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German Pages [416] Year 2023
Manfried Rauchensteiner
BETRIFFT GESCHICHTE Ein Streifzug durch die Zeiten
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie ; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2023 Böhlau, Zeltgasse 1, A-1080 Wien, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Brill Wageningen Academic, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau und V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Alle Abbildungen : Wessela Benderlieva, Wien Einbandgestaltung : Stephan Lindner, Wien Satz : Michael Rauscher, Wien Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-205-21832-6
Inhalt
Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Gestalter der Geschicke, 1500 – 1914. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Von Sarajevo bis Padua, 1914 – 1918.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Der Kaiser und der Konfektionsharnisch (11) »Lasset mir der Feind nur Zeit« (15) An einem heißen Augusttag (21) Der Held von anno dazumal (27) Der Wiener Kongress 1814/15 (32)
Ein Mörder namens Princip (47) »Alle Straßen münden in schwarze Verwesung« (Georg Trakl) – Österreich-Ungarns letzter Krieg (52) Das sterbende Kamel (63) Das Tal der toten Pferde (69) Fremd im eigenen Land (76) Franz Joseph I.: Den Tod vor Augen (84) Im Dienste Seiner Majestät (92) Die Villa des Senators Giusti (98)
Republik und Diktatur, 1918 – 1938 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107
Mehr gab es nicht zu sagen (107) Tausche Land gegen Leben (114) Ein Dorf an der Grenze (120) Ein Kranz für Woodrow Wilson (126) »Blumenfeldzug« mit Pannen (132)
Der »Führer« und die Folgen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147
Herr Hitler und der Krieg (147) Ein Sarg für Paris (153) Am Anfang stand ein Anhang (158) Tyrannenmord : Der 20. Juli 1944 und Österreich (164) Dann kam der letzte Zug aus Wien (179) Kanzler gesucht (185)
Daheim und in der Nachbarschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195
Die Performance war perfekt (195) Prag und die Folgen (211) Josef K. und die Wende (216) »Ich bringe nichts Schönes« (222) König Kreisky und die Briten (225) Winken und ein bisschen Blasmusik (230)
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Inhalt
Biografisches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239
Ehrung reihte sich an Ehrung : Prinz Eugen von Savoyen (239) Die Alber tiner (243) Clemens Lothar Fürst Metternich : Das Leben eines Gerad linigen (255) Der himmlische Karl (274) 24 Kerzen im Fenster : Josif Vissarionovič Džugašvili, gen. Stalin (281) Otto Franz Rösch (287) Johann Christoph Allmayer-Beck (299)
Vom Sammeln und Ausstellen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307
Eine zu Stein gewordene Idee : Das Heeresgeschichtliche Museum (307) Anforderungen, Überforderungen, Herausforderungen – Anmerkungen zu einem Leidensweg (314) Wem gehört was war ? (326) Militärattachés : Diener zweier Herren ? (332) »Kein Spaß an der Sache« – Militärmuseen da und dort (339)
Nicht ganz Alltägliches. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355
Die Pflicht, die Kluft, der Frust (355) Österreichs letzte Galeerensträflinge (364) Kein Kampf um die Stadt (367) Heldenplatz – belassen wir’s dabei (373) Die Sache mit dem Nationalfeiertag (374) Vom Umgang mit der Erinnerung (377) Der Mensch braucht seinen Feind (386) Warum Krieg ? (393)
Anmerkungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397 Quellenverzeichnis.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409
Vorbemerkungen
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reißig- oder Vierzigjährige pflegen gerne ihre Lebenserinnerungen zu schreiben oder schreiben zu lassen. Das hat schon was für sich, ist aber hoffentlich in allen Fällen ein unzeitgemäßer Vorgriff. Eher wohl lassen sich Rückbesinnungen von Älteren rechtfertigen. Erstere können, müssen jedoch nicht gleichmäßig ausfallen, sind aber insofern weit mehr angebracht als die Autobiografie einer Teenager-Spätlese, da sie auf eine größere Menge an Vergangenem verweisen können. Doch in dem Augenblick, da man nicht autobiografisch wird, sondern auch ein wenig mit dem Lebenswerk zu spielen beginnt, wird die Sache schwierig : Was bietet sich denn für einen Rückblick an ? Soll man eine bestimmte Zeit, ein einziges Thema herausgreifen ? Ist das, was einem selbst wichtig ist, auch für andere von Interesse ? Auch dabei tun sich die weit Jüngeren leichter, da ihre Werkverzeichnisse in der Regel noch überschaubar sind. Was aber soll man aus einem Wust heraussuchen, ohne womöglich Wichtiges zu übersehen ? Mir ist es eingestandenermaßen nicht leichtgefallen, für dieses Buch aus wahr scheinlich viel zu vielen Arbeiten jene auszuwählen, die ich selber noch einmal gerne lesen möchte. Bei der Gelegenheit ist mir auch durch den Kopf gegangen, wie sehr ich für ein krasses Missverhältnis verantwortlich bin : Ich habe die meisten der mich interessierenden Themen in Büchern behandelt und weit weniger in Aufsätzen, Beiträgen und historischen Kurzgeschichten. Gerade letztere aber wären – so wurde mir einzuhämmern versucht – in einer Zeit, die von Kurznachrichten und Abkürzungen dominiert wird und niemand Zeit hat, weit gefragter. Wer liest schon viele hundert oder gar über tausend Seiten ? Mit dieser indirekt geäußerten Kritik an Selbst-Geschriebenem muss man leben, auch wenn der Verweis auf jede Menge andere Vielschreiber angebracht wäre. Ich bin aber in mich gegangen und habe meinen Rückblick so angelegt, dass ich vor allem kürzere Arbeiten in die engere Auswahl einer Wiederveröffentlichung gerückt habe. Es sollte etwas anderes entstehen als eine dickleibige Textsammlung. Folglich habe ich Aufsätze, Artikel und Feuilletonbeiträge herausgesucht, die der Forderung nach Kürze einigermaßen gerecht werden, und das auch nur aus den letzten drei Jahrzehnten. Um dem Ganzen eine Form zu geben, sind die Artikel und Beiträge thematisch zusammengefasst, und – sofern möglich – chronologisch geordnet worden.
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Vorbemerkungen
Die Menge wurde kleiner, doch immer noch war es zu viel. Also hieß es, dem Appell : kurz, kurz, kurz ! abermals zu folgen. Irgendwann war es dann so weit, und jene, die mir schon lange Freunde im mühsamen Buch- und Verlagsgeschäft geworden sind, Waltraud Moritz, Martin Zellhofer und Michael Rauscher, die auch schon früher Opfer meiner schriftlichen Geschwätzigkeit geworden sind, waren es zufrieden. Sie haben sich denn auch umgehend an die Arbeit gemacht und sich meinen uneingeschränkten Dank verdient. Und um nicht schon mit den Vormerkungen das Wesen eines kurzen Streifzugs durch die Geschichte ad absurdum zu führen, schließe ich die Vorbemerkungen mit dem einfachen Wunsch, Freude beim Lesen des Nachfolgenden zu haben. Wien, im Sommer 2023
Hintergrund : Plakat einer Sonderausstellung im Heeresgeschichtlichen Museum in Wien 1997/1998 mit der Abbildung des Gipsmodells des Erzherzog-Carl-Denkmals auf dem Wiener Heldenplatz. Davor vier von fünf Bänden der Prinz-Eugen-Biografie von Max Braubach (Wien 1963 –1965), ferner Band 5 aus der Serie Kriege unter der Regierung des Kaisers Franz : Befreiungskriege 1813 und 1814 (Wien 1913), Katalog zur Ausstellung 150 Jahre Wiener Kongress (Wien 1965) sowie eine Statuette aus Porzellan (25 cm) Napoleons I. aus der Manufaktur Scheibe-Alsbach. Untergrund : Skizze zum Feldzug 1813, Beilage XVI zu Adolf von Horsetzky, Kriegsgeschichtliche Übersicht der wichtigsten Feldzüge in Europa seit 1792, 6. Aufl. (Wien 1905).
Gestalter der Geschicke, 1500 – 1914
Der Kaiser und der Konfektionsharnisch Das Bild, das er bot, war ungewöhnlich und gewöhnlich zugleich : Den Knechtharnisch angelegt, ein federgeschmücktes Barett auf dem Kopf, den Degen in der Faust, dann wieder einen Spieß in den Händen, vorneweg stürmend, die Seinen mitreißend, verschwitzt, stinkend, ermüdet, triumphierend, geschlagen – und das sollte ein Kaiser sein ? Zugegeben : Als Kaiser war er seltener so anzutreffen als in früheren Jahren, als Maximilian I. nur Erzherzog und dann König war. Vielleicht auch, weil er es müde geworden war, immer vorneweg den Raufbold zu mimen. Er blieb zurück, kümmerte sich um die »Arkelei«, ließ feuern und war es schließlich zufrieden, dass sein Weg durch die Zeiten mit immer wiederkehrenden Zeichen seiner persönlichen Tapferkeit im »Weißkunig« und im »Theuerdanck« verewigt wurde. Dort ließen sich Anspruch und Ergebnis miteinander vergleichen. Da war einmal der 12jährige Erbfolgekrieg gewesen, den Maximilian auszukämpfen hatte, um das Erbe seiner Frau Maria, Burgund, antreten zu können. Die Schlachtfelder Burgunds und Flanderns formten ihn. Sie lehrten ihn auch, dass man zum Kriegführen – wie es sein Zeitgenosse Trivulzio ausdrückte – Geld, Geld und noch einmal Geld brauchte. Denn für Geld bekam man Soldaten. Und die brauchte er. Also versuchte es Maximilian in der Weise, dass er ein »Geschäft« mit den Reichsständen probierte. Aber dazu musste auch er etwas anbieten. Am Reichstag von Nürnberg, 1491, fand sich der damalige König daher unter dem Eindruck drohender Kriegsgefahren in Frankreich und Ungarn zu einigen der von den Ständen geforderten Reformen bereit. Er nahm den Gedanken einer Kreiseinteilung auf. Im Reich sollten sechs Friedenskreise errichtet werden, in denen je zwei Hauptleute für Ruhe und Ordnung zu sorgen hätten. Zur Reichsverteidigung aber schlug er eine Art stehendes Heer vor, wobei jeweils 49 Einwohner den 50. ausrüsten sollten. Der Vorschlag wurde von den Ständen abgelehnt. Doch das war erst der Anfang eines jahrzehntelangen Ringens zwischen Kaiser und Reich gewesen. Kaum hatte Maximilian die Lage in Burgund unter Kontrolle gebracht und die Rückeroberung der österreichischen Erblande nach der kurzen Herrschaft des Mát-
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thias Corvinus geschafft, setzte mit dem Vorstoß des französischen Königs Karl VIII. nach Neapel 1494/95 der Kampf um Italien ein. Der Habsburger erkannte, dass der Besitz der Halbinsel für die Stellung des römisch-deutschen Kaisertums und für die Vorherrschaft in Europa von entscheidender Bedeutung war. Also unternahm er einen Italienzug. Der drohte mehr als einmal zum Debakel zu werden. Wieder versuchte es Maximilian mit dem Reichstag. Karl VIII. war in Rom eingezogen und hatte das Königreich Neapel erobert. Bei der Eröffnung des Reichstags in Worms forderte Maximilian daher »eilende« Hilfe zur Verteidigung des Reiches. Die Reichsstände aber obstruierten. Auch ein Feldzug gegen die Osmanen wurde verschoben. 1499/1500 eroberten die Franzosen Mailand. Maximilian konnte es nicht hindern. Er versuchte nach wie vor, die Interessen des Reichs mit seinen eigenen in Einklang zu bringen. Am 10. April 1500 begann der Augsburger Reichstag. Herzog Albrecht von Bayern, Schwager des Kaisers, wurde zum »gemeinen Hauptmann deß Heiligen Reichs« bestellt und eine Reichskriegsordnung beschlossen. Der Hauptmann sollte ohne Zustimmung seiner sechs Kriegsräte keinen Krieg führen. Keine Verträge oder Waffenstillstände durften ohne Wissen des Hauptmanns geschlossen werden. Den Sold bekam er vom Reichsregiment. Auch alle anderen Regelungen zielten auf eine bessere Organisation des Reichskriegswesens ab. Die Höhe des Soldes für Reisige und Fußknechte wurde festgelegt, ebenso der zu leistende Eid und die Strafen für die Entfernung von Dienstleuten von der Truppe. Der Kaiser schien zweitrangig zu sein. Dennoch meinte er, den Durchbruch geschafft zu haben. Denn es wurde auch eine »Reichshilfsordnung« erlassen, eine Steuer, die von allen Reichsangehörigen direkt aufgebracht werden musste. So schön das aber alles war, hatte es zwei Haken : Die Reichskriegsordnung entzog Maximilian die Kriegshoheit, und die Reichssteuer ging nicht ein, so dass das nötige Fußvolk nicht aufgestellt werden konnte. Doch es sollte auch wieder anders kommen. Im Februar 1508 brach der große Venezianerkrieg aus, der acht Jahre dauerte und fast alle europäischen Mächte in die Auseinandersetzung verwickelte. Der äußere Anlass war der Wunsch Maximilians gewesen, zur Kaiserkrönung nach Rom zu ziehen. Venedig verwehrte ihm mit Waffengewalt den Durchzug, worauf der Kaiser der Liga vom Cambrai beitrat, einem vom Papst gegen Venedig ins Leben gerufenen Bündnis. Frankreich, Spanien und die Schweizer Eidgenossen suchten in den folgenden Jahren Eroberungen in Italien zu machen, während das Reich in diesen europäischen Machtkampf kaum eingriff. Doch nach Jahren der Auseinandersetzung mit Frankreich fanden sich Maximilian und sein bisheriger Gegner plötzlich als Verbündete wieder. Der Kaiser genoss außerordentliches Ansehen. Sowohl bei den Reichstagen von 1505 in Köln, als auch in Konstanz 1507 bewilligten die Stände Reichshilfe. Dann wurde es wieder zu teuer. 1509 verweigerten die Stände die Hilfe, was zu schweren militärischen Rückschlägen in Italien führte. Maximilian forderte von Österreich, Burgund und Tirol einen »Anschlag«, der sich auf 10.000 Reiter
Der Kaiser und der Konfektionsharnisch
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und 40.000 Mann Fußtruppen belaufen sollte. Sie sollten bereits im Frieden aufgestellt werden, so dass sie im Kriegsfall sofort verfügbar waren. Die Stände gingen auf diesen Plan überhaupt nicht ein, eine Entscheidung wurde auf den kommenden Reichstag verschoben. Doch 1512 verwarfen die Stände endgültig den Plan eines stehenden Heeres von zig-tausend Mann. Den hochfliegenden Plänen des Kaisers wurde dieses und alle weiteren Male bis 1518 eine Absage erteilt. Dabei hatte er zweifellos mehr als einen Traum vom Reich zu bieten und auch alle Voraussetzungen geschaffen, um Kaiser und Reich mächtig dastehen zu lassen. Er hatte den Landsknechten, deren erste lose Formationen den eidgenössischen Vorbildern folgten, eine straffe, einheitliche Organisation gegeben. Es war ihm gelungen, mit den diszipliniert kämpfenden Landsknechtaufgeboten ein zuverlässiges Exekutivinstrument der Reichsgewalt zu schaffen. Trotz seiner persönlichen Vorliebe für die Reiterei und das Geschützwesen legte Maximilian die Wehrkraft des Reiches auf das infanteristische Söldnerwesen. Früher, im 15. Jahrhundert, waren die Landsknechthaufen für eine offensive Kriegführung nicht zu gebrauchen gewesen. Jetzt waren sie die Königin der Waffen. Bereits 1479, bei Guinegate, ließ Maximilian das Fußvolk nach einer neuen Taktik in geschlossenen Gevierthaufen kämpfen und hatte damit Erfolg. Die flämische Infanterie, mit Spießen und Hellebarden ausgerüstet, war den gegnerischen Bogenschützen und Reitern überlegen. Wesentlich war auch, dass Maximilian selbst mit vielen Adeligen den Spieß ergriff und mitkämpfte. Er stärkte dadurch die Moral der Truppen. Verluste galten wenig ; der Krieg artete zu einem gnadenlosen Gemetzel aus, in dem selten Pardon gewährt und oft keine Gefangenen gemacht wurden. Etwas weniger auffallend waren die Änderungen bei der Reiterei. Als Grundsatz hatte aber zu gelten, dass auch die Berittenen nicht mehr als Einzelkämpfer, sondern als Formation wichtig waren. Eine Neuerung war die Scheidung in voll gewappnete »Kyrisser« und die nur teilweise gewappneten Lanzenreiter. In den Anweisungen zum Aufbau der niederösterreichischen »Ordonnanztruppen« des Jahres 1498 übertraf die Zahl der einspännigen Knechte und Trabanten, die den Rennfähnrichen unterstanden, die Zahl der in »Lanzen« zusammengefassten Reiter. Schließlich ließ Maximilian eine Scheidung in vier Kategorien von Reitern vornehmen : 1. die schweren Reiter oder »Kyrisser« ; 2. die leichtere Reiterei mit Spießen oder Hellebarden ; 3. die berittenen Schützen mit Handbüchsen ; und 4. die leichten Reiter fremder Völker, vor allem Ungarn, Kroaten und Albaner, die sogenannten »Stradioten«. – Doch das alles war bestenfalls angepasst und zeitgemäß. Revolutionär hingegen war, was Maximilian für das Geschützwesen tat. Er protzte gelegentlich mit seinen Hunderten Rohren. Die Kanonen wurden zu einer notwendigen Begleitwaffe der infanteristischen Söldnerheere. Die neue Artillerie sollte den kaiserlichen Heeren eine überlegene Feuerkraft sichern. Auch dabei kam es einmal zu einer Art Typisierung, wobei die Rohre in
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»Geschlechter« eingeteilt wurden. Ein Teil der Rohre wurde auf Räder gesetzt. Alle erhielten Balanceschildzapfen und wurden auf neuen Lafetten, also gewissermaßen schussbereit transportiert. Die Einführung der Eisenkugel erhöhte die Durchschlagskraft aller Geschütze, und die Ausbohrung der Rohre führte zur Vereinheitlichung der Kaliber. Maximilian verstand sich auf die Konstruktion von Geschützen und war mit dem Zielen und Richten vertraut. Der Schuss mit dem Quadranten dürfte ihm ebenso geläufig gewesen sein wie der schwierige Gell- oder Bricolschuss. Solcherart imponierte er wahrscheinlich nicht nur den Feuerwerkern, sondern auch den Geschützgießern, denen er für ihre Arbeit beträchtliche Summen zusicherte. Damit war man wieder beim Geld, und auch bei der – damals noch nicht so benannten – Logistik. Denn das Herstellen, Lagern und Transportieren von Kriegsmitteln war zweifellos eine besondere Herausforderung Das neue Innsbrucker Zeughaus an der Sill war der zentrale Waffenplatz des Kaisers. Die anderen Arsenale wurden nach strategischen Gesichtspunkten zum unmittelbaren Schutz der Grenzen angelegt. Geschützgießer, Plattner, Schmiede und Salitterer hatten Hochkonjunktur. Dafür war zunächst einmal der Aufbau einer Messingindustrie in Tirol notwendig gewesen. Die dortigen Buntmetallvorkommen sicherten den Rohstoff. Aus der Obersteiermark kamen Eisen und Bleche nach Innsbruck, wo sie zu Feldharnischen und Kürissen verarbeitet wurden. Es gab regelrechte Massenware, die »Krebse« und »Rücken« für die Fußknechte, aber auch Prunkharnische, nicht zuletzt für Maximilian selbst und seine hohen Herren, denen vor allem Konrad Seusenhofer alles andere denn Konfektionsharnische fertigte. Und natürlich war Maximilian bestrebt, die ihm besonders verbundenen Reichsfürsten und Mitstreiter prunkhaft modern aussehen zu lassen. Da war einmal Herzog Albrecht von Sachsen. Er kämpfte vor allem auf den niederländischen und burgundischen Kriegsschauplätzen. Sein Tod im Jahr 1500 bedeutete für Maximilian einen schweren Verlust. Doch auch Rudolf von Anhalt war dem Kaiser treu ergeben. 1504 wurden er und Reinprecht von Reichenburg zu obersten Feldhauptleuten ernannt. Fürst Rudolf starb 1510 an einer Seuche in Verona. Zum engsten Kreis um Maximilian zählte auch Herzog Erich von Braunschweig-Calenberg. Er ehelichte die Witwe Erzherzog Sigmunds von Tirol. In der Schlacht am Wenzenberg (1504) rettete Herzog Erich dem Kaiser das Leben. Später erhielt er Führungsaufgaben im Krieg gegen die Venezianer. Nicht zu vergessen Georg Ritter von Frundsberg, der als Söldnerführer gegen den Herzog von Geldern vor allem am Niederrhein von sich reden machte. 1511 eroberte er die Festung Peutelstein und öffnete damit dem Kaiser den wichtigsten Gebirgsübergang nach Italien. Der Frundsberger überlebte den Kaiser Max um neun Jahre. Hätte er ihm je einen Nachruf zu halten gehabt, wäre er vielleicht folgendermaßen ausgefallen : Der Kaiser und König hatte den Ruf eines machtvollen
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Herrschers und siegreichen Feldherrn, dem die Soldaten, trotz unregelmäßigen Solds scharenweise zuliefen, da sie auf Beute hofften. Ihm waren Erfahrung, Phantasie, Organisationsgabe und Kühnheit eigen, die er durch seine Siege bei Guinegate und Utrecht, die Unterwerfung Flanderns, die Befreiung der österreichischen Länder von den Magyaren und den Feldzug nach Ungarn unter Beweis stellte. Sein größter Erfolg war wohl, dass er dem König von Frankreich Burgund abnahm. Seine Schwächen lagen darin, dass er sich zu große Ziele setzte und besonders in Italien damit wenig Erfolg hatte. Schließlich waren die habsburgischen Erblande ebensowenig wie das Reich imstande, dem Kaiser die Mittel zu seiner Großmachtpolitik zur Verfügung zu stellen. – Und wie es einem ergehen konnte, dem das Geld zum Kriegführen ausging, erfuhr Frundsberg am eigenen Leib. Als seine Söldner 1527 wegen ausstehender Zahlungen die Schlacht von San Giovanni abbrachen und zu plündern anfingen statt weiterzukämpfen, regte sich der Frundsberger so auf, dass ihn der Schlag traf. Ein treuer Diener seines schon längst verblichenen Herrn. »Lasset mir der Feind nur Zeit« »Diese victoriose Action hat sich geendet mit Scheidung Tag und Nachts, und hat sogar die Sonne selbst von dem Tage nicht ehender weichen wollen, bis sie mit ihrem glänzenden Auge den völligen Triumph Euer kais. Majestät glorwürdigsten Waffen hat vollständiglich mitanschauen können.« Es war das altbekannte »Sonne steh still !«, das der Prinz von Savoyen in seine Relation über die Schlacht bei Zenta einfließen ließ. Stolz, ja verhaltener Triumph floss in das Diktat des kaiserlichen Feldmarschalls ein, denn das war schon etwas gewesen, diese Schlacht bei Zenta an der Theiß am 11. September 1697. Und wenn man es ganz genau nahm, dann war nicht nur die Größe des Erfolgs, sondern auch der Umstand, dass es ihn überhaupt gab, bemerkenswert. Zwar hatten die kaiserlichen Truppen schon längst den Respekt vor den Türken verloren, doch das hatte ja nicht zur Folge, dass man den Erbfeind der Christenheit mit aller Konsequenz aus dem habsburgischen Hinterhof vertrieben hätte. Es hatte auch Rückschläge gegeben. In Siebenbürgen mochte sich Herr Imre Tököly noch immer nicht dem Kaiser unterwerfen und setzte daher auf die türkische Karte ; Ungarn war auch erst etwa zehn Jahre befreit, oder was man eben so nannte. Doch von nennenswerter Freude über die habsburgische Herrschaft konnte keine Rede sein. Damit es aber auch noch andere Ablenkungen gab, rührten sich die Franzosen am Rhein und in Italien, schlossen Bündnisse und bekriegten Kaiser Leopold I. und das Reich, also wurde sehr wohl weiter Türkenkrieg geführt, doch ein wenig lässig und eigentlich mehr, um den plötzlich zum Nebenkriegsschauplatz gewordenen Raum an Donau, Theiß und Maros nicht womöglich anderen überlassen zu müssen. Krieg gegen die Türken zu führen, war
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mittlerweile auch eine Angelegenheit geworden, wo die zweite militärische Garnitur Verwendung finden konnte, zumindest aber jene, die noch in Erprobung waren. Dabei konnten sich ein Herzog von Croÿ, ein Graf Caprara, ein Kurfürst Friedrich August II. von Sachsen und schließlich auch der Prinz von Savoyen auf alte Haudegen verlassen, wie den General Sigbert Graf Heister oder Johann Ludwig Graf Rabutin. Außer den kaiserlichen waren noch etliche sächsische Truppen bei der Hauptarmee und ein paar brandenburgische. Das war’s ! Dadurch, dass Kurfürst Friedrich August »der Starke« nur zu gerne der Einladung gefolgt war, König von Polen zu werden, waren die kaiserlichen Truppen im Raum Peterwardein plötzlich ohne Befehlshaber. Das wäre an sich nicht so schlimm gewesen, doch es dauerte natürlich seine Zeit, bis mit dem Feldmarschall Eugen Prinz von Savoyen ein neuer Feldherr gefunden worden war. Und damit verstrichen gerade jene Wochen, die am besten geeignet waren, um einen Feldzug zu führen, denn letztlich standen dafür nur etwa vier Monate zur Verfügung : Im Frühjahr wurde rekrutiert, exerziert und fernab der Armee, im Wiener Hofkriegsrat gegrübelt, wie man den Feldzug anlegen sollte. Und im Herbst hieß es möglichst rasch in Winterquartiere zu gehen, denn wenn es einmal regnete, kam man mit den rund 2.500 Wagen, die von mehr als doppelt so vielen Ochsen gezogen wurden, nicht mehr weiter. Vor allem gab es dann kein Futter mehr. Prinz Eugen kam am 12. Juli 1697 in Peterwardein an, wurde mit Salutschüssen gebührend begrüßt, informiert, dass eine türkische Flottille bereits vor Belgrad ankere, die türkische Hauptarmee unter dem persönlichen Befehl des Sultans Mustapha II. bei Nisch stehe, und mit dem Angriff der Türken wohl spätestens Ende Juli zu rechnen sei. Eile tat also not. Das Fatale war nur, dass mehr als die Hälfte der Truppen, die auf die Hauptarmee zählten, weit verstreut war, um solcherart die Versorgungsprobleme zu minimieren und auch die Macht des Kaisers zu demonstrieren. Nichtsdestoweniger musste Eugen seine Regimenter zusammenziehen, da er sonst zu schwach gewesen wäre. Vor allem Infanterie brauchte er, und so gingen seine Befehlsschreiben hinaus, um die kaiserliche »Ostarmee« zu sammeln. Sie musste wenigstens 60.000 Mann stark sein, wollte sie gegen die mehr als doppelt so starken Osmanen bestehen. Es sollten möglichst erprobte Soldaten sein – und das waren sie auch ! Die Infanterieregimenter, jedes etwa 1.500 Mann stark, bestanden hauptsächlich aus Musketieren. Sie schossen ihre Gewehre ab, luden nach, schossen … Sehr viel wurde mit dem Mund erledigt. Im Mund wurden Kugeln verwahrt, Patronen wurden abgebissen, der Zapfen des Pulverhorns mit den Zähnen herausgezogen, und natürlich wurde viel geschrien. Waren die Flinten abgeschossen, wurden Bajonette in den Lauf gesteckt und wurde drauflos gestochen. Nur wenige Pikeniere erinnerten noch an den 30jährigen Krieg. Statt der Pikeniere waren moderne Grenadiere in die Kompanien eingereiht worden, die ihre eisernen oder gläsernen Handgranaten warfen. Letztere
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waren eine gefürchtete Waffe und wurden, weil sie in christlichen Heeren eigentlich nicht zulässig waren, nur gegen die Türken, also den Erbfeind eingesetzt. Ihre Splitter flogen oft über 50 Schritt weit. Auch die Kavallerie, Kürassiere, Dragoner und Husaren, die man häufig noch »Croaten« nannte, verwendeten gegen die Türken hauptsächlich Karabiner und Pistolen und weniger die Degen. Wenn aber so ein Kavallerieregiment mit rund 1000 Mann antrabte und in Galopp überging, dann dröhnte die Erde. Die Feldschlangen und Falconetts verschossen ebenso wie die halb-, viertel-, achtel- und sechzehntel Kartaunen Eisenkugeln ; die Haubitzen schleuderten Steine und Kartätschen, die hauptsächlich mit altem Eisenwerk gefüllt waren. Nur die Mörser spielten diesmal kaum eine Rolle, weil es ja nicht um eine Belagerung ging. Die meisten Gemeinen hatten sich freiwillig anwerben lassen, wobei freilich fallweise mit ein bisschen Geld und Alkohol nachgeholfen worden war. Drei Kreuzer Löhnung sollten sie bei der Infanterie kriegen, denn der Rest des ausgemachten Soldes von 51/3 Kreuzern täglich ging für die Montur weg. Von Einheitlichkeit der Uniformierung konnte aber keine Rede sein, da jeder Regimentsinhaber seinen Soldaten das gab, was gerade bei der Hand war. Gefreite, Korporale, Spielleute, Furiere, Feldschere und Feldwebel sollten einen entsprechend höheren Sold bekommen, doch auch das war Theorie, da kaum einmal Löhnung gezahlt wurde. Die meisten Soldaten waren abergläubisch, trugen in ihren Kleidern Zettel oder Symbole, gelegentlich auch Kräuter, die in das Gewand eingenäht waren, um kugelfest zu machen. Umgekehrt verwendeten sie beim Gießen von Kugeln alle möglichen Beigaben und Sprüche, um todsicher zu treffen und die Kugelfestigkeit des Feindes zu durchdringen. Dergleichen Künste und Aberglauben galten zwar als Sünde, doch es war den Soldaten nicht zu verwehren. Überhaupt dann, wenn es gegen den Feind der Christenheit ging. Eugen von Savoyen wusste, dass ein einigermaßen gesicherter Nachschub nur möglich war, solange sich die kaiserliche Armee an der Donau aufhielt und über den Fluss versorgt werden konnte, wo man vor allem auch Holz und Wasser bekam, oder aber trachtete, rechtzeitig das nächste Provianthaus zu erreichen, das eine ausreichende Versorgung sicherstellen sollte. Zunächst blieb er also an der Donau und wartete zu, wohin sich die Türken wenden würden, denn theoretisch waren mehrere Richtungen möglich. Allerdings war auch der Sultan schon etwas spät dran. Endlich brachen die Türken nach Norden auf, überschritten bei Pancsova die Donau, wandten sich nach Slankamen, an das sie wegen der sechs Jahre zuvor erlittenen schweren Niederlage gegen den »Türkenlouis« ungute Erinnerungen haben sollten, während die türkische Flottille der Theißmündung bei Titel an der Theiß zustrebte. Auch die Hauptarmee schwenkte dorthin ab. Der türkischen Hauptmacht und der Galeerenflottille war die schwache österreichische Besatzung, die sich um das Schloss von Titel verschanzt hatte, nicht gewachsen. Der Feldzug begann also mit einer Niederlage für die Kaiserlichen.
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Prinz Eugen schob die Schuld daran dem General Rabutin zu, dem es viel wichtiger war, Siebenbürgen zu decken, als dass er sein Korps rasch mit der Hauptarmee vereinigt hätte. Aber so waren sie eben, die »War Lords« des 17. und 18. Jahrhunderts : Eigenwillig und mimosenhaft. Ging es gut, war es ihr Verdienst ; ging es schlecht, waren entweder der Feldherr oder die Truppen daran schuld. ( Jede Ähnlichkeit mit später lebenden Heerführern ist zufällig !) Die Türken zogen Theiß aufwärts. Der Savoyer begann ihnen nachzumarschieren. »Lasset mir der Feind nur ein paar Tage Zeit«, schrieb er an den Kaiser, »bis ich Dero Armee einmal zusammenbringe, so lebe ich folgends mit göttlichem Beistande guter Hoffnung, demselben sein Vorhaben allerdings sauer zu machen.« Marschiert wurde in voller Kampfbereitschaft in Kolonnen. Da man sich von der Donau ebenso wie von den Provianthäusern entfernte, musste die Armee für sechs Tage Verpflegung, Futter und selbstverständlich alle Kriegsmittel nachführen. Da es fast kein Wasser gab, wurden jeden Abend Brunnen gegraben. Wenn »abgekocht« wurde, fehlte meist das Holz, sodass mit trockenem Gras Feuer gemacht wurde. Wenigstens vertrieb es die Insekten. Die Artillerie und die Munitionswagen fuhren zwischen den Infanteriekolonnen. Die Kranken mussten mitgeführt werden, da man sie nirgends zurücklassen konnte. Jetzt ging es Richtung Peterwardein. Der Sultan wollte die Schlacht, doch der Mufti und einige Unterbefehlshaber waren dagegen. Einmal sollen sich sogar die Janitscharen geweigert haben, das verschanzte Lager zu verlassen. Dann machten die Türken plötzlich kehrt und rückten am rechten Theißufer aufwärts gegen Szeged, um von dort nach Temesvár und Siebenbürgen zu gelangen. Dazu hatte nicht zuletzt der schon recht landlose Fürst von Siebenbürgen, Tököly, geraten, und der mit dem Sultan reisende französische Gesandte dürfte kaum widersprochen haben. Wieder hieß es den Türken nachzumarschieren, was auch deswegen unerfreulich war, weil die Osmanen alles kahlfraßen und anschließend brandschatzten, sodass Eugens Truppen abermals nur vom eigenen Versorgungstrain abhängig waren. Neun bis dreizehn Stunden am Tag wurde marschiert und geritten. Jetzt gab es nicht einmal mehr Gras, denn auch das war abgebrannt worden. Plötzlich hieß es, die Türken würden bei Zenta die Theiß überschreiten. Eile tat not. Wieder wurde in voller Kampfbereitschaft marschiert, in sechs Infanterie- und sechs Kavalleriekolonnen, dazwischen die Artillerie. Husaren nahmen einen Pascha gefangen, der bei einer wohl gar nicht zärtlichen Befragung zu erzählen wusste, dass bei Zenta eine Schiffsbrücke geschlagen worden wäre und der Padischah bereits die Theiß passiert hätte. Auch die schwere Artillerie wäre bereits drüben. Als nächstes berichteten die kaiserlichen Vortruppen, dass bei Zenta kaum mehr türkische Reiterei anzutreffen wäre, wohl aber noch die gesamte Infanterie das rechte Ufer besetzt hielte. Zenta selbst war Großteils niedergebrannt. Die Türken drohten zu entkommen. Da es bereits Nachmittag war, musste nun alles sehr rasch gehen. Eugen ließ aus den Kolonnen in Linien und Treffen übergehen, dirigierte seine Truppen so, dass sie von
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allen Seiten gegen den türkischen Brückenkopf vorstoßen konnten, was weitere zwei Stunden brauchte, und obwohl die Türken sahen, was sich da zusammenbraute, taten sie zunächst kaum etwas, um den Aufmarsch der kaiserlichen Truppen zu stören. Erst als es zu spät war, ließ der Großwesir Elmas Mohammed ein wenig attackieren und beorderte die Reiterei, die schon die Theiß passiert hatte, wieder zurück. Doch jetzt kam, was kommen musste : Die einen setzten noch über, während die anderen wieder auf das Schlachtfeld zurückgelangen wollten. Es entstand ein heilloser Wirrwarr, bei dem schließlich die Sipahis ihre Pferde zurückließen, um nur überhaupt noch dem Befehl zum Einsatz auf dem rechten Ufer nachkommen zu können. Tököly soll dem Sultan geraten haben, die Brücke abbrechen zu lassen, um die Infanterie, und alles, was noch nicht das rettende Ufer erreicht hatte, zum Verzweiflungskampf zu zwingen. Hätte man das gemacht, und wäre der Bericht darüber vielleicht einem Herrn Schiller in die Hände gefallen, dann hätte er dichten können : »O Wanderer kommst du an das Goldene Horn, so berichte, du habest uns liegen gesehen, wie es der Großherr befahl«, oder so ähnlich. Doch der Großherr befahl nicht, und der Großwesir tat auch so alles, um noch einen rühmlichen Ausgang zustande zu bringen. Er kannte wohl schon genügend Beispiele dafür, was mit glücklosen Bewahrern des großherrlichen Siegels geschah. Das Kräfteverhältnis war 3 : 1 ; der Ausgang entsprechend. Die kaiserliche Reiterei attackierte an den Flügeln und drang bis zur Brücke vor. Die Infanterie erstieg die Brustwehren. Die Türken wehrten sich verzweifelt, doch die Solari-, Heister-, Herberstein- oder Neuburg-Infanterie, die auch »Deutschmeister« hießen, kannten ebensowenig Pardon wie die Gondola-Cürassiere, die Glöckelsberg-Dragoner oder die sächsische Reiterei. Es wurden fast keine Gefangenen gemacht und erst später etliche, die sich verkrochen hatten oder unter Leichenhaufen hervorgezogen wurden, pardoniert. Über 20.000 Türken sollen erschlagen oder erstochen worden sein oder ertranken in der Theiß. Und es wird wohl stimmen, was Eugen dann dem Kaiser schrieb : »Der Soldat ist so ergrimmt gewesen, dass er fast keinem Quartier gegeben, obschon Bassen [Paschas] und Officiere sich gefunden, welche viel Geld versprochen haben.« Tatsächlich lagen unter den Toten der Großwesir und vier andere Wesire, dreizehn Beglerbegs und andere hohe Offiziere, was gegenüber einem einzigen toten General auf kaiserlicher Seite, nämlich dem polnisch-kursächsischen Feldzeugmeister Graf Reuss, sehr wohl etwas auszusagen hatte. Die eigenen Totenverluste gab Eugen mit 28 Offizieren und 401 Mann an, wozu noch rund dreimal so viel Verwundete kamen. Doch die Bilanz der Schlacht wurde nicht in Toten und Verwundeten gemessen, sondern daran, dass den Kaiserlichen sieben Rossschweife und 423 Fahnen in die Hände fielen, ferner ein Großteil der türkischen Artillerie, Zelt und Gepäck des Großherrn, Kamele, Brückenschiffe und unzählige Wagen, die zum türkischen Tross gehört hatten. Das bemerkenswerteste und auch als Trophäe am meisten geschätzte Stück war jedoch das Siegel des Großherrn, das der Großwesir um den Hals getragen hatte. Letzteres
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wollte Prinz Eugen persönlich dem Kaiser zu Füßen legen. (Heute ist es im Heeresgeschichtlichen Museum ausgestellt.) Es wurde auch davon gesprochen, dass man die türkische Kriegskassa mit Gold und Silber im Wert von drei Millionen Gulden sowie die persönliche Handkassa des Sultans erbeutet hätte. Diese Gelder tauchten freilich nie auf, und es wurde messerscharf geschlossen, dass es sich bei dieser Meldung wohl nur um ein unhaltbares Gerücht gehandelt habe, denn wie sonst wäre es zu verstehen, dass die kaiserlichen Truppen, denen man schon vor Zenta den Sold schuldig geblieben war, auch nach Zenta kein Geld erhielten. Zwar wurden die Regimenter nach und nach in das türkische Lager geführt, um sich dort zu bedienen, doch es lag wohl in der Natur der Sache, dass die allermeisten bestenfalls Andenken mit nach Hause nehmen konnten, gewiss aber nicht die Schätze des Orients. Am Tag nach der Schlacht wurde Ordnung gemacht, Bilanz gezogen und rapportiert. Dann aber hieß es aufbrechen, denn ein Schlachtfeld verpestete auch nach dem Aufräumen für lange Zeit die Luft. Feldmarschallleutnant Prinz Vaudémont wurde mit der Siegesbotschaft nach Wien geschickt ; drei Tage später folgte ihm Graf Dietrichstein mit der ausführlichen Relation und den eroberten Fahnen. Die Türken, trotz ihrer Verluste wenige Tage später wieder 30.000 Mann stark, zogen nach Temesvár. Im kaiserlichen Kriegsrat, den Prinz Eugen überhaupt nicht schätzte, wurde aber festgestellt, dass ein Nachrücken zu gefährlich wäre, weil man abermals in ein Gebiet ziehen müsste, das ungeeignet sei, um eine Armee zu ernähren, für eine Versorgung mittels Wagen aber etliche Hundert derselben abgingen, ebenso wie die Ochsen ; dass mit dem Einbruch der schlechten Jahreszeit zu rechnen sei, kein Geld da wäre, also dem Hofkriegsrat zu melden war, »dass bei derlei Umständen und da die Saison schon so weithin angestiegen, das Wetter bereits gebrochen, mithin aber dieser Zug umso viel gewagter, da man sich von der Theiß entfernen und in das weite Land hineinbegeben müsste … und in Summa die ganze Armee einem augenscheinlichen Ruin exponiert würde ; ist also für heuer nichts mehr zu thun.« Eugen dirigierte das Gros der Hauptarmee nach Peterwardein, unternahm noch einen Streifzug nach Bosnien, der ihn bis Sarajevo brachte, und reiste dann nach Wien ab. Zenta aber, bei dem kurz Weltgeschichte geschrieben worden war, wurde wiederaufgebaut, kam sogar allmählich auf über 20.000 Einwohner, blieb aber letztlich ein Ort für die Geschichtsbücher. Südlich der Stadt, die keine Reise wert ist, findet sich ein Gedenkstein, der vor 100 Jahren – freilich an anderer Stelle – gesetzt wurde. Dass er noch immer steht, kündet davon, dass Zenta nicht nur zur österreichischen, sondern auch zur jugoslawischen Geschichte gehört. P. S.: Prinz Eugen erwarb gegen Jahresende 1697 jenes Areal am Rennweg, auf dem dann das Untere und das Obere Belvedere gebaut werden sollten. Wenige Monate später kaufte er ein Haus in der Wiener Himmelpfortgasse, das dann sein Winterpalais
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wurde, bezahlte seine Schulden und bekam das Gebiet an der Donau südlich von Budapest, die Csepel-Insel, auf der er Schloß Ráckeve errichten ließ, zum Geschenk. Die Handkassa des Sultans aber tauchte nie mehr auf ! An einem heißen Augusttag Am Mittwoch, dem 6. August 1806 Vormittag, stellte sich ein kaiserlicher Herold auf den Balkon einer der schönsten Kirchen Wiens, der Neun Chöre der Engel »Am Hof«, wartete ein paar Fanfarenstöße ab und verlas mit aller ihm zur Verfügung stehenden Stimmkraft ein kaiserliches Patent, das mit dem Satz begann : »Wir Franz der Zweyte, von Gottes Gnaden erwählter römischer Kaiser, zu allen Zeiten Mehrer des Reiches, Erbkaiser von Oesterreich etc. …« Einige Leute werden wohl stehen geblieben sein. Doch es kam letztlich gar nicht darauf an, dass gehört und verstanden wurde, was der Reichsherold an einem heißen Augusttag zu sagen hatte. Wichtig war, dass das kaiserliche Patent – so wie es seine Bezeichnung verlangte – öffentlich kundgemacht wurde. Alles andere konnte man nachlesen. Spätestens in der »Wiener Zeitung« vom »Sonnabend«, dem 9. August, wo denn auch unter »Inländische Begebenheiten« alles stand : »Wir erklären demnach durch Gegenwärtiges, dass Wir das Band, welches Uns bis jetzt an den Staatskörper des deutschen Reiches gebunden hat, als gelöst ansehen, dass Wir das reichsoberhauptliche Amt und Würde durch die Vereinigung der conföderirten rheinischen Stände als erloschen und Uns dadurch von allen übernommenen Pflichten gegen das deutsche Reich losgezählt betrachten, und die von wegen desselben bis jetzt getragene Kaiserkrone und geführte kaiserliche Regierung, wie hiermit geschiehet, niederlegen …« Auch nach dem juristischen Formalakt blieb die Erregung aus. Kaum jemanden schien es zu interessieren, dass das »Heilige Römische Reich Deutscher Nation«, wie es seit dem ausgehenden 15. Jahrhundert genannt worden war, für beendet erklärt wurde. Ganz einfach so. Auch der sächsisch-weimarische Kammerpräsident Johann Wolfgang von Goethe, der am 6. August von Karlsbad nach Jena fuhr, notierte völlig unaufgeregt : »… auch fanden wir bey unserer Rückreise durch Hof in den Zeitungen die Nachricht : das Deutsche Reich sey aufgelöst.« Wenn jemand die »Wiener Zeitung« regelmäßig bezog, mag ihn vielleicht auch mehr interessiert haben, dass Gaeta kapituliert hatte, oder dass der Vesuv seit Ende Juli weniger Eruptionen zeigte. Dass Kaiser Franz auf die Würde eines römisch-deutschen Kaisers verzichten wollte, war erwartet worden. Nicht deshalb, weil ausgerechnet der französische König Ludwig XV. schon 1745 vorgeschlagen hatte, »den Kaiser abzuschaffen«. Wichtiger war, was sich seither im Reich getan hatte. Ein Teil der Reichsfürsten hatte sich losgesagt. Am 1. August 1806 hatten sie in der sogenannten Regensburger Erklärung, mit der sie
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den Rheinbund begründeten, die Reichsverfassung, die irreperabel »fehlerhaft« geworden sei, als de facto ungültig erklärt. Und manchem Untertanen eines Reichsfürsten schien es ohnedies schon ein Wunder, dass das Reich noch existierte. Goethe ließ denn auch nicht von ungefähr in seinem »Faust« (2. Teil) ausgerechnet den Frosch fragen : »Das liebe heilge Römsche Reich – Wie hält’s nur noch zusammen ?« Die historische Dimension blieb dabei weitgehend außer Acht. Man war an der Zeitgeschichte interessiert, und diese handelte vom »Napoleonismus« in seiner Epoche. Daher war auch irrelevant, was seit der Kaiserkrönung Karls des Großen, also seit Weihnachten 800 gegolten hatte. Und wie es dann den Anschein hatte, war man außerhalb der Habsburgermonarchie dann weit eher bereit, sich mit dem Ende des damals wirklich tausendjährigen Reichs zu beschäftigen, als mit jener Ländermasse, über die Seine Majestät der Kaiser in Wien herrschte und für die er ohnedies schon zwei Jahre zuvor den Titel eines Kaisers von Österreich angenommen hatte. Das Reich war ihm mehr Klotz am Bein, als dass er es noch als reale Machtbasis gesehen hätte. Anfänglich hatte für den Krieg, den ihm die Franzosen 1792 in seiner Eigenschaft als König von Böhmen und Ungarn erklärt hatten, das Reich noch ein geringes Reservoir an Soldaten geboten. Doch sie waren immer weniger geworden. Also beschränkte sich der Habsburger gleich auf seine eigentliche Herrschaft. Und für die Ungarn und Böhmen, die Galizier und Italiener, über die der Kaiser und König Franz herrschte, ebenso aber für die Menschen in seinen Erblanden hatte sich zum wenigsten etwas verändert, denn der Kaiser blieb Kaiser, und dass er jetzt keine zweite Kaiserkrone mehr trug und nur mehr einfacher statt doppelter Kaiser war, mochte vielleicht zu akademischen Erörterungen einladen, hatte aber zum wenigsten Relevanz. In den Ländern der fortwährend schrumpfenden Habsburgermonarchie hatte man sich denn auch viel mehr mit den Alltagssorgen auseinanderzusetzen, und die beschrieb einer der Brüder des Kaisers und auch kein Unbekannter, nämlich Erzherzog Carl, der nachmalige Sieger von Aspern, mit einigen wenigen aber nicht minder dramatischen Sätzen am 25. August 1806 : »Euer Majestät haben viele Völker, aber keinen Gemeingeist in Ihren geteilten Nationen. Der Kern Ihrer Monarchie ist Hungarn, und Hungarn sondert sich immer mehr ab von seiner Unterthanenpflicht ; der Keim der Anarchie herrscht in allen Provinzen, der Wille des Souverains und sein Ansehen ist nirgends geachtet … Die Armee ist durch Unfälle, schlechte Führung und Niederlagen verdorben. Die Hefe des Volkes dient aus Zwang ; der Adel fühlt sich nicht mehr geehrt mit der Erfüllung seiner Berufspflichten ; er dient nicht mehr, und wenn er dient, so dient er selten gut !« Die Preisgabe der römisch-deutschen Kaiserwürde war letztlich auch nichts anderes als ein Akt der Notwehr, denn es hatte bereits akute Gefahr bestanden, dass Napoleon I., der Kaiser der Franzosen, nach der Krone Karls des Großen griff. Und das sollte ihm verwehrt werden, obwohl es dazu – zumindest aus militärischer Sicht – eigentlich keine Möglichkeit mehr gab. Daher war man auch in Österreich sehr schweigsam ge-
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blieben, als Napoleon einige Monate vorher an Papst Pius VII. geschrieben hatte : »Ich bin von nun an Karl der Große. Denn ich besitze die Krone Frankreichs samt jener der Langobarden, und mein Reich grenzt an den Orient.« Er wollte auch nach Rom kommen, um sich zum Kaiser des Abendlands krönen zu lassen. Der Papst ließ antworten, er würde niemals einem anderen die bisher vom deutschen Kaiser innegehabten Vorrechte und Titel zugestehen, wenn der kaiserliche Hof nicht formell und aus eigenem Antrieb darauf verzichte. Noch wollte Napoleon die Idee nicht fallen lassen, denn wenn der Papst eine Krönung zum Kaiser des Abendlandes davon abhängig machen wollte, dass der Inhaber dieser ja von Gott abgeleiteten Würde von sich aus verzichtete – dann musste man ihn eben dazu bringen. Also wurde Druck gemacht. Wichtig war dabei eines : Man musste immer wissen, was sich im Schoß der Wiener Regierung und in der Wiener Hofburg vorbereitete. Doch dazu gab es ja Diplomaten. Napoleon hatte seinen Mann in Wien, den französischen Gesandten Alexandre de La Rochefoucauld. Der wiederum hatte seine Spione in den Kanzleien des Ministers des Äußern, Johann Philipp Graf Stadion, und in der Umgebung Erzherzog Carls sitzen. La Rochefoucauld berichtete daher aus erster Quelle. Fallweise gelang es ihm auch Briefe abzufangen. Als der Reichserzkanzler und Kurfürst von Mainz, Karl Theodor Fürst Dalberg, einen Verwandten Napoleons, den Kardinal Fesch, ohne den Kaiser in Wien zu fragen, zu seinem Koadjutor machte und damit die Reichsverfassung (ein weiteres Mal) brach, schrieb der österreichische Gesandte beim Reichstag, Friedrich Graf Stadion, höchst alarmiert an seinen Bruder Johann Philipp nach Wien. Dieses an den Minister des Äußern und des kaiserlichen Hauses gerichtete Schreiben gelangte unverzüglich in Abschrift auch in die Hände La Rochefoucaulds und damit Napoleons. Dort wusste man daher, dass die Abdankung des Kaisers Franz als römisch-deutscher Kaiser ernsthaft diskutiert wurde. Jetzt galt es nur, den Habsburger weiter vor sich herzutreiben. Mitte Juli 1806 wurden die mittlerweile von Napoleon abhängigen und ihm auch zuarbeitenden Reichsfürsten zum Eintritt in den Rheinbund genötigt. Rund ein Drittel der deutschen Reichsfürsten unterstellte sich damit dem Protektor des Rheinbundes, dem Kaiser der Franzosen. Dalberg, der Erzkanzler des römisch-deutschen Reichs, wurde Fürst-Primas des Rheinbunds. Und jetzt ging der Kaiser der Franzosen aufs Ganze : Wenn Kaiser Franz nicht bis zum 10. August abdanke, so ließ Napoleon ausrichten, würden französische Truppen den Inn überschreiten und in Österreich einrücken. In Wien sollte man doch nicht die Augen vor der Realität verschließen : Das Reich habe aufgehört zu existieren. Und wieder einmal hatte Napoleon sein Ziel erreicht : Die Österreicher gaben auf. Am 30. Juli wurde die Abdankung beschlossen, drei Tage später informierte man die Franzosen. Aber so einfach sollte es doch nicht gehen. Kaiser Franz wollte nicht einfach resignieren, sondern die Reichsverfassung aufheben und gleich auch das Reich als Rechtskörper liquidieren.
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Napoleon nahm’s hin. In jenen Königreichen, Fürstentümern, Städten und Ländern, die sich gelegentlich Deutschland nannten, war das nicht gleichermaßen der Fall, ja es begann ein Rechtsdisput, ob Kaiser Franz das Reich von sich aus ganz einfach als nicht mehr bestehend erklären konnte. Er war ja 1792 noch regelrecht gewählt worden, hätte also eventuell auch von den Kurfürsten abgewählt werden können. Jedenfalls hätte der Erzkanzler des Reichs das Auflösungspatent gegenzeichnen sollen und nicht der österreichische Minister des Äußern und des kaiserlichen Hauses. Mehr noch : Der Kaiser hatte nicht nur die Reichsbeamtenschaft ihrer Pflichten entbunden und wollte sie auch versorgt wissen ; er entband auch die Kurfürsten, Fürsten und Stände ihrer Verpflichtungen gegenüber dem Reich. Er entließ sie fristlos, wie das der Erlanger Historiker Rudolf Neuhaus so trefflich ausdrückte. Dabei mussten sich freilich die meisten Reichsfürsten sagen, dass sie alles dazu beigetragen hatten, um das Reich aufzulösen und den Titel des römisch-deutschen Kaisers zu einer Worthülse verkommen zu lassen. Alle hatten mit sich selbst zu tun und trachteten danach, Napoleon nicht unangenehm aufzufallen. Und zumindest die größeren profitierten auch recht ordentlich. So etwa verleibte sich das zum Königreich mutierende Bayern die bis dahin Freie Reichsstadt Nürnberg ein. Und spätestens da wurde es abermals ambivalent : Das Reich hatte nichts mehr gegolten, doch die in Nürnberg verwahrt gewesenen Reichsinsignien galten nach wie vor als die glanzvollsten Symbole »der höchsten politischen Würde im Abendland«. Das war es wohl auch, was den kaiserlichen Kommissar am Regensburger Reichstag, Johann Alois Joseph Freiherrn von Hügel, schon im Oktober 1800 bei seiner Flucht vor französischen Truppen bewogen hatte, die ihm anvertrauten Reichskleinodien von Nürnberg vorsorglich nach Wien mitzunehmen. Die Nürnberger hatten regelrecht darum gebeten, wollten die Reichskrone, den Reichsapfel, die Heilige Lanze und das Schwert Karls des Großen aber dann, wenn die Gefahr vorüber war, wieder zurückhaben. Es war aber nicht nur Nürnberg, das die Insignien und Kleinodien des Reichs in Sicherheit bringen wollte. Dasselbe galt für Aachen, dessen drei kostbarste Stücke, das Reichsevangeliar, die Stephansbursa und der sogenannte Säbel Karls des Großen, zunächst nach Paderborn und schließlich im Juli 1801 nach Wien transportiert wurden. Und da blieben sie ! Während aber Aachen dann später seinen Wunsch nach Rückgabe vor allem mit juristischen Argumenten untermauerte, ließen die Nürnberger keine Gelegenheit vorübergehen, ihre Forderungen mit allen Mitteln der Agitation zu vertreten. Noch aber war es lange nicht so weit. Zunächst einmal stellte sich die Frage, ob es sich Napoleon gefallen lassen würde, dass ihm der symbolträchtigste Teil seiner Beute entging. Doch etwas überraschend verzichtete er darauf, die Herausgabe der Reichsinsignien zu fordern. Er schien sich mit dem Erreichten zu begnügen. Dennoch wurden die Symbole der höchsten politischen Würde im Abendland immer dann, wenn sie bedroht waren, vor allem 1809, in Sicherheit gebracht. Sie wurden nach Temes-
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vár transportiert. Doch nicht einmal angesichts der Ohnmacht Österreichs nach dem verlorenen Krieg 1809 gab es die Forderung nach Herausgabe. Und nach der Heirat Napoleons mit Marie Louise, der Tochter des Kaisers Franz, schien dem Kaiser der Franzosen die Verbindung mit dem einzigen alten europäischen Herrscherhaus Legitimation und Symbol genug, um auf die Aachener und Nürnberger Pretiosen zu verzichten. Schließlich sollte der Schwiegervater Napoleons, eben jener Kaiser Franz, den der korsische Emporkömmling bestenfalls als schrullig empfinden konnte, nicht auch noch weiter in seiner Ehre verletzt werden. Jetzt gilt es zu überblenden. Das Reich gab es schon längst nicht mehr, doch auch nach dem Ende der Napoleonischen Kriege und im Zeitalter der Restauration dachte kaum jemand ernsthaft daran, das römisch-deutsche Reich zu reanimieren. Die Symbole des Reichs aber lebten fort, und da man ja bei diesen Pretiosen, die eine tausendjährige Überlieferung bargen und denen mythische Kraft beigemessen wurde, nicht wissen konnte, ob sie nicht doch noch einmal gebraucht würden, wurden sie weiterhin in der kaiserlichen Schatzkammer in Wien gut verwahrt. Zwar meldeten sich sowohl Nürnberg als auch Aachen mit Rückforderungen, doch sie hatten keine Chance, da sich kein Mächtiger zum Fürsprecher aufschwang oder gar eine Schwäche Österreichs bzw. Österreich-Ungarns ausnützte, um die Überstellung zu erzwingen. Es war auch schwer zu argumentieren, denn die Reichskleinodien waren ja nicht Eigentum von Aachen oder Nürnberg gewesen. Mit einem Reichstag von ehedem oder auch nur dem Althergebrachten ließ sich daher nichts untermauern, da dem immer entgegengehalten werden konnte, dass es dem letzten Kaiser, der zweifellos eine legitime Macht verkörperte, in seiner Weisheit und Güte gefallen hatte, die Schätze nach Wien bringen zu lassen. Dort wurden sie sorgsam aufgehoben, auch wenn sich fallweise die Notwendigkeit ergab, sie ein- und auszupacken. Auch 1813 waren die Reichskleinodien von Wien weggebracht worden, um sie ja keiner Gefahr auszusetzen, sollte mit der großen Koalition bei Leipzig doch etwas schief gehen. Der Transport kam allerdings nur bis Fischamend. 1848 wären die Pretiosen um ein Haar nach Frankfurt zur Nationalversammlung geschickt worden, doch die Delegation, die sie aus der Wiener Schatzkammer abholen sollte, fand niemanden, der den Schatz herausrückte. Und tags darauf war’s schon wieder anders. Im Juli 1866, nach der verlorenen Schlacht von Königgrätz, als sich preußische Truppen Wien näherten, wurde wieder eingepackt. Die Reichsinsignien fanden sich zusammen mit anderen Kostbarkeiten aus der Schatzkammer auf einem Schleppkahn bei Kaisermühlen. Von da ging es nach Preßburg und schließlich nach Budapest. Dann wurde der Kahn wieder nach Wien zurück gezogen, da mittlerweile Friedensverhandlungen begonnen hatten. Preußen verlangte alles Mögliche, nicht aber die Übergabe der Insignien des römisch-deutschen Reichs. Erst im Dezember 1870, anlässlich der Gründung des Deutschen Kaiserreichs, entbrannte über die Reichskleinodien eine erste heftige Polemik. Aachen forderte die Überlassung der Stephansbursa,
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des Reichsevangeliars und des Säbels Karls des Großen, was der Oberstkämmerer von Kaiser Franz Joseph, Graf Crenneville, damit kommentierte, dass er meinte, er hoffe eher den Befehl zu erhalten »die Krönungsinsignien einzuschmelzen, als dass Österreich die Schmach erleide, dieselben ausliefern zu müssen.« Die Reichskleinodien überstanden den Ersten Weltkrieg. Sie überstanden Ende 1918 auch die Weisung Kaiser Karls I., die Schatzkammer auszuräumen und in die Schweiz zu transportieren. Sie überstanden 1919 italienische Plünderungsversuche und wurden nicht verkauft, obwohl es mehrere Ansätze dazu gab. Und erst Hitler reagierte unmittelbar nach dem Einmarsch in Österreich 1938 auf die Einflüsterungen des Nürnberger Oberbürgermeisters und ließ die Reichskleinodien mit einem Sonderzug in die Stadt seiner Reichsparteitage verbringen. Die Kleinodien des (ersten) deutschen Reichs sollten auch dem sogenannten Dritten Reich Legitimation verschaffen. Ausgestellt wurden die Pretiosen jedoch nur kurz, dann mussten sie vor Luftrangriffen geborgen werden. 1945 wurden die Reichskleinodien von amerikanischen Truppen in Nürnberg entdeckt. Nach einigem Hin und Her entschied die Regierung in Washington, dass der Schatz wieder nach Wien zurückzubringen wäre. Der Alliierte Kontrollrat in Berlin, dem auch Sowjets, Briten und Franzosen angehörten, sah keinen Grund für einen Einwand. Damit aber ja nichts passierte, sollten die Reichskleinodien – auf österreichischen Wunsch – in die damals vom US-Oberkommando in Österreich beschlagnahmte Nationalbank eingelagert werden. Nur : So einfach war das nicht. Denn mittlerweile hatte sich bereits eine Schar von Juristen und Historikern daran gemacht, die Rechtmäßigkeit des einen Verwahrungsorts zu begründen bzw. die Unrechtmäßigkeit eines anderen nachzuweisen. In Bayern wollte man sich dem Rücktransport widersetzen. Doch die Amerikaner hatten das Sagen. Es meldete sich aber nicht nur Nürnberg, sondern abermals Aachen zu Wort. Letzteres mit der Argumentation, bei den drei Aachener Stücken, die 1801 nach Wien gegangen wären, handelte es sich um Reliquien, und über diese habe letztlich der Vatikan zu entscheiden. In Wien blieb man unbeeindruckt, ja man hat die Vorbringungen zeitweilig nicht recht ernst genommen und »net amol ignoriert«. Dann aber wurden doch Gegendarstellungen verfasst. Ein Gelehrter argumentierte gegen den anderen. Dabei wurde hinsichtlich des römischdeutschen Reichs auch der etwas eigentümliche Vergleich mit einer Aktiengesellschaft angestellt, die – einmal zu Grunde gegangen – nicht einfach unter dem gleichen Namen wiederbegründet werden könne. Offensichtlich sollten aber auch die »Firmenschilder« und »Anteilsscheine« der AG im Asservatenfonds des Reichsgedächtnisses verbleiben. Die Politik hielt sich weiter heraus. Und das war sicherlich klug, denn das eine Mal, 1938, als das anders war, und die Insignien jenes Reichs, das 1806 zu Ende gegangen war, nach Nürnberg gebracht wurden, konnte gewiss nicht als beispielhaft angesehen werden. Wer in deutschen Landen hätte sich auch schon gerne in eine Reihe mit Adolf Hitler gestellt ?
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Wien, 22. Mai 1860. Auf dem großen Platz vor der Hofburg in Wien, der dann einmal Heldenplatz heißen sollte, nehmen Truppen verschiedener Waffengattungen vor einem mächtigen, aber noch verhüllten Denkmal Aufstellung. Honoratioren treffen ein, zuletzt Seine Majestät, Kaiser Franz Joseph I. Ansprachen werden gehalten – das Übliche halt, wenn es gilt, Denkmäler zu enthüllen. Dann fällt das Tuch und die Reiterstatue des Erzherzogs Carl steht frei. Anton Dominik Fernkorn hatte sie entworfen und gegossen. Mittlerweile hoffte er auch schon auf einen weiteren Auftrag. Er wollte auch noch eine Prinz-Eugen-Statue fertigen. Es war kein runder Jahrestag, an dem das Erzherzog-Carl-Denkmal enthüllt wurde. Wohl aber hätte es einer sein sollen, denn der eherne Carl war schon im Jahr zuvor, zur fünfzigsten Wiederkehr des österreichischen Sieges bei Aspern fertig gewesen. Seine Aufstellung hatte sich freilich verzögert, da die k. k. Armee 1859 in Italien gerade einen Krieg gegen Piemontesen und Franzosen führte. Man hatte auf die Hilfe einiger deutscher Staaten gehofft. Sie war nicht gekommen. Der Krieg ging verloren, und die Aufstellung eines Siegesdenkmals schien nicht angebracht. Im Jahr darauf war das alles zwar nicht vergessen, doch verdrängt. Und die Inschrift auf der linken Seite der Reiterstatue »Dem beharrlichen Kämpfer für Deutschlands Ehre« las sich wie ein Vorwurf. Erzherzog Carl, so die Botschaft, hatte Jahre hindurch an der Spitze der kaiserlichen Truppen gegen die Armeen des revolutionären Frankreich und Napoleons gekämpft. Freilich nicht nur der Ehre wegen, sondern um zu siegen. Manchmal war es ihm gelungen ; letztlich war er gescheitert. Die deutschen Staaten aber hatten sich nach und nach vom habsburgischen Kaiser ab- und Napoleon zugewendet. 1809 war Österreich auf sich allein gestellt gewesen. Fels in der Brandung oder ein Relikt vergangener Zeiten ? So genau wollte man das eigentlich nicht wissen. Die zentrale Aussage sollte sein, dass es dem Erzherzog zu Pfingsten 1809 geglückt war, die Franzosen bei Aspern zu besiegen. Die Widersprüchlichkeit und Widersinnigkeit des Kriegs von 1809 verschwieg das Denkmal, wie es überhaupt ein Monument selektiver Wahrnehmung ist. Aber welches Denkmal ist das nicht ? Dass es 1809 Krieg geben würde, stand seit dem Sommer des Vorjahres fest. Denn an einen weiteren Krieg gegen das Napoleonische Frankreich war seit 1806 gedacht worden. Die Habsburgermonarchie wollte dem französischen Nationalismus österreichischen Patriotismus entgegensetzen. Österreichs leitender Minister, Johann Philipp Graf Stadion, und seine Mitstreiter heizten die antifranzösische Stimmung regelrecht an. Und dieser Patriotismus stieß auf große Resonanz. Kaiser Franz – seit 1806 mit der alleinigen Beifügung der »I.« – machte diesen Kurs relativ bereitwillig mit ; er gab ihn allerdings nicht vor. Voraussetzung für einen großen vaterländischen Krieg sollte nämlich eine Reform an Haupt und Gliedern sein, und da zögerte der gute Kaiser Franz.
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Allerdings störte es ihn nicht, dass die handelnden Personen vor allem aus dem »Altreich« kamen und nicht vielleicht aus den habsburgischen Erblanden, den Ländern der böhmischen Krone oder vielleicht aus Ungarn. Doch es wäre nicht Österreich gewesen, wenn aus dem großen Ansatz ohnedies nichts anderes als ein Reförmchen geworden wäre. Am auffallendsten war zweifellos die von Erzherzog Carl begonnene Reform des Heerwesens. Carl bemühte sich zwei Jahre hindurch redlich, die Linientruppen zu reformieren. Für die nur mehr 10 bis 14 Jahre (statt wie bis dahin »lebenslänglich«) dienenden Soldaten sollte spät aber doch der Anbruch einer neuen Zeit deutlich werden. Man wollte sie rücksichtsvoll und menschlich behandeln, sodass sie nicht andauernd mit ihrem Schicksal haderten. Den niederrangigen Offizieren wurden vermehrt militärische Kenntnisse abverlangt. Die Stabsoffiziere und die Generalität aber bekamen die vom Erzherzog verfassten »Grundsätze der Kriegskunst« sowie die »Grundsätze der Strategie« zur Verfügung gestellt. Man wird freilich mit der Annahme richtig liegen, dass die Bücher nicht sehr häufig gelesen wurden. Eine nachhaltigere Veränderung bewirkten jedenfalls die Ruhestandsversetzungen, die der Erzherzog vornahm. Es gelang ihm, 25 Generäle in Pension zu schicken. Letztlich biss sich Carl an dieser für die k. k. Armee natürlich besonders wichtigen Personengruppe aber die Zähne aus. 1807 gab es 422 Generäle, darunter 6 Feldmarschälle, 25 Feldzeugmeister oder Generäle der Kavallerie, 121 Feldmarschallleutnants und 162 Generalmajore. Das Durchschnittsalter der Generalität war 63 Jahre, und wahrscheinlich trifft die Feststellung des amerikanischen Historikers Gunther E. Rothenberg auf etliche von ihnen zu, dass sie weder die intellektuelle Fähigkeit hatten, die in rascher Folge eingeführten Neuerungen zu begreifen, noch den Willen, Abschied von ihrem erworbenen Kriegsbild zu nehmen. Es hätte daher sicherlich einer längeren Zeit bedurft, um die vollständige Umsetzung der Reform zu gewährleisten. Die Zeit aber war nicht gegeben. Es ging freilich nicht nur um das Heer. Auch anderes konnte und sollte die patriotische Anstrengung deutlich werden lassen. Alles, was von Beispielen »heroischer Pflichterfüllung« zeugen konnte, wurde gefördert, und auch die Zensur gelockert. 1806 wurde von 1629 Buchtiteln, um deren Freigabe für den Verkauf angesucht wurde, »nur« mehr 179 verboten. Cotta, der größte deutsche Zeitungsmann seiner Zeit, ließ sich gewinnen, die österreichische Politik zu unterstützen. Und die »Wiener Zeitung« wurde zeitweilig zum meistgelesenen Blatt in Deutschland. Die Reformen hatten noch keinesfalls gegriffen, als man in Wien meinte, eine einzigartige Chance zu haben, den Krieg nach Frankreich zu tragen. Die Truppen Napo leons gerieten bei ihrem Krieg in Spanien in Schwierigkeiten. Österreich sah daher die Möglichkeit, einen Zweifrontenkrieg zu entfesseln. Immer vorausgesetzt, die k. k. Armee konnte die Initiative an sich reißen. Dazu brauchte es Soldaten. Von denen
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gab es zwar rein rechnerisch genügend, dann nämlich, wenn man die in Aufstellung begriffene Landwehr zu den regulären Truppen dazu rechnete. Die Kräfte dieser neuen Form der Volksbewaffnung waren jedenfalls billig, doch ob sie gut waren, stand noch in den Sternen. Erzherzog Carl hielt nicht sehr viel von den Wochenendkriegern. Er überließ sie daher seinem Bruder Johann. Solange eben, bis man sie für den Krieg brauchte. Beamte, Geistliche und – was besonders auffiel – Adelige waren ohnedies von der Verpflichtung zum Dienst in der Landwehr ausgenommen. Dennoch träumte man davon, 400.000 Mann zusammen zu bringen. Dazu kamen noch die Ungarn, die etwas überraschend ihre Liebe zum Haus Habsburg entdeckt hatten. Der Mechanismus, mit dem das alles in Gang gesetzt wurde, war der gleiche wie schon früher : Die Kaiserin Maria Ludovica wurde in Ungarn zur Königin gekrönt ; sie war jung und hübsch – und schon ging es. Wie vorher bei Maria Theresia und später bei Kaiserin Elisabeth. Der Entschluss, 1809 loszuschlagen, kam aber wieder auf eine sehr habsburgisch-österreichische Weise zustande : Der Finanzminister, Graf O’Donnell, erklärte sich Ende 1808 nicht mehr in der Lage, die nach einer Heeresreduktion ohnedies bescheidenen Rüstungen für weitere sechs Monate zu finanzieren. War dann nicht Krieg, mussten die Truppen abermals schlagartig reduziert werden. Am 23. Dezember fiel die Entscheidung. Stadion hatte sich für den Krieg ausgesprochen und den zögernden Kaiser schließlich in diesem Sinn beeinflusst. Erzherzog Carl wollte zwar weder den Krieg noch setzte er besondere Hoffnungen in die Landwehr. Doch er stimmte mit und sollte der Generalissimus aller Armeen werden. Bei der Entscheidung für den Krieg hatte auch der aus Paris nach Wien gerufene Botschafter, Graf Clemens Metternich, ein gewichtiges Wort zu sprechen gehabt, der vehement für den Krieg eintrat. Man sprach von der Ablenkung durch Spanien, machte sich aber vor allem Hoffnungen, Preußen würde im entscheidenden Augenblick an die Seite Österreichs treten, die süddeutschen Staaten könnten zum Abfall von Napoleon bewogen werden, Russland würde sich abermals als Alliierter gewinnen lassen, und England würde zumindest die Rolle des Zahlmeisters übernehmen. Nichts dergleichen sollte zutreffen. Der Irrungen und Wirrungen wollte aber kein Ende sein. Erzherzog Carl hatte in der Person des Generalmajors Anton Mayer von Heldensfeld einen erprobten Generalquartiermeister. Mayer arbeitete in der ersten Februarhälfte 1809 den Operationsplan aus. Er dachte an einen Aufmarsch in Böhmen und einen Feldzugsbeginn, der die österreichische Armee südlich der Elbe möglichst weit nach dem Westen vorrücken lassen sollte. Ob der Plan bei seiner Realisierung einen anderen Kriegsverlauf nach sich gezogen hätte, ist Teil der kontrafaktischen Geschichte. Tatsache ist, dass Mayer entlassen wurde. Er wird wohl das Seine dazu beigetragen haben, doch die dann mittels kaiserlichem Handbillett vom 19. Februar gegebene Begründung, Mayer von Heldensfeld wäre kleinmütig gewesen und hätte »über die künftigen Ereignisse bange unglück-
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liche Ahnungen in dem Publikum verbreitet«, war insofern sehr merkwürdig, als auch Erzherzog Carl keine Gelegenheit hatte verstreichen lassen, um zu betonen, dass er bis zuletzt gegen den Krieg gewesen sei. Doch er wurde überstimmt und meinte dann nur : »Das Loos zum Krieg ist geworfen, ich kann nichts dafür, ich habe nicht für den Krieg gestimmt, die sollen es verantworten, welche den Beschluss gemacht haben.« Mayers Nachfolger wurde der nahezu unbekannte Generalmajor Johann Prochaska, der insofern weit bequemer als Mayer gewesen sein dürfte, als er zum wenigsten durch eigene Ideen auffiel. Prochaska hatte es zu verantworten, dass der Aufmarsch der Hauptarmee gestoppt und die Masse der Truppen aus Böhmen ins Donautal verlegt wurde, um einen neuen Aufmarsch zu beginnen. Drei Wochen gingen verloren, die Napoleon und seine Marschälle zu nützen wussten. Dennoch : Österreichs Streitmacht war imponierend. Die k. k. Armee stellte 360.000 Mann ins Feld, davon 190.000 Mann bei der Hauptarmee an der Donau, und hatte an noch nicht ausgebildeter Mannschaft weitere – wohl nur geschätzte – 300.000 Mann zur Verfügung, rund die Hälfte davon Landwehrtruppen. Und an der Spitze stand das habsburgische Haus, soweit es marschfähig war oder zumindest nominell etwas hergab. Die Hauptarmee und die beiden separat operierenden Heereskörper in Italien und Galizien waren jeweils Erzherzögen unterstellt ; andere Angehörige des Erzhauses hatten ebenso militärische Funktionen übertragen bekommen, und ihnen allen war wohl bewusst, was dann Erzherzog Carl auch seinem Bruder Johann schrieb : Es geht um das Schicksal des Hauses. Obendrein und nicht außer Acht zu lassen war, dass diese Art der Befehlsführung auch ein Signal an die Untertanen war : Das Herrscherhaus verknüpfte sein Schicksal mit dem des Reiches und seiner Völker. Zugleich mit der Kriegserklärung marschierte die österreichische Hauptarmee im April in Bayern ein. Die Enttäuschung war groß : Die Bajuwaren wollten nichts von den Österreichern wissen, standen ganz auf der Seite Napoleons und trugen mit ihren Regimentern so wie auch die übrigen deutschen Kontingente dazu bei, dass es für die Truppen Erzherzog Carls die ersten Niederlagen gab. Nach einer Reihe von Gefechten im Raum Regensburg musste sich die österreichische Hauptarmee zurückziehen. Wien sollte raschest in einen verteidigungsfähigen Zustand gebracht werden. Doch auch in diesem Fall blieb es bei der Ansage. Kaiser Franz verließ seine Reichshaupt- und Residenzstadt. Mitte Mai erreichten die Franzosen Wien. Erzherzog Carls Armee aber langte im Marchfeld ein, und man musste erst sehen, wie es weiter ging. Der Erzherzog hätte den Krieg schon wieder längst beendet und hatte Napoleon auch ein regelrechtes Friedensangebot gemacht. Der aber hatte es nicht einmal der Mühe wert gefunden zu antworten und nur alle möglichen Drohungen in den Raum gestellt : Er würde die Habsburgermonarchie in drei Teile zerschlagen, wollte den Kaiser Franz für abgesetzt erklären und auf jeden Fall einen entscheidenden militärischen Sieg erringen. Alle Vorteile schienen denn auch auf seiner Seite zu liegen.
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Dann aber führte der Zufall Regie. Die Schneeschmelze setzte ein und es begann zu regnen. Die Donau schwoll an. Dennoch wollte Napoleon nicht zuwarten. Seine Truppen begannen damit, die vier Arme der Donau zu überwinden. Sie setzten zunächst auf die größte Donauinsel vor Wien, die Lobau über, um dann, am Pfingstsonntag 1809, über den letzten Donauarm ins Marchfeld zu kommen. Die Österreicher hatten sich dort konzentriert und beabsichtigten das, was man aus vielen kriegsgeschichtlichen Beispielen kannte : Sie wollten die Franzosen möglichst schon an den Übergangsstellen bekämpfen. Das war klug. Zunächst stellten sie sich in der Ebene zwischen dem Bisamberg und Groß Enzersdorf (das damals noch Stadtl Enzersdorf hieß) auf. Es waren an die 100.000 Soldaten. Sie bildeten sechs große Heereskörper, jeder mit rund 15.000 Mann. Die Infanterie als Kern, Kavallerie, dazwischen insgesamt 288 Kanonen und Haubitzen ; etwas weiter hinten die Grenadier- und vor allem die Kavalleriereserve, alles in einer Art Halbkreis mit den Eckpunkten Aspern und Essling. Die Franzosen wollten einmal Raum gewinnen, um ihre gewohnte Schlachtordnung einzunehmen und ihre größere Beweglichkeit auszunützen. Es gelang ihnen, Aspern und Essling zu erobern. Da brach ihre Behelfsbrücke über den Hauptstrom der Donau. Hochwasser nach dem vielen Regen und die österreichischen Bemühungen, Schiffsmühlen und mit Steinen beladene Brander gegen den französischen Übergang krachen zu lassen, waren ein erstes Mal erfolgreich. Die Brücke wurde notdürftig repariert. Es wurde Nacht. Pfingstsonntag, der 21. Mai, ging zu Ende. Einige wenige Stunden wurde nicht geschossen, doch um drei Uhr ging es von Neuem los. Aspern wechselte mehrmals den Besitzer. Schließlich wurde es von den Österreichern angezündet. Essling blieb im Besitz der Franzosen, und im Verlauf des Vormittags schienen sie auch im Zentrum die Oberhand zu gewinnen. Der linke Flügel der österreichischen Armee kam bei Essling in schwere Bedrängnis, und allmählich begannen die k. k. Regimenter zurückzuweichen. Die Soldaten mussten ja immer trachten, sich in geschlossenen Linien zu bewegen. Wenn jemand von Artilleriegeschossen oder Gewehrkugeln getroffen wurde und liegen blieb, mussten die Reihen so schnell wie möglich wieder geschlossen werden. Die Bataillone blieben immer wieder stehen, schossen, stachen und schlugen zu. Teile des Schlachtfelds waren von Rauch eingehüllt. Eines beherrschte die österreichische Infanterie besonders gut : Wenn die französischen Reiter angaloppierten, formierten die angegriffenen Fußtruppen »Masse«, rammten die Gewehre mit den Bajonetten schräg in den Boden und trachteten die attackierende französische Kavallerie buchstäblich aufzuspießen. Dazu gehörten eine ungeheure Disziplin, viel Mut und Kraft. Die Soldaten schrien, stiegen über die Verwundeten und die Toten, verbargen sich hinter den Gefallenen und wurden wieder aufgejagt, um neuerlich gegen die Franzosen anzurennen. Da gab es keine Gegner, nur mehr Feinde. Und es ging ums nackte Überleben. Vor allem in Aspern gab es ein regelrechtes Blutbad. Schließlich schienen die Österreicher trotz ihrer zahlenmäßigen Überlegenheit am
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Ende und begannen zu weichen. Erzherzog Carl bemühte sich, seine Soldaten zum Stehen zu bringen. Das war dann die Szene, die zur Erzherzog-Carl-Legende geformt worden ist : Als er die Fahne des Infanterieregiments Zach ergriffen haben soll, um die Soldaten wieder in Richtung Feind zu führen. Entscheidender aber war, dass die Brücke über die Donau abermals schwer beschädigt und vom Hochwasser regelrecht weggespült worden war. Napoleon hatte nicht genügend Truppen im Marchfeld, um Stand zu halten. Die Österreicher aber nahmen zum 6. Mal Aspern und begannen gegen die Übergangsstelle der Franzosen vorzurücken. Erstmals griffen sie an. Die Schlacht endete mit dem französischen Rückzug und einem österreichischen Sieg. Keinem grandiosen Sieg, denn letztlich war es ja nur gelungen, die Napoleonischen Regimenter wieder über den vierten Donauarm und in die Lobau zurückzuwerfen. Dennoch ! Beide Seiten hatten große Verluste erlitten. Jeweils 20.000 Soldaten waren an den zwei Schlachttagen auf österreichischer und französischer Seite gefallen oder verwundet worden. Von den schwerer Verwundeten starben die meisten. Hunderte tote Pferde lagen herum. Die Gefallenen wurden nur zum Teil begraben, sonst aber zu Scheiterhaufen aufgetürmt und verbrannt. Auch die siegreichen österreichischen Truppen mussten das Weite suchen, da man auf Grund des Leichen- und Brandgeruchs nicht auf dem Schlachtfeld bleiben konnte. Napoleon bezog Schönbrunn und befahl alle seine Truppen, die noch irgendwo verfügbar waren, nach Wien. Erzherzog Carl versuchte, es ihm gleich zu tun. Mit weit weniger Erfolg. Und als dann am 5. Juli die zweite Schlacht vor der Haustür Wiens begann, war die Überlegenheit der Franzosen in jeder Weise gegeben. Schließlich konnten die Napoleonischen Truppen in der Schlacht von Deutsch Wagram mit einem Sieg den Feldzug entscheiden. Mit dem Frieden von Schönbrunn sank die Habsburgermonarchie für einige Jahre auf Größe und Bedeutung einer Mittelmacht herab. Davon erzählt das Denkmal auf dem Wiener Heldenplatz selbstverständlich so gut wie nichts. Es ist ganz einfach heroisch. Und es verschweigt auch die Anekdote vom alten Erzherzog, der da gefragt worden sein soll : »Kaiserliche Hoheit ! Wie war das damals, als Sie während der Schlacht von Aspern die Fahne ergriffen haben« ? Carl soll darauf geantwortet haben : »Aber gehen ’S. Ich schwaches Mandl hätt’ die Fahne doch nie tragen können. Am Zipfel hab ich sie g’nommen«. Als das Denkmal enthüllt worden ist, war der Held von anno dazumal schon 13 Jahre tot. Der Wiener Kongress 1814/15 Es ist weit leichter einen Krieg zu beginnen als ihn zu beenden. Diese banale Feststellung, für die es irgendwo bei Carl von Clausewitz eine Belegstelle gibt, galt in besonderem Maß für die letzte Phase der Napoleonischen Kriege. Dabei hätte man meinen können, die europäischen Staaten hätten schon eine enorme Routine beim Friedenschließen. Friedens-
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schlüsse hatte es in der Zeit ab 1792, als das Noch-Königreich Frankreich dem »König von Ungarn und Böhmen« Franz, dem noch nicht gekrönten späteren Kaiser Franz II., den Krieg erklärt hatte, schon im Überfluss gegeben : 1795 (Basel), 1797 (Campoformido), 1801 (Lunéville), 1805 (Preßburg), 1807 (Tilsit) und 1809 (Wien). Merkwürdigerweise war es mit Ausnahme der ersten Kriegserklärung nie Frankreich gewesen, das dann Krieg erklärt hatte, wohl aber war es das Frankreich Napoleons gewesen, das so lange gefordert, gedroht und provoziert hatte, bis dann meist Österreich den Krieg begann. 1813 war es jedoch das zum Binnenland und auf einen Gebietsrest reduzierte Österreich, das am intensivsten über einen neuen und vielleicht dauerhaften Frieden nachdachte. Im März 1813 ließ der österreichische Staatskanzler Clemens Lothar Graf Metternich dem österreichischen Botschafter in Frankreich, Karl Fürst Schwarzenberg, eine Instruktion zugehen, die er dem Kaiser der Franzosen, Napoleon I., zur Kenntnis bringen und allgemein bekanntmachen sollte. Ein eher ungewöhnlicher Vorgang, da Instruktionen dieser Art in der Regel denkbar vertraulich sind. Doch Metternich wollte seine Überlegungen bewusst nicht für sich behalten. Österreich war zum damaligen Zeitpunkt mit Frankreich verbündet, und Napoleon der Schwiegersohn des österreichischen Kaisers Franz. Also wollte man auch verbindlich bleiben. Metternich forderte zunächst noch nicht viel : Die Rückgabe der vom Kaisertum Österreich abgetrennten Länder, das Ende der Abhängigkeit und – wenn möglich – »die Rückkehr Preußens zu seiner vollen Unabhängigkeit.« Damit sollte eine Barriere zwischen Frankreich und Russland geschaffen werden, um allmählich Frieden für Europa zu bringen. Schwarzenberg behielt die Instruktion für sich, obwohl er sie eigentlich Napoleon zu übergeben hatte. Doch der wollte ohnedies den 1812 begonnenen Krieg fortsetzen. Und es sah ja trotz des Russlandfeldzugs nicht so schlecht für ihn aus. Metternich versuchte es noch einmal. Im Juli 1813 trachtete er zwischen den Alliierten und Napoleon zu vermitteln, stellte allerdings auch schon in Aussicht, dass Österreich auf Seite der Verbündeten in den Krieg eingreifen könnte. Die Forderungen waren mittlerweile nicht nur sehr viel konkreter, sondern auch sehr viel weitergehend : Rückkehr Frankreichs auf die Grenzen von 1792 und Preisgabe aller späteren Eroberungen. Metternich suchte Napoleon in Dresden auf und hatte schließlich im Chinesischen Zimmer des Marcolini’schen Palais eine dramatische neunstündige Unterredung, in der Napoleon drohte und höhnte. Schließlich lenkte er pro forma ein, tat freilich noch ein Übriges : Er entließ Österreich formell aus dem Bündnis mit Frankreich. Metternich war nicht sehr beeindruckt und will Napoleon mit den Worten verlassen haben : »Ihr seid verloren, Sire. Als ich kam, habe ich es geahnt, jetzt weiß ich es !« Die dreitägige Schlacht von Leipzig und der Vorstoß der Alliierten an den Rhein veränderte dann die Situation für die Verbündeten von Grund auf. Und während sich die Koalitionstruppen noch vorkämpften und schließlich 1814 nach Frankreich vormarschierten, war es klar geworden, dass die Neuordnung Europas
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mehr erforderte als den Sieg über die Napoleonischen Truppen und die Wiederherstellung des status quo ante. Zunächst aber nahm der Feldzug seine Fortsetzung. Am 31. März 1814 kapitulierte Paris. Elf Tage später dankte Napoleon ab und bekam Elba als souveränes Fürstentum zugewiesen. Und wieder sechs Wochen später, am 30. Mai, wurde der Pariser Frieden geschlossen und von Österreich, Preußen, Russland, England, Spanien, Portugal, Schweden und Frankreich unterzeichnet. Damit war der Weg zur Restauration der Bourbonen frei, und der Bruder des 1793 hingerichteten Königs Ludwig XVI. bestieg als Ludwig XVIII. den französischen Thron. Kein Kongress tanzt Die Bedingungen für Frankreich hatten sich seit der Instruktion Metternichs für Schwarzenberg erheblich verschlechtert. Jetzt sollte Napoleon nicht mehr geschont, sondern Europa neu geordnet werden. Und damit das auch für alle verbindlich wurde, kamen jene, die die Macht hatten, die Alliierten, Anfang März 1814 überein, dass sich England, Preußen, Österreich und Russland die Neuordnung Europas untereinander ausmachen und obendrein für zwanzig Jahre die Aufgaben der Friedenssicherung übernehmen sollten. War zu fragen, ob das nicht eine Illusion war, denn noch im Augenblick des Siegs über Frankreich gerieten sich die Sieger in die Haare. Russland wollte große Teile Polens, um sie einem neuen zu Russland gehörenden Königreich Polen anzugliedern. Preußen wollte Sachsen von der Landkarte verschwinden lassen. Die Briten wollten die ehemals österreichischen Niederlande mit Holland vereinigen ; Österreich wollte wieder seine frühere Größe erlangen … Das alles ließ sich nicht so nebenbei erledigen. Es ging um die Neuordnung Europas. Im Artikel 32 des Pariser Friedens hieß es daher, dass sich alle kriegführenden Staaten verpflichteten »zum Zweck der Vervollständigung des Vertrags binnen zwei Monate ihre Bevollmächtigten zu einem allgemeinen Kongress nach Wien zu entsenden.« Ob es Metternich war, der als erster den Gedanken einer Zusammenkunft aussprach, bei der alle anstehenden Fragen erörtert und gelöst werden sollten, ist umstritten. Der Vorschlag, einen Kongress abzuhalten, soll vom britischen Außenminister Lord Castlereagh gekommen sein. Schon vorher, nämlich unmittelbar nach der Leipziger Schlacht, hatten allerdings Kaiser Franz, der Zar und der preußische König über ein Treffen in Wien gesprochen. Schließlich lud tatsächlich Kaiser Franz nach Wien ein. Noch aus Paris ließ er bei der Wiener Porzellanmanufaktur ein vergoldetes Porzellanservice bestellen, sparsam wie der »gute« Kaiser Franz war, allerdings nur für 12 Personen. Dann wurde auf 30 aufgestockt. Es war noch immer viel zu wenig. Franz verfügte auch, dass nur bei jenen Gastmählern ausländische Weine gereicht werden sollten, bei denen die ausländischen Souveräne – nicht aber »derenselben Familien-
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glieder speisen werden«. Die sollten Wein aus Österreich bekommen. Auch keine schlechte Wahl ! Metternich war es wohl gewesen, der Kaiser Franz dazu brachte, die Einladung nach Wien auszusprechen. Und dafür waren mehrere Überlegungen ausschlaggebend : Seit Österreich der Koalition beigetreten war, hatte es eine immer bedeutendere Rolle zu spielen begonnen. Sie war nicht so sehr Ausdruck militärischer Stärke, denn die habsburgischen Streitkräfte waren erst im Aufbau begriffen und stellten verglichen mit den russischen aber auch den preußischen Truppen auf dem deutschen Kriegsschauplatz nicht das stärkste Kontingent. Wohl aber war mit dem Beitritt Österreichs zur Koalition der entscheidende Schritt getan worden, um die politische Macht Napoleons zu brechen. Die Metternich’sche Politik hatte unter den deutschen Fürsten zu einem Dominoeffekt geführt und ließ sie ihrerseits aus dem Rheinbund ausscheren und dessen Protektor, Napoleon, seinem Schicksal überlassen. Nur Sachsen hatte sich unzugänglich gezeigt, was der sächsische König Friedrich August I. damit gebüßt hatte, dass er noch vom Schlachtfeld von Leipzig weg als Gefangener abgeführt worden war. Der Fortbestand eines sächsischen Königreichs schien alles andere, denn eine ausgemachte Sache zu sein. Österreichs Interessen an einer Neuordnung Europas waren freilich auch wesentlich weiter gefasst als die einer anderen Macht. Es gab so gut wie keine Frage, die Österreich nicht in irgendeiner Weise tangierte. Die Zukunft Deutschlands, jene Italiens, von Teilen des Balkans und Polens wurden von Österreich entschieden. Und schließlich kam die historische Bedeutung des österreichischen Kaisers als ehemaligem Oberhaupt des römisch-deutschen Reichs ins Spiel. Ein letztes Moment stellte wohl die Lage Wiens und stellten seine Möglichkeiten dar, einen Kongress zu beherbergen. Paris schied aus, denn dessen Bedeutung sollte ja auf die vor-napoleonische Zeit zurückgeführt werden. St. Petersburg war zu sehr Peripherie ; und Berlin kam wohl auch nicht in Frage. Dass Österreich auch die Kosten einer derartigen Monsterveranstaltung auf sich nehmen wollte, und das drei Jahre nach dem Staatsbankrott von 1811, irritierte zum wenigsten. Über seine Verhältnisse zu leben war gerade in Österreich Mode. Und »Kongressieren« war immer noch billiger als Kriegführen. Der gute Kaiser Franz machte sich aber zunächst wohl noch keine Vorstellung von den Kosten, die auch durch Umwegrentabilität nicht hereinzubringen waren. Und hätte er gewusst, dass der Kongress die Hofwirtschaft mit acht Millionen Gulden (130 Millionen €) belasten würde – wer weiß, ob er es nicht doch bleiben gelassen hätte. Eine der wichtigsten Entscheidungen im Vorfeld war wohl die gewesen, dass die Alliierten keinen Siegfrieden diktieren, sondern ein wieder auf ein Königreich herabgestuftes, gewissermaßen vorrevolutionäres Frankreich als Gleichberechtigten und nicht als Besiegten an den Beratungen teilhaben lassen wollten. Briten und Russen wollten Frankreich zunächst nur Beobachterstatus geben. Metternich war dagegen – und setzte
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sich durch. Schließlich brauchte Österreich die Franzosen, um sich gegenüber dem Zaren und den russischen Träumen zu behaupten. Im Fall Frankreichs kam Metternich zugute, dass sich Ludwig XVIII. mit CharlesMaurice Talleyrand einen klugen, seit den Revolutionsjahren gemäßigten und im Übrigen enorm anpassungsfähigen Mann zum Außenminister genommen hatte, der Frankreich im Tausch gegen die Unterstützung der österreichischen Haltung als gleichberechtigten Teilnehmer am Wiener Kongress etablieren konnte. Und im Übrigen erfüllte Frankreich eine Grundforderung Metternichs : Es hatte zumindest in formaler Hinsicht die alte Königsmacht wieder hergestellt und entsprach damit einem der durchgängigen Prinzipien des österreichischen Staatskanzlers : Er baute ausschließlich auf die Fürstenmacht. Eine Teilnahme der Untertanen an der Regierung lag jenseits seines Denkhorizonts. Schon unmittelbar nach Unterzeichnung des Pariser Friedens begannen die Vorbereitungen für den Kongress. Dabei ging es aber zum wenigsten um die Frage der Unterbringung der zu erwartenden Monarchen und mehr als 300 Delegierten sowie ihrer Bediensteten, also etwa 2000 Personen – und ihrer Fahrzeuge. Viel wichtiger war wohl, dass jede Staatskanzlei und vor allem jene der Hauptmächte Zeit für ihre Vorbereitungen bekamen. Da aber sowohl der Zar als auch der preußische König zunächst in ihre jeweiligen Hauptstädte zurückkehren wollten und auch England mehr Zeit für Vorbereitungen verlangte, kam es nicht zur vereinbarten Eröffnung Anfang August, sondern zu einer Verschiebung auf September 1814. Ein genaues Datum wurde nicht genannt. Als erster traf schließlich Anfang September der päpstliche Delegierte, Kardinal Ercole Consalvi, in Wien ein. Mitte September kamen die Staatsminister der Allianzmächte nach Wien. Daher meinte man, der Kongress würde am 18. September eröffnet worden sein. Kaiser Franz räumte die Hofburg, um sie seinen Gästen zu überlassen und übersiedelte nach Schönbrunn. Am 25. September holte Kaiser Franz den Zaren und den preußischen König nahe der Taborbrücke ab. Wieder galt der Kongress als eröffnet. Doch man war noch weit von einem formellen Beginn entfernt. Und sogar die Bezeichnung »Kongress« wurde in Frage gestellt. Aufwendige juristische Darlegungen zielten darauf ab, lediglich von Verhandlungen oder einem Treffen zu sprechen. Letztlich fiel aber niemandem eine bessere Bezeichnung als Kongress ein. Da der Streit über Rang- und Zulassungsfragen andauerte, Metternich dem Franzosen Talleyrand sogar am 8. Oktober drohte, den Kongress platzen zu lassen, folgte man schließlich der Empfehlung des Preußen Wilhelm von Humboldt, überhaupt keine formelle Eröffnung vorzunehmen, um einen Streit über Protokollarisches zu vermeiden. Es war auch so schon alles kompliziert genug, hätte man in Vorwegnahme einer berühmten deutsch-westungarischen Formulierung weit späterer Zeiten sagen können. Spanien, Portugal und vor allem Frankreich wollten in der obersten Liga der Siegermächte Russland, Preußen, Großbritannien und Österreich mitspielen. Doch
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die Quadrupelallianz zeigte vergleichsweise Geschlossenheit. Der Zar hätte auch gerne Schweden einen Platz in der ersten Reihe eingeräumt – die anderen lehnten ab. Von vornherein war klar, dass die Teilnahme kleiner Fürstentümer wie LöwensteinWertheim-Freudenberg, Reuß-Greitz oder auch Stolberg nur ihrer Zugehörigkeit zum nicht mehr bestehenden römisch-deutschen Reich geschuldet war, sie aber keine nennenswerte Rolle spielen würden. Sie hatten wohl ihre persönlichen Anliegen und wollten verhindern, dass diese völlig ungehört blieben. Dass aber auch ein Napoleonide wie Eugène Beauharnais, formell noch immer Vizekönig von Italien, in Wien auftauchte, wollte irgendwie nicht in das Bild passen. Doch er wurde geduldet. Da sorgte schon der bayrische Schwiegerpapa dafür. Dafür fehlte auffallenderweise der König von Frankreich, Ludwig XVIII. Der König des Vereinigten Königreichs von Großbritannien und Irland, Georg III., galt als entschuldigt, da er zu krank war, um am Kongress teilzunehmen. Wohl aber hatte Kaiser Franz drei zum damaligen Zeitpunkt Monarchen ohne Land eingeladen : Die Könige von Sachsen und von Neapel sowie die nunmehr von ihrem Gatten getrennt lebende Ex-Kaiserin der Franzosen MarieLouise. Letztlich machten die Klein- und Kleinststaaten ebenso wie die »Exoten«, die Adabeis und Kokotten, das Bild zwar bunter, die Verhandlungen aber nicht substanzieller. Einige kamen dennoch mit größeren Delegationen. Nur das Osmanische Reich begnügte sich mit einem einzigen Delegierten und nahm sich eigentlich von vornherein aus dem Spiel. Eine eigens eingerichtete Verifizierungskommission hatte damit zu tun, die schließlich 103 Beglaubigungsschreiben zu überprüfen. Vom ersten Augenblick an gab es Reibereien und Streit. Die territoriale Neugestaltung des Kontinents wollten die vier Verbündeten, Russland, Preußen, Großbritannien und Österreich, unter sich ausmachen. Sie waren die Quadrupelallianz. Frankreich und Spanien sollten in dieser »Obersten Liga« nicht vertreten sein. Doch sie ließen sich nicht ausschließen, und man brauchte sie, wenn es um Mehrheitsbildungen ging. Polen war ein Thema. Das zweite heikle Thema sollte die Zukunft Deutschlands sein, die sich Österreich, Preußen und vielleicht noch ein paar Vertreter deutscher Mittelstaaten untereinander ausmachen wollten. Auch das ging nicht ohne Konflikte, da sich schnell neue Koalitionen bildeten. Es gab ein Fünferkomitee, in dem dann auch Frankreich vertreten war, und ein Achterkomitee mit Portugal, Spanien und Schweden. Sonderkommissionen behandelten Einzelfragen und sollten Lösungen erarbeiten. Erst Ende Oktober 1814 galten die Vorarbeiten als einigermaßen abgeschlossen. Der Fürstenversammlung war in der Zwischenzeit zwar nicht langweilig geworden, denn die diversen Feste und Redouten, bei denen bis zu 7000 »standesgemäße Personen« geladen waren, sorgten für Abwechslung. Doch die Hoffnungen auf rasche Einigung waren geschwunden. Man drehte sich nicht nur im Kreis – man ging auch im Kreis. Und das verwirrte offenbar alle jene, die sich mit Äußerlichkeiten zufriedengeben mussten und vielleicht auch eine gewissen Krän-
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kung empfanden, weil sie nicht zum engeren Kreis der Verhandler oder zumindest zu den Wissensträgern gehörten. Also ließen sie sich nur zu gerne zu spitzen Bemerkungen hinreißen. Vor allem der damals 79jährige Fürst Charles-Joseph de Ligne machte mit der Bemerkung : »Le congrès ne marche pas, il danse«, von sich reden, einem geistreichen Bonmot, das jedoch letztlich nichts zu besagen hatte. Am 30. Oktober fand dann eine Art Eröffnung des Kongresses statt, ohne besonderes Gepränge. Die »Wiener Zeitung« nahm davon überhaupt keine Notiz, und auch die Tatsache, dass am 31. Oktober der unmittelbar nach der Schlacht von Leipzig zum Fürsten erhobene Metternich zum Präsidenten des Kongresses gewählt worden war, fand keinen nennenswerten Niederschlag in den Gazetten. Und dann begannen die Verhandlungen, Beratungen und Konferenzen. Es gab auch so etwas wie eine leitende Idee, nämlich die, die alte Formel eines europäischen Gleichgewichts durch etwas Neues zu ersetzen, ein Sicherheitssystem, das durch außenpolitische Zurückhaltung und Vertragstreue gekennzeichnet sein sollte. In Einzelfragen kam man voran. Die großen Fragen blieben auf der Strecke. Ein erstes Ergebnis war beispielsweise zu Jahresende die Vorlage einer »Rangkonvention«, die den diplomatischen Verkehr regeln sollte. Botschafter sollte es lediglich bei den Großmächten geben, fallweise auch Gesandte. Sie hatten die jeweiligen Staatsoberhäupter zu vertreten. Alle anderen Staaten sollten nur durch Geschäftsträger vertreten sein, die ihre Akkreditierung den Außenministern zu übergeben hatten. Wohl gab es noch Abänderungen, doch ab März 1815 galt die aus sieben Artikeln bestehende Konvention als verbindlich (und behielt in etlichen Teilen bis heute ihre Gültigkeit). Metternich peilte den Aufbau eines föderativen, unter österreichischer Führung stehenden Mitteleuropa an. Zar Alexander hingegen, der sich mehr und mehr zum Gegenspieler Metternichs entwickelte, hatte zum wenigsten Mitteleuropa im Sinn, als vielmehr einen möglichst großen territorialen Zugewinn für sein Reich. Talleyrand ging es um die Gleichberechtigung Frankreichs auf dem Kongress, daher sprach er nicht von Revolution und Napoleon, sondern von Legitimität. Preußen wollte sich ganz Sachsen einverleiben und meinte, aus der Tatsache, dass der König von Sachsen auch noch während der Völkerschlacht an der Seite Napoleons gestanden war, eine Art Verfall der Souveränität konstruieren zu können. Gegensätze prallten aufeinander. Ende November 1814 hatte es den Anschein, als würde die Allianz zerbrechen und ein Krieg drohen. Neue Allianzen wurden gebildet, bis dann Preußen und Russland eine Art Weihnachtsfrieden verkündeten, zurücksteckten und sich mit weniger Sachsen und weniger Polen begnügen wollten. Die Hauptbevollmächtigten der fünf Großmächte trafen sich alle zwei bis drei Tage. Das Achterkomitee, das sich u. a. mit der Freiheit der Flussschiffahrt aber auch mit dem Verbot des Sklavenhandels beschäftigte, an den dazwischenliegenden Tagen. Manchmal arbeiteten die Gremien auch gleichzeitig und mit wechselnden Besetzun-
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gen, und zusätzlich arbeiteten noch 13 Sonderkommissionen. Schließlich gab es noch das »Deutsche Komitee«, eine Art 14. Kommission, in der Österreich, Preußen, Bayern, Hannover und Württemberg vertreten waren. Die in dem Komitee nicht vertretenen deutschen Fürstentümer und Städte protestierten. Auch in diesem Fall zeichneten sich um Weihnachten 1814 Lösungsmöglichkeiten ab, die den Kongress in ein wesentlich ruhigeres Fahrwasser lenkten. Dazu trug wohl auch bei, dass Metternich in einem wesentlichen Punkt kein doktrinäres Herangehen zeigte, nämlich in der Frage, das von Kaiser Franz aufgelöste römisch-deutsche Reich wieder erstehen zu lassen. Außer einer Durchsetzung des restaurativen Prinzips sprach eigentlich nichts dafür. Für die letztlich von Kaiser Franz schon im Oktober, also noch in der Vorbereitungsphase des Kongresses getroffene Entscheidung, das römisch-deutsche Reich nicht einmal ansatzweise rekonstruieren zu wollen, gab es freilich auch noch einen besonderen Grund : Da das alte Reich ein Wahl-Kaisertum war, konnte es nicht als ausgemachte Sache gelten, dass der gutmütige, doch einfältige Sohn des Kaisers Franz, Ferdinand, zum Kaiser gewählt werden würde. In Österreich ließ sich das durchsetzen ; gegen mächtige und sicherlich selbstbewusste deutsche Souveräne wohl nicht. Metternich wusste das. Die Habsburger zogen sich auf ihr Erbteil zurück und beließen es beim österreichischen Kaisertum. Die Sache war abgetan. An die Stelle des Reichs sollte der Deutsche Bund treten, dem immer noch 39 und ab September 1815 sogar 41 Fürsten angehören sollten. Die sogenannte Deutsche Bundesakte nahm in dem Augenblick Gestalt an, als Preußen auf einen Teil Sachsens verzichtet und dafür rheinische und westfälische Gebiete zugesagt bekam. Köln, Bonn und der Niederrhein würden, soviel stand dann fest, preußisch werden. Alle Kongressbeschlüsse, auch die Deutsche Bundesakte, sollten von den unterzeich nenden Mächten garantiert werden. Während man ab Februar 1815 bereits auf ein Ende des Kongresses hinarbeitete, obwohl noch bei weitem nicht alle, ja eigentlich die wenigsten Fragen geklärt waren, platzte am 5. März in Wien die Meldung von der Flucht Napoleons von Elba. Acht Tage später erklärte die Achterkommission Napoleon zum Gesetzlosen. Und die »Wiener Zeitung«, die kein Wort über die Flucht Napoleons und dessen Ankunft in Frankreich geschrieben hatte, veröffentlichte am 15. März ein klar formuliertes Manifest : »Die Mächte erklären daher, dass Napoleon Bonaparte sich von den bürgerlichen und gesellschaftlichen Verhältnissen ausgeschlossen und als Feind und Störer der Ruhe der Welt den öffentlichen Strafgerichten der Welt preisgegeben hat.« Sie erklärten ihre Entschlossenheit, den »Pariser Traktat vom 30. May 1814 … unwandelbar aufrecht zu erhalten.« Sämtliche Souveräne Europas würden sich in dem Ziel einig sein, dem König von Frankreich und der französischen Nation beizustehen. Der Kongress nominierte Mitglieder einer neuen »Militärkommission«. Am 25. März schlossen die Staaten abermals einen Allianzvertrag. Alle europäischen Mo-
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narchen wurden eingeladen, der Allianz beizutreten und die Stärke der Kontingente bekannt zu geben, mit denen sie sich am Feldzug gegen Napoleon beteiligen wollten. Nichts wirkte auf die Arbeit des Kongresses beschleunigender als die neuerliche Gefahr. Jetzt ging es Schlag auf Schlag. Fast in Tagesabständen wurden Artikel der Schlussakte vorgelegt, die Rangartikel, die Schifffahrtsakte, das weltweite Verbot des Sklavenhandels, die polnisch-sächsische Frage, mit der Kongresspolen ebenso wie ein verkleinertes Königreich Sachsen geschaffen wurden, die Errichtung des Königreichs der Niederlande und der preußisch-hannover’sche Ausgleich. Manche Regelung war freilich so kompliziert, dass wohl niemand glauben konnte, dass sie Bestand haben würde. Preußen sollte beispielsweise als Entschädigung dafür, dass es nicht ganz Sachsen bekam, nicht nur linksrheinisches Gebiet erhalten, sondern sein Territorium bis an die Nahe vergrößern dürfen. Um die verstreuten Gebiete miteinander zu verbinden, wurden eigene Militärstraßen definiert, die durch Hannover und Hessen-Kassel führten. Eine mühsame Korridorlösung. Die »Schweizer Kommission« legte am 19. März den Deklarationsentwurf für die immerwährende Neutralität der Schweiz vor. Es sollte eine garantierte Neutralität sein, so wie ja alles garantiert werden sollte, was der Kongress an Beschlüssen fasste – und Österreich war eine der Garantiemächte. Für die nordischen Staaten Dänemark, Schweden und Norwegen wurde Lösungen gefunden, Finnland wurde ein halbautonomes russisches Großfürstentum. So nebenbei wurden England die Kapkolonie, Malta, Mauritius und ein paar andere Kleinigkeiten zugesprochen. Die Genua-Kommission legte die Ergebnisse ihrer Arbeit, den Anschluss Genuas an das Königreich Sardinien vor. Um auch die Interessen des Papstes zu berücksichtigen, wurde ein verkleinerter Kirchenstaat konstruiert. Andere Kommissionen wurden kurzerhand aufgelöst, nicht zuletzt jene, die auf Wunsch Spaniens italienische Fragen bearbeiten sollte. Metternich hatte kein Interesse daran und wollte freie Hand behalten. Dabei hatte er nicht zuletzt die Interessen seines Herrscherhauses im Sinn, weil bei der Neugestaltung Italiens auch Versorgungsfragen für die habsburgische Sekundogenitur eine Rolle spielten. Italienische Gebiete sollten Österreich auch für den Verlust der österreichischen Niederlande und etlicher Vorrechte entschädigen. Dann ging es um Piemont, das als Pufferstaat zwischen Frankreich und Italien gestärkt werden sollte. Doch so etwas wie den Deutschen Bund auch für Italien zu schaffen und die Lega Italica zu verwirklichen, lehnte Metternich ab. Daraufhin weigerte sich der spanische Delegationsführer Labrador, die Schlussakte zu unterzeichnen. Es störte offenbar niemanden. Ebenso wenig wie der Protest des Kirchenstaats dagegen, dass die Säkularisationen von 1803 nicht rückgängig gemacht wurden. Der Vatikan legte eine förmliche Verwahrung ein, so wie der Heilige Stuhl auch 1648 gegen Beschlüsse des Westfälischen Friedens protestiert hatte. Da schien sich Geschichte zu wiederholen. Die Arbeit an der Schlussakte begann noch parallel zu den letzten Kommissionsberatungen. Angesichts des Zeitdrucks tauchte dann die Idee auf, den Kongress ohne
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regelrechtes Abschlussdokument enden zu lassen. Metternich dürfte der Idee nicht abgeneigt gewesen sein. Doch Talleyrand und der britische Delegierte, der Earl of Clancarty, der Castlereagh abgelöst hatte, drangen mit ihrer Forderung nach einem Schlussdokument in der Fünferkommission durch. Die Pentarchie war es auch, die meinte, es würde genügen, wenn die fünf großen Mächte das Dokument unterzeichneten. Doch da probten wieder einige andere den Aufstand, und es wurde festgelegt, dass alle am Kongress beteiligten Staaten zur Unterzeichnung eingeladen werden sollten. Zwei Tage später, am 6. Juni, hieß es freilich, das würde doch zu kompliziert werden, denn schließlich müssten dann von allen teilnehmenden Höfen, Staaten, Ländern und Städten Ratifikationsurkunden erstellt und ausgetauscht werden, und es war wieder der aus Irland gebürtige britische Delegierte Clancarty, der ausrechnete, dass es dann 1600 Ratifikationsurkunden geben müsste. Der Kompromiss, der dann keiner war, besagte, dass nur die Staaten der Achterkommission unterzeichnungsberechtigt sein würden. Das war aber kein Kompromiss, sondern letztlich ein Diktat, das man als die normative Kraft des Faktischen sehen, aber auch gleich als Vorgeschmack auf die folgende Zeit werten konnte, die ganz sicher nicht durch besondere Rücksichtnahme auf die kleinen staatlichen Gebilde gekennzeichnet war. Die nicht zur Unterzeichnung Eingeladenen konnten lediglich in das fertige Dokument Einblick nehmen und anschließend ihren Souveränen empfehlen, dem Dokument beizutreten – oder nicht. Am 9. Juni unterzeichneten Vertreter Österreichs, Frankreichs, Englands, Preußens, Russlands, Schwedens und Portugals im Vorzimmer Metternichs das Dokument. (Die Tische, auf denen das geschah, sollten 1955 eine Art »revival« erfahren, da sie zur Unterzeichnung des Österreichischen Staatsvertrags ins Belvedere gebracht wurden). Spanien weigerte sich zu unterzeichnen. Auch bei der Schlussrunde war von Feierlichkeit nichts zu merken. Ein paar Siegel und Unterschriften mussten noch nachträglich mühsam beigebracht werden. Die Blätter wurden erst später in die Schlussakte eingebunden. Der Kongress war bereits in Auflösung. Man eilte zu den Fahnen. Es wurden keine gewichtigen Schlussworte gesprochen, und vielleicht beschlich den einen oder anderen auch die Sorge, die Rechnung ohne den Wirt gemacht zu haben, denn noch galt es ja, Napoleon ein weiteres Mal zu besiegen. Der war seit Ende Mai auf dem Vormarsch in den Niederlanden, schlug das preußische Heer bei Ligny, wurde aber seinerseits am 18. Juni bei Waterloo besiegt. Am 10. Juli zogen drei verbündete Monarchen, Zar Alexander I., König Friedrich Wilhelm III. und Kaiser Franz I. in Paris ein. Es war der zweite Einzug, diesmal gemeinsam und demonstrativ. Dabei waren am endgültigen Sieg über Napoleon weder russische noch österreichische Truppen beteiligt gewesen. Die Österreicher unter Schwarzenberg waren aber zumindest im Süden Frankreichs vorgedrungen. Der 2. Pariser Frieden hatte keinen weiteren Kongress zur Folge. Letztlich war ja auch schon alles gesagt worden. Die Bestimmungen für Frankreich wurden allerdings
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Gestalter der Geschicke, 1500 – 1914
um einiges verschärft. Deutschland war der hauptsächliche Nutznießer. Doch letztlich bekamen viele etwas, denn entgegen dem, was man 1814 noch in Frankreich lassen wollte, nämlich die von Napoleon europaweit geraubten Kunstschätze, wurde nun deren Rückführung gefordert, und Berlin bekam seine Quadriga für das Brandenburger Tor wieder und Venedig die vier Pferde aus vergoldeter Bronze von der Loggia dei Cavalli, die ihrerseits Beutestücke aus Konstantinopel sind. Doch auch die kaiserlichen Kunstsammlungen in Wien durften aufatmen, da Kernstücke ihres Bestandes wieder den Weg ins Belvedere und in die Hofburg fanden. Lediglich ein paar Liechtensteingeschütze blieben in Paris. Als das Heeresgeschichtliche Museum 1948 den Versuch machte, sie zurückzubekommen, da sie seinerzeit vergessen worden waren, wiesen das die Franzosen nonchalant zurück. Tempora mutantur ! Und wenn die Stücke 150 Jahre nicht abgegangen waren, konnten sie genausogut in Paris bleiben – hieß es. Epilog 1 Während des Kongresses war das Wort vom Kutscher Europas aufgekommen. Metternich, der zweifellos mit einer enormen Arbeitsleistung dazu beigetragen hatte, dass sich das hingeworfene Bonmot des Fürsten de Ligne nicht bewahrheitete, Metternich, der seine Ideen konsequent verfolgt hatte, wollte es nicht dabei belassen, dass die Neuordnung Europas irgendwie geglückt war. Er wollte durch eine Art Konferenzdiplomatie, bei der abermals Österreich die Hauptrolle spielen sollte, die Ordnung perpetuieren. Es ist ihm nicht gelungen. Das Bild vom souveränen Staatenlenker wurde von einem ganz anderen Bild überlagert, bei dem man dann in Metternich den »Fürsten von Mitternacht« gesehen hat. Als der fand er dann auch Eingang in das Karl Marx’sche Kommunistische Manifest : »Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des Kommunismus. Alle Mächte des alten Europa haben sich zu einer heiligen Hetzjagd gegen dies Gespenst verbündet, der Papst und der Zar, Metternich und Guizot, französische Radikale und deutsche Polizisten.« 1848 ist Metternich aus Wien geflohen ; 1852 zurückgekehrt. Die Ordnung des Wiener Kongresses hatte zwar im Großen und Ganzen gehalten und auch die Revolutionsjahre überdauert. Doch Metternichs Rat war nicht mehr gefragt. 1859 starb der Fürst und wurde in die Begräbniskapelle seines Schlosses in Plass, das heute Plasy heißt, überführt. Dort ruht er, unbeachtet, in einer recht schlichten Gruft.
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Als sich die alliierten und assoziierten Mächte im Jänner 1919 in Paris trafen, um die aus dem Ersten Weltkrieg herrührenden Fragen einer Regelung zuzuführen, waren die Pentarchie, das Europäische Konzert und die Konferenzdiplomatie alten Stils obsolet geworden. Lediglich die Vorstellung von einem Gleichgewicht in Europa hatte noch immer ihre Befürworter. Es war daher wohl nicht nur der Liverpooler Professor für Neuere Geschichte Charles Webster, der sich intensiv mit dem Wiener Kongress 1814/15 beschäftigte, doch Webster tat es in besonders eindringlicher Weise. Innerhalb von elf Wochen verfasste er ein beachtliches Buch »The Congress of Vienna, 1814/15«, in dem er den Kongress von ehedem als die einzige Versammlung bezeichnete, die für die bevorstehenden Aufgaben der Staatsmänner in den Schlössern um Paris eine Art Matrix sein sollte. Webster konnte freilich nicht überzeugen. In Versailles, SaintGermain-en-Laye, Neuilly-sur-Seine, Trianon und Sèvres wurden die Grundsätze von Wien nicht zur Anwendung gebracht. Stattdessen bezeichneten die Friedensverträge von 1919 und 1920 eine Epochengrenze. Die europäische Neuzeit markieren denn auch ganz andere zeitliche Zäsuren als jene, die für Schulbücher gelten, nämlich der Westfälische Frieden von 1648, die Wiener Ordnung von 1815 und die Pariser Friedensschlüsse von 1919. Wir leben noch in dieser dritten Epoche und sind uns dessen zum wenigsten bewusst. Doch das ist eine andere Geschichte.
Hintergrund : Ludwig Hesshaimer, Husarenpatrouille am San. Radierung, 40 × 50 cm. Im Vordergrund : Miniaturisierte Nachbildung der Kartusche einer österreichisch-ungarischen 42-cm Haubitze, Biskuitporzellan mit stilisierten Porträts von Kaiser Franz Joseph, Kaiser Wilhelm II. und Sultan Mehmed IV. Ferner Leibriemen für Mannschaften der k.u.k. Armee mit Leibriemenschließe, Muster 1888. Ferner Stacheldraht von der Gebirgsfront gegen Italien im Raum Cellon sowie ungarische Übersetzung von Manfried Rauchensteiner, Der Erste Weltkrieg und das Ende der Habsburger-Monarchie 1914 – 1918 (Budapest 2017). Untergrund : Karte Nordöstlicher Kriegsschauplatz. Beilage 1 zu Österreich-Ungarns letzter Krieg 1914 – 1918 (Wien 1930).
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Ein Mörder namens Princip Die Republik Serbien, so konnte man im Jänner dieses Jahres [2014] lesen, beabsichtigt, das 100-Jahrgedenken des Beginns des 1. Weltkriegs damit zu begehen, dass auf dem Belgrader Festungsberg, dem Kalemegdan, ein Denkmal des Hauptattentäters von Sarajevo, Gavrilo Princip, aufgestellt wird. Die Reaktionen auf die Meldung reichten von : »Recht so !« und »Sollen sie doch machen, was sie wollen« bis »Auch ein Signal Richtung Europa !«, »gedankenlos«, »ewig gestrig«, »dumm«. Dass eine Kopie des Denkmals im hauptsächlich von Serben besiedelten Teil von Sarajevo aufgestellt werden soll, schien in weiterer Folge nur mehr der Logik des Merkwürdigen verpflichtet. Der Präsident der Republika Srpska, Milorad Dodik, begrüßte die Denkmalsetzung ausdrücklich. Für Belgrad wie Sarajevo mag freilich gelten, dass dann, wenn Euphorie und Erregung abgeklungen sind, ohnedies Robert Musil mit seinem schönen Zitat aus dem »Mann ohne Eigenschaften« zu Ehren kommen wird : »Es gibt nichts, was so unsichtbar wäre wie Denkmäler.« Wäre Serbien eine Art nordkoreanische Enklave in Europa, könnte man auch tatsächlich zur Tagesordnung übergehen. Doch Serbien ist mehr und hat mit der Denkmalerrichtung auch sicherlich anderes im Sinn, als halt irgendeine Büste oder eine Ganzfigur aufzustellen und drum herum eine Kranzabwurfzone zu schaffen, die von Zeit zu Zeit für eine in Besuchs- oder Tagungsprogrammen vorgesehene Zeremonie genutzt werden kann. Die dabei zu sprechenden – vielleicht auch schon anhand einer Inschrift nachzulesenden – Worte werden sich zwar zum wenigsten mit dem beschäftigen, was wirklich war, sondern wahrscheinlich damit, was eine nationalistische Legende daraus gemacht hat. Und es wird wohl auch nicht erklärt werden, weshalb einem Mann wie Princip erst jetzt, einhundert Jahre »danach«, in Belgrad ein Denkmal errichtet wird. Vladimir Dedijer, Jurist, Partisan, zeitweiliger Vertrauter Titos, Historiker und Kämpfer für die Menschenrechte, bezeichnete ihn schlicht als »Meuchelmörder«. Heute meint man freilich, wieder einmal den Titel der Werfel Novelle »Nicht der Mörder, der Ermordete ist schuldig« verwenden zu sollen. Zumindest in Belgrad.
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Jahrzehntelang wurden die Puzzleteile von Princips Leben zusammengestellt, um jene schicksalhafte Begegnung biografisch unterfüttern zu können, weshalb ausgerechnet am 28. Juni 1914 an der so genannten Lateiner Brücke in Sarajevo der Erzherzog und sein Mörder aufeinandergetroffen sind. Oder haben sie aufeinandertreffen müssen ? Lassen wir einmal den Erzherzog-Thronfolger Franz Ferdinand beiseite, von dem Herr Emir Kusturica jüngst meinte, er wäre ein »Besatzer, Rassist und Antisemit« gewesen. Denn mit dieser Charakteristik soll doch wohl nur eine Legitimation für den zu Denkmalsehren vorgesehenen Gavrilo P. konstruiert werden. Die Princips erlebten, wie Bosnien und die Herzegowina 1878 von den europäischen Großmächten der Habsburgermonarchie zur Verwaltung übergeben wurden. Damit sollte das Osmanische Reich geschwächt und Österreich-Ungarn nicht nennenswert gestärkt werden. In der Folge blieb es nicht dabei, dass in den beiden Ländern Straßen und Schulen gebaut und Positives bewirkt wurde. Österreich regierte auch mit strenger Hand. Im Übrigen suchte es alles beim Alten zu belassen, um den Schock des Neubeginns zu mindern. Die Lebensverhältnisse besserten sich, und das nicht nur für eine dünne Oberschicht. 1908 wollte Österreich-Ungarn in Absprache mit Russland die getätigten Investitionen absichern und dekretierte den Anschluss Bosnien-Herzegowinas an die Habsburgermonarchie, einer Vielvölkerprovinz an ein Vielvölkerreich. Denn in Bosnien lebten Serben, Kroaten, Muslime, Juden und jene deutschen Österreicher, die als Verwaltungsbeamte, Offiziere oder Wirtschaftstreibende dorthin gekommen waren. Streit blieb nicht aus. Und es waren vor allem Serben, die das Überhandnehmen der anderen fürchteten. Sie zogen die Konsequenzen, wurden immer nationalistischer, bildeten Untergrundorganisationen und suchten verstärkt Verbindungen mit den außerhalb Bosniens lebenden Serben. Und sie wanderten aus. Gründe für eine regelrechte Emigrationsbewegung waren aber häufig viel banaler. Anfang des 20. Jahrhunderts emigrierten zunehmend auch Schüler, die wegen irgendwelcher Delikte oder anhaltenden Misserfolgs von ihren Lehranstalten verwiesen worden sind. In Österreich mochte man es einfach nicht, dass Professoren, die nicht ihre proserbische Haltung bekundeten, mit Tintenfässern beworfen wurden. Außerdem hatten Schüler kein Demonstrationsrecht – damals, im alten Österreich. In Serbien aber konnten sie weiter zur Schule gehen. Einer von ihnen war Gavrilo P. Er bezeichnete sich selbst als ruhig und sentimental, las viel und sprach wenig. Er kam nach Sarajevo, um eine Militärschule zu besuchen. Es fiel das Wort vom Offizier. Doch dann meinte ein Bekannter seines Vaters angeblich, man sollte den Knaben doch nicht »zum Henker des eigenen Volkes erziehen«. Eine Handelsschule schien die bessere Erziehungsanstalt. Gavrilo P. war kein besonderer Schüler. 1911 schloss er sich der »Mlada Bosna« ( Jung Bosnien)-Bewegung an. Kurz darauf wurde er von der Schule ausgeschlossen, da er an einer Demonstration gegen die Sarajevoer Behörden teilgenommen hatte. Er
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verlor sein Stipendium und schlug sich heimlich nach Belgrad durch. Dort kam er mittellos an. Dank einer ihm, dem Flüchtling aus dem Habsburgerreich, gewährten finanziellen Aushilfe schaffte er es, in eine 5. Gymnasialklasse zu kommen. Dann brach der erste Balkankrieg aus. Princip wollte sich freiwillig zur serbischen Armee melden, wurde aber als zu klein und zu schwach abgewiesen. Jetzt begann er davon zu träumen, dass er doch noch etwas Großes vollbringen würde. Und es kam der nächste Schub an intellektuellem, aber auch ideologischem Rüstzeug. Er wurde ein doktrinärer Atheist. Mazzini, Kropotkin, Bakunin wurden seine bevorzugten Schriftsteller ; Anarchismus und Selbstaufopferung gängige Lehre. Auch andere dachten und handelten wie er. Attentate wurden geplant und verübt. Der serbische Geheimdienstchef Dragutin Dimitrijević, genannt »Apis«, der in Belgrad seine antidemokratischen und antiparlamentarischen Pläne spann, zog die Fäden und fand immer wieder willige Gehilfen. Man traf sich im Hotel »Moskwa« in Belgrad und zerstreute sich wieder. Es galt zu warten. Am 2. Jänner 1914 beschloss der jetzt neunzehnjährige Princip, neuerlich nach Belgrad zu gehen. Zu dem Zeitpunkt sollen schon Gendarmen nach ihm gesucht haben. Er verwendete daher gefälschte Papiere. Offizieller Grund aber war der Besuch der 6. Klasse. In vielen Kaffeehäusern trafen sich radikale Nationalisten und vor allem Angehörige der Geheimorganisation Ujedinjenje ili Smrt – Vereinigung oder Tod, kurz »Schwarze Hand« genannt. Und im März wurde insofern alles anders, als man nicht nur einem vergleichsweise imaginären Ziel nachjagte, sondern einem ganz konkreten : Im März 1914 wurde in den bosnischen Zeitungen der Besuch Erzherzog Franz Ferdinands in Sarajevo angekündigt. Der Besuchstag blieb noch offen. Einer las es da, der andere dort. Und dann versprach man sich gegenseitig, an einem Attentat mitzuwirken. Ein neuer Bund wurde gegründet : Tod oder Leben. Major Vojislav Tankosić, ein altes Mitglied der Ujedinjenje ili Smrt, beschaffte in Kragujevac Browning-Pistolen und Handgranaten des sogenannten »Offizierstyps«. Dann begann der Schießunterricht. Ein bisschen Geld wurde auch gebraucht, Belgrader Kaufleute sollen es gespendet haben. Am 28. Mai verließen Princip und seine Freunde, Nedeljko Čabrinović und Trifko Grabež, Belgrad. Waffen und Munition nahmen sie mit, wohl auch Zyankalikapseln, die man vorsorglich bereitgestellt hatte, und die jeder im Fall seines Auffliegens zu schlucken versprach. Die Hintermänner wollten sich absichern. Dann fuhren die drei über Šabac an die serbische Grenze. Gelegentlich wurden noch weitere Schießübungen abgehalten. Die drei erreichten auf Umwegen Sarajevo. Princip nahm wie schon früher bei Danilo Ilić Quartier, dem örtlichen »mastermind«. Insgesamt beteiligten sich am Transport der Personen, Waffen und Sprengmittel 13 Personen, davon fünf Mitglieder der »Schwarzen Hand«, von der man in Österreich-Ungarn bis zuletzt offenbar nichts wusste. Am 28. Juni war es so weit. Die Schüsse von Sarajevo veränderten die Welt, und zwar nicht nur die kleine Welt des Gavrilo Princip. Einige mochten in ihm ein Instru-
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ment der Vorsehung zu erkennen gemeint haben. Andere einen Freiheitshelden. Fragte sich nur wofür. Er sah das wohl viel banaler. Er hatte zwei Leute erschossen, wobei ihm der Tod der Herzogin von Hohenberg angeblich leid tat. Über den Erzherzog vergoss er keine Träne. Und bei der gerichtlichen Untersuchung über seine Beweggründe und seine Hintermänner blieb er phantasielos und einsilbig. Einige Namen gaben aber er und seine Mitangeklagten, vor allem Ilić, preis. Erst nachher blühte die Phantasie. Da war nicht Serbien schuld, das Hass geschürt und Krieg kalkuliert hatte, sondern vor allem Franz Ferdinand selbst. Er hätte mit seinem Besuch am St. Veitstag die nationalen Gefühle der Serben beleidigt. Man hätte ihn zu wenig geschützt. Und einen »Tyrannen« umzubringen, sei jedenfalls gerechtfertigt gewesen. Er hatte zwar nichts gegen Serben gehabt, doch das wäre vielleicht noch gekommen. Und er wollte mit seiner Unerschrockenheit provozieren. Ganz selbstverständlich wurde auch Russland, Serbiens engster Verbündeter, als Drahtzieher genannt, vor allem der russische Botschafter in Belgrad, Graf Nikolaj Hartvig, der viel Geld nach Serbien und in die terroristischen Kreise hatte fließen lassen, sowie der Militärattaché, Oberst Artamanov. Dann kamen Frankreich und England ins Spiel, besonders die Freimaurer. Auch der ungarische Ministerpräsident, Graf Tisza, sollte nicht ungeschoren davonkommen. Da Franz Ferdinand kein Freund der Ungarn war, lag es wohl nahe, eine ungarische Verbindung zu mutmaßen. Ein Sohn Franz Ferdinands, Max Hohenberg, beschuldigte später den deutschen Nachrichtendienst, hinter dem Attentat gestanden zu sein. Schließlich sollte auch der österreichische Generalstab ins Spiel gebracht werden, wohl weil Franz Ferdinand gegen einen Krieg mit Serbien war. Und als Beweis wurden dann Hirtenberger Patronen hergezeigt. Das Pech war nur, dass sie nicht in die beim Attentat verwendeten Browning Pistolen passten. Die einfache Erklärung, dass da ein serbischer Nationalist mit anarchistischem Hintergrund von Leuten in Belgrad gesteuert worden war, die auf Krieg und den Zerfall Österreich-Ungarns spekulierten, reichte offenbar nicht aus. Geistesgestörtheit wurde Gavrilo P. nie nachgesagt. Wie denn auch ? Er war denkbar klaren Sinns gewesen, als er schoss. Schon 25 Minuten nach dem Attentat wurde er dem Untersuchungsrichter Leon Pfeffer vorgeführt. Nach Princip wurde der erste Attentäter, Čabrinović, verhört, der ein Handgranatenattentat versucht, dabei aber nur zwei Leute des Gefolges Franz Ferdinands verletzt hatte. Die Sarajevoer Staatsanwaltschaft legte über die beginnenden Untersuchungen sofort amtliche Niederschriften an. Gegen Čabrinović sollte wegen »versuchtem Meuchelmord« ermittelt werden ; gegen Princip wegen Meuchelmord. Pfeffer verhörte vier Tage. Es war aber die Polizei, die dann von Čabrinović und Ilić die Namen von Beteiligten und Hintermännern erfuhr. Bei der Gelegenheit soll auch der serbische Kronprinz Alexander genannt worden sein, doch das ließ sich nie belegen, denn schon bald verschwanden Akten, und die von Österreich-Ungarn ultimativ ge-
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forderte Beteiligung österreichischer Beamter an der Untersuchung der Hintergründe des Attentats auch auf serbischem Boden wurde von Belgrad abgelehnt und damit die Kriegserklärung Österreich-Ungarns in Kauf genommen. 1941 tätigte Leon Pfeffer gegenüber einer Zagreber Zeitung die Aussage, dass »das Attentat mit Wissen und der Beihilfe des damaligen serbischen Prinzen Alexander, des späteren jugoslawischen Königs vorbereitet wurde, was man vor [Ministerpräsident] Pašić beziehungsweise der Regierung geheim hielt.« Auch Pfeffer rätselte herum. Am 24. September 1914 wurden in Sarajevo 22 Personen angeklagt, eine »Tat ausgeführt zu haben, die auf gewaltsame Änderung des Umfanges der Gebiete und der Länder der Österreichisch-Ungarischen Monarchie, nämlich auf die Loslösung Bosniens und der Herzegowina von der Monarchie und deren Angliederung an das Königreich Serbien abzielte.« Die öffentliche Verhandlung dauerte vom 12. bis zum 23. Oktober. 80 Zeugen sollten geladen werden. Richter war Alois von Curinaldi, ein in Dalmatien geborener Obergerichtsrat, der nach dem Krieg Theologie studierte und Jesuitenpater wurde. Verteidiger Princips war Dr. Max Feldbauer. Die Verhandlungssprache war Serbokroatisch. Fünf Angeklagte wurden zum Tod verurteilt. (Kaiser Franz Joseph begnadigte zwei von ihnen.) Princip und Čabrinović erhielten 20 Jahre Kerkerhaft. Fünf Angeklagte wurden freigesprochen. Der Staatsanwalt berief wegen zu geringer Strafbemessung und argumentierte damit, dass Princip zum Zeitpunkt der Tat bereits über 20 Jahre alt gewesen sei. Es ging um Tage. Doch der Pfarrer von Grahovo bestätigt den späteren Geburtstermin. Gavrilo P. war also nur bedingt strafmündig. Princip, Čabrinović und Grabež wurden in die Militärstrafanstalt Theresienstadt gebracht. Einer nach dem anderen starb. Gavrilo P. litt an Knochentuberkulose und wurde schließlich in die gesperrte Abteilung des Garnisonsspitals 13 in Theresienstadt überstellt. Für ihn hatte es keine Bedeutung mehr, dass sich im Sommer 1917 die Haftbedingungen für die Sarajevo-Attentäter besserten. Sie mussten ihre Strafe nicht mehr in Einzelhaft abbüßen. Das k. u. k. Kriegsministerium ging noch weiter und beantragte, dass alle noch lebenden Häftlinge nach Zenica in Bosnien überstellt werden sollten. Der Antrag wurde genehmigt. Princip blieb zurück. Er war bereits vom Tod gezeichnet. Die enge Zelle, die Haft in Ketten und die schlechte Ernährung hatten das Ihre dazu beigetragen, die Knochentuberkulose unheilbar werden zu lassen. Der behandelnde Arzt, Dr. Levit, tat zwar alles, um eine Besserung zu erreichen, doch auch eine Diät mit Schinken, Wein und Semmeln konnte nicht mehr helfen. Princip wollte sich umbringen. Der Versuch misslang. Er zeigte sich dankbar für alles, was man ihm nunmehr Gutes tat und führte lange Gespräche mit seinen Ärzten. Bereut hat er letztlich nichts. Und die Dimensionen und Folgen seines Handelns waren ihm wohl zum wenigsten bewusst. Er war ein williges Werkzeug gewesen – mehr nicht. Am 28. April 1918 starb Princip und wurde in Theresienstadt beerdigt. Von ewiger Ruhe konnte aber keine Rede sein. 1920 wurde Princip exhumiert, nach Sarajevo
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gebracht und ebenso wie Čabrinović am Rand einer ins Zentrum der Stadt führenden Straße beigesetzt. 1939 wurden sie dort abermals exhumiert und ihre Relikte in einer Nacht und Nebel Aktion in die Aufbahrungskapelle des nahe gelegenen KoševoFriedhofs gebracht. Dort wurden sie irgendwo im Boden versenkt, ohne dass es kenntlich gemacht worden wäre. Doch der Todesschütze von der Lateiner-Brücke musste in der Folge immer dann herhalten, wenn Serbien versuchte, die Kontrolle über die eigene Geschichte wieder zu gewinnen : 1945, 1991, 2014 … »Alle Straßen münden in schwarze Verwesung« (Georg Trakl) – Österreich-Ungarns letzter Krieg Während der letzten Monate kam mir immer öfter der Gedanke, wie leicht sich in diesem Jahr 2014 doch Länder wie Belgien, England oder Frankreich tun, wenn sie sich dem zuwenden, das als Einhundertjahrgedenken des Kriegsbeginns 1914 begangen wird und ein Eigenleben gewonnen hat. Noch lassen sich die Ausstellungen, Publikationen, Symposien und Gedenkveranstaltungen nicht zählen. Und ich fürchte, dass sie sich nie zählen lassen werden. Von Frankreich hieß es, dass allein 2013 168 Bücher zum Weltkrieg erscheinen sollten. Heuer geht es weiter. In Frankreich gilt es denn auch, ein 2011 von der »Direktion für Gedenken, Kulturgut und Archive« erstelltes über 100 Seiten starkes Vorhabenspapier »abzudienen«, das Frankreich in den Mittelpunkt des Gedenkens stellt, und in dem von einem »nationalen Schulterschluss« die Rede ist und davon, dass es gelte, die »glühende Asche des Großen Kriegs einzusammeln« und die »Jahrhundertfeiern in majestätischer Pracht« ablaufen zu lassen. Da scheint den Autoren wohl etwas zu viel nationalistisches Pathos in die Texte eingeflossen zu sein. Die Front im Westen Europas wird als »Epizentrum des ersten weltweiten Konflikts der Menschheitsgeschichte« bezeichnet. Deutschland wird eingeladen mitzufeiern, ebenso wie Briten, Amerikaner, Australier, Neuseeländer, Chinesen und Japaner und alle jene, die mit ihren Freiwilligen oder Legionären auf der Seite der Alliierten gekämpft haben. Österreich kommt in dem Papier nicht vor, muss es auch nicht, ebenso wenig wie Ungarn, Kroatien, Slowenien, Mazedonien, Albanien, Griechenland, Bulgarien oder die Türkei, von Serbien, Rumänien oder Bosnien ganz zu schweigen. Dort weiß man denn auch nicht so recht, wie man sich verhalten soll, und scheint alles über sich ergehen zu lassen. Oder aber man setzt eigene Akzente wie etwa die Serben, indem sie Denkmäler für den Doppelmörder von Sarajevo, Gavrilo Princip, aufstellen wollen. In Österreich war und ist man in einer etwas eigenartigen Situation. Und man ist an die Geschichte der Pariser Vororteverträge von 1919/20 erinnert, als jenes Land, das sich noch um Staatsgebiet und Staatsvolk bemühen musste, als Nachfolgestaat bezeichnet wurde und gleichzeitig die Kriegsschuld auf sich zu nehmen hatte. Um
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Letzterem zu entgehen, zumindest aber einen Bruch mit der Vergangenheit deutlich zu machen, wurde sogar ein begrifflicher Neustart versucht, bei dem den Einsendern eines Ideenwettbewerbs zur Neubenennung Österreichs so schöne Wortprägungen einfielen wie : Markomannien, Südostdeutschland, Ostsass oder Teutheim, und auf der anderen Seite alles Gewesene bewahrt werden sollte. Die Suche nach der eigenen Identität war freilich nichts Neues, und wir konnten uns auch bis heute nicht ganz aus dieser Zwitterstellung befreien. Geschichte anzunehmen und mit ihr nicht nur akkusatorisch umzugehen, ist denn auch ein generelles Problem, und es ist ein aktuelles Problem. Wie denn – um wieder auf den Ersten Weltkrieg zu sprechen zu kommen – soll dieser Krieg gesehen werden ? Können wir ihn wie das in Frankreich geschieht, als Gedächtnisort identifizieren und dort Gemeinsamkeit, eben kollektives Gedächtnis festmachen ? Kann kollektives Gedächtnis überhaupt so weit zurückreichen ? Sehr vereinfachend gefragt und auch mit einem entsprechenden persönlichen Erfahrungshintergrund : Wie erklärt man den Kindern von Zuwanderern aus dem ehemaligen Jugoslawien, konkret Serben, Mazedoniern oder Montenegrinern, in einem österreichischen Geschichtsmuseum (falls es so etwas geben sollte) den Ersten Weltkrieg ? So wie das im Generalstabswerk »Österreich-Ungarns letzter Krieg« geschieht, kann es wohl nicht gehen. Aber auch nicht so, wie es das jugoslawische Narrativ vorsah, indem man die »Schüsse von Sarajevo« eine »Befreiungsaktion« nannte und den Todesschützen Gavrilo Princip und seine Kameraden zu mythischen Helden, ja, Vorläufern Titos und seiner Partisanen gemacht hat. Auch der Literaturnobelpreisträger von 1961, Ivo Andrić, schrieb noch von »unserer Sache von 1914«, die »schrecklich und herrlich und groß« war. Die Absicht der serbischen Regierung, am Kalemegdan, dem Festungsberg von Belgrad, ein Denkmal für den Doppelmörder von Sarajevo, Gavrilo Princip, aufzustellen, scheint in ebendieser Tradition zu stehen. Wir müssen aber gar nicht so weit gehen, und ich frage bewusst anders : Sprechen Tschechen, Polen aus dem ehemaligen Galizien oder der Westukraine, also Nachfahren von früheren Bewohnern der Habsburgermonarchie, sprechen Ungarn, Kroaten, italienische Südtiroler und nicht zuletzt wir Österreicher eine gemeinsame – historische – Sprache ? Die meisten fühlen sich doch einer anderen, jüngeren Tradition verpflichtet und werden wohl auch keinen gemeinsamen Gedächtnisort Erster Weltkrieg finden. Der kroatische Staatspräsident Josipović hat mir unlängst auf die Frage, ob es in Kroatien Kriegerdenkmäler für die im Ersten Weltkrieg gefallenen Kroaten gibt, geantwortet : Seines Wissens nicht. Und auf Nachfrage, warum das so sei, meinte er, dieser Krieg wäre durch so Vieles überlagert worden, das offenbar als denkmalwürdig angesehen worden ist, dass man dem Ersten Weltkrieg im öffentlichen Gedächtnis keine Beachtung mehr schenkt. Ganz befriedigen kann diese Antwort wohl nicht, und es mochte Herrn Josipović wohl selbst die Fragwürdigkeit dieser Erklärung aufgefallen sein, als sein slowenischer Amtskollege Pahor prompt auf die Denkmäler in Slowe-
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nien hingewiesen hat. Beide Staatsoberhäupter verfielen freilich gleich anschließend in Reminiszenzen und erzählten von ihren Großvätern, die in diesem Krieg Soldaten gewesen sind. K.u.k. Soldaten, versteht sich. Lassen Sie mich weiter einige Fragen nach den Gedächtnisorten des Ersten Weltkriegs stellen und dabei Teilaspekte eines plötzlich so ungeheuer präsenten und doch so fernen Geschehens erwähnen. Da gilt es zunächst wohl nach Sarajevo zu sehen. An der Ecke der einstmals Franz-Joseph-Straße und der Obala kulina bana ist das Attentatsmuseum. In jugoslawischer Zeit in aller Dürftigkeit eingerichtet, eher um der Form Genüge zu tun und nicht, um etwas hervorzuheben. Das Jugoslawien Titos sah offenbar keine besondere Notwendigkeit, seine Existenz auf Princip und die Attentäter des Vidovdan 1914 zu beziehen. In den neunziger Jahren wurde das Gebäude des Mlada Bosna Museums während der Belagerung von Sarajevo beschädigt, nicht zerstört, und vor einigen Jahren dank finanzieller Mittel aus den USA als ein Museum für den Zeitraum von der Okkupation Bosniens und der Herzegowina 1878 bis 1918 wieder instandgesetzt. Im Inneren findet sich eine sehr österreichfreundliche Zusammenstellung. Keine Diskussion um Vorgeschichte und Gründe für das Attentat. Keine Analyse der Persönlichkeitsstrukturen der Attentäter oder der Ermordeten. Alles in allem ein eher bescheidender, touristisch nutzbar gemachter Ort. Die Jahrzehnte hindurch vor dem Haus angebrachten Fußabdrücke des Gavrilo Princip wurden in den Vorraum des Museums verlegt. Princip hätte wohl nie in diese Abdrücke gepasst. Die Schuhe eines Helden waren ihm zu groß ! Und es ist erst jüngst das Heldenhafte in der Person Princips serbischerseits hervorgekehrt und die Absicht geäußert worden, am Belgrader Festungsberg und im serbischen Teil Sarajevos Denkmäler für den Doppelmörder zu errichten. Čabrinović, der erste Attentäter und Princip, beide 1914 noch nicht strafmündig, wurden zu 20 Jahren Festungshaft verurteilt und starben noch während des Kriegs. Princip in einer Zelle in der Kleinen Festung Theresienstadt, bei deren Betreten man natürlich zunächst nur das KZ sieht und erst bei einem Rundgang auf den Verschlag des elendiglich an Tbc gestorbenen Doppelmörders von Sarajevo stößt. Princip und Čabrinović wurden 1921 exhumiert und nach Sarajevo gebracht, wo sie am Rand einer ins Zentrum der Stadt führenden Straße deutlich sichtbare Gräber erhielten. 1939 jedoch wurden die Särge der Attentäter von einer willfährigen Regierung des Königreichs Jugoslawien ein weiteres Mal exhumiert und in einer nahe gelegenen Kapelle des Heiligen Michael-Friedhofs vergraben. Es lässt sich wohl kein anderes Wort für den Vorgang der Einbringung von zwei Särgen in den Boden der Kapelle und das anschließende Zubetonieren finden, denn Gavrilo Princip liegt irgendwo. Seine und Čabrinovićs Grablagen sind nicht kenntlich, und die Kapelle dient lediglich als Aufbahrungsraum. Außen angebracht sind die Namen von elf Personen, die nach dem Doppelmord von Sarajevo hingerichtet wurden oder im Gefängnis gestorben sind, aber
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sie sind dort nicht begraben. Doch ein erstes Mal ist man an Georg Trakls »Grodek« Gedicht gemahnt : »Alle Straßen münden in schwarze Verwesung«. Als Gedächtnisort wäre wohl auch die Kaiser-Villa in Bad Ischl zu nennen. Dort erreichte den Kaiser etwa zwei Stunden nach dem Attentat die Nachricht vom Tod des Thronfolgers. Franz Joseph kehrte – noch immer von der Lungenentzündung geschwächt, die ihn im Mai und Juni 1914 an den Rand des Todes gebracht hatte – am 29. Juni nach Wien zurück, empfing seine engsten Berater und die wichtigsten Entscheidungsträger in Schönbrunn, nahm 20 Minuten an der sechsten Einsegnung des Thronfolgerpaars teil und befahl anschließend die Angehörigen des Herrscherhauses nach Schönbrunn zum Familiendiner. Es war der 5. Juli. Was zu sagen war, war gesagt. Franz Joseph hatte klar gemacht, dass er nicht mehr an die Möglichkeit eines friedlichen Nebeneinanders von Serben und Österreichern glaubte, sprach vom Krieg und wartete die entsprechenden Schritte ab. Als der Gemeinsame Ministerrat am 7. Juli über die weitere Vorgehensweise beriet, saß Franz Joseph wieder im Hofzug und fuhr nach Bad Ischl zurück. Dass er vorher noch seinen Vetter Erzherzog Friedrich und den Generalstabschef Franz Conrad von Hötzendorf in Audienz empfangen hatte, war wohl ein untrügliches Zeichen für den Entschluss zum Krieg gewesen, ebenso wie der Umstand, dass sich der Kaiser einem Fürstentreffen in Wien widersetzt und Kaiser Wilhelm regelrecht ausgeladen hatte, als der an den Begräbnisfeierlichkeiten für Franz Ferdinand teilnehmen wollte. In Ischl wurde Franz Joseph über die weitere Entwicklung, über den sogenannten Blankoscheck, die befristete Demarche an Serbien, die in ultimativem Ton die Mitwirkung österreichischer Beamter an der Untersuchung der Hintergründe des Attentats forderte und der serbischen Regierung für die Antwort 48 Stunden einräumte, informiert. Serbien hätte zwar einlenken können, doch die Aufdeckung der Hintergründe des Attentats wäre wohl für einen Teil der politischen Elite des Landes so kompromittierend geworden, dass sich das ausschloss. Russland hatte Serbien einen Blankoscheck gegeben. Also wurde ausweichend geantwortet, und das Verhängnis nahm seinen Lauf. Österreich-Ungarn konstruierte einen Zwischenfall bei Temes Kubin (heute Kovin, gegenüber Smederevo), dem Kaiser wurde die Kriegserklärung vorgelegt und er unterfertigte sie. Am 29. Juli eröffnete die k. u. k. Kriegsmarine mit drei Donaumonitoren nahe der Großen Kriegsinsel bei Semlin das Feuer auf Belgrad. Es waren 12 mehr oder weniger wirkungslos krepierende Granaten. 17 Millionen Tote sollten folgen. Auch Wasserstraßen münden in schwarze Verwesung. Die nächsten Gedächtnisorte lassen sich nur schwer lokalisieren. Es geht bei ihnen um die Euphorie, die wohl eines der unerklärlichsten Phänomene im Zusammenhang mit der Entfesselung des Weltkriegs war. Wie konnte es dazu kommen, dass Intellektuelle, Dichter, Komponisten, Philosophen und Mediziner sich so gleichmäßig zustim-
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mend bis regelrecht enthusiastisch über die Tatsache äußerten, dass nun Krieg war. Die Beispiele sind zahllos. Sicherlich hielt dieser Sturm der Gefühle nicht an, doch während der ersten Wochen wurden auch jene mitgerissen, die zunächst noch gezögert hatten. In Wien war es anders als in Prag oder Krakau, doch wie anders ist nicht recht klar. Jan Galandauer, der sich mit der Kriegsbegeisterung in Prag beschäftigt hat, konnte zwar herausarbeiten, wie sehr die deutschen Zeitungen die Kriegsbegeisterung genährt haben und wie bis zum 9. August Tag für Tag patriotische Umzüge stattfanden, solange bis sie der Statthalter Franz Fürst Thun untersagte, damit es nicht womöglich zu Störungen käme, wie er dann argumentierte. Doch es gab in dieser Phase von Kriegserklärung und Mobilmachung keine Beispiele für unpatriotisches Verhalten und regelrechte Widerständlichkeit. Wohl aber formulierten Intellektuelle und Kulturschaffende oft als erste zentrale Aussagen über den Sinn dieses Kriegs und seine Ziele. Stefan Zweig schrieb an das »Hochlöbliche Ministerium des Inneren«, um sich abfällig über die Kriegsproklamation »An Meine Völker« zu äußern. Sie sei in einem Stil abgefasst, der beispielsweise schon in WienFloridsdorf nicht mehr verstanden würde. Es kämen darin Fremdwörter vor, die von den Vorstadtbewohnern der Reichshaupt- und Residenzstadt nicht verstanden würden. Um diesem Übelstand abzuhelfen, dass nämlich kriegswichtige Proklamationen sprachlich unzulänglich abgefasst würden, bot Zweig seine Dienste auf Kriegsdauer unentgeltlich an. Seine Hilfe wurde zweimal ohne Angabe von Gründen zurückgewiesen. Anton Wildgans schrieb sein Vae victis. Ein »Weihelied den verbündeten Heeren« : »Nun, alle Jungen, hebet an zu preisen ! Der Tag der großen Rechenschaft bricht an. Da wir mit heißem Blut und kaltem Eisen Ein wundersames Menschenwerk getan. Dem Lügengeist, der lang genug vergiftet, Wird schauerlicher Untergang gestiftet, Und heilige Adler stürmen himmelan«.
