Überlieferungsgeschichtliche Prosaforschung: Beiträge der Würzburger Forschergruppe zur Methode und Auswertung [Reprint 2012 ed.] 9783110925883, 9783484360198


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German Pages 282 [288] Year 1985

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Table of contents :
Vorwort
Gebrauchsfunktionale Text- und Überlieferungsanalyse
Textgeschichtliche Edition
Übersetzungsintention und Gebrauchsfunktion. Die ›Rechtssumme‹ Bruder Bertholds im Kontext volkssprachlich-kanonistischer Rechtsliteratur
mertel uel in alijs partibus pflaster. Ein Beitrag zur Methode editionsbegleitender Wörterbücher und zur frühneuhochdeutschen Lexikographie
Der EDV-Einsatz der Würzburger Forschergruppe
Die Arbeit mit der EDV – Darstellung und Erfahrungen
Neue Ansätze zur Erfassung spätmittelalterlicher Sprachvarianz
Vorschläge für ein Valenzwörterbuch des Frühneuhochdeutschen. (Anhand nicht-abgeleiteter Substantive aufgrund überlieferungsgeschichtlicher Ausgaben)
Zur Bedeutung der Bibliotheksgeschichte für eine Überlieferungs- und Wirkungsgeschichte
Text und Textgewebe
teutonicum subiungitur. Zum Erkenntniswert der Vokabularien für die Literatursituation des 15. Jahrhunderts
Überlieferungsgeschichte mittelalterlicher Texte als methodischer Ansatz zu einer erweiterten Konzeption von Literaturgeschichte
Register
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Überlieferungsgeschichtliche Prosaforschung: Beiträge der Würzburger Forschergruppe zur Methode und Auswertung [Reprint 2012 ed.]
 9783110925883, 9783484360198

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TEXTE UND TEXTGESCHICHTE Würzburger Forschungen

IQ

Herausgegeben von der Forschergruppe »Prosa des deutschen Mittelalters«

Uberlieferungsgeschichtliche Prosaforschung Beiträge der Würzburger Forschergruppe zur Methode und Auswertung Herausgegeben von Kurt Ruh Redaktion: Hans-Jürgen Stahl

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1985

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Überlieferungsgeschichtliche Prosaforschung : Beitr. d. Würzburger Forschergruppe zur Methode u. Auswertung / hrsg. von Kurt Ruh. Red.: Hans-Jürgen Stahl. - Tübingen : Niemeyer, 1985. (Texte und Textgeschichte ; 19) NE: Ruh, Kurt [Hrsg.]; GT ISBN 3 - 4 8 4 - 3 6 0 1 9 - 4 ©

ISSN 0174-4429

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1985

Alle Rechte vorbehalten. Ohne Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus photomechanisch zu vervielfältigen. Printed in Germany. Satz: pagina GmbH, Tübingen. Druck: Allgäuer Zeitungsverlag GmbH, Kempten/Allgäu. Einband: Heinr. Koch, Tübingen

Inhalt

Vorwort

1

GEORG STEER

Gebrauchsfunktionale Text- und Überlieferungsanalyse

5

GEORG STEER

Textgeschichtliche Edition

37

MARLIES HAMM / HELGARD ULMSCHNEIDER

Übersetzungsintention und Gebrauchsfunktion. Die >Rechtssumme< Bruder Bertholds im Kontext volkssprachlich-kanonistischer Rechtsliteratur

53

HANS-JÜRGEN STAHL

mertel uel in alijs partibus pflaster. Ein Beitrag zur Methode editionsbegleitender Wörterbücher und zur frühneuhochdeutschen Lexikographie

89

THOMAS STADLER

Der EDV-Einsatz der Würzburger Forschergruppe



126

PETER STAHL

Die Arbeit mit der EDV — Darstellung und Erfahrungen

144

KONRAD K U N Z E

Neue Ansätze zur Erfassung spätmittelalterlicher Sprachvarianz

157

NORBERT RICHARD WOLF

Vorschläge für ein Valenzwörterbuch des Frühneuhochdeutschen. (Anhand nicht-abgeleiteter Substantive aufgrund überlieferungsgeschichtlicher Ausgaben)

201

BERNHARD SCHNELL

Zur Bedeutung der Bibliotheksgeschichte für eine Überlieferungs- und Wirkungsgeschichte

221

K L A U S KIRCHERT

Text und Textgewebe

231

K L A U S GRUBMÜLLER

teutonicum subiungitur. Zum Erkenntniswert der Vokabularien für die Literatursituation des 15. Jahrhunderts

246

KURT R U H

Überlieferungsgeschichte mittelalterlicher Texte als methodischer Ansatz zu einer erweiterten Konzeption von Literaturgeschichte

262

Register

273

Vorwort

Versprechungen einzulösen fällt in aller Regel und aus Gründen, die auf der Hand liegen, schwer, ist indes als ständige Mahnung und Erinnerung ein förderlicher Zwang. Im Programm der Würzburger Forschergruppe für deutsche Prosa des Mittelalters (Jb. f. internat. Germ. 5, 1973, S. 156176) wurde eine Publikation angekündigt, die Methode, Ergebnisse und Perspektiven der verschiedenen Arbeitsvorhaben vorzulegen versprach; sie sollte aus verschiedenen Beiträgen von Projektleitern und Mitarbeitern bestehen. Im einzelnen wurden vier Punkte genannt (S. 171 f.), an deren Stich Wörter kurz erinnert sei: 1. »Die Fruchtbarkeit des überlieferungsgeschichtlichen Ansatzes«, 2. das Spezifische der praktizierten Editionstechnik, 3. Erweiterung der Überlieferungsdaten hinsichtlich der Textmutationen, regionaler und sozialer Varianten, der Einflüsse lateinischer Schriftkultur sowie schichtenspezifischer Literaturtypen, 4. Überlieferungsgeschichte und Literaturgeschichte. Der jetzt vorliegende Band orientiert sich nach diesem Programm, freilich mit Akzentverschiebungen, Ausklammerungen und Zusätzen. Es wäre ja auch eigentümlich, wenn Absichtserklärungen in zehnjähriger Tätigkeit nicht der Korrektur und dem Wechsel unterworfen wären. Es bedarf so auch die Nähe und Ferne zum Programm keines besonderen Nachweises und keiner Begründung. Hervorgehoben sei nur, daß der überlieferungsgeschichtliche Ansatz sich uneingeschränkt bewährt hat. Und so ist >Überlieferung< der eigentliche Leitbegriff dieses Bandes, wie sie das Movens unserer Editionen und Untersuchungen war. Erfreulich ist die Feststellung, daß sie auch andernorts ins Zentrum von Texterschließung und Textverständnis getreten ist, am entschiedensten in der Erforschung von Minnesang, Sangspruch und meisterlichem Sang. Auch der wichtigste arbeitstechnische Geländegewinn sei herausgestellt: der Einbezug der EDV ins Arbeitsprogramm. Zur Verfügung stand uns das Tübinger Satzprogramm von Dr. Wilhelm Ott; es reichte indes nicht aus, die Darstellungsprobleme unserer Editionen, zumal von Bruder Bertholds >RechtssummeRechtssummeRezeption< war das Stichwort unserer ersten Stunde. Im Anschluß an den Gebrauch der Rechtshistoriker sprach ich in Bonaventura deutsch< (1956) von der Rezeption der lateinischen Scholastik und Mystik durch die Volkssprachen. Ich wollte den Begriff >Rezeption< (ohne ihn ängstlich zu vermeiden) freilich nicht zum Zentralbegriff erheben, da er mir durch die Rechtshistoriker besetzt erschien. Hans-Robert Jauß hat dann eine eigentliche Rezeptionsästhetik entwickelt: mit einer griffigen Terminologie und mit Ausweitungen bis hin zur Leser-Rezeption. 2

