktion zweier Glieder - des Regisseurs und des entstehenden Films - betrachtet, sondern in Abhängigkeit von drei Faktoren: des Regisseurs, des Films und des Publikums, das den Film sehen muß und dessen Reaktionen zum integralen Bestandteil des Films werden (das ist die explizite Bedeutung des suspense, denn der Zuschauer ,weiß' als erster über die Beziehungen Bescheid)." 8 Hitchcock habe also - nach dem Affekt- und dem Aktionsbild - das „mentale Bild" in den Film eingeführt; eben diese Innovation habe auch die präzisen Entwürfe und Skizzen der Bildfelder erzwungen (die Deleuze mit den Texturen eines Gewebes, im Gegensatz zu Gemälden oder Bühnenbildern, vergleicht). In den „mentalen" Bildfeldern Hitchcocks sind es oft konkrete Gegenstände, die ins Zentrum der visuellen Narrationen rücken: „Träger verschiedener Relationen oder verschiedener Variationen einer Relation einer Person zu anderen oder zu sich selbst". 9 Diese Dinge können als Unterbrechungen („Demarkierungen" nach Deleuze) oder Verdichtungen erscheinen; häufig sind sie die eigentlichen „Akteure" der Handlung: ein Armreif in The Ring, eine Filmdose in Sabotage, ein Glas Milch in Suspicion, ein Ring in Shadow of a Doubt, ein Schlüssel in Notorious (oder später in Dial M for Murder), ein Seil in Rope, ein Feuerzeug in Strangers on a Train, eine Halskette in Vertigo, eine Packung Streichhölzer in North by North-west, eine silberne Krawattennadel in Frenzy. Diese Dinge wechseln manchmal ihre Besitzer; gelegentlich treten sie als personalisierte Gegenstände auf, die durch Buchstaben oder Monogramme nicht nur auf einstige oder neue Eigentümer verweisen, sondern auch auf sich selbst.

7 Solche Einstellungen wurden stets sorgfältig geplant; Hitchcock behauptete gern, er könne den vollständigen Film - wie einstmals Mozart seine Partituren - bereits zu Drehbeginn vor seinem inneren Auge sehen. Die einzelnen Szenen und Schnitte wurden in detailreichen Storyboards vorgezeichnet; nicht zufällig hatte Hitchcock 1920 als Zeichner im Londoner Filmstudio von Famous Players-Lasky seine Karriere angetreten. 8 Gilles Deleuze: Das Bewegungs-Bild. Kino 1, Frankfurt a . M . 1989, 270. 9 Ebd., 273.

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T h o m a s Macho

Bild des Rivalen Hitchcocks Dinge - von denen Siegfried Rracauer sagte, daß sie „trächtig sind mit äußerem sowohl wie innerem Leben" 10 - beugen sich keinem gewohnten Deutungsschema; ihr Status kann nicht einfach aus der Semiotik oder der Psychoanalyse abgeleitet werden." Denn diese Dinge sind keine schlichten Symbole: Gerade wenn sie in minutiös vorbereiteten Bildausschnitten erscheinen, womöglich in Großaufnahmen nach langsamer Kamerafahrt, verweisen sie zunächst auf ihre eigene Präsenz - und nicht auf eine symbolische Repräsentation. Das Feuerzeug mit den gekreuzten Tennisschlägern, das Brunos Hand im Sterben preisgibt (am Ende von Strangers on a Train), illustriert oder symbolisiert nicht die Geschichte der getauschten Morde; es ist vielmehr in einem elementaren Sinn diese Geschichte selbst, von der man nicht weiß, ob sie überhaupt geschehen wäre, wenn Guy nicht zu Beginn das Feuerzeug in Brunos Zugabteil liegengelassen hätte. Ahnlich triumphal schwebt der Smaragdring an Charlies Finger (in Shadow of a Doubt) die Treppe hinab, als würde er selbst die Abreise des Onkels und Witwenmörders fordern. Die magische Präsenz der Dinge läßt das Publikum übersehen, daß die Dinge bloß als Bilder sichtbar werden; dieser Effekt der Erzeugung „mentaler" Bilder wird noch verstärkt, sobald die Bilder selbst - als materielle Dinge und Akteure - eingreifen. Ein solches Bild spielt eine interessante Rolle in The Ring, einem Stummfilm Hitchcocks aus dem Jahr 1927. Der Film schildert eine Dreiecksbeziehung zwischen zwei Boxern und dem Mädchen Nelly. Mit dem Jahrmarktsboxer One Round Jack ist sie verlobt, doch wirbt bald der erfolgreichere Boxchampion Bob um sie. Die Dynamik der Konflikte zwischen Jack und Bob wird begleitet und gesteigert durch den Ring, in dem die Boxer kämpfen, und durch einen Schmuckring - einen Armreif in Schlangenform - , den Bob dem Mädchen schenkt. Nachdem Jack (mit mäßigem Erfolg) versucht hat, den Schlangenreif in einen Ehering umzufunktionieren, verschärft sich die Krise des verlobten Paars an einer Fotografie des Rivalen; diese Fotografie wird aber nicht als flaches Bild, sondern als konkreter, materieller Gegenstand (mit Rahmen und Ständer) ins Spiel gebracht. Jack hat den letzten Boxkampf gewonnen; er will in seiner Wohnung feiern, die Champagnergläser sind gefüllt. Doch sein Mädchen kommt nicht. Er wartet, blickt aus dem Fenster und sieht von oben, wie Nelly aus einem Auto steigt und sich mit einem Kuß vom Fahrer - offenbar seinem Konkurrenten Bob verabschiedet. Großaufnahme des Gesichts. Jack wendet langsam den Kopf,

10 Siegfried Rracauer: Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit (Schriften Bd. 3), hrsg. v. Karsten Witte, Frankfurt a. M . 1973, 362. 11 Vgl. Mladen Dolar: Hitchcocks Objekte. In: Slavoj Zizek u. a. (Hrsg.), Ein Triumph des Blicks über das Auge. Psychoanalyse bei Hitchcock, Wien 2 1998, 2 7 - 4 3 .

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Hitchcocks Bildmagie

Ahl). 1: Alfred I ïitchcock, The Ring ( 1927)

sein Blick trifft die gerahmte Fotografie, die plötzlich umfällt. X e l l v schließt die T ü r auf, betritt - gehüllt in einen teuren Pelzmantel - das Zimmer. Ein kurzer, frostiger Dialog: Danach erblickt sie die liegende Fotografie, geht hin und stellt sie auf, dreht das Gesicht Bobs in ihre Richtung. Jack interveniert und dreht das Foto weg von ihr, so daß die Zuschauer Bobs Portrait sehen können. Danach ergreift er das Bild, hebt es hoch, sieht Bob in die Augen und wirft die Fotografie in eine Ecke. Ein heftiger Streit beginnt, in dessen Verlauf Jack den linken Träger ihres Kleids herunterreißt, worauf Xellv die Fotografie Bobs - wie einen Schild - vor ihre halb entblößte Brust hält und das Zimmer zornig verläßt.

Lebende Bilder Hitchcock hat die Fotografie Bobs - mit Hilfe von Beleuchtungseffekten - so inszeniert, daß das Bild gelegentlich lebendig zu werden scheint: und zwar als ein hell strahlendes Ding. Das Bild beginnt zu leuchten, nachdem es wie von selbst umgefallen ist, später glänzt es noch einmal auf, als Xellv es vor ihren Oberkörper hält und das Dreieck zwischen ihr selbst, Jack und Bob - diesem apotropäisch aufgeladenen Bildkörper - aktiviert (Abb. 1). Gerade durch die magische P a r t e i n a h m e ' des Bildes wird die Konfrontation zugespitzt und verdichtet. In einer ähnlichen Dreiecksszene zwischen zwei Personen und einem Porträtbild kulminiert auch der Film Rebecca aus dem J a h r 1940. Joan Fontaine spielt in diesem Film eine junge Gesellschafterin, die den Lord M a x i m de W i n ter (Laurence Olivier) heiratet; der Lord wird allerdings von den Erinnerungen an seine tote erste Frau Rebecca gequält, die in Schloß Alanderlev nicht nur 239

Thomas Macho

Ί Abb. 2: Alfred Hitchcock, Rebecca

(1940)

durch zahlreiche Dinge (zumeist mit persönlichen M o n o g r a m m e n ) präsent gebliehen ist, sondern auch durch die Plaushälterin, M r s . Danvers. Diese Haushälterin setzt die junge Ehefrau - die sie als Nachfolgerin Rebeccas ablehnt - heftig unter Druck. Sie erzwingt eine Reihe scheiternder Imitationsleistungen, bevor sie die neue M r s . de W i n t e r dazu verführen kann, Kleidung und Frisur einer angeblich entfernt verwandten Dame auf einem Ölbild in der Gemäldegalerie des Schlosses als Vorbild für einen Ballauftritt zu wählen. Zum Entsetzen ihres M a n n e s schreitet J o a n Fontaine - als Rebecca verkleidet, wie das Publikum bereits ahnt - die Treppe hinunter. Die Szene vor dieser folgenreichen Verwandlung, in der die Haushälterin mit M r s . de W i n t e r vor dem Ölgemälde Rebeccas steht, ist höchst suggestiv (Abb. 2); mit unauffälligen M i t teln wird hier eine gleichsam wiedergängerische Aktivität des Bildes angezeigt, das seine Verkörperung selbst anstrebt und ersehnt. W i e d e r ist es ein Porträt, das auf magische Weise zum Leben erwacht und Besitz ergreift von einer Person - hier jedoch ausdrücklich als Bildnis einer Toten, adressiert von der malignen Treue der Haushälterin und zugleich von der Suche der jungen Ehefrau nach einem repräsentativen Ballkleid (als Ausdruck ihrer gesellschaftlichen Rolle). Ganz anders verläuft dagegen eine ähnliche Dreiecksszene in Suspicion von 1941, mit Gary Grant und Joan Fontaine in den Hauptrollen. Der Film schil-

240

Hitchcocks Bildmagie

Ahl).

A l f r e d H i t c h c o c k , Suspicion

( 1Ή1 )

d e r t die a m b i v a l e n t e L i e b e s b e z i e h u n g · z w i s c h e n d e m l e b e n s l u s t i g e n

Dandv

J o h n n i e A v s g a r t h u n d e i n e r T o c h t e r a u s g u t e m H a u s e ; i m m e r w i e d e r fallen S c h a t t e n des V e r d a c h t s - v o m H e i r a t s s c h w i n d e l bis z u m M o r d - - a u f den M a n n . 1 X o c h im e r s t e n D r i t t e l des F i l m s k o m m e n C a r v Cirant u n d J o a n F o n t a i n e , nach d e m B e s u c h e i n e s J ä g e r b a l l s , zu ihr nach H a u s e ; die F.ltern sind a b w e s e n d . Im W o h n z i m m e r e n t s p i n n t sich ein a m ü s a n t e r Flirt, d e r d a r i n g i p f e l t , d a ß C a r v Cirant m i t d e m P o r t r a i t des V a t e r s , das ü b e r d e m K a m i n h ä n g t , zu s p r e c h e n b e g i n n t . Z u n ä c h s t forciert er das Bild auf, die j u n g e F r a u zu w a r n e n , d e n n er sei n i c h t d e r r i c h t i g e M a n n für sie; er t r a g t sie: „ H ö r s t du i h n ? " , u n d sie a n t w o r t e t : , J e d e s e i n z e l n e W o r t " . D a n a c h hält e r f o r m e l l u m i h r e 1 f a n d an; s e i n e n a b s c h l i e ß e n d e n S a t z : „ G e n e r a l , ich e r w a r t e Ihre A n t w o r t " , q u i t t i e r t das Bild, i n d e m es von d e r W a n d fällt (Abb. 3).

12

Der S c h l u ß des Films m u ß t e g e ä n d e r t w e r d e n , um tías S t a r i m a g e C a r v Cirants nicht zu

b e s c h ä d i g e n . V g l . T r u f f a n t 2003 ( w i e Anni. 5). 1 3 1 - 1 3 2 .

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Thomas Macho

Schwindel Die Komik dieser Szene wird jedoch von den folgenden Ereignissen - ebenso rasch wie das kurzfristig aktive Bild - in den Hintergrund gedrängt; Suspicion bleibt ein Film, dessen vitaler Witz die Hollywood-Zensur überforderte. Hitchcock wurde zunehmend als Experte für thrill und suspense propagiert, nicht als Meister des schwarzen Humors: was um so bedauerlicher ist, als mit dieser Festlegung ein wesentliches Qualitätsmerkmal seiner englischen Filme nur am Rande der amerikanischen Produktionen überleben konnte. Einzige Ausnahme: The Trouble with Harry, diese wunderbare (wenngleich kommerziell nicht sehr erfolgreiche) black comedy von 1955. Auch in diesem Film geht es um das Leben der Bilder, und zwar in Bezug auf einen mysteriösen Toten, der plötzlich auf der Wiese liegt und die Idylle eines kleinen Dorfes trübt. In signifikanter Vorwegnahme der Pointe von Antonionis Blow up (1966) zeigt Hitchcock den Maler Sam Marlowe, der ein Landschaftsbild zeichnet - und erst beim Studium dieses Bildes bemerkt, daß er etwas gezeichnet hat, was nicht zur Landschaft gehört: nämlich die Füße eines Toten. Marlowe wird also von seinem Bild dazu gebracht, die Leiche in näheren Augenschein zu nehmen; spontan malt er ein Portrait des toten Gesichts, als wäre es die natürlichste Reaktion auf die überraschende Konfrontation mit einem Gestorbenen. Und während er im weiteren Verlauf des Films mehrfach dabei mithelfen muß, den Toten zu begraben und wieder auszugraben, wird auch das Bild übermalt - und zeigt abwechselnd ein Gesicht mit offenen oder geschlossenen Augen. Was verbindet das Bild mit dem Toten? Ist es bloß ein Zeugnis, eine Spur? Oder doch ein magisches Medium seiner möglichen Wiederkehr? In The Trouble with II any hat Hitchcock diese Fragen mit einer gewissen Leichtigkeit traktiert; drei Jahre später hat er sie ins Zentrum eines seiner bedeutendsten Filme gerückt. Vertigo ist Hitchcocks summarischer, ebenso großartiger wie verwirrender Kommentar zur Bildmagie. Auch dieser Film befaßt sich mit einem Portraitbild, das in einer Gemäldegalerie - im Palace of the Legion of Honor in San Francisco - hängt. Dieses Museum existiert tatsächlich; das Bild aber wurde von John Ferren eigens fur den Film gemalt (Abb. 4).13 Der Plot des Films (nach einem Roman von Pierre Boileau und Thomas Narcejac 14 ) ist überaus kompliziert. Eine schauspielerisch begabte junge Frau namens Judy, gespielt von Kim Novak, wird engagiert, um die Rolle einer Ehefrau (Madeleine) zu verkörpern, die dem Bann ihrer toten Urgroßmutter Carlotta Valdes - der Dame auf dem Portraitbild, die sich vor vielen Jahren umgebracht hat - erliegt. Sie imitiert zunehmend das Bild, trägt dieselbe Halskette, 13 Vgl. Dan Auiler: Vertigo. The Making of a Hitchcock Classic, New York 2000, 83. 14 Vgl. Pierre Boileau/Thomas Narcejac: Aus dem Reich der Toten, Reinbek bei Hamburg 1985.

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Hitchcocks Bildmagie

Abb. 4: Alfred Hitchcock, látigo

(1958)

einen ä h n l i c h e n B l u m e n s t r a u ß , u n d b e g e h t zuletzt e b e n f a l l s S e l b s t m o r d . Erf o l g r e i c h v e r t u s c h t w i r d in d i e s e m Spiel die E r m o r d u n g der tatsächlichen, im F i l m g a r n i c h t a u f t r e t e n d e n E h e f r a u . E r z ä h l t w i r d die G e s c h i c h t e aus der P e r s pektive e i n e s p e n s i o n i e r t e n P o l i z e i b e a m t e n , gespielt von J a m e s S t e w a r t , der u n t e r H ö h e n a n g s t leidet, w e s h a l b er d e n i n s z e n i e r t e n S e l b s t m o r d .Madeleines - den S p r u n g v o m K i r c h t u r m e i n e r k l e i n e n M i s s i o n s s t a t i o n - nicht v e r h i n d e r n kann. D e r M o r d p l a n sah a l l e r d i n g s nicht vor, daß sich der e h e m a l i g e Polizist und die S c h a u s p i e l e r i n i n e i n a n d e r v e r l i e b e n ; u n g e p l a n t w a r auch, daß sie e i n a n der nach d e m V e r b r e c h e n w i e d e r b e g e g n e n .

Mother D i e W i e d e r b e g e g n u n g zw ischen J u d v und d e m Polizisten p r ä g t die D y n a m i k und den suspense

d e r z w e i t e n F i l m h ä l f t e , die g e r a d e z u wie ein S p i e g e l b i l d der

ersten H ä l f t e i n s z e n i e r t ist. F r ü h e r als der m ä n n l i c h e H e l d w e i ß das P u b l i k u m , daß J u d v identisch ist m i t der s c h e i n b a r vom K i r c h t u r m g e s p r u n g e n e n .Madeleine aus d e m ersten Teil - u n d v e r f o l g t m i t z u n e h m e n d e r S p a n n u n g die allm ä h l i c h e R ü c k v e r w a n d l u n g J u d y s in die v e r l o r e n e G e l i e b t e . D i e m i t m a n i s c h e r E n e r g i e forcierte T r a n s f o r m a t i o n e r r e i c h t ihren H ö h e p u n k t , als die S c h a u s p i e lerin - e n d l i c h i m r i c h t i g e n K o s t ü m und m i t der e r w ü n s c h t e n F r i s u r - den R a u m betritt, u m s p i e l t von g r ü n e m N e o n l i c h t , das i h r e W i e d e r k e h r aus d e m T o t e n r e i c h a n n o n c i e r t . Als m o d e r n e r P y g m a l i o n t r i u m p h i e r t der Polizist in d i e s e m .Moment, doch v e r s a g t er als O r p h e u s , d e n n i h r e H a l s k e t t e kann er nicht ü b e r s e h e n . Das Bild ( J u d v ) von e i n e m Bild ( M a d e l e i n e ) von e i n e m Bild ( C a r l o t ta), das z w e i m a l auf e i n e Tote v e r w e i s t (zuerst auf C a r l o t t a , danach auf M a d e -

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Thomas Macho

leine), wird als Simulation durchschaut, die bald danach mit einem zweiten tödlichen Sturz vom Kirchturm endet. Bekanntlich spielt der Film - vor allem im Vorspann und im Traum des Polizisten, der als Zäsur zwischen den beiden Filmhälften fungiert - mit den technischen Rahmenbedingungen des Farbbilds, dem Wechsel zwischen den Anteilen roter, grüner und blauer Farbe.15 Selbstreferentiell ist der Film vermutlich auch, insofern er die Anstrengungen Hitchcocks widerspiegelt, seine Schauspielerinnen nach einem bestimmten Idealbild zu formen. 16 Doch daraufkommt es hier nicht an. Die eigentliche Botschaft von Vertigo ergibt sich nicht aus den Selbstreferenzen, sondern aus der Aufklärung einer zyklischen Kette bildmagischer Verweise: Die Tote, die zum Bild wird (als Carlotta), eine Tote erzeugt (Madeleine), die wieder zum Bild wird (Judy) und zum Schluß neuerlich eine Tote hervorbringt (Judy), camoufliert einen zweifachen Mord. Just diesen ernüchternden Kommentar zur Bildmagie hat Hitchcock - zwei Jahre später - in Psycho erneuert: Der Mord an der Mutter generiert ein Bild (die ausgestopfte Leiche), das mehrere Morde ausführt und sich zum Ende wieder als Bild (Norman Bates als Mutter mit überblendetem Totenkopf) manifestiert. Vielleicht war die Mutter in Psycho Hitchcocks mächtigstes Bild: ein Bild, das daran erinnert, wie jedes Sterben ein ,Bild' - die Leiche - zurückläßt. 17 Am Set wurde für ,Mother' gern ein zusätzliches Gedeck aufgetragen; und auch Anthony Perkins erinnerte sich an die reale Dominanz der Mutter bei den Dreharbeiten zu Psycho·. „The crew always referred to Mother and Norman as totally separate people. Mother always has her own ,backstage' persona, as it were. It's not just [acknowledged] that Norman is Mother. It's just not how people want so see it - neither audiences, nor the people who work on the crew."18 Erst die materielle Wirklichkeit der Mutter ermöglicht ihre ,Auferstehung': zunächst im flakkernden Widerschein der durch den Kellerraum schwingenden Glühbirne, danach im Kopf des mörderischen Sohns. Die elementarste Bildmagie, soviel demonstriert Hitchcock, geht von den Toten aus - doch von den Toten, die zuvor ermordet wurden. Bestand nicht darin auch das wesentliche Geheimnis blutender Christus-Ikonen, wundertätiger Märtyrerbilder oder gar der Fresken Botticellis am Bargello von Florenz? Bildnachweis: Abb. 1: Archiv des Autors; Abb. 2: Eurovideo; Abb. 3: Kinowelt; Abb. 4: Universal Pictures.

15 Vgl. Susanne Marschall: Farbe im Kino, Marburg 2005, 140-166. 16 Vgl. Truffaut 2003 (wie Anm. 5), 242: „Ich bin zu Miss Novak in die Garderobe gegangen und habe ihr erklärt, was für Kleider und Frisuren sie tragen würde". 17 Vgl. Hans Belting: Bild-Anthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft, München 2001, 145. 18 Stephen Rebello: Alfred Hitchcock and the Making of Psycho, New York 1990, 113.

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Brustbild eines Mannes im Profil nach links mit wildem Aussehen. Feder, 130 χ 130 mm beschnitten

Der Mann von Jüterbog Mechanische Klangskulptur, 1996 Stephan von Huene Text und Sprecher: Reinhard Lettau

Transformationen

Berthold Hinz

Orestes im Mittelalter Motive mythologischer Sarkophage in romanischer Skulptur

Die notorische Antikenferne des Mittelalters, die nicht zuletzt durch die Schöpfung von Begriff und Sache der Renaissance (zu ergänzen: der Antike) postuliert wurde, ist bereits vor längerer Zeit ,ins Gerede' gekommen. Daß dabei die Renaissance einen Dämpfer erhielt, ihr Monopol verlor und sich sogar in den Plural versetzen lassen mußte, war unvermeidlich. 1 Als hilfreich für einen Blick aufs Mittelalter, der es anstatt auf dessen Ferne zum Altertum auf dessen Nähe, ja die Nachbarschaft mit diesem abgesehen hat, erwies sich eine Definition der Renaissance, die diese von der Erscheinungsweise der Phänomene mehr oder minder unabhängig machte, indem sie das Epochenbewußtsein der Beteiligten anstelle der Realien und Artefakte zum Alaßstab nahm. : Dieser Überlegung Panofskys zufolge empfand man ,irgendwann' die eigene Entfernung von der Antike als subjektiv unüberbrückbare Distanz, was den Weg frei machte zu einem neuen Selbstverständnis, das sich jetzt als Zeitalter der Renaissance verstehen und einem gleichsam archäologischen Rückgriff verschreiben konnte. Jetzt wurden auch die Realien, mit ihnen die Kunstwerke, frei von der Teleologie, durch die sie bislang gegebenenfalls automatisch dem Renaissance-,Curriculum' einverleibt waren, und können in ihrer je eigenen Verfaßtheit beurteilt werden. Der so gewonnene Begriff der Distanz impliziert und macht zugleich darauf aufmerksam, daß, wo sie nicht waltet, der Mangel an ihr, also Distanzlosigkeit regiere, und das wäre dann mehr oder minder im gesamten christlichen Mittelalter der Fall gewesen, dem die heidnische Antike einerseits nahe, andererseits weitgehend entfremdet war, während sie uns seit der Renaissance sehr weit entfernt, aber umso vertrauter ist. Diese Überlegung könnte uns eine weitere heuristisch-methodische T ü r zur mittelalterlichen Antikenrezeption öffnen: Wie wenn wir jene fürs Mittelalter konstatierte defizitäre Distanz ernst nähmen, um 1

Titel und Tenor von Erwin Panofsky: Renaissance and Renascences in Western Art,

Stockholm 1960. 2

Ebd.

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Berthold Hinz

sie als ein den Künsten und Kunstwerken gleichsam ureigenes Guthaben zu erkennen und zu verbuchen? Die Erscheinungsformen mangelnder Distanz zum antiken Erbe, bedrängende Nähe und mentale Ferne, reichen von Fällen, wie der kollektiven Steinigung einer Venus-Statue in Trier, eine ,Rezeption', die in ihrer totalen Distanzlosigkeit keinerlei Unterschied zum ,Leben' erkennen läßt 3 , bis hin zu scheinbar unbedenklich ,distanziertem' Kopieren antiker Bildwerke, wie im Falle der Genien mit gesenkten Fackeln am Dom zu Modena von der Hand des Wiligelmus. Wenn hier bevorzugt von Skulptur die Rede ist, liegt das an der dramatischen Vorgeschichte dieser einst hochbelasteten Materie, die sich von den Christen nicht zum neuen Glauben konvertieren ließ, - anders als die Malerei, die immerhin en miniature, in Form von Mosaik und Ikone gleichsam „dehydriert" (Adolph Goldschmidt) überdauerte, sowie auch die Architektur, der klassische Konversions-Fall. Skulptur, zumindest die ,Standbilder' waren ob ihrer künstlerisch simulierten Anthropomorphic und ,Lebendigkeit' in den Augen der frühen Christen von teuflischen Dämonen ,belebt' (weshalb man Steinigungen in Betracht ziehen konnte), galten als Idole, die nur durch ihren Sturz, die Zertrümmerung und Versenkung im Erdreich unschädlich zu machen waren. So kam es, daß die antiken Bildwerke, Götter- und Kaiserstatuen, gegen Ende des römischen Reichs vom Tageslicht verschwanden, während im Gegenzug fortan die Phantasie zum Thema der Statuen, ihrer Schönheit, Verfiihrungskraft und Verrachtheit in Hagiographien, Chroniken, Legenden und Traumberichten ins Kraut schoß. 4 Vor diesem Hintergrund ist die Wieder- und Auferstehung der Skulptur im 11. Jahrhundert, man nennt sie heute die ,romanische', durchaus als ein von Abwehrreflexen begleitetes Unterfangen zu sehen: Keinesfalls war es ein voraussetzungsloser Neubeginn, der gleichsam vom Himmel gefallen wäre, sondern vielmehr eine Reaktion: Ihre Voraussetzungen waren - nolens volens - die verabscheuten und doch faszinierenden Idole, zugleich der feste Wille, nicht neuerlich Idole zu schaffen. Mit diesem Zwiespalt hatte es die romanische Plastik über weite Strecken und langfristig zu tun, sowohl in Form einer generellen Kondition als erst recht, wenn es gelegentlich um die Verarbeitung ,leibhaftiger' antiker Vorbilder ging. Diese existierten materiell - hin und wieder - tatsächlich, am ehesten in Gestalt römischer Sarkophage, die wegen ihrer Wiederverwendbarkeit oft verschont worden waren, darunter auch solche mit figürlichen Reliefs. Lange be-

3 Berthold Hinz: Aphrodite. Geschichte einer abendländischen Passion, München 1998, 103-105. 4 Ausführlich dazu ebd., Kap. II.

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Orestes im Mittelalter

vor die Sarkophage im Camposanto von Pisa zu einer Schule der Künstler wurden, hatten Sarkophagreliefs ihre Spuren in mittelalterlichen Bildwerken hinterlassen. Ein besonders aussagefähiges Beispiel dafür ist die Erbschaft eines stadtrömischen Orestes-Sarkophags in der frühromanischen Bauplastik Nordspaniens, der Horst Bredekamp nachgegangen ist.' Hier war ein identifizierbarer und lokalisierbarer Sarkophag (aus dem Kloster Santa María de Husillos/' zum Ideengeber oder besser: zum Katalysator der bauplastischen Bildwelt des benachbarten Camino geworden, vor allem in Frómista und Jaca. Offenbar hatten es die schlangenschwingenden, den Muttermörder Orestes bedrängenden Erinyen dem mittelalterlichen Bildhauer eines Kapitells in Frómista angetan, die er, vermutlich ohne ihre Natur zu kennen, spontan als Dämonen - also artverwandte Wesen - deutete, gegen die der nackte Held als ein zweiter Adam nun breitbeinig mit dem Schwerte ficht, während eine namenlose bekleidete Hintergrundsfigur aus der antiken Mordszene (eine Dienerin) in eine nackte Eva verwandelt ist, die ihrem Gefährten konjugal in Schritt und Tritt und expressiver Choreographie zur Seite springt. Der nackte Heros, der er auch nach der Metamorphose zu Adam geblieben ist, verdankt seine neue christliche Existenz der Anfechtung, in die er als Mensch mit apriorischer Not gestellt ist und die nur in der Ko-Existenz mit höllischen Dämonen vorstellbar war. Dabei ist er aus der Sphäre der ,heidnischen' Tragik in die der christlichen Sünde gewechselt. Eine weitere christliche, wohl gleichfalls unwissentliche Orest-Rezeption sehen wir ein Jahrhundert später an der entgegengesetzten, östlichen Peripherie des Mittelmeers, ermöglicht durch die Ausdehnung des römischen Reichs und den meistens seriellen Charakter der kaiserzeitlichen Sarkophagindustrie. Hier in Nazareth, der Heimatstadt Jesu, haben sich aus ,fränkischer' Zeit fünf Kapitelle erhalten, die seit ihrer Entdeckung vor etwa 100 Jahren meist der französischen hochromanischen Plastik zugerechnet werden. 8 Sie waren be-

5 Horst Bredekamp: Freiheit als Prinzip. Die Skulptur; Vortrag auf der internationalen Tagung: Christliche Kunst im Umbruch. Hispaniens Norden im 11. Jahrhundert. Universität Göttingen u. Carl Justi-Vereinigung, Göttingen 2 7 . - 2 9 . 2 . 2 0 0 4 ; ders.: Ein Mißverständnis als schöpferischer Dialog. Bemerkungen zur Antikenrezeption in der Romanik, in: Kunstforum I I I , Januar/Februar 1 9 9 1 , 9 8 - 1 0 7 . 6 Vgl. Carl Robert: Die antiken Sarkophag-Reliefs, Bd. II, Berlin 1890, Nr. 157 (173 f.). Der Orestes-Sarkophag heute: Madrid, M u s e o Arqueológico Nacional; vgl. auch Ruth Bielfeldt: Orestes auf römischen Sarkophagen, München 2005, 335. 7 Diese Beziehung hat erkannt Serafín Moralejo Alvarez: Sobre la formación del estilo escultórico de Frómista y Jaca, in: Actas del XXIII Congreso Internacional de Historia del Arte. España entre el Mediterraneo y el Atlantico. Granada 1973, Granada 1976, Bd. I, 427—1-34. 8 November 1908 durch Pater Prosper Viaud vom Franziskaner-Konvent der Verkündigung in Nazareth; von ihm auch die Publikation: Nazareth et ses deux églises de l'Annonciation et de Saint-Joseph d'après les fouilles récentes, Paris 1910; ferner (Auswahl): Pietro Egidi:

Berthold Hinz

Abb. 1: Apostel-Kapitell, Nazareth, Verkündigungskirche, schematischer Grundriß mit den sechs Relieffeldern

stimmt f ü r die nach Saladins Eroberung 1 1 8 7 unfertig liegen gebliebene, 1 2 6 3 zerstörte Verkündigungskirche, waren wohl nie verbaut, sondern als weitgehend vollständige W e r k s t ü c k e v o r den M o s l e m s v e r b o r g e n w o r d e n . V i e r der f ü n f Kapitelle gleichen sich in F o r m und G r ö ß e , sind oktogonal im G r u n d r i ß mit je sechs nischenförmigen Ansichtsseiten, die zwei übrigen Seiten waren für den Verbund mit einem G e w ä n d e vorgesehen (Abb. I). 9 Die v o n Zierarkaden überfangenen, jedoch gegeneinander meist nicht abgetrennten N i -

I capitelli romanici di Nazaret, in: Dedalo 1, 1920/21, 761-776; Paul Deschamps: La sculpture française époque romane, Paris 1947, 136-142; Moshe Barasch: Crusader Figurai Sculpture in the Holy Land. 12th Century Examples from Acre, Nazareth and Belvoir Castle, Ramat Gan 1971, 67-182; Jaroslav Folda: The Nazareth Capitals and the Crusader Shrine of Annunciation, London 1986 (mit Diskussion der früheren Literatur); ders.: The Art of the Crusaders in the Holy Land 1098-1197, Cambrigde/Mass. 1995, 414-441; jüngst auch Jochen Staebel: Notre-Dame von Etampes. Die Stiftskirche des 11.-13. Jahrhunderts unter besonderer Berücksichtigung ihrer frühgotischen Bauskulptur, Worms 2003, 226-234, bes. 229. 9 J e ca. 42 cm hoch. Es sind Szenen aus der ösdichen (apokryphen) Apostelgeschichte dargestellt, von denen nur wenige mit Sicherheit zu identifzieren sind. Nach ihren jeweiligen Protagonisten benennt man die Kapitelle mit den Aposteln Petrus, Thomas, Jakobus Maior und Matthäus. Das größere 5. Kapitell (einer Halbsäule) mit nur einer Szene hat mutmaßlich eine mariologische Thematik. Auch die bauliche Bestimmung ist nicht gesichert. Folda 1986 (wie Anm. 8) macht sich stark für die Verwendung an einem Tabernakel („shrine") über der Verkündigungsgrotte, ähnlich der Santa Casa in Loreto.