Hugo von Hofmannsthal suchte die Atmosphäre des Kriegsbeginns in einem Brief mit wenigen Worten zu schildern : »Glauben Sie mir und sagen es allen unsern Freunden, dass wir alle hier, bis zum letzten Holzknecht, in diese Sache und in alles, was daraus werden möge, mit einer Entschlossenheit, ja einer Freude hineingehen, wie ich sie nie erlebt habe, ja nie für möglich gehalten hätte.« Sigmund Freud notierte : »Ich fühle mich vielleicht zum ersten Mal seit 30 Jahren als Österreicher und möchte es noch einmal mit diesem wenig hoffnungsvollen Reich versuchen … Die Stimmung ist überall eine ausgezeichnete. Das Befreiende der mutigen Tat, der sichere Rückhalt an Deutschland tut auch viel dazu.«
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Hermann Bahr beschwor die Wiedergeburt des deutschen Wesens : »Wo war es so lange geblieben ? Über Nacht stand es auf. Und steht so stark da, dass nichts daneben mehr Platz hat auf der deutschen Erde. Jeder andere Gedanke, jedes andere Gefühl ist weg. Es müssen Gespenster gewesen sein, was wir sonst noch alles dachten und fühlten ; es hat getagt ; sie sind verscheucht ; es genügt uns auch ganz, wir sehen jetzt, dass man damit völlig auskommt, fürs Leben und fürs Sterben …« Franz Lehár komponierte freudig erregt, und vertonte u. a. das Reiterlied von Hugo Zuckermann. Arnold Schönberg, Emmerich Kalman, Edmund Eysler (»Der Mensch fängt beim Soldaten an«), Robert Stolz (»Adieu, mein kleiner Gardeoffizier«), Erich Wolfgang Korngold und Wilhelm Kienzl fassten ihre Erregung in Töne, und die bildnerisch-künstlerische Avantgarde bewarb sich beim Kriegspressequartier, um zu zeichnen und zu malen. Ludwig Hesshaimer, einer von ihnen, notierte : »Die Menschen waren von einem Schnelligkeitswahn erfasst. Alles musste reisen … Die Bahnstationen waren wimmelnde Ameisenhaufen. Abschiednehmen, Schluchzen, Winken … Auf dem Bahnhof in Budapest wurde »Die Wacht am Rhein« gesungen. Restaurants wurden gestürmt. Es gab nichts mehr zu essen. Ich fuhr im Gang stehend durch ganz Ungarn.« Nun könnte man etwas genauer auf die Bahnhöfe schauen, die Einwaggonierungsstationen, die dazu dienten, rund zwei Millionen k. u. k. Soldaten an die Fronten zu transportieren, zunächst an die serbische und ab dem 6. August an die Front in Galizien. Wir kennen wohl viele Fotos, die das Abschiednehmen zeigen, Soldaten, die aus Güterwaggons schauen, meist fröhlich wirken und damit nicht zuletzt auch ihren Angehörigen das Gefühl der Bangigkeit nehmen wollten. Dass die Waggons die Aufschrift trugen : Für »40 Mann oder 6 Pferde« wurde gelegentlich missinterpretiert. Es handelte sich nicht um Viehtransporte, denn mit ebensolchen Waggons, die im Inneren Sitzbänke und meist einen Ofen hatten, waren Truppen schon bei unzähligen Gelegenheiten zu Manövern transportiert worden. Der Blick auf die Bahnhöfe könnte freilich auch dazu dienen, das zeitliche Ende der Euphorie über die Entfesselung des Kriegs zu markieren. Denn etliche, die noch Ende Juli gejubelt hatten, sahen sich jäh in eine Realität zurückgeholt, die sie ebenso wenig gekannt hatten, wie ihnen Krieg mehr als ein Wort gewesen war. Sigmund Freuds zwei Söhne wurden eingezogen ; er zeigte keine Begeisterung mehr. Ein Jahr später schrieb er seinen berühmten Essay über die »Vergänglichkeit«. Stefan Zweig haderte mit der Militärverwaltung, die seine Hilfe abgelehnt hatte, emigrierte in die Schweiz und gab sich pazifistisch. Auf den Bahnhöfen aber mischten sich Tränen in die Euphorie. Die Militärkapellen spielten zwar unentwegt die bekanntesten Regimentsmärsche, den Prinz Eugen- und den Radetzkymarsch. Dann kam das »Gott erhalte«. Und schließlich dampften die Lokomotiven ab. »Die Station glich einem Menschenmeer beim Zug gegen Klagenfurt. Kein Auge blieb trocken … «, schrieb der Gemeine Franz Arneitz aus dem Kärntner Rosental. »Umgeben
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von meinen Lieben und Kameraden verlasse ich mein Vaterhaus. Insbesondere schwer fällt mir der Abschied von meinem greisen Vater und meiner lieben Mutter. Der Zug kommt, ein Blick noch gilt meinem Geburtsdörflein Unterferlach – vielleicht ist es der letzte – und der Zug fährt gegen Rosenbach ab.« Patriotismus ersetzte die Euphorie. Doch auch die Schienenstraßen mündeten in schwarze Verwesung. Noch mehr zur Ernüchterung trugen aber wohl jene Maßnahmen bei, die zwar in einem Orientierungsbehelf für Ausnahmeverfügungen gestanden, jedoch geheim gewesen waren und eine andere Wirklichkeit schufen. Bei der Anwendung der Ausnahmeverfügungen zeigte dieses Österreich denn auch nichts von seiner angeblichen Gemütlichkeit, sondern handelte mit einer Konsequenz wie kein anderer Kriegsführender. In den Ländern der Habsburgermonarchie wurden die weitgehenden repressiven Maßnahmen schlagartig, anderswo sukzessiv – wenn überhaupt – eingeführt. Die Begründung dafür lag hauptsächlich in dem Misstrauen, ob die so unterschiedlich empfindenden und unterschiedliche Interessen verfolgenden Völker des Reichs die Umstellung auf einen Krieg einfach hinnehmen würden. Am 25. Juli erging eine Verordnung des Gesamtministeriums, mit der die allgemeinen Rechte der Staatsbürger zeitweilig außer Kraft gesetzt wurden. Damit waren Grundrechte wie freie Meinungsäußerung, Presse-, Vereins- und Versammlungsfreiheit, Briefgeheimnis und Hausrecht suspendiert. Eine kaiserliche Verordnung stellte die Störung des öffentlichen Dienstes oder eines kriegswichtigen Betriebs und die Verletzung von Lieferverpflichtungen unter Strafandrohung. In allen von der Mobilmachung betroffenen Militärterritorialbezirken wurde die Aburteilung einer Reihe von politischen Delikten Militärgerichten übertragen. Dazu gehörten Hochverrat, Majestätsbeleidigung, Beleidigung von Mitgliedern des kaiserlichen Hauses, Störung der öffentlichen Ruhe, Aufreizung, Spionage aber auch Straf taten wie die Beschädigung von kriegswichtigen Anlagen. Die Umstellung auf den Krieg zeitigte aber auch etliche andere Erscheinungsformen menschlicher Existenzen, deren Bündelung eine gefährliche Mischung ergab. Sorge, Argwohn, Verdacht, Neid, Missgunst, Denunziation gingen eine Symbiose ein und hatten Folgen, die vielleicht zeitlos sein mögen, ebenso wie die menschliche Gemeinheit, die sehr wohl als historische Größe zu beschreiben wäre, aber immer nachhaltige Schäden verursacht. Da wurde munter drauf los geargwöhnt, verdächtigt und denunziert und nahm den Leidtragenden den Glauben an die Mitmenschen und den Staat. Was war wohl von jemandem zu erwarten, der bloß, weil er beim Abspielen der »Wacht am Rhein« zu kurz aufgestanden war, und dann wegen Majestätsbeleidigung belangt wurde ? Der Mann wurde zu einer Geldstrafe verurteilt und verlor seine Stellung. Einem Tiroler Bauern, der seinen Hut bei der Kaiserhymne nicht abgenommen hatte, wurde wenigstens nur der Hut vom Kopf geschlagen. Doch es blieb bei weitem nicht bei den harmlosen Fällen, und die meisten hatten einen nationalistischen Hintergrund. Nach dem Wiederzusammentreten des österreichischen Reichsrats, Ende Mai
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1917, wurden ungezählte Fälle zum Gegenstand einer bitteren Abrechnung gemacht, an der sich Ruthenen, Tschechen, Slowenen und Italiener beteiligten. Der Ort, wo das geschehen ist, der Reichsratssitzungssaal des Hauses am Ring, hat denn auch jegliche Qualität als Gedächtnisort, denn dort war das Forum, in dem sich eineinhalb Jahre hindurch die verbale Auflösung der Habsburgermonarchie vollzog. Bei dieser Abrechnung ging es aber um weit gravierendere Vorbringungen, als jene, dass ein Bibliothekar sich gegenüber der »Wacht am Rhein« unehrbietig gezeigt hätte. Da ging es um das Schicksal von Millionen Menschen, die man zu Fremden in der Heimat gemacht hat. Der Truppenaufmarsch ging 1914 Hand in Hand damit, dass die Aufmarschräume frei gemacht wurden. Die dort Lebenden waren »zum Zwecke der Kriegführung aus ihren Aufenthaltsorten zwangsweise« zu entfernen. Das Freimachen halber Kronländer hatte den Exodus Hunderttausender zur Folge. Wenn sie über genügend Barschaften verfügten, konnten sie sich zwar nicht den Aufenthaltsort frei wählen, sich aber doch ein Quartier und vielleicht auch Arbeit suchen. Immer vorausgesetzt ihr Zuzug wurde nicht verhindert, so wie das die Wiener Rechtsanwälte im Fall ihrer jüdischen Berufskollegen aus Galizien taten. Man scheute die Konkurrenz. Für die Masse der Flüchtlinge galt jedoch anderes : Sie wurden in Lager eingewiesen, kamen in Baracken, die meist von Kriegsgefangenen errichtet worden waren und bald statt der vorgesehenen 100 Personen doppelt so viele aufnehmen mussten. Ein Bettgestell mit einem Strohsack, ein Nagel in einem Pfosten und die wenigen Habseligkeiten, die man unter den Betten verstauen konnte, waren für die Flüchtlinge während der nächsten Monate, manchmal für Jahre Quartier (von zu Hause konnte man wohl nicht sprechen), und wie sich nachträglich oftmals herausstellte, das Einzige, das an Eigentum übrig blieb. Fügen wir den österreichischen Gedächtnisorten also einige wenige hinzu : In Braunau am Inn war ein Lager für Südtiroler italienischer Nationalität, in Bruck a.d. Leitha hausten Slowenen, in Enzersorf im Thale in Niederösterreich Rumänen und Ruthenen aus der Bukowina, in Reisenberg Polen, in Wolfsberg Ruthenen. Dutzende Orter wären aufzuzählen, und wir würden erst eine vage Vorstellung davon bekommen, wo überall dieses menschliche Elend zu Hause war. Dabei ging es den Flüchtlingen noch vergleichsweise gut. Gemessen an den Internierten. 6.000 waren es ungefähr. Sie wurden in Oberhollabrunn, Linz-Katzenau und in Graz Thalerhof untergebracht. Ruthenen, Italiener, Belgier, Franzosen und Briten. Um letztere kümmerten sich internationale Organisationen und die jeweiligen Heimatländer. Die österreichischen Internierten waren von der Fürsorge und vom Wohlwollen des k. u. k. Kriegsministeriums abhängig. Sie waren ja in der Heimat. Einer Heimat, die sie nicht mochte. Sie wurden »vorsichtshalber« verschickt, wie der Generaladjutant des Armeeoberkommandanten, Graf Herbert Herberstein kopfschüttelnd notierte. »Darunter waren auch bessere Leute, Frauen und Mädchen und kleine Kinder … Ich möchte nur wissen, wie man sich das vorstellt, was geschehen wird, wenn wir Galizien je wieder zurückbe-
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kommen … Man kann sich doch nicht einbilden, dass die so Behandelten wieder gute und treue Untertanen werden.« Flüchtlinge und Internierte wurden in Mähren, vor allem aber in Nieder- und Oberösterreich sowie in der Steiermark untergebracht. Da sie aus den Kronländern und Provinzen der österreichischen Reichshälfte stammten, weigerte sich Ungarn sie aufzunehmen. Dabei kam es zu schrecklichen Szenen, beispielsweise Anfang Oktober 1914 in Kaschau (Košice). Als ein Flüchtlingstransport ankam, stürmte die Bevölkerung zum Bahnhof, um die Auswaggonierung der Flüchtlinge zu verhindern. Jene Flüchtlinge, die meist ahnungslos nach Ungarn kamen und hin und her verschoben wurden, waren buchstäblich Rechtlose. Man wollte keine Flüchtlinge, und schon überhaupt keine jüdischen. Kaum in den Lagern in Österreich angekommen, starben die Alten und Schwachen an Entkräftung. Dann breiteten sich Lagerseuchen aus. Typhus und Ruhr ließen die Menschen massenhaft sterben. Und wieder lässt sich Trakl zitieren : »Alle Straßen münden in schwarze Verwesung«. Mit der Anwendung der kaiserlichen Verordnung über die innenpolitischen Befugnisse des Armeeoberkommandos in den nordöstlichen Teilen Mährens, der Bukowina und Galiziens, sowie durch das Balkanoberkommando in der Batschka, den südlichen Komitaten Ungarns, in Kroatien, Bosnien, der Herzegowina und Dalmatien wurde dann die Armee für die Anwendung der Ausnahmegesetze zuständig und tat alles, um ihnen Geltung zu verschaffen. Es wurden Geiseln ausgehoben, Geldstrafen und Kautionen verhängt, Häuser zerstört und schließlich unter Berufung auf das »Kriegsnotwehrrecht« standrechtliche Erschießungen vorgenommen. Die Furcht vor Spionen war allgegenwärtig, und auch ein so abgebrühter Nachrichtenmann wie Maximilian Ronge meinte im Nachhinein, dass die Armee keine Gnade kannte, rücksichtslos vorging und mehr oder weniger die ganze galizische Bevölkerung verdächtigte. Keine Gnade kannte man allerdings auch, wenn man Leichenfledderer auf frischer Tat ertappte ; sie wurden umgebracht. Galizien machte den anderen Kriegsgebieten sehr wohl den Rang streitig, der am nachhaltigsten von Gewalt verseuchte Boden zu sein. Zu der Trostlosigkeit eines im Regen versinkenden Landes und eines Millionenheers, das seit der zweiten Augusthälfte 1914 auf dem Rückzug war, kamen die verwüsteten und verbrannten Orte. Grodek in Galizien war einer von ihnen. Die nach Westen zurückgehenden k. u. k. Truppen sahen auf dem Marktplatz zahlreiche Gehenkte baumeln, die zum abschreckenden Beispiel als Spione hingerichtet worden waren. Der Bürgermeister war darunter. Von Georg Trakl erfuhr sein Innsbrucker Freund Ludwig von Ficker, wie der Anblick der Gehenkten auf den zunächst kriegsbegeisterten Lyriker wirkte : Wenn er ins Freie trat, hatte er ein Bild des Grauens vor sich. »Da standen nämlich auf dem Platz, der wirr belebt und dann wieder wie ausgekehrt schien, Bäume. Eine Gruppe unheimlich regungslos beisammenstehender Bäume, an deren jedem ein Gehenkter baumelte. Ruthenen, justifizierte Ortsansässige.«
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Feldgerichtsverfahren kannten keine aufschiebenden Rechtsmittel. Und sie konnten auch gegenüber Zivilisten angewendet werden. Im frontnahen Bereich hatten die meisten Offiziere – jedenfalls ab der Funktion von Unterabteilungskommandanten –, aber auch Gendarmeriewachtmeister das Recht, ihnen Verdächtige ohne Gerichtsverfahren hinrichten zu lassen. Willkür war an der Tagesordnung. Und die Bilder glichen sich, ob das nun Novy Sącz oder eine Straße im Friaul war, ob 1914 oder 1918. Tausende büßten für etwas, das sie oft nicht einmal begriffen. Franz Arneitz, der schon erwähnte Soldat aus Unterferlach, beschrieb eine Szene in einem winzigen galizischen Ort, Cindra-Nuowa : »Heute, am 4. November, kam der Befehl, dass die Zivilbevölkerung binnen zwölf Stunden den Ort … zu verlassen hat. Alles rennt durcheinander, ein jeder will das Seine fortbringen … Traurig ist es anzusehen, wie die Leute schwer ihre heimatlichen Schollen verlassen und wie sie so dahin müssen und nicht wissen wohin … Die zwölf Stunden sind vorbei und unsere Patrollen {sic !] durchstreifen das Dorf, und wo sie einen Zivilmenschen antreffen, wird er als Spion verhaftet und ein jeder wird ohne irgend befragt zu werden aufgehängt … Natürlich findet man noch viele Leute im Dorfe, denn einer vergaß das, der andere jenes, andere kamen wieder ihre Angehörigen suchen, welche nicht zurückkamen und mussten deshalb denselben Galgentod erleiden.« Am 16. März 1915 erfolgte die Verlautbarung des Armeeoberkommandos, wonach Deserteure gemäß § 444 Abs. 2 der Militärstrafprozessordnung, wenn sie für schuldig befunden wurden, zum Tod zu verurteilen waren. Die Todesstrafe für Desertion wurde offensichtlich angedroht, um der Fahnenflucht entgegenwirken. Doch obwohl es keine Armee in diesem Krieg gab, bei der es so viele Desertionsfälle gab wie in der österreichisch-ungarischen – mehrere Hunderttausend – wurden im Verlauf des gesamten Kriegs »nur« 345 Soldaten wegen Desertion standrechtlich verurteilt. Da man den aufgegriffenen Fahnenflüchtigen meist Strafaufschub gewährte, um sie wieder an die Front zu bekommen, begann ein regelrechter Kreislauf. Haft schreckte überhaupt nicht ab, da man lieber in Haft ging und auf Amnestie hoffte, als sich töten zu lassen. Und das Töten wollte kein Ende nehmen. Timothy Snyder hat jene Region, die Otto Forst de Battaglia so trefflich unpräzise Zwischeneuropa genannt hat, als »Bloodlands« bezeichnet. Es sind jene blutgetränkten Böden, die irgendwo zwischen Lemberg, Czernowitz, Breslau und den Weiten von Pruth, Njemen und Dnjestr liegen. Schlachtfelder von Krieg, Bürgerkrieg, Vernichtung, Mord, Hass, Gemeinheit, aber auch schier unerschöpflichen Beispielen für Nächstenliebe. Es ist schwer zu sagen, ob sie sich das Epitheton »Bloodlands« nicht schon weit früher erworben haben als irgendwann einmal zwischen den Weltkriegen und im Zeichen des Grauens ab 1939. Ich plädiere denn auch dafür, die Zeit davor einzubeziehen. Man muss freilich die Konturen verschieben. Die »Bloodlands« der Jahre ab 1914 reichen denn auch bis Krakau und in die Karpaten. Vergegenwärtigen wir uns nur ganz kurz anhand der
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Schilderung eines wohl nicht so schnell zu erschütternden Generalstabsoffiziers (Theodor Ritter von Zeynek), welche Eindrücke das Schlachtfeld von Limanowa südöstlich von Krakau bei ihm hinterließ : »Ein Gewirr von Schützengräben in verschiedensten Richtungen, alle angefüllt mit Patronenhülsen, zerschlagenen Gewehren, verbogenen Bajonetten, zusammengeschossenen Bretterdecken, faulem Stroh, Grundwasser, Speiseresten. Oft lagen noch Gebetbücher da, österreichische Kappen, preußische Pickelhauben, russische Mützen, dann kamen ganze Netze von neu angelegten, nicht benützten Schützengräben, niedergebrannte Häuser, in Trümmer geschossene Dörfer, umgeworfene Telegrafenleitungen, demolierte Brücken, dann zogen Gruppen von klagenden, weinenden Bauern und Bäuerinnen mit ihren Kindern vorbei, die nicht wussten, wohin sie sollten, dann lag da ein Haufen von toten Soldaten, dann sah man lange Reihen von frisch aufgeworfenen Gräbern, viele Pferdekadaver. In den Dörfern furchtbare Bilder der Verwüstung, die Bevölkerung großenteils abtransportiert oder geflohen, die Felder zerstampft und am Himmel massenhafte Züge kreischender, beutefroher Raben.« Ich würde gerne auch anderen Schauplätzen des Großen Kriegs und anderen Regionen eine vergleichsweise Bezeichnung wie Bloodlands geben. Denken wir nur an die Kolubara und den Ljig in Serbien, an den Čakorpass in Montenegro und vor allem auch an Isonzo und Dolomiten. Während es aber im sogenannten Osten, aber auch in Serbien und Montenegro nur wenige Friedhöfe und so gut wie keine Denkmäler gibt, ist der Südwesten damit gespickt. Dort reihen sich die stummen Zeugen eines einstigen Geschehens aneinander, eines Geschehens, das sich wohl auch dann nicht erschließt, wenn man die Totenburgen betritt und Hinweise auf den Monte San Michele, Doberdó, Monte Santo oder die Enge von Šaga liest. Wer weiß denn auch schon, wenn er südlich von Bovec/Flitsch (Plezzo, wie es die Italiener nennen) durch die Naklo Schlucht zum Isonzo, der Soča geht und eine Kaverne sieht – oder meistens auch nicht sieht – dass der Hohlweg am Beginn der 12. Isonzoschlacht am 24. Oktober 1917 so mit Giftgaswolken gefüllt war, dass es dort keine atembare Luft mehr gegeben hat und alle Menschen erstickt sind. Am Col di Lana ist der Sprengtrichter der Gipfelsprengung vom 17. April 1916 noch deutlich sichtbar. Der Pasubio trägt ähnliche Spuren. Am Fuß des Ortigara gibt es eine kleine Kapelle, in die von den Bergwanderern jene Knöchelchen gebracht werden, die noch immer im Geröll der Abhänge zu finden sind. Wir sollten denn auch – wie ich meine – nicht hergehen, und das militärische Geschehen des »österreichischen« Kriegs aus dem kollektiven Gedächtnis ausblenden, denn jene riesigen Gebiete, in denen die Schlachten von ehedem geschlagen worden sind, bergen weit mehr Erinnerung als die Denkmäler und die auf ihnen verewigten Namen, die mit der wachsenden zeitlichen Distanz und der schwindenden Ewigkeit nicht mehr wahrgenommen werden. Sie könnten freilich zumindest noch Wehmut wecken, eine Wehmut, wie sie die Angehörigen und wohl auch die Kameraden und Freunde einstmals verspürt haben. Lesen wir noch einmal in den Aufzeichnungen des Franz Arneitz.
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Am 26. November 1914, während eines Gefechts an der Tokarnia, schrie sein Kamerad aus Moosburg »Franz ! Franz ! Komm hilf mir, ich bin verwundet !« Arneitz erreichte ihn. Der Verwundete bat : »Franz ! Rette mich, erschieß mich ! Aber Lorenz, sagte ich, das kann ich nicht tun, obwohl ich weiß, dass es für Dich eine Erlösung wäre.« In der Dämmerung versuchte ihn dann Franz zu bergen. »Ich dachte er lebt nicht mehr, da er vor zirka einer Stunde zu rufen aufhörte. Doch als ich ihn anfasste, rührte er sich noch und fing wieder an zu bitten, ihn durch eine Kugel zu erlösen, doch ich war still, hob ihn aus seiner Deckung und – o Gott – mir blieb das Blut stocken – die Füße blieben in der Deckung, beide waren unter dem Knie abgetrennt.« Dann kamen die Sanitäter. Rund 180.000 Menschen aus dem Gebiet des heutigen Österreich fielen in diesem Krieg, über 700.000 österreichisch-ungarische Soldaten insgesamt, sei es auf den Schlachtfeldern oder in der Kriegsgefangenschaft. Rund drei Mal so viele überlebten mit dauerhaften Schäden. Dazu kamen die Toten von Flucht und Vertreibung, die Verhungerten, die Seuchentoten und alle anderen, die – so oder so – Kriegsopfer wurden. Sie hatten sicherlich Anspruch auf einen Platz im kollektiven Gedächtnis, doch er wurde ihnen streitig gemacht. Die Totenklage, die sich allein in Österreich auf rund 5000 Kriegerdenkmälern wiederfindet, nannte nur eine, die größte Gruppe, nämlich die der Soldaten. Und alle anderen ? Die Flüchtlinge und Internierten, die Verhungerten, die Seuchentoten, die Gehenkten, Niedergemachten, Erschossenen, die Geworfenen, die in eine Zeit hineingeboren waren, die sie nicht im Mindesten über ihr Schicksal entscheiden ließ, jene große Zeit, die Karl Kraus noch ganz klein erlebt hat. Wer nennt sie ? In einer ganzen Reihe von Staaten, denken wir an die Ukraine, Polen, die Königreiche Jugoslawien und Rumänien, waren die Gefallenen der k. u. k. Armee nicht dauerhaft denkmalwürdig. Sie hatten wohl ihre Gräber, aber auch das nur zeitweilig, denn »Bloodlands« kennen keine Totenruhe. »Doch stille sammelt im Weidengrund Rotes Gewölk, darin ein zürnender Gott wohnt Das vergossne Blut sich, mondne Kühle ; Alle Straßen münden in schwarze Verwesung.«
Das sterbende Kamel Es begann im … Ja, wann begann es eigentlich, dass sich Italien und die Habsburgermonarchie unfreundliche Nachbarschaft signalisierten ? Als sich Politiker, Diplomaten und Militärs am Beginn des Ersten Weltkriegs diese Frage mit einer gewissen Dringlichkeit vorzulegen begannen, konnte man eigentlich nur von Erbfeindschaft sprechen. Und das, obwohl man schon an die dreißig Jahre verbündet war. Aber es soll ja auch
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heute vorkommen, dass sich Verbündete gar nicht mögen. Im Juli 1914 war es jedenfalls so, dass sich Italien vom Entschluss Österreich-Ungarns, Krieg gegen Serbien führen zu wollen, ausgeschlossen sah und den Brüskierten spielte. Auch der Dritte (und eigentlich Erste) im Bunde, Deutschland, hatte die Italiener – wie man nördlich des Main so schön sagt – »außen vor« gelassen. Also fiel es Italien nicht sehr schwer, seine Nichtteilnahme an einem Krieg seiner Verbündeten damit zu begründen, dass es nicht informiert worden war. Sowie es sich dann herumgesprochen hatte, dass Krieg war, erklärte Italien seine Neutralität. Eine wohlwollende Neutralität, versteht sich. Die erste Andeutung, dass es nicht bei einer einfachen Neutralitätserklärung sein Bewenden haben würde, kam nicht aus Rom, sondern aus Berlin und hatte zur Folge, dass der deutsche Botschafter in Wien, Baron Heinrich von Tschirschky, am 28. Juli, dem Tag der Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Serbien, im Auftrag des deutschen Kaisers beim k. u. k. Minister des Äußern, Berchtold, vorsprach, um ihm zu sagen, er möge »um Himmelswillen« mit Italien in Verbindung treten, da sich Italien nicht verpflichtet sehe, auf Seite seiner Partner in den Krieg einzutreten. Italien werde nur dann eine freundschaftliche Haltung einnehmen, wenn sich Österreich-Ungarn vorweg bereit erkläre, Italien einige wenige territoriale Zugeständnisse zu machen. Minister Berchtold vermutete sofort, dass Italien nicht vielleicht auf Albanien oder ein anderes Gebiet des Balkan abzielte, sondern auf das Trentino, und ließ dem k. u. k. Botschafter in Berlin, Ladislaus von Sögyény, ausrichten : »wollen Hochdieselben auf das ausdrücklichste erklären, dass die Frage einer Loslösung irgend eines Teiles der Monarchie nicht einmal Gegenstand einer Erörterung sein dürfe.« Darüber wollte man in Wien nicht einmal nachdenken. Italien aus dem Geschehen vorderhand auszublenden, schien daher die einfachste Möglichkeit zu sein. Äußeres Zeichen für die neue Situation war, dass die österreichischen Militärkapellen aufhörten, neben der Kaiserhymne und dem »Heil dir im Siegeskranz« auch die italienische Hymne, die Marcia Reale zu spielen. Nun aber brach die Stunde der Diplomaten an. Die Berichte des österreichischen Botschafters in Rom, Kajetan von Mérey, trugen aber sicherlich nicht dazu bei, die österreichische Haltung zu überdenken. Er riet zu Festigkeit und meinte, in Rom würde man einmal abwarten, was Wien zu geben bereit wäre. Am Ballhausplatz sprach man über Italiens »Tücke und Treulosigkeit !« und schloss Gebietsabtretungen weiterhin aus, trotz der aus Berlin immer öfter zu hörenden Appelle oder auch so schnoddrig hingeworfener Bemerkungen wie jener des deutschen Botschafters in Rom, Baron von Flotow, der da meinte : Österreich kommt bei allem zu spät : Mit der Untersuchung der Hintergründe des Attentats von Sarajevo, mit der Übergabe der Note an Belgrad, mit der Mitteilung darüber an Rom und schließlich mit der Mobilisierung und dem Losschlagen. Die hohen österreichischen Militärs beschlich unterdessen die Sorge, Italien könnte unvermittelt in den Krieg eintreten. Daher wurde schon im Zug der Mobilmachung Ende Juli auch das Grazer III. Korps kriegsbereit gemacht. Und beim Kronrat
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am 19. August 1914 stellte Kaiser Franz Joseph an die Spitze der Beratungen die Frage, welche Maßnahmen zur Befestigung Wiens, Budapests sowie der Donauübergänge getroffen werden sollten. Die Teilnehmer der Konferenz waren auf das Thema offenbar vorbereitet gewesen und reagierten keinesfalls überrascht. Rechnete der Kaiser mit dem Vormarsch der Russen und einer Belagerung Wiens ? Keinesfalls ! Franz Joseph machten nicht die Serben oder Russen Sorgen, sondern die Italiener. Kriegsminister Alexander von Krobatin explizierte, dass eine auch nur notdürftige Befestigung Wiens rund acht Wochen brauchen würde ; sollte Italien aber in den Krieg eingreifen, würde es in vier Wochen Wien erreichen können. Schließlich waren sich Kaiser, Ministerpräsidenten und Minister darin einig, dass die Befestigungsarbeiten unverzüglich in Angriff genommen werden müssten. 30.000 Soldaten und Arbeiter begannen mit dem Bau der Wien-Schutzstellung. Reste kann man noch immer sehen. In Rom dachte man freilich gar nicht daran, in den Krieg einzugreifen. Politik, Armee und Land waren nicht kriegsbereit. Und die Situation war nicht unkomfortabel, denn Russen, Franzosen und Briten begannen Italien zu umwerben. Russland ließ Italien wissen, dass es für den Fall eines Sieges über Österreich-Ungarn bereitwillig eine Abtretung des Trentino, aber auch anderer Territorien ins Auge fassen würde. Frankreich und Großbritannien erhöhten das Angebot um Valona (Vlorë) in Albanien. Der britische Außenminister, Sir Edward Grey, ging noch einen Schritt weiter und wollte noch Triest hinzugefügt wissen. Damit war das Schlagwort »Trento è Trieste« geboren. Der russische Außenminister Sazonov konnte da anscheinend nicht nachstehen und bot Italien noch die Erwerbung Dalmatiens an. In Rom begann man mit der Interessenabwägung. Nachdem Außenminister Antonio di San Giuliano am 9. August in einem Schreiben an den italienischen Ministerpräsidenten, Antonio Salandra, die Möglichkeit eines Kriegseintritts Italiens an der Seite der Entente angesprochen hatte, wurden einmal die Felder abgesteckt. San Giuliano verschwieg dem Ministerpräsidenten dabei nicht seine persönliche Einschätzung der Folgen eines solchen Schritts, wenn er schrieb : »Wir dürfen uns jedoch nicht verhehlen, dass ein solcher Krieg … in ganz Europa als ein Akt der Unehrlichkeit betrachtet würde … auch von Seiten jener, die unsere neuen Verbündeten werden könnten.« Nichtsdestoweniger begann Italien mit Sondierungen. Am 16. Oktober 1914 starb San Giuliano. Anfang November übernahm Baron Sidney Sonnino das Außenministerium. Zwischenzeitlich hatte aber für zwei Wochen Ministerpräsident Salandra das Außenamt selbst geführt. Und er verwendete am 18. Oktober 1914 zwei Worte, die für Italien prägend werden sollten : »sacro egoismo«. Fast unmerklich hatten sich die Akzente verschoben. Und Österreich-Ungarn bot weiterhin nichts außer freundliche, leere Worte. Die Frage der Abtretung des Trentino führte schließlich im Jänner 1915 zum Rücktritt des österreichisch-ungarischen Ministers des Äußern, Berchtold. Wochen später
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gab er zu verstehen, dass er deshalb resigniert habe, da ihm der Kaiser Gespräche über die Abtretung Südtirols verwehrt hatte. Berchtolds Nachfolger wurde Istvan Graf Burián. Der versuchte einen anderen Weg zu gehen und entzog dem österreichischen Botschafter in Rom die Verhandlungsführung mit den Italienern. Künftig wollte Burián selbst in Wien mit dem italienischen Botschafter, dem Herzog von Avarna verhandeln. Der an sich dreibundfreundliche Herzog war sich über das österreichische Dilemma durchaus im Klaren, und meinte ein ums andere Mal, entscheidende Siege der Mittelmächte würden Italien sehr rasch dazu bringen, seine Politik zu überdenken : »Donnez-nous des victoires, des victoires !«. Doch gerade diese Siege blieben aus. Allmählich war guter Rat teuer. Kaiser Franz Joseph wehrte sich, ein weiteres Stück Italien herzugeben. Die führenden Politiker meinten, Italien sollte sich’s nur holen. Die Diplomaten hatten keinen Spielraum. Und die Alliierten boten in jedem Fall mehr. In der Militärkanzlei des Kaisers hegte man freilich noch eine Hoffnung, nämlich die Entsendung des Thronfolgers, Erzherzog Karl, nach Rom. Der Erzherzog war sofort dazu bereit. Wochenlang wurde überlegt, ob ein derartiger Schritt Sinn machen würde. Sicherlich wäre es ein Zeichen gewesen, immer vorausgesetzt, König Vittorio Emanuele III. und die italienische Regierung hätten seinen Besuch überhaupt akzeptiert. Aber hätte er etwas geändert ? Nachdem sich im geriatrischen Zirkel des Kaisers lange niemand gefunden hatte, der dem Monarchen den Besuch des Großneffen in Rom schmackhaft machen wollte, fand sich schließlich der Obersthofmeister, Fürst Montenuovo, dazu bereit. Franz Joseph wollte sich die Sache überlegen. Doch Außenminister Burián riet ab und konnte den Kaiser überzeugen. Nach langem Zögern rang sich Franz Joseph dann doch dazu durch, den italienischsprachigen Teil Südtirols abzutreten. Doch nicht mehr. Und da Italien damit antwortete, dass es seine Forderungen auf den Tisch legte, nämlich ganz Südtirol bis zum Brenner, Triest, Istrien, Teile Dalmatiens und noch einiges mehr, resignierte der Kaiser und ließ den Dingen ihren Lauf. »So werden wir halt jetzt zu Grunde gehe«, sagte er – und »weinte« – wie der stellvertretende Chef der Militärkanzlei notierte. Franz Joseph war an der Grenze seiner Belastbarkeit. Während ihn der Entschluss zum Krieg gegen Serbien vergleichsweise kalt gelassen hatte, verlangte ihm die italienische Krise alles ab. Er verbrachte Tag für Tag viele Stunden mit seinen engsten Beratern, beließ den Thronfolger in Wien, statt ihn wie bis dahin ins Armeeoberkommando abzuschieben. Franz Joseph war nicht nur physisch, sondern auch emotional überfordert, hatte einen schweren Ohnmachtsanfall und sah keinen Ausweg. Dann würde es eben eine dritte Front geben, und »so werden wir halt zu Grunde gehen.« Abseits von Schönbrunn hatte man sich schon längst auf den neuen Schauplatz eingestellt. Im Evidenzbüro des k. u. k. Generalstabs war bereits Monate zuvor damit begonnen worden, für den Eventualfall vorzusorgen. Es hatte keine Schwierigkeiten
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bereitet, den Ausrüstungsstand von 158 italienischen Festungsanlagen, davon 66 Panzerwerke vom Stilfser Joch bis zur Adria zu erkunden – wie umgekehrt auch in der Nähe der österreichischen Sperrforts, vor allem auf der Hochfläche der Sieben Gemeinden immer wieder harmlose Wanderer aufgegriffen wurden, die sich sehr für die österreichischen Verteidigungsmaßnahmen interessierten. Es war auch festzustellen gewesen, dass die italienische Armee ihren ursprünglich gedachten Aufmarschraum für den Fall eines Kriegs gegen Österreich-Ungarn von der Livenza an den Tagliamento vorverlegt hatte. Doch was nützten alle nachrichtendienstlichen Erkenntnisse angesichts des Umstands, dass Italien über eine Million Soldaten ins Feld stellen konnte, denen Österreich-Ungarn bestenfalls ein Zehntel entgegenzusetzen hatte. Die Zeichen mehrten sich. Da wurden Säcke mit den neuesten Ausgaben des ganz auf den Intervento hinarbeitenden »Corriere della sera« ins Trentino gebracht. Eine »Commissione per l’emigrazione trentina« bemühte sich – allerdings wenig erfolgreich – italienische k. u. k. Militärangehörige zur Fahnenflucht zu bewegen. Im April 1915 wurde in Triest ein Agentenring ausgehoben. Dazu kam, dass die Kryptografen des Evidenzbüros in Wien den italienischen Code knackten, sodass in kurzen Abständen die Telegramme vor allem zwischen Rom und St. Petersburg mitgelesen wurden. Aus all dem resultierte, dass Österreich gerade von der Entwicklung der letzten Wochen vor dem Kriegseintritt Italiens nicht überrascht wurde, allerdings immer noch hoffte, ihn hinauszögern zu können. Und das, obwohl man mittlerweile auch recht gut über die Parallelverhandlungen Italiens mit der Entente Bescheid wusste, die dann am 26. April zum Abschluss des Londoner Vertrags führten. Schließlich wurde auch der Tag des Kriegseintritts Italiens präzise vorausgesagt. War zu dem Zeitpunkt noch etwas zu verhindern ? Das Wiener Außenamt trat in Italien eine Propagandalawine los, um die österreichische Bereitschaft zum Verzicht auf das Trentino, Gradisca, eventuell auch Görz, Autonomie und eine italienische Universität in Triest und anderes publik zu machen. Die Italiener, die von den Londoner Geheimverhandlungen nichts wussten, waren beeindruckt. Den deutschen Diplomaten schien das alles wieder einmal zu spät, und der preußische Kriegsminister Wild von Hohenborn machte aus seinem Herzen keine Mördergrube, wenn er am 14. April 1915 an seine Frau schrieb : »An sich könnte es uns ja wurscht sein, ob Italien von dem sterbenden Kamel Österreich ein Stück Schwanz mehr abhackt oder nicht, aber die militärische Lage verschärft sich durch das Eingreifen Italiens doch bedenklich.« Am 4. Mai kündigte Italien den Bündnisvertrag mit Österreich-Ungarn und Deutschland. Am 23. Mai erfolgte die Kriegserklärung Italiens. Tags darauf begann der Schießkrieg. Ein merkwürdiger Krieg. Denn Italien, das sich viele Monate auf diesen Krieg vorbereitet hatte, legte nicht sofort mit einer machtvollen Offensive los, sondern kämpfte mit den Unwägbarkeiten : Im Norden des Königreichs, in den gro-
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ßen Städten, wollte man den Krieg. Im Süden wollte man weiter Frieden. Der frühere Ministerpräsident Giovanni Giolitti wollte die Beibehaltung der Neutralität. Und er hatte die Parlamentsmehrheit hinter sich. Sein Nachfolger, Salandra, wollte den Krieg. Und er wusste den König hinter sich. Vittorio Emanuele III. entschied sich gegen das Parlament und für den Krieg. Zu diesem Verwirrspiel kamen gravierende Fehleinschätzungen : Man hatte die Bereitschaft der Völker der Habsburgermonarchie unterschätzt, Krieg gegen Italien zu führen. In den deutschen Ländern der Monarchie stürmten die Freiwilligen die Kasernen. Plötzlich spielte auch der Panslawismus keine Rolle mehr, und wenn, dann in einem ganz anderen Sinn, denn Italien beanspruchte jede Menge südslawische Siedlungsgebiete. Slowenen und Kroaten waren wild entschlossen, dagegen anzukämpfen. Und was noch mehr auffallen musste : Auch und besonders die Tschechen, die an der Nordostfront wegen der ihnen zur Last gelegten Massendesertionen schon mehr als auffällig geworden waren, zeigten keine Anzeichen von Verweigerung für den Fall eines Kriegs gegen Italien. Schließlich wurden die Österreicher sogar von Serben ermuntert, nur ja kräftig auf die Italiener einzuschlagen. In der kaiserlichen Militärkanzlei in Wien vermerkte daher Feldmarschallleutnant Marterer mit einer gewissen Genugtuung, dass die den k.u k. Truppen bei Bjeljina und Zvornik gegenüberliegenden serbischen Truppen weiße Fahnen hochhielten und »Živio Franz Josef !« riefen. Ein weiteres Moment kam hinzu : Die angreifenden italienischen Armeen suchten mit einer strategischen Defensive zum Erfolg zu kommen. Das konnte nicht funktionieren. Doch die italienische Führung hatte einige Sorge, ob die Soldaten so ohne weiteres angreifen und vor allem gehorchen würden. Der Generalstabschef, Luigi Cadorna, hatte das Problem kommen sehen und es dadurch zu unterlaufen gesucht, dass er von der bis dahin für die Armee geltenden säkularen Grundhaltung abrückte und die Einrichtung einer Militärseelsorge verfügte. Damit sollte es möglich sein, die vornehmlich aus den ländlichen Regionen Italiens stammenden Soldaten von der gottgewollten Sinnhaftigkeit des Kriegs zu überzeugen. Ob das schon reichen würde, um die k. u. k. Armeen am Isonzo und in den Dolomiten anzugreifen, musste sich weisen. Denn die italienischen Offiziere und Soldaten hatten gewaltigen Respekt vor den Österreichern und vermissten natürlich die zweite Backe der Zange, die dann zum Tragen gekommen wäre, wenn auch Rumänien der Habsburgermonarchie den Krieg erklärt hätte. Rumänien und Italien hatten am 23. September 1914 einen Vertrag unterzeichnet, der beide Staaten verpflichtete, sich wechselseitig zu konsultieren und nicht ohne achttägige Vorankündigung die Neutralität aufzugeben. Der rumänische Ministerpräsident, Ion Brătianu, hatte gemeint, Italien und Rumänien sollten gemeinsam an die Liquidierung Österreich-Ungarns gehen. Im April und Mai 1915 war nicht mehr die Rede davon. Die eindrucksvollen militärischen Erfolge der deutschen und österreichischungarischen Truppen in der Durchbruchsschlacht von Tarnów-Gorlice hielten Rumä-
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nien vorerst ab, dem italienischen Beispiel zu folgen. Also blieb sich Italien mehr oder weniger selbst überlassen. Natürlich suchte man den Schritt zum Krieg zu legitimieren und die Schuld auf Österreich zu schieben. Neben juristischen und diplomatischen Gründen wurden auch solche erwähnt, die eine moralische Rechtfertigung enthielten. Da wurde alles Mögliche angeführt, von den Carbonari und Silvio Pellicos im Vormärz geschriebenen Schilderung seiner Gefängnisjahre auf dem Brünner Spielberg »I miei prigioni« angefangen, bis in die Gegenwart des Kriegs. Aus der Kriegserklärung aber stach ein Halbsatz hervor, in dem unumwunden der eigentliche Kriegszweck genannt wurde, dass sich nämlich Italien berechtigt sehe, »mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln die Rechte und Interessen Italiens zu verteidigen und alle Maßnahmen gegen wen immer zu ergreifen, der die Verwirklichung der nationalen Aspirationen Italiens bedroht.«. Kaiser Franz Joseph wandte sich ein zweites Mal in diesem Krieg an seine Völker. »Der König von Italien hat Mir den Krieg erklärt«. Da kam dann alles vor, von Mortara und Novara 1849 bis Custoza und Lissa 1866. Der im Ministerium des Äußern seit Mitte Mai vorbereitete und dann vom Kaiser approbierte Text erwähnte auch Deutschland, das genauso wie die Habsburgermonarchie durch den Kriegseintritt Italiens betroffen wäre. Doch genau das war nicht der Fall, denn Italien erklärte ja nur Österreich-Ungarn den Krieg, und weder Deutschland noch Italien sahen sich veranlasst, daran etwas zu ändern. Wie es weitergehen konnte, hatte der österreichisch-ungarische Generalstabschef, Franz Conrad von Hötzendorf, schon im April skizziert : In fünf Wochen würden die Italiener in Wien stehen. Man konnte folglich nur trachten, ihnen die Sache so schwer wie möglich zu machen. Tatsächlich rechneten ja auch die Italiener mit einem raschen Sieg. Der Generalstabschef ging davon aus, dass seine Truppen spätestens einen Monat nach Kriegsbeginn in Triest sein würden. Ministerpräsident Salandra wies den Gedanken, der Krieg könnte nicht bis zum Winter 1915 beendet sein, weit von sich. Und jeglicher Verweis auf die Gräuel des Schützengrabenkriegs, wie er in Flandern und Nordfrankreich tobte, schien absurd und wurde abgetan. Eine Million Tote später wusste man es besser. Das Tal der toten Pferde Mitten im Ersten Weltkrieg, 1915, zeichnete einer der großen österreichischen Maler und Grafiker seiner Zeit, Ludwig Hesshaimer, ein Blatt, dem die Erschütterung über das Gesehene in jeder Weise anhaftet : Das »Tal der toten Pferde«. Es ist wohl irgendwo in Galizien entstanden. Man sieht Pferdegerippe über Pferdegerippe. Abgemagerte Existenzen, über die Hesshaimer notierte : »Schleppend, ziehend, keuchend
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und stolpernd, in Sand und Morast versinkend, zerschunden, blutig geschlagen … so brachen sie vor ihren Wagen tot zusammen … Da lagen sie nun paarweise, gespannweise, wie sie im Sielenzeug zusammenbrachen. Schwarze Wolken von Krähen deckten die Kadaver zu.«1 Das waren keine Kavalleriepferde, nichts, zu dem sich Franz von Suppés »Leichte Kavallerie« spielen ließ. Es waren die Überreste von Zugpferden, die krepiert waren. An ihrem Ende war nichts Ruhmreiches. Im »Tal der toten Pferde« zählte kein kavalleristisches Heldentum. Jahre später begann man sehr selektiv die Geschichte der österreichisch-ungarischen Kavallerie im Weltkrieg zu schreiben. Ein Heftchen, das dabei entstanden ist, trägt den bezeichnenden Untertitel »Ein Nachruf«.2 Es war das aber nicht nur der Abgesang auf die Reiterei des Ersten Weltkriegs, sondern der Abgesang auf eine Waffengattung. Da klang Wehmut an. Die Masse der Pferde, die in diesem Krieg einer militärischen Verwendung zugeführt worden waren, blieb ohne Erwähnung. Dabei kamen im Ersten Weltkrieg im Dienst der k. u. k. Armee an die zwei Millionen Pferde zum Einsatz. Es können auch mehr gewesen sein.3 Von den Soldaten, die in diesem Krieg eingezogen wurden, hieß es im landläufigen Jargon, sie wären Menschenmaterial gewesen. Die Pferde waren Tiermaterial. Und dieses hatte keine Gedenksteine und keine Gedächtnisorte zu gewärtigen. Der gedachte Krieg Eigentlich war es schon 1866, wenn nicht gar 1809 bei Aspern und Essling absehbar gewesen, dass die Kavallerie in einem zukünftigen Krieg als Waffengattung nicht mehr jene Bedeutung haben würde wie früher, als die Reiterei in vielen Schlachten die Entscheidung brachte. Doch zu Aufklärungs- und Verfolgungszwecken, überraschenden Vorstößen und für den Kampf Reiter gegen Reiter war sie noch immer wichtig. In dem für Kavalleristen grundlegenden zweibändigen Werk von Casimir Freiherrn von Lütgendorf über die Rolle der Reiterei im »Zukunftskriege« wurden aufgezählt : Grenzsicherung, strategisch-taktische Aufklärung, Sicherungsdienst, Zernierungen, Requisitionen, Deckung von Trainkolonnen, Etappendienst, Gefangenentransporte und Streifenkommandos.4 Für ihre Stellung im operativen Denken kam aber ein Moment hinzu, das mit der Gefechtslehre und mit dem Kriegsbild der Zukunft nichts gemein hatte : Die Kavallerie war eine aristokratische Waffe und tradierte die soziale Stellung des Rittertums. Sie galt denn auch als »vornehm« und war für viele Angehörige des Adels die einzige Waffengattung, die als standesgemäß angesehen wurde und in der zu dienen es sich lohnte. Die Offiziersstellenbesetzung bei den drei Truppenteilen der k. u. k. Kavallerie, Dragoner, Husaren und Ulanen, lasen sich Jahre und Jahrzehnte hindurch wie ein Aus-
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zug aus dem Gotha der Gräflichen und Freiherrlichen Häuser. Allerdings waren die großen Namen schon vor dem Großen Krieg im Schwinden begriffen. Um eine militärische Karriere als Berufsoffizier zu machen, wurde die Absolvierung der Kriegsschule, also eine dreijährige Generalstabsausbildung mehr oder weniger zwingend, und nur in Ausnahmefällen, dann, wenn es sich um Angehörige des Erzhauses oder eines fürstlichen Hauses handelte, wurden Abstriche gemacht. Der hohe Adel beschied sich mit Ehrenfunktionen, während sich die jüngeren männlichen Angehörigen der alten Familien, sofern sie Dienst bei der Kavallerie leisten wollten, mit einer Reserveoffizierslaufbahn und subalternen Rängen zufrieden gaben. Rein äußerlich schien die Welt der Reiterei 1914 aber noch immer in Ordnung zu sein. Denn es gab sie noch, die Generäle der Kavallerie Böhm-Ermolli, Brudermann, Dankl, Huyn, Kirchbach auf Lauterbach, Kummer, Rohr und Tersztyánsky. Zu den Kavalleriegenerälen zählte man schließlich auch die Erzherzoge Eugen, Josef August und den Thronfolger und späteren Kaiser Karl. In den Monaten vor Kriegsende 1918 waren es dann nur mehr Feldmarschall Erzherzog Joseph, Generaloberst Böhm-Ermolli und der General der Kavallerie Fürst Schönbug-Hartenstein, die hohe Kommanden innehatten und als Kavalleristen galten, auch wenn ihre Waffengattung der Vergangenheit angehörte. Alle anderen waren abgelöst, der Unfähigkeit geziehen oder funktionslos geworden. Von der österreichisch-ungarischen Kavallerie hieß es einstmals, sie wäre nur von Teilen der russischen Kavallerie übertroffen worden.5 Und die Reiterei bot bei den Manövern und Vorbeimärschen nicht nur ein buntes, sondern auch ein schönes Bild. Kaiser Franz Joseph hat sie geliebt und wollte, solange er noch Manöver besuchte, ein Reitertreffen nicht missen. Nach 1905 entfiel die Notwendigkeit, dem Allerhöchsten Kriegsherrn den Anblick attackierender Kavallerietruppen zu bieten. Die meisten Reitersoldaten des gemeinsamen Heers sowie der königlich-ungarischen Honvéd und der kaiserlich-königlichen Landwehr kamen aus Ungarn, Galizien, der Bukowina und aus Mähren. In manchen Teilen der Monarchie, vor allem in Ungarn, drängten sich die Rekruten zur Kavallerie, um dort ihren dreijährigen Aktivdienst abzuleisten, ehe sie dann in eine neunjährige Reserve versetzt wurden. Zusammen bildeten sie die sogenannte Heereskavallerie mit 42 Regimentern (15 Dragoner-, 16 Husaren- und 11 Ulanenregimenter) des gemeinsamen Heers, sechs Landwehrkavallerieregimentern und zwei selbständigen Divisionen in der österreichischen Reichshälfte sowie zehn Honvédkavallerieregimentern in Ungarn.6 Jedes Regiment sollte sechs Eskadronen zählen. Zwei Regimenter bildeten eine Brigade ; zwei oder drei Brigaden eine Kavalleriedivision. Nach der Mobilmachung wurden die Verbände aufgefüllt, sodass die gesamte Armee 425 Kavallerieeskadronen zählte. Ein Teil war als Divisionskavallerie dazu gedacht, bei den Infanteriedivisionen Verbindungsdienste zu leisten und aufzuklären. Das wurde wohl als Zurücksetzung empfunden, denn es entsprach nicht dem, worauf sich die Kavallerieregimenter in erster Linie vorbereitet hatten.
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Dort war nicht nur eine besondere Regimentstradition gepflegt, sondern auch alles getan worden, um das Ansehen der Waffengattung ungeschmälert zu erhalten. Das fing selbstverständlich bei den Pferden an. Um sie aufzubringen, gab es die Remontenassentkommissionen, die den jährlichen Ankauf von kriegstauglichen Pferden zu steuern hatten. Alles war genormt : Das Alter der Pferde, das drei bis fünf Jahre betragen sollte, die Höhe von Reit-, Zug- und Tragtieren, ebenso wie der Preis. Eigene Staatsgestüte in Piber, Radautz (Radauţi), Bábolna, Mezőhegyes, Kisber und Fogaras sorgten dafür, dass der Kavallerie erstklassige Pferde zugeführt werden konnten. Pro Regiment rechnete man damit, dass jährlich 100 Remonten gebraucht würden,7 um den Friedensstand eines k. u. k. Kavallerieregiments zu erhalten.8 Bei der Assentierung der Remonten für Vorspanndienst und als Tragtiere, also die Masse der militärisch zu nutzenden Pferde, war man weniger auf Rasse als auf Stärke und Ausdauer bedacht. Laufbahnmäßig glichen sich Mensch und Pferd. Nach einer dreijährigen Abrichtung hatten die Kavallerie- ebenso wie die zu anderen Aufgaben gedachten Pferde eine neun- bis zehnjährige Dienstzeit vor sich, ehe sie dann ausgemustert und – im Fall der Pferde – verkauft wurden.9 40 Mann oder 6 Pferde Die Kavallerie hatte sich bis 1914 auf den Krieg der Zukunft einzustellen gesucht. Doch es gab dabei recht auffällige Einschränkungen, die nicht die Pferde, sondern die Offiziere und Mannschaften betrafen : Die Uniformierung war »bunt« geblieben, auch wenn die Infanterie schon längst das Hechtgrau und dann feldgrau trug. Der umgehängte Pelzrock und die widerstandsfähigen Kopfbedeckungen der Kavalleristen, die Helme der Dragoner, Tschapkas der Ulanen und Tschakos der Husaren galten als Schutz gegen die Blankwaffen im Reiterkampf. Die Offiziere führten zwar auch Pistolen und die Mannschaften Karabiner mit, doch Pistolen und Gewehre galten gegenüber den Säbeln als minderwichtig.10 Schon im August 1914 zeigte sich, wie unzeitgemäß das alles war : Die Helme glänzten im Sonnenlicht und wurden erst spät – zu spät – mit einem grauen Anstrich oder einem Stoffüberzug weniger leuchtende Beispiele dafür, dass die Pflege einer Tradition beim Anreiten gegen Maschinengewehre und Schnellfeuergeschütze oft tödlich für Tier und Reiter endete. Auch hellblaue Röcke und rote Hosen passten nicht mehr in die Zeit. Vollends die Annahme, Säbel würde noch eine adäquate Waffe sein, erwies sich als ein gravierender Irrtum.11 Ende Juli und Anfang August 1914 ging es ans Einwaggonieren. Alle Kavallerietruppen der Armee im Felde zusammengenommen, zählte die k. u. k. Armee beim Aufmarsch gegen Serbien und Russland 76.500 Reiter. »40 Mann oder 6 Pferde« stand auf den Güterwaggons, mit denen dann »Mann und Ross und Wagen« nach Süden
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und Nordosten transportiert wurden. Doch nur der kleinste Teil der für den Kriegseinsatz gedachten und notwendigen Tiere war für den Reiterkampf gedacht. Die meisten Pferde waren dazu bestimmt, nach dem Auswaggonieren vor Geschütze und die Fuhrwerke der Trainkolonnen gespannt zu werden oder als Tragtiere eine Rolle zu spielen. Das waren mehr als zehn Mal so viele als Kavalleriepferde.12 Ohne Pferde würde sich nichts bewegen lassen, das stand fest. Die Motorisierung war 1914 noch in den Anfängen, und daher wurde ganz selbstverständlich in Rechnung gestellt, dass Hunderttausende Pferde die Armeen beweglich hielten, Munition und Verpflegung transportierten, Kriegsmaterial aber auch Futter für die Massen an Vierbeinern dorthin brachten, wo sie gebraucht wurden. Ebenso aber galt es, Vorsorge dafür zu treffen, dass Kranke, Verwundete und immer mehr Tote zurücktransportiert wurden. Die Pferde erledigten alles. Und sie blieben wichtig, während für die Kavallerieregimenter schon nach wenigen Tagen und Wochen ein jähes Erwachen kam. Jaroslawice : Die Realität des Kriegs Die Stationierung der Kavallerieverbände in Galizien hatte den Zweck gehabt, im Kriegsfall den Aufmarsch der österreichisch-ungarischen Armee zu sichern. Denn es wurde damit gerechnet, dass die Russen alles daransetzen würden, mit ihren zahlreichen entlang der Grenze zu Galizien und der Bukowina stationierten Reiterverbänden den österreichischen Aufmarsch nachhaltig zu stören. Doch genau das geschah nicht. Das k. u. k. Armeeoberkommando konnte den Aufmarsch von drei Armeen entsprechend dem Kriegsfall »R[ussland]« mehr oder weniger ungestört durchführen. Allerdings war eine ursprünglich gegen Russland gedachte vierte Armee gegen Serbien dirigiert worden und musste erst mühsam umgeleitet werden. Erst als auch die Regimenter der k. u. k. 2. Armee in Galizien eintrafen, war die österreichischungarische Kavallerie dort, wo man sie haben wollte. Und sie begann sofort damit, sich auf das Kommende einzustellen. Immer wieder gab es Alarmierungen, stundenund tagelange Märsche. Die Reiter litten zum wenigsten darunter, doch die Tiere taten es. Tausende »gedrückte« Pferde fielen aus. Die meisten Kavallerieregimenter hatten noch nicht den erst in Einführung begriffenen Miederbock-Sattel, sondern den starren Bocksattel, auf den alles aufgepackt wurde, was für ein tages- vielleicht wochenlanges Leben im Feld nötig war. Und die Sättel drückten. Die Pferderücken wurden wund. Ungeachtet dessen befahl das k. u. k. Armeeoberkommando seinen Verbänden am 15. August 1914 den Vormarsch. Und die Kavallerieverbände ritten los. Schon kurze Zeit später stießen sie auf Widerstand. Doch es waren nicht so sehr die russischen Kavallerieverbände, sondern das Schrapnellfeuer der Geschütze und die Maschinengewehre, die die k. u. k. Reiterei am Vorankommen hinderten. Nur am
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äußersten rechten und am linken Flügel gelang es der 1. und der 7. Kavalleriedivision, tiefer auf russisches Gebiet vorzustoßen. Am 21. August kam es etwas überraschend bei Jaroslawice, westlich von Radom, zu einem Reitergefecht.13 Die k. u. k. 4. Kavalleriedivision, Dragoner, Ulanen, zwei Batterien einer reitenden Artilleriedivision und eine Maschinengewehrabteilung, stieß auf die russische 10. Kavalleriedivision, Husaren, Dragoner, Ulanen und Kosaken. Nach einem ersten Feuerüberfall russischer Artillerie sammelten sich die k. u. k. Regimenter wieder. Staub legte sich über die Landschaft. Der Divisionskommandant, Generalmajor Ritter von Zaremba, ließ die Trompeter »Attacke« blasen und trabte selbst gefolgt von den Kommandanten seiner beiden Brigaden los. Die Reiter fielen in Galopp. Sie sahen nicht mehr, was hinter ihnen geschah. Die russische Kavallerie wich zurück, doch die Artillerie wütete unter den Reitern. Die Offiziere mussten feststellen, dass ihnen die Pistolen weit mehr halfen als die Säbel. Das Reitertreffen dauerte zwar nur rund zehn Minuten, doch das vergebliche Bemühen, sich auch nur über die Situation klar zu werden, das Verweilen, um die Pferde, die schwerste Zeichen von Erschöpfung erkennen ließen, rasten zu lassen, dauerte Stunden. Zu Mittag, als der Rückzug auf die österreichischen Linien begann, gab es eine Sonnenfinsternis. Sie wurde als Zeichen gesehen. 26 Offiziere waren tot oder verwundet, 14 in Gefangenschaft geraten. Von den Mannschaften wurden 234 als tot oder verwundet gemeldet und 694 vermisst.14 Die beiden Regimenter der Division, die bei Jaroslawice gekämpft hatten, verloren rund ein Drittel ihrer Mannschaftsstärke. Sechs Tage später wurde die vom serbischen Kriegsschauplatz nach Galizien verschobene k. u. k. 10. Kavalleriedivision bei Uhnów von russischen Kavallerieverbänden dezimiert. Das war der Beginn des Abgesangs auf die Kavallerie. Zum unsinnigen Anreiten gegen einen weit besser bewaffneten und taktisch geschickteren Feind kam hinzu, dass die Pferde den Strapazen einfach nicht gewachsen waren. Nach sechs Kriegswochen musste man bei der k. u. k. 2. Armee feststellen, dass die ohnedies erst nach und nach in Galizien eintreffenden Kavallerieverbände bei einem Verpflegsstand von 17.000 Mann und 16.000 Pferden infolge der kriegsbedingten Verluste, vor allem aber infolge der massiven Druckschäden durch die Sättel nur mehr 2.300 Pferde einsetzen konnten.15 Jetzt war die k. u. k. Kavallerie nicht nur nicht mehr verwendungsfähig ; sie hatte auch zur Kenntnis zu nehmen, dass sie mit ihrer Reiterherrlichkeit in einem modernen Krieg nichts mehr verloren hatte. Es hieß absitzen. Aus den Kavalleriedivisionen wurden Kavallerie-Schützendivisionen. Noch war es berittene Infanterie. Doch auch das war nur ein Intermezzo.
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Jahr für Jahr wurden Pferde und Fuhrwerke neu erfasst. Auf Plakaten stand zu lesen, dass die Pferdehalter verpflichtet waren, Anzahl und Gattung der Pferde und die (noch) vorhandene Tragtierausrüstung zu melden. Weiters wären die »für den animalischen Zug bestimmten« Fuhrwerke in den ersten Monaten eines Jahres anzugeben. Befreiungsansprüche gab es – und sie wurden immer häufiger geltend gemacht. Von der Anzeige ausgenommen waren Wirtschaftspferde der Hofgestüte, Polizeipferde, Ärztefuhrwerke und Postfuhrwerke. Bei Nichtbefolgung drohte eine Verwaltungsstrafe. Zunächst hatte es noch den Anschein, als würde die k. u. k. Armee aus dem Vollen schöpfen können. Menschen und Pferde schienen nie auszugehen. 1916 wendete sich das Blatt. Den Assentierungskommissionen mussten Gendarmerieassistenzen beigegeben werden, da die Bauern nicht mehr willens waren, auch ihre letzten Tiere herzugeben. Der Anbruch einer neuen Zeit ließ sich durch Zahlen recht einfach belegen. 1915 zählte man bei der Armee im Felde in Österreich-Ungarn 709.000 Pferde. Ende 1916 war die Zahl sogar auf 969.000 gestiegen. Wenige Monate später begann eine rapide Abnahme : Im Juni 1917 zählte man nur mehr 863.000 Pferde ; im Juni 1918 bloß 459.000.16 Zu dieser Abnahme trug der rapid zunehmende Mangel an Futtermitteln, vor allem Mais und Hafer bei. Was für die Fütterung der Pferde gedacht war, war mittlerweile für die Ernährung der Menschen unentbehrlich geworden. Ersatzfuttermittel gab es zum wenigsten. Die wenigen noch berittenen Einheiten wurden nach RussischPolen, Rumänien und Serbien verlegt. Doch die Zugpferde brauchte man im Hinterland der italienischen Front. Und obwohl man Autos immer häufiger als Zugmittel einsetzte, blieben die Pferde die wichtigsten Transportmittel. Da die Futtermengen nicht ausreichten, erfuhr die Pferdehaltung drastische Einschränkungen. Es tat sich eine nicht mehr zu schließende Schere auf : Pferde wurden nach wie vor gebraucht, um den Krieg am Laufen zu halten. Doch sie sollten reduziert werden, weil man sie nicht mehr erhalten konnte. Und wie die Menschen wurden auch die Pferde immer schwächer. Kaiser Karl verfügte im März 1917 die Neuformierung von sieben Kavalleriedivisionen. Monate später folgten alle anderen Kavalleriedivisionen mit Ausnahme der 11. Honvédkavalleriedivision. Sie wurden »zu Fuß« formiert, d.h. wie Infanteriedivisionen gebildet. Sie behielten nur ihre Namen und Truppenbezeichnungen. In jedem Regiment war aber lediglich ein Zug von 25 Reitern tatsächlich »beritten«.17 Zu Kriegsbeginn waren alle Ersatzbataillone und Ersatzeskadronen mit der Bespannung für ihre Fahrzeuge eingerückt. 1916 fingen die Ersatzmannschaften an, nur mehr mit unbespannten Fahrzeugen einzurücken. Dann wurden verstärkt kleine, genügsame Pferde »militärpflichtig«, die galizischen Konik, die Huzulenpferde, Haflinger und bos-
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nischen Tragtiere.18 Man kaufte den Kavallerieoffizieren ihre privat gehaltenen Pferde ab und spannte sie vor Geschütze und Wagen. Zughunde ersetzten, wo es ging, die Pferde. An der Assentierung der Pferde änderte das nichts. Ihr steter Verfall war aber nicht nur an der Organisation der Kavallerietruppenkörper und an der Abnahme der Gesamtzahlen abzulesen, sondern auch an anderen Details. Im April 1917 gingen bei der k. u. k. 11. Armee in Südtirol täglich 40 bis 45 Pferde ein. Klapperdürre Gestelle, die bis zuletzt gezogen und getragen hatten. Und auch wenn es wohl nur ein Einzelfall war, dann war er doch symptomatisch : Beim Transport der 5. Honvédkavalleriedivision im Juni 1918 standen 99 Pferde um und 131 mussten notgeschlachtet werden.19 Bei der Heeresgruppe Erzherzog Joseph an der Italienfront zählte man am 15. Oktober 1918 noch 1.600 Reiter ; bei der benachbarten Heeresgruppe Boroević waren es 2.960. Alle anderen Kavallerieverbände stellten nicht einmal mehr Zählgrößen dar.20 Kaum einer, der dann Anfang November 1918 hoch zu Ross und vergleichbar den ersten Kriegstagen in die Heimat zurückkehrte. Zuguterletzt hatten der Waffenstillstand von der Villa Giusti und die Gefangennahme eines Großteils der Truppen der Südwestfront auch die Pferde verschlungen. Fremd im eigenen Land Auch damit hatte man in Österreich-Ungarn nicht gerechnet : Jener Krieg, der 1914 so frohgemut begonnen worden war, entwickelte sich nicht nur militärisch anders als erwartet. »Alle Straßen müden in schwarze Verwesung«, dichtete Georg Trakl. Er hatte nicht nur die Kämpfe, sondern auch jene gesehen, die vor dem Krieg flohen. Da zogen dann die polnischen Galizianer, Ruthenen, Huzulen, Kolpaken und Lipowaner dahin. Juden kamen in hellen Scharen. Alle hatten ihre persönliche Geschichte, waren Wochen und Monate unterwegs gewesen und waren am Ende ihrer Kräfte. Und die meisten sahen so ungemein fremd aus. Doch Sie erwarteten Hilfe, und sie hatten ein Anrecht darauf, denn sie waren zwar Fremde, doch im eigenen Land. Die Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Serbien und der Beginn des Aufmarsches im Süden, vollends der Beginn des Kriegs gegen Russland hatten schlagartig Evakuierungsmaßnahmen ausgelöst. Flucht und Vertreibung nahmen ihren Anfang. Das galt für die an Serbien und Montenegro angrenzenden Gebiete der Habsburgermonarchie ebenso wie für die Kronländer im Osten. Während aber in Syrmien, der Batschka, dem Banat und in Bosnien-Herzegowina die zur Flucht gezwungene Zivilbevölkerung, immerhin rund 10.000 Menschen, meist nicht sehr weit von ihrer Heimat untergebracht werden konnten, setzte in Galizien und der Bukowina im August 1914 eine Völkerwanderung in das Innere der Monarchie ein. Zunächst schien das alles noch
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überschaubar und hatte seine in der Kriegführung begründete Logik. Zivilpersonen sollten – wie es in einer kaiserlichen Verordnung hieß – »zu Zwecken der Kriegführung aus ihren Aufenthaltsorten zwangsweise entfernt« werden. Es sollte ja auch zu ihrem eigenen Schutz passieren. Die Grenzregionen wurden entleert. Dafür standen knapp zwei Wochen zur Verfügung. Die Flüchtlingstrecks setzten sich in Bewegung. Die meisten waren es zufrieden, wenn sie aus dem unmittelbaren Gefahrenbereich entkamen. Schon bald aber hieß es weiterziehen. Und jetzt artete das alles in Flucht aus. Galizien wurde entvölkert, um dem Krieg Platz zu machen. Also hieß es für die Ministerien des Innern in der österreichischen wie in der ungarischen Reichshälfte der Doppelmonarchie, die Flüchtlingsfürsorge zu organisieren und zu finanzieren. Flüchtlingsströme mussten kanalisiert und in die für die Aufnahme bestimmten Kronländer dirigiert werden. Den ersten erzwungenen Halt gab es meist schon bei den Perlustrierungsstationen, die eingerichtet worden waren, um eine Selektion vorzunehmen. Kam man ohne Hab und Gut und vor allem ohne finanzielle Mittel an, dann wurde man einem Flüchtlingstransport zugeordnet. Verfügte man über die nötigen Geldmittel, konnte man seine Flucht auf eigene Kosten fortsetzen. Man brauchte keine Schlepper. Jeder wusste, wo Wien war. Weiter ging es, zunächst noch mit fahrplanmäßig verkehrenden Zügen, die allerdings in Oderberg (Bohumín), Teschen (Cieszyn), Marchegg, Bruck a. d. Leitha und Uherský Brod angehalten wurden, um die aus dem Nordosten der Monarchie zurückflutenden Massen abermals zu kontrollieren, und wo streng darauf geachtet wurde, dass sich die Flüchtlinge nicht einfach auf Länder und Städte verteilten. 200.000 bis 300.000 Ruthenen und Polen Galiziens verließen im Verlauf der ersten großen Fluchtwelle ihr Land oder wurden evakuiert. Der Großteil der Flüchtlinge nahm den kürzesten Weg nach dem Westen oder über die Karpaten und landete in Ungarn. Sie wurden weitergeschickt. Die ungarische Regierung vertrat den Standpunkt, sie sei lediglich für die aus den Grenzgebieten zu Serbien kommenden Flüchtlinge zuständig und verfügte daher die Ausweisung der nach Oberungarn, die heutige Slowakei, geflohenen Bewohner Galiziens. Vor allem wehrte man sich mit Händen und Füßen gegen die Unterbringung von jüdischen Flüchtlingen. Aber auch andere Transporte wurden regelrecht bedroht. Als Anfang Oktober 1914 in Kaschau (Košice) ein Flüchtlingstransport ankam, stürmte die Bevölkerung zum Bahnhof, um die Auswaggonierung der Flüchtlinge zu verhindern. Die Frage der Erfassung und Unterbringung der Flüchtlinge überforderte freilich auch die an einen friedlichen Normalbetrieb gewohnten staatlichen und Landesbehörden Österreichs zunächst ganz gewaltig. Und sie konnten niemanden zurück- oder auch nur weiterschicken. Galizien und die Bukowina waren Teil der österreichischen Reichshälfte. Folglich musste man schauen, wie man Quartiere für eine noch nicht abzusehende Flut von Menschen fand. Da man sie möglichst weit ins Hinterland bringen
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wollte, wurde der größte Teil in einige wenige Länder im Inneren Österreichs sowie nach Böhmen und Mähren gebracht. Nicht überall waren sie willkommen. Dabei waren das erst die Vorboten einer kleinen Völkerwanderung. Die Masse der Geflohenen und Zwangsevakuierten hatte Wochen gebraucht, um in den Aufnahmegebieten einzutreffen. Und vom anfänglichen Verständnis für ihr Schicksal war bald nichts mehr zu merken. Die galizischen Flüchtlinge kamen mit einigen wenigen Habseligkeiten an. Sie wurden wie die Soldaten, die an die Front abgingen, in Güterwaggons transportiert, die die für Militärtransporte übliche Aufschrift trugen : »40 Mann oder 6 Pferde«. Jene, die über ein eigenes Einkommen verfügten, wurden in Privatquartiere eingewiesen. Die mittellosen Flüchtlinge aber sollten in Lagern untergebracht werden, die meist von kriegsgefangenen Russen und Privatfirmen errichtet wurden. Die Galizianer suchten selbstverständlich auch den Weg in die großen Städte. In Wien zählte man schon im November 1914 rund 140.000 Flüchtlinge aus Galizien und der Bukowina, und in Prag, Brünn und Graz weitere 100.000 mittellose Flüchtlinge. In Wien gab es im November 1914 Tage, an denen an die 3.000 Flüchtlinge eintrafen. Ein großer Teil von ihnen waren Juden. Am 10. Dezember wurde der Zuzug nach Wien gestoppt. Prag, Brünn und Graz folgten mit ähnlichen Maßnahmen. Zur Jahreswende zählte man dennoch in Wien an die 200.000 Flüchtlinge, von denen rund 150.000 mittellos waren. Der ersten folgte eine zweite Flüchtlingswelle. Wieder musste ein großer Teil der Menschen in Niederösterreich, Oberösterreich, der Steiermark, Böhmen und Mähren untergebracht werden. Man wies sie in leerstehende Gebäude und Scheunen ein und stellte Zelte auf. Dann wurden die ersten Barackenlager fertig und boten einen notdürftigen Schutz. In Wagna bei Leibnitz, um eines der großen Lager herauszugreifen, trafen die ersten polnischen Flüchtlingstransporte Ende November 1914 ein. Einen Monat später wies das Lager bereits einen Belag von rund 14.500 Flüchtlingen auf. Gerade dieses Lager machte alle Probleme derartiger Notquartiere deutlich. Es fehlte an sanitären Einrichtungen, Wasch- und Desinfektionsmöglichkeiten. Von Schulen und Arbeitsstätten war noch keine Rede. Es galt zunächst nur, die Menschen unterzubringen. Im Dezember trat Flecktyphus auf. Im Jänner 1915 gab es bereits eine Typhusepidemie. Es mangelte an Ärzten, denn die waren häufig eingerückt, und die Ärzte, die mit ihren Landsleuten aus Galizien geflohen waren, galten nicht als mittellos und entgingen daher der Unterbringung in einem Lager. Folglich mussten auch hier Notmaßnahmen herhalten. Erst nach einem halben Jahr wurde man der Typhusepidemie Herr. Das Ministerium des Innern tat sicherlich sein Möglichstes, um eine Katastrophe abzuwenden. Dabei standen wohl zwei Aspekte im Vordergrund : Der humanitäre ebenso wie der sicherheitspolitische. Jedenfalls setzte das Innenministerium alles daran, die Flüchtlingslawine nicht in Chaos und Gewalttätigkeit münden zu lassen. Die Beamten des Ministeriums stießen aber immer wieder auf heftigen Widerstand von
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Bezirks- und Landesbehörden, aber auch der Gemeindevertretung von Wien. Appelle, das Leid der Flüchtlinge zu begreifen und ihnen ihr Dasein als Fremde in der Heimat zu erleichtern, wurden oft nicht verstanden. Schon bald hieß es : »Das Boot ist voll.« Kaum aber war die Unterbringung der Ostflüchtlinge geregelt, kam die nächste Welle. Der Krieg gegen Italien zwang auch dort zu Flucht und Vertreibung. Und im Mai 1915 begannen sich die Bilder im Trientinischen und im Gebiet des mittleren und unteren Isonzo an jene schon bekannten Bilder aus dem Osten der Monarchie anzugleichen : Die Bevölkerung in den grenznahen Ortschaften und Einzelgehöften wurde aufgefordert, ihre Häuser zu verlassen. Wer nicht freiwillig ging, wurde zwangsweise evakuiert. »Die Bevölkerung wird aufgefordert, das Gebiet zu verlassen … Jeder nehme einen Handkoffer mit dem Notwendigsten mit sich – eine Wolldecke und Proviant für fünf Tage.« Solche und ähnliche Verlautbarungen wurden von den Bürgermeistern landauf, landab bekannt gegeben. Es wurden aber keine nahegelegenen Gebiete ausgesucht, um die Flüchtlinge und Evakuierten aufzunehmen, sondern wieder die weit im Inneren der Monarchie gelegenen Städte und Ortschaften – und Lager. Wo es hinging, erfuhren die Quasi-Deportierten erst zuletzt. Die Durchführung der Aktionen war wie im Osten der Monarchie Sache des Innenministeriums. Diesmal war das Ministerium nicht überrascht worden. Noch im April 1915, also zu einer Zeit, als darüber verhandelt wurde, wie der Kriegseintritt Italiens zu verhindern wäre, hatten die Statthaltereien die Gemeinden im Inneren der Monarchie angewiesen, Unterkunftsmöglichkeiten für Flüchtlinge bekannt zu geben. Im Mai wurde eine Zentraltransportleitung eingerichtet. Die Verteilungsstationen waren Salzburg und Leibnitz. Dort gab es auch eigene Perlustrierungsstationen, die wie an den Kronlandsgrenzen im Osten nach dem Aschenputtel-Prinzip verfuhren. Verfügten die Flüchtlinge über finanzielle Mittel, wurden sie vorher festgelegten Flüchtlingsgemeinden zugeteilt. Waren sie mittellos, kamen sie in Lager. Doch auch dabei sollte es nicht sein Bewenden haben, denn wurde jemand verdächtigt, Spion oder zumindest unzuverlässig zu sein, kam er in ein Internierungslager. Und wieder rollte Transport auf Transport. Sofern die Evakuierten in Lager eingewiesen wurden, mussten sie meist die schon bestehenden beziehen, die vorher für polnische und ruthenische Flüchtlinge errichtet worden waren und jetzt »umgelagert« oder heimgeschickt wurden. Wo das nicht der Fall war, wurden neue Barackenlager gebaut. Eine Art Grobschätzung ergab, dass aus den an Italien angrenzenden Gebieten der Monarchie 150.000 Menschen unterzubringen waren. Damit schwoll die Gesamtzahl der mittellosen Flüchtlinge kurzfristig auf 550.000 an, zu denen noch jene kamen, die mit einer gewissen Barschaft ausgestattet, aber jedenfalls Entwurzelte waren und weitere 300.000 bis 400.00 Menschen zählten. Alles in allem ergab das die runde Zahl von einer Million Menschen. Um ihnen die wichtigsten sozialen Kontakte zu ermöglichen, die sprachlichen Barrieren niedrig zu halten und die konfessionellen Bedürfnisse
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zu stillen, wurden die Lager nach nationalen, sprachlichen und religiösen Gruppen getrennt. Und so waren denn in Braunau am Inn Südtiroler italienischer Nationalität, in Bruck a. d. Leitha Slowenen, in Enzersdorf im Thale in Niederösterreich Rumänen und Ruthenen aus der Bukowina, in Gmünd in Niederösterreich Ruthenen, in Pottendorf-Landegg küstenländische Bewohner italienischer Nationalität, in Mitterndorf bei Grammatneusiedl italienische Südtiroler, in Oberhollabrunn Rumänen und Ruthenen aus der Bukowina, in Reisenberg Polen, Kroaten und Slowenen, in Unterwaltersdorf Polen, in Wagna bei Leibnitz zunächst Polen, dann küstenländische Bewohner italienischer und slowenischer Nationalität, und in Wolfsberg Ruthenen untergebracht. Im Flüchtlingslager Braunau am Inn fanden beispielsweise in 129 Baracken rund 12.000 Menschen Unterkunft, dreimal so viel wie Braunau Einwohner hatte. In Wagna bei Leibnitz zählte man an die 30.000 Menschen. Doch das waren nur die Hauptlager. Dazu kamen unzählige Ortschaften, in denen nur wenige Dutzend Flüchtlinge Quartier fanden. Es war unabdingbar geworden, die Flüchtlinge immer mehr aufzuteilen und die Lasten zu verteilen. Salzburg kam dazu und der Bezirk Eferding. Für den Zuzug gesperrt blieben freilich Wien, Graz, Brünn und Prag. Dazu kam noch Linz. Kaum war im Juni 1915 Lemberg rückerobert worden, begann das Ministerium des Innern auch schon damit, die galizischen Flüchtlinge heimzuschicken. Es schien zunächst ein reiner Verwaltungsakt zu sein. Natürlich drängten jene, die ihr Hab und Gut zurückgelassen hatten und vielleicht Grundbesitz besaßen, zurück. Und auch den Behörden lag daran, sie so schnell wie möglich heimkehren zu sehen, um wieder Ordnung zu schaffen, mit dem Wiederaufbau zu beginnen und vor allem die Felder zu bestellen. Doch unendlich vieles war zerstört worden, nachdem die Front zweimal durchgezogen war und besonders dort, wo Hunderttausende Soldaten wochen- und monatelang im Krieg verharrten. Ganze Dörfer waren ausradiert worden. Nur einfach heimzufahren ging nicht, und natürlich fragten sich die Rückkehrwilligen, ob sie ein auch nur einigermaßen menschenwürdiges Auskommen haben würden. Sie erhielten die Zusage, dass die staatlichen Unterstützungszahlungen, die sie während ihres erzwungenen Aufenthalts in anderen Kronländern bekommen hatten, fortgesetzt würden. Doch wie so häufig gab es immer wieder Verzögerungen und Schwierigkeiten Vor allem in den ländlichen Aufnahmegebieten nahmen die Spannungen zu, wurde geargwöhnt, dass es den Flüchtlingen besser ginge als den Einheimischen, und vor allem erregte Neid, dass die Flüchtlinge mit einem Fixum an Geld und vor allem mit Lebensmitteln versorgt wurden (ohne sich anstellen zu müssen), während die Ortsansässigen nicht mit Nahrung, kostenloser Kleidung, Schuhwerk, Wäsche, Strohsäcken, Decken und Medikamenten rechnen konnten. Im Dezember 1914 mussten in der österreichischen Reichshälfte bereits 291.459 Flüchtlinge unterstützt werden, im Jänner 1915 waren es 321.478. Da und dort ge-
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wöhnte man sich an den Anblick der Flüchtlinge. Vor allem in den großen Städten gingen sie zumindest zeitweilig in den Massen unter. Doch in den kleineren Orten und in den ländlichen Gemeinden erregte das fremdartige Aussehen vor allem der Ostflüchtlinge immer wieder Aufsehen. Man stieß sich an der ungewohnten Kleidung, den bis dahin kaum gehörten Sprachen und mokierte sich über Sitten und Gebräuche. Juden im Kaftan, mit Schläfenlocken und langem Bart, wurden argwöhnisch gemustert. Der Antisemitismus feierte fröhliche Urständ. Ablehnung und Unmut wuchsen, als die Flüchtlingsströme nicht enden wollten. Doch es bildeten sich auch Hilfskomitees in großer Zahl und übten einigen Druck auf die Landesbehörden aus, um eine bessere Fürsorge zu erzwingen. Da ging es darum, für die Flüchtlinge Beschäftigungen zu finden, die Kinder zu unterrichten, die Unterbringungsmöglichkeiten zu verbessern und den aufkeimenden Spannungen zwischen den Flüchtlingen und den Einheimischen, aber auch denen von Flüchtlingen untereinander entgegenzuwirken. Das schien am leichtesten in Lagern zu bewerkstelligen. Die Einweisung in Lager, so problematisch und folgenschwer sie sein mochte, lag bis zu einem gewissen Grad auch im Interesse der Flüchtlinge und Zwangsevakuierten. Das mussten vor allem jene zur Kenntnis nehmen, die noch in Galizien oder aber irgendwo auf ihrer Flucht vor dem Krieg unterzutauchen gesucht hatten, denn sie konnten natürlich keinen Anspruch auf Unterhalt geltend machen. Ideal war nichts. Die Baracken in Wagna beherbergten jeweils 400 Flüchtlinge. In Braunau waren die Holzhütten im Ausmaß von 40 × 10 m für 100 Menschen ausgelegt. Das war in beiden Fällen die Norm. Zeitweilig wurden in die hallenartigen Baracken freilich 600 Menschen hineingestopft und in die kleineren bis zu 170. Die Räume wurden in größere Einheiten unterteilt, diese wieder in Abteile für einzelne Familien. Herde in den Mittelgängen, Bäder und Aborte ergänzten die sehr einfachen Unterkünfte. Betten waren meist die eisernen Militärbetten, auf die Strohsäcke gelegt wurden. Kästen gab es keine. Die Habseligkeiten wurden in Koffern und Körben aufgehoben oder an die Balken gehängt. Die Unzukömmlichkeiten glichen sich meist. Die Baracken wurden schäbig, die sanitären Verhältnisse ließen zu wünschen übrig und waren mitunter katastrophal. Die Verständigung war ein Problem und bereitete schon dort Schwierigkeiten, wo die Lagerleiter die Sprache der Insassen nicht verstanden (und umgekehrt). Es gab zwar einen Grundschulunterricht, doch keinen darauf aufbauenden Unterricht. Nur für die in den großen Städten lebenden Flüchtlinge wurden meist aufgrund von Eigeninitiativen aufbauende Schulen eingerichtet, in denen man auch maturieren konnte. Dann freilich galt es für die jungen Männer einzurücken. Schlechte Unterbringungsverhältnisse schufen eine explosive Stimmung. Und wie das halt so üblich war, wurde Militär als Assistenz angefordert. Nach und nach veränderten sich die Lager natürlich, kamen Schulbaracken, Sanitäts- und Spitalsbaracken
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dazu, wurden Kirchen gebaut und Kindergärten. Grünanlagen ließen die Lager regelrecht idyllisch aussehen. In Wagna gingen Ende 1915 1.600 Kinder in die istrianische und 1.500 Kinder in die friulanische Schule. Die Arbeitsmöglichkeiten waren bescheiden. Da gab es zwar Möglichkeiten, als Schuster, Tischler oder Korbflechter zu arbeiten, Strick- und Schnitzereischulen galten einer Art Umschulung. Was aber machten die Fischer aus den küstenländischen Gebieten, was die Bauern, die jetzt keine Äcker und kein Vieh mehr hatten ? Was, die kleinen Angestellten, Gewerbetreibenden oder Gastwirte ? Aber dass man die Flüchtlinge arbeiten lassen, sie notfalls auch zur Arbeit zwingen wollte, war klar. In Österreich wurden denn auch – um ein Jahr herauszugreifen – 1915 an die 135.000 Kriegsflüchtlinge in den unterschiedlichsten Wirtschaftszweigen beschäftigt, »nutzbar« gemacht. Die Jüngeren und Jungen, die für den Militärdienst taugten oder irgendwann zwischen 1915 und 1918 gemustert wurden, kamen zum Militär. Den Älteren und Alten blieb nichts anderes, als den Tag totzuschlagen. Immer wieder wurden neue Kategorien geschaffen und auch neue Aufenthaltsorte gesucht und zugewiesen. Da die Lager bald überfüllt waren und neue Flüchtlinge in das Innere Österreichs drängten, wurden Anfang Mai 1915 an die 5.000 Polen auf verschiedene Sommerfrischen in der Steiermark aufgeteilt, 1.500 Polen kamen in die Stadt Salzburg, 1.500 nach Linz und Umgebung. 5.000 Juden wurden auf Kärntner Sommerfrischen aufgeteilt. 8.000 sozial höherstehenden polnischen Flüchtlingen und 500 Juden wurden in Graz, Salzburg, Linz und Klagenfurt Wohnungen zur Verfügung gestellt, die auf Staatskosten angemietet wurden. Dann wurden neue Lager gebaut. Auch Salzburg wurde Flüchtlingsland. Ganz offensichtlich hatte man sich entsprechend vorbereiten können. Der tagebuchführende Gendarmerie Postenkommandant von Grödig konnte sich denn auch nicht genugtun zu betonen, wie großartig das Lager in seinem Revierbereich war. Es besaß eine eigene Trinkwasserleitung für Wasser aus dem Untersberg, Nutzwasser wurde aus dem Almkanal zugeleitet. Das Lager war kanalisiert, hatte ein Spital mit Operationssaal, Isolierbaracken für Infektionskranke, Desinfektions- und Entlausungsstation, Fäkalienverbrennungsanlage, Wäscherei und Badeanlage, ein eigenes Schlachthaus u.v.m. Bald waren 12.000 Flüchtlinge unterzubringen. Für die betreuende und eigentlich mehr Wachmannschaft gab es ein reiches Betätigungsfeld »denn die an keine Reinlichkeit, wenig Ordnung gewöhnte Belegschaft dieses Lagers, deren Faulheit auch noch besonders hervorzuheben wäre, verursachte viel Arbeit und stellte große Proben von Geduld und Ausdauer an die Gendarmen.« Dann folgte die Einsicht : »Ein Teil dieser Flüchtlinge aber vermochte sich nicht von ihrer seelischen Niedergeschlagenheit zu erholen, obwohl diese Personen hier gut geborgen die Verhältnisse bzw. Vorgänge in der Heimat ruhig abwarten konnten, denn sie waren entweder aus guten, sicheren Anstellungen geworfen worden oder hatten ihr Geschäft, das sie unter viel Mühen zu einigem Ansehen gebracht hatten, oder Haus und Hof überstürzt
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verlassen müssen, um nur das nackte Leben retten zu können.« Aber sie hatten auch eine Hoffnung : So bald wie möglich rückkehren zu können. Im Herbst 1915 schien es so weit. Doch noch einmal, im Sommer 1916, schnellten die Flüchtlingszahlen in die Höhe. Abermals mussten rund 200.000 Bewohner Galiziens und der Bukowina alles zurücklassen und das eben Aufgebaute wieder der Vernichtung preisgeben. Diesmal verpflichtete sich auch Ungarn, kurzzeitig 25.000 Flüchtlinge aufzunehmen. Für Österreich standen aber ohnedies schon längst andere, nämlich die Flüchtlinge aus dem Südwesten im Vordergrund. Ab 1917 wurde immer öfter versucht, jene, die sich einer freiwilligen Rückkehr widersetzten, zwangsweise zu repatriieren. Nicht sehr erfolgreich, da sich die Gesamtzahl der Flüchtlinge in einem ganzen Jahr nur um rund 100.000 Menschen senken ließ. Die Statthaltereien, Gemeinden und Bürgermeister versuchten immer wieder den zwangsweisen Abschub. Sie standen nicht zuletzt unter einem zunehmenden Druck der jeweils einheimischen Bevölkerung, die nicht müde wurde, ihre Ablehnung zu artikulieren. Flüchtlinge seien »Schmarotzer«. Sie seien schuld an »unhygienischen Verhältnissen« und daher für den Ausbruch ansteckender Krankheiten verantwortlich. Sie und vor allem die Juden unter ihnen würden die Preise in die Höhe treiben und den Schwarzmarkt beliefern. Sie galten als arbeitsscheu, sollten aber anderseits das beispielsweise in Wien geltende Arbeitsverbot beachten. Der antisemitischen Rhetorik waren Tür und Tor geöffnet. Als es im österreichischen Abgeordnetenhaus am 22. Juli 1917 darum ging, ein Gesetz »betreffend den Schutz der Kriegsflüchtlinge« zu verabschieden, war es der Berichterstatter, Dr. Janez Evangelist Krek, der sicherlich etwas polemisch meinte : »Ich wundere mich, dass nicht alle Flüchtlinge Verbrecher geworden sind. Ich bewundere ihren passiven Heldenmut im Ertragen der Mühsale. Ich bewundere, dass sie nicht vollständig an allem verzweifelt haben [sic !], denn tatsächlich … sind diese Leute scheu geworden am Staate, am Recht, am Gesetz, an der Ordnung, an der Welt, an Gott.« Das Abgeordnetenhaus nahm die Gesetzesvorlage an. Bis der parlamentarische Prozess beendet war und das Gesetz zum Schutz der Kriegsflüchtlinge auch tatsächlich in Kraft treten konnte, verging freilich noch ein halbes Jahr. An dem Bemühen, die Flüchtlinge loszuwerden, änderte auch das Gesetz nichts. Sollten doch die Galizianer und vor allem die Juden dorthin zurückkehren, wo sie herkamen ! Die Mittel, mit denen man sie zur Rückkehr bewegen wollte, pendelten zwischen der Anwendung erlassmäßiger Bestimmungen, Zusagen, finanziellen Zuwendungen, Streichung der Unterstützung, Delogierung und blankem Hass. Vom anfänglichen Mitleid und von Verständnis war keine Rede mehr. Und wenn es so etwas wie ein Gemeinschaftserlebnis gab, dann war es auf die engste Gruppe der Schicksalsgenossen und Leidensgefährten beschränkt. Gefühle der Dankbarkeit kamen da keine auf. Dennoch meinte der Reichsratsabgeordnete Alcide Degasperi 1917, dass zumindest seitens des Ministeriums des Innern
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für die Flüchtlinge wohl das Möglichste geschehen sei und aus »Verbannten« letztlich »Staatsbürger« geworden seien. Es sei ihnen auch viel Liebe entgegengebracht worden, und zwar gleichermaßen in Böhmen, Mähren, Oberösterreich, Niederösterreich und der Steiermark. Doch letztlich seien die Flüchtlinge wie Gegenstände und nicht wie Menschen behandelt worden. »Sie wurden evakuiert, instradiert, perlustriert, approvisioniert, kaserniert, als ob sie keinen eigenen Willen, als ob sie kein Recht gehabt hätten.« Der Rücktransport der Flüchtlinge mutete dann mindestens ebenso dramatisch an wie die Zwangsevakuierung. Allein im Osten der Habsburgermonarchie war ein Gebiet von rund 70.000 Quadratkilometern durch den Krieg verwüstet worden. Sieben Millionen Menschen waren von den Verheerungen betroffen, ein Teil von ihnen stand ohne jegliche Habe da. Doch offensichtlich sah man darin keinen Hinderungsgrund, die Rückführungen zu beginnen. Galizien musste wieder aufgebaut werden, koste es, was es wolle. Viele drängten tatsächlich nach Hause. Ebenso viele aber waren skeptisch, dass sie überhaupt noch etwas vorfinden würden, um sich wieder eine Existenz aufbauen zu können. Plötzlich schien das Lagerleben in Österreich erstrebenswerter. Viele Flüchtlinge hatten freilich einen Traum : Sie wollten jenem Strom von Auswanderern folgen, der sich seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aus Galizien in die USA ergoss. Aber den Meisten nützte es nichts, dass sie von einer Existenz in Übersee träumten. Die Realität war eine andere. So wie es am Anfang des Kriegs Zwangsevakuierung gegeben hatte, begann 1916 die Zwangsrepatriierung. Und als Meldungen eintrafen, die besagten, dass in Ostgalizien von den repatriierten Flüchtlingen täglich Hunderte starben, wurde das entweder nicht geglaubt oder es ließ kalt. So viele starben in diesem Krieg. Franz Joseph I.: Den Tod vor Augen Des Kaisers 84. Geburtstag am 18. August 1914 war kein großes Ereignis. Franz Josephs Reich befand sich im Krieg. Drei Wochen vorher war vergessen gewesen, was der Kaiser 48 Jahre früher, im Katastrophenjahr 1866 gesagt hatte : »Ich werde nie mehr einen Krieg führen«. Doch in einem immer wieder vom Zerfall bedrohten Reich blieb ihm gar nichts anderes übrig, als mit der Möglichkeit eines Kriegs zu rechnen. Das Bündnis mit Deutschland 1879 sollte eine weitere Niederlage vermeiden helfen. 1883 kam ein Bündnis mit Italien dazu. Damit war der Dreibund geboren. Ein Krieg gegen den »Erbfeind« Italien wurde aber trotz des Bündnisses nicht ausgeschlossen.1908, nach der Annexion Bosniens und der Herzegowina, musste man mit Krieg rechnen. Und schon während des 1. und des 2. Balkankriegs 1912/13 war Franz Joseph bereit gewesen, militärische Gewalt einzusetzen. 1914 gab er schließlich den Weg in den
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Krieg frei und unterschrieb die Kriegserklärung an Serbien. Ab da war es definitiv zu spät, um sich an das Zitat von 1866 zu erinnern.21 In der Folge musste sich Franz Joseph daran gewöhnen, dass man ihm zwar einige wenige Siege, mehr noch Niederlagen und gewaltige Menschenverluste meldete. Der Krieg gegen Russland, der nach dem serbischen Krieg gekommen war, verschlang die Menschen. Dann, im Mai 1915, war die Kriegserklärung Italiens gekommen, die Franz Joseph weder verhindern konnte noch verhindern wollte. Und die einzige einigermaßen authentisch überlieferte Äußerung des Kaisers lautete : »So werden wir halt jetzt zugrunde gehen.« Er soll geweint haben.22 Der Krieg ging weiter. Siege und Niederlagen wechselten sich ab. Franz Joseph musste schließlich akzeptieren, dass es der k. u. k. Armee nur mehr mit deutscher Hilfe möglich war, zum Erfolg zu kommen. Das war im Mai und Juni 1915 in Galizien und Russland im Verlauf der Durchbruchsschlacht von Tarnów-Gorlice der Fall gewesen, und im Oktober desselben Jahres in Serbien. 1916 wendete sich das Blatt abermals. Die ausschließlich von österreichisch-ungarischen Truppen geführte Offensive in Südtirol scheiterte nach einigen Anfangserfolgen. Zeitgleich starteten die Russen eine Großoffensive, die fast zum Zusammenbruch der österreichischen Front im Osten geführt hätte. Wieder waren es nur die deutsche Truppenhilfe und die deutsche Befehlsführung, die das Schlimmste verhinderten. Der Preis, den Franz Joseph dafür zu zahlen hatte, war enorm und gipfelte in einem weitgehenden Souveränitätsverzicht.23 Mit der Bildung der Gemeinsamen Obersten Kriegsleitung im August 1916 willigte der österreichische Monarch ein, dass in letzter Konsequenz nur mehr der deutsche Kaiser über Fortsetzung oder Beendigung des Kriegs entschied, über Waffenstillstand oder Sonderfrieden und die damit verbundenen Folgen. Franz Joseph akzeptierte das. Damit hatte sich Europas ältester Monarch, der Erbe des römisch-deutschen Reichs, dem deutschen Kaiser untergeordnet. Doch Franz Joseph war – im Gegensatz zu seinem Generalstabschef, Generaloberst Franz Conrad von Hötzendorf – Realist genug, um das Unausweichliche hinzunehmen.24 Er stellte die Weichen für die Zeit nach ihm. Der Krieg musste weiter gehen. Ein Verzichtfrieden kam auch für Franz Joseph nicht in Frage. Eine Reichsreform, wie sie schon mehrfach angedacht und gefordert worden war, lehnte er ab. Und er wollte auch keine personellen Änderungen an der Spitze Österreichs wie Ungarns und noch weniger eine Änderung in seiner engsten Umgebung, auch wenn einige seiner Berater fast so alt waren wie er selbst. Sie bildeten einen »geriatrischen Zirkel« und hielten den Monarchen mit Hilfe der Tagesroutine am Leben. Franz Joseph dachte auch nicht daran, Verantwortung abzugeben, sah sich unverändert als Kaiser von Gottes Gnaden, und es konnte daher auch nur Gott sein, der ihn von der Last des Regierens entband. Ganz zu Anfang des Kriegs war er noch bei we-
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nigen Gelegenheiten in der Öffentlichkeit gesehen worden. Er machte einige Besuche bei Verwundeten und hielt auch noch drei allgemeine Audienzen ab. Doch dann zog er sich auf sein Schloss Schönbrunn zurück und empfing dort seine Ministerpräsidenten, Minister, die höchsten Militärs, ausländische Gäste, Menschen, die er erhöhte und solche, die er entließ. An seinem 86. Geburtstag, 1916, war es nicht anders. Franz Joseph tat das, was man von ihm erwartete, und es schien ihm das Normalste von der Welt. Er verlangte Pflichterfüllung und wollte selbst seine Pflicht erfüllen. Dabei zeigte er ein ungeheures Beharrungsvermögen. Einmal getroffene Entscheidungen sollten nicht widerrufen werden. Menschen, denen er ein Amt anvertraut hatte, sollten möglichst auf ihren Posten bleiben. Das konnte man als Altersstarrsinn sehen, ebenso aber als etwas, das Kontinuität signalisierte. Im Großen und Ganzen war Franz Joseph aber unsichtbar geworden, drohte zu versteinern, ein Monument seiner selbst. Dass er schon längst ein Symbol geworden war, dürfte ihm selbst bewusst gewesen sein, ein Symbol für die noch bestehende Einheit des Reichs und ein Symbol für Gewesenes, für gute und für schlechte Tage, die er im Zeichen seiner Devise »Viribus unitis« mit seinen Völkern durchlebt hatte. Er war für drei Generationen prägend geworden und schien »schon immer dagewesen« zu sein. Der ewige Kaiser. Gerade das Beharrungsvermögen des Kaisers und die Einflussnahme seiner engsten Umgebung ließen in Deutschland die Bereitschaft, in Franz Joseph den letztverantwortlichen Entscheidungsträger von Deutschlands wichtigstem Verbündeten zu sehen, schwinden. Im September 1916 ging man so weit, die Möglichkeit einer zwangsweisen Resignation Franz Josephs in den Raum zu stellen, um an seine Stelle einen Regenten zu setzen, der den deutschen Wünschen und Forderungen bereitwillig folgen würde. In einer Denkschrift für den Ersten Generalquartiermeister der Deutschen Obersten Heeresleitung, General Erich Ludendorff, hieß es im September 1916 recht ungeniert : Sollte sich Kaiser Franz Joseph einer von Deutschland gewünschten Neuordnung seines Reichs widersetzen, müsste der Kaiser »unter einem sanften, überzeugenden Druck« zur Abdankung gezwungen werden.25 Man sollte denn auch gar nicht mehr auf den alten Kaiser setzen, sondern sich in erster Linie um dessen Nachfolger, Erzherzog Karl Franz Joseph, bemühen. Die Gedanken mussten nicht weitergesponnen werden, denn plötzlich, am 21. Oktober 1916, begannen sich die Ereignisse zu überstürzen. Es war ein Samstag. Franz Joseph war an diesem Tag wie im Winterhalbjahr üblich, statt um drei Uhr früh, erst um 03.30 Uhr aufgestanden.26 Nach dem Waschen und Ankleiden begann er in seinem Arbeitszimmer mit der Erledigung von Akten. Um 07.50 Uhr kam der Chef der kaiserlichen Militärkanzlei, Generaloberst Artur Freiherr von Bolfras, mit den militärischen Tagesmeldungen. Er blieb eineinhalb Stunden. Auch das war üblich, denn Franz Joseph verbrachte mit niemandem in seiner Umgebung so viel Zeit wie mit Artur von Bolfras. Um 09.45 Uhr kam der österreichisch-ungarische Generalstabschef, Conrad von Hötzendorf. Er blieb volle zwei Stunden. Conrad wollte
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kein Ende finden. Er war aus Teschen angereist und trachtete, den Termin exzessiv zu nützen. Vor allem vom Kriegsschauplatz Siebenbürgen gab es Erfreuliches zu berichten. Nach fast drei Stunden Meldungen über das Kriegsgeschehen kam für acht Minuten der Präsident der Ungarischen Akademie der Wissenschaften, Geheimer Rat Béla von Berzeviczy. Um 11.55 gab es – wie es im Tagesjournal des Flügeladjutanten heißt – das sogenannte »Allerhöchste Frühstück«. Schon nach einer Viertelstunde setzte Franz Joseph seine Audienzen fort und empfing den Gemeinsamen Finanzminister, Baron Ernest von Koerber. Im November sollte die 5. Kriegsanleihe begeben werden, mit der Geld für ein weiteres halbes Jahr Kriegführung in die Staatskassen gespült werden sollte. Dann wurden wieder Akten erledigt. Und irgendwann gegen 15 Uhr informierte man den Kaiser, dass der österreichische Ministerpräsident, Karl Graf Stürgkh, erschossen worden war. Das war genau jenes Ereignis, das die Ordnung ins Wanken brachte, die Franz Joseph um jeden Preis beibehalten wollte. Ob und wie sehr ihm der Mord naheging, wissen wir nicht. Dabei musste sich der Kaiser sagen, dass die Ermordung des österreichischen Ministerpräsidenten durch Friedrich Adler indirekt auch ihm gegolten hatte. Denn es war »seine« Politik, die Graf Stürgkh zu vollziehen hatte ; es war »sein« Krieg und es war »sein« Ministerpräsident gewesen, der ermordet worden war. Ein Fanal.27 Und dennoch : Rein äußerlich schien sich für Franz Joseph nicht viel verändert zu haben. Um 17 Uhr an diesem 21. Oktober war »Allerhöchste Familientafel« mit vier Gedecken angesagt. Drei Familienangehörige leisteten dem Kaiser bei einem bescheidenen Abendessen Gesellschaft. Dann endete der Tag für ihn. Er war gesundheitlich nicht auf der Höhe, hatte sich etwas erkältet. Doch es sollte nichts an seinem Tagesablauf ändern. Franz Joseph beförderte, ernannte, verlieh, nahm zur Kenntnis und entschied. Und am darauffolgenden Tag stand er wieder um 03.30 Uhr auf. Um 07 Uhr war »Allerhöchster Kirchgang« angesagt – es war Sonntag. Nach einem halben Dutzend Terminen kam am Nachmittag jener Mann, den sich Franz Joseph als Nachfolger für den ermordeten Ministerpräsidenten wünschte : Ernest von Koerber. Noch vor seiner Audienz war eifrig gegen ihn intrigiert worden. Die Militärs wollten einen der Ihren als Ministerpräsidenten haben.28 Der Kommandant der Südwestfront, Erzherzog Eugen, telegrafierte dem Kaiser, dass »staatliche und vor allem dynastische Interessen in dieser schweren Zeit zur Aufrechterhaltung der Ruhe im Innern und insbesondere für die Erhaltung der guten Stimmung an der Front eine kraftvolle militärische Verwaltung« erforderten. Doch Franz Joseph hatte anders entschieden. So wie er schon in den Jahren davor gegen eine Militarisierung der Zivilverwaltung gewesen war, sollte auch jetzt kein General an die Spitze der österreichischen Regierung kommen. Er befahl Ernest von Koerber zu sich.29 Der erbat sich Bedenkzeit. Denn bevor Koerber die undankbare Aufgabe übernehmen wollte, die er schon zwischen 1900 und 1904 zu meistern gesucht hatte, hielt er ein Treffen mit dem ungari-
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schen Ministerpräsidenten, Istvan Graf Tisza, für unverzichtbar, um die anstehenden Probleme des Dualismus und vor allem die Haltung Ungarns zu besprechen. Die Begegnung brachte nicht die Ergebnisse, die sich Koerber gewünscht hatte. Am 25. Oktober mittags kam der designierte Ministerpräsident abermals zum Kaiser und lehnte die Übernahme der Ministerpräsidentschaft ab. Franz Joseph wollte es nicht hinnehmen, und soll sich der Schilderung Koerbers zufolge halb aus seinem Sessel erhoben haben, »totenbleich, die Augen vorquellend«, und er hätte die Hände fast flehentlich erhoben und »mit der Stimme eines Gemarterten« gerufen : »Haben Sie denn gar kein Mitleid mit mir ?«30 Koerber fürchtete jeden Moment, dass ein Schlaganfall den Kaiser töten könnte. Die Szene muss auf ihn wie ein Schock gewirkt haben. Er fügte sich, knüpfte an seine Bestellung aber abermals Bedingungen. Wieder vergingen die Tage, ehe Koerber am 30. Oktober dem Kaiser den erfolgreichen Abschluss seiner Verhandlungen meldete. Nach mehr als einer Woche war die Regierungskrise beendet. Sie hatte den Kaiser viel Substanz gekostet, doch er hatte seinen Willen durchgesetzt. Und sein Tagesablauf nahm wieder das Bild gewohnter Routine an. In bunter Reihenfolge und so wie sie gerufen wurden oder um eine Audienz angesucht hatten, kamen die Menschen im Minuten- oder im Stundentakt : Der päpstliche Nuntius, Kardinal Scapinelli, zur Abschiedsaudienz, tags darauf, am 31. Oktober, sein Nachfolger, Kardinal Valfré di Bonzo ; es kamen Generäle und Würdenträger. Am Sonntag, dem 1. November Mittag, erfolgte die Vereidigung des Ministerpräsidenten und der neuen österreichischen Regierung, dann kamen der Präsident des Obersten Gerichtshofs, Baron Max Vladimir Beck, Unterrichtsminister von Hussarek-Heinlein und der Minister des Äußern, Graf Burián. Der bunte Reigen setzte sich fort. Minister, Würdenträger und Militärs kamen und gingen. Dann, am 6. November, erfuhr der Besucherreigen eine erste noch nicht wirklich merkbare Veränderung. Es kamen immer häufiger Familienmitglieder, um den Kaiser zu besuchen. Am Vormittag des 8. November machten Erzherzog Franz Salvator und die Tochter des Kaisers, Marie Valerie, dem Kaiser die Aufwartung. Am Nachmittag folgte Erzherzog Leopold Salvator. Zwei Tage später kam abermals die Erzherzogin Marie Valerie mit ihren Kindern. Am Nachmittag besuchten Marie Valerie und Tochter Hedwig den alten Herren ein drittes Mal. Und wieder einen Tag darauf kamen Franz Salvator, Marie Valerie und Erzherzog Friedrich. An diesem Tag, dem 11. November, trug der Flügeladjutant in das Tagesjournal mit Bleistift ein : »S[eine M[ajestät]. krank«. Franz Joseph laborierte an einer beginnenden Lungenentzündung. Der Obersthofmeister, Fürst Montenuovo, machte sich wohl keine Illusionen über den Ernst der Situation und schrieb schon nach den ersten Anzeichen einer Erkrankung am 9. November an den Obersthofmeister des Thronfolgers, den früheren Minister des Äußern, Leopold Graf Berchtold, nach Siebenbürgen : »Nur 2 Worte in Eile, um dir zu sagen, dass der Zustand S[einer] M[ajestät] leider noch nicht gebessert ist. Letzten Abend sogar
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37,6, also etwas Fieber, heute Früh wieder fieberfrei nach guter Nacht und besonders früh. S.M. arbeiten wie gewöhnlich, empfangen von Früh bis Abends – Morgen König von Bayern – und würde es mir nie verzeihen, dass ich diese Zeilen schreibe.«31 Berchtold mochte das für sich behalten haben, doch der Thronfolger, Erzherzog Karl, war ähnlich informiert worden. Tags darauf hieß es dann aus Wien, Franz Joseph hätte 38,4° Fieber. Er hatte wohl nicht von sich aus den Wunsch geäußert, dass der Thronfolger nach Wien kommen sollte. Doch auf Drängen seiner Umgebung willigte er schließlich ein. Erzherzog Karl übergab das Kommando seiner Heeresgruppe und fuhr los. Trotz der bevorzugten Abfertigung kam der Hofzug des Thronfolgers nur langsam voran. Immer wieder wurden Militärtransporte vorgelassen. Der Erzherzog zeigte keine Eile, brauchte mehr als zwei Tage nach Wien und meldete sich erst am 13. November um 13 Uhr beim Kaiser. Erzherzog Karl blieb etwas mehr als eine Stunde. Man kann bestenfalls mutmaßen, was besprochen worden ist, denn bei keiner Audienz, auch bei dieser nicht, wurde etwas notiert. Es war ein Vier-Augen-Gespräch. Karl vermied es aber offenbar, wirklich wichtige Themen anzureißen. Und er rechnete so wie andere auch damit, dass der Kaiser bald sterben würde. Während Franz Joseph trotz des steigenden Fiebers weiterhin alles tat, um Normalität zu zeigen, den Minister des Äußern, den »ordenbehängten« Fürsten Wilhelm von Hohenzollern und seine Kabinettsdirektoren und schließlich auch den ungarischen Honvédminister, Baron Hazai, in Audienz empfing,32 fuhr der Thronfolger nach Schloss Wartholz in Reichenau a.d. Rax und begann sich auf die Übernahme der Regierungsgeschäfte vorzubereiten. Dabei zeigten sich erste Konfliktfelder. Karl wollte einen raschen Waffenstillstand und Frieden mit Rumänien, ohne terri toriale Forderungen zu stellen. Er wollte die Entwaffnung Rumäniens und nur das Recht zum Durchmarsch, um k. u. k. Truppen gegen Russland dirigieren zu können. Berlin wollte mehr. So billig sollte Rumänien nicht davonkommen. Als Nächstes wollte Karl vom österreichischen Ministerpräsidenten Koerber wissen, wann er das im März 1914 sistierte österreichische Parlament einberufen wolle. Koerber »drehte und wand« sich, notierte Graf Berchtold.33 Unter den gegebenen Umständen könnte er nicht dazu raten, hieß es. Schließlich ging es noch um die Frage des Oberbefehls über die k. u. k. Armee und die Flotte. Sollte Karl den Oberbefehl noch vor dem Tod des alten Kaisers, nachher und überhaupt übernehmen ? Er schwankte. Bei allen diesen für den Thronfolger wohl besonders wichtigen Fragen suchte er aber nicht das persönliche Gespräch, sondern bediente sich einiger weniger Personen seines Vertrauens, um die entsprechenden Fragen zu stellen. Die Gemeinsame Oberste Kriegsleitung war ein eigenes Problem, das warten musste. Das Mitglied des Herrenhauses, Karl Max Egon Fürstenberg, musste mit Koerber über die Einberufung des österreichischen Reichsrats sprechen. Graf Berchtold sollte bei Minister Burián sondieren, wie er sich zur Übernahme des Armeeoberkommandos durch Karl stelle. Der
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wusste keine Antwort. Burian war aber am 18. November beim Kaiser und trug dem den Wunsch, vielleicht auch nur die Frage des Erzherzogs vor, doch »Seine Majestät antwortete nichts.«34 Als Berchtold dem Thronfolger tags darauf in Reichenau von der Erfolglosigkeit der Sondierung berichtete, nahm es der Erzherzog gleichmütig auf, ja es schien ihn »eher zu befriedigen«, notierte sein Obersthofmeister.35 Währenddessen verließen den alten Kaiser die Kräfte. Er wollte nur mehr einige wenige Menschen seiner engsten Umgebung sehen. Die jüngste Tochter, Marie Valerie, Fürst Montenuovo, General Bolfras und die beiden Kabinettsdirektoren. Dass ihn Frau Schratt besucht habe, ist eine der vielen Legenden, die sich um den Tod des alten Kaisers ranken. Es ist eine Mär.36 Noch immer galt es Akten zu erledigen und gab es die Tagesmeldungen von den Kriegsschauplätzen. Die Abstände zwischen den einzelnen Terminen, die der Kaiser an seinen letzten Lebenstagen wahrnehmen wollte, wurden größer. Eine Diarrhöe verschlechterte sein Befinden. Der 21. November war ein wolkiger, ein wenig windiger, doch schöner Tag. Der Obersthofmeister erhielt 16 Minuten, um Franz Joseph zu berichten, die Erzherzogin Marie Valerie 20 Minuten, der aus Reichenau zurückgekehrte Erzherzog Karl und seine Frau Zita sechs Minuten. Gewissermaßen abschließend notierte der Flügeladjutant : »Vormittag 10 Uhr verrichteten S.M. Allerhöchst seine Andachten. Abends 9 Uhr 5 sind S. Majestät sehr sanft überraschend schnell verschieden.« Franz Joseph hatte den Tod mehrfach vor Augen gehabt : 1848 im Gefecht bei Santa Lucia in der Nähe von Verona hatte er seine Feuertaufe erhalten, ohne wirklich in Gefahr gewesen zu sein. Entgegen dem, was Josef Roth in seinem Roman »Radetzkymarsch« zum Ausgangspunkt seiner Erzählung machte, war Franz Joseph auch in der Schlacht von Solferino weit entfernt und nie gefährdet gewesen, sodass er vom Leutnant Trotta hätte gerettet werden müssen.37 Doch natürlich sah er Tote und sah das Sterben auf dem Schlachtfeld zum zweiten und letzten Mal in seinem Leben. Er weinte am Sarg seines Sohnes Rudolf und vor allem am Sarkophag der Kaiserin Elisabeth. Über die Toten des Weltkriegs vergoss er keine Tränen, zumindest nicht im Beisein anderer. Nur die Möglichkeit, dass sein Reich zugrunde gehen könnte, ließ ihn weinen. Unzählige Nachrufe wurden geschrieben. Jene aus den Reihen der Feinde der Habsburgermonarchie sorgten in Österreich für Empörung, denn vielleicht hatte man sich doch eine gewisse verbale Zurückhaltung erwartet. Die italienische Presse fand nur abfällige Worte.38 In Frankreich hieß es : »Kein Bedauern«.39 Auch die österreichische Emigration schloss sich dem Chor der Hasser an. Für sie galt auch in diesen Tagen, was der Führer der tschechischen Emigration, Tomáš Masaryk, eineinhalb Jahre zuvor so dramatisch formuliert hatte : »Wir klagen an : Franz Joseph vom Haus HabsburgLothringen als einen Feind der Slawen und der tschechischen Nation, unwürdig weiter den Titel König von Böhmen zu tragen, und wir werden darauf bestehen, ihn und
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das ganze Haus Habsburg-Lothringen aller Ansprüche auf die Länder der böhmischen Krone verlustig zu machen. Die tschechische Nation … kann nicht anders, als diesen verräterischen, meineidigen König zu verwerfen. Hierdurch sind alle tschechoslowakischen Soldaten und Staatsbeamten ihres den Habsburgern geleisteten Eides entbunden.« Das war natürlich Propaganda, doch schon wenig später formulierte eine Nationalität nach der anderen ihre Absage an das Reich der Habsburger.40 In Österreich-Ungarn wurden wie bei besonderen Gelegenheiten Plakate affichiert, die mit der Anrede »An Meine Völker« begannen. Der neue Kaiser, Karl I., in Ungarn König Karl IV., teilte den Völkern des nun von ihm regierten Reichs den Tod seines Großonkels mit. Dem Wunsch des neuen Herrn entsprechend sollten die Menschen ihr Geld aber nicht für Trauerkleidung ausgeben, sondern stattdessen Trauerabzeichen kaufen, deren Ertrag dem Militär-Witwen- und Waisenfonds zugutekommen sollte. Tage später wurden dann auch Passagen aus dem Testament Franz Josephs veröffentlicht. Der Letzte Wille des Kaisers war eine Art Notariatsakt ohne Stempelgebühr.41 Da ging es um die Verteilung seiner irdischen Güter, Legate und Kodizille, mit denen auch noch während des Kriegs Zahlungen verfügt wurden. Das eigentliche Testament war nüchtern, ohne Reflexionen über ein Leben an der Spitze eines Großreichs. In seinem letzten Willen fand sich kein Wort über einen Friedenswunsch oder ein flammender Appell an die Völker seines Reichs zum Zusammenhalt. Es fanden sich keine mahnenden Worte an seinen Nachfolger. Vielmehr hieß es da in einer etwas altertümelnden Ausdrucksweise : »Meinen getreuen Völkern sage ich Dank für die treue Liebe, welche sie Mir und Meinem Hause in glücklichen Tagen und in bedrängten Zeiten bethätigten« ; und unter Punkt 15 hieß es : »Auch Meiner Armee und Flotte gedenke Ich mit den Gefühlen gerührten Dankes für ihre Tapferkeit und treue Ergebenheit. Ihre Siege erfüllten Mich mit freudigem Stolze, unverschuldetes Missgeschick mit schmerzlicher Trauer.« Franz Joseph hatte dieses Testament schon 1901 geschrieben und es offenbar nicht für nötig gefunden, etwas daran zu ändern. Er fand kein Wort über diesen »seinen« Krieg und die bis dahin vielleicht 700.000 Toten seines Reichs. Natürlich wusste man nicht, dass der Kaiser seinen »Letzten Willen« schon 15 Jahre zuvor geschrieben hatte. Es las sich ja noch immer aktuell, ohne es zu sein. Franz Joseph fand jedenfalls keine Worte für die sich anbahnende Katastrophe. Vielleicht hatte er das Gefühl, es wäre ohnedies schon alles gesagt worden. Im Dienste Seiner Majestät War es eine Affäre oder ein Skandal, wie viele behauptet haben ? Im April 1918 wurde durch einen Zufall, ein Missverständnis und letztlich stures Leugnen bekannt, dass im Jahr davor die Möglichkeit bestanden hatte, den Ersten Weltkrieg zu beenden. Nicht
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durch die Kapitulation eines der Kriegführenden, sondern durch einen Waffenstillstand und Verhandlungen. Nachträglich wurde viel Schmutzwäsche gewaschen. Der österreichische Kaiser wurde der Lüge geziehen, bezeichnete seinerseits den französischen Staatspräsidenten als Lügner, verlor beim deutschen Bundesgenossen jegliche Achtung und musste zur Kenntnis nehmen, dass zwischen gut und gut gemeint ein meilenweiter Unterschied lag. Es begann im Februar 1917. Der letzte österreichische Kaiser, Karl I. (für die Ungarn König Károly IV.) hatte die Zügel in die Hand genommen, die seinem Großonkel, Kaiser Franz Joseph, schon längst entglitten waren. Er hatte sich drei Ziele gesetzt : Die rasche Beendigung des Kriegs, die Herstellung demokratischer Verhältnisse in der österreichischen Reichshälfte und ein Ende der engen Bindung an Deutschland. Mit seinem letzten Anliegen scheiterte Karl als erstes, und das noch 1916. Doch ein anderes Ziel sollte erreichbar sein. Karl wollte die bis dahin fruchtlosen Versuche, ein Gespräch zwischen den Feinden zu beginnen, beenden und selbst tätig werden. Dazu wollte er sich der familiären Verbindungen bedienen. Anfang Februar 1917 kam die Schwiegermutter des Kaisers, Prinzessin Maria Antonia von BourbonParma, nach Baden bei Wien. Im dortigen »Kaiserhaus« hatte sich Kaiser Karl sein »Allerhöchstes Hoflager« eingerichtet und auch das Armeeoberkommando nach Baden übersiedelt. Bewusst abseits von Wien und doch im Nahbereich der Reichshauptund Residenzstadt. Maria Antonia kam mit einer Botschaft eines ihrer Söhne, Sixtus Ferdinand Maria Bourbon-Parma, der Offizier in der belgischen Armee war, also auf der Seite des Feindes stand. Karl hatte sich an ihn gewandt, um einen Kontakt nach Frankreich herzustellen. Nur einige wenige Vertraute sollten davon erfahren, vorweg, wenngleich nachträglich, der Minister des Äußern und des kaiserlichen Hauses, Ottokar Graf Czernin. Karl wollte aber keinen Diplomaten einspannen, um voranzukommen, sondern seinen Jugendfreund, Oberleutnant Graf Tamás Erdödy. Am 8. Februar rief ihn der Kaiser zu sich. Anschließend wurde es freilich merkwürdig : Erdödy hatte sich am Nachmittag bei Kaiserin Zita zu melden und erfuhr von ihr die Details seiner Aufgabe. Er sollte über Bern nach Neuchâtel in der Schweiz fahren und sich am 13. Februar um halb zwei Uhr Nachmittag in der rue de Pommier bei Herrn Maurice Boy de la Tour melden. Er bekam Schreiben des Kaisers und der Kaiserin mit und einige Instruktionen. Der Graf notierte in sein Tagebuch : »Ich wurde seitens der Majestäten dringend vor den Spitzeln und Spionen gewarnt, da im Falle ich gefangen würde, weder S[eine] M[ajestät] noch das Ministerium von mir etwas wissen könne.« Am Abend desselben Tages fuhr Erdödy vom Wiener Westbahnhof los. Er konnte sich Zeit lassen. Am 13. war der Graf dann in der rue de Pommier, inmitten eines »Apachen-Viertels minderer Güte«, wie er schrieb. Pünktlich traf er nicht nur Sixtus, sondern auch dessen Bruder Xavier, übergab die Briefschaften und bekam gesagt, was die Forderungen der Entente für einen Friedensschluss wären. Das hatte man sich aber ohnedies an den
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Fingern einer Hand abzählen können. Es ging um Elsaß-Lothringen, das die Franzosen von den Deutschen forderten, um die Wiederherstellung Belgiens, die Rekonstruktion Serbiens, das um Albanien erweitert werden und einen Zugang zur Adria erhalten sollte. Und dann war da noch Russland, das auch etwas zu erwarten hatte. Vielleicht auf Kosten des Osmanischen Reichs. Merkwürdigerweise spielte Italien keine Rolle. Weder Kaiser Karl noch sein mit den französischen Wünschen vertrauter Schwager wussten denn auch, wie großzügig zwei Jahre zuvor die westlichen Alliierten Italien österreichische Gebiete versprochen hatten. Daher erkannte man in Österreich auch den Stolperstein nicht, der auf dem Weg zum Frieden lag. Streng genommen gab es aber ein noch größeres Hindernis, denn die Deutschen wollten Elsaß-Lothringen um keinen Preis hergeben. Das wusste letztlich jeder. Erdödy notierte getreulich, was ihm der Parma-Prinz als die französische Position zu verstehen gab, und will sich den Zettel auch von Prinz Sixtus haben unterschreiben lassen. Dann trennte man sich. Am 15. Februar war der Graf wieder in Wien. Tags darauf berichtete er dem Kaiser in Baden über seine Mission, wurde gelobt und hatte sich abermals in Schönbrunn zu melden, um auch der Kaiserin einen Reisebericht zu erstatten. Bis jetzt war es aber nur ein Abtasten gewesen und ging nicht über das hinaus, was schon frühere Kontakte der Mittelmächte mit der Entente erbracht hatten. Wie aber konnte man vorankommen ? Einen Tag nach seiner Rückkehr begleitete Erdödy den Minister des Äußern, Czernin, nach Baden. Karl konferierte drei Stunden lang mit seinem Außenminister, der ein Schriftstück verfasste, das den österreichischen Standpunkt detailliert darlegen sollte. Hier wimmelte es von Gemeinplätzen, dass Österreich-Ungarn keinesfalls unter der Fuchtel Deutschlands stünde, die Slawen in der Habsburgermonarchie dieselben Rechte hätten wie die Deutschen. Und dann besonders kryptisch : Dass Österreich nichts dagegen hätte, falls Deutschland Elsaß-Lothringen abtreten wollte. Als Erdödy drei Tage später wieder im Zug saß, um das zweite Mal in die Schweiz zu fahren, soll er außer den Punktationen Czernins ein paar handschriftliche Notizen des Kaisers mitgenommen haben, die weit konziliantere Formulierungen enthielten, so die Passage, Österreich würde »mit allen Mitteln auf Deutschland Druck ausüben«, damit die französischen Wünsche erfüllt würden. Wie das aussehen sollte, blieb unerwähnt. Und im Übrigen : Von Italien wurde wieder nichts gesagt. Erdödy fühlte sich verfolgt. Man wollte ihm seine Tasche tragen helfen, ließ ihn nicht aus den Augen, doch letztlich kam er wieder unbeobachtet in die rue de Pommier. Sixtus war schon da. »Ich übergab meine Sachen. Die Geheimaufträge sowie die Briefe Ihrer Majestät wurden sogleich verbrannt.« Offenbar blieb von dem, was Karl geschrieben hatte, nur ein Häufchen Asche übrig. Anschließend zeigte der Graf keine Eile, nach Baden zurückzukommen. Erst am 25. Februar berichtete er dem Kaiser über den
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Verlauf seiner Mission. Und selbstverständlich hatte er auch der Kaiserin zu rapportieren. Desgleichen dem Minister des Äußern. Dann hieß es warten. Sixtus kontaktierte den französischen Staatspräsidenten, Raimond Poincaré, der sich verständlicherweise von der Punktation Czernins nicht beeindruckt zeigte. Der Prinz will ihm daraufhin die teilweise anders lautenden Formulierungen Karls aus dem Gedächtnis rekonstruiert haben. Auf dieser Basis schien man sich näher zu kommen. Poincaré soll sich auch der Italiener erinnert haben, die ja ebenso etwas bekommen sollten. Und im Übrigen wollten die Franzosen Zar Nikolaus II. von den österreichischen Friedensfühlern informieren. Doch wie der Zufall so spielt : An diesem Tag, dem 8. März, brach in Russland die Revolution aus. Die Kontakte mit Österreich sollten auf jeden Fall fortgesetzt werden. Mit Erdödy war in Neuchâtel vereinbart worden, dass er für den Fall, dass die Franzosen Gesprächsbereitschaft zeigen sollten, ein Telegramm mit dem unverfänglichen Text »Erwarte Dich am … Bertrand« bekommen würde. Tatsächlich : Am 13. März traf das ersehnte Telegramm ein. »Bertrand erwartet Dich am 20. Grüße.« Also ging es ein drittes Mal in die Schweiz. Kaiser Karl wollte das Verfahren abkürzen und hoffte, dass sein Schwager zu direkten Gesprächen nach Österreich kommen würde. Die Begegnung sollte aber nicht in Baden, sondern in Laxenburg stattfinden, das abgelegener und daher für diskrete Besuche geeigneter war als das Kaiserhaus in Baden. Wie im Telegramm genannt, trafen sich Erdödy und Sixtus ein weiteres Mal. Wieso sie beide wussten, dass man diesmal in Genf zusammenkommen wollte, ist nicht überliefert. Die Bourbon-Parma-Prinzen waren schon da. Und weil sich’s so ergab, ließ sie Erdödy noch am späten Abend des 19. wecken und übergab – wie er in seinem Tagebuch festhielt – »die mir mitgegebenen Briefschaften.« Offensichtlich war es nur ein persönliches Schreiben des Kaisers, das die Bitte enthielt, Sixtus und sein Bruder Xavier mögen doch nach Österreich kommen. Aber – und das war die Enttäuschung : Die Prinzen wollten nicht, obwohl schon alles vorbereitet war. Erdödy überredete sie schließlich doch und ließ bei einem Schnellfotografen Passfotos anfertigen. Die Platten kaufte er dem Fotografen ab. Es sollte keine Spuren geben. Sherlock Holmes hätte seine Freude gehabt. Der österreichische Militärattaché in der Schweiz, Oberst von Einem, der seit der zweiten Reise von den Kontakten wusste und in Geheimdienstangelegenheiten höchst versiert war, ließ Pässe anfertigen, die auf den Kaufmann Josef Pfister aus Brünn und Ingenieur Stefan Blattner aus Prag lauteten. Wieder vergingen ein paar Tage, ehe dann die Parmaprinzen und Erdödy getrennt nach Österreich fuhren. Am 22. kamen alle drei in Wien an und übernachteten in der Wohnung Erdödys in der Landskrongasse. Am 23. März meldete der Graf dem Kaiser in Baden, dass die Prinzen da wären. Am Abend wollte man sich in Laxenburg treffen. Die Arrangements traf die Kaiserin. Sixtus und Xavier zogen Uniformen von Erdödy an. Dann fuhr man mit dem Auto nach Laxenburg und benützte eine Hintertreppe. Der Graf blieb im Vorzimmer
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und wachte darüber, dass kein Unbefugter die Begegnung störte. Um 10 Uhr abends stieß auch Czernin zu der Runde. Und um ½ 12 ging es nach Wien zurück. Am darauf folgenden Abend traf man sich ein weiteres Mal. Und am 27. begleitete Erdödy die Prinzen an die Schweizer Grenze. – Vermeintlicher Schluss des 2. Akts. Was noch immer ein wenig nach ermüdender Friedensroutine aussah, besaß ein Jahr später etliche Sprengkraft. Und alle möglichen Leute, Beteiligte und Unbeteiligte, brachten ihre Erinnerungen oder Gehörtes zu Papier. Sixtus schrieb ein Buch. Der Leiter der kaiserlichen Kabinettskanzlei, Arthur Polzer-Hoditz, der bei den Gesprächen nicht dabei gewesen war, verbreitete sich ausführlich. Selbstverständlich widmete sich Czernin der Sache in seinen Memoiren. Ex-Kaiserin Zita erzählte gleich mehreren Personen ihre Erinnerungen und schilderte sie zum Schluss auch in langen Fernsehinterviews. Erdödy, dessen Tagebuch erst jüngst auftauchte, hielt die Vorgänge in seinen Aufzeichnungen penibel fest und erzählte dann den Verfassern seiner Memoiren etwas anderes. Jeder erinnerte sich irgendwie. Und schließlich setzte die Interpretation ein. Was war wirklich alles gesagt und geschrieben worden ? Sixtus fuhr nämlich nicht nur einfach in die Schweiz und dann weiter nach Frankreich, sondern hatte einen mit Tintenblei geschriebenen, an ihn gerichteten und zur Weitergabe bestimmten Brief des Kaisers mitbekommen. »Mon Cher Sixte«, begann er, schilderte den Friedenswillen des Kaisers und zählte dann auf, welche Punkte es zu regeln galt, um für Österreich-Ungarn zumindest einen Sonderfrieden auszuhandeln. Czernin hatte dieses Schreiben nicht zu Gesicht bekommen, sagte er dann, zumindest aber nicht die ein Jahr später von den Franzosen veröffentlichte Fassung, zu der es 14 Entwürfe gegeben haben soll. Letztlich war es eine einzige Formulierung, die dann für Aufregung sorgte. Im Zusammenhang mit den Forderungen Frankreichs nach Elsaß-Lothringen will Karl formuliert haben : »si elles avaint été justes« mit dem Nachsatz »Mais elles ne sont pas«. Elsaß-Lothringen sollte also an Frankreich gehen »sofern dessen Forderungen gerechtfertigt sind. Aber sie sind es nicht«. In einer anderen Version liest man : »les justes revindications françaises«, also »gerechtfertigte französische Rückforderungsansprüche« – ohne jegliche Einschränkung. Für die Franzosen eine zweifellos entscheidende Passage. Da sie den Kontakt fortsetzen wollten, hatten sie aber zumindest keinen Zweifel daran, dass Österreich die Abtretung Elsaß-Lothringens als Preis für den Frieden akzeptierte und sie für gerechtfertigt hielt. Wäre die einzige Frankreich unmittelbar betreffende Forderung als »nicht gerechtfertigt« angesehen worden, hätte sich jeder weitere Kontakt erübrigt. Man könnte also davon ausgehen, dass Karl die zweite Version gebrauchte und sich erst nachträglich der ersten Version bediente, um sich gegenüber Deutschland zu rechtfertigen. Wer hatte da etwas vertauscht ? Wer sagte die Unwahrheit ? Heftiger Streit war vorprogrammiert. Noch aber lag der Ball bei der Entente. Ein neuer französischer Ministerpräsident, Alexandre Ribot, wurde von seinem Staatspräsidenten über die Friedensinitiative des österreichischen Kaisers informiert und zeigte sich wenig beeindruckt. Er wollte zu-
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nächst mit den Briten reden. Man zeigte keine Eile. Ribot und der britische Premier, David Lloyd George, trafen sich in Folkstone, und der Brite war es, der auf ein ganz wesentliches Manko der bis dahin laufenden Gespräche hinwies : Man konnte die Sache nicht ohne die Italiener machen. Ihnen waren von den Briten im April 1915 große österreichische Gebiete versprochen worden, wenn sie in den Krieg eintraten, unter anderem ganz Südtirol, Triest und Istrien. Also hieß es, den Kreis der Eingeweihten um Italien zu erweitern. Die Konferenz der Verbündeten fand am 19. April 1917 in den Savoyer Alpen statt. Und der italienische Außenminister, Sidney Sonnino, ging sofort auf Konfrontation. Was interessierte ihn das Elsaß ? Er verlangte die Einhaltung der seinerzeitigen Zusagen, kümmerte sich auch nicht darum, dass sein eigener König mittlerweile durchaus bereit gewesen war, sich mit einer geringeren Kriegsbeute zufrieden zu geben. Für Sonnino zählte der Londoner Vertrag von 1915. In den Bemühungen von Kaiser Karl sah er nur ein Zeichen dafür, dass Österreich-Ungarn bereit war aufzugeben. Und auch Franzosen wie Briten hatten keinen Grund, das Bündnis wegen einer vagen Friedenshoffnung aufs Spiel zu setzen und Italien im Stich zu lassen. Sie hielten sich bedeckt. Sixtus Bourbon-Parma sollte hingehalten werden. Einen Monat später reiste Erdödy Hals über Kopf das vierte Mal in die Schweiz. Diesmal sollte er sich mit den Parmaprinzen in Zug treffen. Am 24. April war es so weit. Doch man ließ den Grafen gleich wissen, dass die Antwort der Entente nicht ganz so ausgefallen war, wie erhofft, »da England Italien nicht fallen lassen will und das Trentino verlangt.« Erdödy fuhr nach Baden zurück. Wieder berichtete er Karl und anschließend Zita. »War cirka 1½ Stunden dort. Seine Majestät will vom Trentino nichts hergeben«, notierte Erdödy anschließend. Am nächsten Tag war’s dann wieder anders : »Seine Majestät geht doch zum größten Teil auf die Anträge der Entente ein.« Czernin stieß dazu. Man beriet. Am 3. Mai wurde Erdödy das fünfte Mal in die Schweiz geschickt, um »wenn irgend möglich Prinz Sixtus hierher zu bringen.« Der Prinz war einverstanden, ein zweites Mal nach Österreich zu fahren. Diesmal kam er allein. Unterwegs wurden drei Mal die Beförderungsmittel gewechselt. Die Spionenfurcht und wohl auch die Angst, die Deutschen könnten etwas mitbekommen haben, grassierte. Am 9. Mai waren Sixtus und Erdödy in Laxenburg. Wieder kam Czernin, der aber bald verabschiedet wurde. Und am 10. Mai ging es für Erdödy ein sechstes Mal Richtung Schweiz. Es sollte das letzte Mal sein, dass der Graf Bote und Reisemarschall in Sachen Frieden war. Offenbar vor seiner Abreise hatte Karl in einem zweiten an den Prinzen gerichteten Schreiben die Bedingungen genannt, unter denen Österreich einen Sonderfrieden schließen wollte. Trient und der italienischsprachige Teil Südtirols waren neue Zugeständnisse. Mehr kam für Karl nicht in Frage. Alles andere in dem Brief betraf keine territorialen Fragen. Da war offenbar schon alles gesagt worden.
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Nun wurde auch Kaiser Wilhelm II. über die Kontakte informiert, allerdings in sehr unverbindlicher Form, denn der deutsche Kaiser fand den Gedanken eines österreichischen Sonderfriedens nicht abwegig. Dann müssten eben k. u. k. Truppen in Russland die Deutschen ersetzen, um denen die Möglichkeit zu geben, mit aller Macht im Westen die Entscheidung zu suchen. Da hatte man in Berlin wohl etwas gründlich falsch verstanden. Andernfalls wäre wohl ein Aufschrei erfolgt. Sixtus versuchte mittlerweile in London und Paris die Friedensinitiative vor dem Scheitern zu bewahren. Ergebnislos. Es gab keinen formellen Abbruch der Gespräche. Man ließ sie einfach einschlafen. Mag sein, dass der österreichische Kaiser kaum mehr an die Sixtus-Poincaré-Er dödy-Gespräche gedacht hat, als er ein Jahr später in eine jähe Wirklichkeit gerissen wurde. Czernin hatte eine vom Kaiser approbierte Rede im Wiener Gemeinderat gehalten, in der er den Franzosen unerfüllbare Forderungen und mangelnden Friedenswillen vorwarf. Die Antwort aus Paris kam prompt : Czernin habe wohl vergessen, dass ein Jahr zuvor eine sehr viel höher gestellte Persönlichkeit als es der Minister des Äußern sei, Frankreich die Abtretung Elsaß-Lothringens angeboten habe. Czernin wollte der Sache auf den Grund gehen, vermutete richtigerweise, dass da etwas an ihm vorbei gelaufen sein musste und verdächtigte Kaiser Karl. Er beschwor ihn, ihm sämtliche Details der Kontakte mit Prinz Sixtus preiszugeben. Doch Karl wollte sich nur dazu verstehen, dem Minister sein Ehrenwort zu geben : »Ich versichere Meinen Minister des Äußern meines Ehrenworts …« Es sei nichts gewesen. Jetzt wurde die Sache unerfreulich, ja peinlich. Czernin setzte den Kaiser unter Druck. Karl wusste nicht mehr aus und ein und war schon bereit zu resignieren. Erzherzog Eugen sollte zumindest zeitweilig die Regentschaft übernehmen. Doch dann besann sich Karl, entließ seinen Minister und stand vor einem Scherbenhaufen. Die Deutschen tobten. Kaiser Wilhelm II. erwartete eine Entschuldigung und wollte alles dazu getan wissen, dass die Österreicher nicht abermals den Absprung versuchten. Der österreichische Kaiser wurde verächtlich gemacht, Kaiserin Zita, die man verdächtigte, hinter allem gestanden zu sein, als Verräterin gebrandmarkt. Die deutsche Umarmung wurde noch heftiger, und in Österreich-Ungarn wurde man daran erinnert, dass Nibelungentreue etwas absolut Tödliches sein konnte. Die Villa des Senators Giusti Ein wenig außerhalb von Padua fristet eine der unzähligen Villen des Veneto ihr Dasein. Der Park ist mittlerweile viel berühmter als die in der grünen Pracht verstreuten Gebäude. Sie sind auch heute noch Privatbesitz, und es ist nicht leicht, den Zutritt zum ehemaligen Gästehaus des italienischen Oberkommandos im Ersten Weltkrieg zu be-
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kommen. Das Haus verfällt, die Deckenbalken sind nicht mehr tragfähig, also können nur wenige Menschen gleichzeitig jenen Raum betreten, in dem am 3. November 1918 Österreich-Ungarn seine Niederlage im Weltkrieg beurkundete. In der Villa des Senators Conte Vettore Giusti del Giardino wurde Weltgeschichte unterschrieben. Dabei hatte man im Frühjahr 1918 noch durchaus das Gefühl haben können, für Österreich-Ungarn wäre der Siegfrieden nur mehr eine Frage von Wochen. Italien hatte in der 12. Isonzoschlacht eine schwere Niederlage erlitten. Mit Russland und Rumänien konnten die Mittelmächte, Österreich-Ungarn und das Deutsche Reich, Frieden schließen. Die Streiks, die im Jänner ausgebrochen waren, ließen sich noch einmal gütlich beilegen. Aber alle denkbar halbherzigen Friedensbemühungen der verbündeten Kaiserreiche und vor allem die vom österreichischen Kaiser Karl versuchte Geheimdiplomatie waren gescheitert. Seit dem Dezember 1917 führten auch die USA Krieg gegen die Habsburgermonarchie. Die k. u. k. Armee aber konnte zur Kriegführung der Mittelmächte mittlerweile kaum mehr etwas beitragen. Sie litt nicht nur an Auszehrung, sondern hatte auch zunehmend mit Nationalitätenproblemen zu kämpfen. Latente Gegensätze schlugen durch. Rufe brandeten auf : »Evviva Italia !« »Živijo Jugoslavija !« »Hoch die Slawen« ! Nachdem es schon im Februar 1918 bei der k. u. k. Kriegsmarine zu einem Matrosenaufstand gekommen war, der mit einiger Mühe niedergeschlagen werden konnte, kam es im April und Mai 1918 auch beim Landheer zu Meutereien. Den Eid auf den Kaiser nahmen bisweilen nicht einmal mehr Offiziere ernst, wie viel weniger die Soldaten. Nach der Niederschlagung der Meutereien amtierten die Standgerichte. Die Rädels führer wurden erschossen. Und auch dabei wurde Hass gesät, denn die Exekutionskommandos setzten sich aus Angehörigen anderer Nationalitäten zusammen als die zu Exekutierenden. Das hatte zwar seine Logik, doch es förderte den Zerfall, und es ließ Zweifel darüber aufkommen, ob die Armee weiterhin einsetzbar war. Monatelang wurde nur mehr gerechnet. Die Produktionsziffern der Rüstungsindustrie wiesen steil nach unten. Wo es ging, wurden Ersatzstoffe verwendet. Für die Truppen im Front- und frontnahen Bereich sollte es im April 283g Mehl (Brot) pro Tag geben. Die Soldaten in der Etappe mussten sich mit 180g Mehl begnügen. Doch auch das war eine theoretische Menge und bestand häufig aus Maismehl, das sich kaum zu Brot backen ließ. Den Kampftruppen wurde im Frühjahr 1918 noch 200g Fleisch pro Woche zugestanden ; die Truppen im Hinterland bekamen die Hälfte. Sie waren aber insgesamt noch etwas besser versorgt als die Zivilbevölkerung, die mit 165g Mehl und ein paar Gramm Fleisch und Fett auskommen sollte. Mitte Juni wurde die Mehlquote für die österreichische Reichshälfte der Habsburgermonarchie auf 82,5g täglich herabgesetzt. Was noch an Lebensmitteln eingespart werden konnte, sollte der Armee in Italien zugeführt werden, die zu ihrer – was man nicht wusste – letzten Offensive angetreten war.
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Der österreichische Kaiser war im späten Frühjahr 1918 nicht nur ermuntert, sondern von der Deutschen Obersten Heeresleitung regelrecht gedrängt worden, in Italien wieder offensiv zu werden, um damit zu verhindern, dass womöglich Truppen in Italien von der ruhigen österreichischen Front abgezogen und an die deutsche Westfront verschoben würden. Also wurden vom österreichisch-ungarischen Armeeoberkommando Angriffsvorbereitungen getroffen. Ersatztruppen wurden in Marsch gesetzt, Waffen, Munition und Versorgungsgüter transportiert. Schließlich wurde um den Preis der Verschärfung der Situation des Hinterlandes den Kampftruppen alles an Lebensmitteln gegeben, was noch vorhanden war, um sie zu kräftigen und »aufzupäppeln«. Die Hauptsorge der Führung schien sich aber auf die Ausbeutung des zu erobernden Gebietes zu beziehen. Für alle größeren Orte, die man zu erreichen hoffte, wurden vorsorglich Ortskommandanten ernannt. Es gab sogar schon einen Gouverneur von Treviso. Eigene Beutekommandos wurden gebildet, und man wartete nur auf den Angriffsbeginn. Mitte Juni begann die Offensive. Nach 72 Stunden war klar, dass sie gescheitert war. Die »Junischlacht in Venetien« schien zwar angesichts des enormen Einsatzes an Kriegsmitteln eine Materialschlacht gewesen zu sein, doch die Gesamtverluste der k.u.k Armee von über 140.000 Mann, darunter rund 11.600 Tote, machten deutlich, dass es weit mehr gewesen war : Die k. u. k. Armee brachte sich selbst um ! Daher musste es mehr als erstaunen, dass das Armeeoberkommando schon Ende Juli die Vorbereitung einer nächsten Offensive befahl. Da widersprach sogar ein so angesehener und loyaler Offizier wie der Kommandant der 6. Armee, Generaloberst Fürst Schönburg-Hartenstein. Er weigerte sich ganz schlicht und hatte jeden Grund dazu. Die Junischlacht in Venetien war ja nicht nur einfach gescheitert, sie hatte schwerwiegende Folgen, denn jetzt war klar, dass die geschlagene Armee kein Hindernis bei der Neuordnung der Länder des Habsburgerreichs sein würde. Noch während sich die Offensive am Piave immer mehr zum Fiasko entwickelte, musste man abseits der Front den Eindruck gewinnen, dass es den Menschen schon völlig egal war, was da in Italien vor sich ging. Polen, Tschechen, Ungarn, Südslawen und nicht zuletzt auch die Deutschen Österreichs hielten sich an jene vage Formulierung, die der amerikanische Präsident Wilson in seiner Jännerbotschaft an den Kongress als Punkt 10 genannt hatte, wonach die Völker Österreich-Ungarns über ihre Zukunft selbst entscheiden sollten. Das wurde als Selbstbestimmungsrecht verstanden und zurecht als Signal, dass die Amerikaner und natürlich auch die übrigen Feindmächte der Auflösung Österreich-Ungarns nichts in den Weg legen würden. Alle weiteren Signale und Enuntiationen des Frühjahrs und Sommers 1918 bekräftigten das. Gemeinsam wollte man gegen die »Tyrannei der Habsburger« vorgehen. In Österreich forderten mittlerweile auch schon die an ihren Eid gebundenen und mit Masse kaisertreuen Offiziere der obersten und mittleren Führungsebene ein sofortiges Ende des Kriegs. Der Generalstabschef der gesamten bewaffneten Macht, Arthur
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Arz von Straußenburg, sollte zurücktreten und sich kein anderer Offizier bereitfinden, dessen Stellung einzunehmen ; das sollte den Kaiser friedensbereit machen, hieß es. Doch Generaloberst von Arz hatte nach der Junioffensive dem Kaiser ohnedies dreimal seinen Rücktritt angeboten ; ihm war jedoch das Ausharren in der Funktion befohlen worden. Das Standrecht wurde auf weite Gebiete der Monarchie ausgeweitet. Die Armee im Feld ihrerseits wurde immer unverhohlener beschuldigt, den Krieg zu verlängern. Jetzt galten verstärkt pazifistische Parolen, so wie sie gelegentlich vor dem Krieg angeklungen waren : Man sollte den Krieg bestreiken. Die letzten Marschformationen wurden für den Abtransport an die Front bereit gemacht. Die Desertionen nahmen sprunghaft zu. Am 14. September 1918 schickte Kaiser Karl eine Friedensnote an die Alliierten. Da er bei Kaiser Wilhelm wohl angeregt hatte, einen gleichen Schritt zu tun, der das aber ablehnte, sah sich der österreichische Kaiser berechtigt, zum ersten Mal offen einen eigenständigen Entschluss zu fassen. Wien schickte eine Note »An Alle« ab. Da die in erster Linie von den USA erwartete Reaktion auf das österreichische Friedensersuchen ausblieb, und Präsident Wilson schließlich nur ausrichten ließ, über den österreichischen Wunsch nach Frieden könne erst nach dem Einlangen eines Waffenstillstandsersuchens des Deutschen Reichs gesprochen werden, blieb der Alleingang Kaiser Karls ergebnislos. Die Habsburgermonarchie wollte Frieden, doch vorderhand fand sich niemand, der das akzeptieren wollte. Anfang Oktober 1918 wurden drei Waffenstillstandskommissionen gebildet, eine für die Balkanfront, eine für die Kriegsmarine und eine für die noch ruhige Italienfront. Letztere wurde unter das Kommando von General Viktor Weber von Webenau gestellt. Dass General Weber nicht italienisch konnte, spielte offenbar keine Rolle. Nur : der General schien ohnedies noch nicht gebraucht zu werden. Er quartierte sich mit seinen Offizieren in Trient ein. Dorthin wurde der Kommission vom Armeeoberkommando der österreichische Entwurf eines Waffenstillstandsvertrags zugeschickt. Unbestritten sei, so meinte man im kaiserlichen Hauptquartier, dass sich die österreichisch-ungarischen Truppen aus allen besetzten Gebieten in Italien, Serbien und Montenegro zurückziehen müssten. Auch die Flotte würde sich auf ihre Häfen an der adriatischen Ostküste zurückzuziehen haben. Doch das war nicht die einzige Illusion. Man träumte davon, dass die Alliierten dem österreichischen Räumungsplan für Venetien zustimmen und den abziehenden Truppen acht Monate Zeit geben würden. Aber Reich, Armee und Flotte würden weiterhin existieren. Dann kam der erste Schock. Am 24. Oktober begannen die Alliierten ihre letzte Offensive. Dabei ging es zumindest den Italienern zunächst gar nicht um eine weitere Schlacht. Sie hätten die k. u. k. Armee lieber ausgehungert, als nochmals offensiv zu werden. Doch schließlich siegte das Argument der verbündeten Franzosen und Briten, dass man bei den absehbaren Friedensverhandlungen den Standpunkt Italiens wohl besser zur Geltung bringen könnte, wenn man noch auf einen letzten militärischen Erfolg hinzuweisen vermochte.
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Die Begeisterung der italienischen Armeeführung hielt sich dennoch in Grenzen. Es war schließlich der italienische Ministerpräsident Orlando, der den Angriff befahl. Die k. u. k. Heeresleitung hatte natürlich mitbekommen, dass eine Offensive bevorstand. Auch Kaiser Karl war informiert. Der hatte noch am 23. Oktober im Weg des päpstlichen Nuntius in Wien Papst Benedikt XV. dazu zu bewegen versucht, bei den Italienern vorstellig zu werden : Sie sollten ihre Offensive aus Gründen der Menschlichkeit unterlassen. Ein deutlicheres und hilfloseres Signal konnte es eigentlich nicht geben. Am Piave trommelte die italienische Artillerie stundenlang auf die österreichischen Stellungen. Nach einem Tag wichen die k. u. k. Truppen zurück. Die abrückenden Truppen zerschnitten die Telefonleitungen, sodass auch die Verbindungen zusammenbrachen. Innerhalb von Stunden breitete sich Chaos aus. Truppen, die noch zur Abwehr eingesetzt werden sollten, wurden umdirigiert, um gegen jene eingesetzt zu werden, die »nach Hause« wollten. Magazine und Depots gingen in Flammen auf. Brücken wurden gesprengt. Ging eine Truppe auf die nachdrängenden Italiener, Franzosen und Briten zu, wurde gemutmaßt, dass sie nur deshalb nach Westen marschierte, um sich gefangen nehmen zu lassen und dem Irrsinn zu entgehen. Gelegentlich fiel den sich zurückziehenden Soldaten eine Zeitung in die Hand. Sie erfuhren von der Bildung nationaler Regierungen und von der sukzessiven Auflösung der Monarchie, für die sie ja noch immer im Feld standen. Was sie zunächst nicht wussten, war, dass sich Kaiser Karl am 27. Oktober endlich zum Handeln entschlossen hatte. Er wollte unverzüglich einen Waffenstillstand abschließen. Man sollte das allerdings vor den Deutschen so lange wie möglich geheim halten. Doch das Gerücht machte die Runde. Die Deutschen wurden misstrauisch und fragten nach. Der k. u. k. Minister des Äußern, Graf Gyula Andrássy d. J., beruhigte sie – doch er sprach nicht die Wahrheit. Österreich-Ungarn hatte Stunden vorher um den Abschluss eines sofortigen Waffenstillstands gebeten. Andrássy hatte in der Folge allen Unmut auf sich zu nehmen, der ihm – allerdings fast ausschließlich von deutsch-österreichischer Seite – entgegenbrandete. Auch die österreichischen Sozialdemokraten fanden es unerhört, dass der Außenminister ohne Wissen (und Zustimmung) der Deutschen gehandelt hatte, und sie taten genau das, was der deutsche Botschafter ihnen nahelegte : Sie demonstrierten zugunsten des Bündnisses und erhielten gleichzeitig die Versicherung, Berlin würde dem Anschluss Deutschösterreichs an das Deutsche Reich sicherlich kein Hindernis entgegensetzen. Mittlerweile versuchte die Trientiner Waffenstillstandskommission die italienischen Linien zu überschreiten. Zwei Tage hindurch wurde sie von den Italienern abgewiesen. Dann funktionierte es endlich. Die Österreicher wurden in die Villa des Senators Giusti gebracht. Nun hieß es warten. Endlich, am Vormittag des 1. November, wurden die vom Alliierten Obersten Kriegsrat in Paris ausgearbeiteten Waffenstillstandsbedingungen übergeben. Und schlagartig erwiesen sich alle Hoffnungen, die wer immer
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noch in Österreich gehegt haben mochte, als Illusion. Die Alliierten verlangten eine mehr oder weniger bedingungslose Kapitulation. General Weber wollte sich verständlicherweise mit dem Armeeoberkommando in Verbindung setzen. Das war leichter gesagt als getan, denn er hatte keine Telefon- und auch keine Fernschreibleitung zur Verfügung. Ein Offizier seiner Kommission musste von Padua nach Trient fahren. Dort wurde dann die verschlüsselte Meldung mittels eines Hughes-Schreibers losgeschickt, über Pola nach Budapest, weiter zur Station auf dem Wiener Laaerberg und schließlich mit dem Auto nach Baden bei Wien, wo der Text dechiffriert wurde. Alles zusammen dauerte das 12 Stunden. Im Armeeoberkommando war man geschockt. Der Kaiser wurde informiert und gleichzeitig auch festgestellt, dass die im umgekehrten Weg geschickten Nachrichten den General Weber nicht erreicht hatten. Die wichtigste Information war wohl die gewesen, dass man sich in Padua nicht mehr groß um die österreichisch-ungarische Kriegsmarine kümmern musste, denn Kaiser Karl hatte die Flotte der Einfachheit halber dem soeben ausgerufenen südslawischen Staat der Slowenen, Kroaten und Serben übergeben. Die Italiener dürften das wohl mitbekommen haben, denn sie versenkten noch in der Nacht zum 1. November das Flotten-Flaggenschiff »Viribus Unitis«, nachdem sie die Besatzung gewarnt und sehr wohl gesagt bekommen hatten, dass das Schlachtschiff seit einigen Stunden nicht mehr der Stolz der k. u. k. Kriegsmarine, sondern das Flaggenschiff des neuen südslawischen Staates war. Die »Viribus« sank. (Ein Fragment ihres Bugs steht heute im Arsenal von Venedig). Der italienische Verhandlungsführer in der Villa Giusti, der stellvertretende Generalstabschef Pietro Badoglio, hatte den Österreichern mitgeteilt, dass er bis Mitternacht des 3. November eine Antwort erwartete. Andernfalls würde es keinen Waffenstillstand geben. Es hieß also handeln. Kaiser Karl wollte den Waffenstillstand, doch er wollte auch andere in die Verantwortung einbinden. Es fand sich niemand. Also musste er wieder selbst entscheiden. Und so gab er nach längerem Zögern am 3. November um 1 Uhr Früh den Befehl, den Vertrag über die Waffenstreckung von Österreich-Ungarns gesamter bewaffneter Macht zu unterschreiben. Gleich darauf legte er den Oberbefehl über die k. u. k. Truppen nieder. Jetzt kam abermals Hektik auf. Um nicht wiederum den komplizierten zwölfstündigen Weg zu nehmen, wurde General Weber mittels Radiodepesche ermächtigt zu unterschreiben. Zwei Bestimmungen hatte der österreichische Delegationsleiter freilich nur unter Protest zu akzeptieren : Die k. u. k. Armee sollte auf 20 Divisionen verkleinert werden ; das würde – hieß es – die Ehre der Armee verletzen. Außerdem verlangten die Alliierten für ihre Truppen volle Bewegungsfreiheit innerhalb Österreich-Ungarns und konnten somit das Deutsche Reich auch vom Süden her angreifen. General von Weber protestierte – und musste es hinnehmen. Um 15 Uhr wurde das Dokument unterschrieben.
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Helle Aufregung gab es freilich, da Italien den Bestimmungen etwas verspätet, aber doch noch rechtzeitig eine Präzisierung hinsichtlich des Inkrafttretens des Vertrages angefügt hatte : Der Waffenstillstand sollte erst 24 Stunden nach seiner Annahme in Kraft treten. General Weber ließ das unverzüglich nach Baden durchgegeben. Doch das Armeeoberkommando hatte den k. u. k. Truppen in Italien und auf dem Balkan bereits die sofortige Einstellung der Kampfhandlungen befohlen. Jetzt wurde abermals hin- und her argumentiert und die Rücknahme der Frist gefordert. Pietro Badoglio kannte jedoch kein Mitleid : Da die Österreicher ihren Gegnern die Chance boten, einen nicht absehbar gewesenen Triumph zu feiern, sollte das auch genützt werden. Wieder musste sich General Weber fügen. Italiener und Briten marschierten vor, während die k. u. k. Truppen glaubten, es herrschte bereits Waffenruhe. Über 300.000 Soldaten gerieten in Gefangenschaft. Wem das nicht recht war, der sollte, wie die k. u. k. Heeresgruppenkommanden an ihre Divisionen weitergaben, protestieren. Eines war unbestritten : Der Krieg ging zu Ende. Aus allen Richtungen strömten Soldaten zurück und suchten, sich in ihren neuen Heimatländern zurechtzufinden. Dass es das Reich nicht mehr gab, war ihnen wohl bewusst, doch eine amtliche Mitteilung fehlte, denn anders als bei der Auflösung des römisch-deutschen Reichs, 1806, hatte der Kaiser diesmal darauf verzichtet, das Ende des Reichs zu verkünden. Oder hatte er es bloß vergessen ? So wie er auch vergaß, jenen zu danken, die in seinem Namen und letztlich auch für ihn einen Weltkrieg durchlitten hatten. Auch die Republik Deutschösterreich fand kein Wort des öffentlichen Danks – doch das ist schon wieder eine andere Geschichte. In der Villa des Senators Giusti wurde der Raum, in dem der Waffenstillstand unterzeichnet worden war, belassen wie er war. Nur in den Tisch des Ecksalons wurde eine Messingplatte eingelassen, die in herzhaft verkürzter Form auf den Gedächtnisort hinweist : »Die Bevollmächtigten der Streitkräfte Italiens und Österreich-Ungarns unterzeichneten am 3. November 1918 an diesem Tisch den Waffenstillstand, der mit dem Sieg der italienischen Waffen das Ende des Weltkriegs 1915 – 1918 einleitete«. Se non è vero, è ben’ trovato.
Hintergrund : Plakat zur Eröffnung der Ausstellung Republik und Diktatur 1918 – 1945 im Heeresgeschichtlichen Museum in Wien, 1998. Davor Heinrich Drimmel, Vom Justizpalastbrand zum Februaraufstand (Wien-München 1986), Kurt Schuschnigg, Im Kampf gegen Hitler (Wien-MünchenZürich1969), sowie Manfried Rauchensteiner, Unter Beobachtung, 2. Aufl. (Wien 2021).