Gerne möchte ich den Rezeptionsbegriff auf schöpferische Vorgänge beschränken - schöpferisch im mittelalterlichen Sinne auf Umformungen von einer Sprache, einer Kultur, einer Bildungsschicht, einer Epoche in andere. Leserdaten brauchen dabei nicht verachtet zu werden; sie gehören wesentlich zur Überlieferungsgeschichte, genauer: zu deren sozialgeschichtlicher Komponente. Gerade diesen Daten haben auch wir allergrößte Aufmerksamkeit zugewandt - sie sind ja ein entscheidender Faktor, der namentlich Gebrauchstexten die ihnen eigene geschichtliche Dimension vermittelt -, nur nicht unter dem Stichwort der Rezeption. Gegenüber dieser Abgrenzung ist das sehr viel Wichtigere zu betonen, daß wir mit Jauß die Rezeption als zentralen Motor literarischer Traditionsbildung betrachten. Zu 3: Mit Hugo Kuhns Literatursystematik verbindet uns außer dem erweiterten Literaturbegriff, der (grundsätzlich) alle Texte berücksichtigt, die Einsicht in die sozusagen immanente Geschichtlichkeit der Texte. Sie ergibt sich bei Kuhn vor allem durch den >Gebrauch< der Texte, als >LebensorientierungLebenshilfeunvergänglichen< Literatur, gewinnt. Unsere Dankesschuld ist groß. Sie gilt so ziemlich allen öffentlichen und privaten Bibliotheken der Bundesrepublik, Österreichs und der Schweiz und zahlreichen der Deutschen Demokratischen Republik sowie des fremdsprachigen Auslands; sie haben uns bereitwillig ihre handschriftlichen Schätze und Inkunabeln zur Verfügung gestellt, Auskünfte erteilt und Xerokopien oder Filmaufnahmen vermittelt. Die Dankesschuld gilt weiterhin der Universität Würzburg, die uns Arbeitsplätze und Einrichtungen über die institutionalisierte >Forschungsstelle< am Institut für deutsche Philologie hinaus zur Verfügung stellte. Vor allem aber gilt unser Dank der Deutschen Forschungsgemeinschaft, die mit ihrer umfassenden Förderung unsere aufwendigen Projekte erst ermöglichte. In Vertretung vieler Helfer in der DFG-Verwaltung sei Herr Dr. Manfred Briegel namentlich genannt, dem die eigentliche Betreuung und Koordinierung oblag. Dem hier vorliegenden Band, intern >Methodenband< genannt, hat er seine ganz besondere Aufmerksamkeit zugewandt. Die Würzburger Forschergruppe erlaubt sich, das Schriftenbündel >Überlieferungsgeschichtliche Prosaforschung< als einen Teil ihrer Dankes3

pflicht zu betrachten und es der Deutschen Forschungsgemeinschaft zu widmen. Die technische Betreuung dieses Bandes oblag Herrn Thomas Stadler. Die Register verdanken wir Herrn Hans-Jürgen Stahl. An der EDVEingabe und Korrektur waren beteiligt: Helga Ellesser, Petra Leuser, Werner Mahlburg. Abschließend darf ich meinen Blick unmittelbar auf den Leser richten, indem ich das Selbstverständnis der Würzburger Forschergruppe für deutsche Prosa des Spätmittelalters in einem Bild auszudrücken versuche: Sie ist kein von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gestarteter Sonderzug auf Schienen, sondern eher eine Wandergruppe, die mit anderen ihren Weg sucht. Davon möge dieser Sammelband etwas vermitteln. Kurt Ruh

4

Würzburg, im Mai 1984

GEORG STEER

Gebrauchsfunktionale Text- und Überlieferungsanalyse

Handschriften daraufhin zu untersuchen, wer sie geschrieben hat, von wem sie gelesen und zu welchem Zweck sie gebraucht wurden, wer ihre Besitzer waren und vor allem welche Texte in welcher Gestalt sie tradierten, verfolgt ein Forschungsinteresse, das vorwiegend auf die Erfassung der Überlieferungs-, Rezeptions- und Sozialgeschichte von Literatur abzielt. Sie wird von H A N N S FISCHER und JOHANNES JANOTA1 als »Erschließungsarbeit« verstanden, die sich in drei »Stufen« vollzieht. Als erstes wird die Masse des handschriftlich und drucktechnisch Überlieferten in Handschriften-, Inkunabeln- und Drucke-Katalogen beschrieben. An zweiter Stelle stehen sog. »Text- und Überlieferungsrepertorien«. Das sind Studien zu Einzelwerken, zu Opera eines Autors oder zu mehreren Denkmälern eines Typs. »Für die ganze Richtung paradigmatisch ist«, nach JANOTA, »das Bonaventura-Buch von K. Ruh 2 , mit dem der Typ des auf ein vielfältiges Gesamtceuvre gerichteten Repertoriums demonstriert wird und das durch den besonderen Grad seiner wissenschaftlichen Umsicht und Akribie für weitere heuristische Arbeiten dieser Art als Vorbild zu gelten hat« (S. 15*). Als dritte Stufe der Erschließungsarbeit werden die »Textausgaben« angesehen. Dieses einfache Raster läßt Handschriftenbeschreibung, überlieferungsgeschichtliche Darstellung und Textedition als Grundlagenarbeit erscheinen, die zwar mithilft, »das Bild des Spätmittelalters . . . völlig neu (zu) entwerfen« 3 und somit aller Ehren wert ist, die aber doch nur in 1

Neue Forschungen zur deutschen Dichtung des Spätmittelalters. DVjS 45 (1971), Sonderheft, S. l*-242*, hier S. 4 M 6 * . 2 Bonaventura deutsch. Ein Beitrag zur deutschen Franziskaner-Mystik und -Scholastik (Bibliotheca Germanica 7). Bern 1956. 3 H. FROMM, Die mittelalterliche Handschrift und die Wissenschaften vom Mittelalter. Vortrag gehalten anläßlich der Eröffnung der Zimelien-Ausstellung am 12. Dezember 1975. In: Staatsbibl. Preußischer Kulturbesitz. Mitteilungen VIII. Berlin 1976, S. 35-62, hier S. 48: »Die Erschließung dieser Handschriftenmassen, ihre Auffindung, Katalogisierung, Beschreibung oder Edition ist im wesentlichen das Werk der letzten Generation. Es ist bei weitem noch nicht abgeschlossen, aber es hat jetzt schon das Bild des Spätmittelalters, auch des gelehrt-lateinischen der Scholastik, völlig neu entwerfen helfen. Zu den Wegbereitern gehörte neben Wolfgang Stammler auch Wieland Schmidt, die breite Bahn hat Kurt Ruh mit seinen Schülern gebrochen«. Vgl. DERS., Von der