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Orestes im Mittelalter

Abb. 2: Sog. Apostel-Matthäus-Kapitell. Nazareth, Verkündigungskirche

sehen bilden schmale Bühnen, die jeweils von einer oder zwei F i g u r e n in voller H ö h e besetzt sind. Diese agieren ü b e r w i e g e n d szenisch, oft in Beziehung mit einem benachbarten Bildfeld jenseits der stumpfen Kapitellecken. Das Relief der F i g u r e n erreicht bzw. übertrifft hier und da die Nischentiefe mit der Tendenz zur Vollskulptur, die gelegentlich in den Köpfen und Extremitäten erreicht wird. In stilistischer Hinsicht sieht man die Kenntnis der französischen Skulptur der ersten Hälfte des 12. J a h r h u n d e r t s en detail wie en gros, vor allem Burgunds und des Berry (etwa Moissac, Souillac, Autun, Yézeley, Saulieu, Charlieu, Plaimpied), ohne daß m a n sich auf eine bestimmte Provenienz festlegen möchte. D a r ü b e r hinaus erscheinen Seite an Seite mit den aus diesen R e g i o n e n bekannten ekstatisch expressiven Körper- und G e w a n d f o r m e l n wie selbstverständlich auch organische und ganzheitliche F o r m u l i e r u n g e n , wie etwa die Gestalt eines kontrapostischen Togatus in Feld zwei (von links) des sog. Matthäus-Kapitells, dessen antikischer H a b i t u s von einer ähnlich unbedenklichen Art wie jener der Fackelträger von Alodena ist (Abb. 2). Es scheint, als habe der französische Bildhauer aus der Ferne und i m Rückblick einen ihm geläufigen und für repräsentativ erachteten Ausschnitt der abendländischen Skulptur vor Augen gehabt, u m damit die kulturell entfremdete Ursprungsstätte des christlichen Glaubens

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gleichsam zu missionieren, ohne daß ihm dabei das morgenländische Umfeld und seine griechisch-römische Vorgeschichte aus dem Gesichtsfeld geriet. 10 Was wir soeben im Nebeneinander zur Kenntnis nahmen, romanische Gegenwart und antikes Erbe, tritt uns in der zweiten Bildarkade des sog. JakobusKapitells in symbiotischer Form vor Augen. Es erscheint eine veritable Höllenvision: Ein hochgewachsener Teufel mit katzenköpfiger Fratze, in zotteligem Fellkleid mit Vogelklauen statt Händen und Füßen, der einen jungen Menschen abfuhrt, dem die Hände auf dem Rücken gebunden sind, wobei Ziel und Zweck der Deportation nicht sicher bestimmt werden können (Abb. 3). Es ist ein Motiv, das spontan an das Los von Verdammten in zeitgenössischen Darstellungen des Jüngsten Gerichts erinnert, wo Sünder jeglicher Couleur, in Ketten geschlagen, von Teufeln dem Inferno zugeführt werden. Auch die Teufel-LuxuriaGruppe in der Eingangshalle von St-Pierre in Moissac kommt sogleich in den Sinn, ohne daß an dieser Stelle über die Täter- und Opferfrage zu rechten wäre. Doch hier in Nazareth scheint es eigens gewollt, daß man die Fesselung auch sehe, deshalb ist dieser Mensch so weit von hinten wiedergegeben, daß man ihm auf den wohlgeformten Rücken schaut, der damit zum Blickfänger der Szene wird. Dieses durch und durch mittelalterlich anmutende Horrorszenarium ist indes einschlägig vorgeformt in der klassischen Orestes- und Iphigenien-Ikonographie: Es handelt sich dabei um die ,Uberstellung' Orests und seines Gefährten Pylades an Iphigenie, die Axtemispriesterin der Taurer und Schwester des tragischen Helden. In dieser Weise erscheint die allein bei Euripides überlieferte Episode" bereits auf apulischen Vasen des 4. vorchristlichen Jahrhunderts. 12 Sie wanderte von dort als Nebenthema auf Orestes/Erinyen-Sarkophage, wie jenen aus Husillos (dort an der rechten Schmalfront) 13 , wie auch als Hauptthema auf die Orestes/Iphigenien-Sarkophage, in denen die unerwartete Begegnung der Geschwister im Land der Taurer und ihre gemeinsame Flucht geschildert sind, wie etwa auf dem wohlerhaltenen Exemplar der Münchner Glyptothek (Abb. 4).14

10 Die Kapitelle sind aus einheimischem weißen Kalkstein gefertigt. Daß sie nicht importiert, sondern am Ort geschaffen wurden, belegt ferner der Fund eines zerbrochenen Kapitells im Schutt der Fundamente, das als Zweitstück angefertigt werden mußte (Petrus-Kapitell). 11 Euripides: Iphigenie bei den Taurern, V, 458 ff. 12 Lexicon Iconographicum Mythologiae Classicae, Bd. V (1990), s. v. Iphigeneia (L. Kahil/P. Linant de Bellefonds), Nr. 14, 15. 13 Robert 1890 (wie Anm. 6), Umrißzeichnung Nr. 157 b (173). 14 Ebd., 165-188, Taf. LVI-LIX. - Auch L I M C (wie Anm. 12), Nr. 7 5 - 8 1 („Typ A"), Nr. 8 2 - 8 4 („Typ B"). - Das Münchner Stück: Robert 1890 (wie Anm. 6), Nr. 167 (177-179), Mitte 2. Jh. n. Chr.; Bielfeldt 2005 (wie Anm. 6), 178 ff. und 340.

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Die Darstellung eben dieses Moments besitzt ihre Einprägsamkeit und Attraktion nicht zuletzt dadurch, daß die gefangenen Freunde nackt und - meist - komplementär präsentiert sind: Orest vom Rücken, Pylades von vorn gesehen, beide mit rücklings gekreuzten, gebundenen Armen, vorgeführt von einem bärtigen, voll bekleideten und bewaffneten Skythen. Dem mittelalterlichen Bildhauer dürfte die Konfrontation des grimmigen Barbaren mit dem schönen Anblick der nackten wehrlosen Jünglinge als Motiv der Dämonenmacht erschienen und als solches seinen Zwecken dienlich gewesen sein. So wird der Barbar unter seiner Hand zu dem zotteligen Teufel, nah vergleichbar, wie Paul Deschamps beobachtet hat, dem fellbekleideten, krallenfüßigen Dämonen aus einer Versuchung Christi in St-Martin in Plampied (Cher).15 Sein Opfer ist die a tergo gesehene nackte Figur, Orestes, sei es, daß der Bildhauer den frontal gegebenen Pylades dafür verschmähte, sei es, daß er eine seltenere ikonographische Variante vor Augen hatte, die Orestes unmittelbar im Griff des Skythen zeigt.' 6 Das romanische Kapitell-Relief ist seinem antiken Vorbild ebenso nah wie es ihm - nämlich um Welten - entfernt ist; es benutzt sein Motiv und seine Komposition bis in viele Einzelheiten, vor allem bei der Disponierung der Gliedmaßen, spielt mit seiner Schönheit, wendet es indes mit Inbrunst ins Dämonische. Dazu trägt die äußerste Zuspitzung des vorgefundenen Kontrastes bei: Die Beteiligten sind ihrer humanen Ebenbürtigkeit verlustig, die sie auch in ihrer Gegnerschaft noch besaßen, um nun als Mensch und Monster in elementaren Konflikt gesetzt zu sein. Dem tierischen Unhold ist ein menschliches Geschöpf in die Hände gegeben, dessen Verletzlichkeit im Vergleich mit der männlichen Haltung Orests sogleich ins Auge springt: statt der athletischen Statur eine feminine Gestalt; statt des ponderierten Schreitens ein Trippeln auf Fußspitzen mit eingeknickten Knien; statt des aufrechten Gangs ein haldoses Taumeln gegen den Vergewaltiger; statt des gefaßten Blicks ein flehendlich gen Himmel gerichtetes Haupt. Gleichwohl ist die Erscheinung des Opfers, das jetzt nicht mehr nackt, sondern mit einem Hemd bekleidet ist, von größtem Effekt. Diese leichte Textilie, die keinem der meist namentlich zu benennenden Kleidungsstücke gleicht, die von den übrigen Figuren der Kapitelle getragen werden, verhüllt nämlich keineswegs die Blöße, sondern wirkt wie ein ,nasses Gewand', das auf den Rundungen des Körpers klebt und diese mit kurvigen Falten nachzeichnet. Auch dieses ,nasse' Kleid ist bekanntlich eine Erbschaft des Altertums, dessen ursprünglich feine Fältelung sich in nachkarolingischer Zeit gern in Schlau15 Seitenschiffskapitell, um 1140; Deschamps 1947 (wie Anm. 8), 140 f., Abb. 76-77. 16 So auf einem Sarkophagdeckel, um 140 n. Chr.; Rom, Museo Nazionale; vgl. Hellmut Sichtermann/Guntram Koch: Griechische Mythen auf römischen Sarkophagen, Tübingen 1975, Nr. 54.

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Ahl). 4: I p h i g e n i e / O r e s t e s - S a r k o p h a g , M ü n c h e n , G l y p t o t h e k ( D e t a i l d e r F r o n t p l a t t e )

fen oder Riefeln u m die Körper legt und dabei zunehmend, wie automatisch, formalisierte Strukturen bis hin zu g e o m e t r i s c h e m L i n i e n w e r k an den Tag zu legen pflegt, zunächst vor allem in den zweidimensionalen Künsten, der Buchund W a n d m a l e r e i . Im Z u g e dieser graphischen Verselbständigung schwindet die ursprünglich körperbegleitende und -betonende, die t r a n s p a r e n t e ' Funktion des textilen Lineaments, das nun im G e g e n s i n n e zu wirken beginnt: Anstatt die Körper wie bisher in ihrer Ganzheit zu ,organisieren', desavouiert es jetzt diesen Ursprungszweck, um der willkürlichen, meist dekorativ operierenden Z e r g l i e d e r u n g , also der körperlichen Verunklärung und Desorganisation Vorschub zu leisten. L^nd das nicht zufällig; denn die Körper, um die es hier geht, sind in nuce i m m e r noch die der verpönten Idole, denen die Abwehr ihrer Verächter so auf den L e i b geschrieben wird. Das Spiel mit den ,apotropäischen' Falten, dem wir bei etlichen dieser F i g u ren begegnen, ist mit Vorliebe auf die K ö r p e r e r h e b u n g e n , die Knie, den Bauch, die T h o r a x w ö l b u n g e n oder - in einem Fall - die Brüste konzentriert, wo sie als säuberliche Kreise oder Spiralen eher pedantisch in F r s c h e i n u n g treten. D a g e gen war die ΛΛ ahi des antiken Rückens für des Teufels G e f a n g e n e n wie geschaffen für eine sensationelle Körper-Präsentation, die jetzt mit d e m Beistand jenes Faltenwerks zustande kam, das sich zur Beschwichtigung der Idolen-Angst über die Bilder gespannt hatte. Dabei geschieht es, daß die nämliche Körperpartie, die im Altertum der Aphrodite Kallipvgos zu ihrem X a m e n verholfen hatte, mit Aplomb ins Auge springt und diejenige des Vorbildes Orest weit in den Schatten stellt. Hinzu k o m m t die Gestaltung der Schulterblätter, die provozierend an

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eine Projektion der weiblichen Brust erinnert. Ein Anblick wie dieser, den man nur annähernd aus der Antike und sonst gar nicht aus dem Mittelalter kennt, kann an fetischistischer Evidenz mit einschlägigen Expositionen dieser Art in der Neu- und der neuesten Zeit fraglos mithalten. Wenn wir beim Opfer des Teufels von ,Mensch' gesprochen haben, dann deshalb, weil wir nicht endgültig wissen, ob es sich um eine Frau oder einen Mann handelt, die je nach der ikonographischen Deutung ins Spiel gebracht wurden. Hält man die Szene für eine Illustration zur Bartholomäus-Legende, steht eine indische, vom Teufel besessene Prinzessin zur Wahl, die der Apostel dann geheilt hätte. Im Falle des Jakobus Maior wäre es der Zauberer Hermogenes, der von seinen eigenen Dämonen auf Anweisung des Apostels arretiert worden sei.17 Dennoch wird ohne jeden Zweifel ein femininer Eindruck erweckt, dem sich die Besucher der Wallfahrtskirche über der Verkündigungsgrotte ebenso wenig hätten entziehen können (wenn sie denn fertiggestellt worden wäre) wie wir Heutigen. Sei es die Prinzessin, der Zauberer Hermogenes oder wer auch immer - für den Bildhauer und seine Klientel war ein Mensch in den Klauen des Satans mit Sünde konnotiert, und die plakativste Sünde, mit der sich vor allem auch jeder Pilger konfrontiert wußte, war die der Sexualität, die man sich weiblich, als Luxuria vorstellte. Unser Diktum von der Distanzlosigkeit, bei der zeitliche, räumliche Nähe und mentale Ferne konvergieren, scheint nachgerade beispielhaft erfüllt. Das heidnische Vorbild wurde ob seiner Attraktion adoptiert und erscheint nun in neuer, mittelalterlicher Identität, als Gegenbild, das dem Schrecken verpflichtet ist, wobei die verwerfliche Schönheit - im Affekt der Abwehr noch verwerflicher pointiert (bzw. fetischisiert) - geeignet ist, die Betrachter erst recht in den Bann zu schlagen. P.S. Die romanische Plastik gewinnt für uns Heutige weitaus mehr, als sie verliert, wenn wir Richard Hamanns Wort von ihrer „Archaik", „als Ausdruck einer neuen Jugend der Menschheit" in Frage stellen18 und in ihr stattdessen die langsam, spät und unter Skrupeln gereifte Kraft erkennen, es gleichermaßen mit der ,magischen' Antike und ihren verängstigten Verächtern aufzunehmen. Bildnachweis: Abb. 1: Folda 1986 (wie Anm. 8), Fig. 6; Abb. 2: Egidi 1920/21 (wie Anm. 8), 771; Abb. 3: Conway Library, London; Abb. 4: Bielfeldt 2005 (wie Anm. 6), Taf. 19, Abb. 1. 17 Nach Abdias, Historiae Apostolicae, hrsg. v. Johann Albert Fabricius: Codex apocryphus Novi Testamenti, collectus, castigatus, testimoniisque censuris et animadversionibus illustrates, Hamburg 1703, 3 Bde., Hamburg 2 1719, Bd. 2, 673 f. sowie 518 f. Beide Geschichten sind fast gleichlautend in der Legenda Aurea wiederholt. 18 In diesem Sinne von Richard Hamann wiederholt formuliert; hier postum in: Kunst und Askese. Bild und Bedeutung in der romanischen Plastik in Frankreich, Worms 1987, 147.

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Wissensmehrung und Stilwandel: die antiken Wurzeln des Barock

Für die Rezeption der antiken Kunst und für die antiquarischen Studien in Rom nach dem Konzil von Trient (1545-1563) hat Christina Riebeseil ein melancholisches Bild des Niedergangs entworfen. 1 Eingeleitet hätte ihn Pius V., als er den Vatikan 1566 von hunderten antiker Skulpturen als einem unangemessenen Dekor säuberte und Pirro Ligorio im Frühjahr 1567 entließ. : Verdeutlicht werde eine „,Krise der Antikensammlungen', welche eine Krise für Gelehrte und Künstler nach sich zog". 3 Fulvio Orsinis Klagen über den Tod von Lehrer und antiquarischen Kollegen, über Ligorios Fortgang nach Ferrara, des Antonio Agustín und des Kardinals Granvelle Abreise nach Spanien ließen dieselbe Krise der Altertumswissenschaften wie Nachwuchsschwierigkeiten in den frühen J a h ren der Gegenreformation erkennen. W i e Inseln in einem feindlichen Meer hätten nur die Antikensammlungen der Farnese, des Ferdinando de'Medici und des Ippolito d'Esté dem feindlichen Zeitgeist zu widerstehen gesucht. Auf die Kassandra-Rufe Orsinis hatte zuvor bereits Pierre de Nolhac hingewiesen und dem vermeintlichen Niedergang der Klassischen Altertumswissenschaften im letzten Drittel des Cinquecento das gegenreformatorische Aufblühen der Christlichen Archäologie gegenübergestellt. 4 In seinem großen Werk über Cassiano dal Pozzo und die römische Barockarchäologie wies Ingo Herklotz auf ihn hin, um die Situation nach dem Konzil in Rom zu kennzeichnen." Dazu

1 Christina Riebesell: Die Sammlung des Kardinals .Alessandro Farnese. Ein „studio" fiir Künstler und Gelehrte, W e i n h e i m 1989, 1 6 9 - 1 7 2 . Sehr ähnlich etwa auch: Georg Daltrop: Antikensammlungen und Mäzenatentum um 1600 in Rom, in: Herbert Beck/Sabine Schulze (Hrsg.), Antikenrezeption im Hochbarock (Schriften des Liebighauses), Berlin 1989, 3 7 - 4 6 . 2 Anna Schreurs: Antikenbild und Kunstanschauungen des neapolitanischen Malers, Architekten und Antiquars Pirro Ligorio ( 1 5 1 3 - 1 5 8 3 ) (Atlas. Bonner Beiträge zur Renaissanceforschung Bd. 3), Köln 2000, 142-147. 3 Riebesell 1989 (wie Anm. 1), 170. 4 Pierre de Nolhac: La bibliothèque de Fulvio Orsini, Paris 1921, 4 3 - 4 4 . 5 Ingo Herklotz: Cassiano Dal Pozzo und die Archäologie des 17. Jahrhunderts (Römische Forschungen der Bibliotheca Hertziana 28), München 1999, 28.

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verlängerte er den Zeitraum der altertumskundlichen Brache in der Urbs noch um die beiden ersten Jahrzehnte des 17. Jahrhunderts: „Die Krise der römischen Altertumswissenschaft am Beginn des 17. Jahrhunderts war umfassender Natur. Es fehlten nicht nur die engagierten Mäzene, sondern auch überdurchschnittliche Gelehrte, und ebenso mühsam schien die Suche nach den notwendigen Künstlern." 6 Etwas eingehender hat Herklotz die gegenreformatorische Kunsttheorie mit ihren antipaganen Tendenzen in einer wichtigen Studie zur Deutung mythologischer Sarkophagreliefs für das ausgehende Cinquecento charakterisiert, wobei ihm die Verbannung der antiken Skulpturen aus dem Vatikan unter Pius V abermals der Ausgangspunkt war.7 Die hier vorgelegte Studie betont schon in ihrem Titel eine Gegenposition: Von gelegentlichen Akzentverschiebungen abgesehen, läßt sich eine altertumskundliche Krise in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts nicht konstatieren. Vielmehr ist von einem ungebrochenen Anwachsen der antiquarischen Wissenschaften und der Antikensammlungen auch in Rom auszugehen. Durch dieses erst konnte eine neu entstehende Vorstellung von der Antike Einfluß auf die Genese des Barocks nehmen. Die Antike wurde optisch gegenwärtiger, detailreicher, konkreter und sinnlicher, daher auch nacherlebbarer als zuvor. Das entsprach dem Geschmackswandel, welcher die Wende zum Barock begründete. Die im Februar 1566 geplante Donation Pius V. von 147 Statuen und Büsten an das römische Volk8 ist kein Fanal gewesen, antike Skulpturen paganer Götter zu mißachten. Vielmehr verband sie den Wunsch, den Vatikan als Zentrum der Katholischen Kirche von einem theologisch nicht passenden und überwiegend erst kürzlich von Pirro Ligorio und Pius IV. erworbenen heidnischen Dekor zu befreien, mit dem Anliegen der römischen Kommune, auf dem Kapitol Michel-

6 Ebd., 29. Vgl. auch Herklotz' detaillierte Analyse der römischen Antiquare S. 22-29, die sich allerdings auf Gelehrte der antiken Sachkultur beschränkt, die von Münzen, Gemmen, Reliefs und anderen Werken der Kleinkunst ausgingen. 7 Ingo Herklotz: Antike Sarkophagreliefs zwischen Mythenallegorese und Realienkunde. Hermeneutische Schulen in der Archäologie des 16. Jahrhunderts, in: Henning Wrede/Max Kunze (Hrsg.), 300 Jahre Thesaurus Brandenburgicus. Archäologie und antikisierende Residenzausstattungen im Barock (Akten des internationalen Kolloquiums Schloß Blankensee und Stendal 30. 9 . - 2 . 10.2000), München 2006, 261-287, bes. 270 f. 8 Vgl. Adolf Michaelis: Der Statuenhof im vatikanischen Belvedere, in: Jahrbuch des Deutschen Archäologischen Instituts 6, 1890, 4 2 - 4 4 ; Henry Stuart Jones: A Catalogue of the Ancient Sculpture Preserved in the Municipal Collections of Rome. T h e Sculptures in the Museo Capitolino, Oxford 1912, 363-374; Rodolfo Lanciani: Storia degli Scavi di Roma II2, 1990, 8 6 - 8 7 ; IV 2 ,1992, 14 — 15; Claudio Parisi Presicce: Le statue sulle balaustre dei Palazzi Capitolini, in: Maria Elisa Tittoni (Hrsg.), La facciata del Palazzo Senatorio in Campidoglio. Momenti di storia urbana di Roma, Ospedaletto 1994, 139-142 u. 162-167; ders.: Le statue sulla balaustra del Palazzo Senatorio. Tipologia, cronologia e restauri, in: Maria Elisa Tittoni (Hrsg.), La facciata del Palazzo Senatorio in Campidoglio. Momenti di un grande restauro a Roma, Ospedaletto 1995, 105-132.

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angelos statuarisches Ausstattungsprojekt zu verwirklichen. Es sah eine Fülle von Götter- und Porträtstatuen an den Treppen des Senatorenpalastes und vor allem auf den Dachbalustraden der drei kapitolinischen Paläste vor.'' Europaweit bis hin nach Berlin und Warschau-Wilanów sollten sich königliche, fürstliche und kirchliche Residenzen des 17. und 18. Jahrhunderts an diesem Beispiel orientieren und die barocke Gegenwart mit antiken Göttern in himmelsnaher Aufstellung verbinden. Die beabsichtigte Schenkung wurde nicht in vollem Umfang vollzogen. Den W e g auf das Kapitol fanden nur 7 0 - 8 0 Skulpturen, ein weiterer Teil vermutlich erst unter den gegenreformatorischen Päpsten Gregor XIII. ( 1 5 7 2 - 1 5 8 5 ) und Sixtus V. (1585-1590). Anteile der Statuen-Donation Pius V. gingen an Francesco I. de'Medici, Ippolito d'Esté und den Kaiser Maximilian II. Schließlich sandte der Papst einen Satz antikisierender Büsten der zwölf suetonischen Kaiser 1568 an Philipp II. nach ¿Madrid.10 Der päpstliche Gunsterweis bestärkte also die Neigung der Adressaten, antike Skulpturen zu sammeln. Eine Krise der Antikensammlungen löste er keinesfalls aus. Und tatsächlich ist die Zahl nur der stadtrömischen Antikensammlungen, die zwischen 1565 und etwa 1615 gegründet wurden, so umfangreich, daß sie eine solche Folgerung nicht nur eindeutig widerlegt, sondern im Gegenteil zu den großen Nepoten-Kollektionen des Frühbarocks - etwa der Borghese, Ludovisi, Barberini und Pamphilj - überleitet. Zu den einleitend bereits genannten Kollektionen des Ferdinando de'Medici auf dem Pincio und des Ippolito d'Esté auf dem Quirinal hinzu kommen die weiteren Kardinalssammlungen des Mark Sittich von Hohenemps (Altemps), Enrico Caetani, Francesco Maria del Monte, der Medici im Marsfeld und Montalto, die Sixtus V. als Kardinal gegründet hatte. Groß war die Sammlung der Mattei in ihrer Villa auf dem Celio und in ihrem Palazzo in den Botteghe Oscure. Bedeutend sind die Kollektionen Boccapaduli, Ceoli, Cesarini (Giangiorgio), Chigi (Agostino), Della Porta (Giovan Battista) und Rondinini gewesen." Die aus älterer Zeit fortbestehenden Sammlungen kommen hinzu. Der intensiven Suche nach antiken Skulpturen und dem blühenden Markt mit ihnen war im Untersuchungszeitraum das Aufkommen der zuvor unbe-

9 Tittoni 1994 (wie Anm. 8), 8 1 - 9 9 (Bruno Contardi), 1 0 1 - 1 3 4 (Serena Ensoli); Parisi Presicce 1994(wie Anm. 8); H e n n i n g W r e d e : Römische Antikenprogramme des 16.Jahrhundert, in: Matthias Winner/Bernard Andreae/Carlo Pietrangeli (Hrsg.), Il Cortile delle Statue. Der Statuenhof des Belvedere im Vatikan, Mainz 1998, 9 4 - 9 9 , jeweils mit der umfangreichen älteren Literatur. 10 Markus Trunk: Die Casa de Pilatus in Sevilla, Mainz 2002, 100; ders.: Römische Kaiserbildnisse als panegyrisches Programm im Spanien des 16. Jahrhunderts, in: Wrede/Kunze 2006 (wie Anm. 7), 469. 11 Einen schnellen Uberblick bieten die Artikel der Enciclopedea dell'Arte .Antica in den Supplementbänden 1970, 2 4 2 - 2 5 0 (Luigi Salerno) und 1971-1994, Bd. II (1994) 1 9 4 - 2 1 2 (Carlo Gasparri).

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kannten Gattung der Statuenbücher verbunden. Das erste Buch der Antiquarum statuarum urbis Romae von Giovanni Battista Cavalieri erschien 1561 in Rom, eine zweite Auflage 1570 und eine dritte 1576. Vor 1584 erfolgte die Erweiterung auf zwei Bände, die ihrerseits 1585 nachgedruckt wurden. 1594 kamen die Bände III und IV hinzu. Eine Neuausgabe besorgte Giacomo Marcucci 1623.12 Des Lorenzo della Vaccaria konkurrierendes Werk Antiquarum statuarum urbis Romae erschien 1584 in Rom und dort erneut zwischen 1607 und 1614. Die Druckplatten gelangten in den Besitz des Gaert von Schaych, später in den des Aegidius Sadeler, was die Editionen von 1621 und 1629 nach sich zog.13 Die Icones statuarum antiquarum urbis Romae brachte Girolamo Franzini dort 1587 in kleinen Holzschnitten heraus. Auf 1596 und 1599 datieren die nächsten Auflagen. 14 Auf de Cavalieri und della Vaccaria griff überwiegend Philippe Thomassin in seinem Antiquarum statuarum urbis Romae liber primus von etwa 1610 zurück.15 1619 publizierte Nicolas van Aelst seine Insigniores statuarum urbis Romae icones. All diese überwiegend wohlbekannten Stichwerke sind im Rom der Gegenreformation erschienen und gewannen offensichtlich großen Erfolg in einem weiten Publikum, das sich erst auf der Grundlage dieser Stiche eine nachhaltige Vorstellung von antiken Skulpturen bilden konnte. Trotz des weiten Adressatenkreises blieben die Statuenbücher aber auch den Altertumswissenschaften verbunden. In der Diskussion um die Bedeutung der Gegenreformation für die frühe Archäologie und die anderen altertumskundlichen Disziplinen sind die Statuenbücher relevant, weil sie exakt den Zeitraum der angeblichen Krise abdecken, weitaus überwiegend pagane Götter und Heroen wiedergeben und die Beteiligung von Künstlern verbürgen. Nirgendwann zuvor waren in Rom in den Antikensammlungen so viele Statuen der heidnischen Götter, Halbgötter und Heroen zu sehen oder in Stichen präsent wie zur Zeit der Gegenreformation. Hierbei befanden sich die Sammlungen überwiegend im Besitz von kirchlichen Würdenträgern, um deren Bildung und kulturelle Zuständigkeit auszudrücken. Übereinstimmendes gilt für die Erforschung des griechischen Porträts. Als Inkunablen des späteren Wissenschaftszweiges erschienen 1569, nach dem Trientiner Konzil, des Aquiles Estaço Inlustrium virorum ut extant in urbe expressi

12 Vgl. Thomas Ashby: Antiquae statuae urbis Romae, in: Papers of the British School at Rome 9, 1920, 107-158; Volker Heenes: Antike in Bildern. Illustrationen in antiquarischen Werken des 16. und 17. Jahrhunderts, Stendal 2003, 103 f. 13 Vgl. Ashby 1920 (wie Anm. 12); Wolfgang Weeke: Ein römisches Antikenstichwerk von 1584, Frankfurt a. M. 1997; Heenes 2003 (wie Anm. 12), 105-107. 14 Angela Gallottini: Philippe Thomassin. Antiquarum statuarum urbis Romae liber primus ( 1 6 1 0 - 1 6 2 2 ) (Bollettino d'arte, Volume speciale), Rom 1995, 3 u. passim; Heenes 2003 (wie Anm. 12), 108. 15 Gallottini 1995 (wie Anm. 14); Heenes 2003 (wie Anm. 12), 109.

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Wissensmehrung und Stilwandel: die antiken Wurzeln des Barock

vultus und 1570 des Fulvio Orsini Imagines et elogia virorum illiistrhmi, beide in Rom. Das konkurrierende Werk des Alfonso Chacón entstand in den siebziger bis neunziger Jahren, gelangte aber nicht zur Publikation. Es sollte 300 Bildnisse griechischer und römischer ,viri illustres' umfassen. 16 Die erweiterten Neuausgaben von Orsinis Standardwerk zum griechischen Portrait durch Theodor Galle 1598 und Johannes Faber 1606 erschienen zwar in Antwerpen, doch fanden die Vorarbeiten vor den Aufzeichnungen Orsinis in Rom statt. 17 Des Orsini Studien zum republikanischen und kaiserzeitlichen römischen Portrait hinzugenommen 1 8 , erweist sich auch die Portraitforschung des letzten Drittels des 16. Jahrhunderts als der vorangehenden weit überlegen. Einige antike Reliefs waren in das Speculum Romanae magnificentiae des Antoine Lafréry aufgenommen worden, dessen Stiche erst seit den sechziger J a h ren in Buchform zusammengefaßt wurden. 1 '' 1576, wiederum nach Abschluß des Konzils, ist die einzige umfangreichere Monographie des 16. Jahrhunderts zu dieser Kunstgattung publiziert worden: Alfonso Chacons Untersuchung zur Trajanssäule.-' 0 Die auf Zeichnungen Jacopo Ripandas zurückgehenden Stiche des Säulenreliefs von Girolamo Muziano wurden gesondert herausgebracht. Beide Teile vereinigte erst die römische Neuedition von 1616. In den Jahren von 1594 bis 1610 ist das Reliefband der Markussäule durch Giovanni Guerra zeichnerisch aufgenommen worden. 21 Hieran band sich aber keine Publikation, wie ebenfalls nicht bei den großen Zeichnungssammlungen des Corpus-Typus seit dem mittleren Cinquecento, aus denen sich der wissenschaftliche Umgang mit antiken Reliefs am besten ablesen läßt: die Codices Coburgensis, Pighianus und

16 Zu den Antiquitatum romanorum libri Chacons global: Carlo Gasparri/Marco Leopoldo Ubadelli: Le Antichità Romane di Alonso Chacón. Prolegomena, in: Studia Oliveriana N.S. 11, 1991, 57-94; Herklotz 1999 (wie Anm. 5), 258 f. Eine bildliche Vorstellung erbringen zum Vergleich herangezogene Abbildungen bei Beatrice Palma Yenetucci (Hrsg.): L omini illustri dell'antichità, Bd. 1,1 Pirro Ligorio e le erme tiburtine, Roma 1992; Bd. 1,2 Le erme tiburtine e gli scavi del Settecento, Roma 1992; Bd. 2 Pirro Ligorio e le erme di Roma, Roma 1998. 17 Manfred Kätzlmeier-Frank: Theodor Galles Zeichnungen zu Fulvio Orsinis Imagines. Der Codex Capponianus 228, Münster 1993. 18 Fulvio Orsini: Effigies viginti quatuor Romanorum imperatorum qui a C. Caes, extiterunt, o. O. um 1570; ders.: Familiae Romanae in antiquis numismatibus ab urbe condita ad tempora divi Augusti, Rom 1577. 19 Christian Hülsen: Das Speculum Romanae Magnificentiae des Antonio Lafreri, in: Ludwig Bertalot u.a. (Hrsg.), Collectanea variae doctrinae Leoni S. Olschki, bibliopolae Florentino sexagenario obtulerunt, München 1921, 121-168; Lawrence R. McGinnis/Herbert Mitchell: Catalogue of the Earl of Crawford's Speculimi Romanae Magnificentiae, no«· in the Aven" .Architectural Library, New York 1976; Heenes 2003 (wie Anm. 12), 79 f., 101 f., 135. 20 Alfonso Chacón: Historia utriusque belli Dacici a Traiano Caesare gesti, Rom 1576. 21 Richard Harprath: Die Kopenhagener Nachzeichnungen des Giovanni Guerra ( 154+ -1618) nach der Säule des Marc Aurel, in: Festschrift to Erik Fischer. European Drawings from Six Centuries, Kopenhagen 1990, 221-244.

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Ursinianus.22 In den sechziger und siebziger Jahren schlossen das figürliche graphische Werk Giovannantonio Dosios und seines Umkreises an 23 , zum Teil als graphische Grundlage für gelehrte Studien hergestellt, dann vor allem Buch drei von Etienne Dupéracs Album im Louvre mit dem Titel Temples, faux dieux, autels, sacrifices, inscriptions, épitaphes, ceremonies, observées en la religion des anciens Romains24 und das geplante Sarkophagcorpus des Alfonso Chacón der siebziger bis neunziger Jahre. 25 In das frühe 17. Jahrhundert leitet die Studie De sarcophagis gentilium in der Hagyoglypta des Jean L'Heureux (Macarius) über.26 Beeindrukkend ist nicht nur die Kontinuität der an Rom gebundenen Forschungen zu dieser Denkmalgattung in nachkonziliarer Zeit, sondern die inhärente Auseinandersetzung mit den paganen Mythen. Auch wenn die antiken Götter nun ausdrücklich als „faux dieux" (Dupérac) und die alten Römer als „cives civitatis diaboli" (L'Heureux) bezeichnet wurden, so verhinderte das die Untersuchungen nicht. Charakteristisch erscheint das Verhalten des Antonio Agustín in seinen Dialogen über kaiserzeitliche Münzen von 1592. Nachdem er die Ikonographien unterschiedlicher Götter und kultischer Instrumente, von antiken Tugenden und Personifikationen auf den Münzrückseiten erörtert hatte, sollte sich der vierte Dialog den Tempeln zuwenden. Der Erzbischof unterbricht das Gespräch wegen geschäftlicher Inanspruchnahme, um im fünften Dialog auf die Zuordnung der Tiere zu einzelnen Göttern einzugehen. Die antipagane Kritik des Antiquars beschränkte sich auf das Notwendigste, weitgehend auf eine demonstrative Pose. 27 22

Kat. Der Codex Coburgensis. Das erste systematische Archäologiebuch. Römische An-

tiken-Nachzeichnungen aus der Mitte des 16. Jahrhunderts, hrsg. v. Henning Wrede/Richard Harprath, Coburg 1986; dies. (Hrsg.): Antikenzeichnung und Antikenstudium in Renaissance und Frühbarock (Akten des Symposions Coburg 1986), Mainz 1989, darin Henning Wrede: Die Codices Coburgensis und Pighlanus im gegenseitigen Vergleich, 1 4 1 - 1 5 6 u. Gunter Schweikhart: Zur Systematik der Antikenstudien von Pighius, 157-166; Herklotz 1999 (wie Anm. 5), 2 5 2 - 2 5 8 . 23

Christian Hülsen: Das Skizzenbuch des Giovannantonio Dosio im Staatlichen Kupfer-

stichkabinett zu Berlin, Berlin 1933; Emanuele Casamassima/Ruth Rubinstein: Antiquarian Drawings from Dosio's Roman Workshop, Biblioteca Nazionale Centrale di Firenze, Ν . Α. 1159, Catalogue, Mailand 1993. 24

Louvre, Cabinet des dessins 2 6 4 1 3 - 2 6 4 7 7 ; Jean-Louis Ferrary: Onofrio Panvinio et les

antiquités romaines, Rom 1996, 36 f. mit Anm. 103; Henning Wrede: Das Relief Casali - ein Monument der augusteischen Säkularspiele?, in: Cecile Evers/Athéna Tsingarida (Hrsg.), Rome et ses provinces. Hommages à Jean-Charles Balty, Brüssel o. J . , 277. 25

Herklotz 1999 (wie Anm. 5), 258; ders.: Antike Sarkophagreliefs zwischen Mythenalle-

gorie und Realienkunde. Hermeneutische Schulen in der Archäologie des 16. Jahrhunderts, in: Wrede/Kunze 2006 (wie Anm. 7), 264. 26

Jean L'Heureux: Hagioglypta sive picturae et sculpturae sacrae antiquiores praesertim

quae Romae explicatae, Paris 1856, 2 2 3 - 2 3 2 . Vgl. Herklotz 2006 (wie Anm. 25), 2 7 4 - 2 7 7 . 27

Antonio Agustín: Dialoghi di don Antonio Agostini arcivescovo di Tarracona intorno

alle medaglie, inscrittioni et altre antichità tradotti di lingua spagnuola in italiana da Dionigi Ottaviano Sada, Rom 1592, zur Unterbrechung ebd. 137.