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Mehr gab es nicht zu sagen Nichts erinnert im Schloss von St. Germain-en-Laye an die Frühjahrs- und Sommermonate 1919. Gedenktafeln künden von einem Duell im 16. Jahrhundert und dem Vorbeimarsch der Truppen der französischen 2. Panzerdivision vor General Leclerc, 1945. Im Inneren des Gebäudes findet man ein Urgeschichtsmuseum. Und vielleicht ist das recht symptomatisch, denn was damals geschah, vor 80 Jahren, ist mittlerweile dem Gedächtnis unendlich weit entrückt. Etwa zwei Dutzend würdige Herren versammelten sich im Spätsommer 1919 im Lustschloss François I., um Österreich die Bedingungen für einen Staats- oder – wie sie es sahen – Friedensvertrag zu geben. Dabei ließen sie noch verlauten, dass es sich bei diesem Vertrag um ein besonderes Entgegenkommen handle. Die Besiegten sahen das zwar anders, doch sie akzeptierten. Das staatliche Gebilde Deutschösterreich hörte weisungsgemäß auf zu existieren. Die Republik Österreich nahm ihren Anfang. Zähneknirschend, aber doch ! Seit Anfang November 1918 Waffenstillstand herrschte und sich jener »Rest«, der weder ungarisch noch tschechisch, polnisch et cetera sein wollte, den Namen »Republik Deutschösterreich« gegeben hatte, schien nur der Abschluss eines Staatsvertrags mit dem übrigen Europa jenen Halt in einer aus den Fugen geratenen Welt geben zu können, der wenigstens ein Weiterplanen zuließ. In Wien war seit Jänner 1919 darüber nachgedacht worden, was in einem solchen Vertrag alles geregelt werden sollte. Zunächst war wohl davon auszugehen gewesen, dass man dazu nicht allzu viel brauchte, denn Deutschösterreich sollte ja – wie es im Staatsgrundgesetz hieß – Teil der Deutschen Republik werden. Doch die Deutschen wollten nicht so recht und trachteten, die in Versailles beginnenden Friedensgespräche mit Deutschland nicht noch durch ein Österreichproblem zu belasten. Mittlerweile hatte man in Wien jede Menge Zeit, um nicht nur die eigene Situation zu überdenken, sondern auch die täglichen Krisen zu bewältigen. Im ganzen Land wurde gehungert. Österreichs Großbanken stießen ihre Beteiligungen ab. Sie verloren die Mehrheitsanteile über die nunmehr italienischen Werften in
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Triest und Fiume. Die Tschechen luden französische Großbanken ein, die bisher öster reichischen Anteile bei Škoda zu erwerben. Škoda, eine der größten Waffenschmieden der Welt, wurde vom französischen Konzern Schneider-Creuzot übernommen. Als es dem Fiat-Konzern gelang, die Aktienpakete der Alpine-Montan-Gesellschaft zu übernehmen, ging ein weiteres österreichisches Großunternehmen in ausländische Hände über. Damals sah man das aber weniger unter dem Aspekt der Globalisierung, sondern beklagte lediglich den Ausverkauf. Demonstrieren hätte wenig geholfen, außerdem war Wohlverhalten angesagt. Es sollte keine Unruhen geben, da es sonst gleich geheißen hätte : Österreich wird kommunistisch. Das war keine abstrakte, sondern eine durchaus konkrete Gefahr, denn seit 21. März 1919 hatte Ungarn eine Räteregierung unter Béla Kun, Dschingiskohn, wie ihn Karl Kraus nannte. Österreich fürchtete ein Überschwappen des Bolschewismus und wünschte sich alliierte Truppen. Aber der Alliierte Rat verwarf die Idee schon eine Woche später. Es sei sinnlos, einen »cordon sanitaire« zu schaffen, vielmehr sollte Öster reich verstärkt alliierte Hilfe bekommen, um bestehen zu können. Doch ein wenig Drohung gab es auch. So ließ der britische Vertreter in Österreich, Sir Robert Cuninghame, am 18. März plakatieren : »Unruhen (…) werden mit dem Hungertod bestraft.« Deutschösterreich demonstrierte weiterhin Wohlverhalten. Alles das geschah auch unter dem Gesichtspunkt, dass es nicht zuletzt um die Grenzen des Landes ging, wo nur mehr ein Eingreifen der Alliierten die eine oder andere Korrektur bewirken konnte. Dabei machte die Grenzziehung den Siegermächten eigentlich am wenigsten Sorgen. Südtirol, das von Italien restlos bis zum Brenner gefordert wurde, Sexten und Innichen nicht zu vergessen, wurde eigentlich nicht mehr in Frage gestellt. Strategische und wirtschaftliche Gründe sprächen dafür, hieß es. Am ehesten war noch der britische Premier Lloyd George für ein Abgehen vom sogenannten Londoner Vertrag. Doch wegen einer solchen Lappalie die Italiener zu verärgern, lohnte wohl nicht. Der deutschösterreichische Staatssekretär für Äußeres, Otto Bauer, wollte mit Italien direkt verhandeln ; dem schoben Briten und Franzosen einen Riegel vor. Die Alliierten wollten aber auch keine Debatten über die Nordgrenzen, ja manchem mochte es scheinen, dass es schon ein Glück war, dass man überhaupt eine Nordgrenze zog. Sollte Österreich vielleicht froh sein, dass es nicht noch schlimmer gekommen war ? 1914 hatte der Zar den Tschechen die Südgrenze eines Königreichs von Russlands Gnaden versprochen, die von Hohenfurth (Vyšší Brod) bis Vác und dann nach Mármáros Sziget gehen sollte. Wien wäre zur Gänze in dieses Königreich gefallen. Der Zar spielte mittlerweile schon längst keine Rolle mehr. Doch ab Juni 1918 unterstützte Frankreich die Tschechen. Die anderen Alliierten blieben zurückhaltend. Schließlich hatten die Tschechen nach dem Grundsatz »corrigé la fortune« gehandelt. Da sie anerkannte Sieger waren, machten sie sich eine Bestimmung des Waffenstillstands vom November 1918 zunutze, wonach es den Alliierten freistehen sollte, sich
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auf den Straßen und Eisenbahnen Österreich-Ungarns frei zu bewegen. Also wurden Südböhmen und Südmähren nach und nach besetzt. Ganz zufrieden war man in Prag noch immer nicht. Bis schließlich auch Präsident Tomáš Masaryk auf jene Denkschriften und Wünsche zu sprechen kam, die das eigentliche Ziel sein müssten : Wien und der Großteil Niederösterreichs sollten tschechisch werden. Die Grenze könnte vielleicht von Tulln südwärts nach Baden und von dort zum Neusiedler See gehen, die Nordgrenze Jugoslawiens mit der Nordgrenze der Steiermark gezogen werden, TirolVorarlberg gingen an die Schweiz, und so weiter. Die Begründungen waren vielfältig : Wien sei zu 80 Prozent von Tschechen bewohnt und kultiviert worden, in seinen Hochschulen, Museen und Theatern stecke vornehmlich Geld der böhmischen Länder. Das dünn besiedelte Niederösterreich, in dem es gelte, so viel Land wie möglich aufzukaufen, um auch solcherart vollendete Tatsachen zu schaffen, würde unabdingbar sein, um die überzähligen tschechischen Bauern anzusiedeln, und im Übrigen würde lediglich eine Entwicklung rückgängig gemacht, die zum Schaden der Nord- und Südslawen gewesen sei. Österreich protestierte ein ums andere Mal und bekam von Frankreich gesagt, bis zum Friedensvertrag würden die historischen Grenzen Böhmens und Mährens sowie Schlesiens gelten. Doch wenn gleichzeitig einmarschiert und Plebiszite abgelehnt wurden, war wohl klar, dass das Grenzenziehen ein ausschließlich politischer Akt unter Zugrundelegung der westlichen Interessen sein würde. Die Tschechen bekamen aber wie die Italiener gesagt, dass bilaterale Verhandlungen zu unterlassen seien. Die Kärntner Frage und die Grenzziehung der Steiermark drohten vollends im konfusen Nachkriegsgeschehen unterzugehen. Die Slowenen trachteten, nach Norden auszugreifen. Sie mussten sich aber von Belgrad sagen lassen, dass der südslawische Staat noch andere Probleme habe, denn es galt, die Batschka und das Banat einzuverleiben, die Grenzen gegenüber Bulgarien und Griechenland zu ziehen und schließlich die italienischen Forderungen nach Dalmatien und dem Quarnero abzuschmettern. Die Slowenen versuchten es daraufhin wie die Tschechen, indem sie vollendete Tatsachen schaffen wollten. Es wurde einmarschiert und besetzt. In Kärnten und für einige Stunden auch im Raum Radkersburg kam es zu Kämpfen. Die kurz zuvor »aus dem Hades Heimgekehrten«, wie sie Schnitzler nannte, griffen wieder zu den Waffen. Eine amerikanische Studienkommission wurde eingeladen, das Problem an Ort und Stelle zu studieren. Diese Kommission kam zu dem Schluss, dass man zwar eine ethnische Grenzziehung versuchen könnte, doch sie würde Wirtschaftsräume zerreißen und strategisch unsinnig sein. Ginge man den umgekehrten Weg, wären wiederum die Volksgruppen zerrissen. Die Amerikaner untersuchten die Sache weiter. Sie fuhren nach Marburg, wo ihnen vom dortigen Kommandierenden, General Majster, die slowenischen Forderungen prä-
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sentiert wurden. Draußen demonstrierten deutsche Bewohner Marburgs. Majster ließ schießen ; acht Menschen waren tot, 20 verwundet. Aber Schießereien gab es in diesen Tagen und Wochen fast überall. Die Alliierten reagierten nur deshalb etwas harscher, weil Majster schon im Jänner in Marburg hatte Geiseln ausheben lassen. Die Amerikaner bekamen aber auch von deutschkärntner Seite demonstriert, dass man sich den Slowenen nicht einfach ergeben wollte, sondern zur Gegenoffensive schritt. Das nahm wiederum Belgrad zum Anlass, die jugoslawischen Truppen als alliierte Siegermacht ins Spiel zu bringen, gegen die kein Widerstand zulässig sei. Klagenfurt wurde besetzt. Doch auch in diesem Fall hieß es : Die Grenzen werden in Paris gezogen. Alles das war schon mehr oder weniger abgehandelt, als die Österreichfrage die für Entscheidungen zuständigen alliierten Gremien erreichte. Am 2. Mai 1919 übergab die französische Gesandtschaft in Wien Staatssekretär Bauer die Einladung des Obersten Rates der alliierten und assoziierten Mächte, eine Delegation nach St. Germain-enLaye zu schicken. Man dankte. Die Nationalversammlung fasste sechs Tage später den Beschluss, eine größere Delegation nach Paris zu entsenden, an ihrer Spitze Staatskanzler Renner. 34 Personen wurden schließlich für die Delegation nominiert, zusätzlich noch Journalisten, Schreibkräfte und Hilfspersonal. Das war, verglichen mit der Delegation, die von der Deutschen Republik nach Versailles geschickt worden war, größer und prominenter besetzt. Doch auch im Fall Deutschösterreichs blieb einer zu Hause, von dem man eigentlich hätte annehmen können, dass er nach St. Germain fahren würde, nämlich der Staatssekretär für Äußeres. An seiner Statt fuhren vier Generalkommissare. Wie von den Franzosen gewünscht, verließ die Delegation am 12. Mai Wien. Es war eine lange Fahrt, mehr als zwei Tage, während der man einen Vorgeschmack auf das Kommende bekam. Die Bewegungsfreiheit war eingeschränkt, Kontakte gab es kaum, Paris wurde umfahren, dann war man am Ziel. Karl Renner und seine Begleitung wurden in einigen Villen einquartiert, die recht dürftig ausgestattet waren. Doch was sollte es : Die Österreicher waren ja zum Arbeiten gekommen. Das wurde noch dadurch gefördert, dass man ihnen nur ein paar abgesperrte Gässchen und Grünflächen zuwies. Sie fühlten sich interniert und bekamen demonstriert, dass sie Vertreter eines Feindstaates waren, sonst hätte man ja keinen Friedensvertrag schließen müssen. Und dann begann das Warten. Am 19. Mai durfte Renner seine Vollmachten den Vertretern der fünf Großmächte, Frankreich, Großbritannien, USA, Italien und Japan, überreichen und wurde seinerseits mit den Legitimationen all jener ausgestattet, die bei den Verhandlungen als alliierte oder assoziierte Mächte eine Rolle spielen sollten. Von den einstigen Gegnern Österreich-Ungarns waren nur Russland und Montenegro nicht vertreten. Dann wurde wieder gewartet, doch die deutschösterreichische Delegation wusste sich die Zeit zu vertreiben. Die Experten hielten Vorträge, es wurde diskutiert. Endlich,
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nach mehr als zweiwöchigem Herumsitzen und Zuwarten kam Bewegung in die Sache. Am 29. Mai verständigte man Renner, dass die alliierten und assoziierten Mächte die Republik Deutschösterreich unter dem Namen »Republik Österreich« anerkannt hätten. Das war deutlich. Dann wurde angekündigt, dass man den Österreichern tags darauf die Friedensbedingungen übergeben würde, allerdings würden einige Bestimmungen noch nachgereicht werden. Um auch gleich klarzumachen, wie es zu laufen hatte, hieß es : Es würde keine mündlichen Verhandlungen geben. Wenn man Vorbringungen hätte, dann wären diese schriftlich abzufassen und sollten ebenso beantwortet werden. Wie bei Verträgen üblich : Jede Änderung bedurfte der Schriftform. Der Termin hielt nicht, also wurde er auf den 2. Juni verschoben. Dann war es wirklich so weit. Im Schloss von Versailles übergab der Präsident der Friedenskonferenz, der französische Staatspräsident George Clemenceau, den Vertragsentwurf in englischer, französischer und italienischer Sprache. Ansprachen wurden gehalten. Mehr gab es nicht zu sagen. Renner und die meisten Delegationsmitglieder reisten ab. Der Staatskanzler wollte sich in Feldkirch mit Vizekanzler Jodok Fink, Otto Bauer und anderen beraten. Spätestens auf der Fahrt hatte man Gelegenheit, den Vertragstext zu studieren. Und dabei brachen die letzten Hoffnungen zusammen. Viele Vertragsteile waren ganz einfach aus dem deutschen Vertrag übernommen worden. Manches an dem Entwurf schien den Österreichern ruinös und nicht akzeptabel. Österreich war zum Rechtsnachfolger der Monarchie erklärt worden, und alles andere leitete sich aus dieser historischen »Schuld« ab. (Später sollte es Ungarn ähnlich ergehen). Aber hatte man wirklich so naiv sein können zu glauben, es würde anders kommen ? War es realistisch, dass Renner sofort Gegendarstellungen anfertigen ließ, die er zwei Tage später wieder nach Paris mitnahm. Der Kanzler war so wenig Realist (oder tat zumindest so), dass er auch weiterhin als Staatsbezeichnung konsequent Deutschösterreich verwendete. Und dann wurde der Friedensdelegation eine Note nach der anderen übermittelt. Rasch, weil man damit demonstrieren konnte, dass es gar nicht groß nachzudenken galt über das, was von den Alliierten übermittelt worden war. Man verwahrte sich gegen die Vermögensbeschlagnahmungen, gegen den bereits ausgehändigten Teil der militärischen Bestimmungen, gegen die Grenzziehung, die internationale Rechtspersönlichkeit Deutschösterreichs und so weiter. Österreich, soviel stand schon fest, sollte kein Teil der Deutschen Republik werden. Das Anschlussverbot war zunächst nur von Frankreich wirklich gewünscht worden, um einen möglichen Machtzuwachs Deutschlands zu verhindern. Die Vereinigten Staaten, Großbritannien und Italien waren eher für den Anschluss gewesen, zumindest war er ihnen gleichgültig. Doch im März 1919, als in Versailles die Grenzen Deutschlands festgelegt wurden, wurde auch eine Grenze im Südosten gezogen, die verhindern sollte, dass sich Deutschland vergrößerte. Mit dieser Festlegung entsprach Frankreich
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durchaus dem, was eine ganze Reihe von Staaten erwartet und regelrecht gefordert hatte. Die Tschechoslowakei war gegen den Anschluss. Jugoslawien war dagegen, ja sogar die Schweiz protestierte gegen die »Hypothese der Vereinigung«. Das folglich im Umweg über Deutschland unabhängig gedachte Österreich, das zu einer Art Funktion des Deutschlandvertrags wurde, sollte neutral werden, und damit es dabei blieb, sollte der Völkerbund den französischen Vorstellungen folgend eine Garantie aussprechen. Schon Tage später zeigte Frankreich aber kein Interesse mehr an einem neutralen Österreich, denn offenbar hatte der französische Generalstab geltend gemacht, dass es viel praktischer sein würde, wenn man notfalls über österreichisches Gebiet in Ungarn intervenieren könnte. Doch wenn jemand in Österreich so tat, als ob ihn das Anschlussverbot unvorbereitet träfe, dann war er einer Illusion nachgerannt oder hatte es einfach verabsäumt, sich mit dem seit Anfang Mai bekannten Versailler Vertrag zu beschäftigen. Denn auch dort stand die Wahrung der Unabhängigkeit Österreichs drin, und zwar als Verpflichtung Deutschlands. Die Franzosen begründeten das Anschlussverbot allerdings mit ganz anderen Argumenten als dem eigentlichen, nämlich Deutschland so schwach wie möglich zu erhalten. Da war die Rede davon, dass in Österreich nur die Sozialdemokraten für den Anschluss seien, alle anderen aber dagegen. Die Anschlussbewegung sei zudem im Ausland und nicht in Österreich entstanden. Die einzige Lösung, die keine Hypothek auf die Zukunft sei, sei die Unabhängigkeit. Und die wurde dem Staat, der definitiv Republik Österreich heißen sollte, auferlegt und zugesichert. Die Alliierten brauchten bis zum 20. Juli, um alle Vorbringungen zu verarbeiten. An diesem Tag übergaben sie einen weitgehend vollständigen Textentwurf. Auf Zeremoniell wurde verzichtet. Der Generalsekretär der Friedenskonferenz kam einfach in die Villa Renners nach St. Germain und drückte ihm das Schriftstück in die Hand. Auf die österreichischen Noten war so gut wie nicht eingegangen worden. Für eine Rückäußerung wurden zehn Tage eingeräumt. Wieder fuhr Renner nach Feldkirch. Er akzeptierte die Demission Bauers als Staatssekretär für Äußeres und übernahm auch noch das Außenamt. Dann wurde abermals festgelegt, welche Einwendungen Österreich machen sollte, um wenigstens bei einzelnen Bestimmungen eine Änderung zu erreichen. Da aber so deutlich geworden war, dass die Alliierten auf die österreichischen Gegendarstellungen nicht reagieren wollten, wurden die Änderungswünsche nur mehr als ,,Bemerkungen« formuliert. Die Nationalversammlung segnete die Feldkircher Beschlüsse mit den Stimmen der (damaligen) großen Koalition ab. Mittlerweile war Österreich die Kohle ausgegangen ; die Lebensmittelkredite waren aufgebraucht. Die Südslawen hatten das Klagenfurter Becken fest im Griff. Renner pendelte zwischen Feldkirch, Paris und Wien. Ab dem 12. August war er dann wieder in St. Germain. Er wartete bis zum 2. September. Dann wurde ihm der endgültige
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Vertragsentwurf zugestellt, wieder in die Villa. Einiges an den 381 Artikeln war verändert, anderes umgestellt und präzisiert worden, doch in der Substanz hatte sich wenig geändert. Dennoch ließ sich sagen, dass ohne die Hochrangigkeit der österreichischen Delegation wahrscheinlich nicht einmal das zu erreichen gewesen wäre. Die diesmal gesetzte Frist zur Annahme betrug fünf Tage. Renner bat um eine Verlängerung, denn ob Ablehnung oder Annahme hatte nicht er zu bestimmen, sondern die Nationalversammlung. Der Kanzler musste nach Wien und brauchte allein für die Reise vier Tage. Die Alliierten gewährten zwei weitere Tage. Die Debatte in Wien war nicht heiß, geschweige denn stürmisch. Resignation herrschte vor, und die Koalition tat, was im Interesse Österreichs getan werden musste : Renner durfte unterzeichnen. Am 10. September, 11 Uhr Vormittag wurde der Kanzler mit nennenswerten protokollarischen Ehren in das Schloss von St. Germain geleitet. Zwei Mitglieder seiner Delegation durften ihn begleiten. Die alliierten und assoziierten Mächte waren fast vollständig vertreten. Clemenceau forderte Renner zur Unterschrift auf. Der Kanzler unterzeichnete. Nach ihm signierten die Vertreter der Hauptmächte sowie jene Belgiens, Chinas, Kubas, Griechenlands, Nicaraguas, Panamas, Portugals, Siams und der Tschechoslowakei. Der rumänische und der südslawische Vertreter waren nicht gekommen. Aus Protest, Zeitmangel oder weil sie schlicht vergessen hatten, wurde nicht gefragt. Renner seinerseits hatte zumindest an diesem Tag nichts mehr zu sagen. Er fuhr ab. St. Germain hat er nie wiedergesehen. Nicht dass der Vertrag von St. Germain damit schon in allen Teilen und für alle gültig gewesen wäre, denn jetzt begann erst der mühsame Prozess der Ratifikationen und Hinterlegungen. Am 10. Oktober 1920 stimmte man in Kärnten über eine mögliche Teilung des Landes ab. Es ging zugunsten Österreichs aus. Am selben Tag erfolgte die formelle Annexion Südtirols durch Italien. Im Dezember 1921 wurde über Ödenburg/ Sopron abgestimmt. Es dauerte somit noch mehr als zwei Jahre, ehe auch dieses vorläufig letzte Kapitel abgehandelt war. Doch wer glauben sollte, alles das wäre einmal gewesen, der irrt. Eine ganze Reihe von Bestimmungen des Vertrags von St. Germain sind auch heute noch geltendes Recht und Realität, etwa die Grenzen Österreichs. Nur der Ort, an dem das alles ausgehandelt worden ist, der ist mittlerweile in Vergessenheit geraten. Auch österreichische Nostalgiker werden ihn nicht sehr zahlreich aufsuchen. Was sollte man denn auch in einem kleinen Urgeschichtsmuseum oder auf dem Paradeplatz des Generals Leclerc ?
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Tausche Land gegen Leben 30. Oktober 1918. Vor dem Niederösterreichischen Landhaus – nicht von St. Pölten, sondern von der Wiener Herrengasse ist die Rede – drängen sich rund 5.000 Menschen. Es ist ein entfernter Anklang an 1848 zu spüren. Auch die Fahnen sind die gleichen : Schwarz-Rot-Gold. Darunter mischen sich rote Fahnen. Mit 1848 hatte es auch zu tun, wenn drinnen im Haus von der Männerriege der deutschen Abgeordneten des österreichischen Reichsrates ein Zusammengehen mit dem Deutschen Reich ins Auge gefasst wurde. Alles das hatte natürlich zur Voraussetzung, dass das alte Reich am Ende war ; und das war es. Die da im Niederösterreichischen Landhaus zusammengekommen waren, ein Karl Seitz, Julius Sylvester, Franz Dinghofer, Karl Renner und wie sie noch hießen, fühlten sich aber zum wenigsten als Revolutionäre, sondern als Teil jener liquidierenden Organe, die Konsequenzen aus dem verlorenen Krieg zu ziehen und zur Kenntnis zu nehmen hatten, dass sich schon alle Völker des Reiches von der Habsburgermonarchie losgesagt hatten. Die deutschen Österreicher waren die letzten und sie spürten bereits, wie ihnen alles zur Last gelegt wurde, was in Österreich-Ungarn in den letzten Jahrzehnten schlecht gemacht worden und schief gelaufen war, bis das Habsburgerreich schließlich in einem verheerenden Krieg zugrunde ging. Jetzt galt es zunächst einmal, auf das alte Reich zu fluchen. Auch viele deutschen Österreicher taten es. Am 30. Oktober tagte der letzte gemeinsame Ministerrat des alten Österreich. Menschenmengen demons trierten gegen den k. u. k. Minister des Äußern und schrien : »Nieder mit Andrássy, dem Verräter !« Vor dem Parlament erregte eine Gruppe von Soldaten Aufsehen, die gegen das k. u. k. Armeeoberkommando demonstrierten. Und schließlich versammelten sich alle in der Herrengasse. Die Abgeordneten kamen bereits das zweite Mal zusammen. Das erste Mal, am 21. Oktober, war eine Provisorische Nationalversammlung konstituiert und auch schon von der Absicht gesprochen worden, einen eigenen Staat zu bilden. Ein todkranker Viktor Adler merkte an : Wenn die andren Staaten, die romanischen und slawischen, denen er zur neuen Staatlichkeit gratuliere, sich nicht mit Österreich vereinen wollten, dann würde sich Österreich als ein Sonderbundstaat dem Deutschen Reich angliedern. Das wurde zum Antrag erhoben. Nachdem er verlesen und beschlossen worden war, gab es, wie in den Stenographischen Protokollen vermerkt wurde : »Lebhaften, anhaltenden Beifall und Händeklatschen. – Heil !-Rufe«. Der Mann der Stunde war aber nicht Adler – er konnte es gar nicht mehr sein –, sondern Karl Renner. Ihm war wenige Tage zuvor von Kaiser Karl die Ministerpräsidentschaft über die österreichische Reichshälfte angetragen worden, doch der sozial demokratische Parteivorstand hatte nicht eingewilligt. Jetzt, freilich, war Renner gefragt. Am 30. wurde er zum Staatskanzler gewählt. Und er tat so, als ob er schon immer
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einen neuen Staat aus einem kollabierenden Reich herausgelöst hätte. Sein Ziel war es, den verbleibenden Rest der Habsburgermonarchie eine Zeitlang über Wasser zu halten. Sehr optimistisch war er nicht, und als er gefragt wurde, ob man den Bolschewismus zu fürchten hätte, meinte Renner : »Der Bolschewismus wäre wenigstens organisierte Anarchie ; wenn wir nur keine unorganisierte bekommen !« Denn in dieser Zeit der Auflösung deutete alles auf ein Chaos hin. Am 30. Oktober tat man noch so, als wüsste man nicht, ob das neue Staatswesen eine Republik, eine Monarchie oder was immer werden würde, und ob es eine Föderation mit anderen Staaten oder wirklich einen Zusammenschluss mit dem Deutschen Reich geben sollte. Spätestens am Abend dieses Tages war zumindest klar, dass die Inbetriebnahme des neuen Staates keinesfalls gewaltfrei vor sich gehen würde. Es wurde randaliert und kam zu Plünderungen. Gewalt griff um sich. Rote Garden und Soldatenräte waren nur zu sehr bereit, Gewalt einzusetzen. Und sie wollten nicht einfach zusehen, wie sich da sehr ordentlich und bedächtig, immer auf die Verwaltungsabläufe bedacht, Rechtskontinuität wahrend und gewissermaßen legitim ein neuer Staat definierte. Jetzt, so glaubten die revolutionär gesinnten Herren Frey, Kiss und Rothziegel, wäre der Augenblick gekommen, um wie in Russland Nägel mit Köpfen zu machen, Räte zu bilden und eine kommunistische Revolution auszulösen. Revolution in Russland, eine absehbare Revolution in Deutschland, eine in Österreich, vielleicht auch in Ungarn – ganz Europa schien reif für ein kommunistisches Experiment. Das würde doch wohl ein paar Tote wert sein. Hass kam auf. Verhasst waren jene, die Repräsentanten des zerfallenden Reiches waren, seine geschwundene Macht verkörperten und seine Symbole trugen. Man hielt das Auto des Kriegsministers Stöger-Steiner an, zertrümmerte die Fenster und riss von den Kappen der Insassen die Kappenrosen mit dem Anfangsbuchstaben des Kaisers, »K«, herunter. Anderen ging es schlechter, sie wurden blutig geschlagen oder umgebracht. Für die »Roten« war der Kaiser und König die Verkörperung dessen, was sie mehr oder weniger plötzlich hassten. Doch auch für die anderen, die gemäßigten Demokraten, war er zumindest eine besondere Verlegenheit. Schon deshalb, weil er sich nicht in Schönbrunn verkrochen hatte, sondern immer wieder in der Stadt auftauchte, und sei es, um im Stephansdom ein Te Deum zu feiern. Der Kaiser kämpfte verzweifelt um den Erhalt der Macht. Dabei hatten sich in Schönbrunn sogar schon die Lakaien verlaufen und versagten die Garden den Gehorsam. Eine Kompanie Militärakademiker versah den Wachdienst und kam sich als die letzte Stütze des Throns vor. Macht besaß der Kaiser somit keine mehr. Er konnte sich nicht einmal mehr selbst schützen. Noch ließ er sich aber nicht einfach ignorieren. Denn eines wurde sehr wohl von der Majestät erwartet, ja gefordert, nämlich die Liquidierung des Krieges, die Kapitulation der k. u. k. Armee. Der Kaiser war es denn auch, der am 3. November seinem Armeeoberkommando die Erlaubnis zum Abschluss des Waffenstillstands gab. Der Kaiser war es aber auch, der seine Soldaten bewusst nicht des Eides entband, weil
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er sie notfalls noch ein wenig gebrauchen wollte. Und er war es, der allein durch seine Anwesenheit immer wieder zu Spekulationen Anlass gab. Also musste der Kaiser verschwinden. Karl Seitz als Präsident der Nationalversammlung und Karl Renner als Leiter der Staatskanzlei intervenierten beim letzten Ministerpräsidenten des kaiserlichen Österreich, Heinrich Lammasch. Der ging mit dem Sozialminister seiner Regierung, dem Prälaten Ignaz Seipel, zum Kaiser und unterbreitete ihm eine Proklamation, mit der Karl einen Verzicht auf die Teilnahme an den Staatsgeschäften aussprechen sollte. Karl musste sehr wohl bearbeitet werden, ehe er unterschrieb. In Wirklichkeit war gar nichts anderes mehr möglich gewesen, denn bereits acht Stunden bevor Lammasch zum Kaiser gegangen war, wurde in Wien mittels Anschlägen kundgemacht, dass Österreich laut Beschluss des Staatsrates demokratische Republik werden würde. Es wäre also auch ohne den Kaiser gehandelt worden, doch nun hatte es wenigstens auch in diesem Fall seine Ordnung. Im Übrigen bezeichnete Karl nachträglich das Manifest als ungültig und ihm abgepresst. Durch die Ausrufung der Republik sei das österreichische Volk präjudiziert worden, doch selbstverständlich wäre auch eine Volksabstimmung über die Staats- und Regierungsform völlig irrelevant gewesen, denn ein Kaiser und König »von Gottes Gnaden« könne auch durch Volksentscheid nicht abgesetzt werden. Und der Eid, den die Angehörigen der Armee gesprochen hatten, wäre in jedem Fall gültig geblieben. Karl wollte sich nicht der neuen deutschösterreichischen Realität beugen, ebenso wenig wie einer neuen ungarischen, tschecho-slowakischen etc. Was Wunder, dass Renner dann formulierte, der ehemalige Monarch stünde außerhalb der Gesetze. Im Zuge der drängenden Geschäfte, lediglich vergesslich oder auch absichtlich, hatten der Monarch und auch die Nationalversammlung darauf verzichtet, den Soldaten in irgendeiner Form den Dank des Vaterlandes zum Ausdruck zu bringen. Das kränkte und wurde schon bald sehr nachdrücklich kommentiert. Stattdessen dekretierte der deutschösterreichische Staatsrat schlicht : »Die k. u. k. Armee und die k. k. Landwehr haben zu bestehen aufgehört«. Es ging nur mehr um die Versetzungen in den Ruhestand, die Auszahlung einer letzten Gage und das Abschieben der Angehörigen einer bewaffneten Macht, die plötzlich keine Heimat mehr zu haben schienen. Von einem k. u. k. Feldmarschall, der ohne jegliche Habe und ohne Geld in Klagenfurt auf Wohnungssuche ging, erzählte man sich, er habe schließlich eine Eingabe an den Magistrat des Inhalts gerichtet : »Ich bin in den Augen mancher ein Schwein. Aber auch ein Schwein braucht einen Stall … Ich bitte um Zuweisung einer Wohnung.« Der Staatsrat gestand den mittellos gewordenen, entlassenen Soldaten nur zu, dass sie ihre Uniformen an Stelle von Zivilkleidung tragen durften, allerdings nur bis Ende 1919. Um aber auch schon das Gericht über Habsburgs Wehrmacht anzuberaumen, begannen die »Arbeiter-Zeitung« und der sozialdemokratische »Abend« damit, von einem bevorstehenden Putsch zu schreiben, den die Anhänger des alten Regimes planten. Es gab zwar
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keine Beweise dafür, doch man schrieb halt davon, und sei es, dass man irgendwelche Leserbriefe veröffentlichte. Und anonyme Zuschriften von »nachdenklichen Lesern« waren und sind als kleine Gemeinheit immer gefragt. Wenn der Kaiser keine Macht mehr hatte, man der letzten kaiserlichen Regierung und dem Armeeoberkommando nur mehr die Liquidierung des Reiches und seiner bewaffneten Macht zugestehen wollte, war zu fragen, wer dem neuen Staatswesen Macht geben würde. Denn das Problem war wohl, dass Deutschösterreich nur dann eine Chance hatte, wenn es auch die Macht besaß, die Beschlüsse der Provisorischen Nationalversammlung und deren gesetzgeberische Akte umzusetzen und ihnen Respekt zu verschaffen. Eine neue »Volkswehr sollte die alte Armee ersetzen. Außerdem war es seit dem erwähnten 30. Oktober Privaten verboten, Nationalgarden zu bilden und wurde nachdrücklich auf die nach wie vor geltende Todesstrafe hingewiesen : »Plünderung und Raub staatlichen Gutes sind das schwerste Verbrechen an unserem Gemeinwesen … Nach den noch in Kraft stehenden Kriegsartikeln steht auf solche Verbrechen die Todesstrafe, die von nun an auch unnachsichtlich vollzogen werden wird«. – Leere Worte, denn hingerichtet wurde niemand. Und Plünderungen waren an der Tagesordnung. Nicht nur in Wien, sondern in jedem der Länder. Da sie von einer Zentralgewalt nichts mehr spürten und sich sehr wohl auch selbst überlassen waren, begannen sie entsprechend den jeweils eigenen Szenarien zu handeln. In der Steiermark suchte beispielsweise ein »Wohlfahrtsausschuss« die Geschicke zu lenken. Ab dem 1. November begannen slowenische Truppen die südliche Steiermark zu besetzen. Die Landesversammlung protestierte, wollte aber nichts riskieren, da man auf Lebensmittel aus dem Süden hoffte. – Auch in Kärnten ging die Neuordnung der politischen Verhältnisse mit der Aufstellung von Bürgerwehren Hand in Hand. Man fürchtete den Rücktransport der k. u. k. Truppen von der Südwestfront und die gegenläufige Bewegung der bisherigen italienischen Kriegsgefangenen. Da die Slowenen auch mit der Besetzung Kärntens begannen, rief der Wehrausschuss am 7. November alle zum Waffendienst fähigen Männer von 18 bis 36 auf, Widerstand zu leisten. Wien protestierte, die Maßnahme musste rückgängig gemacht werden. Daraufhin ging die Besetzung weiter. In Tirol gab es einen »Nationalrat« und wie anderswo auch einen Landesbefehlshaber, der sich nur mehr »Herr Eccher« nennen ließ. Am 7. November besetzten die Italiener Bozen und rückten allmählich, aber sehr langsam nach Norden vor, bis sie Innsbruck erreichten. In Vorarlberg kämpft man mit Orientierungslosigkeit, wollte sich der Schweiz, und wenn das nicht ging Bayern oder Württemberg anschließen, vor allem aber Nahrungsmittel aus der Tschechoslowakei bekommen. Salzburg, das vom 6. bis 11. November von bayerischen Truppen besetzt war, schien ganz froh, als die Bayern wieder abzogen und erklärte spontan seinen Anschluss an Deutschösterreich und wollte auch alle Entscheidungen Wiens akzeptieren. Und so ließe sich fortfahren, um
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dann festzustellen, dass es allerorts etwas anders aussah. Doch überall wurde es noch gewaltsamer. Im November wurde das Niederösterreichische Landhaus nicht mehr gebraucht, um den Staatsrat und die Provisorische Nationalversammlung zu beherbergen. Sie übersiedelten in das Reichsratsgebäude an der Ringstraße. Und die Personen, denen man eine Rolle in der Hoheitsverwaltung zugedacht hatte, suchten sich Zimmer in den Ministerien, wo im einen Raum noch die kaiserlichen Minister amtierten und die Beamten administrierten, und nebenan sich neue Leute als Staatssekretäre und Unterstaatssekretäre einen Überblick zu verschaffen suchten. Tag für Tag wurde demonstriert, wurde deutlich gemacht, dass der Staat eigentlich keine Macht hatte, sondern auf die freundliche Mitwirkung der Arbeiter-, Soldaten- und Bauernräte angewiesen war. Bei manchem, der sich radikal gebärdete, war freilich schon etwas zu verspüren, das dann auch später zum Problem werden sollte : Es regierte die hohle Phrase. Oder wie denn war es zu verstehen, dass ein etwas untersetzter aber außerordentlich bürgerlich wirkender Herr an der Spitze von Roten Garden vor das Parlament und dann zum Wiener Schottentor marschierte und flammende Reden gegen den Kapitalismus hielt. Als er Tage später ausgeforscht wurde, ließ er sich als Franz Werfel identifizieren und machte einen alles andere denn revolutionären Eindruck. Ein Polizeikommissär bedeutete ihm, dass er in Prag heimatzuständig sei, und falls er sich noch etwas zuschulden kommen ließe, würde er des Landes verwiesen werden. Bei allen Demonstrationen und Enunziationen sprach man mit einer gewissen Selbstverständlichkeit vom neuen Staat Deutschösterreich ; doch es gab ihn eigentlich noch gar nicht. Nicht einmal der Namen war unumstritten. Der freilich war keine Erfindung von Republikanern, sondern schon vom vorletzten österreichischen Ministerpräsidenten, Baron Hussarek-Heinlein, so hingesagt worden. Und so wurde das Wort auch weiterverwendet, nicht zuletzt in der provisorischen Verfassung und im Gesetz über die Staats- und Regierungsform, wo nicht nur festgelegt wurde, dass Deutschösterreich eine demokratische Republik sein sollte. Im § 2 hieß es auch, dass diese demokratische Republik Deutschösterreich Bestandteil der deutschen Republik ist – nicht vielleicht nur sein sollte. Aber beide Teile des Wortes Deutschösterreich befriedigten nicht. Und als dann Befürchtungen laut wurden, die Siegermächte würden die Bezeichnung Österreich als Fingerzeig dafür nehmen, dass man diesem einzigen weiterbestehenden Österreich die ganze Kriegsschuld aufhalsen könnte – da war man mit dem Staatsnamen gar nicht mehr zufrieden. Also waren die kreativen Sprachschöpfer gefragt. Sollte der neue Staat nicht besser Ostmark, Ostdeutschland, Ostass, Hochmark oder Markomannien heißen ? Oder doch besser Teutheim, Treumark und Friedland ? Karl Renner schlug »Deutsche Alpenlande« vor. Und das alles für einen Staat, dem vorderhand noch das Wichtigste abging, nämlich das Staatsgebiet. Von dem war erst später die Rede, und in dem Gesetz über Umfang und Grenzen des Staatsgebiets Deutschösterreichs
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wurden dann jene Länder genannt, auf die sich die Gebietshoheit erstrecken sollte, und das waren unter anderem Deutsch-Südmähren, Deutsch-Südböhmen, Deutschböhmen und Sudetenland, wobei die deutschen Siedlungsgebiete von Brünn, Iglau und Olmütz zudem als geschlossene deutsche Siedlungsgebiete reklamiert wurden. Der Rechtsbereich der Republik sollte sich darüber hinaus auf alle von Deutschen bewohnten oder verwalteten Sprachinseln, Städte und Gemeinden des alten Österreich erstrecken. Aber die sehr einseitigen Akte, mit denen in Wien festgestellt wurde, was alles zu Deutschösterreich gehörte und was schließlich auch in dem mit 225 Sitzen gedachten neuen Parlament Sitz und Stimme haben sollte, waren eines. Dass man sich in Prag oder Warschau, in Italien und dem südslawischen Staat der Serben, Kroaten und Slowenen nicht daranhalten würde, war ein anderes. Am 8. November braute sich weiteres Unheil zusammen. Deutschland hatte zugesagt, 1000 Waggons Mehl zu liefern. Daraufhin waren 400 Waggons nach Bayern geschickt worden, jedoch leer zurückgekommen. Die Deutschen hatten die Lieferung storniert. Und dann kam es noch dicker : Angesichts des sich abzeichnenden Streits um die Zugehörigkeit von Südböhmen und -mähren waren die Tschechen nicht mehr bereit, Lebensmittel nach Deutschösterreich zu liefern. Der Staatssekretär für das Ernährungswesen, Hans Löwenfeld–Russ, resümierte : Allein der Entfall der notwendigen Zuckerlieferungen würde bedeuten, dass es nicht nur keinen Zucker und keine Melasse gäbe, sondern auch keine Marmelade, keinen Spiritus, keine Hefe etc. Ohne Hefe aber kein Brot. Also musste man wohl oder übel mit den Tschechen reden. Bei dieser Gelegenheit wurde ein Wort strapaziert, das lange Zeit nicht aus den Dokumenten und aus den Reden verschwinden sollte : »unpräjudizierlich«, also ohne damit etwas vorwegnehmen zu sollen und zu wollen, das erst auf einer Friedenskonferenz zu regeln wäre. Edle Einfalt ! Es gab auch keine Kohle und kein Fett. Löwenfeld-Russ stellte daher in der Staatsratssitzung am 8. November fest : »Bei allem nationalen Empfinden muss man die Frage stellen, ist es möglich, die nationalen und politischen Bedürfnisse durchzusetzen, wenn wir vorher verhungert sind ?« Fast jeden Tag gab es eine Sitzung des Staatsrates, jeden Tag schien es wieder ein Stück aussichtsloser zu werden. Und bei allen politischen Höhenflügen war dann dort das Ende gekommen, wo man sich sagen musste : Tausche Territorien gegen Leben. Unpräjudizierlich, selbstverständlich. Am Tag, als der Staatsrat das Gesetz über die Staats- und Regierungsform Deutschösterreichs verabschiedete, am 11. November, starb Viktor Adler. Ehrliche Trauer mischte sich in die politischen Reden. Doch dann gab es schon wieder Wichtigeres zu tun. Am Tag darauf sollte das erwähnte Gesetz feierlich verkündet werden, mit Fahnenhissung und Gesang. Als es so weit war, traten die Mitglieder der Nationalversammlung auf die Parlamentsrampe. Vielleicht Hunderttausend Menschen erlebten das Schauspiel, doch sehr viel weniger sahen dann, wie das Aufziehen der Fahne recht ruhig durch Rote Garden unterbrochen wurde. Nicht in einer Rauferei, sondern ganz gemächlich
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wurden der weiße Mittelstreifen herausgerissen und die beiden roten Teile zusammengeknüpft und wieder hochgezogen. Die Abgeordneten sahen ruhig zu. Anschließend sang ein Chor. Als die Mitglieder der Provisorischen Nationalversammlung wieder im Gebäude waren, fiel ein erster Schuss. Danach ging es los, wurde geschossen und geprügelt und mit Gewehrkolben an die verschlossenen Tore gedroschen. 24 Personen wurden schwer, andere leicht verletzt. Ein Zwölfjähriger und ein Mann in mittleren Jahren starben am Abend an den Folgen ihrer Verletzungen. Für die Kommunisten ging der Tag aber noch lange nicht zu Ende. Als nächstes drangen sie zusammen mit Rotgardisten und Emissären aus Moskau in die Redaktion der »Neuen Freien Presse« ein, wo sie schließlich den Druck zweier Flugblätter erzwangen. Friedrich Adler, der Sohn des verstorbenen Viktor und erst seit einigen Tagen aus dem Gefängnis entlassen, nannte es eine »dumme Operette«. Tage später wurden die Anführer dieser Aktion verhaftet und des Hochverrats angeklagt. 27 Jahre später war einer von ihnen, Karl Steinhardt, kommunistischer Vizebürgermeister von Wien. Am Abend des 12. November 1918, als diese »dumme Operette« gespielt wurde, konnte niemand wissen, dass die Revolution in Österreich schon vorüber war, noch ehe sie eigentlich ausgebrochen war. Und was sonst noch kommen würde, lag – Gott sei Dank – auch noch im Dunkel. Letztlich hatte das 20. Jahrhundert ja erst so richtig begonnen. Ein Dorf an der Grenze Weltuntergänge, Revolutionen und Katastrophen schienen zu Jahresende 1918 alltäglich. Das sollte man auch in dem kleinen Weinviertler Ort Rabenburg erfahren. Einer Welt für sich, ein Kaff, würden die Großstädter vielleicht abschätzig sagen. An die 2.000 Menschen bevölkerten den Ort, der in dem Jahr, in dem diese Erzählung beginnt, fast doppelt so groß war wie heute. Nicht an Häusern, wohl aber an Bewohnern. Anspruchslose Männer, Frauen und Kinder, die sich in einem zum Großteil dem regierenden Fürsten Johann II. von und zu Liechtenstein gehörenden Gebiet durchs Leben schlugen. Die meisten waren katholisch, die anderen Protestanten und einige wenige – wie es damals hieß – mosaisch. Sie verdienten sich ihr tägliches Brot als Bauern, Taglöhner und Arbeiter. Aber da gab es auch noch andere, die für die »Herrschaft« auf deren Gütern arbeiteten, oder auch bei der k. k. Nordbahn Dienst versahen. Die Bahn hatte überhaupt einen starken Wandel bewirkt, denn aus einem fast ausschließlich von Bauern geprägten Dorf, das seine Initialen »C(ommune)R(abensburg)« auch in die Ziegel brannte, war eine kleine Eisenbahnersiedlung geworden. Und die Lokführer, Streckenarbeiter, Heizer und Schmierer – das waren schon Leute, die ein wenig mehr von der Welt gesehen hatten und von ihr wussten. Von den Schaffnern ganz zu schweigen, denn das waren »Herren«.
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Rund 80 % der Menschen sprachen tschechisch oder verstanden es zumindest, obwohl sie nicht in der Grafschaft Mähren, sondern im Erzherzogtum Österreich unter der Enns lebten. Der Ort galt denn auch als tschechisch. Das merkte man spätestens bei den diversen Kirchtagen und anderen Festen, wenn es zu handfesten Raufereien kam. Denn die fünf Kilometer entfernt wohnenden Bernhardsthaler waren Deutsche. Also ließ sich großartig streiten und den im Großen und Ganzen nicht sehr virulente Nationalitätenkonflikt zumindest im Kleinen austoben. Da fluchte dann jeder auf seine Weise und in der ihm am geläufigsten Sprache. Der leicht singende Sprechstil der Rabensburger war auch in der Kirche zu hören, die der Heiligen Helena geweiht war und zur Erzdiözese Wien gehörte. In der Dorfkirche, bei den Prozessionen und auch bei der im Norden des Orts gelegenen Feldkapelle wurden Messen gefeiert und gebetet : um das Ende des Kriegs, für die Gesundheit und das Wohlergehen des Kaisers, Karl I., und natürlich darum, dass die Väter und Söhne, die im Krieg waren, irgendwann einmal gesund nach Hause kommen mögen. Der Krieg hatte den Ort anders werden lassen. Die Herrschaft, die Liechtensteiner, hatten plötzlich weit weniger Bauern, die die Felder bewirtschaften konnten, als vorher. Doch zur Not ging es. Das mit der Not bekam allerdings im Lauf des Großen Kriegs einen ganz anderen Beigeschmack, denn auch auf dem Land gingen die Lebensmittel aus und wurde Vieles, das auch für die bedürfnislosesten Menschen selbstverständlich war, zur Seltenheit. Die Gasthäuser mussten an Wochentagen um 11 Uhr und am Sonntag um 12 Uhr geschlossen werden. Immer weniger Kinder gingen in die Schule. In der 5. Klasse fehlten drei Viertel der Schüler, und die Leute sagten ganz offen : »Gebt unseren Kindern Brot, dann schicken wir sie wieder in die Schule.« Für die Kinder gab es aber auch außerhalb der Schule Beschäftigung. Sie sammelten Erdbeerund Brombeerblätter zur Viehfütterung oder mussten in den Auen jenseits der Thaya, wo es riesige Flächen gab, auf denen nichts anders wuchs als Brennnessel, meterhohe Brennnessel, diese schneiden, dann trocknen und schließlich die Blätter abrebeln, damit nur die Stängel übrigblieben. Aus den Fasern wurden Stoffe hergestellt, zunächst für die Soldaten, dann aber auch für die Leute im Dorf, die aus den Brennnesseln nicht nur Textilien für Kleidung, sondern auch Decken und alle möglichen Spinnwaren herstellten. Kratzende, wenig wärmende und in der Nässe rasch schrumpfende Tuchfetzen. Auf Grund einer extremen Trockenheit fiel das Obst von den Bäumen. Weit und breit zeigte sich kein Bienenschwarm, daher gab es auch keinen Honig. Milch wurde trotz der Bewirtschaftung immer rarer. Dabei gab es Ende 1918 unter den gezählten 454 Rindern 245 Milchkühe. Da die Gemeinde 1917 zu wenig Getreide abgeliefert hatte, war 1918 ein Zwangsdrusch unter militärischer Assistenz angeordnet worden. Das Ergebnis war jedoch bescheiden. Die Soldaten der Druschkompanie waren ausgehungerte Leute, die sich bestechen ließen, so dass die Bauern ungeschoren davonkamen.
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Obwohl man das Kriegsende buchstäblich riechen konnte, wurde noch immer so getan, als ob es ewig so weitergehen würde mit dem Kämpfen. Es wurde auch noch im Sommer und Herbst 1918 Geld investiert, um den Krieg zu finanzieren. Viel war es zwar nicht, das da im Rahmen der 8. Kriegsanleihe gezeichnet wurde, doch 30.000 Kronen waren es immer noch. Und dann wurden Teile der Kirchenorgel abmontiert, um Zinn zu gewinnen, und ein Teil des Graserlöses wurde dazu verwendet, 10.000 Kronen in eine Staatsanleihe mit sechsjähriger Laufzeit zu investieren. Anleihen waren höher verzinst als Sparbücher. Also legte die Gemeinde auch die letzten paar Kronen in Wertpapieren an. Letztlich war es auch eine patriotische Pflicht. Dass das k. u. k. Armeeoberkommando damit rechnete, dass der Krieg noch weitergehen würde, war aus der Tatsache zu schließen, dass weiterhin Stellungskundmachungen plakatiert wurden, mit denen die achtzehnjährigen Burschen zur Musterung nach Mistelbach beordert wurden. Wenig später wurden die Tauglichen eingekleidet und dann den Ersatztruppenkörpern zugewiesen, Die einen kamen zum Infanterieregiment Nr.84, »Artur Freiherr von Bolfras«, andere zum k. k. Landwehrinfanterieregiment Nr. 24, zu den »95ern«, zu den Pionieren oder wo immer hin, sei’s Front, sei’s Hinterland. Von den meisten Truppenkörpern, die 1914 mit klingendem Spiel ausgerückt waren, war freilich nicht mehr viel übriggeblieben, nachdem sie in Russland und Italien an den Brennpunkten des Kriegs eingesetzt gewesen waren. Und viele von denen, die in Galizien, Wolhynien und am Isonzo gekämpft hatten, waren dort verblutet. Andere waren als Verwundete und Krüppel heimgekommen. Wo sie gewesen waren und was sie erlebt hatten, erfuhr man erst nach und nach, denn auch noch im Oktober 1918 waren die Tagesmeldungen des k. u. k. Armeeoberkommandos einerseits die wichtigste, anderseits die schlechteste Informationsquelle – und besagten letztlich nichts. »… an dem unerschütterlichen Widerstand unserer Truppen scheiterten alle Anstrengungen der Italiener «, hieß es da. Letzte Meldung : In Italien dauern die »feindlichen Erkundungsversuche im Gebirge an.« Stehsätze ohne Aussage. Sofern jemand in diesem Dorf an der Grenze eine Zeitung bezog, war er auch nicht besser informiert, denn die meist gelesene »Niederösterreichische Volks- und Vereinszeitung«, hinkte mit ihren Informationen den Geschehnissen bis zu einer Woche nach. Da wurden im benachbarten Hohenau Deserteure aufgegriffen, von denen einer beim Versuch zu fliehen erschossen wurde. Die Spanische Grippe wütete unter den geschwächten Menschen, und es gab so gut wie nichts, um sie zu bekämpfen. Ein Arzt diagnostizierte, dass die Krankheit auf ein besonders die Blutgefäße schädigendes Gift zurückzuführen sei, das lähmend wirkt, worauf es zu Blutaustritten aus den kleinsten Gefäßen komme. Es bildeten sich zahlreiche Eiterherde, gegen die es nur eines gab : Bettruhe und die Anwendung eines Kreuzwickels. (Gesundbeten wäre vielleicht auch eine Heilungsmethode gewesen). Im Oktober 1918 brach eine neue Zeit an. Kaiser Karl wandte sich am 16. Oktober wie schon mehrfach zuvor an »Seine« Völker, allerdings nur mehr an die in der
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österreichischen Reichshälfte, und stellte ihnen frei, welchen Weg sie in Zukunft gehen wollten. Das galt auch für die deutschen Österreicher. Drei Tage, nachdem sich im Niederösterreichischen Landhaus die Provisorische Staatsregierung Deutschösterreichs konstituiert hatte, erfuhr man auch im nördlichen Weinviertel davon und konnte nachlesen, dass die Provisorische Nationalversammlung am 30. Oktober das provisorische Grundgesetz des neuen deutschösterreichischen Staates verabschiedet hatte und dass ein Staatsrat gebildet worden war, der nunmehr die Regierungs- und Vollzugsgewalt in Deutschösterreich übernehmen sollte. Man wurde auf die neue Zeit eingeschworen. Und der katholische Klerus tat sein Möglichstes, um die Gläubigen zu beruhigen. Wie vom Kardinal-Erzbischof von Wien gewünscht, verlas der Pfarradministrator von Rabensburg, der Malteser Franz Ibl, von der Kanzel der Helenen-Kirche einige Tage später einen Hirtenbrief, in dem mitgeteilt wurde, dass der Kaiser auf jeden Anteil an den Staatsgeschäften verzichtet habe, und der deutschösterreichische Staatsrat alle vorher dem Kaiser zugestandenen Rechte übernommen hätte. Folglich sind die Gläubigen »zur unbedingten Treue gegenüber dem nun rechtmäßig bestehenden Staate Deutschösterreich zu ermahnen.« Der Klerus wird sich der aus dem Feld oft verbittert heimkehrenden Soldaten annehmen müssen. »Ein wohl mühevolles, aber auch segensreiches Stück Seelsorgearbeit, das den Heimgekehrten schon ob ihrer unvergesslichen Verdienste um die Erhaltung der heimatlichen Scholle nicht vorenthalten werden sollte.« Allen Ermahnungen zum Trotz zeigten sich aber auch in unserem Dorf an der Grenze Ansätze einer Revolution. Plötzlich schien unter den »verbittert heimkehrenden Soldaten« nur mehr die Gewalt zu regieren. Wie schon im benachbarten Hohenau in den ersten Novembertagen, wurden in der Nacht vom 4. auf den 5. November Geschäfte geplündert, wurde geraubt und quer durch den Ort randaliert. Die Rabauken kannten sich wohl aus, denn die verwüsteten und geplünderten Geschäfte gehörten zwei jüdischen Kaufleuten, von denen à priori angenommen wurde, dass sie sich vom Militär gedrückt und stattdessen während des Kriegs ihren Wohlstand vermehrt hätten. Da man schon dabei war, wurde auch gleich allen Besitzenden der Krieg erklärt. Die Anführer der Schar sollten zwar verhaftet werden, drehten aber den Spieß um und nahmen den Bürgermeister Josef Weilinger als Geisel. Er musste stante pede eine außerordentliche Gemeinderatssitzung einberufen, die zeigen sollte, wer nunmehr das Sagen hatte. Die klarerweise bewaffnete Schar erklärte sich als die »Ständige Bereitschaft der bereits gegründeten Volkswehr«, konnte aber bestenfalls als »Rote Garde« bezeichnet werden, und funktionierte den Gemeinderat zu einem Tribunal um. Der ganze Frust, Zorn über die vergeudeten Jahre und die Absicht, sich schadlos zu halten, schlugen durch. Die Forderungen der Aufrührer liefen auf eine lokale bolschewistische Machtübernahme hinaus. Da sollte wohl ein kleines Paradies für Arbeiter und Bauern entstehen, wobei Letztere eigentlich zu den
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Feindbildern zählten, ebenso wie der im nicht so fernen Feldsberg residierende Fürst Johann II. von und zu Liechtenstein, genannt »der Gute«. Was unter »Krieg den Besitzenden« zu verstehen war, erfuhren Bürgermeister und Gemeinderäte im Handumdrehen. Als erstes proklamierte man Umverteilung. Eine Kommission sollte von Haus zu Haus gehen und versteckte Lebensmittel aufspüren und requirieren. Jeder Bewohner sollte ein bescheidenes Quantum Mehl und Fleisch bekommen. Die »Ständige Bereitschaft« billigte sich selbst erheblich mehr zu. Auch eine Viehaufnahme wurde verfügt. Dann wurde noch gefordert, dass es eine Bürgerwehr geben und die »Ständige Bereitschaft« um 32 heimgekehrte Soldaten vermehrt werden sollte. Alle Macht den lokalen Sowjets ! Und der Volksschullehrer, der das alles getreulich für die Nachwelt aufschrieb, fügte gedankenvoll hinzu : »Ob man da nicht den Bock zum Gärtner gemacht hat ?« Er sollte mehr als recht behalten. In Kürze herrschte das Chaos. Die »Ständige Bereitschaft« plünderte nach Belieben, wilderte in den Auen und zeigte, wer die Macht hatte. Da der Bürgermeister aus Eigenem nicht mehr in der Lage war, dem Treiben ein Ende zu bereiten, sollte eine »fremde Macht« eingreifen. Eine Abordnung fuhr heimlich nach Wien, um im Staatsamt für Heerwesen über die unhaltbaren Zustände zu berichten und um Hilfe zu bitten. Die Nachrichten aus Rabensburg stimmten mit denen überein, die auch aus den Orten der Umgebung kamen. Es wurde – wie es dann in einem Vortrag an den Staatsrat hieß : »seit Tagen geraubt, gemordet und geplündert.« Hilfe wurde zugesagt. Sie kam zwar nicht sofort, doch schließlich effektiv. Reguläre Volkswehreinheiten wurden in Marsch gesetzt. »In der Stunde höchster Not«, notierte der Volksschullehrer in der Schulchronik, kamen Volkswehrmänner aus Hohenau, Zistersdorf, Drösing und Ringelsdorf und »machten reinen Tisch«. Die selbsternannten Anführer der »Ständigen Bereitschaft« wurden verhaftet, verhört und angezeigt. Da sie sich aber als Teil der Volkswehr ausgegeben hatten und kein Mord auf ihr Konto ging, wurden sie gleich darauf wieder auf freien Fuß gesetzt. Jetzt konnte man sich wieder anderen Dingen zuwenden. Weihnachtsfrieden gab es dennoch keinen. Alles war noch provisorisch, die Grenzen, ebenso wie die Staats- und die Landesregierungen. Um wenigstens die Zukunft in einem rosigen Licht erscheinen zu lassen, setzte man schon in der Volksschule an und verteilte Lesebögen, die ein wenig nach Indoktrination aussahen : »Manches von dem, was die großen Leute jetzt reden, versteht ihr am Ende doch noch nicht«, konnte man da lesen – wenn man lesen konnte. »Da sagen sie jetzt : Nun ist unser Vaterland Österreich – nein Deutschöster reich heißen sie es jetzt – nun ist Deutschösterreich eine Republik und wir sind Republikaner. Was das wohl heißen mag ? … Kein Einzelner soll uns etwas vorschreiben können, sondern das wollen wir tun, was die Mehrheit von uns für gut hält … Ja, aber wir sind doch zehn Millionen Menschen in Deutschösterreich. Sollen die immer gefragt werden, was sie wollen ? Gewiss nicht, denn das wäre zu umständlich. Drum wählen
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die zehn Millionen Menschen von Zeit zu Zeit Leute, zu denen sie Vertrauen haben. Diese Leute kommen dann zusammen und machen die Gesetze, nach denen wir alle uns richten müssen. So macht man es in einer Republik … Wenn ihr groß werdet, soll unser liebes Deutschösterreich wieder ein glückliches, frohes Land sein und ihr sollt stolz sein können auf euer Vaterland.« Das mit den zehn Millionen Menschen leitete sich zwar aus den Beschlüssen der Provisorischen Nationalversammlung und dem ebenso provisorischen Gesetz über das Staatsgebiet ab, doch gerade in Rabensburg musste man so seine Zweifel haben. Denn was da so mir nichts dir nichts als Teil Deutschösterreichs bezeichnet wurde und das südböhmische ebenso wie das an das Weinviertel angrenzende südmährische Gebiet einbezog, war fest in tschechischer Hand. In Lundenburg und an der von den Tschechen beanspruchten Grenze, die nicht mit der Kronlandsgrenze übereinstimmte, sondern durch das nördliche Niederösterreich verlief, stand tschechisches Militär. Und wer gezwungen war, die Grenze zu passieren, wusste nur zu gut, wie schrecklich mühsam das Reisen von hüben nach drüben geworden war. Da brauchte man einen Pass, den es mit großem Aufwand zu besorgen galt. In den Zollstationen gab es endlose Aufenthalte, schikanöse Kontrollen und neuerliche Aufenthalte, einmal auf der einen, dann auf der anderen Seite der neuen – provisorischen – Grenze. Und nicht einmal diese Grenze schien sicher. Gerüchte machten die Runde. Zu Anfang des Jahres meldete das »Fremdenblatt«, dass tschechische Einheiten Rabensburg und Hohenau besetzt hätten. Die Meldung war von der Parlamentarischen Korrespondenz ausgegangen. Prompt protestierte die Regierung in Wien bei Neutralen und Siegermächten und verlangt Volksabstimmungen. Es war jedoch eine Falschmeldung gewesen. Aus Paris hieß es denn auch prompt, die neuen Grenzen würden in der französischen Hauptstadt auf einer Friedenskonferenz gezogen. Dann kam das nächste Gerücht auf. Die Tschechen, hieß es, würden auf Feldsberg und Garschönthal (Úvaly bei Feldsberg) verzichten, wenn sie dafür Bernhardsthal, Rabensburg und Reintal bekämen. Das wurde damit zu begründen gesucht, dass die Orte tschechisch seien. Das Dementi kam sofort : Nur Knechte und Stallmägde wären Tschechen, doch die wären keine Ortsansässigen, sondern gehörten zur »fluktuierenden Bevölkerung«. Aber wer konnte schon wissen, was alles sein würde ? Der tschechische Außenminister, Edvard Beneš, ventilierte ja schon seit einiger Zeit die Möglichkeit der Schaffung eines slawischen Korridors von den Nord- zu den Südslawen über niederösterreichisches und deutsch-westungarisches Gebiet hinweg. Auch wenn es dann hieß, die Grenzen Österreichs würden erst auf einer Friedenskonferenz in Paris festgelegt werden, war Grund zur Sorge gegeben. Wer, so fragte man sich auch im Dorf an der Grenze, könnte eventuell als Fürsprecher gewonnen werden und das Ärgste verhüten ? Am ehesten setzte man auf Johann II. und wusste nicht, dass sich der Fürst seinerseits mit tschechischen Forderungen herumschlug, dass sein Schloss mit dem einzigartigen Park in
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Eisgrub unter einem Vorwand von tschechischem Militär besetzt worden war und auch Feldsberg die Einquartierung drohte. Die Regierung in Prag vertrat sogar den Standpunkt, der ganze liechtensteinische Besitz in Böhmen, Mähren und Schlesien wäre nach der Schlacht am Weißen Berg 1620 zu Unrecht erworben worden. Zwar hieß es auch in diesem Fall : Die Grenzen werden erst in Paris gezogen. Doch so viel war klar : Johann II., für den die Prager Regierung die subtile Formulierung »ehemaliger Fürst« verwendete, würde sich nicht zum Fürsprecher eignen. Er hatte eigene Sorgen. Also hieß es abzuwarten, wie es weitergehen würde, galt es deutschsprechende Menschen aufzunehmen, die vornehmlich aus Lundenburg kamen und nach Deutschösterreich flohen. Sie waren plötzlich Fremde in der Heimat. Da die Lage nun einmal war, wie sie war, beschloss der Rabensburger Gemeinderat, die erste deutsch-österreichische Staatsanleihe mit 20.000 Kronen zu zeichnen. Es war um ein Drittel weniger als man bei der letzten Kriegsanleihe des kaiserlichen Österreich gezeichnet hatte, doch immer noch viel. Mittlerweile hatte man begonnen, die Kronennoten abzustempeln, so wie das Südslawen und Tschechen schon seit Jahresbeginn 1919 taten, um zu verhindern, dass Banknoten in großen Mengen nach Deutschösterreich geschmuggelt wurden. Die Züge verkehrten, und die Bauern taten das, was sie schon immer getan hatten : Sie bestellten die Felder und hüteten das Vieh. Die Wiesen jenseits der Thaya waren freilich unerreichbar geworden, folglich gab es weniger Weideflächen. Bald einmal, im Februar 1919, sollte es Wahlen für eine konstituierende Nationalversammlungen geben. Seit Dezember gab es Parteiveranstaltungen und wurde um Stimmen geworben. Erstmals sollten auch die weiblichen Bewohner des Dorfs wählen dürfen. Sie zeigten kein besonderes Interesse. Schließlich musste man ja nicht jede Neuerung mitmachen. Es war ohnedies so viel anders geworden, dass einem regelrecht schwindlig werden konnte. Vielen ging es so. Man sollte sich halt zurechtfinden, hieß es, und gegen die Vergangenheit ankämpfen. Nicht allen ist es gelungen. Ein Kranz für Woodrow Wilson Es war im Frühjahr 1995. Der Kärntner Landeshauptmann Christoph Zernatto und Mitglieder des Geschichtsvereins reisten nach Washington und legten in der National Cathedral am Grab des amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson einen Kranz nieder. Was so spontan und wohl auch für Amerikaner überraschend geschah, hatte einen guten Grund : Wilson sollte dafür geehrt werden, dass er maßgeblich dazu beigetragen hatte, dass es 1920 in Kärnten eine Volksabstimmung gab. Das Plebiszit sicherte den Verbleib des südlichen Kärnten bei Österreich. In Slowenien sah man wohl keinen Grund, es der Kärntner Delegation gleichzutun. Im Umkehrschluss wäre ja zu argumentieren gewesen, dass Wilson schuld war, dass
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Slowenien nicht zumindest bis zum Wörthersee und an die Gurk reichte. Doch ehe wir ins Kontrafaktische abgleiten, gilt es die Fakten zu sichten. Die kleine Volksgruppe der Slowenen machte im Verlauf des Jahres 1918 klar, dass sie sich mit Serben und Kroaten zusammenschließen und alle von Slowenen besiedelten Territorien als Mitgift in einen neuen südslawischen Staat einbringen wollte. Als es dann so weit war und am 29. Oktober 1918 in Marburg der Staat der Slowenen, Kroaten und Serben (SHS) ausgerufen wurde, schien man dem angepeilten Ziel sehr nahe. Nur hatten die Slowenen die Rechnung ohne den Wirt gemacht, denn in Belgrad verlangten die Serben die Führung der staatlichen Neuschöpfung, und SHS sollte nun das Kürzel für das Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen sein. Die »Großen Vier« in Paris, Amerikaner, Briten, Franzosen und Italiener, verweigerten vorerst die Anerkennung. Und die Ereignisse überstürzten sich. Im November hasteten die Reste der k. u. k. Armee aus Oberitalien nach Norden. Dass das kein geordneter Durchzug sein würde, hatte man kommen sehen. Was aber dann begann, war eine Völkerwanderung. Für die Slowenen war es eine gute Gelegenheit, sich in jenen Tälern und Becken festzusetzen, die sie als Teil der eigenen Staatlichkeit beanspruchten. Und sie hatten letztlich leichtes Spiel. Angesichts der Völkerwanderung waren die Menschen dankbar, wenn sich jemand bereitfand, den Gewaltexzessen der »zurückflutenden Horden« Einhalt zu gebieten. Am 11. November erklärte Kärnten seinen Beitritt »zu gleichen Rechten und gleichen Pflichten wie die übrigen zum Staate Deutschösterreich vereinigten Länder.« Gleichzeitig wurde die Erwartung ausgesprochen, dass der Staat sich auch seiner Schutzfunktion bewusst sein möge. Das kam natürlich nicht von ungefähr, denn mittlerweile hatten slowenische Trupps begonnen nach Norden vorzustoßen und Gebiete südlich von Gail und Drau zu besetzen. Fünf Tage später hieß es gerüchteweise, die Slowenen würden auch Klagenfurt und Villach okkupieren. Jene Slowenen, die noch bis zum Waffenstillstand in den Reihen der k. u. k. Armee gekämpft hatten, zählten sich von einem Tag auf den anderen zu den Siegern und gebärdeten sich als Besatzungstruppen, denen man keinen Widerstand leisten durfte. Die provisorische österreichische Regierung Karl Renners predigte Stillhalten. Aber auch in Kärnten wusste man nicht so recht, was getan werden sollte. Die einen hatten vom Krieg genug, und die anderen sahen die Zugehörigkeit zu einem südslawischen Königreich als Chance. Ein Kärntner Wehrausschuss verbot der sich erst formierenden Volkswehr und den Ortswehren jeglichen Widerstand, während der neu ernannte Landesbefehlshaber, Ludwig Hülgerth, eine militärische Demonstration forderte. Es gab auch Absonderungstendenzen, denn als bekannt wurde, dass man sich in Tirol mit dem Gedanken trug, einen unabhängigen Staat Tirol auszurufen, bildete sich auch in Velden am Wörthersee eine Kärntner Unabhängigkeitsbewegung mit dem Ziel, das Gebiet des Herzogtums Kärnten ungeteilt zu erhalten. Ging’s noch verworrener ?
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Für die Slowenen war die Sache klar : Sie wollten vollendete Tatsachen schaffen. Der südliche Landesteil Kärntens, aber auch ein Zipfel der Steiermark wurden ohne viel Federlesens von Südslawen besetzt. Dann hieß es : Ganz Kärnten sollte als Teil Sloweniens zu Jugoslawien kommen. Wenig später wurde von einer reduzierten Forderung gesprochen, die aber immer noch Klagenfurt und Villach einschloss. Und um das alles zu untermauern, wurde mit einem unerbittlichen Germanisierungsdruck in der Vergangenheit argumentiert. Den Rest hatte die Statistik zu besorgen. Auf einer gewissermaßen höheren Ebene sollte freilich nicht nur das Faustrecht gelten. Und damit kamen jene ins Spiel, die sich als eine Art ehrliche Makler sahen, die USA. Im Jänner 1919 begannen in Versailles interne Vorgespräche der Siegermächte über die Friedensverträge mit Deutschland, Österreich, Ungarn, Bulgarien und der Türkei. Die Meinungen lagen oft weit auseinander. Im Fall der Grenzen Deutschösterreichs brachten vor allem die Italiener ihre Interessen ins Spiel. Experten aller Seiten präsentierten ihre Grundsatzpapiere. Und die Forderungen der Südslawen lasen sich unmissverständlich : die bei Leibnitz beginnende Grenze müsse nördlich an Klagenfurt und Villach vorbeiführen und bei Pontebba auf die alte Reichsgrenze stoßen. »Diese Grenze und nichts anderes«, war die Forderung. Lediglich ein slowenischer Delegierter meldete Bedenken an : Wenn man Klagenfurt und Villach nicht nur verlangte, sondern womöglich auch bekam, würde das über kurz oder lang Krieg mit Deutschland bedeuten. Er ging davon aus, dass sich Deutschösterreich an Deutschland anschließen würde und daher hinter den deutschen Kärntnern die geballte Macht des Deutschtums stehen würde. Aber probieren sollte man’s doch, meinten die anderen. Nur eine Siegermacht, die USA, hatte noch keine vorgefertigte Meinung. Um sich eine solche bilden zu können, schickte der von Paris aus regierende amerikanische Präsident Wilson eine Kommission los, die an Ort und Stelle Erkundigungen einziehen und Wilson beraten sollte. Sie stand unter der Führung des Historikers und Harvard Professors Archibald Cary Coolidge, der die Arbeit mehrerer Teams von Wien aus steuern wollte. Für die Feldarbeit in Kärnten und Slowenien nahm er sich Oberstleutnant Sherman Miles mit. Die Amerikaner sahen sich noch im Jänner 1919 südlich und nördlich der Karawanken gründlich um, führten Gespräche, studierten Karten und Denkschriften, gingen in Kirchen und auf Friedhöfe. Sie schlugen eine Demarkationslinie vor und fanden für ihre gründliche Recherche in Slowenien wie in Kärnten und Wien volle Anerkennung. So lange, bis das Resultat ihrer als »humanitäre Geste zur Verhinderung von Blutvergießen« bezeichneten Mission bekannt wurde. Coolidge und Miles empfahlen, das gesamte Klagenfurter Becken trotz eines größeren Anteils an Slowenen bei Österreich zu belassen. Der Slogan »Kärnten frei und ungeteilt« würde auch von vielen Slowenen im österreichischen Sinn verstanden werden. Woodrow Wilson wollte sich daran halten. Das Gutachten der amerikanischen fact-finding mission lag den Slowenen schwer im Magen, und in dem Augenblick, als deutlich wurde, sie würden mit ihren weitge-
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spannten Forderungen nicht durchkommen, begann eine Art Zweifrontenkrieg. Der militärisch nicht zu bekämpfende Gegner, die amerikanische Delegation bei den Friedensverhandlungen und vor allem Woodrow Wilson, sollten mit Hilfe von Vorsprachen, schriftlichen Eingaben und klassischen Mitteln der Desinformation weichgeklopft werden. Die Slowenen hatten dabei einen ungeheuren Vorteil, den sie zu nutzen wussten : Sie waren seit Jänner 1919 in Versailles und hatten Zugang zu den Gremien der Siegermächte, ja waren selbst Teil derselben. Deutschösterreich aber war noch nicht einmal nach Paris eingeladen worden und sollte sich schließlich erst am 2. Juni als Schuldiger dem Gericht der Sieger stellen. Die andere Aktion der Slowenen war eine bereits erprobte militärische : Der Vorstoß nach Kärnten, um die geforderten Gebiete schon einmal zu besetzen. Der Kampf um Kärnten nahm die Gestalt eines lokalen Kriegs an. Für die Deutschkärntner, die sich angegriffen fühlten und den Slowenen trotz aller Ermahnungen aus Wien nun doch auch militärisch begegnen wollten, wurde er zum Kärntner Abwehrkampf. Angesichts der raumgreifenden slowenischen Vorstöße stimmte nun auch die Regierung in Wien dem Einsatz der Volkswehr zu. Und um kräftemäßig etwas zuzulegen, wurden alle Bundesländer aufgefordert, Verstärkungen zu schicken. Unter anderem kamen auch aus Wien Volkswehrkräfte. Ein gewisser Franz Jonas war dabei. – Sehr viel später, in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts, sollte er österreichischer Bundespräsident werden. Das war dann auch die Zeit, in der gefragt wurde, was für den Verbleib Südkärntens bei Österreich wichtiger war : Der Abwehrkampf oder die diplomatische Aktion. Die Antwort : Beides ! konnte wie erwartet nicht befriedigen. Dem Argument : Ohne Abwehrkampf keine Volksabstimmung, wurde entgegengehalten, dass sich weder die Coolidge Kommission noch Briten oder Franzosen durch die handstreichartige Inbesitznahme von Gebieten oder auch durch die Kampfhandlungen nennenswert beeinflussen ließen. Die Entscheidung würde in Paris und nicht in Völkermarkt fallen. Was aber wäre gewesen, wenn man sich in Kärnten nicht von allem Anfang an der slowenischen Landnahme widersetzt hätte ? – Wieder landen wir bei der kontrafaktischen Geschichte. Die Abwehrkämpfer warfen Mitte Mai die Slowenen zurück. Trotz beschwörender Depeschen aus Wien wollten sich die zusammengewürfelten Verbände damit nicht begnügen und stießen weiter vor. Siege und Übergriffe wurden gemeldet. Dem prompt erfolgenden Gegenangriff der südslawischen Streitkräfte, die von Serben verstärkt worden waren, hatten die Österreicher Ende Mai aber nichts entgegenzusetzen. Abermals wurden Siege und Übergriffe gemeldet. Die Slowenen erreichten Klagenfurt. Die Landesregierung floh nach Spittal a. d. Drau. Jetzt meldeten sich jene, die es schon immer gewusst hatten : Es wäre besser gewesen nichts zu tun, als sich zur Wehr zu setzen. Österreich hätte eine Chance verspielt und würde bei den Friedensverhandlungen dafür zu büßen haben.
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Die Vertreter des südslawischen Königreichs setzten nochmals alles in Bewegung, um gegen den Schiedsspruch der Coolidge-Kommission anzukämpfen. Vor allem auch gegen eine Idee, die sich Anfang März 1919 bei den »Großen Vier« zu festigen begonnen hatte : Man sollte in dem strittigen Gebiet eine Volksabstimmung durchführen. Dann würde sich ja zeigen, welche staatliche Zugehörigkeit die dortige Bevölkerung und insbesondere die Slowenen wünschten. Das war nun etwas, das den slowenischen Intentionen komplett zuwiderlief. »Natürlich geht das zu unserem Schaden« aus, hieß es. Also wollte man eine Abstimmung mit ungewissem Ausgang dadurch unterlaufen, dass die territorialen Forderungen reduziert wurden. Der Präsident der Friedenskonferenz, George Clemenceau, und ein halbes Dutzend Entscheidungsträger wurden angeschrieben, um Termine gebeten und zu überreden gesucht. Der sicherlich beste Fachmann der Slowenen, Ivan Žolger, referierte vor der Territorialkommission und lehnte eine Volksabstimmung vehement ab. Vielleicht wäre ein Plebiszit in einem Jahr möglich, meinte er. Früher nicht. So gut wie alle hörten ihn an. Woodrow Wilson lehnte ein Treffen ab. Und der militärische Vorstoß in Kärnten rief abermals die Amerikaner auf den Plan. Wilson regte ein Schreiben an »unsere jugoslawischen Freunde« an, dass man sie aufmerksam machen sollte, es wäre noch nicht ausgemachte Sache, dass die Slowenen nicht doch noch als ehemaligen Feinde behandeln werden würden. Prompt begann man sich nun auch in Laibach mit dem Gedanken an eine Volksabstimmung anzufreunden. Er kam ja nicht aus heiterem Himmel. Plebiszite waren mittlerweile regelrecht in Mode gekommen. Warum nicht auch für Kärnten ? Am 25. Juni gab die Vertragskommission ihr definitives Votum bekannt : In Kärnten sollte es eine Volksabstimmung geben. Es war, als wäre damit ein Gordischer Knoten durchtrennt worden. Vor allem endete auch der Disput unter den »Großen Vier«, bei denen es immer deutlicher erkennbare Präferenzen gegeben hatte. So entpuppte sich Italien ganz klar als Gegner des SHS-Staates und unterstützte den österreichischen Standpunkt. In Kärnten konnte man eine regelrechte Italophilie feststellen. Frankreich wiederum stand klar auf Seite der Slowenen. Die Briten zeigten fallweise Sympathien für den slowenischen Standpunkt, wohingegen sich die Amerikaner von ihrer Auffassung nicht abbringen lassen wollten. Offen blieb zunächst, ob das Plebiszit in einem geschlossenen Gebiet stattfinden oder ob man zwei und mehr Abstimmungszonen schaffen sollte, wie diese abzugrenzen wären und wie schließlich die Zählung zu erfolgen hatte. Auch da gab es nicht nur Diskussionsbedarf, sondern nennenswerte Meinungsverschiedenheiten. Sie gingen so weit, dass die jugoslawische Delegation sogar in den Raum stellte, die Friedenspräliminarien nicht zu unterschreiben. Als Karl Renner am 2. Juni 1919 endlich die für Österreich gedachten friedensvertraglichen Bedingungen entgegennehmen durfte, war der Krieg der Diplomaten zwar noch lange nicht beendet, doch die wichtigsten Bestimmungen standen fest. Österreich hatte sich als schuld am Krieg zu bekennen. Daraus resultierten die Folgen. Ganz oben stand das Verbot des Anschlusses an Deutschland. Österreich sollte die Kriegsgegner
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der Monarchie für die erlittenen materiellen Verluste entschädigen. Und es sollte auf ein kleines staatliches Territorium reduziert werden. In den Artikeln 49 und 50, die allerdings erst im Juli übermittelt wurden, stand der etwas verkorkste aber deutbare Satz : »Zum Zwecke der Veranstaltung einer Volksabstimmung wird das Gebiet von Klagenfurt in zwei Zonen geteilt : eine erste Zone im Süden und eine zweite nördlich …« Am 10. September 1919 wurde der Vertrag unterschrieben. Dann galt es abzuwarten, bis er von allen Mächten ratifiziert war und damit in Kraft treten konnte. (Wie auch nach dem Staatsvertrag von 1955 waren die Franzosen die Letzten, die das Dokument unterschrieben und schließlich das Original des Vertrags nach einem dreiviertel Jahr in Paris hinterlegten. – Mittlerweile ist das Stück verloren gegangen). Dann, am 16. Juli 1920, war es so weit, dass die Alliierten den 10. Oktober als Tag der Volksabstimmung festlegen konnten. Eine entmilitarisierte Zone zwischen den beiden Abstimmungszonen sollte die Kontrahenten trennen. Die Zone A kam unter slowenische Verwaltung. Slowenisch wurde Amtssprache. In einer Zone B, nördlich davon, sollte nur abgestimmt werden, wenn die Mehrheit in der südlichen Zone für den Anschluss an Jugoslawien stimmte. Es waren britische, französische und italienische Delegierte, die sich mit dem Procedere abmühten. Jene aber, die das alles ins Rollen gebracht hatten, die Amerikaner, fehlten. Wilson hatte die »Großen Vier« verlassen und war über den Vorgang des Friedenschließens zutiefst frustriert. Sollte aber jemand geglaubt haben, mit dem Gültigwerden des Vertrags würde alles Weitere eine leichte Übung sein, der irrte. Es gab jede Menge Details, die noch zu klären waren, von der Rückkehr der Flüchtlinge angefangen bis dahin, dass der britische Vorsitzende der Plebiszitkommission, Sir Sidney Capel Peck, verlangte, dass der slowenische General Rudolf Majster, den die Briten für den größten Störenfried und die Italiener für einen »bekannten Terroristen« hielten, die Abstimmungszone A verlassen sollte. Deutsche wie Slowenen sahen sich nicht nur einmal, sondern oft benachteiligt, und wie nicht anders zu erwarten, gab es jede Menge Prognosen über den voraussichtlichen Ausgang des Plebiszits. Im deutschsprachigen Teil Kärntens, aber auch in der Südkärntner Zone A zeigte sich ab dem Sommer ein zunehmender Optimismus hinsichtlich des Verbleibs bei Österreich. Doch auch auf Seite der Slowenen herrschte Zuversicht. Demgegenüber glaubte der italienische Vertreter in der Plebiszitkommission, Fürst Livio Borghese, dass die Deutschkärntner keine Chance hätten. Er verlangte – allerdings vergeblich – alliierte Truppen, um Gewaltakte slowenischer Prügelbanden zu unterbinden. Auf deutschkärntner Seite setzte man jedoch bewusst nicht auf Gewalt, sondern auf günstige Kredite, sowie Sonderzuteilungen von Mehl, Zucker und Fett. Ob das reichen würde, musste sich weisen. Am pessimistischsten war man eigentlich in den Reihen der österreichischen Regierung. Vor allem Karl Renner begann nicht nur vorauszudenken, sondern auch vorzubauen. Sollte man nicht die Zone A zusätzlich teilen, um notfalls wenigstens ein
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Stück für Österreich zu retten ? Sollte die Abstimmung zugunsten Sloweniens ausgehen, könnte man vielleicht auch eine Art Gebietstausch vornehmen. Ein solcher wäre auch bei einem für Österreich günstigen Ausgang in Erwägung zu ziehen, denn man würde den SHS-Staat auch künftig brauchen, um zu überleben. Auch der christlichsoziale Unterstaatssekretär Wilhelm Miklas – später einmal sollte er Bundespräsident werden – tendierte zu dieser Lösung. Die Kärntner waren strikt dagegen. Das Kaffeesudlesen hielt an – bis zum 10. Oktober. Da lag dann das Ergebnis vor : Knapp 60 % der Abstimmungsberechtigten hatten bei einer weit über 90%igen Wahlbeteiligung für Österreich gestimmt. Für Slowenien war es ein Schock, für Österreich Grund zur Freude – und Dankbarkeit. Bei der Analyse des Wahlverhaltens stellte sich heraus, dass vor allem die slowenischen Bauern ein klares pro-österreichisches Votum abgegeben hatten, während industriell geprägte Orte in der Umgebung von Klagenfurt für den Anschluss an Jugoslawien gestimmt hatten, weil sie dort mehr Geschäft witterten. Die Erregung klang erst allmählich ab, ebenso wie sich erst nach und nach jene Normalität einstellte, um die man seit dem Spätherbst 1918 gerungen hatte. »Kärnten frei und ungeteilt«, war eine zündende Parole gewesen, bei der man freilich leicht über die daraus resultierenden Verpflichtungen hinwegsehen konnte. 75 Jahre nach dem Plebiszit fuhren ein paar Kärntner nach Washington und legten einen Kranz am Grab von Woodrow Wilson nieder. Die Amerikaner staunten und waren stolz auf sich. »Blumenfeldzug« mit Pannen Österreich feiert bekanntlich so gut wie jedes Jahr irgendetwas. Meist ist der Anlass ein noch nicht allzu weit zurückliegender Jahrestag. Das gibt dann Gelegenheit so zu tun, als ob man aus der Geschichte gelernt hätte. Im selben Atemzug wird freilich beteuert, dass man ohnedies nicht an die Wiederholbarkeit historischer Ereignisse glaubt – und so gut wie keinem fällt der Widersinn auf, der darin liegt, dass man sich einmal des Erlernten rühmt und es im selben Atemzug als singulär relativiert. Auch heuer, 2008, haben wir das erfahren. Bei der pflichtgemäßen Rückbesinnung auf das Jahr 1938 fehlte diesmal aber fast vollständig die militärische Komponente. Ganz anders vor zwanzig Jahren. Da standen die militärischen Vorgänge weit im Vordergrund. Als man innerhalb des Österreichischen Bundesheers und noch weit im Vorfeld des Anlassfalls ans Überlegen ging, wie das Jahr 1988 richtig zu begehen sein würde, kamen einige eher merkwürdige Vorschläge aufs Tapet : Da war davon die Rede, das gesamte Heer am Heldenplatz zusammenzuziehen und solcherart den 15. März 1938 und die Anschlussrede Hitlers mit einem »Tag des Bundesheeres« zu überlagern und
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zu übertrumpfen. Dann aber wurde auch davon gesprochen, dass man in einer Art großangelegtem historischem Kriegsspiel den deutschen Einmarsch wiederholen, ihn allerdings auch um die 1938 ja entfallene Komponente, nämlich ein Widerstand leistendes Bundesheer bereichern könnte. Was damit hätte gezeigt werden sollen, ist wohl niemandem so recht klar geworden, und beide Projekte wurden rasch in jene große Schublade getan, in der krause Gedankengänge endgelagert werden. Doch irgendwie waren diese Ideen bezeichnend dafür, dass man in der Zentralstelle des Heeres noch immer nicht recht wusste, wie man sich zur militärischen Komponente von Einmarsch und Anschluss stellen sollte. Gerade unter den Militärs schwankt denn auch die Beurteilung noch immer zwischen Extremen : Im Fernsehen ließ sich einer, der es erlebt, aber offenbar nichts gelernt hatte, aufs Eis führen und zur Formulierung hinreißen : Schuschnigg oder wer immer hätte auf keinen Fall den Einsatz des Bundesheeres befehlen dürfen, denn die Deutschen wären ja ungeheuer überlegen gewesen ! Um dann bei der unvermeidlichen Frage : »Wie ist denn das heute ? Würde das Bundesheer auch nicht eingesetzt werden dürfen, wenn ein überlegener Gegner Österreich angreift ?« nur mehr den Hilflosen zu mimen. Schließlich schlug sich das Heer ja noch immer mit dem Vorwurf herum, unverändert eine Tradition zu pflegen, die dadurch belastet sei, dass einmal, 1934, Kanonen gegen Arbeiter eingesetzt und dann, 1938, auf die Deutschen nicht einmal ein Schuss abgegeben worden sei. Zu guter Letzt kamen die Selbstbewussten, die meinten, so etwas könnte nie mehr passieren, nicht aber, weil Österreich von friedliebenden Nachbarn umgeben und immerwährend neutral geworden war, sondern weil das Heer ganz anders strukturiert und gesellschaftlich verankert, daher jederzeit und in allen Fällen einsetzbar wäre. Mag sein, dass alle diese Standpunkte – der vom aussichtslosen Widerstand, der von der Mitschuld des Bundesheeres und der von der Andersartigkeit des Heeres – ein Quäntchen Wahrheit enthalten. Der direkte Vergleich von 1938 mit 1988 war in jedem Fall unsinnig, und es konnte gar nicht genug davor gewarnt werden, historische Situationen bloß auf ihre aktuelle Bedeutung und auf ihre Wiederholbarkeit hin zu untersuchen. Auch der »Anschluss« wäre ja schon längst reif für eine Historisierung. Doch es war wohl nicht nur in Österreich so, dass darauf zu verweisen war, wie sehr sich Europa und die Welt seit jenen Tagen verändert hatte, von denen ein nachmals berühmter österreichischer Zeithistoriker gemeint hatte, sie wären die strahlenden, sonnigen Märztage des Jahres ’38 gewesen, in denen Führer und Oberste Befehlshaber … usw. Sicher ist, dass die Beurteilung dessen, was in und mit Österreich geschehen war, für die einen Anlass zur Freude, für andere ein Schock gewesen war. Da wie dort wurden Illusionen genährt. So gratulierten jede Menge Staaten dem Führer und Reichskanzler Adolf Hitler zum Anschluss Österreichs und übersahen dabei, dass sie womöglich die Nächsten sein konnten. Dabei hätte Österreich in jeder Weise ein lehrreiches Beispiel sein können.
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Das österreichische Bundesheer verfügte 1938 über sieben schwache Infanterie-Divi sionen, eine teilmechanisierte Division, die sogenannte Schnelle Division, und eine Infanterie-Brigade. In Regimentern kam die Stärke bzw. Schwäche besser zum Ausdruck : achtzehn Infanterie- bzw. Jäger-Regimenter und fünf selbständige Alpen- bzw. Feldjäger-Bataillone bildeten die Infanterie. Zwei Dragoner-Regimenter, vier Kraftfahrjäger-Bataillone und ein Panzerwagen-Bataillon bildeten die Schnelle Division. Die Artillerie verfügte über acht leichte Artillerie-Regimenter und das Selbständige Artillerie-Regiment mit mittleren Geschützen. Schwere Artillerie war lediglich in einer Schulbatterie vorhanden. Die Luftstreitkräfte verfügten auf dem Papier zwar über 150 Flugzeuge, doch waren von den Jagdflugzeugen bestenfalls zweiundvierzig Maschinen italienischer Bauart und dreizehn Bombenflugzeuge als modern oder zumindest einsatzfähig anzusprechen. Die Fliegerabwehrgeschütze reichten nicht einmal aus, um die wichtigsten militärischen Objekte zu schützen. Städte, Industrieanlagen und Verkehrswege waren völlig ungeschützt. Alles in allem verfügte das Bundesheer über weniger als 60.000 Mann, die nach Mobilmachung auf 125.000 Mann Kriegsstand gebracht werden konnten. Zu den Kräften des Bundesheeres waren seit der am 1. April 1936 erfolgten Einführung der Allgemeinen Dienstpflicht noch jene der Frontmiliz zu zählen, die sich in eine Jäger- und eine Standmiliz gliederte, vergleichbar der nachmaligen mobilen und territorialen Landwehr des Bundesheers in den achtziger und neunziger Jahren. Daneben gab es noch Sondermilizen. Die Jägermiliz sollte nach Mobilmachung 42.000 Mann erreichen. Zu den Grenzschutz-Kompanien wurden 37.000 Mann und zur übrigen Standmiliz 17.500 Mann gerechnet, zu denen dann noch die Sondermilizen kamen. Zählt man auch das zusammen, dann ergab das für die Frontmiliz nach Mobilmachung 100.000 Mann. Ein erheblicher Teil dieser Leute, die freilich nur mangelhaft bewaffnet waren, verfügte über Kriegserfahrung und sollte wohl – wie so oft in Österreich – durch Tapferkeit ausgleichen, was an Waffen fehlte. Bundesheer und Frontmiliz waren allerdings nicht aufeinander eingespielt, und das Heer sah in der Miliz auch keine vollwertige Ergänzung. Nun kann man natürlich über die Schlagkraft einer Armee, ihren Geist und ihre Kriegstauglichkeit nicht urteilen, ohne diese Armee in einem Einsatz gesehen zu haben. Das Bild des Bundesheeres schwankte denn auch schon seinerzeit zwischen Extremen : Der Aussage über ein vorzügliches, diszipliniertes und bestens geführtes, kriegsnah ausgebildetes und vergleichsweise modernes Heer, wie sie von italienischen Beobachtern formuliert wurde, standen ebensolche Aussagen gegenüber, die das Gegenteil behaupteten. So schrieb der deutsche Militärattaché in Österreich, Generalleutnant Muff, sicherlich einer der besten Kenner und schärfsten Kritiker des Bundesheeres 1937 : »Der tatsächliche Ausbau der österreichischen Wehrmacht innerhalb des ihr vor zwei Jahren gesteckten Rahmens ist beträchtlich hinter den Absichten und Erwartungen
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zurückgeblieben. Auch im abgelaufenen Jahr konnten nicht alle Einheiten aufgestellt oder auf volle Stärke gebracht werden … Es fehlen fast überall noch ganze Formatio nen … Auch die Bewaffnung und die Stärke weisen noch beträchtliche Lücken auf. Den leichten Batterien fehlen die Geschütze, die schwere Artillerie ist überhaupt noch nicht vermehrt worden … Die Hauptursache für diese langsame Entwicklung ist der Geldmangel des Staates. Vielleicht ist sogar mit den geringen zur Verfügung gestellten Mitteln das Möglichste erreicht worden. Aber er [der Staat] spart eben an allen Ecken und Enden. Auch das neue Jahr, das als »Jahr der Artillerie« nach dem abgelaufenen »Jahr der Flieger« bezeichnet worden ist, dürfte kaum eine Besserung bringen, weil der Haushaltsvoranschlag … für die Wehrmacht sogar einen um 10,5 Millionen Schilling niedrigeren Betrag vorsieht als im abgelaufenen Jahr.« (Es sind eigentlich nur wenige Worte, die signalisieren, dass es sich bei den hier gemachten Äußerungen nicht um einen Bericht des Landesverteidigungsrates über die Situation des Bundesheeres anno 2008 handelt, sondern um den Jahresbericht des deutschen Militärattachés in Wien über die Entwicklung des Bundesheeres im Jahr 1937). Das Heer, berichtete Muff weiter, bereite sich lediglich auf einen raschen Überfall vor ; einfache Straßen-, Brücken- und Bahnsperren seien weit fortgeschritten, die Bevorratung noch unzulänglich, und die kriegswirtschaftlichen Vorbereitungen steckten in den Anfängen. Zum Schluss schrieb Muff : »Ganz abgesehen davon, dass in Anbetracht seiner wehrgeographischen Lage Österreich niemals groß genug sein wird, um ohne Unterstützung durch einen starken Nachbarn sein Gebiet schützen oder seine Neutralität wahren zu können, stellt seine Wehrmacht in ihrer heutigen Gestalt auch in beschränktem Umfang noch kein vollwertiges Instrument für die Aufgaben eines neuzeitlichen Krieges dar.« So also sah der württembergische General, der aus unerfindlichen Gründen aus der Pension geholt und auf den wichtigen Posten nach Wien geschickt worden war, die Situation des Bundesheers. Muff war kein Freund Österreichs. Das war denen, die ihn im Heerespersonalamt in Berlin ausgesucht hatten, wohl klar. Er hatte aber auch in den Jahren in Wien jeglicher Charme-Offensive widerstanden und kannte nur seine Aufgabe und deutsche Interessen. Folglich waren ihm auch nur jene österreichischen Offiziere und Soldaten sympathisch, die sich im NS-Soldatenring illegal organisiert hatten, und diejenigen, die den Dienst im Heer hatten quittieren müssen, weil sie Informationen über die Vorgänge im Heer an deutsche Stellen hatten gelangen lassen. Der ideologische und machtpolitische Kampf kannte keine Neutralen, er kannte nur Freund und Feind. Einem deutschen Offizier, der im November 1937 in Österreich auf offizieller »Tour« war, schien vor allem die Zurückhaltung auffallend, die das Offizierskorps an den Tag legte. Da war nichts mehr von der herzlichen und oft unbefangenen Verbundenheit des Ersten Weltkriegs zu spüren. Das Bundesheer schien ihm besser als noch 1930, doch den Teil der Ausrüstung, den er sah – und das war vor allem die
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Pionierausstattung, auf die das Bundesheer besonders stolz war – charakterisierte er schlicht als »billig«. Muff glaubte allerdings, dass das Bundesheer unter gewissen Voraussetzungen einem deutschen Einmarsch Widerstand leisten würde. Daher meinte er noch im Februar 1938 : »Eine etwa kämpfend gegen Österreich vormarschierende deutsche Armee würde auf Österreichs bewaffneten Widerstand« stoßen. Einer mit klingendem Spiel einrückenden deutschen Heeresmacht gegenüber würde man mit Rücksicht auf die vielen Nationalsozialisten »mit Sympathie begegnen«. Hatten beim ohnedies nur sehr schleppenden und unvollkommenen Aufbau des Bundesheeres ausschließlich defensive Konzeptionen eine Rolle gespielt, so war für die Deutsche Wehrmacht die offensive Verwendung maßgeblichstes Element des Aufbaues gewesen. Seit Herbst 1936 wurde der organisatorische Aufbau des Kriegsheeres systematisch vorangetrieben. Dabei war das Oberkommando des Heeres bestrebt, die vorgegebenen Ziele des mittel- und langfristigen Aufbaus zu übertreffen und jeweils früher als vorgesehen und vollständiger als gefordert Friedens- und Kriegsheer zu präsentieren. Im Dezember 1936 wurden die Aufbaupläne genehmigt, und am 6. Dezember 1936 der letzte umfassende Rüstungsplan vor Ausbruch des Krieges in Kraft gesetzt. In drei Jahren sollte das Friedensheer um fast 50 Prozent vermehrt und ein Kriegsheer geschaffen werden, das nur an den Höchstständen des Ersten Weltkriegs zu messen war. Bis 1939 sollte ein Friedensheer von 830.000 Mann bzw. ein Feldheer von über 2,4 Millionen Mann aufgestellt sein. Engpässe wurden zunächst weder auf personellem Sektor noch bei der Bewaffnung gesehen. Doch ab 1937 spielten rüstungswirtschaftliche Faktoren eine immer größere Rolle. Die materielle Situation spitzte sich krisenhaft zu. Rohstoffmangel führte dazu, dass Ende 1937 der Vorrat bei einzelnen Munitionsarten auf fünfzehn Kampftage sank, was als zu wenig angesehen wurde. Und da der überstürzte Ausbau auch sonst Probleme schuf, wurde das Heer schließlich von der Generalität 1938 als »nicht kriegfähig« bezeichnet. Und genau in dieser Phase erfolgte der Befehl zum Einmarsch in Österreich. Dank des großzügigen Ausbaues der Wehrmacht und der forcierten Waffenproduktion war die Deutsche Wehrmacht aber insgesamt unverhältnismäßig stärker als das Bundesheer, vielleicht nicht besser ausgebildet, aber konsolidierter, auf jeden Fall moderner und besser bewaffnet. Natürlich wäre es falsch, die Kräfte und die Verhältnisse 1 : 1 zu vergleichen, also die gesamte Deutsche Wehrmacht dem Bundesheer gegenüberzustellen ; die ganze Deutsche Wehrmacht wäre auch in einem Krieg mit Österreich nicht einzusetzen gewesen. Ein Krieg mit Frankreich wurde immer in Rechnung gestellt. Möglicherweise hätte ein Widerstand Österreichs den Aufbau der Wehrmacht auch so gestört, dass er in der vorgesehenen Form überhaupt nicht mehr geordnet durchführbar gewesen wäre. Doch das ist reine Spekulation.
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Wenn wir von dem ausgehen, was dann tatsächlich mobilgemacht und für den Einmarsch nach Österreich verwendet wurde, so waren dies die Divisionen der Wehrkreise VII (München) und XIII (Nürnberg), ferner größere Teile der Deutschen Luftwaffe, aber natürlich wären dahinter auch Divisionen anderer Wehrkreise gestanden. Letztlich kann kaum ein Zweifel darüber bestehen, dass es der Deutschen Wehrmacht möglich gewesen wäre, aus einer vergleichsweise kleinen zahlenmäßigen Überlegenheit eine vielfache werden zu lassen. Das wäre aber nur im Verlauf eines Krieges gegangen. Und der war ganz sicher nicht geplant. Seit sich das Bundesheer 1935 darauf einzustellen begonnen hatte, dass es zum bewaffneten Konflikt und im schlimmsten Fall zum Krieg mit dem Deutschen Reich kommen könnte, war an operativen Überlegungen gearbeitet worden. Dafür primär verantwortlich war der Chef des Generalstabes, Feldmarschallleutnant Alfred Jansa ; der erhielt seine Weisungen direkt vom Bundeskanzler. Zunächst einmal glaubte man noch, Italien in die Verteidigung Österreichs mit einbeziehen zu können. Doch 1938 war das schon gänzlich unrealistisch geworden. Es blieb also die schlechteste aller Möglichkeiten, nämlich ein Krieg des Deutschen Reichs gegen ein auf sich allein gestelltes Österreich. In diesem Fall war es wohl naheliegend, die deutsche Hauptmacht in einem direkten und massiven Vorstoß nach Wien, und zwar im Donautal südlich des Stromes, anzunehmen. Und ebenso naheliegend wurden die österreichischen Verteidiger gedanklich hinter der Traun und hinter der Enns versammelt. Wie viele das sein konnten, hing vom Stand der Mobilmachung ab. Doch dieser sogenannte Jansa-Plan, der in verschiedenen, allerdings nicht stark voneinander abweichenden Varianten bis 1938 ausgearbeitet wurde, stellte fast nur das Bundesheer in Rechnung und ließ die Frontmiliz weitgehend unberücksichtigt. Wenn möglich, sollte sich die oberösterreichische Division, die 4. Division, westlich der Traun im Gebiet bis zur deutschen Grenze aufopferungsvoll verteidigen. Ab dem zweiten Mobilmachungstag wäre der 4. Division durch die Schnelle Division Hilfe gebracht worden. Dann aber wäre nur mehr an Traun und Enns hinhaltend zu kämpfen und schließlich auf den Alpenrand auszuweichen gewesen. Die Vernichtungsschlacht im Donautal sollte auf jeden Fall unterbleiben und stattdessen versucht werden, gegen die Flanke der deutschen Truppen zu wirken. Details wurden nicht ausgearbeitet. Der Plan, der nur in groben Zügen bekannt gegeben, ansonsten aber als militärisches Geheimnis gehütet wurde, lag aber doch so weit auf der Hand, dass man auch ohne Kenntnis der genauen Kräfteverteilung und der operativen Details die Grundzüge erahnen konnte. Und jedem, vor allem auch Jansa war bewusst, dass ein Kampf überhaupt nur den Zweck haben konnte, Zeit zu gewinnen und das Eingreifen anderer Mächte zu erwarten. Weit weniger bekannt als diese Operationsstudie der Ägide Feldmarschallleutnant Jansas wurde freilich ein anderes militärisches Gedankenspiel. 1936 überlegten Jansa
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und die Offiziere in der Operationsabteilung des Verteidigungsministeriums, ob Öster reich seine Unabhängigkeit nicht in der Weise bewahren könnte, dass man Hitler und der Wehrmachtsführung ein gemeinsames Vorgehen gegen die Tschechoslowakei vorschlug. Sollten Hitler und Mussolini beabsichtigen, gegen die Sowjetunion Krieg zu führen, dann müsste doch zuvor die Tschechoslowakei überwunden werden. Was also, wenn Österreich dabei half ? Da würden doch zumindest Südböhmen und Südmähren und auf jeden Fall der Fortbestand der Unabhängigkeit des Landes zu fordern sein. – Die Planungen wurden wohl nicht sehr weit vorangetrieben. Sie waren aber zumindest so interessant, dass das fertige Elaborat eines »Kriegsfalls Tschechoslowakei« noch 1938 nach Berlin ging. Dort war man verhältnismäßig spät an die Ausarbeitung eines »Kriegsfalls Österreich« gegangen. Das Reichskriegsministerium befahl am 24. Juni 1937 dem Chef des Generalstabes, General Ludwig Beck, die Ausarbeitung einer Operationsstudie mit der Bezeichnung »Sonderfall Otto«. Damit sollte signalisiert werden, dass das deutsche Heer nur auf einen habsburgischen Restaurationsversuch in Österreich reagieren würde. Der Chef des Generalstabes hatte sich zwar rund einen Monat vorher gegen eine solche Ausarbeitung ausgesprochen und machte dafür politische, aber auch kräftemäßige Überlegungen geltend, doch schließlich wurde er angewiesen, den Fall zumindest zu »durchdenken«. Konkreter wurde dann Hitler am 5. November 1937, als er in seiner berühmten Besprechung mit dem Außen- und dem Reichskriegsminister sowie mit den Oberbefehlshabern der drei Wehrmachtsteile, Heer, Marine und Luftwaffe, Österreich als ein kurzfristiges Ziel der deutschen Expansion nannte. Die Ausführungen, die sich auf Österreich bezogen, stellten nichts in den Raum, das vielleicht noch gewisse Rücksichtnahmen hätte erkennen lassen. Da hieß es nur, Österreich wie die Tschechoslowakei müssten vor einem Krieg mit Frankreich ausgeschaltet und dem Dritten Reich einverleibt werden. Das würde die Ernährungssituation des Reichs verbessern und Truppen bringen. Die Voraussetzung dazu sei unter anderem die Aussiedlung von einer Million Menschen aus Österreich. Wie Italien auf die Besetzung Österreichs reagieren würde, sei noch unklar, doch solange der Duce am Leben sei, seien keine besonderen Probleme zu erwarten. Ab dem 5. November waren daher für Hitler nur mehr das Wann und das Wie offen, doch grundsätzlich war er zur Anwendung von Gewalt bereit. Als dann Schuschnigg am 9. März 1938 seine Volksbefragung ankündigte, war Hitler damit der Vorwand geliefert, seine am 5. November des Vorjahres entwickelten Gedankengänge im »Fall Österreich« zu Ende zu denken. Für ihn hatte sich seit damals einiges verändert. Nicht aber durch die Begegnung mit Schuschnigg in Berchtesgaden, sondern dadurch, dass er den Widerstand eines Teils der deutschen Heeresgeneralität, der ihm natürlich bekannt und auch im Fall der Vorbereitungen gegen Österreich begegnet war, ausgeschaltet hatte.
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Schon eine Woche vor Berchtesgaden verübte er am Reichskriegsminister, Generalfeldmarschall Blomberg, und am Oberbefehlshaber des Heeres, Generaloberst Fritsch, Rufmord, entließ die beiden und übernahm selbst die Funktion des Obersten Befehlshabers der Wehrmacht. Schuschnigg war daher in Berchtesgaden schon einem ganz anderen Mann gegenübergesessen, als das noch zwei Wochen vorher der Fall gewesen wäre. Und dieser Führer und Oberste Befehlshaber zögerte im März 1938 nicht, auf das überraschende Vorgehen Schuschniggs zu reagieren. Nach der Ankündigung der Volksbefragung begann die Zeitbombe zu ticken. Der österreichische Bundeskanzler glaubte sich aber zunächst noch so weit Herr der Situation, dass er nicht vielleicht parallel zu seiner Volksbefragung eine Mobilmachung in Erwägung gezogen hätte. Sie schien ihm wohl zu sehr Drohung zu sein. Außerdem benötigte der Kanzler einen Teil des Heeres zur Niederhaltung von nationalsozialistischen Unruhen, vor allem in der Steiermark, und zur ordnungsgemäßen Abwicklung der Volksbefragung. Vielleicht hätte Schuschnigg anders gehandelt, wären von Hitler sofort Drohungen ausgestoßen worden. Doch der Führer und Reichskanzler befahl Schweigen, und erst zu Mittag des 10. März erging an den Chef des Generalstabes des Heeres der Befehl, Pläne für einen Einmarsch in Österreich am 12. März vorzubereiten. Hitler zögerte allerdings noch mit dem Mobilmachungsbefehl und gab ihn erst auf Drängen Hermann Görings hinaus. Am Abend des 10. März liefen die deutschen militärischen Vorbereitungen voll an. Oberbefehlshaber und Kommandierende Generale wurden eiligst nach Berlin befohlen, der Chef der militärischen Abwehr, Admiral Wilhelm Canaris, hatte zu melden, ob irgendeine europäische Macht militärische Vorbereitungen träfe. Dabei galt das Hauptaugenmerk Frankreich. Der Admiral konnte beruhigen. Das Heeresgruppenkommando in Dresden stellte ein Armeeoberkommando (AOK) auf, das die Nummer 8 erhielt ; die beiden süddeutschen Wehrkreise VII und XIII wurden dem AOK 8 unterstellt und hatten ihre Truppen mobilzumachen. SS-Verfügungstruppen, Ordnungspolizei und Luftwaffenverbände wurden alarmiert. Alles geschah getarnt, teils unter dem Vorwand einer Parade in München, teils von Mobilmachungsübungen und ähnlichem. Schuschnigg seinerseits hatte dann doch für den Vormittag des 11. März die Einberufung der Reservisten des Jahrgangs 1915 befohlen, eine an sich völlig sinnlose Art der Teilmobilmachung, da dadurch nur da und dort ein paar Soldaten zur Auffüllung der stehenden Verbände herangezogen werden konnten. In Zahlen ausgedrückt sollten damit zusätzliche 10.000 Mann verfügbar sein. Und als es so weit war, rückte ein Teil der Männer mit Hakenkreuzarmbinden ein. Die Demonstration war nur zu deutlich. Zu Mittag des 11. März rückten zwei Bataillone des Bundesheers zur Verstärkung der Garnisonen im oberösterreichischen Raum ab. Das war aber nicht mehr als eine Demonstration, denn es wurde ja nicht etwa der Jansa-Plan oder sonst irgendeine
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vorbereitete Planung in die Wirklichkeit umzusetzen gesucht. Der Generaltruppeninspektor, General Sigismund Schilhawsky, informierte den Bundeskanzler zur selben Zeit, dass der »Widerstand … unter diesen Umständen, wenn wir nicht auf eine sofortige Unterstützung von außen rechnen können, aussichtslos und nicht zu vertreten« sei. Sechs Stunden nachdem der Befehl zur Grenzbeobachtung gegeben worden war, wurde an die Bundesheerverbände telefonisch durchgegeben, dass sie keinen Widerstand leisten sollten, wenn deutsche Truppen die Grenze überschritten. Das Heer habe sich »nach Osten zurückzuziehen. Es darf kein Schuss abgegeben werden.« Während in Wien und Berlin die politische Aktion ablief, die zum erzwungenen Rücktritt Schuschniggs, zur Berufung Arthur Seyß-Inquarts und zur Absendung eines dem neuen Bundeskanzler Seyß-Inquart regelrecht abgepressten Telegramms führte, in dem um den Einmarsch deutscher Truppen gebeten wurde, machten sich diese zum Einmarsch bereit. Gleichzeitig liefen allerdings noch Bemühungen, den Einmarschbefehl zu widerrufen, da die Machtübernahme durch die österreichischen Nationalsozialisten am Abend des 11. März als gelungen und abgeschlossen angesehen werden konnte. Doch Hitler weigerte sich. Er wollte sich auch als Oberster Befehlshaber bestätigen. In der Nacht zum 12. März überschritten bereits vereinzelt deutsche Einheiten die Grenze und rückten schließlich im Laufe des Tages in einem Gewaltmarsch nach Osten vor. Für die 8. Armee war die Sachlage klar. Wenn die deutschen Truppen auf Widerstand gestoßen wären, wäre dieser, wie es in dem Einmarschbefehl hieß, mit allen Mitteln und raschest zu brechen gewesen. Doch es kam zu keinem Widerstand. Der neue Bundeskanzler sah sich nicht einmal mehr vor die Notwendigkeit gestellt, dem Heer den Kampf zu verbieten. Das hatte noch sein Amtsvorgänger gemacht. Ja, Seyß-Inquart schien zeitweilig sogar das Bundesheer vergessen zu haben. Dabei konnte es keine Zweifel geben, dass er, wie vorher Schuschnigg, auch die Leitung des Verteidigungsministeriums innehatte. Doch das Bundesheer machte ihm keine Schwierigkeiten. Die Verbände des Heeres, die am 11. März von burgenländischen und niederösterreichischen Garnisonen aus in Marsch gesetzt worden waren, hatten bei ihrem Ausrücken immer wieder Missfallenskundgebungen von Bevölkerungsteilen zu spüren bekommen. Sie waren in eine ungeheure innere Bedrängnis gekommen, denn wenn man sich auf der einen Seite kriegsbereit zu machen hatte, auf der anderen Seite aber spürte, wie wenig der Einsatz des Lebens von denen geschätzt wurde, denen er gelten sollte, dann ist nur zu leicht ermessbar, was Offiziere und Soldaten empfanden, als ihnen der Befehl zuging, wieder in ihre Garnisonen einzurücken. Die Mehrheit der Offiziere und Soldaten war zutiefst dankbar, dass ihnen der Kampf gegen deutsche Truppen erspart geblieben war. Offiziere und aktive Soldaten des Heeres wussten denn auch am besten, wie es um das Heer bestellt war, dass eine regelrechte Mobilmachung nicht einmal versucht worden war, und dass sie auch infolge der Bindung eines nicht unwesentlichen Teils des Heeres bei innenpolitischen Assistenzen nur
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schwer durchführbar gewesen wäre. Man wusste wohl auch um die Zugehörigkeit des einen oder anderen zur illegalen Organisation der Nationalsozialisten, dem »Nationalsozialistischen Soldatenring«. Zu fragen, ob das Heer gehorcht hätte oder nicht, ist fast müßig. Ein Großteil der aktiv dienenden Soldaten wäre wohl befehlstreu geblieben. Dass ein Auffüllen der Verbände nur zum Teil gelungen wäre, weil die Reservisten dem Einrückungsbefehl nicht Folge geleistet hätten, ist aber ebenso wahrscheinlich. Dass der Widerstand nur punktuell hätte sein können, die deutsche Übermacht wahrscheinlich auch rasch über Traun und Enns gekommen wäre, ist ebenfalls so gut wie sicher. Alles das sind aber im Grunde genommen Spekulationen. Als die deutschen Verbände vorrückten, trafen sie nicht nur auf keinen Widerstand, sie mussten den Eindruck haben, in ein jubelndes Land einzurücken. Es gab auch kaum Probleme bei dieser Vorrückung, denn was dann nachträglich in die Erfahrungsberichte geschrieben wurde, verzerrte das Bild erheblich. In den Erfahrungsberichten wurden sämtliche Friktionen der Mobilmachung und auch kleinste Pannen ausführlich dargelegt, da man daraus ja lernen und ähnliche Pannen, die dann vielleicht verhängnisvoll sein konnten, vermeiden wollte. Die Panzer hatten Probleme, da nicht damit gerechnet worden war, dass sie ohne Unterbrechung bis Wien durchfahren sollten. Sie bekamen Schwierigkeiten mit der Zuführung von Treibstoff, da das österreichische Benzin für Panzer ungeeignet war und der eigene Nachschub nicht nachkam. Die Gebirgsjäger, die dann in die Steiermark marschierten, bekamen Probleme, da sie über ungeräumte und hoch mit Schnee bedeckte Pässe vorrücken mussten und erst der Weg freigemacht werden sollte. Doch letztlich besaß das alles nur mehr Übungscharakter. Der Blick auf die ungehindert vorrückenden Truppen verdeckt aber sicherlich vieles, nicht zuletzt auch die handstreichartige Inbesitznahme Wiens, das durch eine Luftlandeoperation und durch die Sicherung aller neuralgischen Punkte und Objekte rund zehn Stunden vor dem Eintreffen deutscher Bodentruppen eingenommen wurde und bereits am frühen Morgen des 12. März fest in deutscher Hand war. Es war dies gewissermaßen das Muster für alle in der Folge in ähnlicher Weise durchgeführten handstreichartigen Aktionen, und bis zu einem gewissen Grad führt eine direkte Linie von Wien-Aspern 1938 zu Prag-Ruzyně 1968. Da keiner der Nachbarn Österreichs auch nur eine einzige Geste machte, die auf militärische Vorbereitungen oder gar feindliche Absichten schließen ließ, die d eutschen Truppen andererseits peinlich darauf bedacht waren, Abstand zu den Grenzen, insbesondere der Tschechoslowakei zu halten, da Italien nichts unternahm, um Österreich zu helfen, was Hitler Mussolini »niemals vergessen« wollte, war am 13. März die Besetzung Österreichs kein militärisches Problem mehr. 24 Stunden hatte man auch glauben können, Hitler würde Österreich im Rahmen des Deutschen Reichs einen Sonderstatus geben und einen schleifenden Übergang, ver-
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gleichbar dem Bayerns nach 1871 versuchen wollen. Dementsprechend wäre auch das Bundesheer als homogener Körper erhalten geblieben. Doch bereits am 13. März war diese Überlegung gegenstandslos. Österreich wurde sofort und total eingegliedert und das Bundesheer am 14. März auf Hitler vereidigt. Nicht das gesamte Heer freilich. Vor allem die hohen Offiziere wurden größtenteils pensioniert, Offiziere und Soldaten, die von einem Tag auf den anderen aus rassischen Gründen verfemt waren, wurden ebenfalls nicht übernommen. Doch der Rest schwor Hitler unbedingten Gehorsam. Schon am 12. März waren auch bedeutende Umgliederungen in Aussicht genommen worden, um die Wehrkraft Österreichs voll auszuschöpfen und aus dem Bundesheer »baldigst eine für einen Angriffskrieg geeignete, schnell mobile, stoßkräftige Armee zu schaffen.« Der deutsche Einmarsch und die militärische Besetzung waren, wie wir schon längst wissen, bis zu einem gewissen Grad unnötig, weil es keinen Grund mehr gegeben hatte, der den Einsatz von Militär plausibel machen konnte. Es sei denn, man geht davon aus, dass von allem Anfang an Gewalt, und das am augenfälligsten in Form von militärischer Gewalt demonstriert werden sollte. Damit konnte auch gleich den bisherigen Nachbarn Österreichs gezeigt werden, dass Hitler jeder Eventualität mit der Wehrmacht zu begegnen bereit war. Doch der militärische Einmarsch hatte seine innere Logik. Denn hier demonstrierte ja der Führer und Oberste Befehlshaber seine Macht ; er demonstrierte sie mindestens so stark nach innen wie nach außen. Einem General Ludwig Beck, der sich ja zunächst geweigert hatte, die militärische Besetzung Österreichs zu planen, wurde vor Augen geführt, dass nicht nur Österreich keinen Widerstand leistete, sondern dass auch kein europäisches Land nur einen Finger rührte. Und der Generalität, vor allem des Heeres, wurde zum ersten Mal der Feldherr Adolf Hitler vor Augen geführt. Zu den schon vorher angestellten Spekulationen, einer durchaus legitimen Art einer erweiterten Geschichtsbetrachtung, gehört es auch, darüber zu sinnieren, was gewesen wäre, wenn das Bundesheer Widerstand geleistet hätte. Dass der kein großartiger hätte sein können, liegt auf der Hand. Das Heer hinkte mit Rücksicht auf eine regelrechte Mobilmachung um zehn Tage nach. Damit wäre es nie zu einem auch nur annähernd kompletten Einsatz des Heeres gekommen, eines Heeres, das wahrscheinlich auch in einem Bürgerkrieg gebunden und angesichts einer fast vollständigen deutschen Luftüberlegenheit kaum imstande gewesen wäre, sich irgendwo zu konzentrieren. Die Chancen eines Widerstandes waren nicht gegeben, und auf Hilfe aus dem Ausland konnte man nicht hoffen. Das wusste Schuschnigg, und daher handelte er so, wie er es offenbar tun musste. Somit wäre nur noch ein symbolischer Widerstand geblieben. Abgesehen davon, dass auch er nichts bewirken konnte, muss man sich fragen, was eigentlich darunter zu verstehen ist. Hat ein Heer symbolischen Widerstand geleistet, wenn es einen, zehn oder tausend Schuss abgibt, auf ein Dutzend Tote verweisen kann oder erst nach fünf Stunden kapituliert ? Ein Heer ist nicht dazu da, um symbolischen
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Widerstand zu leisten ! Das würde allenfalls auf Soldatenspielereien hinauslaufen. Doch die Frage eines möglichen militärischen Widerstandes berührt andere Gebiete – vor allem jene, die mit der Frage verknüpft sind, ob irgendetwas anders geworden wäre, wenn das Bundesheer, unter welchen Voraussetzungen auch immer, Widerstand geleistet, Hitler einen Rückschlag erlitten und dann vielleicht doch nicht seinen Weltkrieg vom Zaun gebrochen hätte. Soweit abschätzbar, hätte es unter vielen Möglichkeiten einer anderen historischen Entwicklung aber wohl nur eine nahezu sichere gegeben : Österreich wäre dennoch Teil des nationalsozialistischen Deutschland geworden. Ob dieses – ohne Weltkrieg – auch heute noch existieren würde, ist wiederum Spekulation. Es ist nicht so gekommen, und wenn wir an den Anfang der Überlegungen zurückkehren, dann sind wir wieder bei jenem Österreichischen Bundesheer, das sich zumindest bis vor etlichen Jahren noch sehr mit der Vergangenheit und der ihm aufgetragenen Überlieferungspflege abzumühen hatte. Es ist sicher, dass der März 1938 nicht zur engeren Überlieferung des Heeres gehört, genauso wenig wie weit zurückliegende Traditionen. Dennoch musste sich das Heer der Zweiten Republik damit auseinandersetzen und zumindest eingeschränkt dazu bekennen. Der 11. oder 12. März war allerdings nie ein Gedenktag für die Soldaten und Truppen, sondern hätte – auf seine Art – ein solcher für die hohen Kommandanten und letztlich für die Politiker der österreichischen Zweiten Republik sein müssen. Denn ihre Vorgänger waren es, die die Entscheidungen vorzubereiten und zu treffen hatten. Und für sie konnte es die bequemen Erklärungen eigentlich nie geben – auch wenn eigentlich immer so getan wurde, als ob nur Schuschnigg & Co für falsche Entscheidungen gut gewesen wären. Die Heeresspitze des Jahres 1938 war für das Nicht-einsetzen-Können des Heeres mitverantwortlich. Die hohe Generalität, an der Spitze der Staatssekretär im Verteidigungsministerium, General Wilhelm Zehner, waren verantwortlich für die Struktur dieser Spitze, die sich – ohne deutschen Druck – des Generalstabschefs beraubt hatte. Denn dass Jansa am 1. März pensioniert wurde, war ihm schon vor Berchtesgaden mitgeteilt worden. Der Generaltruppeninspektor, General Schilhawsky, hatte unmissverständlich gesagt, dass das Heer nicht eingesetzt werden sollte, da es keine Chance hätte. Die militärische Führungsspitze hatte auch einen letzten innenpolitischen Einsatz befohlen, der zu einer Verwerfung des Heeres führte, und war dabei so vorgegangen, dass hohe militärische Führer und einzelne Kommandanten am 11. März 1938 gar nicht mehr wussten, was ihnen überhaupt noch zur Verfügung stand. Es war, schlicht gesagt, ein Führungsdesaster. Verglichen mit dem Chaos an der politischen Führungsspitze mochte es noch immer gering gewesen sein. Daher war es wohl auch immer unbillig, dem Heer den lediglich vordergründigen Vorwurf des Versagens zu machen. Und wie es weiter gegangen ist ? Österreich schien nicht nur der Beweis dafür zu sein, dass die militärischen Optionen Hitlers Erfolg versprachen ; Österreich war auch
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das Sprungbrett schlechthin. Von hier aus ließ sich die Tschechoslowakei umklammern, wurde die Sudetenfrage für die Tschechoslowakei zu einer no-win Situation, erfolgte im März 1939 die Besetzung dessen, was in der deutschen Diktion »die Resttschechei« geheißen wurde, usw. Auch in der Folge wurden den einmarschierenden deutschen Truppen Blumen in die Hand gedrückt, zumindest zeigten das dann die Sequenzen der Deutschen Wochenschau und die Hochglanzfotos des deutschen Propagandaministeriums. Von Tränen und Leid bekam man lange Zeit nichts zu sehen – weder in Wien noch in Prag.
Hintergrund : Plakat einer Sonderausstellung im Heeresgeschichtlichen Museum, 2004 : Tyrannenmord. Der 20. Juli 1944 und Österreich. Im Vordergrund : Geschichte des Großen Vaterländischen Krieges der Sowjetunion, Bd. 5 (Berlin 1967) und Manfried Rauchensteiner, Der Krieg in Österreich ’45, Sonderausgabe (Graz 1995). Ferner Rot-Weiß-Rot-Buch. Gerechtigkeit für Österreich, 1. Teil (Wien 1946), darauf Kopie des britischen Entwurfs der sogenannten »Moskauer Deklaration« sowie drei Lagergeldscheine aus dem KZ Theresienstadt.
Der »Führer« und die Folgen
Herr Hitler und der Krieg Fast wäre 1989 der 50. Jahrestag des Beginns des deutsch-polnischen Krieges zu kurz gekommen. Man war mit anderem beschäftigt : Der Osten brodelte. Der sowjetische Staatschef, Michail Gorbatschow, versuchte, den Zusammenbruch des Sowjetregimes zu verhindern und gleichzeitig die östliche Supermacht umzumodeln. In der DDR gab es die Montagsdemonstrationen, die von Erich Honecker und Genossen als denkbar bedrohlich gesehen wurden. Ungarn hatte im August seine Grenzen mehr oder weniger geöffnet und zumindest allen Ostdeutschen, die über Ungarn die Ausreise gesucht hatten, die Flucht in den Westen ermöglicht. Polen hatte schon eine Demokratisierung erlebt und musste nur den letzten Schritt tun, um das kommunistische Regime zu beseitigen. Kein Wunder, dass man voll mit der damaligen Gegenwart beschäftigt war und sich weit weniger darum kümmerte, was fünfzig Jahre davor geschehen war. In Österreich lief es ähnlich. Zum ersten Mal seit 1968 sah sich der Staat massiv gefordert, und die Menschen waren aufgewühlt. Daher war es sicherlich nicht nur die größere zeitliche Distanz, die ein Fünfzig-Jahr-Gedenken anders ausfallen ließ als das 25-JahrGendenken, 1964. Mittlerweile ist das Datum noch weiter zurückgesunken in die Geschichte und wird überlagert, nicht zuletzt vom Wendejahr 1989, das die fragwürdige Ordnung, die mit Hilfe von 50 Millionen Toten des 2. Weltkriegs geschaffen worden ist, auf den Kopf stellte. Nur in Polen ist der 1. September 1939 nach wie vor nicht irgendein Datum, sondern das Datum schlechthin. War es 4.40 oder 4.45 Uhr – letztlich ist es egal – als Sturzkampfflieger der Deutschen Luftwaffe mit der Bombardierung der kleinen polnischen Stadt Wieluń rund 100 Kilometer östlich von Breslau begannen ? Wenig später waren 70 % der Stadt zerstört, etwa 1200 Menschen der 16.000 Einwohner starben. Die Zeitangaben über den Angriff differieren um Minuten, und polnische und deutsche Historiker sind sich auch nicht darüber einig, ob in Wieluń Militär war oder nicht. Nicht streiten lässt sich darüber, dass noch gar nicht Krieg war, doch da es nie eine Kriegserklärung des Deutschen Reichs an Polen gegeben hat, zählte nur der Beginn der Angriffe und nicht wie noch 1914 die
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Überreichung eines Dokuments, in dem zu lesen war, dass man sich seit soundsovieltem, soundsoviel Uhr im Kriegszustand befand. Wieluń war jedenfalls die erste Stadt, die in dem beginnenden Krieg zerstört wurde. Sicher ist auch, dass Adolf Hitler demonstrativ in eine Art Felduniform gekleidet, am 1. September 1939 um 10 Uhr vor die eilig zusammengerufenen Delegierten des Deutschen Reichstags in der Berliner Kroll Oper trat, um sie über die Ereignisse der letzten Stunden zu informieren. Er sprach eine gute halbe Stunde und hob seine Friedensliebe und Geduld hervor. Alles klang so ungemein ehrlich. Doch der »Führer« und Reichskanzler hat gelogen und versuchte, seine Volksgenossen wie das Ausland zu täuschen. Der Chef der deutschen Auslandsabwehr, Wilhelm Canaris, nannte ihn an diesem Tag einen »pathologischen Lügner«. Erst ganz zum Schluss von Hitlers Rede kamen jene Sätze, auf die man schon gewartet hatte und die weitere Unwahrheiten enthielten : »Polen hat heute Nacht zum ersten mal auf unserem eigenen Territorium auch mit bereits regulären Soldaten geschossen. Seit 5 Uhr 45 wird jetzt zurückgeschossen«. Zu dem genannten Zeitpunkt hatten schon Dutzende deutsche Kommandounternehmen polnische Stützpunkte, Brücken und Kreuzungen angegriffen und meist handstreichartig genommen, waren die deutschen Truppen schon viele Kilometer nach Polen vorgerückt, beschoss das Schulschiff »Schleswig Holstein«, das angeblich zu einem Flottenbesuch nach Danzig gekommen war, die polnische Garnison auf der Westerplatte, und hatten sich wohl auch schon jede Menge Fäll ergeben, wo gegen die »Regeln einer humanen Kriegsführung«, wie sie Hitler in seiner Reichstagsrede beschwor, verstoßen worden war. Nicht zuletzt war von der SS ein Überfall auf den damals noch in Deutschland stehenden Gleiwitzer Sender vorgetäuscht worden, so als ob die Tat von Polen verübt worden wäre. Eine polnisch und englisch gehaltene Tafel am Sendergebäude besagt auch heute noch «Gliwice Broadcasting Station. The Place of Nazi Provocation, 31st August 1939.« Vieles, unendlich vieles war also bereits geschehen, als Hitler bekanntgab, dass sich Deutschland und Polen im Krieg befanden, und es fügte sich lückenlos in das langfristige Programm des »Führers« und Reichskanzlers, der aus seiner Absicht Krieg zu führen kein Hehl gemacht hatte. So schickte er zunächst einige Hunderttausend, dann Millionen Soldaten los, um – wie er es nannte – »Lebensraum im Osten« zu erobern. Dass er damit die größte Katastrophe der europäischen – und wohl auch der Weltgeschichte auslöste, hat er zwar nicht beabsichtigt, doch er nahm es in Kauf. »Ein November 1918 wird sich niemals mehr in der deutschen Geschichte wiederholen«, sagte er. Damit sollte er Recht behalten. Am Ende waren große Teile Deutschlands und Europas zerstört, zig Millionen Menschenleben vernichtet und Europas Stellung in der Welt nachhaltig erschüttert. Der November 1918 nahm sich dagegen immer noch harmlos aus. Anfangs ging es vorgeblich um Danzig. Dieses war Teil einer denkbar unglücklichen, ja unsinnigen Lösung, mit der Polen im Vertrag von Versailles 1919 ein Korridor zur Ostsee zugestanden worden war, Danzig selbst aber als »Freie Stadt« unter
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Völkerbundaufsicht gestellt wurde. Unverständnis, ja Hass waren fast unvermeidlich. Lösungsvorschläge wurden unterbreitet und wieder verworfen. Und zum Schluss wurde die Korridorfrage instrumentalisiert. Aber wie hat man Hitler schon im Mai 1939 zitiert : »Danzig ist nicht das Objekt, um das es geht. Es handelt sich für uns um Arrondierung des Lebensraumes im Osten und um Sicherstellung der Ernährung.« Er wollte nicht Danzig oder eine internationalisierte Straßenverbindung durch den Korridor nach Danzig und Ostpreußen – er wollte Polen. Nun war »Herr Hitler«, wie ihn die Briten im Schriftverkehr des Foreign Office mit einer gewissen Penetranz nannten, nicht der erste Staatsführer, der revisionistische Ziele verfolgte und zielgerichtet auf einen Raubkrieg losmarschierte. Da hatte er Dutzende, Hunderte kleinere und größere Vorbilder und bewegte sich auch insofern in einer gewissen Tradition, als die gesamte deutsche Einigung auf Basis der NS-Ideologie auf der Entfesselung eines als notwendig erachteten Kriegs fußte. Jetzt war, so ließe sich vielleicht argumentieren, in »Herrn Hitlers« Augen der nächste Schritt gekommen. Das Jahr zuvor hatte er wohl auch gemeint, das Tempo forcieren zu müssen, denn schließlich sei er schon 50 Jahre alt. Doch Polen war nur das nächste – aber es war nicht das letzte Ziel. Denn da gab es ja noch den ideologischen Grundsatzkonflikt : Die Auseinandersetzung mit dem Bolschewismus, und das konnte eigentlich nur heißen : Krieg gegen die Sowjetunion. Und wie es weitergehen sollte ? Deutschland würde irgendwann einmal und wohl nach Hitler Europa beherrschen und schließlich in einer Konfrontation mit den USA den Kampf um die Weltherrschaft ausfechten, meinte der »Führer«. Und alles, was sich in den Weg stellte, müsste ausgemerzt werden. So gesehen, konnte daher Polen nur ein nächster Schritt sein. Viele wussten davon, denn Hitler, der ja bisweilen an Munddiarrhöe litt und vor seinen Paladinen, Parteigenossen und Generälen mit seinen Gedanken durchaus nicht hinter dem Berg hielt, hatte aus seinen Absichten ja kein Geheimnis gemacht. Und nicht alle – aber fast alle – hatten keinen Einwand dagegen. Vor allem die Militärs sahen sich in die Pflicht genommen und handelten die Pläne des Diktators als etwas ab, das durchaus vereinbar war mit Ethik und Moral, zumindest aber mit ihren eigenen Grundsätzen. Im Fall Polens tat sich »Herr Hitler« noch dazu recht leicht, und der auf Danzig und die Behandlung der Deutschen durch die Polen reduzierte Konflikt wurde einmal geschürt oder reduziert – wie eine Gasflamme. Bis 1933 waren die Polen »böse« gewesen ; 1934 schloss das nationalsozialistische Deutsche Reich einen Nichtangriffspakt mit dem östlichen Nachbarn ; im März 1939 durfte sich Polen sogar an der Zerschlagung der Rest-Tschechoslowakei beteiligen und ein Stückchen Land an der Olza besetzen. Fast zeitgleich gab Hitler Befehl, einen Operationsplan für einen Krieg gegen Polen auszuarbeiten. Nicht als Eventualität, sondern als Grundlage für konkrete Vorbereitungen. Der Einmarsch deutscher Truppen im März 1939 in dem, was »Resttschechei« genannt wurde, hatte allerdings Franzosen und vor allem Briten aufgeschreckt. Die
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britische Appeasementpolitik war so offensichtlich gescheitert, dass sie nur durch etwas kompensiert werden konnte, was London bis dahin peinlichst vermieden hatte : Durch die Gewährung von Garantien für die territoriale Integrität Polens und den Abschluss eines Beistandspakts. Noch immer schienen aber die Diplomaten das Sagen zu haben. Mittlerweile tickte jedoch schon längst die Zeitbombe. Die Generalstäbe von deutschem Heer, Luftwaffe und Kriegsmarine hatten alle möglichen Kriegsfälle ausgearbeitet, »Rot« für Frankreich ; »Blau« für England ; »Grün« für beide gemeinsam, usw. (In London und Paris war ähnlich, wenngleich »seitenverkehrt« geplant worden). Die deutschen Überlegungen zielten aber gemäß den »Weisungen für den Einsatz gegen Osten« vom Mai 1939 auf einen Angriffskrieg ab. Im Juni lag der Operationsfall »Weiß«, ein Angriff auf Polen, vor und wurde von Hitler genehmigt. Zwei Heeresgruppen wurden gebildet, eine im Norden und eine im Süden. Allerdings sollten die politischen und militärischen Rahmenbedingungen für Deutschland noch verbessert werden. Denn in einem Punkt war Hitler damals sicherlich zu trauen : Er wollte keinen Krieg gegen England. Er umwarb, ja umschmeichelte es und sah auch in dem Beistandsvertrag, den Großbritannien und Frankreich im April mit Polen geschlossen hatten, kein Hindernis. Allerdings schien »Herrn Hitler« auch ein Zweifrontenkrieg nicht zu stören. Als er erfuhr, dass die Westmächte mit Moskau verhandelten, war er aber doch alarmiert. Wie vor dem Ersten Weltkrieg begann man in Berlin von Einkreisungspolitik zu sprechen. Hinter dem propagandistischen Schleier begannen allerdings Geheimkontakte, die kurz darauf zu dem von Hitler und Stalin gewünschten Erfolg führten. Für die Westmächte war es daher sicherlich ein Schock, als sie am 23. August 1939 vom Abschluss eines deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakts erfuhren. Noch viel mehr alarmiert wären sie freilich gewesen, hätten sie vom geheimen Zusatzprotokoll erfahren, mit dem den Sowjets nicht nur freie Hand gegenüber Finnland, Estland und Lettland gegeben wurde, sondern auch eine Abgrenzung der Einflusszonen in Polen vereinbart wurde. An der Unabhängigkeit Polens waren weder Deutsche noch Russen interessiert. Für Hitler war nun alles klar : Er befahl den Angriff auf Polen für den 26. August. Die deutschen Botschaften und Gesandtschaften wurden angewiesen, deutsche Reichsbürger zur Rückkehr in ihre Heimat zu bewegen. Die Armeen zweier deutscher Heeresgruppen rückten in ihre Bereitstellungsräume ein. In der Nacht vom 25. auf den 26. liefen auch schon die ersten Sabotageakte in Polen an. Da kam ein unerwarteter Befehl, die Maschinerie anzuhalten. Die Westmächte hatten Polen eine unmissverständliche und formelle Garantie seiner Unabhängigkeit und territorialen Integrität gegeben. Hitler zögerte. Noch besaß er ein gehöriges Maß an Reputation und galt keinesfalls als Trivialisierung des Bösewichts. Diesen Rest an Ansehen wollte er in die Waagschale werfen, um zwischen Westmächte und Polen einen Keil zu treiben. Doch er schreckte nicht vielleicht vor dem Krieg zurück, sondern wollte seine militärische Aktion durch
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eine scheinbare Verhandlungsbereitschaft nur noch besser absichern, das Ganze beschönigen, und, wenn es ging, die Polen in ein schiefes Licht rücken. Es ging nicht um die Rückkehr zu einer bürgerlichen Sittlichkeit, wie sie Max Weber 1919 beschrieben hatte. Denn letztlich sollte eigentlich nur ein höherer Mobilmachungsgrad erreicht werden, falls die Westmächte tatsächlich in den Krieg eintraten. Denn am 26. August lief die Mobilmachung in Deutschland erst an. Am 1. September sollte sie abgeschlossen sein. Das grausame Spiel bekam allerdings auch ein wenig den Charakter einer Schmierenkomödie. Hitler hatte Italiens »Duce«, Benito Mussolini, zum Mitmachen aufgefordert, wohl ahnend, dass der Angriff auf Polen eine Reaktion der Westmächte nach sich ziehen würde. Da wollte man doch noch einmal die eigenen Reihen schließen. Mussolini aber erklärte, dass Italiens Streitkräfte erst 1942 kriegsbereit sein würden, und überhaupt ginge noch zu Vieles ab, um vollständig gerüstet zu sein. Hitler fragte sofort in Rom nach, was denn noch alles fehle. Die Italiener mussten offenbar nicht lange nachdenken und übersandten postwendend eine Liste mit Lieferwünschen, von denen Italien seine Teilnahme am Krieg abhängig machen wollte. Für die Erfüllung dieser Wünsche, darunter die damals ungeheure Menge von 600 Tonnen Molybdän zur Metalllegierung, wären 17.000 Güterzüge notwendig gewesen. Hitler soll daraufhin etwas von »1914« entfahren sein. Die »Molybdänliste« wäre als Bestätigung der italienischen Absenz aber gar nicht notwendig gewesen. Hitler wollte so und so handeln. Die Reichsbürger, darunter die Menschen in der Ostmark, waren von der gleichgeschalteten Presse und über den Rundfunk alles andere als umfassend informiert worden. Aber natürlich bekam man mit, dass immer mehr Männer zu »Mobilmachungsübungen« einberufen und irgendwohin abtransportiert wurden. Ab dem 27. August gab es Lebensmittel, Kleidung, Seife, Kohle u. a. nur mehr auf Bezugscheine. Es gab die ersten »Kriegstrauungen«, weinende Paare. Die Taxichauffeure fragte Kunden, von denen sie meinten, sie könnten es wissen : »Wird es Krieg geben« ? Der Bahnverkehr war eingeschränkt. Militärische Transporte hatten Vorrang. Die Langfristigkeit der Planungen verhinderte freilich, dass der Zivilverkehr tagelang unterbrochen worden wäre. Am 31. August Mittag erging an die deutschen militärischen Befehlshaber die »Weisung Nr. 1 für die Kriegführung«. Da war vom Scheitern aller friedlichen Versuche zur Lösung der »unerträglichen« Situation an der deutschen Ostgrenze die Rede, und von der sehr persönlichen Konsequenz, die der »Führer« daraus gezogen hatte : Angriffstag 1. September 1939. Angriffszeit 4.45 Uhr. In vielen, wenn nicht den meisten Verbänden der Deutschen Wehrmacht, die für den Angriff auf Polen bestimmt waren, dienten Österreicher, einmal als Offiziere und weit verstreut, dann in Truppenkörpern, die sich mehrheitlich aus Angehörigen der damals gerade Ostmark genannten Länder des aufgelösten Österreich zusammensetzten. Sie fanden sich mit Masse im XVII. und im XVIII. Armeekorps, die zur 14. Armee gehörten und aus dem Protektorat Böhmen und Mähren sowie aus der Slowakei an-
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greifen sollten. Wohl wissend, dass der Angriff auf Polen bevorstand, hatte das Armeeoberkommando der 14. Armee schon am 30. August in Neutitschein den Armeebefehl Nr. 1 ausgegeben : »Die 14. Armee wird den Feind durch konzentrischen Angriff auf Krakau vernichten … Die Bereitstellung zum Angriff hat so zu erfolgen, dass am 1.9. früh angetreten werden kann. Uhrzeit wird noch befohlen … Der Oberbefehlshaber der 14. Armee, List, Generaloberst.« Um 10 Uhr desselben Tags wurden die Divisionskommandeure von den Kommandierenden Generälen der beiden Armeekorps eingewiesen. »Alle Vorbereitungen sind bis 31.8. abends zu treffen.« In der Folge wurden auch die Angriffsbefehle für die Divisionen und alle Verbände formuliert. Ausgegeben wurden sie tags darauf. In der Nacht wurde die Grenze schon an zahlreichen Punkten überschritten, um handstreichartig Brücken, Höhen und Kreuzungen zu besetzen. Und am 1. September wurde das Feuer entlang der zur Front gewordenen Reichsgrenze eröffnet. Die Polen waren vorbereitet. Sie hatten zwar die Verhandlungen nicht abgebrochen, wussten aber wohl um die Aussichtslosigkeit. Hätten sie den »Korridor« preisgeben sollen ? War Danzig verhandelbar ? Wäre damit Hitler wie schon einmal, beim Münchner Abkommen, das Schwert aus der Hand geschlagen worden ? Hätte es dann vielleicht Zeit gebraucht, um einen neuen Kriegsgrund zu finden ? Viele Fragen ließen sich stellen. Die Befehlshaber der polnischen Armee rechneten sich aber durchaus Chancen aus, wollten auch nicht defensiv kämpfen, sondern den Angriff abwehren und womöglich selbst zur Gegenoffensive übergehen. Doch sie hatten keine Chance. Die im deutschen Militärarchiv in Freiburg im Breisgau verwahrten Kriegstagebücher der »österreichischen« Verbände sprechen eine nur zu deutliche Sprache : 2. leichte Division »1. September. 4.45 überschreiten vorderste Teile die Grenze. Kein Gefechtslärm zu hören … 5.10 Meldung von 4. Div[ision]., dass Grenze überschritten, zunächst kein Feindwiderstand … 6.00 Aufruf des Führers an die deutsche Wehrmacht wird bekannt … Kuznica genommen … Wegnahme Brücke Grünwald … Stahlhammer [Kalety] genommen … Feindl. schwere Inf.Waffen Florianska Gora. Angriff geht langsam vorwärts ; 2. September. Eigener Art.Feuerüberfall auf polnische Stellungen bei Woischnik. Sehr gute Wirkung der schweren Granatwerfer … Munitionsmangel macht sich bemerkbar. Durch Funk werden Munition und 10 Krankraftwagen dringend angefordert … Ab Gniazdow waren die Ortschaften wie ausgestorben. Die Einwohner waren Hals über Kopf geflohen … Von Gniazdow ab brannten ganze Ortschaften … « Gelegentlich schrieben deutsche Kriegstagebuchführer von »manöverartigem Vorgehen«. 4. leichte Division »1. September. 4.40 Uhr wird durch Handstreich die Brücke an Straße Trstená – Chyżne hart nördl. der Reichsgrenze genommen … Die Brücken sind verbrannt und zerstört … In einigen Orten wird durch Ortseinwohner geschossen. Zur Vergeltung werden die Häuser in Brand gesteckt. 2 Verwundete … 3. September. Div.Stab wird nach Rabka verlegt … Verluste des Tages : 18 Tote, 42 Verwundete, 12 Vermißte« usw., usw., usw.
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Am 3. September erklärten Frankreich und Großbritannien dem Deutschen Reich den Krieg. Was als deutsch-polnischer Krieg begonnen worden war, weitete sich zum Weltkrieg aus. Welche Schrecken, Gemetzel, welche Genozide, Terror und Leid noch kommen sollten – man wusste es nicht. Schließlich stand man am 1. September 1939 ja erst am Anfang. Ein Sarg für Paris Eigentlich war es ein gespenstischer Zug, der sich knapp nach Mitternacht des 15. Dezember 1940 von der Gare de l’Est durch ein kaltes Paris bewegte. Ein Kupfersarg wurde von Motorradfahrern eskortiert. Nichts Ungewöhnliches möchte man zunächst meinen, ein halbes Jahr nach der Niederlage Frankreichs gegen das nationalsozialistische Deutschland und mitten im Krieg. Doch der Kupfersarg barg einen besonderen Leichnam : Den »König von Rom«, Napoleon Franz Joseph Charles, Herzog von Reichstadt, Sohn des »großen« Napoleon. Die Eskorte fuhr an Seine und Tuilerien vorbei zum Dôme des Invalides. Es gab kein Spalier. Der Sohn Napoleons war nicht angekündigt worden. Man wollte Demonstrationen vermeiden, und erst am nächsten Tag wurde berichtet, der »Aiglon« wäre dank einer großzügigen Geste des Führers und Reichskanzlers Adolf Hitler von Wien nach Paris überführt worden. Gewissermaßen ein Geschenk des deutschen Diktators an das besiegte Frankreich, ein Geschenk, von dem wohl erwartet wurde, dass man es würdigte. Es war eine deutsche Lafette und es war eine deutsche Motorradeskorte, die den Sarg begleiteten. Erst im Hof des Invalidendoms übernahmen Pariser Munizipalgardisten den Transport. Sie waren mit Fackeln angetreten. Ein Trupp schulterte den Sarg. Dann gab es Trommelwirbel und Trompetensignale, eben alles, was zu einer prominenten »Leich’« gehörte. Man trug den Sarg mit dem einbalsamierten Körper des einhundertacht Jahre zuvor Verblichenen in den Dom, setzte ihn vor dem Altar oberhalb der Krypta ab. Ein Trikolore wurde über den Sarg gebreitet, Weihrauch stieg auf, und schließlich wurde der Kupfersarg in einigem Abstand neben den Porphyrsarkophag seines Vaters gestellt. Der Sohn sollte von da an neben dem Vater ruhen. Von der Mutter, Marie Louise, war keine Rede. Für die Franzosen war sie wohl eine Art Unperson, und das schon während der wenigen Jahre, die sie mit Napoleon verheiratet und Kaiserin der Franzosen gewesen war. Die Österreicherin hatte in den Augen der Franzosen wohl auch nur eine einzige Legitimation gehabt : Sie hatte dem bis dahin – offiziell – kinderlosen Kaiser den ersehnten Sohn geschenkt. Damit schien ein Geschlecht begründet zu sein, Napoleon konnte hoffen. Für einen Teil des katholischen Klerus sah die Sache freilich ganz anders aus : Napoleon war geschieden, seine zweite Frau daher seine Konkubine, und das Kind aus dieser Ehe ein Bastard.
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Für die Geburt war alles längst vorbereitet gewesen. Die Titulatur für einen Sohn war mit »König von Rom« angeblich der Wunsch der Kaiserin. Doch was dahinter stand, war zweifellos der Anspruch auf das Römische, so wie ja Marie Louises Vater noch bis 1806 römisch-deutscher Kaiser gewesen war. – Eine Tochter hätte übrigens »Fürstin von Venedig« geheißen. Keine Ahnung, ob sie auch einmal von Wien nach Paris überführt worden wäre. – Doch es war eben ein Knabe gewesen, dessen Geburt am 20. März 1811 den Menschen des damals von Hamburg bis in die Ägäis reichenden französischen Kaiserreichs in kürzester Zeit mitgeteilt, pomphaft gefeiert und zum Anlass für viele Worte gemacht wurde. Es gab natürlich auch die entsprechende Zahl von mehr oder weniger großartigen Geschenken. Der Großvater des Säuglings, Kaiser Franz I. von Österreich, schickte ihm das Großkreuz des Sankt-Stephans-Ordens. Später einmal sollte man feststellen, dass es das einzige Taufgeschenk war, das dem Sohn Napoleons blieb. Drei Jahre nach der Geburt des »Königs von Rom« hatte sein Vater das mit Geschick und Gewalt aufgebaute Kaiserreich verloren, der Sohn wurde von seiner Mutter nach Orléans gebracht, dann aber an den Kaiserhof nach Wien transferiert, wo der »gute« Kaiser Franz ein Auge auf den Enkel haben konnte. Vom Vater war in den folgenden Jahren kaum die Rede. Nicht einmal davon, dass er schon 1821 auf Sankt Helena starb. Die Erzieher des dann Herzog von Reichstadt genannten Knaben hatten sogar strikten Auftrag, Napoleon nicht zu erwähnen. Und auch von der Mama erfuhr der heranwachsende Prinz kaum etwas. Vielleicht zurecht, denn sie hatte sich gerade vier Jahre um dieses Kind kümmern können und sich dann sowohl über den Verlust ihres Mannes wie ihres Sohnes anderweitig getröstet. C’est la vie … oder was immer man dazu auch sagen mag. Napoleon Franz Joseph Charles blieb sogar lange verborgen, dass er zwei Halbgeschwister hatte. Er soll seine Eigenheiten gehabt haben, der kurz »Reichstadt« genannte Knabe. Man will auch immer wieder festgestellt haben, dass er die eine oder andere Eigenschaft von seinem Vater geerbt hatte. Er bekam wie die allermeisten habsburgischen Prinzen eine solide Erziehung, wurde militärisch geschult, erhielt schließlich den Rang eines 2. Oberst und Regiments-Commandanten im k. k. Infanterieregiment Nr. 60, war aber sehr wohl ein wenig Außenseiter, wie er sich selbst auch anders als die anderen sah. Er erkrankte an Tuberkulose. Sie wurde spät erkannt, schlecht behandelt und zeigte sich auch in einer aggressiven Form. Seine Umgebung wusste, dass er dem Tod geweiht war. Und schließlich starb der junge Prinz, der einmal der »König von Rom« genannt worden war, im Juli 1832, wurde einbalsamiert und in der habsburgischen Familiengruft bei den Wiener Kapuzinern zur letzten Ruhe gebettet. Jahre später wurde seine Mutter, Marie Louise, ebenfalls in der Kapuzinergruft bestattet. Und eigentlich hätte man beide nur mehr für die Historiker freizugeben gehabt, wäre da nicht die Politik gewesen. Und die macht bekanntlich auch vor Toten nicht Halt. 1940 wurde die Überführung des Herzogs von Reichstadt ein eminentes Politikum.
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Die Sache hatte sich einige Zeit entwickelt. Man weiß aber nicht so recht, wer die ursprüngliche Idee gehabt hatte. Die einen meinen, es wäre schon seit dem deutschfranzösischen Abkommen vom 5. Dezember 1938 gewissermaßen in der Luft gelegen, da im Zuge der diversen Kommentare der Herzog von Reichstadt als jemand genannt wurde, der als Beispiel für Gemeinsamkeiten in der bilateralen Geschichte herhalten konnte. Doch dann kam der Krieg und man sprach zum wenigsten von Gemeinsamkeiten. Nach der Niederlage Frankreichs kam der Herzog von Reichstadt offenbar bald wieder aufs Tapet, und es hieß dann, es wäre Hitler selbst gewesen, dem Ende Juni 1940 anlässlich seines Besuchs im Dôme des Invalides die Idee gekommen sei, den Franzosen den Sohn Napoleons I. zu schenken. Als Initiator wurde auch der deutsche Botschafter in Frankreich, Otto Abetz, genannt. Andere behaupteten, es wäre Pierre Laval oder sonst jemand aus der Umgebung des französischen Staatspräsidenten, Marschall Pétain, gewesen, der einen diesbezüglichen Vorschlag gemacht hätte. Dann wieder wurde ein glühender Bonapartist, Herr Jacques Benoist-Méchin, genannt, der die Idee im Kreise irgendwelcher bonapartistischer Zirkel ausgeheckt hätte. Diese Version hatte vielleicht zum Hintergrund, dass es ja auch immer wieder Gerüchte gab, man würde den Prinzen Napoleon Bonaparte zum Kaiser der Franzosen im besetzten Frankreich ausrufen. Wie auch immer ! Offenbar brauchte es nur noch eine besondere Gelegenheit. Am 24. Oktober 1940 trafen Hitler und der französische Staatschef Marschall Pétain in Montoire-sur-le-Loire zusammen. Pétain, dessen Regierung in Vichy als Herrschaft von Hitlers Gnaden galt, brachte die Rede auf einen Friedensvertrag und die Entlassung von rund zwei Millionen französischen Kriegsgefangenen. Hitler reagierte nicht. Er war lediglich bereit, Frankreich mit einer Geste entgegenzukommen. Und die sollte darin bestehen, dass anlässlich des 100. Jahrestags der Überführung Napoleons von Sankt Helena nach Paris auch der Leichnam seines Sohnes dorthin überführt werden sollte. Jetzt zeigte sich Pétain uninteressiert. Doch offenbar war der Leichentransport für Hitler schon beschlossene Sache, und nachträglich bedankte sich Pétain mit den überschwänglichsten Worten. Klar, dass dann die Zeitungen Großdeutschlands in den hellsten Tönen berichteten. Im Wiener »Völkischen Beobachter« würdigte Bruno Brehm die Überführung als großmütige Geste des »Führers«. Ähnliches vermeldeten die geheimen Lageberichte des Sicherheitsdienstes der SS auch aus Frankfurt a. M. und Allenstein in Ostpreußen. Es war davon gesprochen worden, Hitler wollte selbst nach Paris kommen, um anlässlich der Beisetzung des Herzogs von Reichstadt von einem vereinigten Europa zu sprechen und England als Kriegshetzer zu brandmarken, ein England, das seinerzeit schon gegen den großen Napoleon gewesen war und dessen Versuch eines französischen Überstaats zunichte gemacht hatte. Und jetzt, da Hitler dasselbe unter deutscher Führung realisieren wollte, wäre es wieder England, das feindlich blieb. Mit dem Sohn
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Napoleons ließ sich also prächtig Politik machen, zumindest aber ein ordentliches Stück Propaganda in Szene setzen. Letztlich war dann keine Rede mehr davon, dass Hitler selbst nach Paris kommen würde. Vielmehr begann die Überführung als eine Aktion der geheimen Staatspolizei. Der Provinzial und der Pater Guardian der Kapuziner wurden auf den Wiener Morzinplatz in das »Gestapo« Hauptquartier zitiert. Und beiden schien klar zu sein, worum es ging : Die Schließung des Klosters. Denn es waren schon so viele Ordenshäuser geschlossen worden und den Kapuzinern des Wiener Klosters auch schon mehrfach bedeutet worden, es wäre nur mehr eine Frage der Zeit, ehe auch sie dran wären. Die Kapuziner wollten zwar nur der Gewalt weichen und den Konvent keinesfalls aufgeben. Doch es sollte ohnedies nicht dazu kommen. Dr. Ebner von der Gestapo hatte ganz anderes mitzuteilen. Es ging um den Herzog von Reichstadt. Als daher Provinzial und Guardian in den Konvent zurückkamen, sollen sie regelrecht erleichtert gewirkt und gesagt haben : »Sie wollen nur einen Sarg !« Mittlerweile herrschte bei den Kapuzinern freilich schon hellste Aufregung, denn Leute von der Wiener Bestattung hatten bereits begonnen, den Sarg herauszutransportieren. Für die Patres ein eklatanter Fall von Störung der Totenruhe. Doch ein Versuch, den Transfer zu verhindern, hätte sicherlich keine Chance gehabt. Also sahen sie zu, wie der Sarg auf den Prunkwagen der Wiener Leichenbestattung geladen wurde. Die Gestapo wollte auch das Herz des »Aiglon«, das in der Herzgruft der Habsburger in der Augustinerkirche verwahrt wurde. Doch diese Aktion scheiterte daran, dass die Augustiner genauso wenig wie die Kapuziner auf die Forderung nach Herausgabe vorbereitet waren, und der Altarraum wegen Restaurierungsarbeiten komplett verschalt war. Der Zugang zur Herzgruft war regelrecht zugemauert, und dass es noch einen anderen Abgang gab, blieb ungesagt. Daher musste das Herz des Napoleoniden in seinem Behältnis an Ort und Stelle verbleiben. Erst in den fünfziger Jahren soll dann Otto von Habsburg die Überführung des Herzens angeregt haben, doch die österreichischen Politiker, die davon erfuhren, sagten ein striktes »nein«. Das, woran offenbar niemand gedacht hatte, waren die Eingeweide des Herzogs, denn die lagen wieder wo anders, nämlich in der Krypta des Stephansdoms in einem Kupferbehältnis. Aber wer konnte schon wissen, dass ein Habsburger anlässlich seines Begräbnisses dreigeteilt wurde. Die Entnahme des Sarges erfolgte am 13. Dezember 1940. Er wurde zum Westbahnhof gebracht. Das geschah zwar nicht regelrecht heimlich, aber ohne Aufhebens und sogar mit bescheidenen militärischen Ehren. Der Sarg wurde von Hauptmann Theodor Hoffmann-Ostenhof begleitet. Es wurde auch fotografiert. Dann fuhr der Zug mit dem Sonderwagen, in dem der Sarg des »Aiglon« transportiert wurde, nach Paris. Dort, freilich, lief alles ein wenig anders als gedacht. Marschall Pétain hatte zunächst sehr wohl an der Zeremonie teilnehmen wollen, aber die Deutschen hatten es ihm nicht leicht gemacht. Als er schon zur Ankunft
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des Sarges abreisen wollte, wurde ihm mitgeteilt, dass die deutsche Botschaft darauf gedrungen habe, Pétain dürfe keinesfalls eine deutsche Ehrenformation abschreiten. Allerdings würde dann die Beisetzung des Herzogs und die Zeremonie innerhalb des Invalidendoms als ein rein französischer Akt ablaufen. Der Marschall lehnte daraufhin eine persönliche Teilnahme ab. Später wurde behauptet, er hätte sich an der sehr wohl implizit antienglischen Demonstration gestoßen. Andere meinten, er wollte nicht den Dankbaren mimen. Hitler kam allerdings später zu Ohren, der Marschall hätte die Befürchtung geäußert, von den Deutschen gelegentlich der Zeremonie im Invalidendom »gekidnappt« zu werden. Der »Führer« soll über das Gerücht hell empört gewesen sein : »Es ist eine Gemeinheit, mir so etwas zuzutrauen, wo ich es mit dieser Geste gegenüber Frankreich so ehrlich gemeint habe«, sagte er zwei Wochen später. Dabei wurde ihm die vielleicht bitterste Reaktion auf die leicht makabre Geschichte ohnedies nicht erzählt. Ein Minister der Vichyregierung, M. Gavroche, hatte sich, als er von der Absicht des Leichentransports gehört hatte, mit der Formulierung zu Wort gemeldet : »Wir brauchen Kohle und sie geben uns Asche !« Pétain wollte die Sache dem Vizepräsidenten Pierre Laval überlassen. Der wäre denn auch gerne gekommen, denn er war vielleicht am eifrigsten darauf bedacht, eine deutschfreundliche Haltung an den Tag zu legen. Doch dann gab es eine Regierungskrise, Pétain setzte Laval ab und ließ ihn sogar verhaften. Also wurde schließlich Admiral François Darlan geschickt. Jetzt hieß es erst recht, am Protokoll zu feilen. Sollte Darlan vom deutschen Militärbefehlshaber in Frankreich, General Otto von Stülpnagel, vor der Mitte einer Ehrenkompanie empfangen werden ? Wer sollte – wenn überhaupt – deutscherseits an der Zeremonie im Invalidendom teilnehmen ? Sollte der Sarg an der Seite Napoleons I., zu dessen Füßen oder anderswo aufgestellt, und wo sollte der »Aiglon« definitiv begraben werden ? Schließlich fand man – wie in vergleichbaren Fällen – Lösungen, die den deutschen Forderungen, den französischen Wünschen und vielleicht auch dem Toten irgendwie gerecht wurden. Um die Mittagszeit des 15. Dezember 1940 waren die Bonapartisten in ihrem Element. Nichts, keine Geste, kein Trommelwirbel, kein Wort sollte dem Zufall überlassen werden. Der »Aiglon«, der »König von Rom«, »Napoleon II.« (der Titel, der am wenigsten passte), sollte in den Invalidendom gebracht und mit allen protokollarischen Ehren zur letzten Ruhe gebettet werden. Damit sollte auch das österreichische Intermezzo vergessen gemacht und die Erinnerung an jemanden, der in Österreich nur Herzog von Reichstadt genannt worden war, getilgt werden. Für die Franzosen war er ja nie der Herzog eines Dorfes in Böhmen gewesen. Die Beisetzung konnte stattfinden. Nachdem einmal alles so erledigt war, dachte offenbar auch nach dem Krieg und dem Ende sowohl der Vichyregierung wie des Nationalsozialismus niemand mehr daran, die Rückgabe des Herzogs von Reichstadt zu betreiben, zumindest aber einige nicht unwesentliche Fragen zu stellen : Haben die Franzosen 1940 den Herzog überhaupt gewollt,
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oder wurde er ihnen lediglich von Hitler aufgenötigt ? War er ihnen nicht eher gleichgültig und wurde schließlich mehr zu einer ergänzenden Touristenattraktion als zu einem wirklichen Namen ? Warum interessierte sich eigentlich niemand für die Gebeine jenes französischen Karls X., des letzten Bourbonenkönigs, der 1830 zur Abdankung gezwungen wurde und schließlich mit seiner Familie in Österreich Asyl fand ? Er ist in jenem Teil von Görz begraben, der heute Nova Gorica heißt, in Slowenien liegt, aber zumindest theoretisch im Verlauf des Zweiten Weltkriegs ebenso »verfügbar« gewesen wäre wie der Sohn Napoleons. Wie ist das eigentlich, wenn ein Regime, das gemeinhin als Unrechtsregime bezeichnet wird, Leichenraub begeht, indem man die Kapuziner in Wien mehr oder weniger erpresst und sie vor die Alternative stellt : Herausgabe des Sarges oder Schließung des Ordenshauses ? Wie steht es eigentlich um die Rechtmäßigkeit des Vichyregimes, dessen Mitglieder später geächtet und teilweise zum Tod verurteilt wurden ? War im Fall des Herzogs von Reichstadt die Kollaboration rechtens ? Sieht sich die Fünfte Französische Republik als Rechtsnachfolger von Pétain & Co.? Und ganz einfach gefragt : Ist der Herzog von Reichstadt ein Restitutionsfall ? Am Anfang stand ein Anhang Die Geschichte ist eigentlich schnell erzählt. Da trafen sich im Herbst 1943 in Moskau einige wichtige Männer – Frauen spielten dabei keine Rolle. Das Treffen war schon Anfang August angeregt worden, und es war auch zunächst nicht an Moskau gedacht gewesen. Doch der, der im internen Verkehr der »Westler« gerne als »Uncle Joe« bezeichnet wurde, der Vorsitzende des Rates der Volkskommissare, Josef W. Stalin, hatte auf die Frage, ob man sich nicht auf höchster politischer Ebene irgendwo außerhalb der Sowjetunion treffen könnte, rasch geantwortet, dass er ein Treffen zwar für eine nützliche Sache halten würde, doch sei er zurzeit in Moskau unabkömmlich. Das mochte zwar seine Richtigkeit haben, doch die Begründung war bestenfalls die halbe Wahrheit. Wahr war vielmehr, dass der Herr Vorsitzende eine panische Angst vor Flügen hatte und nicht einmal gerne mit der Bahn reiste. Seine Washingtoner und Londoner Kollegen zeigten ein Einsehen und wollten nur ihre wichtigsten Berater, vor allem die Außenminister schicken. Man würde sich halt ein andermal bei einem Gipfeltreffen sagen, was zu sagen war. Um aber auch »Uncle Joe« ein wenig zum Nachgeben zu bewegen, wurde nochmals vorgeschlagen, dass sich vielleicht nur die Minister in London, Casablanca oder Tunis treffen sollten. Der Herr Vorsitzende beharrte jedoch auf Moskau. Also gab man ein weites Mal nach. Worüber geredet werden sollte, lag aber gewissermaßen auf der Hand. Es ging darum, das zur Anwendung zu bringen, was ein Nachfolger des Washingtoner Vertreters bei diesem dann als Außenministerkonferenz bezeichneten Treffen als »Umsetzung von Macht in
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Politik« bezeichnete. Strategie eben. [H. Kissinger]. Wie würde man seine jeweiligen Interessen in Europa und Asien durchsetzen können, wie sollten Deutschland, Rumänien und Ungarn nach dem Krieg behandelt werden, konnte man die Türkei dazu überreden, in den Krieg auf Seite der Alliierten einzutreten, und vieles mehr. Nicht zuletzt ging es darum, Deutschland die Kriegfähigkeit dauerhaft zu nehmen und es womöglich zu zerschlagen. Alle hatten sich gewissenhaft auf die Konferenz vorbereitet, es waren Noten getauscht, Absichten zu erkunden gesucht und auch manches aus der Schublade geholt worden, das dort schon seit Monaten, wenn nicht Jahren ruhte. Im Gästehaus des Volkskommissariats für auswärtige Angelegenheiten in Moskau wurde es dann auf den Tisch gelegt. Eines der Papiere, das »Declaration on Austria« überschrieben war, hatte eine besonders weit zurückreichende Geschichte, mit der auch vieles vergessen gemacht werden sollte, das zunächst und vor allem im März 1938 Geltung gehabt hatte. Damals hatte der britische Unterstaatssekretär Sir Alexander Cadogan, gemeint »Thanks goodness, Austria is out of the way«. Ein Problem weniger, wie er meinte. Andere waren weniger euphorisch gewesen und sahen im Vorgehen Hitlers ein Menetekel, so auch der Herr Vorsitzende des Rats der Volkskommissare. Doch die Allermeisten hatten die Auslöschung Österreichs de facto und de jure anerkannt. Was als »Anschluss« (engl.: annexation) bezeichnet wurde, verhinderte freilich nicht, dass sich das Vereinigte Königreich dann im Krieg gegen Österreich sah und den Kriegszustand schließlich bis Ende 1947( !) aufrechterhalten sollte. Es waren aber nicht zuletzt die Briten, die ihren eigenen Fehler gut machen wollten. So meinte schon im Oktober 1940 Robert Vansittart, damals Berater des Londoner Foreign Office, dass Großbritannien jeden Grund hätte, Österreich wiederherzustellen. Man widersprach ihm mit Vehemenz : Die Zeit sei vorbei, in der man kleine, unabhängige Staaten schafft, die wirtschaftlich nicht lebens- und überlebensfähig wären. Und im Übrigen sei die Sache schon deshalb obsolet, da Österreich fest in Nazi-Hand wäre. 70 % der Bevölkerung sind Nazis, hieß es. Zehn Monate später, im August 1941, lud die Frage nach der Zukunft eines historischen Österreich zu neuen Gedankenspielen ein. Mr. R.G.D. Laffan vom Foreign Research and Press Service, einem der zahllosen Think Tanks der britischen Regierung, listete auf, was mit Österreich nach dem Krieg sein könnte : Man könne es beim Anschluss an Deutschland belassen, ihm eine neue Unabhängigkeit geben, oder es als Teil einer neuen Donauföderation zu definieren suchen. Dabei stand die Einbeziehung in einen polnisch-tschechischen Block zur Debatte, eventuell auch vermehrt durch Ungarn und Jugoslawien. Der Vollständigkeit halber wurde dann Wochen später auch noch die Schaffung eines italienisch-ungarischen Blocks überlegt, was auf ein revival der Staaten der sogenannten Römerprotokolle hinausgelaufen wäre. Und als vierte Möglichkeit wurde noch die Aufteilung diskutiert, wobei der Westen zu Deutschland
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bzw. der Schweiz kommen und der Osten dann einer Donaukonföderation zugeschlagen werden sollte. Angesichts der Kriegslage alles miteinander eine Gleichung mit vielen Unbekannten. Es wurde weitergeschrieben und diskutiert, wobei vor allem die Lebensfähigkeit Österreichs zur Debatte stand. Doch da hieß es in London kurz angebunden : Die Schweiz sei kleiner als Österreich und besonders stark von Importen abhängig. Nichtsdestoweniger würde die Schweiz den höchsten Wohlstand in Europa aufweisen. Warum sollte das nicht auch Österreich schaffen ? Immer vorausgesetzt, es bestünde der Wille zur Rekonstruktion des Landes. Mit Fortdauer des Kriegs und auch bedingt durch Sympathien für die österreichische Emigration (nicht so sehr für Otto von Habsburg) festigte sich bei den Alliierten in West und Ost die Meinung, man sollte Österreich wiederherstellen. Jetzt kam ein weiterer Brite ins Spiel, Geoffrey Harrison, der im Februar 1942 damit begann, die Österreichfrage in immer neuen Denkschriften zu erörtern. Seine wichtigste Notiz vom November 1942 wurde aber erst im März 1943 im Foreign Office eingehender gewürdigt. Da hatte Harrison aber schon Konkurrenz bekommen, denn nun meldeten sich auch die Vertreter der Sektion Psychologische Kriegführung nachdrücklich zu Wort und meinten, jetzt, nach Stalingrad und angesichts einer sich für die Nazis zuspitzenden Kriegslage sei Österreich reif für einen Aufstand. Der sollte geschürt werden. Im Foreign Office blieb man britisch gelassen. Harrison, der mittlerweile zum First Secretary des Ministeriums aufgestiegen war, konnte mit seiner Ansicht überzeugen, dass man die Österreichfrage unter einem positiven, zukunftsträchtigen Aspekt sehen müsse und nicht nur an irgendwelchen Formulierungen basteln sollte, die als Aufruf zum Widerstand verstanden werden konnten und versteckte Drohungen enthielten. Harrison fasste Denkschriften, Analysen und alle anderen Papiere zusammen, und zwischen März und Mai 1943 wurden die zunächst disparaten Gedanken in eine Punktation gebracht, in die auch die Meinung des britischen Premiers, Winston Churchill, einfloss, wonach es doch das Beste wäre, eine Art Donaukonföderation zu schaffen. Ob der britische Premier dabei die weiland Habsburgermonarchie im Sinn hatte oder Mitteleuropa einfach neu zu denken suchte, war dabei nicht klar. Harrison hielt aber zunächst einmal fest, dass es gelte, in Österreich einen Willen zum Widerstand gegen das deutsche Regime zu wecken. Der beste Weg dazu wäre wohl der, Österreich seine Unabhängigkeit und nach dem Krieg eine bessere Behandlung als Deutschland in Aussicht zu stellen. Es ginge also nicht an, Österreich lediglich zu maßregeln. Ganz im Gegenteil müssten die im Krieg vereinten Nationen darauf verzichten, Österreich »für seine Missetaten in der Vergangenheit bestrafen zu wollen.« Vielmehr sollten ihm die gegen Deutschland Verbündeten wirtschaftliche und politische Hilfe in Aussicht stellen. Und schließlich wäre in Erwägung zu ziehen, wie die Stabilität Österreichs durch eine Assoziation mit anderen Staaten dauerhaft gewährleistet werden könnte.