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das Vorfeld der Literaturgeschichtsschreibung gehört. Nach dem Konzept der >AutorenDenkmälerim engeren Sinne< Philologische in den Philologien - Textkritik, Editionskunde, Metrik, Formanalyse, die Lehre von den literarischen Gattungen und dergleichen mehr - wird heute gerne, und beileibe nicht nur von den Studenten, als eine Art literaturwissenschaftliches >Vorphysikum< angesehen und entsprechend wenig geliebt. Mir scheint, daß hier verantwortliches Handeln sich am einfachsten und unmittelbarsten bewähren kann; denn hier ist der sichere Bereich der nachprüfbaren, weil am Text ablesbaren, objektiv gültigen Merkmale gegeben«. 4 Siehe Geschichte der Textüberlieferung der antiken und mittelalterlichen Literatur. Bd. I: Die Textüberlieferung der antiken Literatur und der Bibel. Zürich 1961 (Nachdruck: dtv-Wissenschaftliche Reihe 4176, München 1975); Bd. II: Überlieferungsgeschichte der mittelalterlichen Literatur. Zürich 1964. 5 Richtlinien. Handschriftenkatalogisierung. Deutsche Forschungsgemeinschaft. Unterausschuß für Handschriftenkatalogisierung. Bonn-Bad Godesberg 2 1974; O. MAZAL (Hg.), Handschriftenbeschreibung in Österreich. Referate, Beratungen und Ergebnisse der Arbeitstagungen in Kremsmünster (1973) und Zwettl (1974) (Denkschriften der phil.-hist. Kl. der Österr. Akademie der Wissenschaften 122). Wien 1975, S. 135-139. 6 Vgl. U. HESS, Heinrich Steinhöwels >GriseldisRechtssumme< Bruder Bertholds. Die handschriftliche Überlieferung (TTG 6). Tübingen 1982. 7 FROMM, Die mittelalterliche Handschrift (Anm. 3), S. 49. 8 B. SCHNELL, Verwendungsmöglichkeiten dialektologischer Ergebnisse in der Textkritik (Dialektologie 1,2). Berlin / New York 1983, S. 1558-1568.

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ihm und seinen Überlieferungsverhältnissen im strengen Sinne nicht als eine literaturwissenschaftliche verstanden werden, man muß sie als textoder kulturwissenschaftliche klassifizieren. Wer freilich auch oder vorab das >Werk< und seine >Wirkung< und nicht allein die >Autoren< und >Denkmäler< in den Mittelpunkt seines literarhistorischen Interesses stellt, wird die Aufgabe der Überlieferungsgeschichte überhaupt neu definieren. Als einer der ersten hat dies WIELAND SCHMIDT 9 getan: »Das Werk dominiert vor dem Autor - an Interesse und Tatsachenmaterial. Die starre Masse der Handschriften aufzulösen in den Fluß genetischer Entwicklung, geographische und zeitliche Ausbreitung festzulegen, das Werk zum Publikum und zu den geistigen Strömungen der Zeit in Beziehung zu setzen, sind die Aufgaben, die sich stellen« (S. 4 ) . Diese Sätze und SCHMIDTS Buch als Ganzes begründen in letzter Konsequenz Überlieferungsgeschichte als eine Methode der Literaturgeschichte - unter der Voraussetzung eines freilich erweiterten Literaturbegriffs. SCHMIDTS methodische Schrittmacherrolle wurde maßgeblich von K U R T R U H gefördert. Die von ihm 1 9 7 3 ins Leben gerufene >Würzburger Forschergruppe< beruft sich ausdrücklich auf seine innovatorische Leistung: »Methodisch ist es der überlieferungsgeschichtliche Ansatz, der unseren Bemühungen um eine neue Sicht und Wertung spätmittelalterlicher Prosatexte zugrundeliegt. Er ergibt sich durch die vorherrschende Gebrauchsfunktion und die zeitlich sowie landschaftlich weit ausgefächerte Wirkungsgeschichte der Texte. Hierin sehen wir uns durch die methodischen Bemühungen der jüngsten Forschung bestätigt... Die überlieferungs- und wirkungsgeschichtliche Aufarbeitung von derartigen Texten wurde bisher erst versuchsweise angegangen, so von Wieland Schmidt in seiner Arbeit über die >Vierundzwanzig Alten< Ottos von Passau . . .«10. Es ist ganz offenkundig: Die alte und die neue Überlieferungsgeschichte haben zwar den Namen und die Gegenstände, mit denen sie sich beschäftigen, gemeinsam, aber beide sehen und werten anders. Während die traditionelle das historisch verifizierbare Überlieferungswissen eines Textes als Vor- und Zusatzwissen zum Text erarbeitet und präsentiert, versteht es die moderne als Zeichen und Wegweiser zum Verständnis des Textes selbst. Aus dem Wie der Weitergabe eines Textes durch Schreiber, 9 10

Die vierundzwanzig Alten Ottos von Passau (Palaestra 212). Leipzig 1938. K . GRUBMÜLLER, P. JOHANEK, K . K U N Z E , K . MATZEL, K . R U H , G . STEER, S p ä t m i t t e l -

alterliche Prosaforschung. DFG-Forschergruppe-Programm am Seminar für deutsche Philologie der Universität Würzburg. Jb. f. internat. Germ. 5 (1973) 156-176, hier S. 160.