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Wissensmehrung und Stilwandel: die antiken Wurzeln des Barock

Die bündigen Uberblicke bei Volker Heenes zu gedruckten topographischen Untersuchungen Roms, zu Romführern, Rom-Veduten und zur antiken Architektur fuhren zu konformen Ergebnissen. 26 Der Zugewinn an kartographischen Erkenntnissen war im letzten Drittel des 16. und im frühen 17. Jahrhundert geringer, dafür stieg die Zahl der Romfiihrer und waren die Veduten des mittleren und späteren Cinquecento denen der vorangehenden Zeit überlegen. Die großen Werke der Spätrenaissance zu den Gebräuchen und zur Sachkultur der Antike sind fast sämtlich erst im letzten Drittel des 16. Jahrhunderts erschienen. Es mag ausreichen, an des Girolamo Mercuriale Untersuchung zu Sport und Leibesertüchtigung bis zur vierten Auflage von 160P', an des Pedro Chacón berühmte Schrift über die antiken Sitten beim Mahl mit den Nachträgen des Fulvio Orsini 30 , an des Onuphrio Panvinio postume Abhandlungen über den Triumph von 1571 und über die Zirkusspiele von 1600" zu erinnern oder auch an die bereits genannten numismatisch-sacharchäologischen Dialoge des Agustín. Andere Werke wurden neu aufgelegt, so in italienischer Übersetzung des Guillaume Du Choul Untersuchung über Militär und Badewesen" oder das Gesamtwerk des Lelio Giraldi mit seinen Darstellungen von Göttern, Kalender, Schiffswesen und Grabsitten der Antike." Die Untersuchungsbereiche der Sitten, Gebräuche und Realien waren eng mit Textstudien zur Kompilation der Quellen verbunden und waren daher seit dem früheren 16. Jahrhundert ein gesamteuropäischer, wenig von Rom abhängiger Forschungsbereich. Dennoch wirkten die an entfernten Orten erschienenen Bücher auf die Urbs zurück. In der nachkonziliaren Zeit und im einsetzenden 17. war ihre Zahl so groß, daß sie hier nicht im Geringsten erfaßt werden kann. Jules César Boulenger schrieb über öffentliche (1598 und 1602) und private (1627) Spiele, über Steuern (1612), über das Kaisertum (1618) und die Insignien der Macht (1614). Des Justus Lipsius Abhandlungen betreffen die Gladiatoren (1582) und das Amphitheater, sowohl als Institution (1585) wie nach den erhaltenen Bauwerken (1604), galten dem Militärwesen (1595/96) und den Belagerungstechniken (1596), römischen Magistraten und dem Bibliothekswesen (1602) oder Vestalinnen (1603). Von den Kulten handelte Johann Wilhelm Stuckius (1598), über den athletischen Sport Petrus Faber (1592), über Maße und Gewichte Luca Paeto (1573), über die Grabsitten Claude Guichard (1581)

28 Heenes 2003 (wie Anm. 12), 5 1 - 9 4 . 29 Girolamo Mercuriale: De arte gymnastica libri sex, Venedig 1569. 30 Pedro Chacón: De triclinio Romano, Fulvio Ursini appendix, Rom 1588. 31 Onofrio Panvinio: De triumpho commentarius, Venedig 1571; ders.: De ludis circensibus libri II, Venedig 1600. 32 Guillaume Du Choul: Discorso del S. Guglielmo Choul sopra la castramentatione & bagni antichi de i greci & romani, Vìnegia 1582. 33 Lilius Gregorius Giraldi: Opera omnia, Basel 1580.

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und Tommaso Porcacchi (1591). Die durchwegs vor römischen Monumenten entstandenen graphischen Sammlungen übereinstimmender Thematik setzten sich in das letzte Jahrhundertdrittel fort, so die Zeichnungen des Ligorio zum Schiffswesen und zum Gastmahl in Turin34, des Dupérac Album zu den Kultusaltertümern35, des Dosio36 und Chacón37 Zeichnungen zur antiken Kleidung, zu Schuhen und Kopfbedeckung, zum Militär und zu fast allen weiteren Bereichen der Sachkultur. Gerade in diesem breiten Horizont der Kultur nahm die Kenntnis von der Antike in so großen Schritten zu, daß sie die Gesamtvorstellung von ihr in einem näher zu beschreibenden Umfang transformierte. Humanismus und Altertumsforschung haben seit ihrem Entstehen auf die christliche Gegenwart eingewirkt, was zu einer steten Gegenüberstellung zwischen Antike und Moderne führte. Eingeschlossen war bereits bei Flavio Biondo oder Andrea Fulvio ein Vergleich zwischen den paganen und christlichen Bauten Roms, mit ihm der Ansatz für das Entstehen einer Frühchristlichen Archäologie, der sich während des Tridentinum verstärkte. Der 1568 verstorbene Panvinio hatte ja auch über 27 Päpste (1568), über Roms christliche Basiliken (1570) und über die frühchristlichen Grabbräuche und Katakomben (1568) gehandelt. Ligorios Verhältnis zur gegenreformatorischen Kunstreform und ihrem Theoretiker, Gabriele Paleotti, war positiv. Der als intensiver Förderer der Altertumswissenschaften bekannte Kardinal Granvelle schlug dem Konklave von 1572 die Wahl des gegenreformatorischen Papstes Gregor XIII. vor.38 Lipsius schrieb Bücher über das Kreuzeszeichen (1593). Chacón und L'Heureux zählen zu den Begründern einer wissenschaftlichen christlichen Ikonographie, sind hier aber mehrfach als Erforscher des paganen Rom gewürdigt worden. Guido Panciroli verglich die antike Zivilisation zuerst systematisch mit der modernen39 und leitete hierdurch zur barocken Sicht der antiken Kultur als einer Folie für die Repräsentation christlicher absolutistischer Fürsten über40, was die Fortentwicklung der antiquarischen Wissenschaften aber nur begünstigte. Auch

34 Pirro Ligorio: Libri delle antichità (Enzyklopädie) Bd. XIII u. XVII, Archivio di Stato di Torino, Ms. a. III. 14. J. 12, fol. 15r-144r (Schiffskatalog); Ms. a. II. 2. J. 15, fol. 4 4 v - 4 5 r (Gastmahl). 35 Paris, Musée du Louvre, Cabinet des Dessins 26456-26477. 36 Hülsen 1933 (wie Anm. 23), fol. 54r-81r. 37 Biblioteca Apostolica Vaticana, Chigi, R. II. 62. fol. 324. 38 Schreurs 2000 (wie Anm. 2), 2 2 4 - 2 2 9 . - Brief Hans Fuggers vom 30. 5. 1572 in: Die Korrespondenz Hans Fuggers von 1566 bis 1594. Regesten der Kopierbücher aus dem Fuggerarchiv, bearb. v. Christi Karnehm unter Mitarbeit v. Maria Gräfin von Preysing, Bd. I 1566-1573, München 2003, 336. 39 Guido Panciroli: Raccolte breve d'alcune cose più segnalate (1598); ders.: Rerum memorabilium libri duo 2 , Arnberg 1607/08. 40 Vgl. Henning Wrede: Cunctorum splendor ab uno. Archäologie, Antikensammlungen und antikisierende Ausstattungen in Nepotismus und Absolutismus (Schriften der Winckelmann-Gesellschaft 18), Stendal 2000.

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Wissensmehrung und Stilwandel: die antiken Wurzeln des Barock

wenn die Katakombenwissenschaft eines Cesare Baronio, Antonio Bosio, Pompeo Ugonio, Giovanni Severano und Paolo Aringhi seit 1578 vorwiegend im Dienst der gegenreformatorischen Apologie der Katholischen Kirche stand, so richtete sie sich doch nicht gegen das pagane Altertum und vermochte die Zunahme der mit ihm verbundenen Sammlungen und wissenschaftlichen Untersuchungen daher auch nicht einzuschränken. Eher läßt sich konstatieren, daß die junge Frühchristliche Archäologie die ältere klassische Schwester um chronologische Aspekte, topographische und vor allem kontextbezogene Methoden ergänzte. Die nicht sehr große Zahl der an ihr Beteiligten zog auch kaum Mäzene ab, da Bosios, Severanos und Aringhis große Publikationen ja erst ab den dreißiger Jahren des 17. Jahrhunderts erschienen. Den gegenreformatorischen Päpsten nach Pius V. und vor Paul V. mit seinen großen Antikensammlungen eignete keine besondere Vorliebe für das heidnische Altertum, dennoch haben sie sich seiner Monumente im Sinne des 17. Jahrhunderts zur Selbstrepräsentation und zur Darstellung der triumphierenden Kirche bedient, was konservatorische Maßnahmen einschloß. Man denke nur an die Dioskuren vom Monte Cavallo, die Triumphsäulen des Trajan und Markus und an die Obelisken Roms unter Sixtus V. oder an den inschriftlichen Tatenbericht Clemens VIII. an der Fassade des Senatorenpalastes über der Statue der Roma Triumphans. 41 In Fortsetzung der Pläne Pius V. statteten seine Nachfolger die kapitolinischen Paläste mit antiken Statuen aus. Gregor XIII. ließ die Minerva/Roma in der Fassadenmitte des Senatorenpalastes errichten und auf dem von ihm restaurierten Campanile die Statuen der kapitolinischen Trias aufstellen, als sei der höchste Kult des Imperium Romanum zurückgekehrt. 4 -' Luzio Luzi stuckierte 1575 drei Deckengewölbe im Treppenhaus des Konservatorenpalastes, zwei von ihnen mit Darstellungen des altrömischen privaten und öffentlichen Lebens zum Thema der Roma Triumphans und der Roma Victrix, das dritte mit einem Bilderzyklus der Roma Christiana. 4 ' Sixtus V. ließ wohl die heidnischen Götterstatuen auf dem Glockenturm wieder abnehmen, dafür steigerte er den triumphalen Charakter des Kapitolplatzes mit den ,Trofei di Mario'. Die verbundene Funktionalisierung der antiken Skulpturen für Papst und Kirche erinnert an das ab dem Borghese-Papst gültige Maß. In dem halben Jahrhundert von 1565-1615 entwickelten sich die altertumskundlichen Wissenschaften in allen Bereichen fort, sowohl in Rom wie in den übrigen Ländern Europas, von wo die Publikationen wieder auf die Urbs zurückwirkten. Das Wissen über die Antike schwoll in sich verbreitendem Strom 41 Wolfgang Liebenwein: Der Portikus Clemens XI. und sein Statuenschmuck, in: Herbert Beck/Peter Cornelius Bol/Wolfram Prinz/Hans v. Steuben (Hrsg.), Antikensammlungen im 18. Jahrhundert, Berlin 1981, 92, Abb. 30. 42 Lanciani 1992 (wie Anm. 8), Bd. IV2, 106 f.; Tittoni 1994 (wie Anm. 8), 118-120 (Ensoli), 135, Abb. 103 (Parisi Presicce). 43 Liebenwein 1981 (wie Anm. 41), 91, Abb. 25, 26, 28.

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Abb. 1: Militärmusikanteil

bei lustius Lipsius, De militia Romana libri quinqué, 1596

an. Zeitgleich mehrten und vergrößerten sich die Antikensammlungen. Der Zugewinn an Wissen zielte auf die optische Kenntnis der antiken Monumente und vor allem auf das Verständnis der antiken Einrichtungen, Gebräuche und sachlichen Gegenstände. Hinzuzuziehen sind die an Zahl umfangreichen Studien, welche die antike Lebenswirklichkeit auf rein textlicher Grundlage erschlossen. Die Kompilation der Textquellen erbrachte konkrete Vorstellungen. Die untergegangene Sachkultur wurde zumindest in Gedanken sichtbar oder, wie etwa in zahlreichen Werken des Justus Lipsius aus der Wende zum 17. Jahrhundert, in Stichen bildlich beigegeben (Abb. 1 u. 2). Solche nicht von den M o n u menten beeinflußten Stiche sind dann wieder nachgezeichnet und in graphische Arbeitsunterlagen eingeordnet worden, welche antike Denkmäler kopierten. 44 Die so stark an Einrichtungen, Gebräuche und Gegenstände gebundene W i s sensmehrung führte auf eine lebendigere, realistischere Vorstellung von der Antike hin. Die Lebenswirklichkeit historischer Epochen wurde sichtbar oder, wie bei der Anhäufung von Musikinstrumenten (Abb. 1), auch hörbar, bei den Rekonstruktionen antiker Gelageszenen mit ihren Speisen selbst riechbar und kitzelte den Gaumen. Bei dieser Versinnlichung der Antike entwickelten die unterschiedlichen Medien der Vermittlung spezifische Aufgaben. So orientiert sich die Rekonstruktion einer Schlacht zwischen Römern und Parthern in der Schwerbewaffnetenformation der Testudo (Abb. 2) zwar am Text des Cassius

44 Gerard Brett: Seventeenth Century Sketchbook, in: Bulletin of the Division of Art and Archaeology, Royal Ontario M u s e u m 26, 1957, 5, (,Pietro da Cortona-Skizzenbuch') Nr. 8 1 4 5 - 8 2 5 5 .

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Wissensmehrung und Stilwandel: die antiken W u r z e l n des Barock

Abb. 2: Die Schlachtordnung Poliorceticom, 1596

der 'Testudo bei lustius I.ipsius,

Dio. 4 ' Von ihm abweichend scheint der primäre Zweck der λ erteidigungsstrategie aber darin zu bestehen, einander bekämpfende Streitwagen zu tragen, was der Phantasie zusätzliche H o r i z o n t e öffnet. Alit der versinnlichten Schau der Antike änderte sich das Verständnis ihrer Skulpturen. Der Geschmackswandel verlangte, d e m zuvor bereits normierten Kanon antiker M e i s t e r w e r k e Bilderfindungen von sinnlicher, n a t u r a l i s t i s c h e r ' und bunter W i r k u n g zur Seite zu stellen. Das bekannteste Beispiel ist wohl die Statue eines für Seneca gehaltenen Fischers (Abb. 4)4'1, deren Repliken das Kasino Borghese und das Kasino Pamphilj schmückten. Eine Variation stand im Palazzo Barberini an h e r v o r g e h o b e n e m Ort, wie Lucia Faedo jüngst nachwies. 4 Den W e g von der antiquarischen Auseinandersetzung mit einem solchen in L a brum und C a l d a r i u m badenden R ö m e r (Abb. 3) zur Fixierung eines analog X a c k t e n als authentisches Bildnis des Vaters der neostoischen Barockphilosophie (Abb. 4) verdeutlicht der Vergleich einer T h e r m e n r e k o n s t r u k t i o n des J e a n J a c q u e s Boissard 4 s mit einem Stich des C o r n e l i u s Galle nach Rubens. Diese Sta-

45 Cassius Dio: Römische Geschichte, 49, 30. 46 lustius Lipsius: L. Annaei Senecae ... opera omnia, Antwerpen -'1615, Stich rechts des Lesergrußes. 47 Lucia Faedo: [1 Fauno moralizzato. L'allestimento della Sala del Fauno a Palazzo Barberini alle Quattro Fontane tra 1678 e 1704, in: Kathrin Schade/Detlev Rößler/Alfred Schäfer (Hrsg.), Zentrum und Wirkungsräume der Antikerezeption. Internationales Kolloquium Berlin 2005 (im Druck). 48 Jean Jacques Boissard: Romanae urbis topographiae & antiquitatum, Bd. II, Frankfurt 1599, Taf. nach Λ14.

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Abb. 3: Bad eines Römers nach Juan Jacques Boissard bei Bernard de Montfaucon, L'antiquité expliquée, 1719

Abb. 4: ,Seiieai'-Statue, einst Rom, Palazzo Borghese, Cornelius Galle nach einer Zeichnung von Peter Paul Rubens, 1599

tue fühlt, spricht, zeigt, altert, leidet und demonstriert in äußerster Anspannung die U b e r w i n d u n g des Todes. Mit ihr wendet sich das Ende dieser Betrachtungen nicht zufällig Peter Paul Rubens zu. Als Bruder und Vater bedeutender und gerade um die Sachkultur verdienter Antiquare, als enger Freund des Lipsius personifiziert Rubens die Transformationen des Antikebildes im ausgehenden Cinquecento und deren Einfluß auf die Genese einer neuen Kunstepoche beispielhaft. Rildnnchweh: Abb. 1: Iustius Lipsius: De militia Romana libri quinqué, Antwerpen 1596, 3 17, Staatsbibliothek zu Berlin SPK; Abb. 2: Iustius Lipsius: Poliorceticion, Antwerpen 1596, 25, Staatsbibliothek zu Berlin SPK; Abb. 3: Bernard de Montfaucon: L'antiquité expliquée Paris 1719, Bd. III/2, Taf. 123, Archiv des Autors; Abb. 4: Lipsius 1615 (wie Anm. 46), Taf. neben Lesergruß, Archiv des Autors.

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Die Verwandlung der Stadt Römische Festarchitekturen des 18. Jahrhunderts

Jahrhundertelang begleiteten und strukturierten Feste den Jahresablauf. In Rom waren natürlich die kirchlichen Hochfeste durch die Präsenz des Papstes in besonderem Maße Höhepunkte - Ostern, Pfingsten, Christi Himmelfahrt und Fronleichnam in der ersten Jahreshälfte, Mariä Himmelfahrt (15. August) und Weihnachten in der zweiten. Hinzu kamen - weniger stadtübergreifend als vielmehr quartiergebunden - die Heiligenfeste der jeweiligen Kirchen- und Ordenspatrone. Zu den weltlichen Festen, die regelmäßig stattfanden, zählte im Juni die sogenannte Chiiiea am Fest der Heiligen Peter und Paul (28.-29. Juni), die mit einem prachtvollen Feuerwerk abschloß, der berühmten Girandola, die am Abend des 29. Juni von Castel Sant'Angelo abgebrannt wurde. Im Winter gab es den Karneval, im Sommer die Akademiefeste und im August den berühmten Wasserkorso auf der Piazza Navona. Zu diesem festen Ablauf kamen die außerordentlichen Anlässe hinzu: Seligund Heiligsprechungen, Feste anläßlich von Geburten, Hochzeiten, Namenstagen und Exequien von Mitgliedern der regierenden katholischen Herrscherhäuser Europas. Vor allem die Botschafter der spanischen und französischen Krone setzten mit prachtvollen Festdekorationen auf der Piazza di Spagna, der Piazza Navona und vor der Kirche des französischen Konvents von SS. Trinità dei Monti die Bedeutung ihrer Herrscher demonstrativ in Szene.1 Die feierliche 1 Maurizio Fagiolo Dell'Arco/Silvia Carandini: L'effimero barocco. Strutture della festa nella Roma del '600, Rom 1977-1978; M a r i o Gori Sassoli: Kat. Della .Ghinea' e di altre „Macchine di gioia". Apparati architettonici per fuochi d'artificio a Roma nel Settecento, Mila Farnesina, Rom 1994, Mailand 1994; ders.: La cerimonia della Ghinea. Dal teatro delle corti al popolo festeggiarne, in: Kat. La Festa a Roma dal Rinascimento al 1870, hrsg. ν. Marcello Fagiolo, Museo Palazzo Venezia, Rom 1997, Turin 1997, Bd. 2, 42-55; Maurizio Fagiolo Dell'Arco: La festa barocca (Gorpus delle feste a Roma Bd. 1), Rom 1997; Marcello Fagiolo (Hrsg.): Il Settecento e l'Ottocento (Gorpus delle feste a Roma Bd. 2), Rom 1997: Markus Engelhardt/Christoph Flamm (Hrsg.): Musik in Rom im 17. und 18. Jahrhundert. Kirche und Fest = Musica a Roma nel Sei e Settecento. Chiesa e festa (= Analecta musicologica 33, 2004), Laaber 2004.

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Ernennung von Kardinälen, die seit dem Pontifikatsantritt Papst Benedikts XIV (1740-1758) besonders aufwendig in Szene gesetzt wurde, erweiterte das Festspektrum um eine neue Variante. Feste waren daher in Rom kein Einzelfall, sondern stellten ein abwechslungsreiches Kontinuum im Jahresablauf dar. Die daraus resultierende Wirkung eines scheinhaft veränderten Stadtraumes, die permanente Verwandlung der Stadt, soll hier kurz thematisiert werden. Anhand einiger Festdekorationen der Jahre 1745-1746-1747 soll beispielhaft gezeigt werden, wie sehr das Stadtbild und das Erleben des Urbanen Raumes von diesen prächtigen Festen keineswegs nur für einen kurzen Augenblick, sondern über Wochen hinweg bestimmt wurden. Denn die Festverwandlung blieb länger erfahrbar als man gemeinhin annimmt, und die Zahl der großen Festverkleidungen nahm im Laufe des 18. Jahrhunderts zu. Der Chinea kam unter den römischen Festen seit den zwanziger Jahren des 18. Jahrhunderts ein besonderer Rang zu. Chinea ist die verballhornte Bezeichnung des französischen Wortes haquenée für ein weißes Maultier, das mit Golddukaten beladen am Fest der Heiligen Peter und Paul dem Papst als Lehnsgabe des Königreichs Neapel überreicht wurde. Seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts wurde diese Ubergabe vom jeweiligen Fürsten Colonna vollzogen; die Familie hatte zu diesem Zweck das erbliche Amt eines außergewöhnlichen Botschafters des Königreichs Neapel inne.2 Erst seit dem Beginn der zwanziger Jahre des 18. Jahrhunderts - also zur Zeit des erst durch den Spanischen Erbfolgekrieg erworbenen habsburgischen Vizekönigtums in Neapel - wurden zu diesem Anlaß vor dem Familienpalast an der Piazza SS. Apostoli große Festapparate errichtet, die im Auftrag des Fürsten auch in Stichen festgehalten wurden und uns daher überliefert sind.3 Der Fürst zog am ersten Tag der Festlichkeit, dem 28. Juni, mit großer Kavalkade mit dem Maultier von seinem Palast durch die Stadt nach Sankt Peter - oder auch zum Quirinalspalast - und übergab dem Papst die Lehnsgabe des Königreichs Neapel. Abends fanden im Palazzo Colonna festliche Empfänge statt. Auf der Piazza vor dem Palast flöß roter und weißer Wein aus Festbrunnen, Musik erklang, und zum krönenden Abschluß ging der Festapparat in einem prächtigen Feuerwerk in Flammen auf. John Pinto hat nachweisen können, daß der 1729 ausgeführte Bau eines Pavillons an der Ecke des Palazzo Colonna zur Piazza SS. Apostoli, das sogenannte ,Kaffehaus', auf den Wunsch zurückging, vom Palast aus einen besseren Blick auf diese Festlichkeiten zu haben.4 Nach dem Aus-

2 Gori Sassoli 1994 (wie Anm. 1). 3 John E. Moore: Prints, Salami, and Cheese. Savoring the Roman Festival of the Chinea, in: The Art Bulletin 77, 199S, 584-608; Cori Sassoli 1994 (wie Anm. 1). 4 John Pinto: Nicola Michetti and the Palazzo Colonna in Rome (1731-1735), an der Bibliotheca Hertziana in Rom am 26.6.2001 gehaltener Vortrag. Siehe ebenfalls John Pinto: Nicola Michetti and Ephemeral Design in Eighteenth-Century Rome, in: Henry A. Millón

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Die Verwandlung der Stadt

brach des polnischen Erbfolgekrieges (1733-38), dem daraus resultierenden Ende des habsburgischen Regimes in Neapel und der Gründung des neuen Königreiches Neapel-Sizilien durch Don Carlos, den Sohn des spanischen Königs Philipp V, fanden ab 1733 einige Jahre keine Chinea-Feste mehr statt. Erst nach Beilegung der diplomatischen Probleme zwischen dem Heiligen Stuhl und der spanischen Krone wurden die Feiern wiederaufgenommen; allerdings nun auf der Piazza Farnese, vor dem Palazzo Farnese, den der neue König von NeapelSizilien von seiner Mutter Elisabeth Farnese geerbt hatte. Die politische Botschaft dieses Ortswechsels ist eindeutig. Während die schmale, langgestreckte Piazza SS. Apostoli fast nur die Errichtung wandverhafteter Festverkleidungen zugelassen hatte, erlaubte der Platz vor dem Palazzo Farnese eine großzügige räumliche Gestaltung des Ereignisses. Die Chinea bot gerade in der wechselhaften und spannungsreichen politischen Situation des 18. Jahrhunderts eine propagandistische Plattform sondergleichen, aber sie gab auch der Piazza Farnese im urbanistischen Rahmen neues Gewicht. Nicht nur die Chinea erfahr nach der bourbonischen Neubegründung des Königreichs Neapel-Sizilien 1733 eine konkrete politische Umdeutung der Themen ihrer Festapparate, sondern auch alle dynastischen Feste, die Bezug zur neapolitanischen Bourbonendynastie hatten, fanden nun vor dem Palazzo Farnese statt.

1745 Im Mai 1745 entwarf Giuseppe Panini anläßlich der ersten Hochzeit des französischen Dauphins mit einer Infantin von Spanien und Schwester Karls III. von Neapel eine prachtvolle Festgestaltung in Form eines pyramidenbekrönten, fast 38 m hohen Tempels, der frei in der Mitte der Piazza Farnese stand (Abb. 1).' Sein Motto lautete: „Macchina artificiale rappresentante l'unione di Amore ed Imeneo, nel Tempio di Minerva allusiva alle Nozze del real Delfino e Maria Teresa Infanta di Spagna". 6 Da Papst Benedikt XIV. sich im Alai in Castelgandolfo aufhielt, wurde der Festapparat bis zu seiner Rückkehr stehengelas-

(Hrsg.), Studies in Italian Art and Architecture, Cambridge 1980, 289-302; Christina Strunck: Berninis unbekanntes Meisterwerk. Die Galleria Colonna und das Kunstpatronat des römischen Uradels, M ü n c h e n 2006 (im Druck), Kap. 3.4.2. 5 Rom, Istituto Nazionale per la Grafica, F C 81748 (48 H 19), Radierung, 572 χ 425 mm. Vgl. Gori Sassoli 1994 (wie Anm. 1), 1 8 5 - 8 6 , Abb. 138; Fagiolo 1997 (wie Anm. 1), 129 f. Siehe auch das Gemälde von Gian Paolo Panini (New York, Chrysler Collection, Ol auf Leinwand, 117x 239 mm), pubi, in Ferdinando Arisi: Gian Paolo Panini, Piacenza 1961, Kat. Nr. 174, Abb. 225. 6 Ebd.

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sen und die offizielle Feier auf den 20. Juni 1745 verschoben.7 Damit geriet der Apparat nun in unmittelbare zeitliche Nähe zur Chinea, so daß es nicht verwunderlich ist, daß die erste Festdekoration am 28. Juni 1745 im Grunde nur eine Umdekoration der macchina anläßlich der Hochzeit darstellte. Statt des Tempels des Hymen zeigte sie eine Allegorie auf die Gründung des Königreiches Neapel mit der Belehnung der normannischen Herrscher mit der Königswürde durch den Papst im 12. Jahrhundert - Vergangenheitsbezug und zeitgenössische diplomatische Bereinigung des Problems der Anerkennung des neuen Königs durch den Papst zugleich thematisierend.8 Die zweite macchina am 29. Juni 1745 spielte dann auf die glückliche Heimkehr Karls III. von Neapel aus dem Schlesischen Krieg an.9 Die festliche Platzgestaltung für Hochzeitsfest und Chinea wurde also 1745 zu einem fast zweimonatigen Dauerereignis auf der Piazza Farnese im Herzen der Stadt; der permanenten ,ephemeren' Inszenierung des Vierströmebrunnens auf der benachbarten Piazza Navona gesellte sich über Wochen die temporäre Festarchitektur der Piazza Farnese gleichsam als Pendant hinzu.

1746 Mit der großen traditionellen Girandola von Castel Sant'Angelo wurden am 29. Juni 1746 die Feierlichkeiten zum Fest der Heiligen Peter und Paul abgeschlossen, das in diesem Jahr durch die Heiligsprechung von gleich fünf Ordensmitgliedern am Tag des Heiligen Petrus in Sankt Peter besonderes Gewicht erhalten hatte.111 Papst Benedikt XIV., der die Peterskirche zum alleinigen Ort für Kanonisationen bestimmt hatte, hatte an diesem Tag die Orden der Kapuziner, Franziskaner, Camillianer und Domenikaner durch neue Heilige ausgezeichnet. Während das Innere von Sankt Peter für die Feier der Heiligsprechung von Luigi Vanvitelli, dem Architekten von Sankt Peter, ausgestattet worden war11, gestaltete sich die Heimholung der bei der Feier in Sankt Peter aufgestellten und geweihten Standarten mit dem Bildnis des jeweiligen Heiligen zu einem Ereignis, das den städtischen Raum phasenweise für fast ein halbes Jahr zur Bühne machte.

7 Diario ordinario di Roma, Nr. 4356, 26. 6. 1745, 6 f. 8 Gori Sassoli 1994 (wie Anm. 1), 113, Abb. 39. 9 E b d , 113-114. 10 Diario ordinario di Roma, Nr. 4515, 2. 7. 1746, 15. 11 Vgl. Vittorio Casale: Gloria ai beati e ai santi. L e feste di beatificazione e canonizzazione, in; Fagiolo 1997 (wie Anm. 1), 125, Abb. 2: Giuseppe Vasi, Prospetto del teatro per le canonizzazioni dei santi Fedele da Sigmaringen, Camillo de Lellis, Pedro Regalato, Giuseppe da Leonessa, Caterina de' Ricci, 1746, Rom, Istituto Nazionale per la Grafica, F C 51892; Fagiolo 1997 (wie Anm. 1), 1 3 2 - 1 3 3 .

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Die Verwandlung der Stadt

Abb. 1: Giuseppe Panini: Fest/ipparat anläßlich der Hochzeit des Dauphins mit Marin Theresa von Spanien, Piazza l'arnese, 20. Juni 1745, Radierung von J a c q u e s - L o u i s de Lorrain, 57,2 χ 42,5 cm, 1745, Rom, Istituto N'azionale per la Grafica

Im Verlauf m e h r e r e r Alónate bereiteten sich die H a u p t k i r c h e n der jeweiligen Orden auf das Ereignis der H e i m h o l u n g der Standarten vor. Die große Bedeutung dieser Prozessionen wird in allen zeitgenössischen Berichten unterstrichen. Als erste holten die C a m i l l i a n e r M i t t e Juli 1746 die Standarte ihres O r d e n s g r ü n d e r s C a m i l l o De Lellis in feierlicher Prozession durch festlich geschmückte Straßen von Sankt Peter heim nach Santa M a r i a M a d d a l e n a . Die Kirche wurde zu diesem Anlaß festlich geschmückt und illuminiert; m e h r t ä g i g e liturgische Feiern begleiteten das Ereignis. 1 -' Die damals noch neue, erst 1735 reich stukkierte Fassade der Kirche m u ß wie eine p e r m a n e n t e Festdekoration gewirkt haben. 12 Diario ordinario di Roma, N'r. 4521, 16. 7. 1746, 6; Nr. 4524, 23. 7. 1746, 6; Fagiolo 1WT (wie Anni. 1), 133.

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Während sich die Franziskaner auf ihre Feier im September und die Dominikaner auf ihre erst im November geplante Standartenheimholung vorbereiteten, gab der Tod des spanischen Königs Philipp V im Juli 1746 Atilaß zu aufwendigen Exequienfeiern in der spanischen Nationalkirche San Giacomo degli Spagnoli an der Piazza Navona, die der spanische Botschafter in Rom, Kardinal Trojano Acquaviva, durch seinen Architekten Ferdinando Fuga ausrichten ließ, der auch Architekt der spanischen Krone in Rom war. Die Kirche erhielt nicht nur die übliche festliche Ausstattung mit Draperien und Katafalk, sondern auch zwei Fassadenverkleidungen, eine zur Piazza Navona, die andere an der rückwärtigen Seite gegen den Palazzo Madama. 13 Die aufwendigen Exequien fanden nach mehrwöchiger Aufstellung der Festverkleidung, die in einer großen Stichserie veröffentlicht wurde, erst am 15. September 1746 statt14; am 11. September hatten die Franziskaner in ihrer festlich dekorierten Kirche Santa Maria in Aracoeli endlich ihren Ordensheiligen San Pietro Regalato feiern können.15 Beide Ausstattungen wurden nach den Feiern vom Papst besichtigt. Von Sankt Peter über die Via Papalis entlang der Piazza Navona bis zum Kapitol war damit für einige Wochen ein Festweg erfahrbar geworden, der den vertrauten städtischen Raum auf Zeit verwandelte. Den krönenden Abschluß der Festlichkeiten des Jahres setzte am 10. November 1746 der Dominikanerorden mit seiner alle bisherigen Feiern übertreffenden Ausstattung von Santa Maria sopra Minerva zu Ehren der Heimholung der Standarte der neuen Ordensheiligen Santa Caterina de' Ricci.16 „Straordinario" nannte die römische Zeitung die Festausstattung, mit der Carlo Marchionni den mittelalterlichen Bau in einen Festraum nach zeitgenössischem Gusto verwandelte, eine Ausstattung voller ingeniöser Ornamenterfindungen, die den jungen Piranesi nachhaltig beeindrucken und ihren Reflex noch über sechzehn Jahre später in seinen Entwürfen für Santa Maria del Priorato und für San Giovanni in Laterano finden sollten. Auch der Papst ließ es sich nicht nehmen zu kommen „e si compiacque osservare minutamente la magnificenza, e il buon gusto dell'Apparato." Leider haben sich keine Stiche der Dekoration finden lassen, aber einige Skizzen Carlo Marchionnis haben sich erhalten (Abb. 2).17 Sie

13 Fagiolo 1997 (wie Anm. 1), 133-134 und Abb. 25 f. Vgl. auch Werner Oechslin: Bildungsgut und Antikenrezeption im frühen Settecento in Rom. Studien zum römischen Aufenthalt Bernardo Antonio Vittones, Zürich 1972, 54, Anm. 123; Elisabeth Kieven: Ferdinando Fuga e l'architettura romana del Settecento. I disegni di architettura dalle collezioni del Gabinetto Nazionale delle Stampe, Rom 1988, Kat. Nr. 77 f., 74 f. 14 Diario ordinario di Roma, Nr. 4551, 24. 9. 1746, 2 f. 15 Diario ordinario di Roma, Nr. 45 51, 1746, 5 - 9; Fagiolo 1997 (wie Anm. 1 ), 133. 16 Diario ordinario di Roma, Nr. 4572-75, 1746; Fagiolo 1997 (wie Anm. 1), 134-137. 17 Venedig, Fondazione Cini, Inv. Nr. 36.178, Graphit, Feder und braune Tinte, grau laviert, 360 χ 400 mm. Vgl. dazu Catherine Johnston: Il Seicento e il Settecento a Bologna, Mailand 1971, 92, Abb. 28 (als V. Bigari); Mary L . Myers: Architectural and Ornament Dra-

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D i e V e r w a n d l u n g der Stadt

A b b . 2: C a r l o M a r c h i o n n i , Entivuif einer Festdekurntion für Smitn Murin sopni Miner in Rom, G r a p h i t , F e d e r u n d b r a u n e I inte, g r a u l a v i e r t . 36 χ 4 0 c m . 1 746, V e n e d i g . Fondazione Cini

lassen die a u ß e r g e w ö h n l i c h e W i r k u n g der Ausstattung erahnen und machen die ausfuhrliche Beschreibung des römischen Diario nachvollziehbar: „Entrando poi nel Sagro tempio, vedesi questo sontuosamente apparato, ed in forma, che non raffigurasi per quello, ch'egli è, d'antica, gotica struttura", sondern verwandelt in „vaga e m o d e r n a maniera". Alan registrierte vor allem befriedigt, daß die „odiosità" der Spitzbögen durch halbrunde Arkaden verdeckt worden sei. Farbige Darstellungen mit Szenen aus d e m Leben der H e i l i g e n , vergoldete G i r l a n den, Goldbordüren, Damast und Samtdraperien boten im Kerzenschein einen märchenhaften Anblick, der den vertrauten Ort völlig verwandelte. Städtischer R a u m und I n n e n r ä u m e wurden dem gleichen Prinzip der Verwandlung unterworfen; beide Bereiche waren im Lauf des J a h r e s in u n g e w o h n t e r und überraschender Perspektive neu erfahrbar geworden.

w i n g s . J u v a r r a , Vanvitelli, the B i b i e n a - F a m i l v and o t h e r Italian D r a u g h t s m e n , N e w York 1975. Kat. Nr. 38; Elisabeth Kievcn: Von Bernini bis Piranesi. R ö m i s c h e A r c h i t e k t i i r z e i c h n u n g e n des Barock, S t u t t g a r t 1993, Kat. N r . 104.