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Das waren aber immer noch Überlegungen. Harrison dachte weiter. Und schließlich legte er seinem Chef, dem Secretary of State for Foreign Affairs Anthony Eden, am 22. Juli den Entwurf einer Österreicherklärung vor, in der der Aspekt des Widerstands nicht vorangestellt, sondern nachgereiht wurde. Damals wusste man noch nicht, dass dieses Papier einmal zum Gegenstand von Beratungen in Moskau werden würde. Doch es las sich schon recht gut, was da im Foreign Office formuliert worden war : Österreich wäre das erste freie Land gewesen, das einer typischen Angriffshandlung des nationalsozialistischen Deutschland zum Opfer gefallen war. Die Regierungen des Vereinigten Königreichs, der Vereinigten Staaten von Amerika und der Sowjet union würden sich durch keine Veränderung gebunden sehen, die es in Österreich seit 1938 gegeben habe und hätten als gemeinsames Ziel die Befreiung Österreichs von der deutschen Herrschaft. Die künftige Behandlung Österreichs, das an der Seite Hitler-Deutschlands gegen die Alliierten Krieg führte, würde freilich davon abhängig zu machen sein, welche Haltung das österreichische Volk noch während des Kriegs an den Tag lege. Dafür hätte ebendieses Volk eine Verantwortung, der es nicht entgehen könne. Der Anschluss vom 15. März 1938 wurde für null und nichtig erklärt. Damit sollte nicht zuletzt die britische Politik einer Revision unterzogen werden. Dass man sich dabei im Datum irrte und statt dem 13. März den 15. nannte, war ein Lapsus. Es gab ja auch eine inflationäre Häufung von Daten. Österreich sollte jedenfalls als unabhängiger Staat wiedererstehen und nie mehr als Ausgangspunkt für eine deutsche Aggression in Mittel- und Südosteuropa fungieren können. Um dem Land dauerhaft Stabilität zu geben, sollte es die Möglichkeit erhalten, sich mit Nachbarstaaten (die nicht genannt wurden), die aber ähnliche Probleme wie Österreich haben würden, zusammenzuschließen. Der Außenminister Seiner britischen Majestät veranlasste, dass das Papier relativ breit gestreut in Begutachtung ging. Zunächst kam das eigene Ministerium dran. Die Meinungen waren geteilt. Vor allem wurde die gar nicht so versteckte Drohung kritisiert, dass man die künftige Behandlung eines neuen Österreich davon abhängig machen wollte, dass es sich im alliierten Sinn »gut aufführte«. Was, wenn das nicht der Fall wäre ? Würde der Anschluss dann fortbestehen ? Im Central Department des Foreign Office meinte man dazu, dass ein wenig Zweideutigkeit ganz gut täte. Man sollte es daher bei der bestehenden Formulierung belassen. Als nächstes kam die Nordamerika-Abteilung dran, die meinte, in die Österreicherklärung sollte eine Erwähnung der Atlantic-Charta eingebaut werden. Schließlich stieß sich aber auch die Amerika-Abteilung an der Formulierung über die österreichische Verantwortung in Sachen Befreiung. Was sollte es für einen Sinn haben, »das ganze österreichische Volk« zu bedrohen ? Minister Eden ignorierte auch diesen Einwand und wollte es schließlich den Amerikanern überlassen, ob sie das mit der Atlantic-Charta drin haben wollten oder nicht.
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Der Meinungsbildungsprozess war noch lange nicht abgeschlossen, Auch die vier britischen Dominions sollten ihre Meinung kundtun. Die Stellungnahme des südafrikanischen Präsidenten, Ian Smuts, war dabei kurz zusammengefasst : Unsinn. Man schafft keine Kleinstaaten, die noch dazu nicht lebensfähig sind. Doch in der Londoner Zen trale wollte man auch das nicht mehr groß diskutieren, denn mittlerweile war der ungefähre Zeitpunkt eines Außenministertreffens schon klar geworden, und wollte man die Österreicherklärung noch auf die Agenda bringen, tat Eile Not. Vor allem wollte man erfahren, was die Sowjets zu der Erklärung zu sagen hatten. Die Reaktion aus Moskau, dem der Entwurf einer gemeinsamen Österreicherklärung am 24. August zuging, war verhalten. Der britische Botschafter, Sir Archibald Kerr, informierte aber schon bald, dass sich die Russen an der Föderationsidee stießen. Das geschah drei Wochen nachdem man sich über ein Treffen auf hoher Ebene verständigt hatte und sich auch die Sowjets mit Hochdruck daran machten, ihre eigenen Ziele zu formulieren. Zu diesem Zweck wurde der sowjetische Botschafter in den USA und frühere sowjetische Außenminister, Maxim Litvinov, nach Moskau berufen, zum Stellvertretenden Außenkommissar ernannt und zum Vorsitzenden einer Kommission gemacht, die nicht nur eine Tagesordnung auszuarbeiten hatte, sondern auch gleich die Linien festlegte, entlang derer die Kreml Herren argumentieren wollten. Als es dann so weit war und sich am 18. Oktober eine 31 köpfige amerikanische Delegation, der kranke Außenminister Cordell Hull an der Spitze, mit einer 19 köpfigen britischen Delegation unter Anthony Eden und einer vergleichsweise bescheidenen sowjetischen Gruppe trafen, da waren die Claims gewissermaßen abgesteckt. Und auch Österreich war ein Thema. Die Sowjets hatten sich im Rahmen der Litvinov Kommission auf einige Grundsätze festgelegt, die insofern ans Eingemachte gingen, als der springende Punkt nicht die Wiederherstellung des Landes war – zu der hatten sich die Sowjets schon früher zustimmend geäußert – sondern die Frage einer Staatenunion. Das rührte nämlich an ein für die Sowjets wesentliches Thema : Sie wollten sich nach dem erhofften Sieg über Deutschland einen Gürtel von Staaten vorlegen, in dem Moskau das Sagen hatte. Österreich gehörte nicht dazu. Also sollte es auch nicht mit Tschechen, Ungarn oder irgendwelchen Balkanländern kombiniert werden. Man wollte es aber auch nicht einfach dem »Westen« überlassen. Ein machtpolitisches Neutrum also. Was die Briten da entworfen hatten, sei zwar grundsätzlich akzeptabel, doch die Sache mit dem Staatenbund sollte möglichst unverbindlich formuliert werden. Die Litvinov-Kommission regte allerdings an, dass sich Österreich auf Kosten zweier Nachbarn vergrößern sollte. Es gäbe einen »begründeten Anspruch … auf Zuteilung eines kleinen Teils deutschen Staatsgebietes, nämlich auf die Gebiete Passau und Berchtesgaden. Und es wäre auch möglich, Österreich das von Italien weggenommene Südtirol zurückzugeben.« Keinen Einwand hatten die Sowjets gegen das bisschen Drohung, das mittlerweile an das Ende der Erklärung gerutscht war. Das hatten die Briten zweifellos
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sehr gut formuliert. Die »Chefs« mussten sich denn auch im Rahmen der Zusammenkünfte der Außenminister mit der Österreicherklärung nicht mehr groß beschäftigen. Die paar unterschiedlichen Auffassungen sollten in einem Ausschuss geglättet werden. Das geschah denn auch am 25. Oktober. Die Amerikaner, die in Anlehnung an den britischen Entwurf einen eigenen Text vorgelegt hatten, zeigten kein besonderes Interesse an einer Erwähnung der Atlantic-Charta. Die Sowjets verlangten, dass es nicht heißen sollte, das österreichische Volk würde nach dem Krieg in die Pflicht genommen werden, wie das die Briten formuliert hatten, sondern jenes Österreich als Land, das es erst wieder zu errichten galt. Ob damit auch die Absicht verbunden war, von Österreich Reparationen zu fordern, ließ sich nicht feststellen, da sich die Sowjets dazu nicht äußerten. Amerikanern und Briten gefiel die Änderung zwar nicht besonders, doch wegen solcher Lappalien wollte man doch nicht das Dokument an sich gefährden. Dem sowjetischen Wunsch wurde entsprochen. Ebenso der Forderung, die Passage über die Möglichkeit einer Staatenunion aufzuweichen und recht unbestimmt zu formulieren. Unbeanstandet blieb die Erwähnung des 15. März als Datum für den »Anschluss« und die Passage, wonach das eigentlich nicht mehr existente Österreich an der Seite Hitler Deutschlands Krieg geführt habe. Widersinn hin oder her : Der Annex VI des Protokolls der Moskauer Außenministerkonferenz war geboren. Und niemand machte sich die Mühe, dieses Anhängsel eines langen Papiers eigens zu unterschreiben. Es war der 30. Oktober 1943. Tags darauf verabschiedeten sich die Gäste von den Gastgebern im Palais des sowjetischen Außenministeriums, nicht ohne sich vorher darauf verständigt zu haben, welche Ergebnisse der Zusammenkunft am 1. November veröffentlicht werden sollten und was streng geheim zu bleiben hatte. Die Österreicherklärung war für die Öffentlichkeit bestimmt. Sie war kein Geheimpapier und wurde denn auch schon am 3. November in der Wiener Ausgabe des NS-Zentralorgans »Völkischer Beobachter« ausgiebig gewürdigt. Linientreu, versteht sich ! Da war von den »Halsbabschneidern« die Rede, die in Moskau ausgerechnet jenen nicht lebensfähigen Staat wiederherstellen wollten, den das nationalsozialistische Deutschland erlöst hatte. »Eine Frechheit – oder besser Dummheit.« Dem »Gesindel« wäre es wohl auch nicht in den Sinn gekommen, dass man gegen den Willen der Ostmärker handelte. Doch die würden mit den »ruhmbedeckten ostmärkischen Divisionen« auf diese »Unverschämtheit« schon die richtige Antwort geben und ihren Teil zum Endsieg beitragen. Die Moskauer Deklaration wurde solcherart sehr rasch publik. Und wer vielleicht nicht den »Völkischen Beobachter« bezog, konnte die Absicht der Alliierten zur Wiederherstellung Österreichs nach und nach auf Hunderttausenden Flugblättern lesen. Das mit der Wiederherstellung und der besseren Behandlung war schön. Das mit dem Beitrag zur Befreiung war freilich etwas, das gründlich überlegt werden musste. Notfalls sollten halt die anderen diesen Beitrag leisten, die mehr Möglichkeiten dazu hat-
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ten. So begann man also schon am Tag danach mit der Interpretation, dessen, was da so absichtlich zweideutig formuliert worden war. Tatsächlich waren die Alliierten noch weit davon entfernt, in der Moskauer Deklaration eine Art Magna Charta des neuen Österreich zu sehen. Bis über das Kriegsende hinaus galt : Kommt Zeit, kommt Rat. Das sagte sich offenbar auch Karl Renner, der im April 1945 den Text der Moskauer Deklaration noch immer nicht im Wortlaut kennen wollte. Renner wusste wohl auch zum wenigsten über die Entstehung der Deklaration Bescheid und erwähnte in dem Zusammenhang dann an erster Stelle die Konferenz von Jalta. Doch natürlich waren ihm die handelnden Personen bekannt, der Vorsitzende des Rats der Volkskommissare, Josef Stalin, der Gastgeber der Konferenz, Wjatscheslaw Molotow, der Brite Anthony Eden und der Amerikaner Cordell Hull. Dass das Französische Komitee der Nationalen Befreiung der Deklaration am 16. November 1943 beigetreten ist, mochte ihm entgangen sein. Und dass sich die Deklaration regelrecht instrumentalisieren lassen würde, um den Nachweis zu führen, dass es ja die Alliierten waren, die Österreich als erstes Opfer bezeichneten, war anfangs auch noch nicht so richtig klar. Renner tat schließlich alles, um die Moskauer Deklaration aus seinem eigenen Vokabular zu streichen. 1945 musste er freilich widerwillig zur Kenntnis nehmen, dass das nicht ging. Tyrannenmord : Der 20. Juli 1944 und Österreich Jahre und Jahrzehnte wurde über den Nationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg geschrieben, Bibliotheken haben sich gefüllt, unvorstellbare Zeiteinheiten sind mit verbalen Darlegungen des Einstigen verbraucht worden, und dennoch hat man immer wieder das Gefühl, erst am Anfang zu stehen und bestenfalls eine Annäherung zu versuchen. Jeder, der diese Zeit erlebt hat, trägt ein Stück Erinnerung und sicher auch ein Stück Wahrheit mit sich herum. Diejenigen, die handelnde Personen gewesen sind, werden von Tag zu Tag weniger, und irgendwann einmal wird mit dem letzten Zeitzeugen auch die letzte persönliche Erinnerung schwinden. Beim 20. Juli 1944 ist es schon fast so weit. Die meisten Akteure sind umgebracht worden. Es gibt nur mehr wenige, die als Zeitzeugen anzusprechen wären. Die Historisierung dieses Tages und seines zeitlichen Umfelds ist weit fortgeschritten, und es war durchaus nicht nur der zeitliche Abstand zu den Geschehnissen, der eine sich ständig wandelnde Sicht der Dinge erbracht hat, vielmehr war es auch die Notwendigkeit, gerade dieses Ereignis immer wieder neu zu deuten. Lange hatte es auch den Anschein, als ob sich dieser Tag und der versuchte Tyrannenmord der musealen Darstellung entziehen würde. Das gesprochene und das geschriebene Wort, das Bild oder auch das Szenische, wie es auf der Bühne, mit den
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Mitteln des Films und des Fernsehens möglich ist, schienen insgesamt weit geeigneter, etwas deutlich zu machen, von dem sich nur Weniges erhalten hat, das ausstellungsmäßig eine Rolle spielen kann. Fast hat es den Anschein, als ob die von Hitler und Teilen der nationalsozialistischen Führung aber auch der Wehrmachtführung gewollte damnatio memoriae so erfolgreich zur Anwendung gebracht worden wäre, dass wesentliche Teile der Erinnerung an eine Gruppe von Menschen, die vorher und nachher und gerade am 20. Juli 1944 eine Rolle gespielt haben, nur mehr in Andeutungen sichtbar gemacht werden können. Doch es scheint eben nur so ! Auch und gerade diese Menschen haben ihre Spuren hinterlassen, die es aufzulesen und zu sammeln gilt, und auch wenn dabei nicht die großen Dinge vorherrschen, so sind es gerade die mitunter sehr wenigen, sehr persönlichen und manchmal fast hilflos wirkenden Dinge, die uns die Rekonstruktion eines Einzelnen, einer Gruppe, einer Idee und einer Zeit ermöglichen. Selbstverständlich haben sich im Laufe der sechs Jahrzehnte, die seit dem Attentat auf Adolf Hitler vergangen sind, die Parameter verschoben. Anstelle der unmittelbar Betroffenen sind die Nachlebenden dabei, die Geschehnisse für sich begreiflich werden zu lassen, und es ist wohl nicht nur ein Eindruck, sondern belegbar, dass es eine andere Art von Betroffenheit gibt, und dass sie an Intensität durchaus nicht ab-, sondern zunimmt. Von der Ausstrahlung eines Dokumentarspiels über Claus Schenk Graf von Stauffenberg und das Attentat vom 20. Juli 1944 im Februar 2004 weiß man, dass rund zehn Millionen Menschen den Film gesehen und das Geschehen verfolgt haben. In Österreich waren es rund eine Million Menschen, und es wird wohl keinen gegeben haben, der davon unberührt geblieben ist. Doch letztlich eignet sich auch ein derartiges Dokumentarspiel nur dazu, mit Masse schon längst gekannte Fakten und Zusammenhänge mit ebenso schon längst gestellten Fragen zu koppeln. Bewusstmachen war und ist angesagt, doch es mag wohl sein, dass weder einem deutschen noch einem österreichischen Seherpublikum die ganze Dimension der Verschwörung bewusst geworden ist. Der Verweis darauf, dass auch gebürtige Österreicher dabei eine Rolle spielten und Wien einer der besonderen Schauplätze war, beschränkte sich auf den knappen Satz : »Auch in Wien läuft alles nach Plan«. Hier wären sicherlich Ergänzungen anzubringen, doch sie hätten unter Umständen auch viele zusätzliche Fragen aufgeworfen, und die Antworten darauf hätten vielleicht die Dramaturgie gestört. Doch fragen wir einmal : Welchen Anteil hatte Österreich am Aufkommen, an der Festigung und schließlich am Sieg des Nationalsozialismus ? Welche Rolle spielte Österreich im Rahmen des Großdeutschen Reichs, und war es vielleicht wirklich jene »kritische Masse«, die dann die Kettenreaktion bis zum Krieg in Gang setzte ? Welche Rolle auch spielten Österreicher im Rahmen der nationalsozialistischen und der Wehrmachtführung ? Was alles wurde von Österreich aus in Gang gesetzt und schlug auf das Land zurück, das zwar in Reichsgaue aufgelöst worden war, aber als historischer Hintergrund und geistige Heimat bestehen blieb ? Welche Pläne zur Überwindung des Nationalsozialismus gab
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es, und welchen Anteil hatten Österreicher an der Vorbereitung und Durchführung nicht nur des einen, sondern einer Reihe von Attentatsversuchen auf Adolf Hitler ? Die Fragen ließen sich fast beliebig fortsetzen ; die Antworten sind nur zum Teil gegeben und werden vielleicht nie mit der gewünschten Vollständigkeit zu geben sein. Doch auch für Österreich wird es immer wieder gelten, Ein- und Zuordnungen zu versuchen, die notwendigerweise in einer Identitätsdebatte münden müssen. Die Rahmenbedingungen für Widerständigkeit, wie sie Peter Steinbach als Kate gorien herausgeschält hat, waren in der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft zeitweilig kaum mehr gegeben.42 Mit zunehmender Dauer der Herrschaft, vor allem aber angesichts eines nicht enden wollenden Kriegs, verlagerte sich die Bereitschaft, gegen das Regime aufzutreten und ein »anderes Deutschland« sichtbar werden zu lassen, immer stärker auf das Militär. Nicht aber, weil sich vielleicht innerhalb der Deutschen Wehrmacht besonders viele Gegner gefunden hätten ; wohl aber deshalb, weil zum einen die Gewissheit wuchs, dass nur mehr die Gewalt und schließlich die Beseitigung Hitlers eine radikale Umkehr bewirken konnten, und zum anderen, da das notwendige Maß an Gewalt am ehesten innerhalb der militärischen Organisation und ihrer Machtmittel zu finden war. Damit wurde jene Wehrmacht, in der man während der späten Dreißigerjahre wohl fallweise Reformorientierung und Kriegsverhinderungsabsicht hatte erkennen können, die aber wie nichts anderes zur Ausweitung der deutschen Herrschaft in Europa beigetragen hatte, zum hauptsächlichen Instrument des Widerstands.43 Doch Widerstand gegen den Nationalsozialismus war, auch wenn man sämtliche Eskalationsstufen des Widerstands mit einrechnet, nichts, was sich als Massenbewegung manifestiert hätte. Es gab viele, die zu Opfern und Leidtragenden des Regimes wurden ; es gab viele, die das Ende des Krieges und des NS-Regimes herbeisehnten und auch solche, die diese Loslösung bis zur kompletten Absage an das Regime vorantrieben. Doch es gab nur relativ wenige, die sich zum Handeln bereitfanden. Und auch für Österreich war festzustellen, dass angesichts des Umstandes, dass sich gerade die politischen Kreise mit ganz wenigen Ausnahmen sehr »bedeckt« hielten, die Stunde der Militärs gekommen war. Bemerkenswert an der österreichischen Komponente des militärischen Widerstands gegen Hitler und den Nationalsozialismus war, dass sie sich zunächst einmal als Teil einer deutschen Verschwörung präsentierte, auch wenn sie ihre durchaus österreichischen Eigenheiten aufwies. Doch auch im Selbstverständnis der hauptsächlichen Akteure, zu denen vor allem Oberstleutnant im Generalstab (i. G.) Robert Bernardis und Hauptmann Carl Szokoll gehörten, war vor dem 20. Juli 1944 kein besonderer Österreichbezug gegeben.44 Wohl aber spielten ethische Fragen und die im Krieg gemachten Erfahrungen eine besondere Rolle. Die meisten Berufssoldaten lebten, wie es der spätere Leiter des militärischen Widerstands in Österreich, Carl Szokoll, so einprägsam formulierte, »in einer Zeit, wo
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die Begriffe Staat und Heer, Fahne und Soldateneid eine große Geltung hatten. Auch hatten wir, rein rechtlich, keine Handhabe, wie in anderen Ländern, uns nicht mehr gebunden zu betrachten, sobald die Staatsführung die Gesetze der Demokratie verlässt. Ich kann von mir selbst sagen, wie schwer der Kampf war, den Soldateneid zu brechen. Wie viele Tausende und Abertausende unserer Soldaten sind hinausgezogen mit schweren und schwersten Herzen und sind gefallen, für eine Idee, die sie in ihrem Innersten voll ablehnten. Hierin aber liegt die Tragik unserer Soldaten, ja unseres ganzen Volkes : Es ist in seinen Idealen, die ihm von Jahrhunderten anerzogen worden sind, missbraucht worden.«45 Die Zahl jener, die sich durch Desertion dem militärischen Zwang zu entziehen suchten, wird sich wohl nie wirklich feststellen lassen. Keinesfalls aber kam es im Verlauf des Zweiten Weltkriegs zu Massendesertionen. Viel auffallender und auch hinsichtlich der Häufigkeit wesentlich präziser zu benennen sind jene, die sich aus Glaubens- oder Gewissensgründen dem Dienst in der Deutschen Wehrmacht widersetzten und ihren Entschluss zur Eidverweigerung größtenteils mit ihrer Hinrichtung zu bezahlen hatten. Das war nicht nur bei dem mittlerweile sehr ausführlich gewürdigten Oberösterreicher Franz Jägerstätter der Fall. Die Gruppe der »Zeugen Jehovas« und der »Bibelforscher« springt eigentlich noch viel mehr ins Auge, da sie buchstäblich ausgerottet wurde.46 Doch diese Art, die Gefolgschaft zu verweigern und die Wehrmacht zu schwächen, blieb letztlich ohne Auswirkung auf die Gesamtstärke der Deutschen Wehrmacht. Der Herrschaftsanspruch der NS-Führung ließ sich erst in dem Augenblick gefährden, als eine Gruppe von Menschen die Furcht vor dem Regime und die Angst, die jeder Mensch angesichts der fast greifbaren Todesgefahr empfindet, überwand und nicht nur eine Alternative zum NS-Staat dachte, sondern auch die gewaltsame Beseitigung des obersten Repräsentanten dieser Herrschaft, Adolf Hitler, plante.47 Aber trotz einer gewissen Breite des Widerstands und einer tatsächlich gegebenen »Varianz widerständigen Verhaltens«48 war es letztlich Elitenwiderstand, der zum Tragen kam. Der gelegentlich verwendete Begriff »Militäropposition« ist daher insofern missverständlich, als es nicht um die Vorbereitung eines Militärputsches oder die »Dominanz von Offizieren in der angestrebten Nachkriegsordnung« ging. Vom »normalen« Attentat zu »Walküre« Der Aufstand gegen den Nationalsozialismus und der Versuch zur Ermordung Hitlers fallen in die vierte Phase einer Entwicklung, die in Deutschland bereits vor 1938 eingesetzt hatte. Zunächst war versucht worden, die Entfesselung des Krieges unmöglich zu machen oder zumindest zu behindern. Danach war eine resignative Phase von 1940
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bis 1942 gefolgt, und schließlich eine Periode, in der die personelle Struktur der Oppositionsgruppen eine entscheidende Veränderung erfuhr.49 1943 fanden bereits bestehende ältere Oppositionskreise um den ehemaligen Leipziger Oberbürgermeister Carl Goerdeler und den ebenso ehemaligen Chef des Generalstabes des deutschen Heeres, Generaloberst Ludwig Beck, mit jüngeren und dynamischen Gruppen zusammen. Sie stimmten darin überein, dass es im Falle eines Umsturzes kein Zurück zu früheren Verhältnissen mehr geben dürfe, sondern dass eine »grundlegende Erneuerung des politischen, sozialen, ökonomischen und geistigen Lebens notwendig sei.«50 In dem Augenblick, in dem sich diese neuformierte Opposition darüber schlüssig war, dass nur eine gewaltsame Aktion den Sturz des Regimes herbeiführen könnte, und dass nur das Militär in der Lage wäre, den Einfluss der NSDAP und ihrer paramilitärischen Formationen auszuschalten, war klar, dass es vor allem darauf ankam, genügend Leute in den hohen Stabsfunktionen der Wehrmacht zu haben, da ansonsten nicht die geringste Chance auf Erfolg bestand. Es musste daher das Ziel der oppositionellen Kräfte sein, möglichst bei allen Heeresgruppen an der Front, in den rückwärtigen Frontbereichen und in allen Wehrkreisen des Hinterlandes genügend Leute zu haben, die für eine schlagartige Machtübernahme geeignet waren. Damit war eine Verbreiterung der organisatorischen Basis im Heer und eine Radikalisierung verbunden. Außer der schon relativ großen Gruppe von Oppositionskräften in Berlin existierten 1943 ähnliche Gruppen in Paris, in Brüssel und bei der Heeresgruppe Mitte, und nach und nach griff die Organisation auf die meisten Wehrkreise über – so auch auf Wien. Dabei erfuhr die Militäropposition ihre endgültige Strukturierung. Insgesamt waren ihr wohl nicht sehr viel mehr als 185 Offiziere zuzuzählen.51 27 von ihnen waren Reserveoffiziere, 83 von ihnen, darunter 17 der 27 Reserveoffiziere, waren adelig ; 39 waren Generale. Dass sie sich zumindest an einigen Plätzen in größerer Zahl zusammenfanden und dadurch überhaupt handlungsfähig wurden, war als Erfolg einer geschickten Personalpolitik zu sehen, für die nicht zuletzt jene wenigen Offiziere verantwortlich waren, die sich im Allgemeinen Heeresamt (AHA) in Berlin, der wichtigsten Dienststelle im Rahmen des »Chefs der Heeresrüstung und Befehlshabers des Ersatzheeres«, zusammengetan hatten. Dort, an der Schaltstelle für den materiellen und personellen Ersatz des deutschen Heeres, wurde auch der Gedanke geboren, sich für den Aufstand der Planungen für innere Unruhen zu bedienen, die unter dem Decknamen »Walküre« ausgearbeitet worden waren. Es waren also nur ganz wenige, von denen sich sagen ließ, dass sie zu den Eingeweihten zählten. Von wesentlich mehr Generalen, Offizieren und Soldaten ließ sich vermuten, dass sie bei einer gelungenen Erhebung sofort auf die Seite der neuen Führung getreten wären, da sie mit dem Nationalsozialismus nichts gemein haben wollten. Doch zwischen ihnen und jenen, die mehr als ahnten, was vorging, bestand kein wirklicher Kontakt. Die wenigen aber waren eher zufällig zusammengekommen. Oberst i. G.
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Graf von Stauffenberg, der im Allgemeinen Heeresamt in Berlin über alle Möglichkeiten dieser Dienststelle verfügte und auch für die Alarmplanung im Falle von inneren Unruhen oder alliierten Luftlandungen zuständig war, suchte sich einige Vertraute. Einer davon war Oberstleutnant i. G. Robert Bernardis, ein gebürtiger Österreicher, der 1942 krankheitshalber sein Frontkommando hatte abgeben müssen. Man kannte sich seit der Schule, von Kursen oder vor allem der Kriegsakademie. Wie andere auch war Bernardis davon ausgegangen, er müsse handeln und es würde zum Wohle seines Landes und seiner Menschen sein : »Du kannst mir glauben«, schrieb er am Tag seiner Hinrichtung an seine Frau, »dass ich dachte nur Gutes zu tun, ich habe nie im Traum daran gedacht, aus irgendwelchen ehrgeizigen oder leichtsinnigen Motiven zu handeln. Dass alles so weit gekommen ist, kann ich nur als einen Akt des Schicksals bezeichnen, das es eben anders nicht gewollt hat.«52 Bernardis wurde der Sachbearbeiter jenes Komplexes, der Vorsorgen gegen innere Unruhen treffen sollte. In Fällen »dringender Gefahr, z. B. zum Schutz bedrohter Grenzen oder zur Bekämpfung von Aufstandsbewegungen in neu zum Reich getretenen Gebieten«, sollten von den Stellvertretenden Generalkommandos einsatzfähige Verbände gebildet werden, die nach dem Eintreffen des Stichworts »Walküre« innerhalb von sechs Stunden verwendungsbereit sein sollten.53 Am 31. Juli 1943 wurde dieser Befehl erweitert und präzisiert. Von da an sollten aus den Ersatz- und Ausbildungseinheiten, Schulen sowie Lehrgängen mit Lehrtruppen Kampfgruppen gebildet werden, die in kürzester Zeit einsatzbereit zu sein hatten. Zusätzlich sollten Verbände des Feldheeres, die sich in Aufstellung, Auffrischung oder Umgliederung befanden, herangezogen und selbständig eingesetzt werden. Der Kreis jener, der in die Vorbereitungen einzubeziehen war, war so klein wie möglich zu halten. Bei Auslösung von »Walküre« sollten die militärischen, verkehrsmäßigen und industriellen Schlüsselstellen innerhalb kürzester Zeit besetzt und geschützt werden.54 Das Stichwort war sicherlich gut gewählt. Als Name aus dem germanischen Sagenschatz und von Richard Wagners »Ring des Nibelungen« war es vollkommen unverdächtig. Hinter »Walküre« konnte sich alles verbergen. Und schließlich verbarg sich dahinter auch eine Art Katastrophenplanung ebenso wie der Plan zur Beseitigung des NS-Regimes. Nachträglich stellte der Bericht des Chefs der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes (SD) der SS, Ernst Kaltenbrunner, fest : »Insgesamt ergibt sich, dass der ›Walküre‹-Plan in seinem von Stauffenberg und der Verschwörerclique gedachten Verwendungszweck raffiniert getarnt war. Bei mündlichen Erörterungen ist zwar immer wieder auf die innenpolitische Zielsetzung hingewiesen worden, doch deckten sich die Verschwörer ständig mit der Behauptung ab, dass bei dem außerordentlich starken Einsatz ausländischer Arbeitskräfte ein Aufstand und Unruhen im Bereich der Möglichkeit lägen.«55
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Hitler hatte auf Vorschlag Stauffenbergs der »Walküre«-Planung ausdrücklich zugestimmt. Die Planungen waren verändert worden, und schließlich lag im Frühjahr 1944 der »Walküre«-Befehl in seiner vierten überarbeiteten Fassung vor. Das Instrumentarium für den Staatsstreich war bereitgelegt. Doch obwohl man sich schon lange darüber einig war, dass der Sturz des Regimes nur durch Gewalt möglich sein würde, reifte erst allmählich der Attentatsplan. Wohl scheinen schon 1941 und 1942 Attentate auf Hitler vorbereitet worden zu sein, und scheiterte im März 1943 der Versuch des Oberleutnants Fabian von Schlabrendorff, Hitler mittels einer in seinem Flugzeug versteckten Bombe zu töten, wegen des Versagens des Zünders nur knapp. Doch erst mit der Bereitschaft einiger Offiziere, sich in eine wesentlich umfassendere Planung einbeziehen zu lassen und bei einem Attentat das eigene Leben zu riskieren, nahm der Staatsstreich Gestalt an. Ab dem Mai 1944 stand fest, dass einer der Hauptverschwörer, Oberst i. G. Claus Schenk Graf von Stauffenberg, ein Attentat bei einer der täglichen Lagebesprechungen im Führerhauptquartier durchführen sollte. Drei Elemente bestimmten den Umsturzplan : 1. das Bombenattentat als Voraussetzung für den Staatsstreich ; 2. die Übernahme der vollziehenden Gewalt durch die Wehrmacht unter Ausnützung der Planungen für einen Ausnahmezustand (»Walküre«) ; 3. eine sofortige Information von Heimat und Heer, mit der versucht werden sollte, die Gründe für den Umsturz und den Mord an Hitler darzulegen und vor allem die Verbrechen des Regimes öffentlich werden zu lassen.56 Der Entschluss der Gruppe um Stauffenberg zu handeln, hatte jedoch noch zusätzliche Voraussetzungen und Konsequenzen : Zum einen hatten nur Angehörige der Wehrmacht eine Chance, so nahe an Hitler heranzukommen, dass er ermordet werden konnte ; zum anderen war mit der Ermordung Hitlers auch ein gerade für Berufsoffiziere und -soldaten schwerwiegendes Problem zu lösen, nämlich die Eidfrage. Da jeder einzelne Angehörige der Wehrmacht nicht nur einen allgemeinen Eid auf das Reich und seine Menschen, sondern einen persönlichen Eid auf den Führer und obersten Befehlshaber Adolf Hitler zu leisten hatte, sollte durch die Ermordung Hitlers die eidmäßige Bindung unterbrochen und damit der Masse der Angehörigen der Deutschen Wehrmacht das Dilemma genommen werden, sich weiterhin durch dieses besondere Gelöbnis gebunden zu sehen. Wie sehr das Problem des Eides jedem einzelnen Verschwörer zu schaffen machte, und welchen ethischen und idealistischen Ansprüchen man gerecht zu werden suchte, ging dann nicht zuletzt aus den Verhören vor dem Volksgerichtshof hervor. Aber auch an anderer Stelle wurde der innere Konflikt deutlich. So meinte Admiral Wilhelm Canaris schon 1940 : »Wie unglücklich wir gewesen sind, werden vielleicht erst in hundert Jahren die Dichter und Weisen begreifen. Siegt
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Hitler, so ist es unser sicheres Ende, aber es ist auch das Ende eines Deutschlands, das wir lieben und das wahrhaft verehrungswürdig ist. Verliert Hitler, so ist es das Ende Deutschlands und unser eigenes Ende, weil wir uns nicht von Hitler befreien konnten und weil die Welt keinen Unterschied machen wird in der Begleichung jener ungeheuren Schuld, die nach Sühne schreit.«57 Über den Zeitpunkt des Attentats war sicherlich lange nachgedacht worden. Dabei spielte aber letztlich zum wenigsten die Situation an den Fronten eine Rolle, denn weder der Zusammenbruch der deutschen Heeresgruppe »Mitte« im Osten, noch die Landung der Alliierten in der Normandie hatten auf die Attentatsplanung unmittelbare Auswirkungen. Aber natürlich war jedem klar, dass es höchste Zeit war, wollte man handeln. Die militärische Situation für das Deutsche Reich war bereits katastrophal, auch wenn das nicht so genannt werden durfte.58 Und angesichts der Tatsache, dass eine Großstadt nach der anderen in Trümmer sank, war es auch blanker Zynismus, wenn der Reichsführer-SS Heinrich Himmler im Februar 1944 den Bürgermeistern und Oberbürgermeistern des Großdeutschen Reichs in Posen nahezubringen suchte, was doch die Luftangriffe Gutes an sich hätten : Die Städte und Gemeinden könnten nach der Zerstörung den Wiederaufbau ohne die Bausünden des 19. und 20. Jahrhunderts beginnen.59 Am 14. Juli verlegte Hitler sein Hauptquartier vom Obersalzberg nach Rastenburg in Ostpreußen in die sogenannte »Wolfschanze«. Am 20. Juli sollte dort die Aufstellung von 15 Sperrdivisionen besprochen werden, die als nichtmotorisierte Sperrverbände die Rote Armee zum Stehen bringen sollten. Deren Aufstellung war Sache des Befehlshabers des Ersatzheeres und Chef der Heeresrüstung, Generaloberst Fromm. Dessen Chef des Stabes aber war Oberst i. G. Graf von Stauffenberg. Er wurde zum Vortrag befohlen, und damit war der Tag des Attentats klar. Für die Verschwörer war aber nicht allein der Blick auf die militärische Gesamtlage von Bedeutung. Sie hatten auch anderes zu kalkulieren. Um »Walküre« wirkungsvoll auslösen zu können, wurde ein volles Kontingent Ersatztruppen benötigt.60 Am 22. Juni 1944 war der Befehl zur Aufstellung von fünf »bodenständigen« Infanteriedivisionen der 27. Welle61 ergangen. Am 4. Juli kam der Befehl zur Aufstellung von vier »Schattendivisionen« der 28. Welle, und am 10. Juli der Befehl zur Bildung von 17 Grenadierdivisionen der 29. Welle.62 Damit war vorerst alles an Reserven und Ersatztruppen verbraucht. Kamen die Verbände an die Front, dann waren für »Walküre« nur mehr Territorialtruppen und wenig kampfkräftige Einheiten vorhanden. Folglich war für die Verschwörer Zeitdruck gegeben : Wollten sie nicht weiter zuwarten, musste gehandelt werden ; und es war auch hoch an der Zeit, denn abgesehen davon, dass sich eine Verschwörung nicht auf unbegrenzt lange Zeit geheim halten lässt, stand allmählich auch die Glaubwürdigkeit auf dem Spiel. Oberst Graf Stauffenberg versuchte am 11. und am 14. Juli 1944 vergeblich, eine Sprengladung in die Nähe Hitlers zu bringen. Am 20. Juli 1944 fuhr er abermals in das
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Führerhauptquartier »Wolfschanze« nach Rastenburg. Er trug in seiner Aktentasche verborgen die Bombe mit, die Hitler töten sollte. Stauffenberg zündete die Bombe, verließ den Lageraum und bekam nicht mehr mit, dass nach der Explosion des Sprengsatzes zwar vier Leute tödlich verletzt und andere unterschiedlich schwer verwundet waren, doch Hitler überlebt hatte. Dass man nahe am Ziel gewesen war, steht außer Zweifel. Und auch nachher hatte es immer wieder den Anschein, es hätte nicht so kommen müssen. Um 12.47 Uhr explodierte die Bombe. Jetzt hätte sofort alles in Bewegung gesetzt werden sollen, was es an Planungen und Vorbereitungen gegeben hatte und was man am 15. Juli sogar regelrecht geübt hatte.63 Doch abgesehen davon, dass das Attentat misslungen war, gab es auch eine geradezu erstaunliche Vielzahl von Zufällen und das, was Carl von Clausewitz so einprägsam mit Friktion beschrieb. Angesichts der Vorbereitungen und der effektiven Leistungsfähigkeit des Militärapparats stellte auch vieles von dem, was in den nächsten Stunden geschah bzw. nicht geschah, eine erstaunliche Faktenkette dar. Die Meldung vom Attentat wurde von einem der wichtigsten Männer der Verschwö rung, General der Nachrichtentruppen Erich Fellgiebel, nach Berlin durchgegeben, und zwar so, dass man im Allgemeinen Heeresamt sowohl vom Misslingen wusste als auch von Fellgiebel gesagt bekam, dass dennoch nach Plan fortgefahren werden sollte. Das konnte man wagen, denn die erste Reaktion der Paladine Hitlers auf das Attentat bestand darin, dass eine Nachrichtensperre verhängt wurde. Um die Meldung vom Attentat weiterzugeben und die vereinbarten Maßnahmen zu befehlen, bediente man sich im Allgemeinen Heeresamt der deutschen Verschlüsselungsmaschine »Enigma«. Das Verschlüsseln brauchte Zeit, und die Fernschreiben konnten nur nacheinander abgesetzt werden. Also bekam sie der eine früher, der andere später, und die Gleichzeitigkeit des Handelns war daher vom ersten Augenblick an nicht mehr gegeben. Die Fernschreiben ergingen an die jeweiligen Kommandierenden Generale der Wehrkreise des Deutschen Reiches und wurden ebenso für den rückwärtigen Bereich des Heeres und die Oberbefehlshaber der Fronttruppen ausgegeben. Theoretisch hätten alle gleich reagieren sollen. Wo notwendig, sollten Alarmierungen durchgeführt sowie die für den Fall »Walküre« vorgesehenen Truppen eilends gesammelt und an ihre Einsatzorte gebracht werden. Wien War schon vorhin vom Zufall die Rede, der allenthalben eine Rolle spielte, dann sind davon Wien und Österreich ganz sicher nicht auszunehmen. Warum der Aufstand überhaupt in Österreich mitgetragen wurde, führt uns wieder in die weiter zurückliegenden Entwicklungen und zu der Feststellung von alten und neuen Eliten.
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Nach der Moskauer Deklaration vom 1. November 1943 musste man innerhalb des Deutschen Reichs davon ausgehen, dass an einen Verbleib Österreichs im Deutschen Reich nicht mehr zu denken war. Für jene, die in Österreich dem politischen Untergrund angehörten und auf den Tag hofften, da es den Alliierten möglich sein würde, diese Deklaration in die Wirklichkeit umzusetzen, war es eine Aufforderung tätig zu werden, sofern man den letzten Absatz der Deklaration wörtlich nahm. Doch nicht alle dachten so. Sie argumentierten damit, dass es doch keinen Sinn hätte, an einer Aktion mitzuwirken, die wohl den Sturz des nationalsozialistischen Regimes zum Ziel hatte, letztlich aber doch mit dem Verbleib Österreichs im Reich enden konnte. Was daher seit der alliierten Absichtsbekundung in der Deklaration an Widerstandsaktionen in Österreich ablief, vor allem aber auch der 20. Juli 1944, spielte auf zwei Ebenen : Der einen, auf der abgewartet wurde, um später einmal Österreich wieder »in Betrieb nehmen« zu können ; und der anderen, auf der der Sturz des Nationalsozialismus geplant wurde, um den Schrecken zu beenden und noch größeres Übel zu vermeiden, wobei aber in Kauf genommen wurde, dass Österreich in irgendeiner Form an das Reich gebunden blieb. Auch für die »reichsdeutsche« politische Opposition galt es die längste Zeit als ausgemachte Sache, dass Österreich im Reichsverband bleiben würde, ja manche verbanden damit sogar die Hoffnung, Österreich könnte bei den Siegern für Deutschland eintreten und würde eher als dieses gehört werden.64 Die Kontakte, die in diesem Zusammenhang geknüpft wurden, mussten aber eher desillusionierend wirken. Die Emissäre des deutschen Widerstandes um Carl Goerdeler stießen in Wien auf Skepsis und Ablehnung. Sowohl der Rechtsanwalt Adolf Schärf wie die Christlichsozialen Lois Weinberger und Felix Hurdes blieben auf Distanz. Das hatte zweierlei zu besagen : Zum einen wurde darin ein gerütteltes Maß an Vorsicht deutlich, zum anderen der Wunsch, sich nicht zu präjudizieren.65 Erst bei ihren letzten Besuchen in Wien konnten die deutschen Emissäre beim ehemaligen Wiener Bürgermeister Karl Seitz zumindest eine vage Bereitschaft zum Mittun erkennen, allerdings unter dem ausdrücklichen Vorbehalt, dass über den Anschluss noch zu reden sein würde. Und auch der ehemalige Landeshauptmann von Niederösterreich, Josef Reither, wollte sich nicht definitiv verweigern. In Salzburg fiel der Name des ehemaligen Landeshauptmanns Franz Rehrl, der in der Folge in den Ideen der Berliner Verschwörer als politischer Beauftragter figurierte ; der Unterbeauftragte sollte der ehemalige Sicherheitsdirektor von Tirol, Anton Mörl, sein. Keiner von ihnen wusste jedoch expressis verbis, dass er damit faktisch nominiert worden war. Wien, Niederösterreich, Salzburg und Tirol waren auch nicht ganz Österreich. Abgesehen davon waren es aber auch in den sogenannten Alpen- und Donaureichsgauen des Deutschen Reiches nur einige wenige Offiziere, die immer stärker in die Planungen und Vorbereitungen einbezogen wurden. Sie wussten freilich so gut wie nichts über die politischen Ziele für die Zeit nach einem Attentat. Doch sie wollten handeln.
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Auch dabei spielten nicht die Angehörigen einer älteren Elite eine Rolle, also jene, die 1938 zwangspensioniert worden waren, sondern jüngere, die sich als Sympathisanten einer Militäropposition zu erkennen gegeben hatten. Doch dass sie nicht ausreichen würden, den Übergang von einer Ordnung in die andere zu schaffen, war klar. Also wurde ebenso wie in allen anderen Teilen des Großdeutschen Reiches und den von der Deutschen Wehrmacht besetzten Gebieten sehr viel in Hoffnungen investiert, dass sich die notwendige Zahl von Entscheidungsträgern im Augenblick des Umsturzes finden oder ganz einfach, dass der militärische Befehlsapparat funktionieren würde. Letztlich waren es nur drei Leute, die sich zum Handeln entschlossen : Der Leiter des Organisationsreferats in der Abteilung Ib des Wehrkreiskommandos XVII in Wien, Hauptmann Carl Szokoll, sowie der Leiter der Abwehrstelle Wien der militärischen Abwehr, der aus Bayern stammenden Oberst i. G. Graf Rudolf Marogna-Redwitz. Letzterer sollte als Verbindungsoffizier zum Oberkommando des Heeres fungieren. Für den Wehrkreis XVIII in Salzburg übernahm diese Funktion ebenfalls ein in Wien diensttuender Offizier, nämlich der Leiter der Meldestelle Wien, Oberst Otto Arnster. Andere, allerdings nicht mehr als ein Dutzend Wehrmachtsangehörige, konnten als im Sinne der Militäropposition verlässlich gelten. Doch von den Trägern der Befehlsgewalt war niemand eingeweiht. Insbesondere hatte Robert Bernardis bei seinen Versuchen, mit dem Chef des Generalstabes im Wehrkreis XVII, Oberst i. G. Heinrich Kodré, ins Gespräch zu kommen, keinen Durchbruch erzielt. Außerhalb von Wien, in anderen Teilen des Wehrkreises XVII (Wien, Niederdonau, Oberdonau), war niemand eingeweiht. Und im zweiten »österreichischen« Wehrkreis, dem Stellvertretenden Generalkommando des XVIII. Armeekorps mit Sitz in Salzburg (Salzburg, Tirol/Vorarlberg, Kärnten, Steiermark), gab es überhaupt niemanden, der Bescheid wusste. In Wien kam die Meldung vom Attentat gegen 18 Uhr an – fünf Stunden, nachdem es erfolgt war. Doch wenn man sich ansieht, wer davon verständigt und in die Befehlskette eingebaut werden konnte, dann hat man den wohl nicht zufälligen Eindruck eines heißen Hochsommernachmittags und -abends, an dem die meisten wichtigen Leute das Weite gesucht hatten und erst mühsam herbeigeholt werden mussten. Der Kommandierende General des Wehrkreises XVII, General der Infanterie Al brecht Schubert, war wegen eines Kuraufenthaltes abwesend. Ihn vertrat seit Anfang Juli 1944 General der Panzertruppen Karl Freiherr von Esebeck. Der war schon längst außer Haus, als das erste Fernschreiben der Berliner Verschwörer mit der Meldung vom Attentat eintraf. Darin hieß es unter anderem : »Eine gewissenlose Clique frontfremder Parteiführer hat es unter Ausnutzung dieser Lage versucht, der schwerringenden Front in den Rücken zu fallen und die Macht zu eigennützigen Zwecken an sich zu reißen. In dieser Stunde höchster Gefahr hat die Reichsregierung zur Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung den militärischen Ausnahmezustand verhängt und mir zugleich mit dem Oberbefehl über die Wehrmacht die vollziehende Gewalt über-
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tragen. Hierzu befehle ich … gez. v. Witzleben GFM [Generalfeldmarschall]«66 Der Ordonnanzoffizier des Kommandierenden Generals, Oberleutnant Fritz Bollhammer, ließ das Fernschreiben entschlüsseln und legte es dem Chef des Generalstabes, Oberst Kodré, vor. Der zögerte keinen Augenblick, die geforderten Maßnahmen zu setzen. Der Generalstabschef ließ General von Esebeck aus dem »Haus des Heeres« holen.67 Als nächstes wurde ein kriegsmäßig ausgerüsteter Schützenzug des Wachbataillons »Groß-Wien« in das Wehrkreiskommando am Wiener Stubenring 1 befohlen, um den Schutz des Gebäudes sicherzustellen. »Überall hasteten ahnungslose Soldaten zu ihren Gewehren«, beschrieb der für die Durchführung des Umsturzplans in Wien verantwortliche Hauptmann Szokoll die Situation einprägsam, »rüsteten sich Einheiten und streckten, ohne es zu wissen, die Hand nach der Macht im Staat aus.«68 Währenddessen ging aus Berlin ein zweites Fernschreiben ein, in dem die Verhaftung der Parteispitze, der Spitzen der SS und der Sicherheitspolizei befohlen wurde. »Ohne Verzug ihres Amtes zu entheben und in besonders gesicherte Einzelhaft zu nehmen sind : sämtliche Gauleiter, Reichsstatthalter, Minister, Oberpräsidenten, Polizeipräsidenten, Höhere SS- und Polizeiführer, Gestapoleiter und Leiter der SS-Dienststellen, Leiter der Propagandaämter und Kreisleiter«.69 Sämtliche Konzentrationslager sollten besetzt und die Lagerleiter ebenfalls verhaftet werden. Sollte es seitens der Waffen-SS Widerstand geben, wären die Kommandeure sofort durch Heeresoffiziere zu ersetzen. Und schließlich wurde angekündigt, dass Generalfeldmarschall von Witzleben für jeden Wehrkreis politische Beauftragte namhaft machen würde.70 Jetzt traf General von Esebeck am Stubenring ein, wurde unterrichtet und hielt – ebenso wie Oberst Kodré – die Fernschreiben für »echt«. Dennoch hieß Esebeck seinen Generalstabschef in Berlin anzurufen. Kodré tat es, wurde – was ihn offenbar nicht wunderte – mit Stauffenberg verbunden und erhielt von dem die Richtigkeit aller in den Fernschreiben enthaltenen Informationen und Befehle bestätigt. Der General und sein »Chef« ließen die Kommandeure und militärischen Dienststellenleiter in das Wehrkreiskommando rufen. Als die ersten Offiziere eintrafen, zeigte sich, dass kaum einer der Kommandeure und Leiter in Wien anwesend war ; für die meisten kamen Vertreter. Die Offiziere wurden unterrichtet, und gleichzeitig wurde ihnen die Herstellung der Alarmbereitschaft in ihren Bereichen befohlen. Der Ib/Org, Hauptmann Szokoll, aber erhielt den Befehl, die »Walküre«-Maßnahmen einzuleiten. Vorderhand ging alles nach Plan. Vier Stunden waren veranschlagt worden, um den Staatsstreich durchzuführen. In der ersten Stunde gelang in Wien alles reibungslos. Die Standorte waren alarmiert, die wichtigsten Gebäude besetzt und gesichert. Doch eine der wesentlichsten Maßnahmen musste noch getroffen werden, nämlich die Ausschaltung der Spitzen der NSDAP. Als nächstes wurden daher die zur Verhaftung heranstehenden Herren in das Wehrkreiskommando geladen.
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Ab 20 Uhr trafen nach und nach die Repräsentanten der politischen und polizeilichen Gewalt im Wehrkreiskommando ein. Viele waren äußerst misstrauisch. Zu der Zeit war ja bereits Hitlers Rundfunkansprache zu hören gewesen, hatte der Chef des Oberkommandos der Wehrmacht, Generalfeldmarschall Keitel, begonnen, alle ihm erreichbaren Befehlshaber und Dienststellen zu informieren, dass ein Putsch versucht worden war, das Attentat auf Hitler aber fehlgeschlagen und der »Führer« unverletzt sei. Misstrauen war also durchaus angesagt. Noch dazu dürfte einigen nicht entgangen sein, dass das Wachbataillon »Groß-Wien« das Gebäude sicherte. Die Wachmannschaften hatten den Befehl erhalten, jeden einfahren und hineingehen zu lassen, jedoch nur Personen in Wehrmachtsuniform nicht am Verlassen des Gebäudes zu hindern. Schließlich waren die Herren doch bei General von Esebeck versammelt, der ihnen die Fernschreiben zeigte, von einer regelrechten Verhaftung aber absehen wollte und nur bat, im Wehrkreiskommando zu bleiben. Einige gaben ihre Pistolen ab. Der Stadtkommandant von Wien, Generalleutnant Sinzinger, verhaftete mittlerweile einige »Stadtgrößen«. Die »Walküre«-Maßnahmen funktionierten im Großen und Ganzen weiterhin : Militärische Objekte, Bahnhöfe und Postämter wurden besetzt. Da traf das dritte Fernschreiben ein, in dem die politischen Absichten des Umsturzes genannt und die neuen politischen Repräsentanten bezeichnet wurden, für Wien Karl Seitz und Josef Reither und als Verbindungsoffizier zum Oberkommando des Heeres Graf Marogna-Redwitz. Wen die für den Wehrkreis XVIII bestimmten Informationen erreichten, ist ungewiss. Kodré informierte Esebeck, wer die Leute seien. Jetzt wurde auch der General misstrauisch. Als ein viertes Fernschreiben aus Berlin kam, in dem es hieß, Hitler sei entgegen allen anderslautenden Meldungen doch tot, war das Chaos perfekt. Aber schließlich klärten ein Anruf Keitels und dessen Autorität die Situation. Keitel befahl, sämtliche Maßnahmen sofort rückgängig zu machen. Ein Anruf Stauffenbergs bei Kodré konnte nichts mehr ändern. Und als Szokoll kurz darauf seinerseits Stauffenberg anrief, ihm die Wiener Situation schilderte und fragte, was zu machen sei, erhielt er nur zur Antwort »Ihr werdet doch nicht auch schlapp machen wollen … «, dann wurde das Gespräch unterbrochen. Esebeck entschuldigte sich bei den festgehaltenen Herren, diese bekamen ihre freiwillig abgegebenen Waffen zurück. Der Leiter der Wiener Geheimen Staatspolizei und des Sicherheitsdienstes rief noch aus dem Wehrkreiskommando seine Dienststelle an und ordnete die Auslösung der Alarmkartei an. Alle Verdächtigen, voran Seitz und Reither, seien zu verhaften. Sie kamen ebenso ins Gefängnis bzw. Konzentrationslager wie General von Esebeck und Oberst Kodré. Generalleutnant Sinzinger wurde gemaßregelt. Oberst Graf Marogna-Redwitz wurde verhaftet und am selben Tag zum Tod verurteilt, ebenso wie Oberstleutnant Bernardis und die allermeisten, die sich bereitgefunden hatten, ihrem Gewissen zu folgen, den Tyrannenmord durchzuführen und die Gewaltherrschaft zu beseitigen.
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Von den Eingeweihten überlebte kaum jemand. Einer der wenigen war Carl Szokoll, der so unauffällig geblieben war, dass er sogar wenig später befördert wurde. Für ihn konnte es daher eine weitere Phase des militärischen Widerstands geben, die schließlich mit der Befreiung Österreichs endete. Epilog Im Abstand von sechzig Jahren ist nicht nur nach den letzten noch nicht gekannten Details zu fragen, sondern mehr noch danach, wie der Aufstandsversuch des 20. Juli einzureihen ist, und wie im besonderen österreichischen Fall dieses Ereignis für die Selbstfindung des Landes von Bedeutung wurde. So sehr es daher zunächst gerechtfertigt scheint, den Blick auf die eigentlichen Verschwörer zu richten, sollte auch festgehalten werden, dass sich die stand- und volksgerichtlichen Verfahren gegen sie zu einer Art Generalabrechung mit potenziellen Gegnern des Nationalsozialismus instrumentalisieren ließen. Es wurden in großem Stil Verhaftungen durchgeführt, was als terroristische Maßnahme seinen Zweck nicht verfehlte. Und für Monate wurde das meiste Widerstandspotential ausgeschaltet und vernichtet. Ende August 1944 wurden von der Geheimen Staatspolizei Tausende Menschen verhaftet, die sich irgendwie verdächtig gemacht hatten und dann – wie Leopold Figl – bis in die Tage des Zusammenbruchs des Regimes bei den Vorabsprachen für die »Zeit danach« fehlten. Doch man konnte letztlich nur strafen und jenes blutige Exempel statuieren, das sich Hitler vorgenommen hatte. Zuversicht konnte der Terror keine geben. Und das, obwohl schon wenige Tage nach dem Attentat nicht nur die wundersame Errettung des »Führers« mit immer neuen Wortkaskaden beschrieben, sondern auch unzählige Treuekundgebungen organisiert wurden. Ihr Erfolg wurde von Joseph Goebbels durchwegs als großartig und als neuerliche »unbewusste Volksabstimmung« zugunsten Hitlers gewertet. Man billige auch die noch »schärfere Totalisierung« des Krieges, meinte Goebbels.71 Es gab aber auch weit subtilere Feststellungen. Als Ergebnis zahlloser Untersuchungen hielt der Chef der deutschen Polizei und gebürtige Österreicher Ernst Kaltenbrunner fest : »Die Stimmung, die ich in Wien vorfand, ist so schlecht und die Haltung fast aller Schichten der Bevölkerung eines sofortigen Eingreifens bedürftig.« Es herrschten »Niedergeschlagenheit« und »Ratlosigkeit«.72 »Die defaitistische Grundstimmung in Wien ist daher für alle Nachrichten aus dem Südosten, für jede Gräuelpropaganda, für gewisse ›Österreich-Tendenzen‹ und natürlich für jede kommunistische Propaganda sehr empfänglich.« Kaltenbrunner glaubte noch, ein Austauschen von Leuten würde etwas bewirken. Dass sich hier bereits der Zusammenbruch der nationalsozialistischen Herrschaft abzeichnete, wollte er zum wenigsten wahrhaben.
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Die Nationalsozialisten waren großteils froh, ihre Herrschaft noch einmal gerettet zu haben, übten blutige Rache und fragten zum wenigsten nach den Gründen, weshalb es zum Attentat auf Hitler hatte kommen können. Später, nach 1945, fragte man sich in erster Linie, wieso das Attentat fehlgeschlagen war und was wohl passiert wäre, hätte Stauffenberg Erfolg gehabt. Die Diskussion ist noch in Gang. In Österreich aber begann die Auseinandersetzung über das Gewesene unter merkwürdigen Vorzeichen und wollte lange nicht in Gang kommen. Da die Sowjets ebenso wie die westlichen Besatzungsmächte die Bedeutung des Widerstands stark herunterspielten und darin lediglich einen gescheiterten Versuch sehen wollten, die sich abzeichnende Niederlage Deutschlands noch im letzten Augenblick zu verhindern und zu retten, was noch zu retten war, tat man sich nicht allzu schwer, den Widerstand abzutun. Irgendwo passte er auch nicht zum Opfermythos. Doch da in der Moskauer Deklaration sehr deutlich angemerkt worden war, man würde in Rechnung stellen, welchen eigenen Anteil Österreich an seiner Befreiung gehabt hätte, ging es sehr wohl um einen faktischen Nachweis von Widerständlichkeit. Das geschah dann 1946 mit Hilfe des im Vorfeld der Staatsvertragsverhandlungen gefertigten »Rot-Weiss-Rot Buchs«. Dabei springt ins Auge, dass der Anteil Österreichs an den Ereignissen des 20. Juli 1944 überhaupt nicht behandelt wurde. Doch die wesentlichsten Fakten und die beteiligten Personen mussten bekannt gewesen sein. Während aber die »Operation Radetzky« und der Versuch zur Verhinderung einer Schlacht um Wien im April 1945 in der Dokumentation breiteren Raum einnimmt, findet die Beteiligung von Österreichern am 20. Juli keine Erwähnung. Auch später kam es zu einer klaren Gewichtung zugunsten der Aktion im April 1945. Unter jenen, die im Widerstand und vornehmlich am 20. Juli 1944 in Österreich eine Rolle gespielt haben, waren auch nur ganz wenige, die den Anspruch erheben konnten, von Anfang an erklärte Gegner Hitlers und des Nationalsozialismus gewesen zu sein. Jene, die sich schon früher ihre Widerständlichkeit angelegen sein ließen, hatten nicht überlebt. Jene, die sich aus welchen Gründen immer nicht exponieren wollten, blieben unauffällig und am Leben, doch sie konnten nicht den Anspruch erheben, eine aktive Rolle gespielt zu haben. Zwischen dem deutschen und dem österreichischen Widerstand ist daher nur partielle Übereinstimmung gegeben. Da wie dort war nicht damit zu argumentieren, der Widerstand wäre Vorläufer einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung und Gesellschaftsform gewesen. Das schloss freilich nicht aus, dass nicht zuletzt mit Verweis auf geleisteten Widerstand ein nationales Legitimationsbedürfnis zu befriedigen gesucht wurde, was in dem erwähnten »Rot-Weiß-Rot–Buch« mit Händen zu greifen ist. Auch seither fehlt es nicht an Zuordnungsversuchen, die auf eine Gleichsetzung von pro-österreichisch und Widerstand hinauslaufen. Dass es dergleichen gegeben hat, steht außer Frage ; dass aber die sehr effiziente Art, mit der Angehörige des Wider-
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stands in Österreich ausgegrenzt wurden, derartige Legitimationsversuche scheitern ließen, ist ebenso Teil einer österreichischen Nachkriegswirklichkeit geworden wie der Umstand, dass die Deutsche Bundeswehr den Widerstand gegen den Nationalsozialismus anders bewertet hat als das österreichische Bundesheer. Doch das wird noch auszuführen sein. Dann kam der letzte Zug aus Wien In den Winternächten des beginnenden Jahres 1945 konnte man im Osten des Reichsgaus Niederdonau das Feuern von schwerer Artillerie hören. Doch da die Abschüsse tage- und wochenlang weit weg blieben, schöpften manche Hoffnung und verachteten jene, die meinten, je rascher die Front näher komme, umso eher sei die Herrschaft der Nazis zu Ende und der Krieg vorbei. Gelegentlich wurde Adolf Hitler zitiert, der am 8. November 1942 so prophetisch gemeint hatte »Das Deutschland von einst hat um dreiviertel zwölf die Waffen niedergelegt. Ich höre grundsätzlich immer fünf nach zwölf auf.« Jetzt war es so weit. Besonders Umsichtige begannen ein paar wertvolle Dinge zu vergraben. Die gefrorene Erde machte es ihnen nicht leicht. Da mussten die Keller herhalten. Die Ansprachen der Kreispropagandaleiter und anderer lokaler Größen trugen nicht zur Beruhigung der Gemüter bei. In dem kleinen Dorf Rabensburg an der Thaya im nördlichen Weinviertel, beispielsweise, wiederholte der dortige Ortschef, was er schon dutzende Male von sich gegeben hatte : Die Dörfler, allesamt »Nachkommen der alten Grenzlandgeschlechter« würden auch in harten Zeiten ihren Mann stehen. Herr Sailer bekam den zu erwarten gewesenen höflichen Applaus und »Heil«-Rufe zu hören. Aber was sollte man von derlei Floskeln halten, wenn man Tag für Tag den Wehrmachtsbericht las und dann das Grollen der Geschütze hörte ? Das nächste Anzeichen dafür, dass es dem Ende des Kriegs zuging, war die Ankunft von nicht enden wollenden Flüchtlingstrecks. Sie waren in Siebenbürgen, in der Batschka und im Banat aufgebrochen. Wenn man die Flüchtlinge fragte, wo sie herkämen, hörte man Namen wie Werschetz, Weißkirchen, Indija … und wusste nicht, wo das war. Irgendwo im Süden, jedenfalls weit weg. Wo sie hinwollten, konnten sie nicht sagen. Die herannahenden Fronten und der Befehl der Reichsregierung hatten sie zur Flucht aus Rumänien, Ungarn und Serbien gezwungen. Das Weinviertel sollte nur eine Station auf ihrem Weg sein. Ihnen war erzählt worden, es würde sich bloß um ein paar Wochen handeln, ehe sie wieder in ihre Heimat zurück könnten. Bis dahin würden sie Gäste des Führers sein. Also beanspruchten sie Gastrechte. Man hatte Mitleid mit ihnen. Doch als sie blieben und keine Anstalten machten weiterzuziehen, kippte die Stimmung und schlug in Ablehnung um. Man wollte die lästigen Esser loswerden.
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Mittlerweile wurde geschanzt. Entlang von March und Thaya wurden Gräben ausgehoben. Es galt, die Flusshindernisse zu verstärken. »Reichsschutzstellung« nannte man das Ganze. Volkssturm, Landesschützen, Hitlerjugend und Bautrupps der »Organisation Todt« wurden herangezogen, um Schanzarbeiten zu leisten. In der Hohenauer Zuckerfabrik war ein Arbeitslager eingerichtet worden, in dem an die 500 Fremd- und Zwangsarbeiter untergebracht wurden, die Tag für Tag ausrückten, um am Stellungsbau mitzuwirken. In Rabensburg gab es keine Zwangsarbeiter. Da hieß es selber graben und Erdhaufen aufwerfen, um die March-Thaya-Stellung entstehen zu lassen. Meist um die Mittagszeit gab es Unterbrechungen. Das war die Zeit, in der mit zunehmender Häufigkeit amerikanische Bomber auch über das nördliche Weinviertel flogen. Sie waren auf ihrem Weg nach Wien, hatten von Apulien kommend den Hauptkamm der Alpen überquert, drehten dann ein und flogen von Norden ihre Ziele an. Auf diese Weise waren sie eigentlich schon auf dem Rückflug, ehe sie ihren Auftrag erfüllten und Tausende Tonnen Bomben abwarfen. 70 km nördlich von Wien hätte man vielleicht fasziniert auf die glitzernden Bomber schauen können oder zumindest hinhorchen wollen, wenn sie über den Wolken flogen. Doch seit dem Herbst war man gewitzt. Da waren erstmals Tiefflieger gekommen und hatten auf Lokomotiven und Bahnanlagen zu schießen begonnen. Es gab Tote. Also verkroch man sich am besten. Welche Verheerungen die Bomber in ihren Zielgebieten anrichten würden, war bestenfalls zu erahnen. Nur wenn man mit der Deutschen Reichsbahn nach Wien fuhr und dann die zerstörten Häuser und den Schutt auf den Straßen sah, sich mit dem eingeschränkten Betrieb der Straßenbahnen abmühte und dann wieder trachtete, so rasch wie möglich wegzukommen, war auch ein unmittelbarer Eindruck möglich. Über die Toten und Verwundeten, die jeder Angriff forderte, erfuhr man ohnedies so gut wie nichts. Denn wer sollte darüber schreiben ? Die Toten der »Heimatfront« versteckte man einfach hinter dem Begriff »zahlreiche«. Am 12. März 1945 steigerte sich das Inferno noch einmal. 747 viermotorige Bomber flogen Richtung Wien. Es war ein Jahrestag, nämlich der des Einmarsches deutscher Truppen nach Österreich im Jahr 1938 und damit der Beginn dessen, was sich unter dem Wort »Anschluss« in den Gehirnen festgefressen hatte. Dass er von Österreich gewollt worden war, stand für die Amerikaner ebenso wie für ihre Verbündeten fest. Und dass Österreich »Naziland« war ebenso. Die Zerstörung der großen Kulturbauten Wiens, darunter der Staatsoper, konnte man daher als eine besondere Begleiterscheinung dieses merkwürdigen Anschlussgedenkens sehen. Natürlich sah man aus 8.000 Meter Höhe nicht, was entlang der Grenzflüsse und in den Ortschaften an Gräben, Stellungen und »Nestern« im Entstehen begriffen war. Doch es ließ sich denken. Nachdem die Erkundungstrupps ihre Arbeit getan, die Stellungen vermessen und ausgepflockt hatten, kamen Bau-Pioniere. Die Einheimischen wurden zu vermehrter Hilfeleistung aufgefordert. Die Ortsgruppenleiter der NSDAP,
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die Bürgermeister und Ortsbauernführer bestimmten, wer von der Zivilbevölkerung sich an den Arbeiten zu beteiligen hatte. Aus jedem Haushalt sollten entweder ein Mann oder eine Frau mitwirken. Drei Mal in der Woche hieß es ausrücken und Stellungen bauen. Dabei wollte man das alles nicht. Denn auch noch so primitive Erdwälle deuteten darauf hin, dass sich dort Wehrmachtsoldaten zur Verteidigung einrichten würden. Das wiederum bedeutete, dass die Russen – und man rechnete schon fix mit ihnen – den Ort beschießen würden. Doch was nützte es. Gegraben musste werden. Am selben Tag, an dem mit dem Bau von Stellungen in den Ortsgebieten begonnen wurde, gaben die Bürgermeister die Errichtung von Standgerichten bekannt. Der März blieb eisigkalt. Die Lebensmittel wurden knapp. Nicht einmal Brot gab es noch in ausreichender Menge. Die Schulen erhielten kein Heizmaterial mehr. Die Kinder kamen nur mehr für eine halbe Stunde in die Klassenzimmer, bekamen Aufgaben und wurden wieder heimgeschickt. Stattdessen wurden die Schulräume zu einer Art Feldlager. Die Bau Pioniere zogen ab. Ersatztruppen eines schlesischen Regiments rückten ein. Man hörte nicht nur deutsch, sondern auch polnisch, russisch, französisch und vor allem italienisch sprechen. Manches wurde allerdings nur flüsternd weitergegeben, weil es Ergebnis des Abhörens ausländischer Sender war. Doch auf diese Weise erfuhr man auch in den Dörfern an der Grenze, dass die Truppen der Roten Armee südlich der Donau schon am 29. März auf österreichischen Boden gekommen waren und Richtung Wien marschierten. Die Befreiung Österreichs und das Ende des NSRegimes hatten begonnen. Statt des Reichssenders konnte man aus Sauerbrunn den Soldatensender »Lili Marleen« hören. Die Parolen waren immer die gleichen »Der Endsieg wird unser sein«, und »Gekämpft wird bis zum letzten Mann«. Und wieder kamen Flüchtlinge, Ungarn und Slowaken. Man hatte den Eindruck, sie würden ganze Herden von Kühen, Ochsen und Pferden mitführen. Oft waren sie zu müde, um auf eine akute Gefahr zu reagieren. Sie hatten nur ein Ziel : Weg von der Front. Das Artilleriefeuer wurde immer lauter. Jenseits der Thaya sah man in den Nächten den Feuerschein von Bränden. Die Verbände der deutschen 8. Armee begannen sich über die Grenzflüsse zurückzuziehen. Was so eifrig gebaut worden war, die Reichsschutzstellung, erwies sich als nutzlos. Das hätte man zwar schon wissen können, denn im Lauf der letzten Kriegsjahre waren Hunderte Stellungen, Festungen, Bollwerke und Linien nicht in der Lage gewesen, irgendwen aufzuhalten. In der Tagesmeldung der Heeresgruppe Süd, die mit vier Armeen den Krieg in Österreich zu führen hatte, hieß es unter anderem am 4. April : »Bei 8. Armee wird im Innenring der Festung Preßburg gekämpft. Es gelang dem Feind, seinen Einbruch über die Kleinen Karpaten erheblich zu verbreitern … Kompaniestarke Angriffe gegen Stampfen [Stupava] wurden abgewiesen.« Die Meldung hinkte dem Geschehen um viele Stunden nach. Der Pfarrer von Rabensburg hielt in seinen Aufzeichnungen fest : »Wir sahen St. Johann [Moravský Svätý Ján] und Kuty brennen. Bei der Haltestelle stand die deutsche Artillerie und
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schoss Störfeuer auf die Straße Preßburg – Lundenburg [Břeclav]. Der Feind schoss aber nicht zurück.« Jetzt war es zur Gewissheit geworden : Der Krieg würde auch ein Dorf an der Thaya grenze nicht verschonen. Der Krieg würde nicht irgendwo in der Ferne sein Ende haben, sondern hier und da ! Am 2. April, es war Ostermontag, wurde knapp nach Mitternacht Alarmstufe I ausgelöst. Am Nachmittag desselben Tages dann Alarmstufe II. Ein Trommler ging durch den Ort und hatte zu verkünden, dass Frauen und Kindern geraten wurde, das Dorf zu verlassen. Die Flucht wurde allerdings nicht organisiert, sondern geschah auf eigenes Risiko. Jetzt erachteten aber doch an die hundert Menschen den Zeitpunkt für gekommen zu fliehen. Man packte zusammen, was sich leicht wegbringen ließ, ähnelte plötzlich den Banater Schwaben, Siebenbürgern und Ungarndeutschen, die da wochenlang durchgezogen waren. Immer wieder war zugewartet worden, ob nicht doch etwas passieren würde, das die Flucht vermeiden ließ. Doch dann packten sie endgültig zusammen, vernichteten auch etliches oder versteckten es so dauerhaft wie die Sitzungsprotokolle des Gemeinderats, sodass sie nie mehr auftauchten. Der Bürgermeister und Verwalter der Güter des Fürsten Liechtenstein verließ den Ort, der Ortsgruppenleiter der NSDAP, Krupitza, und die meisten Funk tionäre der Partei, die gesamte Landwacht und die Finanzbeamten folgten ihnen wenig später. Die meisten Lehrer flohen mit ihren Familien, nicht zu vergessen Mädchen, die zurecht die Russen fürchteten. Der Ort leerte sich aber nur scheinbar. Denn jetzt kamen mehr und mehr Wehrmachtsoldaten. Plötzlich gab es kein elektrisches Licht mehr. Die Leitung war irgendwo unterbrochen worden. In den Kellern wurden Kerzen angezündet. Auch Sterbekerzen waren darunter. Kartengrüße, auf die viele, vor allem Frauen sehnlichst warteten, kamen nicht mehr an, da es keine Post mehr gab. Dann kam der letzte Zug aus Wien. Er war viele Stunden unterwegs gewesen und in Dürnkrut beschossen worden. Es gab Verletzte. Dann war die Verbindung mit der Welt unterbrochen. Der Lärm der Geschütze war nicht mehr aus der Ferne zu hören, sondern schon ganz nahe. Am 5. April meldete die deutsche 8. Armee »Ernste Gefahr für Marchstellung«. March und Thaya führten Hochwasser, doch das hinderte den Brückenschlag keinesfalls. Die Russen waren nahe der Einmündung der Thaya in die March über eine Pontonbrücke gekommen. Das XXVII. Garde-Schützenkorps der sowjetischen 7. Garde- Armee errichtete einen Brückenkopf und drang ins Ortsgebiet vor. »Das Schießen der Artillerie war fürchterlich. Der Kampf muss bei Hohenau toben«, notierte der pensionierte Lehrer Othmar Knoll in Rabensburg. Was genau vor sich ging, wusste er nicht, wusste letztlich niemand außer den Offizieren in den Stäben der 8. Armee, die die Lagekarten führten und Beiträge für die Tagesmeldungen der Heeresgruppe Süd lieferten, so wie jener Major im Generalstab Karl F. Lütgendorf, der Jahrzehnte später österreichischer Verteidigungsminister werden sollte.
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Eines ließ sich aber leicht feststellen : Es kamen immer wieder neue Soldaten. Die meisten waren müde und recht anspruchslos ; einige kehrten die Soldateska hervor und verlangten Hilfe, Nahrung und vor allem Trinkbares. Nach den Soldaten der Division »Feldherrnhalle 2« kamen Landesschützen, Reste von irgendwelchen slowakischen Einheiten und ebenso Reste der 20. ungarischen Infanterie-Division. Sie wurden von Versprengten der deutschen 46. Volks-Grenadier-Division abgelöst. Da sich das Panzerkorps »Feldherrnhalle« an Hohenau krallte, um die Sowjets nicht nach Mistelbach durchbrechen zu lassen, fraß sich die Front fest. Es waren vor allem ein paar Hundert Mann der 357. Infanterie-Division, die dem XXVII. GardeSchützenkorps des Generalmajors A. I. Lošev den Ausbruch aus Hohenau verwehrten. Sturmgeschütze und Tiger-Panzer kamen zum Einsatz. Die Menschen flohen in die westlich gelegenen Weinberge. Die Orte in der Umgebung konnten das als letzte Atempause sehen oder auch als Hinauszögern eines absehbaren Endes, das unnötig viele Menschenleben fordern würde. Versprengte tauchten auf und taten so, als ob sie ihre Einheiten suchen würden. Wenn sie Glück hatten, wurden sie nicht als Deserteure gesehen, sondern zur Verstärkung der Verteidiger herangezogen. Deutsche wie Sowjets erweckten den Eindruck, es würde immer noch um die Entscheidung im Krieg gehen. Schlachtflieger der Russen griffen ein. Die Truppen des Generals Lošev versuchten immer wieder, aus ihrem Brückenkopf an der March auszubrechen und weiter nach Westen und Norden vorzustoßen. Sie wurden zurückgeschlagen. Die Deutschen schossen in die Orte hinein. Die Russen erwiderten das Feuer und nahmen vor allem die Waldstücke unter Beschuss. Am 10. April meldete das Panzerkorps »Feldherrnhalle« : »In schwungvollem Gegenangriff gelang es, die Brückenköpfe Drösing und Hohenau unter hohen Feindverlusten zu beseitigen.« In Rabensburg gab es die ersten Toten. Die Bevölkerung war noch einmal aufgefordert worden zu fliehen und ihr Vieh mitzunehmen. Noch während der ohnedies schon fluchtbereite Ortsgruppenleiter sprach, schlugen vier Granaten ein. Tote und Verwundete lagen herum. Man wusste aber nicht so recht, ob das Feuer von den Sowjets gekommen war oder eine deutsche Batterie geschossen hatte. Am Abend des 13. April wurden vier Rabensburger, zwei alte Männer und zwei Frauen, von wem auch immer aus den Kellern geholt. Was ihnen vorgeworfen wurde, wusste niemand. Hatten sie Hitler verflucht, den Russen helfen wollen, Deserteure versteckt … ? Sie seien Juden, hieß es dann. Das war Unsinn. Doch Irgendjemand hatte sie verraten. Sie wurden misshandelt und erschossen. Tage später fand man ihre kaum verscharrten Leichen. Es herrschte Entsetzen. Auch andere sollten geholt werden, »aber unsere ›Partei‹ hatte keine Zeit mehr dazu«, schrieb eine hochschwangere Lehrerin in ihr Tagebuch. Was hier geschah, ließ sich erst sehr viel später einordnen. Die 8. Armee des Generals der Gebirgstruppen Hans von Kreysing stach dadurch hervor, dass bei ihr mit besonderer Rücksichtslosigkeit vorgegangen wurde. Bestand der Verdacht, ein
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Wehrmachtsangehöriger oder auch SS-Mann würde nicht bis zum Letzten kämpfen oder sich gar entziehen wollen, wurde er gehenkt oder erschossen. Überall wurden Verrätertum und Defätismus vermutet. Morde waren an der Tagesordnung. Dass es nur mehr darum ging, Hitler und der nationalsozialistischen Führung noch für einige Tage das Überleben zu sichern, wollte niemand wahrhaben. Den meisten, die da exe kutierten, ging jede menschliche Regung ab. Sie versteckten sich hinter dem geleisteten Eid, Kameradschaft und Kriegsnotwendigkeiten. Folglich waren diejenigen, die einfach nicht mehr Krieg führen wollten, Eidbrecher und Kameradenschweine. Also hieß es : Wer nicht kämpft wird erschossen. Und wer die Kämpfe behindern wollte und obendrein Hitler verfluchte, erst recht. Die Kämpfe gingen weiter. Erst am 14. April wurde der Rabensburger Volkssturm alarmiert. Niemand konnte mehr den Ort verlassen. »Hohenau ging nach schweren Kämpfen verloren. Abriegelungsfront aufgebaut«, hieß es in der Tagesmeldung der 8. Armee. Die Deutschen zogen sich nach Hausbrunn und Rabensburg zurück. Jetzt schien nichts mehr die Russen aufhalten zu können. Noch am selben Tag drangen Soldaten der sowjetischen 141. Schützendivision in den Ort ein. Wieder hieß es : »Einbruch im Süd-Teil Rabensburg abgeriegelt.« Dann, am 18. April, meldete das Panzerkorps »Feldherrnhalle« : »Hausbrunn konnte gehalten werden. Weiter nördlich davon ging Rabensburg verloren, da die dort eingesetzten Landesschützen und Slowaken nicht hielten.« Das war die drastisch verkürzte Zusammenfassung eines Geschehens, das sich tief im Gedächtnis der Ortsbewohner eingraben sollte. Am 14. April hatte die Beschießung begonnen. Nicht mit großkalibrigen Geschützen, sondern mit der mittleren Feldartillerie. Doch das reichte aus, um Haus für Haus in Brand zu setzen und zu zerstören. Drei Angehörige des Volkssturms fielen. Die Kämpfe gingen weiter. Es war nichts Großartiges dran, doch etwas Tödliches. Vom 16. auf den 17. April dauerte die Beschießung die ganze Nacht und den darauffolgenden Tag über an. Die 6. Artillerie-Division des XXVII. Garde-Schützenkorps verstärkte das Geschützfeuer. Ganz offensichtlich sollte möglichst wenig Infanterie eingesetzt werden, also suchten die Sowjets die wenigen deutschen Soldaten, die sich noch irgendwo an die Gräben und Hindernisse zu klammern suchten, zur Preisgabe ihrer Stellungen zu zwingen. Was da im Detail los war, konnte man verständlicherweise in den Kellern nicht verfolgen. Erst als am 18. April um 10 Uhr Vormittag auf der Hauptstraße Ziehharmonikaklänge zu hören waren und die ersten Rotarmisten der 141. Schützendivision des Generalmajors Vasilij N. Mološajev mit Gesang einzogen, wusste man, dass das Schlimmste überstanden war. Mehr als sechzig Häuser waren zerstört worden, an die zwanzig Bewohner tot. Über gefallene sowjetische Soldaten wussten weder Pfarrer noch Lehrer zu berichten. Sie wurden ebenso wie die gefallenen Wehrmachtsangehörigen begraben, exhumiert und wieder begraben. Alle anderen kamen auf den Ortsfriedhof. Doch wozu das Ganze ?
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Die Rotarmisten kämpften, weil sie mussten und es galt, den »Großen Vaterländischen Krieg« siegreich zu Ende zu bringen. Für die Angehörigen der Wehrmacht, also auch die Männer des Volkssturms, gab es eine einfache Begründung : Auch sie mussten, hatten Angst, standgerichtlich verurteilt und erschossen oder aufgehängt zu werden. Denjenigen aber, die das alles verursacht hatten, galt der »Nachruf« der schon erwähnten Lehrerin : »Da waren Kreaturen ohne Hirn am Werk. Willige Werkzeuge, die alles glaubten und alles für recht hielten, was man ihnen von oben einpaukte. Menschen ohne eigene Urteilsbildung, Menschen ohne eigenen gerechten Sinn. Gott bewahre uns vor solcher Führung.« Kanzler gesucht Am 29. März 1945 stießen die Spitzen des IX. Garde-mechanisierten Korps der sowjetischen 6. Garde-Panzerarmee bei Klostermarienberg über die ungarisch-großdeutsche Grenze vor. Damit begann die Befreiung Österreichs von der nationalsozialistischen Herrschaft. Und das Land wurde zweigeteilt. Da waren die von den Russen freigekämpften Teile eines neuen Österreich. Und nebenan war das noch immer zu Großdeutschland zählende übrige Land. Während Letzteres aber von Tag zu Tag kleiner wurde, weiteten die Rotarmisten das von ihnen beherrschte Gebiet aus. Am 30. März erreichten sie Mattersburg, am Tag darauf Aspang und Kirchberg, und am Ostersonntag, dem 1. April, erreichten sie bei Gloggnitz die Südbahnlinie. Das Kriegstagebuch der deutschen Heeresgruppe Süd nahm davon noch keine Kenntnis. So vieles geschah gleichzeitig. Um die Details sollten sich dann einmal die Historiker kümmern. Dazu gehörte beispielsweise auch, dass sich an diesem 1. April General Rudolf von Bünau in Wien als neuer Kampfkommandant vorstellte. Er machte sich keine Illusionen. Halb Europa war für Großdeutschland und die nationalsozialistischen Machthaber schon verloren gegangen, eine Hauptstadt nach der anderen gefallen, zuletzt am 13. Februar Budapest. Wenigstens gab es an diesem Ostersonntag keinen amerikanischen Luftangriff auf Wien. Wohl aber griffen 256 viermotorige Bomber St. Pölten, Selzthal, Krieglach, Graz, Villach und Klagenfurt an und setzen das Zerstörungswerk an Eisenbahnanlagen fort. Sogenannte Kollateralschäden inklusive. Tags darauf sollte es weitergehen. Es gab den letzten amerikanischen Luftangriff auf Wien und einen schweren Angriff auf Graz. Aber die ersten Apriltage 1945 waren nicht nur Kriegstage, sondern auch Tage, an denen sich die Nachkriegsgeschichte Österreichs entschied. Soldaten der 103. GardeSchützendivision der sowjetischen 9. Garde-Armee trafen in Gloggnitz mit Karl Renner zusammen. Wie das Ganze vor sich ging, hat freilich denkbar unterschiedliche Darstellungen gefunden. Und jede hat etwas für sich. General Štemenko, Mitglied des obersten sowjetischen Kommandos in Moskau, schrieb in seinen Memoiren, dass Sta-
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lin Renner suchen ließ. Dem steht die Version entgegen, dass Renner von sich aus zu den Russen gekommen wäre. Eine dritte Version, die Renner selbst in Umlauf setzte, besagt, Renner hätte das Kommando der 103. Garde-Schützendivision aufgesucht, um für den Schutz der Zivilbevölkerung zu bitten. Gänzlich von der Hand zu weisen ist die schon regelrecht bösartige Verleumdung, Renner wäre seine Uhr gestohlen worden und er wäre gegangen, um sich zu beschweren. (Tatsächlich bat Renner zwei Wochen später in einem Schreiben nach Moskau, man möge ihm eine gute Uhr schicken. Auch von Kaviar war da die Rede – doch wahrscheinlich stimmt auch das nicht.) Bleibt somit die unbestreitbare Tatsache, dass Renner und Angehörige der 103. Garde-Schützendivision in Gloggnitz zusammengetroffen sind. Recht naheliegend scheint zu sein, dass sich Renner auf die Begegnung vorbereitet hat und entschlossen war, den Sowjets seine Hilfe bei der Wiederherstellung geordneter Verhältnisse anzubieten. Die Rotarmisten verfrachteten den 75-Jährigen kurzerhand in ein Militärfahrzeug und brachten ihn zunächst nach Köttlach und dann nach Hochwolkersdorf zum Kommando der 9. GardeArmee. Dort war man wohl schon vorgewarnt gewesen. Auf jeden Fall ließ man den alten Herren reden und meldete das Gesagte unverzüglich dem Oberkommando der 3. Ukrainischen Front, das seinerseits Stalin informierte und telegrafierte : »Bei einer Befragung im Stab der Armee erzählte Karl Renner, dass er der letzte Präsident des österreichischen Parlaments ist, welches 1934 von der Regierung Dollfuß beseitigt wurde. Auf diesem Posten war er von 1925 bis 1934. 1918 bis 1920 war er Premierminister Österreichs«, usw. Für Stalin sollten das alles keine Neuigkeiten gewesen sein. Aber dann kam’s : »Dr. Renner erklärte : ›Ich bin alt, aber bereit, mit Rat und Tat bei der Errichtung eines demokratischen Regimes zu helfen.« Die Wiener seien kriegsmüde und nicht fähig zu aktivem Handeln. »Ich als letzter Parlamentspräsident könnte das Parlament aufrufen, für die Kriegszeit eine Provisorische Regierung Österreichs einzurichten. Nazis schließe ich aus dem Parlament aus. Damit könnte ich meine Funktion beenden und in den Ruhestand gehen.« Dann fügte man der Information für Stalin noch den Hinweis an, Renner würde bis zur Entscheidung Stalins in der »Verfügungsgewalt« der 9. Garde-Armee bleiben. Postwendend kam es aus Moskau zurück : »Karl Renner ist Vertrauen« zu erweisen, und die sowjetischen Truppen sollten ihn bei der Wiederherstellung eines demokratischen Regimes in Österreich unterstützen. Während sich Renner noch zur Verfügung zu halten hatte, war eine Parallelhandlung abgelaufen, denn schon tags zuvor war aus Wien ein Oberfeldwebel namens Ferdinand Käs nach Hochwolkersdorf gebracht worden, der im Auftrag des Führers des pro-österreichischen Widerstands in Wien, Carl Szokoll, den Russen mitzuteilen hatte, dass in Wien ein Aufstand gegen die Deutschen vorbereitet würde. Generaloberst Glagolev, der Oberkommandierende der 9. Garde Armee, meldete prompt, dass das sowjetische Oberkommando Major Szokoll ein paar konkrete Aufgaben gestellt habe. Die Widerstandsgruppe sollte die Brücken über Donau und Donaukanal vor
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der Zerstörung bewahren und die Hauptquartiere der Verteidiger ausheben. Post- und Telegrafenämter, Radiosender, Kraftwerke, Wasserwerke, Fabrikanlagen, Banken, Eisenbahnstationen, Gebäude der Geheimen Staatspolizei und der NSDAP, sämtliche Polizeidienststellen und Kasernen wären zu blockieren, und schließlich wäre der Roten Armee zu helfen, die Stadt unzerstört in Besitz zu nehmen. Ferdinand Käs hat nicht widersprochen. Doch eigentlich hätte es ihm klar sein müssen, dass die Russen absolut Unmögliches verlangten. Während das Geschehen um und in Wien seinen Lauf nahm, wurde Karl Renner nach Gloggnitz zurückgebracht, verfasste dort acht Aufrufe, von denen die Sowjets Gebrauch machen konnten, vor allem aber brachte er wunschgemäß seine Vorstellungen zu Papier, wie es in Österreich weiter gehen sollte. Gleich anschließend wurde er in ein neues, vergleichsweise komfortables Quartier gebracht – nach Schloss Eichbüchel. Es hatte 1938 und 1939 dem Kommandeur der Fahnenjunkerschule für Infanterie in Wiener Neustadt, Erwin Rommel, gehört und beherbergte nun Karl Renner. Aufmerksam betreut von Rotarmisten. Renner bekam wohl nicht mit, dass in Wien der Aufstand, den die Angehörigen des militärischen Widerstands entfesseln sollten, nicht stattfand. Drei Offiziere aus der Umgebung Carl Szokolls wurden verhaftet und hingerichtet. Szokoll selbst schlug sich nach Purkersdorf zu den Russen durch. Statt der amerikanischen Bomber beherrschten sowjetische Schlachtflieger den Himmel über Wien. Vier sowjetische Armeen kämpften sich durch das Stadtgebiet und suchten die Truppen des II. SS-Panzerkorps einzuschließen. Schließlich sprengten die Deutschen alle Donaukanalbrücken und am 13. April auch die Floridsdorfer Brücke über die Donau. Nur die Sprengung der Reichsbrücke misslang. Dann war Wien freigekämpft. Renner aber hatte mittlerweile seine Vorstellungen eines österreichischen Neubeginns dahingehend präzisiert, dass er den Russen vorschlug, die in Ostösterreich noch lebenden Abgeordneten des seit 1933 nicht mehr existenten Nationalrats unter Ausschluss der Mitglieder der NSDAP zusammenzurufen, um mit ihnen die Zusammensetzung einer Provisorischen Regierung zu besprechen. Was der Verweis auf Nationalsozialisten sollte, ist merkwürdig, denn im Nationalrat saßen keine Abgeordneten der NSDAP. Wie auch immer ! In der neuen Regierung sollten jedenfalls 35 % Sozialdemokraten, 35 % Kommunisten, 20 % Christlichsoziale und 10 % Revolutionäre Sozialisten vertreten sein. Den Sowjets, vor allem dem Mitglied des Kriegsrats der 3. Ukrainischen Front, General Alexej Želtov, schien das nicht zielführend zu sein. Er plädierte für eine Initiativgruppe, die aus Renner, den Bürgermeistern von Baden und Wiener Neustadt, Kollmann und Wehrl, sowie interessanteweise dem auch von Renner ins Spiel gebrachten letzten österreichischen Bundespräsidenten, Wilhelm Miklas, bestehen sollte. Ein paar Kommunisten und nicht parteigebundene Intellektuelle sollten die Gruppe vervollständigen und als Provisorische Staatsregierung fungieren. Von Stalin wurde erwartet, dass er entschied.
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Mittlerweile schrieb Renner eifrig weiter. Schließlich wandte er sich am 15. April in einem mittlerweile berühmt gewordenen, an Macchiavellismus nicht zu überbietenden Brief an Stalin. »Sehr geehrter Genosse … Ohne die Rote Armee wäre keiner meiner Schritte möglich gewesen, und dafür bleibe nicht nur ich, dafür bleibt die zukünftige ›Zweite Republik Österreich‹ und ihre Arbeiterklasse Ihnen, Herr Marschall, und Ihrer siegreichen Armee für alle Zukunft zum Dank verpflichtet … Dass die Zukunft des Landes dem Sozialismus gehört, ist fraglos und bedarf keiner Betonung.« Es war das erste Mal, dass die Bezeichnung »Zweite Republik« fiel. Für Renner schien festzustehen, dass Österreich ein Staat der Linken werden würde, ebenso aber, dass es 1938 nicht okkupiert, sondern annektiert worden war. Daher galt es, den Bruch mit der Vergangenheit und den Neubeginn deutlich zu machen. Kurz, nachdem Renner an Stalin geschrieben hatte, durfte er Eichbüchel verlassen und nach Gloggnitz zurückkehren. Für Ruhe war auch hier gesorgt. Folglich hatte Renner Gelegenheit, weiterhin seine Vorstellungen von dem, was Not tat, zu Papier zu bringen. Als er am 18. April, fünf Tage nach dem Ende der Schlacht um Wien, in sein nächstes Quartier in die Blaimschein-Villa in Wien-Hietzing gebracht wurde, hatte er jedenfalls schon recht konkrete Vorstellungen. Zunächst einmal sollte abgerechnet werden, um eine neue Ordnung aufzubauen und den Sozialismus zu verwirklichen. Dazu bedürfe es einer starken Regierungsgewalt, hielt Renner in einem an George Orwell gemahnenden Grundsatzpapier fest. »Alle Faschisten (Heimwehr, klerikale, nationale Faschisten), die nicht bloß Nachläufer waren, sind für eine zehnjährige Bewährungsfrist von allen demokratischen Rechten ausgeschlossen, somit weder wahlberechtigt noch wählbar und ämterfähig.« Für die solcherart »Zensurierten« gelten »die rechtlichen Bestimmungen des Diktaturrechts, einschließlich Anhaltelager, Todesstrafe etc.« Zensurkommissionen sollten über die Zulassung von »eingeschriebenen Parteien« aber auch über die Eignung zum Beruf eines Journalisten befinden. Eine Autonomie der Länder wird »für die nächste Zeit nicht in Aussicht genommen. Die Länder haben ihre Autonomie nach 1920 missbraucht zur ständigen Erpressung an Wien« und zur »mehr oder minderen Förderung des Faschismus.«. Die »Wiener Polizei, Gendarmerie, Ortspolizei und Staatspolizei bilden einen eigenen Dienstkörper unter dem Polizeiminister. Die gesamte Organisation ist nach militärischem Vorbild gestaltet«. »Die Körperpflege (Sport etc.) kann Gesichtspunkten der ›vormilitärischen Erziehung‹ Rechnung tragen«. Die »Kinderfreunde« erhalten eine »offizielle Stellung.« »Die Hochschulen werden in den ersten Tagen gesperrt … Die bisherigen studentischen Verbindungen sind aufzulösen.« Was die Justiz anlangte, sah Renner einen »Ausnahmegerichtshof« vor. Er sollte nicht Volksgerichts-, sondern »Sühnegerichtshof« heißen. Über die »Ämterfähigkeit« würden ebenfalls die »Zensurbehörden« das letzte Wort sprechen. Um einer Kapitalflucht vorzubeugen, müssten sofort Grenzsperren eingerichtet werden. Eine eigene Währung und die Rückführung des ins »Reich« transferierten Goldschatzes sollten die
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wichtigsten Maßnahmen auf dem Gebiet der Finanzwirtschaft sein. Was die Volkswirtschaft anlangte, sollte das 1934 und 1938 der Arbeiterschaft geraubte Vermögen restituiert werden. Dann erst käme die »Rückgabe des geraubten Judengutes«, doch nicht an die einzelnen Geschädigten, sondern an einen Restitutionsfonds. »Für den Judenschaden soll grundsätzlich die Volksgesamtheit nicht haftbar gemacht werden. Natürlich sind die Maßregeln der Restitution nicht die Hauptprobleme.« Diese seien vielmehr Währung, Preise und Löhne. Und dazu fiel Renner zwar viel ein, doch er resignierte. Die »dem kommenden Gemeinwesen erwachsenden Lasten« würden so gewaltig sein, »dass an ihrer Tragbarkeit verzweifelt werden muss.« »Die lebende und die kommende Generation« könnten nicht für »die Schuld der Vergangenheit schuldlos in alle Ewigkeit« hungern und verbluten. Am 19. April hatte Renner Gelegenheit, seine Ideen dem Oberbefehlshaber der 3. Ukrainischen Front, Marschall Fedor I. Tolbuchin, aber auch dem alten Christlichsozialen Leopold Kunschak sowie dem – wie die Russen meinten – »vorübergehend eingesetzten Wiener Bürgermeister Körner« vorzutragen. Die Sowjets hatten sich mittlerweile in Wien eingerichtet, die meisten Häuser waren durchsucht, Brände – auch der des Stephansdoms – waren gelöscht, Tausende Leichen notdürftig begraben worden. Die Vergewaltigungen wurden weniger. Im Palais Epstein neben dem Parlament war die Stadtkommandantur eingerichtet worden. Unter anderem sorgte man dort noch für den Postversand. Doch es machte zu viel Mühe, die Briefe von gefallenen Rotarmisten zu expedieren. Sie verschwanden hinter den Parapeten der Heizkörper und sollten erst 60 Jahre später gefunden werden. Bei der Begegnung mit Tolbuchin relativierte sich so manches von dem, das Renner so vor sich hingedacht hatte. Und es war das erste Mal, dass er Widerspruch erfuhr. Der ging aber nur zum Teil von den Russen und weit mehr von den aus dem Moskauer Exil nach Wien heimgekehrten österreichischen Kommunisten unter der Führung von Johann Koplenig aus. Er und die Seinen hatten sich seit Ende 1944 auf Nachkriegs österreich vorzubereiten gesucht und waren enttäuscht bis geschockt, dass offenbar alles anders lief, als sie es sich vorgestellt hatten. Nur ein bisschen Volksfront war übriggeblieben. Koplenig meldete sofort den Anspruch der Kommunisten auf das Innenund das Unterrichtsressort an. Und während Renner mit Tolbuchin über die Not in Österreich und Maßnahmen zur Inbetriebnahme der Wirtschaft, das Aussaatproblem und Gesundheitsfragen sprechen wollte, machten die Russen klar, dass es ihnen ausschließlich um die Regierungsbildung ging. Renner spielte den Ball zurück und regte an, dass man ihm sowjetischerseits einen Befehl zur Regierungsbildung gebe. Darauf Tolbuchin : »dass die Rote Armee die Regierung nicht durch einen Befehl einzusetzen gedenke.« Das sei Sache der Österreicher. Renner akzeptierte und meinte, »dass ihm nun bereits ein zweites Mal die Rolle zukäme, ›Österreich zu retten‹«. Und er versprach, bis zum 23. April eine Regierungsliste vorzulegen.
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Angesichts der schon regelrecht friedlich scheinenden Atmosphäre, in der da beraten und hin- und hergefahren wurde, hätte man fast vergessen können, dass noch immer Krieg war. Im Raum St. Pölten, am Semmering und in der Steiermark gingen die Kämpfe zwischen der Wehrmacht und der Roten Armee weiter. Noch immer wurden von den Amerikanern Luftangriffe geflogen, und im Westen, Norden und Süden Österreichs bereitete man sich erst auf den Beginn der Kampfhandlungen und den Einmarsch alliierter Truppen vor. Ein Blick auf die zerstörten Städte, Industrien und Bahnhöfe, die kaputte Infrastruktur, hätte eigentlich mutlos machen können. So gesehen war das, was sich in Wien vorbereitete, auch wenn es ein wenig hybrid wirkte, ein gewaltiger Hoffnungsschimmer. Tatsächlich hatte Renner seine Regierungsliste am 23. April fertiggestellt. Zwei Tage später wollte Renner damit an die Öffentlichkeit treten. Doch da tat sich eine nicht zu unterschätzende Hürde auf. Renner und die Sowjets hatten bis dahin so getan, als ob sie die Zukunft Österreichs unter sich ausmachen könnten. Doch da waren auch noch die Westalliierten, die es zu berücksichtigen galt. In Moskau wurde denn auch hin- und her überlegt, wie man den westlichen Verbündeten die Sache beibringen konnte. Klar, dass man es so darstellen wollte, dass alles auf eine Initiative Renners zurückging. Dass die Kommunisten in seiner Regierung ausgerechnet das Innen- und das Unterrichtsressort besetzen wollten, war vielleicht ein Schönheitsfehler. Doch insgesamt konnte man auf Ausgewogenheit hinweisen. Aber würde das reichen ? Da fiel offenbar Renner eine Lösung ein : Es sollte nicht nur in den Staatssekretariaten einen Dreierproporz geben, sondern auch ein weiteres Staatssekretariat geschaffen werden und unbesetzt bleiben. Es würde erst dann zu besetzen sein, wenn auch Vertreter aus dem Westen und Süden Österreichs nach Wien reisen und damit Einheit demonstrieren konnten. Dem Volkskommissariat für Auswärtiges in Moskau blieb schließlich nichts anderes übrig, als die westlichen Staatskanzleien zu benachrichtigen, dass Herr Renner beabsichtigte, in Wien eine Regierung zu bilden. Ohne die Reaktion des Westens abzuwarten, doch zwei Tage später als geplant, bekam Renner dann grünes Licht für die Inbetriebnahme seiner Regierung. Am Freitag, dem 27. April, trafen sich die Staatsund Unterstaatssekretäre im Wiener Rathaus. Und erstmals in der österreichischen Geschichte gehörte auch eine Frau, Helene Postranecky (KPÖ), einem Kabinett an. In feierlicher Form, in einem halb zerstörten Rathaus, konstituierte sich die Provisorische Staatsregierung und verabschiedete die erste und einzige Unabhängigkeitserklärung Österreichs. Vieles wurde in einer langen Präambel angeführt, das zur Erklärung dienen sollte, dass Österreich gewaltsam an das Deutsche Reich angeschlossen worden war, dass es beraubt und entrechtet worden wäre, dass es schließlich in einen Krieg gegen Völker geführt worden sei, gegen die »kein wahrer Österreicher jemals Gefühle der Feindschaft oder des Hasses gehegt hat« usw. Independence Day auf österreichisch. Auf Verlangen der Kommunisten wurde auch der Satz der Moskauer Deklaration vom
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1. November 1943 in die Verlautbarung aufgenommen, wonach Österreich für seine Teilnahme am Krieg eine Verantwortung trage, der es nicht entgehen kann. Doch letztlich handelte Österreich gerade mit seiner Unabhängigkeitserklärung ganz im Sinn der Deklaration und setzte ein unmissverständliches Zeichen der Überwindung des Nationalsozialismus und der Abkehr von Deutschland. Die »Macht« der Provisorischen Staatsregierung endete freilich vorerst an Donau, Traisen und Lafnitz. Die Westalliierten signalisierten strikte Ablehnung und wollten Renner und die Seinen nicht zur Kenntnis nehmen. Der Krieg ging noch immer weiter. Doch sein Ende zeichnete sich ab, und man konnte hoffen.
Hintergrund : Plakat einer Sonderausstellung im Heeresgeschichtlichen Museum in Wien, 2001 : Der Eiserne Vorhang. A vasfüggöny. Davor Gerald Stourzh, Wolfgang Mueller, Der Kampf um den Staatsvertrag 1945 – 1955 (6. Aufl. Wien 2020) und Manfried Rauchensteiner (Hg.), Zwischen den Blöcken. Nato, Warschauer Pakt und Österreich (Wien-Köln-Weimar 2010). Ferner zertifiziertes Stück Stacheldraht der 1989 abgebauten ungarischen Grenzsicherung.
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Die Performance war perfekt 1986 produzierte Thomas Pluch einen Fernsehfilm »Der Aufstand« über die Ereignisse im Zusammenhang mit der Erhebung in Ungarn im Spätherbst 1956. Die Filmprosa erschien auch als Buch. Der Film wurde gesendet, das Buch wohl kaum gelesen. Doch Thomas Pluch hatte eine Erfahrung gemacht : Das Thema konnte noch immer aufregen, auch 30 Jahre danach. Allerdings zeigte sich nur die KPÖ erregt und titelte »ORF will einen Hetzfilm gegen KPÖ produzieren.«73 Untertitel : »Muhri-Protest an General intendant.« Der Film wurde trotz des Protests des KPÖ Vorsitzenden produziert und gesendet, ein Fernsehspiel, das ein Thema der damals noch jüngeren österreichischen Geschichte aufgriff und im Stile von »Das Dorf an der Grenze« – oder Vergleichbarem – verarbeitete. Der Stoff geriet ebensowenig wie der vorderhand letzte Teil des »Bockerer«. Dabei hätte Pluchs Film die Chance gehabt, noch weit mehr als die Hälfte der Österreicher als Zeitzeugen anzusprechen, vor allem auch Emotionen zu wecken, die anders als dann, wenn es um Nationalsozialismus, Zweiten Weltkrieg und Holocaust ging, geeignet waren, positive Zuordnungen vorzunehmen. Doch das Spiel um zwei Redakteure der »Österreichischen Volksstimme«, von denen der eine wohl Ernst Fischer gewesen sein kann, dessen »Damaskus-Erlebnis« von 1968 in das Jahr 1956 vorverlegte wurde, packte die Sache irgendwie falsch an. Das musste umso mehr verwundern, da doch alles logisch vorgegeben schien : Die Erregung, die Österreich beim Ausbruch der Ungarischen Revolution erfasste, die Begeisterung, das Bangen, dann die Angst, die Sowjets könnten auch wieder nach Österreich kommen, und schließlich die grenzenlose Enttäuschung, wie seitens der Parteiführung der KPÖ das Geschehene interpretiert und uminterpretiert wurde, bis dann die Komponenten wieder in ein Moskauer Schema passten und im politischen Kampf eingesetzt werden konnten. Ein Spielfilm. Nun kann man sich fragen, ob Pluch nur deshalb der Erfolg versagt blieb, weil das Drehbuch schlecht, die Handlung zu flach und die Protagonisten die falschen waren, ob Schauspieler, Regisseur oder wer immer mit Schuld an dem geringen Erfolg trugen, oder ob es etwas anderes war. Und die Antwort darauf wird wohl vielerlei zu berücksichtigen haben, letztlich gab sie aber Pluch selbst. Er siedelte zwar die Handlung
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im Jahr 1956 an ; doch die Zeichnung der Charaktere entsprach dem nicht ; es waren nämlich jene des Jahres 1968. Mit diesem kleinen Exkurs in die Welt der Schriftstellerei und des Filmemachens sollte gleich eingangs auf ein auch historiographisches Phänomen hingewiesen werden : Wenn wir von Krisen an Österreichs Grenzen reden (und ich verwende bewusst den Titel von Reiner Egers Buch),74 dann nimmt das Jahr 1968 einen viel breiteren Raum ein als 1956. Allerdings haben beide Ereignisse, die Intervention sowjetischer Truppen in Ungarn ebenso wie die in der Tschechoslowakei etwas gemeinsam : Das semantische Problem. Vielleicht sollte dem »Prager Frühling« ein »Budapester Herbst« entgegengesetzt werden, könnte man von der Niederschlagung reformkommunistischer Bewegungen sprechen, von Versuchen, aus der politischen und militärischen Struktur des Warschauer Pakts auszubrechen, oder was immer auch. – Doch es sind nur vordergründig semantische Probleme. Dahinter geht es sehr wohl um grundsätzliche Aussagen. Und da hat man sich sehr lange schwergetan, klare Zuordnungen und Formulierungen zu finden. Auch in Österreich ! Thomas Pluch ist nur ein Beispiel dafür. Doch nehmen wir einige andere Beispiele, die den österreichischen Umgang mit den Ereignissen in Ungarn zeigen. Da kommt einmal das erwähnte Wort »Ereignisse«75 vor. Norbert Schausberger76 (und andere) nennen es »Aufstand«, jüngst auch Roman Sandgruber77 oder »Ungarnaufstand« ;78 Walter Kleindel79 (und andere) »Volksaufstand«. Diese Tagung ist dem »ungarischen Aufstand« und der »Krise 1956« gewidmet. Es kommen »Erhebung« und »Revolution« vor, letzteres eher vereinzelt und erst später, z. B. bei Ernst Hanisch.80 Auch ich habe – schon um der Wortwiederholung vorzubeugen – die Begriffe gemischt.81 Aber eigentlich hätte man allen Grund gehabt, von »Konterrevolution« zu reden, so wie das auch Robert A. Kann nahegelegt hat. Denn unter Zugrundelegung einer 1947 stattgefundenen Revolution in Ungarn, die ein kommunistisches Regime zur Folge hatte, konnte man den Versuch, diesen Vorgang neun Jahre später rückgängig zu machen, sehr wohl und wertfrei mit Konterrevolution bezeichnen. Doch das wurde nicht zuletzt deshalb vermieden, weil es die Übernahme der Ostblockdiktion bedeutet hätte und sich auch wegen des implizit mitschwingenden Restaurationsbegriffs nicht wirklich empfahl. In der Sowjetunion und ihren Satelliten, aber auch in einem vom Panzerkommunismus niedergeworfenen Ungarn sprach und schrieb man bis 1989 hingegen vergleichsweise konsequent von Konterrevolution, konterrevolutionären Umtrieben u.dgl.m. Und das war etwas, mit dem der Westen auch historiographisch nichts zu schaffen haben wollte. Die Tschechen und Slowaken taten sich da leichter. Sie stellten den Begriff der Reform in den Vordergrund – und das wurde sehr wohl akzeptiert. Doch auch sie blieben nicht vor »Ereignissen« und »Krisen« und anderen Umschreibungsversuchen bewahrt. Es muss aber nochmals unterstrichen werden, dass in der Historiographie, auch in der österreichischen, dem Jahr 1956 weniger Aufmerksam zuteil wird als den Vorgän-
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gen in der Tschechoslowakei. Vielleicht deshalb, da der tschechoslowakischen Krise international eine viel ungeteiltere Aufmerksamkeit zuteilwurde als der ungarischen, weil es weniger Parallelhandlungen gab als im Spätherbst 1956 und auch – und das ist nun vollends Hypothese – weil den Tschechen traditionell mehr Sympathien entgegen gebracht werden als Ungarn und Österreichern. Im Spätherbst 1956 hatte man in Österreich gleichermaßen festzustellen, dass etwas zum Abschluss kam, während anderes seinen Anfang nahm. Diese zunächst banale Feststellung wurzelt in dem auch bei Ernst Hanisch nachzulesenden Phänomen, dass historische Perioden oft nicht das sind, was sie zu sein scheinen, die fünfziger Jahre länger dauern als nur 10 Jahre, dafür das 20. Jahrhundert wiederum sehr viel kürzer war als 100 Jahre. Geschichte hält sich nicht an Kalender. Ebenso aber kann man feststellen, dass das Ende einer Periode, auch eines längeren historischen Abschnitts, zeitversetzt ist. Und so könnte man auch der alliierten Besetzung Österreichs einen Annex geben, der sie etwas länger erscheinen lässt. Natürlich nicht bei der effektiven Zählung der Jahre, wohl aber, weil eine Periode erst dann ihren Abschluss findet, wenn die sie prägenden historischen Entitäten andere werden. Und da kann man sehr wohl überlegen, wie weit 1956 doch noch die Besatzungszeit und die Besatzungsmächte das Denken und Handeln in Österreich beeinflussten, und wie sehr sie noch eine selbstverständliche Kategorie waren : Die Sowjets (oder doch einfach : die Russen), die Amerikaner usw. Man merkte diese Kategorien und den späten Abschied von der Besatzungszeit ja auch noch vor vielleicht zehn Jahren, wenn es darum ging, den österreichischen Nationalfeiertag zu definieren und dann die Mär vom abziehenden letzten Russen verbreitet wurde, der an diesem 26. Oktober 1955 Österreich verließ. Auf dieses Phänomen der Zeitversetzung wird nachdrücklich zu verweisen sein, um den Spätherbst 1956 in Österreich verständlich zu machen : Man dachte noch in Kategorien der Besatzungszeit, legte automatisch mit dem Besatzungsjahrzehnt Maß an, und musste im selben Augenblick feststellen, dass nichts mehr passte, und daher die gelebte Besatzungszeit und ihre selbstverständlichen Mechanismen keine Anwendung mehr finden konnten. Denjenigen, die diese Zeit erlebt haben – und ich zähle mich nicht dazu – wird es vielleicht vorkommen, als ob es gestern gewesen wäre. Aber natürlich laufen wir Gefahr, die Erinnerung, die mittlerweile um soundso viele Details angereichert wurde, Details, die aus Publikationen und Medien kamen, überzubewerten. Denken wir an die Fernsehserie Österreich II,82 die dem Jahr 1956 eine eigene Folge gewidmet hat, an die Memoirenliteratur von Josef Klaus83 über Bruno Kreisky84 bis Alois Mock, oder an den 2. Teil von Fritz Moldens angereicherter Autobiografie »Besetzer, Toren, Biedermänner«.85 Unser Wissen um Details der Abläufe wurde und wird ständig angereichert. Und vielleicht ist es gerade deshalb immer wieder reizvoll, sich mit der damaligen Situation Österreichs zu beschäftigen, den ersten Grenzsicherungseinsatz
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des österreichischen Bundesheers mit dem zweiten, 1991, zu vergleichen, und sei es nur, um die Dimensionen zu verstehen, die Betroffenheit in Einklang zu bringen, oder aber auch nur darum, mit einer gewissen Verblüffung festzustellen, dass dem zweiten Sicherungseinsatz mittlerweile mehr Bedeutung beigemessen wird als dem ersten. Aber das ist wohl eher ein Problem der historischen Optik, die Jüngstvergangenem eine höhere Bedeutung beizumessen sucht als dem weiter Zurückliegenden. Möglicherweise deshalb, weil das Gedächtnis frischer ist, oder aber auch, weil sich die politische Nutzanwendung bei lange und längst Vergangenem nicht von selbst ergibt. Aber natürlich sind da auch die Historiker ein Hindernis und sich mitunter selbst im Weg, weil zum einen mehr und zum anderen weniger geforscht und geschrieben wird. Vergegenwärtigen wir uns daher kurz die Situation, in der sich Österreich und sein Heer in der zweiten Jahreshälfte 1956 befanden. Ein Jahr nach Abschluss des österreichischen Staatsvertrages und fast auf den Tag genau ein Jahr nach der Erklärung der immerwährenden Neutralität, war das politische Aufbauwerk der Zweiten Republik so gut wie beendet. Es war auch jener Vorgang zumindest ansatzweise bewältigt worden, den wir wohl seit der deutschen Vereinigung besser beurteilen können als vorher, wie nämlich zwei Gebiete, die sich nicht zuletzt wirtschaftlich ganz anders entwickelt hatten, zusammengefügt wurden und der Westen trachten musste, den Osten nachzuziehen. Von den im Staatsvertrag von 1955 geregelten Fragen, nicht zuletzt von den in diesem Vertragswerk erhobenen Forderungen, waren ein Jahr danach zwar noch etliche unerledigt, doch die betrafen zum wenigsten sicherheitspolitische Fragen. Wohl aber war aus der Vorgeschichte des Vertragsabschlusses bekannt, dass ein eminentes Problem noch keine Lösung gefunden hatte, nämlich die Frage, ob es nicht doch, wie es die Sowjetunion gewünscht hatte und wie es im Moskauer Memorandum auch ausdrücklich und schriftlich verankert war, eine Garantie der Neutralität geben sollte. Auch die Schweizer Neutralität war ja, so wie sie auf dem Wiener Kongress vereinbart worden war, eine garantierte gewesen. Doch alle Bemühungen – und es waren durchaus keine Alibihandlungen gewesen – bei den Westmächten und insbesondere bei der für die Österreichpolitik führenden Macht des Westens, nämlich Großbritannien, eine Bereitschaft zur Garantie zu erhalten, waren gescheitert. Der Westen machte von allem Anfang an klar, dass er Österreich als alleinverantwortlich für seine Sicherheit ansah. Er wollte wohl gewisse Vorleistungen erbringen und hatte sie in Form von Waffenlieferungen und schon früher durch den Aufbau der B-Gendarmerie erbracht. Mehr konnte und sollte aber nicht getan werden. Dabei ist auffallend, dass die Vereinigten Stabschefs der USA, die auch im österreichischen Fall für die Bereitstellung von Geldmitteln und Rüstungsgütern entscheidend waren, die materielle Unterstützung des Österreichischen Heeres langfristig einplanten und auch noch im September und Oktober 1956 von der Annahme ausgingen, dass Österreichs
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Armee in neun Infanterie- bzw. gemischte Brigaden, drei Panzer- und drei ArtillerieRegimenter gegliedert sein und eine Stärke von rund 60.000 Mann in drei Gruppen aufweisen würde. – Dementsprechend waren Lieferungen an Österreich bereits bis 1958 budgetiert. Österreich hatte das Humanpotential zu stellen. Waffen, Munition, militärische Ausrüstung waren abrufbar oder schon abgerufen (sie kamen aus Livorno) ; die Sachen waren wohl teilweise nicht mehr letzter Stand der Technik und Technologie, aber für Österreich noch immer gut. Als Startkapital hervorragend, großzügig und eine Investition in die Zukunft. Eigene militärische Stärke sollte aber in der Folge jegliche Garantie für Österreich ersetzen und überflüssig machen. Doch vorderhand und zum besonderen Missvergnügen der Amerikaner war bis zum Herbst 1956 noch immer sehr wenig von dem zu sehen, was sie sich als Minimalstreitmacht vorgestellt hatten. Es gab wohl einen Rahmen. Doch die Stäbe wurden erst sukzessive gebildet und die Rahmentruppen waren bis zum Oktober 1956 noch weitgehend mit dem ident, was einmal B-Gendarmerie und seit dem Juli 1955 Provisorischer Grenzschutz geheißen hatte. Dieses gemächliche Herantasten an eine militärische Wirklichkeit, die sich nicht zuletzt in der österreichischen Nachbarschaft zeigte, veranlasste denn auch den amerikanischen Gesandten James Penfield am 28. Juni 1956 bei Bundeskanzler Julius Raab und Vizekanzler Adolf Schärf zu intervenieren, mit dem Ziel, den Gedanken an einen nur 6-monatigen oder gar nur 4-monatigen Wehrdienst eine klare Absage zu erteilen. Derartige Überlegungen waren – auch wenn das Wehrgesetz schon längst verabschiedet worden war – offenbar noch lange nicht vom Tisch. Penfield führte ins Treffen, dass eine Art symbolischer Landesverteidigung (wörtliches Zitat von Außenminister Figl : »Daher müssen wir auch eine Wehrmacht haben, die an den Grenzen im Ernstfall fünf Schüsse abfeuern wird«)86 verheerende Folgen für das umliegende Europa und für Österreich selbst haben würde. Es würde die Neutralität ad absurdum führen und Österreichs Stimme im internationalen Konzert jegliches Gewicht nehmen. Raab war von diesem Exkurs so beeindruckt, dass er davon sprach, innerhalb weniger Jahre würde das Bundesheer aufgeholt und einen Reservestand von 500.000 Mann haben.87 – Ein großes Wort ! In Österreich war man sich 1956 der geänderten Verhältnisse aufgrund der gewonnenen Unabhängigkeit und der Neutralität zwar schon bewusster geworden, doch es schien nichts zu drängen, und jenseits der organisatorischen Fragen dachte man vornehmlich in Analogien. Im Juli 1956 war erstmals nach dem Zweiten Weltkrieg ein österreichisches Verteidigungsministerium geschaffen worden, das aus den vorhandenen aber weit verstreuten Elementen eine Zentralbehörde zu bilden begann und mit der Grenzschutzabteilung auch eine Art militärische Spitze schuf. Leiter der Sektion II, der damaligen militärischen Sektion, wurde Oberst dhmD [des höheren militärischen Dienstes] Erwin Fussenegger. Er war erst 1955 aus der Privatwirtschaft in das Amt
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für Landesverteidigung geholt worden und stützte sich in der Folge wohl vornehmlich auf jene Gedankengänge, die schon im Rahmen der B-Gendarmerie kursiert waren. Doch was wirklich sein würde, konnte wohl niemand vorausdenken. Nunmehr aber war Österreich für seine Verteidigungsanstrengungen selbst verantwortlich geworden und musste sich auch daran gewöhnen, notfalls nicht irgendwo im Westen oder Süden Europas und im Rahmen einer multinationalen Streitmacht eine Rolle zu spielen, wie das noch während der Besatzungszeit für den Fall eines Kriegs angenommen worden war, sondern auf dem eigenen Territorium und direkt an den Staatsgrenzen, auch im Osten und Süden präsent zu sein. Der bald mit dem Titel eines Generaltruppeninspektors ausgestattete Erwin Fussenegger zögerte nicht, ein entsprechendes Verteidigungskonzept in Kraft zu setzen. Daher wurde schon im Sommer 1956 eine Weisung formuliert, die nur zwei Fälle kannte und sehr knapp gehalten war : »Allgemeine Weisung für die Kampfführung des Bundesheeres« 1. Fall : Gemeinsamer Angriff aus Ungarn und der Tschechoslowakei, wobei das Verhalten Jugoslawiens ungeklärt ist. 2. Fall : Ein isolierter Angriff Ungarns. Das Verteidigungsministerium sollte nach St. Johann im Pongau verlegt werden.88 In diesem Verteidigungsexposé vom Juli 1956 wurden keine großen operativen Erwägungen angestellt, und es war wohl auch nur deshalb verfasst worden, damit es überhaupt so etwas wie eine Planung gab. Doch offenbar war auch niemandem in den Sinn gekommen, dass es einen anderen Feind geben konnte. Es wurde auch keine Erwähnung getan, mit welchen Truppen man nun wirklich rechnete, ob nur mit Ungarn, Tschechen und eventuell auch Jugoslawen oder doch auch mit Sowjets. Und es lässt sich heute auch nicht mehr feststellen, ob Fussenegger einfach deshalb in der Kategorie »Ostkrieg« dachte, weil der ihm die einzige mögliche (und noch aus Zeiten der Deutschen Wehrmacht vertraute) Kategorie schien, oder aber, ob er zumindest andeutungsweise etwas von dem mitbekommen hatte, was sich in und um Ungarn abspielte, aber noch nicht zuordnen ließ. In Österreich hatte man wohl auch so gut wie keine Kenntnis von den wahren Kräfteverhältnissen, die sich etwa so darstellten, dass die Ungarische Volksarmee über 200.000 Mann zählte, also sehr wohl eine komplette Armee ins Feld stellen konnte. Und wenn man die Sowjets dazuzählte, waren allein im österreichischen Abschnitt in der allgemeinen Richtung Westen zwei Armeen anzunehmen. Das Bundesheer aber zählte damals an die 8.000 Mann, die sich auch in Bewaffnung und Ausrüstung von den Armeen des Warschauer Pakts markant unterschieden. Verzögerung eines militärischen Vormarsches war daher auch das so gut wie Einzige, das diesen 8.000 zugemutet werden konnte. Der Westen schien in der ersten Operationsweisung des Bundesheers überhaupt nicht auf, auch nicht in der Weise, dass Hoffnung auf Unterstützung artikuliert worden wäre.
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Fussenegger und die Bearbeiter der ersten operativen Weisung des Bundesheers hatten vielleicht etwas von den Geheimverhandlungen des Chefs der Präsidialsektion des Bundesministeriums für Landesverteidigung, General Dr. Emil Liebitzky, mitbekommen, bei denen über ein mögliches Zusammengehen Österreichs mit NATOStaaten gesprochen worden war. Zu Jahresende 1955 hatte Liebitzky im Auftrag von Verteidigungsminister Graf in Italien Geheimverhandlungen geführt, bei deren erfolgreichem Abschluss die immerwährende Neutralität schlichtweg ad absurdum geführt worden wäre. Liebitzky, von 1933 bis 1938 österreichischer Militärattaché in Rom und ab 1952 maßgeblich am Auf bau der B-Gendarmerie beteiligt, hatte mit Wissen von Verteidigungsminister Graf Gedanken entwickelt, die auf eine zeitliche, wenn nicht überhaupt Scheinneutralität hinausliefen. Damit waren Liebitzky wie sein Minister beim italienischen Verteidigungsminister Taviani zwar auf merkbares Interesse gestoßen, doch den Italienern war von amerikanischen Stellen sehr rasch bedeutet worden, dass sie kein Mandat hätten, für die NATO zu sprechen. Die Achse Rom – Wien hatte wohl endgültig ausgedient.89. Eine Hoffnung auf rasche Unterstützung baute daher auf Sand. In dieselbe Kategorie des vergleichsweise bezugslosen Planens gehörte auch, dass einen Tag, bevor die ersten Soldaten auf Grund der in Österreich seit 7. September 1955 geltenden allgemeinen Wehrpflicht einrückten, der mögliche Einsatz der Jungmänner geregelt wurde. Hier hieß es, dass sie zur Hilfeleistung im Inneren und zum Katastro pheneinsatz verhältnismäßig früh, nämlich schon ab der 3. bis 7. Ausbildungswoche verwendet werden dürften ; für einen militärischen Einsatz wären sie aber erst ab dem 4. Ausbildungsmonat einzusetzen. Etwa zur gleichen Zeit wie die »Allgemeinen Weisungen für die Kampfführung« hinausgegeben wurden und damit der »Kriegsfall Ost« ein erstes Mal formuliert wurde, arbeitete das Kommando der sowjetischen Truppen in Ungarn, das sogenannte Sonderkorps, Pläne für die Niederwerfung eines Aufstands in Ungarn aus.90 In diesem Operationsplan vom 20. Juli 1956 war als Auftrag an die 17. Garde mechanisierte Division die Abriegelung der österreichischen Grenze formuliert. Weitere Ziele und vor allem solche innerhalb Österreichs wurden nicht genannt. Vorderhand deutete aber ohnehin nichts auf den Ausbruch einer Revolution im östlichen Nachbarland und das damit einhergehende Inkraftsetzen von operativen Planungen hüben und drüben hin. Österreichischerseits verfolgte man vielmehr mit Aufmerksamkeit, dass Ungarn Veränderungen am Eisernen Vorhang vornahm, die, wie wir mittlerweile wissen, nicht dem Abbau der Sperren, sondern deren Verbesserung dienten. Dennoch war es ein ermutigendes Zeichen, denn der Beschluss des Politbüros der ungarischen Kommunisten, die gefährlichen Anti-Personenminen an der Grenze zu beseitigen, war am 9. März 1956 und auf ausdrücklichen Wunsch Österreichs zustande gekommen.91 Die Staatskanzleien versuchten währenddessen, einen einigermaßen nor-
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malen politischen Verkehr zustande zu bringen. Die Tschechoslowakei, Ungarn, Polen und andere ostmitteleuropäische Staaten traten bald dem österreichischen Staatsvertrag bei und anerkannten ebenso wie die Sowjetunion die österreichische Neutralität. Doch die militärische Komponente in diesem Vorgang hielt mit der politischen nicht Schritt. Denn auch die geänderte sicherheitspolitische Situation konnte nicht verhindern, dass Österreich von Moskaus Satelliten immer wieder attackiert wurde, ja vielleicht musste das auch so sein, damit dort nicht das Gefühl überhandnahm, man müsste nur so neutral werden wie Österreich, um die Loslösung von Moskau zu erreichen.92 Das war ja sehr wohl eine Überlegung, die seit 1955 im Raum stand. Mehr noch : Österreichs Weg war für die im Norden und Osten angrenzenden Staaten des Sowjetblocks eine regelrechte Herausforderung ; im positiven Sinn, versteht sich. Doch es war eine Illusion. In den USA, beispielsweise, wurde nie ernsthaft erwogen, es könnte auch der eine oder andere Staat Ostmitteleuropas neutral werden. Außenminister John Foster Dulles blockte denn auch einen diesbezüglichen Vorstoß eines einzelnen Washingtoner Senatsmitglieds unverzüglich ab. Die Administration Eisenhower, so die unmissverständliche Formulierung, würde auch an der Peripherie der Sowjetunion keine Änderungen unterstützen. Weniger verwunderlich war dann wohl, dass auch der stellvertretende sowjetische Ministerpräsident, Anastas Mikojan, die österreichische Neutralität als »Sonderfall« bezeichnete, der nicht wiederholbar sei.93 Für die kommunistischen Regime in Ostmitteleuropa war es denn auch ausgemachte Sache, dass man zu Österreich auf Distanz zu bleiben hatte, daher gab es auch keine Herzlichkeit in den bilateralen Beziehungen und wurde aus den diversen Äußerungen oder auch nur medial aufbereiteten Unfreundlichkeiten sowie aus der Existenz einer Grenze, die markant Gesellschaftssysteme trennte, der Schluss gezogen, dass der jeweils Andere der potentielle Gegner sei. Nicht zuletzt diese sehr wohl gepflegte Optik und die sprachliche Unkultur ließen in Österreich ein neues Feindbild aufkommen. Vielleicht auch wurden lediglich Vorurteile aktualisiert. Denn liest man etwa Bruno Kreiskys einleitende Bemerkungen zu den Vorgängen in Ungarn 1956 nach, dann wird zunächst einmal ausgeführt, dass die Ungarn für die Habsburgermonarchie schon immer ein Unglück gewesen wären, und dann gefolgert, dass sich unter der Herrschaft der Kommunisten letztlich auch nur etwas fortgesetzt hätte, das bereits strukturell und mehr als ansatzweise vorhanden gewesen war. Und wörtlich : »Ungarn ist das aus der österreichischen Geschichte heraus ungeliebte Nachbarland. Deshalb ungeliebt, weil die großen Probleme der Doppelmonarchie aus den Unabhängigkeitsbestrebungen Ungarns entstanden sind … In der Außen- und Bündnispolitik der Monarchie haben die Ungarn vor 1914 eine … unselige Rolle gespielt.« Es ist aber auch eine bemerkenswerte Feststellung des damaligen Staatssekretärs im österreichischen Außenministerium, wenn es wenig später heißt : »Bis zum ungarischen Aufstand … hatte ich der
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Entwicklung und den Verhältnissen in Ungarn wenig Aufmerksamkeit gewidmet.«94 (Kreisky verwendet im Übrigen konsequent das Wort »Aufstand«). Doch es war nicht nur der Staatssekretär im Außenministerium, der den Vorgängen in Ungarn wenig Aufmerksamkeit gewidmet hatte ; dasselbe galt wohl für viele Politiker und für den Großteil Österreichs. Auffallenderweise klafften daher die politischen und die militärischen Wahrnehmungen weit auseinander. Die Politik interessierte sich nicht für Ungarn. Die militärische Planung aber stellte Ungarn in den Mittelpunkt. Das konnte, wie erwähnt, so weit gehen, dass die zweite der beiden operativen Annahmen in Fussseneggers »Allgemeinen Weisungen für die Kriegführung« von einem isolierten Angriff Ungarns sprach. Vor diesem Hintergrund, also, rückten am 15. Oktober 1956 die ersten 12.500 Jungmänner in Österreichs Kasernen ein. Acht Tage später brach die (Konter)Revolution aus. Vorderhand war freilich noch nicht abzusehen, welche Dimension die Ereignisse in Ungarn erreichen sollten. Mittlerweile wissen wir aber sehr wohl, wie reagiert wurde : Innenminister Oskar Helmer und Verteidigungsminister Ferdinand Graf gingen am 24. Oktober daran, eine Lagebeurteilung vorzunehmen. Und sie zögerten keinen Augenblick, Maßnahmen zur Grenzsicherung zu ergreifen. Dabei kam es zu einer Art Vermischung von Assistenz- und Sicherungseinsatz, denn die Heereskräfte sollten die Gendarmerie verstärken. Die Gendarmerie aber sollte, falls notwendig, auch Verteidigungsaufgaben übernehmen.95 Helmer charakterisierte die Vorgänge in Ungarn bemerkenswerterweise als »Wiederaufrichtung der Demokratie.«96 Möglicherweise haben Graf und Helmer – zumindest nach Auffassung des tags darauf nach Wien zurückgekehrten Bundeskanzlers – zu rasch und zu massiv reagiert. Für Julius Raab machte es keinen Sinn, die Bedrohung als umfassend zu sehen und Bedrohtheit zu zeigen. Denn es schien ihm letztlich abwegig, dass es etwa die Sowjets zulassen würden, dass Österreichs territoriale Integrität angetastet würde. Für ihn waren ja die Sowjets diejenigen, die den Staatsvertrag ermöglicht hatten. (Zwei Jahre später drückte er das auch zum Ärger der USA genau mit diesen Worten aus). Und er folgerte wohl auch, dass in Ungarn nichts ohne Mitwirken der Sowjets passieren würde. Dass die Russen aus Ungarn abziehen könnten, war für ihn undenkbar. Daher ließ Raab noch am 25. Oktober die Alarmierung des Bundesheers aufheben und die zur Unterstützung der Gendarmerieabteilungen befohlenen Bundesheereinheiten wieder einrücken. Doch dann kam es anders. Die Sowjets richteten nicht nur in Budapest ein Blutbad an, sondern waren offenbar auch nicht mehr Herren der Lage. 24 Stunden nach Aufhebung des Bundesheer-Einsatzes sah auch Raab die Notwendigkeit von umfassenden Grenzsicherungsmaßnahmen gegeben. Innerhalb von sieben Minuten (so die Eintragung im Tagebuch von Außenminister Leopold Figl) wurde ein Maßnahmenkatalog beschlossen, der sicherstellen sollte, dass die Republik die Grenzen zu Ungarn mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln sichern sollte.97
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Was hier geschah, kann aber nicht nur nach seinem faktischen Ablauf geschildert werden. Es steckte doch auch etwas anderes dahinter. Raab und mit ihm die ganze 45er Generation, die sich für den Wiederaufbau Österreichs verantwortlich fühlte, ihn als ihr – unbestreitbar – auch persönliches Werk ansah, sah sich herausgefordert. Sie sah ihr Werk in Gefahr und ließ daher die »Wache am Eisernen Vorhang« aufziehen. Trotz seiner in absoluten Zahlen nicht überwältigenden Dimension war das ein eindrucksvoller Vorgang. Denn dabei ging es nicht nur um Vorsicht, Übervorsicht oder gar darum, die Existenzberechtigung des Bundesheers unter Beweis zu stellen. Es ging darum, eine möglichst ausgewogene Reaktion zu zeigen, notfalls auch Abwehrbereitschaft zu demonstrieren und nach innen, wie nach außen – wie es so schön heißt – »Flagge zu zeigen«. Und dabei hieß es Abschied von der Besatzungszeit zu nehmen. Was ab dem 26. Oktober geschah, war auch zweifellos mehr als eine Demonstration und hatte schon überhaupt nichts mit symbolischer Landesverteidigung zu tun. Schon die erste Entscheidung : Was sollte mit den Jungmännern passieren ? war von weitreichender Bedeutung. Konnte man den Aufbau des Heeres weiter verschleppen, indem die Einheiten wieder praktisch skelettiert wurden und nur die Kadertruppen zur Grenzsicherung ausrückten ? Würde es zu vertreten sein, wenn Jungmänner mit in diesen Einsatz geschickt würden ? Wo sollten die Sicherungskräfte eingesetzt werden ? u. a. m. Klar waren die Ziele, die mit diesem Einsatz verfolgt werden sollten : Es sollte der burgenländischen Bevölkerung ein Gefühl der Sicherheit vermittelt werden. Doch das wäre mit einem bloßen Assistenzeinsatz auch zu erreichen gewesen. Nunmehr aber war das Bundesheer aufgerufen, selbständig den Schutz der Grenze wahrzunehmen und bei einer Massenflucht aus Ungarn, wie sie täglich erwartet wurde, zur Unterstützung von Gendarmerie und Zollwache da zu sein. Zudem war für den Fall des Übergreifens der Kampfhandlungen ein Verteidigungsauftrag fixiert und die Feuereröffnung mittels Befehlen geregelt worden, die von den Brigaden an die unterstehenden Kommandos weitergegeben wurden. Hier hieß es unmissverständlich : »Personen oder Gruppen, die österreichisches Gebiet bewaffnet betreten, sind zum Niederlegen der Waffen aufzufordern und zu entwaffnen. Gegen im Kampf die österreichische Grenze überschreitende ungarische Formationen ist, falls sie die (durch österreichische Fahnen kenntlich gemachte) Grenze passieren bzw. trotz Aufforderung nicht zur Kenntnis nehmen, dass sie auf österreichisches Gebiet getreten sind und den Kampf fortsetzen, das Feuer zu eröffnen. Diese Formationen sind zurückzudrängen bzw. zu entwaffnen. Sowjetrussischen Einheiten, die im Nachdrängen auf österreichisches Gebiet gelangen, ist ebenfalls klarzumachen, dass sie sich auf österreichischem Boden befinden. Auch gegen sie ist, wenn sie sich nicht zurückziehen und den Kampf fortsetzen, das Feuer zu eröffnen. Die Eindringlinge sind zurückzuwerfen bzw. zu entwaffnen.«98
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Das waren sehr mutige Formulierungen, deren Textierung aber wohl deutlich machte, dass die Minister gezögert hatten, Ungarn und Sowjets in einen Topf zu werfen. Konnte man denn wirklich einem der Staatsvertragssignatare und gerade den Sowjets ein Jahr »danach« zu verstehen geben, dass man notfalls auf sie schießen würde ? Nachdem zwei weitere Tage verstrichen waren, die dazu dienten, die Entwicklung in Ungarn gründlich zu analysieren und die Maßnahmen Österreichs darauf abzustimmen, erfolgte am Sonntag, dem 28. Oktober, im Verlauf eines Sonderministerrats der Paukenschlag : Der Ministerrat erklärte das Burgenland zur Sperrzone. Nicht dort wohnenden oder beschäftigten Personen sollte das Betreten nur mehr mit Sonderausweisen möglich sein. 23 Straßensperren sollten die Überwachung der Sperrzone erleichtern. An die Regierung der Sowjetunion aber wurde eine Note gerichtet, in der die Betroffenheit der österreichischen Bundesregierung über die Vorgänge in Ungarn zum Ausdruck gebracht wurde. Hier hieß es u. a.: »Die österreichische Bundesregierung verfolgt mit schmerzlicher Anteilnahme das nun fünf Tage andauernde blutige und verlustreiche Geschehen im benachbarten Ungarn. Sie ersucht die Regierung der UdSSR mitzuwirken, dass die militärischen Kampfhandlungen abgebrochen werden und das Blutvergießen aufhöre.« Es hatte zwar innerhalb der Koalitionsregierung in beiden Parteien Widerstand gegen diese doch unmissverständliche Formulierung gegeben und wurde von einer Provokation der Sowjets gesprochen. In diesem Sinn äußerte sich vor allem der Staatssekretär im Innenministerium, Franz Grubhofer. Doch Raab, Schärf, Figl, Helmer und Graf setzten sich durch. Figl machte die Haltung Österreichs aber noch deutlicher, als er am Nachmittag dieses von Hektik erfüllten Sonntags den sowjetischen Botschafter Sergej G. Lapin zu sich rief und ihm nicht nur die erwähnte Note der Bundesregierung übergab, sondern ihn auch über den Schießbefehl des Bundesheeres informierte. Und zwar mit dem kompletten Wortlaut.99 Damit sollten allenfalls bestandene Zweifel über die an das Bundesheer ergangenen Befehle ausgeräumt werden. Lapin hatte wohl verstanden. Der Landesverteidigungsausschuss, der schließlich auch noch eingeschaltet wurde, fasste keine essentiell über den Sonderministerrat vom 28. Oktober hinausgehenden Beschlüsse. Die Heereseinheiten waren in den darauffolgenden Tagen damit beschäftigt, die Bundesheerfahrzeuge mit rot-weiß-roten Fahnen zu drapieren. Zudem wurde die Grenze pausenlos abgefahren, weil das Heer angewiesen war sicherzustellen, dass die Auspflockung und Beflaggung der Staatsgrenze klappten. Notfalls war den Bürgermeistern Hilfestellung zu geben. Deutlicher als an den Vortagen wurde auch herausgestrichen, dass sich geschlossene Verbände nur bis 500 m der Grenze nähern durften. Innerhalb der 500 m–Zone sollten sich nur einzelne Posten aufhalten dürfen und vor allem Offizierspatrouillen gefahren werden. Damit sollte nicht zuletzt verhindert werden, dass es zur Gefährdung von Soldaten kam, die vielleicht zufällig in einen Schusswechsel gerieten, also das, was man heute so schön »Kollateralschäden« nennt.
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Der Befehl über die Feuereröffnung, mittels Merkblättern jedem eingesetzten Soldaten zur Kenntnis gebracht, schien zunächst keine wie immer geartete Aktualität zu haben. Denn nach den ersten wild wuchernden Gerüchten, die vom Anmarsch starker sowjetischer Kräfte, von ausgedehnten Kampfhandlungen und der Möglichkeit des Herü berwechselns größerer Scharen von Bewaffneten sprachen, zeigte sich die Situation an der Grenze keineswegs bedrohlich. Ganz im Gegenteil hatten Heer und Exekutive alle Hände voll zu tun, um Tausende Ungarn, die zu durchaus friedlichen Zwecken, zu reinen Freudenkundgebungen nach Österreich aufgebrochen waren, wieder über die Grenze zu führen. Die Situation ähnelte frappant jenen späteren Szenen des Jahres 1989 und vor allem dem sogenannten Paneuropäischen Picknick, mit dem das Ende des Eisernen Vorhangs augenfällig gemacht wurde. 1956 sollte es aber ganz anders kommen. Alle Verantwortlichen in Österreich hatten wohl Sorge, dass die getroffenen Maßnahmen ausreichen würden. Es wurde demonstrativ auf die Abwehrbereitschaft des Heeres und die Grenzsicherungsmaßnahmen hingewiesen. Es sollte also nicht nur die eigene Bevölkerung beruhigt, sondern auch nach außen hin so etwas wie Stärke und Abwehrbereitschaft gezeigt werden. Daher war es nur folgerichtig, wenn am 30. Okto ber die Militärattachés der Signatarmächte des Staatsvertrages eingeladen waren, im Rahmen einer Besichtigungsfahrt die Stellungen der Heereseinheiten in Augenschein zu nehmen und eine Einweisung in die Lage zu bekommen. Alle dazu eingeladenen Attachés machten von dieser Möglichkeit Gebrauch. Auch hier haben wir festzustellen, dass beim zweiten Sicherungseinsatz des Bundesheeres, 1991, analog gehandelt wurde, nur machten bei weitem nicht alle Attachés von der Einladung Gebrauch. Mit der Attachétour 1956 endete dann die Phase der Demonstration neutralen Verhaltens. Und während Österreich den Beginn einer beispiellosen karitativen Welle erlebte und Drehscheibe der internationalen Hilfssendungen für Ungarn wurde, spitzte sich die Lage plötzlich in alarmierender Weise zu. Durch Österreichs unverhüllte Zurschaustellung moralischer und westlich-neutraler Gesichtspunkte, durch den Appell an die Sowjetunion, dem Blutvergießen in Ungarn ein Ende zu bereiten, durch die den Russen sogar notifizierte Ausweitung des Schießbefehls auf Rotarmisten und durch die karitativen Maßnahmen fühlte sich die Sowjetunion offenbar so direkt angesprochen und wahrscheinlich auch herausgefordert, dass sie wohl reagieren musste. Am 30. Oktober begann in den östlichen Medien eine massive antiösterreichische Kampagne, die es sich zum Ziel gesetzt hatte, die moralische Position des Landes zu erschüttern. In Österreich zusammengestellte Hilfslieferungen von Lebensmitteln und Medikamenten seien, so hieß es, dazu verwendet worden, um Waffen und Munition nach Ungarn zu schmuggeln. Tausende von militanten Horthy-Anhängern, ehemalige »Pfeilkreuzler« und Szálásy-Gefolgsleute wären über Österreich nach Ungarn gebracht worden, um die Gegenrevolution zu schüren. In Westösterreich, konkret in Salzburg, Linz und Graz, gäbe es illegale Ausbildungszentren der Amerikaner, in denen diese Leute für
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ihren Einsatz in Ungarn vorbereitet würden, und schließlich hieß es – von den KPOrganen, vor allem der österreichischen »Volksstimme« geradeheraus gesagt – dass ohnedies schon amerikanische Truppen in Österreich und unmittelbar an der ungarischen Grenze stünden. Noch am 30. Oktober, als diese Pressekampagne begann, hatte Oberst Fussenegger auf das energischste dementiert, dass Bewaffnete von Österreich aus den Weg nach Ungarn gefunden haben könnten. Heer, Gendarmerie und Zollwache hätten einen viel zu dichten Kordon gebildet, als dass ein Durchsickern von Gruppen möglich wäre. Er sprach vielleicht wohlweislich von »Gruppen«, da ein einzelnes Hinüberwechseln natürlich nicht auszuschließen war. Und auch die eine oder andere Waffe und einige Schuss Munition werden wohl ihren Weg nach Ungarn gefunden haben. Anschuldigungen, wie sie dann vor allem Anfang November laut wurden, konnte man aber sachlich gar nicht entkräften, da sie ja vor allem innerhalb des Ostblocks ihre Wirkung tun sollten, wo jedes Dementi ohnedies keinen Eingang in die Berichterstattung fand. Und insgesamt sollte diese ganze Kampagne auch nur die moralische Position Österreichs erschüttern. Es wurde allerdings nie mit militärischen Maßnahmen gedroht. Es war eher so, als ob die Sowjetunion gemeinsam mit ihren treuen Satelliten die Absicht gehabt hätte, Österreich durch eine Art Liebesentzug zu bestrafen. Die Anschuldigungen taten ihre Wirkung. In Österreich wurde man vorsichtiger und musste sich ganz einfach fragen, ob nicht doch jene Gegner der österreichischen Note vom 28. Oktober recht gehabt hatten, die davor warnten, die Sowjetunion vor den Augen der Weltöffentlichkeit in die Schranken zu weisen. Von dem Tag an, als sich die sowjetischen Absichten abzuzeichnen begannen, verschärfte das Bundesheer seine Aufmerksamkeit. Am 2. November waren 1.537 Offiziere, Unteroffiziere und Mannschaften an der Grenze eingesetzt. 540 hatten halbstündige Marschbereitschaft, und für weitere 710 Mann war die Alarmierung vorbereitet. 2.787 Offiziere, Unteroffiziere und Mannschaften also. Damit waren die im Grenzeinsatz befindlichen Truppen mehr als doppelt so stark wie am 28. Oktober. Doch was war das insgesamt ? Da immer noch eine beträchtliche Knappheit an modernen Waffen und Geräten herrschte, schlug Fussenegger am 4. November dem Ministerium in einem Memorandum vor, die Ausrüstung für wenigstens zwei Brigaden in der Schweiz zu kaufen, zu leihen oder zum Geschenk zu erbitten, denn auch die Schweiz, die sich bis dahin sehr zurückgehalten hatte und den neutralitätspolitischen Alleingang Österreichs nicht mitmachen wollte, müsste doch verstehen, dass ihre Grenzen genauso im Burgenland gesichert würden wie jene Österreichs. (Ich habe allerdings keinen Hinweis darauf gefunden, dass dieser Vorschlag der Schweizer Regierung je unterbreitet worden ist). Für den Einsatz an der ungarischen Grenze hatte das Bundesheer auf jeden Fall mit dem Vorhandenen auszukommen. Und das war denkbar wenig.
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Am 5. November überstürzten sich die Ereignisse, und man wurde erst so richtig auf die Parallelität der internationalen Vorgänge aufmerksam. In Ungarn hatten rund 150.000 Mann sowjetischer Truppen damit begonnen, den Volksaufstand niederzuschlagen. Der ungarische Ministerpräsident Imre Nagy hatte den diplomatischen Vertretungen Ungarns im Ausland eine Note zugehen lassen, in der Ungarn seine Neutralität und den Austritt aus dem Warschauer Pakt erklärte. Es war ein verzweifelter Versuch, gegenzusteuern und den Westen zum Eingreifen zu bringen. Doch keiner reagierte. An diesem Tag meldete der sowjetische Verteidigungsminister Marschall Schukow dem Zentralkomitee in Moskau, dass alle Wege zur österreichischen Grenze gesperrt seien, um den Aufständischen die Flucht unmöglich zu machen und die Infiltration nach Ungarn zu erschweren100. Jetzt wurde es – nicht zuletzt für Österreich – unübersichtlich, und man verlor schließlich angesichts der massiven Desinformationen über einen sowjetischen Angriff den Überblick. Es kursierten die wildesten Gerüchte, die auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen völlig unmöglich war. Doch es schien nicht zuletzt für die Bundesheerführung ausgemachte Sache zu sein, dass die Sowjets nicht an der österreichischen Grenze stehen bleiben würden. Der Befehl zur Rücknahme der eingesetzten Bundesheerkräfte war die Folge. Offiziell handelte es sich um eine Nachtübung. Noch Jahrzehnte später erzählte aber der damalige Verteidigungsminister, Otto Rösch, er hätte eine Skizze gesehen, auf der für einen sowjetischen Panzerverband der Weitermarsch nach Österreich eingezeichnet gewesen sei. Die Spitze der Pfeile sei eindeutig auf österreichischem Gebiet gewesen. Mag sein, dass sich ein Truppenkommandant »verselbständigt« hat ; dass auch ein hohes Kommando den Truppen etwas mitgegeben hat, das im Fall der Fälle zu verwenden gewesen wäre, usw. (Wir alle würden uns wünschen, die immer wieder erwähnte Skizze einmal sehen zu können, doch ich – zumindest – habe sie nie gesehen). Als der Morgen des 6. November heraufdämmerte, erreichte die Anspannung ihren Höhepunkt. Nichts geschah ! In Parenthese ist hinzuzufügen, dass es 1968 und 1991 ebenso zu massiven Desinformationsversuchen gekommen ist. Die wenigsten Heeresangehörigen werden auch nur entfernt geahnt haben, was die Nachtübung vom 5. auf den 6. November 1956 ausgelöst hat. Sie führten die befohlene Absetzbewegung durch, mit einer Selbstverständlichkeit, die zumindest mir als einem Nachvollziehenden den Eindruck vermittelt, dass es nicht die Spur von Resignation oder gar Panik gab. Anderswo gab es sehr wohl Aufregung, und im Wiener Außenministerium, wo es offenbar einige verwirrte Anfragen gegeben hatte, formulierte man dann ein Ersuchen an das Bundesministerium für Landesverteidigung, künftighin von ähnlichen Nachtübungen wie am 5./6. November Abstand nehmen zu wollen.101 Nachdem sich die Befürchtungen als unzutreffend erwiesen hatten und wieder eine nüchterne Betrachtungsweise Platz greifen konnte, musste man sich natürlich fragen, wieso überhaupt Gerüchte über ein mögliches Vordringen sowjetischer Truppen hatten
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laut werden können ; was denn die Weltmacht Sowjetunion bewogen haben könnte, ein Land, über dessen Neutralisierung man in Moskau erklärtermaßen sehr froh gewesen war, 1956 wieder besetzen zu wollen. Doch lesen wir abermals bei Bruno Kreisky nach. »Im Strom der Politik«, Band 2 der Erinnerungen, Seite 230 : »Österreichs Dechiffreure – wie man mir erzählt hat, galten in der Monarchie vor allem Leute slawischer Herkunft als geeignet für die Dechiffrierung, da sie angeblich eine besondere Art von Geduld mitbrachten – haben damals einen Funkspruch aufgefangen, in dem tschechische und ostdeutsche Parteiführer dringendst die Wiederbesetzung Österreichs forderten. Der Inhalt dieser Funksprüche ist mir von Mikojan indirekt bestätigt worden, der Österreich 1957, kurz nach dem Ungarnaufstand besuchte. Am Ende dieses Besuches, um den wir uns anlässlich der gespannten Situation indirekt bemüht hatten, sagte Mikojan, Chruschtschow und er seien doch froh, dass Österreich seinen Staatsvertrag bekommen habe.«102 – Ich weiß nicht, ob man aus dieser Formulierung wirklich eine Interventionsabsicht oder auch nur nennenswerte Überlegungen in diese Richtung ablesen kann. Kreisky tat es sehr wohl ! Chruschtschow in seinen Memoiren nicht, und ich meine, dass es nicht von ungefähr kommt, dass daher auch Dimitri Wolkogonow in seinem letzten Werk »Die Sieben Führer« kein Wort über einen möglichen Angriff auf Österreich erwähnte oder auch nur angedeutet hätte, Österreich wäre gefährdet gewesen.103 Auch Präsident Eisenhower und Vizepräsident Nixon dachten nicht im entferntesten daran, die sowjetische Intervention in Ungarn könnte zum Bruch der Neutralität durch die Sowjets und zur Wiederbesetzung Österreichs führen.104 Ganz offensichtlich hat sich auch in diesem Fall etwas verselbständigt – vielleicht auch nur die Phantasie. Doch in der Situation, in der sich Österreich und sein Heer 1956 befanden, musste man offenbar mit allem rechnen. Kurzfristig hatte Minister Graf auch überlegt, Freiwilligenformationen zu bilden. Vom »einkaufen« in der Schweiz war schon die Rede. Kurzum : In einer Krise zeigten und zeigen sich die Versäumnisse der Vergangenheit mit aller Deutlichkeit. Man geht in sich und schwört Abhilfe. Doch am Tag danach ist wieder alles anders. Wir wissen seit dem Morgen des 6. November 1956, dass nichts passierte und dass sich die sowjetischen Truppen bei ihrer Intervention auf Ungarn beschränkten. Für den österreichischen Generaltruppeninspektor war das Vorgehen der Russen dennoch ein Grund, den »Ostkrieg« immer neu zu überdenken und auf die eigenen Schwächen hinzuweisen. In seinem mittlerweile berühmten Memorandum vom 8. November 1956 wurde das in unverblümter Weise getan, und hieß es unter anderem : »Die bisherigen Grenzschutzmaßnahmen waren in erster Linie dazu bestimmt, auf die österreichische Bevölkerung beruhigend zu wirken und nach außen zu zeigen, dass Österreich willens ist, seine Neutralität zu schützen.« Und weiter : »Diese Maßnahmen waren improvisiert und auf optische Wirkung abgestellt ; militärischer Wert ist sehr beschränkt.«105
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Weit jenseits der Erfahrungen des Einsatzes, und nicht nur jenseits der militärischen, sondern auch jenseits der politischen Erfahrungen, war jedoch etwas ganz anderes vor sich gegangen, und ich werde es als eine Art These zu formulieren suchen : Die meisten Staaten dieser Welt beziehen sich in ihrer nationalen Überlieferung auf Revolutionen, Kriege, auf jeden Fall große und größere Zäsuren, die so oder so mit Gewalt einhergehen und es ermöglichen, eben dieser nationalen Überlieferung einen fixen Punkt zu geben, um in davor und danach zu scheiden. Das ist nicht zuletzt auch ein Umstand, der dann für jegliche Traditionspflege genutzt wird. Österreich hatte und hat ab 1945 aber nicht nur ein adäquates Datum anzubieten, sondern deren gleich mehrere : 27. April 1945 : Die Unabhängigkeitserklärung (ein Denkmal, das darauf Bezug nimmt steht im Schweizer Garten beim Wiener Südbahnhof ). Dann wurde eine Zeitlang der 8. Mai 1945 gefeiert (die meisten 8.-Mai-Straßen und –Plätze wurden mittlerweile wieder umbenannt). Schließlich kamen das Datum der Unterzeichnung des Staatsvertrags sowie die Verabschiedung des Neutralitätsgesetzes hinzu. (Noch erinnert der Nationalfeiertag daran). Doch ich meine, dass bei allen diesen für die staatliche Überlieferung relevanten Daten auch die Ungarische Revolution eine Rolle spielt. Denn im Verlauf der Wochen vom 23. Oktober bis irgendwann einmal im November 1956 wurde sich Österreich seiner Neutralität bewusst. Und wenn dann später und bis heute die Neutralität als identitätsstiftend gewertet wurde, dann ist die im Spätherbst 1956 gemachte Erfahrung als ein ganz entscheidender Schritt in diese Richtung zu sehen. Da ging es eben nicht nur darum, eine unerwartete Situation zu meistern und einen Sicherungseinsatz unter zeitweilig dramatischen Bedingungen in Szene zu setzen. Da ging es sehr wohl um die Existenz und um das Selbstverständnis. Die nationale Überlieferung bemeisterte sich daher nicht von ungefähr dieser Vorgänge, um die österreichische Reaktion auf die Ungarische Revolution identitätsstiftend zu nutzen. Nicht zuletzt wurzelt ein Teil der militärischen Überlieferung des Bundesheers der 2. Republik in der erfolgreichen Bewältigung des ersten Sicherungseinsatzes – ohne dass mir bewusst wäre, dass sich ein Truppenkörper mit einem diesbezüglichen Gedenktag ausgestattet hätte oder ausgestattet wurde. Es kann aber zum wenigsten die Absicht bestanden haben, den Sicherungseinsatz des Bundesheeres an der ungarischen Grenze 1956 aus dem Gedächtnis zu verdrängen. Denn wie auch immer die Gewichtungen sind : Die damaligen Ereignisse spielen in der persönlichen Überlieferung von – noch – vielen Menschen eine große Rolle. (Das war erst im Frühjahr 2001 bei einer Ausstellung im Heeresgeschichtlichen Museum über den Eisernen Vorhang zu sehen. Mehr noch : Es war zu spüren !) Die Tage und Wochen im Spätherbst 1956 haben in den meisten Politikermemoiren und Zeitzeugengesprächen einen festen Platz gefunden. Natürlich nahm und nimmt die Betroffenheit mit dem Quadrat der zeitlichen Entfernung ab, ein Vorgang, der jedoch ebenso im Zusammenhang mit dem Staatsvertrag und vollends im Zusammen-
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hang mit der Neutralitätswerdung zu beobachten ist. In Westösterreich war man 1956 weniger aufgewühlt als im Osten ; 2001 ist man weniger gefordert, sich mit Ungarn auseinanderzusetzen als mit Temelín oder Afghanistan. Doch jenseits des Mythos von einem Bundesheer, das Österreich geschützt und geholfen hat, ist damals, im Spätherbst 1956, etwas bewusst geworden, das vorher so nicht da gewesen war : Dass man sich selbst genügen musste, aber auch, dass man sich nicht zu schämen brauchte. Im Gegenteil : Die »Performance« war perfekt ! Prag und die Folgen In vielerlei Hinsicht ist und war 1968 ein Signal. Zumindest war es eine Zäsur in der Geschichte. Frankreich probte wieder einmal die Revolution. Der Vietnamkrieg drohte nach der Têtoffensive des Vietcong zu einem Debakel für die USA zu werden. Und schließlich rückten Truppen des Warschauer Pakts in die Tschechoslowakei ein und beendeten etwas, das so euphorisch »Prager Frühling« genannt worden war. Während aber die Studentenunruhen in Paris und die Lage in Vietnam in Österreich zwar eine gewisse Erregung hervorriefen und auch ein paar Nachahmer anregten, die dann von einer »Viertelstunde im Mai« sprachen, also eine sehr kurz bemessene Zeit, in der man auch in Österreich denken konnte, man könnte ein Revolutiönchen machen, ging das, was beim nördlichen Nachbarn geschah, unter die Haut. Da war eine ganz andere Erregung zu spüren. Und vielleicht ist in der ganz anderen Betroffenheit von ehedem auch eine Erklärung dafür zu sehen, warum Österreichs »68er« zum wenigsten als Revoluzzer in Erinnerung geblieben und letztlich und auf dem Pfad der politischen Tugend geblieben sind. Das hatte nichts mit Zustimmung zu den politischen Verhältnissen zu tun, sondern schlichtweg mit einer gewissen Sorge, dass Vorgänge in der Tschechoslowakei auch Auswirkungen auf Österreich haben könnten. Was, wenn die Sowjets wie ehedem, 1956 in Ungarn, eine ihnen genehme Ordnung im Rahmen einer militärischen Intervention wieder herstellen würden ? Was weiter, wenn die Russen einen Vorwand suchten, um auch in Österreich einzumarschieren ? Es sprach zwar nie und nimmer etwas dafür, doch wer wollte sich schon dem Vorwurf aussetzen, sich nicht ausreichend gesorgt zu haben ? Trotz Neutralität und Entspannung saß den Österreichern die Ungarische Revolution von 1956 in den Knochen. Zwar war nichts passiert, aber man wusste eigentlich nicht, warum nichts passiert war und ob nicht vielleicht ein nächstes Mal etwas passieren würde. Für die militärischen Stellen gaben etwaige Angriffshandlungen des Warschauer Pakts das Szenario für die meisten operativen Planungen ab. Was gab es da doch für böse Vorahnungen ! Eigentümlicherweise spielte dabei aber die Tschechoslowakei lange Zeit hindurch eine geringe Rolle. Ungarn wurde als die Speerspitze
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des Warschauer Pakts gesehen, während es Ende der fünfziger Jahre vom nördlichen Nachbarn hieß : »Eine Aggression durch die ČSSR allein wird für wenig wahrscheinlich, aber immerhin für möglich gehalten.« Dann gingen weitere Jahre ins Land. Und wieder wurden die Tschechen als zwar unfreundliche, aber harmlosere Nachbarn als die Ungarn eingeschätzt. Der Grund dafür war klar : In Ungarn war eine sowjetische Armee stationiert, während es in der Tschechoslowakei keine sowjetischen Truppen gab. Es wurde auch aufmerksam registriert, dass sich beispielsweise führende tschechische Politiker, wie etwa Verteidigungsminister Bohumir Lomský, fallweise eine vom Oberkommando des Warschauer Pakts abweichende Meinung leisteten. Doch der »Kriegsfall Ost« wurde immer wieder neu durchdacht. Schließlich wurde 1967 in Wien der sogenannte Fall »Grün« ausgearbeitet, der einen Angriff aus Ungarn und der ČSSR behandelte. Für die Tschechen wäre das Ziel die rasche Inbesitznahme des Raums nördlich der Donau und die Zerschlagung der dort eingesetzten Kräfte des österreichischen Bundesheers sowie der Aufbau einer Verteidigungsfront gegenüber der Bundesrepublik Deutschland. Sollten die Ziele rasch erreicht werden, sei mit keinem Einsatz von Atomwaffen zu rechnen. Sollten die Angriffsziele nicht zeitgerecht erreicht werden, könnte es zum Einsatz atomarer Kampfmittel kommen. Das Problem Wien Bei allen Überlegungen, wie im Fall eines Angriffs aus dem Osten zu verfahren sei, spielte natürlich Wien eine besondere Rolle. Schon bei nennenswerter Kriegsgefahr, so wurde vermutet, würde in Wien Panik ausbrechen, und wenn nicht von der Regierung vorher entsprechende Gegenmaßnahmen getroffen würden, würde es zu einer regellosen Flucht großer Bevölkerungsteile kommen. Um das zu verhindern, wurde vorgeschlagen, die Menschen langfristig psychologisch vorzubereiten, und das möglichst unauffällig. Und im Übrigen wären sämtliche Maßnahmen zur Regelung der Verkehrsbewegungen und natürlich auch die Evakuierung des Bundespräsidenten, die Verlegung der Bundesregierung und der Ministerien und – ein besonderes Problem – der sichere Transport der Gold- und Devisenvorräte der Nationalbank vorzusehen. Die Frage der Räumung, teilweisen Räumung oder überhaupt nicht vorzusehenden Räumung Wiens entwickelte sich zu einer Quadratur des Kreises. Und schließlich hieß es klipp und klar : Wien ist nicht zu verteidigen. Das Bundesheer würde jedoch unter bestimmten Voraussetzungen in der Lage sein, einen Zeitgewinn für die Evakuierung der Bundesregierung und wichtiger, im Staatsinteresse liegender Einrichtungen zu erkämpfen. Wien wurde aber vor allem als ein politisches Problem gesehen. Die Verluste an Menschen und die Sachschäden, die durch die Wirkung konventioneller Kampf-
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mittel – von A-Waffen ganz zu schweigen – verursacht würden, stünden in keinem Verhältnis zu dem geringen Zeitgewinn, den ein Verzögerungskampf bringen könnte. Daraus resultierte die Empfehlung, die politische Führung solle keinen Auftrag zur Verteidigung Wiens in unmittelbarer Nähe der Großstadt geben. Wien wäre zur offenen Stadt zu erklären, »das würde auch eine Massenflucht verhindern. Die militärische Führung ist sehr daran interessiert, dass die Bevölkerung in Wien bleibt.« Man verständigte sich schließlich darauf, die Frage »Wien offene Stadt« nicht explizit anzusprechen, da es jedenfalls besser sei, einen Gegner im Ungewissen zu lassen, ob Wien verteidigt würde. Andernfalls könnte sich jeder auf eine Besetzung ohne Widerstand einrichten und auch das tun, was zumindest in den Planspielen auftauchte : Eine Gegenregierung in Wien vorsehen. Alles das, das Gedachte und Vermutete, ebenso wie das Gewusste schien plötzlich 1968 aktuell zu werden. Erste Anzeichen dafür, dass die Sowjets den Tschechen misstrauten und in der Tschechoslowakei wieder Truppen stationieren wollten, gab es nach dem Manöver »Vltava« 1966. Doch eigentlich lieferten die Tschechen den Sowjets keinen Vorwand. Sie machten nie gezielte Anstalten, ihre Rolle im Rahmen des östlichen Militärbündnisses in Frage zu stellen. Sie erduldeten ein großes Manöver und eine Stabsrahmenübung nach der anderen, wohl wissend, dass sie selbst die gegnerische Partei waren. Die politische Führung bekannte sich unbeirrt zum Kommunismus. Doch der sowjetische Staats- und Parteichef Leonid Brežnev misstraute allen Versicherungen, und das vollends, nachdem die Tschechen und Slowaken ihr erstarrtes politisches System umzukrempeln begonnen hatten, den Wunsch nach Westkrediten äußerten und generell das Verhältnis zu den Nachbarn verbessern wollten. Es waren aber bestenfalls Indizien. Doch nach dem Motto »wehret den Anfängen« schlugen die Russen zu und machten nicht einmal den Versuch, etwas nennenswert zu beschönigen. Am 21. August 1968 hieß es denn auch nur, dass Truppen aus allen wichtigen Mitgliedsländern des Warschauer Pakts einem Hilfeersuchen gefolgt und dem Brudervolk der Tschechen und Slowaken beigestanden wären. Die militärische Besetzung der ČSSR am 21. August 1968 wurde von Sowjets und Tschechen als Wiederholung des Einmarsches der Roten Armee 1945 und der kommunistischen Gleichschaltung 1948 gesehen. Der Unterschied war nur der, dass die Russen diesmal blieben, und das bis 1991. Unter den einmarschierenden Truppenkontingenten wurden auch immer Verbände der Nationalen Volksarmee der DDR genannt, bis dann 1990 wohl auch zur Verblüffung der Tschechoslowaken und selbst der Ostdeutschen klarzustellen war, dass dies alles eine gezielte Desinformation war und keine Einheiten der Volksarmee am Einmarsch in die ČSSR beteiligt gewesen waren. Alle hatten es geglaubt. Die ostdeutsche Führung tat sogar so, als ob sie stolz auf ihren Anteil an der Besetzung der ČSSR gewesen wäre, und die Tschechen hassten wieder einmal die Deutschen. Auch darüber ist die Entwicklung schon längst hinweggegangen. Und wäre es nicht Teil der
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Geschichte, und gehörte es nicht noch immer zum Erleben einer Generation und vieler Millionen Menschen – man könnte es glatt vergessen. In Österreich war schon im Frühjahr und Sommer 1968 die Sorge gewachsen, dass sich Ereignisse, wie man sie von Ungarn 1956 kannte, in der Tschechoslowakei wiederholen könnten. Das führte schließlich dazu, dass der Generaltruppeninspektor des österreichischen Bundesheers, Erwin Fussenegger, einen Befehl vorbereiten ließ, der den Einsatz des Heeres zur Sicherung der Grenze gegenüber der Tschechoslowakei zum Inhalt hatte. Der unter dem Stichwort »Urgestein« auszulösende Sicherungseinsatz sollte dazu dienen, die »Nordgrenze mit Schwergewicht an den Grenzübergangsstellen« zu sichern, »die Grenzübergänge zu besetzen und das Zwischengelände durch Patrouillentätigkeit zu überwachen.« Sollten Schwierigkeiten bei der Sicherung auftreten, war beabsichtigt, »durch ein Hinzufügen weiterer Verbände eine Verdichtung der Grenzüberwachung vorzunehmen.« Als es dann tatsächlich zur Intervention von Truppen des Warschauer Pakts kam, war der Befehl nutzlos, denn die österreichische Bundesregierung verlangte einen ganz anderen Sicherungseinsatz als den gedachten. Allerdings war eine solche Variante des Falls »Nord« bzw. »Grün« auch wirklich nicht vorbereitet worden. Denn diese Operationsfälle waren auf einen Krieg ausgerichtet gewesen und ließen sich nicht zur Anwendung bringen. Bestenfalls eine erste Phase, nämlich die Grenzbeobachtung, konnte entsprechend der erst ein Jahr alten Planungen eingeleitet werden. Doch die Politik machte auch das unmöglich, als gefordert wurde, das Bundesheer müsse sich 30 Kilometer von der tschechoslowakischen Grenze fernhalten. Von einem Übergang zur Verteidigung oder auch nur einem Neutralitätsfall konnte keine Rede sein. Da aus außenpolitischen Erwägungen aber auch die Grenzbeobachtung stark eingeschränkt wurde, passte schließlich überhaupt nichts mehr zusammen und musste ad hoc eine Anpassung an die neue Situation und die geänderten Anforderungen erfolgen. Auch im Fall Wiens zeigte es sich, dass die politische und die militärische Führung aneinander vorbeigeplant hatten und eher zufällig Übereinstimmung erzielten. Denn als sich im Verlauf der Invasion des Warschauer Pakts in der Tschechoslowakei eine Situation ergab, in der blanke Angst herrschte, entschied Bundeskanzler Josef Klaus, dass einige Mitglieder der Bundesregierung, vor allem auch der Vizekanzler, außerhalb Wiens verbleiben sollten, um notfalls und ohne regelrechte Evakuierung der Bundesregierung aus Wien die staatliche Handlungsfähigkeit sicherzustellen. Und der Bundespräsident war ohnedies zumindest anfänglich noch in seiner Sommerresidenz in Mürzsteg. Die Angst war deshalb aufgekommen, weil ein tschechischer Geheimdienstmann den Absprung in den Westen mit einer massiven Desinformation verbunden hatte. Er soll davon gesprochen haben, dass er ganz genau wüsste, die Sowjets würden am Wochenende zwischen 7. und 9. September 1968 in Österreich einmarschieren. Die
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Nachricht wurde wohl von westlichen Geheimdiensten gezielt an Österreich weitergegeben und war der Grund für die größte Alarmierung, die das Bundesheer erlebt hat. Manch einer hätte damals wohl keinen Schilling darauf verwettet, dass Österreich ungeschoren davonkommen würde. Nachher war man klüger. Die politischen Nachbeben konnten dennoch nicht ausbleiben. Die Mitglieder der Regierung Klaus betonten ein ums andere Mal, alles richtig und zur rechten Zeit getan zu haben. Man sei ruhig und bedächtig geblieben. Der Einsatz des Bundesheers sei bestens gelaufen ; mehr wäre nie zu verlangen gewesen. Und Krieg gegen den Warschauer Pakt hätte es keinen gegeben. Demgegenüber meinten die SPÖ und deren damals noch recht neuer Vorsitzender, Bruno Kreisky, dem Bundesheer vorwerfen zu müssen, dass es ein einziges Konzept verfolge, nämlich die Räumung Ostösterreichs und den Rückzug nach dem Westen, um dort Anlehnung an die NATO zu finden. Das zu verhindern, sollte schließlich Teil der von Kreisky ab 1970 vertretenen Politik sein und ging so weit, dass er jeglichen engeren Kontakt zwischen der Dominikanerbastei und der Hardthöhe, also Wien und Bonn, untersagte, aber auch in militärischen Belangen keinen engeren Kontakt zur Schweiz sehen wollte. Im einen Fall war es die Mitgliedschaft der BRD in der NATO, die ihn störte, und im anderen Fall das Abseitsstehen der Schweiz in Fragen der internationalen Sicherheit und dem, was Kreisky dann als aktive Außenpolitik führen wollte. Anfangs hatte es freilich so ausgesehen, als ob Kreisky einen Alleingang machen würde und seinen außenpolitischen Überlegungen keine militärisch-sicherheitspolitischen zur Seite stellen konnte. Doch dann fand er in Emil Spannocchi einen sehr wohl unorthodoxen Denker. Spannocchi ließ den Kriegsfall »Nord«, einen Angriff von Warschauer Pakt-Truppen aus der Tschechoslowakei, regelrecht durchspielen. Seit der Besetzung der ČSSR waren ja nicht nur Tschechen, sondern auch Sowjets bei einem Angriff aus dieser Richtung anzunehmen. Die dann generalstabsmäßig durchdachte Operation aus dem Norden brachte allerdings nicht sehr viel Erfreuliches an den Tag. Quintessenz der Aussagen zu einem zunächst angenommenen hinhaltenden Kampf war, dass eine Verzögerung des feindlichen Vormarsches zwar möglich sei, die Warschauer-Pakt-Truppen aber dennoch am 1. Tag ihre Operationsziele in Oberösterreich erreichen und die Verluste der eingesetzten Kräfte bis zu 65 % betragen konnten. Die Erhaltung der eigenen Kampfkraft sei daher nicht möglich. Dazu notierte Spannocchi an den Rand der Ausarbeitung. »Genau das ist die entscheidende Niederlage.« – Alle zogen ihre Lehren aus dem August 1968. Die einen früher, die anderen später.