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Redaktoren und Drucker an ein bestimmtes Lesepublikum und aus dem Wozu dieser Weitergabe will sie auf das Was, den Inhalt, den Gehalt, die Form und Struktur, die Dynamik und die historische Wirkmächtigkeit des Textes schließen. Eine solche Überlieferungsgeschichte hat nur noch wenig mit der gemein, die sich einzig mit dem Freilegen des Überlieferungsrahmens eines Textes begnügt. Andererseits bereitet es offensichtlich erhebliche Schwierigkeiten, das überlieferungsgeschichtliche Quellenmaterial als methodischen Schlüssel eines neuen Text- und Literaturverständnisses zu verwenden. Sie rühren von Forschungskonzepten her, die durch ihre Zielsetzung den überlieferungsgeschichtlich-gebrauchsfunktionalen Frageansatz einseitig vereinnahmen und im Falle geringer oder zweifelhafter Forschungsergebnisse die verwendete Methode selbst in Verruf bringen. 1. Dies hat zweifellos die Aktualisierung der Literatursoziologie für das Spätmittelalter zustande gebracht. Wird nämlich die überlieferungsgeschichtliche Forschung auf die »Frage nach dem literarischen Publikum« verengt, dann sind ihr nur vage und wenig differenzierte Antworten möglich. H A N N S FISCHER 1 1 und A R E N D M I H M 1 2 beklagen zu Recht die generelle crux der Mittelaltersoziologie: den Mangel an reichlichen Zeugnissen in Handschriften, Bibliothekskatalogen und urkundlicher Überlieferung, aus denen sicher auf Besitzer, Schreiber und Leser von Texten geschlossen werden könne. Auch wenn die Quellen für das 15. Jahrhundert üppiger sprudeln, so bleibt doch der Zwang, jedem kleinsten Überlieferungsdetail, das soziologisch aussagefähig sein könnte, auf das sorgfältigste nachzugehen. Bleibt dann das Interesse vorwiegend auf die Erfassung der Rezipientenschichten beschränkt, werden neue Erkenntnisse nur selten zu gewinnen sein. Für viele Texte, vornehmlich der gleichen Gattung, stellt sich immer wieder das nämliche Publikum ein: Adel aller Schattierungen, Patriziat, mittleres Bürgertum, Hohe Geistlichkeit, Weltklerus, Mönchsund Nonnenorden, Laien. 2. Anders als die Literatursoziologie absorbiert die »historische Typologie« die Überlieferungsgeschichte. Für H U G O K U H N 1 3 ist es eine Selbstverständlichkeit, daß »jede Textanalyse, jede Gattungs- oder Literaturgeschichte bei der Überlieferung ansetzen muß« (S. 82), also bei der »philologischen« Grundarbeit, die nichts anderes ist als »eine Phä11

Studien zur deutschen Märendichtung. Tübingen 1968, S. 220-245. Überlieferung und Verbreitung der Märendichtung im Spätmittelalter. Heidelberg 1967, S. 9f. 13 Entwürfe zu einer Literatursystematik des Spätmittelalters. Tübingen 1980. 12

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nomenologie jedes überlieferten deutschen Textes, d.h. eine differenzierende Beschreibung seiner Schrift- und Text- und Überlieferungsgeschichte, als der Struktur mittelalterlicher Texte im Gebrauch« (S. 4). Das »Philologische« steht im Dienste der »zweiten«, der »kulturhistorischen Aufgabe literarhistorischer Mediaevistik« (S. 5): »eine Typologie aller deutschen Texte zu entwerfen, d.h. letzten Endes eine Beschreibung ihrer jeweiligen Rolle im Geschichtsprozeß der europäischen Schriftkultur des Mittelalters« (S. 20). Was aber will der Begriff >Typ< besagen? Die Frage darnach läßt sich »keineswegs mit Definitionen beantworten« (S. 65), sagt KUHN. Nur versuchsweise könne er aus der jeweiligen Literatursituation umschrieben werden: »Typ m e i n t . . . literarische Gebrauchsformen und -Stoffe sowohl weitesten wie engsten Umkreises« (S. 65), meint die »zentralen Strukturen« (S. 85), die »Inszenierungsformen« (S. 89), meint die nach Funktion, Interesse oder Faszination sich ausbildenden Textsystematiken. Das »für die Zeit Charakteristische« seien jedenfalls »die ÜberlieferungsSymbiosen« (S. 88). In der Schwierigkeit, den Begriff Typus in allen seinen literarhistorischen Geltungsbereichen zu definieren und »eine typologische Landkarte aller überlieferten deutschen Texte« (S. 65) zu erstellen, liegt nun freilich die crux einer Literatursystematik des Mittelalters, die vorwiegend auf das historisch Strukturelle abzielt. 3. Schließlich hat auch die geistes- und bildungsgeschichtliche Forschung, aus deren Intentionen heraus überlieferungsgeschichtliche Arbeiten vor allem favorisiert wurden, dazu beigetragen, daß das von ihr benützte Arbeitsinstrument als Mittel zur Gewinnung neuer literarischer Einsichten und Erkenntnisse für die Zukunft stumpf blieb. Sie billigte ihm nur die Fähigkeit zu, vorgefaßte kulturhistorische Konzepte zu bestätigen. Prominentestes Beispiel der Indienstnahme überlieferungsgeschichtlichen Arbeitens für geistesgeschichtliche Aufrisse ist der Hauptrepräsentant der überlieferungsgeschichtlichen Methode selbst: WIELAND SCHMIDT mit seiner Untersuchung über die >24 Altem Ottos von Passau. Nach seiner Auffassung darf das Werk Ottos von Passau eine »charakteristische Bedeutung« (S. 5) für das 15. Jahrhundert beanspruchen; es ist »Exponent einer geistigen Bewegung, die wohl in ihrem allgemeinen Ablauf bekannt« (S. 5) ist und die nun in einer, d.h. in seiner alle Überlieferungsfakten in Handschriften, Drukken, Bibliothekskatalogen, Urkunden und wirkungsgeschichtlichen Zeugnissen berücksichtigenden Arbeit »an einem besonderen Beispiel einmal greifbar gemacht und von dem Hauptstamme losgelöst in all ihren einzelnen Verästelungen verfolgt und konsequent zur Darstel9

lung gebracht werden muß« (S. 5). Was ist dies für eine geistige Bewegung? Es ist die religiöse Wegbereitung der Reformation, der Aufbruch zur Breitenbildung in deutscher Sprache und die Emanzipation des Bürgertums: »In demselben Augenblick, in dem kirchliches Dogma im Thomismus zur Formel erstarrte, die Kirche zum Durchgangspunkt aller Sterblichen zum Himmel gemacht wurde, zur alleinigen Herrscherin, schlug die Bewegung in ihr Gegenteil um: in der Mystik gestaltete sich der Versuch eines individuellen Gotteserlebnisses, wohl vom Boden der Kirche aus, aber selbständig unternommen. Diese Individualisierung des religiösen Gefühls fand in der Vision, in der unio ihren tiefsten Ausdruck. Auch hier eine Blüte, die bald welkte, die aber endlich eine reife Frucht zeitigte. Denn hier war die Möglichkeit für weite Schichten gegeben, dem unbefriedigten Drängen des eigenen Inneren Genüge und Ersatz zu schaffen. Im Anschluß an die Mystik entwickelte sich die erste große Laienbildung des deutschen Volkes. Vielleicht war dies die größte Frucht des Mittelalters: der Laie, das Volk wurde religiös frei; es gelangte noch nicht zur absoluten geistigen, wohl aber zur persönlichen religiösen Freiheit. Den Ablauf dieser Entwicklung an einem bestimmten Beispiel zu zeigen, soll im folgenden versucht werden« (S. 299). Die Deutung der vorreformatorischen Zeitvorgänge durch W I E L A N D SCHMIDT, die in starkem Maße dem protestantischen Liberalismus des 19. Jahrhunderts verpflichtet ist, hat sich durch neuere kirchen- und frömmigkeitsgeschichtliche Forschungen als nicht der historischen Wirklichkeit entsprechend erwiesen. Aus der »Individualisierung des religiösen Gefühls« (S. 299) ist keineswegs die Reformation verständlich zu machen. Nach B E R N D M O E L LER14 verhält es sich vielmehr so, »daß aus dem Zeitalter der höchsten Steigerung der Kirchlichkeit das Zeitalter der >Glaubensspaltung< unmittelbar hervorging«. Für H U G O KUHN 15 ist die Deutungsposition, die SCHMIDT vertritt, bereits völlig abgetan: »Die im deutschen Spätmittelalter überwältigende Menge« der religiös-christlichen »Literatur wird heute niemand mehr einfach politisch, aus der Propaganda der Macht der Kirche, oder heilsgeschichtlich, als innere Missionierung des Volkes auf die Reformation hin, erklären wollen«. Wenn nun gerade die überlieferungsgeschichtlichen Untersuchungen zu den >24 Alten< die Deutung SCHMIDTS zu stützen vermochten, diese aber den Einsichten der sonstigen historischen Forschung nicht standhalten 14