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1747 Am 12. Juli 1747 lud der französische Botschafter in Rom, Kardinal de la Rochefoucauld, Kurienkardinäle, Mitglieder des päpstlichen Hofes, die Gesandten der anderen europäischen Höfe und den römischen Adel anläßlich des Festes des Heiligen Ludwig von Frankreich zu einem festlichen Te Deum in die französische Nationalkirche in Rom, San Luigi dei Francesi, ein. Nach dem Te Deum begab sich die erlauchte Versammlung samt Gefolge zum Palazzo Cesarini, der Residenz des Botschafters am heutigen Largo Argentina, wo ein Empfang stattfand.18 Der Tag Schloß mit einer großen „festa teatrale" in Form einer „cantata solenne" im prächtig ausgestatteten, der Residenz gegenüberliegenden Teatro Argentina ab, dessen Ausschmückung in Gian Paolo Paninis berühmtem Gemälde überliefert ist.19 Anlaß dieser festlichen Theatervorstellung war die zweite Hochzeit des französischen Dauphin mit einer Tochter des Kurfürsten von Sachsen und Königs von Polen, die bereits im Januar 1747 stattgefunden hatte. Nicht nur das Theater war festlich beleuchtet, sondern auch die sonst eher unscheinbare Fassade des Palazzo Cesarini, die zudem noch mit einer Festarchitektur verkleidet war. So endete also, berichtete die römische Zeitung, das Diario ordinario di Roma, „una cosi grandiosa festa riuscita con tutta Reale magnificenza, e somma sodisfazione di questa nobiltà." Am folgenden Tag wurde das festlich geschmückte Theater zur Besichtigung für die Bevölkerung geöffnet, bevor die Dekoration wieder entfernt wurde. Die Festfassade des Palazzo Cesarini war allerdings nicht für dieses Fest errichtet worden, sondern sie stand bereits seit Ende April 1747 in situ. Der französische Botschafter hatte sie damals anläßlich seiner Erhebung in den Kardinalsrang anbringen lassen.20 Ausgeführt wurde sie, wie üblich, in bemalter Leinwand und mit Stuckdekorationen, und zwar von einem der bekanntesten römischen Ausstattungs- und Dekorationsmaler der Zeit, Antonio Bicchierai.21 Die Bemalung fingierte eine „magnifica Facciata di Palazzo" aus edlem Haustein („fine pietra") mit einer abschließenden Brüstung und Gruppen von En-

18 Diario ordinario di Roma, Nr. 4677, 15.7.1747, 20. 19 Giovanni Paolo Panini, Ausschmückung des Teatro Argentina, 1747, Ol auf Leinwand, 204 χ 247 mm, Paris, Musée du Louvre, Inv. Nr. 414. Zuletzt zum Gemälde siehe Kat. II Settecento a Roma, hrsg. v. Anna Lo Bianco/Angela Negro, Museo Palazzo Venezia, Rom 2005-2006, Mailand 2005, 246, Kat. Nr. 144 mit älterer Literatur. Zum Ereignis siehe Michael Kiene: Musique, peinture et fête. Une fête au théâtre Argentina de Rome à l'occasion du mariage du dauphin de France en 1747, in: Revue de l'art, 88, 1990, 21-30. 20 Diario ordinario di Roma, Nr. 4644, 29. 4. 1747, 15. 21 Elisabeth Kieven: Bicchierai, Antonio, in: Allgemeines Künstlerlexikon, Bd. 10, 1995, 485 f.; Angela Negro: Antonio Biccierai fra pittura d'apparato e grande decorazione, in: Storia dell'arte, 87, 1996, 206-234 .

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geln und Putti, die die Wappen des regierenden Papstes Benedikt XIV., des französischen Königs Ludwig XV. und das des neu kreierten Kardinals trugen. Leider ist die Festfassade in keiner Zeichnung überliefert. Rochefoucauld hatte diese Festfassade also zwei Monate stehen lassen. Er war aber nicht der Einzige gewesen, der im April 1747 die Kardinalswürde empfing. Am 10. April 1747 hatte Papst Benedikt XIV. mehrere neue Kardinäle ernannt. Neben Kardinal Rochefoucauld sollen uns hier nur Mario Mellini : : , der von der habsburgischen Seite favorisiert worden war, und Kardinal Carlo Vittorio Amedeo delle Lanze, almosiniere des Königs von Sardinien und Herzogs von Savoyen23, interessieren, sowie der Sohn des in Rom residierenden „Königs James III. Stuart von England", Henry Duca di York, den Benedikt XIV. aufgrund seines königlichen Ranges in einer eigenen Kardinalserhebung im Juli 1747 kreierte. Als ihm der Papst am 8. Juli in einer Sonderaudienz den Kardinalshut überreichte, feuerten die Kanonen der Engelsburg Salut.' 4 Neben Rochefoucauld hatten auch die anderen neuen Kardinäle ihre unweit des Largo Argentina gelegenen Paläste mit prächtigen Scheinfassaden geschmückt, die das Erscheinungsbild der Straßen, in denen sie standen, auf Wochen, ja sogar für Monate veränderten. Diese vier Kardinäle vollzogen jetzt in fiocchi das Zeremoniell der Besuchsempfänge und darauf das des gegenseitigen Besuchabstattens der anderen .Mitglieder des Kardinalskollegiums und der Gesandten. Alle Kardinäle ließen für drei Tage ihre Festfassaden abends festlich beleuchten „con torce, fiaccole, e lanternoni e di più fuori un concerto di strömend da fiato sulla ringhiera"; ähnlich wie bei den Feiern der Chinea erklang während des Empfangs Musik vor dem Palast. Kardinal delle Lanze lebte in Turin und war nur für einige Wochen nach Rom gekommen. Er hatte den Palazzo della Valle bei Sant'Andrea della Valle gemietet und von Carlo Marchionni, dem Architekten der Ausstattung von Santa Maria Minerva, eine Festfassade errichten lassen, die in einer Zeichnung Marchionnis (Abb. 3)2' und einer ausführlichen Beschreibung überliefert ist: „Come sogliono pratticare in oggi i novelli Porporati di ornare con varj nobili abbellimenti le facciate de i loro proprj Palazzi, [...] si vidde terminata quella

22 Gaetano Moroni: Dizionario di erudizione storico-ecclesiastica, Venedig 1 8 4 0 - 1 8 7 9 , Bd. 45, 1847, 143. 23 Ebd., Bd. 37, 1846, 1 2 0 - 1 2 1 . 24 Siehe dazu Edward Corp (Hrsg.): T h e Stuart Court in Rome. T h e Legacy- of Exile, Aldershot 2003. 25 Rom, Istituto Nazionale per la Grafica, Inv. Nr. F. \\ 8847 (14181), braune Tinte, schwarze Kreide, Feder, grau laviert, 468 χ 635 mm. Vgl. Lucinao Arcangeli: Una 'Deliziosa' per gli Albani ed altri progetti di Carlo Marchionni nella Biblioteca Civica di Jesi, in: Committenza della famiglia Albani. Note sulla Villa Albani Torlonia (Studi sul Settecento Romano Bd. 1-2), Rom 1985, 1 3 2 - 1 3 3 , Abb. 13; Kieven 1988 (wie Anm. 13), Kat. Nr. 104, 92 f.

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Abb. 3 : Carlo Marchionni, Festdekoration der Fassade des Palazzo della Valle anläßlicb der Kardinalsemennung von Carlo Vittorio Amedeo delle Lanze, braune Tinte, schwarze Kreide, Feder, grau laviert, 46,8 χ 63,5 cm, 1747, Rom, Istituto Nazionale per la Grafica

dell'Erri.o delle Lanze [...]. Rappresenta questa tutto insieme una maestosa facciata di Palazzo, formata di varie pietre con ottima Architettura, dipinta con soprafino gusto nei colori, e distribuiti con tal buon ordine che la rendono di comparsa nobilita. Il Zoccolo è di bianco, e nero: li Pilastri del primo ordine di pavonazzo: lo sfondo del dett'ordine di Breccia di Francia: li Pilastri, e sfondo del second'ordine di Portasanta; e li stipiti delle finestre di giallo antico; dandogli perfetto compimento un proporzionato cornicione su cui sono apposti diversi fogliami rilevati messi ad oro, e cosi sono ancora li Capitelli de Pilastri."2. New.York

Tafel VI: La Boîte-en-i' (28. 07. 2006) mit bibliographischen Verweisen.

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welcher das königliche Grimassieren in Gang hielt. In der französischen Revolution entthront und danach mehrfach wiederangebracht und entfernt bis zum Abriß des Tores 1839, fand der Lällekönig ab 1894 ein neues Zuhause in der zum historischen Museum umgewandelten Barfiisserkirche, in deren Schiff er weiter sein Mienenspiel trieb. In den 1930er Jahren scheint er hierfür einen Elektromotor erhalten zu haben, der um 1950 ersetzt wurde. Zahlreiche freie Kopien finden sich an Häusern der Stadt als Kartuschen oder Figuren an Dachtraufen. Während der Automat - dem Mechanismus gemäß - eine horizontal bewegliche Zunge besitzt, sind die Zungen einiger Kopien ,weicher' gefaßt, zugleich umwellt das Haupt wilde Haar- und Barttracht. Der schnurrbärtige Steinkopf am Haus zur Rheinbrücke aus dem frühen 20. Jahrhundert wirkt wie eine Antizipation von Einsteins spätem Photo (Abb. 4). Natürlich soll hier keine direkte Verbindung zwischen letzterem und der Tradition des Basler Lällekönig postuliert werden, man mag den Hinweis auf den berühmten Basler Zungenschlag als Nachtrag zu „Einstein's Clocks" verstehen, die Galison so ingeniös untersucht hat.12 Keine Frage aber, daß der Lällekönig dem Gelehrten bekannt war, keine Frage auch, daß diese Figur Einsteins Welt- oder Selbstbild gemäß war. Wie im Ausgangspunkt von Einsteins Relativitätstheorie geht es im übrigen auch bei ihr um eine Synchronisierung, zunächst im Gleichtakt mit der Turmuhr, dann im rhythmischen Parallellauf der Maschinen. Beim Foto obwaltet eine andere Form synchronen Zusammenspiels, nämlich zwischen der Geste Einsteins (im Begriff, ein bewegtes System - das Automobil - zu verlassen) und dem Druck auf den Auslöser durch den Fotografen, wodurch der Augenblick stillgestellt, ein Schnitt durch die Zeit gelegt, die Geste aufgenommen wird, ohne sie ihrer Wirkungsmacht zu berauben; sie findet auf diese Weise hier erst eigentlich eine Begründung. Nicht also eine Kontextualisierung des Ausschnitts in einer Collage wie bei Hannah Höchs Dada-Kücbenmesser von 1920 in Form eines Bildargumentes, sondern ,Universalisierung' des isolierten Ausschnitts, der sich vielfältigen Besetzungen anbietet und neuen Sinnzusammenhängen öffnet. Einstein hat so das ikonisierte Zeigen seines Sprechorgans zu einem Bildakt13 gemacht. Und was bei der Konfrontation der

12 Peter Galison: Einstein's Clocks, Poincaré's Maps. Empires of Time, New York/London 2003. Ein kupfernes Abbild Einsteins des Künstlers Wayne Chabre von 1986, das man als kuriose (wenn auch unbeabsichtigte) Synthese der Ikone ,Einstein' und des Basler Lällekönig bezeichnen könnte, befindet sich an der Außenwand des Physikgebäudes der University of Oregon in Eugene, OR, Vgl. URL: (28.07.2006). Freundlicher Hinweis von Lisa Roemer. 13 Vgl. Horst Bredekamp: Repräsentation und Bildmagie der Renaissance als Formproblem (Carl Friedrich von Siemens Stiftung Bd. 61), München 1995; Horst Bredekamp: Cellinis Kunst des perfekten Verbrechens, in: Alessandro Nova/Anna Schreurs (Hrsg.), Benvenuto Cellini. Kunst und Kunsttheorie im 16. Jahrhundert, Köln 2003, 337-348.

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Der Lällekönig

A b b . 4: Basel, L ä l l e k ö n i g a m H a u s an d e r S t e i n b r ü c k e ( u m 1 9 1 4 )

Bilder auch ohne weitere Quellen ins Auge springt, hat der Gelehrte gegenüber Johanna Fantova expressis verbis gesagt: „Die ausgestreckte Zunge gibt meine politischen Anschauungen wieder." 14 Im übrigen war Einstein die Eulenspiegelei des Zungenstreckens wesensgemäß, sie entsprach seiner Selbstdarstellung als senex in fans, der sein Genie und seine (Narren-) Freiheit just aus seiner (inszenierten) Kindgebliebenheit zu begründen pflegte. Das Zannen ist ihm eine vertraute ,Waffe', wofür es eine Quelle in einer der zahlreichen Versdichtungen Einsteins gibt. Eine Dame hatte sich 1937 beklagt: „Mein Herr! Ich muß es offen sagen / Ich kann das Zungenstrecken nicht vertragen / Und konnte es nie ganz vergessen, / Daß Sie dazu sich einst vermessen. / In diesem Lande ist es Brauch / Fühlt man ein Schmerzen in dem Bauch / Dem Arzt man streckt die Zunge raus. / Sonst bleibt sie ruhig, nett und fein / Im Alaul? Alan muß stets artig sein". Einstein repliziert

14

L ^ p u b l i z i e r t e s T a g e b u c h in P r i n c e t o n , zitiert nach N e f f e 2005 (wie Anni. 1), 4 4 0 . Zu

Einsteins Foto zeitgenössische Z u n g e n w e i s u n g e n finden sich liei der K ü n s t l e r g r u p p e C O B R A . Das vierte H e f t der Z e i s e h r i f t C O B R A , e r s c h i e n e n 1949, zeigt auf d e m cover einen g e ö f f n e t e n w e i b l i e h e n M u n d m i t , w e i c h e r ' Z u n g e (ein Filmstill). \ gl. W i l l e m i j n Stokvis: C o b r a , C e s c h i e d e n i s , voorspel en b e t e k e n i s van een b e w e g i n g in de kunst van na de t w e e d e w e r e l d d o o r l o g , A m s t e r d a m 1974, 9 1 . A u s g a n g s p u n k t bei C O B R A w a r wohl das Z ü n g e l n der g l e i c h n a m i g e n S c h l a n g e , d u r c h a u s m i t kritischem I m p e t u s in der N a c h k r i e g s z e i t , das Ritual e r h ä l t sich bis in die 1960er J a h r e . 1961 erscheint in Turin P i e r r e A l e c h i n s k v s Buch de ¡migue,

Les tireur.'

es gibt aus dieser Zeit G r u p p e n f o t o s d e r .Mitglieder von C O B R A mit h e r a u s g e -

streckten Z u n g e n . V g l . auch J e a n C l e m e n c e L a m b e r t : C O B R A . L'n art libre, Paris 19S3, 215 ff. Für Hinw eise d a n k e ich G a b r i e l e H u b e r .

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am 9. Dezember: „Von Gutem ist ein ernstes Wort / Wann man's gebraucht am rechten Ort. / Hast du's zu tun jedoch mit Toren / Ist jedes kluge Wort verloren. / In solchem Fall, wie Ihr entdeckt / Hab' ich die Zung' herausgestreckt. / Man kann es wohl nicht besser machen / Als blöde Leute auszulachen. / Umsonst ist's nicht, daß die Natur / Uns schenkte eine Zung' nicht nur. / Sondern dazu die Fähigkeit / Sie rauszustrecken ziemlich weit!" 15 Das Reimen ist bei Einstein der andere spielweise infantile Einsatz der,Zunge'; beim Herausstrecken des Organs - oder genauer: im Foto - wird das potentiell Obszöne (auf die Vulva Bezogene) der Geste eingefangen und kann so zur unangreifbaren politischen Bildmanifestation werden, welche eine karnevaleske ,Pathosiormel' des europäischen Bildgedächtnisses global aktualisiert. Einstein macht sich durch sie zum Lällekönig, zum Narren, der die Torheit der Gegner zu entlarven sucht. Im Foto wird die private Situation in eine öffentliche Geste überführt. Mit dem Ausschnitt konfrontiert, bezieht der Betrachter das Zungezeigen nicht auf sich, sondern auf die ,anderen'. Das Bild schafft also in der Distanzierung zugleich den Raum für eine Solidarisierung; es hält sich so in der dialektischen Schwebe zwischen Auratisierung und Desakralisierang. In millionenfacher Verbreitung in den nachfolgenden Jahrzehnten wird diese Ikone wiederum neuen Inanspruchnahmen und Verwandlungen ausgesetzt, was eine weitere, rezeptionsgeschichtliche Untersuchung wert wäre. Auf diese soll hier zugunsten abschließender Überlegungen zu Einsteins Bildverständnis verzichtet werden. Das Thema Einstein und die Kunst scheint nur in eine Richtung fruchtbar zu sein. Horst Bredekamp hat die freie und spannungsvolle Aufnahme der Relativitätstheorie in der Kunst jüngst präzise skizziert. 16 Nach der anderen Seite hin erweist es sich als unergiebig: In Einsteins greifbaren Publikationen, Briefen und privaten Aufzeichnungen finden sich nur extrem wenige und kaum aussagekräftige Äußerungen zu alter oder moderner Kunst und Architektur. Man kann über die Frage direkter wechselseitiger Rezeption von Kunst und Physik hinaus nach Parallelismen und Divergenzen zwischen Relativitätstheorie und künstlerischen Weltdeutungen einerseits, von physikalischem Kosmostheorien und kulturwissenschaftlichen Modellbildungen zu Einsteins Zeit andererseits nachdenken. Wichtig ist dabei gerade der gemeinsame Bezug auf Figuren wie Ernst Mach oder die technischen und optischen Bildwelten des 19. Jahrhunderts. Karl Clausberg hat hierzu vor kurzem eine ingeniöse Studie vorgelegt. 17

15 Malte Herwig: Nase rümpfen, Zunge zeigen, in: Süddeutsche Zeitung, 21. Ol. 2004. 16 Horst Bredekamp: Einstein und die Avantgarde, in: Kat. Albert Einstein - Ingenieur des Universums. Hundert Autoren für Einstein, hrsg. v. Jürgen Renn, Kronprinzenpalais Berlin 2005, 2 5 6 - 2 5 9 . Vgl auch Ulrich Müller: Raum, Bewegung und Zeit im Werk von Walter Gropius und Ludwig Mies van der Rohe, Berlin 2004, 123. 17 Karl Clausberg: Zwischen den Sternen. Lichtbildarchive, Berlin 2006.

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Der Lällekönig

Es ist im übrigen kaum ein Zufall, daß Einstein selbst am ehesten die bewegten Bilder geschätzt zu haben scheint, und Sergej Eisenstein seinerseits 1929 die Relativitätstheorie als eine dem filmischen Kosmos kongeniale Deskription von Raum und Zeit bezeichnet hat. 18 Worauf es in diesen Überlegungen ankam, war vom illustren Beispiel her, ja dem Bildtestament Einsteins, seine Sensibilität für bildliche Inszenierungen (seiner Person) zu betonen. Was als Nebenaspekt seines Wirkens gelten mag und von ihm selbst gewiß als marginal bezeichnet worden wäre, ist in Wahrheit ein zentraler Aspekt seiner Massenwirkung in der vom Kult der Filmstars geprägten Epoche. Von daher wird sein Zungenbild nicht zufällig gerne neben jenes des in der ,Unterwelt' auffliegenden Rocks von Marylin Monroe gestellt. 19 Ein Letztes, und dies betrifft die dunkle Seite der Kosmologie: Bei dem berühmten Besuch Aby Warburgs bei Einstein am 4. September 1928 konnte sich Einstein nicht auf Warburgs Sicht Keplers einlassen. Dies liegt nicht daran, daß Einstein keine wissenschaftsgeschichtlichen Interessen gehabt hätte, sondern daran, daß er die mythische (= astrologische) Dimension im Denken eines Keplers nicht als genuinen Teil von dessen Erkenntnishorizont im ständigen Ringen um einen „Denkraum der Besonnenheit" akzeptieren wollte. Vielmehr sah er dies als einen uninteressanten Rest an oder als einen Kompromiß um des Gelderwerbs willen.20 Einsteins Weltbild wollte exklusiv das Reich wissenschaftlicher Rationalität von der Sphäre der Macht, des Krieges und der politischen Verfolgung fernhalten, welch letztere der Gelehrte wiederum im Ethos des ewigen Kindes bekämpfte - unter Einsatz der Bilder. Das trennt ihn von Warburg, dem Ikonologen des Zwischenraums, und von dessen Suche nach dem Ausgleich zwischen archaischen Zwängen (oder orgiastischer Raserei) und kalter Ratio, wo für Warburg das Leben der Bilder seinen Ort hat. Aber das heißt eben nicht, daß Einstein nicht mit der Macht der Bilder konfrontiert war und mit ihr umzugehen wußte. Und im übrigen war für Einstein wie schon für Warburg das Medium des bildlichen Agierens die Fotografie. Warburgs Reise nach Arizona und New Mexiko 1895-1896 stand im Zeichen der beginnenden Amateur- und siiapshotFotografie (mit dem Slogan der Kodak Werbung von 1886: „you press the button, we do the rest"). Das Schlangenritual der Hopi galt ihm als eine solche dialektische Arbeit im Denkraum, in Bewältigung der Angst vor Blitz etc. Als Gegenfi-

18 Sergej M. Eisenstein: Die vierte Dimension im Film (1929), in: ders., Jenseits der Einstellung. Schriften zur Filmtheorie, hrsg. v. Felix L e n z / H e l m u t H. Diedrichs, Frankfurt a. ΛΙ. 2005, 112-130. 19 Vgl. Barbara Orland: Einstein trifft Monroe. Ein Tête-à-tête der Popikonen, in: Hagner 2005 (wie Anm. 2), 228-248. 20 Horst Bredekamp: „4 Stunden Fahrt. 4 Stunden Rede". Aby Warburg besucht .Albert Einstein, in: Hagner 2005 (wie Anm. 2), 165-182.

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Gerhard Wolf

Abb. 5: Einstein bei den Uopi, 1931

gur hat Warburg in seinem Kreuzlinger Vortrag vom 21. April 1923 bekanntlich Uncle Sam bezeichnet (der einsteht für die Erfindung der Elektrizität und des Telegraphen) - in einer Philippika wider die „Augenblicksverknüpfung" 21 , man könnte auch sagen die ,interkontinentale Distanzüberwindung' (während die Fotografie eben umgekehrt den M o m e n t festhalten kann). Einstein hat in seiner Faszination mit der Synchronisierung beziehungsweise dem Asynchronen von Ereignissen in bewegten Systemen gerade im Blitz, im Lichtstrahl die absolute Größe gefunden, an der sich alle Relativität bricht. Das mythische Potential dieser Raum-Zeit-Verschränkung liegt auf der Hand, ohne daß dadurch ihre wissenschaftliche Aussagekraft in Frage gestellt würde. Nicht übersehen werden darf aber auch die Technikfaszination Warburgs, die sich in den avantgardistischen Anlagen der Hamburger kulturwissenschaftlichen Bibliothek mit ihren Telefonen, automatisierten Büchertransporten und Reproanlagen funktional wie ästhetisch fassen ließ. In unserer letzten ,Einstellung' sehen wir die beiden Forscher bei den Indianern (Abb. 5, 6): Bei Einstein geht es um pazifistische Brüderlichkeit', er reiht sich als federbekrönter ,Häuptling' mit seiner sich leicht verhüllenden Frau in die Gruppe 21 22

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Vgl. Aby W a r b u r g , Schlangenritual, hrsg. v. Ulrich Raulff, Berlin 1988, 59. Zit. nach Neffe 2005 (wie Anm. 1), 403.

Der Lällekönig

A b b . 6: W a r b u r g m i t K a c h i n a - M a s k e , 1895. M i t f r e u n d l i c h e r G e n e h m i g u n g des W a r b u r g Institute, London

ein (Abb. 5). In einem geistreichen Wortspiel hat dies der Chief der Hopi auf den Punkt gebracht, indem er Einstein als „our great relative" bezeichnete."' Bei Warburg ging es dagegen nicht um harmonistische Kulturtheorie, sondern um Arbeit am Mythos, das Aufspüren von Ungleichzeitigem in einer anderen Kultur, von Bruchstellen und Aneignungen w ie Bewältigungen. Die halb über den Kopf gezogene Kachina-Maske zeigt diese Zwischenposition der anthropologischen Annäherung (Abb. 6). Warburgs Manie war das Stillstellen der Bilder in einem mnemischen Schattenreich, das die Bilder abblendet, die archaische Macht doppelt bewältigen sollte (aber nicht konnte), die Bilder ins Labor verfrachtet und eine universelle Vergleichbarkeit ermöglicht. : î Und doch hat das Schwarzweißfoto eine eigene mediale Bildmacht entfaltet, die Einsteins kritische Ikone wiederum zum Thema einer kulturwissenschaftlichen Bildgeschichte werden lassen kann.

23

Zu u n t e r s c h e i d e n w ä r e n in e i n e r a u s f u h r l i c h e r e n A n a l y s e W a r b u r g s v e r s c h i e d e n e Z u -

g ä n g e zur F o t o g r a f i e ( S c h n a p p s c h u ß , R e p r o d u k t i o n s f o t o g r a f i e , K o m p i l a t i o n aus Illustrierten). U m e i n e ,doppelte' B e w ä l t i g u n g a r c h a i s c h e r Z w ä n g e und M ä c h t e h a n d e l t es sich für W a r b u r g insofern, als Bilder schon an sich e i n e B e w ä l t i g u n g darstellen, wobei sie zugleich ü b e r die K i n v e r l e i b u n g d i e s e r E n e r g i e n ihre .Macht g e w i n n e n . A h n l i c h e s gilt auch für den M y t h o s , darin liegt die D i a l e k t i k d e r P a t h o s f o r m e l n .

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Gerhard Wolf Bildnachweis: Abb. 1: United Press International; Abb. 2: Ullstein bild, Berlin; Abb. 3: Time Inc., New York; Abb. 4: Beate Fricke, Zürich; Abb. 5: Museum of New Mexico Photo Archives (38193), Santa Fe; Abb. 6: Warburg Institute, London.

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Peter Cornelius Claussen

Ein Künstler absolut im Abseits: Christoph Gottfried Ringe Maler - Erfinder - Selbstdenker

Ringe ist einer der vielen vergessenen Porträtisten des 18. Jahrhunderts. Noch nicht einmal in den Fußnoten der Kunstgeschichte taucht er auf, nur der brave Thieme-Becker widmet ihm einige Zeilen, nicht ohne die Diagnose „geistesgestört" zu stellen.1 Seine Leistung als .Maler steht hier nicht zur Debatte.2 Er bewegt sich anscheinend ganz in den Konventionen seiner Zeit. Allerdings erregte Ringe in seinem Todesjahr, 1797, durch die anonym erschienene Schrift des Pfarrers und Historikers Christian Salomon Pollmächer (1762-1826) Aufmerksamkeit.3 Mit einem Titelkupfer versehen wird Ringes Leben zum Exemplum „eines verirrten Selbstdenkers und sonderbaren Oekonom" (Abb. I).4 Einige andere der um 1800 beliebten Schriften über das „Leben berühmter und berüchtigter Menschen" griffen Ringes Geschichte mit Titelstichworten wie „Verschrobenheit" und „Original-Genie" auf.' Wir finden die Legende vom Künstler für ein bürgerliches Publikum der Frühromantik in

1 Van Kempen, in: Allgemeines Lexikon der bildenden Künstler von der Antike bis zur Gegenwart, hrsg. v. Ulrich T h i e m e / F e l i x Beeker, Leipzig 1934, Bd. 28, S. 367, s. v. Ringe, Christoph Gottfried. 2 Sie ist heute nur noch an wenigen nachgewiesenen Werken nachzuprüfen. Ich danke Petra Volger von der Francisceumsbibliothek Zerbst und Inge Streuber vom Historischen .Museum Kothen für Auskünfte und freundliche Hilfe bei der Bildbeschaffung. 3 Die Identifizierung beruht auf Christian Salomon Pollmächers Nachruf in: Neuer Nekrolog 4, 1826, 854. 4 Kurze Lebensbeschreibung und genaue Abbildung des seit kurzen verstorbenen Herrn Christoph Gottfried Ringe, vormaligen Anhalt-Köthenschen Hofmalers, eines verirrten Selbstdenkers und sonderbaren Oekonomen: zum Besten armer Schulkinder, Halle 1797 (anonym verfaßt von Christian Salomon Pollmächer 1762-1826). 5 Der Köthensche Hofmaler Ringe. Beyspiel einer sonderbaren Verschrobenheit, aus glaubwürdigen Nachrichten gezogen, in: Historische Gemälde in Erzählungen merkwürdiger Begebenheiten aus dem Leben berühmter und berüchtigter Menschen II, Leipzig 1806, 1 - 2 5 ; R. Maler: Ein Original-Genie aus dem vorigen Jahrhundert, in: Lesefrüchte vom Felde der neuesten Literatur des In- und Auslandes 3, 1827, 3 3 - 3 9 .

Peter Cornelius Claussen

extremis nicht von einem Berühmten verkörpert, sondern von einem gescheiterten Außenseiter in der Provinz.6 Ringe wurde 1713 in Bernburg als Sohn eines Stellmachers geboren. Er lernte das Malen bei einem Onkel, Christian Ringe (gest. 1746), der Hofmaler in Kothen war. Wohl als dessen Nachfolger wurde Ringe dann „Anhalt-Köthenscher Hofportraitmahler". Das Bildnis des Fürsten August Ludwig von AnhaltKöthen malte er 1748 (Abb. 2).7 Das etwas überlebensgroße Porträt ist gleich doppelt signiert und zeigt Ringe als talentierten Porträtisten, und spielt mit der spiegelnden Rüstung und in der atmosphärischen Hintergrundslandschaft auch diverse Register malerischen Könnens aus.8 Ringes Biograph hatte den alten Maler erst nach 1790 kennengelernt. Erstaunlicherweise weiß er trotzdem Bescheid über die Einzelheiten, die drei oder vier Jahrzehnte zuvor in Kothen vorgefallen waren. Er hat seine Informationen von Ringe selbst. Die abgedruckten Originalbriefe sollen die Sorgfalt betonen, mit welcher der Autor vorging. Solche scheinbare Zuverlässigkeit darf aber nicht vergessen lassen, daß uns die Vita nur in doppelter Brechung überliefert ist: durch des Malers eigene Geschichten und durch die Sicht seines Chronisten. Schon in Kothen habe der junge Ringe „Spott und Nekkereien" seiner Mitbürger auf sich gezogen; nicht zuletzt durch das Haus, das er sich und seiner Familie „nach seiner Phantasie" gebaut hatte: eine „große Bude", schwarz angestrichen und mit goldenen Sternen verziert. Seine Lieblingsbeschäftigung seien mechanische Erfindungen gewesen, die er bis zur Lächerlichkeit trieb. Sein Anspruch war, „schlechterdings in allen menschlichen Künsten Meister, ja selbst Original zu sein".9 So habe der Maler einen Wagen erfunden, der „mittelst eines auf demselben angebrachten Getriebes durch die Fahrenden selbst in Bewegung gesetzt werden konnte".10 Der „ruhmbegierige Künstler" bat den Fürsten, daß dieser das 6 Ernst Kris/Otto Kurz: Die Legende vom Künstler. Ein geschichtlicher Versuch, Wien 1934; Rudolf Wittkower/Margot Wittkower, Künstler - Außenseiter der Gesellschaft (Born under Saturn, London 1963), Stuttgart 1965. 7 Fürst August Ludwig von Kothen wurde 1728 geboren und regierte von 1747-1755. 8 Maße: 1,50 χ 1,03 m. Die Signatur „C.G. Ringe pinxit" und die Jahreszahl in der unteren Ecke sind nur noch schwach erkennbar. Es gibt eine zweite, nur schwach erkennbare Signatur in der rechten oberen Ecke. Diese Angaben entnehme ich dem Restaurierungsbericht von 1985, der mir freundlicherweise durch Petra Volger zur Kenntnis gebracht wurde. 9 Pollmächer 1797 (wie Anm. 4), 5. 10 Schulze: Kothen in Anhalt. Ein Führer durch die Stadt und seine Geschichte, Kothen 1923, 155, macht daraus - wohl unzutreffend - ein „Ur-Fahrrad". Er weiß (S. 158) von einem zweiten Erfinder des 18. Jahrhunderts in Kothen zu berichten: dem Regierungsadvokat Holzer, der nach Schulze (ohne Quellenangabe) zu den wenigen Vertrauten Ringes gezählt haben soll. Er regte eine Flugmaschine mit windmühlenähnlichen Flügeln an, mit der er wenige Meter vom Boden abgehoben habe und dann in einen Graben gefallen sein soll.

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E i n K ü n s t l e r a b s o l u t i m Abseits: C h r i s t o p h G o t t f r i e d R i n g e

J'iittn.eimS'ä

S

A b b . 1: D e r alte ( C h r i s t o p h G o t t f r i e d R i n g e . T i t e l k u p f e r v o n B l a n c h a r d , g e s t o c h e n v o n C . S c h u l z e , aus: K u r z e L e b e n s b e s c h r e i b u n g unti g e n a u e A b b i l d u n g d e s seit k u r z e m verstorbenen H e r r n C h r i s t o p h G o t t f r i e d Ringe, vormaligen Anhalt-Kiithenschen H o f m a l e r s ; e i n e s v e r i r r t e n S e l b s t d e n k e r s u n d s o n d e r b a r e n O e k o n o m e n , I lalle 1

Peter Cornelius Claussen

„Kunstwerk" in Augenschein nähme. Die Kutsche des Landesherrn begegnete dem von Ringes Muskelkraft in Bewegung gesetzten Gefährt. „Allein die Langsamkeit mit welcher dies geschah, und der Schweiß mit welchem der Kunstvolle Fuhrmann bereits bedeckt war, entlockte dem Fürsten ein Lächeln und den Ausruf: Fahrt zu! Ringe ist ein N(arr)!" - Die Begegnung mit dem schweißgebadeten Erfinder, war dem zunächst nicht uninteressierten Fürsten ganz offensichtlich peinlich. Der Befehl: „Fahrt zu!" ging wohl an den eigenen Kutscher. Der Fürst fürchtete, sich lächerlich zu machen, wenn er mit diesem Ringe, der sich zwar mit eigener Kraft, aber außerhalb höfischer Etikette bewegte, zusammen gesehen wurde." Die Kränkung für den Künstler war tiefgehend. „Sein Künstlerstolz war gebeugt, und die Erwartung des fürstlichen Beyfalls, der schönste Lohn für seine Mühe, vernichtet". 12 Er verließ Kothen und zog sich auf ein kleines Bauerngut in Wiedemar bei Delitzsch zurück, um Ackerbau zu betreiben. Als hätte er den Wechsel vom Fürsten- auf den Bauernhof schon vorbereitet, hatte er das kleine Anwesen 1752 für 750 Gulden gekauft, die er bar bezahlen konnte. Der Rückzug war nach dem Zeugnis Pollmächers auch ein ,zurück zur Natur': „Er prieß sich damals glücklich, wie er mir selbst sagte, daß er fern vom Stadtgeräusch mit eigenem Stier in stillem Frieden sein Feld bauen könnte". Ringe war damals schon verwitwet und hatte vier Töchter. Zum Hausrat, den er nach Wiedemar mitbrachte, gehörte der zerlegte „künstliche Wagen" ebenso wie die Köthener Uniform mit Degen, mit der er im Dörfchen Einzug hielt. Allerdings machte er nichts so wie andere Bauern. Alle Tiere wurden im Wohnhaus gehalten, während er die Wirtschaftsgebäude für andere Zwecke nutzte. So deckte er im Sommer das Dach der Scheune ab und pflanzte Erdbirnen (Kartoffeln) auf der Tenne. Das Pferd starb bald den Hungertod. Der Ochse fiel vor Schwäche um und angeblich versuchte Ringe ihm Beine zu machen, indem er ein Feuer unter ihm entzündete, was das Tier nicht überlebte. Säen und Eggen kombinierte er zum Erstaunen der Bauern. Als „Selbstdenker" verachtete er die menschlichen Regeln und beharrte in seinem „Eigensinn". Nicht nur die bäuerliche Ökonomie wurde neu erfanden, auch die Küche wurde „simplificiret". Getreide wurde nur gekocht oder gewässert gegessen, ohne den

11 Wer auch immer 1675 vor Gottfried Wilhelm Leibniz' Augen mittels einer Maschine auf der Seine gelaufen ist, er hat sich vermutlich eleganter bewegt als Ringe und so den Augenanstoß zu Leibniz' Drôle de Pensée eines Theatrum der Künste, der Natur und der Unterhaltung geben können. Vgl. Horst Bredekamp: Die Fenster der Monade. Gottfried Wilhelm Leibniz' Theater der Natur und Kunst, Berlin 2004, 4 4 - 4 7 , 2 0 0 - 2 0 1 . In Leibniz' Theatrum sollen an erster Stelle Maler, Bildhauer und Zimmerleute neben vielen anderen interessanten Könnern für die Erfindungen und ihre representation sorgen. 12 Der Köthensche Hofmaler Ringe 1806 (wie Anm. 5), 4.