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Josef K. und die Wende Es war sicherlich kein Erdbeben, aber doch ein Ruck, der am 6. März 1966 durch Öster reich ging. Die vorgezogenen Nationalratswahlen bescherten der Ö sterreichischen Volkspartei die absolute Mehrheit. Eine Institution geriet ins Wanken : Die Große Koalition. Sie war seit 1945 an der Macht, sofern man in Österreich überhaupt Macht besitzen und ausüben konnte. Zumindest waren »Die Zwei« allgegenwärtig. Die damals Zwanzigjährigen hatten nie etwas anderes gekannt. Die Älteren konnten es vielleicht als eine Art positive Anknüpfung an die gute alte Kaiserzeit sehen : Viribus unitis. Die Sache hatte nur einen Schönheitsfehler : Die vereinten Kräfte konnten schon längst nicht mehr miteinander. Da wurde gestritten, wurden im Zeichen des Proporzes Geschäfte nach dem Gegenseitigkeitsprinzip gemacht, so wie es im Koalitionsabkommen von 1963 nachzulesen gewesen war : Tausche die Anhebung des Milchpreises für die Bauern um ein paar Groschen gegen eine Steigerung der Molkereiarbeiterlöhne. Dann und wann hatte es auch Korruptionsfälle gegeben. Kurz, man kannte das schon alles und konnte nur mit politischem Desinteresse oder Auswanderung antworten. Die Jungen dachten an Revolte. Keine Frage : Die Regierung mühte sich, doch ein Ausbrechen aus dem kaudinischen Joch der Zweisamkeit war kaum möglich. Josef Klaus, der Bundeskanzler, seit 1964 im Amt, war jedoch nicht zu entmutigen. Er wollte zumindest neue Antworten auf alte Fragen bekommen. Das allein hätte freilich nicht ausgereicht, ihm und »seiner« Volkspartei einen Wahlerfolg zu bescheren. Doch dann begannen sich die Sozialisten in aller Öffentlichkeit zu beschädigen. Dass man Otto von Habsburg die Einreise nach Österreich verweigerte, war vielleicht ein Rechtsstaatsproblem, das ohnedies kaum jemand verstand. Dass ein Bodenseeschiff den vom SPÖ-Minister in Wien gewünschten Namen »Karl Renner« bekommen und nicht auf »Vorarlberg« getauft werden sollte, war etwas, das das »Ländle« ärgerte. Doch dann demontierten die Sozialisten einen der Ihren, Franz Olah, einst mächtiger Gewerkschaftspräsident, dann Innenminister, weil er Gewerkschaftsgelder zur Gründung der »Kronen Zeitung« verschoben und die FPÖ finanziell unterstützt hatte, um mit ihrer Hilfe dereinst Bundeskanzler zu werden. Die Freiheitlichen aber waren für die Sozialisten kein Partner, und Olahs Ambitionen schlicht gefährlich. Also wurde er aus der Partei ausgeschlossen und angeklagt. Und dann war da noch das Rundfunkvolksbegehren von 1964, das die SPÖ nicht wollte und sich damit gewaltig in die Nesseln setzte. Kurzum : Die Sozialisten hatten etliche Probleme, während die Kanzlerpartei Pluspunkte sammelte. Also ließen sich auch die Weichen Richtung Neuwahlen stellen. Josef Klaus bombardierte seine Parteifreunde mit Forderungen und Vorschlägen, was während des Wahlkampfs gesagt und getan werden sollte, und hielt die wichtigsten Punkte penibel mit Bleistift in einem Schulheft fest. Er füllte Seite um Seite.
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7.000 Seiten sollten es insgesamt werden, die er von 1949 bis zum Ende seiner politischen Tätigkeit 1970 teils in Normal-, teils in Kurzschrift und mit unendlich vielen Abkürzungen und Wortfetzen vollschrieb. Im November 1965 hatte er das 57. Heft begonnen. Immer wieder ging es um Macht, Willkür und Überbürokratisierung, von denen Josef K. selbst ein Teil war. »24. November : Auf Mehrheit (absolut) lossteuern … Jugend, Wohnungsbau, Vorrang für Forschung und Bildung … Hochwasserhilfe für Geschädigte … Volksfront Drohung absurd ! Aber Aufklärung tut not … Wir wollen klare Mehrheitsentscheidung … An Sieg glauben … 13. Dezember : Postsitzung : Sozial Wohnungen, Werbeaktion, Wohnbautagung … Aktion 20 … Ordensverleihung an Tito. 17. Dezember : Olympiade. Für Wien dieselben Sportanlagen … wie für Tirol … ÖBB. Verpolitisierung und Übergewicht. Personalvertretung verhindert Wirtschaftlichkeit … 22. Dezember : Wahlprogramm : Real Einkommen. ÖBB, Bildung, Subjektförderung, Überbesteuerung, junge Familien, Vermögensbildung … 23. Dezember : Kardinal Franz König : auf ÖVP Rücksicht nehmen. Katholische Soziallehre.« Am selben Tag trug er sich auch vorsorglich die Daten seiner Auftritte bei Wahlkundgebungen und gesellschaftlichen Ereignissen vom 15. Jänner bis 4. März 1966 ein, Philharmoniker- und Opernball eingeschlossen. Am 14. Jänner 1966 notierte er die jüngsten Zahlen der Meinungsforscher : KP 1 %, Olah 2,6 % … FPÖ 5,3 %, ÖVP 36,4 %, SPÖ 35,3 %. Die Termine wurden immer mehr, die Eintragungen in die »Schulhefte« länger und länger. »1. März.: Was noch tun, um die Wahl zu gewinnen ? Schlusskundgebung und -reden : weniger starrer Koalitionspakt, mehr echte Zusammenarbeit, mehr Parlament, mehr direkte Demokratie.« Zumindest den ausländischen Beobachtern schien der Wahlkampf todlangweilig. Und dennoch : Es wäre das erste Mal seit dem Zweiten Weltkrieg, meinte der britische Botschafter, John Pilcher, dass man nicht schon die Fortsetzung der Großen Koalition als ausgemachte Sache empfinden musste. Josef Klaus glaubte freilich nicht, dass es ihm und seiner Partei gelingen könnte, die absolute Mehrheit zu erreichen. Doch am 6. März war alles anders. Die ÖVP erreichte die »Absolute«. Je nach Einstellung konnte man am Abend des Wahltags Menschen jubeln oder trauern sehen. Ein Tabubruch drohte. Tags darauf begann man mit der Ausarbeitung der diversen Strategiepapiere. Auch Josef Klaus konnte die Konsequenzen des ÖVPSiegs noch nicht abschätzen. Bei der Klausur der ÖVP-Minister am 17. März wurde jedenfalls der Entwurf eines Regierungsprogramms beschlossen, in dem es gleich vorneweg hieß : »Zusammenarbeit VP und SP für die Dauer der Regierung.« Doch dann ging es ans »Eingemachte« und wurde im Entwurf für eine Regierungserklärung schon einmal festgeschrieben, was für die ÖVP als unabdingbar gelten sollte, und es wurde in den Raum gestellt, etwas anderes als die Übernahme der vollen Regierungsverantwortung wäre ein Verrat an den Wählern.
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Der Vorsitzende der SPÖ, Bruno Pittermann, der sich wohl selbst Mit-Schuld an der Niederlage seiner Partei geben musste, ortete in seiner Partei eine 50 :50 Stimmung hinsichtlich der Fortsetzung der Koalition. Die älteren und die ganz jungen Parteimitglieder wären dafür, in Opposition zu gehen und zu kämpfen. Die mittlere Generation war für die Fortsetzung der Zusammenarbeit mit der ÖVP, erzählte Pittermann in London. Gleichzeitig wurde Sorge artikuliert. Für die Sozialisten hieß es Abschied von einigen Zentren der Macht zu nehmen. Das musste zur Folge haben, dass man die eigene Klientel nicht mehr »bedienen« konnte und auch jenen Informationsvorsprung verlor, den man als Regierungspartei automatisch hatte. Das ging Hand in Hand mit der Sorge, ob es je möglich sein würde, an die Schalthebel der Macht zurückzukehren. Würden von einer ÖVP-Regierung sozialstaatliche Ziele aufgegeben werden, würde es bei der Vollbeschäftigung bleiben, würden die Kontrollmechanismen funktionieren ? Würde es wieder gewaltsam werden in einem an sich friedlichen Österreich ? Am 14. März begannen die Regierungsverhandlungen. Etwas mehr als einen Monat später waren sie beendet – und gescheitert. Außenminister Bruno Kreisky war der Letzte gewesen, der für die Fortsetzung der Großen Koalition eintrat. Bald darauf begann ein hässliches Schlagwort die Runden zu machen »Austro-Provinzialismus«. Der neue/alte Kanzler Klaus wusste natürlich um die anstehenden Probleme und suchte schon im Entwurf seiner Regierungserklärung zu beruhigen. Denn auch für die ÖVP gab es nicht zu beantwortende Fragen : Würden die Sozialisten den Wechsel hinnehmen, würde es zu Streiks und womöglich zu gewaltsamen Auseinandersetzungen kommen ? Würde die Sozialpartnerschaft halten ? Klaus wusste, dass man nicht zuletzt im Ausland gespannt war, wie er den weiteren österreichischen Weg beschreiben würde – und er konnte beruhigen : Es würde Änderungen, aber keine Revolution geben. Er hatte sich viel vorgenommen : ein Ende des Proporzes, Objektivität bei Postenbesetzungen, die Rundfunkreform, den Abschluss eines Assoziierungsabkommens mit der EWG, die Lösung der Südtirol Frage, wirtschaftspolitische und strukturelle Reformen, die Reorganisation der Verstaatlichten Industrie und vieles andere mehr. Der »Staatsvermesser« Josef K. wusste mittlerweile nur zu gut, dass die Mühen der Ebene durchaus geeignet waren, intellektuelle Spitzen abzutragen. Auf dem Zugang zu seinem »Schloss« gab es wie bei Kafkas Schloss viele Hindernisse. Vielleicht war der Kanzler auch zu optimistisch, was seine eigene Akzeptanz anlangte. Er bewegte sich nämlich auf sehr dünnem Eis und hatte nicht nur mit einer Opposition zu rechnen, die um ihre Bedeutung als Regierungspartei trauerte, sondern auch mit einigem innerparteilichen Widerstand. Er sollte ihn rasch zu spüren bekommen. Klaus beließ es dabei, die meisten der noch aus der Zeit der Großen Koalition stammenden Minister weitermachen zu lassen und ersetzte nur den Wegfall der SPÖ-Regierungsmitglieder. Er verzichtete darauf, sich eine neue und auf ihn eingeschworene Riege zu bilden. Und
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gerade einige der älteren und durchaus erfahrenen Kollegen, voran der Bundesminister für Handel, Gewerbe und Industrie, Fritz Bock, zeigten offen Gegnerschaft. Am Abend des 18. April stellte Klaus Bundespräsident Jonas sein Kabinett vor. Das mochte zwar ein Formalakt sein, ließ aber eine weitere Facette der Persönlichkeit von Josef Klaus deutlich werden : Er zeigte nicht nur, sondern hatte tatsächlich Respekt vor dem Staatsoberhaupt. Der Bundespräsident gehörte zu einer Hierarchie, die beim lieben Gott anfing und sich ein wenig wie »zu Kaisers Zeiten« über den Bundespräsidenten nach unten fortsetzte. Erst später schlich sich Kritik ein. Er hätte sich mehr Unterstützung durch Franz Jonas erwartet. Doch letztlich wäre das ohne nachhaltigen Einfluss auf seine Arbeit geblieben. So vieles sollte schnell, manches fast gleichzeitig erledigt werden. Klaus forderte seinen Ministerkollegen viel ab. Und er machte deutlich, dass er alles kontrollieren, in alles Einblick nehmen wollte. Sein Arbeitsstil machte zu schaffen. Ganztägige Ministerklausuren, die Forderung nach möglichst rascher Behandlung von Materien, die zweifellos kompliziert genug waren, um nicht ohne längere Beratungen und die Einbindung des Parlaments aber auch der Sozialpartner einer Erledigung zugeführt zu werden, schufen immer wieder Probleme. Der Kanzler irritierte wohl auch dadurch, dass er immer wieder in seine Notizhefte schaute, Gedanken, oft auch nur Gedankensplitter, Zitate und Namen vorlas, mit denen die Mitglieder seines Kabinetts nichts anzufangen wussten. Bei den Ministerratssitzungen gab es heftige Wortmeldungen, Streit und alles andere, denn die anzustreben gewesene Harmonie. Die Landeshauptleute der von der ÖVP geführten Bundesländern, die sogenannten Parteigranden, vor allem die Führer der ÖVP-Bünde machten dem Kanzler das Regieren schwer. Er selbst gehörte keinem der Bünde an, und die mangelnde Harmonie blieb natürlich nicht verborgen. Die Medien, unter denen der mittels des Rundfunkgesetzes vom Juli 1966 regelrecht entfesselte Österreichische Rundfunk eine immer wichtigere Rolle zu spielen begann, stürzten sich darauf. Klaus selbst zeigte sich schweigsam. Er hatte eine »lähmende Scheu vor dem Interviewer, vor dem Mikrophon und der Fernsehkamera.« Und im Fernsehen wirkte er häufig »abwehrend und leicht beleidigt«, meinte ein deutscher Politikwissenschaftler. Spätestens nach einem Jahr Alleinregierung musste sich Josef Klaus eingestehen, dass die Schwierigkeiten überhandnahmen und ihm aus seiner eigenen Partei ein immer schärferer Wind entgegenblies. Nicht von ungefähr gab er seinen Erinnerungen den beziehungsvollen Titel »Macht und Ohnmacht in Österreich«. »Es war kein brillantes Jahr für Österreich«, resümierte auch der britische Botschafter das Geschehene in seinem Bericht über das Jahr 1967. Die Alleinregierung hätte nichts erreicht, was sie als Nutznießer der neuen Regierungsform eigentlich hätte erreichen sollen. Man habe zwar keine regelrechten Fehler gemacht, doch auch nichts großartig verändert. Der Regierungschef sei
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wohl ein ehrenwerter Mann, ihm fehlte aber die nötige Härte. Die Begehrlichkeiten der meisten Ressortminister wurden von ihm regelmäßig abgeblockt. Immer wieder führte er ins Treffen, dass man eben haushalten müsse. Schuldenmachern war dem aus einfachen Verhältnissen kommenden und lediglich mit dem eigenen Geld zu wirtschaften gewohnten Bäckersohn Josef K. ein Gräuel. Da aber zur Aufrechterhaltung der Vollbeschäftigung und zur Sicherung der notwendigen Investitionen ein zusätzlicher Finanzbedarf gegeben war, der die Finanzschuld des Bundes auf 30 Milliarden Schilling ansteigen ließ, erklärte Finanzminister Wolfgang Schmitz, es müssten Mindereinnahmen durch sicherlich unpopuläre Maßnahmen kompensiert werden. Das hieß : Steuererhöhungen. Die Führer aller drei ÖVP-Bünde, des Arbeiter- und Angestelltenbundes, Alfred Maleta, des Wirtschaftsbundes, Rudolf Sallinger, und des Bauernbundes, Josef Wallner, drängten auf die Ablöse von Klaus. Der aber dachte noch nicht daran, klein beizugeben und empfand die Kritik nicht so sehr als Zweifel an seiner eigenen Führungsfähigkeit, sondern als Ausdruck dessen, dass einige Mitglieder seines Regierungsteams nicht das brachten, was von ihnen billigerweise zu erwarten gewesen war. Infolgedessen plante Klaus für 1968 eine größere Regierungsumbildung, bei der buchstäblich kein Stein auf dem anderen bleiben sollte. Schließlich sollte ein neuer Staatssekretär, Karl Pisa, die Informationstätigkeit neu gestalten. Lieber hätte Klaus den Chefredakteur der Zeitung »Kurier«, Hugo Portisch, gehabt, doch der hatte sich verweigert. Die Kritik wollte nicht verstummen. Klaus aber war nun empfindlich genug, um in den Raum zu stellen, auch er könnte gehen und würde zu einer »Hofübergabe« bereit sein. Vielleicht war er überinterpretiert worden, doch die Andeutung, der Kanzler würde seinen Verbleib in der Politik zur Disposition stellen, ließ nicht nur die Spekulationen blühen, sondern war auch Wasser auf die Mühlen der – wie es so schön heißt – politischen Mitbewerber. Es war ein Teufelskreis. Der Kanzler nahm sich Zeit zum Nachdenken. Schon wenige Tage nach seinem Wahlerfolg im März 1966 hatte er sich für drei Tage zurückgezogen und wollte mit sich selbst ins Reine kommen. Und eigentlich hätte er für die eingeforderten Leitsätze politischen Handelns, für die Umsetzung der Erkenntnisse der Naturwissenschaften, vornehmlich der Kybernetik, der ideale Regierungschef sein sollen. Er beschäftigte sich auch intensiv mit Philosophie, doch zumindest in seinen Tagesaufzeichnungen gibt es so gut wie keine Hinweise auf Kunst, Literatur oder Musik. Er hatte wohl keinen Konflikt mit der Jugend oder wurde gar von einem seiner Söhne öffentlich in Frage gestellt, wie es seinem Nachfolger, Bruno Kreisky, passieren sollte. Aber er konnte auch nicht deutlich machen, dass er an den gesellschaftlichen Strömungen seiner Zeit, am Aufbegehren einer nachwachsenden Generation und an dem Anteil nahm, was man dann die »68er Bewegung« nannte. Anderes schien ihm wichtiger. Der Bundeskanzler merkte es vielleicht zu spät, dass er drauf und dran war, die ihm ohnedies nie sichere Unterstützung in seiner Partei und in der Bevölkerung zu verlie-
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ren. Sein »Schloss« blieb in weiter Ferne. Immer wieder trug er in seine berühmt-berüchtigten Notizhefte ein, was ihm als bedenkenswert aber auch zukunftsfähig schien, vorranging die wissenschaftliche Forschung, Innovation, Verwaltungsreform, Freiheit und Demokratie. Die Wirtschaftsleistung des Landes war zwischen 5,5 % und 6 % gestiegen. Allein die Industrieproduktion hatte eine Steigerung um 11 % erfahren. Die Exporte hatten um 15 % zugenommen, die Löhne waren schneller gewachsen als die Preise, und die Pensionen waren um 5 % angehoben worden. Die Gespräche mit der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft waren zumindest ansatzweise vorangekommen. In Seibersdorf südlich von Wien entstand ein Atomforschungsinstitut. Zwei Atomkraftwerke waren geplant, der Bau des einen im niederösterreichischen Zwentendorf wurde vom Ministerrat am 11. November 1969 genehmigt. Eine ganze Reihe jüngerer Politiker hatte die erste Nachkriegs-Politikergeneration abzulösen begonnen, und von einem Mann wie dem erst 35jährigen Alois Mock erwartete man, dass er einmal Bundeskanzler werden würde. Außenminister Waldheim hatte nicht nur die Südtirolverhandlungen zu einem guten Ende gebracht, sondern auch sehr diskret das Anliegen des Warschauer Pakts nach Abhaltung einer Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa transportiert. Man rechnete mit ihm als nächstem UNOGeneralsekretär. Für April 1970 waren Gespräche von Amerikanern und Sowjets über den Abbau strategischer Waffen in Wien vereinbart worden. Doch was zumindest für den Botschafter Ihrer britischen Majestät in Wien mehr zählte, war die geringe Ausstrahlung des Kanzlers, war der zunehmende Provinzialismus und die Selbstgenügsamkeit der Österreicher generell. Vom Kanzler gingen keine positiven Signale aus, berichtete er nach London. Klaus wäre ein »scheinheiliger Langweiler«. John Pilcher gehörte sicher nicht zu seinen Schmeichlern. Noch während der Wahlkampf für die nächsten Nationalratswahlen anlief, verbreitete sich in der Kanzlerpartei das Gefühl abgeschlagen zu sein. Man rechnete mit dem Verlust der absoluten Mehrheit, war jedoch zuversichtlich, eine relative zu schaffen. Kaum jemand zweifelte daran. Doch bei den Nationalratswahlen am 1. März 1970 erreichte die SPÖ die relative Mehrheit. Theoretisch hätten ÖVP und FPÖ, die beiden Verlierer, eine kleine Koalition bilden können. Für Klaus kam das nicht in Frage. Er hatte schon vor der Wahl verkündet, in keine Koalitionsregierung eintreten zu wollen. Dabei hatte er wohl nur an eine Neuauflage einer Großen Koalition gedacht. Eine Kleine Koalition war ein Experiment, das er erst recht nicht machen wollte. Und eine Minderheitsregierung schien ihm absurd. »Er war kein politischer Spieler«, meinte einer seiner »Jungen«, Leo Wallner. Stattdessen fasste Klaus noch am Wahlabend den Entschluss, sich aus der Politik zurückzuziehen. Er beendete seine Aufzeichnungen und setzte an den Schluss den für ihn, den tiefgläubigen Katholiken charakteristischen Satz : »Deo Soli Sit Gloria«.
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»Ich bringe nichts Schönes« Am 7. Mai 1987, vor 25 Jahren, richtete Bundespräsident Kurt Waldheim ein Schreiben an Bundeskanzler Franz Vranitzky, in dem er um die Einsetzung einer Historikerkommission ersuchte, welche die gegen ihn erhobenen Vorwürfe klären sollte. Man hatte diesen Schritt erwartet, und es war auch schon die längste Zeit davon gesprochen worden, dass man eine derartige Kommission brauchte, um endgültig Klarheit über die Kriegsvergangenheit Kurt Waldheims zu gewinnen. Fachleute sollten her – nicht Journalisten und Hobbyhistoriker. Seit 1986 schien es in Österreich kein anderes Thema zu geben, das mit vergleichbarer Intensität diskutiert wurde und Tageszeitungen, Radio und Fernsehen beherrschte, wie der »Fall« Waldheim. Kurt Waldheim selbst war seit März 1986 in der Defensive, was seine Kriegsvergangenheit anging. Das Interesse war von einer Artikelserie im »profil« ausgelöst worden, in der nicht nur einfach gefragt wurde : Was hat Kurt W. in jenen Jahren getan, die als Österreichs finsterste bezeichnet wurden, und was machte ihn anders als die anderen, die bis dahin als wählbar angesehen oder auch gewählt worden waren, um Bundespräsident der Zweiten Republik zu werden. Hatte er 1938 für den Anschluss an das Deutsche Reich geworben, seinen Beruf nur dank der Zugehörigkeit zu einer NS-Organisation ausüben können, so kriegswichtige Arbeiten geleistet, dass er im Zweiten Weltkrieg nicht an die Front musste, oder war er als Kommandeur deutscher Truppen hervorgetreten ? Nichts dergleichen ! Im Fall Kurt Waldheims war wohl schon anlässlich seiner ersten Kandidatur für das Amt des Bundespräidenten, 1971, mit Personalakten aus dem Österreichischen Staatsarchiv gewunken worden, doch es hatte sich niemand wirklich dafür interessiert. Die Wiederwahl von Franz Jonas zum Bundespräsidenten stand damals außer Zweifel. Waldheim wurde Generalsekretär der UNO, doch als er mit weit größeren Chancen als das erste Mal zu den Bundespräsidentenwahlen 1986 antreten wollte, war irgendetwas anders geworden. Man wusste nur noch nicht wirklich was. Den Ausgang nahm das, was schließlich »campaign« genannt wurde, anscheinend in den USA. Dabei konnte es eigentlich nicht um das Amt gehen, sondern nur um den Menschen, für den man sich jenseits des Atlantiks wohl auch nur deshalb interessierte, weil er ein den Amerikanern mitunter unangenehmer UN-Generalsekretär gewesen war. Er hatte sich u. a. wie Bruno Kreisky für die Palästinensische BefreiungsOrganisation PLO eingesetzt, unterstützte die Nahostpolitik Kreiskys und kritisierte die USA wegen der Bombardements von zivilen Zielen in Nordvietnam. Das war nicht vergessen worden, und jetzt bot sich eine gute Gelegenheit, Dokumente zu veröffentlichen, die den Amerikanern aus Österreich zugespielt worden waren. »profil« wollte den Amerikanern zuvorkommen, was gelang. Aus einem einzelnen Beitrag wurde eine Serie. Waldheim versuchte zu erklären, warum er in seinem Buch »Im Glaspalast der
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Weltpolitik« seine Kriegszeit nur gestreift hatte. Doch jetzt interessierte man sich auch für die Zeit vor dem Krieg. Immer wieder tauchten Details auf, die neu schienen, und man musste den Eindruck gewinnen, dass Waldheim Einzelheiten seiner Biografie aus den Jahren nach 1938 verschwiegen hatte. Er erfuhr Zuwendung und Ablehnung, letztere artete rasch in Hass aus. Am 8. Juni 1986 wurde Waldheim zum Bundespräsidenten gewählt, doch die Kampagne war damit nicht zu Ende. Mittlerweile markierte Waldheim auch so etwas wie eine Art Zeitenwende der österreichischen Geschichte, da vorher manches keine Rolle gespielt hatte, das nachher als wesentlich gesehen wurde und eine intensive Beschäftigung mit der NS-Zeit zur Folge hatte. Kollektives Vergessen galt nicht mehr. Es war eine Art Selbstreinigungsprozess, den man am Beispiel und anhand der Person des Bundespräidenten demonstrierte. Waldheim versprach restlose Aufklärung und gab ein Weißbuch in Auftrag. Die im März 1987 vorliegende erste Fassung konnte nicht überzeugen. Um fundierter als bis dahin argumentieren zu können, wurde unter Einbindung des wissenschaftlichen Leiters des Militärgeschichtlichen Forschungsamts in Freiburg im Breisgau, Manfred Messerschmidt, weitergeforscht. Der machte sich mit deutscher Gründlichkeit an die Arbeit und ackerte die Bestände des ebenfalls in Freiburg untergebrachten deutschen Militärarchivs und alle anderen auffindbaren Quellen durch. Das Ergebnis floss in die endgültige Version des Weißbuchs ein, das vornehmlich die Bundesregierung beruhigen sollte, doch nichts bewirkte. Weiterhin galt die Schuldvermutung, und in den USA schrieb man ungeniert vom SS-Schlächter. Als man dennoch meinen konnte, das Interesse an der Person des österreichischen Bundespräsidenten würde nachlassen, wurde man eines Besseren belehrt. Die amerikanische Regierung setzte Kurt Waldheim am 27. April 1987 auf die sogenannte »watchlist«. Damit war dem langjährigen UN-Generalsekretär die Einreise in die USA als Privatperson de facto verwehrt. Eine Sensation. Nun wurde der Ruf nach einer internationalen Historikerkommission laut, die untersuchen sollte, ob auf Waldheim tatsächlich der Vorwurf eines »schuldhaften Verhaltens« während seiner Kriegszeit zutraf. Wer aber sollte der Kommission angehören ? Zunächst wurde ein Vorsitzender gesucht und in der Person des Schweizers Hans-Rudolf Kurz gefunden. Der war Jurist, Historiker, Oberst der Schweizer Milizarmee und hatte Jahre hindurch im Dienst der Schweizer Bundespräsidenten gestanden. Ein »Neutraler« schien die ideale Besetzung. Als Mitglieder wurden dann die nationalen Präsidenten der Internationalen Kommission für Militärgeschichte vorgeschlagen, die über die nötige Sachkenntnis verfügen sollten. Außer Kurz gehörten in der Folge General James L. Collins Jr. als Vertreter der USA der Kommission an, für die BRD wurde der schon bekannte Professor Manfred Messerschmidt nominiert und für Israel der Historiker und ehemalige General Jehuda Wallach. Über diesen Personenkreis hinausgehend wurden dann der deutsch-britische Historiker Gerald Fleming und der Präsident des Zentrums für die Geschichte
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des Zweiten Weltkriegs, der belgische Professor Jean Vanwelkenhuyzen nominiert. Schließlich wurde noch der an der Universität Kreta wirkende deutsch-griechische Historiker Hagen Fleischer als Experte beigezogen. Der Kommission sollte wunschgemäß kein Österreicher angehören. Am 1. September 1987 trat das Gremium zusammen. Dokumente, die man eigentlich schon alle aus dem Weißbuch kannte, wurden nochmals geprüft. Es wurde weiter gesucht und immer wieder etwas gefunden. Einmal verlautete aus Deutschland, dann aus Israel, dann aus den USA und vor allem aus Jugoslawien, man hätte neue, Waldheim belastende Akten entdeckt. Sogar aus Norwegen wurde ein Dokumentenfund gemeldet. Doch es waren eigentlich immer dieselben Schriftstücke, die dank der amerikanischen Mikroverfilmung von deutschen Akten nach dem Krieg eine Art Massenverbreitung gefunden hatten. Die Medien weltweit glaubten wiederholt, jetzt und jetzt wäre das alles entscheidende Papier gefunden worden, das die Schuld Kurt Waldheims belegen würde. Es wurde gelogen, dass sich die Balken bogen. Fälschungen wurden angefertigt und renommierten Zeitschriften angeboten. »Time-Life« lehnte ab ; der »Spiegel« kaufte um viel Geld und ging einem serbischen Betrüger auf den Leim. Die Historikerkommission tat scheinbar unbeirrt von dem, was da um sie vorging, ihre Arbeit. Man trachtete, jeder Spur nachzugehen und füllte Hunderte Seiten mit Gesprächsprotokollen. Meist zog Manfred Messerschmidt die Gesprächsführung an sich. Gesprochen wurde Deutsch. Der Amerikaner und der Belgier konnten nicht immer folgen. Im Jänner 1988 neigte sich die Arbeit ihrem Ende zu. Hans-Rudolf Kurz trachtete schon aus einem ganz persönlichen Grund, die Arbeit rasch zu beenden, denn ihm stand eine Hüftoperation bevor, die er hatte hinausschieben müssen. Auch sonst zeigten die Mitglieder der Kommission gewisse Verfallserscheinungen. Die Spannung wuchs. Vanwelkenhuyzen wusste nachträglich nicht nur von letzten Gesprächen und schwerwiegenden Konflikten zu berichten, sondern auch davon, dass er einem massiven Bestechungsversuch ausgesetzt war. Wie es den anderen ergangen war, wusste er selbstverständlich nicht, und wer dahinterstand ebenfalls nicht. Als schon alles fertig schien, merkten Vanwelkenhuyzen und Collins, dass ohne ihr Wissen in den Schluss des Berichts hineingeschrieben worden war, dass nicht nur Waldheim, sondern die gesamte Kriegsgeneration schwere Schuld auf sich geladen habe, und dass Kurt Waldheim eine »moralische Mitschuld« an inkriminierten Kriegshandlungen treffen würde. Daraufhin verweigerten sie ihre Unterschrift. Als die Passage abgeändert worden war, war die Sache mit der Mitschuld der gesamten Kriegsgeneration gestrichen worden, und zu Waldheim hieß es, er würde eine »konsultative Mitverantwortung« tragen – was immer das heißen mochte. Jetzt wurde unterschrieben. Am 8. Februar 1988 kam die Historikerkommission in die Präsidentschaftskanzlei und überreichte dem Bundespräsidenten den Bericht. Kurz leitete die Übergabe mit den Worten ein : »Ich bringe nichts Schönes«. Dann waren die Medien dran, der Be-
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richt wurde verteilt und natürlich vielfach interpretiert und kommentiert. Der Unterschied zum Weißbuch war auffallend, nicht freilich, was die dokumentarischen Grundlagen anlangte, sondern deren Interpretation, und an manchen Stellen konnte man den Eindruck gewinnen, Manfred Messerschmidt, der wesentliche Teile des Berichts der Historikerkommission formuliert hatte, wäre darauf aus gewesen, seine eigenen Recherchen für das Weißbuch zu widerlegen. Wie schon bei Nestroy nachzulesen war : »Jetzt bin ich wirklich neugierig, wer stärker ist, ich oder ich !« Das Medieninteresse erlahmte erst allmählich. Da Kurt Waldheim als Bundespräsident nicht zurücktrat, musste man zu einer Art neuer Normalität finden, national und international. Ein amerikanischer und ein britischer Fernsehsender wollten den Fall Waldheim aber noch nicht auf sich beruhen lassen und bereiteten ein Medientribunal vor, für das auch ein britischer Lordrichter, Sir Frederick Lawton, gewonnen werden konnte. Die Journalisten des Senders strengten sich erheblich an und konnten sogar noch Leute ausfindig machen, die der österreichischen Historikerkommission nicht zur Verfügung gestanden waren. Alles wurde fernsehgerecht aufbereitet, auch der Urteilsspruch des Lordrichters. Doch der sprach ein klares »nicht schuldig«. Die vorgesehenen Wiederholungen des Fernsehprozesses wurden gestrichen. Für einen Freispruch wollte man kein zusätzliches Geld aufwenden. Die Akten der Historikerkommission sind mittlerweile schon längst im Archiv der Republik des Österreichischen Staatsarchivs gelandet. Geblieben ist die schwindende Erinnerung an eine Erregung, die letztlich nicht nur dem Mann, sondern ganz Österreich galt, und aus »everybody’s darling« für eine Zeitlang den »letzten Hort des Nationalsozialismus« werden ließ. Hier konnte man 2000 anknüpfen, als es galt, Österreich wegen der schwarz-blauen Koalition in Acht und Bann zu tun. Das hatte nur kurz Bestand. Was jedoch geblieben ist – außer einem Gefühl des Unbehagens – ist die Scheidung in davor und danach. Es ist etwas anders geworden bei Österreichs Sicht auf die Welt von gestern. Und der Fall Waldheim markierte diese Wende. König Kreisky und die Briten »In Österreich herrscht Ferienstimmung. Abgesehen davon ist es ab Freitag Mittag ohnedies unmöglich, jemanden an seinem Schreibtisch vorzufinden.« Seine Exzellenz, der königlich britannische Botschafter in Österreich, Hugh Trevors Morgan C. M. G., hatte wohl schon aufgehört, über die österreichischen Wochenendriten zu staunen, als er im Juli 1976 wieder einmal einen routinemäßigen Bericht zusammenstellte, doch sie schienen ihm allemal noch berichtenswert, um das Londoner Außenministerium mit den Besonderheiten und Gebräuchen eines Landes vertraut zu machen, das die Briten einmal ganz gut gekannt hatten. Mag sein, dass einem Mitte der Siebziger Jahre des 20. Jahr-
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hunderts wirtschaftlich alles andere denn prosperierenden Land wie England der geringe Arbeitseifer merkwürdig vorkommen sollte oder aber Neid zu wecken verstand. Die Phäaken an der Donau hatten von Selbstgenügsamkeit zu Selbstgefälligkeit gewechselt und waren froh, dass alles so lief, wie es lief. Also ließen sie sich auch nicht durch die Politik ablenken und konzentrierten sich darauf, »Würste zu mampfen und Wein zu saufen« (munching its Würst and sipping its wine), wie Seine Exzellenz so wortmalerisch schrieb. Das war vor mehr als dreißig Jahren. Mittlerweile können sich nicht nur Londoner Außenamtsbeamte, sondern auch österreichische Leser an Syntax und Wortwahl der jüngst freigegebenen Berichte des seinerzeitigen britischen Botschafters erfreuen. Doch es war nicht nur manches deftig, was er schrieb ; es war auch bisweilen analytisch und zeigte recht ungeschminkt, wie man Österreich mit britischen Augen sah. Österreich, so hieß es – und dazu brauchte es keine großen Einsichten – ging es gut. Es hatte aufgeholt, allerdings waren die Lebenshaltungskosten auf das Niveau der Bundesrepublik und der Schweiz gestiegen, ohne dass freilich die Einkommen dieselbe Höhe erlangt hätten. Und Dinge wie deficit-spending oder Austro-Keynesianismus wurden zwar von der britischen Presse denkbar kritisch gesehen, doch in der politischen Beurteilung ging das unter. Exzellenz Morgan interessierte sich vor allem für die handelnden Personen. Als der Botschafter 1976 mit seiner Berichterstattung anfing, rückte er von der bisherigen Gepflogenheit, einen Jahresbericht zu schreiben, insofern ab, als er nicht nur Jahreszusammenfassungen, sondern auch Halbjahresberichte zu Papier brachte. Vielleicht wollte er damit nichts anderes erreichen, als die Bedeutung der Botschaft und den Fleiß der Mitarbeiter zu unterstreichen, denn der Rotstift regierte überall, und die sogenannte Berill-Kommission durchleuchtete eine britische Auslandsvertretung nach der anderen. Als sie schließlich 1977 ihr Gutachten veröffentlichte, hieß es darin wenig überraschend : »Die Möglichkeiten des Vereinigten Königreichs, Ereignisse von weltgeschichtlicher Bedeutung zu beeinflussen, haben zwangsläufig abgenommen.« Dementsprechend könnte man auch bei den Botschaften und sonstigen Repräsentanzen das Personal reduzieren. Waren sich Briten und Österreicher dadurch ähnlicher geworden, dass sie in der internationalen Politik keine so große Rolle mehr spielten ? Wohl zum wenigsten, denn da lagen noch immer nicht nur Weltmeere, sondern auch Welten dazwischen. Aber vielleicht fiel die britische Einschätzung Österreichs in den Siebzigerjahren da und dort auch deshalb recht kritisch aus, da sich die Briten über den mitteleuropäischen Möchtegern nicht so recht klar wurden. Kreisky stand unangefochten an der Spitze des politischen Österreich und war auch sonst omnipräsent. Botschafter Morgan hob es denn auch mehrfach hervor. Kreisky hatte Österreich mit Hilfe von Inflation und steigenden Budgetdefiziten durch die Rezession gesteuert, was den »Wiener« Briten deshalb bemerkenswert erschien, als
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sie selbst noch nicht über dem Berg waren. Ab 1976 ging es in Österreich sogar bergauf. Die Zahlen, die nach London berichtet wurden, schienen für sich zu sprechen : Wachstumsprognose 4 % ; Arbeitslosigkeit 2,1 %. Wer konnte da dagegenhalten ? Die Opposition, angeführt von Josef Taus, sei mehr oder weniger hilflos, hieß es. »So lange ›König Kreisky‹ da ist und es keine äußeren Krisen gibt«, hätten daher Taus & Co keine Chance, meinte der britische Botschafter. Das Einzige, das der Volkspartei bei der Suche nach einer Gegenstrategie eingefallen sei, wäre der Versuch einer Re-Ideologisierung. Die diesbezügliche Kampagne hätte zum Ziel, Kreisky wegen seiner Machtfülle anzugreifen und seinen autoritären Stil zu geißeln. Doch wen interessierte es ? Die Österreicher blieben bei Würstel und Wein (s.o.) Was hier zum Ausdruck kam, entsprach in etwa der Vorhersage eines österreichischen Diplomaten, Norbert Bischoff, der sich mehr als zwanzig Jahre vorher, im Herbst 1955, mit einer langfristigen Einschätzung der Beziehungen Österreichs zum Rest der Welt abgemüht und gemeint hatte : Mit der Zeit würde das angelsächsische Interesse an Österreich »auf das Niveau jener distanzierten und im Wesentlichen politisch substanzlosen Freundlichkeit und Höflichkeit zurückweichen«, wie man das schon aus der Zwischenkriegszeit kannte. Hugh Trevors Morgan wollte aber doch mehr machen, als nur ein paar pointierte Bemerkungen von sich zu geben, denn schließlich erwartete man von ihm eine ordentliche und wie man in seinem weinseligen Gastland zu sagen pflegte : nüchterne Analyse. Also wiederholte seine Exzellenz, der wohl auch der Regierungspartei ideologisch nahestand, gleich mehrfach : Den Österreichern ginge es gut. Und als ob Kreisky es gewusst hätte, dass das Eingang in die britische Berichterstattung finden würde, zitierte der Kanzler wiederholt einen nicht namentlich genannten, mit ihm befreundeten britischen Diplomaten, der 1955 gesagt haben soll : »Well, now we are supposed to have ratified Austria’s independence. All I ask myself is for how long.« Heute, so Kreisky, würde das niemand mehr fragen. Die Unabhängigkeit stand nicht zur Diskussion, und auf britische Hilfe war man erst recht nicht angewiesen. Die Neutralität würde in Österreich niemand mehr ernsthaft in Frage stellen. Und ein NATO-Beitritt wäre in der Praxis schon deshalb undenkbar, da die NATO das gar nicht verkraften würde. Sie könnte, meinten die Briten, allenfalls einzugehenden Verpflichtungen nicht einmal ansatzweise nachkommen. Was die eigene Verteidigungsfähigkeit Österreichs anlangte, da konnte freilich nichts mehr überraschen. Kreisky setzte nach wie vor auf die aktive Neutralitätspolitik, wie er sie nannte, und nicht auf die militärische Landesverteidigung. Und die UNO-City wäre ihm wichtiger als militärische Rüstungsgüter. Er spreche von militärischem Gleichgewicht, obwohl Österreich in Sachen Militär und militärischer Stabilität selbst so gut wie keinen Beitrag leiste. Die Dienstzeit für das Heer sei auf sechs Monate verkürzt worden, doch die Heeresreform hätte sich nicht durchziehen lassen. Das Heer sei lediglich dort relativ erfolg-
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reich, wo es darum gehe, Imagepflege zu betreiben. Doch es fehlte an länger dienenden Soldaten und vor allem an Unteroffizieren, und die Bewaffnung wäre inferior. Kreisky hätte sich ganz klar gegen die Anschaffung neuer Abfangjäger ausgesprochen, wobei die offizielle Begründung die sei, dass man keine modernen Flugzeuge brauche, wenn die dann wegen der staatsvertraglichen Bestimmungen ohnedies nicht mit Raketen bestückt werden könnten. Die Briten stimmten also weiterhin dem Schweizer Urteil zu : Militärisch ist Österreich ein Vakuum. Es hing denn auch mit der geringen Bedeutung des Bundesheers zusammen, dass die britischen Stellen den Forderungen ihrer Einsparungskommissare nachkamen und den Militärattaché einsparten : Oberstleutnant Stewart-Wilson übersiedelte in den Buckingham Palast, und da ohnedies Brigadier James-Norman Holden an den Truppenabbaugesprächen in Wien teilnahm und sich diese noch eine Zeitlang hinziehen würden, sollte er gleich auch die Aufgaben des Militärattachés an der Botschaft mit erledigen. Nicht, dass es keine militärischen Beziehungen zwischen Großbritannien und Österreich gegeben hätte, doch sie beschränkten sich im Wesentlichen auf die Teilnahme britischer Soldaten an Sportveranstaltungen und diversen Schikursen, wie umgekehrt der österreichische Militärattaché in London, Brigadier Hubert Wingelbauer, als Vertreter eines militärisch uninteressanten Kleinstaats behandelt wurde und sich durchaus eine spannendere Tätigkeit vorstellen konnte. (1978 wurde er Generaltruppeninspektor). Botschafter Morgan war natürlich auch bemüht, auf das eine oder andere Problem hinzuweisen, auf das er – zumindest bei der Lektüre der Tageszeitungen – stieß. Da war einmal die Frage der Errichtung und Inbetriebnahme des Atomkraftwerks Zwentendorf. Allmählich nahmen die Pros und Kontras zu, auch wenn dem noch die Heftigkeit mangelte, die man bereits aus anderen Staaten kannte. Doch warum sollte es in Österreich anders laufen als in jenen Ländern, in denen die Kernenergie spaltete ? Dass sich in der Anti-Atombewegung die unterschiedlichsten Gruppen und Gruppierungen zusammenfanden, nicht zuletzt die Friedensbewegten, die Umweltaktivisten und eine neue Linke, sollte wohl auch einem österreichischen Kanzler nicht entgangen sein. Daher könnte auch Österreich das dicke Ende noch bevorstehen. Und es gab natürlich auch anderes, das nicht so gut lief. Die personelle Situation bei der SPÖ war – sagen wir – schwierig. Kreisky hatte keinen logischen Nachfolger. Daher war wohl auch davon auszugehen, dass er seine ursprüngliche Ankündigung, noch vor den Wahlen 1979 sein Amt abzugeben, nicht Wirklichkeit werden ließ. Schwierig war auch die Nachbesetzung des Außenamts. Denn was Kreisky suchte, war ein Posteninhaber – nicht mehr. Interessanterweise gingen die Briten davon aus, dass Kreisky deshalb eine Zeitlang zuwartete, ehe er 1976 Erich Bielka nachbesetzte, da er für den Fall, dass Kurt Waldheim als UN-Generalsekretär nicht wiedergewählt werden würde, ihm das Amt anbieten wollte. Doch dann wurde mit Willibald Pahr ein anderer Mann
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gefunden, pflegeleichter jedenfalls als der dann wiedergewählte UN-Generalsekretär. Kreisky und Waldheim waren sich freilich in vielen Fragen einig, nicht zuletzt bei der Einschätzung der Situation im Nahen Osten und vor allem des Palästinenserproblems. Waldheim hatte als UNO-Generalsekretär das Seine dazu beigetragen, den Palästinensern Beobachterstatus bei der UNO zuzugestehen. Und Kreisky hatte aus seinen drei Besuchen im Rahmen der Sozialistischen Internationale die Konsequenz gezogen, dass etwas geschehen müsse, und zwar rasch und unter Einbindung des Palästinenserführers Jassir Arafat. Kreisky betonte freilich auch, dass er nie gefragt worden sei, ob er den Vermittler abgeben wollte. Er hatte es folglich ungefragt getan und war, so berichtete Morgan im Mai 1977 nach London, davon überzeugt, dass die Palästinenser für eine Friedensregelung bereit wären, und zwar auf Grundlage der Schaffung eines Palästinenserstaats. Der sollte von der Westbank bis zum Gaza-Streifen reichen, wobei diese beiden Territorien durch einen Korridor verbunden sein sollten. Arafat würde vom ägyptischen Präsidenten Sadat unterstützt, der denn auch der Einzige sei, der den arabischen Staaten eine derartige territoriale Lösung plausibel machen könnte. Ebenso aber würde Arafat von den Saudis unterstützt, die genügend Geld hätten, um arabische Extremisten auszuschalten. Und die Extremisten außerhalb der PLO wären eine alles andere, denn friedensbereite und völlig unberechenbare Gruppe. Die Palästinenser seien aber auch deshalb so aggressiv, da man ihnen täglich vor Augen führte, wie die arabischen Staaten im Luxus schwammen und im Öl badeten, während sie »den Dreck abbekämen.« Es gab auch anderes, das den Briten auffiel. Kreisky plädierte für eine Konferenz der Europäer mit den USA und Kanada in naher Zukunft. Das habe Kreisky auch mit dem französischen Staatspräsidenten Giscard d’Estaing und ebenso mit dem deutschen Bundeskanzler Helmut Schmidt besprochen. Und wenn das auch alles zu nichts führen würde, dann sollte damit doch deutlich gemacht werden, dass Österreich seinen Platz im Kreis der westlichen Staaten beanspruchte. Im Foreign und Commonwealth Office war man skeptisch. Und damit schloss sich gewissermaßen der Kreis : Wien ärgerte die Missachtung, die es durch London erfuhr. Umgekehrt wurden in London die Kreisky’schen Bemühungen um einen Fortschritt im Nahen Osten abschätzig beurteilt ; die Bemühungen um eine Annäherung an die EWG wurden damit kommentiert, man sollte in Wien doch die »Pravda« lesen, um zu erfahren, was die Sowjets davon hielten. Und auch die Auffassung, der KSZE-Prozess würde Österreichs Spielraum in den internationalen Beziehungen erweitert haben, ließ die Briten nur den Kopf schütteln. Das liefe auf Besserwisserei hinaus. London tat aber nicht nur genervt : An der Themse war man schlichtweg uninteressiert. Der letzte Besuch eines britischen Außenministers lag bald Jahrzehnte zurück. Auch sonst war kaum einmal ein Kabinettsminister dazu zu bewegen, nach Österreich zu reisen. Und es war dann vielleicht ein geringer Trost, dass 1977 ausgerechnet der
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britische Verteidigungsminister Frederick Mulley auf einen Sprung nach Österreich kam, denn gerade auf dem Gebiet der Landesverteidigung hatte man sich besonders wenig zu sagen. Zudem hatte der Minister-General Karl Lütgendorf sich und Österreich mit dem Export von Waffen nach Syrien nicht unbedingt ins beste Licht gerückt. Ihm standen stürmische Zeiten und schließlich sein Rücktritt unmittelbar bevor. Sollte da gerade der Besuch des britischen Verteidigungsministers womöglich unterstreichen, dass man nur einen einzigen Minister gefunden hatte, dessen Terminkalender nicht so voll war, dass ihm ein Besuch in Wien bei einem ins Trudeln geratenen Amtskollegen zuzumuten war ? Letztlich war auch das wohl nur Ausdruck dessen, was sich schon vor längerer Zeit angekündigt hatte : London und Wien hatten sich nicht viel zu sagen, und ihre offiziellen Beziehungen waren »auf das Niveau jener distanzierten und im wesentlichen politisch substanzlosen Freundlichkeit und Höflichkeit« reduziert worden, wie das ein Zyniker schon zwanzig Jahre zuvor beschrieben hatte. Vielleicht aber hing es auch nur von den Menschen ab, wie man sich begegnete. Reparaturbedürftig war die Achse London-Wien in jedem Fall. Winken und ein bisschen Blasmusik Zu Anfang dieses Jahres [2001] wurde in Budapest ein Dokument gesucht, von dem man wohl vermuten musste, dass es existierte, doch es war zunächst weder im Außenministerium noch im Verteidigungsministerium auffindbar : der Warschauer-PaktVertrag. Und auch im Staatsarchiv zuckte man bedauernd die Schultern : Nie gesehen ! Sicher, es gab noch andere Exemplare, und man kannte auch die Siegel- und Unterschriftseite, auf der für Ungarn der Partei- und Regierungschef András Hegedüs unterschrieben hatte. Doch das Original fehlte, und man witzelte schon, Ungarn sei gar nie Mitglied des östlichen Militärbündnisses gewesen. Schließlich kam aus dem Außenministerium die erlösende Nachricht : Das Dokument war gefunden worden. Allerdings gab es insofern noch eine Überraschung, als vielleicht angenommen worden war, man hätte ein Dokument in ungarischer Sprache verwahrt. Stattdessen wurde man gewahr, dass Ungarn eine deutschsprachige Urkunde unterschrieben hatte. Und man konnte es auch nachlesen : Der Vertrag war nur in Russisch, Polnisch, Tschechisch und Deutsch ausgefertigt worden. Den Ungarn, Albanern, Bulgaren und Rumänen war offenbar irgendein Exemplar gegeben worden. Doch eigentlich mussten die Ungarn kaum einmal nachlesen, wozu sie sich verpflichtet hatten. Sie wussten es, und es klang so simpel : »Die vertragschließenden Parteien verpflichten sich in Übereinstimmung mit der Satzung der Organisation der Vereinten Nationen, sich in ihren internationalen Beziehungen der Drohung mit Gewalt oder
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ihrer Anwendung zu enthalten und ihre internationalen Streitfragen mit friedlichen Mitteln so zu lösen, dass der Weltfrieden und die Sicherheit nicht gefährdet werden.« Ein Bündnis wie andere auch ? Mitnichten ! Vergleichbares hatte es eigentlich nie gegeben, auch wenn sich der Warschauer Pakt darauf berief, ähnliche Ziele zu verfolgen wie die NATO. Beide Pakte gingen davon aus, dass die in Jalta und Potsdam 1945 vereinbarte Nachkriegsordnung gefährdet war und machten den jeweils anderen dafür verantwortlich. 1949 war die NATO gegründet worden. Die Sowjets behalfen sich noch weitere sechs Jahre mit bilateralen Verträgen. Dann schmiedeten sie ihren eigenen Pakt. Ende November 1954 wurde zu einer Konferenz nach Moskau eingeladen, auf der schließlich acht Staaten der sowjetischen Hemisphäre die sogenannten Pariser Verträge verurteilten, die den Beitritt der Bundesrepublik Deutschland zur NATO zum Ziel hatten. Und sie drohten, dass sie für den Fall, dass Westdeutschland der NATO beitrete, Maßnahmen zur Aufstellung von gemeinsamen Streitkräften und einem gemeinsamen Oberkommando treffen würden. Es war eine Art Doppelstrategie, die da probiert wurde, denn gleichzeitig wurde von den acht kommunistischen Ländern Zustimmung zu einer Gipfelkonferenz in Genf im Juli 1955 signalisiert, auf der man über alles würde sprechen können. Doch die Erweiterung der NATO ließ sich nicht mehr aufhalten, und der östliche Pakt war eigentlich auch schon beschlossene Sache. Die Bundesrepublik Deutschland trat am 5. Mai 1955 der NATO bei, und am 14. Mai 1955 wurde in Warschau der Vertrag unterschrieben, der den politischen und militärischen Zusammenschluss der Sowjetunion und ihrer Satelliten bringen sollte. In der polnischen Hauptstadt hatten sich die Staats- beziehungsweise Parteichefs der kommunistischen Einheitsparteien Polens, der Tschechoslowakei, der Deutschen Demokratischen Republik, Ungarns, Rumäniens, Bulgariens und Albaniens mit den Sowjets getroffen. Es war unendlich viel geküsst worden – wie das halt unter Genossen so üblich war. Die Volksrepublik China war als Beobachter zugelassen, obwohl es ja eigentlich nur um Europa ging. Die acht schlossen den bekannten »Vertrag über Freundschaft, Zusammenarbeit und Beistand«. Der politische Teil des Abkommens schien nichts nennenswert Neues zu besagen. Doch der harte Kern waren ja auch die militärischen Bestimmungen, mit denen ein gemeinsamer Oberbefehl und Kommandostrukturen geschaffen wurden, die es der Sowjetunion ermöglichen sollten, mehr oder weniger beliebig über die militärischen Potentiale der Mitglieder zu verfügen. Gewissermaßen der Abschluss der sicherheitspolitischen Neuordnung Mitteleuropas war dann der einen Tag nach Warschau unterschriebene Österreichische Staatsvertrag – doch das ist eine andere Geschichte. Mit dem Ende der Besetzung Österreichs hätte die Sowjetunion – theoretisch – ihr Recht auf Truppenstationierung in Ungarn und Rumänien verloren, und dem sollte auf jeden Fall vorgebeugt werden. Wohl weniger um Österreichs willen als der Magyaren und Rumänen wegen.
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Schließlich kam auch die Gipfelkonferenz in Genf zustande, und der sowjetische Ministerpräsident Bulganin verblüffte für kurze Zeit mit der Erklärung, die Sowjetunion würde der NATO beitreten wollen. Natürlich war es eine bloße Finte, doch sie war nicht ohne Witz. Denn der Osten hatte mittlerweile seine neue Bündnisstruktur erhalten, in der für nichtkommunistische Länder ebenso wenig Platz war wie in der NATO für Kommunisten. 1956/57 schloss die Sowjetunion mit einer Reihe von Mitgliedsstaaten des Warschauer Pakts Stationierungsverträge ab. Ausgenommen blieben nur die Tschechoslowakei und Bulgarien. Als oberstes Gremium des Paktes wurde der Politische Beratende Ausschuss gebildet, dem die Staats- und Parteichefs der Bündnisstaaten sowie weitere politische Repräsentanten angehörten. Der Ausschuss befasste sich mit inneren Problemen des Bündnisses, den militärpolitischen Leitlinien, die von der Sowjetunion vorgegeben wurden, dann aber auch mit außenwirksamen Themen wie der Schaffung eines Systems der kollektiven Sicherheit, Schaffung einer atomwaffenfreien Zone in Europa, Rüstungskontrolle und Abrüstung. Die nächste Ebene bildete das Verteidigungskomitee, das die Militärdoktrin und Strategien der Vereinten Streitkräfte festzulegen hatte. Das Vereinte Oberkommando hatte für die Umsetzung der militärischen Richtlinien zu sorgen ; diverse andere Gremien sollten die Vereinheitlichung der Rüstung, eine gemeinsame Luftraumverteidigung und andere militärische Normierungen vornehmen. Was auf dem Papier stand, wurde allerdings lange nicht Realität. Erst 1960 wurden die Strukturen, Verfahren und Potentiale einigermaßen greifbar. Bis der Pakt überhaupt erkennbar wurde, war allerdings schon im Namen des Pakts Politik gemacht und auch der Volksaufstand in Ungarn 1956 niedergeschlagen worden. Schließlich gelang es den Sowjets 1968 abermals, zumindest einen Teil ihrer Verbündeten in die Pflicht zu nehmen : Die Sowjetunion schützte ein Hilfeersuchen tschechoslowakischer Kommunisten vor, um dann den Warschauer Pakt zur Niederschlagung des »Prager Frühlings« zu verwenden. Allerdings sahen die Sowjets auch, dass Vorsicht geboten war. Albanien reagierte auf die Aktion des Warschauer Pakts gegenüber der Tschechoslowakei mit dem schon längere Zeit angekündigten Austritt. Die Rumänen hatten sich nicht in die gemeinsame Aktion einbinden lassen, und die Nationale Volksarmee der DDR, die sich regelrecht zur Intervention gedrängt hatte, durfte am Einmarsch nicht teilnehmen, obwohl es später immer wieder heißen sollte, es seien auch ostdeutsche Divisionen in die Tschechoslowakei einmarschiert. Der Pakt hatte also offenbar seine Probleme. Doch die Sowjetunion dachte gar nicht daran, ihre Arroganz der Macht zu drosseln und auch den kleineren Bündnisstaaten mehr Einfluss zu lassen. Ganz im Gegenteil wurde ihnen mit der Brežnev-Doktrin eine lediglich begrenzte Souveränität zugestanden. Der Beitrag der Mitglieder zum militärischen Bündnis war sehr unterschiedlich. Die Sowjetunion hatte zwar sämtliche wichtigen Positionen inne, unterstellte dem Bündnis
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aber nur wenige Truppen. Die Nationale Volksarmee der DDR hingegen unterstand zur Gänze dem Warschauer Pakt. Und auch die Seestreitkräfte in der Ostsee und im Schwarzen Meer fanden sich permanent unter dem gemeinsamen Oberkommando. Im Kriegsfall sollte es zur Unterstellung sämtlicher Truppen der Mitgliedsstaaten unter das Oberkommando des Warschauer Paktes beziehungsweise dessen Oberstkommandierenden, den sowjetischen Staats- und Parteichef kommen. Wenn die Mitglieder nicht gebraucht wurden, informierte man sie auch nicht. So kam der Einmarsch der Sowjets in Afghanistan auch für die Mitgliedstaaten des Warschauer Vertrages überraschend. Im Pakt rumorte es. Dabei bereiteten wieder einmal die Rumänen die größten Schwierigkeiten, denn sie wollten sich weder politisch unterordnen, noch wollten sie zahlen, und beides war für die Russen unverzichtbar. Wollten der Oberkommandierende des Warschauer Pakts oder sein Generalstabschef über Rumänien nach Bulgarien fliegen, brauchten sie plötzlich eine schriftliche Überfluggenehmigung. Und wenn sie in Bukarest landen wollten, stellten sie schon in den siebziger Jahren verblüfft fest, dass die rumänischen Fliegerabwehr-Batterien bemannt waren und das gelandete Flugzeug militärisch gesichert wurde. Offenbar hatten die Rumänen aus der Invasion in der ČSSR gelernt und nahmen die Landung eines sowjetischen Flugzeugs ernst genug, um misstrauisch zu sein. Es konnten ja auch Truppen daraus hervorquellen, die den Flugplatz erobern wollten. Rumänien hatte auch schon lange keine Offiziere mehr zur Ausbildung in die Sowjetunion geschickt. Die Rumänen investierten stattdessen in Panzerabwehr, Luftverteidigung und elektronische Kampfführung – und so etwas missfiel den Russen. Auch die Ungarn hatten sich widerborstig gezeigt und wollten das ständige Inspektionsrecht des Oberbefehlshabers des Warschauer Pakts und seines Generalstabschefs nicht mehr akzeptieren. Die Sowjets sollten schließlich Manövern nur mehr so beiwohnen können wie westliche Militärbeobachter. Ungarn nannte historische Gründe, weshalb es sich der Einmischung in den Oberbefehl über die eigene Volksarmee widersetzte ; die Rumänen nannten Geheimhaltung als Grund, was natürlich für ein Land des Warschauer Vertrags eher komisch wirkte. Faktum war, dass im Pakt der »Wurm« saß, und dass sich die Sowjets eine Zeitlang nur damit trösten konnten, dass auch bei der NATO nicht nur alles eitel Wonne war. Man musste sich nur Frankreich ansehen. Die Russen trösteten sich fallweise auch mit den gewaltigen Vernichtungspotentialen, über die sie verfügten, wurden sich aber wohl schon Anfang der siebziger Jahre bewusst, dass Drohung und Anwendbarkeit zweierlei waren. Nichtsdestoweniger wurden immer neue Generationen von A-Waffen und Trägermitteln in Dienst gestellt. Und das Undenkbare zu denken war ja nicht nur in der Sowjetunion in Mode. So lange, bis einer dem Wahnsinn abzuschwören begann – Michail Gorbatschow. Als das Ende der achtziger Jahre geschah, rann es den kalten Kriegern kalt über den Rücken.
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Klar, dass hohe und höchste sowjetische Militärs mit Gorbatschow, Verteidigungsminister Jakowlew und Außenminister Schewardnaze nichts anzufangen wussten. Eigentlich hätten geschulte Marxisten auch darin einen Akt der Gesetzmäßigkeit sehen müssen, doch der langjährige Generalstabschef des Pakts, Generaloberst Gribkow, fällte ein schlichtes Urteil : »Revisionisten !« Gorbatschow und Co. aber veränderten nicht nur das politische System in ihren Staaten, sondern lösten auch die militärischen Klammern. Was so folgerichtig schien, war dennoch ein Husarenstück. Und für Husarenstücke sind traditionell die Ungarn zuständig. Die letzte Sitzung des Politischen Beratenden Ausschusses fand am 7. Juni 1990 in Moskau statt. Der ungarische Ministerpräsident József Antall schilderte die Sitzung mit unglaublicher Dramatik. Es war im Kreml. Die Delegationen gingen wie die mongolischen Khane gebückt durch kleine Türen, bis sie dann plötzlich im Festsaal im Angesicht des »Zaren« Michail standen. Doch dann lief alles anders als gedacht ab. Antall hatte turnusmäßig den Vorsitz. Und er wusste aus den Vorbesprechungen mit anderen, auch mit Václav Havel und Lech Wałęsa, dass sich die übrigen Staaten des östlichen Bündnisses für eine schrittweise Auflösung des Pakts aussprechen wollten. Ein dementsprechendes Papier sollte Antall verlesen. Doch er hatte ein zweites vorbereitet und verlas zur Verblüffung aller einen Antrag auf sofortige Auflösung. Gorbatschow hatte wohl nicht recht verstanden – oder aber er brauchte noch etwas Zeit. Er ließ sich den Antrag nochmals vorlesen. Und antwortete ganz einfach : »Charaschó !« Keiner widersprach. Dem Oberkommandierenden des Pakts und seinem Generalstabschef, den Armeegeneralen Lušev und Lobov, blieb wohl nichts anderes übrig, als zu resignieren, nachdem der Staats- und Parteichef der Sowjetunion die Auflösung gutgeheißen hatte. Am 25. Februar 1991 kam der nächste Schritt. Die Außen- und die Verteidigungsminister Bulgariens, Ungarns, Polens, Rumäniens, der Tschechoslowakei und der Sowjetunion unterzeichneten in Budapest das »Protokoll über die Außerkraftsetzung der militärischen Abkommen, die im Rahmen des Warschauer Vertrages abgeschlossen worden waren, und die Auflösung seiner militärischen Organe und Strukturen«. Diesmal wurde zumindest stummer Protest deutlich : Bei der Pressekonferenz am Ende der Tagung fehlten die sowjetischen Vertreter. Im Gegensatz zu 1956, 1968 oder 1981, anlässlich der Verhängung des Kriegsrechts in Polen, ging jetzt alles ruhig, friedlich und ohne sowjetischen Truppeneinsatz vonstatten. Ja, die Russen vermittelten sogar den Eindruck, dass sie die Entwicklung geahnt hätten und immer einen Schritt voraus wären. Schon im Jahr zuvor, am 26. Februar 1990, waren die Modalitäten für den Abzug der sowjetischen Truppen aus Ungarn vereinbart worden ; im März folgte ein ähnlicher Vertrag mit der Tschechoslowakei. Bis Ende Juni 1991 sollten alle sowjetischen Truppen die Stationierungsländer verlassen haben. Nur in Deutschland und Polen sollte es etwas länger dauern dürfen, in Deutschland bis Ende 1994.
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Vielleicht sind gerade die Bilder aus Deutschland, die Abschiedsparade, das Händeschütteln, die Übergabe der großen Militärstadt bei Wünsdorf und Einzelszenen am stärksten in Erinnerung geblieben. Typischer aber war wohl der Abschied der Sowjets aus Ländern mit geringerer Signalwirkung, etwa Ungarn. Da wurden freilich auch Beobachtungen gemacht, die für die anderen als Vorgeschmack gelten konnten. Die sowjetischen Truppen wurden zum wenigsten als Verbündete verabschiedet, denen man noch eine gewisse Wertschätzung entgegenbrachte. Die Russen stießen schon mit ihrem Wunsch, an allen größeren Stationen, durch die dann die Züge mit den abziehenden Truppen rollen sollten, feierlich verabschiedet zu werden, auf taube Ohren. Nur in den großen Orten wurde ihnen Winken und ein bisschen Blasmusik zuteil. Abgesehen von der Missachtung, die damit zum Ausdruck kommen sollte, war man aber in Ungarn auch auf ein Problem aufmerksam geworden, das so klein nicht war. Die Russen übergaben ja nicht ordentlich geräumte Garnisonen, sondern militärische Areale, die als Sondermülldeponien gelten konnten. Die Kasernen waren devastiert, Böden herausgerissen, Anlagen unbewohnbar gemacht worden. Und wo es die Sowjets nicht schafften, waren einheimische Plünderer ans Werk gegangen. Man witzelte, dass das Treibstoffproblem Ungarns auf Jahre gelöst sei, denn die Sowjets hätten Altöl und Sprit in solchen Mengen im Erdreich zurückgelassen, dass man von regelrechten »Ölvorkommen« sprechen konnte. In der Festung Komorn, wo die Russen 80 Kilometer von Österreich entfernt Atomwaffen gelagert hatten, waren diese zwar mitgenommen worden, doch die riesigen Mengen an konventioneller Munition waren nicht ordentlich verpackt, sondern nur in Lastwaggons hineingeleert worden, so dass man extreme Explosionsgefahr vermutete. Entlang der Strecke, die die Munitionszüge nahmen, wurde protestiert und demonstriert. Mit welcher Eile da verladen worden war, konnte man auch noch nachträglich feststellen, als sich im Sand der Komorner Festung Sandberg noch zwei Scud-Raketen fanden. Die Russen hatten auch keine zusätzlichen Bahnanschlüsse bekommen, sondern mussten im Grenzbahnhof Hajdúsámson, wo dann die russische Breitspur anfing, alles umladen. Als das getan war, fand am 19. Juni 1991 die letzte Zeremonie statt. Ein sowjetischer Generalmajor meldete in Záhony den Abzug des letzten Kontingents der Südgruppe der sowjetischen Truppen aus Ungarn. Dann machte er eine Kehrtwendung und ging im Paradeschritt über die Theißbrücke. In Ungarn aber läuteten zu Mittag eine Stunde lang die Kirchenglocken. Zum ersten Mal seit Jahrzehnten ! Das offizielle Ende des Warschauer Pakts sollte mit dem 1. Juli 1991 kommen. Die Staatsoberhäupter der bisherigen Mitgliedsstaaten unterzeichneten in Prag das »Protokoll über das Erlöschen der Gültigkeit des Warschauer Vertrages über Freundschaft, Zusammenarbeit und gegenseitigen Beistand vom 14. Mai 1955 sowie des am 26. April 1985 in Warschau unterzeichneten Vertrages über die Verlängerung seiner Gültigkeit«. Für Russland unterzeichnete Vizepräsident Janajew, für Bulgarien Präsident Schelew,
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für Rumänen Präsident Iliescu, für Ungarn Ministerpräsident Antall, für Polen Präsident Wałęsa und für die Tschechoslowakei Präsident Havel. Nicht mehr unterzeichnen mussten Albanien, das den Pakt 1968 verlassen hatte, und die DDR, die Ende 1990 zu bestehen aufgehört hatte. Damit war der Warschauer Pakt Geschichte geworden – oder wie man halt so sagt, wenn sich Dunkel und Schweigen ausbreiten. Denn die Paktstaaten hatten sich bei der Auflösung vertraglich zugesichert, sämtliche Geheimabkommen unter Verschluss zu halten. Und welche Überraschungen und strategischen Planungen russische Archive noch bergen, kann man daher bestenfalls ahnen. – Atombomben auf Wien gefällig ?
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Von hinten nach vorn : Joh. Christoph Allmayer-Beck, Erich Lessing, Das Heer unter dem Doppeladler. Habsburgs Armeen 1718 – 1848 (München 1981), Heinrich Ritter von Srbik, Metternich. Der Staatsmann und der Mensch, Bd. 1 (München 1925), Dimitri Wolkogonow, Die sieben Führer. Aufstieg und Untergang des Sowjetreichs (Frankfurt 2001), Prinz Eugen von Savoyen. Ausstellung im Heeresgeschichtlichen Museum 1963 (Wien 1963), sowie Damals. Das Magazin für Geschichte und Kultur, 37. Jg. September 2005 : Der Untergang des Doppeladlers. Schlecht sichtbar : Der Wiener Kongress. Die Erfindung Europas, hg. Thomas Just, Wolfgang Maderthaner, Helene Maimann (Wien 2004).
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Ehrung reihte sich an Ehrung : Prinz Eugen von Savoyen (18. Oktober 1663 Paris – 21. April 1736 Wien)
Geht man über einen der bekanntesten Plätze Wiens, den Heldenplatz, dann stechen nicht nur die Blechlawine vor dem Konferenzzentrum, sondern vor allem zwei Denkmäler ins Auge. Wer wer ist – wurde schon vielen Jugendlichen zur quälenden Frage ihrer bildungsbeflissenen Eltern. Am leichtesten haben sie es sich wohl damit gemerkt, dass es hieß : Derjenige der Hitler auf dem Balkon des Corps de Logis den Rücken zugekehrt hat, ist der Prinz Eugen. Anton Dominik Fernkorn hat ihn in Bronze erstehen lassen, ebenso wie schon Jahre zuvor Erzherzog Carl, den anderen der beharrlichen Streiter für Österreichs Größe. Fernkorn war zuletzt psychisch schon so krank, dass er von einem Irrenwärter bei seiner Arbeit beaufsichtigt werden musste. Am 18. Oktober 1865, am 202. Geburtstag des Prinzen Eugen, wurde das Denkmal enthüllt, und es wird sich wohl kaum jemand sehr viel dabei gedacht haben, dass man auf dem Sockel lesen konnte »Dem ruhmreichen Sieger über Österreichs Feinde«. Heute würde so etwas wahrscheinlich so lange als politisch unkorrekt angeprangert werden, bis jemand eine Zusatztafel anbringt. Tatsächlich war Prinz Eugen auch weit mehr als Sieger. Er war auch Verlierer, im Übrigen aber Offizier und Feldherr, Hofkriegsratspräsident, Berater dreier Kaiser, leitender Staatsmann, Bauherr, Sammler und Mäzen. Letztlich war er derjenige, der Österreichs Weg zur Großmacht ebnete. Die biographischen Daten sind schnell aufgezählt : Eugen war der jüngste Sohn des Prinzen Eugen Moritz von Savoyen-Carignan, Graf von Soissons und dessen Frau Olympia Mancini, einer Nichte des französischen Kardinals Mazarin, und kam am 18. Oktober 1663 in Paris zur Welt. Von kleiner und wenig ansprechender Statur wurde er von der Familie zum geistlichen Stand bestimmt. Er erhielt, obwohl er nur die niederen Weihen hatte, zwei oberitalienische Abteien als Pfründe, die bis in seine mittleren Lebensjahre für ihn die Existenzgrundlage bildeten. Eugens Vater starb bereits 1673, und seine Mutter – zeitweilig die Geliebte des französischen Königs Ludwig XIV. – wurde 1680 des Landes verwiesen, da sie in Verbindung mit Zauberei und
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Giftmischerei gebracht wurde, was natürlich ein Unsinn war. Der kleine Prinz erhielt eine durchschnittliche Erziehung am französischen Hof. Später munkelte man auch, dass er eine homophile Neigung entwickelt hätte, doch es war wohl nicht viel dahinter. Der »kleine Abbé« wandte sich 1683, als die Türken Wien belagerten, an König Ludwig XIV. und bat ihn um Erlaubnis, zur kaiserlichen Armee zu stoßen. Als ihm das Ludwig XIV. verwehrte, schlich sich der Prinz bei Nacht und Nebel davon und kam tatsächlich bis Wien. Sein älterer Bruder diente bereits in der k. k. Armee, daher wurde auch Eugen aufgenommen. Als der Bruder fiel, übernahm Eugen dessen Regiment und nahm an der Entsatzschlacht vor Wien teil. Im Jahr darauf ging es in Verfolgung der osmanischen Truppen nach Ungarn. Er zeichnete sich aus, wurde verwundet und 1687 Feldmarschallleutnant. Von 1690 bis 1696 kämpft er in Savoyen, wo sich ein Vetter des Prinzen, Viktor Amadeus II., der »Großen Allianz« des Kaisers, Englands und Hollands angeschlossen hatte. Es ging gegen Frankreich. Schließlich wurde Eugen, der mittlerweile Feldmarschall geworden war, 1694 der Oberbefehl über das kaiserliche Truppenkontingent übertragen. Eugen wollte sich aber auch gesellschaftlich hervortun und erwarb in Wien seine ersten Liegenschaften. Allerdings häufte er Schulden auf Schulden, bis er 1697 den Befehl über die kaiserlichen Truppen in Ungarn erhielt. Eine Zeitlang ermüdete er das osmanische Heer durch langes Hin- und Hermarschieren und schlug dann genau in dem Augenblick zu, als sich Sultan und Großwesir anschickten, nach Temesvár abzurücken. Bei Zenta an der Theiß fielen die kaiserlichen Truppen über die Osmanen her und veranstalteten ein regelrechtes Gemetzel. Man machte auch riesige Beute. Nur der Schatz des Sultans blieb verschwunden. Es mochte denn auch reiner Zufall sein, dass Eugen in diesem und den Folgejahren sein Palais in der Wiener Himmelpfortgasse fertigbauen ließ und einen früheren Festungsbaumeister namens Lucas von Hildebrandt beauftragte, im Süden von Wien ein prächtiges Sommerschloss zu errichten. Eugen kaufte auch Grund südlich von Ofen in Ungarn und gab den Auftrag, Schloss Ráczkeve zu bauen. Mit einem Schlag war er seine Schulden losgeworden. Zur großmütigen Dankbarkeit Kaisers Leopolds I. hatte sich wohl auch einiges türkisches Gold gesellt. Im Jänner 1698 unterzeichneten Kaiserliche und Osmanen nach längeren Friedensverhandlungen in einer Kapelle bei Karlowitz (Sremski Karlovci) einen Friedensvertrag. Der Sultan trat Ungarn mit Ausnahme des Banats und Siebenbürgens an Österreich ab. Damit begann Österreichs Aufstieg zur Großmacht. Zwei Jahre später gab es den nächsten Krieg. Frankreich und Österreich kämpften nach dem Aussterben der spanischen Habsburger um das Erbe. 1701 wurde Eugen zum Oberbefehlshaber in Norditalien ernannt. Siege und Niederlagen wechselten. Um die Kriegführung besser koordinieren zu können, wurde Eugen 1703 Präsident des Hofkriegsrats. Er bekam daher mehr und mehr politischen Einfluss. Seit 1700 war der Prinz auch ständiges Mitglied der Geheimen Konferenz. Ehrung reihte sich an Ehrung.
Ehrung reihte sich an Ehrung : Prinz Eugen von Savoyen
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Zum Krieg im Westen und in Italien gesellte sich ein Aufstand in Ungarn. Bayern schlug sich auf die Seite der Franzosen. Die Briten wiederum engagierten sich verstärkt auf Seiten des Kaisers. Bis dann der Frieden von Rastatt den Spanischen Erbfolgekrieg 1714 beendete. Österreich bekam die bis dahin spanischen Niederlande, Mailand, Neapel und Sardinien. Als eine Art Belohnung wurde Eugen die Statthalterschaft der nunmehr österreichischen Niederlande übertragen. Klar, dass er alle Hände voll zu tun hatte. Und er war nicht zuletzt dank der Einkünfte in den Niederlanden einer der wohlhabendsten Männer Europas geworden. Jetzt konnte er sich endlich verstärkt seinen Bauten und seinen Sammlungen widmen. Ab 1709 wurde das Wiener Stadtpalais erweitert und das Schloss auf der Donauinsel Csepel, Ráczkeve, vollendet. Zum Unteren Belvedere gesellte sich das Obere. Eugen beteiligte sich mit seinem Privatvermögen an der kaiserlichen ostendischen Handelskompanie, die aber infolge des politischen Drucks der Seemächte wieder aufgelöst werden musste. Er veranstaltete riesige Feste und »verbrauchte« dabei u. a. die meisten türkischen Zelte. Der »Prince des poètes«, Jean Baptiste Rousseau, wurde für einige Jahre zum Lieblingsgesellschafter des Prinzen. Eugen und Johann Gottfried Leibniz trugen sich mit dem Gedanken der Gründung einer österreichischen Akademie der Wissenschaften. Der Prinz sammelte, erwarb eine riesige Bibliothek, bei der erst nachträglich auffiel, dass sie alles enthielt, nur keine militärische Literatur. Er ließ im Marchfeld bauen. Die Schlösser Hof, Niederweiden, Orth und Eckartsau entstanden oder wurden generalsaniert. Auf dem Areal der Belvedereschlösser ließ Eugen ein »Bestiarium«, also einen Tiergarten einrichten. Und wenn man die vergleichsweise bescheidene Hofhaltung der habsburgischen Kaiser und jene Prinz Eugens verglich, dann konnten einem Zweifel darüber kommen, wer nun der erste Mann im Reich war. Aber Eugen war auch klug : Er ließ keinen Zweifel daran, dass er nur Feldherr, Staatsmann und Untertan seines Kaisers sein wollte und entwickelte keinerlei Ambition, selbst Macht auszuüben. Noch einmal sollte es gegen die Osmanen gehen. Eugen brach 1716 zu einem kurzen und triumphalen Krieg an die Donau auf. 1716 schlug er ein türkisches Heer bei Peterwardein und noch spektakulärer 1717 vor Belgrad. Während der Belagerung der Stadt war ein türkisches Entsatzheer angerückt, und entgegen dem, was ihm auch geraten wurde, hielt Eugen die Belagerung aufrecht und bereitete dem Entsatzheer eine vernichtende Niederlage. Spätestens damals formulierte er sein Credo : Einen Kriegsrat hält man nur dann ab, wenn man dem Feind seine eigenen Absichten mitteilen will. In Europa aber begann man eines der Lagerlieder aus diesem Krieg zu singen : »Prinz Eugenius der edle Ritter …« Im Frieden von Passarowitz (Požarevac), im Juli 1718, erhielt Österreich das Banat, Belgrad, Nordserbien, die westliche Walachei und einen Grenzstreifen in Bosnien. Die Habsburgermonarchie hatte ihre größte territoriale Ausdehnung erreicht.
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Alles, was nachher kam, schien daher nur mehr ein später Abgesang auf jenen Prinzen zu sein, der von Sieg zu Sieg geeilt war und den Einfluss Österreichs in außerordentlichem Maß gesteigert hatte. Er wollte weiter mithelfen, das Reich nach Außen abzusichern, allerdings schien ihm die Pragmatische Sanktion Kaiser Karls VI. nicht ausreichend, um dann der Tochter des Kaisers, Maria Theresia, das Reich zu erhalten. Eugen suchte – eigentlich gegen seine Überzeugung – eine Annäherung an Preußen und bezahlte dem preußischen Kronprinzen Friedrich dessen Spielschulden. Er mochte auch die Russen nicht, und erst nach dem Tod Peters des Großen kam es zu einer Annäherung. Das aber auch nur deshalb, da Eugen für den polnischen Thronfolgekrieg einen Verbündeten gegen Frankreich suchte. Er übernahm auch noch selbst den Oberbefehl und führte österreichische und russische Truppen in den Westen Europas. Sie blieben ohne Sieg. 1736 starb der Prinz. Und er erhielt ein Begräbnis das Rätsel aufgab. Der Leichnam wurde im Winterpalais aufgebahrt, mehrfach eingesegnet und dann am 26. April 1736 in einem riesigen Kondukt zum Stephansdom getragen. Im Kondukt sollen allein 618 Patres vor dem Sarg gegangen sein. Der Prinz hatte denn auch jeglichen geistlichen Beistand nötig, denn letztlich war er weitgehend a-religiös. Sein Katholizismus war eine Äußerlichkeit, was umso mehr erstaunt, da er ja Abbé war und seine ertragreichen Abteien und Pfründen in San Michele della Chiusa und Santa Maria di Casanova in Savoyen-Piemont bis zuletzt behalten hatte. Manchmal wird seine Ehelosigkeit mit seiner geistlichen Würde in Verbindung gebracht. Das hat aber wohl andere Gründe gehabt, denn Eugen war bis zu einem gewissen Grad geldgierig und wollte seine Besitzungen in Savoyen-Piemont nicht aufgeben. Also blieb er Abbé. Umso bemerkenswerter auch, dass sich der Abbé Eugenio weigerte, ein Testament zu machen und auch vor seinem Tod nicht beichten wollte. Auch dem päpstlichen Nuntius in Wien, Domenico Passionei, war es nicht möglich, ihn zu einer Sinnesänderung zu bewegen. Eugen wollte eingestandenermaßen als »hônette homme« sterben und legte auf den Schoß der Kirche keinen Wert. Der Wiener Kardinal Kollonitsch weigerte sich prompt, Eugen einzusegnen und wollte auch bei den Exequien fehlen. Das musste natürlich auffallen und wurde auch von den Zeitgenossen kommentiert. Kollonitsch hielt auch nicht die Trauerrede, denn die wurde vom Domprediger und Jesuitenpater Franz Peikardt gehalten. Nicht verhindern konnte oder wollte der Kardinal, dass Eugen in der Liechtensteinkapelle im Stephansdom beerdigt wurde. Und nicht verhindern konnte und wollte er wohl, dass dann das Castrum doloris in der Wiener Hauptkirche errichtet wurde. 1974 ließ Kardinal Franz König die Gruft unterhalb der Kapelle öffnen. Es standen drei Särge nebeneinander : Ein unbeschädigter barocker Kupfersarg und zwei Holzsärge. In einem der beiden, der allerdings durch Feuchtigkeit stark mitgenommen war, fand sich der einbalsamierte Leichnam des Prinzen. Er wurde nicht untersucht, sondern samt den Relikten des Holzsargs in einen neuen Kupfersarg gestellt. Rätsel gab
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eine Urne auf, die ausdrücklich als Herzurne des Prinzen bezeichnet war. Sie sollte allerdings leer sein, denn das Herz Eugens war nach Turin überführt worden. Auch dort wird des Prinzen Eugen gedacht, vor allem ist seine Gemäldesammlung nach Turin verkauft worden. Eugens Nichte Viktoria, die zur Haupterbin bestimmt worden war, verkaufte alles. Schlösser, die Bibliothek, Sammlungen und Tiere gingen an den Kaiser. Die Nichte behielt sich nur das Bargeld und machte sich schließlich mit dem Verkaufserlös auf und davon. Von einer geregelten Übergabe konnte keine Rede sein. Bis heute rätselt man daher über vieles, das vorhanden und anderes, das nicht mehr vorhanden ist. Nur dass es den Eugenio di Savoy gegeben hat, daran besteht kein Zweifel. Die Albertiner Geschlecht : männlich Religionsbekenntnis : römisch-katholisch Beruf : Feldmarschall Wohnort : Europa Vier Feldmarschälle, vier der begütertsten Männer des alten Österreich und vier Menschen, wie sie unterschiedlicher nicht sein konnten, bildeten die Albertinische Linie des Hauses Habsburg-Lothringen. Herkunft, verwandtschaftliche Beziehungen, eigene Leistungen und der Zufall bestimmten ihren Weg. Am Beginn stand ein Prinz aus dem Haus der sächsischen Wettiner, einer von Dutzenden, die in einer sächsischpolnisch-österreichischen Gemengelage ihren Anfang nahmen : Herzog Albert Kasimir : Das Finanzgenie (11. Juli 1738 Moritzburg bei Dresden – 10. Februar 1822 Wien)
Albert war das elfte Kind des Kurfürsten von Sachsen und Königs von Polen Friedrich August II. und Maria Josephas, einer geborenen Erzherzogin von Österreich. Wie es schien, ein Kind ohne nennenswerte Zukunft. Die ersten Jahre verbrachte Albert in Dresden. Aus seiner Bestimmung, Geistlicher zu werden, wurde nichts. Es herrschte Krieg. Sachsen stand auf österreichischer Seite. Doch auch die Besetzung Dresdens durch preußische Truppen verhinderte nicht, dass der Wettiner Prinz eine ordentliche Erziehung erhielt. Außer Deutsch, Polnisch, Italienisch und Französisch lernte er andere nützliche Dinge wie rechnen, schreiben, fechten und tanzen.
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Die Kriege gingen weiter. Sachsen blieb an der Seite Österreichs. Albert meldete sich zum Dienst im kaiserlichen Heer Maria Theresias. Er wurde genommen, beherrschte zwar nur den Formaldienst, doch das reichte. Bei Maxen nahe Dresden wurde er 1759 Zeuge der Waffenstreckung eines ganzen preußischen Korps. Das Glück war auf seiner Seite. Den nächsten Winter verbrachte er am Wiener Hof, erfreute sich der Zuneigung Maria Theresias und warf ein Auge auf eine der jüngeren Erzherzoginnen, Marie Christine. Sie dürfte bei dem Entschluss Alberts, sich endgültig um eine Anstellung im kaiserlichen Heer zu bemühen, eine gewisse Rolle gespielt haben. Tatsächlich bekam er ein Truppenkommando und konnte im November 1761 bei Döbeln in Sachsen mit seinem Armeekorps sogar einen kleinen Sieg erringen. Der Erfolg hielt nicht lange an. Albert verließ die Armee und kehrte nach Wien zurück, wo er den Rang eines Generalleutnants erhielt. Als sein Vater starb, kam Albert weder für die Nachfolge in Polen noch in Sachsen in Frage, ja er konnte nicht einmal ein nennenswertes Erbe erwarten. Doch der Bedarf an hohen Offizieren bestand in Österreich auch nach dem Siebenjährigen Krieg weiter, und die Rücksichtnahme auf einen Wettiner Prinzen tat ein Übriges : Albert wurde zum General der Kavallerie befördert und dementsprechend finanziell ausgestattet. Zu seinem Aufstieg trug aber wohl auch bei, dass seine Bekanntschaft mit der Erzherzogin Marie Christine 1766 in eine Liebesheirat mündete. Bis hierher könnte man den Weg des jungen Wettiners als geradlinig bis kitschig bezeichnen. Und das blieb er noch eine Zeitlang, denn die Fürsorge Maria Theresias endete nicht mit der Hochzeit ihrer Lieblingstochter. Als nächstes sorgte die mittlerweile Kaiserin-Witwe und Königin von Ungarn dafür, dass Albert eine adäquate Stellung erhielt. Er wurde Locum tenens, also Stellvertreter der Königin in Ungarn. Das junge Paar übersiedelte daher im Frühjahr 1767 in die damalige Hauptstadt Ungarns, nach Preßburg. Marie Christine wurde von ihrer Mutter mit Geschenken überschüttet, bekam die Herrschaften Ungarisch-Altenburg und Mannersdorf und noch einiges andere. Albert aber bekam das Herzogtum Teschen sowie eine halbe Million Gulden und zeigte bald ein ähnliches Talent wie sein verstorbener Schwiegervater : Er konnte Besitz mehren und besaß in finanziellen Dingen ein enormes Geschick. Er kaufte sich vor allem in Ungarn ein, wo er Bellye zwischen Donau und Drau sowie Ráczkeve südlich von OfenPest erwarb. Dazu kamen dann Besitzungen in Galizien und Schlesien, vor allem aber ein Palais auf der Augustinerbastei in Wien. Damit nicht genug, sicherte Maria Theresia Albert und Marie Christine vertraglich nach dem Tod ihres Schwagers Carl von Lothringen die Statthalterschaft in den österreichischen Niederlanden zu. Wie in jedem Kitschroman braucht es aber auch einen Bösewicht, und als solcher entpuppte sich Kaiser Joseph II. Der hatte an sich nichts gegen Albert einzuwenden, begann ihm aber sein Glück und den Reichtum zu neiden und entwickelte eine regelrechte Feindschaft gegen seine Schwester.
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Und auch Glück hält nicht ewig an. 1767 wüteten die Pocken in Österreich. Eine Impfung gab es zwar, doch noch waren viel zu wenige Menschen immunisiert. Maria Theresia und Albert erkrankten, zwei Töchter der Kaiserin starben ebenso wie die zweite Frau Kaiser Josephs II. Marie Christine und Albert verloren ihr einziges Kind. Sie sollten nie mehr Kinder haben. Albert, der auch schon vorher Kunstschätze und vor allem Graphiken gesammelt hatte, entwickelte nun eine regelrechte Leidenschaft und begann in großem Stil zu sammeln. Natürlich war das als Ausgleich zu familiärem Glück zu sehen. Auch Reisen wie eine ausgedehnte Italienreise 1775 und 1776 dienten der Sammelleidenschaft. In Florenz kam aber noch ein weiterer Aspekt dazu. Die Kinderlosigkeit zog die Frage nach sich, wer den großen Besitz der beiden einmal erben sollte. Marie Christines Bruder Leopold, der als Großherzog in der Toskana residierte, hatte zehn Söhne und vier Töchter. Kaiser Joseph II. wollte den Ältesten, Erzherzog Franz, zu seinem Nachfolger machen. Marie Christine und Albert entschieden sich für den Viertgeborenen, Carl Ludwig, um ihm dereinst ihren großen Besitz zu vererben. Carl war damals zwar erst fünf Jahre alt, doch es galt vorzusorgen. Im Juli 1780 starb Carl von Lothringen, der Statthalter der österreichischen Niederlande. Noch im August ernannte Maria Theresia Tochter und Schwiegersohn zu Nachfolgern in Brüssel. Drei Monate später starb auch Maria Theresia. Joseph II. machte die Ernennung nicht rückgängig. Wohl aber ließ er seiner mittlerweile fast pathologischen Aversion gegen seine Schwester freien Lauf. Er verdächtigte sie einer lesbischen Beziehung zu seiner ersten Frau, Isabella von Parma, hielt die Schwester für falsch und intrigant. Und zudem machte er sich auch über Albert lustig und hielt ihn für dümmlich. Doch was sollte das ? Die Einkünfte aus der Statthalterei und den Besitzungen Alberts und Marie Christines reichten aus, um in Brüssel auf großem Fuß zu leben. Die beiden konnten aus ihrem Privatvermögen von einem der berühmtesten Baumeister der Niederlande, Louis Montoyer, Schloss Laeken erbauen lassen. Und die Ankäufe von Kunstwerken und vor allem von Stichen und Radierungen gingen in großem Stil weiter. Wäre da nicht wieder Kaiser Joseph II. gewesen. In seinem Bemühen, die Habsburgermonarchie zu zentralisieren, waren ihm Ungarn und die Niederlande ein Dorn im Auge. Ein Konflikt war unvermeidlich. Es gab Unruhen, und der Kaiser befahl die Rückkehr Alberts und Marie Christines nach Wien. Und es blieb turbulent. Kaiser Joseph II. starb und sein Bruder Leopold trat als Kaiser seine Nachfolge an. In dem Bemühen, wieder Ruhe in die von Unruhen gebeutelten Teile seines Reichs zu bringen, beorderte er Albert und Marie Christine nach Brüssel zurück. Der Empfang war frostig. Und wahrscheinlich war Albert der falsche Mann zur falschen Zeit am falschen Ort. Die Rücknahme der von Joseph II. forcierten Maßnahmen durch Leopold II. bewirkte nichts. Auch Leopold starb, und noch ehe dessen ältester Sohn,
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Franz, zum Kaiser gekrönt wurde, erklärte Frankreich seinem Verbündeten, Österreich, den Krieg. Albert musste wieder eine militärische Funktion übernehmen. Er bekam den Rang eines Reichsgeneralfeldmarschalls, und seine Truppen konnten tatsächlich die französischen Revolutionshaufen bei Maubeuge schlagen. Doch Albert war kein Feldherr und sorgte sich mehr um seine Sammlungen und die Zukunft. Und genau zu diesem Zeitpunkt wurde die Adoption Erzherzog Carls spruchreif. Im November 1793 verließ das Statthalterpaar abermals Brüssel. Albert kümmerte sich in der Folge vornehmlich um den Umbau seines Wiener Palais durch Louis Montoyer und das Einbringen seiner Sammlungen, führte einen regen Briefverkehr mit seinem Adoptivsohn Carl und verfolgte dessen militärischen Aufstieg ebenso wie das Marie Christine tat. Doch 1798 starb auch sie und wollte in der Kapuzinergruft zu Füßen ihrer Eltern begraben werden. Albert entschied anders und ließ ihr durch Antonio Canova in der Augustinerkirche ein pompöses Grabmal errichten. Dem testamentarischen Wunsch Marie Christines entsprechend kümmerte sich Albert um die Trinkwasserversorgung Wiens und ließ eine erste Wasserleitung in die Stadt verlegen. Das sicherte ihm den Dank der Nachwelt in Form von topografischen Bezeichnungen wie Albertgasse und Albertplatz. Und er kaufte und kaufte. Einmal noch machte der Herzog von Teschen eine Reise nach Ungarn, um sich an die vielleicht schönsten Jahre seines Lebens zu erinnern. 1822 starb er. Und ausgerechnet er, der kein Habsburger war, wurde auf eigenen Wunsch in der Kapuzinergruft beigesetzt. Nachdem Erzherzog Carl das albertinische Erbe angetreten hatte, verfügte er über ein Vermögen von 1.829.000 Gulden in bar, große Ländereien und Betriebe sowie die Sammlungen in dem bald Albertina genannten Palais. Schlagartig war Carl einer der begütertsten Männer Europas. Erzherzog Carl von Österreich-Teschen : Der Feldherr mit dem e mpfindlichen Herzen (5. September 1771 Florenz/Firenze – 30. April 1847 Wien)
Vergessen wir einmal das Heldische, wie es im Denkmal auf dem Wiener Heldenplatz zum Ausdruck kommt. Der zart gebaute, mittelgroße Mann begann seine Autobiografie mit dem schlichten Satz : »Ich wurde mit einem empfindlichen Herzen geboren.« Mag sein, dass das so war. Eines ist sicher : Er war kein Machtmensch. Carl wuchs in Florenz auf und hatte im Gegensatz zu seinem Bruder Franz, der zum künftigen Kaiser erzogen werden sollte, eine unbeschwerte, vielleicht auch glückliche Kindheit, soweit es seine labile Gesundheit und Anfälle von Epilepsie zuließen. Die Inzucht rächte sich eben. Kein Wunder, dass er Geistlicher werden sollte. Doch Vater Leopold beharrte
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nicht darauf. Wohl aber stand von klein auf fest, dass er von seiner Tante Marie Christine und ihrem Mann, Herzog Albert, adoptiert werden sollte. 1791 war es so weit. Schon vorher hatte Carl begonnen sich für das Militär zu interessieren. Damit ließen sich eigene Mängel kompensieren. Sein Vater kündigte das Kommen seines Sohnes der Schwester in Brüssel mit der Bemerkung an, Carls Neigung für das Militär sei »übertrieben«. Zwei Jahre hatte Carl Zeit, um mehr zu lernen als die militärischen Grundbegriffe. Dann ernannte ihn sein Bruder, Kaiser Franz II. (ab 1804 Franz I.), zum Brigadier. Kurz darauf begann das »eherne Zeitalter« des Erzherzogs. Französische Revolutionstruppen stießen in die österreichischen Niederlande vor. In den Schlachten von Aldenhoven und Neerwinden im März 1793 erhielt Carl nicht nur seine Feuertaufe, sondern konnte sich auch ein Bild von der Qualität der kaiserlichen Truppen machen. Sie war verheerend. Kurze Zeit war Carl noch Statthalter in Brüssel. Dann ging die achtzigjährige österreichische Herrschaft zu Ende. Erst 1796 kehrte Carl als Reichsgeneralfeldmarschall auf die Schlachtfelder des Ersten Koalitionskriegs zurück, und das Glück war mit ihm. Seine Truppen feierten in Deutschland einige Siege, was umso mehr auffiel, als ein gewisser Napoleon Bonaparte den Österreichern in Italien gleichzeitig schwere Niederlagen zufügte. Ob es daher klug war, Carl nach Italien zu schicken, ist zumindest aus nachträglicher Sicht zu bezweifeln. Letztlich blieb ihm nichts anderes, als den Rückzug ins Innere Österreichs einzuleiten. Bei dem Versuch, seine Soldaten zum Stehen zu bringen, zerbrach er seinen Degen auf dem Rücken eines fliehenden Grenadiers. Er hatte also auch Temperament ! Nach dem Krieg machte Carl aus der Not eine Tugend und begann Ideen für eine Heeresreform und einen nächsten Krieg zu entwickeln. 1798 war es so weit. Englische Subsidien und russische Truppenhilfe machten einen neuen Waffengang gegen Frankreich möglich. Carl hatte nichts dagegen, doch als er zur Kenntnis nehmen musste, dass ihm selbst eine eher bescheidene Streitmacht gegeben werden sollte, bat er um seinen Abschied. Doch er sollte ausharren. Da ihm aber immer wieder bedeutet wurde, dass er sich an die in Wien geplanten militärischen Maßnahmen zu halten hatte, reichte er ein zweites Mal seinen Rücktritt ein. Wieder blieb er. Und erst als sich das Scheitern des gesamten Feldzugs abzeichnete und Carl ein drittes Mal resignierte, enthob ihn Kaiser Franz und empfahl ihm, »sich aller Nachdenken erfordernden Tätigkeiten zu enthalten.« Aber schon wenige Monate später berief ihn der Kaiser abermals, und zwar an die Spitze der Armee. Carl wurde Präsident des Hofkriegsrats. Der mittlerweile Dreißigjährige stürzte sich in die Arbeit. Ein Teil der Soldaten wurde entlassen, der Hofkriegsrat einer Neuorganisation unterzogen, und sehr viel Mühe aufgewendet, um die hohen Offiziere nachzuschulen. Carl tat es ihnen vor und begann mit der Abfassung von Schriften, die der Weiterbildung dienten. Da sich der Erzherzog aber wieder strikt auf
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das Militärische zu beschränken hatte, gab es enorme Reibungsverluste. Prompt endete die Reformtätigkeit Carls mit einer von ihm nicht zu beeinflussenden politischen Entscheidung, als Kaiser Franz abermals ein Bündnis mit Russland abschloss und Carl seine Stellung verlor. Es kam, wie es kommen musste : Österreichs Heer und die mit ihm verbündeten Russen erlitten schwere Niederlagen, zuletzt am 2. Dezember 1805 bei Austerlitz, ehe der nächste Friedensschluss mit Napoleon den Krieg beendete. Dann aber wurde der Erzherzog ins Zentrum des politischen Geschehens gerissen. Napoleon bat um ein Treffen in Stammersdorf bei Wien und trug Carl die Übernahme der Herrschaft über die habsburgischen Länder an. Carl lehnte kategorisch ab. Was anschließend kam, lief nach einem bekannten Muster ab : Der Kaiser wollte wieder alles gutmachen, ernannte Carl zum Generalissimus, einen Titel, den seit Wallenstein niemand mehr in Österreich geführt hatte, und gab ihm abermals freie Hand für eine Heeresreform. Carl ging sie sofort an. Österreich wurde von einem bis dahin nicht gekannten Patriotismus erfasst und schlitterte 1809 in den nächsten Krieg. Schon anfangs ging alles schief. Der Rückzug war unvermeidlich und endete erst östlich von Wien im Marchfeld. Dann, am 21. und 22. Mai, nützte Carl einen Fehler der ungestüm über die Donau nachdrängenden Franzosen und siegte in der Schlacht von Aspern. Anfang Juli wendete sich das Blatt, und Napoleon behauptete sich in der Schlacht von Deutsch-Wagram. Carl musste mit den Resten seiner Armee den Rückzug nach Mähren antreten. Kaiser Franz war zu einem verlustreichen Frieden gezwungen. Und bei dem, was dann kam, sollte sein Bruder Carl keine Rolle mehr spielen. Der Erzherzog zog sich ins schlesische Teschen zu seinem Adoptivvater zurück – und grollte. Fast hatte es den Anschein, dass ihm Napoleon mehr Achtung zollte als die österreichischen Entscheidungsträger. Carl führte auf Wunsch Napoleons Erzherzogin Marie Louise als dessen zweite Ehefrau per procuratorem zum Altar. Dann verschwand er wieder in Teschen. Er nahm weder am Russlandfeldzug noch an der Völkerschlacht von Leipzig teil und erhielt lediglich 1815 als eine Art versöhnliche Geste den Posten eines Gouverneurs der Bundesfestung Mainz. Den Posten durfte er auch im letzten Feldzug gegen Napoleon nicht verlassen. Es war die Zäsur im Leben Carls, und sie wurde noch dadurch verstärkt, dass er die Prinzessin Henriette von Nassau-Weilburg heiratete. Carl war 26 Jahre älter als seine Frau. Begründungen für seine lange Ehelosigkeit gab es mehrere. Nicht zuletzt waren es die Forderungen Carls, die darauf abzielten, eine leidlich hübsche, häusliche und ihm gehorsame Frau zu bekommen. Henriette, die zum Zeitpunkt der Verlobung erst 17 Jahre alt war, versprach genau das zu sein. Dass die Ehe trotz des schwierigen und schon recht tyrannisch gewordenen Erzherzogs einigermaßen glücklich wurde, grenzte fast an ein Wunder. Henriette gebar in fast Jahresabständen fünf Knaben und zwei Mädchen. Für erstere hatte Carl ein klares Ziel vor Augen : Sie sollten eine militärische
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Laufbahn einschlagen. Die Prinzenerziehung wurde zu Carls vorrangigem Lebensinhalt. Eher nebenbei widmete er sich ab 1822 den enormen Besitzungen, die ihm sein Adoptivvater Albert in Schlesien, Galizien, Österreich und Ungarn hinterlassen hatte. Und so wie sich Carls Bruder Johann auf das Bergwesen und den Weinbau verlegte, nahm sich Carl den Ackerbau vor. Der Güterdirektor des Erzherzogs, Franz von Kleyle, steigerte die Erträge und mehrte damit die Einnahmen in einer Weise, die Carl zum reichsten Mann der Habsburgermonarchie werden ließen. Mit den enormen Einnahmen ließ sich nicht nur der Umbau des Palais auf der Augustinerbastei finanzieren, sondern auch der Bau eines prächtigen Schlosses am Eingang zum Helenental bei Baden, das Carl seiner Frau schenkte und ihr zuliebe Weilburg nannte. Der Erzherzog wollte aber auch etwas für die riesigen Sammlungen tun, die er geerbt hatte. Es war ihm ein Leichtes, die Beträge für Ankäufe aufzubringen. Die ohnedies bereits größte Graphiksammlung Europas wuchs sich zu der wahrscheinlich weltgrößten aus. Er kaufte das Gesamtwerk des Lucas van Leyden, erwarb Tausende Blätter italienischer Meister, verlegte sich aber schließlich auf die Arbeiten von Zeitgenossen. Noch als Relikt der Aufklärung konnte man es sehen, dass Carl die Sammlungen öffentlich zugänglich machte. Er selbst gefiel sich freilich darin, Mäzen zu sein, ohne dass ihm das Sammeln zur Leidenschaft geworden wäre. Der Tod der Erzherzogin Henriette 1829 traf ihn schwer, und der ohnedies ernste und grüblerische Mann zog sich mehr und mehr zurück. Er schrieb in einem fort, um den militärischen Horizont der Söhne zu erweitern. Die meisten Arbeiten blieben unpubliziert. Erst dreißig Jahre später wurden die Schriften von Söhnen und Enkeln veröffentlicht und unter anderem von Friedrich Engels als beispielhaft hervorgehoben. Karl Marx und Engels zählten denn auch zu den späten »Fans« Erzherzog Carls. Unter die Schriften militärischer Natur mischten sich im letzten Lebensjahrzehnt zunehmend religiöse Betrachtungen und Aphorismen, die dazu dienten, das eigene Leben zu reflektieren. 1847 starb Carl, von dem es dreizehn Jahre später auf dem ihm gewidmeten Denkmal auf der freien Fläche im Zentrum Wiens, die einmal Heldenplatz genannt werden sollte, hieß : »Dem beharrlichen Kämpfer für Deutschlands Ehre«. Schön, und schon damals falsch. Erzherzog Albrecht von Österreich-Teschen : Halbblind zu Pferd (3. August 1817 Wien – 18. Februar 1895 Arco)
Das Reiterdenkmal auf der Augustinerbastei in Wien gehört sicherlich zu jenen Monumenten, von denen Robert Musil gemeint hat, dass nichts unauffälliger sei als
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Denkmäler. Im Fall des »stummen Reiters« Erzherzog Albrecht verbinden sich noch dazu zwei Momente der Unauffälligkeit : Die Reiterstatue steht nicht im Verkehrsfluss. Und wohl die Wenigsten können mit dem Uniformierten, der da auf die Staatsoper schaut, etwas anfangen. Seinerzeit, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, wurde der »stumme Reiter« durchaus gekannt, doch es wäre gelogen, wollte man behaupten, dass er sich allgemeiner Beliebtheit erfreute. Der 1817 geborene älteste Sohn Erzherzog Carls, des »Siegers von Aspern«, definierte sich Zeit seines Lebens über den Vater. Er wuchs im innerstädtischen Palais des Erzherzogs an der Wiener Seilerstätte auf. Dann übersiedelte die Familie in die Weilburg, und Jahre später in das Palais des 1822 verstorbenen Herzogs Albert von Sachsen-Teschen. Die Liebe seiner Mutter Henriette musste er sich mit drei Brüdern (ein vierter war noch 1822 als Säugling gestorben) und zwei Schwestern teilen. Vaterliebe wurde ihm nur insofern zuteil, als er Hoffnungsträger war. Erzherzog Carl wollte in Albrecht etwas verwirklicht sehen, das ihm selbst letztlich verwehrt geblieben ist. Sein ältester Sohn sollte der unbestrittene Führer und Repräsentant der militärischen Macht der Habsburgermonarchie werden. Mit 13 Jahren wurde er Oberstinhaber des Infanterieregiments Nr. 44. Fünf Jahre später begann für ihn mit dem Rang eines Generalmajors der Truppendienst. Und von da an galt, was ihm bis an sein Lebensende ein Leitsatz bleiben sollte : »Der Dienst geht vor.« Das galt, als seine Mutter 1829 starb. Das galt auch, als Albrechts Brautschau nach einigen Fehlschlägen erfolgreich war und er die bayerische Prinzessin Hildegard Luise heiratete und sehr bald in der Weilburg allein ließ. Albrecht aber war auf dem besten Weg, in die höchsten militärischen Funktionen aufzusteigen. Ein Handicap machte ihm allerdings zu schaffen : Er war kurzsichtig. Brillen konnten das ausgleichen, aber die Kurzsichtigkeit verschlechterte sich. Doch der Dienst sollte weitergehen. 1845 bekam Albrecht sein erstes hohes Kommando. Er wurde Stadtkommandant von Wien und sollte in dieser Funktion zum ersten Mal scheitern. Als sich am 13. März 1848 vor dem Niederösterreichischen Landhaus in der Wiener Herrengasse Unzufriedene sammelten und ihrer Wut Luft machten, befahl Albrecht Truppen in die Innenstadt und glaubte durch sein persönliches Erscheinen hoch zu Ross die revolutionär gesinnten Menschen beeindrucken zu können. Das Gegenteil war der Fall. Albrecht wurde von einem Stein an der Brille getroffen und verließ die Innenstadt. Ob er noch Befehl gegeben hat, auf die Demonstranten zu schießen, ist umstritten. Jedenfalls wurde er für die Toten in der Herrengasse verantwortlich gemacht. Der Erzherzog resignierte, legte sein Kommando nieder und reiste ohne Funktion ins Hauptquartier Feldmarschall Radetzkys nach Verona ab. Im italienischen Hauptquartier traf Albrecht mit dem 18-jährigen Erzherzog Franz Joseph zusammen, der ein halbes Jahr später die Herrschaft über die Habsburgermonarchie übernahm. Damit glättete sich auch Albrechts Karriere. 1850 bekam er eine der
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wichtigsten und heikelsten Aufgaben übertragen und wurde von Kaiser Franz Joseph zum Militär- und Zivilgouverneur in Ungarn ernannt. Albrecht sollte trachten, Ungarn, über das nach den Kriegsjahren 1848 und 1849 der Belagerungszustand verhängt worden war, mit der habsburgischen Herrschaft auszusöhnen. Dafür standen ihm nicht nur ein Heer von Beamten, sondern auch die III. Armee zur Verfügung. Und Albrecht scheiterte ein zweites Mal. Das Fiasko war absehbar gewesen und wurde nur dadurch weniger deutlich, als der Erzherzog während des Krimkriegs mit seiner Armee in die Moldaufürstentümer abzurücken hatte. Bis 1855 blieb Albrecht der Burg in Ofen fern. Nach seiner Rückkehr wurde er ohne viel Aufhebens und unter bewusster Schonung seines Prestiges seiner Funktion als Militär- und Zivilgouverneur enthoben. Nun war er der ranghöchste Erzherzog – und beschäftigungslos. Natürlich hätte Albrecht eine Vielzahl von Aufgaben übernehmen und sich vor allem mit seinen riesigen Besitzungen beschäftigen können, doch das lag ihm nicht. Häuslichkeit kam für ihn nicht in Frage. Sehr zum Leidwesen der Erzherzogin Hildegard, die ihm gelegentlich nachreiste, ihn aber auch monatelang nicht zu Gesicht bekam. Hildegard litt wohl auch ganz anders als der Erzherzog, als ihr Sohn als Säugling 1848 an den Pocken starb. Sie vereinsamte in der Weilburg und musste sich immer wieder von ihrem Mann sagen lassen : »Der Dienst geht vor !« Entgegen seinen Erwartungen bekam Albrecht 1859 kein Frontkommando. Er hatte lediglich für das Ersatzwesen zu sorgen. Das ersparte ihm das Odium der Niederlage. Der Zweifrontenkrieg 1866 bescherte ihm eine neuerliche Chance. Allerdings entschied Franz Joseph in einer Konferenz, an der Albrecht nicht teilnehmen durfte, dass nicht er, sondern der Generalstabschef der Armee, Feldzeugmeister Benedek, die Nordarmee, Albrecht aber die wesentlich kleinere Südarmee befehligen sollten. Beide waren enttäuscht, und es konnte durchaus als Kuriosum gewertet werden, dass es Albrecht übernahm, Benedek zur Übernahme des Kommandos über die Nordarmee zu überreden. Von Benedek wurde erwartet, dass er in kurzer Zeit die Preußen vernichtend schlagen würde ; von Albrecht aber, dass er gegen die zahlenmäßig weit überlegenen Gegner im Süden so lange hinhaltend kämpfen würde, bis ihm dann Benedek zu Hilfe kommen konnte. Ein schöner, ein habsburgischer Traum. Die Realität sah anders aus. Benedek erlitt bei Königgrätz (Hradec Králové) eine schwere Niederlage, während Erzherzog Albrecht bei Custoza einen verlustreichen Sieg errang, der die Italiener von eigenen Offensiven abhielt, an den politischen Folgen des Kriegs aber nichts änderte. Custoza wurde schnell mit Aspern verglichen. Dem Sieger von Aspern war der Sohn, der Sieger von Custoza, an die Seite getreten. Es wäre aber gelogen zu behaupten, dass er sich in der Folge allgemeiner Achtung und Zuneigung erfreut hätte. Er ließ sich nur nicht beiseiteschieben. Albrecht machte aus seiner Meinung, was der Monarchie zum Heil gereichen sollte, kein Hehl. Der Monarch sollte allumfassende Macht besitzen.
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Der Zeitgeist gehörte ausgerottet. Der Ausgleich mit Ungarn sei ein kapitaler Fehler gewesen, und die Vorliebe von Kaiserin Elisabeth für Ungarn Spinnerei. Elisabeth ihrerseits erwiderte die Antipathie mit aller Heftigkeit und fand den alternden Mann grässlich. Schließlich widmete sie ihm eines ihrer heimlich geschriebenen Gedichte : »Mit des Felmarschallesstab / Naht der Zukunftssieger / Wenn nicht gar des / Reiches Grab / Gräbt der / Alte Krieger«. Zweierlei konnte Albrecht nicht ignorieren : Sein Alter und vor allem sein Augenleiden, das sich so sehr verschlechterte, dass er fast nichts mehr sah. Schicksalsschläge nahm der Erzherzog hin, ob das der Tod seiner Frau 1864 oder jener der Tochter Mathilde war, die bei dem Versuch, vor dem Vater eine brennende Zigarette zu verstecken, in Flammen aufging und nach zwei Wochen an ihren Verbrennungen starb. Albrecht musste vom Tod seiner jüngeren Brüder Karl Ferdinand und Wilhelm erfahren. Letzterer war ihm besonders nahegestanden. Zuletzt bewohnte Albrecht in Arco am Gardasee eine Villa und wartete auf den Tod. Er starb recht einsam. Erzherzog Friedrich von Österreich-Teschen : Der Letzte seiner Art (4. Juni 1856 Groß Seelowitz/Židlochovice – 30. Dezember 1936 Ungarisch Altenburg/Magyaróvár)
Erzherzog Friedrich ist wohl derjenige aus der Albertinischen Linie, der am wenigsten bekannt ist. Keine Kolossalstatue erinnert mehr an ihn. Dafür kam er dank Karl Kraus in »Die letzten Tagen der Menschheit« zu literarischen Ehren : »Erzherzog Bumbsti«. Friedrich war der Sohn eines der Brüder Erzherzog Albrechts, Karl Ferdinand und dessen Cousine, der Erzherzogin Elisabeth. Der in Seelowitz und Wien aufgewachsene Erzherzog erhielt die übliche Erziehung in den Elementarfächern und ab dem neunten Lebensjahr eine militärische Schulung. Als ungewöhnlich war vielleicht zu werten, dass er als Halbwüchsiger und auf eigenen Wunsch das Tischlerhandwerk erlernte. Die Wende in seinem Leben kam in dem Augenblick, als sein Onkel Albrecht die Absicht bekundete, Friedrich zu adoptieren. Sehr viel Auswahl unter männlichen Erzherzögen der nachfolgenden Generation hatte der Onkel freilich nicht. Um sicherzugehen, dass ihn zumindest einer überlebte, wollte Albrecht alle drei Söhne seines Bruders adoptieren, Friedrich, Karl Stephan und Eugen. Allerdings sollte nur einer Haupterbe werden, und zwar der Älteste, Friedrich. Der wurde denn auch nach und nach auf die Übernahme des enormen Besitzes seines Onkels vorbereitet. Also bekam er zusätzlich Unterricht im Berg- und Hüttenwesen, in Gärungstechnik, Land-, Forst- und vor allem Milchwirtschaft. Damit nicht genug, wurde Friedrich auch von einem der besten Kunsthistoriker unterrichtet. Für Numismatik entwickelte er ein besonderes Interesse.
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Die Bestimmung Friedrichs war aber letztlich eine andere. Er sollte ganz wie Erzherzog Albrecht und Großvater Carl eine militärische Laufbahn einschlagen. Mit 15 Jahren bekam er den Rang eines Leutnants im Tiroler Jäger-Regiment. Und ab dem Zeitpunkt seiner Adoption, 1874, schaute vor allem der Onkel-Feldmarschall darauf, dass Friedrich eine entsprechende Karriere machte. 1878 heiratete der Erzherzog Prinzessin Isabella von Croÿ-Dülmen, eine deutsche Hochadelige, und quittierte ihr zuliebe zeitweilig den Dienst. Die beiden zogen für vier Jahre nach Belgien. Zwischen 1879 und 1893 wurden dem Paar acht Töchter geboren. Der ersehnte Stammhalter kam erst 1897 zur Welt. Er erhielt den Namen Albrecht Franz Karl Josef. Erst 1882 setzte Friedrich seine militärische Laufbahn fort und wurde schließlich 1889 General der Kavallerie und Kommandierender General des V. Korps in Preßburg. Friedrich trat 1895 tatsächlich das Erbe seines Adoptivvaters an, ging aber weiter seinen militärischen Verpflichtungen nach und zeigte im Gegensatz zu Erzherzog Albrecht keine Neigung, in die Politik einzugreifen. Wohl aber kümmerte er sich konsequent um seinen Besitz. Seine Herrschaften wurden in vielen Bereichen als Mustergüter bekannt und stachen vor allem dadurch hervor, dass auf ihnen immer wieder technische Neuerungen eingeführt wurden. Seine Molkereien lieferten einen Teil der in Wien benötigten Milch und Milchprodukte, und die Sigle TEE-Butter, für die von den Molkereien Friedrichs gelieferte Butter, wurde ein bleibendes Qualitätsmerkmal. Um die Unteilbarkeit seines Besitzes auch für die Zukunft sicherzustellen, überführte Friedrich seine Habe in einen Fideikommiss. Eine Bestimmung der Konstruktion war, dass ein Prozent der Erträge für Ankäufe der Albertina verwendet werden sollte. Auch wenn die Graphik- und Gemäldesammlung nicht auf Friedrichs Hauptinteresse stieß, war damit sichergestellt, dass sie wuchs und wuchs. Friedrich »ließ« sammeln. Erzherzogin Isabella wiederum war als Mäzenin bekannt und förderte, was Friedrich weniger wichtig war, auch Musiker wie den jungen Franz Schmidt, der ihr dann seine 1. Sinfonie widmete. Wieder aber waren es Zufall, Schicksal oder Vorsehung, die mächtig eingriffen und sich zu einer folgenschweren Groteske auswuchsen. 1889 vergaß der zum Thronfolger gewordene Erzherzog Franz Ferdinand auf dem Tennisplatz in Preßburg seine Taschenuhr, in der sich das Porträt der Gräfin Sophie Chotek fand, die als Hofdame der Erzherzogin Dienst versah. Isabella, die gemeint hatte, die Besuche des Thronfolgers würden einer ihrer Töchter gelten, entließ die Gräfin und machte aus einer enttäuschten Hoffnung einen Skandal. Friedrich war der Leidtragende. Franz Ferdinand heiratete die Gräfin Chotek. Und da er in militärischen Angelegenheiten weitgehende Entscheidungsfreiheit hatte, löste er seinen Onkel als Kommandierenden General ab. Damit schien das Ende der militärischen Laufbahn Friedrichs absehbar. 1905 übersiedelten die »Friedrichs« in das Palais auf der Augustinerbastei und haderten mit dem Thronfolger und ihrem Schicksal. Die Ermordung Franz Ferdinands
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und seiner Frau, der nämlichen Sophie Chotek, 1914, ließ aber auch für Friedrich alles anders werden. Er wurde Armeeoberkommandant und sollte folglich nach dem Kaiser die höchste militärische Funktion im beginnenden Weltkrieg innehaben. Der Grund dafür lag nicht in seinen militärischen Fähigkeiten, sondern darin, dass von ihm erwartet wurde, dass er dem Chef des Generalstabes, Franz Conrad von Hötzendorf, freie Hand lassen und nicht in die Befehlsführung eingreifen würde. Tatsächlich deckte der Erzherzog nicht nur die operativen Maßnahmen und stand für Siege und vor allem Niederlagen ein. Er billigte auch die Versuche, in ÖsterreichUngarn eine Militärdiktatur einzuführen. Kaiser Franz Joseph ließ die Pläne jedoch scheitern. Friedrich ging aber noch einen Schritt weiter und war durchaus bereit, die Führung der österreichisch-ungarischen Streitkräfte den deutschen Verbündeten zu überlassen. Diesmal stimmte der Kaiser zu und akzeptierte im September 1916 die Bildung einer Gemeinsamen Obersten Kriegsleitung. Erzherzog Friedrich hatte im Dezember 1914 den Sitz des k. u. k. Armeeoberkommandos nach Teschen verlegt, was ihm die Möglichkeit gab, den nominellen Oberbefehl von seinem dortigen Schlösschen auszuüben. Im Dezember 1914 wurde Friedrich zum Feldmarschall befördert. Somit waren alle Oberhäupter der Albertinischen Linie Feldmarschälle. Fallweise machte Friedrich Truppenbesuche. Den Rest der Zeit pflegte er den Schlosspark und baute für einen Enkel ein Gartenhäuschen, schließlich hatte er ja Tischlerei gelernt. Den Abend verbrachte er mit Kartenspiel, bis dann der Generalstabschef zum Lagevortrag kam und Friedrich schlafen gehen konnte. Für Kritik an Friedrich sorgten seine Kriegsgewinne, die sich auch durch die Zeichnung von Kriegsanleihen in Millionenhöhe nicht ausgleichen ließen. Er belieferte wie vor dem Krieg Wien mit Milch und Milchprodukten, was ihm den Spottnamen »Friedrich der Rahmreiche« einbrachte. Seine Bergwerks- und Hüttenbetriebe produzierten für den Krieg und verdienten Unsummen. Auch die Albertina profitierte von den kriegsbedingt hohen Einkünften des Erzherzogs und konnte ihre Sammlungstätigkeit fast uneingeschränkt fortsetzen. Die Ankäufe endeten auch nicht, als Erzherzog Friedrich nach dem Tod Kaiser Franz Josephs von dessen Nachfolger, Kaiser Karl I., als Armeeoberkommandant abgelöst und schließlich zur Disposition gestellt wurde. Friedrich übersiedelte mit seiner Familie in die Weilburg. Bald nach dem Umzug von Teschen nach Wien bzw. in die Weilburg musste Friedrich feststellen, dass er nicht mehr gebraucht wurde. Doch er baute einem verlorenen Krieg insofern vor, als er bei Reisen in die Schweiz finanzielle Vorsorgen traf, die es ihm dann ermöglichen sollten, die auch für ihn katastrophalen Zeiten zu überdauern. Der Erzherzog verlegte seinen Wohnsitz nach Halbturn und schließlich nach Magyaróvár, da Ungarn nach einem bolschewistischen Intermezzo weiterhin Königreich blieb. Nunmehr war Erzherzog Friedrich, auf Ungarisch főherceg Frigyes, u ngarischer Staatsbürger, und zwar noch immer begütert, doch vom ehemals unermesslichen
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Reichtum war ihm nur vergleichsweise wenig geblieben. Seine Besitzungen in Galizien, Mähren und Schlesien, in Serbien, Rumänien, der Slowakei und Österreich, Grundbesitz von zusammen 140.000 Hektar, und alle Betriebe waren enteignet worden. Nur in Ungarn besaß er nach wie vor 23 000 Hektar Grund, Mühlen, Molkereien und Brauereien. Und der Feldmarschall in Ruhe versuchte das Beste daraus zu machen. Er pflegte weiterhin seine Hobbys, ging auf die Jagd, gehörte auch aus formalen Gründen dem ungarischen Oberhaus an, nahm aber nie an Sitzungen teil. Der erste familiäre Schicksalsschlag war der Tod der Erzherzogin Isabella 1931. Fünf Jahre später starb auch Friedrich. Bis 1931 war Erzherzogin Isabella bemüht gewesen, ihrem Sohn Albrecht die Anwartschaft auf die Stephanskrone zu sichern. Doch auch die geschätzte Summe von heute umgerechnet 60 Millionen Euro an Bestechungsgeldern nützte nichts. Albrecht verschwand aus der Erinnerung wie sein Vater. Dort, wo man vielleicht am ehesten vermuten würde, dass Friedrich einen nennenswerten Platz im kollektiven Gedächtnis haben würde, in Cieszyn, dem ehemaligen Teschen, das Friedrich wie seine Ahnherren im Namen geführt und für einige Jahre zum Machtzentrum der Habsburgermonarchie gemacht hat, findet sich kaum etwas, das an ihn erinnert, ebenso wenig wie an die Vorbesitzer des Schlosses, Albert Kasimir, Carl und Albrecht. Damnatio memoriae. Clemens Lothar Fürst Metternich : Das Leben eines Geradlinigen (15. Mai 1773 Koblenz – 11. Juni 1859 Wien)
Plasy Man fährt keine Hauptstraße entlang, um nach Plasy, dem ehemaligen Plass zu kommen und vielleicht weiter nach Pilsen zu fahren. In einer Talsenke taucht plötzlich ein schlossartiger Gebäudekomplex mit Kirche auf, sichtlich ein ehemaliges Kloster, profan, etwas heruntergekommen. Ein wenig abseits und jenseits der Straße findet sich der Ortsfriedhof von Plasy mit der St. Wenzelskirche, einer großen Begräbniskapelle. Und eigentlich muss man es wissen, da entsprechende Hinweise fehlen : In der Unterkirche der Kapelle findet sich das Grab von Clemens Lothar Fürst Metternich, seiner Frau Melanie geborene Gräfin Zichy-Ferraris und seines Sohnes Richard. Die Särge sind rechts und links des schmalen Gangs in die Grüfte eingeschoben und vorne mit schmiedeeisernen Gittern verschlossen. Clemens Lothar Fürst Metternich hatte sich den Platz nahe seinem abgelegenen Schloss ausgesucht und eine dementsprechende testamentarische Verfügung getroffen.
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Mit der Gruft weit weg von Wien hatte sich der ehemalige Staatskanzler durchaus im Einklang mit anderen Fürsten, etwa den Schwarzenberg oder den Liechtenstein, dafür entschieden, nicht nur auf eigenem Grund und Boden begraben zu werden, sondern auch in der gewissen Abgeschiedenheit, die es wohl auch brauchte, um vor den Anfeindungen des »Pöbels« sicher zu sein. Die Herrschaft Plass war seit 1826 in seinem Besitz gewesen. Er hatte das 1785 aufgehobene Kloster vom Religionsfonds gekauft und das schon leicht verfallene Klostergebäude zu einem Schloss umgestalten lassen. Die Umgebung wurde in einen englischen Park verwandelt. Das war damals modern und auch deshalb im Sinn des neuen Eigentümers gewesen, da er die französischen Einflüsse keinesfalls schätzte. Nur die Sprache hatte er immer gepflegt, denn es war die Sprache der Eliten und ihm seit seiner Kindheit im Rheinland vertraut. Plass war zwar in den Dreißigern und Vierzigern nicht der Lieblingsaufenthalt Metternichs gewesen, doch nach seiner Rückkehr aus England hatte er sich zunehmend häufig in Plass aufgehalten. Der Besitz war auch nach 1848 und der sogenannten Bauernbefreiung ertragreich geblieben, da er ja nicht nur eine Grundherrschaft verkörperte, sondern auch einen Industriestandort. Nordwestlich von Plass hatte Metternich eine Eisenhütte errichten lassen, in die Gelder der Grundablösen flossen. Doch letztlich war Plass Refugium geblieben und konnte mit dem Stadtpalais auf dem Wiener Rennweg selbstverständlich nicht konkurrieren. Es obsiegte erst in dem Augenblick, als es den toten Fürsten aufnahm und nach und nach zur Grabstätte seiner engeren Familie wurde. Seine letzte Frau, Melanie, und sein Sohn Richard wurden neben ihm bestattet. An sich hätten daher Schloss und Grabkapelle durchaus die Qualität eines Gedächtnisorts ersten Ranges. Doch da müsste schon ein kleines Wunder geschehen, um Plasy dem Vergessen zu entreißen. Und dass der ehemalige Staatskanzler, der »Kutscher Europas«, der Namensgeber eines nach ihm benannten politischen Systems, der »Fürst von Mitternacht« oder wie immer Freunde und Feinde den Fürsten auch bezeichneten, in Plasy begraben ist, gehört wohl seit rund 150 Jahren zu jenen Fakten, die gar nicht groß geheim gehalten werden müssen. Man weiß es einfach nicht. Das Schloss mag eine gewisse touristische Attraktion sein ; die Metternich Gruft ist es sicherlich nicht. Die Grafen von Metternich Die Grafen von Metternich hat – wie so viele andere auch – die Französische Revolution nach Österreich gespült. Aber natürlich hatte es eine gewisse Logik, dass sich eine reichsunmittelbare Familie aus dem Rheinland dem römisch-deutschen Kaisertum verbunden zeigte. Das war auch bei den Stadions, den Bellegardes oder Gentz ähnlich. Zumindest suchten sie Sicherheit im Inneren des Reichs und Lebenschancen. Doch zur Zeit der Geburt von Clemens Lothar Graf von Metternich am 15. Mai
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1773 schien die römisch-deutsche Welt noch in Ordnung. Koblenz, der Geburtsort des gräflichen Knaben, war Zentrum und Peripherie gleichzeitig, am Rande des Reichs und gleichzeitig inmitten der geistlichen Fürstentümer gelegen. Sein Vater, Franz Georg Karl Metternich-Winneburg-Beilstein, war Staatsminister im Kurfürstentum Trier und Erbkämmerer des Erzstifts Mainz. Die Mutter, Maria Aloisia, war eine geborene Gräfin Kageneck. Clemens hatte eine ältere Schwester, Pauline, und einen jüngeren Bruder, Joseph. Die Erziehung war, wie in adeligen Familien und noch dazu zur Zeit der Aufklärung gediegen, die Lehrer sorgfältig ausgewählt. Der junge Mann konnte auch schon bald über eigene Einkünfte verfügen, denn der Vater verschaffte ihm die Stelle eines Kanonikus in Mainz. Mit 15 Jahren bezog Clemens Metternich die Universität Straßburg. Zwei Jahre später übersiedelte er an die Universität Mainz. Und er zeigte sich resistent gegenüber den Ideen der Französischen Revolution. Sein Hauslehrer, der ihn von Universität zu Universität begleitete, die meisten seiner Professoren und Kommilitonen waren da ganz anders und verschrieben sich mehr oder weniger komplett den Ideen von Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit. Metternich will – zumindest stellte er es dann in seinen Lebenserinnerungen so dar – dem allen nichts abgewonnen haben. Ihn beeindruckten viel mehr die Krönung von Kaiser Leopold II. in Frankfurt und zwei Jahre später jene von Kaiser Franz II. Er sah den Aufbruch der kaiserlichen Truppen unter dem Kommando des damals als »größter Feldherr aller Zeiten« bezeichneten Herzogs von Braunschweig zum Feldzug nach Frankreich, war sich aber im Gegensatz zu Johann Wolfgang von Goethe der weltgeschichtlichen Bedeutung der nachfolgenden Kanonade von Valmy keineswegs bewusst. Bald darauf drangen die französischen Revolutionstruppen in die rheinischen Fürstentümer vor und besetzten Mainz und Koblenz. Die Metternichs flohen nach Brüssel. Wieder zwei Jahre später, im Juli 1794, eroberten die Franzosen die österreichischen Niederlande, und die Metternichs mussten abermals flüchten. Nicht dass sie regelrecht verarmt gewesen wären, denn sie besaßen noch Güter in Böhmen. Doch der große rheinländische Besitz war fürs Erste verloren. Aus der Abneigung gegenüber dem revolutionären Frankreich wurde tief empfundene Gegnerschaft. Kampf gegen die Revolution wurde das Credo. Das war denn auch etwas, das nicht nur ein Lippenbekenntnis war. Clemens Metternich verschaffte sich mit einer Flugschrift, in die er seine antirevolutionäre Haltung verpackte, auch eine Art Legitimation, um in Wien voranzukommen. Er tat noch ein Übriges : Er heiratete die Enkelin des ehemaligen Staatskanzlers Wenzel Graf Kaunitz, Eleonore. Es war wohl keine Liebesheirat, doch sie sicherte dem Zweiundzwanzigjährigen nicht nur den Zutritt zur großen Gesellschaft am Kaiserhof, sondern auch eine entsprechende Karriere. Noch hatte der junge Graf außer einigen Studien sowie kurzen Aufenthalten in Brüssel und London wenig vorzuweisen. Er lebte in den Tag hinein, schien ohne Ehr-
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geiz und mit bestenfalls durchschnittlichen Talenten ausgestattet. Da sich Metternichs Vater in Brüssel mit dem Statthalterehepaar, Herzog Albert von Sachsen-Teschen und seiner Frau Marie Christine überworfen hatte und wohl auch mit deren Adoptivsohn, Erzherzog Carl, nicht klar kam, ebenso aber beim Kaiser alles andere denn angesehen war, konnte der alte Graf wohl wenig für seinen Sohn tun. Der emanzipierte sich daher in wohlverstandenem eigenem Interesse, trat aber dennoch in die Fußstapfen des Vaters. Anlass dazu bot der Kongress von Rastatt, an dem die beiden Metternichs als Vertreter des Westfälischen Grafenkollegiums teilnahmen. Nicht zuletzt hofften die Metternichs, dass sie für ihren verlorenen Besitz entschädigt würden. Der Kongress scheiterte, und Clemens Metternich fand seine Aversion gegenüber den Vertretern des revolutionären Frankreich in jeder Weise bestätigt. Von Restitution war keine Rede. Wieder vergingen zwei Jahre, ehe Metternich 1801 seine erste regelrechte Aufgabe bekam und einen selbständigen Posten antrat. Ferdinand Graf Trauttmannsdorff, kurzzeitig Minister des kaiserlichen Hauses, stellte ihm zur Auswahl, ob er Gesandter am sächsischen Hof in Dresden, am dänischen Hof in Kopenhagen oder Vertreter des Königreichs Böhmen, also letztlich des Kaisers, beim Immerwährenden Reichstag in Regensburg werden wollte. Letzteres schloss Metternich wohl als Erstes aus, da er angesichts des vom »Konsul auf Lebenszeit«, Napoleon Bonaparte, ins Leben gerufenen Rheinbunds den Institutionen des römisch-deutschen Reiches keine große Bedeutung mehr beimaß. Auch Dänemark schied aus seinen Überlegungen aus. Also wählte er Dresden. Die Wettiner waren den Habsburgern spätestens seit den Kriegen der MariaTheresianischen Zeit eng verbunden. Dresden bot viele Annehmlichkeiten, die Metternich durchaus zu nutzen verstand. Allerdings blieb er nur zwei Jahre an der Elbe. Dann übersiedelte er nach Berlin und machte aus seiner Geringschätzung des Hohenzollernreichs Preußen kein Hehl. Preußen war 1795 aus der antifranzösischen Allianz ausgeschieden und hatte sich im zweiten Koalitionskrieg für neutral erklärt. An Metternich wäre es vielleicht gelegen, Preußen zum Beitritt zur dritten Allianz zu bewegen und es im Bündnis mit Russland und Österreich gegen die napoleonischen Truppen kämpfen zu sehen. Doch König Friedrich Wilhelm III. ließ sich nicht überzeugen und erteilte den Höfen von Wien und St. Petersburg eine Absage. Wieder stand ein Wechsel auf einen neuen Gesandtenposten bevor. Zar Alexander I. hätte Metternich gerne als österreichischen Botschafter in St. Petersburg gesehen. Doch Metternich hatte eine zweite Option und bekam den sicherlich wichtigsten Posten, den damals ein kaiserlich-österreichischer Diplomat bekleiden konnte, den in Paris. Angeblich hatte sich auch Napoleon Metternich ausdrücklich als Vertreter des Wiener Hofs gewünscht, jedenfalls zögerte der nicht, den Posten anzunehmen. Zwischen 1806 und 1809 spielte er eine recht eigentümliche Rolle. Er wechselte erst zu einem Zeitpunkt auf den Pariser Posten, als Kaiser Franz von Österreich die römisch-deutsche Kaiserkrone niedergelegt und das Reich für erloschen erklärt hatte.
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Der Ehrenvorrang, den der Kaiser in Wien auch in den Augen Napoleons genossen hatte, war folglich nicht mehr gegeben. Doch Metternich sah sich ungeachtet dessen als den wohl wichtigsten Vertreter einer ausländischen Macht am französischen Kaiserhof. Allerdings beruhte seine persönliche Reputation nur zum Teil auf seiner Stellung als Diplomat, zum anderen Teil aber auf seiner männlichen Potenz, denn es war ein mehr oder weniger offenes Geheimnis, dass Metternich, dessen Frau Maria Eleonore wohl gelernt hatte, über dergleichen hinwegzusehen, während seiner Pariser Jahre mit den Frauen zweier Marschälle von Frankreich (Murat und Junot) und zeitgleich mit einer ganzen Reihe anderer Damen Beziehungen hatte. Dass das Ganze der Nachrichtenbeschaffung gedient haben mag, konnte sicherlich als ein positiver Aspekt gesehen werden, war aber letztlich ein Euphemismus. Sicher war Metternich bestens informiert, machte sich jedoch in der Folge einer weitreichenden Fehlinterpretation der Vorgänge schuldig, denn er betonte in seinen Depeschen nach Wien die Schwierigkeiten der napoleonischen Herrschaft in Spanien und meinte bei seiner Darstellung der Folgen des Volksaufstands in Spanien den Auskünften der Damen Murat und Junot vertrauen zu können. Der Entschluss Österreichs zum Krieg 1809 gründete denn auch zu einem Gutteil auf den Informationen, die Metternich nach Wien geschickt hatte. Der österreichische Botschafter lag damit zwar ganz auf der Linie von Kaiser Franz und den Befürwortern eines Volkskriegs mit Hilfe der neu aufgestellten Landwehr, nicht jedoch auf der Linie des Generalissimus Erzherzog Carl. Den Verlauf des Kriegs konnte Metternich dann allerdings nur aus der Distanz der französischen Hauptstadt verfolgen, da Napoleon dem Botschafter die Rückkehr nach Österreich verweigerte. Erst wenige Tage vor der Schlacht von Deutsch Wagram (5./6. Juli 1809) kehrte Metternich nach Österreich zurück. Im Gegensatz zu anderen Beratern von Kaiser Franz hielt er aber nach der österreichischen Niederlage in der Entscheidungsschlacht nichts von einer Fortsetzung des Kriegs und riet zum Abschluss eines Verhandlungsfriedens. Der Kaiser ließ ihn die Verhandlungen führen. Doch auch Metternich konnte die weitgespannten Forderungen Napoleons nicht reduzieren. Also wurde ein anderer Verhandlungsleiter bestimmt, nämlich Johannes Fürst Liechtenstein. Metternich spielte freilich am kaiserlichen Hoflager in Totis (Tata) weiter eine wichtige Rolle. Da es aber auch Fürst Liechtenstein nicht gelang, Napoleon von seinen Forderungen abzubringen, mussten der Fürst und der rheinische Graf den österreichischen Kaiser zur Annahme der Bedingungen des Friedens von Schönbrunn überreden. Trotz der schweren Einbußen, die Österreich 1809 erlitt, machte Kaiser Franz den Grafen Metternich zum Nachfolger von Johann Philipp Graf Stadion als Minister des kaiserlichen Hauses. Er war für die Außenpolitik eines klein gewordenen Kaisertums Österreich verantwortlich. Die Habsburgermonarchie hatte den Zugang zum Meer verloren, da der Raum Triest ebenso wie die küstennahen Bereiche sowie ein Großteil der kroatischen Militärgrenze von Napoleon abgetrennt und dem neu geschaffenen
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Königreich Illyrien zugeschlagen worden waren. Österreich endete an der Drau. Die Armee war dramatisch verkleinert worden, um Geld zu sparen. Die Landwehr wurde wieder aufgelöst, und die Zahlungen, die Österreich an das napoleonische Frankreich zu leisten hatte, ließen keinen geordneten Haushalt mehr zu. Zwei Jahre später, 1811, erklärte Österreich seinen Staatsbankrott. Metternich war wohl nicht für die Finanzen zuständig, doch da er sich zum Ziel gesetzt hatte, die Geltung Österreichs wiederherzustellen, musste ihm ebenso an einem geordneten Staatshaushalt wie an einer nennenswerten Militärmacht gelegen sein. Er zeigte aber sicherlich kein Bedauern, dass Kaiser Franz seinen Bruder Carl als Generalissimus entlassen hatte. Metternich und der Erzherzog mochten sich seit Brüssel nicht. Der Minister setzte denn auch nicht auf ihn, sondern auf die Familien Schwarzenberg und Liechtenstein, die sich ebenfalls von Carl schlecht behandelt sahen. Metternich ließ keinen Zweifel daran, dass er die österreichische Politik zumindest temporär an Frankreich ausrichten wollte. Es war ja nicht mehr der Hort der Revolution, auch wenn Metternich in Napoleon immer noch den Erben des Umsturzes von 1789 sah. Seine eigenen Prinzipien schienen sich gegenüber seiner Brüsseler Zeit aber nicht geändert zu haben : Die moralische Kraft der Habsburgermonarchie, hielt er 1810 fest, beruhe darauf, dass die Welt sie als Zentral- und Sammelpunkt alles dessen ansehe, was noch an alten Prinzipien, alten Formen und alten Gefühlen übriggeblieben sei. In den Augen der deutschen Romantik wohnte dieser Haltung sogar eine beträchtliche Modernität inne. Metternich selbst sah darin ein Prinzip. Doch er betrieb Realpolitik. Offene Gegnerschaft zu Napoleon schloss sich fast von selbst aus. Den Bemühungen zur Neuorientierung der Politik kam ein Zufall zu Hilfe. Napoleon wollte sich von seiner Frau Josephine trennen, da sie ihm nicht den ersehnten Thronerben gebären konnte. Zwei Prinzessinnen kamen als Nachfolgerinnen in Frage : Eine Tochter des Zaren Alexander, und Marie Louise, die Tochter von Kaiser Franz I. Da der Zar keine familiäre Bindung mit Napoleon eingehen wollte, blieb nur die Erzherzogin über. Kaiser Franz und Metternich betrieben die Heirat. Marie Louise fand durchaus Gefallen am Gedanken, die Frau des mächtigsten Mannes der Welt zu sein. Die Abneigung, ja der Hass, den die Franzosen ihrer Tante Marie Antoinette entgegengebracht hatten, schreckten sie jedenfalls nicht ab. Die Vermählung fand am 11. März 1810 in der Wiener Augustinerkirche statt. Dem Wunsch Napoleons entsprechend führte Erzherzog Carl die Braut zum Altar und heiratete sie per procurationem. Ein Jahr später brachte Marie Louise einen Sohn zur Welt, der mit dem Titel eines Königs von Rom ausgestattet die Vornamen von Vater und Großvater erhielt : Napoléon François Charles Joseph Bonaparte. Die nächste Herausforderung für Metternichs politische Reorientierung kam schon im Frühjahr 1812. Napoleon verlangte die Teilnahme eines österreichischen Armeekorps an seinem Russlandfeldzug. Metternich konnte und wollte das nicht verweigern. Karl Fürst Schwarzenberg wurde zum Kommandanten bestimmt. Die Österreicher
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wurden am rechten Flügel der Grande Armée eingesetzt und hielten große Distanz zur Hauptarmee. Daher wurden sie auch nicht in deren Vernichtung verwickelt. Abseits dessen tat Metternich alles, um keine Zweifel an Österreichs Bündnistreue aufkommen zu lassen. Als sich der Bruder von Kaiser Franz, Erzherzog Johann, an die Spitze einer Aufstandsbewegung setzte und mit Hilfe des »Alpenbunds« in Illyrien, Kärnten, Steiermark, Salzburg, Tirol und Vorarlberg sowie Teilen der Schweiz einen Aufstand gegen die Franzosen plante, erreichte Metternich beim Kaiser, dass der Motor der Bewegung, Josef von Hormayr, verhaftet wurde und Erzherzog Johann Tirol nicht mehr betreten durfte. Im Frühjahr 1813 schien die Zeit des Abwartens vorbei. Zwar hatte Napoleon nach dem Scheitern seines Russlandfeldzugs eine neue Armee aus dem Boden gestampft, doch die verbündeten Russen und Preußen setzten den Franzosen mehr und mehr zu. Metternich hatte zwar weder besondere Sympathien für den Zaren noch für den preußischen König, doch auch in diesem Fall siegte die Realpolitik. Er begann eine vorsichtige Annäherung und stellte in Aussicht, dass Österreich der anti-napoleonischen Koalition beitreten könnte, falls Napoleon die Forderungen der Alliierten nicht erfüllen sollte. Metternich machte sich selbst zum Vermittler, obwohl er sich sagen musste, dass Napoleon die Ultimaten seiner Gegner wohl nicht erfüllen würde. Um aber auch den österreichischen Standpunkt berücksichtigt zu sehen, wollte Metternich zumindest die französischen Eroberungen des Kriegsjahrs 1809 rückgängig machen. Dresden Am 26. Juni 1813 trafen Napoleon und Metternich im Marcolini’schen Palais in Dresden zusammen. Man kannte sich. Metternich erlebte wohl nicht zum ersten Mal, dass Napoleon zu einem nicht endenwollenden Monolog ansetzte. Das Treffen dauerte über neun Stunden. Tags darauf wurden die Gespräche fortgesetzt. Napoleon beschrieb nicht nur die Schlechtigkeit der Welt, die seine guten Absichten verkannte, sondern prophezeite Russland und Preußen schreckliche Folgen ihres gegen ihn gerichteten Handelns. Metternich war davon nicht sehr beeindruckt und brachte seine Rolle als Vermittler ins Spiel. Gleichzeitig nannte er die Zugeständnisse, die Österreich wie die Alliierten verlangten : Abzug der Franzosen aus Sachsen und Räumung der deutschen Gebiete bis zum Rhein ; Rückgabe der von Österreich abgetrennten Gebiete im Süden, vor allem in Italien, sowie Wiederherstellung der Rechte des preußischen Königs. Für Napoleon war das alles völlig auszuschließen. Metternich brachte die Möglichkeit ins Spiel, dass Österreich auf Seiten der Koalition in den Krieg eintreten könnte. Napoleon tobte. Metternich signalisierte das Ende der Unterredung. Napoleon rief ihn zurück. Man einigte sich auf einen Kongress in Prag, zu dem die Delegierten innerhalb von
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einigen Tagen an der Moldau eintreffen sollten. Metternich verließ Dresden. Schon eine Stunde nach dem Treffen informierte er Kaiser Franz über die Ergebnisse der Zusammenkunft mit dessen Schwiegersohn. Anschließend teilte er die Ergebnisse der Unterredung in Dresden den Alliierten mit. Preußen, Russen und Österreicher schickten Delegierte nach Prag. Doch die französische Delegation blieb aus. Kaiser Franz behielt den Metternich’schen Kurs bei und trat der Koalition bei. Was folgte, war die langsame, verlustreiche Einkreisung der Franzosen und ihrer Verbündeten. Doch gerade die wurden buchstäblich von Tag zu Tag weniger, da es Metternich gelang, Bayern und Württemberger zum Abfall von Napoleon zu bewegen. Lediglich der König von Sachsen, den man schon auf Seiten der Koalition wähnte, setzte weiter auf Napoleon. Die sogenannte Völkerschlacht von Leipzig vom 16. bis 19. Oktober 1813 endete mit der entscheidenden Niederlage für die Franzosen. Der Kongress In die letzte Phase der Schlacht mischten sich bereits wesentliche Fragen der Nachkriegsordnung Europas. Der Zar, der sich nur schwer mit der Führung der Koalitionsarmeen durch den Fürsten Schwarzenberg abgefunden hatte, argumentierte damit, dass die Niederlage Napoleons im Verlauf des Feldzugs nach Moskau begonnen hatte und wollte ganz Polen als Beute. Preußen setzte in Leipzig einen demonstrativen Akt und führte den König von Sachsen, Johann Georg (den Gerechten), vom Schlachtfeld als Gefangenen weg. Damit war klar : Preußen wollte die Selbständigkeit Sachsens beenden und das Land annektieren. Österreich aber wollte weder den Russen ganz Polen überlassen noch Sachsen verschwinden sehen, das zumindest als Puffer gegen Preußen erhalten bleiben sollte. Das waren aber nur zwei von vielen Problemen. Und während sich die Koalitionstruppen noch an den Rhein vorkämpften und schließlich 1814 nach Frankreich vormarschierten, war es klar geworden, dass die Neuordnung Europas mehr erforderte als die Wiederherstellung des status quo ante. Eine der Möglichkeiten, die Metternich ins Auge fasste, um die anstehenden Probleme zu lösen, war der Erhalt einer allerdings eingeschränkten Herrschaft Napoleons in Frankreich. Doch Napoleon nahm sich gewissermaßen selbst aus dem Spiel, da er das Angebot der Koalition, Frankreich auf die Grenzen von 1792 zurückzuführen, nicht als letzte Chance, sondern als Zumutung empfand. Er musste aber schließlich seine Niederlage akzeptieren und den Weg ins Exil nach Elba antreten. Damit war der Weg zur Restauration der Bourbonen frei, und der jüngere Bruder des 1793 hingerichteten Ludwig XVI. bestieg als Ludwig XVIII. den Thron. Noch auf dem Weg der Verbündeten nach Paris wurde aus der Notwendigkeit, eine territoriale und politische Neuordnung Europas vorzunehmen, die Idee zu einem Kon-
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gress geboren. Ob es Metternich war, der als erster den Gedanken eines Kongresses aussprach, ist umstritten. Er war jedenfalls derjenige, der Kaiser Franz dazu brachte, eine Einladung nach Wien auszusprechen. Dafür waren wohl mehrere Überlegungen ausschlaggebend : Seit Österreich der Koalition beigetreten war, hatte es eine immer bedeutendere Rolle zu spielen begonnen. Sie war nicht Ausdruck militärischer Überlegenheit, denn die habsburgischen Streitkräfte waren erst im Aufbau begriffen und stellten verglichen mit den russischen aber auch den preußischen Truppen nicht allzuviel dar. Wohl aber bekleidete Fürst Schwarzenberg die Stelle des Oberkommandierenden und war daher eine Art primus inter pares. Österreichs Interessen an einer Neuordnung Europas waren auch wesentlich weitgespannter als die einer anderen Macht. Es gab so gut wie keine Frage, die Österreich nicht in irgendeiner Weise tangierte. Und schließlich kam die historische Bedeutung des österreichischen Kaisers als ehemaliges Oberhaupt des römisch-deutschen Reichs ins Spiel. Ein letztes Moment stellte wohl die Lage Wiens und stellten seine Möglichkeiten dar, einen Kongress zu beherbergen. Paris schied aus, denn dessen Bedeutung sollte ja auf die vor-napoleonische Zeit zurückgeführt werden. St. Petersburg war zu sehr Peripherie ; und das kleine Berlin kam wohl auch nicht in Frage. Metternich verstand es aber, aus einer Frage, bei der praktische Gründe letztlich ausschlaggebend gewesen sind, eine Grundsatzfrage zu machen und weit mehr einfließen zu lassen als Streit um Territorien. Während er im Verlauf seiner Pariser Botschaftertätigkeit den Anschein erweckt hatte, dass er sich nicht nur mit der Napoleonischen Herrschaft abgefunden, sondern auch die gesellschaftlichen Änderungen akzeptiert hätte, rückte er ab dem Sommer 1814 immer stärker den Gedanken in den Vordergrund, dass es gelte, eine vorrevolutionäre Ordnung wiederherzustellen. Es begann das Gestalt anzunehmen, was dann zumindest einen Teil dessen ausmachte, das dann als Metternich’sches System bezeichnet wurde und gleichermaßen Bewunderer und Nachahmer wie Kritiker und erbitterte Feinde finden sollte. Vorderhand waren aber nicht politische Philosophien gefragt, sondern die Lösung von Machtfragen, Schon unmittelbar nach der Unterzeichnung des (1.) Pariser Friedens begannen die Vorbereitungen für den Kongress in Wien. Anfang August sollte er eröffnet werden, doch noch waren die wenigsten Delegationen angekommen, und vor allem die wichtigsten Personen, Zar Alexander I. und König Friedrich Wilhelm III. von Preußen, fehlten noch. Mit dem Eintreffen der Staatsminister der Allianzmächte galt der Kongress Mitte September als eröffnet. Doch dem war nicht so. Am 25. September holte Kaiser Franz den Zaren und den preußischen König nahe der Wiener Taborbrücke ab. Doch noch immer war man von einem formellen Beginn weit entfernt. Und auch die stille Diplomatie brauchte Zeit. Eine der wichtigsten Entscheidungen im Vorfeld des Wiener Kongresses war die gewesen, dass die Alliierten keinen Siegfrieden diktieren, sondern ein wieder auf ein Königtum herabgestuftes und damit gewissermaßen
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vorrevolutionäres Frankreich als Gleichberechtigten und nicht als Besiegten an den Beratungen teilhaben lassen wollten. Und da sich Metternich den immer unvermittelter vorgetragenen Forderungen Russlands nach Galizien und jenen Preußens nach der Einverleibung ganz Sachsens gegenübersah, schien es wohl das Probateste zu sein, sich verstärkt auf England und Frankreich zu stützen. In beiden Fällen konnte Metternich auf alte freundschaftliche Verbindungen zurückgreifen. Noch bevor er seinem Vater nach Brüssel gefolgt war, hatte er eine Delegation nach England begleitet. Bei der Gelegenheit hatte er sich mit dem Prinzen von Wales, George, angefreundet. Mittlerweile war der als George IV. König von Großbritannien geworden. Und sein leitender Minister, Lord Castlereagh, vertrat sehr ähnliche Ansichten wie Metternich. Im Fall Frankreichs kam Metternich zugute, dass sich Ludwig XVIII. mit Charles Talleyrand einen klugen, seit den Revolutionsjahren gemäßigten und im Übrigen enorm anpassungsfähigen Mann zum Außenminister genommen hatte, der im Tausch gegen die Unterstützung der österreichischen Haltung Frankreich als gleichberechtigten Teilnehmer am Wiener Kongress etablieren konnte. Und im Übrigen erfüllte Frankreich eine Grundforderung Metternichs : Es hatte zumindest vom Anspruch her die alte Königswürde wieder hergestellt und entsprach damit einem der durchgängigen Prinzipien Metternichs : Er baute nur auf die Fürstenmacht. Eine Teilnahme der Untertanen an der Regierung war jenseits seines Denkhorizonts. Endlich, Ende Oktober 1814, galten die Vorarbeiten als abgeschlossen. Metternich wurde, was eigentlich logisch war, zum Präsidenten des Kongresses gewählt. Doch das Fürstentreffen begann trotz des Begleitprogramms, das ihm den Spottnamen vom Kongress, der tanzt und nicht vorankommt, nicht gut. Die Spannungen zwischen Österreich einerseits und Preußen und Russland anderseits schienen so groß, dass ein Scheitern, ja ein Krieg unter den Verbündeten nicht auszuschließen war. Erst um Weihnachten 1814 zeichneten sich Lösungsmöglichkeiten ab, die den Kongress in ein sehr viel ruhigeres Fahrwasser lenkten. Dazu trug wohl auch bei, dass Metternich in einem wesentlichen Punkt kein doktrinäres Herangehen zeigte, nämlich in der Frage, das von Kaiser Franz aufgelöste römisch-deutsche Reich wieder erstehen zu lassen. Außer einer Durchsetzung des restaurativen Prinzips sprach auch nichts dafür. Es war nicht zu erwarten, dass die von Napoleon zu Königen gemachten Kurfürsten von Bayern und Sachsen auf ihre Würde verzichten würden. Auch das neue Königtum des Herzogs von Württemberg war dabei zu berücksichtigen. Schließlich hatten sich viele Reichsfürsten im Zuge der Auflösung des Reichs an den geistlichen Fürstentümern »bedient« und waren sicherlich nicht bereit, das jüngst Erworbene wieder herauszugeben. Eine Rekonstruktion des Reichs schien aussichtslos. Dazu kam eine vielleicht banal scheinende Überlegung, die für Kaiser Franz besonders ins Gewicht fiel : Da das römisch-deutsche Reich ein Wahlkönigtum war, konnte es nicht als ausgemachte Sache gelten, dass der gutmütige, doch einfältige Sohn des Kaisers Franz, Ferdinand, zum
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Kaiser gewählt werden würde. In Österreich ließ sich das durchsetzen ; gegen mächtige und sicherlich selbstbewusste deutsche Monarchen wohl nicht. Metternich wusste das. Und die Sache war abgetan. An die Stelle des Reichs sollte der Deutsche Bund treten. Die Regelung der Italien betreffenden Fragen suchte Metternich als Österreichs ureigenste Angelegenheit zu behandeln. Da waren weder Russen, Preußen oder die Reichsfürsten gefragt. Und auch Frankreich wurde keine Sonderstellung eingeräumt. Italienische Gebiete sollten Österreich für den Verlust der österreichischen Niederlande und etlicher Vorrechte entschädigen. Während der Konferenzmonate wurde von Metternich Omnipräsenz gefordert. Da es außer vielleicht bei Seerechtsfragen oder der Sklaverei so gut wie kein Thema gab, bei dem nicht österreichische Interessen im Spiel gewesen wären, musste er entweder persönlich bei den Komiteesitzungen anwesend sein oder zumindest die Richtung vorgeben und die Ergebnisse besprechen. Er hatte auch klare Ziele vor Augen, und diese gingen Hand in Hand mit seinem immer deutlicher werdenden Credo nämlich der Schaffung einer konservativen, obrigkeitlich ausgerichteten Staatengemeinschaft. Noch war sein Denken und Handeln nicht regelrecht doktrinär. Heinrich (Ritter von) Srbik, Metternichs sicherlich bedeutendster Biograph, meinte, dass bei Metternich die »praktische Logik« so stark gewesen sei, »dass er seinem doktrinären Denken stets eine gute Dosis von realpolitischem Denken« beizumengen wusste. Metternich selbst meinte etwas beschönigend, dass er bei seinen Ansichten und vor allem auch bei den praktischen Fragen der Politik Anleihen bei Napoleon genommen hätte. Das mochte zwar bei seinem Hang zum Absolutismus seine Richtigkeit gehabt haben, doch die Basis, auf der Napoleon und Metternich aufbauten, war doch eine grundverschiedene. Der eine baute auf der Französischen Revolution und der andere auf der vor-revolutionären Zeit und auf der Restauration auf. Später, als Metternichs Haltung immer reaktionärer wurde, meinte man zur Erklärung von Metternichs Einstellung anführen zu sollen, dass es eigentlich nur darum gegangen sei, die von Kaiser Franz I. verfolgten Ziele entsprechend umzusetzen. Doch die Argumentation sollte wohl eher dahin gehen, dass Metternich einem Kaiser diente, der bereitwillig das guthieß, was ihm sein leitender Minister vorgab. Das schien denn auch nur logisch zu sein und hatte zunächst einmal zur Folge, dass der Kaiser, der in den Napoleonischen Kriegen sein Reich Stück für Stück verloren hatte, am Ende sogar als Mehrer des Reichs dastehen konnte. Metternich, der schon als junger Mann ein Faible für die Naturwissenschaften gehabt hatte, suchte auch in der Politik und der Administration Gesetzmäßigkeiten. Er stand wohl auch unter dem Einfluss seiner Lehrer in Straßburg, Nikolaus Vogt und Christoph Wilhelm Koch. Schon im September 1804 schrieb er an den damaligen Staatskanzler, Wenzel Fürst Colloredo, von einem politischen System, das zur Grundlage allen Handelns gemacht werden sollte. Für ihn war das schließlich weit mehr als ein Modewort, das ihn nicht zuletzt während seiner Pariser Botschafterzeit immer wie-
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der begleitete. Metternich sprach denn auch zu wiederholten Malen von Systemen, die auch anderen seiner Zeitgenossen Leitlinie waren, etwa seinem »Intimfeind«, Zar Alexander I., ebenso aber von einem System seines Vorgängers Stadion. Von jenen, die ihm wohlwollend begegneten, wurde er als Schöpfer und Vertreter eines Systems gesehen, dem durchaus positive Aspekte anhafteten. Berühmt wurde in diesem Zusammenhang, was Heinrich Heine 1832 in seiner Vorrede zu »Französische Zustände« schrieb : »Man wusste, dass er [Metternich] weder aus Liebe noch aus kleinlichem Hasse, sondern großartig im Geiste eines Systems handelte, welchem Österreich seit drei Jahrhunderten treu geblieben. Es ist dasselbe System, für welches Österreich gegen die Reformation gestritten ; es ist dasselbe, wofür es mit der Revolution in Kampf getreten.« Unterm Strich konnte das aber nur heißen, dass sich Österreich gegen Veränderungen stemmte und dabei nicht nur bewahrend, sondern regelrecht retardierend sein konnte. Und der Exponent dieser Haltung und dieses Ankämpfens gegen Veränderungen war im österreichischen Biedermeier und im Vormärz Clemens Lothar Fürst Metternich. Seine Stellung war unangreifbar. Schon wenige Wochen nach der Völkerschlacht von Leipzig war er gefürstet worden, so ziemlich die höchste Auszeichnung, die denkbar war. Kaiser Franz belohnte damit die Annäherung an das Frankreich Napoleons und die Verheiratung der Kaisertochter Marie Louise wie auch die Umkehr der Bündnisse und die Bildung der anti-napoleonischen Koalition. Der Kaiser folgte willig den Vorschlägen Metternichs zur Einberufung eines Kongresses nach Wien, zum Regimewechsel in Frankreich und der vergleichsweise nachsichtigen Behandlung Napoleons, dem ja nicht nur die Führung von Eroberungskriegen, sondern auch Raub auf hohem Niveau vorzuwerfen waren. Als nächstes war der erfolgreiche Abschluss des Wiener Kongresses zu einem erheblichen Maß Metternichs Verdienst. Das war aber nicht nur einfach auf die Frage zu reduzieren, welche Maßnahmen zur Neuordnung Europas beschlossen wurden, sondern wohl auch unter dem Gesichtspunkt zu sehen, dass Metternich ein persönlich gutes Verhältnis zu den führenden Persönlichkeiten der alles entscheidenden Großmächte aufgebaut, zumindest aber die Arbeitsebene intakt gelassen hatte. Und das war wohl mehr, als man anfänglich erhoffen konnte. Der auch für ihn krönende Abschluss dieser Periode seines Lebens war nach dem endgültigen Sieg über Napoleon der Ritt über die Vogesen 1815 im Gefolge des Kaisers und der anschließende Einzug in Paris gewesen. Für Napoleon konnte und wollte Metternich sicherlich nichts mehr tun. Marie Louise sollte mit den neu zur Habsburgermonarchie hinzugekommenen italienischen Herzogtümern Parma, Piacenza und Guastalla entschädigt werden, was für sie wie für Frankreich die sicherlich beste Lösung war, da sie weder von den Franzosen geduldet werden musste, noch auf Kosten Frankreichs entschädigt werden sollte. Schließlich modelte Metternich den von pietistischen Gedankengängen des Zaren herrührenden Vorschlag zur Bildung einer »Heiligen Allianz« dahingehend um, dass daraus ein zukunftsfähiges Konstrukt wurde, das zu handhaben gerade Metternich
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eine gewisse Souveränität entwickelte. Sehr viel später, bei der Abfassung seiner Memoiren, spielte Metternich seine eigene Rolle und das ganze Konstrukt herunter : »Die Heilige Allianz war nicht eine Stiftung zur Niederhaltung der Volksrechte, zur Beförderung des Absolutismus und irgendeiner Tyrannei. Sie war lediglich der Ausfluss einer pietistischen Stimmung des Kaisers Alexander und die Anwendung der Grundlagen des Christentums auf die Politik. Aus einer Verbindung religiöser und politisch-liberaler Elemente hat sich unter dem Einfluss der Frau von Krüdener und des Herrn von Bergasse die Idee der Heiligen Allianz entwickelt. Niemand ist genauer als ich in der Kenntnis aller auf dieses ›lauttönende Nichts‹ bezüglichen Verhältnisse.« Der »Kutscher Europas« Während noch in Wien große Politik gemacht wurde, hatte Napoleon die Macht in Frankreich wieder an sich zu reißen gesucht und kehrte aus seinem Exil in Elba nach Paris zurück. Auf den Wiener Kongress wirkte das ungemein beschleunigend. Am 25. März 1815 schlossen die Kongressmächte einen neuen Allianzvertrag und forderten alle Teilnehmerstaaten auf, Truppenkontingente zu stellen. Letzte, den Deutschen Bund betreffende Fragen wurden geklärt. Die »Schweizer Kommission« legte einen Deklarationsentwurf für die immerwährende Neutralität der Schweiz vor. Österreich sollte sie garantieren. Auch anderes ging jetzt sehr schnell. Dann hieß es auf die militärische Entscheidung zu warten. Sie fiel bei Waterloo und endete mit der Verbannung Napoleons nach Sankt Helena. Erst in der Folge galt es, die Ergebnisse des Wiener Kongresses umzusetzen. Es mag schon sein, dass Metternich keineswegs an den »ewigen Frieden« glaubte. Er war zu lange im politischen Geschäft, als dass ihm dergleichen in den Sinn gekommen wäre. Doch gerade in der dann verschriftlichten Form der »Heiligen Allianz«, die einen gewissen Schwurcharakter hatte, sah Metternich mehr als eine bloß unnütze moralische Manifestation. Die Allianz sollte nicht zuletzt dazu dienen, die noch während des Wiener Kongresses knapp an den Krieg heranführenden Spannungen mit Russland und Preußen abzubauen und an ihrer Stelle eine Allianz der Ostmächte zu begründen. Schon drei Jahre nach Abschluss des Wiener Kongresses begann Metternich den Kampf um die Beibehaltung der geschaffenen Ordnung. Dabei konnte er sich weiterhin auf das Wohlwollen und ein fast blindes Zutrauen seines Kaisers verlassen. Kaiser Franz, der in den Jahren zwischen seiner Thronbesteigung 1792 und dem Frieden von Schönbrunn 1809 seine leitenden Minister in kurzen Abständen gewechselt hatte, dachte nicht daran, Metternich abzulösen. Dabei entwickelte der sonst so spröde Kaiser Franz zu seinem Außenminister, der ab 1821 den zuletzt von Fürst Kaunitz geführten Titel eines Haus-, Hof- und Staatskanzlers trug, regelrecht freundschaftliche Gefühle.