Spätmittelalter. In: Die Kirche in ihrer Geschichte. Ein Handbuch, hg. v. K. D. SCHMIDT und E. WOLF. Bd. 2, Lieferung Η (1. Teil). Göttingen 1966, S . 1-44, hier S . 44. 15 Entwürfe (Anm. 13), S. 88.

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kann, scheint die wissenschaftliche Infertilität überlieferungsgeschichtlicher Erhebungen in toto erwiesen zu sein. Doch dem scheint nur so. Das von WIELAND SCHMIDT zusammengetragene Quellenmaterial erlaubt die daraus gezogenen weitreichenden Schlüsse nicht. Wie sollten auch textexterne Überlieferungsdaten allein sicher anzeigen können, daß »der Laie, das Volk« im 15. und beginnenden 16. Jahrhundert bereits »zur persönlichen religiösen Freiheit« (S. 299) gelangt sei, wenn die Recherchen nicht einmal ausreichen, das »literarische Publikum« der >24 Alten< nach historisch verifizierbaren Personen zu bestimmen: »Der Leserkreis der >24 Alten< setzte sich nicht aus einer Summe von deutlich erfaßbaren, klar umrissenen Persönlichkeiten zusammen. Hob sich, selten einmal, eine solche Gestalt um Haupteslänge aus dem großen Strom heraus, so wissen wir noch nicht, ob ihr nur individuelle oder auch typische Geltung zukommt. Was in erster Linie erkennbar wird, sind nicht Individualitäten, sondern Schichten, Stände, Kreise« (S. 342). Der entscheidende Mangel in der Methodik SCHMIDTS besteht darin, daß er glaubt, vom Text selbst, den er ohne nähere Begründung als »künstlerisch ungeformt, platt und hausbacken« (S. 260) abwertet, und von einer Untersuchung seiner »mehr als hundertjährigen Lebendigkeit, in der sich das Werk auch überarbeitet, aufgeschwemmt, verwildert mehrere Generationen hindurch erhielt« (S. 260), absehen zu können. Dem Text und seinem Inhalt aus dem Weg zu gehen, erlaubt sich auch die Literatursoziologie und die Historische Typologie, obwohl es ganz evident ist, daß in der Textgeschichte geistige, strukturelle und soziologische Veränderungen sicherer greifbar sind als in den vielfach lückenhaften Daten der Überlieferungsgeschichte. Der fundamentale Unterschied der neuen Überlieferungsgeschichte zur alten, die als unselbständige Hilfswissenschaft Zubringerarbeit für fremde Zielsetzungen leistet, besteht darin, daß sie Überlieferungsrecherchen auch und primär am Text und nicht nur an der Handschrift und ihren äußeren Merkmalen anstellt. Die Textvariante wird zum Indikator des historischen Textverständnisses und der historischen Textgestalt - zusätzlich zum Besitzervermerk, zum Schreibereintrag und den Gebrauchsspuren der Handschrift. Im Mittelpunkt stand bisher die Handschrift als Individualität und als Trägerin derjenigen Daten, die Auskunft über die Lebensdauer, die räumliche Verbreitung und den sozialen Umkreis eines Textes, vor allem das Lesepublikum, geben konnte, jetzt tritt der Text und seine Geschichte ins Zentrum - doch nicht ausschließlich, sondern im Kontext seiner handschriftlichen und drucktechnischen Überlieferung. Dies hat zur Folge, daß der Text selbst in seiner Autorintention, 11

und bei pragmatischen Texten vorwiegend in seinen inhaltlichen Aussagen, zur Kenntnis genommen werden muß. Es ist nicht einzusehen, weshalb ein Text wie die >24 Alten< Ottos von Passau, der doch »das Erdreich (lockern)« half, aus dem die »Neugestaltung des religiösen Lebens, wie sie sich im 16. Jahrhundert durchsetzte« (S. 346), erblühte, nicht aufschlußreich sein könnte in dem, was er etwa über Reue, Beichte und Buße, über Gnade und Rechtfertigung und über die Gestaltung des religiösen Lebens ganz allgemein sagt. Und es ist überhaupt nicht erwiesen, daß die inhaltlichen und formalen Qualitäten eines Textes kein Movens für seine Beliebtheit und seine Verbreitung beim Publikum gewesen wären. Für W I E L A N D SCHMIDT gehört diese Annahme zu denjenigen Prämissen seiner publikumssoziologischen Studie, die er glaubte nicht kritisch sichern zu müssen: »Denn weshalb dieses oder jenes Werk von dem Interesse des Publikums aufgegriffen wurde, immer und immer wieder tradiert, anderes wiederum nur in ganz wenigen Handschriften auf uns gekommen ist, die Gründe dafür liegen in den literarischen Werken selbst kaum begründet« (S. 305). Dies ist der eine Grund, weshalb es SCHMIDT erlaubt erscheint, »das literarische Publikum« in Absehung vom »literarischen Werk selbst« »in seiner zeitlichen und örtlichen Gebundenheit, in seiner sozialen und geistigen Schichtung zu erfassen« (S. 310). Der andere Grund liegt darin, daß er weniger »das Werk zum Publikum und zu den geistigen Strömungen der Zeit in Beziehung . . . setzen« (S. 4), als vielmehr einen Beitrag »zur Geschichte der deutschen Bildung« (S. 309) leisten wollte, wie sie K O N R A D B U R DACH 1 6 , A R T H U R H Ü B N E R 1 7 und JOSEPH KLAPPER 1 8 verstanden. Er wollte zeigen, daß und wie die Laienwelt des Spätmittelalters durch die Lektüre religiöser Schriften, wie der Ottos von Passau, geistig selbständig und religiös mündig wurden: »Der Laie lernte lesen. Das war bisher das Vorrecht des geistlichen Standes und weniger Gebildeter. Jetzt, da das gesprochene Wort allein nicht mehr Genüge leistete, vollbrachte die Kirche diese letzte große Erziehungsarbeit des Mittelalters - unbewußt und gab dem Laien das Buch in die Hand. Noch bestimmte die Kirche den Inhalt dieser Bücher: erbauliche Schriften, Gebete, Bibelexegese und ähnliches. Aber sie schaffte damit gleichzeitig der Möglichkeit offene Bahn, das selbständige Denken der Masse zu unterstützen und aus16

Die pfälzischen Wittelsbacher und die altdeutschen Handschriften der Palatina. Zentralbl. f. Bibliothekswesen 5 (1888) 111-133 = Vorspiel I, 2 (1925), S. 70-99. 17 Die deutschen Geißlerlieder. Studien zum Geistlichen Volksliede des Mittelalters. Berlin 1931. 18 Schriften Johanns von Neumarkt (Vom Mittelalter zur Reformation VI, 4: Gebete des Hofkanzlers und des Prager Kulturkreises). Berlin 1935.