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Ein Künstler absolut im Abseits: Christoph Gottfried Ringe

Ahl). 2: C h r i s t o p h G o t t f r i e d R i n g e , P o r t h i t des F ü r s t e n A u g u s t L u d w i g von A n h a l t - K o t h e n ( 1748). 1 l e n t e in d e r F ü r s t e n g a l e r i e d e r F r a n c i s e e u m b i b l i o t h e k in Z e r b s t

M ü l l e r zu b e m ü h e n o d e r Brot b a c k e n zu k ö n n e n . K r ä h e n w a r e n die Festtagsb r a t e n . D a s M i t l e i d des B e r i c h t e r s t a t t e r s g e h ö r t den Töchtern, w e l c h e die ext r e m e G e n ü g s a m k e i t (sprich G e i z ) des e i g e n s i n n i g e n S e l b s t v e r s o r g e r s teilen m u ß t e n . 1 . D i e dritte der T ö c h t e r , Karoline, ist zu dieser Z e i t in der F r o h n v o g tei ( d e m Z u c h t h a u s ) in D e l i t z s c h g e s t o r b e n , in w e l c h e sie w e g e n W a h n s i n n s g e b r a c h t w o r d e n war.

13

„ V e r d o r b e n e " L e b e n s r n i t t e l , auf d e n e n Pilze g e w a c h s e n w a r e n , aß er m i t g r ö ß t e m A p p e -

tit, s. P o l l m ä e h e r 1797 (wie A n n i . 4), 9.

52 y

Peter Cornelius Claussen

Der ersten bäuerlichen Phase Ringes, der sich weigerte von den Kriegszeiten (Siebenjähriger Krieg 1 7 5 6 - 6 3 ) Notiz zu nehmen, setzte eine Demütigung durch Soldaten ein Ende. 14 Ohne sich weiter um sein Gut zu kümmern, brach er mit seinen drei verbliebenen Töchtern auf nach Magdeburg, wo er sich für neun Jahre als Maler niederließ. Uber diese Zeit ist bisher nicht viel mehr bekannt als ein Brief, den Pollmächer abdruckt. Er ist die Antwort auf die Vorhaltungen eines Auftraggebers, die gelieferten Porträts seien nicht ähnlich genug. In starkem Ton wird die Kritik zurückgewiesen und sogar ein erheblicher Betrag nachgefordert. Im Besitz Pollmächers befand sich ein Selbstbildnis des Malers „durch Hülfe des Spiegels, in Oehl gemahlt" und mit der eigenhändigen Aufschrift: „Wie ich C. G. Ringe Hochfurstl. Köthenscher Hofportraitmahler gemalet dies mein ehrlich Gesicht Anno 1766. Jetzt in Hamburg".1' Der Chronologie nach kann das Bild eigentlich nur in der Magdeburger Zeit gemalt worden sein. Der Schluß-Zusatz dürfte dann später in der Hamburger Zeit hinzugekommen sein. Aus welchem Anlaß oder mit welchen Hoffnungen Ringe Magdeburg verließ, ist nicht bekannt. Er ließ die älteste Tochter (Anna Friederike Regine) dort zurück und zog mit den anderen beiden nach Hamburg. 16 Vermutlich 14 Jahre war Ringe dort als Porträtmaler tätig.17 Bald nach der Ankunft starb seine jüngste Tochter und als die andere, Charlotta Sophia, nach Bremen ging, um sich

14 Die Soldaten schlugen ihn mit der flachen Klinge, um bei dem Widerstrebenden ihre Einquartierung zu erzwingen. Aus Pollmächers Angaben schließe ich, daß der erste Aufenthalt in Wiedemar im Zeitraum 1753 und 1757 gelegen haben muß. Damals war Ringe etwas über 40 Jahre alt. 15 Pollmächer 1797 (wie Anm. 4), 4. 16 Die in Magdeburg gebliebene Tochter macht 1793 verschiedene, verwirrt wirkende Eingaben, um den Besitz in Wiedemar oder wenigstens das Pachtgeld zu erhalten. Einen dieser Briefe druckt Pollmächer 1797 (wie Anm. 4), 3 8 - 4 0 ab. 17 Der Neue Rump. Lexikon der bildenden Künstler Hamburgs, Altonas und der näheren Umgebung. Überarbeitete Neuauflage des Lexikons von Ernst Rump (1912), hrsg. v. Kay Rump, bearb. v. Maike Bruhns, Neumünster 3 2005. - Die Chronologie seiner Stationen richtet sich nach der Aussage Pollmächers, Ringe habe sein Gut in Wiedemar 23 Jahre nicht wiedergesehen. Von ihnen verbrachte er neun Jahre in Magdeburg, 1790 kehrte er zurück. Hier eine Wahrscheinlichkeitsrechnung zur Chronologie: 14. April 1713 Geburt in Bernburg; 1739 Geburt der Zweitältesten Tochter Charlotte Sophie; seine Frau hat ihm vier Töchter geboren und ist vor Ringes Wegzug aus Kothen verstorben; 1746 spätestens in dieser Zeit Anstellung als Porträtmaler am Hof in Kothen; 1752 Kauf des Bauerngutes in Wiedemar; zu unbekannter Zeit nach 1752 Bruch mit dem Fürsten und Rückzug aufs Land nach Wiedemar; die Länge des ersten Aufenthaltes in Wiedemar ist unsicher, kann aber nicht länger als zehn Jahre gedauert haben; spätestens 1763 (Ende des Siebenjährigen Krieges) Entschluß nach Magdeburg zu gehen; 1766 datiertes Selbstbildnis (verschollen); 1772 Umzug nach Hamburg, dort 18 Jahre tätig; 1790 Rückkehr nach Wiedemar; 27. August 1797 Tod in Wiedemar.

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Ein K ü n s t l e r absolut im Abseits: C h r i s t o p h G o t t f r i e d Ringe

dort als Porträtmalerin niederzulassen18, verkam der alternde Ringe. Von Ungezieferheeren geplagt, gegen die er einen Kampf auf allen Ebenen führte, glaubte er, Hexenmeister hätten ihm die Flöhe angehängt. Er versuchte den Hamburger Senat auf 1500 Thaler zu verklagen als Kompensation für die mit der Flohjagd vergeudete Arbeitszeit, da ihn die Obrigkeit nicht vor der Hexerei zu schützen vermöge. Erst 1790, mit 77 Jahren, verließ er Hamburg und kehrte auf seinen Bauernhof in Sachsen zurück. In Lumpen gehüllt, hielt er Einzug. Mit großer Energie machte sich der alte Mann daran, das verfallene Gehöft mit billigsten Hölzern eigenhändig wiederaufzubauen. Er wollte sogar wieder heiraten und Kinder haben.1'' Malen konnte er nicht mehr, „weil sein Gesicht (die Sehfähigkeit) blöde geworden war." Die immerhin 15 Acker seines Besitzes versuchte er zunächst ohne Zugtier und Pflug zu bebauen, indem er die Saatkörner einzeln in tiefe Löcher steckte. Als im Frühjahr nur wenig aufging, setzte er auf den kahlen Stellen Erbsen und Gemüse. Die Ernte erfolgte mit der Schere. Bewunderung über die Geduld und Ausdauer mischen sich in der Schilderung Pollmächers mit Mitleid. Da Ringe merkte, daß seine Anbaumethode wenig Ertrag brachte, baute er Pflug und Egge nach eigener Konstruktion selbst. Außerdem erwarb er ein altes Pferd, das die Entbehrungen allerdings nicht lange überlebte. Weiter fühlte er sich von Hexenmeistern verfolgt, von denen er annahm, sie seien von den Köthenern bezahlt. Als sich die Zeichen seiner Verwirrung verstärkten und für die Nachbarn störend wurden, ließ die Obrigkeit (wohl auf Anregung des Pfarrers Pollmächer) den wunderlichen Alten untersuchen. Der Amtsarzt erkannte auf „Nervenmelancholie". Offenbar wollte man Ringe 1795 der Fürsorge übergeben. Da zog der alte Maler seine besten Lumpen an, steckte einen Haarbeutel auf und machte sich zu Fuß nach Delitzsch, wo er seine Sache wenig erfolgreich verfocht. Es wurde ein Vormund bestellt und sein Land verpachtet.-" Als ihn auf dem Rückweg die Nacht überraschte, schlief er trotz Eiseskälte im Straßengraben ein, wo er festfror. Erst mit 84 Jahren verließ ihn seine Gesundheit. Er starb elend und allein, da er sich eingeschlossen hatte und zu schwach war, die Riegel zu öffnen.

18

P o r t r ä t s von ihrer H a n d w e r d e n im B r e m e r Rathaus und im F o c k e - M u s e u m bewahrt,

vgl. Van K e m p e n , in: Allgemeines Lexikon der bildenden Künstler von der Antike bis zur G e g e n w a r t , hrsg. v. Ulrich T h i e m e ; Felix Becker, Leipzig 1934, Bd. 28, S. 367, s. v. Ringe, C h r i s t o p h G o t t f r i e d ; H a n n e l o r e Cyrus: Zwischen Tradition und . \ l o d e r n e . K ü n s t l e r i n n e n u n d die bildende K u n s t in B r e m e n bis M i t t e des 20. J a h r h u n d e r t s , B r e m e n 2005, 19. 19

Seine Braut solle J u n g f r a u sein, sagte der ü b e r 80jährige, sonst w ü r d e er sie gleich wie-

der heimschicken. 20

D a s schildert nicht Pollmächer, s o n d e r n 1806 der a n o n y m e A u t o r von „ D e r K ö t h e n s c h e

H o f m a l e r Ringe" (wie A n m . 5), 18. H i e r e r f ä h r t m a n auch, daß der P f a r r e r des O r t e s sich u m den Alten k ü m m e r t e . E r ist o h n e Zweifel identisch m i t d e m A u t o r d e r Schrift von 1797: Pollmächer. Vermutlich w u r d e auch dieser als V o r m u n d eingesetzt.

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Peter Cornelius Claussen

Pollmächers Schrift führt uns den alten Maler in einem bemerkenswerten Titelkupfer vor Augen (Abb. 1). Der Zeichner Blanchard behauptet in seiner Signatur 21 , Ringe nach der Natur wiedergegeben zu haben. Er hat ihn also noch lebend gesehen. Der Stich und das Büchlein sind im Todesjahr Ringes 1797 erschienen. Die Vorbereitungen für die Publikation müssen also schon zu Lebzeiten Ringes erfolgt sein. Frontal steht der alte Mann auf einem Wegstreifen vor seiner Behausung. Die linke Hand an die Brust gelegt, schaut er uns mit leicht divergierenden Augen an. Das keineswegs abgezehrte Gesicht ist von einem gelockten Vollbart umgeben. Hauptzweck des Stiches ist es, die Bekleidung des wunderlichen Helden vor Augen zu führen. Diese wirkt auf den ersten Blick orientalisch mit Pluderhosen, einer hochgetürmten Kopfbedeckung, halb Fez halb Turban, und einer Fußbekleidung, die sich an den Spitzen hochbiegt wie türkische Pantoffel. Aber vermutlich täuscht die Assoziation Orient. Gemeint ist vor allem Andersartigkeit, Abweichung vom Üblichen, wie sie in Pollmächers Schrift eingehend beschrieben wird. Die breit nach außen gesetzten Füße sind vielfach umwickelt. Mit groben Stricken hat Ringe Sohlen untergebunden. Die Hose besteht aus großen Stoffmassen, die in der Bauchgegend zu einem Wulst eingekrempelt sind. Mehrere Schichten aus verschlissenen Stoffen bilden die Oberbekleidung. Darüber wird ein Schultermantel wie die mittelalterliche Adelskleidung mit einem ledernen Tasselriemen über der Brust zusammengehalten. Die Gestalt des alten Malers scheint in den Stoffmassen unterzugehen. Zu dem ganzfigurigen Porträt gehört als Hintergrund ein Ausschnitt von Ringes Haus. Was uns heute vielleicht weniger auffällt als den Zeitgenossen, ist die Unordnung der Architektur. Wir sehen eine kleine Dachlandschaft aus gegenläufigen Schrägen. Auf dem Hauptdach liegen keine Ziegel, sondern Bretter nebeneinander mit deutlichen Lücken. Die Frontalität des Alten an der Rampe einer imaginären Bühne erinnert an Antoine Watteaus jugendlichen Harlekin, ohne daß man an eine formale Abhängigkeit denken sollte.22 Die Lumpen sollen uns - wie der Sprechgestus der Hand zeigt - eine Lehre geben. Im Text wird die Bedürfnislosigkeit des alten Ringe mit der des Diogenes verglichen. 23 Bild und Leben des „verirrten Selbstdenkers" präsentieren sich also vermutlich auch als philosophisches Exempel. So wirksam die Lebensgeschichte Ringes auch heute noch imaginiert werden kann, ich bin nicht sicher, in welchen Diskurs wir sie einschreiben sollen. Deutlich hebt sich die kleine Schrift über Ringe ab von den rührend-erbauli-

21 Der Stich nennt „Blanchard ad nat. del." und „C. Schulz direx. 1797". 22 Das vermutlich 1718 gemalte Spätwerk Watteaus wurde allerdings erst im 19. Jahrhundert bekannt und berühmt. Der Kupferstich ist also in seiner Erfindung völlig unabhängig von dem Gemälde. Donald Posner: Antoine Watteau, London 1984, 267-270. 23 Pollmächer 1797 (wie Anm. 4), 26.

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Ein K ü n s t l e r absolut im Abseits: C h r i s t o p h G o t t f r i e d Ringe

chen Geschichten eines Christian Heinrich Spieß über Menschen aus dem Volk, die (zumeist aus Liebesschmerz) wahnsinnig geworden sind.- 4 Mit seinem Titelkupfer zielt die anonym erschienene Schrift des Landgeistlichen zwar verlegerisch auf ein ähnliches Publikum, doch unterscheidet sie sich von allen romanhaften Biographien durch die Nüchternheit des Textes, der mit belegbaren Fakten ein Lebensprotokoll zu rekonstruieren scheint. Wozu? Ging es dem Autor um das Gedächtnis an Ringe als Künstler und Erfinder? Wenn ja, ist ihm sein Unterfangen mißglückt. Ringes Memoria hat er nicht bewahren können, weder die an den Künstler noch die an den „Selbstdenker". Und was ist mein Interesse beim Wiederlesen dieses vergessenen Textes? Möchte ich einen Künstler und Erfinder rehabilitieren? Eigentlich nicht. Hätte Ringe Baupläne für seinen Kunstwagen hinterlassen 2 ', vielleicht könnte man ihn ähnlich wiederentdecken, wie seinen Zeitgenossen und (fast) Landsmann Melchior Bauer, dessen ingeniöses Projekt für einen Fluggleiter mit menschlichem Antrieb 1921 wiederaufgefunden und seitdem mehrfach publiziert wurde.26 Vergeblich hatte der aus einfachsten Verhältnissen stammende und mittellose Melchior Bauer das Flugzeugprojekt 1763 König Georg III. von England, anschließend Friedrich dem Großen und zuletzt seinem Landesfürsten Graf Heinrich XI. von Reuss-Greiz vorzustellen und anzudienen versucht. Auch sein Werk wurde nur als Narrheit und er als „verderbeter Kopf" zurückgewiesen. Was uns heutigen als „Melancholie der Erfindung", so Thomas Macho, erscheint 2 , bedeutete für die Erfinder in dem kaum zu durchbrechenden Gesetz des Scheiterns in vielen Fällen einen katastrophalen Bruch in der Lebensperspektive. Für Ringe und für Pollmächer gilt auf je unterschiedliche Weise, was Wolfgang Lepenies im Hinblick auf die Verfaßtheit des Bürgertums im 18. Jahr-

24

Diese waren im letzten J a h r z e h n t des 18. J a h r h u n d e r t s u n g e h e u e r populär, vgl. Christi-

an H e i n r i c h Spieß: Biographien der W a h n s i n n i g e n (1795/96), ausgewählt, hrsg. und mit ein e m N a c h w o r t versehen v. W o l f g a n g Promies, D a r m s t a d t 1966. 25

Ringe ist gewiß nicht der erste, der ein von M e n s c h e n mechanisch angetriebenes F a h r -

zeug g e b a u t hat. L e o n a r d o hat bekanntlich schon einen P a n z e r w a g e n entwickelt, in dessen I n n e r e n die Besatzung ü b e r ein Räderwerk den Antrieb besorgte. 100 J a h r e vor Ringe (1649) hatte der N ü r n b e r g e r Zirkelschmied J o h a n n H a u t z s c h ( 1 5 9 5 - 1 6 7 0 ) einen K u n s t w a g e n hergestellt, der d u r c h ein Federwerk angetrieben wurde. Vermutlich praktikabler war die Erfind u n g eines Rollstuhls mit H a n d k u r b e l a n t r i e b , den sich der g e l ä h m t e U h r m a c h e r Stephan Farfler 1655 in N ü r n b e r g baute, u m o h n e f r e m d e H i l f e zur Kirche zu gelangen. 26

D i e F l u g z e u g h a n d s c h r i f t des M e l c h i o r Bauer im T h ü r i n g i s c h e n Staats-Archiv Greiz,

hrsg. v. Friedrich Schneider, Rudolstadt 1924; Die F l u g z e u g h a n d s c h r i f t des M e l c h i o r Bauer von 1765, eingeleitet v. W e r n e r Q u e r f e l d , Rudolstadt 1982. Sogar ein R o m a n ist über ihn verfaßt w o r d e n : P e t e r Supf: D e r H i m m e l s w a g e n . Das Schicksal des M e l c h i o r Bauer, Stuttgart 1953. 27

T h o m a s M a c h o : D i e T r ä u m e sind älter als die E r f i n d u n g e n , in: Kat. W u n s c h m a s c h i n e -

W e l t e r f i n d u n g . Eine G e s c h i c h t e d e r Technikvisionen seit d e m 18. J a h r h u n d e r t , hrsg. v. Brigitte Felderer, W i e n , W i e n / N e w York 1996, 4 5 - 5 5 . 46.

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Peter Cornelius Claussen

hundert schreibt: „Melancholie und Suche nach Originalität gehören zusammen". 28 Ringes Lebensgeschichte bedient auch heute noch die Künstlerlegende des Genies mit wahnhaften Zügen und Verschrobenheiten. Auch wenn sich Pollmächer mit Kommentaren erstaunlich zurückhält 29 , ist es offenbar dieser Aspekt, der ihn zu Ringe hingezogen hat und den er für mitteilenswert hält. Ihn fasziniert der Selbstdenker mit dem sehr männlichen Anspruch30, Meister und Original in allen menschlichen Künsten zu sein. Der Autor gibt nicht zu erkennen, ob er die Diagnose des Amtsarztes auf „Nervenmelancholie" teilt. Die schwarze Bude mit goldenen Sternen des jungen Ringe und die Besessenheit im Kampf gegen die Flöhe des alten erscheinen als notwendige Folge des Originalgenies, das nicht anders kann, als alles neu zu erfinden und damit an den Rand der Gesellschaft gerät. Bemerkenswert scheint mir, daß Ringes Ambition am Hof wohl weniger auf Neues in seinem Porträtfach, sondern auf Erfindungen in der mechanischen Kunst zielte. Das ist sicher allgemein eine Tendenz der Aufklärung und vielleicht ein Vorbote des technischen Zeitalters. Auch wenn Ringes Wagen mit Sicherheit auf damaligen Straßen zu nichts taugte, sein Ehrgeiz war auf eine nützliche Kunst gerichtet. Sein aufrechtes Scheitern ist das eine Thema der Schrift und vielleicht auch das, was heutige Leser wieder anzuziehen vermag. Das andere und bei Pollmächer überwiegende Thema sind die unappetitlichen Sonderlichkeiten, mit denen sich der Maler und seine Familie außerhalb bürgerlicher Normen stellten. Originalität wird letztlich nicht als Kreativität, sondern als Destruktion dargestellt, die den Maler und seine Töchter in der Erzählung Pollmächers nahe an den gesellschaftlichen und existentiellen Nullpunkt bringt, Ringe aber niemals zur Korrektur seiner Unangepaßtheit zwingt. Nachgezeichnet wird das Scheitern einer Karriere aus den nämlichen Eigenschaften, aus denen die bekanntesten Künstler ihren Ruhm beziehen: Ehrgeiz, Stolz und der Anspruch, alles neu zu erfinden. Das Ideal der Zeit, das Originalgenie, entdeckt Pollmächer ohne jede satirische und auch ohne ausgesprochne moralische Absicht ausgerechnet in einem wunderlichen, halbblinden Greis, der sich seine Flöhe nur als Verhexung erklären kann, dessen Geiz ihn zum Gespött macht und dessen Karriere nur als sozialer Abstieg bezeichnet werden kann. Hatte der Autor doch bewiesen, daß das Original, das sich selbst absolut 28

Wolfgang Lepenies: Melancholie und Gesellschaft, Frankfurt 1969, 85.

29

Kommentare bringt dann Schulze 1923 (wie Anm. 10), 157 an: „Letzten Endes wird die

Beschäftigung mit der Mechanik und der Bau des Ur-Fahrrades seinen Geist verwirrt haben. Verletztes Ehrgefühl und übertriebene Sparsamkeit richteten ihn dann zugrunde." 30

Erfinderisches Schöpfertum als Mythos des Männlichen betont Herbert Lachmayer:

Vom Ikarus zum Airbus, in: Kat. Wunschmaschine-Welterfindung. Eine Geschichte der Technikvisionen seit dem 18. Jahrhundert, hrsg. v. Brigitte Felderer, Wien, W i e n / N e w York 1996, 2 4 - 3 9 .

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Ein Künstler absolut im Abseits: Christoph Gottfried Ringe

setzt und nach eigenen Gesetzen handelt, wenn es nicht durch besondere Talente und ein dafür empfängliches Umfeld geschützt ist, scheitern muß. Für die Kunstgeschichte, deren Auswahl und Wertung letztlich immer vom Erfolg des Künstlers geprägt sind, ist dieser Blick in die Schattenwelt der Vergessenen lehrreich. Die gelebte Künstlerlegende wird häufiger zum Scheitern und zur Vergessenheit geführt haben als zu Ruhm oder Nachruhm. Doch vermutlich sitze ich mit einem solchen Résumé der Konstruktion einer Geschichte auf, die tendenziös nur diesen Aspekt einer Lebensgeschichte herausgreift, die auch ganz anders zu lesen wäre. Die erhaltenen Gemälde zeigen nämlich, daß Ringe auch nach seinem Wegzug aus Kothen weiter als Maler am Fürstenhof tätig war. In Kothen befindet sich z.B. das von ihm signierte, großformatige Porträt der Luise Charlotte Friederike (geb. Prinzessin von Holstein-Sonderburg-Glücksburg)." Sie war die Schwiegertochter des erwähnten August Ludwig und ist mit ihrem Sohn dargestellt. Von den Lebensdaten her (1749-1812) kann sie erst um 1770 gemalt worden sein. Ihr Sohn dann, Ludwig Fürst von Anhalt-Köthen, der 1778-1802 regierte, ist von Ringe in einem auf das Jahr 1784 datierten Porträt dargestellt worden, also in einer Zeit, in der Pollmächer nichts anderes von Ringe zu berichten weiß, als daß dieser sich in Hamburg mit Flöhen herumschlug. So gesehen ist die Konstruktion des „Selbstdenkers" als Künstlerlegende paradoxerweise nur möglich, indem die Rolle des beamteten Künstlers, der seine Tätigkeit auch von Magdeburg und Hamburg aus weiter erfolgreich betreiben konnte, einfach unterschlagen wurde. Bildnitchïïeis: Abb. 1: Foto Zentralbibliothek, Zürich; Abb. 2: Foto Wellna, Zerbst.

31 »Maße: 1,63 χ 1,17 m. Nähere Daten verdanke ich Inge Streuber. Die beiden Porträts gehörten ursprünglich zum Bestand der Anhaltischen Gemäldegalerie in Dessau.

Venus und Vulkan um 1555

Feder und Pinsel in Braun, grau und braun laviert, über schwarzem Stift, weiß gehöht, auf blauem Papier. Wie durch eine Guckkastenöffnung wird der Blick auf eine roh gezimmerte, dicht zusammengeschobene Bühne freigegeben.

Frank Zöllner

Ökonomie und Askese: Vincent van Gogh als „célibataire français"*

„Vollkommnes Blut, das von den durst'gen Adern Niemals wird aufgesogen, sondern zurückbleibt, Wie Speise, die man abträgt von der Tafel, Nimmt in dem Herzen an Gestaltungskraft Für alle Menschen Glieder, als ein solches, Das, sie zu bilden, durch die Venen gehet. Nochmals geläutert, geht's hinab, wo Schweigen Mehr ziemt als Reden; denn von dorten fließt es Auf andres in natürlichem Gefäße. Hier nun vermählt das eine sich dem andern, Zu dulden dies geneigt, zu wirken jenes, Ob des vollkommnen Ortes, woraus sich's dränget. Dort angelangt, beginnt es nun zu wirken, Macht erst gerinnen, dann belebt es wieder Das, was in seinem Stoff es ließ gerinnen. Die tät'ge Kraft ist Seele nun geworden, Von einer Pflanz' insoweit unterschieden, Daß jen' ist unterwegs, die schon am Ufer, Dann so wirkt, daß sie schon sich regt und fühlet Gleich einem Meerschwamm, und darauf unternimmt, * Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um die gekürzte Fassung eines am 2. Dezember 2002 auf der Tagung Kunst//\iedizin[BUder] gehaltenen λ ortrages. Die vom Institut für Kunstgeschichte und vom Karl-Sudhoff-Institut für Geschichte der Medizin und Naturwissenschaften der Universität Leipzig veranstaltete Tagung fand im alten Theatrmn Anatomicum statt, dessen über dem Seziertisch steil aufsteigende Ränge unmittelbar an Dantes Höllentrichter erinnern. Nicht zuletzt aus diesem Grund beginnt der Text mit einem Zitat aus dessen Göttlicher Kor/lödie. M e i n Titel nimmt natürlich Bezug auf Horst Bredekamp: Autonomie und Askese, in: Autonomie der Kunst. Zur Genese und Kritik einer bürgerlichen Kategorie, mit Beiträgen v. Michael Müller, Horst Bredekamp u.a., Frankfurt a. M . 1972, 8 8 - 1 7 2 . Für Anregungen danke ich Jeanette Kohl, Ortrun Riha und Charlotte Schubert (Leipzig).

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Frank Zöllner

Die Kräfte, deren Quell sie ist, zu bilden. Bald, Sohn, entfaltet sich, bald dehnt sich aus, Die Kraft, die aus des Zeugers Herzen stammet, Von wo Natur für alle Glieder tätig. Doch wie aus Tierischem ein Kind soll werden, Siehst du noch nicht; und dies ist solch ein Punkt, Daß einen Weisern er, als dich, einst irrte, So daß, nach seiner Lehre, von der Seele Der mögliche Verstand getrennt erschien, Weil er für diesen kein Organ erkannte." 1 Wenn der italienische Dichter Dante Alighieri im Purgatorio seiner Göttlichen Komödie die Konversion überschüssigen Nährstoffs in Blut, sodann den Weg des Blutes von den höheren zu den niederen Regionen des Körpers sowie seine Umwandlung in den Schöpfungsstoff Sperma und schließlich dessen Wirken beschreibt, dann rekurriert er für diesen Zusammenhang nicht nur auf die Summa theologica des Thomas von Aquin. Er nimmt hierbei auch auf ein Denkmodell Bezug, das mit den Begriffen Säftelehre und Humoralpathologie umschrieben wird und in der medizingeschichtlichen Forschung gebührend Aufmerksamkeit gefunden hat.2 In antiken und vorantiken Hochkulturen des Mittelmeerraumes, aber auch in außereuropäischen Kulturkreisen, hat es immer eine ausgeprägte Säftelehre gegeben. Wenn gemäß dieser Vorstellung auch nicht alles mit allem zusammenhing, dann doch immerhin vieles mit vielem, vor allem dann, wenn es flüssig war und dem menschlichen Körper angehörte. Blut, Samen, Schweiß, Urin, Schleim und andere Flüssigkeiten wie beispielsweise die gelbe und die schwarze Galle bilden zusammen einen ökonomischen Verbund, ein System also, das generell auf der gegenseitigen Konvertibilität einer Körperflüssigkeit mit jeder anderen basiert. Nasenbluten oder Hämorrhoidialbluten und der damit verbundene physische Substanzverlust können also einen Überschuß an Blut, aber auch einen Überfluß anderer Körperflüssigkeiten korrigieren. Das gleiche Verhältnis allseitiger Konvertibilität gilt beispielsweise für einen angenommenen Zusammenhang zwischen Fett, Menstruationsblut und Muttermilch: So verwandelt sich nach der Niederkunft der Frauen die ausbleibende Menstruation

1 Dante Alighieri's Göttliche Komödie in Jamben übertragen v. Karl Eitner, Hildburghausen 1865, 109 (Purg. 25.37-66); Thomas von Aquin: Summa theologica, 3.31.5 u. 1.119.1. 2 Genannt sei hier nur Thomas Laqueur: Auf den Leib geschrieben. Die Inszenierung der Geschlechter von der Antike bis Freud, München 1996 (zuerst engl. 1990). Vgl. auch die in Anm. 5 zit. Literatur und Frank Zöllner: Paul Klee, Friedrich Nietzsche und die androzentrische Konstruktion asketischen Schöpfertums, in: Henry Keazor (Hrsg.), Psychische Energien bildender Kunst. Festschrift Klaus Herding, Köln 2002, 217-256.

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Ökonomie und Askese: Vincent van Gogh als „célibataire français"

in Milch zur Ernährung des Säuglings; Fettablagerungen wiederum können als überschüssiges Blut verstanden werden, das eine Umwandlung in Fettgewebe erfahren hat. Die unzähligen Varianten dieses Modells gehen jedoch noch weiter. So können durch unzureichende Menstruation verursachte Kopfschmerzen gelegentlich durch Erbrechen des Mageninhalts - einer völlig anderen Flüssigkeit also - gelindert werden.' Ja es gibt sogar einen veritablen Sprung in den unterschiedlichen Aggregatzuständen, etwa von Blut zu Äther, wobei die Energiereserven des Blutes zu besonders verausgabenden Aktivitäten verwandt werden: So kann es beispielweise geschehen, daß die in Wettbewerben engagierten Sängerinnen gar keine Menstruation haben, da sich der hierfür notwendige Blutüberschuß durch die Anstrengungen und die Ventilierung beim Gesang in eine Art Äther verwandelt. 4 Nicht weniger komplexe Spekulationen stellten griechische und römische Arzte sowie andere Autoren späterer Epochen über die Eigenheiten und über die Konvertibilität von Sperma an. So nahm man beispielsweise einen engen Zusammenhang zwischen Samen und Blut an, denn Samen sei durch männliche Hitze aufgeschäumtes Blut. Durch sexuelle Aktivität verursachter Samenverlust ziehe demnach mittelbar auch immer einen Verlust des Lebenssaftes Blut nach sich. Zudem könne der sexuelle Akt beim Mann zum Verlust wertvoller G e hirn- und Rückenmarkssubstanz führen, da eine direkte Verbindung zwischen Gehirn und Geschlechtsteilen den Abgang des Lebenssaftes ermögliche. 5 In der

3 Laqueur 1996 (wie Anni. 2), 283, .Anni. 31. 4 Ebd., 50. 5 Vgl. u. a. Erna Lesley: Die Zeugungs- und Vererbungslehren der Antike und ihr Nachwirken (Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Abhandlungen der Geistes- und Sozialwissenschaftlichen Klasse, 1950, Nr. 19), .Mainz 1951; Charlotte Schubert/Ulrich Huttner (Hrsg. u. Ubers.): Frauenmedizin in der .Antike, Düsseldorf/Zürich 1999, 102-113 (d. i. Corpus Hippocraticuin, De genitura) und 4 6 0 - 4 6 1 ; Michel Foucault: Sexualität und Wahrheit, 3 Bde. Frankfurt a. M . 1988-1989 (zuerst franz. 1976 und 1984), Bd. 2, 167-171; Bd. 3, 151, 1 6 0 - 1 6 2 ; Laqueur, 1996 (wie Anni. 2), 4 9 - 5 8 und passim. - Siehe auch Aristoteles: De generatione animalium 5.3. (783b); Hippokrates: De morbis 2.51. - Vgl. auch Xancy Tuana: Der schwächere Samen. Androzentrismus in der .Aristotelischen Zeugungstheorie und der Galenschen .Anatomie, in: Barbara Orland/Elvira Scheich (Hrsg.), Das Geschlecht der Natur. Feministische Beiträge zur Geschichte und Theorie der Naturwissenschaften, Frankfurt a. M . 1995, 2 0 3 - 2 2 3 ; Françoise Héritier-Augé: Semen and Blood: Some Ancient Theories Concerning their Genesis and Relationship, in: Feher, zusammen mit Ramona Naddaff u. Nadia Tazi (Hrsg.), Fragments for a History of the Human Body, 'Ieil 3 (Zone, Bd. 5), New York 1989, 159-175. Neuere Literatur zu Kunst, Zeugung und Zeugungsmetaphern findet sich bei Christian Begemann/David E. Wellbery (Hrsg.), Kunst Zeugung Geburt. Theorien und Metaphern ästhetischer Produktion in der Neuzeit, Freiburg 2002; Ulrich Pfisterer: Zeugung der Idee - Schwangerschaft des Geistes. Sexualisierte .Metaphern und Theorien zur Werkgenese in der Renaissance, in: Ulrich Pfisterer/Anja Zimmermann (Hrsg.), AnimationenATransgressionen. Das Kunstwerk als Lebewesen, Berlin 2005, 41-72.

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Nachfolge des Aristoteles wird allerdings auch der positive Aspekt des Abgangs von Samen betont, denn dadurch könne ein unerwünschter Uberschuß jenes feuchtklammen Saftes herbeigeführt werden, den man Phlegma nennt und der für die weniger angenehmen Gemütszustände verantwortlich sei/' Wesentlich häufiger scheint aber die zuerst genannte Möglichkeit diskutiert worden zu sein. Als Essenz des Lebens hat das hochraffinierte Blutdestillat Sperma besondere Aufmerksamkeit auf sich gezogen; unterschiedliche Theorien wurden hierzu formuliert, so die enkephalo-myelogische Samenlehre, gemäß der das Sperma aus Hirn und Rückenmark stamme, oder die hämatogene Vorstellung, die im Blut das eigentliche Ausgangssubstrat für das Sperma sieht, sowie die Pangenesislehre, die davon ausgeht, daß der Zeugungsstoff aus allen Körperteilen hervorgehe. 7 Die aus der antiken Säftelehre bekannten Spekulationen über die Konvertibilität der Körperflüssigkeiten und die möglichen Konsequenzen des Samenverlusts werde ich im Folgenden als Verausgabungstheorie bezeichnen, um dann ihre Konsequenzen für die künstlerischen Ideen Vincent van Goghs unter die Lupe zu nehmen. Es geht also, kurz gesagt, um das Nachleben einer physiologisch irrigen Idee, die vielleicht in einem höheren Sinne eine gewisse Wahrheit beanspruchen durfte, im Grund aber reine Ideologie war, eine Denkform, die gerade im Biologismus des 19. Jahrhunderts ungeheure Attraktivität besaß und sich auch in das Kunstverständnis von Neuzeit und Moderne eingegraben hat, zumindest in mittelbarer Form. So weit ich sehe, hat sich kein anderer Künstler des 19. Jahrhunderts der ,Verausgabungstheorie' so sehr verpflichtet gefühlt wie Vincent van Gogh. Der Forschung ist diese Verbindung bislang entgangen. 8 Tatsächlich aber äußert sich der Künstler sehr explizit darüber, daß sexuelle Betätigung zur Verausgabung und zum Verlust schöpferischer Kräfte führe. So greift er im Juni 1888 in einem Brief aus Arles an Emile Bernard den aus der antiken Säftelehre bekannten Zusammenhang zwischen den beiden Lebenssäften Blut und Sperma direkt auf. Dort empfiehlt er dem libertinär veranlagten Künstlerkollegen einen sorgsameren Umgang mit seinem Kräftehaushalt: „Vor allem sorge dafür, daß du genug Blut hast; mit Blutarmut kommt man nicht weiter, das Malen geht dann langsam; Du mußt versuchen, Dir ein dickes Fell anzuschaffen, eine Konstitution, die ein hohes Alter verspricht, Du mußt wie ein Mönch leben, der alle vierzehn Tage einmal ins Bordell geht, so mache

6 Pseudo-Aristoteles: Problemata, 1.S0 (865a 33-34). 7 Lesky 1951 (wie Anm. 5). 8 Vgl. etwa Matthias Arnold: Vincent van Gogh, München 1993, 515 u. 519, der die Anspielung auf Gehirn- und Rückenmarksleiden nicht auf die antike Säftelehre, sondern auf die Syphilids bezieht.