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Kaiser Franz lud wie schon 1814 nach Wien die Staaten der Heiligen Allianz nach Karlsbad, Troppau, Laibach und Verona ein. Metternich konnte aber nicht verhindern, dass sich Großbritannien formell von der Heiligen Allianz lossagte und auch andere Staaten immer häufiger signalisierten, dass sie die Lösung der sie vorrangig interessierenden territorialen Fragen nicht mit den Mitteln der Konferenzdiplomatie, sondern durchaus mit Hilfe des Einsatzes von militärischen Mitteln suchen wollten. Je mehr das Gemäuer der Heiligen Allianz zu zerbröckeln begann, und weder Pentarchie noch Quadrupelallianz wie gedacht funktionierten, umso mehr tendierte Metternich dazu, sich mit der Allianz der konservativen Ostmächte zu begnügen. An den Rändern Europas zeigten sich mehr und mehr Erosionserscheinungen, die weder durch Konferenzen noch durch die Entsendung von Interventionstruppen zu lösen waren. Und für einige Regionen Europas hatte Metternich ohnedies nichts übrig. Da galt sein Ondit : »Hinter der Simmeringer Haide beginnt Asien«, womit zum Ausdruck gebracht werden sollte, dass östlich des Metternich’schen Palais auf dem Wiener Rennweg Denk- und Handlungsräume anzutreffen waren, mit denen Metternich letztlich nichts anzufangen wusste. Was konnte die Habsburgermonarchie tun, um die Griechen daran zu hindern, ihre Unabhängigkeit vom Osmanischen Reich erkämpfen zu wollen ? Tangierte ein weiterer russisch-türkischer Krieg irgendeine der Fragen, die in Wien geregelt worden waren, oder verletzte er die Bestimmungen der Heiligen Allianz ? Was ließ sich tun, wenn auch Mächte der Pentarchie, vornehmlich Frankreich, eine zunehmend nationalistische Politik betrieben ? Metternich konnte das genauso wenig hindern, wie dazu vielleicht österreichische Truppen in der Lage gewesen wären. Niemand konnte überall intervenieren, wo sich Aufstände zeigten, auch wenn sich der österreichische Staatskanzler darum bemühte. In dem Zusammenhang strafte Metternich seine eigene Darstellung der Ziele der Heiligen Allianz Lügen, denn sie diente sehr wohl der Niederhaltung von Volksrechten und der Beförderung des Absolutismus. Man spottete über den »comte de balance« und seine Bemühungen, die Ordnung Europas nach seinen Vorstellungen vorzunehmen. Und die in der Schlussdeklaration der Aachener Konferenz beschworene »Ruhe der Welt« wurde schlicht als Stillstand und Friedhofsruhe gesehen. Was sollte man denn auch mit einem Bekenntnis anfangen, das da lautete : »Einer der ersten Begriffe, die Grundlage der heutigen Politik, ist und muss die Ruhe sein, und der Grundbegriff der Ruhe ist die Sicherheit des Besitzstandes. Wenn die ersten Mächte Europas von diesem Grundsatz ausgehen, so müssen sich kleine, kaum aufrechtstehende Staaten demselben freiwillig oder gezwungen ebenfalls fügen« ? (Metternich, Nachgelassene Papiere III/61). Doch das Ankämpfenwollen gegen die damals modernen Ideen des Liberalismus und Nationalismus schien zum einen aussichtslos wie anderseits unzeitgemäß. Die Grundstrukturen der europäischen Ordnung von 1815 blieben zwar erhalten, doch spätestens 1830, dem ersten Revolutionsjahr nach 1789, wurde deutlich, dass das
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bloße Beharrenwollen nicht mehr funktionierte. Folglich konnte auch Metternich nur zwei Ziele verfolgen : Die revolutionäre Gefahr dadurch einzugrenzen, dass alles getan wurde, um eine Ausbreitung zu verhindern ; vor allem aber in der Weise, dass man die Länder der Habsburgermonarchie bewusst von der Außenwelt abschottete. Dabei schienen die italienischen Gebiete der Monarchie besonders gefährdet. Also besann sich Kaiser Franz eines Mannes, der schon 1813 eine entscheidende Rolle gespielt hatte, mittlerweile aber auf einem militärischen Abstellgleis gelandet war, General der Kavallerie Joseph Graf Radetzky. Kaiser Franz rief ihn zu sich und übertrug ihm das Kommando über die k. k. 2. Armee mit den bemerkenswerten Worten : »Weck er Mir die Armee in Italien auf !« Metternich hatte mit seiner Politik der Isolation der Habsburgermonarchie zeitweilig Erfolg. Die Habsburgermonarchie blieb sowohl von den Ereignissen in Frankreich wie vom Aufstand gegen die russische Herrschaft in Kongresspolen unberührt. Und im Lombardo-Venezianischen Königreich blieb es nicht zuletzt wegen der erhöhten militärischen Präsenz ebenfalls ruhig. Bis zuletzt wurde Metternich vom Vertrauen seines Kaisers begleitet, der schließlich vor seinem Tod 1835 seinem regierungsunfähigen Sohn Ferdinand die Ermahnung mit auf den Weg gab : »Übertrage auf den Fürsten Metternich, meinen treuesten Diener und Freund, das Vertrauen, welches ich ihm während einer so langen Reihe von Jahren gewidmet habe.« Vielleicht hatte Metternich gemeint, in Kaiser Ferdinand – Heinrich Srbik nannte ihn zutreffend : »Scheinkaiser« – lediglich einen willfährigen Platzhalter auf dem Thron zu haben. Doch es gab ein anderes Machtzentrum, die »Staatskonferenz«, die Metternichs Einfluss rasch und effektiv reduzierte. Das die Staatskonferenz bildende Triumvirat aus Erzherzog Ludwig, einem jüngeren Bruder des verstorbenen Kaisers, dem Grafen Franz Anton Kolowrat und Metternich, blockierte sich selbst, und das von Kolowrat und seinem Polizeiminister, Josef von Sedlnitzky, perfekt gehandhabte Überwachungssystem sorgte für eine trügerische Ruhe. Aber um welchen Preis ! Rundum bahnten sich in Europa Veränderungen an und setzten sich Nationalismus und demokratische Strömungen durch. Dazu kam ein sozialer Wandel, der mit der industriellen Revolution im Zusammenhang stand. Dem allen mit dem Herkommen begegnen zu wollen und sich gegen auch gewaltsame Veränderungen mit dem Hinweis auf die Erfahrungen der Französischen Revolution und die Kriegsjahre bis 1815 begegnen zu wollen, war ein Ding der Unmöglichkeit. Das System Metternich galt weiterhin als Schöpfer und Exponent der erzwungenen Ordnung, und der Begriff »System« wurde zum Schlagwort schlechthin. Man sprach von »Isolie-
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rungssystem«, »Militärsystem«, einem »System der Aufsichten und Kontrollen«, einem »Polizei- und Zensursystem«, einem »Gleichgewichtssystem«, »Überwachungssystem«, einem »volksfeindlichem Reaktionssystem«, einem »System der Verfolgung und Unterdrückung«, einem »System der Missachtung der Völker« und der »Zersplitterung Deutschlands«. Metternich selbst konnte in seinem Credo nach wie vor weder Negatives noch auch nur Problematisches erkennen und sprach von einem »System der Konzessionen« und davon, dass er ein »Präventivsystem« verfolge. Für ihn dominierte die Idee, einen Modellstaat einrichten zu sollen und mit dessen klaglosem Funktionieren den Beweis zu liefern, dass man nur so, wie es das österreichische Beispiel zeigte, einen Staat lebens- und handlungsfähig erhalten könne. Die Kritik am Staatskanzler und seiner Politik wurde freilich nicht an einem ephemeren Idealzustand, sondern an der Realität gemessen. Daher war es auch naheliegend, die Metternich’sche Politik mit einer Begrifflichkeit zu versehen, die Großteils negativ besetzt war : Konservativismus, Antiliberalismus, Antinationalismus, Legitimismus und Autoritätsdenken, Gleichgewichtsdenken und Interventionsprinzip. Dem wären wohl auch institutioneller Klerikalismus und geistige Unfreiheit hinzuzufügen. Die Zahl der Gegner Metternichs nahm buchstäblich von Tag zu Tag zu. Josef Freiherr von Hormayr, der Metternich seit dem Tag hasste, als der ihn wegen der Aktivitäten des »Alpenbunds« hatte verhaften lassen, bezeichnete Metternichs Vorgehen etwas gedrechselt als »chemischen Niederschlag oder Extrakt aus den geschichtlichen, lokalen und individuellen Prämissen der habsburgischen Dynastie.« Gustav von Usedom, ein ebenso scharfer Kritiker der Verhältnisse in Preußen wie in Österreich, meinte, das Metternich’sche Österreich könne seiner inneren Verfassung nach nicht am politischen, geistigen und wirtschaftlichen Aufbruch Europas teilnehmen und versuche daher, Europa Österreich anzupassen. Schließlich »schaffte es« Metternich sogar in Karl Marx’ Kommunistisches Manifest : »Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des Kommunismus. Alle Mächte des alten Europa haben sich gegen dieses Gespenst zu einer heiligen Hetzjagd verbündet, der Papst und der Czar, Metternich und Guizot, französische Radikale und deutsche Polizisten.«106 Unter allen -ismen, die man Metternich anlastete, fehlte sicherlich einer : Imperialismus. Metternich versuchte nicht einmal ansatzweise eine territoriale Ausweitung der Habsburgermonarchie außerhalb Europas. Er zeigte keinerlei Neigung zum Kolonialismus, obwohl sich dazu theoretisch insofern ein Instrument gefunden hätte, als Österreich seit der Angliederung Venedigs und der Übernahme der venezianischen Flotte über bescheidene Seestreitkräfte verfügte. Und dass Metternich auch bereit war, sie einzusetzen, zeigte sich anlässlich des Aufstands des Vizekönigs von Ägypten, Mehmed Ali, gegen den Sultan-Großherrn. Österreichische Marineeinheiten unter dem Kommando von Erzherzog Friedrich intervenierten 1840 im Rahmen einer alliierten Flottenoperation und konnten sich sogar die Einnahme Saidas (Sidon) zugutehalten.
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Doch das war zum einen eine Operation, die der ungeschmälerten Erhaltung des Osmanischen Reichs dienen sollte und erfolgte zudem im Rahmen einer britisch-russisch-türkischen Allianz. Auch ein weiterer -ismus kann Metternich nicht angelastet werden, nämlich Nationalismus. Und genau das war es auch, das sein Bild für lange Zeit in besonderer Weise beschädigt hat. Das war aber nicht nur im deutschsprachigen Raum so, in dem die Polemik sicherlich einige Höhepunkte erreichte und Metternich schließlich in der Zeit des Nationalsozialismus zur Unperson schlechthin werden ließ. Seine Ansicht, dass die Italiener nicht zur staatlichen Einheit geschaffen wären, diskreditierte ihn auch südlich der Alpen.107 Ebenso hatte er im anglo-amerikanischen Raum eine schlechte Presse und wurde fast durchgängig und bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg negativ gezeichnet. Diese negative Sicht wurde nicht zuletzt von Emigranten geprägt, und hier machte es offenbar keinen Unterschied, ob das Literaten wie Karl Postl (pseud. Charles Sealsfield), Sozialrevolutionäre wie Hans Kudlich oder sehr viel später der Ungar Oskar Jaszi waren. Letzterer attestierte Metternich kurz und bündig, ein System der Heuchelei und des blutigen Despotismus geschaffen zu haben. Bei den negativen Urteilen über Metternich standen meistens zwei Aspekte im Vordergrund : Man hat den Wirkungsgrad der von Metternich mitgeschaffenen und dann zäh verteidigten Ordnung nicht am Zeitraum seiner Wirksamkeit gemessen, sondern am Verfall ; und schließlich stand dem Urteil über die von Metternich vertretene Ordnung immer auch im Weg, dass er sozialen Wandel weder als wünschenswert noch als notwendig anzuerkennen bereit war. Dabei hob auch ein so konsequenter Kritiker des Staatskanzlers wie Leopold von Andrian-Werburg hervor, dass gerade in der Zeit nach dem Tod des Kaisers Franz, also am Höhepunkt des »Metternich’schen Systems«, vieles geschah, um Österreich nicht vollends von der europäischen Entwicklung abkoppeln zu lassen. Er hob die Reform des Postwesens, den Ausbau der Eisenbahnen, die Förderung der Industrie, Verkürzung der Militärdienstzeit, Entwicklung der technischen Lehranstalten, aber auch das Erwachen der öffentlichen Meinung und die steigende Bedeutung der Landstände hervor. Doch dem stellte Andrian-Werburg entgegen : Für die politische Entwicklung des Gesamtstaats, »für die Garantie unserer Zukunft, für die höchsten Interessen der Monarchie als eines Ganzen, ist Nichts, gar Nichts geschehen.« Und aus diesem Grund forderte er eine Systemänderung. Und das lief wohl nicht nur darauf hinaus, eine einzelne Person zu entmachten, wie es am Beginn der Revolution 1848 geschah. Flucht und Rückkehr Seit 1839, als Metternich schwer erkrankt war und man schon mit seinem Tod rechnete, mangelte seinem politischen Handeln zunehmend Energie. Auch das Beharren for-
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derte Energie. Doch er gestaltete nicht mehr, sondern hielt nur mehr zäh und verbissen an der bestehenden Ordnung fest. Oder wollte es zumindest. Veränderungen schienen ihm Experimente, die es zu verhindern galt. Die Verabschiedung einer Verfassung war ihm – egal ob in einem der deutschen Staaten oder in Österreich – ein Gräuel.108 Die publizistischen Angriffe auf ihn häuften sich. Die österreichischen Kritiker des Metternich’schen Systems fanden außerhalb der Habsburgermonarchie bereitwilligst Verleger. Und an deutschen Universitäten sang man ungeniert das Lied »O Metternich, o Metternich ! /Ich wollte, dass das Wetter dich /Tief in den Boden schlüge«.109 Am 13. März 1848 hörte man in Wien um die Mittagszeit den Ruf : »Nieder mit Metternich !« Die lang aufgestauten Proteste machten sich in wilden Demonstrationen und Verwüstungen Luft. Metternichs Palais und Garten am Wiener Rennweg wurden verheert. Die Rufe nach dem Rücktritt des Staatskanzlers wurden immer lauter, doch Metternich bestritt das Recht des Kaisers, ihn zu entlassen. Es dauerte neun Stunden, bis der Staatskanzler Kaiser Ferdinand seinen Rücktritt anbot und um seine Entlassung bat. Er soll aber auch in diesem Augenblick noch regelrecht stolz darauf gewesen sein, dass er nicht bereit war, Konzessionen zu machen. »Ich hätte die Konzessionen nicht vermeiden können, welche zu unserem Ruin führen müssen, und ich bin frei von der Schmach, sie zu unterschreiben.« Da Metternich nicht über genügend Bargeld verfügte, um seine Flucht zu finanzieren, ließ ihm Baron Salomon Rothschild eintausend Dukaten zukommen.110 Der Staatskanzler a. D., seine dritte Frau, Melanie, sowie ihre drei Söhne und eine Tochter hatten Schwierigkeit, in Österreich auch nur einen Ort zu finden, der sie aufnehmen wollte. Schließlich suchten sie Zuflucht in England, jenem England, das Metternich zwar seit seiner Jugendzeit kannte, das sich aber seit den dreißiger Jahren immer mehr zum konsequentesten Gegner von Metternichs konservativem Wertesystem entwickelt hatte. Doch es war das einzige Land in der näheren und weiteren Umgebung, das nicht von der Revolution gebeutelt wurde und das ihm etwas widerstrebend Aufenthaltsrecht gewährte. Metternich konnte die Höhepunkte und schließliche Niederwerfung der Revolution nur aus der Ferne verfolgen. Allerdings führte er eine umfangreiche Korrespondenz und nützte auch seine englischen Kontakte, um über alles bestens informiert zu sein, was in Österreich vorging. Schließlich kehrte er nach mehr als zwei Jahren im Exil 1851 nach Wien zurück. Kaiser Franz Joseph und vor allem dessen erster Ministerpräsiden, Fürst Felix Schwarzenberg, waren damit einverstanden. Metternich dürfte sich wohl Hoffnungen gemacht haben, dass sein Rat wieder gefragt sein würde. Tatsächlich wurde er nach dem plötzlichen Tod Schwarzenbergs 1852 immer wieder zu Franz Joseph gerufen und um seine vornehmlich wohl außenpolitischen Einschätzungen gefragt. Dazu hatte der alte Staatskanzler schon während des Krimkriegs und auch noch im Vorfeld des Kriegs in Italien 1859 Gelegenheit. Er führte auch eine reiche Korrespondenz mit dem Minister des Äußern, Graf Buol-Schauenstein, und äußerte
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sich zur Tagespolitik, kommentierte und gab seine Meinung zum Besten. Noch immer gefragt zu sein, mochte ihm wohl schmeicheln, konnte aber letztlich nichts bewirken. Innenpolitisch hatten sich der alte Fürst und der junge Monarch nichts zu sagen. Franz Joseph setzte vornehmlich auf andere Berater. Doch er zollte dem Staatskanzler von ehedem Respekt und leistete auch etwas Wiedergutmachung für 1848, als der Hof den wohl mächtigsten Mann Österreichs einfach hatte fallen lassen. Was dem alten Herrn während seiner letzten Lebensjahre ein vorrangiges Anliegen war, war das Ordnen seiner Papiere und die Schaffung eines literarischen Gebäudes, das vor allem eines bezweckte : Es sollte zeigen, mit welcher Konsequenz der Mann seinen Weg gegangen war. Er schrieb zum zweiten Mal seine Lebenserinnerungen. Einmal hatte er sie schon in den Jahren zwischen 1829 und 1844 zu Papier gebracht. 1852 tat er es nochmals, quellenbezogen, und noch mehr in dem Bestreben, sich zu rechtfertigen. Ähnlich ist sein politisches Testament abgefasst. Politische Irrtümer gestand er sich da wie dort nicht ein. Das mag man nun bewundern oder als Konstrukt ablehnen. Metternich war auf jeden Fall vielschichtiger als er sich selbst gezeichnet hat. Am 11. Juni 1859 starb Metternich in seinem Palais in Wien. »Unser alter Staatskanzler ist auch hinübergegangen«, schrieb der Dichter Friedrich Hebbel. »Mir kommt vor, als ob jetzt die Uhr von Europa zerschlagen wäre.«111 Die Nachrufe zogen Bilanz über sein Leben. Und am 15. Juni berichtete die »Wiener Zeitung« in ihrem Nichtamtlichen Teil über die offizielle Verabschiedung des Dahingegangenen. Die Einsegnung fand in der Wiener Karls-Kirche statt. »Der imposante Trauerzug bewegte sich von der Villa am Rennweg zu der Kirche durch ein zahlreich versammeltes Publikum, welches durch seine ernste, würdige Haltung Zeugnis gab, dass es einem großen Todten die letzte Ehre zu erweisen gekommen ist,« schrieb der Redakteur der »Wiener Zeitung«.112 Kaiser Franz Joseph konnte an den Exequien nicht teilnehmen, da er gerade den Oberbefehl über die k. k. Armee ausübte und nach der verlorenen Schlacht von Magenta den Rückzug seiner Armee in das Festungsviereck mitmachte. Doch sechs Erzherzöge waren gekommen, Fürsten, Generäle, Vertreter des diplomatischen Korps und massenhaft Prominenz. »Das Leben des Mannes, dessen sterbliche Überreste wir mit tiefer Bewegung gestern zu Grabe geleiten sahen, gehört der Weltgeschichte nicht der des Tages an.« Ihn zu würdigen sollte aber der »Geschichte« überlassen bleiben, schrieb man im offiziösen Blatt der Monarchie und entschlug sich damit dem Versuch einer eigenständigen Würdigung. Tatsächlich haben sich Historiker, Panegyriker und Pamphletisten seit bald 150 Jahren abgemüht, nicht nur Metternichs Biografie zu schreiben, sondern auch Erklärungen dafür zu finden weshalb sein »Charakterbild in der Geschichte« so schwankt. Doch das hat er letztlich mit vielen Großen und nicht zuletzt auch mit anderen Gestaltern der Geschicke Österreichs und Europas gemein.
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Der himmlische Karl (17. August 1887 Persenbeug – 1. April 1922 Funchal/Madeira)
Die Glocken des Petersdoms werden läuten. Papst Johannes Paul II. wird im Rahmen einer Messe die Erhebung von Vorbildern des katholischen Glaubens zu den Ehren der Altäre verkünden. Unter ihnen wird Karl I., Kaiser von Österreich, der letzte regierende Habsburger sein. Sein Porträt wird an der Fassade des Petersdoms enthüllt werden. Papst und Kardinäle werden ihn in die Messfeier einbeziehen. Die Gläubigen werden jubeln, doch nicht einmal die Angehörigen der Familie Habsburg-Lothringen werden ganz genau wissen, warum sich der Heilige Vater entschlossen hat, die Beatisation des Büßers Karl vorzunehmen. Dort beginnt eben das Mysterium, und den Gläubigen wird aufgetragen sein, es zur Kenntnis zu nehmen. Der Glauben wird das Wissen ersetzen müssen. Letztlich ist es aber eigentlich ein gewaltiges Stück Politik, dessen letzte Phase man erlebt. Und fast hat es den Anschein, als ob erst jetzt der Erste Weltkrieg zu Ende geht. Allerdings ist nicht Karl der erste Monarch dieses Kriegs, der zu Ehren der Altäre kommt. Vor ihm ist schon Zar Nikolaus II. von Russland 1981 von der russischen Orthodoxie für heilig erklärt worden. Freilich geht da die Orthodoxie insgesamt andere Wege als die katholische Kirche, in der erst der gegenwärtige Papst mehr als alle Päpste vor ihm Vorbilder des Glaubens bezeichnet. Innerhalb weniger Jahre hat es eine Verdoppelung gegeben. Doch auch im Kreis der Seligen unterscheidet sich Karl von Österreich, denn im Gegensatz zu Märtyrern des Glaubens jüngerer Zeit wie Maximilian Kolbe oder Schwester Theresia Benedicta vom Kreuz Edith Stein, die im KZ Auschwitz umgebracht worden sind, lief der Seligsprechungsprozess für den letzten Herrscher Österreichs schon viele Jahrzehnte. Angefangen hat es eigentlich schon 1895, als Karl Franz Joseph, Erzherzog von Österreich und Großneffe des schon betagten Kaisers Franz Joseph, gerade acht Jahre alt war. Die Eltern des Kleinen, Erzherzog Otto und Maria Josepha von Sachsen, lebten in Ödenburg, wo Otto stationiert war, als sie von Schwester Vinzentia erfuhren, die wegen ihrer prophetischen Gaben bekannt war. Die Schwester prophezeite, dass auf Karl große Aufgaben zukämen, und dass er jede Menge göttliche Hilfe benötigen würde. Das griff der Religionslehrer des Erzherzogs, Pater Norbert Geggerle, auf und sammelte Menschen um sich, die sich regelmäßig zu Gebetsstunden für den Erzherzog Karl zusammenfanden. Damit war auch schon eine Art Gebetsliga gegründet, die natürlich ihre Bemühungen in dem Augenblick verstärkte, als 1914 der österreichisch-ungarische Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand in Sarajevo ermordet und Karl sein Nachfolger wurde. Und Gebet hatte der »Erzkarl«, wie ihn seine Kommilitonen im Wiener Schottengymnasium respektlos genannt hatten, bitter nötig.
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Der Erzherzog- Thronfolger wurde an die Front geschickt, um den Krieg aus der Nähe zu erleben und selbst ein Kommando zu übernehmen. Das war gewiss lobenswert, doch dabei wurde vernachlässigt, dass dem Erzherzog ein Einblick in die Staatsgeschäfte mindestens ebenso Not getan hätte. Ganz offensichtlich sollte er aber von Wien ferngehalten werden. Doch auch an der Front, im k. u. k. Armeeoberkommando, war man mit ihm alles andere als glücklich. Der österreichisch-ungarische Generalstabschef, Franz Conrad von Hötzendorf, konnte mit dem Thronfolger nicht nur nichts anfangen ; er behandelte ihn regelrecht schäbig und argwöhnte wohl auch, dass der Erzherzog dem alten Kaiser Franz Joseph in Schönbrunn alles brühwarm erzählte, was er so an der Front erlebte. Und da das k. u. k. Armeeoberkommando in der ersten Phase des Kriegs durchaus Tendenzen zu einer Militärdiktatur entwickelte, konnte Karl nur störend sein, denn er machte da nicht mit. Dementsprechend fiel dann das Urteil Conrads in seinen Memoiren aus, und er konzedierte seinem späteren Kaiser letztlich nur, dass er »ein mäßiger Esser und Trinker« gewesen war. Damit begegnete Conrad wenigstens einem Gerücht, das besagte, der junge Herr würde ein veritabler Säufer sein. Sonst fand der Generalstabschef an ihm nichts Positives. Karl war schließlich Heeresgruppenkommandant – im Übrigen mit einem ihm vom deutschen Bundesgenossen zur Verfügung gestellten Generalstabschef, nämlich Hans von Seeckt – als der alte Kaiser starb. Und am 21. November 1916 war dann Karl I. Kaiser von Österreich, König von Ungarn (dort mit der Nummer IV), König von Böhmen, Dalmatien, Kroatien, Galizien etc. etc., König von Jerusalem, Herzog von Auschwitz, gefürsteter Graf von Habsburg, Großwojwode von Serbien usw. Er erbte den Krieg zu einer Zeit, da sich Erfolge und Niederlagen der Mittelmächte, Deutschland und Österreich-Ungarn, die Waage hielten. Kurz darauf brach in Russland die Revolution aus und der Siegfrieden, von dem man in Berlin und Wien, aber ebenso in Istanbul und Sofia geträumt hatte, schien zum Greifen nahe. Die Deutsche Oberste Heeresleitung forderte letzte Anstrengungen. Der uneingeschränkte U-Bootkrieg strebte seinem Höhepunkt zu. Das Hindenburgprogramm zur Steigerung der Rüstungsproduktion lief an. Und Österreich machte mit. Es musste mitmachen, denn seit dem September 1916 gab es die Gemeinsame Oberste Kriegsleitung, für die vereinbart worden war, dass sich die Monarchen der beiden Reiche über die entscheidenden Fragen der Kriegführung verständigen sollten. Für den Fall, dass es keine Einigung gab, galt die Willensmeinung des Deutschen Kaisers. Kaiser Karl hatte eigentlich keinen Spielraum. Er führte eine Scheinsouveränität und versuchte vergeblich, die Vereinbarung über die Gemeinsame Oberste Kriegsleitung abzuändern. Er scheiterte. Schließlich versuchte er sie zu unterlaufen und begann geheime Friedensverhandlungen. Ein Jahr später, und abermals unter völlig geänderten Verhältnissen, wurden von Frankreich jene Briefe publik gemacht, die Karl an seinen in der belgischen Armee dienenden Schwager Sixtus von Bourbon-Parma gerichtet und in denen er seine Friedensbereitschaft – nicht zuletzt auf deutsche Kosten – bekundet
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hatte. Die Sixtus-Affäre war da. Karl versuchte sich herauszureden. Er log, war nahe daran zu resignieren und eine zeitweilige Regentschaft eines Onkels, des Erzherzogs Eugen zu akzeptieren, doch die Kaiserin Zita war entschlossen zu kämpfen. Und sie stärkte Karl den Rücken. Er entließ den Minister des Äußern und des kaiserlichen Hauses, Ottokar Graf Czernin, der ihn und den er desavouiert hatte. Schließlich brach Karl nach Spa zur »Berichterstattung« an Kaiser Wilhelm II. auf. Das Treffen wurde nicht von ungefähr als Canossagang des Habsburgers gesehen. Der Vetter Wilhelm verzieh. Doch der »Austerungar«, wie der preußische Kriegsminister Baron Wild von Hohenborn wenig liebenswürdig den Bundesgenossen nannte, musste einer neuerlichen und noch weitergehenden Vereinbarung zustimmen : Aus der Gemeinsamen wurde nunmehr die Oberste Kriegsleitung. Das Wort gemeinsam war gestrichen. Und jetzt hatten eigentlich nur mehr der deutsche Kaiser und die Deutsche Oberste Heeresleitung das Sagen. Bis schließlich beide Reiche, das Deutsche und Österreich-Ungarn zugrunde gingen. Karl bat um Waffenstillstand und begann Ende Oktober 1918 trotz der geharnischten deutschen Proteste die Verhandlungen, die am 3. November in eine Art bedingungsloser Kapitulation mündeten. Als der Kaiser vom Führer der österreichischen Sozialdemokraten verlangte, dass die österreichischen Parteien dem Abschluss des Waffenstillstands zustimmten, sagte ihm Viktor Adler : »Jene Faktoren, die den Krieg begonnen haben, sollen ihn auch beenden.« Der Kaiser war zum Faktor geworden und konnte nur schwächlich replizieren, dass es auch nicht er selbst gewesen sei, der den Krieg begonnen hatte. Damit der Waffenstillstand aber zumindest nicht im Namen des Kaisers und in dessen Eigenschaft als Oberster Befehlshaber abgeschlossen wurde, wollte Karl den Oberbefehl rasch abgeben. Aber er fand niemanden, der den Befehl übernehmen wollte. Also verständigte der Kaiser den in Serbien zunächst unerreichbaren österreichischen Feldmarschall Baron Kövess, dass er geruht habe, ihn zum Armeeoberkommandanten zu ernennen. Das Schreiben wurde dann noch ein wenig vordatiert, damit nur ja niemand auf die Idee kommen konnte, Kaiser Karl selbst wäre es gewesen, der kapituliert hatte. Am Tag nach Abschluss des Waffenstillstands ließ der Kaiser im Wiener Stephansdom Te Deum feiern. Es war sein Namenstag. Und er antwortete damals wie auch zu Silvester 1918 auf die Frage, ob er wirklich glaube, eine große Messe feiern und Gott danken zu sollen, indem er meinte, es hätte ja noch schlimmer kommen können. Eine Woche später resignierte er und unterschrieb eine Erklärung, wonach er keinen Anteil an den Regierungsgeschäften in Österreich mehr nehmen wolle. Wieder vier Monate später, im März 1919, verließ Karl unter britischem Geleit Österreich. Bevor er die Landesgrenze passierte, widerrief er seine Verzichtserklärung vom 11. November. Daraufhin ließ ihm der österreichische Staatskanzler, Karl Renner, ausrichten, dass der Ex-Kaiser künftig außerhalb des österreichischen Verfassungsbogens stünde. Mehr noch : Der österreichische Nationalrat verabschiedete ein
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Gesetz, wonach die Familie Habsburg-Lothringen aller Vorrechte verlustig gehe und ihr Vermögen zugunsten der Versorgung der Kriegsopfer, Witwen und Waisen verfallen wäre. Gleich in einem wurden auch sämtliche Adelstitel abgeschafft. Aus einem Erzherzog wurde ein Herr Habsburg. Karl ging mit seiner Familie in die Schweiz. Von dort aus unternahm er zweimal den Versuch, wenigstens in Ungarn wieder an die Macht zu kommen. Vergeblich. Doch angeblich tat er es überhaupt nur, weil man an sein katholisches Gewissen appelliert hatte, schrieb dann einer seiner Apologeten. Nun wanderte der Ex-Kaiser und Ex-König endgültig ins Exil und fand es auf Madeira. Dort hatte er weder die Möglichkeit noch die Kraft mehr, einen weiteren Restaurationsversuch zu unternehmen. Man musste ihn auch nicht bewachen und behielt ihn lediglich im Auge. Auch das nur wenige Monate, denn am 1. April 1922 starb Karl an einer Lungenentzündung und letztlich infolge ärztlicher Unterversorgung. In der hagiographischen Überzeichnung späterer Jahre liest sich sein Tod wie folgt : »Als der Diener Gottes als Gefangener auf Madeira nichts mehr für seine Völker tun konnte, als er, beraubt aller Mittel, seinen Völkern nicht mehr helfen konnte, als ihm nur mehr sein Leben noch belassen war, brachte er in heroischer Selbstlosigkeit dieses Leben Gott freiwillig zum Opfer dar, damit seine Völker den Glauben bewahren und in Frieden zusammenfinden mögen.« Mag sein, dass die hinter diesem Satz stehenden Empfindungen im Verfahren zur Seligsprechung Karls eine gewisse Rolle gespielt haben, denn erst ein aus dem ehemals österreichischen Polen stammender Papst ließ das Verfahren in einem Augenblick zu Ende bringen, als die meisten Länder der ehemaligen Habsburgermonarchie Teil der Europäischen Union wurden. Anlässlich des Todes von Karl I. wurde noch einmal erregt über den letzten Monarchen der Habsburgermonarchie debattiert, doch die Stimmen, die ihm die Schuld am Ausgang des Kriegs und am Zerfall Österreich-Ungarns gaben, die ihn für alles Elend, die Toten, die Krüppel und die materielle Not der Nachkriegszeit verantwortlich machten, überwogen bei weitem. Für seine Anhänger und vor allem jene, die sich schon 1895 und in den Folgejahren im Gebet für ihn zusammengefunden haben, galten aber andere Kriterien. Sie verehrten den Dahingegangenen und konstituierten sich schließlich 1925 als »Fromme Vereinigung« mit dem Namen »Kaiser Karl Gebetsliga für den Völkerfrieden«, die nach und nach Tausende Mitglieder in aller Welt haben sollte. Ihr Ziel war klar : Es sollte das gottgefällige Leben des »Dieners Karl« aufgezeigt und zum frühestmöglichen Zeitpunkt seine Seligsprechung eingeleitet werden. Nach dem Zweiten Weltkrieg vermehrte die Gebetsliga ihre Bemühungen und wurde darin selbstverständlich von der in der Schweiz lebenden Kaiserin Zita tatkräftigst unterstützt. Jetzt, nach dem zweiten großen Krieg, ließen sich nicht nur die Argumente aufzählen, mit denen die Vorzüge des Dieners Karl hervorgehoben werden sollten, sondern auch Vergleiche mit dem Nationalsozialismus und dem Zweiten Welt-
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krieg anstellen, die allesamt zugunsten Karls ausfallen mussten. Da wurde ins Treffen geführt, dass er schon im ersten Manifest seiner Regierung 1916 verkündet hatte : »Ich will alles tun, um die Opfer und Schrecknisse des Krieges in ehester Frist zu bannen, und die schwer vermissten Segnungen des Friedens meinen Völkern zurückzugewinnen.« Es wurde hervorgehoben, dass er die in der k. u. k. Armee bis 1917 geübte Form der Körperstrafen, nämlich das Anbinden und das Prügeln verboten hatte. (Unerwähnt blieb, dass das Verbot nur einige Monate befolgt und dann wieder angebunden und geprügelt wurde). Für Desertion wurde kaum einmal mehr die Todesstrafe verhängt. Karl bestimmte, dass Familienväter, die schon mehrere Söhne im Krieg verloren hatten, aus der Front zu nehmen seien, und dass die ältesten Jahrgänge sofort zu entlassen waren. Und er erließ eine weitgehende Amnestie, die vor allem für politische Delikte galt. Wie schon viele vor ihm erließ er ein Duellverbot und griff mit dem Verbot, offene Städte zu bombardieren, in die Kriegführung ein. Keinen Einfluss nahm er auf den Gaskrieg, der auch an den österreichisch-ungarischen Fronten schon vor seinem Regierungsantritt begonnen worden war und als »normal« galt. Und sicherlich freute er sich über den gewaltigen Sieg deutscher und österreichisch-ungarischer Truppen in der 12. Isonzoschlacht 1917, der nicht zuletzt durch den deutschen Giftgaseinsatz errungen wurde. Die Beispiele von Karls Verhalten im Krieg wurden aber nicht daran gemessen, welche tatsächliche Wirkung sie gehabt hatten und wie fragwürdig manche Maßnahme letztlich auch gewesen ist, sondern daran, wie grauenhaft der Zweite Weltkrieg war und welch dramatische Unterschiede dabei im Vergleich zum Ersten Weltkrieg zutage getreten sind. Nicht zuletzt ließ sich auch zugunsten Karls anführen, dass er gegen den Plan der Deutschen Obersten Heeresleitung gewesen war, Lenin, Trotzki, den Österreicher Karl Radek und andere Kommunisten aus der Schweiz nach Russland zu transportieren, woran sich dann wieder Spekulationen knüpfen ließen, was wohl gewesen wäre, wenn … 1949 leitete der Erzbischof von Wien, Kardinal Theodor Innitzer, das Verfahren zur Seligsprechung ein. Dabei war das seit 1917 geltende Gesetz des Codex juris canonici zu beachten, das die Seligsprechungsverfahren reglementierte. Seit damals war es Aufgabe der Bischöfe, in den jeweiligen Fällen alle verfügbaren schriftlichen Zeugnisse, Dokumente und Urkunden der Sammlung und Prüfung zuzuführen. Im bischöflichen Informativprozess mussten auch alle erreichbaren Zeugen gesucht und nach den christlichen Tugenden des »Dieners Gottes« befragt werden. Gab es Gebetserhörungen, die auf seine Fürsprache zurückgingen ? Gab es einen Kulterweis ? Was sprach für und was sprach gegen einen »Kandidaten« ? Erst wenn dieser Vorgang abgewickelt war und frühestens 50 Jahre nach dem Tod eines Verehrungswürdigen konnte der apostolische Prozess in der römischen Kongregation eröffnet werden. Also arbeitete sich zunächst die Erzdiözese Wien in die Materie ein. Fachleute, vor allem Zeithistoriker und Ar-
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chivare, wühlten sich durch die Akten und das Schrifttum. Die Kaiser Karl Gebetsliga betete noch eifriger und suchte noch breitere Unterstützung zu erlangen. Ab 1953 gab sie Jahrbücher heraus, in denen nicht nur die Fortschritte des Verfahrens dargestellt, sondern vor allem auch alle Einwände zu widerlegen gesucht wurden. Die Erzdiözese Wien arbeitete mit den Diözesen Fribourg, Funchal, Le Mans, Paris, Luxemburg und New York zusammen. Sie erließ Aufrufe, auf die hin sich 654 Zeugen meldeten. Am 50. Todestag des Kaisers, 1972, wurde sein Sarg in der Kirche Nossa Senhora do Monte bei Funchal geöffnet, um die ebenfalls im Verfahren vorgeschriebene »Cognitio« vozunehmen. Ärzte, Archäologen und Notare, zwei Söhne des Kaisers, Otto und Rudolf, sowie zwei Vertreter der Gebetsliga standen als Zeugen um den Sarg. Der mumifizierte Körper war mit einer Uniform des 17. Krainerischen Infanterieregiments bekleidet, offenbar die einzige Uniform, die Karl nach Madeira mitgenommen hatte. Es wurde protokollarisch festgehalten, dass der Körper unversehrt war. Das hatte zu geschehen, damit nicht irgendwann einmal mit den Gebeinen Karls ein mehr oder weniger schwunghafter Reliquienhandel begonnen werden konnte. Dann wurde der Körper in einen Bleisarg umgebettet, der verlötet und mit dem Siegel des Bischofs von Funchal versehen wurde. Der Bleisarg kam in einen Holzsarg und der wieder in den alten Metallsarg. Damit war auch dieser Vorgang beendet. Wieder stockte die Sache. Zu denen, die schon bisher über Karl geforscht und geschrieben hatten, kam 1987 eine eigene internationale Historikerkommission. Es war das die Zeit der Historikerkommissionen in Österreich, denn parallel dazu arbeitete jenes Gremium, das über die Kriegsvergangenheit eines weit späteren österreichischen Staatsoberhaupts, Kurt Waldheim, befinden sollte. 1988 waren beide Kommissionen mit ihrer Arbeit fertig. Während aber für Kurt Waldheim besonders schwere Zeiten anbrachen, erklärte der Erzbischof von Wien, Kardinal König, den Informativprozess für gültig und abgeschlossen. Eines war aber immer noch ausständig : Ein Wunder. Doch – o Wunder – es hatte schon Ende 1960 stattgefunden, und zwar in Brasilien. Dort hatte die Schwester Maria Zita Gradowska von der Gesellschaft der Töchter der Liebe des Heiligen Vincenz von Paul eine extramedizinale Heilung erfahren. Sie hatte an beiden Beinen Krampfadern und Geschwüre und konnte nach jahrelangem Leiden nicht mehr das Bett verlassen. Eine Mitschwester riet ihr, den Diener Gottes, Karl, um Fürsprache anzuflehen. Schwester Maria Zita war skeptisch : Wenn ihr alle polnischen Heiligen nicht hatten helfen können, wie sollte das ein nicht einmal heiliger Kaiser Karl tun ? Doch am nächsten Tag erwachte sie schmerzfrei, die Geschwüre waren abgeheilt, die Krusten fielen nach kurzer Zeit ab. Es gab dafür keine medizinische Erklärung. Der Vatikan forderte die Kranken- und Heilungsgeschichte an und prüfte sie, ebenso wie alles, was der Informativprozess zutage gefördert hatte. Jahrelang wurde geprüft. Vielleicht wartete man auf ein weiteres Wunder, oder die Sache sollte einfach etwas abliegen. Für den Vatikan gelten eben andere Zeitbegriffe als für den durchschnittlichen Erdenbürger.
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Erst am 20. Dezember 2003 wurde die Heilung der Schwester Maria Zita als Wunder anerkannt. Und erst jetzt stand der Seligsprechung nichts mehr im Weg. Die Mitglieder der Gebetsliga waren schon längst unruhig geworden. Doch man hatte vorgesorgt. Als 1989 Kaiserin Zita 97jährig in der Schweiz starb, nach Wien überführt und vom republikanischen Österreich mit einem durchaus imperialen Begräbnis geehrt wurde, richteten die Kapuziner in der Kaisergruft nicht nur den Platz her, an den der Sarg der Kaiserin gestellt werden sollte, sondern ließen gleich auch Platz für Karl. Selig oder nicht : Er sollte nach Wien überführt werden. Doch es tat sich weiterhin nichts, und aus dem Vatikan war kein Zeichen zu bekommen. Es wurde gerätselt. Bei zwei Papstbesuchen in Österreich, vor allem beim letzten, 1998, war erwartet worden, Johannes Paul II. würde die Seligsprechung ankündigen. Er hat es nicht getan. Jetzt begann sich das Gerücht der Sache zu bemächtigen. Es gäbe Widerstände. Die Ortskirche, also das Erzbistum Wien wurde genannt, ebenso aber der tschechische Episkopat. Sollten da noch immer die alten Ressentiments gelten, Karl habe sich nicht auch in Prag krönen lassen, sondern nur in Budapest ? Und überhaupt : Die Habsburger waren mit Masse seit dem 17. Jahrhundert keine besonderen Freunde der Tschechen gewesen. Karl hatte da keine Ausnahme gemacht. Warum zögerte man aber in Wien ? Da war wohl etwas anderes im Spiel, denn die Ankündigung, der letzte Kaiser würde seliggesprochen werden, stieß auch bei überzeugten Katholiken auf Unglauben und Ablehnung. Erst recht bei den religiös Indifferenten. Der neue Wiener Erzbischof, Kardinal Hans Hermann Groer, hatte sich sehr wohl für die Seligsprechung eingesetzt, ebenso der St. Pöltener Bischof Kurt Krenn. Beide wurden aber wegen ihrer erzkonservativen Haltung von vielen Katholiken abgelehnt. Nach Groers Abgang erlahmte die Unterstützung tatsächlich und wurde erst unmittelbar vor der feierlichen Anerkennung von Karls Wunder wieder deutlich. Denn schließlich ist eine Seligsprechung etwas, das in erster Linie die Ortskirche angeht. Als Ortskirche des letzten österreichischungarischen Herrschers gilt aber Wien, was erstaunlich ist, denn es könnte genauso gut Krakau, Laibach oder ein anderes katholisches Bistum auf dem Territorium der ehemaligen Habsburgermonarchie sein. Doch Wien ist sicherlich prädestinierter dafür, dass man den – wie er dann genannt wurde – »seligen Herrn Karl« verehrt, als eine andere Stadt. Und außerdem geht man solcherart zusätzlichen Problemen aus dem Weg. Es gibt deren sicherlich noch jede Menge, und vor allem eines : Wo wird der Sarg Karls aufgestellt ? Seine Überführung nach Wien ist vorbereitet und man wartet bereits seit 15 Jahren darauf. Aber in Funchal ist man nicht bereit, den Sarg herzugeben, erst recht nicht, wenn Karl dann selig gesprochen ist. Es wird mit Reliquienverehrung und Glaubensfragen argumentiert. Und selbstverständlich wird jede Vermutung, es könnte sich um eine sehr irdische materielle Überlegung handeln, wonach der selige Diener Gottes Karl vermehrt Touristen nach Funchal bringen könnte, entrüstet zurückgewiesen. Wie kann man denn auch nur auf eine solche Idee kommen ? Man spricht von
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Aufteilung, Portugal und Österreich sollen also gewissermaßen Halbe Halbe machen. Es sind aber auch jene nicht verstummt, die noch auf ein weiteres Wunder warten. Nicht ein solches, das auf Grund eines Gebets zum seligen Kaiser Karl eintritt, sondern ein ganz anderes : Dass doch noch ein Wunder passiert und Karl nicht selig gesprochen wird. Die das glauben, werden aber mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit enttäuscht werden. Am 3. Oktober ist es so weit. Doch gemach : Auch für die Kaiserin Zita ist schon der Informativprozess in Gang gesetzt worden. Und vielleicht lässt sich da nochmals rätseln, ob für die Seligen nur mehr die himmlischen oder doch auch noch die irdischen Maßstäbe gelten sollen. 24 Kerzen im Fenster : Josif Vissarionovič Džugašvili, gen. Stalin (18. Dezember 1878 Gori – 5. März 1953 Kunzewo/Moskau)
War es Speichelleckerei, Berechnung oder Ahnungslosigkeit, die den Kanzler der Provisorischen österreichischen Staatsregierung, Karl Renner, am 9. Mai 1945 einen Brief an Josef Stalin mit dem handgeschriebenen Nachsatz enden ließ : »Und bieten Ihnen, Herr Marschall, persönlich sowie dem russischen Volke aufrichtige Glückwünsche zur siegreichen Beendigung des Krieges. Die Glorie Ihres Namens ist unsterblich« ! Genau fünfundvierzig Jahre später, 1990, als schon längst keiner der seinerzeitigen Akteure mehr lebte, war keine Rede mehr von unsterblicher Glorie. Die Sowjetbürger waren aufgerufen, 24 Kerzen in ihre Fenster zu stellen, je eine für eine Million Menschen, die entweder im Krieg ihr Leben verloren hatten oder aber auf Geheiß Josef Stalins Opfer der von ihm geübten Diktatur geworden waren. Man war ans Zusammenzählen gegangen und hatte die massenhaft umgebrachten Gegner der kommunistischen Zwangsherrschaft, die systematisch dem Hungertod preisgegebenen Bauern, die während der sogenannten großen Säuberung Ermordeten, die in Arbeitslagern Verreckten und die Toten des Großen Vaterländischen Kriegs von 1941 bis 1945 in einer ungefähren Zahl auszudrücken versucht. Für Stalin wäre ein derartiges Vorhaben wohl nicht einmal eine wegwerfende Handbewegung wert gewesen. Hundert Tote, so hatte er einmal gemeint, wären ein Unglück, Tausend eine Katastrophe, Zehntausend – bloße Statistik. Er selbst hatte sich damit begnügen wollen, von 5,5 Millionen sowjetischen Opfern von Krieg und nationalsozialistischem Besatzungsregime zu sprechen. Mehr, so wurde nach Stalins Tod im Jahr 1953 gemutmaßt, hätte er deshalb nicht eingestehen wollen, weil seine Opferkategorien andere waren und er den Menschen der Sowjetunion die Größe der eigenen Verluste nie bewusst machen wollte. Sie hätten womöglich an der Ruhmwürdigkeit des Generalsekretärs der Kommunistischen Partei der Sowjetunion und Generalissimus zu zweifeln begonnen.
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Doch kaum war er tot, fing auch schon die Abrechnung an. Und ein System begann sich zu rechtfertigen, das ganz zufrieden war, einen Sündenbock gefunden zu haben, um die Verbrechen jahrzehntelangen Terrors zu personalisieren. Wie für Deutschland und seine ehemaligen Verbündeten dann Adolf Hitler alles zu erklären schien, das zu Massenmord und Katastrophe geführt hatte, meinte man, mit Stalin jemanden benennen zu können, der an allem schuld war. Es wurde allerdings auch zu fragen begonnen : War er überhaupt Russe ? Hatte ihn Lenin nicht zuletzt noch verstoßen ? War er nicht seinerseits »Opfer« geworden, weil untergeordnete Organe ohne sein Wissen und gegen seinen Willen gehandelt hatten ? War er nicht als tragischer Fall väterlicher Misshandlungen im Kindesalter zu sehen ? – Nur eines wurde nicht in Zweifel gezogen, dass er sich nämlich in eine von Grausamkeiten strotzende russische Geschichte und noch viel mehr in jene des sowjetischen Kommunismus einfügte. Oder waren auch da Zweifel angebracht ? Verurteilung und Rechtfertigung gingen Hand in Hand. Bis heute. Für seine Tochter Swetlana war er der gütige Vater ; für nicht wenige Georgier der größte Sohn der Heimat ; für die Angehörigen der Opfer schlichtweg ein Mörder ; für Roosevelt und andere »Westler« ein achtbarer Verbündeter ; für Hitler ein Spiegelbild, das er am liebsten zerbrochen hätte ; für seine Nachfolger, die ihn an Grausamkeit ohnedies nicht übertreffen konnten, ein Negativbezug, um sich selbst besser darstellen zu können ; für manche Kriegsveteranen und Nostalgiker der Sowjetunion gleichzeitig »Väterchen« und Inbegriff von furchtgebietender Macht. Und natürlich hatte er von alledem etwas an sich, der am 21. Dezember 1879 geborene Josif Vissarionovič Džugašvili. Sein Vater war ein armer georgischer Bauer, der dann Schuster wurde, sich versoff, seine Frau Jekaterina und den einzigen überlebenden Sohn verkommen ließ, prügelte und schließlich verließ. Josif, von der Mutter liebevoll »Sosso« genannt, wäre mit fünf Jahren fast an den Pocken gestorben, doch er überlebte Krankheit und Vater. Die Mutter brachte ihn in einer griechisch-orthodoxen Grundschule in Gori unter und später noch in einem Priesterseminar in Tiflis, ehe sie an Tbc starb. Mit zwanzig floh Josif Džugašvili aus dem Priesterseminar, zeigte bürgerliche Ansätze, als er 1902 Jekaterina Swanidse heiratete, zum ersten Mal Vater wurde, seine Familie aber im Stich lassen musste, da er nach Ostsibirien deportiert wurde. Er hatte sich zwar nicht entschlossen, Politiker, wohl aber Berufsrevolutionär zu werden. Ebenso oft wie er verbannt wurde, floh er, wurde Bolschewik, nannte sich dann Stalin, der »Stählerne«, und traf mit Lenin zusammen. Ab 1917 half Stalin den Bolschewiki den Terror zu organisieren, während Trotzki die Armee formierte, und er hatte einen schier untrüglichen Instinkt, wie man sich an die Macht brachte. Zunächst Sekretär, ab 1922 Generalsekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, konnte Stalin seinen Einfluss Schritt für Schritt ausbauen. Dass ihn Lenin zuletzt von seiner Nachfolge ausschließen wollte, ignorierte er. Trotzki nannte er ein
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falsches Datum des Leninbegräbnisses, so dass der Konkurrent um die Macht diesen wichtigen Termin versäumte. Und von da an und immer unter Berufung auf Lenin sicherte Stalin nicht nur seine Herrschaft ab, sondern begann auch mit Hilfe einiger handverlesener Kreaturen alle zu vernichten, die ihm hinderlich schienen. Weggefährten und Menschen, die manchmal idealistisch, manchmal ähnlich brutal wie Stalin ihren Weg gemacht hatten, wurden plötzlich zu »Ungeheuern«. Bucharin, Sinovjev, Kamenev, Trotzki, Tuchačevskij mussten sterben. Doch sie waren nur Exponenten. Sickerte von den Gräueln etwas durch, dann wurde das als Propagandalüge bezeichnet. Sowjetische oder auch (alte) russische Staatsbürger im Ausland, die sich weigerten zurückzukehren, galten als vogelfrei. Floh jemand umgekehrt aus Überzeugung in den Arbeiter- und Bauernstaat, wie der Chef der ungarischen Räterepublik, Béla Kun, oder suchte er ihn in der irrtümlichen Hoffnung auf, hier Zuflucht und Heimat zu finden, dann konnte es ihm so ergehen wie den österreichischen Sozialdemokraten und Kommunisten, die nach dem Februar 1934 in die Sowjetunion geflohen waren und wenig später – mit welcher Begründung auch immer – umgebracht wurden. In der Sowjetunion folgte eine Terrorwelle der anderen. Menschewiki und Sozialrevolutionäre, die alten Eliten, die Intelligenzija, Geistliche, Bauern, Altbolschewiken, Rechtsabweichler, Linksabweichler, schließlich die Armeeführung – alle kamen dran. Die Geschöpfe, die den Terror organisierten, übernahm Stalin zunächst von Lenin, so den Chef der Geheimpolizei GPU, Felix Dserschinski (dessen Denkmäler noch immer in St. Petersburg und Stalingrad/Wolgograd stehen). Die Nachfolger des »eisernen Felix«, vor allem Lavrentij Berija, suchte sich Stalin selbst aus und orientierte sich wohl nur an deren willfähriger und skrupelloser Effektivität. Sie organisierten Innenministerium, Polizei und Geheimpolizei, bauten den Überwachungsstaat aus, gefielen sich in Statistiken, in denen scheinbar feinsäuberlich Opferkategorien und Opfer verzeichnet waren, und fachten immer dann, wenn es Stalin angebracht schien, den Terror mit dem Hinweis auf noch immer nicht erlahmenden Widerstand neu an. Einmischung von außen hatte man sich verbeten. Nicht einmal Hilfe sollte angenommen werden, um beispielsweise die Hungerkatastrophe der zwanziger Jahre und die zweite Hungersnot Anfang der dreißiger Jahre zu lindern. Denn es ging ja um die Bestrafung der Bauern, die sich nicht ihr Letztes nehmen lassen wollten, aber auch gar nicht in der Lage gewesen waren, die exorbitanten Steuer- und Abgabenforderungen zu erfüllen. Um die Einheit von Partei, Staat und Völkern der Sowjetunion herzustellen, schien jedes Mittel recht. Die Kollektivierung der Landwirtschaft forderte 9,5 Millionen Tote. Ein Drittel von ihnen war erschossen, unzählige gefoltert worden oder sie kamen auf langen Todesmärschen um. Rund sechs Millionen verhungerten. Um der »absolut wahren« Idee des Kommunismus zum Sieg zu verhelfen, wurden Opfer verlangt. Also suchte man weiterhin Klassenfeinde aus. Und wieder gingen diese in die Hunderttausenden und Millionen. Das Schicksal des Einzelnen war belanglos, das der Vielen die
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schon erwähnte bloße Statistik. Die Große Tschistka (Säuberung), die 1939 endete, forderte wieder eine Million Tote. (Andere meinen »nur« 700.000). Fünf Millionen wurden verhaftet. Dabei berief sich Stalin immer wieder auf Lenin, dessen legitimer Erbe und Vollender er sein wollte. 1939 war Stalin sechzig Jahre alt. Es erschien seine siebente offizielle Biographie mit einer Auflage von 18 Millionen Exemplaren und von Stalin selbst redigiert, wo es unter anderem hieß : »Das Banner Lenins, das Banner der Partei wurde von Stalin, dem hervorragenden Schüler Lenins, dem besten Sohn der bolschewistischen Partei, dem würdigen Nachfolger und großen Fortsetzer der Werke Lenins, hoch erhoben und vorwärts getragen.« Doch Stalin feilte nicht nur an seiner (Auto-)Biografie. Vielmehr erschienen nach und nach dicke Wälzer, die seine Werke enthielten. Dazu gehörte nicht nur seine Erstlingsarbeit über »Die nationale Frage und die Sozialdemokratie«, zu der er 1912 auf einer Reise nach Krakau und Wien angeregt worden war, sondern auch Aufsätze über Leninismus, Revolution, Konterrevolution, Sozialismus, Imperialismus, Diktatur des Proletariats, Strategie und Taktik des Klassenkampfs, Freund, Feind, immer schön schwarz-weiß, so dass man wusste, wo die Schurken waren. Er schrieb manchmal einen regelrechten Telegrammstil, vereinfachte die kompliziertesten Fragen und passte sie an seine eigene schematische und duale Sichtweise an. Und dass dabei dem Nationalsozialismus und anderen faschistischen Bewegungen eine besondere Bedeutung zukam, lag wohl auf der Hand. Und das, obwohl sie immer wieder ähnlich gelagerte Interessen vertraten und in der Machtpolitik mit Stalins Sowjetunion durchaus konkurrieren konnten. Dann, am 23. August 1939, schien das alles nicht mehr zu gelten. Die Sowjetunion und das Deutsche Reich schlossen einen Freundschafts- und Grenzvertrag auf Kosten Polens, das acht Tage später von der Deutschen Wehrmacht angegriffen wurde. Der Krieg, der dann zum Zweiten Weltkrieg wurde, nahm seinen Anfang. Nach der Niederwerfung Polens teilten sich Deutsche und Sowjets Polen, und jeder führte seine Gefangenen nach Hause, siedelte um und verübte Massenmorde. Was in Katyn und anderswo geschah, wo über 25.000 Polen auf Stalins Befehl umgebracht wurden, sollte allerdings für die Russen auch lange nach Stalin ein Geheimnis bleiben. Die Sowjetunion nützte den Krieg, um mit deutscher Duldung die baltischen Staaten zu annektieren und dann gegen Finnland Krieg um Karelien zu führen. Doch Hitler und Stalin waren sich wohl nur zu sehr bewusst, dass sie ihre Völker gegeneinander hetzen mussten. Bis jüngst wurden dabei immer wieder Spekulationen angestellt, dass die Sowjets knapp daran gewesen seien, den Angriff auf Deutschland zu beginnen, und dass man ihnen deutscherseits am 22. Juni 1941 mit dem »Unternehmen Barbarossa« gerade noch zuvorgekommen wäre. Richtig ist daran wohl nur, dass Stalin durch seine Spione gewarnt war und sich der Illusion hingab, einen deutschen Angriff grenznah auffangen und dann eine Gegenoffensive mit dem Ziel Berlin beginnen zu können.
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Doch die Rote Armee schlitterte in die Katastrophe, Armeen wurden eingekesselt, und die deutschen Erfolgsmeldungen, in denen jeweils von Hunderttausenden Kriegsgefangenen und Vorstößen bis Leningrad, Moskau und schließlich Stalingrad die Rede war, schienen auf die nahe Auflösung der Sowjetunion hinzuweisen. Vielleicht hat dazu auch wirklich nicht viel gefehlt. Doch die nationalsozialistische Führung Deutschlands wollte keine Gegenrevolution in Russland, war nicht an einem russischen Volk interessiert, das dem stalinistischen Terror entkommen wollte, sondern überbot das alles noch. Daher konnte Stalin zum »Väterchen« mutieren, den »Großen Vaterländischen Krieg« proklamieren und jegliches Opfer verlangen. Es schien ihn auch nicht zu interessieren, dass sein eigener Sohn in deutsche Kriegsgefangenschaft geriet und umkam. Denn man ergab sich dem Feind nicht. Alles schien gerechtfertigt zu sein, was nur im Entferntesten mit der Abwehr der deutschen Aggression zu tun hatte. Und das auch im Nachhinein. Denn wie sonst wäre es wohl zu erklären, dass es heute im Süden Moskaus ein Stalin-Museum gibt, neben dem vielleicht größten Flohmarkt der Welt, im Dunstkreis der kaukasischen Mafia und zugänglich über ein Stadion, wo ein selbsternannter Prinz Räume nachbauen ließ, die angeblich am Ende einer U-Bahnlinie liegen, die vom Kreml an den Stadtrand führte – für den Fall der Fälle, dass der Generalissimus zur Flucht gezwungen sein sollte. Unter der Erde und geschützt durch Zuschauertribünen wurden Besprechungs- und Schlafräume eingerichtet und kann man sich seit einigen Jahren mit etwas Phantasie vorstellen, dass von hier aus Stalin, der Stählerne, die Schlacht um Moskau leitete. Vier Jahre später teilte er mit Roosevelt und Churchill in Yalta die Welt und überwand im Juli 1945 sogar seine Flugangst, um zur Siegerkonferenz nach Potsdam zu kommen. Erst während des Kriegs hatte Stalin begonnen, sich stärker um die Meinung anderer zu kümmern. Er saß in der Stavka, dem obersten sowjetischen Kommando, und im Politbüro, machte Notizen, zeichnete Dreiecke und Kreise, Tiere mit eckigen Umrissen, die er dann rot anmalte. Seine Entscheidungen galten als unumstößlich, auch wenn sie nicht immer klar formuliert waren. Doch ein gewisser Interpretationsspielraum ließ Möglichkeiten offen, so oder so. Stalin begann sich auch persönlich um die Staatsfinanzen zu kümmern, vor allem um den Goldschatz der Sowjetunion. Aber nicht das Finanzministerium sollte für die Goldgewinnung und -verarbeitung zuständig sein, sondern das Ministerium für Staatssicherheit. Millionen Sklavenarbeiter mussten dafür in den entlegensten Regionen schuften und hungern, und wieder hielt der Tod tausendfache Ernte. Als die sowjetischen Kriegsgefangenen nach Hause zurückkehren konnten – und in den deutschen Lagern hatte ohnedies nur jeder Zweite überlebt – wurden sie in Umerziehungslager gesteckt ; andere kamen unter nichtigen Anschuldigungen in Straflager. Solschenizyns »Iwan Denissowitsch« erzählt davon. Nach Sibirien, Kasachstan und in den Ural wurden ganze Völker und Volksteile deportiert, Volksdeutsche, Tschetsche-
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nen, Inguschen, Krimtataren und andere, die dann als »Umsiedler« oder »Sonderumsiedler« bezeichnet wurden. Sie vermehrten die Zahl von -zig Millionen Entwurzelten, denen von Stalin und seinen Helfern die Heimat genommen wurde. Seit 1943 gab es Zwangsarbeit. Die Lagerkapazitäten wurden laufend ausgeweitet. Kein Wunder, dass das Ministerium für Staatssicherheit, das mit Hilfe der Häftlinge Straßenbauprojekte realisierte, Wohnhausanlagen errichtete, Bergwerke und Fabriken betrieb, Billigstbieter war und die Termine einhielt. Wo es deutsche Gräber und Friedhöfe gegeben hatte, wurden sie zum Verschwinden gebracht. Nichts sollte mehr daran erinnern, dass Deutsche bis in Sichtweite des Kreml vorgedrungen waren. Stalin befahl es, und so geschah’s. Anfänglich zeigten auch die übrigen Siegermächte des Zweiten Weltkriegs, dass sie gesonnen waren, Stalin und der Sowjetunion, die zweifellos einen erheblichen Beitrag zur Niederringung des Großdeutschen Reichs und seiner Verbündeten geleistet hatten, manches nachzusehen. Nur als dann Zentral- und Südosteuropa sowjetisiert wurden und die Drohung eines sowjetischen Vorstoßes bis an den Ärmelkanal und die Pyrenäen im Raum stand, begannen die Amerikaner mit einer Eindämmungspolitik, die letztlich erfolgreich war. Und Österreich ? Ende März 1945 hatte Stalin eher beiläufig gefragt, ob Karl Renner noch am Leben sei. Man sollte ihn suchen – und fand ihn. Stalin gab Renner die Möglichkeit, eine gesamtösterreichische Regierung zu bilden. Er erwartete wohl eine gewisse Dankbarkeit und bekam zumindest schmeichelhafte Phrasen zurück. Dann forderte er von den Westmächten die rasche Repatriierung aller Russen, der Kriegsgefangenen aber auch der schon längst geflohenen Andersdenkenden. Also wurden Kriegsgefangene ebenso repatriiert, wie die nach dem Ersten Weltkrieg aus Russland emigrierten Kosaken samt Frauen und Kindern ausgeliefert wurden. Auch hinter der in Österreich operierenden 3. Ukrainischen Front wurden im Frühjahr 1945 zehn Lager errichtet, durch die alle aus der Kriegsgefangenschaft kommenden und repatriierungswilligen Rotarmisten und Sowjetbürger durchmussten. Dort wurden sie durch die Abwehrorganisation Smerš (Tod den Spionen) überprüft. Rund die Hälfte der in österreichischen Lagern vorgefundenen Sowjetbürger wanderte schnurstracks in die Arbeitslager des Gulag-Systems. Im Übrigen interessierte sich Stalin nicht nennenswert für Österreich – und das war wohl gut so. Er beließ es dabei, dass das Land geteilt und von Besatzungsmächten kontrolliert wurde. Dafür hatte er seine Satrapen. Doch Stalin ließ keinerlei Anstalten erkennen, daraus eine definitive Teilung werden zu lassen. Ganz im Gegenteil : Wäre es nach Stalin gegangen, hätte es schon 1949 einen österreichischen Staatsvertrag gegeben. Dann aber gab es einen von Nordkorea in Absprache mit Stalin begonnenen Krieg in Korea. Europa schien weniger wichtig, ja Stalin machte dem geteilten Deutschland 1952 sogar den Vorschlag, seine Wiedervereinigung bei gleichzeitiger Neutralisierung zu erlangen. Die Stalin-Note blieb folgenlos, und schließlich erstarrte die internatio-
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nale Politik. Sie wurde sklerotisch – wie Stalin. Noch einmal setzte er zum Terror an. Diesmal waren es prominente Ärzte, denen sein Hass galt und deren Verfolgung er befahl. Er umgab sich nur mehr mit der sowjetischen Spielart von Hofschranzen, wurde von Berija, Molotov, Chruschtschov, Kaganowitsch, Bulganin und einigen anderen regelrecht belauert. Doch als er nach einem Schlaganfall stundenlang in seiner Datscha in Kunzewo gelähmt auf dem Boden lag, war keiner bei ihm. Vier Tage dauerte sein Sterben, dann, am 5. März 1953 war er tot. Gott Lob ! Otto Franz Rösch (24. März.1917 Wien – 3. November 1995 Wien)
»Die überdurchschnittliche Steigerung der Verteidigungsausgaben und das Überschreiten der 4 %-Grenze bezüglich des Gesamthaushalts ist für österreichische Verhältnisse durchaus beachtlich und im Wesentlichen dem Durchsetzungsvermögen des neuen Verteidigungsministers Otto Rösch zuzuschreiben.« Mit dieser Formulierung leitete der westdeutsche Verteidigungsattaché in Österreich, Oberst i. G. Busso Freiherr von Berlepsch, am 18. August 1978 seinen routinemäßigen Bericht an das Bundesministerium der Verteidigung in Bonn ein.113 Der Voranschlag für 1979 sah eine Steigerung des österreichischen Verteidigungshaushalts von 15,64 % gegenüber dem Vorjahr vor. Kein Wunder, dass Herr von Berlepsch die Zahlen bemerkenswert fand. Über die Gründe für diese Steigerung und den Lebensweg des Ministers, dem das – wie sich bald herausstellen sollte – anteilsmäßig höchste Budget des Bundesheers im Verlauf seiner Geschichte zu verdanken war, schwieg er sich aus. Wie die meisten begnügte er sich mit den veröffentlichten Daten und diversen Kurzbiografien im Lexikonformat. Und er verspürte wohl auch nicht das Bedürfnis, Otto Rösch über dessen Lebensstationen zu befragen, denn er hätte sicherlich nichts erfahren. Nicht von ungefähr wurde der Minister »der große Schweiger« genannt. Und er hatte vielleicht allen Grund dazu. Ein Mann für jede Jahreszeit Als gesichert kann gelten, dass er aus einer Familie stammte, die sich zur Sozialdemokratie bekannte. Allerdings wird in den biografischen Skizzen nur erwähnt, dass sein Großvater väterlicherseits, Eduard Rösch, Bürgermeister von Stockerau war. Er war allerdings auch von 1927 bis 1934 Nationalratsabgeordneter. Der Vater findet kaum Erwähnung. Er war Lagerhalter.114 Otto Rösch ( Jr), der sich seines Vaters nicht gerade rühmte und ihn gelegentlich als Privatangestellten bezeichnete,115 lernte ihn allerdings
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auch kaum kennen, denn Otto Rösch (Sen.) starb, als der Sohn zehn Jahre alt war. Der Zehnjährige bekam einen Vormund in der Person des Straßenbahnbediensteten Jakob Kloiber. Der war dann wohl der Lebensgefährte von Röschs Mutter Maria. Zum Glück und vielleicht auch dank der Bemühungen seines Großvaters bekam Otto Rösch einen Freiplatz an der Bundeserziehungsanstalt in Traiskirchen und konnte als Internatszögling das Realgymnasium besuchen. Dass er im Februar 1934 im Zusammenhang mit dem bewaffneten Aufstand des Schutzbunds in Wien verhaftet worden sein soll, machte sich zwar in der Biografie eines überzeugten Sozialdemokraten bzw. Sozialisten gut, ist aber wenig glaubwürdig. Bei einem Verhör gab Rösch 1947 an, »dass ich seit dem Jahr 1927 Mitglied der SPOE bin, in den Jahren 1933 – 1934 den Bund soz[ialistischer] Mittelschüler in Baden bei Wien gegründet habe und auch wegen meiner bekannten sozialistischen Einstellung nicht in das Oesterr[eichische] Bundesheer im Jahr 1935 aufgenommen wurde.« Von den Februarkämpfen 1934 war jedenfalls nicht die Rede. Wohl geht aus Röschs eigenen Angaben hervor, dass er bereits mit 10 Jahren der Sozialistischen Arbeiterjugend beigetreten sein will. Ungeachtet seiner wohl nicht groß zur Schau getragenen Gesinnung und daher auch mehr oder weniger unbelastet konnte Rösch 1935, also bereits im Ständestaat, problemlos maturieren. Allerdings stellte sich für ihn die Frage, ob er im Bundesheer dienen sollte, zum wenigsten, da die Allgemeine Dienstpflicht erst 1936 eingeführt wurde und sich Rösch mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht für den Dienst im Bundesheer, geschweige denn für eine Offizierslaufbahn interessierte. Es war daher auch ein unsinniges Gerücht, Rösch wäre Mitglied im Nationalsozialistischen Soldatenring (NSR) gewesen.116 Nach der Matura inskribierte Rösch noch im Wintersemester 1935 an der Rechtsund Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien. Nach vier Semestern verließ er die Wiener Universität und übersiedelte nach Graz, wo er ab dem Wintersemester 1936 sein Jusstudium fortsetzte. Drei Semester lang. Politisch waren die Jahre in Graz außerordentlich abwechslungsreich. Rösch trat der Vaterländischen Front bei, war allerdings auch seit 1. September 1936 Mitglied des Nationalsozialistischen Studentenbunds, wurde fünf Monate später zur paramilitärischen und natürlich illegalen NS-Sturmabteilung (SA) und am 1. Juni 1937 zur Hitlerjugend überstellt. 1937 trat er auch dem »Volksbund für das Deutschtum im Ausland« bei. Was er am 12. März 1938 in der »Stadt der Volkserhebung« tat und empfand, lässt sich wohl nicht nachvollziehen. Wohl aber steht fest, dass er sich im Herbst 1938 um die Stelle eines Erziehers an der Nationalpolitischen Erziehungsanstalt (NAPOLA) in seiner früheren Schule in Traiskirchen bewarb. Dank seines Vorlebens wurde er im Oktober 1938 als Wehrsportlehrer und Lehrer für Geschichte und Englisch aufgenommen, allerdings nicht fix angestellt. Nichtsdestoweniger hatte er dem Grundauftrag der NAPOLA folgend die ihm anvertrauten Buben im Sinn des Nationalsozialismus zu erziehen, »tüchtig an Leib und Seele für den Dienst an Volk und Staat«. Die Schüler sollten die kommende
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Elite Deutschlands bilden.117 Eine weitergehende Identifizierung mit dem National sozialismus stellte Rösch nachträglich in Abrede und begründete das 1947 damit, »weil ich als Sozialist bekannt war und nicht der NSDAP angehörte«.118 Offenbar irritierte diese Aussage niemanden, denn einem Vernehmungsakt der Staatspolizei wurde die Abschrift des Wehrstammblatts von Otto Rösch angefügt, auf dem es hieß : »Mitglied der SA seit 1937, HJ seit 1938.«119 Weshalb Rösch in seiner Verantwortung behauptete, weder der Partei noch einer ihrer Gliederungen angehört zu haben, ist daher rätselhaft.120 Mehr noch : Rösch beließ es nicht dabei, Mitglied der SA, der HJ und des NS-Studentenbunds gewesen zu sein, sondern trat im Dezember 1938 dem NSLehrerbund sowie der NSDAP bei und erhielt die Mitgliedsnummer 8,595.796.121 Im Juni 1939 trat er aus der katholischen Kirche aus.122 Damit folgte er seiner Frau, die er am 20. August 1938 geheiratet hatte. Am 15. Jänner 1940 rückte Rösch als Kanonier zum Infanterie-Regiment 262 in Stockerau ein und begann eine bemerkenswerte militärische Karriere. Er wollte Berufsoffizier werden, begnügte sich also nicht mit der Laufbahn eines ROB (Reserveoffiziersbewerbers). Zum Polen- und zum Frankreichfeldzug kam er zu spät, wurde im Mai 1941 nach Hillersleben in Sachsen-Anhalt zur schweren Artillerie Abt. 908 versetzt und konnte dort bis zum Juli desselben Jahres die modernsten deutschen und etliche Beutegeschütze kennen lernen. Anschließend kam er kurz nach Russland, wurde aber schon im Februar 1942 an die Infanterieschule für Fahnenjunker V in DallgowDöberitz überstellt, um die Ausbildung zum Berufsoffizier zu beginnen. Er verließ die Infanterieschule im August 1943 als Offiziersanwärter. Im selben Monat kam er zur 44. Reichsgrenadier-Division »Hoch- und Deutschmeister«, die nach der Vernichtung ihrer Vorgänger-Division in Stalingrad in Maria ter Heiden in Belgien neu aufgestellt wurde. Ein Teil der Division kam aus dem (Wiener) Wehrkreis XVII. Die Division beteiligte sich im September 1943 an der Entwaffnung des italienischen Heeres und nahm rund 50.000 Italiener gefangen. In der Folge waren die »Hoch- und Deutschmeister« zwei Monate lang zur »Bandenbekämpfung« im Raum von Görz (Gorizia) bis Laibach (Ljubljana) eingesetzt.123 (Rösch hat nie darüber gesprochen). Ab November 1943 kämpfte seine Division in den Schlachten an der sogenannten »Reinhard-Linie« und im Raum um Cassino. Anschließend machte sie die Rückzugskämpfe bis in den Raum Florenz mit. Und Rösch war immer dabei. Er hatte das Glück, nur durch einen Streifschuss oberhalb des rechten Auges und durch Splitter geringfügig an den Beinen verletzt zu werden.124 Erst Mitte Oktober 1944 wurde die Reichsgrenadier-Division aus der Front genommen und aufgefrischt, um anschließend nach Ungarn verlegt zu werden. Hier übernahm der mittlerweile zum Hauptmann beförderte Otto Rösch im Rahmen seiner Division das Granatwerfer Bataillon 44, das einzige Granatwerferbataillon der Deutschen Wehrmacht, das nach sowjetischem Vorbild gebildet wurde. Im März 1945 waren die »Hoch- und Deutschmeister« dann Teil
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der letzten großen Offensive der Heeresgruppe »Süd« im Raum Plattensee, erreichten Ende März die damalige Reichsgrenze und kämpften bis Kriegsende im Bereich des I. Kavallerie-Korps der deutschen 2. Armee. Am 1. April gelang es dem KavallerieKorps, den Durchbruch der Armeefront »unter rücksichtslosem Einsatz von Führern und Truppe, trotz starker materieller und personeller Überlegenheit des Feinds, auch … unter Einsatz letzter Reserven und Anwendung schärfster Mittel (Erschießen auf dem Gefechtsstand)« zu verhindern.125 Dann ging es über Gleichenberg nach Straden. Noch im April sollte Röschs auf eine Kampfgruppe geschrumpfte Division nach Norden zur Heeresgruppe Mitte verschoben werden. Während ein Teil mit der Bahn Richtung Prag fuhr, wurde der andere Teil von der Bedingungslosen Kapitulation überrascht und suchte so weit wie möglich nach Westen zu gelangen und damit der Gefangennahme durch die Sowjets zu entgehen. Rösch hatte Glück : Er geriet bei Hohenfurth (Vyšší Brod) in amerikanische Kriegsgefangenschaft. Er war im Verlauf des Kriegs vom Kanonier zum Hauptmann aufgestiegen und wusste nach dem Krieg zu erzählen, dass die Beförderung zum Major bereits ausgesprochen worden sei, ihn die Beförderungsurkunde aber nicht mehr erreicht habe. Seine Karriere konnte sich jedenfalls sehen lassen. Schon Ende Juli 1945 wurde Rösch aus der amerikanischen Kriegsgefangenschaft entlassen. Am 4. August 1945 kehrte er nach Graz zurück. Es war eine kluge Wahl. Auf Grund des Zonenabkommens für Österreich war die Steiermark Teil der britischen Besatzungszone. Die Russen waren im Juli abgezogen. Die Familie des Hauptmanns a. D. ließ sich zusammenführen. Rösch bewarb sich bei der britischen Besatzungsmacht um eine Anstellung und wurde schließlich Chef der Zivil-Zensur der Briten in der Steiermark.126 Unverzüglich machte sich Rösch daran, sich nach SA, HJ und NSDSAP eine demokratische Legitimation zu verschaffen. Und da lag es wohl nahe, dass er noch 1945 begann, sich für seine alte politische Heimat, die Sozialdemokratie zu engagieren. Er zeigte ein ausgeprägtes Bemühen, jenen zu helfen, die eine seinem Schicksal ähnliche Vergangenheit hatten, engagierte sich in der Heimkehrerbetreuung und arbeitete in der Heimkehrerstelle der SPÖ mit.127 Rösch wurde SPÖ Vertrauensmann im (überparteilichen) Landeskomitee für Heimkehrerangelegenheiten – und schwieg. Als es um die Zulassung zu den ersten Nationalrats- und Landtagswahlen am 25. November 1945 ging, wurde Rösch als nicht belastet eingestuft. Er konnte ein Formular vorweisen, in dem er statt NSDAP – wie zu erwarten gewesen wäre – SDAP (Sozialdemokratische Arbeiterpartei) eingetragen hatte. Der eine fehlende Buchstabe genügte, und Rösch war wahlberechtigt. Zwei Jahre später handelte er sich dennoch erhebliche Schwierigkeiten ein. Am 7. Dezember 1947 fand in Röschs Wohnung in Graz, Kaiser-Josef-Platz Nr. 6, eine Hausdurchsuchung statt, bei der u. a. ein Koffer mit gefälschten Pässen und anderen Dokumenten sowie Stempeln gefunden wurde. Tags darauf wurde Rösch verhaftet. Er war im Zusammenhang mit einer als »Verschwörung« gewerteten Aktion des Eisenwa-
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renhändlers Theodor Soucek aufgefallen. Soucek wurde beschuldigt, eine neonazistische Gruppe gebildet zu haben und mit Hilfe von britischen Stempeln amerikanische Explorerpässe und Aufenthaltsbewilligungen gefälscht zu haben. Mit deren Hilfe soll er ehemaligen Angehörigen der SS und anderen Leuten, darunter auch dem ehemaligen Gauleiter der Steiermark, Siegfried Uiberreiter, zur Flucht ins Ausland verholfen haben. Er und seine Mitverschworenen sollen beabsichtigt haben, eine neue auf der NS-Ideologie aufbauende Partei zu gründen und hofften für den Fall eines Kriegs des Westens gegen die Sowjetunion Österreich wieder »heim ins Reich« zu führen. Soucek wurde zum Tod verurteilt (und später begnadigt) ; andere erhielten hohe Gefängnisstrafen. Rösch wurde nach § 3 des Verbotsgesetzes angeklagt. Die Briten informierten das Gericht, dass Rösch seinerzeit seine NS-Vergangenheit verschwiegen und einen Fragebogen falsch ausgefüllt hätte, doch offenbar wurde nichts als so gravierend angesehen, dass es zu einer Verurteilung gekommen wäre. Am 7. März 1949 wurde Rösch wegen Mangels an Beweisen freigesprochen. Er konnte glaubhaft machen, vom Inhalt des bei ihm gefundenen Koffers mit Ausweisen und Stempeln keine Kenntnis gehabt zu haben. Und die Treffen mit Soucek wären denkbar harmlos gewesen. Später gab Rösch an, Innenminister Helmer habe ihn als Spitzel in die Untergrundgruppe geschickt. Allerdings war während der Untersuchungshaft oder im Verlauf des Gerichtsverfahrens nie davon die Rede. Andernfalls hätte es Otto Rösch vielleicht eine mehr als einjährige Untersuchungshaft erspart. Der Prozesse schadete aber weder dem Ansehen noch der Parteikarriere von Rösch. Obwohl auch die »Arbeiter Zeitung« nach Auffliegen des Falls Soucek über Rösch hergezogen war und ihn verdächtigte, waren seine Verhaftung, der Prozess und der nicht ganz lupenreine Freispruch nicht geeignet, seinen Aufstieg nennenswert zu behindern. Schon im Juli 1949 wurde er Sekretär der SPÖ Deutschlandsberg und Obmann des Arbeiterbauernbundes. 1951 kandidierte er für den Bundesrat. Erst in dem Moment probte die Grazer Parteiorganisation den Aufstand und wollte die Kandidatur mit großer Mehrheit verhindern. Es brauchte daher einige Mühe, Röschs Bewerbung durchzubringen. Im Oktober 1951 wurde er als Abgeordneter der Steiermark Mitglied des Bundesrats. Das blieb er bis 1953. Anschließend war er SPÖ Abgeordneter zum Steiermärkischen Landtag, begann aber 1958 auch in der Parteizentrale in Wien zu arbeiten. Dass er aus der steirischen Metropole weg wollte, hing vielleicht damit zusammen, dass seine Ehe 1955 geschieden wurde. Bald darauf ging er eine neue Bindung ein. Und er verließ die Steiermark. Was er nicht aufgab, war eine Almhütte auf der Tauplitz, wohin er sich bis in seine letzten Lebensjahre gerne zurückzog. Doch sein Lebensmittelpunkt war Wien, sieht man von einem Wochenendhaus im niederösterreichischen Krustetten bei Krems ab. Zweifellos hatte sich Rösch in seinen Funktionen einen gewissen Ruf erworben. Er galt als sachlich, konziliant und schweigsam, war mit seinen 1.91 Metern kaum zu
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übersehen, rauchte bei jeder Gelegenheit Pfeife und galt als absolut treuer Parteigänger der SPÖ. Das allein hätte ihn wohl nicht qualifiziert, im Herbst 1959 Staatssekretär im Bundesministerium für Landesverteidigung zu werden. Wohl aber ließ seine Offiziersvergangenheit erwarten, dass er dem damaligen Verteidigungsminister, Ferdinand Graf, gegenüber zumindest gute Figur machen würde. Da Röschs unmittelbarem Vorgänger, Max Eibegger, ein zu konzilianter Umgang mit dem Minister vorgeworfen wurde, ging mit Eibeggers Ablöse nach nur sechs Monaten und Röschs Bestellung die Absicht einher, dem sehr selbstbewusster Graf gegenüber mehr Kanten zu zeigen. Das Kalkül dürfte allerdings nicht ganz aufgegangen sein, denn Rösch lobte Jahre später die Zusammenarbeit mit Graf als beispielhaft und hob sie ausdrücklich gegenüber seinem Verhältnis zu Grafs Nachfolger, Karl Schleinzer, hervor.128 Als eine Art Eigenheit musste auffallen, dass Rösch bei seiner Unterschrift in der Folge nicht Staatssekretär schrieb, sondern Landtagsabgeordneter. Aber er hatte ja Auswahl. Seiner Doppelfunktion suchte er dadurch gerecht zu werden, dass er an den jeweils an Donnerstagen stattfindenden Sitzungen des Niederösterreichischen Landtags teilnahm. Und natürlich blieb er Adressat für Interpellationen, Bitten und Beschwerden. Im Verteidigungsministerium wurde er rasch akzeptiert. Rösch behielt die Linie seiner beiden Vorgänger bei und ließ keinen Zweifel daran, dass er gegen Strömungen in seiner eigenen Partei ankämpfen wollte, wo sich vor allem die Sozialistische Jugend antimilitaristisch gebärdete. Graf informierte ihn über anstehende Strukturfragen, Einsatzpläne und Personalentscheidungen und brachte ihm selbstverständlich auch die (wenigen) »streng geheim« Dienststücke dieser Zeit zur Kenntnis.129 Rösch lohnte es durch Loyalität. Auch Auslandsreisen wurden zu zweit absolviert, in die Sowjetunion ebenso wie in die USA. Der Ministerwechsel 1961 ließ dann auch für Rösch manches anders werden. Keine Diskussion gab es darüber, dass dem ÖVP Verteidigungsminister ein SPÖ Staatssekretär beigegeben werden sollte. Denn Landesverteidigung und Sicherheitspolitik waren wichtig, auch und besonders der SPÖ Führung. Der neue Minister, Karl Schleinzer, und sein Staatssekretär fanden aber nur schwer zueinander. Rösch fühlte sich nicht mehr ausreichend informiert,130 konnte der Bundesheerreform 1962 wenig abgewinnen und revanchierte sich in der Weise, dass er einer Verkürzung der Wehrdienstzeit das Wort redete und das mit Leerlauf und der Notwendigkeit zu begründen suchte, die jungen Männer in der kürzestmöglichen Zeit wieder berufstätig werden zu lassen. Das war weder ein Konzept, das auf ein Milizheer hinausgelaufen wäre, noch verschloss Rösch die Augen vor der Notwendigkeit, für einige Waffengattungen und Laufbahnen eine längere Dienstzeit in Aussicht zu nehmen. Doch er begnügte sich nicht damit, in Fragen der Dienstzeit vom Minister abweichende Meinungen zu vertreten. Er wollte auch in operativen Fragen nicht den Vorgaben Schleinzers folgen. Der Staatssekretär
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hatte durchaus eigene Vorstellungen, wie auf Bedrohungsfälle reagiert werden sollte und plädierte dafür, nicht primär den Verteidigungsfall anzunehmen, sondern zunächst den Krisen- und den Neutralitätsfall zu behandeln. Er kritisierte, dass dem Westen und damit der NATO zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet würde. Gleichzeitig forderte er, dass das Bundesheer in jedem Fall »zumindest an der Grenze« mit der Verteidigung beginnen müsse.131 Das lief auf die Quadratur des Kreises hinaus. Was auch immer daraus zu folgern war : Dass es nur um eine symbolische Verteidigung ging, dass ein regelrechter Kriegsfall nicht vorgesehen war, oder dass primär in die politische Option investiert werden sollte. Schleinzer reagierte auf die innerkoalitionäre Opposition mit Misstrauen und übertrug die zu Tage tretenden Spannungen auf die hohen Militärs und Beamten seines Ressorts. Das führte unter anderem zu einem schweren und letztlich nicht mehr zu glättenden Konflikt mit Generaltruppeninspektor Fussenegger.132 Schleinzer ließ keinen Zweifel, dass er Kontakte der hohen Militärs und Beamten mit dem Staatssekretär missbilligte, und wenn er den Verdacht hatte, dass Rösch ohne ausdrückliche Zustimmung des Ministers Schriftstücke übermittelt wurden, konnte er regelrecht ausrasten. Kein Wunder, dass Fussenegger, der für Schleinzer zum Feindbild geworden war, nach den Nationalratswahlen 1963 auf einen Ministerwechsel hoffte. Auch Rösch kokettierte mit einem Wechsel und wäre gerne an Stelle von Otto Probst Zentralsekretär der SPÖ geworden. Doch Schleinzer wie sein Staatssekretär blieben. »Beide haben sich bisher wenig verstanden. Es ist kaum anzunehmen, dass es besser wird, im Gegenteil … was letztendlich nicht dem Heer dient und vor allem auf dem finanziellen Sektor zu beobachten sein wird«, notierte der Generaltruppeninspektor. Der Wechsel an der Spitze kam erst 1964. Schleinzer ging und Prader kam. Intermezzo Für Rösch war es eine gute Gelegenheit, einen Neuanfang zu versuchen, denn das Ende der Zweigespanns Schleinzer – Rösch war unerfreulich gewesen. Schleinzer sprach im Rundfunk, Rösch im Fernsehen. Die sachlichen Differenzen fielen dabei weniger auf als die gegenseitige Aversion. Der Neubeginn wurde als Chance gesehen. Doch wieder wollte es nicht so recht klappen. Zwar schickten sich Minister und Staatssekretär Ansichtskarten von ihren jeweiligen Urlaubsreisen, doch es dauerte nur einige Monate, ehe Rösch dem Minister Verfehlungen vorhielt. Und von da an kam es immer häufiger vor, dass sich Prader falsch verstanden, falsch zitiert und von seinem Staatssekretär angegriffen fühlte. Bald pflegten die beiden eine tiefgehende Aversion. Vollends die Frage der Dienstzeit schien eine unüberbrückbare Kluft. Prader trat kompromisslos für neun Monate Präsenzdienst ein, während Rösch einen Vortrag nach dem anderen hielt
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und dabei nur ein Thema kannte : »Sechs Monate Wehrdienst genügen.«133 Es waren die letzten Jahre und Monate der Großen Koalition, in denen die Zusammenarbeit der beiden Großparteien in vielen Bereichen in der Krise steckten. Das blieb auch nicht ohne Auswirkungen auf das Verteidigungsressort. Erst die Bildung der ÖVP Alleinregierung unter Josef Klaus beendete dann auch das spannungsreiche Konvivium von Prader und Rösch. Letzterer wechselte vollends nach Niederösterreich und wurde Landesrat für Gesundheits- und Sozialwesen. Er arbeitete einen Spitalsplan aus und setzte sich für Schwerpunktspitäler ein. Rösch war vielseitig – das war keine Frage. In der Steiermark war er Obmann der Arbeiterbauern, dann kümmerte er sich um Gemeindeangelegenheiten, ehe er Staatssekretär im Verteidigungsministerium wurde. Jetzt war er für Krankenhäuser in Niederösterreich zuständig. Ehe er aber ins Niederösterreichische Landhaus in die Wiener Herrengasse übersiedelte, meldete er sich noch im Juli 1966 zu einer Freiwilligen Waffenübung. Ein Staatssekretär als Waffenübender – das war ein Novum. Der ehemalige Hauptmann der Deutschen Wehrmacht übte bei der schweren Kompanie (sKp) des Jäger Bataillons 4, dem Traditionstruppenkörper der »Hoch- und Deutschmeister«, und bekam – wie nicht weiter verwunderlich – eine sehr gute Beurteilung und die Eignung zum Kompaniekommandanten attestiert. Für die Eignung zum Bataillonskommandanten war die Übungszeit zu kurz.134 Am 21. November 1966 wurde Rösch Hauptmann der Reserve. Mit seinem Ausscheiden aus der Bundesregierung, dem Wechsel nach Niederösterreich und der Waffenübung im Juli zog Rösch fürs Erste einen Schlussstrich unter seine zweite militärische Existenz. Er spielte auch während der Jahre, in denen die SPÖ in Opposition war und nicht einmal im Zusammenhang mit der 1968 aufflammenden Diskussion über eine Wehrdienstzeitverkürzung eine aktive Rolle. Das war umso merkwürdiger, als die Diskussion unter dem Schlagwort »Sechs-Monate sind genug« als »Rösch-Plan« bezeichnet wurde. Rösch spielte auch in den SPÖ Kommissionen, die ein neues Schema für den Präsenzdienst ausarbeiten sollten, keine Rolle. Und als schließlich nach dem Wahlsieg der SPÖ im März 1970 der designierte Bundeskanzler Bruno Kreisky seine Regierung zusammenstellte und Rösch das Verteidigungsministerium anbot, lehnte dieser ab. Er wollte Innenminister werden. Ob für diesen Entschluss der Wunsch nach einer neuen Aufgabe maßgeblich war, oder Rösch die undankbare Aufgabe der Heeresreform lieber jemand anderem überlassen wollte, kann nur gemutmaßt werden. Er folgte stattdessen dem ÖVP-Innenminister Franz Soronics nach und tat das, was bei Ministerwechseln fast unausweichlich kommen musste : Rösch baute das Ministerium um. Da das Innenressort aber ohnedies noch eine relativ starke SPÖ Prägung aufwies, blieben die Änderungen maßvoll. Rösch war dem Regierungsprogramm verpflichtet und fing mit Privilegienabbau an, ohne es sich dabei mit der Gewerkschaft zu verscherzen. Dann ging es so mancher
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liebgewordenen Einrichtung wie dem sogenannten »Dreierradl« bei der Dienstzeit der Exekutive an den Kragen. Beamtenbeleidigungen sollten nicht mehr strafbar sein. Für den Innenminister eine Selbstverständlichkeit. Es waren also Personalmaßnahmen, Verbesserungen im Bezügesystem und andere soziale Maßnahmen, die Rösch das auf den Leiter des Dokumentationszentrums Jüdischer Verfolgter des Naziregimes, Simon Wiesenthal, zurückgehende Schlagwort vom »erfolgreichsten Innenminister der Zweiten Republik« einbrachten.135 Das dicke Lob Wiesenthals rührte freilich nicht nur da her, dass er damit die Ressortführung durch Rösch durchgängig würdigen wollte, sondern leitete sich aus der Rolle ab, die Rösch bei den terroristischen Zwischenfällen der 70er Jahre spielte. Schon Anfang Mai 1972 brachten vier Luftpiraten der militanten Palästinenserorganisation »Schwarzer September« eine Maschine auf dem Flug von Wien nach Tel Aviv in ihre Gewalt. Sie wollten die Freilassung inhaftierter Kampfgenossen erzwingen und den Transit russischer Juden über Österreich nach Israel unterbinden. Das war aber nur der Auftakt. Im September 1972 warnte die israelische Botschaft in Wien das Innenministerium vor einem möglichen Anschlag auf das Durchgangslager für Juden in Schönau. Und dann passierte es : Am 28. September 1973 überfielen zwei Männer einer palästinensischen Terrororganisation bei Marchegg einen aus der Tschechoslowakei kommenden Zug, nahmen drei russische Juden und einen österreichischen Beamten als Geisel und wollten damit Gesinnungsgenossen, die in israelischen Gefängnissen einsaßen, freipressen. Die Sache ging glimpflich aus. Kreisky versprach, das Lager in Schönau zu schließen. Die Geiseln wurden freigelassen, die Palästinenser ausgeflogen. Und wieder kam Österreich unvermutet ins Fadenkreuz des Terrors. Am 21. Dezember 1975 stürmten sechs Terroristen die in Wien ansässige Zentrale der Organisation erdölexportierender Länder (OPEC). Rund siebzig Personen, darunter mehrere Minister, wurden als Geiseln genommen, drei Personen wurden bei Schusswechseln getötet. Konsequenterweise wollte Kreisky keine Gewalt angewendet wissen. Die Terroristen durften mit den Geiseln ausreisen. Der Anführer der Terroristen, »Carlos«, wurde von Minister Rösch mit Handschlag verabschiedet. Später meinte Rösch, es wäre darum gegangen, die Freilassung der Geiseln mittels Händedrucks zu bekräftigen. Eine andere Lesart besagte, der Minister hätte die ausgestreckte Hand reflexartig ergriffen. Wie auch immer : Der Handschlag blieb haften und verdeckte andere Vorgänge, bei denen Rösch eine Rolle spielte, wie z. B. den Ortstafelstreit in Kärnten, die Demontage von topografischen Bezeichnungen und schließlich Sprengstoffanschläge in Unter kärnten. Rösch war immer wieder gefordert – und er blieb ruhig. Vielleicht war es sein Ziel, als »erfolgreichster Innenminister der Zweiten Republik« auszudienen. Doch dann kam die »Affäre« Lütgendorf136 – und Rösch wurde zum drit-
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ten Mal von Kreisky gefragt, ob er nicht das Verteidigungsministerium übernehmen wolle. Diesmal willigte er ein. Der Letzte seiner Art Über Röschs Beweggründe ließ sich rätseln : War es eine Art Bringschuld dem Kanzler gegenüber, der aus der NS-Vergangenheit des Ministers nie ein Politikum gemacht hatte ? Wollte er der SPÖ, der er sich verpflichtet fühlte, einen Dienst erweisen ? Oder entsprach er nur dem, was Kreisky gelegentlich als Begründung genannt hatte : Die Führung des Verteidigungsministeriums sollte man nur ausnahmsweise einem Militär überlassen ? Die Übernahme der neuen Aufgabe war insofern unproblematisch, als Röschs beide Vorgänger im Generalsrang, Johann Freihsler und Karl Lütgendorf, die Heeresreform durchgeführt und vor allem Letzterer regelrecht durchgeboxt hatten. Einiges stand zwar noch an, doch man sah Licht am Ende des Tunnels. Niemand fragte, ob Rösch für das neue Amt qualifiziert wäre. Er war sechs Jahre Staatssekretär und vorher drei Jahre Berufsoffizier gewesen. Das war in jedem Fall hinreichend. Was man noch nicht wissen konnte : Er war der letzte Weltkriegsoffizier, der in Österreich Verteidigungsminister werden sollte. Das neue Amt forderte vor allem eines : Ruhe. Es waren ja nicht nur die letzten Jahre der Ministerschaft von Karl Lütgendorf gewesen, in denen im Heer und vor allem im Offizierskorps die Wogen hoch gegangen waren. Die Gegensätze, die sich mitunter in regelrechten Feindschaften geäußert hatten, reichten sehr viel weiter zurück. Die Minister und der Generaltruppeninspektor »konnten« nicht miteinander. Letzterer und der Armeekommandant stritten um Kompetenzen. Die dem Armeekommando zugehörenden Teile des Heeres fühlten sich der Landwehr überlegen. Sie bekamen auch einen weit höheren Anteil an den Ressourcen, u.v.m. Da Ruhe hineinzubringen, verlangte etliches. Und der neue Minister beendete Dispute von allem Anfang an mit einem immer wieder zu hörenden Satz : »Das entscheidet die Politik.«137 Damit signalisierte er das Ende einer Diskussion. Im Übrigen konnte sich Rösch die Arbeit seiner Vorgänger insofern zunutze machen, als er sie als logisches Ende einer langfristigen Entwicklung präsentierte und auslaufen ließ. Wenn etwas Rösch Probleme bereitete, dann war es ein anderes Erbe. Lütgendorf hatte in vergleichsweise großem Stil Waffengeschäfte angebahnt. Dass er sich dabei auf sehr dünnem Eis bewegte, war ihm letztlich selbst zum Verhängnis geworden. Doch angesichts einer auch in Österreich erstarkenden Friedensbewegung wurden Waffengeschäfte zunehmend schwierig. Für Marokko bestimmte Panzer standen in Klagenfurt zur Abholung bereit. Ein Panzerexport nach Argentinien war vereinbart, wurde aber von Chile, das auf einen drohenden bewaffneten Konflikt hinwies, nachdrücklich
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beeinsprucht. Das schuf auch für den Minister eine schwierige Situation, und letztlich half auch Kreiskys Argumentation nicht, dass es gelte, eine österreichische Rüstungsindustrie aufzubauen, die Arbeitsplätze bringen und sichern sollte. Aber es gab noch einen Ausweg : Die nicht zu exportierenden Rüstungsgüter sollten vom Bundesheer übernommen werden. Das erforderte Geld. Rösch versprach’s und erreicht schon bei seinem zweiten Budget, dass das Heer die magische Größenordnung von 4 % des jährlichen Staatshaushalts überschritt und auf die angepeilten 7 % zusteuerte.138 Die Beobachter von NATO und Warschauer Pakt fanden das gleichermaßen bemerkenswert. Ebenso natürlich, dass das Bundesheer 50 schwere amerikanische Kampfpanzer M 60 A3 und Panzerhaubitzen M 109 kaufte, bei den Steyr-Werken 0,8 Tonnen schwere Lkw bestellt und insgesamt die materielle Situation des Heeres deutlich verbessert wurde.139 Nur auf einem Gebiet zeigte Rösch keine Bereitschaft, den Heeresaufbau fortzusetzen und Defizite zu beseitigen : Bei der Beschaffung moderner Flugzeuge. Diesbezügliche Anfragen quittierte der Minister mit dem Stehsatz : In meiner Zeit werden keine Abfangjäger gekauft. Und das, obwohl der Landesverteidigungsrat einstimmig, also auch und vor allem mit den Stimmen der Sozialisten für den Kauf von 24 Abfangjägern »Mirage 50« votiert hatte. Im November 1981 wurde der Kauf wegen Geldmangels definitiv zurückgestellt. Röschs Augenmerk galt dem Landheer. Dessen konsequenter, wenngleich zunächst wohl auch nur gedachter Aufbau fand durchaus Anerkennung. Die Zielvorgabe eines Mobilisierungsrahmens von 300.000 Mann ließ auch die jahrelange Kritik des Auslands an der militärischen Inferiorität des Bundesheers schwinden, und der neue westdeutsche Militärattaché, Oberst Egbert von Plate, merkte für sein Ministerium an, dass erstmals seit dem Aufbau der Bundeswehr deren II. Korps in Bayern nicht mehr so gefährdet wäre wie bis dahin. Vorbei waren auch die Zeiten, in denen der westdeutsche Verteidigungsminister, Helmut Schmidt, Kreisky wegen dessen Sechs-Monate-Forderung scharf kritisiert hatte. Mittlerweile hatte sich das Verhältnis zur Bundeswehr merklich verbessert. Es war nicht nur der Austausch von Militärattachés vereinbart worden, sondern stand auch der erste Besuch eines deutschen Verteidigungsministers in Österreich auf dem Plan. Rösch konnte seinen Amtskollegen Georg Leber begrüßen. Am 1. August 1977 trat die Wehrgesetznovelle 77 in Kraft, die den Ausbau des Reserveheers und das Stellungswesen regelte. Sie war mit den Stimmen aller im Parlament vertretenen Parteien verabschiedet worden. Man sah darin die eigentliche Geburtsstunde der Landwehr. Zudem wurde ein schwerwiegender Fehler des Wehrgesetzes 1972 korrigiert, indem zur Auffüllung der Bereitschaftstruppe Pflichtwaffenübungen eingeführt wurden. Mit der Novelle wurde auch eine Neuerung bei der Musterung der Stellungspflichtigen in Form der Stellungsstraßen eingeführt. Ein Jahr später wurde die Friedensorganisation des Heeres mit der Aufstellung von 28 Landwehrstammregimentern mehr oder weniger abgeschlossen. 30 Regimenter sollten es insgesamt werden.
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Das gab der Mob[iliserungs]-Rahmen vor. Damit verbunden war der Verzicht auf die Aufstellung einer zweiten Division, die schon vorher als reines Konstrukt geschienen hatte. Nach Jahren des Streits zogen Regierung und Opposition an einem Strang. Ebenfalls als Fortsetzung des bereits Angedachten begann der Bau neuer Kasernen. Damit konnte Rösch an frühere Tätigkeiten und Ziele anknüpfen, die der Fürsorge verpflichtet waren. Schließlich ging es an die Erprobung der Organisation und nicht zuletzt jenes Konzepts, das ihm als Spannocchi-Doktrin zugrunde lag. Die Raumverteidigungsübung 1979 (RVÜ 79) sollte dem Inland wie dem Ausland den Eindruck vermitteln, dass mit dem österreichischen Bundesheer als Faktor der Sicherheitspolitik zu rechnen war. Natürlich fielen auch den ausländischen Beobachtern Schwächen und das Fehlen moderner Waffen auf, doch gerade die Großübung mit 32.000 Mann und einem Heer, das an Waffen und Gerätschaften alles aufbot, was es besaß, machte deutlich, dass nach den regelrecht düsteren Jahren am Beginn des Jahrzehnts der Wehrwillen und die Bereitschaft, sich an das Raumverteidigungskonzept anzupassen, ein regelrechtes moral rearmament bewirkt hatten. Daran änderte auch nichts, dass der als Vater der Raumverteidigung geltende Armeekommandant, General Emil Spannocchi, Ende September 1981 in Pension ging. Er hatte oft weit mehr als der jeweilige Minister das Heer nach außen vertreten und war die Integrationsgestalt schlechthin geworden. Mit Lütgendorf hatte es daher immer wieder Streit gegeben. Rösch zeigte sich unbeeindruckt. Denn letztlich »entschied die Politik«. Unter Spannocchis Nachfolger, General Ernest Bernadiner, sollte manches anders werden, und der westdeutsche Militärattaché kommentierte den Wechsel damit, dass sich die Gewichtungen verschieben würden, und sich das Heer in Zukunft wieder stärker auf den Minister und nicht mehr auf den Armeekommandanten ausrichten würde.140 Oberst von Plate sollte recht behalten. Röschs letzte Jahre in der Politik brachen an. Schon im Vorfeld der Nationalratswahl 1983 ließ er verlauten, dass er – egal wie die Wahlen ausgehen sollten – nicht mehr als Minister zur Verfügung stehen würde. Anders als sein Mentor Kreisky spielte er nicht einmal mit dem Gedanken, noch eine Amtsperiode anzuhängen. Dreizehn Jahre Ministerschaft waren ihm genug. Am 1. Dezember 1982 endete Röschs Dienstleistung als Reserveoffizier. Er wurde als Hauptmann der Reserve verabschiedet. Am 23. März des darauffolgenden Jahres hatte er seinen letzten Auftritt im Landesverteidigungsrat. Er präsentierte den jahre-, ja jahrzehntelang in Aussicht genommenen Landesverteidigungsplan, der angenommen wurde. Dann war tatsächlich Schluss Was folgte, waren Jahre ohne nennenswerten Bezug zum Militär. Als Obmann des SPÖ-Pensionistenverbands hatte Rösch eine durchaus adäquate Altersbeschäftigung und ein Büro, um seinen Schriftverkehr abzuwickeln. Über die Abfassung von Memoiren dachte er nicht einmal nach. Die Tauplitz Alm war noch immer Lieblingsaufenthalt, Zuflucht und Treffpunkt. Als der Minister a. D. Anfang der neunziger Jahre ge-
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fragt wurde, ob er dem Heeresgeschichtlichen Museum etwas widmen könnte, das ihn als Person und gewissermaßen für »immerwährende Zeiten« deutlich machen könnte, entschied sich Rösch nicht für eines seiner zahlreichen Ehrengeschenke, einen Säbel oder einen Kris, sondern für einen großen Topf mit Pfeifentabak und einen Teil seiner Pfeifensammlung. Ungewöhnlich vielleicht, doch charakteristisch. Am 17. November 1995 fand die Verabschiedung Otto Röschs im Krematorium in Wien-Simmering statt. Die Urne wurde nach Stockerau gebracht und im Ehrengrab von Otto Röschs Großvater beigesetzt.141 Johann Christoph Allmayer-Beck (19. August 1918 Wien – 28. April 2017 Wien)
Es liegt 52 Jahre zurück, dass ich Christoph Allmayer-Beck das erste Mal begegnet bin. Einem eleganten Herrn, aristokratisch, unübersehbar und unüberhörbar, mit klugen Fragen in einer ansonsten flachen Diskussion und einem charakteristischen Räuspern. Natürlich hätte ich mir nie gedacht, dass ich irgendwann einmal gefordert sein könnte, sein Leben im Rahmen eines Nachrufs Revue passieren zu lassen. Doch wie das Leben so ist, muss nun ein 75-Jähriger für einen ehemaligen Vorgesetzten und Freund, der mit fast 99 Jahren gestorben ist, Worte des Gedenkens finden. Wie für mich war Allmayer-Beck auch für viele andere prägend, und es waren doch etliche, die auch vor Kurzem noch fragten »Lebt denn der alte Allmayer noch ?« Sie wussten offenbar mit seinem Namen, mit seiner Persönlichkeit und seinem großen Lebenswerk etwas anzufangen. Sofern ich selbst Adressat solcher Fragen war, konnte ich mit keinesfalls angebrachtem Stolz sagen : Aber ja, natürlich. Er ist zwar nicht mehr ganz gesund, in den letzten Jahren auch an den Rollstuhl gefesselt, aber im Übrigen wie eh und je, der »Alte«, im doppelten Wortsinn, 96, 97, 98 – und bald 99 Jahre. Am 28. April 2017 musste ich zu zählen aufhören. Bei unendlich vielen Gelegenheiten, auf akademischem Boden und in Gesellschaften, im Inland und im Ausland ist sein Name gefallen als jemand, der Österreich im besten Sinn verkörperte, ihm einen Platz gegeben hat, dem alten wie dem neuen Österreich, der hör- und sichtbar war, und nicht nur in die historisch-wissenschaftliche Literatur Eingang gefunden hat. Jener Herr, der fast täglich zu Fuß vom Arsenal durch den Stadtpark zu seiner Wohnung am Wiener Parkring ging, wie ihn Ingeborg Bachmann in ihrem Roman »Malina« beschrieben hat. Es war derselbe, damals noch junge Direktor, als den ihn Alexander Lernet-Holenia in seinem Erzählband »Die Geheimnisse des Hauses Österreich« im Sarajevo-Travée des Heeresgeschichtlichen Museums auftreten lässt und auch namentlich benannt hat.
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Wenn man Christoph Allmayer-Beck während der letzten Jahre seufzen gehört hat, dann konnte man wohl den Eindruck bekommen, dass ihm zumindest Manches am Leben zur Last geworden war. Doch wenn er gesprochen hat, solange es ihm noch keine Mühe bereitet hat, und wenn man seinen Geist aufblitzen gesehen hat, sein Erinnerungsvermögen nur bestaunen konnte, kam immer der zum Vorschein, der er immer war und sich in der Erinnerung eingeprägt hat. Er war wohl kein Mensch, der sich einem sofort erschlossen hätte. Und wahrscheinlich bekam jeder, dem er begegnete, nur das zu hören, was er von sich preisgeben wollte. Denn was eine so einfache, gerade Lebenslinie geschienen hat, wurde doch auch von Querrillen und Sprüngen durchzogen. Letztlich war es wohl nur seine Familie, der er sich gänzlich geöffnet hat. Und das war vielleicht eine der ersten Korrekturen, die man an einem vielleicht nur oberflächlichen Bild vorzunehmen hatte : Christoph Allmayer-Beck war ein Familienmensch. Er, der nie geheiratet hat und sich vielleicht auch scheute, selbst eine Familie zu begründen, lebte über weite Strecken in seiner Familie, vor allem mit seinem Bruder Max und dessen unvergessener Frau Therèse, aber auch den Nichten und Neffen, in Wien, Aldrans, Nehmten und wo immer auch. Bruder und Schwägerin bekamen auch häufig als Erste Vortragsmanuskripte, Aufsätze und Buchkapitel vorgelesen Er freute sich mit seiner Familie und er litt mit ihr, sorgte sich um sie und musste erleben, wie einer nach dem anderen von ihm gegangen ist. Er war schließlich »der« Onkel, hatte aber auch bis zuletzt Menschen um sich, die ihm nicht nur seine physische Existenz erleichtert, sondern auch gegen seine Vereinsamung angekämpft haben. Das Bild von einem letztlich Einsamen wirkt deshalb eigentümlich, als AllmayerBeck dank seiner vielfältigen Interessen und seiner Bereitschaft, Verantwortung für andere zu übernehmen, letztlich nie einsam sein konnte. Da waren die Kalksburger, jene, die mit ihm das Jesuitenkolleg besucht haben und vielleicht wie er nicht nur mit Lob überschüttet worden sind. Die Jesuiten waren es, die nicht nur für seine umfassende Allgemeinbildung gesorgt haben, sondern in ihm auch eine besondere Liebe für die Humanwissenschaften, Kultur und Kunst, nicht zuletzt zur Literatur geweckt haben. Vor allem aber haben sie etwas für seinen tiefen Glauben getan, und ich erinnere mich sehr gut, wie ich das erste Mal mit Christoph Allmayer-Beck an der Stiftskirche vorübergegangen bin, die Tür offenstand und er sich bekreuzigt hat. Später erfuhr ich, weshalb er meistens nur »Christoph« genannt werden wollte, denn seine beiden Vornamen ergaben in Abkürzung »J. C«. Das setzte er mit Jesus Christus gleich und wollte es nicht auf seinen Namen angewendet wissen. Die Nächsten, die ihn nie haben einsam werden lassen, bis er einer ihrer letzten Vertreter war, waren die Offiziere dreier Armeen, des Österreichischen Bundesheers des Ständestaats, der Deutschen Wehrmacht und des Bundesheers der 2. Republik in seinen ersten Jahrzehnten. Die Verbundenheit mit ihnen sollte schließlich über Allmayer-
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Becks Tod hinausreichen, denn für sein Requiem wünschte er sich, dass auf der Orgel das Lied vom guten Kameraden gespielt würde. Sein Wunsch sollte in Erfüllung gehen Nachdem Allmayer-Beck am 3. Juni 1936 in Kalksburg die Matura – »wider alles Erwarten«, wie er dann schrieb – erfolgreich bestanden hatte, trat er als Einjährig Freiwilliger in das (Niederösterreichische) Leichte Artillerieregiment Nr.1 ein, entschloss sich dann für die Laufbahn eines Berufsoffiziers und wurde in die Maria-Theresianische-Militärakademie aufgenommen. Dort wurde er im September 1938 als Oberfähnrich schon nach deutscher Beförderungsnorm ausgemustert und nach Ostpreußen transferiert. 72 Jahre später widmete er seinen Jahrgangskameraden in der Fahnenjunkerschule für Infanterie und der Institution Militärakademie ein Buch. Militär, auch Krieg, schienen keine Schrecken zu haben. Sie gehörten zum Berufsbild. »Da war zunächst einmal meine beträchtliche Unerfahrenheit … sowie ein gerütteltes Maß an Naivität«, schrieb er. »Freilich : Wer ist mit 20 Jahren schon weitsichtig ?« Er durchlebte einen langen Krieg, war in Polen, in Frankreich und schließlich 3 ½ lange Jahre an der Ostfront. Zuletzt kam er als Hauptmann und Frequentant der Kriegsakademie von Weimar über Lenggries nach Tirol und beendete den Krieg im Mai 1945 im Niemandsland zwischen den Fronten. Bald darauf begann er sich selbstkritisch zu fragen, wie und wieso das alles so gekommen war. Aus der Frage nach dem, was da gewesen war, aber auch aus Vorlesungen, die er noch an der Kriegsakademie gehört hatte, filterte sich sein historisches Interesse heraus. Schon im Wintersemester 1945 inskribierte er an der Philosophischen Fakultät der Universität Innsbruck Geschichte. Wohl zur Verblüffung seiner Professoren und Kommilitonen ließ er sehr bald verlauten, er würde Militärhistoriker werden wollen. Es war also kein Bruch mit allem, das gewesen war, sondern eine Neuorientierung. Militär und Krieg blieben für ihn wichtig, als Bestandteil der Menschheitsgeschichte und Phänomene der Gewaltsamkeit, und sie hatten wie kaum etwas anderes Einfluss auf sein späteres Denken und Handeln. Die Kriegserinnerungen des dann schon 95-jährigen alten Herren endeten mit einem einfachen Bekenntnis : Er wollte mit der Abfassung und letztlichen Veröffentlichung seiner Memoiren ein Zeichen der Dankbarkeit setzen. Nicht so sehr Menschen gegenüber (doch auch denen), sondern Gott. Er sei, so schreibt er »durch eine höhere Fügung davor bewahrt worden, schuldig zu werden.« In der kurzen Kriegsgefangenschaft las er Hitlers gesammelte Rede und zum Drüberstreuen noch ein bisschen was von Joseph Goebbels und meinte, dass nichts mehr zu seiner Umerziehung beigetragen hätte als der Inhalt und Tenor dieser Schriften. Aber Militär und der Krieg ließen ihn nicht los, und gerade in seinen späten Jahren kehrte er immer wieder zu der Frage zurück, wie das alles kommen konnte und wie es gewesen war. Er schrieb die Geschichte »seiner«, der 21. Infanterie-Division, die erwähnte Geschichte der Militärakademie und schließlich ein Buch voller Reflexionen : »Aber Herr Leitnant, det lohnt doch nicht«. Seine Autobiografie über die Kriegsjahre.
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Nach der Religion und den Jahren als Offizier war für Allmayer-Beck der dritte Bezugsrahmen die Geschichte. Sie wurde ihm zur Bestimmung. Nach dem Studienbeginn in Innsbruck übersiedelte er nach vier Semestern nach Wien und meldete sich gleich für den Vorbereitungskurs am Institut für Österreichische Geschichtsforschung an. Im März 1949 wurde er als außerordentliches Mitglied aufgenommen. Schon vorher schloss er sein Doktoratsstudium mit der ungedruckt gebliebenen Dissertation »Erzherzog Franz Ferdinand und Baron Max Vladimir Beck« ab und promovierte am 17. Mai 1949 zum Doktor phil. Bis zum Frühjahr 1950 mühte er sich dann mit Paläographie, Kaiser- und Papsturkunden und allen anderen für den Kurs am Institut für Geschichtsforschung verpflichtenden Fächern ab. Doch offensichtlich wollte er nicht Mediävist werden. Seine vom Vorstand des Instituts, Leo Santifaller, betreute Instituts-Hausarbeit nannte er : »Die diplomatischen Korrespondenz zwischen dem Fürsten Kaunitz-Rietberg, österreichischer Botschafter beim Heiligen Stuhl, und der Wiener Staatskanzlei in der Zeit vom 16. Juni bis 30. September 1817 (Regesten)«, ein schon verdächtig nahe an der Zeitgeschichte schrammendes Thema. Schließlich absolvierte er im Juni 1950 die schriftliche und mündliche Prüfung am Institut und wurde mit dem Staatsprüfungszeugnis vom 21. Juni 1950 für die Anstellung in Archiven, Bibliotheken und Museen empfohlen. Noch im Herbst desselben Jahres trat Allmayer-Beck seinen Dienst als Vertragsbediensteter im Kriegsarchiv an. Gerade rechtzeitig, um auf dem Hof der damals von amerikanischen Truppen belegten Kaserne zu sehen, wie die Angehörigen des 796. US-Polizei Bataillons den Straßenkampf übten, denn damals, im Oktober 1950, fanden gerade kommunistische Ausschreitungen gegen das 4. Lohn- und Preisabkommen statt. Die Amerikaner fanden im gewesenen Offizier einen interessierten Zuschauer. Doch er war mittlerweile Archivar und als solcher für das Ordnen, Bewahren und Erschließen von Akten zuständig. Allmayer-Beck erledigte das in vorbildlicher Weise. Er erarbeitete maßgebliche Teile des Inventars des Kriegsarchivs und tat etwas, das mir schon vor vielen Jahren meinen tiefsten Respekt abverlangte : In den Mittagspausen vertiefte er sich in die Geschichte des Ersten Weltkriegs und las systematisch alle sechs umfangreichen Bände des Generalstabswerks »Österreich-Ungarns letzter Krieg 1914 – 1918«. Doch er wurde kein lediglich rezipierender Historiker, schrieb einen Beitrag nach dem anderen und veröffentlichte mehr und mehr selbständige Publikationen, tiefschürfende, großartig geschriebene Arbeiten, die von einem Aufsatz über die älteste Handschrift des Kriegsarchivs, einer Kreuzauffindungslegende aus dem 12. Jahrhundert (MÖStA 7. Bd. 1954, 7 – 12) bis zum möglichen Einsatz von Atomwaffen im Raum Silberwald im Marchfeld reichten. Vielleicht war es diese schon früh einsetzende reiche Publikationstätigkeit, die es ihm schließlich unmöglich gemacht hat, eine durchaus in Aussicht genommene akademische Laufbahn einzuschlagen, denn mit Thomas Ebendorfer und der Historiographie des Spätmittelalters hatte sich Allmayer-Beck tatsächlich weniger beschäftigt.
Johann Christoph Allmayer-Beck
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Mit dem Wechsel vom Kriegsarchiv ins Verteidigungsministerium 1961 und schließlich 1965 als Direktor ins Heeresgeschichtliche Museum wurde Allmayer-Beck der führende österreichische Militärhistoriker. 18 Jahre war er die Seele des Museums. Es war »sein« Haus, das er neu- und umgestaltete, dessen Sammlungen er wissenschaftlich durchforstete und vor allem auch erweiterte. Das Museum ist bis heute auch »sein« Haus geblieben. In den Jahren seiner Direktion entstanden in der Zusammenarbeit mit Erich Lessing drei große Bildbände, die letztlich nichts anderes geworden sind als große, prachtvoll illustrierte Führer durch das Heeresgeschichtliche Museum, »Die k. u. k. Armee 1848 – 1914« ; »Die kaiserlichen Kriegsvölker 1479 – 1718« und »Das Heer unter dem Doppeladler 1718 – 1848«. In dieser dritten und längsten Phase seiner beruflichen Existenz war er gleichermaßen schreibender und lehrender Wissenschaftler. Mit einer außerordentlichen rhetorischen Begabung ausgestattet und mit einer Fähigkeit, Themen intellektuell zu durchdringen, Fragen klar herauszuarbeiten und für Zuhörer verständlich aufzubereiten, konnte er allen jenen ein wenngleich häufig unerreichtes Vorbild sein, die sich schwertaten, ihre Gedanken klar und verständlich zu formulieren. Es war aber nicht nur das Was seines Sprechens, das haften geblieben ist, es war auch das Wie. Er konnte auch sarkastisch sein – natürlich unter Bedachtnahme auf jegliche Form der Höflichkeit. In Erinnerung geblieben ist mir die Schlussformel in einem Schreiben an einen politisch gut vernetzten, etwas aufsässigen Autor, in dem es hieß »Mit dem Ausdruck vorzüglichster Hochachtung beehrt sich zu zeichnen …« Eleganter konnte man wohl nicht zum Ausdruck bringen »Ach lassen Sie mich doch in Ruhe !« An seinen Arbeiten und an seiner gesellschaftlichen Präsenz hatten letztlich Viele Anteil, seine Freunde, Kollegen, Mitarbeiter und Untergebenen. Anteil hatten auch die Mitglieder jener Vereine, denen er bereitwillig seine Zeit widmete, der St. Johanns Club, der Verein Alt-Neustadt, dessen langjähriger Präsident er war, die Österreichische Gesellschaft für Landesverteidigung und Sicherheitspolitik, die Österreichische Kommission für Militärgeschichte, der PEN Club, sein Rotary Club Wien-Süd, und andere. Er war Mitglied vieler wissenschaftlicher Einrichtungen, der Kommission für die Geschichte der österreichisch-ungarischen Monarchie der Akademie der Wissenschaften, der Schweizerischen Vereinigung für Militärgeschichte, des Burgenvereins und anderer mehr. An seiner Bereitschaft, am intellektuellen – nicht so sehr am politischen – Leben Anteil zu nehmen, änderte auch seine spät einsetzende Gebrechlichkeit nichts. Was jedoch nie gebrechlich wurde, war sein Geist, und es war wohl nicht nur die Notwendigkeit, fremde Hilfe in Anspruch zu nehmen, um den Alltag zu bewältigen ; es war – meine ich – vor allem auch die schwindende Fähigkeit, sich so wie quer durch ein langes Leben auszudrücken und seine Gedanken so wohlformuliert zu äußern, wie er das gewohnt war, die ihn hat hadern lassen. Mit dem Leben – nicht mit dem Tod !
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Biografisches
Nun ist dieses lange Leben zu Ende gegangen. Es war wohl einmal damit zu rechnen, und dennoch wird es vielleicht vielen so ergangen sein wie mir. Er schien immer da zu sein, gehörte zu unserer Welt und ein wenig auch zu jener Ordnung, die für ihn selbst beim lieben Gott anfing und sich dann irgendwo verlor. Was bleibt, ist die Erinnerung an einen großen Österreicher, einen Patrioten, der schon längst nicht mehr der Tagesspolitik verhaftet war. Er hat einen Teil seiner persönlichen Erinnerungen zu Papier gebracht und sie damit Gemeingut werden lassen. Vielleicht hat er sich gescheut, an den Beginn seiner Aufzeichnungen jenen Satz zu stellen, mit dem Erzherzog Carl seine Autobiografie begonnen hat : »Ich wurde mit einem empfindlichen Herzen geboren.« Ich unterstelle ihm diesen Satz und möchte ihn – und sei es auch nur für mich – nachtragen. Christoph Allmayer-Beck ist wohl auch mit einem ebensolchen empfindsamen Herzen gestorben.
Hintergrund : Farblithographie 15 × 18 cm nach dem Aquarell von Rudolf von Alt, K.K. Waffenmuseum in Wien, 1856. Im Vordergrund Kataloge und Führer durch Säle und Ausstellungen des Heeresgeschichtlichen Museums, darauf Hofballspende Helm für k.u.k. Dragoner M 1905.
Vom Sammeln und Ausstellen
Eine zu Stein gewordene Idee : Das Heeresgeschichtliche Museum Am Beginn der Baugeschichte des Hofwaffenmuseums im Arsenal, wie der Bau des Heeres(geschichtlichen) Museums ursprünglich hieß, standen geleichermaßen die Forderung nach Funktionalität wie der Wunsch nach Ästhetik. Diese wiederum sollte sich aus einem Programm ableiten, dem ein regelrechter philosophischer Exkurs zugrunde lag. Solcherart wurde der Museumsbau eine zu Stein gewordene Idee. Meistens wird das Jahr 1848 als auslösend dafür angesehen, dass jenseits der sogenannten Belvedere-Linie im Südosten Wiens ein Gebäudekomplex errichtet wurde, der eine primär militärische Bestimmung hatte und dem dann auch ein repräsentatives Element in Form des ersten in Wien errichteten Museums implantiert wurde. Das ist aber nur bedingt richtig, denn eigentlich ging es nicht um ein Museum, sondern um ein prächtiges Zeughaus, und außerdem müsste man die Geschichte dieses Bauwerks noch ein wenig zurückverfolgen, da es bereits 20 Jahre vor der Revolution von 1848 und der Plünderung des kaiserlichen Zeughauses in der Wiener Innenstadt im Oktober dieses Jahres zu Überlegungen kam, das in Wien lagernde Kriegsmaterial an einem Punkt zu konzentrieren. Es gab auch mehrere Planungen für ein derartiges Fort, und wäre es zur Ausführung gekommen, dann wäre vielleicht irgendwo im Weichbild der Stadt ein Festungsoktogon von fünf Geschoßen entstanden, das mittlerweile wohl auch schon längst wieder geschleift worden wäre. Die Pläne kamen nicht zur Ausführung ; es fehlte am Geld und am Durchsetzungswillen. Doch 1849 wurde ein neuer Anlauf genommen. Eine Kommission unter der Leitung des Zivil- und Militär-Gouverneurs von Wien, Feldmarschallleutnant Baron Ludwig von Welden, entschied, dass keine derartige Zitadelle, wohl aber ein Arsenal gebaut werden sollte, dessen Gestalt Gegenstand eines Architektenwettbewerbs zu sein hatte. Damit wurde deutlich, dass es nicht nur um reine Zweckmäßigkeit ging, sondern der Haupt- und Residenzstadt des Habsburgerreiches ein auch städtebaulich eindrucksvoller und schön gestalteter Komplex hinzugefügt werden sollte. Aus dem Wettbewerb gingen dann zwei Architektenteams, nämlich das von Eduard Van der Nüll und August von Siccardsburg sowie jenes von Ludwig Förster und Theophil Hansen als Sieger hervor. Förster und Hansen erhielten
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den Zuschlag für den Bau eines Zeughauses, dem bald der Namen »Waffenmuseum« gegeben wurde, während sie sich gemeinsam mit Van der Nüll und Siccardsburg in den Bau der übrigen 30 Objekte des Arsenals teilten. Was nun entstand, waren ansehnliche Hochbauten, deren Architektur, wie Van der Nüll betonte, dem Charakter italienischer Ziegelbauten nahekommen und durchaus nicht den Charakter eines Forts erhalten sollte.142 Förster und Hansen begannen 1849 mit der Detailplanung und Bauausführung, doch die Partnerschaft der beiden hielt nicht sehr lange, sodass schließlich Hansen derjenige war, der sein Konzept umsetzte. Und dabei kam es eben zur Versteinerung jener Ideen, die er offenbar schon lange mit sich herumtrug. Die Eindrücke, die Hansen gesammelt hatte, waren vielfältig. Er hatte sich mit der in München von Leo von Klenze gebauten Alten Pinakothek auseinandergesetzt, vor allem aber mit dem Alten Museum in Berlin, das Karl Friedrich Schinkel 1824 bis 1828 gebaut hatte. Für Hansen »das Schönste«, das er bisher gesehen habe.143 Diese beiden Bauten, in denen die modernsten Errungenschaften des Museumsbaus in Deutschland verkörpert waren, überzeugten Hansen sowohl was den Grundriss, die Architektur der Stockwerke und vor allem die Gestalt eines Zentralraumes anlangte. Für ihn ging es daher von allem Anfang an um einen Museumsbau. Er plante ein 235 Meter langes Gebäude mit vorspringenden Quertrakten und Ecktürmen sowie einem turmartigen Mittelteil von quadratischem Grundriss, der von einer Kuppel bekrönt werden sollte.144 Im Gegensatz zu Schinkel und Klenze wollte Hansen die Kuppel des Zentralraumes jedoch nicht von einer Dachkonstruktion umschließen lassen, sondern sie deutlich sichtbar machen. Als Stilrichtung wählte er eine »byzantinische Bauweise« und begründete das damit, dass »diese sowohl für den Zweck des Gebäudes als auch für die zu Gebote stehenden Materialien vorzugsweise passend« sei.145 Er erachtete sie als besonders geeignet, um Bauwerke für »erhabene Zwecke« zu schaffen, vor allem aber ließ sich das Byzantinische auch mit islamischen und gotisierenden Stilelementen mischen. Gerade der Mittelrisalit mit seiner Kuppel sollte ein islamisches Element verkörpern, dem mit Bezug auf den Inhalt des zu schaffenden Museums noch besondere Bedeutung zukommen sollte. Die Habsburgermonarchie hatte ihre Stellung als Großmacht vor allem in der Auseinandersetzung mit dem Osmanischen Reich begründet und hatte dieses auf dem Balkan beerbt. Es war daher auch ein Akt der inneren Logik, dass man ein Museum, das die kaiserliche Waffensammlung aufnehmen und gleichzeitig die Stellung der Armee und des Reiches verherrlichen sollte, in einen Zusammenhang brachte, der wie nichts anderes geeignet war, auch eine der wichtigsten Perioden in der Geschichte der Habsburgermonarchie und ihrer Armee gewissermaßen nach außen zu tragen. Die gotisierenden Elemente, die dann ebenfalls am Mittelrisalit, an den Arkaden, Vorhallen, Balkon, Fenster und Fensterrose erkennbar sein sollten, würden an Kathedralen erinnern. Und das entsprach genau der Bestimmung des Zentralraumes des Museum,
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nämlich der Ruhmeshalle, die als Weiheraum gedacht war und bis heute den Charakter einer Domkirche nicht verleugnen kann. Für die Fassade des Gebäudes wurden von einem der bedeutendsten Bildhauer seiner Zeit, Hans Gasser, allegorische Figuren geschaffen, von denen vier, die Stärke, Wachsamkeit, Frömmigkeit und Weisheit, unter den Rundfenstern zur Aufstellung gelangten, während neben der Eingangshalle diesen weiblichen Tugenden vier männliche Figuren gegenübergestellt wurden, die Tapferkeit, Fahnentreue, Aufopferung und kriegerische Intelligenz symbolisieren. Mit der Architektur des Museums wurde aber nur ein erstes Kapitel in der Ideengeschichte des Hauses geschrieben, dem noch viele Kapitel folgen sollten. Und damit begann eine Art unendlicher Geschichte. Denn was Kaiser Franz Joseph anlässlich der Schlusssteinlegung für das Arsenal am 8. Mai 1856 zu sehen bekam und Rudolf von Alt kurz darauf in einem Aquarell festhielt, das war noch weit davon entfernt, fertig zu sein. Zwar konnte der Hansen’sche Museumsbau durch seine Monumentalität und die Gliederung der Fassaden, durch die eigens angefertigten roten und gelben Ziegel, die Terrakotten und Figuren beeindrucken, doch letztlich war es nur eine leere Hülle. Ein Jahr später waren an den Außenfassaden die letzten Details angebracht, doch die künstlerische Gestaltung des Inneren wurde erst zwanzig Jahre später beendet. Dabei setzten sich die dafür verantwortlichen Architekten und Künstler wie Carl Rahl und Carl Blaas, vor allem aber die »Betreiber« des Museums, nämlich die ersten Kuratoren und Kustoden über die ursprüngliche Widmung des Gebäudes, nämlich eine neue Heimstätte für Infanteriewaffen ebenso wie für die kostbare kaiserliche Waffensammlung zu sein, teilweise hinweg. Hansen hatte sich vorgestellt, es würden sich die Realien der Architektur unterzuordnen haben. Daher wählte er auch mit Bedacht Carl Rahl aus, um die Fresken so malen zu lassen, dass sie eine künstlerische Ergänzung der Architektur sein konnten, und sah in den Waffen, Rüstungen und Fahnen der kaiserlichen Sammlung letztlich nur etwas, das die Wirkung des Museumsbaus steigern und ihn zu einer Art Gesamtkunstwerk werden lassen sollte. Nicht so eine Reihe von hohen Offizieren, die es schließlich durchsetzten, dass Carl Blaas den »Zuschlag« für die Umsetzung eines Freskenprogramms erhielt, indem ihm aufgetragen wurde, bei den Fresken der Ruhmeshalle und der Seitenhallen wichtige Szenen der österreichischen Geschichte darzustellen und nicht nur Symbolik einfließen zu lassen. Zuguterletzt war es dem Votum Kaiser Franz Josephs zuzuschreiben, dass dem ersten Leiter des Waffenmuseums im Arsenal, Quirin Leitner, aufgetragen wurde, die Sammlung der historischen Stücke nach wissenschaftlichen Grundsätzen und nicht nach dekorativen Überlegungen vorzunehmen. Damit war ein Spannungsverhältnis gegeben, das sich eigentlich bis in die Gegenwart unverändert erhalten hat. Es ist der Kampf der Ästhetik und Symbolik gegen die Realien, den diese mitunter zu verlieren scheinen.
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Doch noch war ja dieses erste in Wien gebaute Museum bei weitem nicht vollendet, und Hansen, der letztlich auch für die Innenausgestaltung federführend war, bemühte sich immer noch, ein in jeder Weise perfektes Gebäude fertig zu stellen.146 Steinmetze und Bildhauer bereiteten im Vestibül die Sockel für die Aufstellung von 52 Rüstungen vor, Säulen und Wappenschilder wurden geschliffen ; gleichzeitig entstanden die Marmorstuck-, Stukkolustro- und Terrazzoarbeiten. Alle von Malerei und Vergoldung freigebliebenen Wände der Ruhmeshalle und der angrenzenden Seitenhallen wurden damit überzogen. Für die Fußböden ließ sich Hansen von antiken Mosaikfußböden inspirieren, und schließlich wurde bis in die Schnallen- und Schlüsselbleche hinein alles gestaltet. Dann aber kam es zu einer eigentlich unerwarteten Verzögerung, denn der Konflikt um die Ausmalung und das Freskenprogramm artete zu einem Kampf Blaas gegen Rahl aus, bei dem Hansen konsequent Rahl unterstützte, sich aber schließlich fügen musste. Blaas bekam definitiv den Auftrag zur Ausmalung der Ruhmeshalle und der Seitenhallen, musste sich allerdings eine Historikerkommission gefallen lassen, die natürlich wieder ihre eigenen Vorstellungen mitbrachte. Denn für sie galt insbesondere die Forderung, in dem Museum, das wie kein anderes dazu bestimmt war, die Geschichte Österreichs und vor allem die des Habsburgerreiches zu zeigen, jenes Lebens- und Wissenschaftsprinzip zur Anwendung zu bringen, das dann als Historismus bezeichnet wurde.147 Was kaum beachtet wird, ist der Umstand, dass im Programm für das Museum eine bildhafte Antwort auf die kleindeutsche Bewegung und Historik gegeben werden sollte. Da ging es nicht um eine verengte nationalstaatliche Sicht und einen kulturellen Beitrag zur Einlösung der politischen Forderungen Berlins, sondern um ein Gegenprogramm zu dem von Johann Gustaf Droysen verkündeten Konzept von »Preußens Beruf«.148 Quirin Leithner, Alfred von Arneth, Albert Jäger und letztlich auch Carl Blaas wollten und sollten dem die Prämisse von »Österreichs Beruf« entgegenstellen. Sie hatten solcherart ihren Anteil am Siegeszug der Geschichte und der Ersetzung einer generalisierenden Betrachtung geschichtlich-menschlicher Kräfte durch eine individualisierende Betrachtung, wie sie dem Historismus zugeschrieben wird.149 Natürlich wurde dabei an Bestehendes angeknüpft, doch ein neues Gefühl für die zeitlichen und räumlichen Dimensionen, aber auch ein neues Freiheits- und Nationalgefühl wurde auf die jeweiligen sozialen und politischen Hintergründe eines schon damals tausendjährigen Österreich projiziert. Ein weiteres Programm war geboren. Natürlich darf auch der Zeitraum nicht außer Acht gelassen werden, zu dem dieser Bau entworfen und vollendet wurde. In dem knappen Zeitraum von rund 25 Jahren wandelte sich das Kaisertum Österreich grundlegend. 1849 schien der Schluss zulässig, dass sich die Habsburgermonarchie als eine den europäischen Kontinent weithin beherrschende Macht behauptet hatte, die nicht nur in der Lage war, Revolutionen und dem Zerfall von innen her vorzubeugen, sondern auch jegliche Bedrohung von
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außen auszuschalten. Da dies vornehmlich mit militärischen Mitteln möglich gewesen war, resultierte daraus eine Art Omnipräsenz des Militärischen. Triumph war angesagt, und der Bau der Ruhmeshalle in mehrfacher Weise logisch. Nach Fertigstellung des Rohbaus und noch in der ersten Phase der künstlerischen Ausgestaltung erlitt Österreich 1859 einen schweren Rückschlag, der diesmal freilich zu Lasten der Armee ging. Vollends die Niederlage im Krieg gegen Preußen 1866 und die Reichsteilung 1867 im »Ausgleich« mit Ungarn ließen ein völlig anderes Gefühl aufkommen. Jetzt ging es darum, Beharrlichkeit zu zeigen, zu demonstrieren, dass dieses Reich schon viele Gefahren überstanden und Krisen durchgemacht hatte, die genauso wie die Erfolge zur Geschichte des Reichs gehörten. Man musste nur die geeigneten historischen Momente und Szenen herausgreifen. In diesem Zusammenhang fiel dann der Vorschlag, Gestalten der namhaftesten Herrscher und Feldherrn Österreichs in freien Gruppen aufzustellen und auf den Freskos einige der bedeutendsten Schlachten und militärgeschichtlich herausragenden Ereignisse zu verewigen. Hansen vermisste dabei zwar den leitenden Gedanken, wurde jedoch dahingehend belehrt, dass es sich um eine »Illustration der Heldentaten der österreichischen Armee handle«.150 Schließlich verließ Hansen das Komitee »wegen des Fehlens jeder höheren Idee«. Seinerseits musste er sich die Frage gefallen lassen, welcher leitende Gedanke seinem Bau zugrunde liege, und wie ein maurisch-byzantinisches Gebäude zu den mittelalterlichen Waffen und Rüstungen passte. Architekt, Maler und Historiker warfen sich gegenseitig Konzeptlosigkeit vor, und Hansen wollte überhaupt aufgeben, weil sein Bauwerk auf eine »vollkommen styllose Weise verunstaltet worden ist.« Doch sein Entlassungsgesuch wurde nicht angenommen. Stattdessen hatte sich Hansen daranzumachen, auch ein Programm für die künstlerische Gestaltung der Eingangshalle, des Stiegenhauses und der Ruhmeshalle zu entwerfen, und ließ daraufhin regelrecht die Waffen klirren. An jedem Pfeiler der Eingangshalle sollten vier Rüstungen angebracht werden ; andere waren für die Wandbereiche vorgesehen. Außerdem sollten die Wände, besonders über den Türen, durch Trophäengruppen und Fahnen, Lanzen und Rüstungsteile geschmückt werden. Für den Stiegenaufgang sah er Vollrüstungen und geharnischte Reiterfiguren vor, und schließlich sollten in der Ruhmeshalle vier geharnischte Reiter und weitere 16 Rüstungen untergebracht werden. Zuguterletzt sah Hansen eine Kolossalstatue des Kaisers vor. Es war nicht die kaum mehr zu überbietende und erdrückende Dekoration, die schließlich ein Abgehen von diesem Konzept nötig machte, sondern abermals der Kaiser. Er wollte seine Waffensammlung nicht nur als Staffage verstanden wissen, sondern verlangte wiederum ihre wissenschaftliche Bearbeitung und Aufstellung und bewies damit einen nüchternen und auch zukunftsweisenden Sinn, der letztlich dem Museum insgesamt zum Vorteil gereichte. Denn auch die Architektur und die Ausschmückung wäre hinter den hunderten Rüstungen und Fahnen verschwunden, ja fast zur Bedeu-
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tungslosigkeit herabgesunken. Einen Vorschlag Hansens griff der Kaiser jedoch auf, nämlich die als Alternative gedachte Bestückung der Pfeiler der Eingangshalle mit Feldherrnstatuen. Nachdem einmal die Entscheidung gefallen war, im Vestibül statt Rüstungen Statuen unterzubringen, wandelte sich dieser Raum zur Feldherrnhalle. 52 Persönlichkeiten der österreichischen Geschichte, vornehmlich Herrscher und Heerführer, sollten verewigt werden und rund ein Jahrtausend österreichischer Geschichte personifizieren. Dabei wurde die »Pflicht politischer Pädagogik« durchaus ähnlich den von Theodor von Mommsen erhobenen Forderungen gesehen.151 Doch der Unterschied war der, dass dem kleindeutschen ein großösterreichisches Konzept in Form des älteren und größeren Reiches gegenübergestellt wurde. Bei der Verwirklichung des Statuenprogramms kam auch eine sehr modern anmutende Idee zur Anwendung, da privaten Stiftern und vor allem den bedeutenden Familien Österreich-Ungarns Gelegenheit gegeben werden sollte, eine oder mehrere Statuen zu sponsern. Kaiser Franz Joseph gab auch diesbezüglich ein Vorbild ab, da er die Anfertigung mehrerer Statuen, darunter auch jener Andreas Hofers, aus seiner Privatschatulle bezahlte. Das war aber mehr, als dass ein Monarch Geld für Kunstwerke ausgegeben hätte. Hier ging es auch um grundsätzliche Fragen und Akte der Anknüpfung, ebenso wie um Wiedergutmachung und eine Re-Integration in die Geschichte. Währenddessen arbeitete Blaas unverdrossen am Freskenprogramm, bei dem er die Vorgaben der ihm beigegebenen Historiker, Alfred Ritter von Arneth und Theodor Georg Ritter von Karajan, umzusetzen suchte und dabei große Beispiele von Historienmalerei lieferte. Erst 1872 war die Arbeit vollendet. Was dem auftraggebenden Monarchen, den beratenden Historikern und schließlich auch Carl Blaas ein Selbstverständliches wurde, nämlich die präzise Wiedergabe historischer Szenen, sofern sie in der Historiographie eine auch schon kritische Aufarbeitung gefunden hatten, war nicht jedermanns Sache. Es sei nicht Aufgabe des Malers, Tatsachen zu überliefern, sondern sie zu interpretieren und zu überhöhen, meinte etwa ein deutscher Kritiker. Doch gerade das Abrücken von Allegorien und historischen Bilderbüchern machte schließlich den Vorzug dieser Arbeiten aus und ließ sie einen Bogen zur Geschichte schlagen. Die Überhöhung eines historischen Moments war ja dennoch zulässig, noch dazu, da mit Vorbedacht siegreiche Szenen aus der österreichischen Geschichte ausgewählt wurden. Bei der Überlegung, welche Objekte nun in dieses Hofwaffenmuseum im Arsenal kommen sollten, zeigte sich freilich, dass wohl ein Museum gebaut worden war, dass man aber eigentlich nicht darauf Bedacht genommen hatte, was darin gezeigt werden sollte. Es war gleichermaßen zu klein wie zu groß und stellte somit ein Bauwerk dar, das an sich Idee war, aber eigentlich nicht hätte befüllt werden müssen oder sollen. 1868 waren die Sammlungen, die in das Hofwaffenmuseum übersiedelt worden waren, geordnet, wurden katalogisiert und schließlich für den Besuch freigegeben. Für die
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Präsentation galt, dass alle Prunkwaffen und Gegenstände von größerem historischem Wert in der Mitte der Säle in Glasschränken oder auf Tischen unterzubringen waren, während die Harnische, Stich- und Stangenwaffen tableauartig an den Wänden angebracht wurden. Die Aufstellung entsprach genau jenen Forderungen des historistischen Zeitalters, die den Bruch mit dem Zufälligen und den Determinismus deutlich machen sollten : Man hatte sich bei der Präsentation aller »Künsteleien« zu enthalten, weil dadurch der Ernst der Sache zu einer »barocken Spielerei herabsinken« würde.152 Allmählich hinzukommende Stücke wurden, so gut es ging, in die bestehende Ordnung eingegliedert. Der zeitliche Bogen spannte sich solcherart vom Mittelalter bis in die damalige Zeitgeschichte, da bereits Gedenkstücke an Feldmarschall Radetzky und Vizeadmiral Tegetthoff gezeigt wurden. Die Hofwaffensammlung war jedoch nicht zuletzt deshalb, da es nicht zur Verwendung von Rüstungen im Vestibül und in der Ruhmeshalle gekommen war, zu umfangreich, um sie in dem dafür vorgesehenen Saal zu zeigen. Sie blieb daher nur kurz im Arsenal und übersiedelte nach Fertigstellung des Kunsthistorischen Museums in das Haus am Ring, weil man ihr dort mehr Raum geben konnte. Was sich für das Museum im Arsenal anbot, waren selbstverständlich die diversen Handfeuerwaffen, die aus dem kaiserlichen Zeughaus und aus den Waffenfabriken kamen. Zu ihnen gesellten sich die Trophäen aus den großen Kriegen des Hauses Habsburg, vor allem auch jene aus den Türkenkriegen. Es sollte ein Diskurs des Krieges mit der Geschichte werden, wie das dann der französische Philosoph Michel Foucault ausdrückte.153 Letztlich blieb es aber bei der Instrumentalisierung der Erfolgsgeschichte des Reiches mit dem Ziel, seine zeitliche und räumliche Größe zu demonstrieren und die Macht der kaiserlichen Waffen als eigentliches Kontinuum deutlich zu machen. Der Gedanke des Nationalmuseums stand Pate. Es bedurfte aber zweifellos einer weiteren gedanklichen Vorarbeit, um dann, als die Hülle vorhanden war, auch die entsprechende Fülle zusammenzubringen. Nach Phasen des Befüllens, Umlagerns, Wieder-Umlagerns und neuerlich Befüllens präsentierte sich schließlich das Museum 1891 so, wie sich das der auftraggebende Monarch, die Architekten und Künstler vielleicht, die Historiker wahrscheinlich vorgestellt hatten. Interessantes, historisch Wertvolles und Kurioses waren zu einer Schau zusammengetragen worden, die vornehmlich in der guten Jahreszeit und bei Tageslicht dem Publikum offenstand. Einem Publikum freilich, das mittlerweile durch andere Museumsbauten verwöhnt worden war und jenes Haus, das vor der Belvedere-Linie stand, zwar zu bestaunen lernte, das aber doch häufig die Entfernung scheute, die zu überwinden war, um sich der österreichischen Geschichte und vor allem der Auseinandersetzung um die Trias von Machtgewinn, Machterhalt und Machtverlust anzunähern. Doch natürlich wurde auch hier immer nachhaltiger zum »Konsum der Vergangenheit« eingeladen, wie das Salvatore Settis so schön formulierte. Und an dem hat sich eigentlich nichts mehr geändert.