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zubilden. Durch die religiösen Erbauungsbücher entwickelte der Bürger die Fähigkeit in sich, geistige Dinge unabhängig vom gesprochenen Wort zu erfassen. Sobald sich nun der Inhalt dieser Bücher änderte, die Kirche nicht mehr ihren Inhalt von sich aus bestimmte, konnte das Buch zur furchtbaren Waffe gegen die Kirche selbst werden« (S. 304f.). Um dies darzutun, genügte SCHMIDT das Studium der Überlieferungsgeschichte der Handschriften. Ein Studium der Texte und der Überlieferungsgeschichte der Texte erschien dieser bildungsgeschichtlichen Forschung nicht erforderlich. Handschriftliche Überlieferungsforschung steht im Dienste vieler Disziplinen und untersteht vielen wissenschaftlichen Zielsetzungen, die textorientierte und die auf Textveränderungen konzentrierte Überlieferungsgeschichte entfaltet ihre wissenschaftliche Ausrichtung aus sich selbst heraus. Nur sie kann als eigene Methode, als eine literaturgeschichtliche Methode verstanden werden, weil sie den Text selbst verstehen lehrt, und zwar in einer bestimmten Existenzweise: in seiner Historizität, seiner Lebendigkeit und seinem Gebrauch. Diese Methode kann am nutzbringendsten an Texten angewendet werden, die eine »sehr lange Überlieferungs- und Wirkungsgeschichte« 19 haben und die von geringer Konsistenz sind. Doch auch Unikate verschließen sich dem überlieferungsgeschichtlichen Zugang nicht. Überlieferungsgeschichte unter Einbeziehung der Textgeschichte als Textüberlieferungegeschichte zu verstehen, kann nun so etwas Neues nicht sein. Ist es auch nicht. Zudem ist nicht einzusehen, auf welchem Wege eine Textüberlieferungsgeschichte neue Einsichten in ein literarisches Werk erschließen soll. Auch dies stimmt, doch nur, wenn die Textänderungen innerhalb eines Werkes oder einer Gattung ausschließlich formal-positivistisch genommen werden. Textorientierte Überlieferungsgeschichte erschöpft sich nicht in der »Gliederung der Überlieferung«, in der Feststellung der »Abfolge der Rezensionen« und in der Klärung der »Abhängigkeitsverhältnisse innerhalb der Rezensionen«. Diese Arbeit ist zwar notwendig, wie H U B E R T HERKOMMER 2 0 für die >Sächsische Weltchronik< und paradigmatisch für alle überlieferungsgeschichtlichen Untersuchungen aufgewiesen hat, aber sie schafft nur die Voraussetzungen, um die zentralen überlieferungsgeschichtlichen Fragen der Sächsischen Weltchronik< zu klären: die »Absicht(en)« der Redaktoren und 19

K U H N ( A n m . 13), S. 7 2 .

20

Überlieferungsgeschichte der »Sächsischen WeltchronikAusschnittes< des Werks: »Mit Hilfe der Veränderungen, denen die >Kaiserchronik< im Laufe der Überlieferungsgeschichte der SW unterliegt, dürfte sich die Textgeschichte so weit ordnen lassen, daß die Abfolge der Rezensionen festgelegt werden kann« (S. 1 3 1 ) . HERKOMMER kann im Ergebnis zwar eine »Neuordnung der Überlieferung« (S. 270) anbieten, die zudem nur soweit verbindlich ist, als der gewählte >Ausschnitt< die Gesamtverhältnisse der Überlieferung repräsentiert, muß aber zu den Fragen nach den geistig und literarisch signifikanten Vorgängen an den einzelnen Stationen der Textgeschichte schweigen, also zu den Fragen, die über die Registrierung der bloß formalen »Besonderheiten« der Redaktionen und Einzelhandschriften hinausgehen, also etwa der speziellen Redigierung, der Kürzung, der Interpolierung, der Kontamination usw. Wie bei Texten mit einer der >Sächsischen Weltchronik< vergleichbaren Überlieferung letztlich zu verfahren sei, damit ihre »Auswertung« »zur Erforschung der spätmittelalterlichen Literatur unter sozial- und ideengeschichtlichen Gesichtspunkten beitragen kann« (S. 293), rechnet K A R L STACKMANN21 immer noch zu den »ungeklärten methodischen Vorfragen« der Germanistik. Schuld an diesem unbefriedigenden Zustand sei sie selbst, denn sie habe sich nie mit der gebührenden Aufmerksamkeit um diesen Problemkreis gekümmert: »Daher fehlt es ihr auch an hinreichender Erfahrung mit einem Texttyp, wie er bei der Säch21

14

Die Stadt in der norddeutschen Welt- und Landeschronistik des 13. bis 16. Jahrhunderts. In: Über Bürger, Stadt und städtische Literatur im Spätmittelalter. Bericht über Kolloquien der Kommission zur Erforschung der Kultur des Spätmittelalters 1975-1977 (Abhandlungen der Akad. d. Wiss. in Göttingen, Philol.-hist. Kl., 3. Folge, Nr. 121). Göttingen 1980, S. 289-310.