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ich es, das ist nicht sehr poetisch, aber ich halte es eben für meine Pflicht, mein Leben dem Malen unterzuordnen." 9 Auch die mit der ,Verausgabungstheorie' verbundene Vorstellung, daß übermäßige sexuelle Aktivitäten das Gehirn und das Rückenmark schädigten, teilte van Gogh in geradezu naiver Weise. So schreibt er ebenfalls an Bernard im Juni 1888: „Malen und viel Vögeln verträgt sich nicht, das schwächt das Hirn. Eine verwünschte Sache." 10 Ausführlicher erläutert er das durch Sexualkontakte mit Frauen verursachte physiologische Problem der Schwächung am 4. Mai 1888 in einem Brief an seinen Bruder T h e o . Er schildert dort die schon an sich fragile Konstitution seiner eigenen Generation und die Möglichkeit, ihr durch einen mäßigen Lebenswandel zu begegnen: „[...] gut essen, gut leben, wenig mit Frauen zu tun haben, mit einem Wort, im voraus genau so leben, als ob man schon ein Gehirn- oder Rückenmarksleiden hätte, abgesehen von der Neurose, die ja tatsächlich besteht. [...] Degas macht es so, und mit Erfolg. [...] Doch wenn wir leben und arbeiten wollen, müssen wir sehr vernünftig sein und auf unsere Gesundheit achten. Kaltes Wasser, frische Luft, gute, einfache Kost, gute Kleidung, guter Schlaf und kein Arger. Und sich nicht so viel mit den Frauen und mit dem wahren Leben abgeben, wie man möchte."" Daß sexuelle Verausgabung die künstlerische Produktivität beeinträchtige, beschreibt van Gogh schließlich sehr drastisch in einem Brief an Bernard vom August 1888, wo nun sogar von schöpferischen Säften die Rede ist: „Ich persönlich fühle mich bei Enthaltsamkeit recht wohl; es genügt unseren schwachen, erregbaren Künstlerhirnen, ihr Wesentliches zur Schöpfung unserer Bilder herzugeben. Denn wenn wir überlegen, berechnen, uns abschuften, dann verausgaben wir Gehirnarbeit. Warum sollten wir uns anstrengen, alle unsere schöpferischen Säfte dorthin zu verströmen, wo die berufsmäßigen Zuhälter und die simplen, gut genährten zahlenden Liebhaber die Geschlechtsorgane der Hure besser befriedigen, die in diesem Fall unterwürfiger ist als wir?"'Vincent van Goghs ablehnende Haltung gegenüber sexueller Verausgabung manifestierte sich vor allem während seiner frenetischen Schaffensphase im Sommer und Herbst 1888 in Arles, sie entstand hauptsächlich im Briefkontakt mit seinem Kollegen Emile Bernard, der einen anderen W e g eingeschlagen und Teile seiner künstlerischen Arbeit ins Bordell verlegt hatte. Ausgehend von diesem Kontrast - van Gogh spielt den Mönch, Bernard den Libertin - entwickelt sich ein Disput, in dem die Möglichkeiten des mönchischen und libertinären Künstlerseins neben einander stehen. Van Gogh bewundert in diesem Zusam-

9 Vincent van Gogh: Sämtliche Briefe in der Ubersetzung von Eva Schumann, hrsg. v. Fritz Erpel, 6 Bde., Frankfurt a. M . 1985 (zuerst Berlin, 1965-1968), V 264 (B8). 10 Ebd., 260 (B7). 11 Ebd., rv; 3 8 - 3 9 (481). 12 Ebd., V, 278 (B14).

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menhang zwar auch den ihm gegensätzlichen Typus, entwickelt aber eine besondere Sympathie für die holländischen Maler, ihre protestantische Keuschheit und ihre ,männliche' Kunst. Bernard hingegen tendiert eher zur anderen Spezies, die man einer entsprechenden Diktion Friedrich Nietzsches folgend „Kraftthiere" nennen könnte.15 Van Gogh erkennt das Doppeltalent dieser Krafttiere eingedenk seiner eigenen, eher schwächeren körperlichen Konstitution an: „Rubens, ja der! Der war ein schöner Mann und ein gewaltiger Vogler, Courbet genauso. Ihre Gesundheit erlaubte ihnen zu trinken, zu essen, zu vögeln [...]". 14 Seinem Freund Bernard aber gibt van Gogh den Rat: „Dir, mein armer lieber Freund Bernard, habe ich schon im Frühjahr vorhergesagt: iß gut, erfülle deine Militärpflicht, vögle nicht zu viel. Wenn du das nicht zu toll treibst, wird Deine Malerei um so saft- und kraftvoller sein."15 Erneut wird hier also das Motiv des Verlusts von Lebenssaft deutlich, den van Gogh im selben Zusammenhang mit einer produktionsschädigenden Beeinträchtigung des Gehirns assoziiert, wenn er über den Malerkollegen Edgar Degas schreibt: „Warum sagst Du, Degas sei ein Schlappschwanz? Degas lebt wie ein kleiner Notar und liebt die Frauen nicht; er weiß, wenn er sie liebte und viel vögelte, würde er krank am Hirn und unfähig als Maler. Die Malerei von Degas ist männlich und unpersönlich, gerade weil er sich damit abgefunden hat, persönlich weiter nichts zu sein als ein kleiner Notar, der einen heiligen Schrecken vorm Herumsumpfen hat."16 Die mönchische, ex negativo sexualisierte Haltung van Goghs zu seiner Kunst ist komplexer, als sie auf den ersten Blick erscheinen mag. Sie hat eine ihrer Wurzeln natürlich in den herben amourösen Enttäuschungen 17 der zurückliegenden Jahre und in der resignierend zur Kenntnis genommenen Uberzeugung, daß er selbst aufgrund seiner geschwächten Konstitution als Mann für Frauen nicht mehr attraktiv war und aufgrund seiner miserablen finanziellen Situation auch nicht als zahlender Liebhaber in den Bordellen auftreten konnte.18 Prägend waren für ihn die Zustände finanzieller Not, aufzehrenden Schlafmangels, körperlicher Erschöpfung sowie periodisch hohe Grade von Intoxika-

13 „Die Künstler, wenn sie etwas taugen, sind (auch leiblich) stark angelegt, überschüssig, Kraftthiere, sensuell: ohne eine gewisse Uberheizung des geschlechtlichen Systems ist kein Raffael zu denken ... Musik machen ist auch noch eine Art Kindermachen; Keuschheit ist bloß die Oekonomie eines Künstlers - und jedenfalls hört auch bei Künstlern die Fruchtbarkeit mit der Zeugungskraft auf." Friedrich Nietzsche: Der Wille zur Macht, hrsg. v. Peter Gast/Ernst Horneffer, Leipzig 1901, Nr. 359, 382-383; der Passus trägt in der heute üblichen Nummerierung die Nr. 800. 14 Van Gogh 1985 (wie Anm. 9), V, 277, (B14). 15 Ebd. 16 Ebd. 17 Vgl. Stefan Koldehoff: Van Gogh. Mythos und Wirklichkeit, Köln 2003, 213-218. 18 Van Gogh 1985 (wie Anm. 9), V 287 (B19).

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tion durch die ortsüblichen Genußmittel: Nikotin, Alkohol und Kaffee bis 23 Tassen täglich!11' Glaubhaft vermitteln Vincent van Goghs Briefe an seinen Bruder Theo, wie sehr die Arbeit den Einsatz von „Hirnkraft" 20 verlange und wie sie besonders an großen Leinwänden zur vollständigen Verausgabung führe: 21 „Ich fühle, daß ich bis zur seelischen Vernichtung und völligen körperlichen Leere schaffen muß, gerade weil ich überhaupt kein anderes Mittel habe, unsere Ausgaben je wieder hereinzubringen." 22 Gleichzeitig achtet er, um nicht vollständig zusammenzubrechen, auf sein leibliches Wohl. Er ist besorgt um seinen Säftehaushalt, spricht vom guten Blut, das in Fluß kommen muß, und von der Notwendigkeit, die Kräfte zu erhalten. 23 Diese diätischen Verhaltensregeln zielen auf den Erhalt körperlicher Kraft, denn van Gogh sieht alle Künstler und nicht zuletzt sich selbst als Teil einer generationsüberspannenden Kette von Individuen, deren Aufgabe darin besteht, eine neue Kunst in die Zukunft zu tragen. Er vergleicht hierbei die sich verausgabenden Künstler mit Gäulen vor einem Droschkengespann, das „einen Wagen mit Leuten zieht, die fröhlich in den Frühling hinausfahren." 24 Van Goghs Ansichten zum Einsatz von Lebenssaft und Lebenskraft in der eigenen künstlerischen Arbeit sind übrigens durchaus ambivalent. Der Idee, sich zugunsten der Kunst in Liebesdingen zurückhalten und sexuellen Verzicht leisten zu müssen, steht ganz klar die Sehnsucht nach persönlichem Glück und einem erfüllten Liebesleben gegenüber. So schreibt Vincent im April 1888 an seinen Bruder Theo: „Und manchmal fehlt einem die Lust, sich wieder mitten in die Kunst zu stürzen [...]. Man kommt sich wie ein alter Droschkengaul vor, und man weiß, daß man sich doch wieder vor dieselbe Droschke spannt. Und dann hat man keine Lust dazu, und man würde lieber auf einer Wiese leben mit einer Sonne und einem Fluß und würde die Gesellschaft anderer Pferde haben, die ebenso frei wären wie man selbst, und den Zeugungsakt." 25 Doch im Grunde empfindet van Gogh seine Verpflichtungen gegenüber der Kunst als viel stärker als jenen Willen zu Lust und Leben, den er in dem zitierten Passus den Pferden zugesteht. Diese Verpflichtungen haben sehr unterschiedliche Ursachen, von denen einige hier skizziert seien. Zum einen muß

19 Alfred Nemeczek: Van Gogh. Das Drama von Arles, München/London/New York 2001, 98. Zur Selbstintoxikation siehe die folgende Anm. 20 Ebd., 70. Vgl. van Goghs Aussagen über Wagner, Delacroix und Monticelli, die ihre Künstlerhime überanstrengt hatten; van Gogh 1985 (wie Anm. 9), IV, 89 (507); dort auch Bemerkungen über die eigene Intoxikation durch Alkohol und Nikotin. 21 Ebd., IV, 7 4 - 7 5 (501); IV, 99(512). 22 Ebd., IV, 204 (B557). 23 Ebd., IV, 51 (489); 61 (494); V, 260, (B7); 264 (B7). 24 Ebd., IV, 52 (489). 25 Ebd.

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man hier die religiöse, der Askese zuneigende Grundeinstellung van Goghs nennen, zum anderen die ärztlichen Ratschläge, denen der Künstler offenbar einiges Gewicht beimaß. So hatte Gruby, einer der beiden Pariser Hausärzte Theos und Vincents, angesichts der kränklichen Natur der beiden Brüder von einem sexuellen Umgang mit Frauen generell abgeraten und ihnen schließlich sogar empfohlen, sich „nur im Notfall mit Frauen einzulassen." 26 Gruby stand mit dieser Ansicht nicht alleine da, denn etliche Mediziner und Literaten hingen auch im 19. Jahrhundert noch der irrigen Säftelehre und ,Verausgabungstheorie' an. Sie propagierten in zahlreichen Schriften sexuelle Zurückhaltung, um die Verschwendung des Lebenssaftes Sperma zu unterbinden und die professionelle Produktivität und Zeugungsfähigkeit der französischen Männer zu erhalten. 27 In diesen Zusammenhang gehören auch die Ansichten französischer Mediziner und Physiologen, die generell eine Degeneration der sexuellen Leistungskraft durch die Ablenkungen des modernen Lebens befürchteten. 28 Dieselben Mediziner entwickelten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine direkt an der antiken Säftelehre orientierte und in ihrer Diktion an Friedrich Nietzsches „Oekonomie eines Künstlers" 29 erinnernde „économie spennati que": Sperma sei ein Blutdestillat und seine sparsame Verwendung unbedingt angeraten, denn sie verlängere das Leben des durchschnittlichen Bürgers und bilde die Grundlage für die Schaffenskraft des künstlerischen Genies. 30 Dem entsprechend wird im Grand Dictionnaire des Pierre Larousse unter dem Stichwort „célibataire" schlicht konstatiert, daß das künstlerische Genie über den Naturgesetzen und den gesellschaftlichen Forderungen nach geschlechtlicher Fortpflanzung stehe und daher notwendigerweise enthaltsam sein müsse.31

26 Ebd., IV, 50 und 51 (489). 27 Jean Borie: Le célibataire français, Paris 1976, 33-36; Alain Corbin: Das „trauernde Geschlecht" und die Geschichte der Frauen im 19. Jahrhundert, in: Alain Corbin/Arlette Farge/ Michel Perrot (Hrsg.), Geschlecht und Geschichte. Ist eine weibliche Geschichtsschreibung möglich?, Frankfurt a. M. 1989 (zuerst franz. 1984), 63-81, hier 65; Carol Zemel: Van Gogh's Progress: Utopia, Modernity, and Late-Nineteenth-Century Art, Berkeley etc. 1997, 94—98. 28 Vgl. hierzu allgemein Robert A. Nye: Honor, Impotence, and Male Sexuality in Nineteenth-Centruy French Medicine, in: French Historical Studies, 16, 1989, 4 8 - 7 1 . 29 Vgl. das Zitat in Anm. 13. 30 Alain Corbin: La petite Bible des jeunes époux, in: L'Histoire, Beiheft Nr. 63, 1984 (Separatum unter dem Titel: L'amour et la sexualité), 70-75. Die Quellen sind folgende: Louis Seraine: D e la Santé des gens mariés, ou physiologie de la génération de l'homme et hygiène philosophique du marriage, Paris 1865; Alexandre Mayer: Des rapports conjugaux considérés sous le triple point de vue de la population, de la santé et de la morale publique, Paris 1875; Pierre Gamier: Le Mariage dans ses devoirs, ses rapports et ses effets conjugaux au point de vue légale, hygénique, physiologique et morale, Paris 1879. 31 Grand Dictionnaire Universel du XIXe Siècle [...], hrsg. ν. Pierre Larousse, III, Paris 1867, 680; Borie 1976 (wie Anm. 27), 73. Die Argumentation folgt den Empfehlungen von JacquesJoseph Moreau de Tours: La Psychologie morbide dans ses rapports avec la philosophie de l'historié, ou l'influence des névropathies sur le dynamisme intellectuel, Paris 1859.

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Ökonomie und Askese: Vincent van Gogh als „célibataire français"

Ahnliche Gedanken finden sich schließlich auch in der zeitgenössischen Evolutions- und Gesellschaftstheorie, beispielsweise in der kriminologischen Physiologie des Charles Férés: Die Neigung zum Exzess jeder Art, auch zum sexuellen Exzess, führe zu Verausgabung und Schwächung bis hin zu disfunktionalem und damit gesellschaftsschädigendem Verhalten. Der Exzeß verhindere sozial erwünschte Anpassungsleistungen und generiere Abnormitäten, die aufgrund ihrer fatalen Wirkung eliminiert werden müssen. 32 Auch in der französischen Literatur des 19. Jahrhunderts haben die ,Verausgabungstheorie' und die mit ihr verbundene Furcht vor dem gesellschaftsschädigenden Exzess tiefe Spuren hinterlassen. Ahnliche oder identische Ideen finden sich in den naturalistischen Romanen jener Jahre, deren begeisterter Leser van Gogh bekanntlich war. Emile Zola in L'Œuvre ebenso wie die Gebrüder Edmond und Jules de Goncourt in Manette Salomon vertraten die Ansichten, daß ein zu enger oder häufiger Umgang mit dem weiblichen Geschlecht und sexuelle Aktivitäten überhaupt die künstlerische Produktivität erheblich einschränkten." Ahnlich argumentiert auch Charles Baudelaire, wenn er konstatiert, daß die sexuelle Ausschweifung nicht mehr, wie das offenbar früher der Fall gewesen war, zu den Eigenschaften des Künstlertums gehöre, sondern künstlerische Produktivität hemme. Er schreibt in seinen Ratschläge[n] fiir junge Literaten von 1846: „Die Ausschweifung ist nicht mehr die Schwester der Inspiration: wir haben diese ehebrecherische Verwandtschaft aufgehoben. Die rasche Entkräftung und der Verfall einiger schöner Naturen liefern ein hinreichendes Zeugnis gegen dieses abscheuliche Vorurteil. [...] Die Inspiration ist offenkundig die Schwester der täglichen Arbeit."' 4 Mit dieser Aussage setzt Baudelaire an die Stelle inspirierender Libertinage ein künstlerisches Arbeitsethos, das in seiner Diktion bereits auf die protestantische Ethik Max Webers vorausweist. Tatsächlich ist auch im Falle van Goghs der Begriff der Ökonomie zutreffender, als man auf den ersten Blick vermuten würde, denn seine realen Produktionsbedingungen waren nicht allein durch physische, individual-psychologische und ideengeschichtliche Vorgaben bestimmt, sondern ebenso durch finanzielle N o t einerseits und kleinlich anmutende Versuche, die Ausgaben und die eigene Haushaltsführung gegenüber seinem Bruder T h e o zu legitimieren. Bekanntlich finanzierte T h e o seinen Bruder Vincent vollständig; er schickte ihm in Briefen und mit Postanweisungen monatlich Geldbeträge. Zwischen März 1888 und April 1889 beispielsweise summieren sich Theos Zahlungen auf 2.300 Francs, was knapp einem Drittel seines

32 Charles Férés: Essai physiologique, Paris 1888. 3 3 Judy Sund: True to Temperament. Van Gogh and French Naturalist Literature, Cambridge 1992,126-127,137-139. 34 Charles Baudelaire: Der Künstler und das moderne Leben, hrsg. v. Henrv Schumann, Leipzig 1990, 14.

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Frank Zöllner

eigenen Angestelltengehalts von etwa 7.000 Francs jährlich entsprach. Zudem sandte T h e o dem Künstler in demselben, künstlerisch sehr produktiven Zeitraum fast das gesamte benötigte Verbrauchsmaterial für etwa 200 Gemälde, besonders Leinwandballen und Farben.' 5 Das hier beschriebene Arrangement der beiden Brüder geht unter anderem auf folgende Ereignisse zurück, die in den Augen Vincent van G o g h s das ökonomische Austauschverhältnis mit seinem Bruder T h e o begründen. Bereits von den Zahlungen T h e o s abhängig, hatte Vincent 1882 in Den H a a g die schwangere Näherin und Prostituierte Ciasina Maria Hoornik zusammen mit deren erstem Kind zu sich genommen; er beabsichtigte sie zu heiraten, wurde aber von seiner Familie und hier besonders von seinem Bruder T h e o daran gehindert und zur Aufkündigung der Liaison gebracht. In einem wütenden Brief von Anfang 1884 an T h e o verknüpft Vincent die Verhinderungsstrategien seiner Familie und seinen daraus folgenden Verzicht auf Ciasina Maria Hoornik unmittelbar mit einem Anspruch auf finanzielle Unterstützung: „ D u hast in der Sache mit der Frau ja auch deinen Willen bekommen und es war Schluß aber was zum Teufel liegt mir daran, daß ich ein bißchen Geld kriege, wenn ich mich dann brav und sittsam auffuhren muß. [...] Eine Frau kannst D u mir nicht geben, ein Kind kannst D u mir nicht geben, Arbeit kannst D u mir nicht geben. Geld, ja.'" 6 Auch wenn die von Vincent van G o g h hier postulierte Kausalität vielleicht etwas stilisiert wirkt, das ökonomische Arrangement zeigt doch deutliche Konturen: Vincent sieht im Verzicht auf eheliches Glück und auf sexuelle Erfüllung ein Pfand, das er gegen die finanzielle Unterstützung T h e o s eintauscht. Und auch wenn dieses Tauschverhältnis, Geld gegen Liebe und sexuelle Erfüllung, im Sommer 1888 in Arles nicht mehr explizit formuliert wird, so schwingt es doch immer mit, es hat volle Gültigkeit. 37 Für die Schaffenszeit von Arles nun zeugt der reichhaltige Briefwechsel zwischen den beiden Brüdern von einem steigenden Leistungs- und Legitimationsdruck. In Anbetracht der Finanzierungsvereinbarung bezeichnet Vincent seinen Bruder sogar als Koautor der zahlreichen Bilder der Schaffensphase in Arles. Die Bilder, die er ihm nach Paris schickt, praktisch die gesamte Produktion, versteht Vincent als materielle Gegenleistung für die erhaltene Finanzierung und sogar als Eigentum seines Bruders. Die vollständige ökonomische Abhängigkeit von T h e o führt dazu, daß Vincent in seinen Briefen zahlreiche Überlegungen zu den Materialkosten anstellt und immer wieder über Einsparungsmöglichkeiten nachdenkt; so geizt er mit Farben, nur um dann festzustellen, daß dadurch die Bilder nicht gelingen und 35 36 37

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Nemeczek 2001 (wie Anm. 19), 58-59. Van Gogh 1985 (wie Anm. 9), III, 145-154, bes. 151/ 153 (B358). Vgl. Nemeczek 2001 (wie Anm. 19), 58.

Ökonomie und Askese: Vincent van Gogh als „célibataire français"

die Verschwendung größer wird. Zudem setzt er sich unter einen beispiellosen Schaffensdruck: Er glaubt, so viel wie irgendmöglich produzieren zu müssen, um die finanziellen Investitionen seines Bruders zu rechtfertigen. Selbst die schließlich fatale Idee, auch den Maler Paul Gauguin in die Provence zu holen und mit ihm im Gelben Haus in Arles eine Künstlergemeinschaft zu gründen, entstand aus dem Drang, Kosten zu sparen: Van Gogh führt die Einsparmöglichkeiten, die sich aus dieser Künstler-, Wohn- und Ateliergemeinschaft ergeben würden, gleich mehrfach an. Gauguin reiste schließlich im Oktober 1888 tatsächlich an, auch aus finanziellen Gründen. Gauguin, zuvor Börsenmakler mit einem Jahreseinkommen von 40.000 Francs, hatte während des Börsenkrachs von 1882 sein Vermögen verloren und spekulierte auf die Unterstützung T h e o van Goghs.' 8 T h e o bekommt von beiden Künstlern Bilder zum Verkauf, für einen funktionierenden ökonomischen Kreislauf also, so daß Vincent van Gogh zumindest mittelbar wieder ein funktionierendes Mitglied der Gesellschaft wird. Vincent van Gogh erweist sich somit der ökonomischen Ressourcen würdig, die für und in ihn, den erfolglosen Außenseiter, investiert werden. Man fragt sich, ob van Gogh, bei aller Koketterie mit dem Image des Bohemien, hier nicht einen verzweifelten Versuch unternimmt, sich in ein funktionierendes ökonomisches Ganzes einzuordnen, in eine gesellschaftliche Wirklichkeit, der er sich im Grund hoffnungslos entfremdet hatte, deren Verlust er gleichwohl als schmerzlich empfand. Hierbei kombinierte van Gogh die Denkform der ,Verausgabungstheorie' mit seinem haushälterischen Verstand, mit einem zutiefst ökonomischen Denkmodell und einer im Grunde protestantischen Ethik, wie man das 15 Jahre später nennen würde. Er sparte libidinose Energie, um Kunst zu produzieren, die wieder in den Haushalt eingespeist werden konnte. In diesem Gesamthaushalt hat sich dann bekanntlich eine ebenso atemberaubende wie paradoxe Entwicklung vollzogen: Die im Zeichen asketischer Triebökonomie produzierten Werke van Goghs haben das erfolgreichste Kapitel in der Geschichte des modernen Kunstmarktes geschrieben. Um im ökonomischen Denkmodell zu bleiben: mehr Zinsen hätten die Investitionen Theos nicht tragen können. Zudem mag man darüber spekulieren, ob Vincent van Gogh ohne die ihm eigene „Oekonomie eines Künstlers" ein Œuvre produziert hätte, das unbeschadet aktueller Tendenzen der Dekonstruktion' 1 ' zu den faszinierendsten der Kunstgeschichte überhaupt gehört.

38 Ebd., 6 4 - 6 5 ; zur Ateliergemeinschaft vgl. auch Kat. Van Gogh and Gauguin: T h e Studio of the South, hrsg. v. Douglas W . Druick/Peter Kort Zegers, Art Institute, Chicago 2001/Rijksmuseum Vincent van Gogh, Amsterdam 2002, New York 2001. 39 Siehe Koldehoff 2003 (wie Anm. 17); Nathalie Heinich: T h e Glory of van Gogh. An .Anthropology of Admiration, Princeton 1996.

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H u b e r t Burda

Wer sieht sich wie und möchte welches Bild von sich? Uber die Selbstinszenierung in Bildnissen von Jan van Eyck bis Andy Warhol

In der heutigen Mediengesellschaft, in der eine Vielzahl unterschiedlicher Medien im Wettbewerb um die Aufmerksamkeit des Zuschauers, Lesers oder H ö rers miteinander konkurriert, ist Selbstinszenierung ein probates Mittel, um Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Die medialen Ausdrucksformen hierfür haben sich parallel zur Entwicklung neuer Medien in den zurückliegenden Jahren so stark demokratisiert, daß heute im Grunde jeder, der auf sich aufmerksam machen und der Öffentlichkeit ein bestimmtes Bild von sich vermitteln möchte, dies auch tun kann. Zwar war die Selbstinszenierung von Personen von jeher Bestandteil von Portraitdarstellungen, doch erfährt sie mit Beginn der neuzeitlichen Portraitmalerei im 15. Jahrhundert eine neue Qualität. Ich möchte im Folgenden einen Blick auf die Anfänge der neuzeitlichen Portraitdarstellung werfen und ihre Entwicklung bis in die heutige Zeit verfolgen. Im Vordergrund der Untersuchung wird der Aspekt stehen, was die jeweilige Selbstinszenierung über das Bild aussagt, das der Dargestellte von sich selbst hatte und das er an eine bestimmte Community vermitteln wollte. Ich greife nur einige wenige signifikante Beispiele heraus, die mir im Zusammenhang mit den Formen von Selbstinszenierung, mit denen wir es heute zu tun haben, symptomatisch zu sein scheinen. Von den meisten Portraitbildern, die ich hier vorstelle, wissen wir, daß es sich um Auftragsbilder handelte. Obwohl wir nur in Einzelfällen, wie etwa dem Reiterportrait Napoleons von Jacques Louis David, Kenntnis davon haben, daß der Auftraggeber mit der Art der bildlichen Repräsentation in hohem Maße einverstanden war, können wir bei einem Auftragsportrait grundsätzlich davon ausgehen, daß es weitgehend mit dem Bild identisch war, das der Dargestellte von sich selbst hatte und mit der Portraitdarstellung vermitteln wollte. Es wird bewußt darauf verzichtet, die großartigen Künstlerselbstportraits, die das Genre im Laufe der Jahrhunderte hervorgebracht hat, angefangen von den rätselhaften Selbstbildnissen Rembrandts im Kostüm bis zu den einzigartigen Selbstzeugnissen Paul Cézannes und xMax Beckmanns, in diese Untersuchung mit einzubeziehen. Anders als die gleichzeitigen Bürgerportraits künden 549

Hubert Burda

diese Künstlerportraits nicht vom neuen Selbstbewußtsein einer aufgestiegenen Schicht, sondern sind Ausdruck eines existenziellen Staunens dem Kosmos, dem eigenen Leben und der Zeit und Umwelt gegenüber, in der diese Künstler lebten. Die hier besprochenen Bilder kann man, um einen Begriff meines Lehrers Hans Sedlmayr zu verwenden, als ,kritische Formen' ihrer Zeit bezeichnen. Der methodische Ansatz der kritischen Form ermöglicht es, für die Analyse von Kunstwerken die „weit verzweigten Phänomene aus einem Quellpunkt, welcher das einheitsstiftende Zentrum von sonst nur als unzusammenhängenden, hinzunehmenden Faktoren aus Kunst- und Kulturgeschichte ist", heranzuziehen. Dabei kann durchaus auch auf „niedrige Formen" künstlerischer Artikulation zurückgegriffen werden.1 Insbesondere Letzteres ermöglicht es, relativ unkompliziert einen Bezug zu heutigen Formen personaler Repräsentanz herzustellen.

Inszeniertes Selbstbewußtsein einer aufgestiegenen Klasse Ich möchte mit einem Bild aus den Anfängen der neuzeitlichen Portraitkunst beginnen, das mir für alles, was sich mit dieser Bildform an neuen Ausdrucksmöglichkeiten verbindet, bezeichnend zu sein scheint: Jan van Eycks Mann mit Turban von 1432 (Abb. 1). Das Bild wird von der neueren Forschung allgemein als Selbstbildnis des Künstlers angesehen. Hans Belting und Christiane Kruse schreiben über das Bild, der Blick des Dargestellten sei so selbstbewußt und forschend, daß man sich ihm kaum entziehen könne2, und die Kopfbedeckung, ein massiger roter Turban mit „bizarrem Gefält", spreche „von der Eitelkeit des Künstlers bei der Selbstdarstellung". Das Portrait Jan van Eycks, den Hans Belting zusammen mit Rogier van der Weyden für die Erfindung des Gemäldes als selbständiger Kunstgattung verantwortlich sieht, legt eindrucksvoll Zeugnis ab vom neuen Selbstbewußtsein einer aufgestiegenen bürgerlichen Schicht und ihres Anspruchs, dieses im Portraitbild zum Ausdruck zu bringen. Die Zeit zwischen 1400 und 1450, in der das neuzeitliche Tafelbild entstand, ist von zwei ganz unterschiedlichen künstlerischen Strömungen geprägt: In Italien schafft Leon Battista Alberti mit seinen grundsätzlichen Überlegungen zur Malkunst die theoretischen Grundlagen für zukünftige perspektivische Darstellungen; in den Handelsstädten Gent und Brügge, die mit Italien enge Handelsbeziehungen pflegen, so daß neue künstlerische Ideen schnell exportiert wer-

1 Methoden der Kunstgeschichte - Zu drei Vorträgen von Hans Sedlmayr, in: Salzburger Museumsblätter 36, 2, 1975, 5 f. 2 Hans Belting/Christiane Kruse: Die Erfindung des Gemäldes, München 1994, 151.

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Wer sieht sich wie und möchte welches Bild von sich?

Abb. 1: Jan van Kvck, λ hum mit Turbini, 14.Ì2. Ol a u f ! Ιοί/., 25.7 χ cm, London, National Gallen" d e n , e n t s t e h t g l e i c h z e i t i g e i n e g a n z n e u e R e a l i t ä t b i l d l i c h e r Darstellung". B e l t i n g u n d K r u s e s e h e n in d e r V e r s c h m e l z u n g von b e i d e m , tier s c h e m a t i s c h e n i n n e r b i l d l i c h e n Ä s t h e t i k I t a l i e n s unti d e m W e l t b e z u g d e r n e u e n b ü r g e r l i c h e n K u l t u r des N o r d e n s , d i e V o r a u s s e t z u n g für die E r f i n d u n g ties G e m ä l d e s als s e l b s t ä n d i g e r K u n s t g a t t u n g . D a s P o r t r a i t g i l t i h n e n als S v m b o l e i n e r g e m a l t e n A n t h r o p o l o g i e , in d e r sich tlie i n n e r e u n d d i e ä u ß e r e S i c h t von W e l t v e r e i n i g e n . " D a s n e u z e i t l i c h e P o r t r a i t , w i e es d a s S e l b s t b i l d n i s J a n van F.vcks v e r k ö r p e r t , b i l d e t sich in d e r w e c h s e l s e i t i g e n S p a n n u n g zw ischen e t a b l i e r t e m Adel u n d a u f s t e i g e n d e n B ü r g e r s c h i c h t e n h e r a u s . W e r a u t g e s t i e g e n war, h a t t e sich das R e c h t auf ein e i g e n e s B i l d n i s e r w o r b e n , w e l c h e s in f r ü h e r e n Z e i t e n allein tien H e i l i g e n v o r b e h a l t e n g e w e s e n war. Ich m ö c h t e im F o l g e n d e n a n h a n d e i n i g e r w e n i g e r a u s g e w ä h l t e r B e i s p i e l e z e i g e n , w i e die j e w e i l s neu a u f s t e i g e n d e n s o z i a l e n S c h i c h t e n die R e p r ä s e n t a t i o n s f o r m des P o r t r a i t s dazu b e n u t z t e n , i h r e n A n s p r u c h auf M a c h t u n d S t a t u s a u g e n f ä l l i g zu m a c h e n , w ie d a s g e m a l t e P o r t raitbild durch die E r f i n d u n g der Fotografie diese Funktion einbüßte und wie

3

Belnnu/Kruse 1 W (wie Anni. 2), 51.

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Hubert Burda

Abb. 2: Albrecht Dürer, Erasmus von Rotterdam., Kupferstich, 24,9 χ 19,3 cm, Wien, Albertina

1 526,

die Aufgaben des Portraits mit der Demokratisierung der Selbstinszenierung in der Mediengesellschaft von anderen medialen Ausdrucksformen übernommen werden. Albrecht Dürers bekannter Portraitstich des Erasmus von Rotterdam erfüllt den neuen Anspruch des bürgerlichen Portraits, inszenierte imago einer Person zu sein, perfekt: Es ist einerseits Abbild und als solches dem Erasmus ähnlich, repräsentiert aber in der Art, wie es den großen Humanisten in Szene setzt, gleichzeitig auch dessen persönliche wie kulturhistorische Bedeutung (Abb. 2).4 Dürer zitiert zu diesem Zweck das Studiolo-Motiv, wie wir es von vielen Hieronymusdarstellungen kennen, und kennzeichnet die dargestellte Person damit 4 Jörg Robert: Evidenz des Bildes, Transparenz des Stils. Dürer, Erasmus und die Semiotik des Porträts, in: Erank Büttner/Gabriele Wimböck (Hrsg.), Das Bild als Autorität. Die normierende Kraft des Bildes, Münster 2004, 205-226; vgl. auch Erwin Panofsky: Das Leben und die Kunst Albrecht Dürers, München 1977; Albrecht Dürer: Das Druckgraphische Werk, bearb. v. Rainer Schoch/Mattias Mende /Aína Scherbaum, Bd. 1, Kupferstiche, F.isenradierungen und Kaltnadelblätter, München 2001.

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W e r sieht sich w i e und m ö c h t e w e l c h e s Bild von sich?