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Anforderungen, Überforderungen, Herausforderungen – Anmerkungen zu einem Leidensweg Es gilt nichts vorzuwerfen. Aber es gilt auch nichts zu beschönigen und erst recht nicht etwas zu rechtfertigen, warum das und jenes nicht geschah, warum Projekte geboren und wieder verworfen, endlos debattiert und schließlich parallel in St. Pölten und in Wien die Realisierung einer Staatsnotwendigkeit angegangen wurde, die vielleicht nie verstanden werden wird. Von der Genesis her ist Wien wohl das weit ältere Projekt, und es kam daher überraschend, dass plötzlich eine Konkurrenzsituation entstanden ist, bei der man mit Helmut Qualtinger sagen möchte : »Simmering – Kapfenberg – das nenn i Brutalität« Die Sache ist freilich nicht ganz neu, und die gewisse Rivalität des Umlands gegenüber der Zentrale ist etwas, das schon von Heinrich Drimmel gelegentlich mit einiger Ironie kommentiert worden ist.154 Jenem Heinrich Drimmel, der freilich nicht als jemand zu nennen ist, der bei der Diskussion um ein Haus der (österreichischen) Geschichte eine Rolle gespielt hätte. Sein Haus der Geschichte war das Heeresgeschichtliche Museum, dem er in seiner Zuständigkeit als Unterrichtsminister 1955 gleich mehrere großartige Zuwächse ermöglicht hat, darunter das Schnittmodell des Flotten-Flaggenschiffs der k. u. k. Kriegsmarine »Viribus unitis« und die PolaSammlung des Technischen Museums, oder aber das vorher im Festsaal der Wiener Universität gehangene Bild von Julius von Payer : »Nie zurück !« Anforderungen Nie zurück ! wäre denn auch ein Zitat, das ich gerne verwendet haben würde, wenn es auf die Diskussion über ein Haus der Geschichte anwendbar geschienen hätte. Aber das hat es nicht. Und zeitweilig hatte es wohl den Anschein, als ob man weit mehr Schritte zurück als vorwärts gemacht hätte. Bei der schier endlosen Geschichte dieses Projekts kann man gar nicht anders, als immer wieder Namen zu nennen und von versäumten Gelegenheiten zu sprechen. Dabei fällt es nicht ganz leicht, erste Personen zu benennen. Vielleicht waren es Josef Karabacek, der Direktor der Hofbibliothek, oder Wilhelm John, der Direktor des Heeresmuseums im Wiener Arsenal, die schon zu Anfang des Ersten Weltkriegs wichtige Signale gegeben haben, da sie nicht nur wie bis dahin das Wertvolle, Merkwürdige und Schöne sammeln wollten, sondern den Kriegsalltag. Es war ein wichtiger Schritt in Richtung Sozialgeschichte, der da getan wurde. Im Fall des Heeresmuseums sollte und konnte es aber kein Abschied von dem von Hannes Leidinger so genannten »makabren Charakter der Sammlungstätigkeit« sein.155 Denn notgedrungen ging es gerade
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im Ersten Weltkrieg darum, Gewalt, Flucht, Vertreibung, Leid und das Hässliche zu sammeln. Die Chance eines radikalen Neubeginns wurde jedoch vertan. Der Weltkrieg der Jahre 1914 – 1918 und der Zerfall der Habsburgermonarchie hatten freilich zur Folge, dass Österreich neu zu definieren war und auch erst regelrecht entdeckt werden musste. Der Unterstaatssekretär für Heereswesen, Julius Deutsch, wollte den Bruch in der Weise deutlich machen, dass er das Museum im Arsenal aufzulösen empfahl. Österreich war für ihn wie für so viele – damals – kein Thema, daher plädierte er dafür, das Wertvolle zu verkaufen und alles andere sinnbildlich gesprochen – auf den Müllhaufen der Geschichte zu werfen. Es kam nicht dazu. Das Museum wurde wieder geöffnet. Das war umso bemerkenswerter, als zeitgleich die »Ständige Parlamentskommission für Heeresangelegenheiten« eine wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Ersten Weltkrieg regelrecht unterbunden hat. Der Erste Weltkrieg firmierte unter »habsburgische Traditionspflege«, und der Vorsitzende der Parlamentskommission und ehemalige k. u. k. Generalstabsoberst Theodor Körner verhinderte erfolgreich eine historiographische Beschäftigung mit dem Krieg, wie sie das Kriegsarchiv plante.156 Im Heeresmuseum durfte man allerdings »habsburgische Traditionspflege« betreiben. Daher war auch der Vorschlag des Kunsthistorikers Hans Tietze, das Museum zum »Hort der Republik« zu machen, von vornherein zum Scheitern verurteilt.157 1934 wurde ein nächster Anlauf versucht, das Heeresmuseum zum zentralen Gedächtnisort Österreichs werden zu lassen. Zwanzig Jahre nach der Entfesselung des Ersten Weltkriegs schien ein idealer Zeitpunkt zu sein, um im Corps de Logis der Wiener Hofburg, im Stiegenhaus und in 11 Sälen eine gewaltige Weltkriegsausstellung zu zeigen und bei der Gelegenheit gleich die Bestände des Heeresmuseums in die Hofburg umzulagern. Dabei spielte es offenbar keine Rolle, dass das Arsenal für ein der militärischen Geschichte des Landes gewidmetes Museum ein wohl authentischerer Bezugsrahmen war als die Hofburg. Die aber war zweifellos zentraler gelegen als das Museum »draußen vor der Stadt«.158 Ab 1935 wurde intensiv an der Umsiedlung gearbeitet. Das hatte insofern seine Logik, als ja auch sonst Österreichs Vergangenheit zur Staatsdoktrin erhoben wurde und sich die Traditionspflege gerne des Heldenplatzes bediente. In der Hofburg sollte daher das große Museum entstehen, das Auskunft über die natürlich immer wieder als »ruhmreich« bezeichnete Vergangenheit geben und über die Tristesse und Probleme der Gegenwart hinwegtrösten sollte. Und gleich nebenan wurde 1934 das Heldendenkmal zum zentralen Gedächtnisort des Ständestaats für die Gefallenen des Weltkriegs. Der Platz für ein neues Museum in der Hofburg war vorhanden und definiert. Kurt Schuschnigg war dafür – Adolf Hitler war dagegen. Das Heeresmuseum kam in den Würgegriff des NS-Staates und blieb, wo es war. Direktor Alfred Mell, Johns Nachfolger, glaubte allerdings, dass es nicht Hitler, sondern der letzte österreichische Bundeskanzler der Zwischenkriegszeit, Arthur Seyß-Inquart, und Außenminister Guido
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Schmidt gewesen sind, die die Übersiedlung torpedierten. Und Mell will auch gehört haben, dass jemand die rhetorische Frage gestellt hat : »Was wollen sie dort [in der Hofburg] ausstellen ? Handgranaten ?«159 Im Herbst 1944 wurde aber tatsächlich das Corps de Logis zum Ausweichquartier für das partiell zerstörte Heeresmuseum. Es war ein Notquartier, und das Museum war auch nicht wohl gelitten. Es sollte daher nach dem Krieg die von ihm genutzten Räume so schnell wie möglich freimachen. Das entsprach allerdings nicht der Intention des weiterhin amtierenden Direktors Mell, der die schon vor dem Krieg geplante Übersiedlung des Heeresmuseums in die Hofburg von neuem betrieb. Es sollte in einem erst zu schaffenden »Österreichischen Nationalmuseum« aufgehen. Im Unterrichtsministerium notierte man dazu : »Dermalen erscheint diese sehr anspruchsvolle Bezeichnung noch verfrüht.«160 Doch die Sache wurde »in Vormerkung« genommen. Bald darauf begann ein zäher Kleinkrieg um die Räume in der Hofburg, der mit dem Sieg der Etablierten, nämlich des Kunsthistorischen Museums endete. Doch ab dem Herbst 1955 war das verziehen, denn es gab ja ein neues – altes Museum im Arsenal, das nicht nur eine begriffliche, sondern auch eine inhaltliche Änderung erfahren hatte : Es war zum Heeresgeschichtlichen Museum geworden, etwas, das zumindest bei den topographischen Hinweisen mittlerweile wieder in Vergessenheit geraten ist, denn da liest man auf den Hinweistafeln schlicht »Heeresmuseum«, und auf dem Transparent über dem Arsenaleingang prangt bisweilen »Army Museum«. Doch das ist eine andere Geschichte. Vielleicht – und das soll durchaus selbstkritisch sein – war das Bemühen, das »Geschichtliche« im Museum im Arsenal stärker zur Geltung bringen zu wollen, von Anfang an eine Überforderung. Zurück ins Jahr 1948. Karl Renner setzte seine mittlerweile bekannte Initiative für ein Museum der 1. und der 2. Republik, das er im Leopoldinischen Trakt der Hofburg unterbrachte.161 Da Renner nicht uneitel war, mag ihm dabei durchaus der Gedanken gekommen sein, eine Art Renner-Museum einzurichten. Doch bei der Umsetzung der Idee ließ er keinesfalls anklingen, dass er sich selbst in den Vordergrund rücken wollte und war es zufrieden, der Initiator gewesen zu sein. Zumindest ließ sein Auftrag, die Bundespräsidenten und Bundeskanzler der Ersten Republik und des Ständestaats zu porträtieren, nicht darauf schließen, dass sich Renner dabei selbst ein Denkmal setzen wollte. Er handelte eher so wie dann später Bruno Kreisky, für den die Erste Republik immer das Maß aller Dinge war. Keinesfalls sollte es eine dann später so genannte »Entsorgungsanstalt« für Geschichte werden.162 Mit der Gründung dieses Museums, das nie eines geworden ist, wurde jedenfalls eine weitere Zäsur genützt, um ein identitätsstiftendes Haus zu errichten. Wieder gab es eine Chance. Und wieder wurde sie vertan. In dem Fall wird wohl auf Adolf Schärf zu verweisen sein, der das Renner’sche Museum delogierte und einpacken ließ. Es war zweifellos auch alles andere als gut untergebracht gewesen. Viel bedauerlicher und folgenschwerer war jedoch, dass damit
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nicht nur eine Initiative im Nichts endete, sondern ein Problem deutlich geworden ist : Ein zeitgeschichtliches Museum brauchte einen geeigneten Raum, und es mangelte einst wie jetzt am politischen Willen, den zu finden oder auch zu schaffen. Allerdings hatte vielleicht auch die Initiative von Renner zu kurz gegriffen, indem sich die Sammlungstätigkeit mehr oder weniger bezugslos auf die Erste Republik beschränkte, keine Vorgeschichte, keine NS-Zeit und auch kein Zweiter Weltkrieg mitgedacht worden waren. Daher kam zur Frage der Unterbringung die eigentlich wichtigere Frage nach den Inhalten, angefangen von der kaum zu beantwortenden Frage : Was ist Österreich ? Dabei hätte man meinen können, dass sich angesichts der allmählichen Selbstfindung des Landes und der zunehmend für wichtig erachteten Frage nach dessen Identität der Wunsch nach einem Haus der Geschichte mit einer gewissen Dringlichkeit stellte. Doch durch Jahre und Jahrzehnte definierte sich Österreich primär so, dass betont wurde, was es nicht sein wollte : Nicht mehr der Rest von einst, nicht mehr das andere, geschweige denn das bessere Deutschland und selbstverständlich nicht mehr die Ostmark oder die Alpen- und Donau-Reichsgaue des Deutschen Reichs. Abseits dieses Selbstfindungsprozesses gab es aber etwas, das eine durchaus heikle Materie darstellte und das seit dem Zweiten Weltkrieg ohnedies belastete Verhältnis zu Deutschland einer zusätzlichen Belastungsprobe aussetzte : Aachen und Nürnberg verlangten die Reichsinsignien und -kleinodien, also Kernstücke der Schatzkammer zurück. Der Streit darüber eskalierte und reichte bis in die Regierungszeit von Helmut Kohl, der mit seinen Initiativen zur Gründung eines Hauses der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in Bonn und der Grunderneuerung des Deutschen Historischen Museums in Berlin neue Maßstäbe setzte. Nebstbei entschied er, dass die Reichsinsignien in Wien verbleiben sollten. Nun ließe sich natürlich sagen, dass man in Wien früher dran gewesen war als in Bonn und Berlin. Doch die Sammlung Erste und Zweite Republik war nicht weitergeführt, war verräumt und herumgeschubst worden, bis sie in Eisenstadt landete und tatsächlich für einige Zeit ausgestellt wurde. Das österreichische Haus der Geschichte stand folglich im Burgenland, nicht in Niederösterreich, aber auch nicht in Wien – ehe die Sammlung abermals eingepackt und in die aufgelassene Zuckerfabrik in Siegendorf im Burgenland verbracht wurde. Überforderungen Wir halten Anfang der achtziger Jahre. Das Österreichbewusstsein hatte in den sogenannten Kreisky Jahren einen beträchtlichen Auftrieb erhalten,163 und es ist wohl in diesem Zusammenhang zu sehen, dass die schon gelegentlich geäußerten Überlegungen zur Verbauung des Wiener Albertinaplatzes um eine Facette bereichert wur-
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den. Es kam daher auch nicht von ungefähr, dass die Ausstrahlung der ersten Folgen von Hugo Portischs Fernsehserie »Österreich II« den Wunsch nach einem Haus der Republik beflügelte. Dazu kamen das deutsche Beispiel und abermals die Frage nach der Abgrenzung. Wilhelm Holzbauer und Gustav Peichl fertigten 1984 im Auftrag der Wiener Magistratsabteilung 21 eine städtebauliche Studie an, die freilich in Konkurrenz zu einem anderen Projekt für den Albertinaplatz stand, das der Wiener Gemeinderat schon zwei Jahre zuvor genehmigt hatte, nämlich ein Mahnmal gegen Krieg und Faschismus von Alfred Hrdlicka. Auch das war durch eine Fernsehserie angeregt worden.164 Eine Zeitlang hatte es aber den Anschein, als ob das Haus der Republik den Sieg davontragen würde. Vorgeschlagen wurde ein Bauwerk, in dem in den unteren Stockwerken ein »Museum besonderer Art« einziehen sollte, sowie in den oberen Stockwerken Vertretungen der Bundesländer. Das Gebäude solle der Holzbauer/Peichl-Studie zufolge »der Darstellung der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Geschichte Österreichs, seiner Gegenwart und seiner Zukunftsperspektiven dienen.« Für das Gebäude waren ebenso eine Bibliothek, ein Buchladen und ein »Österreich-Institut« mitgedacht worden. Das war ja nun ein recht ambitioniertes Projekt. Die Reaktion darauf, freilich, eine nicht ganz untypische. In der »Albertina« sorgte man sich um die freie Aussicht, die man seit der Zerstörung des Philipphofs hatte. Scheinbar pietätvoll war der Hinweis auf die nach wie vor irgendwo in den Tiefen ehemaliger Luftschutzkeller liegenden Gebeine von vielleicht 150 Menschen. Der Platz sollte nie mehr verbaut werden. Auch diesbezüglich gab es einen Gemeinderatsbeschluss, der zweite oder dritte also, der sich auf denselben Platz bezog – sieht man einmal vom Holocaust-Denkmal ab. Dennoch : Die Pläne für ein Haus der Republik nahmen 1985 Gestalt an. Und ich kündigte eine Seminarveranstaltung an, in deren Rahmen Inhalte für die museal zu nutzenden Stockwerke ausgearbeitet werden sollten. Es würde ja zumindest 2.000 m² Ausstellungsfläche geben, die den mittlerweile schon etwas konkreteren Plänen zufolge der Darstellung der Zeit ab 1945 gewidmet sein sollten. Die Teilnehmer des Seminars richteten – gedanklich – das Foyer und die eigentlichen Ausstellungsflächen unter Zugrundelegung der Entwürfe von Holzbauer und Peichl ein, ließen ein Modell des gedachten Eingangsbereichs und der museal zu nutzenden Flächen anfertigen, beschäftigen sich mit der von Auschwitz abzuleitenden Frage, ob Betroffenheit zur Sprachlosigkeit werden muss, wie weit sich das Infragestellen historischer Entwicklungen musealisieren lässt u.dgl.m., und haben jedenfalls ein ordentliches Stück Arbeit geleistet. Die Seminararbeiten und das Modell wurden dem Wissenschaftsministerium übergeben. Man hat nie mehr etwas von ihnen gehört. Ende des Sommersemesters 1986 war das Projekt aber ohnedies schon so gut wie tot. Und wir alle waren um eine Erfahrung reicher. Die Standortfrage war ein zentrales Thema geworden, der Inhalt nicht so wichtig, und die Wirkung einer Pressekampagne,
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an der sich die Wiener FPÖ und vor allem die »Kronen-Zeitung« beteiligten, eine gewaltige. Statt des Hauses der Republik kam das »Holocaust Denkmal« Alfred Hrdlickas zur Aufstellung. Sicherlich eine ordentliche Lösung, bei der man sich freilich an der Person des Bildhauers und KPÖ-Mitglieds Hrdlicka stieß. (Später einmal reichte bei einem Sektionschef des Verteidigungsministeriums der Hinweis auf den Kommunisten Alfred H., um dem Heeresgeschichtlichen Museum den Ankauf eines der raren Ölgemälde Hrdlickas zu verbieten.165 Aber auch das ist eine andere Geschichte !) Seit den achtziger Jahren sollte das Haus der Geschichte nie mehr aus der Diskussion schwinden. Dabei ging es aber nicht, wie man hätte meinen können, weiterhin um die Standortfrage, sondern sinnvollerweise um das Inhaltliche. Konsens schien es aber wieder nur über einen Punkt zu geben, was nämlich nicht sein sollte : Nicht sein sollte, dass im Deutschen Historischen Museum in Berlin Österreich als Teil der deutschen Geschichte gezeigt wurde. Als Folge der Karl-Erdmann-Diskussion (Drei Staaten, zwei Nationen, ein Volk) haben Gerald Stourzh aber auch Helmut Rumpler und andere ein regelrechtes Verdikt ausgesprochen : In einem deutschen historischen Museum sollte Österreich keinen Platz haben. »Wehe uns, wenn wir daran mitarbeiten« (Rumpler). »Ich halte es für merkwürdig, dass es in Deutschland eine Tendenz zur Wiedervereinnahmung gibt« (Stourzh).166 Da ging es nicht um Bilaterales, sondern um die Sorge, vereinnahmt zu werden. Denn das Deutsche Historische Museum, das mittlerweile nach einem völlig neuen Konzept aufgestellt wurde, bezog in den Abschnitten bis 1806 die Reichsgeschichte und punktuell auch die österreichische Geschichte des 19. Jahrhunderts mit ein. War das zulässig ? Und ohne Zugrundelegung eines existierenden österreichischen Hauses der Geschichte begann man dieses zu definieren. Österreich zu bebildern, war aber alles andere als leicht. Denn – und damit sind wir schon bei einer recht gegenwärtigen Diskussion angelangt : Wann sollte und wollte man anfangen ? Bei den Babenbergern und Ostarrichi, doch schon früher oder aber später ? War es deutsche Geschichte oder primär habsburgische Geschichte ? Verlangte der Mut zu Neuem nicht, dass man ihm den Mut zu Altem entgegensetzte ? Die Diskussion zeigte durchaus exemplarisch, dass Fragen der Abgrenzung nie ganz einfach sind, und zwar die der zeitlichen wie die der räumlichen Abgrenzung. Erst jüngst musste man sich fragen, wie sich ein Haus der Geschichte Niederösterreichs definiert, wenn man sich mit der Frage nach der Hauptstadt beschäftigt. Und das war bis zum Juli 1986 nun einmal nicht St. Pölten. Bei der Frage nach dem »Umfang der österreichischen Geschichte« – um einen Buchtitel von Gerald Stourzh zu zitieren167 – tauchte wie von selbst der seit 1946 schlummernde Begriff Nationalmuseum auf. So etwas gab es ja – anderswo. Doch schon die Andeutung, ein österreichisches Haus der Geschichte könnte als Nationalmuseum konzipiert werden, ließ Schaum vor manchen Mündern entstehen. National durften eine Bibliothek, eine Bank, durften Fußball- und Schiteams sein, doch ein
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Museum – Niemals ! Historische Museen scheinen sich freilich in besonderer Weise zu eignen, um Besuchermassen durch eine Art Vergangenheitshöhle »hindurchzupumpen«. Anders und positiver : Nichts auch gibt rascher und besser Auskunft über das Selbstverständnis eines Landes als gerade ein historisches Museum. Dabei kommt es nicht einmal darauf an, was in einer Ausstellung enthalten ist, sondern eigentlich mehr noch darauf, was nicht enthalten ist und was weggelassen wird. Denn in der Regel wird in historischen Museen durch Weglassen oder Überhöhen ein eigentlich recht zuverlässiger Index des Erinnerungsgutes gegeben, und insgesamt eine kaum vergleichbare Positionsbestimmung vorgenommen. Es ist aber sehr wohl eine österreichische Besonderheit, dass nicht nur die NS-Zeit, sondern auch und besonders die Zwischenkriegszeit vergleichbare »Entsorgungsprobleme« bereitet. Denken wir an das Dollfuß-Bild im Parlamentsklub der ÖVP und die periodisch wiederkehrende Erregung darüber.168 Wieder müssen wir einen Zeitsprung machen. Als Erhard Busek Ende der achtziger Jahre damit begann, die Museumslandschaft aufzumischen,169 konzentrierte er sich nicht nur auf das Museumsquartier und die großen Museen im innerstädtischen Bereich, sondern überlegte zusammen mit seinem Kabinettschef Peter Mahringer auch, wie man die räumlich etwas distanzierten Museen stärker ins Bewusstsein rücken könnte. 1992 – ich war mittlerweile Direktor des Heeresgeschichtlichen Museums geworden – wurde ich in die Überlegungen eingebunden, wie sich die Belvederemuseen, das 20er Haus und das Heeresgeschichtliche Museum zu einer Art zweitem Museumsquartier entwickeln ließen. Das schien auch deshalb reizvoll, da sich die Republik für das Millenniumsjahr 1996 doch einiges vorgenommen hatte. Unter anderem sollte das Heeresgeschichtliche Museum eine Erweiterung um das nächstgelegene Arsenalobjekt erfahren, in dem die Zeit ab 1918 gezeigt werden sollte. Dabei war klar, dass die militärische Geschichte sowohl für die Zwischenkriegszeit wie für die Zeit ab 1945 bzw. 1955 nur bedingt aussagekräftig sein würde, es also einer stärkeren Einbeziehung der politischen und vor allem auch der Sozial- und Kulturgeschichte bedurfte. Die Architektenplanung war 1994 abgeschlossen, Inhaltliches schon definiert, das Bauprojekt gemäß EU-Norm ausgeschrieben – als der Ausbau im Millenniumsjahr 1996 abgesagt wurde. Also musste das bestehende Haus herhalten, um wenigstens einige Kapitel der jüngeren und jüngsten Geschichte in der permanenten Ausstellung zu behandeln. Und jetzt kam die mittlerweile nach Siegendorf verlagerte Renner-Sammlung zur Ersten und Zweiten Republik zur Geltung. Schwierig war anfangs nur, dass niemand mehr so recht wusste, ob es sich dabei um eine Sammlung des Bundes handelte oder ob sie doch der Ludwig-Boltzmann-Gesellschaft oder dem Konsumverein gehörte. Auch das ließ sich klären, und es wurde vielleicht auch zur Überraschung des damaligen Generaldirektors des Kunsthistorischen Museums, Wilfried Seipel, festgestellt, dass er sogar eine Art Kuratorenfunktion für die Sammlung besaß. Diese kam im vollen Einvernehmen zweier Ministerien ins Heeresgeschichtliche Museum und ist in wesentlichen Teilen
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seit 1998 zu sehen. Die Besucherzahlen schnellten hinauf und überstiegen rasch die 100.000er Marke. Nicht zu jedermanns Freude, sollte ich wohl hinzufügen. Ohne einschlägige Ausstellungs- und Museumserfahrung ließ sich denn auch leicht kritisieren. Gerhard Botz schrieb etwa, es handle sich um »skurrile zeitgeschichtliche Aktualisierungsversuche« und vertrat die Meinung, dass das Heeresgeschichtliche Museum »noch immer das Gesicht seiner ursprünglichen Widmung als militaristisch-aristokratische ›Ruhmeshalle‹ des kaiserlichen Neoabsolutismus« trage.170 So konnte man es natürlich sehen, auch wenn dabei der Anspruch nach konstruktiver Kritik glatt auf der Strecke blieb. Was war das aber gegenüber der inhaltlichen Fundamentalkritik, die aus dem Verteidigungsministerium zu hören war ! Schon bei der Eröffnung der Saalgruppe »Republik und Diktatur« wurde kritisiert, dass nicht nur die Rolle des Bundesheers in Staat und Gesellschaft, sondern auch der Paramilitarismus einen wichtigen Platz erhalten hatte. Schutzbund und Heimwehr gehörten doch nicht zur Heeresgeschichte. Darüber ließ sich streiten. Bis vor kurzem konnte man auch hören, dass das Heeresgeschichtliche Museum nicht der richtige Platz sei, um die Sterbecouch des Engelbert Dollfuß und den Priestertalar von Ignaz Seipel zu zeigen. Zumindest wurde das als Überforderung eines Museums erachtet, das nach wie vor als Waffenmuseum im Arsenal gesehen wurde – so wie es 1849 definiert worden war. Die Ablehnung des Gezeigten gipfelte schließlich in der Empfehlung eines Oberrats im Verteidigungsministerium, die Saalgruppe »Republik und Diktatur« zuzusperren. Sicher war eines : Auch ein inhaltlich verändertes Heeresgeschichtliches Museum konnte kein Ersatz für ein Haus der Geschichte, ein Nationalmuseum oder Pendant eines mittlerweile alle Besucherrekorde brechenden Hauses der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in Bonn sein. Die Frage nach den Entwicklungsmöglichkeiten für das Heeresgeschichtliche Museum blieb ungelöst, ebenso wie die Frage nach dem auszustellenden Museumsgut und der Art der Darstellung. Bis in die jüngste Zeit wurde allerdings auf das Arsenal und die Möglichkeit verwiesen, dort ein – vielleicht das – Haus der Geschichte zu bauen und einen regelrechten historischen Cluster zu schaffen.171 Eine Zeitlang wurde auch erwogen, das Wien Museum auf dem Gelände des ehemaligen Wiener Südbahnhofs unterzubringen.172 Wie immer auch : Die betreffenden Kapitel können als abgeschlossen gelten. Herausforderungen Das Thema Haus der Geschichte blieb jedoch auf der Tagesordnung. Es waren die Landeshauptleute, die ihr Interesse bekundeten, letztlich aber auch keine Lösungen anzubieten hatten, und es war die Bundespolitik, die im Zusammenhang mit der Umwidmung des Palais Epstein für Zwecke des Parlaments tätig wurde. Leon Zelman,
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der Leiter des Jewish Welcome Service Vienna, trat vehement dafür ein, das Palais als Haus der Geschichte zu nutzen, wobei er sich aber in einer Diskussion mit Stefan Karner und mir durchaus vorstellen konnte, eine Art Teilnutzung zu erreichen, und mehr noch : Im Epstein würde man durchaus ohne Originale und vor allem auch ohne Realien auskommen.173 Indirekt wurde damit ein Thema angesprochen, das die nun sehr rege und emotional werdende Diskussion um den Aspekt Virtualität anreicherte. Während dann zwei Realisierungsstudien in Auftrag gegeben wurden, eine von Innenminister Caspar Einem, die andere von Bundeskanzler Wolfgang Schüssel, geisterte immer wieder das Wort von der Virtualität durch den Raum. Und damit war eine neue Paarung gegeben : Realienmuseum versus virtuelles Museum. Für Letzteres plädierten vor allem Staatssekretär Franz Morak und der Linzer Ordinarius für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Roman Sandgruber. Von einem virtuellen Museum wurde wohl angenommen, es würde billiger sein als ein klassisches und den Originalen verpflichtetes Museum. Doch ein Kostenvergleich unter Zugrundelegung eines der wenigen schon seit längerem funktionierenden virtuellen Museen, dem »In Flanders Fields Museum« in Ypern, sollte eigentlich ernüchtern.174 Virtuelle Museen, wenn sie wirklich gut sein sollen, sind teuer in der Entstehung und – vor allem – im Betrieb. Sie bieten allerdings auch die Möglichkeit, Erlebnisräume zu schaffen und Geschichtsbilder auszustellen, und sie eignen sich zumindest ansatzweise dazu, Ausstellungen zu außerschulischen Lernorten werden zu lassen – sofern man das will, und Geschichte nicht generell als undarstellbar ansieht.175 Nachdem zwei Studien fertig gestellt waren,176 gab es wohl eine kurze Irritation, da die eine (und das war nicht die Karner/Rauchensteiner Studie) zunächst nicht angenommen wurde. Im Kulturausschuss des Nationalrats meinte man auch schon Details herauslesen zu können (die aber nicht genannt wurden), und der Nationalratsabgeordnete und Historiker Walter Posch sah sich zur Feststellung verleitet : »Figls Weinglas, Sinowatzens Hosenträger und Schüssels Mascherl auszustellen sei wohl zu wenig.«177 Er hatte zweifellos recht und obendrein in die Diskussion eine humorige Note gebracht. Dann, freilich, hieß es : Beide Studien sollten verschmolzen werden. Die Autoren erklärten sich dazu bereit, und das trotz der immer wieder zu hörenden Argumente, es sei mit Verharmlosung zu rechnen, es würde Koalitionsgeschichtsschreibung der übelsten Art betrieben werden, das Ganze hätte eine Alibifunktion, um die schwarz-blaue Koalition netter dastehen zu lassen, u.dgl.m. Die Geschichte des 20. Jahrhunderts sei, meinten Gerhard Botz und Helmut Konrad, »nicht einfach festschreibbar, objektiv darstellbar.«178 Merkwürdigerweise zerbrach sich aber kaum jemand den Kopf darüber, wo das Material zu finden wäre, das dann der Verharmlosung dienen würde, da es ja keine gewachsene Sammlung des Bundes gab und gibt. Der Verdacht, dass man immer mehr auf Zufälliges angewiesen sein würde, war daher gravierender als die Mutmaßung, es könnte Geschichtsklitterung betrieben werden.
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Die Absicht, ein Haus der Geschichte zu errichten oder auch nur einzurichten, wanderte in die Regierungserklärung der Regierung Schüssel I. Doch es ging noch immer nichts weiter. Häuser wurden genannt, in denen man ein Haus der Geschichte unterbringen konnte, ein Gymnasium in der Wiener Hegelgasse, das Neugebäude in WienSimmering, das Objekt IV im Arsenal ; dann kam noch ein Neubau auf der Donauplatte in Wien-Kagran dazu ; naheliegender vielleicht ein Neubau auf dem vom ORF genutzten Parkplatz gegenüber dem Rundfunkgebäude in der Wiener Argentinierstraße. Doch auch das war nur ein Teil einer Diskussion ins Blaue. Dass die Adaptierung eines bestehenden Gebäudes ebenso wie ein Neubau Geld kosten würden, stand jedoch fest. Und Geld wurde keines bereit gestellt. Wohl aber wurde die Absicht, ein Haus der Geschichte zu errichten, gebetsmühlenartig in die Regierungserklärungen der Regierungen Schüssel II, Gusenbauer und schließlich Faymann geschrieben. Das Projekt fand sich im Jahr 2000 auch prominent im sogenannten Weisenbericht, mit dem die EU-Sanktionen gegen Österreich aufgehoben wurden, und unter der Überschrift »Das Eintreten der österreichischen Regierung für die Bekämpfung von Rassismus, Antisemitismus, Diskriminierung und Fremdenfeindlichkeit« im Punkt 59 des Berichts die Absicht der Regierung, ein Haus der Geschichte zu schaffen, lobend hervorgehoben wurde : »Die Regierung plant in diesem Bereich auch einige neue Initiativen wie ein neues Museums für österreichische Zeitgeschichte (›Haus der Geschichte der Republik Österreich‹)« – hieß es da.179 Wieder gab es keinen echten Fortschritt, wohl aber war absehbar, dass das Jahr 2005 und mit ihm das Fünfzigjahr-Jubiläum des österreichischen Staatsvertrags kommen würde. Nach dem Millenniumsjahr 1996 war das abermals ein attraktives Datum, um vielleicht Akzente zu setzen oder einen Spatenstich vorzunehmen. Die Vorlaufzeit für eine große Ausstellung betrug freilich nur mehr drei Jahre. Bei einigermaßen konzentrierter Arbeit sollte das reichen. Bundesministerin Elisabeth Gehrer zeigte sich interessiert. Wieder einmal wurde ein Gremium geschaffen, das mit vorbereitenden Planungen betraut wurde. Ein Ministerratsbeschluss stellte die Weichen. Dabei war die Überlegung die, dass mit einer solchen Ausstellung endlich auch ein Grundstein für ein Haus der Geschichte gelegt werden könnte. Und diesmal schien es tatsächlich zu klappen. Mit Ministerratsvortrag vom 19. März 2002 wurde ein Projektteam beauftragt, für 2005 eine »Ausstellung vorzubereiten, die dem Thema 50 Jahre Staatsvertrag und Neutralität gewidmet ist. Gleichzeitig soll diese Ausstellung eine Vorstufe zu einem erst zu schaffenden Haus der Geschichte der Republik sein.« Prompt kamen die Einwände : Es waren wieder die falschen Leute eingeladen worden, es drohten Koalitionsgeschichte, Willfährigkeit, Marginalisierung wichtiger Themen … Doch das sorgte nur kurzzeitig für Irritationen. Im Oktober 2002 lag ein Grundsatzpapier vor, das zur Diskussion gestellt wurde. Gegenpapiere entstanden.180
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Eine Latte von Historikern, die Landesmuseen und -archive sowie andere Wissenschaftseinrichtungen leisteten großartige Arbeit. Die Mitwirkung aller Bundesländer war sichergestellt. Der ORF wurde eingebunden. Zusammenfassend hieß es : »Die großen Linien der Ausstellung stehen außer Streit. Zur Umsetzung sollen die Möglichkeiten der Visualisierung von Zeitgeschichte im vollen Umfang genutzt werden. Es werden folglich nicht nur die Realien, sondern auch die elektronisch und virtuell aufzubereitenden Inhalte eine Rolle spielen. Da die im österreichischen Staatsvertrag von 1955 enthaltenen Bestimmungen Grundsatzfragen der österreichischen Existenz im 20. Jahrhundert behandeln, sollen die Bestimmungen auf ihre historische und aktuelle Relevanz hin untersucht werden. Die Präsentation wird daher sowohl sorgsam gestaltete kulturhistorische Abschnitte wie Elemente regelrechter Inszenierung und Lesebereiche enthalten. Zur Vor- und Nachbereitung ist daran gedacht, Kernbereiche der Ausstellung im Internet zugänglich zu machen. Zielgruppen sind sämtliche Alters- und Bildungsstufen, wobei den jugendlichen Besuchern besonderes Augenmerk geschenkt werden soll.«181 Für März 2003 war die Ausschreibung eines Architektenwettbewerbs vorgesehen. Weitere Vorgespräche fanden statt. Weitere Papiere wurden geschrieben. Als möglicher Ort für eine große Staatsvertragsausstellung wurde das Künstlerhaus in die engere Wahl gezogen. Es sollte ausreichend Platz für die Ausstellung bieten, hatte eine noch einigermaßen funktionierende gastronomische Einrichtung, ein Kino, das nicht nur für Filme, sondern auch für ein wissenschaftliches Begleitprogramm genutzt werden hätte können ; es hätte wohl auch ein paar dringend nötige infrastrukturelle Verbesserungen erfahren … und jetzt kommt verstärkt der Konjunktiv ins Spiel : wäre da nicht wieder die Frage der Finanzierung gewesen. Die Ausstellungskosten waren zwar noch nicht konkret benannt worden, fanden aber in keinem Fall ihre Bedeckung in laufenden Budgets, und die Staatsvertragsausstellung erfuhr ein Begräbnis dritter Klasse. Es war ein stilles Begräbnis, allerdings hörte der Chefredakteur der »Presse«, Andreas Unterberger, davon und widmete der Absage einen bitteren Kommentar. Das war es dann, das drei Herren, Hannes Androsch, Herbert Krejci und Peter Weiser auf den Plan rief,182 die in einer bemerkenswerten Aktion die Staatsvertragsausstellung retteten, ein Public-Privat-Partnership Projekt auf die Beine stellten und auch die Zusage erhielten, die Ausstellung im Oberen Belvedere unterzubringen. Allerdings hatte die Absage des Bundes dazu geführt, dass Stefan Karner beim Niederösterreichischen Landeshauptmann Erwin Pröll die Durchführung der Staatsvertragsausstellung auf der Schallaburg anregte.183 Damals fiel sinngemäß zum ersten Mal der Satz : »Wenn das der Bund nicht schafft, dann machen wir es in Niederösterreich !« Parallelen zur Jetztzeit sind auffällig. Auch der gedachte und schon fixierte Titel der Staatsvertragsausstellung »Österreich ist frei« wanderte von Wien nach Niederösterreich. Ein Versuch Hannes Androschs bei Landeshauptmann Pröll, die Projekte doch
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noch zusammenzuführen und nur eine Ausstellung, und zwar im Belvedere zu zeigen, scheiterte. (Karner und ich waren dabei). Ein Ziel wurde allerdings auch im Zusammenhang mit der Belvedereausstellung, für die dann der Titel »Das neue Österreich« gewählt wurde, nicht aus den Augen verloren : Teile der Ausstellung, vor allem die technischen Einrichtungen, sollten dazu dienen, um dann bei einer noch immer und immer wieder diskutierten Realisierung eines Hauses der Geschichte weiter verwendet zu werden. Tatsächlich wurde dann 2006 die technische Infrastruktur auf den Philips-Gründen in Wien eingelagert. Nach mehr als zehn Jahren dürfte freilich nicht mehr allzuviel verwendbar sein. Wie es weiter gegangen ist,184 wie die sogenannte Road Map entstanden ist und wie schließlich im Auftrag von Bundeskanzler Alfred Gusenbauer die Pariser Firma Lordeurop und die ARGE Claudia Haas daran gingen, eine Realisierungsstudie anzufertigen, kann man in der Dissertation von Andrea Brait185, in der Masterarbeit von Kristin Josephina Ganahl186 und im Grundsatzpapier für das Haus der Geschichte Österreich im Corps de Logis nachlesen.187 Das sechs Jahre unter Verschluss gehaltene Papier von Claudia Haas & Lordeurop kann man sich mittlerweile im Internet zu Gemüte führen. Das Corps de Logis findet darin keine Erwähnung. Immer wieder wurde auf das Arsenal verwiesen. Schüssel tat es, ich tat es, das Bundesdenkmalamt stimmte einem vom Heeresgeschichtlichen Museum getrennten Baukörper zu, der Flächenwidmungsplan sollte geändert werden. Die Hundehalter im Arsenal waren aufgeregt, da ein Platz zum Äußerln verloren zu gehen drohte. Die Präsidialsektion des Verteidigungsministeriums zog die Angelegenheit an sich. Ich wechselte nach Dresden. Dann war Ruhe. In Österreich angekommen Es ließe sich folglich mit einer Mischung aus Bitterkeit und Humor resümieren, dass die Musealisierung in Österreich immer weiter fortgeschritten ist, allein der Museumsboom zwischen 1970 und 1995 zur Gründung von 520 Museen führte, Österreich ein Fahnenschwingermuseum in Neckenmarkt, das Wasserleitungsmuseum in Kaiserbrunn, ein Greißler-, Vampir- und Drudenfußmuseum besaß, Schnaps- und andere Alkoholikamuseen ihr Dasein fristeten. Doch das immer wieder reklamierte Haus der (österreichischen) Geschichte besaß die Republik weiterhin nicht. Rund 1.400 Museen weist der mittlerweile schon veraltete »Museumsführer Österreich« auf.188 Und wo die Sammlungen nicht ausreichten, sind die Ausstellungsmacher ans Werk gegangen. Denn die Musealisierung hat natürlich nicht dort ihre Grenzen gefunden, wo die Sammlungen vorhanden sind. Viel erfolgreicher sind eigentlich jene z. B. japanischen Ausstellungsfirmen, die weltweit das Beste für ihre großen Kaufhäuser und Banken ein-
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kaufen und dort meistens nur wenige Wochen zeigen. Und wo weder die Objekte noch das Anliegen ausreichen, Anlass oder gedachtes Publikum aber immer noch Hoffnung geben, dass entweder ein Geschäft zu machen ist oder zumindest ein Anliegen – und sei es ein Bildungsanliegen – transportiert werden kann, da wird Virtualisierung eingesetzt. In diesen Fällen entscheiden dann vollends nicht mehr die Sammlungen, ja nicht einmal primär der Standort über die Musealisierung. Vielmehr entscheidet der Einsatz von finanziellen Mitteln über Sein oder Nichtsein eines Ausstellungsprojekts. Die Inszenierung ersetzt die Realien, doch wenn die Frequenz einer derartigen Einrichtung den Aufwand der Mittel rechtfertigt, ist am Erfolg nicht zu zweifeln. Zumindest wird damit ein »event« geschaffen. Ein Museums- bzw. Ausstellungstyp wäre noch zu erwähnen, nämlich die Wanderausstellung. Auch zu diesem Genre gibt es ein passables Beispiel, eher eine Episode, die sich abseits der Öffentlichkeit abspielte. Das Haus der Geschichte der Bundesrepublik in Bonn zeigte 2005 eine große Sonderausstellung »Verfreundete Nachbarn«, die dem deutsch-österreichischen Verhältnis in der Nachkriegszeit gewidmet war. Es war das Teil eines Zyklus, der 1996 begonnen worden war und die bilaterale Geschichte von Deutschland und seinen Nachbarn musealisieren sollte. »Annäherungen« handelte von Deutschland und Polen, »vis à vis« ,1998, von Deutschland und Frankreich, »Heiter bis wolkig« von Deutschland und den Niederlanden, 2000/2001. Die Ausstellungen wurden – sofern möglich – von den Staatsoberhäuptern eröffnet und abwechselnd in den jeweiligen Hauptstädten gezeigt. 2005 war Deutschland-Österreich das Thema. Der Ausstellung wurde der einem Buch von Gabriele Matzner entlehnte Titel gegeben.189 Schon in die Zeit der Entstehung dieser Ausstellung fielen jede Menge Irritationen. Vollends, als sie dann gezeigt wurde. Dabei stießen sich die Kritiker eigentlich nur an einem einzigen Kapitel, in dem sehr wohl exemplarisch der Umgang mit der NS-Zeit in Österreich gezeigt wurde. Es war denn auch dieses Kapitel der letztlich gemeinsamen Geschichte, das es zum Schluss verhindert hat, dass die Staatsoberhäupter die Ausstellungseröffnung vornahmen. Bundespräsident Thomas Klestil fuhr nicht nach Bonn. Statt ihm sprach der Kabarettist Werner Schneyder bei der Eröffnung.190 2007 sollte die Ausstellung nach Wien übersiedeln. Da sich sonst keine Möglichkeit auftat, sollte sie im Palais Harrach gezeigt werden. Doch trotz intensiver Bemühungen kam das Aus. Der Raum war zu klein, der Inhalt problematisch, es gab keinen Bedarf, kein Geld, keine Ausstellung, kein Museum. Man war wieder einmal in Österreich angekommen. Wem gehört was war ? Nichts scheint schwieriger zu sein, als im derzeitigen Gedenkmarathon Schritt halten zu wollen. Ehrungen werden aufgehoben, neue Ehrungen beschlossen ; Denkmäler
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werden in Frage gestellt, Verkehrsflächen umbenannt und Tausende Wiener Straßen-, Gassen- und Platznamen auf ihre Verträglichkeit mit dem Grundkonsens der Zweiten Republik im 21. Jahrhundert untersucht. Der Held von anno dazumal hat ausgedient. Hier und heute zählen die Opfer. Das hat gewiss alles einen Sinn. Es zeigt auch, wie groß die Speicher des Gedächtnisses sind, wenn es gilt, Erinnerung zu inventarisieren und zu verschieben. Letztlich ist es aber ein Stück Geschichtspolitik, das dabei betrieben wird. Ein Dreivierteljahrhundert nach dem sogenannten »Anschluss« macht man sich vornehmlich in Wien daran, eine Flurbereinigung besonderer Art vorzunehmen. Alles, was noch immer an das NS-Regime und die von ihm ausgegangenen Katastrophen und Verbrechen erinnert, soll zum Verschwinden gebracht werden. Anderes hat an seine Stelle zu treten. Und wenn das Wissen nicht ausreicht, dann muss die Vermutung herhalten. Nun kann man sich natürlich fragen : Warum erst jetzt ? Oder auch : Warum gerade jetzt ? Gehen wir einmal davon aus, dass noch immer Nachholbedarf besteht. Wohl wurde schon im April 1945 damit begonnen, die Zeichen der nationalsozialistischen Herrschaft zu tilgen, doch manches brauchte eben seine Zeit. Um dem neuen Staat das Stigma des Reaktionären zu nehmen, nannte ihn Karl Renner : Zweite Republik. Ein Neubeginn sollte deutlich werden. Der erste Staatssekretär für Volksaufklärung, Unterricht, Erziehung und Kultusangelegenheiten, Ernst Fischer, soll diesen Neubeginn – den Erinnerungen von Adolf Schärf zufolge – mit der Forderung umrissen haben, man müsse gerade der Jugend das Österreichische nahebringen. »Die glorreiche österreichische Vergangenheit müsse gewürdigt werden«, und »der Radetzkymarsch müsse zum Schul- und Volkslied werden.« Fischer meinte zwar, nachdem er das gelesen hatte, er wäre nie so ein »Trottel« gewesen, eine derartige Forderung aufzustellen, doch gerade er tat alles, um die Symbole und die Erinnerung an die NS-Zeit zum Verschwinden zu bringen. Und es wurde weithin sichtbar re-austrifiziert. Der Wiener Adolf- HitlerPlatz wurde schon am 27. April 1945, dem Tag der österreichischen Unabhängigkeitserklärung, wieder zum Rathausplatz, die Straße der Julikämpfer hieß wieder Siebensterngasse, und so ging es weiter. Schließlich waren allein in Wien in der NS-Zeit weit mehr als hundert Straßen, Gassen und Plätze umbenannt worden, darunter 64, die »jüdische« Namen wie Mahler, Altenberg, Spinoza, Heine und Mendelssohn getragen hatten. In den anderen Landeshauptstädten war man etwas später ans Rückbenennen gegangen. Da aber die wenigsten einen Adolf-Hitler-Platz hatten missen wollen, gab es auch landesweit großes Umbenennungspotential. Die Verkehrsflächen – nicht alle – bekamen ihre alten Namen wieder. Bis 1949 war das erledigt. Und obendrein waren 8. Mai-Plätze und -Straßen dazu gekommen, um an die Befreiung Österreichs durch die Alliierten zu erinnern. In Wien ging man freilich einen Schritt weiter. Über Initiative des kommunistischen Kulturstadtrats Viktor Matejka und mit uneingeschränkter Zustimmung der Abgeordneten aller Parteien wurden im April 1946 etliche durchaus
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traditionsreiche Brücken und Straßen russifiziert und hießen nun Malinowskibrücke, Brücke der Roten Armee, Tolbuchinstraße und Stalinplatz. Doch bei der Abrechnung mit der unmittelbaren Vergangenheit ging es nicht nur darum, etwas um- oder neu zu benennen. Da gab es ja noch anderes, das entsorgt werden musste. Nicht zuletzt Mentales. Wohl hatten die Alliierten geholfen, den Müll des 1000-jährigen Reichs wegzuräumen, hatten vernichtet und beschlagnahmt. Doch natürlich entging ihnen manches. Und sie kümmerten sich auch bei weitem nicht um alles. Aber auch den österreichischen Verantwortlichen wollte etliches nicht auffallen, und sie handelten durchaus im Einklang mit der von Bundespräsident Renner 1947 ausgegebenen Parole : »Auch der Mitbürger, der ganz tief gefallen ist, ist für mich ein Österreicher.« Letztlich hatten aber die Meisten ihren Beitrag zur Flurbereinigung zu leisten. Manches geschah bestenfalls zähneknirschend. Zur Flurbereinigung gehörte wohl auch die Abrechnung. Österreichische Volksgerichte sprachen 43 Todesurteile aus, von denen 30 vollstreckt wurden. Alliierte Militärgerichte taten ein Übriges. Gegen 136.829 Personen wurden Erhebungen gepflogen, rund 13.000 wurden schuldig gesprochen, und zur Verbüßung Tausende Jahre Gefängnis verhängt. Doch die pauschale Abrechnung, die dann auch für alle 547.000 ehemaligen Nationalsozialisten Sühnestrafen vorsah, konnte immer noch nicht verhindern, dass etliche aus der Tätergeneration durchschlüpften. Wenn es in der Folge und auch nach der Aufhebung der Volksgerichtsbarkeit 1955 zu fragwürdigen Gerichtsverfahren kam, schaute man dann wohl auf jene, die sich bis dahin hatten entziehen können, übersah aber jene anderen, die die erfolgte Abrechnung mit der Vergangenheit deutlich machten. Und es hagelte Vorwürfe. Warum so spät ? Warum ohne Sühne ? Warum, warum, warum ? Doch bleiben wir chronologisch. Die nächste Abrechnung mit der Vergangenheit kam 1955. Da wurde dann die Erinnerung an die Besatzungszeit getilgt. Nicht zur Gänze, doch im Fall des sowjetischen Elements durchaus konsequent. Da man mittlerweile vergessen hatte, dass die Russifizierung des öffentlichen Raums 1946 von österreichischer Seite initiiert worden war und als ein schlichter Akt der captatio benevolentiae gedacht war, galt das Re-Austrifizieren als Entstalinisierung. Allerdings rieten Beamte der Kulturabteilung des Wiener Magistrats von Rückbenennungen ab. Man sollte nicht schon wieder umbenennen, hieß es. Und dann wurde es philosophisch : »Es muss auch vielleicht in diesen Fällen ein gewisses historisches Moment geltend gemacht werden. Es handelt sich immerhin um Bezeichnungen, die an eine Zeit erinnern, die aus der Geschichte Österreichs nicht wegzudenken sein wird.« Es nützte nichts : Am 13. April 1956 wurde die Rückbenennung beschlossen. An eine Gruppe von Erinnerungen ließ sich freilich nicht rühren, nämlich die sowjetischen Sieges- und Kriegerdenkmäler. Die waren durch den Staatsvertrag geschützt. Nach NS-Zeit und alliierter Besetzung schien Österreich wieder einmal seinen Platz nicht nur in Europa, sondern in der Geschichte gefunden zu haben. Ein Land mit
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einer großen Vergangenheit, die man immer mehr auf die letzten Habsburger einzuschränken begann. Ein Land, dem Schlimmes widerfahren und Böses angetan worden war, so wie das Karl Renner in der Proklamation zur Unabhängigkeitserklärung sehr fragwürdig formuliert hatte : »Angesichts der Tatsache, dass der Anschluss des Jahres 1938 … einer wehrlosen Staatsleitung abgelistet und abgepresst, endlich durch kriegsmäßige Besetzung des Landes dem hilflos gewordenen Volke Österreichs aufgezwungen worden ist … und das macht- und willenlos gemachte Volk Österreichs in einen sinn- und aussichtslosen Eroberungskrieg geführt« wurde … diesem Land sollte doch ein Neubeginn vergönnt sein. Normalität breitete sich aus. Doch dreißig Jahre später schien das alles abermals nicht zu gelten. Österreich mutierte von everybody’s darling zu einer »hässlichen, kleinen an Amnesie leidenden Alpenfestung, voll von unverbesserlichen, fremdenfeindlichen Neonazis«, wie französische Kommentatoren schrieben. Ausgehend von der Person Kurt Waldheims wurden Österreich schwere Defizite bei der Aufarbeitung der Vergangenheit vorgeworfen. Da nützte nichts, dass man auf das Geleistete verwies und die gute Absicht bekundete. Damals begann die Abrechnung mit der Nachkriegsgeneration, der generell vorgeworfen wurde, sie hätte es sich zu leicht gemacht, wäre immer wieder den bequemen Weg gegangen, Österreich als Opfer einer »Hitlerischen« Aggression zu sehen und nicht als Täter. In jenen Jahren wollte bei mir Ärger aufkommen. Und er strahlte in zwei Richtungen aus : Ich wollte mir vom Ausland nicht vorwerfen lassen, wir würden einen schlampigen Umgang mit der Geschichte pflegen. Ich habe das persönlich, vielleicht zu persönlich genommen. Man musste sich aber auch fragen, mit welchem Recht sich Menschen über einen hermachten, die bestenfalls Halbverdautes von sich gaben und offensichtlich auch von eigenen Problemen ablenken wollten, indem sie mit dem Finger auf andere zeigten – Deutschland nicht ausgenommen. Doch natürlich gab es auch ernsthafte und zu berücksichtigende Dinge, ließen sich Verdrängungsmechanismen orten und wurde vor allem im Fall der materiellen Wiedergutmachung und der Restitution von Kunst- und Kulturobjekten ein gravierendes Versäumnis deutlich. Zwangsarbeiter waren nicht entschädigt, Leid nicht ausreichend zu mildern gesucht worden. Da gab es Nachholbedarf, und der internationale Druck half kräftig nach. Wenn man aber auch nur im mindesten gesonnen war, sich umzusehen, dann konnte man an den großen und kleinen Denkmälern nicht vorbeischielen, die auf dem Wiener Albertinaplatz gegen Krieg und Faschismus, im Schweizer Garten zur Erinnerung an die Gründung der Zweiten Republik, auf dem Judenplatz für die Opfer des Holocaust errichtet worden waren, an die Partisanen-, Deserteur- und Widerstands-Denkmäler, die Tafeln, die auf die Opfer des Nationalsozialismus oder auch auf ehemalige Synagogen hinweisen, und schließlich die von Jahr zu Jahr steigende Zahl von Bronzetäfelchen, die auf den Gehwegen davon künden, dass hier einmal jemand gewohnt hat, der
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in einem Konzentrationslager umgebracht worden ist. Derzeit entsteht eine nationale Gedenkstätte für die Opfer des Nationalsozialismus auf dem Wiener Zentralfriedhof. Das sind ebenso Belege für Trauerarbeit wie jene Projekte, die vom Österreichischen Nationalfonds, vom Versöhnungsfonds und vom Zukunftsfonds der Republik initiiert oder unterstützt wurden. Das alles übersehen zu wollen, grenzt schon an Bösartigkeit. Der Ärger strahlte aber auch in die andere Richtung aus, und zwar immer dann, wenn von durchaus gebildeten und in jedem Fall ehrenwerten Leuten gesagt wurde : Davon haben wir in der Schule nichts gehört. Mag schon sein, dass man nicht bis zur Zeitgeschichte vorgedrungen war. Doch nach Tausenden zeitgeschichtlichen Büchern, nach Tausenden Stunden Filmen, Diskussionssendungen, Vorträgen, Hörfunkkollegs usw. war das einfach nicht glaubhaft. Und ich musste mich fragen, wie man jemanden beurteilen würde, der nach zwanzig und mehr Jahren EDV nicht über die notwendigen Kenntnisse verfügte oder auch die Stirn hätte, sich damit zu rechtfertigen, dass man von gängigen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen in der Schule nichts gehört hätte. So jemand würde doch recht rasch als nennenswerter Idiot bezeichnet werden. Nur wenn man behauptete, in der Schule nicht über den Estern Weltkrieg hinausgekommen zu sein, sollte das noch immer als Entschuldigung für Unwissen herhalten können. Da stimmte doch etwas nicht ! Und man war doch immer auch gefordert, Stellung zu beziehen. Auslösend war in der Regel, dass etwas störte. In der Landesverteidigungsakademie störte eine Gedenktafel für den Generaloberst der Deutschen Wehrmacht Alexander Löhr. Sie gehörte nicht dort hin und wurde entfernt. Die Namen von Löhr und dem SS-General Arthur Phleps fanden sich auf einer Tafel im Vorraum der Hofburgkapelle. Ihre Namen wurden – so wie es der zuständige Ressortminister angeordnet hatte – »steinmetzmäßig entfernt«. Damnatio memoriae war angesagt. In der Wiener Staatsoper störte 2002 der Eiserne Vorhang von Rudolf Eisenmenger. Er wurde daraufhin verhängt. Eisenmenger war in der NS-Zeit Präsident des Wiener Künstlerhauses gewesen. Das war bekannt, spielte aber offenbar beim Wiederaufbau der Staatsoper und weitere 47 Jahre keine Rolle. Ab da war es anders. In einem anderen Fall wurde ein Plätzchen nahe der Ringstraße nach einem bekannten Maler und Ehrenbürger der Stadt Wien benannt. Da störte nicht, dass auch er einmal »der Partei« angehört hatte. Auch das war bekannt. Nahe der Ringstraße störte das Denkmal Karl Luegers, wohl weniger deshalb, weil er Antisemit war, sondern weil ihn Hitler in »Mein Kampf« so positiv hervorgehoben hatte. Auch an der Ringstraße störte der Name Lueger und musste jüngst dem Universitätsring Platz machen. Am Heldenplatz störte fast alles, wie sich das Wort vom Helden überhaupt als scheinbar anstößig erwies. Auf dem Wiener Zentralfriedhof störte das Ehrengrab des Jagdfliegers Walter Novotny. Im September 2003 wurde eine Ehrengräberkommission eingesetzt, die alle während der NS-Zeit erfolgten Ehrengrabwidmungen auf Wiener
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Friedhöfen untersuchen sollte. Nach einem Jahr und langen Diskussionen um den Nobelpreisträger Julius Wagner-Jauregg sowie den Fußballer Walter Sindelar stellte sich heraus, dass es ein Streit um des Kaisers Bart gewesen war, denn seit den Überleitungsgesetzen des Mai 1945 waren ohnedies alle Widmungen obsolet. Man musste also gar nichts aberkennen, wohl aber wurden 37 österreichischen Juden, deren Verdienste um Wien, um Wissenschaft und Kultur unbestritten war, posthum Gräber ehrenhalber gewidmet. 2011 wurde die nächste Kommission eingesetzt. Sie sollte die Grabwidmungen der Wiener Stadtverwaltung zwischen 1934 und 1938 überprüfen. Auslösend für das besondere Interesse an dieser Zeit war das Grab von Engelbert Dollfuß auf dem Hietzinger Friedhof. Seine vermeintliche Widmung störte. Ebenso wurde aber etwas überraschend darüber zu diskutieren begonnen, ob einige der höchsten Militärs des alten Österreich, u. a. der Generalstabschef der gesamten bewaffneten Macht Österreich-Ungarns, Franz Conrad von Hötzendorf, zurecht in ehrenhalber gewidmeten Gräbern liegen. Ihnen wurden Präventivkriegsdenken, die Führung eines Angriffskriegs und Übergriffe gegen die Zivilbevölkerung vorgeworfen. Das hatte nun etwas Denkmalstürmerisches an sich, denn die Anwendung von Kriterien des Kriegs der Deutschen Wehrmacht auf andere Zeiten würde einen regelrechten Kahlschlag in der österreichischen und vor allem in der Wiener Denkmallandschaft nach sich ziehen. Und davon wären nicht nur ein paar Militärs, sondern vor allem die »obersten Kriegsherrn«, betroffen, die Kaiser und Könige. Das kollektive Gedächtnis könnte solcherart fast orientierungslos werden. In der Wiener Gräberkommission gab es schließlich eine fast salomonische Lösung. Es wurde vorgeschlagen, die ehrenhalber gewidmeten Gräber in »Historische Grabstätten« umzubenennen. Da konnte dann alles so bleiben, wie es war. Zudem wurde auch das Dollfuß-Grab in diese Kategorie gereiht, denn es war entgegen der Meinung jener, die den Anstoß zur Kommissionsarbeit gegeben hatten, nie ehrenhalber gewidmet gewesen. Die nächste Initiative für eine Kommission gab es im Herbst 2010, als es um die Errichtung eines Denkmals für Deserteure der Deutschen Wehrmacht ging. Damit war man von den realen Friedhöfen auf jenen Friedhof der Namenlosen übergewechselt, der Heldenplatz heißt. Denn das Deserteurdenkmal sollte am Heldenplatz entstehen. Fast zeitgleich mit dieser Initiative rückte das Äußere Burgtor ins Blickfeld. Es beherbergte nicht nur den Weiheraum, in dem der Opfer des NS-Regimes und vornehmlich auch des österreichischen Widerstands gedacht wird, sondern auch die Krypta. In ihr wurden die Bücher verwahrt, in denen die Namen der aus Österreich stammenden Gefallenen des Ersten und des Zweiten Weltkriegs verzeichnet sind. Nicht alle waren Helden, so wie es der Begriff »Heldendenkmal im Äußeren Burgtor« suggeriert, doch sie gehörten überwiegend einer im weitesten Sinn militärischen Opferkategorie an. Verbrecher hatten in diesen Verzeichnissen sicher nichts verloren. Man müsste allerdings die Biographie eines jeden der rund 190.000 Gefallenen des Ersten Weltkriegs
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und der 247.000 im Zweiten Krieg getöteten oder an ihren Verwundungen gestorbenen Angehörigen der Deutschen Wehrmacht österreichischer Herkunft zu erforschen suchen, um auch nur annähernd über Lebensverläufe Bescheid zu wissen. Eine evidente Unmöglichkeit ! Im August 2012 wurden die Bücher entnommen, und dem Österreichischen Staatsarchiv übergeben. Es gab aber noch ein weiteres Ärgernis, von dem man wohl auch schon lange wusste : Der Bildhauer, der die Gestalt des toten Kriegers für die Krypta geformt hatte, Wilhelm Frass, hatte 1936 in einer Kapsel ein glühendes Bekenntnis zum Nationalsozialismus eingemauert, nicht in der Annahme freilich, dass man sich in einer zweiten österreichischen Republik drüber beugen würde. Das war Herrn Frass wohl unvorstellbar. Doch er erzählte seine Geschichte einem Redakteur des »Völkischen Beobachters«, der sie auch prompt veröffentlichte. Die Geschichte geriet freilich in Vergessenheit. Solange, bis jemand darauf stieß und es ihn störte. Ein Gehilfe des Wilhelm Frass tat es seinem Herrn und Meister gleich, nur dass er nicht den nationalsozialistischen Gedanken eingemauert wissen wollte, sondern ein pazifistisches Bekenntnis. Da könnten ihm – zumindest heute – wohl noch die Meisten folgen. Im Juli 2012 wurde die Marmorskulptur des toten Soldaten angehoben, die Kapseln wurden entnommen und dem Heeresgeschichtlichen Museum zu Verwahrung übergeben. Seit Bücher und Kapseln aus dem Äußeren Burgtor entfernt worden sind, herrscht Schweigen in der Gruft. Abseits dessen steht noch das Deserteurdenkmal heran. Sein Aufstellungsort am Ballhausplatz ist definiert, und es stört wohl nicht, dass damit Deserteure generell aus der Gruppe der Gegner des NS-Regimes herausgehoben werden sollen. Sie sehen sich anders als jene Angehörigen des Widerstands, die meist unter dem Fallbeil ihr Leben lassen mussten oder wie Robert Bernardis oder Carl Szokoll am 20. Juli 1944 am Tyrannenmord mitwirken wollten. Das ist zu respektieren. Auch andere Gruppen können notfalls geltend machen, dass sie sich im Weiheraum des Äußeren Burgtors nicht wiederfinden, die Homosexuellen, die Roma und Sinti, die Zeugen Jehovas und vielleicht noch andere. Nichts wäre freilich schlimmer, als wenn sich aus der Aufsplitterung der Gegner und Opfer des NS-Regimes eine Frage der Rangordnung ergeben würde : Wer legt dann wo und in welcher Reihenfolge Kränze nieder ? Das würde den Gedenkmarathon unzulässig verlängern. Militärattachés : Diener zweier Herren ? Jeder kennt sie, die Diplomaten, oder meint zumindest, sie zu kennen. Das sind – einer weit verbreiteten Meinung nach – Leute, die beträchtliche Privilegien genießen, mit CD-Nummern auf den Autos im Halteverbot stehen, von Empfang zu Empfang eilen und dabei Gemeinplätze austauschen. Auch der Gründungsvater der österreichischen
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Zweiten Republik, Karl Renner, war nicht frei von diesem und anderen Vorurteilen und wollte daher die diplomatischen Vertretungen Österreichs auf einer sehr niederen Ebene belassen und tunlichst nur wenige Gesandtschaften errichtet wissen, um die Zahl der auf Cocktailempfängen Herumstehenden klein zu halten. Er ging freilich nicht so weit, wie der berühmte Sir Henry Wotton, der den Diplomaten schlichtweg die Epitheta »Spion« oder »Ehrenwerte Spione« gab,191 nicht viel anders als das der Spanier Diego de Saavedra Fajardo während des Dreißigjährigen Kriegs tat, der meinte, »Botschafter sind nichts anderes als öffentliche Spione.«192 Heute unterhält die Republik Österreich zu praktisch allen Staaten der Erde diplomatische Beziehungen. Die meisten Auslandsvertretungen sind dabei im Rang von Botschaften, der Rest Gesandtschaften und Generalkonsulate. Vice versa sind die meisten Staaten der Erde in Österreich diplomatisch vertreten. Und wenn man dem noch die Vertretungen bei internationalen Organisationen hinzurechnet, dann wird die Dichte des diplomatischen Verkehrs deutlich. Und wir haben immer noch das Gefühl, nicht ausreichend vertreten zu sein. Im Lauf der letzten 40 Jahre haben wir mit 44 Staaten Militär-, Verteidigungs-, Luft- und manchmal auch Marineattachés ausgetauscht. Einige dieser Staaten existieren nicht mehr ; andere sind dazu gekommen, wobei sich eigentümlich bewahrheitet hat, was Bruno Kreisky einmal so nachdenklich zu formulieren wusste : Für einen Staat sind einige Jahrzehnte recht viel, während sie für das einzelne menschliche Leben aber eigentlich wenig sind. Auch eine ganze Reihe von Staaten, mit denen wir Militärattachés ausgetauscht haben, existiert nicht mehr, sodass wir heute trotz einer Vermehrung der Beziehungen in nur 32 Staaten vertreten sind. Weitere drei österreichische Vertreter sind zu internationalen Organisationen detachiert. Umgekehrt sind 22 Staaten mit ihren Attachés in Österreich vertreten und 13 weitere sind durch Mitakkreditierung präsent. Doch das ist bloße Statistik. Die wesentliche Frage ist die, warum man überhaupt einen so aufwendigen Dienst unterhält. Sind Militärattachés heute wirklich noch notwendig, haben sie sich nicht schon überlebt ? Könnte der Austausch von Informationen, der Kontakt zu militärischen Dienststellen eines anderen Landes und die protokollarische Präsenz nicht auch anders erfolgen ? Die Antwort darauf kann nur vielschichtig sein. Aber vielleicht genügt ein kleiner Vergleich : Wenn sich Staaten nichts oder nichts mehr zu sagen haben, unterbrechen sie ihren diplomatischen Verkehr. Umgekehrt wird wohl in einem vermehrten Austausch ein Zeichen dafür zu sehen sein, dass man sich sehr viel zu sagen hat. Zumindest ist es eine Demonstration. Als wir uns entschlossen hatten, eine kleine Ausstellung dem Thema Militärattachés zu widmen, war nicht nur zu fragen warum, sondern auch wie ? Das Warum fand sogleich eine sehr persönliche Antwort : Wir haben in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten immer wieder ausländische Militärattachés zu Gast gehabt, und viele davon wurden sehr enge Freunde dieses Hauses, so dass wir mit einer Ausstellung auch Zeichen einer besonderen Verbundenheit setzen wollten. Wir wollten außer-
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dem bewusst machen, wie vielfältige Verbindungen gerade über die Militärattachés aufgebaut und erhalten worden sind. Beim »Wie« der Ausstellung war uns von allem Anfang an klar, dass wir nicht in der Lage sein würden, die vielfachen Tätigkeitsbereiche darzustellen und dass es mehr um Äußerlichkeiten gehen würde. Doch die Geschichte dahinter war wohl in jedem Fall anzudeuten. Und es sollte eigentlich jedermann – vor allem aber die Historiker – wissen, dass die Militärattachés nicht selten Geschichte gemacht haben und an der Geschichte mitschreiben. Und zwar an zweierlei Geschichte : Sie schreiben an der Geschichte ihres eigenen Landes und an jener des Gastlandes mit, in dem sie nicht selten tiefe Spuren hinterlassen. Denken wir z. B. an den deutschen Militärattaché vor 1938, Generalleutnant Wolfgang Muff, der so intensiv beobachtete und berichtete, dass in den von ihm verfassten Berichten wahrscheinlich mehr über die Entwicklung des österreichischen Bundesheeres der Ersten Republik steht als in den meisten bisher geschriebenen Büchern und Aufsätzen. Rein statistisch verfasste Muff täglich zwei Berichte, und das durch rund fünf Jahre. Das war auch eine gewaltige physische Leistung, von der ich nicht weiß, ob sie von irgendeinem anderen Attaché je erreicht wurde. Für die Gruppe der österreichischen Attachés ist dergleichen sogar regelrecht auszuschließen, und ich verrate wohl kein Geheimnis, wenn ich die statistische Größe ihrer Berichterstattung optimistisch mit einem Bericht pro Woche angebe. Gerade an der Person des deutschen Militärattachés vor 1938 lässt sich aber auch der Titel unserer kleinen Ausstellung verdeutlichen : Er war Vertreter des Deutschen Reiches in Österreich, daher in einem besonderen Treueverhältnis gegenüber seinem Land und der Wehrmacht, und doch würde ich so weit gehen ihm zu konzedieren, dass er auch die Interessen seines Gastlandes im Auge behielt und ihm zumindest Gerechtigkeit widerfahren ließ. Damit soll eine Art Voraussetzung für die Tätigkeit eines Militärattachés unterstrichen werden : Er kann wohl nur dann erfolgreich sein, wenn er dem jeweiligen Gastland mit einer Art persönlicher Zuwendung begegnet. Andernfalls würde es ihm persönlich und vielleicht weniger dem Land, das ihm anvertraut ist, zum Schaden gereichen. Doch gerade da schlummert die Gefahr der Identifikation, die im Interesse des Dienstes nicht zu weit gehen kann. Davor sind natürlich auch andere Diplomaten nicht gefeit, und ich erinnere mich noch durchaus an jenen langjährigen österreichischen Botschafter in der Sowjetunion, Norbert Bischoff, der wegen seines Bemühens, die sowjetische Sicht der Dinge verstehen zu wollen, in Wien scheel angesehen wurde. Und an den Rändern seiner Berichte aus Moskau findet sich wiederholt der Vermerk »Pravda«. Die häufige Ablöse gerade von Militärattachés soll daher vielleicht auch der immer stärker werdenden Identifikation mit dem Gastland vorbeugen. Doch letztlich kann man nicht dagegen ankämpfen, ohne selbst Schaden zu nehmen, wie jener österreichische Attaché, der aus einem nicht genannten Land an der Moskwa abberufen werden musste, weil er die ständige Bespitzelung nicht aushielt. Der falsche
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Mann am falschen Ort. Das wäre etwa so, wie wenn man jemanden nach Wien entsenden würde, der keinen Wein trinkt und nicht Walzer tanzt. Vielleicht sind die Militärattachés überhaupt an der Wiege des diplomatischen Dienstes gestanden. Denn sie sind ja letztlich Kinder jener Sorge, die sich wie ein roter Faden durch die Weltgeschichte zieht, nämlich der Sorge, es könnte zum Krieg zwischen zwei Ländern oder Staatengruppen kommen. Und um schon die ersten Anzeichen dafür zu erkennen oder die eigene Ausgangssituation zu verbessern, wurden Leute entsandt, die die Zeichen deuten und die Situation beurteilen konnten. Die ältesten ständigen Gesandtschaften richtete der Heilige Stuhl ein. Um die Mitte des 15. Jahrhunderts begann der frühere Condottiere Francesco Sforza mit der Entsendung von quasi-diplomatischen Vertretern. Andere Staaten folgten, und schließlich anerkannte der Westfälische Frieden 1648 eine schon weit verbreitete Praxis. Da sich aber mit der Entwicklung der Waffentechnik und vor allem mit der Einführung von Massenheeren im Gefolge der Französischen Revolution zeigte, dass die normalen jedoch militärisch nicht versierten Gesandten und Botschafter nicht mehr in der Lage waren, die militärischen Entwicklungen zu verfolgen, wurden ihnen Fachleute mitgegeben oder aber man machte einen Offizier zum Chef einer diplomatischen Vertretung, wie z. B. Frankreich jenen jungen General Jean Baptiste Bernadotte, der 1798 für zwei Monate nach Wien kam, mit der Hissung der Trikolore einen Skandal provozierte und wieder wütend abreiste.193 Aber auch er war wohl der falsche Mann am falschen Platz gewesen, es sei denn, man entsendet einen General nur zum Zweck der Machtdemonstration und Provokation. Die Verwendung von Offizieren als Diplomaten, Sonderbotschafter oder auch als Kundschafter war aber sicherlich etwas anderes als die Ernennung eines ständigen militärischen Repräsentanten. Das begann 1806, als Napoleon militärische Beobachter ins Ausland schickte. Österreich folgte als nächstes 1810, dann Preußen 1817, Russland 1838, Italien 1870 usw.194 Im österreichischen Fall war es also noch mitten während der Napoleonischen Kriege, dass der damalige Chef des Generalquartiermeisterstabes, General der Kavallerie Wenzel Joseph Graf Radetzky forderte, bei den Gesandtschaften Leute einzuteilen, die Angaben über Organisation, Stärke und Bewegung fremder Armeen sammeln sollten. So wie dies Frankreich tat. – Metternich sah den Vorschlag für vernünftig an, und die ersten Offiziere wurden entsandt. Doch sie traten so auf, wie das auch heute noch bisweilen der Fall ist : als Legationssekretäre getarnt, im friedlichsten Zivil. Und sie wurden auch meist sehr bald wieder von ihren Posten abberufen, dann eben, wenn sie ihre Aufgaben erfüllt hatten. Doch in dem Bemühen, weniger zufällig und kontinuierlich Nachrichten zu erhalten, wurden schließlich ab 1860 Stabsoffiziere zu den Gesandtschaften nach Paris, Berlin und St. Petersburg entsandt. Dann wurden Offiziere in mehrere italienische Städte, zuguterletzt nach Konstantinopel und zu den Generalkonsulaten nach Belgrad, Bukarest, Sarajevo und Sofia geschickt. Als die Generalkonsulate
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aufgewertet wurden, fungierten die Offiziere als regelrechte Militärattachés an den Gesandtschaften. So schließlich auch in Athen und Cetinje. Schließlich kamen noch die neutralen Staaten, nämlich die Schweiz, Spanien sowie die Nordischen Länder dazu, und schon während des Ersten Weltkriegs Persien und die Niederlande. Lediglich zeitweilig war Österreich-Ungarn auch durch Militärattachés in Tokio vertreten und in Peking mitakkreditiert, und während des Spanisch-Amerikanischen Krieges 1898 hatte die Habsburgermonarchie in Washington einen Militärattaché.195 Im Übrigen aber galt offenbar, was Heinrich Drimmel für den Posten in Washington im 19. Jahrhundert so trefflich beschreibt : Man sah ihn in Wien als Strafversetzung an, gedacht für besonders mühsame und unbotmäßige aber auch eher unwichtige Diplomaten. Die Fehleinschätzung sollte sich im Ersten Weltkrieg rächen. Doch dass auch die USA an Österreich-Ungarn uninteressiert waren, zeigte sich daran, dass es der letzte k. u. k. Botschafter vor dem Ersten Weltkrieg, Constantin von Dumba, in fast drei Jahren nur zwei Mal schaffte, von Präsident Wilson empfangen zu werden.196 Nur um die Größenordnung zu charakterisieren, sei noch erwähnt, dass zwischen 1700 und 1918 die Habsburgermonarchie – ungeachtet der im 19. Jahrhundert geschaffenen Institution der Militärattachés – zusätzlich weit mehr als 100 Offiziere auf Botschafts-, Gesandtschafts- und Generalkonsulatsposten verwendete. 67 Feldmarschälle und 40 Ritter des Maria- Theresien-Ordens standen zeitweilig in verschiedenen diplomatischen Verwendungen. Doch diese Zeiten sind wohl vorbei. Heute freuen wir uns schon, wenn ein österreichischer Botschafter einen Reserveoffiziersrang hat und einen Leutnant von einem Brigadier unterscheiden kann. Manchem Botschafter mag der Militärattaché, der ihn zumindest an Buntheit und Prachtentfaltung meist weit in den Schatten stellt, auch schon Anlass zur Eifersucht geboten haben, und ich schließe auch nicht aus, dass die Ablehnung einer eigenen Attachéuniform für österreichische Militärattachés auf jene gewissen Eifersüchteleien zurückzuführen sind, die nun einmal zwischen einer Exzellenz und einem General aufkeimen können. Doch hier, im Rahmen unserer Ausstellung, zeigen wir Ihnen zumindest einen Entwurf einer nie eingeführten österreichischen Attachéuniform. Die Eifersuchtsanwandlungen zwischen den Trägern der diplomatischen Macht sind aber ebenfalls kein österreichisches Spezifikum, denn das gab es wohl auch anderswo, ebenso wie den Verdacht, ein Militärattaché würde eigentlich nichts tun, außer dass er eine Art »Dekoratives Element« abgebe. Da ich in der Gegenwart jedoch kein Beispiel dafür weiß, darf ich den Fürsten Bismarck zitieren, der von eben jenem »dekorativen Element« sprach, und in einem Schreiben an den Grafen Waldersee hinzufügte, dass man der Gefahr eines reinen »Bummelkommandos« mit aller Macht zu begegnen hätte.197 Sehr viel liebenswerter ist der Hinweis des italienischen Diplomaten Daniele Varè in seinem »Handbuch des vollkommenen Diplomaten«, wo es heißt : »Eine Gesandtschaft kann ohne Gesandten auskommen, aber nicht ohne Attachés.« Und »Es
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gibt zwei wirklich glanzvolle Rangstufen im diplomatischen Dienst : die des Attachés und die der Gesandtin.«198 Zeitweilig überflügelten in mehreren Ländern hohe Offiziere die Botschafter und wurden Militärbevollmächtigte, meist in Generalsrängen. Allerdings waren die Militärbevollmächtigten nur für wenige Großmächte vorgesehen. Lediglich das Deutsche Reich scheint hier im Ersten Weltkrieg eine Ausnahme gemacht zu haben und ernannte den deutschen Militärattaché in Bulgarien, Oberstleutnant von Lossow, zum Militärbevollmächtigten beim Zaren Ferdinand. Österreich trachtete wie andere Staaten auch, den Aufgabenbereich der Militärattachés immer neu zu definieren. Denn die Empfindlichkeiten ließen sich natürlich nicht übersehen. Da waren einmal die Botschafter oder Gesandten des eigenen Staates. Denen sollte der Militärattaché als Berater in militärisch-politischen Fragen dienen. In rein militärischen Fragen war der Attaché jedoch den Zentralstellen in Wien untergeordnet. Dazu kamen die besonderen Gegebenheiten der Gastländer. Da konnte, wie es in der Instruktion des Jahres 1873 hieß, die bis ans Ende der Monarchie, ja eigentlich bis heute noch gilt, nichts reglementiert werden. Der Attaché müsse sich durch persönliches Geschick selbst die Position schaffen, die wünschenswert wäre. Er dürfe sich nicht in die Rolle eines Kundschafters oder Spions versetzen und dadurch den Dienst kompromittieren. Wenngleich anerkannt wurde, dass die meisten Nachrichten doch nicht auf dem direkten, sondern nur auf dem indirekten Weg beschafft werden konnten.199 Dass es aber auch durchaus üblich war, die Verbindungen auf zwei Ebenen zu pflegen erhellt eine Äußerung des schon erwähnten Oberstleutnant von Lossow, der mit Rücksicht auf die Verhältnisse in Wien noch während des Ersten Weltkriegs meinte : Der dortige deutsche Militärattaché »befinde sich dauernd im österreichischen Hauptquartier, zu seiner Vertretung in Wien sei ein Offizier kommandiert worden« ; außerdem gebe es in Österreich-Ungarn bestimmte Vertreter und Bevollmächtigte zur Erfüllung von Aufgaben, die anderswo dem Militärattaché zufielen.200 Der deutsche Bevollmächtigte beim k. u. k. Armeeoberkommando, General von Cramon, drückte sich da noch deutlicher aus. Als ihm von Berlin während des Ersten Weltkriegs zugemutet wurde, seine nachrichtendienstliche Tätigkeit und die Informationen über die k. u. k. Armee zu intensivieren, wies er das kühl zurück, denn dazu gebe es schließlich einen Herrn im Stab des Militärattachés, Oberst von Kageneck. Das Ende des Ersten Weltkriegs beseitigte durchaus nicht den großen militärdiplomatischen Apparat. Nur Österreich hatte diesbezüglich mit nichts mehr aufzuwarten. Deutschland drohte zwar der Friedensvertrag von Versailles ebenfalls das Ende der Militärattachés an, doch der Apparat zeigte eine Art Eigenleben, über das man im Deutschen Auswärtigen Amt alles andere als glücklich war : Die Belassung von »mehr oder weniger unbeschäftigten militärischen Stellen bei auswärtigen Missionen involviert erfahrungsgemäß die Gefahr, dass die betr[effenden] Offiziere sich über den Rahmen
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ihrer militärischen Aufgaben hinaus betätigen und dadurch die Einheitlichkeit u nserer Politik gefährden. So erscheint z. B. das Interesse, das der mit der Wahrnehmung der Geschäfte des Militärattachés beauftragte Oberst von Massow dem Neuaufbau und der Wiedererstarkung der Wehrhaftigkeit Deutsch-Österreichs entgegenbringt, zur Zeit mindestens nicht unbedenklich. Die Frage der militärischen Reorganisation DeutschÖsterreichs ist nach der augenblicklichen Lage eine innenpolitische Angelegenheit unseres Nachbarstaates, ganz abgesehen davon, dass der Gedanke, den Aufbau der österreichischen Wehr von deutschen Offizieren beeinflussen zu lassen, den leitenden Stellen des österreichischen Staates sicherlich wenig sympathisch sein dürfte.«201 Einige Monate später verließ Herr von Massow Wien. In der Zwischenkriegszeit kam Österreich viele Jahre ohne Militärattachés aus, und erst während der letzten Jahre wurden dann die Obersten Peyerl, Regele, Liebitzky und Jansa ausgesandt, um wieder als Militärattachés Dienst zu versehen und deutlich zu machen, dass sich Österreich militärisch wieder stärker engagieren wollte und musste, und dass es seinem militärischen Umfeld besondere Aufmerksamkeit widmete. Das währte fünf Jahre. Dann folgten die Zäsuren von 1938 und 1945, und schließlich konnte man auch erst nach 1955 wieder an die Entsendung von Militärattachés denken. Für die Signatarmächte des Staatsvertrages war es aber ohnedies selbstverständlich gewesen, dass sie in ihren Botschaften auch Militärattachés beließen, denn schließlich ging es ja darum, den neutral gewordenen Staat, der von vielen als Sicherheitsrisiko empfunden wurde, zu kalkulieren. Es ging auch darum, den Aufbau des Bundesheeres zu verfolgen und jene Lieferungen durchzuführen, die dem österreichischen Heer den Start erleichtern sollten. Und diese Lieferungen kamen aus den USA, der Sowjetunion, Großbritannien und Frankreich. Das Belassen von Militärattachés hatte aber sicherlich nicht den Grund, vergrabene Konservendosen, Taschenlampen und Karabiner zu betreuen. Österreich zog gleich und entschloss sich 1957 dazu, zunächst vier Militärattachés zu den Staatsvertragssignataren und wenig später weitere Attachés zu den Nachbarstaaten zu entsenden. – Mit Ausnahme der Bundesrepublik Deutschland. Mittlerweile ist auch dieses Problem von lediglich historischem Interesse. Die Begründung, mit der schließlich auch das Außenministerium der Entsendung von zusätzlichen Militärattachés und gleichzeitig dem Austausch mit anderen Staaten zustimmte, war von einer erheiternden Offenheit. Jahrelang hatte es Wünsche nach dem Austausch von Militärattachés gegeben. Vor allem Jugoslawien war nicht müde geworden, dieses anzuregen und zu fordern. Doch man war nicht weitergekommen. 1964 aber hieß es, eine Reihe von Botschaften hätte mittlerweile »schwarze Attachés«, und man könnte sie nur dann in Uniformen zwingen, wenn Österreich seinerseits Militärattachés entsende.202 In dieser Feststellung spiegelte sich nicht nur die Erfahrung der fünfziger und sechziger Jahre wider, sondern auch jene, die den gesamten diplomatischen Verkehr begleitete. Wie sagte doch Sir Henry Wotts : »Ehrenwerte Spione«.
»Kein Spaß an der Sache« – Militärmuseen da und dort
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Seither hat sich vieles verändert, und es ist auch zum Teil an den Objekten unserer Ausstellung abzulesen. Die Staatenwelt ist eine andere geworden. Aus den sehr sparsamen militärisch-diplomatischen Beziehungen wurde ein dichtes Netz. Auch äußerlich zeigt sich dieser Wandel. Die Uniformen haben einen anderen Schnitt, die Kopfbedeckungen haben sich verändert, vor allem aber die Symbole und Farben. Militärattachés sind Teil des gesellschaftlichen Lebens, und gerade in Wien haben es viele geschafft, umworbene und gerne gesehene Gäste zu sein. Wenn ein Attaché das Land verlässt, bleibt nicht nur die Erinnerung und bleiben viele Fotos, sondern auch – wie im Fall unseres Hauses – die persönlichen Stücke. Und ich würde mich freuen, wenn die Ergänzung einer Sammlung, die wir anlässlich dieser Ausstellung vorgenommen haben, darin mündet, dass wir auch künftig mit Stücken der persönlichen Erinnerung, vor allem aber mit den Kopfbedeckungen beteilt werden. Als Teil der Uniform geben sie doch ein wenig über den Träger und sein Land Auskunft. Es lassen aber auch die österreichischen Attachés immer wieder persönliche Gegenstände zurück und übermitteln zumindest temporär unserem Haus jene Stücke, die ihnen als Geschenke überreicht wurden und die neben dem Erinnerungswert auch ein mitunter skurriles Element deutlich machen. Ich habe z. B. erst einer Urkunde, die dem österreichischen Militär-, Verteidigungs-, Luft und Marineattaché in Washington überreicht wurde, entnehmen können, dass es einen Admiral der Texanischen Kriegsmarine gibt, und dass man das auch als Österreicher werden kann. Mit unserer Ausstellung wollen wir jenen, die sich über die Entwicklung einer besonderen Seite der Diplomatie informieren möchten, einige Hinweise geben. Wir wollen auch dazu einladen, alte Bekannte wieder zu sehen. Und den ausländischen Militär-, Verteidigungs-, Luft- und Marineattachés wollen wir zu verstehen geben, dass sie ein Teil unserer Gegenwart und damit unserer Geschichte sind, dass wir sie für wichtig halten, aber natürlich niemandem die Frage beantworten können, ob er »Diener zweier Herren« ist. Die Antwort darauf muss sich wohl jeder selbst geben. »Kein Spaß an der Sache« – Militärmuseen da und dort Es ist noch nicht einmal zwei Monate her, dass im Verlauf der Jahrestagung des Militärgeschichtlichen Forschungsamts in Hamburg im Zusammenhang mit der Vorstellung einiger Militärmuseen so unterschiedliche Herangehensweisen behandelt wurden, wie jene des Bayerischen Armeemuseums einerseits und des amerikanischen Bürgerkriegsmuseums (National Battlefield Museum) in Petersburg (VA) anderseits. Fort Tilly in Ingolstadt wurde als Ausstellungsort für die Sammlung zum Ersten Weltkrieg präsentiert ; Objekte von Bedeutung wurden dem Auditorium vorgeführt, und auch ein sozialgeschichtlicher – ich würde nicht sagen : feministischer – Ausflug gemacht,
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denn schließlich zeigte Ernst Aichner auch das Foto eines Frontbordells, vor dem eine Handvoll barbusiger Schönheiten aufgereiht stand. Doch abseits dieses wohl eher nebensächlichen Aspekts beherrschte Nachdenklichkeit die Szene, und die Herangehensweise signalisierte weithin, dass von Fröhlichkeit nicht die Rede sein konnte. Es geht um Krieg, ums Sterben, für Bayern nicht ganz verwunderlich auch um Religion, um Kampfmittel, Waffen, Uniformen, Orden und Menschen. Das Original herrscht vor. Nachbauten sind Kulisse. Einer von vielen Erzählbögen, mittels dessen die Geschichte des einstmals »Großer Krieg« genannten ersten Weltkriegs des 20. Jahrhunderts musealisiert wird. Das amerikanische Bürgerkriegsmuseum in Petersburg präsentierte sich bei derselben Gelegenheit völlig anders : So gut wie nichts ist echt, es war gnadenlos repliziert worden. Re-enactment beherrschte die Szene, egal ob das eine Geschützbedienung oder eine Feldschmiede war, und schließlich sah man, wie eine Gruppe von Jugendlichen mit Holzgewehren in der Hand lachend und brüllend auf die imaginären Konföderierten losstürmte. Doch die Frequenz des Museums ist sicherlich erstaunlich, und die Begeisterung, in die eigene Geschichte eintauchen zu können und gar nicht groß fragen zu müssen, wer die Guten und wer die Bösen waren, wer die Sieger und die Verlierer, und wie viele Leichen 1864 das Schlachtfeld von Petersburg bedeckten, diese Begeisterung war den Besuchern – zumindest auf den Fotos – ins Gesicht geschrieben. Es war aber nicht nur der Unterschied der Präsentation in Hamburg, der die Sache so auffällig machte, sondern die zunächst naiv klingende Frage eines Zuhörers, der an Aichner gerichtet wissen wollte : »Wie hat man da Spaß an der Sache ?« Und er hatte ja so recht ! Wir gehen in Foltermuseen und Kriminalmuseen, sehen Streckbetten, Daumenschrauben, Galgen und Schafotte, das Messerchen, mit dem ein ungeduldiger Wahlneffe seine Erbtante umgebracht hat – und ganz offensichtlich haben die Leute »Spaß an der Sache«. Den einen Moment fährt einem vielleicht ein Schauder über den Rücken, dann kommt man wieder ins Freie, kehrt bei McDonald’s gegenüber ein, erleidet tausend Phon beim Vorüberknattern einer Motorradeskorte und hält vielleicht immer noch die Eintrittskarte zu einem Haus in der Hand, das offenbar das Kunststück geschafft hat, Unausstellbares auszustellen. Und auch ein nicht allzu hoch angesetzter Bildungs- und Unterhaltungswert stellt in jedem Fall eine Rechtfertigung dafür dar, dass man Eintrittsgeld gezahlt hat und auf seine Rechnung gekommen ist. Ich stelle dem noch ein weiteres Beispiel – gewissermaßen alternativ – zur Seite. Das Heeresgeschichtliche Museum in Wien wurde mit einem Zentralraum, der Ruhmeshalle, ausgestattet, die zunächst nur der Verherrlichung der österreichischen Armee und ihrer Heerführer dienen sollte, nachträglich aber durch die Anbringung von Marmortafeln, auf denen die für das Haus Österreich gefallenen Offiziere vom Oberst aufwärts namentlich verzeichnet wurden, plötzlich zum Weihe- und Gedenkraum mutierte, der bei manchen – auch manchen Mitarbeitern – das Gefühl nach sich zieht, sie
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seien in einer Aufbahrungshalle gelandet und könnten sich bestenfalls verhalten räuspern. In Verbindung mit Ausstellungsräumlichkeiten, in denen hauptsächlich militärgeschichtliche Bezüge zu sehen sind und natürlich viel vom Krieg die Rede ist, scheint sich wohl auch in diesem Fall die Frage zu stellen, ob man Spaß an der Sache haben kann. Und als unlängst in der »Langen Nacht der Museen« für das Heeresgeschichtliche Museum das Motto ausgegeben wurde »Eine Nacht im Zeltlager Kara Mustapha Paschas«, und unter anderem nicht nur osmanische spirituelle Gesänge des 16. und 17. Jahrhunderts und Janitscharenmusik aufgeführt wurde, sondern auch 50 Bauchtänzerinnen mehr oder weniger erfolgreich mit den Hüften wackelten, gab es – wollen wir sagen : Hochgezogene Augenbrauen. Nicht aber, dass es gestört hätte, dass man auf diese Weise ein paar Tausend Besucher in das Museum lockte, nebenbei Dutzende Führungen in die Schausäle des 16. bis 18. Jahrhunderts veranstaltete und sich nolens volens mit Türkenkriegen beschäftigte ; die Irritation ging davon aus, dass geradezu unvermeidlich auch die Gedenktafeln ins Spiel kamen. Und was für den osmanischen »Erbfeind« sehr wohl hingenommen werden konnte und auch Spaß machte, hatte für das 20. Jahrhundert keine Geltung mehr. – Wo, so muss man sich freilich fragen, ist die Zäsur ? Ist es eine zeitliche Grenze, die da irgendwo gezogen ist ? Weckt der politischideologische Hintergrund, eine andere Betroffenheit ? Die Nähe von Auschwitz ? Was immer auch ! Ist die Betroffenheit wirklich so groß, dass sie zur Freudlosigkeit gerinnt ? Damit haben wir wohl einmal einen Aspekt verortet : Historische Museen, auch Militärhistorische Museen und Militärmuseen, die mit dem Anspruch antreten, die Geschichte des 20. Jahrhunderts zu zeigen, werden an anderen Maßstäben gemessen und mit anderen Augen gesehen als jene, die sich mit weiter zurückliegenden Zeiten beschäftigen. Und natürlich macht es einen erheblichen Unterschied, was da und dort ausgestellt wird, und wie unterschiedliche historische Kulturen unterschiedliche Herangehensweisen erfordern. Da ist hierzulande natürlich längst nicht mehr die Rede davon, dass ein »frischer fröhlicher Krieg das skrofulöse Gesindel hinwegfegt«, wie das Heinrich Leo noch so herzhaft umschrieben hat, und es wird wohl auch als Ausdruck politischer Kultur gesehen, dass Krieg generell als bedrückend und regelrechte Last der Geschichte verstanden wird. Der Krieg und seine Museen werden zu Gedenk- und Bedenkstättenkomplexen, die lediglich dafür zu stehen scheinen, dass Grundsatzfragen gestellt werden, Ernst, Trauer und zumindest Nachdenklichkeit erzeugt werden sollen. Diesen Typ Museum hat wohl auch Hans Martin Hinz vor Augen gehabt, als er in dem Band »Der Krieg und seine Museen« 1995 in der Einleitung formulierte : »Kriegerische Auseinandersetzungen haben die europäische Geschichte über Jahrhunderte geprägt … wie aber können Museen diese brutalste Form der menschlichen Auseinandersetzungen darstellen, um durch Aufklärung über Ursachen, Verlauf und Folgen der Kriege dazu beizutragen, dass die heutigen Generationen aus der Geschichte für die Gegenwart lernen ?«203
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Es ist das eine Fragestellung, wie sie in Deutschland und Österreich und vielleicht auch in einigen anderen Ländern wie selbstverständlich gebraucht wird, wie sie aber ebenso von einem Anspruch herrührt, den eigentlich nur wenige Museen auf der Welt stellen. Überall dort, wo man sich noch in einer direkten Revolutionstradition sieht oder andere Zäsuren eine Scheidung in die schlimme Vor- und die gute Jetztzeit ermöglichen, erhält die »brutalste Form der menschlichen Auseinandersetzung« einen Platz in der Geschichte zugewiesen, der es zumindest erlaubt, die eigene militärische Tradition herauszustreichen, und wenn schon nicht »Spaß zu haben« zumindest den Nachweis zu führen, dass man gelernt, hat und jedenfalls für eine gute Sache eintritt. Japan, beispielsweise, das ja praktisch kein Militärmuseum hat, sieht man vom Yasukuni-Schrein ab, bewältigt das Problem dadurch, dass die militärische Geschichte des Landes kaum thematisiert wird, und auch im Yasukuni-Schrein in erster Linie gezeigt wird, wie Japan durch seinen Militärimperialismus in die Katastrophe der bedingungslosen Kapitulation geschlittert ist, und es werden auch nur jene Einzelpersonen gewürdigt, die ihre Verfehlungen durch einen ehrenvollen und rituellen Selbstmord geahndet haben. Bewältigen durch Wegsehen, könnte man sagen. Aber auch die USA kennen eigentlich den Typus des militärhistorischen Museums nicht und beschränken sich auf die fein säuberliche Trennung von begehbaren Denkmälern, wie etwa dem Vietnammemorial einerseits, Waffen- und Waffengattungsmuseen sowie eher beiläufigen Erwähnungen des Kriegs im Rahmen des Museum of American History anderseits. Und das, obwohl man in den USA wohl zum wenigsten das Gefühl vermittelt bekommt, diese Nation hätte sich für etwas zu schämen. Sollte das aber ja einmal versucht werden, so konnte sich das zu einem nennenswerten Problem auswachsen, wie das 1995 das Projekt der Darstellung der ersten Atombombenabwürfe im Rahmen des Air and Space Museums deutlich machte, das mit der Entlassung all jener endete, die sich einer historisch-kritischen Aufarbeitung verschrieben hatten. Die Veteranenorganisationen, die das Ausstellungsprojekt zu Fall brachten, wollten sich ihre Freude über den Sieg und das Ende des 2. Weltkriegs nicht durch einen Verweis auf Hiroshima und vor allem nicht durch die Zusatzfrage, weshalb auch noch Nagasaki bombardiert worden war, vergällen lassen.204 Sie weigerten sich wohl auch, Hiroshima und Nagasaki als leere Flächen und archäologisches Ödland anzuerkennen. Es ist denn auch, um beim amerikanischen Beispiel zu bleiben, wesentlich unverbindlicher, wenn man im Museum of American History die Roben der First Ladies und in Mount Vernon das Gebiss von George Washington zeigt, und dann andern Orts die reinrassigen Militärmuseen unterbringt, denn die laden doch dazu ein, sich mit Technikgeschichte, Architektur, Industriegeschichte und Logistik zu befassen, die Menschen gewissermaßen zu extrapolieren und generell so zu verfahren, als ob es um eine Oldtimershow ginge, die den Sammler aber auch den Waffennarren anspricht, hierzulande aber auch immer Gefahr läuft, dass sich rechte Wirrköpfe der Szene bemeistern.
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Letztlich sind die reinrassigen Waffenmuseen aber genauso legitim, wenngleich, wie mir scheint, Sammlungsidealen des 19. Jahrhunderts verpflichtet, wo es um die Syste matik geht, und Ehrgeiz wie Mittel dazu verwendet werden, die Entwicklung einer Waffe, eines Fahrzeugs, eines Waffensystems von den ersten Prototypen bis zur letzten Serie verfolgbar zu machen. Zwar gilt auch in diesem Fall, dass Waffen nirgends friedlicher sind als in Museen, doch ihre Verwahrungsorte sind natürlich auch Demonstrationsstätten ersten Ranges. Das russische Panzermuseum in Kubinka, das französische in Saumur oder das britische in Bovington sind hervorragende Beispiele dafür. Oder man fährt nach Hendon und sieht sich Flugzeuge an, folgt der Einladung in ein Marinemuseum, wo immer auch : Wenn die Sammlungen groß genug sind und ordentlich präsentiert werden, die allgemeine Zugänglichkeit gegeben ist und die soziale Infrastruktur passt, so dass man essen und trinken und schließlich in ein Museumshop gehen kann, dann ist der Erfolg für die Museumsmacher und für die Museumsbesucher vorprogrammiert. Alle miteinander haben Spaß an der Sache. (Kubinka muß ich hier wohl nachträglich ausnehmen, da es nicht allgemein zugänglich ist). Nun sollten die unterschiedlichen Erfahrungen mit historischen, militärhistorischen und Militärmuseen sehr wohl zu denken geben, denn es gilt zu fragen, ob Militärhistorische Museen heute noch zeitgemäß sind, oder ob man sie nicht besser in Reenactment-Stätten, reine Gedächtnisorte oder Memorials umwandeln sollte. Ist das vielleicht die durchaus denkbare Weiterentwicklung jener Idee, die vor rund 200 Jahren zur Entstehung von Museen geführt hat ? Zumindest einige Aspekte sprechen dafür. Die Gründung des Museums für Französische Altertümer, die Schaffung des Nationalen Museums der Republik im Palais du Louvre nach den Ideen von Alexandre Lenoir, 1793, war ja nicht nur dazu bestimmt, Sammlungen zugänglich zu machen, sondern sollte auch in einer Zeit, da Frankreich nach seiner Identität suchte und die Revolution unendlich viele Kulturgüter vernichtete, einen Akt der Notwehr darstellen. Seit damals gilt wohl auch als die eigentliche Grundlage für Musealisierung nicht mehr das Anhäufen von Schätzen, Kostbarkeiten und Merkwürdigem, sondern das bewusste Bemühen, dem Verlust vorzubeugen. Verlorengehen können aber nicht nur Pretiosen und Alltagskram, Zeugnisse jeglicher Vergangenheit, sondern auch Ideen. Sie zu zeigen, etwa die sozialdarwinistischen Hintergründe für operative Planungen im Verlauf der beiden Weltkriege, grenzt jedoch abermals an die Grundfrage der Darstellbarkeit. Reicht der gegenständliche Erzählbogen aus ? Wieviel Schriftlichkeit ist gefordert ? Ist Vergangenheit wirklich unausstellbar, es sei denn künstlich oder künstlerisch ?205 Und wie bewältigt man den Trapezakt, der da lautet : »Es ist der Akt des Zeigens, des Präsentierens, nicht das Gezeigte«, der das Wesen der Musealisierung ausmacht.206 Werte wandeln sich – wir erleben es tagtäglich. Und wenn man davon ausgeht, dass jedem Gegenstand auch eine Idee, ein Wert und eine Zeit immanent sind, dann bekommen jene oft nur mehr zufällig übergebliebenen Dinge einen Sinn. Und wir leben
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letztlich vom Zufall, dass sich etwas erhält, denn Museen können so aufwendig sammeln, wie sie nur wollen, letztlich leben sie vom Zufall des Überrests. Vor allem dann, wenn man rückwärtsgewandt musealisiert, weil eine andere Zeit andere Fragestellungen kennt und demgemäß geforscht und gesucht werden muss. Man sollte auch nicht übersehen, dass ein Teil der Museen deshalb entstanden ist, weil man an der Sinnhaftigkeit und Sammlungsphilosophie bestimmter, bestehender Häuser zweifelte und den Gegenbeweis antreten, eine neue beispielsweise politische Richtung auch im Umweg über die Musealisierung als zeitlos legitimieren wollte. Dabei spielte dann wieder nicht nur das Gute, Wahre und Schöne eine Rolle, sondern sehr wohl auch das Schlechte, Unwahre und Hässliche, weshalb gerade historische Museen ein Lied davon zu singen wissen, wie sehr sie sich von jenen Museen unterscheiden, die primär der Ästhetik oder zumindest dem Staunen verpflichtet sind. Nicht von ungefähr führte die Diversifizierung auch zu unterschiedlichen Bezeichnungen. Es war nicht mehr das eine, vielleicht dem British Museum vergleichbare Haus, sondern es waren deren viele und mehr, und die internationalen Museumsführer sprechen eine beredte Sprache davon, wie sehr man zu differenzieren sucht. Dabei scheint aber in Deutschland und Österreich insofern eine eigentümliche Entwicklung Platz zu greifen, denn seit einiger Zeit wird ja nicht nur memorialisiert, sondern der Begriff des Museums überhaupt zu vermeiden gesucht. »Haus der Geschichte«, »Haus der Toleranz«, »Kunstforum«, ganz bescheiden : »Sammlung« oder – den Mittelpunkt suchend – »Zentren«, ob Centre oder Center bleibt sich gleich, scheinen adäquater zu sein. Vielleicht verbindet man irgendwann einmal museale Sammlungen mit dem Wort »Land«, ähnlich dem »Erdbeerland« oder dem »Grabsteinland«. Historyland, Militaryland wären anzubieten. Nur die Bezeichnung »Bilderland« dürfte schon besetzt sein. Wie glücklich sind doch jene, die mit ihren Hausnamen oder in einer verbalen Verknüpfung existieren, die nicht vielleicht den Eindruck erweckt, es könnt sich – so die dahintersteckende Sorge – um etwas Verstaubtes handeln. Mémoriales (frz.) oder Memorials (engl.) beugen der Gleichsetzung mit Museen denn auch schon dadurch vor, dass sie sich von vornherein als Gedächtnisorte deklarieren. (Auch das Imperial War Museum in London wurde übrigens explizit als Denkmal des Ersten Weltkriegs gegründet).207 Regelrecht Gedächtnisorte kommen – strenggenommen – mit wenig Sammlungsgegenständen aus. Sie sind meistens selbst Örtlichkeiten oder zumindest Realien. Denken wir an den Mamaihügel in Wolgograd, an das Kriegsmuseum in Overloon, oder an die Grundkonzeption des Mémoriale in Caen. Dort ist es möglich, sich die Vergangenheit in besonderer Weise zu vergegenwärtigen. Vergleichbare Orte eignen sich auch in besonderer Weise, um – frei nach Peter Sloterdijk – Besuchermassen durch eine künstliche Vergangenheitshöhle »hindurchzupumpen«. Sloterdijk bezog den Begriff der »Vergangenheitshöhle« allerdings auf Geschichtsmuseen, und man konnte ihn sehr wohl auch nicht nur gemäß der Ironie, sondern auch positiv in-
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terpretieren : Nichts gibt rascher und besser Auskunft über das Selbstverständnis eines Landes wie gerade ein historisches Museum. Aber auch in Museen, speziell militärhistorischen, kommt es nicht immer darauf an, was in der Ausstellung enthalten ist, sondern eigentlich mehr noch darauf, was nicht enthalten ist und was weggelassen wird. Denn abseits der Unmöglichkeit, alles zu zeigen, wird in den historischen Museen durch Weglassen oder Überhöhen ein eigentlich recht zuverlässiger Index des Erinnerungsgutes gegeben, und insgesamt eine kaum vergleichbare Positionsbestimmung vorgenommen. Immer freilich mit der Einschränkung, dass nicht nur der Zufall Regie führt und statt des Einmaligen das Triviale den Inhalt bestimmt. Denn natürlich wird nicht zu vergessen sein, dass sich in Museen auch der »Mist« potenziert. Ein früherer Direktor des Wiener Technischen Museums, Peter Rebernik, stellte denn auch schon vor Jahren pointiert fest : »Museen sind die Müllhalden der Nation«. Auch das ist nicht so absurd, wie es zunächst vielleicht klingt, denn natürlich geht es immer wieder darum, die Abfälle zu horten und sie auf Wiederverwertbares zu durchstöbern. Das gilt für vieles, nicht zuletzt auch für »abgestorbene Ideologien, vergangene Utopien, tote Begriffe und fossile Ideen«, ein Umstand der Jean Baudrillard schon vor Jahren zur Feststellung veranlasste, dass die geschichtlichen Abfälle (wie wir fast täglich bewiesen bekommen) ein viel ernsteres Problem seien als die industriellen Abfälle der Menschheit. Und man muss sich darüber im Klaren sein, dass alles, was historisch nicht abgebaut und vernichtet werden kann, wiederaufbereitet wird. Es ist daher eine eher banale Feststellung, dass nichts von dem, was man geschichtlich für überholt hält, wirklich verschwunden ist. Alles ist da, bereit zur Wiederauferstehung. Und inhärent haben gerade militärhistorische Museen auch die Qualität von »Tatorten« an sich. Doch sehen wir die Sache auch positiv : Militärhistorische Museen eignen sich in besonderer Weise zu »Erinnerungsorganen«, wie sie Hermann Lübbe so einprägsam beschrieben hat. Sein Zugang zur Musealisierung führt über die Erklärung von Modernisierungsprozessen, die zwei sich unterschiedlich schnell entwickelnde Kulturen hervorbringen : die der Geschichtlichkeit gegenüber indifferente moderne Kultur, die sich schneller entwickelt als die dem Geschichtlichen gegenüber sensible Herkunftskultur. Die moderne Kultur hat die Herkunftskultur nicht abgelöst, sondern überlagert ; beide entwickeln sich auseinander, der Alterungsprozess von Dingen und Traditionen beschleunigt sich, die Menge an Relikten, also der aus dem kulturellen und gesellschaftlichen Evolutionsprozess als funktionslos ausgeschiedenen Gegenstände, wächst an. Der Wunsch, der Fremdheit gegenüber der eigenen Vergangenheit zu begegnen, führt zu Bestrebungen, zu bewahren und zu rekonstruieren. Und in der Lücke zwischen Herkunftsund Zukunftskultur wächst unser Interesse an der Vergangenheit und äußert sich im Bedürfnis nach Institutionalisierung in »Erinnerungsorganen«, unter anderem den Museen. Parallel zur Fortschrittsdynamik würde auch das Ausmaß an notwendigen
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Musealisierungsprozessen Beschleunigung erfahren.208 Lübbe deutet also die steigende Anzahl und die immer größer werdende Attraktivität von Museen als Symptom eines historischen Fiebers, mit dem die Gegenwart auf den wandlungs- und veränderungsbedingten Vertrautheitsschwund unserer Lebenswelt reagiert. Er sieht die Objekte als Garanten der Erinnerung in einer Zeit sich ständig beschleunigender politischer und sozialer Bewegungen.209 Das ist nicht unähnlich der von Zbynek Stránský beschriebenen Realitätsaneignung.210 Denn es sei ein uraltes menschliches Bedürfnis, Werte, welche kulturelle Identität repräsentieren oder auch nur die Spuren solcher Identität tragen, zu bewahren, und zwar als Mittel »kultureller Realitäts-Aneignung«. Diese, so Stránský, wirke aber auch dialektisch zurück, indem sie das soziale Bewusstsein und das Realitätsbewusstsein durchdringt und prägt. Der Musealisierungsakt als Realitätsaneignungsmittel funktioniert, weil das Festhalten an der materiellen Realität diese greifbar macht und die Möglichkeit, sie sich anzueignen erleichtert. Gleichzeitig wirken die Objekte auch realitätsverändernd – für eine vergangene und in einer gegenwärtigen Situation, aber auch in Bezug auf das ausgestellte Objekt in seinem ursprünglichen und in einem neuen Kontext. Die Musealisierung verändert die Funktion ; der Rezipient nimmt nicht mehr das »reale« Objekt wahr, sondern das musealisierte, in einen anderen Kontext gestellte Objekt. Doch genau da sind einige weitere Überlegungen zu militärhistorischen und militärischen Museen angebracht. Denn sie laden ebenso dazu ein, sich entschwundene Realitäten anzueignen, wie sie gleichzeitig vor ebendieser Aneignung warnen sollen. Sind sie vielleicht jene »Orte des Vergessens«, wie sie Michael Fehr beschrieben hat ?211 Und ist vielleicht das auch zumindest einer der Gründe, warum sich militärhistorische und Militärmuseen zumindest regional resistent gegenüber der Spaßgesellschaft zeigen ? Es sei denn, man implantiert ein so schönes aber doch eher unverbindliches Thema wie »Lili Marleen« in ein Kriegsmuseum. Anders würde es wohl sein, wenn man die (2.) Ausstellung über »Verbrechen der Wehrmacht« in Overloon zeigen würde. Geradezu alarmierend wäre es aber, würde man im Musée de l’Armée in Paris eine nennenswerte Ausstellung über Kollaboration zeigen. Denn natürlich gibt es auch Tabuthemen und ihre Lobbyisten. – Davon wird noch zu sprechen sein. Wie banal sind da doch andere Feststellungen ! Auch militärhistorische und Waffenmuseen kämpfen mit den konservatorischen Bedingungen, unter denen Realien von zentraler Bedeutung präsentiert werden müssen. Im Augenblick, wo man sie sichtbar macht und aus dem mystischen Dunkel der Geschichte herausholt, erfolgt schon der erste Aufschrei der Kustoden, denn es drohen Todsünden. Das Licht sollte nicht über 40 – 50 Lux betragen, die Temperatur möglichst niedrig, die Feuchtigkeit für Textilien und Papier hoch, für Metall und Blankwaffen tief, zudem alles tunlichst steril sein, denn wenn zum Beispiel Leder von Schimmel befallen wird, droht eine Katastrophe.
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Wie erhält man Blut, das sich auf Uniformen oder auch auf historisch einzigartigen Dokumenten findet ? Lesbares soll möglichst nahe ans Auge, Großformatiges, wie Fahnen, in den Hintergrund gegeben werden ; das eine gehört gelegt, das andere gestellt und schließlich soll alles so zusammengeführt werden, dass es eine Art historischer Einheit bildet, Außen- und Innensicht gegeben sind und die Inhalte natürlich textlich so erläutert werden, dass die political correctness nicht verletzt wird. Flugzeuge, Panzer, Geschütze, Raketen – alles will untergebracht werden. Und das scheint zunächst einmal unleistbar zu sein und jenen recht zu geben, die da meinen : Wozu Originale ? Nehmen wir doch die Abbilder, miniaturisieren wir durch Modelle, und um einerseits Defizite auszugleichen, den Besuchern aber auch anderseits ein haptisches Vergnügen zu bieten, replizieren wir doch ! Der Durchschnittsbesucher kann Original von Repliken ohnedies nicht unterscheiden. Also her mit den Schneidern, Schustern und Kopierern, und wir schaffen ein Replikenmuseum ! Denn auch in Amerika interessiere es doch nicht wirklich, wer denn nun die originale Mondlandefähre von Apollo 11 besitzt, wer die Reservestücke und wer die Repliken hat. Eine Art komische Übersteigerung dieses Problems konnte man im Heeresgeschichtlichen Museum schon vor Jahren feststellen, als Besucher, die vorher im Franz-Ferdinand-Museum in Artstetten in Niederösterreich gewesen waren und dort ein Fahrzeug zu Gesicht bekamen, das sie als Auto des Attentats in Sarajevo am 28. Juni 1914 zu identifizieren meinten. Als sie dann im Heeresgeschichtlichen Museum einem etwas ähnlich aussehenden Fahrzeug begegneten, verblüfften sie mit der Aussage : »Schau, sie haben a so a Auto. Gel, das echte steht in Artstetten !« Mitnichten ! In Artstetten steht eine schlechte Replik, ein verkleideter VW »Käfer«, wohingegen das Original im Wiener Museum steht, und das sollte nun sehr wohl erkennbar sein. Dabei geht es aber nicht nur um Stolz auf das »echte« Stück, oder gar um Konkurrenz : Hier geht es um das Gedächtnismonopol. Das aber nicht nur mit Bezug auf die gegenwärtige Verwahrinstitution, sondern auch mit Rücksicht auf die kollektive Erinnerung. Offenbar geht aber die auratische Wirkung der Originale tatsächlich nicht so weit, und ist vielleicht aus einer nicht-militärischen Ausstellung zu zitieren, wo im Rahmen einer Salzburger Landesausstellung 1988 der sogenannte Tassilo-Kelch aus Kremsmünster präsentiert wurde, ehe er nach wenigen Tagen gegen eine Replik ausgetauscht wurde und die Leute wie selbstverständlich weiterhin ehrfürchtig davor stehen geblieben sind.212 Was hat es mit der Aura wirklich auf sich ? Ist sie unverzichtbar, oder kann man gerade in einer Spaßgesellschaft, aber auch dann, wenn der didaktische Zweck einer Sammlung im Vordergrund steht, die Aura hintanstellen ? Genügen Kopien ? Von der Kopie zum Hologramm, der Inszenierung und schließlich zur virtuellen Welt sind es eigentlich nur wenige Schritte und gilt festzuhalten, dass sich keine dieser musealen Darstellungsmöglichkeiten à priori ausschließt. Wenn z. B. ein jüdisches Museum die »Welt von gestern« mit ihren Synagogen und Bethäusern, den Talmudschulen
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und ostgalizischen Stedtln in Hologrammen zeigt, das aber sehr bewusst tut, um die geschwundene Welt zu betonen, also das nicht mehr real Existierende, dann wird das sehr wohl als legitime Art der Darstellung zu sehen sein. Doch wie weit kann man dabei gehen ? Auf militär(histor)ische Museen umgelegt würde das vielleicht bedeuten, dass man solcherart die Überlebenden und die Toten vergangener Kriege trennt. Aber man könnte natürlich auch noch weiterdenken und jegliche Welt von gestern als nicht mehr existent, irreal und auch nicht mehr rekonstruierbar sehen wollen. Warum daher nicht gleich alles inszenieren ? Auch bei der Inszenierung gibt es bemerkenswerte Beispiele. Ich denke etwa an das »In Flanders Fields-Museum« in Ypern, das mit einem Dutzend Originalen auskommt, aber sehr wohl eine beeindruckende Schau zuwege bringt, die durchaus den Anspruch erheben kann, etwas zu vermitteln, das unvermittelbar ist : Giftgas. Ich würde daher zumindest vorsichtiger als Wilfried Seipel formulieren, der unlängst gemeint hat : »Das virtuelle Museum …, das ausschließlich über die digitalisierte Wiedergabe der Sammlungsobjekte verfügt, bleibt in seiner Funktion ausschließlich informationsbestimmt.«213 Da kann doch auch sehr viel Emotionales ins Spiel kommen. Aber trotz der Faszination des Virtuellen steht das Originalobjekt nach wie vor im Zentrum jeder historisch-musealen Präsentation, und das mit gutem Grund. Der Transfer vom Ideellen ins Soziale – die funktionale Lerndimension im Museum – erfolgt auf unterschiedlichen Ebenen. Die mediale Eigentümlichkeit, aber auch besondere Wirksamkeit traditioneller Museen im Vergleich zu Massenkommunikationsmitteln liegt doch darin, dass sie auf den unmittelbaren Kontakt mit dem originalen Gegenstand, das authentische Objekt setzen, wo sonst vermittelte Erfahrung aus zweiter Hand die Regel ist.214 (Ich folge da Gottfried Korff ). Dabei wirken die Originalobjekte über ihre Aura, aber auch über den sozialen und politischen Kontext, in den sie gestellt sind ;215 Aura und Kontextualisierung ergänzen einander gewissermaßen. Walter Benjamin hat in seiner Definition des Aura-Begriffs sehr plausibel hervorgehoben, dass er nicht nur ein ästhetisches Kriterium, sondern ein für alle »geschichtlichen Gegenstände vorgeschlagener Begriff« sein sollte,216 und hob in seinem »Das Kunstwerk im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit« an anderer Stelle hervor : »Die Aura ist eine Erscheinung der Ferne, so nah das sein mag, was sie hervorruft.«217 Die Aura rückt die Objekte also einerseits in die historische Distanz und bestimmt gleichzeitig deren Faszination. Dem Gegenstand zugleich nah und fern zu sein, in den Horizont einer anderen Zeit einzurücken und doch in der eigenen zu bleiben – von diesem Spannungsverhältnis geht die Präsentation und Inszenierung historischer Objekte im Museum aus.218 Gleichzeitig bestimmt es die besondere Stellung des Museums als Präsentationsort : Die Aura des Objekts kann nicht über Massenmedien vermittelt werden ; die wesentliche Eigenschaft musealisierter Objekte besteht in ihrer sinnlich-konkreten Natur.219
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Die Praxis scheint uns freilich auch anderes zu lehren. Und auch das Museum in Petersburg und jenes in Ypern verdienen ernst genommen zu werden. Das Fazit lautet : In der »Museumsrealität« sind fließende Übergänge zwischen Realität und Verdoppelung, hyperreale Inszenierungen und Kopierpraxen à la Tassilokelch an der Tagesordnung. Wenn freilich die »historische Zeugenschaft« des Originals in der musealen Darstellung nicht mehr zum Ausdruck kommt, dann wäre die Unterscheidung zwischen Simulakrum und Realität obsolet. Gerade darum ist es so wichtig, den Unterschied zwischen beiden deutlich zu machen, das Original als Original mitsamt seiner Aura zu inszenieren, und bei Kopien ihre Künstlichkeit auch in der Darstellung zu betonen. Doch man kann natürlich noch weiter gehen. Auch dafür gibt es philosophische Positionen und Gegenpositionen. Der französische Soziologe Henri Pierre Jeudy ist anders als Baudrillard bei seinen Überlegungen zur Musealisierung nicht von der Verdoppelung, sondern von der Zerstörung des Realen ausgegangen, als deren Auswirkung er die Musealisierung sieht. Diese schütze vor der »Bedrohung des Verschwindens der symbolischen Orte eines vergangenen Lebens.«220 In der zeitlichen Akzelleration der Moderne und der Zersplitterung von Identitäten in der Postmoderne tritt, so Jeudy, vermehrt der Wunsch nach kollektiver Erinnerung auf, die sich in unserer Art des Umgangs mit kulturellen Zeichen manifestiert. Um historische Ereignisse (bei Jubiläen, Feiern) oder authentische Objekte (in Museen und Ausstellungen) wird – meist entlang eines Fadens von Kollektivmythen – Geschichte inszeniert, aus der Angst der Gesellschaft vor dem Verschwinden, der Zerstörung des Vergangenen. Jeudy meint freilich, dass Erinnerung immer erst à posteriori produziert wird ; sie ist eine individuelle und gesellschaftliche Aktivität und eine gedankliche und semiotische Konstruktion. Erinnern heißt, einem Vergangenen nachträglich Bedeutung zu verleihen. Dies geschieht auch durch den Prozess der Musealisierung, der einzelne kulturelle Zeichen zu einer kollektiven Erinnerung zusammenfasst. Im Mittelpunkt dieser Konstruktionsleistung steht der Überrest, der zwar nur ein Zeichen ist, aber »inmitten von kulturellen Stereotypen … den … semantischen Kern und das emotionale Potential« bildet. Einer versteinernden Musealisierung kann man, laut Jeudy, durch den Einsatz von Ironie entkommen, oder aber indem man sich die nachträgliche Formbarkeit der Erinnerung bewusst zunutze macht. Wenn mit dem Vergangenen spielerisch und kreativ umgegangen wird, dann äußere sich in dieser bewussten Organisierung der Erinnerung Verantwortung gegenüber Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft. Dem vorherrschenden Konservierungsgedanken der Musealisierung sollte eine visionäre Form der Erinnerung und ein produktiv-gestaltendes Gedächtnis zur Seite gestellt werden.221 Dem stehe ich nun eher skeptisch gegenüber, denn der Schritt zur – spielerischen – Manipulation ist wahrscheinlich ein recht kleiner. Und in diesem Zusammenhang scheint wohl auch der Petersburger Historienspektakel nicht nur fragwürdig, sondern entbehrlich.
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Lassen Sie mich einen weiteren Bogen schlagen : Wahrscheinlich werden sich ohne nennenswerte Mühe für jeden Typus eines Militärmuseums, eines Militärhistorischen Museums oder auch eines Memorials, das einen Höhepunkt gewaltsamer Auseinandersetzung markiert, nennenswerte Beispiele beibringen lassen, wobei nicht nur zwischen gelungenen und weniger gelungen bis regelrecht schlechten, sondern auch zwischen erfolgreichen und weniger erfolgreichen Präsentationen geschieden werden muss. Es sind daher durchaus nicht nur die Kriterien der Originalität, der Seltenheit oder gar Einzigartigkeit, geschweige denn die für Militärmuseen weltweit eher problematischen Zuordnungen zur hehren Dreiheit des Guten, Wahren und Schönen ausschlaggebend, sondern auch andere Faktoren, die sehr wohl zu benennen sind. Das Gebäude Auch Militärmuseen können nicht umhin, sich mit Fragen der Unterbringung zu beschäftigen, und sollten An- oder Umbauten geplant sein, so wird der Balanceakt zwischen Architektur und Inhalt zu bewältigen sein. Beim Inhalt kämpfen militär(histor) ische Museen mit ähnlichen Problemen wie technische Museen, denn es ist eine schiere Unmöglichkeit, die von den Objekten geforderten Dimensionen beizubringen. Und auch wenn man einmal alles untergebracht haben sollte, sind schon die nächsten Erweiterungsbauten fällig. Die Sammlung Militärhistorische- und Militär- bzw. Waffenmuseen sind dabei unterschiedlich zu bewerten. Geht es ausschließlich darum, die Entwicklung einer Waffengattung, sagen wir der Artillerie, von den Anfängen bis zur Gegenwart zu zeigen, dann ist das natürlich etwas anderes, als wollte man die Entwicklung des Kriegswesens von den Anfängen bis zur Gegenwart verdeutlichen wollen. Wiederum anders sind jene militärhistorischen Museen zu sehen, die auch die Funktion von Nationalmuseen zugewiesen bekommen haben und in irgendeiner Weise identitätsstiftend oder infragestellend sind. In jedem Fall kommt Überheblichkeit ins Spiel, denn die jeweilige Gegenwart wird als allwissend und der Vergangenheit gegenüber als überlegen dargestellt.
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Militärhistorische Museen leben in Konkurrenz. Dabei kann ihnen ihre Vielfältigkeit sowohl zum Guten wie zum Schlechten ausschlagen, zum Guten dann, wenn sie gerade wegen ihrer Vielfalt attraktiv sind, aktuelle Themen transportieren und sich als Stätten eines politischen und gesellschaftlichen Diskurses anbieten ; hinderlich dann, wenn man den ästhetischen Genuss sucht, den Weg von Kunst und Kultur durch die Zeiten oder auch die friedliche Nutzung der Technik. Ganz zu schweigen davon, dass Militärmuseen eben keine Streichelzoos haben und es wohl auch eine nicht ganz unproblematische Herangehensweise ist, wenn beispielsweise im Musée de l’Armée in Brüssel einfach ein provisorischer Schießstand eingerichtet wird, um Kindern die Handhabung eines Gewehrs beizubringen. Erhalter und Geldgeber als letzte Instanz Museen haben ihre Bestimmung und unterscheiden sich grundlegend von Privatsammlungen, weshalb sie natürlich allen möglichen Einflüssen ausgesetzt sind und dann auch regelrecht gezwungen werden können, eine bestimmte Linie zu verfolgen, etwas zu zeigen oder anderes nicht zu zeigen. Und wahrscheinlich weiß jedes Museum darüber ein Lied zu singen. Die einfachste Möglichkeit ist natürlich, sich anzupassen, doch es ist sicher auch die problematischste und letztlich schlechtestes Art. Der Druck des Erhalters ist aber, wie wir mittlerweile schon längst wissen, nicht nur dort anzutreffen, wo Diktaturen und Halbdiktaturen, Regime, Systeme oder was immer auch eine bestimmte Art der Darstellung verlangen ; dergleichen passiert auch in Mutterländern der Demokratie, und es sollte in dem Zusammenhang nochmals auf die abgesagte Ausstellung zu den Atombombenabwürfen auf Japan im Air and Space Museum verwiesen werden. Wir wissen, dass die Absage der Ausstellung Ergebnis eines massiven Drucks von Veteranenorganisationen und Lobbyisten gewesen ist und schließlich zum Rücktritt bzw. zur Entlassung einer ganzen Reihe von wissenschaftlichen Mitarbeitern geführt hat. Zuguterletzt genügte aber die Drohung, der Smithsonian Institution die Mittel zu kürzen bzw. zu streichen, um die Absage der Ausstellung zu erzwingen. Dass daraufhin die Präsidenten der »Organization of American Historians« an den Kanzler der Smithsonian Institution einen Brief des Inhalts richteten : »Geschichtsmuseen sollten nicht darauf beschränkt sein, nur Ausstellungen über Themen zu zeigen, um die es einen völligen Konsens gibt. Wo Konsens schon besteht, dort gibt es den geringsten Bedarf an Darstellung, von Informationen und an Möglichkeiten für die Mitglieder unserer vielfältigen Gesellschaft, sich zu bilden und Meinungen zu formulieren«,222 war zwar ehrenwert, änderte jedoch nichts an der Sache. Kritische Auseinandersetzung war
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Vom Sammeln und Ausstellen
nicht gefragt. In der Dimension nicht vergleichbar, im Ansatz aber ähnlich war die Erfahrung, die das Heeresgeschichtliche Museum im Jahr 2000 machen musste, als es eine Ausstellung über den 20. Juli 1944 plante und sowohl Zustimmung wie Eröffnung durch den zuständigen Verteidigungsminister gefordert waren. Die Ausstellung wurde ohne Gründe dafür anzugeben schlichtweg untersagt. Gerade die letzten Beispiele sollten die Doppelbödigkeit eines Zitats wie »Kein Spaß an der Sache« deutlich machen. Wenn die Erhalter eines Museums – und das können sehr wohl auch staatliche Stellen sein – keinen Spaß an der Sache haben, aber auch dann, wenn sie – aus welchen Gründen immer – statt einer nennenswert historisch-kritischen Auseinandersetzung gefällige Sichtweisen einfordern, eigene Sichtweisen pflegen und Beiläufigkeiten verlangen, dann drohen Museen immer wieder in Bereiche zu entgleiten, wo sie sich ausschließlich dazu eignen, bestimmte Sichten zu tradieren oder auch der Arroganz der Nachgeborenen zu frönen. Man wird sich zu entscheiden haben. Für meine Person möchte ich aber doch deponieren, dass ich niemals Direktor von »Historyland« sein möchte.
Hintergrund : Plakat der Sonderausstellung des Heeresgeschichtlichen Museums : Zwischen den Fronten, Oktober 2000. Davor Tischfähnchen zur Verwendung bei Staatsempfängen und albanischer Fez aus Wollfilz. Im Vordergrund Publikationen zur Geschichte des Österreichischen Bundesheers sowie Manfried Rauchensteiner (Hg.), Überlegungen zum Frieden (Wien 1987).
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Die Pflicht, die Kluft, der Frust Vielleicht haben es die wenigsten bemerkt, dass den österreichischen Soldaten ein neuer Traditionstag gegeben worden ist : Der 7. September. An diesem Tag verabschiedete der österreichische Nationalrat 1955 das Bundesgesetz über die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht. Gültig wurde das Gesetz zwar erst mit seiner Verlautbarung, und Geltung hat der Tag natürlich auch nur so lange, als es die allgemeine Wehrpflicht gibt. Aber immerhin : Jetzt gibt es einen offiziellen Traditionstag, während jahrelang der 15. Oktober als »Tag des Bundesheers« galt, weil an diesem Tag 1956 die ersten Wehrpflichtigen eingerückt sind. Oder man hielt es mit den Hunderttausenden, die den 26. Oktober als Tag des Bundesheers verstanden, dem Slogan »Schau Heer« folgten und sich häufig nostalgischen Gefühlen hingaben und -geben. Da treffen dann nicht nur die Generationen aufeinander, es wird auch von sehr unterschiedlichen Heeren geredet. Einige wenige erinnern sich noch an das Bundesheer der Zwischenkriegszeit, weitaus mehr an die Deutsche Wehrmacht, und die meisten an »ihr« Bundesheer, das nun auch schon in die Jahre gekommen ist. Da geht es dann ans Vergleichen und fallen Reizworte wie »Vom Helden zum Schneeschaufler der Nation«, um eine gewisse Geringschätzung oder auch den Verdacht von Missbrauch anzudeuten. Leicht haben sie’s aber nie gehabt, jene Angehörigen der bewaffneten Macht, denen mittels Eides abverlangt wurde, dass sie gehorsam, tapfer und treu bis in den Tod zu sein haben. Noch im 19. Jahrhundert musste man sich erst daran gewöhnen, dass ein Soldat ein durchschnittlicher Mensch mit durchschnittlichen Eigenschaften und durchschnittlichen Empfindungen ist. Kein Vieh, kein Untermensch, keine Kanaille ; kein Menschenmaterial, das letztlich nur eine statistische Größe darstellte. Als 1868 in Österreich zum ersten Mal die allgemeine Wehrpflicht eingeführt wurde – insgesamt wurde sie ja dreimal eingeführt, 1868, 1936 und 1955 – da ging es darum, ein politisches Instrument zu formen, das besser, allseitiger und in größerem Umfang einsetzbar war als jenes Militär, in das jene, die sich’s nicht richten konnten, zwar auch schon durch mehr als einhundert Jahre mittels Konskription eingereiht wurden, aber immer eine Ausnahmestellung behalten hatten.
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Die in Österreich-Ungarn »einrückend Gemachten« hatten beim gemeinsamen Heer und den beiden Landwehren bis 1912 eine dreijährige bzw. zweijährige Dienstzeit aktiv abzuleisten. Dazu kamen dann noch neun Jahre in der Reserve. 1912 wurde die aktive Dienstzeit – mit Ausnahme der Kavallerie – auf zwei Jahre reduziert ; die 12 Jahre Gesamtdienstzeit blieben erhalten. In den drei bzw. zwei aktiven Jahren, die der Soldat im gemeinsamen Heer oder einer der Landwehren abdiente, waren die Gefühlslagen aber wohl schon eingangs unterschiedlich. Drei oder zwei Jahre, das machte einen erheblichen Unterschied ! Aber Österreich-Ungarn schöpfte seine Wehrkraft ohnedies kaum aus. Die meisten jungen Männer eines Jahrgangs dienten überhaupt nicht oder zumindest nicht in der k. u. k. Armee oder den Landwehren. Vor 1912 rückten in dem 52 Millionen-Reich jährlich nur 126.000 junge Männer ein. Weitere 80.000 waren Ersatzreservisten und hatten nur acht Wochen Grundausbildung zu absolvieren und dann die Verpflichtung, bei den jährlichen Standeskontrollen anwesend zu sein. Noch einmal so Viele waren untauglich oder mussten aus den unterschiedlichsten Gründen nicht einrücken. Die Assentierung war allerdings ein Vorgang, bei dem jene, die »genommen wurden«, ein wenig das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Elite vermittelt bekommen sollten. Die assentierten Burschen wurden von der Dorfmusik begleitet, und die Tauglichen von den Untauglichen mit Sträußchen von künstlichen Blumen beschenkt, die man sich auf den Hut stecken konnte. Erstaunlich eigentlich, dass sich diese Musterungsriten da und dort noch erhalten haben, und es sich beispielsweise burgenländische oder niederösterreichische Bürgermeister auch heute nicht nehmen lassen, die Gemusterten zum Essen einzuladen, und vor den Stellungskommissionen Wanderhändler ihre Musterungssträußchen verkaufen. Für die Rekruten folgte dann die Zeit der Abrichtung, der Grund-, Aus- und militärischen Weiterbildung, die sich meist unterschiedslos als Zeit von beträchtlicher Mühsal zeigte. Dass die Selbstmordrate in der k. u. k. Armee die höchste in Europa war, mochte mit der gewollten Härte der Ausbildung zusammenhängen, ich meine jedoch, dass das zum wenigsten Indiz ist, weil die Selbstmordrate auch unter der Zivilbevölkerung Ungarns und Österreichs immer zu den höchsten in Europa gezählt hat und zählt, und dass das Schikanieren und Herabwürdigen auch sicherlich keine österreichische Besonderheit war – und ist. Das Ergebnis der militärischen Ausbildung ermöglichte der Habsburgermonarchie nicht nur die Mobilmachung von über zwei Millionen Mann, sondern versetzte die Regierungen in den beiden Reichshälften auch in die Lage, im Wege von Assistenzanforderungen alle möglichen innenpolitischen Probleme zu lösen. Dennoch : Die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg war eine Zeit, in der Militär als selbstverständlich galt, Offiziere ein hohes Sozialprestige besaßen, auch Soldaten damit rechnen konnten, respektiert, geachtet, gefürchtet und auch geliebt zu werden, und als sie in den Ersten Weltkrieg
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zogen, war man selbstverständlich sofort mit dem Begriff des Helden da. Der Kampf war heldenhaft, die Armee, die Offiziere, die Soldaten und erst recht die Gefallenen, die Gestorbenen und in Kriegsgefangenschaft Geratenen. Mittlerweile ist der Begriff des Helden, der uns während und nach dem Ersten Weltkrieg auf Schritt und Tritt begegnet, allerdings schon regelrecht verpönt und wurde im Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus und dem Zweiten Weltkrieg nicht nur in Frage gestellt, sondern ausdrücklich verurteilt, er wurde eradiert, und ausgehend vom Zweiten Weltkrieg dann auch für die Soldaten des Ersten Weltkriegs in Zweifel gezogen. Man muss sich nur die Kriegerdenkmäler ansehen, die umgetextet, neu beschriftet und gelegentlich auch hinsichtlich ihres Aufstellungsortes verändert worden sind. Diese Denkmäler sprechen dann nur von den Opfern oder von den Gefallenen, sofern sich nicht überhaupt Sprachlosigkeit breit macht. Tatsächlich fällt es auch schwer, für die Kriegstoten eine einheitliche Bezeichnung zu finden und für sie lediglich ein Wort zu gebrauchen. Immerhin reden wir allein hier in Österreich von mehr als 400.000 Menschen, die in zwei Kriegen denkmalwürdig geworden sind, aber zweifellos nicht alle Helden waren. Eigentlich begegnet uns auf den Denkmälern und in der Überlieferung aber immer wieder ein anderer Soldat. Die Angehörigen der k. u. k. Armee bewahrten sich jedoch quer durch die Zeiten etwas von ihrer Stellung in Staat und Gesellschaft, die allerdings in dem Augenblick zugeschüttet worden ist, als immer mehr Analysen von Einzelgeschehen platzgriffen. Da wurden freilich auch Klischees gängig, um ganz bestimmte Sichtweisen zu tradieren. Und da war nicht nur von Tapferkeit und Treue die Rede. Der »gemeine« Soldat, der auch während des 1. Weltkriegs notfalls noch durch die Strafe des Anbindens oder durch Prügel diszipliniert wurde, war aber schon lange vorher zum Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen geworden, allerdings nicht der Geschichtswissenschaft, sondern der Naturwissenschaften. Der Psychologe Stephan von Madáy versuchte schon im September 1915 den Wandel, den die Friedens- zu den Kriegssoldaten durchgemacht hatten, damit zu beschreiben, dass er zwischen Kämpfern und Arbeitern unterschied. Der eine, der Kämpfer, sei ein »Lustsoldat«, der andere ein »Pflichtsoldat«. Beide wären notwendig. Mehr noch : es würden immer mehr Soldaten benötigt, die als Arbeiter ausdauernd und leistungsfähig seien. Denn die Kriegführung würde immer mehr »dem Typus einer planmäßigen Arbeit« ähneln. Und im Trommelfeuer brauchte man vielleicht keine Lustsoldaten. – Der Pflichtsoldat und Militärarbeiter verkörperte freilich nicht jene schönen Bilder des schneidigen Kavalleristen bei Jaroslavice 1914 oder auch des Kaiserjägers am Col di Lana 1916, die sich zur Ausschmückung von Zimmern und Gängen verwenden ließen. Das war das Dilemma. Ebenso wenig passten auch jene ins Bild, die – aus welchen Gründen immer – am Krieg zerbrachen. Hierher gehörte wohl auch jener Sohn Franz Conrads von Hötzendorf, der in die Gruppe der sogenannten Kriegsneurotiker
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fiel und der dem Lärm der Schlacht, dem Explodieren der Granaten, dem Schreien der Verwundeten und dem Sterben seiner Kameraden nicht gewachsen war. Während sein Vater, der Chef des Generalstabes der gesamten bewaffneten Macht ÖsterreichUngarns, über seinen 1914 gefallenen Sohn Herbert tief trauerte und ihn in seinen Briefen immer wieder erwähnte, von einem zweiten Sohn schrieb, dass er bei Przemysl verwundet wurde und der dritte an den Strapazen des Feldzugs in Rumänien starb, verschwieg er den vierten Sohn. Vielleicht galt auch für ihn, was dann der sozialdemokratische Gesundheitspolitiker Julius Tandler in Verteidigung des von der Kommission zur Untersuchung militärischer Pflichtverletzung im Krieg angeklagten Psychiaters Julius von Wagner-Jauregg meinte, dass nämlich Wagner-Jauregg mit der Anwendung von Elektroschocks bei Kriegsneurotikern völlig richtig gehandelt habe, denn das seien schließlich »Minusvarianten der Menschheit« gewesen – berichtet Ernst Hanisch. Doch Rahmenbedingungen und Bezüge verschoben sich laufend, vor allem aber begannen sich in auffallender Weise die Erzählungen über den Krieg zu unterscheiden. Trotz oder gerade wegen des Zerfalls der Habsburger Monarchie hatte man in der Ersten Republik doch immer wieder den Eindruck, dass über das Verlorene, das zu Ende Gegangene getrauert würde. Der Krieg, der Held, der Soldat des Weltkriegs – sie waren omnipräsent. Und die Krieger verschwanden auch durchaus nicht oder erstarrten nur zu Denkmälern. Die Kriegsteilnehmer der Jahre 1914 bis 1918 waren nicht nur die Helden der Arbeit, die »Pflichtsoldaten«, sondern auch die Führer, und wie selbstverständlich wurde das Er- und Durchlebte als Legitimation genommen, um die Eignung für neue Aufgaben zu unterstreichen. Das galt nicht nur für Adolf H.! Da waren ebenso die Leutnants der Reserve Otto Bauer und Julius Deutsch zu finden, wie der Oberleutnant der Reserve Julius Raab, der seine Kompanie am Bauhof der Schwiegereltern in St. Pölten verabschiedete, der Oberleutnant Ernst Rüdiger Fürst Starhemberg, dem bei Kriegsende der Mob die Tapferkeitsmedaille von der Brust gerissen und den Säbel zerbrochen hatte, oder auch der Kaiserschützenoberleutnant Engelbert Dollfuß, dessen untadeliges Verhalten als Offizier im Ersten Weltkrieg immer hervorgehoben wurde und mitunter als Kompensation seiner geringen Körpergröße erscheinen musste. Offenbar wirkte das Bild vom Soldaten des Ersten Weltkriegs und wirkte die Erinnerung an den Soldaten im alten Österreich so stark fort, dass dieser Mythos auch alles überdeckte, was das Bundesheer der Ersten Republik an nennenswerten Leistungen erbrachte. Und damit sind jetzt nicht die Einsätze in den Bürgerkriegen, sondern jene unzähligen Assistenz- und Hilfeleistungen gemeint, die dieses handtellergroße Heer erbrachte. Auch in Zeiten, in denen das Bundesheer, die Heeresverwaltung bereits eingeschlossen, weniger als 20.000 Mann zählte, wurden Monat für Monat und manchmal Tag für Tag Einheiten angefordert, um irgendwelche Hilfen zu erbringen und gemäß dem auch damals wie heute sehr ähnlich formulierten Wehrgesetz zur Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung im Inneren sowie zur Hilfeleistung bei Unglücksfällen
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besonderen Ausmaßes beizutragen. Dennoch war es nicht in der Lage, mit diesen Leistungen regelrecht ins Bewusstsein zu dringen und die Vergangenheit zu überdecken. Da nützten auch die Millionen Stunden nichts, die die Soldaten im Ernteeinsatz, beim Transport von Kulturgütern, bei der Bekämpfung von Hochwässern und Lawinen, bei Absperrungs-, und Sicherungsmaßnahmen, Kellnerstreiks und Häftlingsrevolten, Eisstößen auf der Donau oder Murenabgängen leisteten. Entscheidend waren die politischen Einsätze, und die machten das Heer nicht beliebt. Und bei der ersten sich bietenden Gelegenheit wurde dem Bundesheer 1931 die Uniformierung der k. u. k. Armee gegeben und obendrein signalisiert, dass vor allem jene, die bereits irgendwo im Jenseits mitmarschierten, die Eugens, Carls, Radetzkys und Conrads Vorbilder zu sein hätten. Das waren die Bezüge, die Geltung haben sollten und nicht die »Minusvarianten der Menschheit«. Helden hatte das Trommelfeuer verlangt und nicht die Lawinenkatastrophe, und wenn als militärische Tugenden Mut, Tapferkeit und Treue vorausgesetzt wurden, dann galt das primär für einen sehr wohl denkbaren Krieg. – Wenig später war er da, und noch weit schrecklicher als der erste große Krieg Nach dem Zweiten Weltkrieg war das politische Grundmuster ein anderes. Wenn bilanziert wurde, dann anhand der Opferzahlen. Wenn politisch geurteilt wurde, dann in der Weise, dass das Jüngstvergangene ein vom Nationalsozialismus ausgelöster Aggressionskrieg war, der – man muss das nur in der österreichischen Unabhängigkeitserklärung nachlesen – von keinem Österreicher gewollt worden und einem politisch und ökonomisch entmachteten Volk aufgezwungen worden ist. Den Rest konnte man dann auf den Kriegerdenkmälern lesen. Aber natürlich wurden die Denkmäler auch weiter bemüht, um Botschaften loszuwerden. Und die konnte man so oder so zu deuten suchen. Man muss sich nur die jährlich stattfindende Diskussion um den Kärntner Ulrichsberg ansehen. Doch es gab auch andere Kontroversen um das überlieferte Soldatenbild. Anders als nach dem Ersten Weltkrieg kam die Masse der Soldaten erst allmählich nach Hause. Die Menschen begannen den Krieg zu verarbeiten, ihn zu verdrängen oder auch über ihn zu schreiben. Die meisten Offiziere, Unteroffiziere und Mannschaften schwiegen aber, bzw. behielten sie sich – im Gegensatz zu den hohen und höchsten Offizieren und Politikern – das Gespräch für den engsten Kreis ihrer Familien und Freunde vor. Das Erinnern war dennoch ein kollektives, allerdings wurden mehrere Gruppen auszuklammern gesucht und – wie sich dann weisen sollte – verhältnismäßig erfolgreich ausgeklammert. Jene Österreicher etwa, die irgendwann auf alliierte Seite übergewechselt oder zu den Partisanen geflüchtet waren, die Deserteure oder auch jene, die ebenso wie viele ihrer Kameraden im Ersten Weltkrieg an Kriegsneurosen litten. Vor allem aber zählten jene dazu, die sich mehr oder weniger aktiv im militärischen Widerstand betätigt hatten. Sie, und besonders sie, verfielen dem Verdikt des kollektiven Vergessens. Und das, obgleich die Politik in eine andere Richtung wies, und sich
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schon das Rot-Weiß-Rot-Buch 1946 zur Vorbereitung der Staatsvertragsverhandlungen der von den Alliierten vorgegebenen Opferthese bediente und eigentlich jeglichen Bedarf an Beispielen von Widerstand und Verfolgung hatte. Erst nach und nach wurden die Namen einiger herausgeschält. Biedermann, Huth und Raschke ; Heckenast und Burian. Robert Bernardis, einer der wichtigen Mitverschwörer des 20. Juli 1944, drangen im Umweg über Deutschland ins Bewusstsein. Sie alle waren tot. Carl Szokoll und Ferdinand Käs lebten noch. Doch sie wurden häufig nicht akzeptiert, und auch dann, als die politische und gesellschaftliche Akzeptanz gegeben war, stellte sich heraus, dass diese Angehörigen der Wehrmacht zum wenigsten traditionsbildend waren. Im Kollektiv der Toten mochten sie eine Rolle spielen. Einige wurden auch als Namenspatrone für Kasernennamen gewählt. Die »Heckenast-Burian-Kaserne« in Wien ist mittlerweile freilich wieder zum namenlosen »Amtsgebäude« geworden. Noch eine Gruppe sollte erwähnt werden : die Kriegsgefangenen. Auch sie gehören zum Bild des Soldaten. Für sie hat wohl gegolten, was Viktor Frankl als Parallelerfahrung der Eingesperrten geschildert hat : Den Gefangenen, ob in Konzentrations- oder Kriegsgefangenenlagern, kam die Welt »draußen« abhanden. Aber die Kriegsgefangenen verfielen zumindest nicht dem sozialen Tod. Sie blieben im Bewusstsein und wurden bei ihrer Heimkehr von Honoratioren und Angehörigen erwartet, ein General Alois Windisch ebenso wie der angeblich letzte österreichische Kriegsgefangene, Walter Reder. Um sie bemühten sich Bundespräsidenten, Bundeskanzler, Kardinäle und Minister. Ganz anders war das Schicksal jener, die die Fronten wechselten oder in einer anderen Zeit und auf andere Weise »Minusvarianten« geworden waren. Sie erlitten den sozialen Tod. Es mag auch ein purer Zufall gewesen sein, dass zur selben Zeit, als im Frühjahr 2000 in Österreich nicht nur über die sogenannten EU-Maßnahmen, sondern auch und neuerlich über Rolle und Bedeutung des Widerstands und einzelne Wehrmachtsangehörige gesprochen wurde, einem darauf Bezug nehmenden Ausstellungsprojekt des Heeresgeschichtlichen Museums eine ministerielle Absage erteilt wurde, während in Deutschland eine weitere Kaserne nach einem Wehrmachtsangehörigen benannt wurde, der sich aktiv für die Rettung von Juden eingesetzt hatte. In Rendsburg wurde am 8. Mai 2000 die Generaloberst-Rüdel-Kaserne in »Feldwebel-Anton-Schmid-Kaserne« umbenannt. Schmid war Wiener, kam 1941 nach Litauen und sah die fast täglichen Erschießungen von Juden. Daraufhin begann er in Wilna die Flucht von Juden zu organisieren und soll 200 bis 300 von ihnen zumindest zeitweilig das Leben gerettet haben. Schmid flog auf und wurde im April 1942 hingerichtet. Auch Anton Schmid war Angehöriger der Deutschen Wehrmacht, war Österreicher, war ein Geworfener, hatte wahrscheinlich häufig keine Wahl, ob er lediglich einer von Millionen sein wollte, ob Held oder Kanonenfutter ; aber einmal hat er sich entschieden, und zwar letztlich nicht in einer Frage, die ihm als Soldat gestellt worden ist, sondern als Mensch. Ist er ein »Held« ? Handelte er unpolitisch ?
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Wir haben uns schon damit abgefunden, dass es den unpolitischen Soldaten nicht mehr geben soll. Er ist wohl auch ein Ideal, das gegenwärtig nicht oder wenig gefragt ist, weil es dem politischen Bekennertum zuwiderläuft. Nach Meinung mancher Politiker gilt ein parteipolitisches Nichtbekenntnis als suspekt, ja feig. Doch hier ist ein nicht zuletzt für Offiziere nicht unwesentlicher Querverweis angebracht : Es war einer der Hauptvorwürfe gegen die Offiziere des 20. Juli ’44 und wurde in den sogenannten Kaltenbrunnerberichten über das Attentat auf Hitler besonders hervorgehoben, dass Stauffenberg, Yorck, Tresckow, Beck, Witzleben, Brockdorf-Ahlefeldt, Stülpnagel aber wohl auch die »Österreicher«, Marogna-Redtwitz und Bernardis, Reaktionäre gewesen seien, unpolitisch sein wollten und abendländischen Traditionen verpflichtet, einer »verfluchten Tradition«, wie sie Hitler nannte. Die Traditionalisten wurden umgebracht, und bis Kriegsende wachten NS-Führungsoffiziere darüber, dass sich so ein Unsinn wie der unpolitische Offizier nicht wiederholte. Doch für viele blieb das Ideal intakt. Es war so ziemlich das Einzige, das intakt blieb. Alles andere erfuhr dramatische Veränderungen, und man meinte nicht zuletzt auch im Österreich der Zweiten Republik, einen neuen Soldaten schaffen zu können. Trotz des selbstverständlichen Gehorsams und unter Beibehaltung der geforderten aber oft nicht mehr vorgelebten Ideale von Mut, Tapferkeit und Treue sollten die neuen Soldaten auch kritische Geister, Demokraten und bereit sein, für Werte einzutreten, die als Werte des immerwährend neutralen Österreich politisch außer Streit gestellt waren. Der Soldat hatte gemeinhin Diener (Präsenzdiener), Wehrmann, Rekrut, notfalls auch Angehöriger der Heeresverwaltung, und natürlich Unteroffizier oder Offizier zu sein. Auf jeden Fall ein »Pflichtiger«. Mittlerweile hat sich die Erwartungshaltung gegenüber den Streitkräften immer wieder geändert, und man hat daher in regelmäßigen Abständen und immer auch mit einer gewissen Nervosität untersucht, wie die Soldaten und eine nicht-militärische Öffentlichkeit auf diese sich verändernden Parameter reagierten. In der Werteskala zeigte sich meist ein geradezu atavistisches Bild. Der durchschnittliche Soldat sprach nicht von Demokratie, Staat oder Unabhängigkeit, sondern reihte bei den verteidigungswürdigen Werten Familie, Eltern und Eigentum vorne. Das war auch beim Grenzsicherungseinsatz 1991der Fall. Die Verteidigung der demokratischen Einrichtungen kam erst weit hinten in der Aufzählung. Und Neutralität galt zwar lange als Wert an sich, doch wie sollte sie verteidigt werden ? Und was soll man heute von ihr halten, wenn sie tagtäglich in Frage gestellt und manchmal schon regelrecht miesgemacht wird ? Die Akzeptanzuntersuchungen zeigten aber ein noch diffuseres Bild : 1973 war eine überwiegende Zahl der Gefragten dafür, das Bundesheer bei Katastrophen aber auch als Hilfskräfte bei Sportveranstaltungen und zu Repräsentationszwecken einzusetzen. 1980 waren 50 % der Befragten von der Wichtigkeit des Bundesheers überzeugt, räumten ihm aber keine Erfolgschancen ein. Für die Abschaffung waren 9 %. Zwei Jahre
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später wollten es 15 % auflösen. Wieder neun Jahre später nannten als Begründung für einen Bedarf an Heereskräften 95 % der Befragten die Hilfe bei Katastrophen, 52 % die Teilnahme an friedenserhaltenden Operationen der UNO, 46 % bzw. 42 % Erziehung zu Ordnung und körperliche Ertüchtigung. Quintessenz : Helfer braucht man immer ! Und Ordnung sollten auch künftige Verteidigungsminister halten lernen. Das war die Außensicht. Die Innensicht kehrte anderes hervor. Schon 1980/81 waren drei Viertel der Einrückenden und zwei Drittel der Abrüstenden froh, nach dem Präsenzdienst nichts mehr mit dem Bundesheer zu tun haben zu müssen. Nach der Allgemeinen Grundausbildung verbesserte sich das Urteil über das Heer, verschlechterte sich dann aber wieder und erreichte vor dem Abrüsten den Tiefststand. Den Berufsmilitärpersonen machte wiederum das geringe Sozialprestige zu schaffen. Dabei war freilich die Außensicht zeitweilig etwas besser als die Innensicht. Denn Unteroffiziere hatten 1973 ein ähnliches Sozialprestige wie ein (Beisl)Koch oder ein Mechaniker. Doch nehmen wir auch die statistische, anonyme Größe der subalternen Offiziere her. »Ihr« Heer wurde einmal die »Die Armee der Hauptleute« genannt. Man attestierte ihnen, dass sie Bürger, mitunter Spießbürger und Kleinbürger waren, deren Gedanken oft genug auf das Allernächste konzentriert waren, auf die alltäglichen Interessen von Gehalt und Zulagen, von Wohnungssuche und Kindergeld oder Nebenbeschäftigungen. Vom Sozialprestige her wurden sie ganz hinten gereiht. – Die Hauptleute von einst sind vielleicht mittlerweile pensionierte Oberste oder Generäle oder zumindest solche, denen dringend die Pensionierung nahegelegt wird. Aber natürlich wäre zu fragen, ob ein solches Urteil für die »Armee der Hauptleute« zutreffend war. Wurde nicht immer wieder der Staatsbürger in Uniform und von Bruno Kreisky der Beamte in militärischer Verwendung beschworen ? Und war es da nicht logisch, zumindest denkbar, dass man Anforderungen und Gefahren ausklammerte, gleichzeitig aber wie selbstverständlich die Aussage akzeptierte, dass der Soldatenberuf keiner sei wie andere auch ? Da entstand eine fast unüberspringbare Kluft. Und es entstand ungeheuer viel Frust. Sehen wir uns noch andere Bilder an. Es sind die alltäglichen Aufnahmen, die den Soldaten zeigen, gewissermaßen die Illustration zu jenen in unterschiedlichen Abständen erscheinenden Büchern wie »Tagwache«, »Ein Heer für jede Jahreszeit« oder – zeitlich übergreifend – »Unter Österreichs Fahnen« und »Unser Heer. 350 Jahre österreichisches Soldatentum«. Wenn wir die Bilder vertonen wollten, dann würde Militärmusik anklingen, egal ob Radetzky-, Prinz Eugen- oder der Castaldomarsch, vielleicht auch »Heil Dir im Siegeskranz«. »Preußens Gloria« wurde bei uns wohl seltener gespielt. Eher schon der »Badenweilermarsch«. Und natürlich »O, du mein Österreich«. Würde man sich Lieder dazu denken, käme Zuckermanns Reiterlied aus dem 1. Weltkrieg in Frage : »Drüben am Wiesenrand hocken zwei Dohlen. Fall ich am Donau strand ? Sterb’ ich in Polen ?«, später dann das »Panzerlied«, oder man würde eines der
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Lieder des Bundesheers anstimmen wollen. Oft geht es um das Sterben, zumindest in einer Strophe. Die Straßen sind staubig, die Berge hoch, das Leben kurz. Ein Lied, zwei, drei … Die Leute sollten sehen und hören, dass nicht nur disziplinierte, sondern auch sangesfreudige Soldaten »durch die Stadt marschieren«- (Aber eigentlich muss man in der Vergangenheit formulieren, denn es wird im Bundesheer so gut wie nicht mehr gesungen). Immer wieder hat es gegolten, die Rolle von Streitkräften neu zu definieren. Viele haben sich damit abgemüht. Der gedankliche Rahmen blieb aber der ständig und allseits einsetzbare Soldat, denn wenn man schon ein Militär hatte, dann sollte es ungeachtet eines jämmerlichen Etats doch alles leisten können. Und die Leistungsbilanz war sehr wohl herzeigbar. Da ließen sich Sicherungs- und Assistenzeinsätze, darunter die »Großereignisse« 1956, 1968 und 1991, an die 60 Einsätze im Ausland, und vor allem die Hilfeleistungen bei Unglücksfällen von besonderem Ausmaß und andere Formen der Hilfeleistung aufzählen. Erst jüngst standen die Heeresangehörigen über 800.000 Stunden im Hochwassereinsatz. Vermisstensuche, Schneeräumung, Hilfe bei Vermurungen, »Rettung von Hochkultursäulen in Weingärten«, Trinkwasserversorgung etc. zählen dabei nicht einmal auf die Statistik der regelrechten Einsätze. Es sind Hilfeleistungen im Rahmen der Ausbildung. Nur an der ursprünglichen Bestimmung, dass der Soldat Krieg führen können sollte, wurden immer mehr Abstriche gemacht. Der Soldat der allgemeinen Wehrpflicht ist bei uns noch nicht wirklich in Frage gestellt worden, im Gegensatz etwa zu Frankreich, den Niederlanden, der Bundesrepublik Deutschland oder auch Ungarn, wo die allgemeine Wehrpflicht abgeschafft wurde, zur Disposition steht und abgeschafft werden soll. Einstmals stand in Österreich das Argument hoch im Kurs, nur die allgemeine Wehrpflicht würde eine Verselbständigung des militärischen Instruments verhindern, und das, obwohl es sich auch in der Ersten Republik nie verselbständigt hat. Dann wird von der Integration gesprochen, der engen Verbindung von Heer und Bevölkerung, die nur die allgemeine Wehrpflicht mit sich bringe. Doch auch die Zivildienstorganisationen pochen auf Beibehaltung der Allgemeinen Wehrpflicht, weil sonst erhebliche Einbrüche bei den Leistungen der karitativen Organisationen zu befürchten wären, und – Wehrgerechtigkeit hin, Wehrgerechtigkeit her – das sollte doch nicht der Fall sein. Merkwürdig, freilich, dass der Bescheid »untauglich« Menschen auch für das Pflegen von Kranken und Alten untauglich werden lässt. Ebenso merkwürdig, dass nur Männer wehr- und zivildienstpflichtig sind. Sie sind eben doch das starke Geschlecht ! Oder ? Schließlich wird ohne besondere Rechenkünste festzustellen sein, dass der Soldat für vieles die billigste Lösung ist, beispielsweise für den Assistenzeinsatz an der ungarischen und der slowakischen Grenze, und das scheint das Entscheidende zu sein. Fazit : Der »Pflichtsoldat«, wie ihn Stephan von Madáy einstmals genannt hatte, ist zum Inbegriff des Soldaten geworden. Sein Foto klebt in Tausenden Alben. Einmal schon etwas
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vergilbt, das anderemal färbig und in Großaufnahme. Vielleicht auch neben Ihrem und meinem Bild. Österreichs letzte Galeerensträflinge Man hätte es vielleicht wissen können und war dennoch überrascht. Als die Habsburger monarchie 1797 zum Trost für den Verlust der Niederlande im Frieden von Campoformido von Napoleon Bonaparte Venedig samt der venezianischen Flotte erhielt, währte die Freude nur kurz. Denn was man tatsächlich erhielt, war ein Danaergeschenk, und vor allem jene, die sich Hoffnungen gemacht hatten, dass mit Venedig und dessen Flotte die Habsburgermonarchie zu einer nennenswerten Seemacht anwachsen könnte, sahen sich getäuscht. Denn die Franzosen hatten ihre siebenmonatige Anwesenheit in Venedig damit beendet, dass sie die Venezianer am Weihnachtsabend aus dem arsenale heimschickten und sich unverzüglich daran machten, Linienschiffe, Fregatten, Schebecken, Feluken und Kanonier-Schaluppen, Kutter und Galeeren in den Kanälen zu versenken und jene, die noch nicht vom Stapel gelaufen waren, gründlich zu demolieren. Nur wenige blieben intakt, darunter merkwürdigerweise sechs Galeeren, an denen die Franzosen offenbar kein Interesse gehabt hatten. Es waren Sträflingsgaleeren, schwimmende Gefängnisse und ein Relikt der venezianischen Adelsrepublik. Es waren keine Kriegsschiffe, die womöglich von Dutzenden Ruderern getrieben das Rammen feindlicher Schiffe praktizieren sollten, sondern so ziemlich die übelsten schwimmenden Kerker, die man sich vorstellen konnte. Die Galeeren waren ein schon längst überholter Schiffstyp. Sie waren aus Weichholz gebaut, rund 50 Meter lang und ursprünglich mit 32 Ruderbänken an jeder Bordseite ausgestattet gewesen. Noch einige Jahrzehnte davor, hatten je zwei Sträflinge ein Ruder bedient. Drei Masten mit »Lateinersegel« unterstützten die Ruderer. Dann waren die Kanonen ebenso entfernt worden wie die Ruderbänke, und es galt, auf jeder Galeere bis zu 220 Sträflinge unterzubringen. Das waren sicherlich keine Taschendiebe, sondern Schwerverbrecher, von denen es in allen von der Serenissima beherrschten Gebieten offenbar eine große Anzahl gab. Niemand erwartete, dass sie die Galeeren lange überlebten, und die Flottenintendantur der Serenissima ging von einer Überlebenserwartung von fünf Jahren aus – und das in Friedenszeiten. Die Verurteilten mussten im arsenale schwerste Lasten schleppen oder die Bagger maschinen bedienen, mit denen Kanäle schiffbar gemacht und erhalten werden sollten. Je nach Gefährlichkeit waren die Männer an einfache oder doppelte Ketten geschmiedet, die während der Ruhezeiten an eigens aufgestellten Säulen befestigt wurden. Nach dem Ende der Arbeit ging es zurück auf die Gefängnisschiffe, tagein, tagaus. Die Männer mussten folglich nicht mehr bei Sturm, Regen und brennen-
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der Sonne rudern, doch sie wurden weiterhin geschunden, waren auf engstem Raum zusammengepfercht, litten unter Schmutzkrankheiten und wurden von Ungeziefer gequält. Der Gestank an Bord soll so arg gewesen sein, dass sich Offiziere und Wachmannschaften Tabak in die Nasenlöcher stopften, um den Geruch des Elends auszuhalten. Letztlich war die Verurteilung auf eine Galeere eine ärgere Strafe als die Verbannung in ein Bergwerk. Als die Österreicher kamen, blieben jene, denen es nicht gelungen war zu fliehen, angekettet und harrten der Dinge, die da kommen sollten. Zunächst einmal machten die neuen Herren Inventur und listeten fein säuberlich die gesunkenen, im Bau befindlichen und unbeschädigt gebliebenen Einheiten auf. Dabei wurde eigens angeführt, dass man die Galeeren »Fusta«, »Bella Chiaretta«, »Medusa« und eine noch namenlose Galeere im canal dell’arsenale vertäut vorgefunden habe. Und noch zwei weitere Galeeren vervollkommneten das Bild der schwimmenden Gefängnisse, nämlich eine Invalidengaleere und ein Sträflings-Spitalsschiff. Was tun mit dieser Hinterlassenschaft ? Konnte man die Sträflinge als Zeichen der neuen Herrschaft mittels eines Gnadenakts des Kaisers freilassen ? Dagegen sprach, dass es ja Verbrecher waren und sie ihr unseliges Handwerk womöglich auch in der nunmehr zu Österreich gehörenden Provinz fortsetzten. Ließ sich vielleicht Nutzen aus den Galgenvögeln ziehen, etwa in der Art, wie das schon die Venezianer getan hatten, indem man sie als Arbeitssklaven einsetzte ? Die Sicherheit sollte dabei keine Rolle spielen, denn die Inventur erwähnte auch 188 Stück Sklavenketten à 12 Fuß mit Fußringen und ebenso viele ohne Fußringe, ferner 93 Sklavenketten mit Vorschubriegel ohne Fußringe, 27 doppelte Fußschließeisen, 25 doppelte Handschließeisen mit eisernen Stangen und 11 kleine Ambosse. Das alles weiterhin für den Strafvollzug nutzbar zu machen, schien schließlich der einfachste Weg zu sein. Und Bedarf an Gefängnissen war offensichtlich gegeben. Als die Überlegungen schon einmal so weit gediehen waren, rührte sich plötzlich Widerstand. Der kam aber nicht vielleicht von Menschenrechtsorganisationen, die gegen die anachronistischen Strafmethoden protestiert hätten, sondern von der Marineverwaltung. Der Marinekommandant wollte partout nicht einsehen, warum die k. k. Kriegsmarine nicht nur für die Sträflinge verantwortlich sein, sondern auch noch für deren Unterhalt aufkommen sollte. Und man begann damit, die gar nicht so geringen Kosten vorzurechnen. Auch von der Annahme ausgehend, dass Sträflinge zu schweren Arbeiten eingesetzt werden konnten und bei der Hebung der versenkten Kriegsschiffe und anderen schweren Arbeiten, die die nach wie vor privilegierten Arsenalarbeiter nicht tun wollten, nutzbringend einzusetzen waren, ließ sich damit argumentieren, dass die Kosten höher als der Nutzen wären. Die meisten Sträflinge waren auch keine Marineangehörigen, sondern kamen aus dem zivilen Bereich. Und in den Kronländern der Monarchie hatte sich rasch herumgesprochen, dass die Galeeren eine wunderbare Möglichkeit boten, die eigenen Gefängnisse zu entleeren und Verbrecher kostengüns-
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tig loszuwerden. Auch im galizischen Lemberg stellte man daher den Antrag, Bösewichte nach Venedig zu schicken. Das Marinekommando rechnete weiters vor, dass ältere, kranke und jedenfalls nicht arbeitsfähige Sträflinge lediglich einen erheblichen Aufwand verursachten und keinen Arbeitsnutzen brächten. Um die Bewachung während der Arbeiten sicherzustellen, musste venezianisches Aufsichtspersonal eingestellt werden, dann die Verpflegung der Sträflinge bezahlt, und was noch mehr ins Gewicht fiel : für den Erhalt der Galeeren gesorgt werden. Und das kostete Geld, viel Geld, das die Seemacht Österreich nicht hatte. Das fiel umso mehr ins Gewicht, als es ja nicht vielleichtbei bei einigen Dutzenden Sträflingen blieb, sondern ein regelrechter »run« auf die Galeeren einsetzte. Aus allen Teilen der Habsburgermonarchie brachte man Sträflinge nach Venedig. Im November 1802 zählte man 377 Galeerensträflinge, von denen 178 arbeitsfähig waren, 112 mit doppelten Ketten angeschmiedet, also Schwerverbrecher und Lebenslängliche waren. Im Jahr darauf schnellte die Zahl hinauf und waren 774 Sträflinge auf den Galeeren. Das Marineoberkommando versuchte nahezu verzweifelt, die Sträflingsgaleeren wieder loszuwerden. Doch es sollte sich als nicht so einfach erweisen. Ganz im Gegenteil wurde Ende 1802 sogar ein ausgedientes Linienschiff, die »Laharpe«, der Arsenal-Sträflingsflotte hinzugefügt. Und wieder glaubte man bei der Marineverwaltung, den Stein der Weisen entdeckt zu haben : Sträflinge wurden vermietet. Gegen die Zahlung von 66 Gulden und 20 Kreuzern konnte man sie partieweise haben. Aber auch das war, wie man schnell sah, nicht die Lösung. Während des zweiten Koalitionskriegs brachen in Venedig schwere Unruhen aus. Das arsenale sollte gestürmt werden. Das dort Dienst tuende dalmatinische Marine-Infanterie-Regiment meuterte. Daraufhin wurde mit der Evakuierung der Sträflinge begonnen, von denen ein Teil nach Cattaro gebracht werden sollte. Jetzt mussten die Rudersklaven tatsächlich rudern. Nicht lang, dann fuhren sie zurück. Die Galeeren drohten unterzugehen. 1803 waren drei Galeeren nicht mehr schwimmfähig und mussten abgerüstet werden. Verblieb somit eine einzige Galeere, die »Zaira«, und was die »Laharpe« anlangte, stellte das Marinekommando fest, dass es nicht mehr die Verantwortung für die weitere Verwendung des ehemaligen Linienschiffs tragen wollte. Es war schon 1797 kaum einsetzbar gewesen, stand teilweise unter Wasser und war jetzt nur mehr ein Wrack, das den nächsten Winter nicht mehr überstehen konnte. Schon sechs Jahre nach der Bestimmung der Galeeren zu Sträflingsschiffen wurden die Übeltäter in Gefängnisse an Land verlegt und schließlich auch die letzten Reste der merkwürdigen Flottille abgerüstet. Kurz darauf übernahmen 1805 abermals die Franzosen die Herrschaft über Venedig, das samt der mittlerweile noch immer bescheidenen Flotte nach den Bestimmungen des Friedens von Preßburg dem Stiefsohn Napoleons und Vizekönig von Italien, Eugène Beauharnais, zufiel.