sischen Weltchronik und ihren Nachfolgetexten vorliegt, mit Texten also, die nur geringe Konsistenz zeigen und zugleich über größere Zeiträume hinweg immer neuen Gebrauchssituationen angepaßt wurden« (S. 292). Einen Weg, wie sich »ein Veränderungsvorgang erkennen und beschreiben läßt, der sich im Laufe von rund 350 Jahren in der zur Sächsischen Weltchronik gehörigen Textfamilie abgespielt hat« (S. 293), sieht K A R L STACKMANN in der Beschränkung auf Untersuchungen von Sachthemen. Am Sachthema >Stadt< - aber eben nur für dieses Thema kann er erfolgreich demonstrieren, welche »charakteristischen Funktions- und Perspektivenverschiebungen« 22 sich innerhalb der langandauernden Tradierung der >Sächsischen Weltchronik< beobachten lassen. Erforderlich ist freilich, daß eine Vielzahl gleichgearteter Analysen mit einem jeweils anderen Thema, Motiv, Gedanken, Begriff, Vorgang, Gegenstand usw. vorgenommen und ihre Einzelergebnisse dann auch in einer Gesamtschau und Globalinterpretation zusammengefaßt werden. Erforderlich macht es diese Arbeitsweise auch, daß für jedes Thema das Text- und Untersuchungsmaterial neu aufbereitet wird. Ohne Kenntnis von K A R L STACKMANNS Vorschlag hat die >Würzburger Forschergruppe< in der nämlichen Problematik ein anderes methodisches Vorgehen gewählt, sicher auch durch die Tatsache bestimmt, daß keines ihrer Projekte durch das Vorhandensein einer Textausgabe in der Forschungs- und Arbeitsplanung vorbelastet war. Die >Elsässische Legenda aureaVocabularius Ex quoRechtssumme< Bruder Bertholds - also jedes Einzelprojekt - konnten ab ovo beginnen. Wie die >RechtssummeRechtssumme< Bruder Bertholds so zu erfassen, daß im Erfassungsergebnis die textgestaltenden Intentionen der Textmacher erkannt und die sich im Überlieferungsprozeß ausformenden Texte in ihrer neuen Gestalt und Gebrauchsfunktion beschrieben werden konnten. Ein solches Verfahren wurde in der Textkollation aller erhaltenen >RechtssummeNovum Testamentum Graece et Latine< benutzt: ' bzw. r = Textersatz, T = Textzusatz, 0 = Textauslassung, z = Textumstellung. Die Kollation richtete sich nach den Analyseergebnissen der Vorkollation und ordnete die zu kollationierenden Handschriften und Drucke in der Abfolge ihrer textgeschichtlichen Zusammenhänge. Da die Kollation getrennt nach Redaktionen erfolgen sollte, der Übersichtlichkeit halber und aus arbeitsökonomischen Gründen, war in einem dritten Arbeitsgang eine Synoptisierung der Redaktionen notwendig. Es dürfte nicht überflüssig sein, das hier kurz beschriebene Verfahren näher vorzustellen.

23

H E R K O M M E R ( A n m . 2 0 ) , S. 1 3 1 .

24

Novum Testamentum Graece et Latine. Utrumque textum cum apparatu critico imprimendum curavit D . E B E R H A R T N E S T L E novis curis elaboravit D . E R W I N N E S T L E , Editio sexta decima. Stuttgart 1954, S. 8*-10*.

16

1. Eine Hauptforderung an eine V o r k o l l a t i o n ist: Sie muß in ihrer Anlage offen und in ihrer Durchführung flexibel sein. Sie darf sich nicht durch prinzipielle Vorentscheidungen oder durch arbeitsökonomische Beschränkungen in ihrer methodischen Manövrierfähigkeit einengen lassen. Sie muß auf neu hinzukommende Überlieferungszeugen, auf neue und oftmals überraschende Einsichten in die Überlieferungszusammenhänge des Textes, die die fortschreitenden Auswertungsanalysen erbringen, und sie muß schließlich auf neue Fragestellungen und erforderliche Umplanungen immer reagieren können. Bei Projektbeginn 1973 waren 70 Handschriften und 11 Drucke der >Rechtssumme< Bruder Bertholds bekannt, 1984 hatte sich der Überlieferungsbestand auf 83 Handschriften und 12 Drucke erhöht. Glaubte die Anfangsplanung der Vorkollation mit Hilfe der Auswertungsergebnisse dreier größerer Textabschnitte (Buchstabe A, Kapitel 1-33; L 1-14, 19-26; Ζ 1-10) die genealogischen Verhältnisse und die Konturen der Textgeschichte erfassen zu können, so waren es am Ende insgesamt 19 verschiedene Textpassagen (B 1-67; D 4-6; Ε 61-64; F 3 - 4 ; G 10-12, 72-74; Η 8-10; 17-8; Κ 37-38; Μ 14; Ρ 1-2; R 19-22; S 53-55; Τ 12-14; V 40-42), die in allen Überlieferungszeugen Wort für Wort untereinander verglichen werden mußten. Es sind dies 134 Kapitel der >Rechtssumme< von insgesamt 703. Anfangs hoben sich zwar schnell die 3 Hauptredaktionen Α, Β und C voneinander ab, auch Unterredaktionen (Ax, Ay, Aζ, By 1, By 2, Bx, Bx 1, Bz, Bz 6, Cx, Cy, Cx l)25 waren bald zu erkennen; Mühe bereitete, die Anschlußstellen von Vorlagenwechsel in 16 Handschriften (Ab 1, Dr 1, Gr 1,1 2, L 1, Μ 3, Μ 6, Μ 11, Μ 19, Μ 22, Μ 24, S 1, Sp 1, W 2, W 6, W 8)26 ausfindig zu machen, die Kontaminationsverhältnisse aufzudecken, die teilweise nicht den Redaktionen Α, Β und C angehörenden Handschriften I 2, Μ 3 (mit Drucken a 1 - a 6, b l , u l ) , M 6 und W 2 stemmatisch einzuordnen und das Verhältnis der divergierenden Textfassungen Α, Β und C zur vermuteten Textgestalt des Autors Berthold zu bestimmen. Letzte Sicherheit in den Auswertungsergebnissen der Vorkollation und damit in der richtigen Sicht der Überlieferungsvorgänge des >RechtssummeRechtssummeRechtssumme< sind verwendet nach W E C K (Anm. 6), S. 21-221.

17

im Zeitraum seiner Wirksamkeit - für die >Rechtssumme< sind es die Jahre von 1390 bis 1518 - ausgebildet wurden. 2. Sie klärt das Verhältnis der Redaktionen, Textstufen und Einzelkopien des Textes in den Handschriften und Drucken. Die eruierte Gesamtgliederung der Überlieferung läßt sich in der Regel überschaubar in einem Stemma27 darstellen. 3. Sie fahndet schließlich nach jenen Überlieferungszeugen, in denen der Text unter gebrauchsfunktionalem Aspekt Umgestaltungen erfahren hat. Handschriften und Drucke, die eine bekannte Textform nur reproduzieren, scheidet sie für die weitere textgeschichtliche Untersuchung aus. Die folgenden Textzeugnisse der >Rechtssumme< wurden für die Hauptkollation beiseite gelassen: Η 1, Η 3, Η 5, Ha 1, Hb 1, Kö 1, Μ 2, Μ 9, Μ 10, Μ 15, Μ 19, Μ 21, Μ 24, Μ 26, Μ 27, Μ 28, Ν 2, Ol 1, S 1, Sc 1, So 1, Sp 1, Ss 1, W 1, W 4, Ζ 1, a 4, a 5, a 6, b 2, m 1, m 2, u 1. Um alle Textänderungen mühelos mit dem Auge erfassen zu können, hat es sich als sehr nützlich erwiesen, bei der Kollation die Handschriften und Drucke nicht vollständig abzuschreiben, sondern nur jenen Text zu registrieren, der nicht mit dem Text der Kollationsleithandschrift identisch ist. Beide Arbeitsweisen nebeneinander gehalten (vgl. S. 19-21), lassen den Vorteil des textgeschichtlich aussortierenden Vergleichens ohne weitere Begründungsnotwendigkeit erkennen, zumal bei Bedarf jederzeit nachkollationiert und Text nachgeschrieben werden kann. Voran (I) steht die ausgeschriebene Kollation des Kapitels Ε 91,4-20 (gekürzt) aller Textzeugen der Α-Fassung (alphabetisch), dann folgt (II) die textgeschichtliche Kollation nach genealogischer Anordnung der Textzeugen (Di 1, W 3 = Ay; Gh 1, 1 1 = Az) und unter sparsamer Verwendung der NESTLE-Zeichen.