A b b . 3: H a n s I l o l b e i n , Bildnis

ties Kiiiifiminns

Georg

Gisze,

1 532, K i c h e n h o l z , 9 7 , 5 χ Hfic m , B e r l i n . G e m ä l d e g a l e r i e

als G e l e h r t e n . D i e verw e n d e t e T e c h n i k des K u p f e r s t i c h s , die n e b e n d e m H o l z s c h n i t t das e r s t e B i l d m e d i u m war, das auf e i n f a c h e A r t V e r v i e l f ä l t i g u n g e n erm ö g l i c h t e , läßt d a r a u f s c h l i e ß e n , d a ß das P o r t r a i t b i l d dazu g e d a c h t w ar, ein b e s t i m m t e s Bild des H u m a n i s t e n an e i n e i n t e r e s s i e r t e Ö f f e n t l i c h k e i t zu v e r m i t teln. D i e g e r a h m t e S c h r i f t t a f e l n e b e n E r a s m u s l i e f e r t e i n e z u s ä t z l i c h e E r k l ä r u n g , w i e das Bild zu lesen ist: D e r K ü n s t l e r t r e n n t imtigo

u n d e f f i g i e s des E r a s -

m u s u n d w e i s t d e n B e t r a c h t e r in l a t e i n i s c h e r u n d g r i e c h i s c h e r S p r a c h e d a r a u f hin, d a ß sich das e i g e n t l i c h e Bild des E r a s m u s n u r aus d e s s e n S c h r i f t e n ers c h l i e ß t , die im V o r d e r g r u n d ties B i l d e s a u s g e l e g t sind. Ein e x z e l l e n t e s Beispiel dafür, m i t w e l c h e m h o h e n A n s p r u c h sich die a u f g e s t i e g e n e b ü r g e r l i c h e S c h i c h t d e r K a u f l e u t e p o r t r a i t i e r e n ließ, ist H a n s H o l b e i n s P o r t r a i t des K a u f m a n n s G e o r g G i s z e von 1532 (Abb. 3). Es g i b t in d i e s e m B i l d nis e i n e s s t o l z e n j u n g e n M a n n e s kein D e t a i l , das n i c h t in V e r b i n d u n g m i t d e s sen A n s p r u c h auf R e p r ä s e n t a t i o n s e i n e r g e s e l l s c h a f t l i c h e n S t e l l u n g zu s e h e n w ä r e , a n g e f a n g e n v o m o r i e n t a l i s c h e n T e p p i c h ü b e r die V i s e m i t X e l k e n u n d R o s m a r i n , d i e z i e r l i c h e W a a g e , die g o l d e n e D o s e n u h r bis hin z u m H a n d s t e m -

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H u b e r t Burda

Abb. 4: Reinbrandt, De Staalvieesters, 1662, Öl auf Leinwand, 191,5 χ 279 cm, Amsterdam, Rijksmuseum

pel mit dem Kaufmannszeichen. 1 Gisze wird damit zum Mercator doctas, einem Kaufmann auf der Höhe seiner Zeit. Er war in Danzig geboren, wollte sich aber als erfolgreicher Händler am Handelsplatz London darstellen lassen, um dem dortigen ,inner circle' der Kaufleute ein bestimmtes Bild von sich zu vermitteln. Die Verträge und die zahlreichen anderen Objekte, die den Kaufmann umgeben, verfolgen vorrangig den Zweck, ihn als Person von hoher Kredibilität in Geldfragen sowie als guten Kenner der globalen Märkte auszuweisen. Dies war zur Regierungszeit Heinrichs VIII. insofern von großer Wichtigkeit, als sich zu dieser Zeit die erste Globalisierung vollzog. Die Inszenierung des aufgestiegenen Bürgertums bringt mit dem holländischen Gruppenportrait noch eine weitere Bildgattung hervor/' Ein herausragendes Beispiel dafür ist Rembrandts De Staalmeesters von 1662, das als eines von sechs Gruppenportraits der Mitglieder der Tuchhändlerzunft im großen Saal dieser Zunft in Amsterdam hing (Abb. 4).7 Mit diesem Bildtypus ist in der bürgerlichen Gesellschaft Hollands etwas entstanden, das im Europa des Absolutismus eine absolute Ausnahmeerschei5 Oskar Bätschmann/Pascal Griener: Hans Holbein, Köln 1997, 181 ff; Kat. Hans Holbein the Younger. 1497/98-1543. Portraitist of the Renaissance, Royal Cabinet of Paintings Mauritshuis, T h e Hague, Zwolle 2003, 2 4 - 2 6 . 6 Alois Riegl: Das holländische Gruppenporträt, Wien 1931. 7 Gary Schwartz: Rembrandt. His Life, his Paintings, New York 1985, 336 f.; Kenneth Clarke: An Introduction to Rembrandt, London 1978, 111 ff; Otto Pacht: Rembrandt, München 1991.

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W e r sieht sich w i e u n d m ö c h t e w e l c h e s Bild von sich?

A b b . 5: H y a c i n t h e R i g a m i . l./uL·^

XU.'.

1701. Ol

auf L e i n w a n d . 2 7 7 χ 1 9 4 c m , P a r i s , L o u v r e

r u i n g w ar: D e r E i n z e l n e w i r d als M i t g l i e d e i n e r g l e i c h g e s i n n t e n G r u p p e d a r g e stellt und repräsentiert innerhalb dieser G r u p p e ihr „imaginäres, ideales Bild, das Bild e i n e r h a r m o n i s c h e n konfliktfreien V e r b i n d u n g von Individuen

und

G e m e i n s c h a f t " . * D i e n e u e e r f o l g r e i c h e E l i t e f ü h l t sich a m s t ä r k s t e n in d e r G r u p p e u n d s e t z t m i t d e m T y p u s ties G r u p p e n b i l d e s d a s b ü r g e r l i c h e S e l b s t b e wußtsein gegen die absolutistische Hofgesellschaft.

Theatralische Pose im Portrait absolutistischer Herrschaft E t w a z u r g l e i c h e n Z e i t , in d e r R e m b r a n d t in d e r B ü r g e r s t a d t A m s t e r d a m d i e Stmih/ieestiTS

p o r t r a i t i e r t e , i n f o r m i e r t e d e r 23 J a h r e a l t e K ö n i g L u d w i g XIV. in

P a r i s s e i n e . M i n i s t e r d a v o n , d a ß e r v o n n u n an d i e S t a a t s g e s c h ä f t e s e l b s t in d i e

8

Daniela 1 l a m m e r - T u g e n d l r a t : R e m b r a n d t limi der bürgerliche Subjektentwurt. L topic

o d e r V e r d r ä n g u n g ? , in: U l r i c h ß i e l e f e l d / ( ¡ischi L n g e l ( H r s g . ) , B i l d e r d e r N a t i o n . K u l t u r e l l e und politische Konstruktion des N a t i o n a l e n am Beginn der europäischen M o d e r n e .

Ham-

b u r g 1WK, 1 5 4 - 1 7 8 .

Π s .1

H u b e r t Burda

Abb. 6: Jacques Louis David, Napoleon beim Übergang über den Großen St. Bernhard, 1800, Ol auf Leinwand, 260 χ 22 1 cm, Rueuil-Malmaison, Musée national

Hand nehmen und auch selbst als erster Minister des Staates fungieren würde. Entsprechend seinem Wahlspruch „In meinem Herzen ziehe ich den Ruhm allem anderen vor" ließ er sich später von Hyacinthe Rigaud in der Pose des absolutistischen Herrschers portraitieren (Abb. 5).'' Das Bild zeigt den Herrscher in seinem 63. Lebensjahr in einer Pose, die seinen absoluten Machtanspruch perfekt ausdrückt: Er ist umhüllt von den schweren Stoffmassen des königlichen Krönungsornats in Bleu Royal mit den Lilien Frankreichs, ein Fuß ist leicht vorgesetzt, die rechte Hand liegt auf dem Szepter, die linke auf dem Schwert. Eine wahrhaft königliche Haltung und ein Auftritt, wie er prunkvoller kaum vorstellbar ist. Der Charakter der großen theatralischen Inszenierung, den das Bild vermittelt, wird noch unterstrichen durch die gewaltige Vorhangkulisse, vor der der König posiert, und durch das wie von einem Scheinwerfer direkt von vorne kommende Licht. 9

Stephan Perreau: Hyacinthe Rigaud 1659-1743. Le peintre des rois, Montpellier 2004.

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W e r sieht sich wie und möchte welches Bild von sich?

Ähnlich theatermäßig, aber zusätzlich auch noch auf die Tradition des imperialen Reiterstandbildes rekurrierend, portraitiert 100 Jahre später JacquesLouis David den 31 -jährigen Napoleon Bonaparte, der zu dieser Zeit die Herrschaft des Revolutionsdirektoriums durch einen Putsch beendet und sich selbst als Ersten Konsul an die Spitze des Staates gesetzt hatte (Abb. 6). 10 Das Bild zeigt Napoleon mit wallendem U m h a n g auf einem sich aufbäumenden Schimmel. Die rechte Hand zeigt in die Richtung der Paßhöhe des Großen St. Bernhard, die es mit einem Heer von 30.000 Mann zu überwinden gilt. Auf der Felsenplatte in der linken unteren Ecke sind neben seinem eigenen auch die Namen seiner großen Vorbilder Hannibal und Carolus Magnus in den Stein gehauen. Der Uberlieferung nach hat Napoleon die Alpen zwar nicht auf dem Rücken eines edlen Pferdes überquert, das den Strapazen der eisigen Kälte auf dem Ubergang auch kaum gewachsen gewesen wäre, sondern auf einem M a u l tier. Doch ging es in Davids Bildnis auch nicht um die exakte Darstellung der Paßüberschreitung, die tatsächlich eine heroische Leistung war und dem französischen Heer den Sieg über die Österreicher einbrachte, sondern das Reiterportrait Napoleons sollte dessen politischen Machtanspruch als Erster Konsul repräsentieren. In den Augen Napoleons hatte David mit diesem Bild eine derart überzeugende Ausdrucksform für sein herrscherliches Selbstverständnis gefunden, dass er sogleich drei Repliken in Auftrag gab.

Übernahme der Repräsentationsfunktion des Portraitbildes durch die Fotografie Die große Zeit der Portraitmalerei, die mit Davids großartigem Napoleonbild nochmals einen einsamen Höhepunkt erfuhr, war zu dieser Zeit eigentlich schon vorbei. W i r befinden uns im Zeitalter des technologischen Fortschritts, der auch im Bereich der Portraitmalerei tiefe Spuren hinterlassen wird. Im Jahr 1826 gelingt Nicéphore Niépce in Chalon-sur-Saône nach einer Belichtungszeit von acht Stunden die weltweit erste Fotografie." Diese Erfindung wird zu einem Desaster für die französischen Portraitmaler. M a n schätzt, daß zu dieser Zeit allein in Paris etwa 20.000 Maler von dieser Tätigkeit lebten. Davon wurde im Verlauf der nächsten 15 Jahre mehr als die Hälfte arbeitslos. Die Menschen, die sich portraitieren lassen wollten, hatten das Gefühl, daß die Fotografie die 10 Warren Roberts: Jacques-Louis David. Revolutionär)' Artist. Art, Politics, and the French Revolution, Chapel Hill 1989, 129 ff.; Kat. Jacques-Louis David. Empire to Exile, J . Paul Gem· Museum/Sterling and Francine Clark Institute, Los AngelesAVilliamstown Mass. 2005, hrsg. v. Philippe Bordes, N e w Haven u.a. 2005, 8 3 - 9 1 . 11 Michel Frizot (Hrsg.): Nouvelle histoire de la photographie, Paris 2001, 20 f.; Walter Koschatzky: Die Kunst der Photographie. Technik, Geschichte, .Meisterwerke, Salzburg 1984, 47-56.

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Hubert Burda

bildliche Repräsentation, die sie von sich sehen wollten, getreuer wiedergeben konnte als die Malerei. Fortan gab es immer weniger Menschen, die sich noch von einem Maler portraitieren lassen wollten, zumal sich die Technik der Portraitfotografie so rasch weiter entwickelte, daß bereits im Jahr 1841 in Paris die erste größere Ausstellung von Portraitfotografien stattfinden konnte. Zahlreiche figurative Bildnisse von Eugène Delacroix bis zu Edouard Manet und Paul Cézanne, wie sie in den folgenden Jahrzehnten entstanden, legen beredtes Zeugnis ab von der Suche der Maler nach neuen Aufgaben für die figurative Malerei. Einen trickreichen Sonderweg beschritt der Münchner Malerfiirst Franz von Lenbach, dessen Portraits des Reichskanzlers Bismarck eine gelungene Symbiose aus Fotografie und Malerei darstellen. Lenbach, der die Bismarck'schen Konterfeis mit einem Zug des Genialen versah, traf mit diesem Darstellungstypus genau den Zeitgeschmack. Seine Bilder, die in Form von Postkarten und Sammelmappen regelrecht vermarktet wurden, sprachen von der politischen Größe eines großen Mannes in einer großen Zeit.

Die Entdeckung neuer Qualitäten in der Portraitmalerei des 20. Jahrhunderts Das Kunstwollen im Riegel'sehen Sinne ging ab 1900 jedoch in eine ganz andere Richtung. Mit einer neuen Künstlergeneration und den Bildern von Gustav Klimt, Egon Schiele, Oskar Kokoschka, den französischen Fauves und den Dresdener Brücke-Künstlern,

allen voran Ernst Ludwig Kirchner, nahm das

Portraitbild einen neuen Aufschwung und entwickelte Qualitäten, die es weit von den - damals noch sehr beschränkten - Möglichkeiten der Fotografie entfernten. Am erfindungsreichsten bei der Behandlung des Genres war Pablo Picasso, der alles ausprobierte, was es an malerischen Möglichkeiten für die Darstellung von Personen gab, und zu so unterschiedlichen Lösungen wie dem Bildnis der Gertrude Stein von 1906 und dem Bildnis der Dora Maar von 1941 gelangte. Welche Schwierigkeiten sich generell mit dem Schwinden des Realismus für das Tafelbild als Mittel der Repräsentation ergaben, verdeutlicht ein Blick auf das Portrait, das Georg Meistermann von dem damaligen Bundeskanzler Willy Brandt anfertigte (Abb. 7).12 Das Bild stellt eine ,kritische Form' des repräsentativen Portraits dar, insofern es zwar repräsentativ für das ,Kunstwollen' einer bestimmten Zeit ist, jedoch so gut wie keinen sichtbaren Bezug zu Person und

12

Jutta Held: Zum Politikerporträt um 1970. Georg Meistermann malt Willy Brandt, in:

Das Regime als Image. Zwischen mimischen Display und Corporate Branding, Wabern-Bern 2003, 1 7 0 - 1 9 8 ; Karl Ruhrberg/Werner Schäfke (Hrsg.): Georg Meistermann. Monographie und Werkverzeichnis, Köln 1991.

558

W e r sieht sich wie u n d m ö c h t e welches Bild von sich?

Abi). 7: Georg Meistermann. II 7//y Brandt. 1(λ S. Öl auf Leinwand. Berlin. Landesvertretung \ordrhein-W esttalen

B e d e u t u n g des D a r g e s t e l l t e n m e h r e r k e n n e n läßt. N a c h allem, was aus der L ' m g e b u n g Willy Brandts damals zu h ö r e n war - er selbst hat sich zu tieni Bild niemals offiziell g e ä u ß e r t - , k o n n t e er m i t seinem b l u t r o t e n , fast abstrakten K o n t e r f e i w e n i g a n f a n g e n . Sein N a c h f o l g e r H e l m u t S c h m i d t ließ das Bild aus der K a n z l e r a m t s g a l e r i e e n t f e r n e n , und H e l m u t K o h l ließ es d u r c h ein realistisch gemaltes K o n t e r f e i von B r a n d t ersetzen.

Die Neuerfindung der Portraitdarstellung durch Andy Warhol Z u r gleichen Zeit, als M e i s t e r m a n n sein u n g e l i e b t e s K a n z l e r p o r t r a i t fertigte, e r f a n d A n d y W a r h o l die G a t t u n g des P o r t r a i t s n o c h einmal neu u n d entwickelte d a f ü r eine Bildtechnik, die die Technik des f o t o g r a f i s c h e n Abbildes m i t d e r S i e b d r u c k t e c h n i k u n d U b e r m a l u n g e n in Acrvl v e r k n ü p f t e . Seine Bilder, die den D a r g e s t e l l t e n die Aura von I k o n e n verliehen, w u r d e n z u m v e r b i n d l i c h e n P o r t -

559

Hubert Burda

Abb. 8: Greta Garbo als Mata Hari, Still aus dem gleichnamigen Film von 1931

Abb. 9: Andy Warhol, Greta Garbo als Mata Hari, 1981, Siebdruck mit AcrylUbermalung

raittypus einer neu aufgestiegenen internationalen Gesellschaft von ,Celebrities'. Warhols spezielles Interesse galt der Erfahrung von Wirklichkeit, wie sie sich in den Bilderwelten der Massenmedien widerspiegelt. Dabei interessierte ihn insbesondere der Mythos vergangener und gegenwärtiger Hollywoodstars wie Greta Garbo, Elizabeth Taylor und Marilyn Monroe, mit dem der junge Warhol in der Kleinstadt aufgewachsen war. Das bildliche Repertoire des Starkults hatte sich erstmals in den 30er Jahren mit den neuen Stars des Tonfilms wie Greta Garbo, Marlene Dietrich oder Jean Harlow herausgebildet. Warhol war fasziniert von der Durchgängigkeit des Aufbaus und der Inszenierung von Starportraits (Abb. 8), wie sie sich, abgesehen von unwesentlichen Änderungen, bis heute erhalten haben. Die Bildvorlagen, nach denen er seine Siebdrucke fertigte, gewann er aus Filmstills (Abb. 9), Illustriertenfotos und den Bildseiten der Boulevardzeitungen, die aktuell über Ereignisse aus dem Leben von Filmstars berichteten.' 3 Die ikonischen Portraitbilder im Stil der Starportraits, die Warhol von Celebrities der internationalen Gesellschaft herstellte, fanden großen Zuspruch. Warhol hatte damit offenbar einen Nerv der Zeit getroffen. Die Art und Weise, wie er Menschen mit technischen Mitteln ins Bild setzte, übte aber auch großen Einfluß auf die Werbung aus. 13 Vincent Lavoie: Le dernier tabloïd. Image de presse et culture médiatique dans l'œuvre d'Andy Warhol, in: Etudes photographiques 4/1998, 101-119; Frayda Feldman/Jörg Schellmann (Hrsg.): Andy Warhol Prints. A Catalogue Raisonné 1962-1987, New York 2003, insbes. 179; David Bourdon: Warhol, New York 1989, 124 ff.

560

Wer sieht sich wie und möchte welches Bild von sich?

Die Demokratisierung bildlicher Repräsentationsformen in der Mediengesellschaft Der Drang zur bildlichen Repräsentation ist bis heute ein wichtiges Motiv geblieben, doch spielen die Malerei wie die bildende Kunst insgesamt dafür keine Rolle mehr. Für die Mitglieder der Mediengesellschaft zählt nur noch, wann und wie oft sie in welchen Medien vorkommen und wie häufig sie dort zitiert werden. Anlaß und Zweck können dabei sehr verschieden sein. Der Schauspieler auf der Titelseite der Fernsehzeitschrift soll die Einschaltquote einer bestimmten Sendung erhöhen. D e m Politiker, der Gast in den Talksendungen von Johannes B. Kerner bis Sabine Christiansen ist, geht es um die eigenen Popularitätswerte. Der Romanautor, dessen neues Buch in einer Fernsehsendung vorgestellt wird, erhofft sich dadurch einen zusätzlichen Verkauf von Büchern. „Images need to be shared", davon war Andy Warhol zutiefst überzeugt. J e bekannter dein Gesicht ist, desto höher sind dein Marktwert und die damit verbundene persönliche Rendite in der neuen Ökonomie der Aufmerksamkeit. Heutige Zwanzigjährige stellen sich, um ihre persönliche Bedeutung auszutesten, gegenseitig die Frage nach der Anzahl der Einträge, die sie bei Google haben. Auch Fragen wie „Wie viele Menschen lesen meinen Weblog und mailen mir zurück?" oder „Wie viele Fotos von mir sind auf der Flickr-Plattfonni"

zie-

len auf Darstellung und Vermittlung der eigenen Rolle und Bedeutung. Entsprechend gibt es mit der Suchmaschine A9.com nun auch ein Werkzeug, das alle Texte und Bilder im Internet findet, die über eine Person in Magazinen, Zeitungen, Blogs, Büchern, Filmen etc. veröffentlicht wurden. Die Grenzen zwischen öffentlich und privat verwischen zunehmend. Dabei können neue Medien alte Funktionen übernehmen, wie die großen Bildtafeln mit den Werbeportraits bekannter Persönlichkeiten zeigen, die sich weltweit in allen großen Städten finden. Wenn man so will, kann man darin weitläufig eine Fortsetzung der Fassadenmalerei der Renaissance sehen mit dem großen Unterschied, daß mit den heutigen Fassadenbildern Werbeeinnahmen generiert werden. Das Portraitfoto der Prominenten ist zum Werbeträger geworden, der die Aufmerksamkeit auf eine Marke, ein Produkt lenkt und dieses wertvoll und begehrenswert machen soll. Die Sportartikelfirma Adidas, Einkleider der deutschen Fußballnationalmannschaft und einer der Hauptsponsoren der FußballWeltmeisterschaft, schaltete während der W M Portraitbilder der für sie werbenden Fußballstars Michael Ballack, Oliver Kahn und David Beckham sowohl im Fernsehen wie in den Print- und Onlinemedien und zeigte sie außerdem auch noch in Form riesiger Outdoor-Poster (Abb. 10). Die geschätzten Kosten von 500 Millionen Euro, die für diese Kampagne aufgewendet wurden, machen deutlich, wie hoch der Einfluss von Prominentenköpfen für Image und Umsatz einer Marke heute eingeschätzt wird.

561

Hubert Burda

Abb. 10: Outdoor-Werbung mit Oliver Kahn für die Firma Adidas, 2006, München, Flughafen

Mehr als zweitausend Jahre, nachdem mit Augustus erstmals ein Herrscher mittels der Technik der Münzprägung sein Portrait unter die Menschen brachte, sind die Möglichkeiten äußerst vielfältig geworden, das eigene Bild an die Öffentlichkeit zu kommunizieren. Printmedien, Fernsehen und Internet sind eine enge Verbindung eingegangen und haben das Motto der Hippiegeneration aus dem San Francisco der späten 1960er Jahre „Expose yourself!" Wirklichkeit werden lassen. Heute kann jeder, der will, auf sich aufmerksam machen und mit Hilfe des Internets zum multimedialen Medienproduzenten werden. Auf der Videoplattform YouTube.com sind gemäß des dort erklärten Mottos „Broadcast y o u r s e l f ein Jahr nach dem Start bereits 40 Millionen persönliche Kurzvideos abgelegt, die jedem Besucher der Plattform zugänglich sind. Das Portrait, mit dem sich die neu aufgestiegenen bürgerlichen Schichten im 15. Jahrhundert ihren Wunsch nach Repräsentation erfüllten, hat im Verlauf der folgenden Jahrhunderte so manche Veränderung erfahren. Sie hingen einerseits mit dem gesellschaftlichen Fortschritt und andererseits mit technologischen Innovationen zusammen. Was hingegen alle Veränderungen überdauert hat, ist der in Portraitbildern angelegte Repräsentationsanspruch aufstrebender Schichten. Dieser kann als Wegweiser für sich entwickelnde Portraitformen des 21. Jahrhunderts dienen. Bildnachweis: Abb. 1: National Gallery, London; Abb. 2: Albrecht Dürer. Das graphische Werk, Wien/München 1964, 107; Abb. 3: SMPK Berlin; Abb. 4: Rijksmuseum, Amsterdam; Abb. 5: Louvre, Paris; Abb. 6: Musée national des Châteaux de Malmaison et Bois Préau; Abb. 7: Landesvertretung Nordrhein-Westfalen, Berlin; Abb. 8: Fotografie v. Clarence Sinclair Bull; Abb. 9: Archiv des Autors; Abb. 10: ddp

562

Ruth Tesmar Entsprechungen, 2006 Ein Auszug aus der Bildfolge für Horst Bredekamp

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Petra Kipphoff

Der Rehmstackerdeich oder Bau und Nebenbau1 Mit dem terra marique turn hat Horst Bredekamp die Kunstgeschichte auf den Kurs des 21. Jahrhunderts gebracht

Wo Horst Bredekamps forschende Energie am Werk ist, da findet eine Landnahme statt. In knappen Worten entwickelt er kühne, aber sorgfältig vorbereitete und genau abgesteckte Eroberungen, deren Sinn und Nutzen sich mit der Erreichung des Ziels offen legt. Bredekamps Eroberungen sind, genauer gesagt, Erfindungen mit Begründungen, und zwar im Sinne Heinz von Foersters, der diese Disposition des Forschens deutlich von der normalen, abenteuerlichen Entdeckung unterschieden wissen wollte.Die Erfindung beginnt beim Gegenstand. Der Philosoph Thomas Hobbes, Autor des Leviathan, Gottfried Wilhelm Leibniz, Philosoph, Mathematiker, Physiker, Rechtsgelehrter und Erfinder der Monadologie sowie der Naturwissenschaftler Charles Darwin, Autor der Evolutionstheorie Origin of Species waren zu keiner Zeit Gegenstände des kunstgeschichtlichen Interesses. Durch Bredekamps Erfinderblick auf die bisher von den amtierenden Fachleuten aller Fakultäten ignorierten zeichnerischen Randaktivitäten dieser Wissenschaftler geraten diese, gerät ihre Arbeit in völlig neue Zusammenhänge. Wobei die großen Thesen, die das Werk jeweils ausmachen, natürlich im Hintergrund präsent sind. Aber die ,asides', um einen Begriff des Theaters aufzunehmen, die quasi nebenbei entstandenen Zierate oder Notate, sind plötzlich in den Mittelpunkt gerückt. Bei ihrer auswertenden Betrachtung benutzt der Kunsthistoriker wechselseitig die Lupe und das Fernrohr.

1 Siehe auch M a r t i n Warnke: Bau und Uberbau. Soziologie der mittelalterlichen Architektur nach den Schriftquellen, Frankfurt a. M . 1976. In diesem Buch, das vor Warnkes H a m burger Zeit geschrieben wurde, wird die Frage nach dem Deichbau allerdings noch nicht behandelt. Ich möchte hier den Begriff des Nebenbaus vorschlagen. 2 „Zuerst erfindet man, und dann entdeckt man, was die Erfindung alles mit sich bringen kann." H e i n z von Foerster/Ernst von Glasersfeld: W i e wir uns erfinden. Eine Autobiographie des radikalen Konstruktivismus, Heidelberg 1999, 134.

569

Petra Kipphoff

Für diese präferierte Wahrnehmung hat Bredekamp sich allerdings ein solides Fundament gelegt. Die Produkte künstlerischer Aktivitäten sind für ihn nämlich nicht nur ein Gegenstand der Betrachtung und Erforschung, sie sind vor allem auch ein „Konfliktpotential". 3 In diesem Sinne untersucht er, neben den capolavori der Kunst, auch ihre Nebenwerke und Randerscheinungen, Skizzen, Stiche und Graphiken, die naturwissenschaftliche, architektonische, historische, politische oder auch persönliche Informationen enthalten. Das graphische Element, das die dreidimensionale Präsenz der Skulptur und die Irritation durch die Sinnlichkeit der Farbe nicht kennt, spielt dabei eine entscheidende Rolle. Gefangennahme sei das höchste Ziel der Zeichnung, zitiert Bredekamp Leonardo da Vinci, der „affektive raptus" des Zeichnens sei es, der Fakten schaffe. 4 Und hier beginnt die Transferleistung der Bildwissenschaft, die kleine Skizzen und Schnörkel am Rande eines natur- oder geisteswissenschaftlichen Manuskripts mit dem ihr eigenen Instrumentarium analysiert. Die „Selbstauswicklung der Ideen" 5 , von denen im Zusammenhang des handgeschriebenen Wortes bei Leibniz die Rede ist, hat hier eine Parallele. Das Ziel der Zeichnung ist nicht die perfekte Reproduktion, die Verdoppelung der Realität, sondern die Eroberung. Jeder Strich ist wichtig, sei er nun als Handschrift in Buchstaben gebändigt, der offenen Rigidität des Lineals oder der schweifenden Lust der Linie folgend. Und wenn man ihn nur lange genug betrachtet, dann entfaltet sich hinter einem randständigen und ziemlich karg wirkenden Stumpfbandknoten 6 auf einem Blatt von Leibniz das Meer der Falten, die Falten des Meeres folgen auch ohne Flut und schließlich öffnet sich der kosmische Raum, wobei das Rücklager im Garten von Bomarzo zu entdecken ist, wo Bredekamp über dem Schnabelmaul des Fabeltiers „tiefe übereinander gestaute Faltenbahnen" diagnostiziert hatte. 7 Wenn man andererseits die offenen Verzweigungen des Strichs verfolgt, dann schimmert hinter Darwins Baum der evolutionären Erkenntnis die Verästelung der Koralle hindurch, die Darwin selber auch schon sympathischer war als das oberirdische Stück Holz. 8 Dieses rosafarbene Astwerk des Meeres aber hat seine mythische Doppelgängerin im Blut, das aus dem Rumpf und dem abgeschlagenen Haupt der Medusa fließt

3 Horst Bredekamp, Die Fenster der Monade. Gottfried Wilhelm Leibniz' T h e a t e r der N a t u r und Kunst, Berlin 2004, 73. 4 Horst Bredekamp, Rede bei der Überreichung des Sigmund Freud-Preises fiir wissenschaftliche Prosa der Akademie für Sprache und Dichtung, Darmstadt 2001. 5 Bredekamp 2004 (wie Anm. 3), 190. 6 Bredekamp 2004 (wie Anm. 3), 12 ff. Die erotische Konnotation dieses Fundstücks wurde von Bredekamp leider übersehen. 7 Horst Bredekamp: Vicino Orsini und der heilige Wald von Bomarzo. Ein Fürst als Künstler und Anarchist, Worms 1985, Bd. I, 169. 8 Horst Bredekamp: Darwins Korallen. Die frühen Evolutionsdiagramme und die Tradition der Naturgeschichte, Berlin 2005, 20.

570

Der Rehmstackerdeich oder Bau und Nebenbau

und an der L u f t zur Traube erstarrt. So, wie sich in Benvenuto Cellinis Perseus und Medusa das Blut der Medusa im Fluss zur Weintraube verfestigt, ist auch die Wasserpflanze an der L u f t zur Koralle verwandelt 9 , jenem zauberhaften N a t u r gebilde, das in der Kunstkammer als besondere Kostbarkeit und im Florenz der Medici als Zeichen des Friedens galt. H o r s t Bredekamp sieht in diesen seinen landnehmenden Erfindungen allerdings nichts Spektakuläres, sondern vielmehr bisher Übersehenes. N i c h t neue Kontinente habe er erobert, sondern nur die Kunstgeschichte jenseits einer linearen Stil- und Entwicklungsgeschichte auf ihre ureigensten Gebiete geführt, sagte er in einem Gespräch. U n d fügte, mit einem Pathos vertreibenden Lachen hinzu: „Ich befinde mich im Königsbett der Kunstgeschichte und nicht etwa in der Abseite". 10 Bei genauerem Hinsehen allerdings und angesichts der jüngsten Publikationen über Leibniz und Darwin zeichnet sich noch eine andere Lokalität als locus amoenus für Bredekamps Exerzitien ab. Kein Satz sei überflüssig, hieß es in einer Rezension von Bredekamps Buch Antikensehnsucht

und Maschinenglauben - die Geschichte der Kunstkammer

und die

Zukunft der Kunstgeschichte.11 So war es, so ist es. H o r s t Bredekamps Veröffentlichungen sind kompakt, nicht dickleibig, sondern weisen jene Konstitution auf, die er am Holofernes der G r u p p e Judith

und Holofenies von Donatello be-

schreibt, bei dem er im jugendlich gebliebenen Körper „die sehnige und muskulöse, von jedem Fettansatz freie Athletik eines antikisch aufgefaßten Körpers" 12 wahrnimmt. Am voluminösesten ist noch das Frühwerk: Kunst als Medium sozialer Konflikte. Bilderkämpfe von der Spätantike bis zur

Hussitenrevolution,

405 Seiten, auf denen es allerdings auch um einen Zeitraum von rund 1100 J a h ren geht. Die Kunstkammer

dann 117 Seiten. T h o m a s H o b b e s Der

Leviathan

und Leibniz' Die Fenster der Monade 161 und 194 Seiten. Sankt Peter in Rom oder das Prinzip der produktiven

Zerstörung 125 Seiten. U n d das jüngste Werk, Dar-

wins Korallen. Fríihe Evolutionsmodelle und die Tradition der Naturgeschichte

hat

79 Seiten. N i c h t mit gerechnet sind dabei allerdings die extensiven Anhänge mit den Fußnoten, Bibliographien oder D o k u m e n t e n , im Fall der Bilderkämpfe sind 1002 Fußnoten und bei Leibniz 78 Seiten zu zählen. W e n n kein Satz im Schrifttum von Bredekamp überflüssig ist, dann gilt natürlich auch der Umkehrschluß. J e d e r Satz ist wichtig. W i r wollen in diesem

9 Ebd., 62-63. Daß die Koralle erst an der Luft zu sich selber kommt, scheint eine romantische Phantasie von Darwin zu sein, die gern übernommen wird. Das Lexikon hingegen weist Korallen aus als „meeresbewohnende Hohltiere", deren Entwicklung im warmen, nährund sauerstoffreichen, klaren Wasser bei ausreichender Lichtzufuhr stattfindet. 10 Jens Jessen und Petra Kipphoff im Gespräch mit Horst Bredekamp, in: D I E ZEIT, Nr. 15,2005. 11 D I E ZEIT, Nr. 43, 1993. 12 Horst Bredekamp: Repräsentation und Bildmagie der Renaissance als Formproblem (Carl Friedrich von Siemens Stiftung Bd. 61), München 1993, 21

571

Petra Kipphoff

Zusammenhang einen Blick werfen auf die von den Lesern und Exegeten stark vernachlässigte Textsorte Vorwort/Widmung. Gewiß, eine Randerscheinung, andererseits aber auch, Bredekamp folgend, als solche nicht geringer anzusetzen als etwa der Leibnizsche Strumpfbandknoten und, ähnlich wie dieser, ein Feld der gleichermaßen deutlichen wie undeutlichen Erkenntnis. Nach kargen Namenslisten im Bredekampschen Frühwerk, bei denen noch der Vorname der Zitierten und Bedankten auf ein Initial plus Punkt herunter rationalisiert wurde, finden wir, beginnend mit der Studie über Hobbes, außer der Erwähnung der (mit Vor- und Nachnamen) genannten Freunde, Kollegen und Institute zum Schluss auch einen ganz neuen Zusatz. „Es [das Buch P. K.] wurde [...] auf dem Rehmstackerdeich der Marsch von Eiderstedt, auf halber Strecke zwischen Garding und Oldenswort, den Geburtsorten von Theodor Mommsen und Ferdinand Tönnies, geschrieben. Den Erbauern des um 1300 errichteten Deiches ist das Buch gewidmet."13 „Wie die Arbeit über Hobbes visuelle Strategien, so wurde auch dieses Buch auf dem Rehmstackerdeich, einem der Innendeiche von Eiderstedt in Schleswig-Holstein, geschrieben. Auf Schafe wie in einen Spiegel zu blicken, während man über Leibniz brütet, hat etwas ungemein Tröstliches."14 „Auch dieses Buch wurde auf dem um 1300 geschaffenen Rehmstackerdeich von Eiderstedt geschrieben. Während ich meinen Versuch zu Thomas Hobbes den Erbauern des Deiches und meine Auseinandersetzung mit Gottfried Wilhelm Leibniz den partnerschaftlichen Schafen des hiesigen Ambientes gewidmet habe, übereigne ich diesen Beitrag zu Charles Darwin jenen Algen des Wattenmeeres, die, obzwar der Kalkabsonderung nicht fähig, der Erscheinung der Hauptperson des folgenden Stückes, der Amphiroa Orbignyana, doch nahekommen."15 Die umfassende Auswertung dieser geographischen, geologischen, meteorologischen und morphologischen Informationen würde eine neue Untersuchung erfordern. Auch ohne dieser vorgreifen zu wollen, stellt sich aber die Frage, ob Horst Bredekamps Laufbahn als Kunsthistoriker/Bildwissenschaftler anders verlaufen wäre, wenn sein Schreibtisch nicht auf dem Rehmstackerdeich in

13 Horst Bredekamp: Thomas Hobbes visuelle Strategien. Der Leviathan. Urbild des modernen Staates. Werkillustrationen und Portraits, Berlin 1999, 10. - Siehe auch T h e o d o r Storm: Der Schimmelreiter, H u s u m 1888. 14 Bredekamp 2004 (wie Anm. 3), 9. 15 Bredekamp 2004 (wie Anm. 8), 8. - Siehe auch Petra Kipphoff: Zwischen den Umlaufblenden. Alexander von Humboldt auf Sylt. Tagebuch einer imaginierten Reise der späten Jahre, in: Brigitte Blobel/Ingrid G r i m m (Hrsg.) Der schönste Platz der Welt: Sylt, Reinbek bei H a m b u r g 2000. - Aktuelle Informationen zum Stand der Koralle auf der Website URL: (28.07.2006).