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Was 1797 so hoffnungsfroh begonnen worden war, endete im Fast-Nichts. Der mittlerweile für die militärischen Angelegenheiten der Habsburgermonarchie zuständige Erzherzog Carl plädierte jedenfalls dafür, mit Ausnahme einer Brigg, eines Schoners und einer Galeotte, die man zum Einsatz gegen Piraten brauchen konnte, alle anderen Kähne in der Adria zu veräußern oder abzuwracken. Sträflingsgaleeren sollte es jedenfalls keine mehr geben, zumindest nicht in Österreich. Kein Kampf um die Stadt »Wien ist zum Verteidigungsbereich erklärt worden. Frauen und Kindern wird empfohlen, die Stadt zu verlassen.« Am 2. April 1945 konnte man das an allen Ecken der verniedlichend »Zweite Reichshauptstadt« genannten Metropole lesen. Ein frustrierter Zeitgenosse schrieb dann auf eines der Plakate : »Wohin ?« Das alles scheint unendlich weit zurückzuliegen. Tut es auch. Doch es sind erst rund zwanzig Jahre vergangen, seit Wien aus der Frontlinie des Kalten Kriegs verschwunden ist und sich die Frage, ob Wien im Kriegsfall zum Verteidigungsbereich oder zur »offenen Stadt« erklärt werden könnte, auf ein theoretisches Modell reduziert hat. Im April 1945 gab es eine achttägige Schlacht um die Stadt. Die Angreifer waren zwei komplette sowjetische Armeen sowie Teile von zwei weiteren gewesen ; die Verteidiger erreichten die Stärke von rund zwei deutschen Armeekorps, oder in absoluten Zahlen ausgedrückt : Die Sowjets setzten für die Schlacht um Wien mehr als 100.000 Soldaten, an die 250 Panzer und Sturmgeschütze, Hunderte Geschütze und zusätzlich Schlachtflieger und Einheiten der Donauflottille ein, während die deutschen Verbände des II. SS-Panzerkorps samt den territorialen Einheiten an die 40.000 Mann zählten. Am Ende waren auf beiden Seiten Tausende gefallen. Teile von Wien erlitten schwere Zerstörungen, nachdem schon die vorangegangenen strategischen Bombardements die Stadt »sturmreif« geschossen hatten, wie es die Amerikaner ausdrückten. Zwei Monate nach dem Krieg wurde ein mittlerweile ausgeplündertes Wien in Besatzungszonen geteilt. Und auch wenn sich in den Folgejahren die Konfrontation der Großmächte bestenfalls ansatzweise zeigte, ging doch immer wieder die Angst um. Was würde sein, wenn die Sowjets Wien blockierten, so wie das 1948 mit Berlin geschah ? Ließ sich Wien versorgen ? Würde es der Westen aufgeben ? Trotz aller beruhigenden Worte und des letztlichen Eingeständnisses, dass die Angst unbegründet war, begannen die westlichen Besatzungsmächte damit, den Ernstfall durchzudenken. Und da war es nicht nur die Frage einer Blockade, die beschäftigte, sondern ebenso die Überlegung, wie man die Mitglieder der österreichischen Bundesregierung und einige besonders wichtige Leute aus der Stadt bekommen könnte. Der Plan »Renault«, wie ihn die Franzosen tauften, nahm Gestalt an.
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Kaum brach 1950 in Korea der Krieg aus, meinten auch so kühle Denker wie Henry Kissinger, dass es sich um ein Ablenkungsmanöver von strategischem Ausmaß handeln würde. Der eigentliche, der alles entscheidende Krieg würde in Europa geführt werden. Wieder gingen Krisentage vorbei. Stalin starb, der Koreakrieg schlief ein, Nikita Chruschtschow setzte auf friedliche Koexistenz. Pläne für den begrenzten und den totalen Krieg lagen jedoch weiterhin abrufbereit in den Panzerschränken der Generalstäbe. Der »Westen« hatte sich 1949 mit der Gründung der NATO zusammenzuschließen begonnen ; der »Osten« tat es ihm 1955 gleich. Der Warschauer Pakt entstand. Und das neutral gewordene Österreich lag mittendrin. Zwischen den Blöcken. Und Wien konnte sich schmeicheln, die exponierteste Hauptstadt Europas zu sein. Doch wer wollte schon an schlimme Zeiten denken ? Österreich war selbstgefällig geworden. Es würde schon nichts passieren, meinte man bald, denn man war ja so nett und geachtet, dass auch ein dritter Weltkrieg an der Alpenrepublik vorbeibrausen würde. Wollen Sie mit mir einen Blick auf das tatsächliche Gedachte machen ? Wien spielte dabei eine besondere Rolle. Da die österreichische Hauptstadt wenig mehr als 40 km von der ungarischen und keine 30 km von der damaligen tschechoslowakischen Grenze entfernt war, man dem Sitz der Bundesregierung und der wichtigsten staatlichen Einrichtungen naturgemäß besonderen Schutz angedeihen lassen wollte, musste man sich in den Planungsstäben des Bundesheers klarerweise auch mit Wien beschäftigen. Für die 1956 beginnenden Überlegungen, was im Fall eines »Ostkriegs« geschehen sollte, war Wien jedoch ein Problem besonderer Art. Anfangs wurde nur daran gedacht, das Bundesministerium für Landesverteidigung nach St. Johann i. Pongau zu verlegen. Doch schon Anfang 1957 wurde weiter gedacht. Bei einer Sitzung im Verteidigungsministerium im Februar 1957, die der Ausarbeitung eines »Konzepts für die Landesverteidigung« dienen sollte, meldete sich Oberstleutnant Albert Bach mit der Frage zu Wort »ob man nicht Wien als offene Stadt erklären soll«. Die Frage wurde nicht beantwortet. Doch sie war natürlich nicht dauerhaft zu verdrängen. Um zumindest einmal eine Art Szenario zu schaffen, wurde der letzte Oberbefehlshaber der deutschen Heeresgruppe »Ostmark« und zeitweilige militärische Berater von Vizekanzler Adolf Schärf, Lothar Rendulic, ersucht, eine entsprechende Ausarbeitung zu machen. Der ehemalige Generaloberst zog dabei einen Angriff aus dem Osten wie einen solchen aus dem Westen in Erwägung. Ersterer schien ihm plausibler und hätte – so meinte er – dazu dienen können, mit Wien so schnell wie möglich ein Faustpfand in die Hand zu bekommen. Wer Wien besaß, konnte das weitere Geschehen in Österreich diktieren. Doch auch bei einem Angriff des »Westens« meinte Rendulic vorhersagen zu können, dass es das Bestreben des Ostens sein würde, nach Österreich vorzudringen, um Wien in die Hand zu bekommen. Schon bei nennenswerter Kriegsgefahr würde jedoch in Wien eine Panik ausbrechen, und wenn nicht von der Regierung vorher entsprechende Gegenmaßnahmen getroffen würden, könnte es zu einer »regellosen Flucht starker Be-
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völkerungsteile und hysterischen Kämpfen« kommen. Um ein Chaos zu verhindern, schlug Rendulic vor, die Menschen langfristig psychologisch vorzubereiten, und das möglichst unauffällig. Und im Übrigen wären sämtliche Maßnahmen zur Regelung der Verkehrsbewegungen und natürlich auch die Evakuierung des Bundespräsidenten, die Verlegung der Bundesregierung und der Ministerien und – ein besonderes Problem – der sichere Transport der Gold- und Devisenvorräte der Nationalbank vorzusehen. Das alles aber möglichst so, dass darüber nicht gesprochen würde und ja nicht der Eindruck entstehe, es sei tatsächlich schon Gefahr im Verzug. Die Frage der Räumung, teilweisen Räumung oder überhaupt nicht vorzusehenden Räumung Wiens war damit aber bestenfalls angedacht worden. Im November 1958 wurde das Problem dann ganz konkret angesprochen. In einem Grundsatzpapier zur militärischen Landesverteidigung hieß es : Wien ist nicht zu verteidigen. »Das Bundesheer wird jedoch unter bestimmten Voraussetzungen in der Lage sein, einen Zeitgewinn für die Evakuierung der Bundesregierung und wichtiger, im Staatsinteresse liegender Einrichtungen zu erkämpfen. Diese Voraussetzungen sind Anlagen der Landesbefestigung in den beiden Pforten (Brucker und Ödenburger Pforte), auf die gestützt Deckungstruppen auch einem überlegenen Panzerfeind einige Zeit den Stoß auf Wien verwehren können … Wien ist aber ein politisches Problem. Die Verluste an Menschen und Sachschäden, die durch die Wirkung konventioneller Kampfmittel – von A[tom]-Waffen ganz zu schweigen – verursacht würden, stünden in keinem Verhältnis zu dem geringen Zeitgewinn, den ein Verzögerungskampf bringen könnte.« Daraus resultierte die Empfehlung, die politische Führung solle keinen Auftrag zur Verteidigung Wiens in unmittelbarer Nähe der Großstadt geben. Wien wäre zur offenen Stadt zu erklären, »das würde auch eine Massenflucht verhindern. Die militärische Führung ist sehr daran interessiert, dass die Bevölkerung in Wien bleibt.« Da das Grundsatzpapier weder von Verteidigungsminister Ferdinand Graf noch von dessen Nachfolger, Karl Schleinzer, gebilligt wurde, blieb natürlich auch die Frage Wien ungelöst, bzw. wurde sie auf dieselbe Weise behandelt, wie die »Planung der militärischen Landesverteidigung« in ihrer Gesamtheit. Die Politiker steckten die Köpfe in den Sand ; und die Militärs taten so, als ob ausschließlich von militärischen Notwendigkeiten auszugehen wäre. Die Bundesheerführung setzte voraus, dass Wien nicht verteidigt werden konnte und sollte. Man verständigte sich freilich dahingehend, die Frage »Wien – offene Stadt« nicht explizit anzusprechen, da es jedenfalls besser sei, einen Gegner im Ungewissen zu lassen, ob Wien verteidigt würde. Andernfalls konnte sich jeder auf eine Besetzung ohne Widerstand einrichten und auch das tun, was zumindest in den Planspielen auftauchte : Eine Gegenregierung in Wien vorsehen. Auch in der Folge kam man nicht umhin, sich mit Wien zu beschäftigen. Bei der Darstellung der völkerrechtlichen Situation kam die Sache aber neuerdings ins Trudeln. Das Verbot von Angriffen auf ein befriedetes Objekt konnte sich lediglich auf Artikel
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25 der Haager Landkriegsordnung von 1899 stützen, der es untersagt »unverteidigte Städte, Dörfer, Wohnstätten oder Gebäude, mit welchen Mitteln auch immer anzugreifen oder zu beschießen. ›Nicht verteidigt‹ bedeutet, dass diese Plätze weder Widerstand leisten noch von Truppen des Gegners besetzt sind.« Ein Aggressor ist jedoch nicht verpflichtet, eine Erklärung zur »offenen Stadt« zu akzeptieren. Um sicher zu gehen, bedürfte es eines eigenen kriegsvölkerrechtlichen Vertrags zwischen den Kommandanten der angreifenden und der verteidigenden Armeen. Eine einseitige Erklärung zur »offenen Stadt« setzt den Angreifer ebenso wenig ins Recht wie ins Unrecht. War zu fragen, ob sich derartige Verhandlungen je führen ließen. Die Schlussfolgerungen aus dieser Darlegung der völkerrechtlichen Normen konnten allerdings auch nicht befriedigen und vielleicht auch nicht ernst genommen werden. Denn in einer Folgestudie hieß es apodiktisch : »Ist irgendwo die Verlegung der Hauptstadt eine strategische Notwendigkeit, so hier. Dass Wien vorwärts der Stadt kaum verteidigt werden kann und wenn, so nur um den Preis seiner Zerstörung«, ist eine Tatsache. Dass es als offene Stadt besser dran wäre und als international anerkannte Kongressstadt auch mehr Aussicht hätte, als solche behandelt zu werden, sei lediglich ein Aspekt. Ein anderer Aspekt aber ist der Umstand, dass Wien »als Hauptstadt Österreichs dessen Neutralität im Rahmen einer Krisenlage in Frage stellt.« Ein Staat, der auf seine grenznahe Hauptstadt Rücksicht nehmen muss, kann daher in einer Krise keine unbefangene Politik betreiben. Notgedrungen neigt er zu Nachgiebigkeit. »Wer seine Neutralität ernst nimmt, soll seinen Regierungssitz so wählen, dass dessen Lage im Krisenfall keinem seiner Nachbarn von vornherein einen strategischen Vorteil bietet.« Da war wohl ein zutiefst analytischer Geist ans Denken gegangen. Dementsprechend fiel dann auch die Quintessenz aus : »Ist nur die verteidigte Neutralität glaubwürdig, so auch nur die eines Landes mit rundum geschützter Hauptstadt. Ein Staat mit einseitig gefährdeter Hauptstadt ist kaum mehr neutral zu nennen … seiner geographischen Lage nach entspräche Bregenz als Bundeshauptstadt einer betonten Westorientierung der Republik Österreich ; Wien – wäre es wirklich die frei gewählte [Hauptstadt] und nicht eine unüberprüft von der Monarchie übernommene – einer ebenso ausgeprägten Ostorientierung«. Argumentiert wurde mit dem neutralen Vorzeigeland Schweiz, dessen Bundesstadt Bern nicht exponiert sei. Argumentiert wurde auch mit der Türkei, die ihre Hauptstadt von Istanbul nach Ankara verlegt hatte, und die moderne Türkei würde völlig recht getan haben, ihre Hauptstadt dem Zugriff potentieller Feinde zu entziehen. Die nicht explizit ausgesprochene Anregung, die österreichische Hauptstadt nach irgendwo zu verlegen, blieb ohne Konsequenzen. Das hatte jedoch wieder nicht zu bedeuten, dass damit das Problem kleiner geworden wäre. Und die dann sehr viel später bekannt gewordenen Planungen des sowjetischen Generalstabs und ungarischer Stäbe bestätigten nur die Szenarien, die auch den operativen Planungen des Bundesheers zu-
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grunde lagen. In den Sechzigerjahren orientierte sich der Warschauer Pakt an den Ansichten des sowjetischen Verteidigungsministers Malinovskij, dass der Durchmarsch durch Österreich mit einem Atomschlag auf Wien beginnen sollte. Der ungarische Generalstab setzte das in Planspielen brav um und schrieb in eine 1965 verfasste operative Studie tapfer hinein, dass Wien mit zwei Atombomben von je 500 Kilotonnen Sprengkraft zu zerstören wäre. Aber in Budapest verfügte man natürlich über keine Atomwaffen. Die hielt der »große Bruder« unter Verschluss. Etwas später lag den Planungen die Forderung zu Grunde, Wien mit drei bis vier Divisionen einzuschließen, und zwar der Art, dass eine sowjetische Division aus der Brucker Pforte, eine ungarische Division über Eisenstadt und ein oder zwei weitere sowjetische Divisionen aus dem Raum nördlich der Donau vorstoßen sollten, um Wien zu isolieren. Die Konsequenzen wären sowohl militärisch als auch politisch auf eine vollständige Lähmung Österreichs hinausgelaufen. 1968 zeigte sich aber tatsächlich, dass die Frage Wien nicht nur eine spekulative, sondern auch eine zutiefst politische Dimension hatte. Denn als sich im Verlauf der Invasion des Warschauer Pakts in der Tschechoslowakei eine Situation ergab, in der jegliche Annahme berechtigt schien, entschied Bundeskanzler Josef Klaus, dass einige Mitglieder der Bundesregierung, vor allem auch Vizekanzler Hermann Withalm, außerhalb Wiens verbleiben sollten, um notfalls und ohne regelrechte Evakuierung der Bundesregierung aus Wien die staatliche Handlungsfähigkeit sicherzustellen. Jahre später machte dann der aus der Tschechoslowakei geflohene und von der CIA in Washington präparierte General Jan Šejna mit seinen Angaben Aufsehen, die Sowjets hätten unter dem Stichwort »Polarka« konkrete Pläne ausgearbeitet gehabt, um im Fall einer Intervention in Jugoslawien mit Warschauer-Pakt-Truppen aus der Tschechoslowakei über Wien Richtung Jugoslawien vorzustoßen. Für die Bundesheerführung war der Neuigkeitswert dieser Enthüllung gleich null, denn zum einen waren die Pläne mehr als zehn Jahre alt, und außerdem hatte man es sich ohnedies so vorgestellt. Und was mit Wien sein sollte ? Schulterzucken. Aufgeben konnte man es eigentlich nicht, und aufgeben wollte man es nicht. Also hieß es wie so oft : Augen zu und durch ! Und dann wurde neuerlich geplant. Im Juni 1974 fand in der Salzburger Schwarzenberg-Kaserne ein Kriegsspiel mit rund 90 Offizieren statt. Alles Mögliche wurde eingespielt, um die Überlegenheit des Angreifers und sein Vorgehen bei der Besetzung von Teilen Österreichs als Vorstufe der Operation »Buran« (Schneesturm ; NATO) nuancenreich deutlich zu machen : Luftlandungen, die Übernahme der Sender im Rahmen des Unternehmens »Freiheit«, die Einnahme Wiens im Rahmen der Operation »Prišok« und der Aufbau einer neuen Verwaltung, etc. Auf der anderen Seite wurden auch den Verteidigern alle Möglichkeiten eingeräumt. Die Bundesregierung konnte ihren Sitz rechtzeitig nach Gastein verlegen. Dort wurde
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auch der Führungsstab angenommen, dessen Arbeitsfähigkeit zum Zeitpunkt der Aggression gewährleistet war. Die Masse der Verbände des Bundesheers war in die Einsatzräume verlegt worden. Überflutungsmaßnahmen an der Donau konnten jederzeit ausgelöst werden. Der Zivilverkehr war zum Stillstand gekommen. »Gemäß Beschluss der Bundesregierung ist Wien im Falle einer Aggression nicht zu verteidigen und von allen Einrichtungen des Bundesheeres zu räumen. Dieser Beschluss wurde nicht veröffentlicht …«, hieß es in der Übungsannahme. Wieder war es vor allem Wien, das als großes Fragezeichen gesehen wurde. Denn der schon anfangs des Planspiels gefasste Entschluss, die Stadt nicht zu verteidigen, hatte das Armeekommando veranlasst, die effektivsten Kräfte der Bereitschaftstruppe rasch aus dem Weinviertel abzuziehen und durch kampfschwache zu ersetzen. Als Vorgabe für eine Übung militärischer Planungsstäbe mochte das ja angehen. Doch die Frage, was mit Wien sein sollte, konnte natürlich nicht nur einer militärischen Beurteilung unterliegen. Da war die Politik gefragt, die immer wieder darauf verwies, dass Österreich an seinen Grenzen zu verteidigen wäre. Über das Wie machten sich Kreisky & Co wohl keine großen Gedanken, zumindest rechnete auch ein so wichtiges Regierungsmitglied wie der für die wirtschaftliche Landesverteidigung zuständige Handelsminister Josef Staribacher mit einer sofortigen Kapitulation. Aber das konnte man natürlich auch nicht so heraussagen. Also wurde die Sache recht salomonisch behandelt : Da im Zusammenhang mit der Räumung Wiens auch die Evakuierung des Bundespräsidenten, des Nationalrats sowie aller anderen Institutionen zur Erhaltung der staatlichen Souveränität zu klären waren, sollte die im Bundeskanzleramt angesiedelte Abteilung zur Koordination der Umfassenden Landesverteidigung einen konkreten Vorschlag erarbeiten. – Sie hat das nie gemacht. Und wie es weiter gegangen ist ? Das Armeekommando plante ; das Generaltruppeninspektorat plante ; die Militärkommandanten planten. In der Wiener Stiftskaserne wurde eine Einsatzzentrale einschließlich Räumlichkeiten für die Bundesregierung geschaffen. Für den Fall, dass Wien zur offenen Stadt erklärt werden sollte, war freilich hastiges Räumen und Ausweichen in die »Einsatzzentrale Berg« in St. Johann im Pongau angesagt. Einmal waren östlich von Wien mehr, dann wieder weniger Truppen vorgesehen, schwach waren sie in jedem Fall. Den Schutz Wiens sollten einige wenige Soldaten und vor allem Wachkompanien übernehmen. Ob damit die Stadt vor Schäden bewahrt werden konnte oder nicht – wer weiß es. Westlich von Wien – da sollte dann der Abwehrkampf aufgenommen werden. Überspitzt formuliert : Wien konnte auch an Triesting und Traisen verteidigt werden. Was aber würde geschehen, wenn der böse Feind, aus dem Osten kommend, Wien besetzte und durch das Donautal nach dem Westen vorstieß ? Dass die NATO Atomwaffen einsetzen würde, galt als ausgemacht. Dass der Warschauer Pakt für den Fall, dass er bei einer Operation auf nachhaltigen Widerstand stoßen sollte, ebenfalls Atomwaffen einsetzen würde, galt
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ebenso als ausgemacht. Und das kleine Österreich ? Es rechnete nicht wirklich mit dem Schlimmsten, und wenn es ja jemanden plagte, denn verdrängte er die trüben Gedanken so schnell wie möglich. Schnee von gestern – meinen Sie ? Sie haben recht : Das alles liegt schon an die zwanzig Jahre zurück. Heldenplatz – belassen wir’s dabei Seit es ihn gibt, wird der Wiener Heldenplatz umgeplant. Da sollten die Achsen verschoben, die Denkmäler versetzt, ein abschließendes Gebäude im Bereich des Volksgartens errichtet werden. Die derzeitigen Notunterkünfte für das Parlament sind Andeutungen dessen, was einmal hätte sein sollen und was vielleicht einmal sein wird. Gegenwärtig soll wohl die angedachte Umbenennung ein Gesamtkonzept ersetzen, nach dem Motto : Habe neuen Namen, suche passende Nutzung. Eingestandenermaßen kann ich mit dem Vorschlage, den Heldenplatz umzubenennen, nicht viel anfangen. Ich weiß wohl, dass schon seit einiger Zeit über die Umbenennung nachgedacht wird, und es könnte auch eine 2018 erfolgende Namensänderung in »Platz der Republik« als etwas gesehen werden, das den bisher eher konfusen Gedanken zum Republiksjubiläum Inhalt gibt. Gleichzeitig würde man aber ein großes Stück Geschichte entsorgen. Was am Heldenplatz stört, ist wohl Mehreres : Die Bezeichnung, die Weite des Raums und nicht zuletzt die Terrasse, die als »Hitlerbalkon« eine sprachliche Verniedlichung erfährt. Zu Ersterem lässt sich sagen, dass jede Zeit ihre Helden hat. Gelegentlich verlieren sie ihre Bedeutung und werden ersetzt. Sie sind dann Teil der Geschichte und werden unauffällig. Damit entsprechen die dem schönen Musil-Zitat : »Das Auffallendste an Denkmälern ist, dass man sie nicht bemerkt.« Will man gegen die Weite des Platzes ankämpfen, kann man nur Verbauung empfehlen. Zum Letzterem fällt mir frei nach Karl Kraus »nichts ein«. Die Terrasse abzutragen wäre vielleicht noch eine Möglichkeit. Nähern wir uns dem Problem von einer anderen Seite : Jede Stadt braucht Verkehrsflächen, die man in gewissen Abständen umbenennen kann. Umbenennungen sind meist Ausdruck eines politischen Wechsels. Wenn man Paris und seine Place de la Republique hernimmt, wurde die Bezeichnung gewählt, um eine revolutionäre Veränderung deutlich zu machen. Meines Wissens haben wir aber gerade keine Revolution erlebt. Und ob es 1918 eine Revolution gegeben hat, ist auch mehr als fraglich. Fängt man jedoch einmal mit Umbenennungen an, werden historische Orte der Beliebigkeit preisgegeben. Dann tendiert man immer wieder dazu, um- und neu zu benennen. Nach dem März 1938 wurden allein in Wien mehrere hundert Straßen, Gassen und
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Plätze umbenannt. Als einer der ersten Plätze wurde der Wiener Rathausplatz noch am 12. März zum »Adolf-Hitler-Platz«. 1945 ging es dann ans Rückbenennen. Zur Freude der Russen wurden auch Plätze wie der Schwarzenbergplatz in »Stalinplatz«, die Reichsbrücke in »Brücke der Roten Armee« usw. umbenannt. An den Heldenplatz hat offenbar niemand gedacht. Das ist unserer Zeit vorbehalten geblieben. Anderswo hat man diesbezüglich wohl weniger Sorgen. Den Budapester Heldenplatz mit dem Millenniumsdenkmal kennt man vielleicht. Den Perchtoldsdorfer Heldenplatz vielleicht nicht. Für beide und Dutzende andere weltweit ist mir nicht bekannt, dass eine Notwendigkeit zur Umbenennung geortet worden wäre. Gesetzt den Fall, man würde den Heldenplatz in »Platz der Republik« umbenennen : Was macht man dann mit den beiden Reiterdenkmälern ? Prinz Eugen und Erzherzog Carl waren gewiss keine republikanischen Helden. Sollen auch sie entsorgt werden ? Vielleicht könnte man es mit Anonymisieren versuchen, so wie man das im kommunistischen Ungarn mit dem Prinz-Eugen-Denkmal getan hat, das dann als »Unbekanntes Reiterstandbild« vorgestellt wurde. Der Hinweis darauf, dass am 15. März 1938 Hitler seinen großen Auftritt auf dem Heldenplatz gehabt hat, ist wohl das schwächste Argument, um mit dem Platz und seiner Funktion abzurechnen. Vor dem Mann aus Braunau und nach ihm hat es auf dem Heldenplatz Großveranstaltungen gegeben, von denen einige weit mehr Menschen versammelt haben als die Anschlusskundgebung 1938. Und ich glaube keine falschen Vermutungen anzustellen, wenn ich meine : Der Platz wird noch für viele Großveranstaltungen und nicht nur für Ausweichquartiere, Parkplätze, Bauernmärkte, Autoschauen etc. herhalten müssen. Und im Übrigen : Auch die Republik braucht – und hat – ihre Helden. Belassen wir’s dabei. Die Sache mit dem Nationalfeiertag »Zum Zwecke der dauernden Behauptung seiner Unabhängigkeit nach außen und zum Zwecke der Unverletzlichkeit seines Gebietes erklärt Österreich aus freien Stücken seine immerwährende Neutralität. Österreich wird diese mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln aufrechterhalten und verteidigen.« Die Formulierung ist bekannt – oder sollte es zumindest sein. Sie ist Teil des Artikels 1 des Bundesverfassungsgesetzes über die immerwährende Neutralität. Verabschiedet wurde es am 26. Oktober 1955, nachdem es Amerikaner, Briten Franzosen und Russen zur Kenntnis gebracht worden war. Das Gesetz sollte der erste souveräne Akt Österreichs nach Abzug der Besatzungsmächte sein. Wer freilich geglaubt hatte, unter den Abgeordneten des Nationalrats, die das Gesetz zu beschließen hatten, würde Einstimmigkeit herrschen, hatte sich geirrt. Der Verband der Unabhängigen, die Vorgängerpartei der »Freiheitlichen«
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stimmte dagegen. Doch die überwiegende Zahl der Abgeordneten zögerte nicht, das Verfassungsgesetz zu verabschieden. Nach Zustimmung des Bundesrats und Beurkundung durch den Bundespräsidenten trat das Gesetz mit der Verlautbarung im Bundesgesetzblatt 1955, 57. Stück, am 4. November 1955 in Kraft. Was sich ein wenig wie ein Nachtrag zur Staatsbürgerkunde liest, bot ein weites Feld für Auslegungen. Da war einmal das im Gesetz nicht erwähnte Schweizer Vorbild, dem man nacheifern wollte. Denn dieses war ja explizit genannt worden, als es darum ging, die Art der Neutralität zu benennen, die Österreich wählen wollte. Pikanterweise hatten sich die österreichischen Parlamentarier aber nur sehr beiläufig mit der schweizerischen Neutralität beschäftigt. Erst nachdem das österreichische Gesetz Verfassungsrang erlangt hatte, wurde mit der gebotenen Gründlichkeit nachgefragt : Was heißt das denn nun wirklich, neutral sein zu wollen wie die Schweiz ? Was ist der Sinngehalt des Wortes immerwährend ? Hieß das »ewig« ? Und vollends : Was heißt »mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln« ? Konnte man das nicht auch so auslegen, dass dann, wenn keine oder kaum Mittel zur Verfügung standen, die Unabhängigkeit nach außen eben nicht gesichert werden konnte. Drei Mann an die Grenze – und mehr war eben nicht verfügbar. Wie so häufig gossen die Völkerrechtler Wasser in den Wein und dämpften die Erwartungen derer, die sich ein Militär ersparen wollten. Und die waren nicht wenige. Auch der »Staatsvertragskanzler« Julius Raab war ja nicht unbedingt ein Freund des Militärs. Denn in Zeiten des Wiederaufbaus brauchte man das Geld doch für anderes als für »Soldatenspielerei«. Nun ließen die Völkerrechtler aber wissen, dass sehr wohl von zumutbaren militärischen Anstrengungen auszugehen war. Und dabei sollte es sein Bewenden haben. Die Kanzlerpartei ÖVP und die SPÖ verständigten sich darauf, dass ein Heer der allgemeinen Wehrpflicht nicht nur zumutbar, sondern auch adäquat sei. Lediglich die Dauer der Dienstzeit war strittig und endete mit einem Kompromiss auf einen neunmonatigen Präsenzdienst. Damit sollte es möglich sein, in vertretbarer Zeit ein herzeigbares Bundesheer zu schaffen. Mit einem Volksheer sollte die Wehrkraft am besten ausgenützt werden, sollte die Bildung von paramilitärischen Formationen ausgeschlossen werden und sollte schließlich auch die Neutralität mit Leben erfüllt werden. So weit so gut. 1956, am Jahrestag der Verabschiedung des Neutralitätsgesetzes, wurde ein erstes Mal an die Bedeutung dieses Tages erinnert. Man feierte ihn im kleinen Kreis als »Tag der Flagge«. Die Bezeichnung war ein Irrtum, denn das Symbol, das es vorgeblich zu feiern galt, war eine Fahne. In der Folge und bis 1965 gab es dann den »Tag der Fahne«, der freilich unter dem Motto »fit mach mit« zum Jahrestag der Volksgesundheit mutierte und fatal an die Wandervogelbewegung von mittlerweile verdammten Zeiten erinnerte. 1965 wurde er zum Nationalfeiertag, ohne dass sich am Inhalt etwas änderte. Wichtig war, dass der Tag arbeitsfrei war und für jene, die arbeiten mussten,
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Überstunden anfielen. Wenn man aber jemanden fragte, was es mit diesem Tag auf sich hatte, kam die Antwort wie aus der Pistole geschossen : An diesem Tag hat der letzte russische Soldat Österreich verlassen. Wer dergleichen Blödsinn von sich gab, war preisverdächtig und konnte beim ORF tatsächlich auch Preise gewinnen. Es sollte fünfzig Jahre brauchen, ehe sich die Mär vom letzten Russen, der da am 26. Oktober 1955 abgezogen sein soll, in Wohlgefallen aufzulösen begann. Dass der Tag etwas mit dem Bundesheer zu tun haben könnte, ahnten alle jene, die am 26. Oktober angelobt wurden und jene, die den Angelobungen beiwohnten. Die hatten dann auch Gelegenheit, sich am Zustand des Heeres zu delektieren und Heerschauen zu gehen. Das bot auch Jahr für Jahr Gelegenheit, sich darüber zu freuen, dass es das Bundesheer noch gab. Nach und nach hatte es ein Dutzend Heeresreformen über sich ergehen lassen müssen. Formal schien zwar immer noch alles in Ordnung zu sein, und dank einiger Einsätze des Heers an Österreichs Grenzen und zahlreicher Auslandseinsätze breitete sich Selbstzufriedenheit aus. Doch ebenso wurde über Leerlauf geklagt, wurde zwar von Miliz gesprochen, doch ebenso wenig für die Miliz wie für die präsent dienenden Truppen gemacht. Abseits der diversen Bundesheerschauen leuchtete dem Heer die Armut aus den Augen. Das Sozialprestige der Soldaten lag im untersten Bereich der Skala. Also konnte man immer wieder hören : Abschaffen ! Und weil man schon dabei war, sollte doch gleich alles mit einem Schwung abgeschafft werden, das Heer der allgemeinen Wehrpflicht ebenso wie die Neutralität. Denn dass die beiden verkoppelt waren, wurde zumindest noch vermutet. Allerdings war die Neutralität zu einer Art »Selbstläufer« geworden und erfreute sich hoher, ja höchster Akzeptanz. Sie war ein wesentlicher Bestand der österreichischen Identität geworden, und es nützte auch nichts, dass man die Neutralität gelegentlich regelrecht verächtlich machte. Das wäre doch Schnee von gestern, hieß es, nicht einmal ein Auslaufmodell, sondern schon regelrecht überholt. Und überhaupt : Das neutrale Österreich würde ja nur deshalb so unangefochten dastehen, weil es von den anderen, vor allem von der NATO beschützt würde. Ein ekliger Trittbrettfahrer folglich, der außerdem keine Gelegenheit vorübergehen ließ, die USA und die NATO zu kritisieren und ihnen womöglich auch noch Schwierigkeiten zu bereiten. In den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts war es dann so weit, dass die österreichische Neutralität am seidenen Faden hing. War sie einmal abgeschafft, dann brauchte man sich auch nicht mehr um »alle zu Gebote stehenden Mittel« zu kümmern. Dann würde es eben ein kleines – ein wie kleines ? – Berufsheer geben, mit dem man ein bisschen Katastrophenschutz und ein paar Auslandseinsätze machen konnte. Modern, professionell, schlagkräftig, unsentimental und gewissermaßen eine »special force« der NATO. Auch das ging irgendwie vorüber. Nunmehr scheint es aber ernst zu werden. Die politisch Verantwortlichen konnten sich über die Zukunft des Heeres nicht einigen, also gibt es eine Volksbefragung. Allgemeine Wehrpflicht ja oder nein, ist die Frage. Das impliziert natürlich auch die
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Frage nach der Neutralität. Doch die, so hört man, steht nicht zur Disposition. Muss sie auch nicht, da die Allgemeine Wehrpflicht ja nicht abgeschafft, sondern nur ausgesetzt werden soll. Konsequent wäre es freilich, zumindest im Bedarfsfall auch die Neutralität auszusetzen. Doch das rührt an ein ganz anderes Problem : Ohne Neutralität kein Nationalfeiertag. Es sei denn, wir machen aus der Not eine Tugend und feiern am Traditionstag des Neutralitätsgesetzes dann doch den Abzug des letzten Russen. Irgendwann einmal werden wir es wissen. Und dann werden sich die Historiker den Märchenerzählern angleichen und ihre Darstellungen mit dem klassischen Satz beginnen : »Es war einmal«. Vom Umgang mit der Erinnerung Am 24. April 1974 starb Bundespräsident Dr. h.c. Franz Jonas. Es war das bisher letzte Mal, dass in Österreich ein großes Staatsbegräbnis vorbereitet wurde. Allerdings hatte man Erfahrung damit, denn immer wieder und in mehr oder weniger großen Abständen war die Republik aufgerufen gewesen, mit entsprechendem Protokoll den letzten Weg eines Staatsoberhauptes vorzubereiten. Und immer wieder war es erforderlich gewesen, eine Art Mittelweg zwischen den imperialen Leichenbegängnissen vergangener Zeiten und der privaten Totenklage zu finden. – Seither hat die Republik kein vergleichbares Ereignis zu begehen gehabt, und aus der Vielzahl von Beerdigungen sticht vielleicht nur eine hervor, nämlich der letzte Weg der ehemaligen Kaiserin von Österreich, Zita, am 1. April 1989. Franz Jonas wurde vom Krankenhaus, in dem er nach langer Krankheit gestorben war, zunächst in das Jagdzimmer der Präsidentschaftskanzlei in der Wiener Hofburg gebracht und ein erstes Mal aufgebahrt. Hier fanden sich die Mitglieder der Bundesregierung und das Präsidium des Nationalrats ein. Tags darauf wurde der Sarg in die Säulenhalle des Parlaments gebracht, ein zweites Mal aufgebahrt. Das die Sargwache bildende Spalier wurde von sechs Stabsoffizieren des österreichischen Bundesheers gestellt. Drei Tage lang zogen die Menschen am toten Bundespräsidenten vorüber. Fünfzigtausend sollen es gewesen sein. Dann, am 29. April, kam der eigentliche Staatsakt. Nach einer Trauersitzung der Bundesversammlung begann die offizielle Verabschiedung mit einer Rede des die Funktionen des Bundespräsidenten ausübenden Bundeskanzlers. Dann wurde der Sarg über die Rampe getragen und auf eine Lafette gehoben, die von einem Fahrzeug des Bundesheeres vom Parlament über die Ringstraße bis zum Wiener Schwarzenbergplatz gezogen wurde. Der ranghöchste General des Bundesheeres, Generaltruppeninspektor Anton Leeb, kommandierte den militärischen Kondukt. Auf schwarzen Kissen wurden die Orden des verstorbenen Bundespräsidenten vorangetragen, als deutlicher Beweis der zahlreichen weltlichen Ehrungen. Hinter der
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Lafette mit dem Sarg ging die Bundesregierung, kamen zahlreiche Repräsentanten des öffentlichen Lebens, und zuletzt schloss sich ein Teil der Schaulustigen und der Trauernden, die entlang der Ringstraße Aufstellung genommen hatten, dem Zug an. – Vom Schwarzenbergplatz bis zu dem weit entfernten Zentralfriedhof, auf dem in der Gruppe der Präsidentengrüfte eine neue Ruhestätte hergerichtet worden war, fuhren die Trauergäste im Auto. Anschließend formierte sich der Zug wieder. Soldaten trugen den Sarg zur Gruft. Kirchliche Einsegnung erfolgte keine, so wie das auch schon bei den Vorgängern von Franz Jonas verfügt worden war. Doch in Österreich fällt so etwas auf. Es gab die letzten Reden, das Versenken des Sarges und schließlich das Kondolieren, denn der Bundespräsident war ja nicht nur eine Art öffentliches Gut gewesen – er hatte auch eine Frau und Familienangehörige, Freunde, die um ihn trauerten. Er war nicht nur Träger der staatlichen Macht gewesen, sondern auch Mensch. Kaum jemand, der die Beschreibung eines solchen Staatsakts liest, wird sich wohl dessen bewusst sein, wie viele Elemente europäischer, christlicher und bodenständig österreichischer Kultur in einen derartigen Vorgang einfließen, und wie sich das allem zugrundeliegende Ritual entwickelt hat. Es war wohl erst im späten Mittelalter deutlicher geworden und hatte strenger beachtete Formen angenommen. Doch letztlich war dieses Ritual auch etwas, das mehr auf die Träger der Macht und des Einflusses, auf die großen Familien, die Würdenträger sowie auf deren Angehörige und nicht auf den durchschnittlichen Untertanen zugeschnitten war. Letztlich bestand aber zwischen dem, was uns dann als pompe funèbre begegnet und jenen anderen Beerdigungen, bei denen ein unbedeutender, zumindest aber weniger beachteter Mensch bestattet wurde, immer eine Wechselbeziehung : Der Pomp fand Eingang auf den Dorffriedhöfen und in den Häusern der Städte, in denen die Verabschiedung mit einem oft beträchtlichen Aufwand erfolgte. Umgekehrt verfügten jene, die sich zu Lebzeiten herausgehoben sahen, gar nicht so selten, dass sie ohne jedes Brimborium beerdigt werden wollten. Es gibt Beispiele für große Leichenbegängnisse und solche, die vor allem die Schlichtheit betonen. Das war jedoch weniger eine Sache der sozialen Verhältnisse, in denen ein Mensch lebte, als vielmehr von Zeitströmungen und Moden abhängig. Schon im 17. Jahrhundert mehrten sich die Testamente, in denen genau bestimmt wurde, wie man einfach zu betten war, und anschließend ein schlichtes und regelrecht ärmliches Begräbnis erfolgen sollte.223 Damit kamen dann allmählich jene barocken Spektakel aus der Mode, bei denen nicht nur der Tod selbst eine öffentliche Angelegenheit war, sondern erst recht die Prunkobsequien. Doch letztlich existierten alle diese Formen nebeneinander. Für entsprechend große Begräbnisse wurde mit dem »öffentlichen Anstand« argumentiert, der solches erforderlich mache, wie gegenläufig Trauer und persönlich empfundenes Leid als eine private Angelegenheit und nicht als res publica gesehen wurden.224 Letztlich ist es aber wohl so, dass das öffentliche Erinnern allein sicherlich nicht ausreicht, um sich in die Vergangenheit zu versenken und Endlichkeit zu erfahren. Es
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wird immer von der Bereitschaft des Einzelnen abhängen, welcher Weg dabei gegangen wird, wie weit sich jemand leiten und geleiten lässt, und ob man dann weiterzufragen beginnt. Die »Großen« und die »Kleinen« trennte freilich immer vieles, und schließlich war es wohl auch die Dauer des Gedächtnisses, das die großen Unterschiede bewirkte : Dem einen war es beschieden, längere Zeit, mitunter lange in Erinnerung zu bleiben ; die Spuren des anderen verloren sich schon bald, und es ist wohl häufig nur der Zufall, der uns dann den Leichnam eines Namenlosen oder den Grabstein eines Menschen beschert, dessen Spuren sich nur mühevoll rekonstruieren lassen und der solcherart eine nachträgliche Hervorhebung erfährt. Von den meisten Menschen weiß man aber schon zu ihren Lebzeiten außerhalb ihres eigentlichen Lebensbereiches nichts, die Erinnerung schwindet. Und schließlich stellt sich nur die Frage : Wo sind sie geblieben ? Diese Frage lässt sich aber nicht nur dann und dort stellen, wo es um den Akt des Begräbnisses geht, denn gerade im Augenblick des Abschiednehmens wird letztlich nur mehr etwas fokussiert, was sich in mehr oder wenigen Jahren entwickelt und die unterschiedlichsten Spuren hinterlassen hat. Weitaus mehr Zeugnisse von gelebtem Leben und gewesenen Existenzen haben wir freilich außerhalb des eigentlichen Gedächtnisses, mit dem man sich ja nur etwas zurückholen kann, das im eigenen Bewusstsein schon einmal vorhanden war. Dabei ist der Akt des bewussten Zurückholens ein mitunter mühsamer ; das unbewusste Erinnern scheint viel leichter zu fallen. Da drängt dann die Erinnerung, die Bilder stürmen ein, Stimmen, Gerüche, Empfindungen werden wieder deutlich, es wird assoziiert. Die Übergangsriten, also, sind besonders geeignet, das Leben eines Menschen vorüberziehen zu lassen, die einzelnen Lebensstufen und ihre Ausformungen zu verdeutlichen und sich selbst zu vergegenwärtigen. Auf diese Weise entsteht ein Nebeneinander, das zumindest für einige Augenblicke, häufig aber lange anhält. Etwas abstrakt formuliert : Übergangsriten trennen die Lebenden von den Toten, die Verstorbenen von den Nachkommen. Sie zeigen die Lücke auf, die der Tod in die Gemeinschaft gerissen hat, die damit ihre Stabilität verloren hat, sie sollen die Verstorbenen für das Jenseits vorbereiten, die soziale Ordnung wiederherstellen und die Überlebenden Anschluss finden lassen.225 Dazu gehören die Erinnerung und das Teilnehmenlassen an dem, was weitergeht. Ebenso aber werden die Verstorbenen in die Pflicht genommen. Sie haben als Vorbilder zu wirken – positiv oder auch negativ –, sie werden direkt angerufen und manchmal auch enttäuscht zur Rechenschaft für etwas gezogen, das nicht nach den Vorstellungen der Nachlebenden gerät. Die Toten werden in das Leben einzubeziehen gesucht, und man lässt sie weiterhin teilhaben. Ihre Bilder geben dem eigenen Leben Perspektive, weil man damit zeitübergreifend und auch erfahrungsübergreifend wird. Aus der Phase des Übergangs rühren besonders viele Zeichen der Erinnerung her. Die Totenbilder, Sterbegewänder, Sargbeigaben (bei christlichen Begräbnissen vor allem Kreuze, Rosenkränze und Gebetbücher), die Totenschilde, Trauerschabracken, der
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Trauerschmuck, die Parten, schließlich die Kranzschleifen und Bilder. Alles dies sind Zeichen der Erinnerung, wie sie in unendlicher Zahl und allerorts anfallen. Durch Jahrtausende. – Wenn man sich daher mit Zeichen der Erinnerung beschäftigt, dann kann das nur prototypisch geschehen, denn letztlich wäre ja alles, das übernommen wird, das man Menschen, ja sogar auch alles, was anderen Lebewesen zugeordnet werden kann, ein solches Zeichen. Jede Wissenschaft bezieht sie in Forschung und Lehre ein und schafft sich meist auch ihre Bezüge, indem auf die Referenz von Autoritäten verwiesen wird. Und solche Autoritäten sind sowohl im dinglichen wie auch im geistigempirischen Bereich zu finden. Die Welt ist die Summe der Gedächtnisse und der Zeichen der Erinnerung alles bereits Dagewesenen. Doch selbstverständlich lassen sich auch in dieser unendlichen Vielzahl Einteilungen treffen und Einschränkungen vornehmen. Denn die Zeiten, die Kulturen und Religionen unterscheiden sich ebenso wie die mehr privaten und mehr öffentlichen Bereiche. Es ist sehr wohl zu unterscheiden, welche Erinnerung bewusst weitergegeben wird und welche sich nur zufällig erhalten hat. Und wenn man bei der bewussten Weitergabe bleibt, dann ist sicherlich zu unterscheiden, was damit bewirkt werden soll. In jedem Fall aber hat man es mit etwas zu tun, das nicht nur mit Übergangsriten, sondern mit dem Gesamtkomplex der Weitergabe, mit Tradition zu tun hat. Wie aber etwas übergeben wird und was man bewusst übernimmt, welchen Bezugsrahmen man sich damit schafft, ist wie nichts anderes subjektiv. Schon im 15. Jahrhundert liebte man es, sich zu Hause mit Bildern und Gegenständen zu umgeben, die den Gedanken an das Verfliegen der Zeit, an die Vergänglichkeit verdeutlichen sollten. Die vanitas, die Nichtigkeit, sollte damit angesprochen werden. Solcherart wurde etwas, das zunächst auf die Kirchen und religiösen Stätten, auch auf die Friedhöfe beschränkt war, zum Gegenstand des häuslichen Dekors. Auch das Porträt, die szenische Malerei, die Skulptur können sich als Vanitasdarstellungen verstehen, und da braucht es eigentlich nicht den Totenschädel in der Hand, das einsame Grab in idyllischer Landschaft oder die verstaubte Inschrift auf einem Sarkophag. Es kann aber auch ganz anders auf das Verrinnen der Zeit hingewiesen werden : rostzerfressene Harnische, Relikte von defunktionalisierten Gegenständen, Funde von historischen Stätten, zerfetzte oder auch nur alte Bücher, Menschen, denen die durchlebte Zeit anzusehen ist … sie alle verkörpern die Summe der Jahre. Kurzum die Zeichen vom Ende der Dinge sind vielfältigst. Es müssen auch nicht immer Särge und Totenschädel, Kreuze und Grabsteine sein, um zur Einkehr einzuladen und Zwiesprache zu halten. Es muss aber auch durchaus nicht Trauer aus den Dingen sprechen, und sie müssen erst recht nicht mit Trauer gesehen werden, um ihren Zweck zu erfüllen und ein Gefühl für Vergänglichkeit zu geben. Wienerisch drückt sich vanitas, die Nichtigkeit, auch in den Textzeilen aus : »Es wird ein Wein sein / und wir wer’n nimmer sein …« Schließlich ist auch die Musealisierung der Zeit ein Mittel, um auf sie aufmerksam zu machen. Das
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Anbringen von Totenlisten auf Wänden, wie auch auf jenen der Ruhmeshalle des Heeresgeschichtlichen Museums, kann dazu gezählt werden und dient dem Festhalten von ganz bestimmten Erinnerungen, ist eine Art Säkularisierung von Tod und Vergängnis und enthält nicht zuletzt auch ein Element des Dekors.226 Lässt man Gewesenes vorbeiziehen und stellt die Frage nach dem, wo jemand oder etwas geblieben ist, nicht nur im Zusammenhang mit vergleichsweise normalen Lebensabläufen, dann ist nicht zuletzt die Geschichte jene Disziplin, die auf die wiederum unendliche Zahl von Existenzen hinweist, denen kein normales Leben, vor allem aber kein »normaler« Tod beschieden war. Da sieht dann alles anders aus. Die Weitergabe geschieht häufig nicht bewusst, sondern denkbar unbewusst. Und auch die Erinnerung muss eigene Wege gehen. Wie stark die Wechselbeziehung zwischen der Vorstellung des Todes und der des sterblichen Lebens, zwischen der Gemeinvorstellung von der Vergänglichkeit und der maßlosen Liebe zum Leben ist, hat wohl niemand ausführlicher dargestellt als Philippe Ariès. Doch die Komponente des Massensterbens kommt bei ihm zweifellos zu kurz. Ein Massensterben wie bei Seuchen verbietet ein ausführlicheres Abschiednehmen und meistens auch adäquate Gräber. Und die Übergangsriten reduzierten sich so weit, dass Menschen überhaupt kein regelrechtes Begräbnis zuteil wird, sondern nur ein Verscharren oder Verbrennen. Er, der eigentliche »verwilderte Tod«, wie ihn Ariès nennt, ist von ihm freilich nicht einmal ansatzweise beschrieben worden. Und dort, eigentlich an dem Punkt, wo die vanitas am augenfälligsten und der Tod massenhaft wird, lässt die Darstellung aus. Ist das lediglich ein Versehen, die Sorge vor einer Überfrachtung des Themas oder ein bewusstes Ausklammern ? Schwer zu sagen, denn Ariès ist 1986 gestorben. Doch gerade wenn man sich die Publikationen und auch die Ausstellungen zu den Themen ansieht, die sich mit dem Verhältnis des Einzelnen zur staatlichen Macht und jene Strukturen der Gewalt ansieht, die sich in allen Staaten finden und wie selbstverständlich auch zur österreichischen Geschichte gerechnet werden müssen, ist es eigentlich verwunderlich, wie konsequent der Bereich des Massensterbens und vor allem der militärische Tod ausgeklammert werden. Gerade in diesem Bereich wurde aber immer außerordentlich stark ritualisiert. Teilweise war das wohl nur mehr der Nachwelt möglich, die dann jene Katafalke errichte, auf denen die Gefallenen nicht nur betrauert werden konnten, sondern auch regelrecht zur Schau gestellt wurden. Die in den Kriegen als Angehörige einer bewaffneten Macht Gefallenen »heimzuholen« war und ist ein verständliches Bemühen. Doch von der Empfindung, so handeln zu sollen, bis zur Durchführung war es immer ein weiter Weg. Es setzte zunächst eine geordnete und funktionierende Verwaltung voraus, um überhaupt jemanden identifizieren und einen anderen verständigen zu können, dass einer, der Soldat geworden war, sein Leben eingebüßt hatte und irgendwo, häufig an einem unbekannten oder zumin-
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dest kaum erreichbaren Ort, begraben worden war. Diese Toten – wenn schon nicht physisch, so zumindest im Gedenken – in die Heimat zu überführen, und ihnen und ihrem Sterben noch nachträglich einen Sinn zu geben, war ein Anliegen, das erst verhältnismäßig spät aufkam, und wie so vieles, das mit Erinnerung und Unsterblichkeit zusammenhängen sollte, mit den Massenheeren und vor allem auch den Kriegen im Gefolge der Französischen Revolution zusammenhing. Die Gefallenen wurden denkmalwürdig, etwas, das bis dahin nur Herrschern und Heroen beschieden war. Der politische Totenkult in der von uns gepflegten Form ist ja nur etwa 200 Jahre alt. In den Kriegen im Gefolge der Französischen Revolution begann man in Frankreich, Österreich und anderswo damit, nicht nur den Feldherrn und einigen wenigen Hochvermögenden Denkmäler zu errichten, sondern auch jene zu berücksichtigen, die keiner Elite angehörten, und an die sich bald niemand mehr erinnert hätte. Was in Intention und Inschriften immer stärker zum Ausdruck kam, war der Wunsch, den Tod als sinnvoll zu erklären. Dass keiner umsonst gefallen sein möge, wie das schon Graf Yorck für die in den Befreiungskriegen Gefallenen festhielt, und wie das auch im ältesten in Österreich errichteten Denkmal, der vom Fürsten Johann I. Josef Liechtenstein als Husarentempel geschaffenen Erinnerungsstätte an die 1809 Gefallenen seines Regiments zum Ausdruck kam. Letztlich ging es bei den Kriegerdenkmälern um moderne Formen von Kenotaphen, also Grabmäler »für die fern von der Heimat Gestorbenen« (griech.). Zur Forderung, den Tod des Soldaten für sinnhaft zu erklären, kam der Wunsch nach der auch über den Tod hinaus währenden Identität. Gott würde natürlich wissen, wer da vor ihn hintrat, doch die Menschen ? Sie würden das vergessen oder doch möglichst rasch verdrängen. Den Angehörigen war und ist es aber sehr wohl ein Anliegen, ihre ganz persönlichen Toten identifizieren zu können. Wo sind sie geblieben, die Väter, Brüder, Söhne und Geliebten ? Folglich sollte sich zumindest auf den Denkmälern jeder einzelne namentlich finden. Die Unmöglichkeit, bei einer Vielzahl von Gefallenen den Einzelnen zu finden und ihn namentlich zu erfassen, ihm wenn schon nicht sein eigenes Grab, so doch seine Erinnerung zu geben, war jedoch schon längst evident geworden. Also musste man zu anderen Formen des Totenkults Zuflucht nehmen. Und auch dabei wird auf eine längst geübte Praxis zu verweisen sein : Seit es den militärischen Totenkult in der uns bekannten Form gibt, sollte auch an die unbekannten, vermissten und verschollenen Soldaten erinnert werden. Niemand sollte vergessen werden. Das war ein republikanisches Postulat in Frankreich, das bereits 1792 auftauchte. Die Zahl der Vermissten sprengte jedoch häufig jegliche Vorstellung. Das fehlende Grab, der verschwundene Leichnam forderten schließlich alle Überlebenden heraus, angemessene Gedenkstätten zu errichten, Gräber für die mit Masse unbekannten Soldaten. Dabei entstanden nicht nur die diversen Installationen in bestehende Bauwerke, wie den Arc de Triomphe, sondern auch Monumente von bis dahin unüblichen Ausmaßen. Gerade die Großdenkmäler sind solcherart Kultstätten für den anonymen Massentod.
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Denken wir z. B. an das Heldendenkmal im Wiener Äußeren Burgtor, in dem Buch geführt wird über die Toten der Weltkriege, Bürgerkrieg und Widerstand. Letztlich waren aber auch das akribische Verzeichnen der Kriegstoten und die Schaffung von Grabmälern des Unbekannten Soldaten nur Ersatzhandlungen, mit denen versucht werden sollte, die Toten gewissermaßen heimzuholen. Bei aller Denkmalsucht kam man nicht darum herum, dass sie Kenotaphe waren, denn es liegt ja kaum einmal jemand dort. Folglich sind die Kriegerdenkmäler und Gedenkstätten Ersatzfriedhöfe, mit denen den Gefallenen und Vermissten das gegeben werden soll, was ihnen mittlerweile schon lange zugestanden worden ist : Das ewige Ruherecht. Auf den Schlachtfeldern wiederum, wo die Toten in Massengräbern bestattet oder auf großen Haufen verbrannt wurden, dienen die Denkmäler bis zu einem gewissen Grad auch nur der Schlachtfeldsignierung, sind aber keine Friedhöfe. Alles Bemühen um einen sorgsamen Umgang mit den Kriegstoten mündete letztlich in Ersatzhandlungen. Und der Zweite Weltkrieg stellte auch das in Frage. Im Verlauf des deutschen Feldzugs gegen die Sowjetunion ließ das nationalsozialistische Deutschland die Achtung vor den toten Rotarmisten schwinden, und auch die Sowjetunion achtete die toten Deutschen nicht, bis schließlich Stalin in einem eigenen Ukaz 1944 befahl, sämtliche Spuren zu tilgen, die an die nationalsozialistischen Aggressoren erinnerten. Der Umgang mit den Denkmälern war und ist freilich etwas, das gelernt sein will. Immer wieder glauben Regime oder auch nur eine Gesellschaft, die entweder an einer Zeitenwende angelangt ist oder mit der Vergangenheit nichts anzufangen weiß, dass es das Vordringlichste sei, Denkmäler zu entfernen oder sie zumindest abzuändern. Schon längst sollte man freilich wissen, dass sich Kriegerdenkmäler, die sich zunächst darin erschöpften, die eigenen Leiden herauszustreichen und von denen der anderen abzuheben, unter geänderten Bedingungen Ausdruck eines gemeinsamen Erinnerns sind. Das ist dann der Augenblick, wo auch die Denkmäler einstiger Gegner deshalb zustimmungsfähig werden, weil es zu einer Vereinigung der Anliegen beider Seiten und zu einem gemeinsamen Totengedenken kommt. Damit rühren wir aber an eine Grundfrage nicht allein des christlichen, sondern des menschlichen Verhaltens gegenüber dem Tod. »Der Toten zu gedenken, gehört zur menschlichen Kultur. Der Gefallenen zu gedenken, der gewaltsam Umgebrachten, derer, die im Kampf, im Bürgerkrieg oder Krieg umgekommen sind, gehört zur politischen Kultur … Insoweit ist der politische Totenkult eine anthropologisch zu nennende Vorgabe, ohne die Geschichte nicht denkbar ist«, formulierte vor wenigen Jahren der deutsche Historiker und Geschichtsphilosoph Reinhard Koselleck.227 Und es ist eigentlich ganz leicht, ihm durch einen ohnedies nur kurzen Abschnitt der europäischen Geschichte zu folgen. Doch auch die Bereitschaft, im Feind von gestern einen Getriebenen und – je weiter er von zu Hause weg war – Hoffnungslosen zu sehen, ist nicht ganz neu. Die Denkmä-
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ler in der Umgebung von Königgrätz, wo Österreicher und Preußen vereint sind, das Friedensdenkmal von Austerlitz, das Franzosen, Russen und Österreicher an die annähernd 7000 Toten der Dreikaiserschlacht 1805 erinnert, oder die italienischen Totenstädte, etwa auf dem Monte Grappa, die auch die k. u. k. Soldaten bergen, sprechen alle dieselbe Sprache. Jüngst kam ein Denkmal in Wolgograd, dem ehemaligen Stalingrad dazu, das auch nur mehr Zeichen und Bitte sein kann. Die Symbole sind im Lauf der Zeit andere geworden. Es geht schon längst nicht mehr um den Helden, denn der hat schon seit dem 1. Weltkrieg keine Bedeutung mehr. Der Massentod ließ Denkmäler der Sprachlosigkeit entstehen, die über die unmittelbare politische Botschaft hinausführen, »um jeden gewaltsamen Tod als solchen in Frage zu stellen«.228 In der Regel scheuen wir uns heute, Denkmäler zu errichten. Es wird immer gefragt, ob es denn keinen anderen Ausdruck der Erinnerung gibt als ein Denkmal. Da klingt dann – ohne dass diejenigen, die darüber sinnieren oder auch polemisieren, wohl darüber Bescheid wüssten – ein Wort Kaiser Franz Josephs an, der im Ersten Weltkrieg entschieden hatte, auf Kriegsdauer keine Kriegerdenkmäler errichten zu lassen, und wenn schon Geld dafür gesammelt worden war, dann sollte man es dem Militär- Witwen- und Waisenfonds geben. Jetzt, freilich, tun manche so, als ob wir auf Friedensdauer keine Denkmäler errichten sollten. Wozu denn auch, meinen sie ? Muss man denn immer wieder an kaum vernarbte Wunden rühren ? Muss man unbedingt und auf diese Weise menschliche Unzulänglichkeit anmahnen ? Ist die Gruppe der Opfer nicht zu eng gefasst ? Und schon überhaupt : Krieg ! Das ist doch mittlerweile etwas, das den anderen passiert, aber nicht uns ! – Dort, wo Denkmäler bereits bestehen, lautet die Frage schon seit langem : «Erhalten – zerstören – verändern«. Allerdings gibt es auch Gruppen von Denkmälern, die sich einer derartigen Diskussion entziehen und überhaupt den Denkmalbegriff zu sprengen scheinen. Das ehemalige Konzentrationslager Mauthausen ist ein »Öffentliches Denkmal«, das seinerseits zahlreiche Denkmäler birgt, das ebenso wie Kriegerdenkmäler in den politischen Totenkult einbezogen ist und mit einer durchaus vergleichbaren Hilflosigkeit die Antwort auf die Frage »Wo sind sie geblieben ?« – verweigert. Orte des Massensterbens und der Massenvernichtung haben jedoch sicherlich ebenso Anspruch darauf, als Zeichen der Erinnerung gewertet zu werden, als von ihnen besondere Botschaften ausgehen. Nicht anders ist es im Fall von Auschwitz, das abermals prototypisch zu nennen ist und die Gesamtheit der Vernichtungslager des nationalsozialistischen Regimes abzudecken scheint. Was bei einer Locke Schnitzlers Zeichen liebenswürdigen Erinnerns und fast zärtlicher Zuwendung ist, hat im Fall von Auschwitz, wo die Haare der Ermordeten nur mehr in Kilogramm gemessen werden, eine ganz andere, schreckliche Dimension. Brillen, Prothesen und andere Relikte menschlicher Existenzen, die hier vernichtet wurden, sind ebenfalls Zeichen der Erinnerung, und es wohnt ihnen eine Ohnmacht inne, die
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sich auf den Denkmalcharakter der Lager Auschwitz und Auschwitz-Birkenau, aber ebenso auf Treblinka, Sobibor, Majdánek und der anderen Konzentrationslager überträgt. Doch nicht einmal sie sind von der Diskussion um Inhalte oder auch Form und Legitimität des Totengedenkens ausgenommen, wie die erregte Debatte um die Errichtung eines Karmeliterinnenklosters in Auschwitz gezeigt hat. Im Fall der Kriegerdenkmäler, aber auch jener anderen in der jüngeren Vergangenheit diskutierten und zumindest teilweise errichteten Denkmäler, etwa für Deserteure, ist die Erregung zweifellos dann am größten, wenn es darum geht, ein neues Denkmal zu errichten, denn mit den älteren hat man sich als einer Gruppe von mittlerweile stummen Zeugen schon recht gut abgefunden. Im Gegensatz zu den Kriegerdenkmälern haben sie sich dem Bemühen um namentliche Erwähnung widersetzt. Eher schon bleiben daher immer noch andere Bildnisse in Erinnerung und lassen auch im Abstand von Jahrhunderten ein Gesicht, eine Gestalt und vielleicht auch einiges an Eigenheiten deutlich werden. Häufig sind freilich Lebensbeschreibungen, Biographien, besser geeignet, Wesen und Charakter eines Menschen, aber auch seine Lebensumstände deutlich werden zu lassen. Diese Zeichen der Erinnerung sind nicht zuletzt davon geprägt, dass sie mit gelegentlich außerordentlicher Subjektivität, ja manchmal auch in einer ganz bestimmten Absicht, Abbilder eines Menschen entstehen lassen, die lediglich den einen Zweck verfolgen, ihn für eine ganz bestimmte Zeit oder auch einen ganz bestimmten Zweck nutzbar zu machen. Gemessen an den Überzeichnungen, die Biographen häufig vornehmen, sind Retuschen an einem Bild oder gar das Hinzufügen einer Haarpracht am Porträt eines Kahlköpfigen als bestenfalls lässliche Sünden zu bezeichnen. Und dennoch kann man der Biographien nicht entbehren, denn letztlich sind es ja die Menschen, die Geschichte machen und mit denen Geschichte gemacht wird, also wird man sich mit ihnen wohl zu beschäftigen haben. Bei den Lebensbildern geht es aber nicht nur darum, Lehrreiches gefällig aufzubereiten. Vielmehr handelt es sich bei Biografien um bewusste Weitergaben, die ein Bild formen sollen. Natürlich sind auch die Biografien häufig sehr nüchtern geworden. Nichtsdestoweniger pendeln die Biografen häufig zwischen den bekannten Extremen einer Rechtfertigungs- und einer Anklageschrift hin und her. Ersteres ist wohl häufiger der Fall und tendiert daher in eine Richtung, die beim Begräbniswesen schon längst aus der Mode gekommen ist. In den Büchern wird die »schöne« Leich’ gepflegt, wo allenthalben das stille Begräbnis vorherrscht. Auch um die Militärs ist es sehr viel stiller geworden. In Österreich ist das letzte große militärische Begräbnis wohl jenes des Feldmarschalls Franz (Graf ) Conrad von Hötzendorf gewesen. Dazu wurden, wie das der österreichische Volkskundler Leopold Schmidt etwas abschätzig formulierte, »alle herkömmlichen Versatzstücke« über die Ringstraße geführt.229 Conrad war nach seinem überraschenden Tod in Bad Mergent-
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heim nach Wien überführt und im Großen Marmorsaal des Militäroffizierskasinos auf dem Schwarzenbergplatz aufgebahrt worden. Am 2. September 1925 erfolgte die Verabschiedung. Anschließend setzte sich der vom rangältesten Offizier des Bundesheeres kommandierte Kondukt über den Ring und die Mariahilferstraße zum Hietzinger Friedhof in Bewegung. An der Spitze ritt eine Dragonerschwadron, ihr folgten Infanterie- und Artillerieabteilungen. Dann kamen Kreuz- und Fackelträger, der Blumenwagen, das Trauerpferd, die Lafette mit dem Sarg, umgeben von einem »ambulanten Spalier« und einem gepanzerten Reiter.230 Nicht anders als hundert Jahre zuvor, wie man es bei Johann Nepomuk Hoechle und seinem K.k. Militär Leichenwagen um das Jahr 1824 findet. Aber waren es wirklich Versatzstücke ? Es mag schon sein, dass dem einen oder anderen ein Trauerkondukt, wie er für Franz Conrad von Hötzendorf zusammengestellt worden war, nicht mehr zeitgemäß schien. Doch letztlich war gerade dieses Begräbnis eine Klage über eine verlorene Welt und Anklage an eine neue, die für jene von Stefan Zweig beschriebene Welt von Gestern nichts mehr übrig zu haben schien. Hier wurden ganz bewusst Zeichen der Erinnerung mitgeführt. Mehr vielleicht als notwendig war. Doch schleppen wir nicht immer ein wenig zu viel mit ? Der Mensch braucht seinen Feind Wen würden Sie ohne viel Nachdenken als Ihren Feind bezeichnen ? Einen Nachbarn, »die« Ausländer, die Regierung, Brüssel, Kommunisten oder finstere Mächte, die irgendwo Drahtzieher sind ? So einfach machen wir es uns doch meistens nicht, obwohl es natürlich vieles erleichtert. Da lassen sich dann die Guten von den Bösen scheiden, und selbst ist man – das versteht sich doch von vornherein – auf Seite der Guten. So wie das vor gar nicht so langer Zeit Präsident Ronald Reagan getan hat, der die Welt des Bösen beschwor, um die eigene Politik als Kampf gegen das Böse außer Streit zu stellen. Auch der Geschlechterkampf tut sich da leicht, denn der kann den Feind zumindest im eigenen Bett orten. Wenn man es sich aber nicht so leicht macht, dann ergeben sich merkliche Probleme bei der Zuordnung, denn es sagt sich so leicht : »Ich hasse dich !« Gegner oder Widersacher müssen deshalb aber noch lange keine Feinde sein. In der Geschichte, freilich, da wimmelt es von Feinden, was die Auswahl merklich erschwert. Und als wir im kleinen Kreis unlängst darüber gesprochen haben, wer denn gerade für unser tausendjähriges Österreich die Qualität eines staatsbildenden oder gar eines Erbfeinds gehabt hat, da mangelte es keinesfalls an Vorschlägen. Italiener, Türken, Preußen, Franzosen, vielleicht doch auch Ungarn oder Russen müssten Berücksichtigung finden, hieß es. Sieht man einmal davon ab, dass da zeitweilig auch Böhmen, Bayern und jüngst selbstverständlich auch Briten und Amerikaner einen ordentlichen Teil Feindschaft für sich beanspruchen konnten. Doch sie waren eher so et-
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was wie »einfache« und keinesfalls Erbfeinde. Aber wie war das anderswo, etwa im Fall Deutschlands und Frankreichs ? Wie war das mit den Griechen und Persern, mit den Montagues und Plantagenets ? Wie war das im Hundertjährigen Krieg ? Standen sich bei Azincourt 1415 nicht Erbfeinde gegenüber ? Ist der Nahostkonflikt nicht schon längst über das Stadium der Aufteilung Palästinas hinaus gediehen, ein Rassen- und Religionskrieg geworden, in dem sich Erbfeinde gegenüberstehen ? Wie lange braucht es, um eine Erbfeindschaft entstehen zu lassen ? In unserem Fall muss man nicht weit zurückgehen, um zumindest auf den Begriff zu stoßen, denn noch im April 1945 ließ der 75. und endgültig letzte »Führerbefehl« an die Oberbefehlshaber der deutschen Heeresgruppen verlauten : »Soldaten der Ostfront ! Zum letzten Mal ist der jüdisch-bolschewistische Todfeind mit seinen Massen zum Angriff angetreten. Er versucht Deutschland zu zertrümmern und unser Volk auszurotten … Berlin bleibt deutsch, Wien wird wieder deutsch, und Europa wird niemals bolschewistisch.« Der Todfeind, der da genannt wurde, war jener in den Propagandaweisungen und vor allem in der Tagespresse immer wieder genannte »jüdischbolschewistische Erbfeind«, der seit 1943 immer stärker in der nationalsozialistischen Semantik Verwendung gefunden hatte. Es ist also noch gar nicht so lange her, seit auch uns Feindbilder selbstverständlich und Erb- und Todfeinde benennbar waren. Da meinte man vielleicht auch noch, Todfeinde hätten etwas Plötzliches, Eruptives an sich, während Erbfeinde dauerhaft seien. Aber was ist schon im historischen Sinn dauerhaft ? Nach Qualtinger vielleicht der Konflikt zwischen Simmering und Kapfenberg, zumindest herrscht da Brutalität. Im Fall des Erbfeinds besagt die einfach nachzulesende Etymologie des Wortes, dass wir es bei ihm mit einer ebensolchen Last wie mit der Erbsünde zu tun haben. Es ist etwas, das über das Sein des Individuums hinausgeht ; eine den Tod ignorierende Feindschaft. Ihre Träger sind überindividuelle Gruppen, sei es Familie, Stamm, Sippe, Staat, Konfession oder Kultur. Die einfache feindliche Gesinnung mag affektiv bestimmt sein, von Mal zu Mal auftreten, wachsen und wieder verschwinden. Nicht so die Erbfeindschaft. Sie ist beständig, der sie erbt, der Erbe der Feindschaft, ist in sie gestellt und hat eigentlich keine Möglichkeit, selbst über sein Verhalten zu entscheiden. Der klassische Fall von Geworfenheit und tragischem Konflikt. Herbort von Fritzlar bezeichnete 1212 den Teufel als den Erbfeind, den hostis sempiternus, dessen Feindschaft die Menschheit mit der Erbsünde, peccatum hereditarium, geerbt hat. Vielleicht hat Meister Herbort damit ein »geflügeltes Wort« geboren. Bezeichnenderweise tat er es in einem Epos über den Trojanerkrieg. Doch das Wort griff offensichtlich, wurde weiter verwendet und fand Nachahmer. Seit damals lag und liegt es nahe, immer dann, wenn man einen Feind als die Ausgeburt des Teufels sieht, ihn als Erbfeind zu bezeichnen. Doch es war nicht nur eine verbale Überhöhung – es war schon auch die Qualität von Feindschaft, die damit zum Ausdruck gebracht werden
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sollte. Der Teufel war es, dessen Feindschaft als so tief wurzelnd gesehen wurde, dass man ihm die Erbsünde und die Vernichtung der Christenmenschen unterstellte. Trotz der verhältnismäßig klaren Zuordnung des Herbort von Fritzlar scheint es eine Zeitlang gebraucht zu haben, ehe das Wort »Erbfeind« hof- und salonfähig geworden war. Und dabei scheint Österreich allen anderen den Rang des ersten »Erbfeinds in der Geschichte« streitig zu machen. Denn das »Wörterbuch der Schweizerischen Sprache« von 1881 belegt die viel zu wenig bekannte Tatsache, dass den Eidgenossen bis zum Vertrag der »Ewigen Richtung« 1474 ein einziger als »Erbfeind« galt, nämlich Österreich. Damit ergibt sich eine erste über die literarische Verwendung weit hinausgehende konkrete Zuschreibung, wobei freilich noch mehr vom Erbe die Rede war als vom Teufel und vom Bösen an sich. Der Schweizer Historiker Adolf Gasser schrieb denn auch in seiner Arbeit »Ewige Richtung und Burgunderkriege« : »Karls [des Kühnen] Defensivbündnis mit dem österreichischen Erbfeind war für die Schweiz nicht nur eine Existenzbedrohung.«, und : »Schon kleinere Übergriffe seitens des Erbfeinds und seiner Ritterschaft erzeugten im damaligen Schweizervolk wilde Kriegslust.« Das »Schweizerische Wörterbuch« erläutert denn auch, dass Österreich deshalb Erbfeind war, »indem die Feindschaft vorher nie definitiv beseitigt, sondern mit temporären ›Frieden‹ von einer Generation an die andere vererbt wurde.« Doch eigentlich war das ja einer jener regionalen und fast familiären Konflikte, wie sie uns immer wieder begegnen und gleichsam alltäglich sind, denn schließlich war die Auseinandersetzung zwischen Habsburgern und Schweizern der Kampf eines Schweizer Geschlechts um seine Stammlande und das Angrenzende und gegen die ebenso Alteingesessenen. Und wenn wir schon hergehen wollten, und Österreich als den ersten Erbfeind der Geschichte bezeichnen, dann wäre im inflationären Gebrauch des Wortes eine Art »Verschweizerung« der Welt zu sehen. Korrekter im Sinne des Herbort von Fritzlar und von weltgeschichtlicher Dimension war, dass das Wort vom »Erbfeind« im 15. Jahrhundert auf den Sohn des Teufels, den Türken, übertragen wurde. Und mit dieser Zuweisung, welche die Osmanen zu Erbfeinden stempelte, erlebte das Wort im 16. und 17. Jahrhundert seine Hochblüte. Das verstand man denn auch in Österreich nur zu gut. Dazu trug hauptsächlich bei, dass sich die katholische wie die evangelischen Kirchen des »Erbfeinds« annahmen und ihn solcherart zu einem ideologischen Stereotyp werden ließen. Die theologische Definition war dabei verhältnismäßig einfach. Nehmen wir nur Martin Luthers »Heerpredigt wider den Türcken« aus dem Jahr 1529 her, die dann Eingang in den dritten Teil des »Kriegsbuchs« von Leonhard Fronsperger, gen. Frundsberg fand : »So stehet ja auch Apocal[ypse] 20, dass der Gog und Magog solle durchs Fewer vom Himmel verzehrt werden … Nun ist kein zweiffel, Gog sei der Türck, der aus dem Lande Gog oder Tattern kommen ist in Asiam, wie die Historien beweisen.« Aber letztlich, so Luther, hätte das Böse zweierlei Gestalt : »Kommen wir zum Türcken, so fahren wir zum Teiffel,
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bleiben wir unter dem Bapst, so fallen wir in die Helle, eitel Teuffel auff beyden seiten und allenthalben.« Erbfeinde, gewissermaßen. Sehr ähnlich liest sich’s in einer Flugschrift aus der Zeit Rudolfs II. 1584 : »Herr Jhesu Christe steh uns bey / Mach uns von Bapst und Türcken frey / Die dich verfolgen und dein Volck / Kom bald zu uns in deiner Wolck«. Doch diese propagandistischen Höhenflüge waren nicht sehr weit verbreitet, und eigentlich verbot es sich, eine Gefahr, die ja letztlich der gesamten Christenheit drohte, zu billiger Polemik zu nutzen. Daher blieben die theologischen Streitschriften weitgehend »Erb-feindfrei«. Während man anderswo in Flugschriften mit der Wortkeule zuschlug : »Das der Türk jetzt zu dieser Frist / der allen christen erbfeind ist«, hieß es beispielsweise 1569. Jenseits der religiösen Polemik formulierte dann Leonhard Fronsperger in seinem »Kriegsbuch« was nottat, um den Erbfeind zu bekämpfen. Er berief sich in den auf die Türken gemünzten Teilen jedoch nicht nur auf die Bibel, sondern auch auf jegliche militärische Kapazität, von der Antike bis in seine Gegenwart, in der von freilich nicht genannten »Kriegsverständigen« zu Zeiten Kaiser Maximilians I. dem König von Spanien geraten worden sein soll, die Türken entweder in Österreich oder in Italien zu schlagen oder selbst gegen die Türkei vorzudringen : »Derwegen so sehen die jenigen, welche die Handlung etwas mehr verstanden, für rathsam, nutz und gut an, dass kein gewisser Victorien wider solchen Erbfeind zu hoffen were … als wann wir unser Pferdt an seinen Zaun bünden undt ein Zug gegen ihm in sein Landt zur handt nemen.« Da man sich aber offenbar doch nicht nur auf das militärische Genie und die erlernbare Kriegskunst verlassen wollte, schloss Fronsperger im dritten Teil seines »Kriegsbuchs« auch gleich ein paar »Türcken Gebett wider den Ertz und Erbfeind Christlichs Bluts und Namens« an. Zwischen 1660 und 1690 ist »Erbfeind« vor allem in den Flugschriften ein häufig gebrauchtes Synonym ; da war man sich seiner sicher, und es brach die eigentliche literarische Zeit des Wortes an. Natürlich konnte auch Abraham a Sancta Clara daran nicht vorübergehen : »Auf auf Ihr Christen ! … Was hilft es, ganze Kriegsheere zusammenzurotten und die Sünden nicht auszurotten ? Wissen wir nicht, dass der Türk und dergleichen Krieg Geißeln Gottes sind ? Wer hat den Türken, diesen Erbfeind, gezogen in Asien, in Europa, in Ungarn ? Niemand anderer als die Sünd : Nach dem S im ABC folgt das T, nach der Sünd folgt der Türk.« Als Kampfwort war »Erbfeind« weit verbreitet. Es war plakativ, und man griff nach diesem Wort in nachdrücklichen Fällen wie zu einer Schlagwaffe. Die Wortkeule erlebte wahre Höhenflüge : »Wahrhafte Beschreybung des glücklichen friedensreichen Waffensiegs, so die Christenheit hat an dem türkischen Erbfeind«, titelte ein 1571 erschienenes Traktätchen. »Kurze und warhafftige Anzeigung durch was Mittel man den Erbfeind, den Türken … bekriegen soll«, hieß es im Jahr 1600. Ähnlich formulierte
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dann Joh. Christoph Wagner, 1685 : »Beschreibung, was seit dem Augusto des verwichenen Jahrs 1685 gegen den Erbfeind Denkwürdiges verrichtet worden.« Dann, nach dem Sieg über die Türken, machte sich der »Erbfeind« auch gut in einem Testament wie dem sogenannten »Merkwürdigen Testament Friedrich Wilhelms des Großen, wo es heißt »der Erbfeind der ganzen Christenheit, der Türkische blutdürstige Fürst, erzittert bei meinem Namen.« Abseits der mitunter billigen Propaganda war man sich der prinzipiellen Gegnerschaft durchaus bewusst, vermied jedoch die deftige Ausdrucksweise und das Plakative. Hier wurde dann von »dem« Türken und nicht vom Erbfeind gesprochen. Und es ist wohl nicht nur ein Überlieferungs- oder gar Übersetzungsmangel, dass wir bei einem so beharrlichen Kämpfer für das christliche Abendland wie Raimondo Montecuccoli nie auf das Wort »Erbfeind« stoßen. Ganz im Gegenteil. In seinem »Della Guerra col Turco in Ungheria« rechnet er mit den Maulhelden ab : »Diejenigen schmeicheln sich also mit einem großen Irrthume, welche von der Kriegsmacht des Türken gering sprechen. So viele Reiche, die von ihm erobert und von den Christen nicht wieder genommen wurden, so viele gewonnene Feldschlachten überführen solche Ansichten der Anmassung und Albernheit, zeigen sie uns als Einfälle von Leuten, die mit der Zunge statt mit dem Degen fechten und den Feind mit hochtrabenden Redensarten schlagen.« Ihm ging es offenbar nicht darum, den »Erbfeind« verbal zu besiegen, sondern ihn militärisch zu schlagen. Anklänge an »den Türken« als den Erbfeind schlechthin, finden sich noch bis ins 19. Jahrhundert. Ja, in Augsburg blies ein Autor sogar noch 1831 in dieses eingefrorene Posthorn, wenn er in seiner »Mahnenden Stimme des deutschen Vaterlandes an seine Bewohner« von den Türken noch immer als »Erbfeind der Christenheit« spricht. Als das geschrieben wurde, gab es aber schon längst einen neuen Erbfeind. Genauer gesagt war es aber ein alter Bekannter. Kaiser Maximilian I. hatte schon 1513 von den Franzosen als »dem Erbfeind, der gegen den Rhein steht…« gesprochen. Und damit war ein abermals sehr haltbarer Bezug geschaffen worden. Eine andere Art von Teufel. Vielleicht spielte gerade bei Maximilians Anwendung eine Rolle, dass er das Wort auf Österreich und unter Umständen auf sich selbst gemünzt aus dem Schweizerischen kannte. Auch im Westen gab es den ererbten Feind, jenen nämlich, der mit dem Burgundererbe ins Spiel kam. Und gerade die Franzosen wurden zum Inbegriff des Bösen, Gefährlichen und Schlechten. Denn es ließ sich ja unschwer vom Elsaß und vom Rhein auf das Ganze überleiten, wenn es galt, Frankreich zu brandmarken. Denn Frankreich wurde ja auch wegen seiner moralischen Verworfenheit und der revolutionären Ausstrahlung in die Nähe des Teufels gerückt. Ludwig XIV. aktualisierte den alten Konflikt, und schließlich schaffte das revolutionäre Frankreich gewissermaßen den Durchbruch, so dass man auch und vor allem in den Franzosen »Erbfeinde« sehen konnte. Aber zunächst galt auch hier
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wie im Fall der Türken, dass ein anderes Vokabular schlagend wurde. Napoleon war der Erzfeind, der Todfeind, oder für Heinrich von Kleist »ein der Hölle entstiegener Vatermördergeist«. Diesmal war man in Österreich begrifflich etwas hintennach, oder aber man nahm sich das mahnende Wort von Kaiser Franz I. zu Herzen, der gefordert hatte, man möge im literarischen Kampf »alle leidenschaftlichen Ausdrücke« vermeiden. Viel wichtiger schien es denn auch, das Lied »Österreich über alles« zu singen. Da legte sich der »Rheinische Merkur« wenig später in den Befreiungskriegen doch ganz anders ins Zeug, bezeichnete Napoleon als Antichrist, als zügellosen Menschenhasser, Verkörperung des bösen Prinzips usw. Um die Dauerhaftigkeit der durch Napoleon verkörperten Feindschaft besonders zu unterstreichen, wurde er auch »ein zweiter Ludwig XIV.« genannt. Und um einen dritten französischen Bösling zu verhindern, sollte man wachsam bleiben. Also reimte Friedlieb Wilsing 1816 für seine »Volks-Weihnacht und Bergfeuerrede« : »In Deutschland soll jeder für alle stehn / Und geck dem Erbfeind ins Auge sehn / Und errungenes Gut nicht verscherzen./ Und wenn der Erbfeind einst wieder erwacht, / Unser Feldgeschrey sei : die Leipziger Schlacht !« Frankreich als Erbfeind zu bezeichnen, wurde schließlich eine deutsche Selbstverständlichkeit. Einer derjenigen, der den Begriff am nachhaltigsten verschob, war Friedrich Ludwig Jahn, der 1833 in seinem »Merken zum deutschen Volkstum« schrieb : »Der welsche Erbfeind hat durch seine vergiftete Mordaxt unserer tausendjährigen Irmineiche die Krone heruntergeschlagen.« Im selben Buch widmet er einen ganzen Abschnitt dem Erbfeind und gipfelt in dem zwingenden Satz : »Am ersten tausendjährigen Reich haben sich wettkriegend und -trügend versucht Italiener, Britten, Dänen, Schweden, Ungarn und Polen. Doch der Name Erbfeind gebührt vor allem den Franzosen. Jahrhundertelang haben diese Verschmitzten und Beschwatzten die unselige Kunst geübt, uns zu verstricken und zu umgarnen.« Und in dieser etwas seichten Umgebung reimte auch Johann Wolfgang von Goethe : »Was auch der Pfaffe sinnt und schleicht / der Prediger steht zur Wache / und dass der Erbfeind nichts erreicht, / ist aller Deutschen Sache.« Es waren vielfach die Kinder der alten Befreiungskrieger, die jenen Feind, gegen den die Väter gekämpft hatten, schlichtweg Erbfeind nannten, und das immer dann, wenn sich die nationalistischen Anwandlungen austobten. Gelegenheiten dazu boten sich gleich mehrfach, vor allem im Umfeld des deutsch-französischen Krieges 1870/71. Da schrieb dann etwa der in Frankfurt am Main lehrende Professor Johannes Janssen in seinem Traktätchen »Frankreich’s Rheingelüste und deutsch-feindliche Politik« 1861 gleich einleitend, dass Frankreich »bereits im elften Jahrhundert bei uns als Erbfeind des deutschen Reiches betrachtet ward.« Und in dem Kriegslied »Dem Erbfeind gilt der kühne Ritt«, hieß es : »Auf, mein Deutschland … / keine Zeit ist zu verlieren, / Schlägt der Erbfeind an das Schwert.«
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Was den Deutschen die Franzosen, waren den Österreichern die Italiener. Allerdings ließ sich da nicht vergleichbar weit zurückgreifen, und was die Anwendungsmöglichkeiten anlangt, scheint die Sache durchaus »unentschieden« zu stehen. Es war denn auch ein italienischer Schriftsteller, der wie selbstverständlich formulierte : »Um leben, um gedeihen zu können, ist es nötig, sich jemandem entgegenzustellen : Jedes Volk braucht seinen Erbfeind.« Italien und Österreich pflegten ihre Erbfeindschaft mit Inbrunst, eine Feindschaft, die Italien wahrscheinlich nötiger hatte als Österreich, denn sie wurde zu einem wesentlichen Instrument des Risorgimento und der Unerlöstheit, wo man auch eine Ersatzreligion suchte. Claus Gatterer zitiert in seinem Buch über die Erbfeindschaft Italiens und Österreichs den Triestiner Scipio Slataper, der die Sache recht einfach definierte : »Seit den Tagen Mazzinis ist Österreich der Gegenpol unserer Seele, der Teufel unserer Gottheit.« Damit war der Erbfeind wieder dort, wo er hingehörte. In der Terminologie Österreichs kam mit Rücksicht auf Italien »Erbfeind« jedoch zunächst so gut wie nicht vor. Italien war »perfid«, doch offenbar mochte man ihm die Qualität eines Erbfeinds nicht so einfach zugestehen. Ebenso wenig wie den »Russen und ähnlichem Ungeziefer«, wie es im Ersten Weltkrieg so schön hieß. Dass man in Livland das Moskowiterreich zu den Erbfeinden gerückt hatte, fiel noch in die Zeit der weit verbreiteten und nicht ordentlich reflektierten begrifflichen Anwendungen, wenn es in einer Rostocker Chronik 1528 geheißen hatte, dass die Moskowiter »allent wat de armen lüde vor dem Erffiende vorhelet hadden, henweg genamen«. Für die Liste der Erbfeinde lässt sich aber zumindest festhalten : Auch die Russen waren jemandem Erbfeind. Und die Polen hätten durchaus ein Lied davon singen können – damals und später auch. Letztlich gilt das Wort von den »Feinden überall«. Und es wird wohl immer wieder vorgekommen sein, dass man im anderen die Verkörperung des Bösen und damit den Erbfeind schlechthin zu erblicken meinte. Jeder einzelne konnte sich bedroht fühlen, denn die Welt wimmelte ja immer von Teufeln, die da wie in Ludwig Anzengrubers »Meineidbauer« eine tödliche Bedrohung darstellten : »Du verfluchter Erbfeind … Gehe ! Was steigst denn grau aus’m Boden auf, alter Erbfeind, warum nit in deiner Leiblivree – schwarz, ganz schwarz«, lässt er den Bauern Mathias Ferner knapp vor dessen Hinscheiden sagen. Als man während des Ersten Weltkriegs erstmals ausgiebiger über »Erbfeinde« nachzudenken begann, war die Auswahl scheinbar groß. Allein für Österreich-Ungarn fühlten sich letztlich 83 Feindstaaten zuständig. Für das Deutsche Reich waren es noch ein paar mehr. Doch als dann einer herging, und England als »Erbfeind« bezeichnete, wurde das als unpassend abgelehnt. Denn, so wurde argumentiert : »Erbfeind ist eine Art Ehrentitel, der hart erworben ist ; er kann nicht verliehen werden, sondern will durch langen Kampf errungen sein.« – Da könnt’ doch jeder kommen !
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Historiker sind praktizierende Mundräuber. Auch ich gehöre zu dieser Kategorie, will mich aber keinem Plagiatsvorwurf aussetzen und gleich bekennen : Das Zitat »Warum Krieg ?« ist der Titel eines veröffentlichten Briefwechsels von Albert Einstein und Sigmund Freud aus dem Jahr 1932. Die Korrespondenz war dem Völkerbund eine eigene Publikation wert. Manches an den damaligen Gedankengängen der beiden Geistesgrößen ist mittlerweile sicherlich überholt, doch das Grundsätzliche und nicht zuletzt die anschließenden Überlegungen sind auch gegenwärtig aktuell. Warum Krieg ? Einstein fand auf die Frage, ob es eine Möglichkeit gäbe, »die psychische Entwicklung des Menschen so zu leiten, dass sie den Psychosen des Hasses und des Vernichtens gegenüber widerstandsfähiger« würde, keine Antwort und hoffte, Freud hätte eine Erklärung. Doch dessen zentrale Überlegung, alles wäre auf den Aggressionstrieb zurückzuführen, war zwar naheliegend aber letztlich unpräzis. Egal um welchen Kontinent es sich bei allen diesbezüglichen Überlegungen handelte, und um welche Zeitepoche, ließ sich letztlich nur feststellen, dass Krieg die Geschichte der Menschheit begleitete. Einstein wie Freud waren denn auch ratlos, wie sie sich zum einen zum Pazifismus bekennen und anderseits die Realitäten akzeptieren sollten. Und wahrscheinlich hätten sie ihre Korrespondenz unendlich lange weiterführen können, wenn sie diese um historische Beispiele angereichert hätten. 14 Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und vor dem Hintergrund einer denkbar reichhaltigen europäischen Kriegsgeschichte wäre das zweifellos ein Leichtes gewesen. Eroberungskriege, Revanchekriege, Religionskriege, Bestandskriege, Bündniskriege, Bürgerkriege und ein Dutzend anderer Formen kriegerischer Auseinandersetzung boten einen ungeheuren Anschauungsunterricht. Vielleicht ließen sie sich sogar auf ein Grundmuster zurückführen, das als »gerechter Krieg« in vielerlei Gestalt auftrat. Die Römer wollten ihr Reich vergrößern, den Germanen, Parthern, Ägyptern und anderen den Schutz des Imperiums und die »Pax Romana« angedeihen lassen, sie zu diesem Zweck unterwerfen und nebstbei Nutzen aus den eroberten Gebieten ziehen. Das sollte wohl gerecht sein. Anfang des 5. Jahrhunderts stand auch der Heilige Augustinus in dieser Tradition, wenn er den Zweck des Krieges damit definierte, dass damit ein gerechter Frieden erreicht werden sollte. Fürsten, Könige und Kaiser waren nur zu gerne bereit, der Forderung des Heiligen auf ihre Weise zu folgen. Und die europäischen Kolonialmächte des 19. Jahrhundert handelten ähnlich. Der Reichtum des einen weckte den Neid der anderen und mündeten abermals in Eroberungskriegen. Irgendwann einmal verkehrten sich die Vorzeichen und mündeten in Befreiungskriegen. Alle Kriegführenden sahen ihr Vorgehen als gerecht an und rechtfertigten sich entsprechend. Dass dabei gelogen und die Wahrheit zurechtgebogen wurde, gehörte, scheint’s, ganz einfach dazu. Wenn es nicht anders ging, wurden Hilfeersuchen ei-
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ner »unterdrückten« Bevölkerung« geltend gemacht, wie 1939 im Fall des deutschen Überfalls auf Polen ; wurde jemand bezichtigt, zuerst geschossen zu haben, wie im Fall Österreich-Ungarns 1914 mit dem Gefecht von Temes-Kubin ; wurde mit der unzulässigen Existenz von Waffen und einer aggressiven Haltung, und wenn einem gar nichts anderes mehr einfallen wollte, mit einer Nazi-Führung argumentiert, wie 2022 im Fall der Ukraine. Letztlich blieb sich’s gleich. Jene, die über andere herfallen und Macht und Einfluss in ihrem Sinn neu ordnen wollten, fanden immer Gründe, dass sie so und nicht anders handeln konnten. 1999 ging es im Kosovo um »Responsability to protect« ; 2001 in Afghanistan, und auch 2003 wurde davon gesprochen, dass es sich um eine »humanitäre Intervention« handelte. Anderswo und zu anderen Zeiten wurde die Rechtfertigung von Kriegen aus dem göttlichen Recht abgeleitet, und auch jene, die »Mehrer des Reichs« sein wollten, wie es im Großen Titel der römisch-deutschen Kaiser bis zum habsburgischen Kaiser Franz II. mit der lateinischen Formel »Semper Augustus« zum Ausdruck kam, konnten sich auf ein höheres Ziel berufen, als dass es ihnen lediglich um Machtgewinn und Machterhalt gegangen wäre. Sie waren ja Kaiser von Gottes Gnaden. Auch andere beriefen sich auf Gott, um ihre Absichten zu legitimieren und den »Allmächtigen« um die Segnung der eigenen Waffen zu bitten. Worte wie »Angriff« und »Krieg« sollten dabei notfalls unerwähnt bleiben. Das sah auch Patriarch Kyrill I. von Moskau so und segnete unlängst seinen Staatspräsidenten. Von allem, das da nach ihm kommen sollte, konnte Freud natürlich nichts wissen, als er sich in einem letzten langen Brief an Einstein wandte und sich dafür entschuldigte, dass er sich zwar als »militanten Pazifisten« bezeichnete, gleichzeitig aber die Häufung von Kriegen und auch die Notwendigkeit kriegerischer Auseinandersetzungen zu argumentieren suchte. War nicht ein Verteidigungskrieg ein gerechter ? Sollte man sich nicht gleichzeitig als Pazifisten bezeichnen und die Notwendigkeit, sich zu wehren anerkennen können ? Ein paar Jahrzehnte davor war es Bertha von Suttner insofern ähnlich ergangen, als sie gemeint hatte, die europäische Friedensordnung und vor allem die kulturelle Entwicklung des Kontinents würden Kriege unmöglich gemacht haben. Stattdessen musste sie 1912 zur Kenntnis nehmen, dass es Krieg in Europa gab. Und um das zu erklären, lieferte sie die denkbar fragwürdige Interpretation, Serben, Bulgaren, Griechen, Osmanen und alle anderen Kriegführenden würden eben noch keinen entsprechend hohen Entwicklungsgrad ihrer Kultur aufweisen. Daher taten sie das, von dem die Pazifisten gemeint hatten, es wäre unmöglich, zumindest aber überholt. Zwei Jahre später und fünf Wochen nach dem Tod der Frau von Suttner entfesselte Österreich-Ungarn den Ersten Weltkrieg, einen »frischen, fröhlichen Krieg«, wie ihn sich Herr Heinrich Leo gewünscht hatte : »Gott erlöse uns von der europäischen VölkerFäulnis« durch einen Krieg, der » das skrophulöse Gesindel zertritt.« Von einem Tag auf den anderen galt plötzlich nicht mehr der Schlachtruf der »Friedensbertha« : »Die
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Waffen nieder !«, sondern das Epigramm des Felix Dahn : »Die Waffen hoch, / das Schwert ist Mannes Eigen. / Wo Männer fechten, / hat das Weib zu schweigen.« Freud sah sich zweifellos der Formel »Nie wieder Krieg« verpflichtet und misstraute wohl auch den Träumen des amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson, der gemeint hatte, der Kriegseintritt der USA würde den Ersten Weltkrieg zum letzten aller Krieg machen. Lenin und die Bolschewiken hatten ähnlich argumentiert und ihr Modell zur Nachahmung empfohlen. Doch wer immer – wie Kant – den Traum vom »ewigen Frieden« träumte, wurde irgendwann einmal jäh aufgeschreckt und sah sich plötzlich in einer Welt von Kriegen. Seit 1945 gab es weltweit an die 250 Kriege, davon mehr als die Hälfte innerstaatliche Konflikte, die um nichts weniger gewaltsam und um nichts weniger menschenverachtend waren als die zwischenstaatlichen Konflikte. Wie viele Menschen dabei ihr Leben verloren, wie viele Kriegsverbrechen begangen wurden, wird dabei eines der großen Geheimnisse bleiben. Waren es Millionen, zig Millionen oder mehr ? Einstein und Freud konnten nur das Geschehene zum Maßstab nehmen, konnten analysieren und sich fragen »Warum Krieg ?« Die Antworten befriedigten beide nicht. Carl von Clausewitz hatte noch gemeint, Krieg wäre nur die Fortsetzung des politischen Verkehrs mit anderen Mitteln. Nach 1945 fragte man sich aber zurecht : Konnte Politik tatsächlich so erschreckend ausweglos sein, um den Einsatz von Massenvernichtungsmitteln und gegenseitige Zerstörung zu rechtfertigen ? Sogar da ließ sich relativieren, zumindest aber ließen sich Beispiele nennen : War nicht der Gebrauch der »todbringenden« Armbrust vom zweiten Laterankonzil 1139 als »unmenschlich« geächtet worden ? Hatte nicht die Haager Landkriegsordnung 1899 den Gebrauch von Giftgas verboten ? Keiner hatte sich daran gehalten. War das Beispiel des einen wirklich Entschuldigung für das Handeln des anderen ? Zurück zu Freud : »Warum empören wir uns so sehr gegen den Krieg ?« fragte er Einstein rhetorisch. »Warum nehmen wir ihn nicht hin wie eine andere der vielen peinlichen Notlagen des Lebens«, warum verbannen wir ihn aus unserem Denken und klammern ihn schon als Möglichkeit aus ? Ist er nicht unter bestimmten Umständen nötig ? Sollte womöglich die »Tötung des Feindes« tatsächlich einer »triebhaften Neigung« geschuldet sein ? Und auf die Frage Einsteins, wann die Menschen friedfertiger werden würden, wusste auch Freud nur zu antworten : Im Verlauf der Evolution. Nur wissen wir nicht, ob er damit Tausende, Zehntausende oder Millionen Jahre meinte. Wenig tröstlich also. Wissen Sie eine Antwort ?
Anmerkungen
Von Sarajevo bis Padua, 1914 – 1918 1 Ludwig Hesshaimer. Miniaturen aus der Monarchie. Ein k. u. k. Offizier erzählt mit dem Zeichenstift, hg. Okky Offerhaus, Wien 1992, 93f. 2 Alphons Bernhard, Die öst.-ung. Kavallerie. Ein Nachruf. Sonderdruck Militärwissenschaftliche Mitteilungen (1931). 3 Genaue Zahlen waren nie zu eruieren. 1914 gab es in Österreich-Ungarn an die fünf Millionen Pferde. Eine Million dürfte assentiert worden sein. Noch einmal so viele wurden im Lauf des Kriegs eingezogen. Vgl. dazu Tibor Balla, A Magyar Királyi Honvéd Lovasság 1868 – 1914, Budapest 2000, 169. Die Pferdeverluste reichten zahlenmäßig an die Menschenverluste der k. u. k. Armee von 1,2 Millionen heran. Als Anhalt und zum Vergleich : Rudolf Rautschka, Studien zum Pferd im Militärdienst, geisteswiss. Dissertation Universität Wien (1999), bes. 175 – 203. Die Arbeit gibt leider kaum Aufschlüsse über die Pferdegestellung in der Habsburgermonarchie während des Ersten Weltkriegs. 4 Wien 1911. 5 Bernhard, Die öst.-ung. Kavallerie, 2. 6 Georg Schreiber, Des Kaisers Reiterei. Österreichische Kavallerie in vier Jahrhunderten, Wien 1967, 278. 7 Bernhard, Die öst.-ung. Kavallerie, 10. 8 Karl Glücksmann, Das Heerwesen der österreichisch-ungarischen Monarchie, 11. Aufl., Wien 1909, 88 – 99. 9 Glücksmann, Heerwesen, 211. 10 Eduard Czegka, Die Wandlungen in der Verwendung und Organisation der Kavallerie-Divisionen während des Weltkrieges, in : Militärwissenschaftliche Mitteilungen, Jg. 1928, 1 – 22. 11 Zu dem von Mannschaften und Offizieren geführten Säbelmuster M 1904 : M. Christian Ortner, Erich Artlieb, Mit blankem Säbel. Österreichisch-ungarische Blankwaffen von 1848 bis 1918, Wien 2003, 264 – 277. 12 Auch in diesem Fall können nur analoge Angaben gemacht werden. Das deutsche Heer zählte zu Kriegsbeginn 727.000 Pferde. Rund acht Prozent des Pferdebestands entfiel auf die Kavallerie. Vgl. dazu den Aufsatz von [Fred Koch], Die deutsche Kavallerie zwischen 1914 und 1945 im umfangreichen Begleitheft zur Europameisterschaft der Springreiter, Mannheim [19]97, 230 – 233. Den Hinweis darauf verdanke ich meinen Kolleginnen und Kollegen im Militärhistorischen Museum der Bundeswehr in Dresden. 13 Die letzte Reiterschlacht der Weltgeschichte ( Jaroslawice 1914), hg. Max v. Hoen, Eugen Frh. v. Waldstätten, Zürich-Leipzig-Wien 1929. 14 Die letzte Reiterschlacht, 155. 15 Bernhard, Die österr.-ung. Kavallerie, 11.
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Quellenverzeichnis
16 Österreich – Ungarns letzter Krieg 1914 – 1918, hg. Österreichisches Bundesministerium für Landesverteidigung und Kriegsarchiv, Bd. VII, Wien 1938, 60f. 17 Bernhard, Die österr.-ung. Kavallerie, 15. 18 Österreich – Ungarns letzter Krieg, Bd. VII, 61. 19 Ebenda, 60. 20 Manfried Rauchensteiner, Josef Broukal, Der Erste Weltkrieg und das Ende der Habsburgermonarchie. In aller Kürze, Wien-Köln-Weimar 2015, 263 – 266. 21 Im zeitlichen Umfeld von 2014 gab es eine wahre Flut von Publikationen, die sich mit der Vorgeschichte und Geschichte des Ersten Weltkriegs beschäftigten. Es kann hier nicht einmal auf knappstem Raum eine Auflistung der wichtigsten Veröffentlichungen erfolgen. Für Österreich-Ungarn, das in diesem Beitrag verständlicherweise im Mittelpunkt steht, soll auf eine der letzten großen Arbeiten hingewiesen werden : Die Habsburgermonarchie und der Erste Weltkrieg, 2 Teilbände. Teil I : Vom Balkankonflikt zum Weltkrieg ; Teil II : Vom Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn zum neuen Europa der Nationalstaaten (= Die Habsburgermonarchie 1848 – 1918, Bände XI/1 und /2, hg. Helmut Rumpler im Auftrag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften), Wien 2016. Von den neueren Biographien seien genannt : Karl und Maria Vocelka, Franz Joseph I. Kaiser von Österreich und König von Ungarn, München 2015 ; Gregor Antoličić (ur.), Franc Jožef, Ljubljana 2016. Die Darstellung der letzten Lebensmonate des Kaisers lässt in den älteren wie jüngeren Veröffentlichungen wegen mangelnder Bereitschaft, sich mit den Quellen eingehender auseinanderzusetzen, meist sehr zu wünschen übrig. Als einzige recht zuverlässige Arbeit sei noch auf Egon Caesar Conte Corti verwiesen, Der alte Kaiser. Vom Berliner Kongress bis zu seinem Tode, Graz 1955, 462 – 471. Conte Corti konnte vor mehr als 60 Jahren das Tagebuch der Tochter Franz Josephs, der Erzherzogin Marie Valerie benützen, was infolge einer recht eigentümlichen Haltung der jetzigen Besitzerin des Tagebuchs in Wallsee nicht mehr möglich ist. 22 Manfried Rauchensteiner, Der Erste Weltkrieg und das Ende der Habsburgermonarchie 1914 – 1918, Wien-Köln-Weimar 2013, 392. 23 Über die politischen und militärischen Vorgänge im gesamten Zeitraum sowie über die Bildung der Gemeinsamen Obersten Heeresleitung informiert Rauchensteiner, Der Erste Weltkrieg, bis 638. 24 Generaloberst Conrad widersetzte sich vehement der Gemeinsamen Obersten Kriegsleitung, nannte dabei aber nicht persönliche Gründe (die sicherlich eine Rolle spielten), sondern nachvollziehbare Reichsinteressen der Habsburgermonarchie, da er eine über das Bündnis hinausgehende Unterordnung als unvereinbar mit den Bemühungen zum Erhalt der Reichseinheit sah. Dieser Aspekt wird auch in guten jüngeren Biographien zu wenig berücksichtigt. Vgl. dazu Wolfram Dornik, Des Kaisers Falke. Wirken und Nach-Wirken von Franz Conrad von Hötzendorf, Innsbruck 2013. 25 Diese bemerkenswerte Passage war in einer Denkschrift von Oberstleutnant Ulrich Baron von Stoltzenberg über eine Neuordnung Österreich-Ungarns enthalten. Vgl. dazu Imre Gonda, Über das Verhältnis Deutschlands zur österreichisch-ungarischen Monarchie in den Kriegsjahren 1916 bis 1917, in : Österreich-Ungarn in der Weltpolitik 1900 bis 1918, hg. Fritz Klein, Berlin 1965, 296. 26 Der Tagesablauf des Kaisers wurde von dessen Flügeladjutanten, Oberst Carl Ritter von Catinelli, Oberst Heinrich Graf Hoyos von Gutenstein und Oberst Adalbert von Spanyik, minutiös festgehalten. Aus den Tagesjournalen geht nicht nur die Abfolge der Besuche, sondern auch die Dauer der Audienzen hervor. Die Tagesjournale finden sich im Haus-, Hof- und Staatsarchiv, Wien, Cabinetts Archiv, hier Tagebuch Nr. 62, 1. 8. bis 21. 11. 1916. 27 Graf Stürgkh hatte zwar immer wieder versucht, den Forderungen des k. u. k. Armeeoberkommandos nach Ausweitung der Militärgerichtsbarkeit und Durchsetzung eines Kriegsabsolutismus entgegen zu treten, wurde aber nichtsdestoweniger für die Einschränkung der bürgerlichen Freiheiten und die rigorose Umsetzung der »Kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsverordnung« verantwortlich gemacht. Letzt-
Anmerkungen
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lich tat aber gerade Graf Stürgkh nichts anderes, als den kaiserlichen Willen bedingungslos umzusetzen. Seine Ermordung war zwar ein Schock, löste aber keinesfalls Entsetzen aus. 28 Conrad von Hötzendorf nannte in diesem Zusammenhang den österreichischen Landesverteidigungsminister General Friedrich Ritter von Georgi, General Aloys Fürst Schönburg-Hartenstein, General Alfred Krauß und Feldmarschallleutnant Carl Freiherr von Bardolff. 29 Eine Kurzbiografie in : https://de.wikipedia.org/wiki/Ernest_von_Koerber#cite_ref-2. Ein Nachruf auf Koerber, der 1919 in Baden bei Wien verstarb, in : Badener Zeitung, 8. März 1919, 2. Biografische Hinweise auch bei Hinrichs Eibe, Die Wirtschaftspolitik Ernest von Koerbers als Integrationsfaktor für die Nationalitäten des Habsburgerreiches (1900 – 1904), Dissertation Universität Wien (1998). 30 Die Szene so wie sie ihm von Ernest von Koerber geschildert worden war, bei Josef Redlich, Schicksalsjahre Österreichs 1908 – 1919. Die Erinnerungen und Tagebücher Josef Redlichs, hg. Fritz Fellner und Doris A. Corradini, Bd.2, Wien-Köln-Weimar 2011, 239, 8. Dezember 1916. 31 Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien, Nachlass Leopold Graf Berchtold, Tagebücher 11 bis 31, hier Tagebuch Nr. 12, Eintragung 9. November 1916. 32 Eintragungen in den Tagesjournalen der Flügeladjutanten, 14.- 16. November. 33 Tagebuch Berchtold Nr. 12, Eintragung zum 14. November. 34 Ebenda, 18. November. 35 Ebenda, 19. November. 36 Eine diesbezügliche Eintragung in die Tagesjournale wäre sicherlich gemacht worden. Die Flügeladjutanten hatten ja auch bis 1916 getreulich eingetragen, wenn der Kaiser in den Kammergarten gegangen war, um Frau Schratt zu treffen. Eine derartige Begegnung ist auch deshalb auszuschließen, da Erzherzogin Marie Valerie während der letzten Lebenstage Franz Joseps ständig um ihren Vater war und einen Besuchswunsch sicherlich zu verhindern gewusst hätte. Sie hasste Frau Schratt. 37 Joseph Roth, Radetzkymarsch, rororo Tb, Köln 1967, 5f. 38 Redlich, Schicksalsjahre, Bd.2, 233, 26. November 1916. 39 In einer Karikatur war der aufgebahrte Leichnam Franz Josephs zu sehen und darunter stand »Sans regrets«. 40 Rauchensteiner, Der Erste Weltkrieg, 348f. 41 Das Testament des Kaisers im Haus-, Hof und Staatarchiv, Familienurkunden IIIB, Nr. 225 (1916 – 1919). Der »Führer« und die Folgen 42 Zum Loyalitäts-Entzug vgl. Konrad Repgen, Katholizismus und Nationalsozialismus. Zeitgeschichtliche Interpretationen und Probleme, Köln 1983, 10 f. 43 Peter Steinbach, Der militärische Widerstand und seine Beziehungen zu den zivilen Gruppierungen des Widerstandes, in : Aufstand des Gewissens. Militärischer Widerstand gegen Hitler und das NS-Regime 1933 – 1945, hg. Militärgeschichtliches Forschungsamt, 3. Aufl., Herford und Bonn 1987, 238. 44 Zum Gesamtkomplex Radomir Luža, Der Widerstand in Österreich 1938 – 1945, Wien 1983. In dieser Darstellung findet sich allerdings nur sehr wenig über den militärischen Widerstand. Ebenfalls heranzuziehen sind die vom Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes seit 1975 herausgegebenen Bände »Widerstand und Verfolgung in… 1933 – 1945«. 45 Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (DÖW) Nr. 590, Carl Szokoll, Tätigkeitsbericht über die militärischen Planungen und den Einsatz von Österreichern zur Beschleunigung der Befreiung vom Nazismus. 46 Dokumentarische Beispiele für Eidverweigerung bei Manfried Rauchensteiner, Militärischer Wider-
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Anmerkungen
stand, in : Widerstand und Verfolgung in Wien 1933 – 1945, Bd. 3, Wien 1975, 399f. und Friedrich Vogl, Widerstand im Waffenrock. Österreichische Freiheitskämpfer in der Deutschen Wehrmacht 1938 – 1945 (= Materialien zur Arbeiterbewegung 7), Wien 1977, hier bes. 160 – 173. 47 Steinbach, Der militärische Widerstand, 248 f. 48 Mommsen, Widerstandsforschung und politische Kultur, 23. 49 Zur Periodisierung vgl. Klaus-Jürgen Müller, Struktur und Entwicklung der nationalkonservativen Opposition, in : Aufstand des Gewissens, 295. 50 Ebenda, 296. 51 Wolfgang Schieder, Zwei Generationen im militärischen Widerstand gegen Hitler, in : Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Die deutsche Gesellschaft und der Widerstand gegen Hitler, hg. von Jürgen Schmädeke und Peter Steinbach, 2. Aufl., München-Zürich 1986, 439. 52 Abschiedsbrief von Robert Bernardis an seine Frau Hermine in : Spiegelbild einer Verschwörung. Die Opposition gegen Hitler und der Staatsstreich vom 20. Juli 1944. Geheime Dokumente aus dem ehemaligen Reichssicherheitshauptamt, hg. von Hans-Adolf Jacobsen, Bd. 2, Stuttgart 1984, 796. 53 Der Akt mit der Bezeichnung »Chef der Heeresrüstung und Befehlshaber des Ersatzheeres, AHA Ia VIII Nr.4500/41 gKdos, Berlin 16. Oktober 1941«, Ablichtung in der Studiensammlung des Heeresgeschichtlichen Museums/Militärhistorisches Institut, MWI 1945/14 P. 54 Ebd., AHA/Ia(I) Nr.3830/gKdos, 31.7.1943. 55 Bericht Kaltenbrunners an Himmler vom 6.8. 1944, in : Spiegelbild einer Verschwörung, Bd. 1, 157 f. 56 Müller, Struktur und Entwicklung, 299. 57 Zit. nach Heinrich Fraenkel, Roger Manvell, Canaris. Spion im Widerstreit, Bern-München-Wien 1969, 119. 58 Gerd Ueberschär, Stauffenberg. Der 20. Juli 1944, Frankfurt a.M. 2004, 140. 59 Ebenda. 60 Diesbezügliche Erläuterungen verdankt der Autor Herrn Carl Szokoll, dem an dieser Stelle posthum sehr herzlich gedankt werden soll. 61 Der Begriff »Welle« bezeichnete die organisatorische Besonderheit und waffengattungsmäßige Zusammensetzung sowie Ausstattung einer Division. 62 Zu diesen Aufstellungen vgl. Burkhart Müller-Hildebrand, Das Heer 1933 – 1945, Bd. 3 : Der Zweifrontenkrieg, Frankfurt/Main 1969, 164 und Anlage 41, 235f. 63 Peter Hoffmann, Widerstand, Staatsstreich, Attentat. Der Kampf der Opposition gegen Hitler, 4. Aufl., München 1985, 473f. 64 Ebenda, 419. 65 Dazu Adolf Schärf, Österreichs Erneuerung. Das erste Jahrzehnt der Zweiten Republik, Wien 1955, 20, und Lois Weinberger, Tatsachen, Begegnungen, Gespräche. Ein Buch um Österreich, Wien 1948, 120 – 154. 66 Der Text bei Ludwig Jedlicka, Der 20. Juli 1944 in Österreich (= Das einsame Gewissen Bd.2) ,Wien 1966, 53. 67 Der Ablauf bei Jedlicka, 20. Juli ; detaillierter bei Peter Hoffmann, Widerstand, bes. 573 – 581. 68 Vortragsmanuskript Carl Szokolls für einen Vortrag vor der Landeszentrale für politische Bildung in Berlin am 16. 6. 1980. 69 Jedlicka, 20. Juli, 54. 70 Ebenda 71 Ueberschär, Stauffenberg, 173. 72 Ludwig Jedlicka, Ein unbekannter Bericht Kaltenbrunners über die Lage in Österreich im September 1944, in : Österreich in Geschichte und Literatur, Wien 1960, Nr. 2, 82 – 87, hier 84.
Anmerkungen
401 Daheim und in der Nachbarschaft
73 Thomas Pluch, Der Aufstand. Wien im Feuerschein der ungarischen Revolution, Wien 1986. 74 Reiner Eger, Krisen an Österreichs Grenzen. Das Verhalten Österreichs während des Ungarnaufstandes 1956 und der tschechoslowakischen Krise 1968. Ein Vergleich, Wien 1981. 75 So bei Norbert Sinn, Schutz der Grenzen. Der Sicherungseinsatz des Österreichischen Bundesheeres an der Staatsgrenze zu Ungarn im Oktober und November 1956, Graz 1996. 76 Norbert Schausberger, Österreich. Der Weg der Republik 1918 – 1980, Graz 1980, 156. 77 Roman Sandgruber, Norbert Loidol, Der Eiserne Vorhang. Die Geschichte – das Ende – die Mahnung, in : Der Eiserne Vorhang/A vasfüggöny, Ausstellungskatalog Heeresgeschichtliches Museum, Wien 2001, hier 30. 78 Z.B. im Untertitel von Eger, Krisen. 79 Walter Kleindel, Österreich. Daten zur Geschichte und Kultur, Wien 1978, 406. 80 Ernst Hanisch, Der lange Schatten des Staates. Österreichische Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert, Wien 1994, 448. 81 Manfried Rauchensteiner, Spätherbst 1956. Die Neutralität auf dem Prüfstand, Wien 1981. (Für diese monographische Darstellung ließen sich vergleichsweise viele Quellen heranziehen, die im Jahr der Abfassung dieser Publikation noch nicht allgemein zugänglich waren. Sie fanden ihre Ergänzung in vielen persönlichen Mitteilungen, die geeignet waren, eine faktengeschichtliche Untersuchung anzureichern und überprüfbar zu machen. In diesem Zusammenhang gilt der Dank des Autors einer ganzen Reihe von Zeitzeugen, von denen nicht mehr allzuviele leben. Die damals angelegte Studiensammlung wurde vom Verf. erweitert, mittlerweile mehrfach intensiv benützt und steht nach wie vor in der Forschungsabteilung des Heeresgeschichtlichen Museums zur Verfügung. 82 Hugo Portisch, Österreich II. Jahre des Aufbruchs. Jahre des Umbruchs, Wien 1996, Kapitel 1. 83 Josef Klaus, Macht und Ohnmacht in Österreich. Konfrontationen und Versuche, Wien 1971. 84 Bruno Kreisky, Im Strom der Politik. Erfahrungen eines Europäers, Berlin 1991. 85 Untertitel : Ein Bericht aus Österreich 1945 – 1962, Wien 1980. 86 Manfried Rauchensteiner, Staatsvertrag und bewaffnete Macht. Politik um Österreichs Heer 1945 – 1955, in : ÖMZ, 18 (1980), 196f. Der Wortlaut der Besprechung vom 2. April 1955, in dem Figl diese Formulierung wählte, abgedruckt bei Alfons Schilcher, Österreich und die Großmächte. Dokumente zur österreichischen Außenpolitik 1945 – 1955 (= Materialien zur Zeitgeschichte 2), Wien 1980, hier 279. 87 Oliver Rathkolb, Washington ruft Wien. US-Großmachtpolitik und Österreich 1953 – 1963, Wien 1997, 121. 88 BMLV Zl. 401-strgeh/III/Gz 56, 25.Juli 1956. 89 Rathkolb, Washington ruft Wien, 123. 90 Alexandr Kyrow und Béka Zselicky, Ungarnkrise 1956. Lagebeurteilung und Vorgehen der sowjetischen Führung und Armee, in : Das internationale Krisenjahr 1956. Polen, Ungarn, Suez, hg. Winfried Heinemann und Norbert Wiggershaus (= Beiträge zur Militärgeschichte, hg. Militärgeschichtliches Forschungsamt, Bd.48), München 1999, 100. 91 Lajos Gecsényi, Die Beziehungen zwischen Ungarn und Österreich 1945 – 1964, in : Der Eiserne Vor hang/A vasfüggöny, Ausstellungskatalog, a.a.O., 62. 92 Kyrow- Zselicky, Ungarnkrise, bes. 99. 93 Rathkolb, Washington ruft Wien, 84f. 94 Kreisky, Im Strom der Politik, 230. 95 Rauchensteiner, Spätherbst 1956, 26. 96 Ebenda, 33.
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Anmerkungen
97 Manfried Rauchensteiner, Die Zwei. Die Große Koalition in Österreich 1945 – 1966, Wien 1979, 340. 98 Zu den militärischen Ereignissen, vornehmlich zum Einsatz des Bundesheers Rauchensteiner, Spätherbst 1956. 99 Rauchensteiner, Die Zwei, 341. 100 Kyrow-Zselicki, Ungarnkrise, 123. 101 Manfried Rauchensteiner, Landesverteidigung und Außenpolitik. Feindliche Brüder ? In : Schild ohne Schwert. Das österreichische Bundesheer 1955 – 1970, hg. M. Rauchensteiner und W. Etschmann (= Forschungen zur Militärgeschichte 2), Graz 1991, 138. 102 Kreisky, Im Strom der Politik, 230. 103 Dimitri Wolkogonow, Die Sieben Führer. Aufstand und Untergang des Sowjetreichs, Frankfurt 2001, hier bes. der Abschnitt : Der dritte Sowjetführer, 184 – 263. 104 Rathkolb, Washington ruft Wien, 47. 105 BMLV Zl. 403-strgeh/56, in : Das Bundesheer der Zweiten Republik. Eine Dokumentation (= Schriften des Heeresgeschichtlichen Museums, Bd.9), Wien 1980, 36f. Biografisches 106 Der Hinweis in Heinz Fischer, Klemens Fürst Metternich, in : Österreichische Porträts, Salzburg 1995, 87 – 114, hier 90. 107 Heinrich Srbik, Metternich. Der Staatsmann und der Mensch, München 1925, Bd. 2, 116. 108 Ebenda, 93f. 109 Ebenda, 102. 110 Ebenda, 289. 111 Ebenda, 515. 112 Wiener Zeitung, Jg. 1859, 16. Juni , 2634f. 113 Bundesarchiv/Militärarchiv Freiburg i.Br. BW 4/848, Botschaft BRD an FüSII 4, Az 04-02-09 OES, 18.8.1978. 114 Universitätsarchive Wien und Graz, Nationale Otto Rösch, sowie Steiermärkisches Landesarchiv (StLA), Vernehmungsprotokoll der Polizeidirektion Graz, Fall Soucek-Rössner, Haftschrift vom 8.12. 1947. 115 Österreichisches Staatsarchiv, Archiv der Republik ( AdR), Landeshauptmann von Niederdonau, Pers. Akt Stamm Zl. 5477/1393, Personalblatt A s. Beilagen, hier. Heiratsurkunde vom 20. 8. 1938. 116 https://de.wikipedia.org/wiki/Otto_R %C3 %B6sch 117 https://de.wikipedia.org/wiki/Nationalpolitische_Erziehungsanstalt 118 StLA, Fall Soucek-Rössner, Haftschrift vom 8.12.1947. Für die Möglichkeit der Einsichtnahme habe ich vor allem Univ. Prof. Dr. Walter Höflechner und Univ.-Prof Dr. Alois Kernbauer sehr zu danken. 119 Ebenda. Die NS Vergangenheit von Otto Rösch wurde mehrfach thematisiert und dargestellt. Vgl. dazu Paul Lendvai, Mein Österreich. 50 Jahre hinter den Kulissen der Macht, Salzburg 2000, 131 – 139. Der Artikel stützt sich auf die Untersuchung von Maria Wirth am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien und die Unterlagen zum Fall Soucek-Rössner im Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstands. Ergänzungen sind immer noch möglich. 120 StLA Haftschrift Otto Rösch, Abschnitt II und Anhang : Abschrift Wehrstammblatt.. 121 https://de.wikipedia.org/wiki/Otto_R %C3 %B6sch. Ferner Der Spiegel 24/1970. 122 Alle Angaben über Mitgliedschaften und Zugehörigkeiten im AdR Landeshauptmann von Niederdonau, Pers.Akt Stamm-Zl. 5477/1393, Personalblatt A samt Beilagen.
Anmerkungen
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123 Anton Schimak, Karl Lamprecht, Friedrich Dettmer, Die 44. Infanterie Divison. Tagebuch der Hochund Deutschmeister, Wien 1969, 270 – 272. 124 AdR 05/LV Gesundheitsbuch Otto Rösch 1966. 125 Tagesmeldung der Heeresgruppe Süd, 1. April 1945, in : Manfried Rauchensteiner, Der Krieg in Österreich 1945 (Sonderausgabe), Graz 1999, 455. 126 StLA Haftschrift Otto Rösch. 127 Arbeiter-Zeitung 4.1.1948. 128 Briefwechsel Prader-Rösch 26.5.1964 im Nachlass (NL) Rösch, Verein für Geschichte der Arbeiterbewegung, Wien, VGA PN3/26. 129 1-strgeh/59 Information über die Kräfteverteilung und Kampfführung in den Fällen Jugoslawien, Ungarn, Ungarn und ČSSR, Westen ; 2-strgeh/60 Sowjetische Interessen an den Außenstellen des Technischen Kontrolldienstes (TKD) : in : NL Rösch VGA PN3/26. 130 Das dürfte aber wohl ein eher schleichender Vorgang gewesen sein, denn noch im Herbst 1961 bekam Rösch die alarmierenden Meldungen über Veränderungen innerhalb der Westgruppe des WarschauerPakts im Gefolge der Berlinkrise zur Kenntnis. In einem streng geheim Bericht an den Ministerrat (Zl 410-strgeh/Na/61) informierte der Generaltruppeninspektor, dass die in Ostdeutschland stationierte Heeresgruppe um 3 Panzer Divisionen verstärkt worden ist und auch sonst im Warschauer Pakt große Verschiebungen stattfinden. 71.000 Mitglieder der Freien Deutschen Jugend wären gezwungen worden, in die Volksarmee einzutreten. In der Tschechoslowakei wurden ungewöhnlich starke Kontrollen der Eisenbahnen und des Straßenverkehrs festgestellt. Das Hauptaugenmerk in Österreich galt allerdings Ungarn, wo umfangreiche sowjetische Manöver bis an die österreichische Grenze beobachtet wurden.. Fussenegger bzw. Schleinzer leiteten daraus Forderungen an die Regierung hinsichtlich einer sofortigen Verstärkung des Bundesheers ab. Außerdem wurde vermutet, dass die Abriegelung Berlins zur Folge hätte, dass Wien nachrichtendienstlich wichtiger würde. Es war ein Sturm im Wasserglas. 131 Rauchensteiner, Sandkasten und Übungsräume. Operative Annahmen des Bundesheers 1955 – 1979, in : Zwischen den Blöcken. NATO, Warschauer Pakt und Österreich, hg. Manfried Rauchensteiner, Wien-Köln-Weimar 2010, 259. 132 Vgl. dazu die Biografie Karl Schleinzers in ÖMZ 2/2020. 133 Ein diesbezügliches Plakat aus Purkersdorf vom 6. 10. 1964 in der Österreichischen Nationalbibliothek PLA16640375 ; 1964/10b. 134 AdR Pers Akt Otto Rösch, Dienstbeurteilung vom 29. 7.1966, gez. Fahringer Mjr, 135 Vgl. dazu Peter Corrieri, Die Pläne des Staatssekretärs Otto Rösch. Wehrdienst-Verkürzungs-Ideen 1956 – 1971, Wien 2019. Für zusätzliche Erläuterungen bin ich Gen. i. R. Dr. Corrieri sehr dankbar. 136 Vgl. dazu ÖMZ 2/2021. 137 Freundliche Mitteilung von BM a.D. Dr. Heinrich Neisser. 138 Bericht Oberst von Plate, Bundesarchiv/Militärarchiv Freiburg i.Br. Bw 4/848, Botschaft BRD an FüSII 4, Az 04-02-09 OES. 139 Bundesarchiv/Militärarchiv Freiburg i.Br., DVW 1/94242, Ministerium für Nationale Verteidigung, Informationsmitteilung, Vertrauliche Verschlusssache Nr. 19/82, 19.3.1982. 140 Bundesarchiv/Militärarchiv Freiburg i.Br., BW 4/2510, Militärattachéstab Wien, Sachakte. 141 Die Urne wurde am 20.November. nach Stockerau überführt und dort auf dem Städtischen Friedhof im Familiengrab (Grp 43, Nr. 16) beigesetzt. Das Grab hat den Status eines Ehrengrabs. Für die genauen Hinweise bin ich HR. i.R. Dr. Willibald Rosner sehr verbunden.
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Anmerkungen
Vom Sammeln und Ausstellen 142 Alice Strobl, Das k. k. Waffenmuseum im Arsenal. Der Bau und seine künstlerische Ausschmückung (= Schriften des Heeresgeschichtlichen Museums Bd.1), Graz-Köln 1961, 18. 143 Ebenda, 25. 144 Zur Beschreibung des Gebäudes auch Johann Christoph Allmayer-Beck, Das Heeresgeschichtliche Museum Wien, Bd.1 : Das Museum. Die Repräsentationsräume, Salzburg 1981. 145 Strobl, Das k. k. Waffenmuseum, 26. 146 Zum künstlerischen Programm der Innenräume vgl. Eva Klingenstein, Ein k.(u.)k. Symbol nationaler Identität : Das Freskenprogramm im Waffenmuseum des Wiener Arsenals, Diplomarbeit Univ. Wien (1995). 147 Einleitung von Carl Hinrichs zu Friedrich Meinecke, Die Entstehung des Historismus, München 1965, VII. 148 J. Gustaf Droysen, Geschichte der preußischen Politik, 14 Bde, Leipzig 1855 – 1886. 149 Friedrich Meinecke, Die Entstehung des Historismus, hg. von Carl Hinrichs, München 1965, 2. 150 Strobl, Das k. k. Waffenmuseum, 65. 151 Friedrich Jaeger, Jörn Rüsen, Geschichte des Historismus. Eine Einführung, München 1992, 88. 152 Günther Dirrheimer, Das k. u. k. Heeresmuseum von 1885 – 1903. Vorgeschichte, Aufbau und Organisation von den Anfängen bis zum Abschluss der Ära Wilhelm Erbens (= Hausarbeit am Institut für österreichische Geschichtsforschung, Wien 1971), 28. 153 Michel Foucault, Vom Licht des Krieges zur Geburt der Geschichte, Berlin 1986, 22. 154 So z. B. unter Verwendung des Zitats von Josef Weinheber : »Sie ham uns jetzt erobert : Bruck, Gurgl und Gföhl / Da gibt’s jetzt nix wie pariern«. Vgl. Heinrich Drimmel : Österreichs Geistesleben zwischen Ost und West. In : Erika Weinzierl, Kurt Skalnik (Hgg) : Österreich. Die Zweite Republik, Bd. 2, Graz-Wien-Köln 1972, 564. 155 Hannes Leidinger, Verena Moritz : Die Last der Historie. Das Heeresgeschichtliche Museum in Wien und die Darstellung der Geschichte bis 1945. In : Dirk Rupnow, Heidemarie Uhl (Hgg), Zeitgeschichte ausstellen in Österreich. Museen, Gedenkstätten, Ausstellungen, Wien 2011, 15 – 44, hier 22. 156 Peter Broucek, Kurt Peball : Geschichte der österreichischen Militärhistoriographie, Köln-WeimarWien 2000, 77. 157 Georg Rütgen, Das Heeresmuseum in Wien von 1938 bis 1945 im Dienste der Propaganda unter besonderer Berücksichtigung der Sonderausstellungen und »Beuteschauen«, Diplomarbeit Univ. Wien. (2012), 13. 158 Zur vermeintlichen oder tatsächlichen Authentizität von Ausstellungsorten : Ulrike Weber-Felber, Severin Heinisch : Ausstellungen. Zur Geschichte eines Mediums in : Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften, 2.Jg., Heft 4 (1991), 7 – 24, hier 23. 159 Rütgen, Das Heeresmuseum in Wien, 15. 160 Manfried Rauchensteiner : Phönix aus der Asche. Zerstörung und Wiederaufbau des Heeresgeschichtlichen Museums 1944 bis 1955. Begleitband zur Sonderausstellung des Heeresgeschichtlichen Museums 21. Juni bis 30. Oktober 2005, Wien 2005, 39 – 41. 161 Erwin M. Auer : Ein »Museum der Ersten und der Zweiten Republik Österreichs«. Dr. Karl Renners Plan und erster Versuch , in : Wiener Geschichtsblätter 38. Jg. (1983), 53 – 80. 162 Wolfgang Ernst : Das historische Museum. Über die Kunst, die Unausstellbarkeit der Vergangenheit dennoch zu zeigen. In : Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften, 2. Jg. Heft 4 (1991), 25 – 44, hier 26. 163 Besonders gut nachvollziehbar in Ernst Bruckmüller : Nation Österreich. Kulturelles Bewusstsein und
Anmerkungen
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gesellschaftlich-politische Prozesse (= Studien zu Politik und Verwaltung 4). 2. erg. Aufl., Wien-KölnGraz 1996. 164 »Holocaust – Die Geschichte der Familie Weiss«. Dazu Andrea Brait, Gedächtnisort historisches Nationalmuseum. Eine Analyse unter besonderer Berücksichtigung der Debatten um Museumsneugründungen in Deutschland und Österreich, Dissertation Univ.Wien, 2 Bde, Wien 2011, 540 – 542. 165 Es handelte sich um das Bild »Krieg im Fernen Osten«. Vgl. dazu den Katalog : Das Neue Österreich. Die Ausstellung zum Staatsvertragsjubiläum 1955/2005, Oberes Belvedere, 16. Mai bis 1. November 2005, Wien 2005, 236. 166 Engelbert Washietl : Geschichte einer starken Umarmung. Wie Österreich in das Projekt eines deutschen historischen Museums in Berlin hineingeraten ist. In : Die Presse, 12. Dezember 1985, 5. 167 Gerald Stourzh : Der Umfang der österreichischen Geschichte. Ausgewählte Studien 1990 – 2010, Wien-Köln-Graz 2011. 168 Beispielhaft das Interview von Gudula Walterskirchen mit Dr. Heinz Fischer für die Biographie : Engelbert Dollfuss. Arbeitermörder oder Heldenkanzler, Wien 2004, 13 – 20. 169 Vgl. dazu den stark autobiographischen Beitrag von Erhard Busek : Der Mensch ist ein Widerspruch in sich. In : Brauchen wir Museen ? Vom Aufbruch einer Institution. Festschrift für Wilfried Seipel zum 70. Geburtstag, Wien 2014, 20 – 34. 170 Gerhard Botz, Museumsstreit als Geschichtspolitik. In : Der Standard, 2. Dezember 1998, 37. 171 Zuletzt in der Realisierungsstudie von Claudia Haas und Lordeurop für ein Haus der Geschichte : https://www.bka.gv.at/DocView.axd ?CobId=58749 172 Die Presse, 8. Juli 2010. 173 Das Palais Epstein. Haus der Zeitgeschichte : Eine Kontroverse. In : Die Presse, 5. Dezember 1998, 14. 174 Zu den Kostenvergleichen : Stefan Karner, Manfried Rauchensteiner : Haus der Geschichte der Republik Österreich (HGÖ). Machbarkeitsstudie im Auftrag des BMUK, Manuskript, Ludwig-BoltzmannInstitut für Kriegsfolgenforschung (Hg.), Graz-Wien-Klagenfurt 1999, 32. Dazu auch : http://oktogon. at/HDG/meldungen/Konzept %20Karner.pdf 175 Ernst : Das historische Museum, 27. 176 Zur Karner/Rauchensteiner Studie : Parlamentskorrespondenz Nr. 526, 26. November.1999. 177 Parlamentskorrespondenz Nr. 402, 29. Juni 2000. 178 Dirk Rupnow, Nation ohne Museum ? Diskussionen, Konzepte und Projekte. In : Rupnow, Uhl : Zeitgeschichte ausstellen, 417 – 463, hier 448. 179 http://images.derstandard.at/upload/images/bericht.pdf 180 Thomas Angerer und Siegfried Mattl verfassten solche. Beide Papiere im Besitz des Autors. 181 Alle Schreiben, Protokolle der Arbeitsbesprechungen in Wien und Salzburg (Dr- Wilfried-Haslauer Bibliothek) sowie Berichte im Besitz des Autors. 182 Staatsvertrag. Wird das Jubiläum 2005 noch gerettet ? In : Die Presse, 28. Oktober 2003, 7. 183 Staatsvertrag. Skurriler Wettlauf ums Jubiläum. In : Die Presse, 12. März 2004. 184 Schüssel gibt Auftrag für »Haus der Geschichte«. In : Die Presse, 24. Februar 2006. 185 Brait : Gedächtnisort historisches Nationalmuseum. 186 Kristin Josephina Ganahl, Die Republik ausstellen – zur Idee des »Hauses der Geschichte Österreich«. Eine soziologische Perspektive auf die Debatte um das »Haus der Geschichte Österreich«. Masterarbeit Univ. Wien (2014), bes. 43 – 45. 187 https://www.bka.gv.at/DocView.axd ?CobId=58749 188 Museumsführer Österreich, red. Gerlinde Hinterhölzl, Herbert Schillinger, 5. Aufl, Wien 1999. 189 Gabriele Matzner : Verfreundete Nachbarn. Österreich – Deutschland. Ein Verhältnis, Wien 1995. 190 Die Ausstellung wurde anschließend im Zeitgeschichtlichen Forum in Leipzig gezeigt. Die Bundes-
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Anmerkungen
präsidenten Horst Köhler und Heinz Fischer übernahmen die Schirmherrschaft. Für die Angaben zur Abfolge bin ich dem Präsidenten des Hauses der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Prof. Dr. Hans-Walter Hütter, zu Dank verpflichtet. 191 Alfred Vagts, The Military Attaché, Princeton 1967, 3. 192 Ebenda. 193 André Lewin, Die französische Botschaft in Wien. Geschichte des Hauses am Schwarzenbergplatz mit Anekdoten zu Botschaftern Frankreichs aus vier Jahrhunderten, Wien 1995, 80 – 82. 194 Oskar Regele, Die Entwicklung der habsburgisch (-lothringischen) Militär-Diplomatie, in : Revue Internationale d’Histoire Militaire 1960/64, No 22, 81 – 88. 195 Joh.Christoph Allmayer-Beck, Die Archive der k. u. k. Militärbevollmächtigten und Militär-Adjoints im Kriegsarchiv Wien. Ein Beitrag zur militärgeschichtlichen Quellenkunde, in : Österreich und Europa. Festgabe für Hugo Hantsch zum 70.Geburtstag, Wien 1981, 351 – 378, hier bes. 370. 196 Heinrich Drimmel, Die Antipoden. Die Neue Welt in den USA und das Österreich vor 1918, WienMünchen 1984, 377. 197 Heinrich Otto Meisner, Militärattachés und Militärbevollmächtigte in Preußen und im Deutschen Reich (= Neue Beiträge zur Geschichtswissenschaft 2), Berlin 1957, 8, Anm. 4. 198 Daniele Varè, Der lachende Diplomat, Hamburg 1959, 26. 199 Regele, Die habsburgische Militärdiplomatie, 85f. 200 Ebenda, 31. 201 Meisner, Militärattachés, 38. 202 Manfried Rauchensteiner, Landesverteidigung und Außenpolitik. Feindliche Brüder ? in : Schild ohne Schwert. Das österreichische Bundesheer 1955 – 1970, hg. M. Rauchensteiner, W. Etschmann (= Forschungen zur Militärgeschichte 2), Graz 1991, 157. 203 Hans-Martin Hinz, Die Darstellbarkeit des Kriegs im Museum, in : Der Krieg und seine Museen. Für das Deutsche Historische Museum herausg. von Hans-Martin Hinz, Frankfurt, New York 1997, 9. 204 Dazu Martin Harwit, Über die Schwierigkeit, die Mission der »Enola Gay« in einer Ausstellung darzustellen, in : Der Krieg und seine Museen, 127 – 154. 205 So auch die Fragestellung von Wolfgang Ernst, Das historische Museum. Über die Kunst, die Unausstellbarkeit der Vergangenheit dennoch zu zeigen, in : Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 4/1991, hier 27. 206 Ebenda. 207 Ebenda, 35. 208 Hermann Lübbe, Der Fortschritt und das Museum. Über den Grund unseres Vergnügens an historischen Gegenständen, London 1982, 14. 209 Hermann Lübbe, Zeit-Verhältnisse. Zur Kulturphilosophie des Fortschritts, Graz-Wien-Köln 1983, 9f. 210 Eva Sturm, Konservierte Welt. Museum und Musealisierung, Berlin 1991, 67. 211 Michael Fehr, Das Museum – Ort des Vergessens, in : Wolfgang Zacharias (Hg.), Zeitphänomen Musealisierung, 220. 212 Vgl. dazu Sturm, Konservierte Welt, 76. 213 Wilfried Seipel, Original, Kopie, Fälschung, Online-Bild, in : Die Presse, Spectrum, 2.11.2002, X. 214 Gottfried Korff, Manfred Roth, Einleitung, in : Korff/Roth (Hg.) : Das historische Museum. Labor, Schaubühne, Identitätsfabrik, Frankfurt, New York 1990, 9 – 41, hier 15. 215 Peter Malina, Clio hat viele Gesichter. Das Museum – Animieranstalt oder Ort historischer Erfahrung ? In : Ab ins Museum ! Materialien zur Museumspädagogik. Schulheft 58/1990, 27 – 35, hier : 81f. 216 Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt/Main 1963, 18.
Anmerkungen
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217 Walter Benjamin, Das Passagen-Werk, Bd. I. Frankfurt/Main 1983, 560. 218 Gottfried Korff, Objekt und Information im Widerstreit, in : Museumskunde 49/1984, 83 – 93, hier 90f. 219 V. Schubertova, Aktuelle Probleme der Theorie der musealen Selektion, in : Institut für Museumswesen (Hg.) : Museologische Forschungen in der ČSSR, Berlin 1982, zitiert nach Friedrich Waidacher, Handbuch der allgemeinen Museologie, 2. erg. Aufl., Wien-Graz-Köln 1996, 155. 220 Henri Pierre Jeudy, Der Komplex der Museophilie, in : Wolfgang Zacharias (Hg.), Zeitphänomen Musealisierung, München 1990, 115 – 121, hier 115. 221 Henri Pierre Jeudy, Die Musealisierung der Welt oder die Erinnerung des Gegenwärtigen, in : Eberhard Knödler-Bunte (Hg.), Ästhetik und Kommunikation, Heft 67/68, Berlin 1987, 23ff. 222 Harwit, Über die Schwierigkeit, 241. Nicht ganz Alltägliches 223 Philippe Ariès, Geschichte des Todes, 7. Aufl., München 1995, 413. 224 Ebenda, 415 – 417. 225 Martin Papenheim, Erinnerung und Unsterblichkeit. Semantische Studien zum Totenkult in Frankreich 1715 – 1794 (= Sprache und Geschichte, hg. Reinhart Koselleck und Karlheinz Stierle, Bd.18), Stuttgart 1992, 14. 226 Auf eine solche Verwendung verweist auch Philippe Ariès, Geschichte des Todes, 419. 227 Reinhart Koselleck, Einleitung, in : Der politische Totenkult. Kriegerdenkmäler in der Moderne, hg. Reinhart Koselleck und Michael Jeismann, München 1994, 9. 228 Koselleck, Einleitung, 19. 229 Eine genaue Schilderung findet sich u. a. in dem Buch : Aus dem Leben des Doktor Sebastian Weberitsch, Klagenfurt 1947, 561f. Das Zitat bei Leopold Schmidt, Totenbrauchtum im Kulturwandel der Gegenwart (= Mitteilungen des Instituts für Gegenwartsvolkskunde Nr.10), Wien 1981, 178. 230 Wiener Zeitung, 3.September 1925, 5.
Quellenverzeichnis
Gestalter der Geschicke, 1500 – 1914 Der Kaiser und der Konfektionsharnisch, in : DAMALS. Das Magazin für Geschichte, 8/2008 »Lasset mir der Feind nur Zeit«, in : Die Presse, Spectrum, 6. September 1997 An einem heißen Augusttag, in : Die Presse, Spectrum, 5. August 2006 Der Held von anno dazumal, in : Die Presse, Spectrum, 16. Mai 2009 Der Wiener Kongress 1814/15, hg. : Gesellschaft für Landesverteidigung und Sicherheitspolitik (Wien 2015) Von Sarajevo bis Padua, 1914 bis 1918 Ein Mörder namens Princip, in : Die Presse, Spectrum, 15. Februar 2014 »Alle Straßen münden in schwarze Verwesung«, in : Feindbilder, Jahrbuch 2015 des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes (Wien 2015) Das sterbende Kamel, in : Die Presse, Spectrum, 23. Mai 2015 Das Tal der toten Pferde, in : Mensch und Pferd. Kult und Leidenschaft. Katalog Oberösterreichische Landesausstellung 2016 (Linz 2016) Fremd im eigenen Land, in : Die Presse, Spectrum, 12. Sept. 2015 (Nachdruck in : Flüchtlinge, hg. Gerfried Sperl, Wien 2016) Franz Joseph I.: Den Tod vor Augen, in : Franjo Josip u Prvome svjetskom ratu, ed. Želiko Holjevac (Zagreb 2020) (kroatisch) Im Dienste Seiner Majestät, in : Die Presse, Spectrum, 20. Mai 2017 Die Villa des Senators Giusti, in : Die Presse, Spectrum, 31. Oktober 2008 Von Wien bis Wien, 1918 – 1938 Mehr gab es nicht zu sagen, in : Die Presse, Spectrum, 4. Sept. 1999 Tausche Land gegen Leben, in : Die Presse, Spectrum, 24. Oktober 1998 Ein Dorf an der Grenze, in : Die Presse, Spectrum, 10. November 2018 Ein Kranz für Woodrow Wilson, in : Die Presse, Spectrum, 3. Oktober 2020
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Quellenverzeichnis
»Blumenfeldzug« mit Pannen (1938), in : Antworten. Jiří Gruša zum Siebzigsten, hg. Wolfgang Greisenegger, Wolfgang Lederhaas (Klagenfurt 2008). Der Beitrag ist die überarbeitete und geringfügig erweiterte Version eines Textes, der in dem von Thomas Chorherr herausgegebenen Band : 1938 – Anatomie eines Jahres (Wien 1987) erschienen ist. Der »Führer« und die Folgen, 1938 – 1955 Herr Hitler und der Krieg, in : Die Presse, Spectrum, 29. August 2009 Ein Sarg für Paris, in : Die Zeit, Zeitläufte, 15. Februar 2001 Am Anfang stand ein Anhang, in : Die Presse, Spectrum, 25. Oktober 2013 Tyrannenmord. Der 20. Juli 1944 und Österreich, in : Katalog zur Sonderausstellung des Heeresgeschichtlichen Museums Wien (2004) Dann kam der letzte Zug aus Wien, in : Die Presse, Spectrum, 4. April 2020 Kanzler gesucht, in : Die Presse, Spectrum, 21. März 2015 Daheim und in der Nachbarschaft Die Performance war perfekt, in : Die Ungarnkrise 1956 und Österreich, hg. Erwin Schmidl (Wien-Köln-Weimar 2003) Prag und die Folgen (1968), in : Die Presse, Feuilleton, 21. August 2003 Josef K. und die Wende, in : Die Presse, Spectrum, 27. Februar 2018 »Ich bringe nichts Schönes«, in : Die Presse, Spectrum, 5. Mai 2002 König Kreisky und die Briten, in : Die Presse, Spectrum, 31. Mai 2008 Winken und ein bisschen Blasmusik, in : Die Presse, Spectrum, 2. Juni 2001 Biografisches Ehrung reihte sich an Ehrung : Prinz Eugen von Savoyen, in : Geschichtsverein für Kärnten, Programmheft 2007 Die Albertiner, in : Heidi-Horten-Collection. Das Haus und seine Geschichte (Wien 2022) Clemens Lothar Fürst Metternich. Das Leben eines Geradlinigen, in : Der Wiener Kongress. Die Erfindung Europas, hg. Thomas Just, Wolfgang Maderthaner, Helene Maimann (Wien 2014) (Der Text ist etwas gekürzt und umgestellt) Der himmlische Karl, in : Die Zeit, Zeitläufte, 16. September 2004 24 Kerzen im Fenster : Josif Vissarionovič Džugašvili, gen. Stalin, in : Die Presse, Spectrum, 22. Februar 2003 Otto Franz Rösch, in : Österreichische Militärische Zeitschrift (ÖMZ), 2/2022 Johann Christoph Allmayer-Beck : Nachruf in : Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, 126. Band, Teilband 1 (Wien-Köln-Weimar 2018)
Quellenverzeichnis
411 Vom Sammeln und Ausstellen
Eine zu Stein gewordene Idee : Das Heeresgeschichtliche Museum, in : Parnass, Sonderheft 12/96 : Historismus in Österreich Anforderungen, Überforderungen, Herausforderungen. Anmerkungen zu einem Leidensweg, in : Haus ? Geschichte ? Österreich ? Ergebnisse einer Enquete über das neue historische Museum in Wien, hg. Thomas Winkelbauer (Wien 2016) Wem gehört was war ?, in : Die Presse, Spectrum, 10. November 2012 Militärattachés : Diener zweier Herren ?, Einleitung in : Katalog der Sonderausstellung im Heeresgeschichtlichen Museum (Wien 1996) »Kein Spaß an der Sache« – Militärmuseen da und dort, in : Museumskunde Bd. 68/1, hg. Deutscher Museumsbund (Dresden 2003) Nicht ganz Alltägliches Die Pflicht, die Kluft, der Frust, in : Die Presse, Spectrum, 25. Oktober 2002 Österreichs letzte Galeerensträflinge, in : Die Zeit, 16. März 2023 Kein Kampf um die Stadt, in : Die Presse, Spectrum, 10. April 2010 Heldenplatz – belassen wir’s dabei, in : Der Standard, 23. Februar 2017 Die Sache mit dem Nationalfeiertag, in : militär aktuell. Das neue österreichische Militärmagazin, Heft 2/2012 Vom Umgang mit der Erinnerung, in : Wo sind sie geblieben … ? Katalog zur Sonderausstellung im Heeresgeschichtlichen Museums (Wien 1997) Der Mensch braucht seinen Feind, in : Die Presse, Spectrum, 1. Juni 1996 Warum Krieg ?, in : Die Neuordnung Europas. Die zwei Jahrhunderte der Grenzgänger. Vom Wiener Kongress bis zum Überfall Russlands auf die Ukraine, Kleine Zeitung (Graz 2022)
Überblick über Österreichs Zeitgeschichte seit 1918
Manfried Rauchensteiner Unter Beobachtung Österreich seit 1918 2. veränderte Auflage 2021. 686 Seiten. Gebunden € 35,00 D | € 36,00 A ISBN 978-3-205-21267-6 Auch als E-Book erhältlich! E-Book: € 35,00 D | € 36,00 A
Über 100 Jahre Geschichte umfasst Manfried Rauchensteiners überarbeitete und erweiterte Neuauflage seines 2017 erstmals erschienenen Buches „Unter Beobachtung. Österreich seit 1918“. Der mehrfach preisgekrönte Historiker bietet damit einen spannenden und abwechslungsreichen Überblick über die historischen Entwicklungen des Landes. Österreich war – und ist – immer wieder für Aufregungen gut. Was 1918 mit der Gründung der Ersten Republik als Experiment begann, war 1938 auch schon wieder gescheitert, was viele Menschen mit Genugtuung registrierten. 1945 stellten die vier Besatzungsmächte das Land unter Kuratel. Und auch in der Folge sorgte Österreich immer wieder für internationale Aufmerksamkeit: 1956 während des Volksaufstands in Ungarn, 1968 bei der Besetzung der Tschechoslowakei, 1986 nach der Wahl Kurt Waldheims zum österreichischen Bundespräsidenten, 1991 während des slowenischen Unabhängigkeitskrieges, 2000 nach der Bildung einer Kleinen Koalition, nach der „Ibiza-Affäre“ 2019 bis hin zur aktuellen Corona-Krise. Das Land galt als Problemzone, als Sonderfall, als Musterschüler und gleich mehrfach als böser Bube, dem man ganz genau auf die Finger schauen wollte. Das tut die Welt bis heute.
Preisstand 14.7.2023
Der Erste Weltkrieg
Manfried Rauchensteiner
Der Erste Weltkrieg
und das Ende der Habsburgermonarchie 1914–1918 2013. 1222 Seiten. Gebunden € 50,00 D | € 52,00 A ISBN 978-3-205-78283-4 Auch als E-Book erhältlich! E-Book: € 50,00 D | € 52,00 A
Nach der Ermordung des Erzherzogs Franz Ferdinand in Sarajevo stand fest, dass es Krieg geben würde. Kaiser Franz Joseph wollte es und in Wien rechnete man durchaus mit der Möglichkeit eines großen Kriegs. Wie der Krieg entfesselt wurde und bereits Wochen später Österreich-Ungarn nur deshalb nicht zur Aufgabe gezwungen war, weil es immer wieder deutsche Truppenhilfe bekam, hat bis heute nichts an Dramatik verloren. Zwei Monate vor seinem Tod verzichtete der österreichische Kaiser auf einen Teil seiner Souveränität und willigte in eine gemeinsame oberste Kriegsleitung unter der Führung des deutschen Kaisers ein. Der Nachfolger Franz Josephs, Kaiser Karl, konnte das nie mehr rückgängig machen. Auch ein Teil der Völker Österreich-Ungarns fürchtete die deutsche Dominanz. Schließlich konnten nicht einmal die militärischen Erfolge 1917 den Zerfall der Habsburgermonarchie verhindern. Das Buch beruht auf jahrzehntelangen Forschungen und bleibt bis zur letzten Seite fesselnd, obwohl man das Ende kennt. Viele Zusammenhänge werden aber erst jetzt klar. Rauchensteiner sieht den Ersten Weltkrieg als Zeitenwende. Ob er die „Urkatastrophe“ des 20. Jahrhunderts war, muss der Leser entscheiden.
Preisstand 14.7.2023
Die Gründung der Ersten Republik Österreich 1918/19
Robert Kriechbaumer, Michaela Maier, Maria Mesner, Helmut Wohnout (Hg.) Die junge Republik Österreich 1918/19 2018. 220 Seiten. Gebunden € 39,00 D | € 41,00 A ISBN 978-3-205-20660-6 Auch als E-Book erhältlich! E-Book: € 39,00 D | € 41,00 A
Die Gründung der Republik Österreich war kein revolutionärer nationaler Schöpfungsakt, sondern das Ergebnis einer militärischen Niederlage und des Zerfalls der Habsburgermonarchie. Sie erfolgte nicht in einer Phase kollektiver Erhebung, sondern in einer der tiefsten Depression. Zu unterschiedlich waren die Befindlichkeiten in der revolutionären Umbruchsphase, weshalb der Republikgründung ein parteien- und klassenübergreifendes Narrativ fehlte. Der Sammelband vereint die Referate eines Symposions, das die Plattform zeithistorischer politischer Archive 2017 in Wien veranstaltete und das sich den Transformationsprozessen in der Entstehungsgeschichte der Ersten Republik widmete.
Preisstand 25.5.2023