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Der Rehmstackerdeich oder Bau und Nebenbau

Eiderstedt gestanden hätte sondern zum Beispiel in Marktl am Inn. 16 Jenseits irgendwelcher Spekulationen, die der eine oder die andere hier nun doch anstellen mag, ist aber festzustellen, daß der Rehmstackerdeich zu einem der großen Orte der Kunstgeschichtsschreibung und Bildwissenschaft geworden ist. Denn hier hat Horst Bredekamp, Darwins zartrote Koralle im Kopf und den militärfarbenen Seetang vor Augen, mit der Formulierung des terra marique turn die Kunstgeschichte auf den Kurs des 21. Jahrhunderts gebracht.

16 Hier erhebt sich natürlich die parallele Frage nach der Karriere des Josef Ratzinger und deren Verlauf, wenn ihm beim Studium des katholischen Kirchenrechts die protestantischen Lämmer vor dem hohen Himmel von Schleswig Holstein begegnet wären.

573

Stephan von Huene Pasadena Bleistiftzeichnungen, 1964-1988

Anhang

Namensregister

A Acciaiuoli, Angelo 3 7 5 , 3 7 8 , 3 7 9 Acquaviva, Trojano 280 Adorno, T h e o d o r W . 114 Aischylos 60 Alberti, Leon Battista 51, 139, 140, 163, 2 8 8 , 4 0 8 , 517, 550 Albini, Franco 497 Aldrin, Edwin 89, 93 Aldrovandi, Ulisse 50, 293 Alechinsky, Pierre 519 Alexander I. (Rußland) 473 Alloway, Lawrence 91 Alpatov, Michel 384 Anderson, Perry 37, 121 Andrea da Barberino 392, 393 Andrea del Castagno 410 Andrea, J o h a n n Valentin 118 Angelico, Fra 63 Angiviller, Comte d' (Charles-Claude Flahaut de La Billarderie) 4 4 7 - 4 5 0 , 4 5 3 , 456, 459, 460 Anhalt-Köthen, August L u d w i g Fürst von 5 2 5 - 5 2 7 , 529, 535 Anhalt-Köthen, Ludwig Fürst von 535 Anhalt-Köthen, Luise Charlotte Friederike Prinzessin von 535 Anikia, Juliana 65 Antal, Frederick 32 Antiochus Epiphanes 372 Antonello da Messina 372 Antonioni, Michelangelo 242 Apollonius von Pergamon 57 Arasse, Daniel 398, 403, 410 Argan, Giulio Carlo 4 9 1 - 4 9 3 , 497 Aringhi, Paolo 271

Aristoteles 290, 539, 540 Armstrong, Neil 89 Assman, Jan 136, 502 Audran, Gérard 290 Agustín, Antonio 263, 268 Augustinus 62, 207 Augustus 562 Ausonius, Decimius M a g n u s 287, 293 Austin, J o h n L. 136 Averrhoes (eigentl. Ibn Ruschd) 208 Avdelotte, Frank 5 1 3 , 5 1 4 Β Bachtin, Machail 302 Bacon, Francis 18, 301 Bakewell, Liza 136 Bal, M i k e 7 , 8 , 1 0 , 3 5 Ballack, Michael 561 Bandinelli, Baccio 163, 167, 398, 493 Banks,Joseph 4 2 , 4 5 Barks, Carl 108 Barnaba da M o d e n a 64 Baronio, Cesare 271 Barthes, Roland 483 Bartolomeo della Gatta 410 Bartolom(m)eo, Fra 402 Bassano, Jacopo 63 Bates, Norman 244 Baudelaire, Charles 545, 567 Bauer, Melchior 533 Baxandall, Michael 482 Bayer,Johann 209 Beaumont, Christophe de 455 Becci, Gentile 376 Beckham, David 561 Beckmann, Max 1 9 2 , 5 4 9

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Namensregister Beham, Hans Sebald 309,311-318 Bellini, Giovanni 309 Bellini, Jacopo 179 Beiring, Hans 9, 12, 95, 136, 142, 143, 217,235,244,501,550,551 Benedikt XI., Papst (Nicolaus Boccasini) 357 Benedikt XIV., Papst (Prospero Lambertini) 276-278, 283 Benjamin, Walter 11,53, 111 Berchorius, Petrus (siehe unter Bersuire, Pierre) 369 Berenson, Bernard 179 Bergson, Henri 20 Bernard, Emile 540-542 Bernhard, Thomas 171, 176, 507 Bersuire, Pierre 369, 370 Bessarion, Basilius (auch Bessarion, Johannes) 389 Bianchi Bandinelli, Ranuccio 398, 493 Bicchierai, Antonio 282 Bing, Gertrud 155, 164, 166, 186 Biondo, Flavio 270,400 Bismarck, Otto Fürst von 558 Blume, Dieter 1 7 7 , 1 8 0 , 1 8 1 , 2 1 0 Boccaccio, Giovanni 396 Boehm, Gottfried 5, 8, 9, 471, 484, 486, 489 Böhme, Hartmut 1 5 , 8 7 , 9 0 Boerhaave, Herman 27 Bogdanovich, Peter 236 Boileau, Pierre 242 Boissard,Jacques 273,274 Boll, Franz 174 Bonfigli, Benedetto 405 Bonifaz VIII., Papst (Benedetto Caetani)353, 354, 355, 357, 360-362, 364, 366, 368, 369, 371, 374 Borges, Jorge Luis 116 Bosch, Hieronymus 63,428 Bosio, Antonio 271 Bossut, Charles 452, 454 Botticelli, Sandro 63, 164, 165, 235, 244, 410 Boulenger, Jules César 269 Bossuet, Jacques Benigne 449 Bouts, Dieric d. Ä. 65, 407 Bowle,John 324 Boyle, Peter 39 Bracciolini, Poggio 400 Brahe, Tycho 208,209

580

Brandt, Willy 558,559 Braque, George 202 Bräunlein, Peter J. 136 Brebiette, Pierre 287, 296 Brecht, Bertolt 206 Breton, André 219 Brockes, Barthold Heinrich 48, 162, 167, 168 Bruegel, Jan d. Ä. 62,311 Brunelleschi, Filippo 389,495 Brunfels, Otto 69 Bruni, Leonardo 400, 401 Bruno, Giordano 209 Bucarelli, Palma 493 Buffets, Gabrielle 226 Bühler, Karl 146,152 Bull, Clarence Sinclair 562 Burckhardt, Jakob 178 Bürger, Peter 11 Burri, Alberto 193 Busbeck, Augerius von 71 Buytewech, Willem 62 Byres, James 43 c Calixtus III. (Papst) 387 Caligula 373 Camelford, Thomas Pitt Lord of 42 Canavesio, Giovanni 65 Capogrossi, Giuseppe 493 Capponi, Neri di Gino 400, 401 Caravaggio, Michelangelo Merisi da 87, 88, 100, 491,493 Casati, Roberto 212,214 Cassirer, Ernst 7 5 , 1 4 7 , 1 8 6 Cassius Dio, Lucius Claudius 272, 273 Cavaceppi, Bartolomeo 43 Cavalieri, Giovanni Battista 266 Cecchi, Alessandro 398,400,401 Cellini, Benvenuto 4 0 2 , 5 1 8 , 5 7 7 Cervantes, Miguel de 319-325 Cézanne, Paul 549, 558 Chacón, Alfonso 267, 268, 270 Chacón, Pedro 269 Champollion, Jean-François 46 Chortasmenos, Johannes 61,62 Christiansen, Sabine 561 Churchland, Paul 84 Cicero 6 1 , 1 7 8 , 3 1 0 Clark, Kenneth 384,554

Namensregister Clausberg, Karl 1 5 1 , 5 2 0 Clemens Y , Papst (Bertrand de Got) 357 Colleoni, Bartolomeo 379, 380 Collins, Christopher 153 Collins, Michael 89 Colonna, Pietro 358, 3 5 9 , 3 7 0 , 373 Constable, J o h n 1 9 6 , 2 0 0 Cosgrove, Denis 74, 78, 81 Cossa, Francesco del 179 Coste, Jean 356, 357, 361, 363, 364, 372 Courbet, Gustave 542 Coustou, Nicolas 2 8 9 - 2 9 1 Cozens, J o h n Robert 199 Crimp, Douglas 4 Crivelli, Carlo 63, 65 Cusanus, Nikolaus (siehe unter Nikolaus von Kues) Cyprian von Karthago 302, 308

Dilly, Heinrich 1 2 , 1 1 9 - 1 2 2 , 1 7 8 Dilthey, Friedrich W i l h e l m 110 Diogenes 532 Dioskurides, Pedanius 60, 66, 68, 69 Donatello 1 7 9 , 3 7 5 - 3 7 8 , 5 7 7 Dosio, Giovannantonio 268, 270 Du Choul, Guillaume 269 Duccio di Boninsegna 64 Duchamp, Marcel 2 1 9 - 2 3 3 , 2 3 4 , 5 1 6 Dufay, Guillaume 3 8 9 - 3 9 2 Dupérac, Etienne 286, 270 Dürer, Albrecht 17, 69, 94, 95, 120, 186, 3 0 9 - 3 1 1, 315, 316, 3 3 1 - 3 3 3 , 4 1 8 , 442, 552, 562 Durkheim, Émile 299, 300, 305 Dusquesnoy, Hieronimus 290

D

Eco, U m b e r t o 302 Einstein, .Albert 15, 36, 192, 5 1 3 - 5 2 4 Eisenstein, Sergej 521 El Lissitzky 487 Eleonore von Osterreich 468 Elgin, T h o m a s Bruce 42 Enderlin, J a k o b d. A. 517 Enzensberger, Hans M a g n u s 118 Erasmus von Rotterdam 309, 310, 552 Escher, Maurits Cornells 201 F.staço, Aquiles 266 F.ste, Borso d' 1 7 9 , 1 8 0 , 3 8 0 Este, Ippolito d' 263, 265 Eugenius IV., Papst (Gabriele Condulmaro) 389

D'Alembert, Jean Baptiste le Rond (auch Jean L e Rond) 4 , 4 5 8 D'Hancarville, Pierre-François H u g h e s 44, 45 Daddi, Bernardo 1 4 1 , 1 5 4 dal Pozzo, Cassiano 263 Dante .Alighieri 207, 210, 217, 407, 537, 538, " Darwin, Charles 29, 564, 5 7 5 - 5 7 9 Daumer, Georg Friedrich 236 David, Jacques Louis 549, 556, 557 Davies, Martin 191 Dawkins, Richard 21 De Maria, W a l t e r 98 Debucourt, Louis Philibert 462, 463, 465, 466 Degas, Edgar 5 4 1 , 5 4 2 Dehmer, Andreas 403, 405, 409, 410 Delacroix, Eugène 543, 558 della Porta, Francesco 265 della Porta, Guglielmo 293 Deleuze, Gilles 237 De Lellis, Camillo 278, 279 Denis, Maurice 201 Denon, Dominique Vivant 110 Descartes, René 80, 449 Deschamp, Paul 256, 260 Diderot, Denis 459 Dietisalvi di Nerone 3 7 5 - 3 8 2 Dietrich, M a r l e n e 560

E

Eusebius von Caesarea 404 Export, Valie 90 Eyck, J a n van 69, 140, 550, 551

F Faber, Johannes 267 Faber, Petrus 269 Faedo, Lucia 273 Flavius Josephus 67 Fantova, Johanna 519 Farfler, Stephan 533 Farnese, Alessandro 263 Farnese, Elisabeth 277 Fénelon, François 449 Ferber, Barbara 423 Féré, Charles 545

581

Namensregister Ferren, John 242 Flusser, Vìlém 95,117 Foerster, Heinz von 575 Fokke, Simon 466,467,479 Fontaine,Joan 239-241 Fontana, Lucio 493 Fontenelles, Bernard 216 Forster, Kurt 37 Francesco da Borgo (auch Franceso del Cera da Borgo Sansepolcro) 387,388 Franzini, Girolamo 266 Freud, Sigmund 36, 136, 206, 538 Friedländer, Walter 491,493 Friedrich II. von Hohenstaufen 405 Friedrich II., König von Preußen 434 Fries, Hans 65 Fuchs, Leonhart 67-70 Fuga, Ferdinando 280 Fulvio, Andrea 270 Füllmaurer, Heinrich 70

G Gadda, Carlo Emilio 178 Gagarin, Juri 95 Gainsborough, Thomas 47 Galen, Claudius 57 Galilei, Galileo 91, 205, 206, 209-212, 214,215, 452 Galison, Peter 518 Galle, Cornelius 273, 274 Galle, Theodor 267 Garbo, Greta 560 Gardella, Ignazio 497 Gauguin, Paul 547 Gehry, Frank O. 343,496 Genazino, Wilhelm 565 Georg III. (König von England) 39, 533 George, Stefan 185, 187, 191, 202 Georgius Zotori Zapari Fenduli 176 Gerkan, Meinhard von 343 Gesner, Conrad 50, 69 Geßner, Heinrich 464 Ghirlandaio, Domenico 63, 166, 167 Gibson, James J. 195 Giordano, Luca 65, 209 Giovanni di Carlo 375 Giraldi, Lelio 269 Gisze, Georg 553 Godwin, Francis 213 Goethe, Johann Wolfgang von 108, 191 582

Gogh, Theo van 547 Gogh, Vincent van 227, 537, 540-542, 542, 544-547 Goldschmidt, Adolph 160,254 Gombrich, Ernst H. 51, 173, 174, 176, 195-203 Goncourt, Edmond de 545 Concourt, Jules de 545 Gontard, Carl von 43 5 Goya y Lucientes, Francisco José de 54, 140, 484, 485 Grant, Cary 240,241 Granvelle, Antoine Perrenot de 263, 270, 468 Grauba, Aigars 488 Gregor I., Papst 368 Gregor XIII., Papst (Ugo Bouncompagni) 265,270,271 Gregorius, Magister 367,368 Greuzes, Jean-Baptiste 462 Grimaldi, Giacomo 369, 371 Grimm, Dieter 502, 506 Grimm, Hermann 120-122,129 Gruby, Dr. 544 Gründgens, Gustav 503, 509 Guerra, Giovanni 267 Guichard, Claude 269 Guillaume de Nogaret 372,357 Gundolf, Friedrich 186, 187 Gutenberg, Johannes 76, 114, 115, 117, 211

H Habermas, Jürgen 32, 37 Hadid, Zaha 496 Hadrian 373 Hager, Werner 353,361 Hahn, Alois 300,502,506 Hainhofer, Philipp 51 Hall, Stuart 6 Hamann, Richard 123, 124, 262 Hamilton, Gavin 43 Hamilton, William 43-45 Hannibal 557 Hansen, Mark 85 Harlow, Jean 560 Hauser, Arnold 32 Hauser, Kaspar 236 Hautzsch,Johann 533

Namensregister Heckscher, William S. 183, 184, 189, 191-193 Hedren, Tippi 237 Heemskerck, Maarten van 293 Heenes, Volker 266, 267, 269 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 37, 110, 174 Heidegger, Martin 110, 111 Heinrich I. 404 Heinrich M I . 283,284 Heinrich \1II., König von England 554 Heinrich XI. von Reuss-Greiz 533 Helmholtz, Hermann von 20 Hering, Ewald 19,20 Herklotz, Ingo 263, 264, 268, 366, 374 Hermannus Dalmata 176 Herodot 83, 105 Hildegard von Bingen 19,62 Hitchcock, Alfred 235, 236, 237, 238, 239, 240, 2 4 1 , 2 4 2 , 2 4 3 , 2 4 4 Hitler, Adolf 35 Hobbes, T h o m a s 430, 440-444, 575, 577, 578 Hoch, Hannah 514,518 Hoefnagel, Joris 69 Holbach, Paul d' 459 Holbein, Hans d.J. 3 1 0 , 5 5 3 , 5 5 4 Hollis, T h o m a s 41 Holly, Michael .Ann 4 H o m e r 471 Hoornik, Ciasina Maria 546 Horaz 292,396 Houdon, Jean-Antoine 449 Humboldt, Alexander von 108, 578 Husserl, Edmund 147 I Ignatius von Loyola 323-325 Isozaki, Arata 494, 495, 497, 498 Israhel van Meckenem 426

J Jamnitzer, Wenzel 52 Jansenius, Cornelius 455 Janson, Horst W. 50, 51 Janssen, Jules 215 Jay, Martin 8 Jean de Hesdin 373 Jenkins, Thomas 43

Johannes (Evangelist) 63, 207, 299, 305, 306 Johannes Chrysostomos 301 Johannes VIII. Palaeologus (siehe unter Palaiologos) Johannes XXII., Papst (Jacob von Cahors) 206 Jonas, Hans 75, 77 Julius II., Papst (Giuliano della Rovere) 309, 310, 387, 398 Jünger, Ernst 193 Κ Kablitz, Andreas 301 Kahn, Louis 496 Kahn, Oliver 561,562 Kant, Immanuel 23, 73, 137 Kantorowicz, Ernst 183-191, 193 Karl I. (gen. der Große) 557 Karl III. 277,278 Karl λ'. 466-468, 470, 472, 473 Katharina II. (gen. die Große) 448 Kennan, George F. 183 Kennedy, John F. 9 6 , 9 8 Kepler, Johannes 208, 213, 514, 521 Kerner, Johannes B. 561 Kircher, Athanasius 48, 51, 52 Kirchner, Ernst Ludwig 558 Klages, Ludwig 20 Klimt, Gustav 558 Kluge, Alexander 470, 482, 483 Knorr, Georg Wolfgang 52 Kohl, Helmut 559 Köhler, Wolfgang 195 Kokoschka, Oskar 558 Konrad von Megenberg 58, 62 Konstantin I. (gen. der Große) 404 Konstantin XI. (siehe unter Palaiologos) Kopernikus, Nikolaus 206, 208, 213, 514 Kracauer, Siegfried 238 Krateuas 57, 68 Krause, Karl Christian Friedrich 18 Kris, Ernst 5 1 , 5 2 , 1 9 6 , 5 2 6 Kruse, Christiane 550,551 Kubrick, Stanley 98 Kurz, Otto 51,526

583

Namensregister

L Lacaille, Nicolas de 210 Ladner, Gerhart B. 353, 361 Lafréry, Antoine 267 Lanze, Carlo Vittorio Amedeo delle 284

M

283,

Lanzi, Luigi 178 Largillière, Nicolas de 289-291 La Rochefoucauld, François de 282, 283 Larousse, Pierre 544 Laugier, Marc-Antoine 431, 444 Lauro, Giovanni 294 Lavoisier, Antoine Laurent 27 Le Brun, Charles 164 Le Corbusier 496 Le Veau, Jean Jacques 462,463 Leach, Edmund 236 Leeuwenhoek, Antoni van 212 Leibniz, Gottfried Wilhelm 27, 52, 147, 452, 528, 575-578 Leigh,Janet 237 Lenbach, Franz von 558 Leo X., Papst (Giovanni de' Medici) 310 Leonardo da Vinci 17, 51, 133, 197-199, 3 9 8 - 4 0 0 , 4 1 0 , 4 1 1 , 576 Lepenies, Wolfgang 52, 533, 534 Lessing, Gotthold Ephraim 153, 187,465, 471,472 Lethieullier, William 40 L'Heureux, Jean 286, 270 Libera, Adalberto 31,185, 387, 497 Liberius, Papst 353 Ligorio, Pirro 263, 264, 267, 270 Linné, Carl von 40 Lippi, Filippo 63 Lippincott, Kristen 173, 174, 176 Lipsius,Justus 2 6 9 , 2 7 0 , 2 7 2 - 2 7 4 Locke, John 459 Loewy, Emanuel 196, 198 Longhi, Roberto 171, 172, 175, 178, 179, 180, 181 Loreck, Hanne 9, 10 Lowell, Percival 216 Ludwig XIV. 193, 448, 455, 457, 459, 460, 555 LudwigXV 283,455,456 Ludwig XVI. 4 5 5 - 4 5 7 Lull, Ramon 19 Lullus, Raimundus (siehe unter Lull, Ramon) Luzi, Luzio 271

584

Ma'shar, Abu 173,176 Maar, Dora 558 MacCarthy, Joseph 516 Mach, Ernst 1 9 , 1 5 3 , 5 2 0 Machiavelli, Niccolò 398, 401, 402 Macho, T h o m a s 235,533 Macon, Guillaume de 354 Malebranche, Nicolas 17, 18 Malatesta, Cleophe 389 Manet, Edouard 558 Mann, Klaus 503,509 Manuel Chrysáphes 390 Marc Aurel 267,366 Marchionni, Carlo 280, 281, 283, 284, 286, Marcucci, Giacomo 266 Marcuse, Herbert 32 Margarete von Parma 468 Marino, Giambattista 162, 165, 186 Markgraf, Christian 52, 53 Marmontel, Jean-François 459 Marquez Torres, Francisco 324 Marx, Karl 3 1 , 3 2 , 3 3 , 3 4 , 3 7 , 3 8 Masaccio 179 Masi eri, Angelo 496 Massard,Jean 463 Matteo di Giovanni 64 Matthäus (Evangelist) 158, 386 Mattioli, Pietro Andrea 69 Maupeou, René Nicolas 456 Maurepas, Jean-Frédéric Phélypeaux Comte de 456 Maxentius 404 Maximilian II. 265,468 Mazal, Otto 5 7 , 5 8 , 5 9 , 6 1 , 6 6 , 6 7 , 7 1 Mazzola, Filippo 65 McLuhan, Marshall 113 Medici, Cosimo de' 375-3 79 Medici, Ferdinando de' 263, 265, 294, 296 Medici, Francesco I. 265 Medici, Giuliano de' 379, 380 Medici, Lorenzo de' 379, 380, 382 Medici, Piero de' 375-379,391 Meier, Richard 496 Meister Bertram 63 Meister der Annuncia 64 Meister der Liebesgärten 426 Meister des Hausbuches 426 Meister E.S. 331

Namensregister Meistermann, Georg 558, 559 Meilini, Falconieri 285 Meilini, Mario 283 Melville, Stephen 10, 383 Memling, Hans 63, 65 Menduni, Enrico 345 Mercator, Gerhard 80, 554 Mercuriale, Girolamo 269 Mérimée, Prosper 235 Metzger, \ \ olfgang 195 Meyer, Albrecht 70 Meyer, Bruno 120,121 Michael von Augsburg 420,421 Michelangelo (Buonarotti) 264, 290, 315, 343, 344, 397, 398, 566 Michelucci, Giovanni 495 Miguel de Unamuno 319,323 Mino da Fiesole 378 Mirzoeff, Nicolas 7 Mitchell, W. J. T. 5, 6, 8, 9, 21, 136, 267, 368 Modesto, Christine 302, 303, 306, 307, 308 Modigliani, Amedeo 493 Mohamed II. 383 Möller, .Anton 420,472, Mommsen, T h e o d o r 578 Mondrian, Piet 493 Monroe, Marylin 521, 560 Monticelli, Graf von (Federico Cesi) 212 Moore, Henry 493 Moretti, Luigi 497 Morpurgo, Vittorio 496 Morus, Thomas 214 Moxey, Keith 4, 426 Mozart, Wolfgang Amadeus 183, 193,237 Mucha, Stanislaw 486 Müller, Johannes 18 Münter, Georg 442 Musil, Robert 138,202 Muziano, Girolamo 267 Ν Napoleon I. 473, 474, 484, 556, 557 Narcejac, Thomas 242 N e r o 367 N e r o di Gino Capponi 400, 401 N e r o n e di Nigri 375, 378-382 Nervi, Pier Luigi 495 Neumann, Cari 187 Neumann, John von 116

Neureuther, Eugen Napoleon 53 Newton, Isaac Sir 48, 147, 209, 452, 459, 514 Niépce, Nicéphore 557 Nietzsche, Friedrich 37, 169, 305, 538, 542, 544 Nikandros aus Kolophon 57 Nikolaus V., Papst (Tommaso Parentucelli) 383,387 Nikolaus von Kues 208 Xolhac, Pierre de 263 Novak, Kim 242 O Olivier, Laurence 239 Oppenheimer, J. Robert 185, 192 Orlandi, d e m e n t e 284, 286 Orsini, Fulvio 263, 267, 269 Orsini, Vicino 343, 576 Osgood, Charles F.. 195 Osthoff, Hermann 165 Otto I. 404 Ovid (Publius Ovidius Naso) 53, 60, 61, 65, 135, 164, 287, 288, 291, 294-297 Ρ Pacher, Michael 122,334 Pacht, O t t o 71, 334,554 Paeto, Luca 269 Pajou, Augustin 447, 450, 451, 453, 455, 459, Palaiologos, Johannes VIII. 389 Palaiologos, Konstantinos XI. 383, 390 Palaiologos, Theodoros II. 389 Paleotti, Gabriele 270 Palladio, Andrea 446 Panciroli, Guido 270 Panini, Gian Paolo 277, 282 Panini, Giuseppe 277, 279 Panofsky, Dora 188 Panofsky, F.rwin 50, 140, 177, 183-193, 253," 484, 552 Panvinio, Onuphrio 268-270 Paravicini Bagliani, Agostino 353-357, 361, 368, 374 Pascal, Blaise 447, 4 4 9 - 4 6 0 Pascal, Gilberte 453 Paul V, Papst (Camillo Borghese) 271 Paulus 302,303,372

585

Namensregister Payne Knight, Richard 45 Pazzi (Familie) 235,379 Penther, Johann Friedrich 431, 432, 434, 435, 437-439, 441, 442, 444, 446 Périer, Marguerite 453, 454 Perkins, Anthony 244 Perrenot de Granvelle, Antoine 468 Perret, Jacob 442 Perrier, François 292, 294, 295 Perugino, Pietro 65 Peruzzi, Baldassare 164 Peter I. (gen. der Große) 448 Petrarca, Francesco 373 Petrus Comestor 373 Philipp II. 2 6 5 , 4 6 6 - 4 6 8 , 4 7 0 , 473, 475 Philipp III. (gen. der Gute) 184 Philipp I V (gen. der Schöne) 354, 356, 360, 364 Philipp V. 277,280 Philipp I. von Bourbon, Herzog von Orleans 455 Piano, Renzo 496 Picart, Bernard 162, 164, 165, 167 Picasso, Pablo 202,493 Piccinino, Niccolò 399, 400, 411 Piccolomini, Aeneas Sylvius (siehe unter Pius II.) Piero della Francesca 383-396 Pierre, Jean-Baptiste 448,459, Pinto, John 276 Piranesi, Giovanni Battista 280, 281 Pirckheimer, Willibald 309 Pisano, Giovanni 162 Pitti, Luca 3 7 5 , 3 7 8 , 3 7 9 Pius II., Papst (Aeneas Sylvius Piccolomini) 383, 384, 387 Pius V., Papst (Michele Ghislierie) 263, 264,265,271 Plaisians, Guillaume de 357, 373 Plessner, Helmuth 28 Plinius Secundus d. Ä. 50 Plot, Robert 50,242 Plousiadenòs, Johannes 388, 389 Plutarch von Chaironeia 212,213 Poincaré, Henri 100,231-233 Polke, Sigmar 91-97 Poliamolo, Antonio 410 Pollmächer, Christian Salomon 525, 526, 528-535 Pollock, Jackson 493

586

Pombai, Marques de (auch Sebastiao José de Carvalho e Melo) 443 Pope, Alexander 459 Popper, Karl 200 Porcacchi, Tommaso 270 Posi, Paolo 285,286 Poussin, Nicolas 165, 287-291, 293-297 Praxiteles 50, 51 Protogenes 209 Ptolemäus, Claudius 209

Q Quesnel, Pasquier

455

R Raffael, Sanzio 65, 162, 163, 165, 167, 316,410 Raimondi, Ezio 178 Raimondi, Marcantonio 162,163,315 Raphael, Max 32 Ratzinger, Josef 573 Rauschenberg, Robert 91, 93 Ray, Man 224-226 Readings, Bill 10 Regalato, Pietro 278, 280 Reifenrath, André 125 Reiff, Walther 441 Rembrandt Harmensz van Rijn 18 Renan, Ernest 106 Reni, Guido 164, 165 Reudenbach, Bruno 88, 185, 192 Reuss-Greiz, Heinrich XI. Graf von 533 Reynolds, Joshua 47 Ribadeneyra, Pedro de 323-325, 319 Ricci, Caterina de' 278, 280 Richter, Gerhard 91,92 Richter, Hans 487 Ridolfi, Mario 344,497 Riebesell, Christina 263 Riegl, Alois 196 Rigaud, Hyacinthe 555, 556 Rilke, Rainer Maria 114 Ringe, Anna Friederike Regine 530 Ringe, Charlotta Sophia 530 Ringe, Christian 526 Ringe, Christoph Gottfried 525-534 Ringe, Karoline 529 Rivius, Gualterius (siehe unter Reiff, Walther)

Namensregister Roannez, Duc de 454 Roberti, Ercole de' 1 7 9 , 1 8 1 Robinet, Jean-Baptiste-René 52 Roché, Henri-Pierre 222, 225, 226 Römer, Ole 18 Rosand, David 162 Rosselli, Cosimo 410 Rousseau, Jean-Jacques 444 Rubens, Philipp 293 Rubens, Peter Paul 91, 162, 165, 273, 274, 2 9 3 , 2 9 4 , 316, 398, 3 9 9 , 4 1 0 Rubinstein, Nicolai 3 7 8 - 3 8 0 , 382, 398, 401 Rufus von Ephesus 57 Rumsfeld, Donald 1 5 6 , 1 5 8 Runge, Otto 53 Ruscha, Edward 91 Ruskin, John 197 Rutherford, Lewis M . 2 1 5 , 4 8 3 Rymsdvck, John und Andrew van 3 9, 47, 50

S Sadeler, Aegidius 266 Saisset, Bernard 356 Sambucus, Joannes 62 Samonà, Giuseppe 497 Sant, Gus van 237 Sartre, Jean-Paul 134, 135, 138 Sasse, .Arthur 513 Saxl, Fritz 1 7 3 , 1 7 7 , 1 8 5 - 1 8 7 Scamozzi, Vincenzo 442 Scarpa, Carlo 497 Schade, Sigrid 6 Schaffner, W o l f g a n g 81 Schaych, Gaert von 266 Schiaparelli, Giovanni V. 216 Schiele, Egon 558 Schiller, Friedrich 136, 137, 468 Schinkel, Karl Friedrich 110 Schirmbacher, Peter 126 Schlegel, Friedrich 53 Schlosser, Julius von 196 Schmidt, Helmut 559 Schmidt, T i l m a n n 354, 356, 357, 361-363, 368 Schmitt, Carl 193 Schramm, Percy Ernst 186-188, 403, 406 Schwarz, Arturo 230 Searle, J o h n R. 136

Sebastiao José de Carvalho e M e l o (siehe Pombal, M a r q u é s de) Sedlmayr, Hans 550 Serlio, Sebastiano 446 Severano, Giovanni 271 Severus, Sulpicius 94 Shearman, J o h n 410 Sicard, Monique 2 0 6 , 2 1 4 Signorelli, Luca 410 Silvester I., Papst 368 Singer, Wolf 4 8 3 , 4 8 9 Sixtus IV., Papst (Francesco della Rovere) 380 Sixtus V., Papst (Felice Peretti) 265, 271 Sloane, Hans 40, 46 Smithson, Robert 90 S o a n e , J o h n 117 Soderini, Niccolò 375, 378, 379 Soderini, Piero 4 0 1 , 4 0 2 Sodoma (eigentl. Giovanni Antonio Bazzi) 410 Solmitz, Walter 186 Sommer, Clemens 354, 360, 363, 364, 370 Speckle, Veit Rudolff 70 Specklin, Daniel 442 Spieß, Christian Heinrich 533 St. Clair, Margaret 21 Stafford, Barbara 39, 84, 85, 136 Stefano da Zevio 63 Stein, Gertrude 558 Stevin, Simon 442 S t e w a r t , J a m e s 243 Stoedtner, Franz 121-124 Strub, Christian 93 Stubbs, George 47, 48 Stuckius, Justus 269 Suger, Abt von Saint-Denis 192 Suliman II. 71 Sung T i 199 Τ Taylor, Elizabeth 560 Terragni, Giuseppe 344, 345, 495, 497 Tertullian 6 3 , 1 5 2 , 4 0 4 Theophrast 66, 67 T h o m a s von Aquin 191 T h o m a s von Birtanje 143 Thomasin von Zerclaere 144, 154, 339 Thomassin, Philippe 266 Tönnies, Ferdinand 572

587

Namensregister Tornabuoni, Lucrezia 376 Townley, Charles 42-44, 48 Truffimi, François 236, 241, 244 Tura, Cosmè 179-181 Turing, Alan 114 Turner, William 197

u Ueberweg, Friedrich 1 8 , 1 9 , 2 0 Ugonio, Pompeo 271 Urey, Harold 97 V Vaccaria, Lorenzo della 266 Valéry, Paul 1 0 9 , 1 1 1 , 1 1 4 Valguarnera, Fabrizio 287 Vanvitelli, Luigi 278,281 Varus 404 Vasari, Giorgio S3, 60, 162, 178, 387, 397, 398, 400, 409, 410 Vauban, Sébastien Le Prêtre, Marquis de 442 Venturi, Adolfo 172 Vernon, Magdalen D. 195 Vesalius, Andreas 206 Vespasian 367 Vicino da Ferrara 181 Vignola, Giacomo Barozzi da 446 Villani, Giovanni 406 Villard d'Honnecourt 198 Vinzenz von Beauvais 373 Visconti, Bernabò 373 Vitruv 2 8 7 , 2 9 2 , 2 9 3 , 4 4 1 , 4 4 5 Voltaire 449, 456, 458, 459 Vossler, Karl 155

w Wagenaar, Jan 466, 479 Wailly, Charles de 457, 460 Walch, Immanuel 52 Warburg, Aby 31-38, 126, 140, 155-169, 171-181, 185-189, 193 Warhol, Andy 4 Warnke, Martin 12, 32, 33, 34, 35, 36, 38, 140, 155, 192 Watteau, Antoine 532 Weber, Max 545 Weibel, Peter 20,153

588

Weiditz, Hans 69 Weitzmann, Kurt 57, 58 Werckmeister, Karl Otto 33, 34, 35 Wertheim, Margaret 217 West, Benjamin 39 Weyden, Rogier van der 186 Whorf, Benjamin Lee 201 Winckelmann, Johann Joachim 174, 294 Wieland, Ludwig 462, 464 Wilde, Oscar 135 Wilhelm von Oranien 467 Wiligelmus 254 Wittgenstein, Ludwig 8, 198, 204 Wolf, Gerhard 95, 143, 235 Wolfdietrich Β. 141 Wölfflin, Heinrich 121,196 Wollheim, Richard 204 Wonneke von Kaub, Johannes 67 Wood, Beatrice 225, 226 Wren, Christopher 442 Wright of Derby, Joseph 19, 47, 48 Wright, Frank Lloyd 496 Wright, T h o m a s 211 Ζ Zacchia, Lorenzo 411 Zoffany,Johann 4 3 , 4 4 Zola, Emile 545 Zschokke, Heinrich 462, 464 Zuse, Konrad 116

Bildnachw eis für die künstlerischen Beiträge Stephan von Huene: Der Manu von Jüterbog, Archiv Petra Kipphoff von Huene, Fotos David Baltzer Pasadena, Abb. 1 (D-1964-71) und 2 (D-1964-75): Archiv Petra Kipphoff von Huene, Abb. 3 (D-1964-66): Sammlung Hegewisch Hamburg Eva-Maria Schön: Labor, Installation, Neuer Berliner Kunstverein, 1999, Abdruck der Installationsfotos Schriftbild, 2000-2006 Mit freundlicher Genehmigung der Künstlerin Ruth Tesmar: Entsprechungen, 2006 (Ein Auszug aus der Bildfolge für Horst Bredekamp) Mit freundlicher Genehmigung der Künstlerin Fotografien von Horst Bredekamp mit freundlicher Genehmigung von Barbara Herrenkind