2. Die H a u p t k o l l a t i o n unterscheidet sich in der Methode des Kollationierens nicht von der Vorkollation, wohl aber in der Textzeugenanordnung und ihrer Aufgabe. Herkömmlich werden Kollationen angelegt, um eine Textausgabe vorzubereiten. Dieses Ziel verfolgt auch die >RechtssummeRechtssumme< sind dies aufgrund der Sondierungsergebnisse der Vorkollation die folgenden 62 Handschriften und Drucke: Ab 1, Β 1, Β 2, Β 3, Β 4, Β 5, Β 6, Ba 1, Br 1, Bs 1, Ch 1, Di 1, Dr 1, Gh 1, Gr 1, Η 2, Η 4, I 1, I 2, Κ 1, Ka 1, Kl 1, Kl 2, L 1, Le 1, Lz 1, Μ 1, Μ 3, Μ 4, Μ 5, 27

18

Für die >Rechtssumme< siehe Stemma S. 47.

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Μ 6, Μ 8, Μ 7, Μ 11, Μ 12, Μ 13, Μ 14, Μ 16, Μ 17, Μ 18, Μ 20, Μ 22, Μ 23, Μ 25, Ν 1, Ρ 1, Se 1, Sf 1, St 1, U 1, W 2, W 3, W 5, W 6, W 7, W 8, Wü 1, a 1, a 2, a 3, b l , 11. Eine Editionskollation würde sich in erster Linie auf Textzeugen stützen, die den Text möglichst unbearbeitet tradieren 28 . Sie berücksichtigt zweitens die redaktionelle Ausformung des Textes in seine 3 Hauptfassungen A, B, und C, indem sie die 62 Textzeugen nicht im Raster einer Einheitskollation erfaßt, sondern nach der Zugehörigkeit ihrer Hauptredaktionen. Die Mühe, 3 Leithandschriften (I 1 für Α, Μ 4 für Β, Μ 13 für C) schreiben zu müssen, steht in keinem Verhältnis zum methodischen Gewinn für das wirkungs- und textgeschichtliche Verständnis der >RechtssummeRechtssummeRechtssumme< hinweg, die auf diesen Vermittlungsstufen von den Redaktoren und Schreibern bzw. Druckern je vorgenommen wurden. Miteinander verglichen sind diese Textänderungen unterschiedlich stark und zudem sehr verschiedenartig. Neben den Redaktionen Α, Β und C können die folgenden Tradierungsstufen als textgeschichtlich besonders signifikant vermerkt werden: 28

22

Vgl. zum Problem textbearbeitender Handschriften als Textzeugen für kritische Editionen: David von Augsburg: Die Sieben Staffeln des Gebetes, in der deutschen Originalfassung hg. v. K. RUH (Kleine deutsche Prosadenkmäler des Mittelalters 1). München 1965, S. 26f.

Ax, Ay, W 3,11, MW, Μ 3, a 2, Βχ, Βχ 1, Βχ 3, By 1, By 2, By 3, By 4, Bz, Bz 3, Bz 4, Bz 6, Cx, Cx 2, Cx 4, Cy, Cy 1, Cy 3. Für eine überlieferungsgeschichtliche Sicht von Texten ist das Wissen um die maßgeblichen historischen Ausgestaltungen eines Werkes, in denen sich die unterschiedlichen Redaktoren- und Schreiberintentionen, Gebrauchsinteressen und Verständnisansätze des Textes spiegeln, von allergrößter Wichtigkeit. Um dieses zu gewinnen, leistet die nach dem Vorbild einer Partitur angelegte zeilensynoptische Hauptkollation die besten Dienste. 3. Daß die Hauptkollation in drei Redaktionskollationen aufgespalten werden und damit die Kollationsarbeit wesentlich erleichtert und immer übersichtlich gehalten werden konnte, ermöglichte die Aussicht, in einer dritten Arbeitsphase die Redaktionstexte Α, Β und C über EDV-Erfassung und mittels spezieller EDV-Programme bis in das Einzelwort hinein genau aufeinander zu beziehen. Weil auf diese R e d a k t i o n e n - S y n o p s e zugleich auch alle überlieferungskritischen Varianten der >RechtssummeRechtssumme< vorsortiert bereitzustellen. Aber auch für die Klärung der wichtigen Fragen nach den redaktionellen Tätigkeiten der Schreiber und des Verhältnisses Bruder Bertholds zu seiner lateinischen Vorlage leisten die vorhandenen Textverarbeitungsprogramme gute Dienste. So bereitet es keine Mühe, etwa das Textgut der einzelnen Redaktionsstufen (z.B. Ax, By 2, 11, Μ 3) nach Bedarf entweder insgesamt oder in Auswahl abzurufen. Freilich wurden diese neuen Arbeitsmöglichkeiten bisher noch wenig genutzt. Die vorgeführten und experimentell erprobten Arbeitsmethoden mit Kollationstechnik und Computer eröffnen neue Möglichkeiten zur Rekonstruktion der entscheidenden Vorgänge einer Textüberlieferung und damit auch zur Darstellung einer t e x t i n t e r n e n Überlieferungsgeschichte. WIELAND SCHMIDT konnte nur eine t e x t e x t e r n e Überlieferungsgeschichte der >Vierundzwanzig Alten< Ottos vo-n Passau bieten: Er hat die erhaltenen Textzeugen, Handschriften und Drucke ihrer Zahl nach registriert und alle beobachtbaren äußeren Überlieferungsfaktoren minutiös genau beschrieben; er hat ihren Inhalt angegeben, und er hat schließlich auswertende Mitteilungen über die zeitliche und räumliche 23

Verbreitung des Werkes gemacht und insbesondere zu seinem »Leserkreis nach seiner geistigen Haltung und sozialen Schichtung« (S. 341). Eine textinterne Überlieferungsgeschichte lag nicht in Reichweite seiner Möglichkeiten und auch nicht in der Zielvorgabe seiner wissenschaftlichen Bemühungen: wie am Text, so geht SCHMIDT auch an der Geschichte des Textes vorbei. Bezeichnend dafür ist, daß er nur dem passiven »literarischen Publikum«, dem Auftraggeber und Leser, seine Aufmerksamkeit widmet und nicht auch dem aktiven »literarischen Publikum«, den Redaktoren, Schreibern und Druckern, die allein den Text tradiert, redigiert und den geistigen Bedürfnissen der Zeit angepaßt haben. Als Arbeitsfelder für eine i n t e r n e Ü b e r l i e f e r u n g s g e s c h i c h t e zeichnen sich in der Hauptsache die folgenden ab: 1. Die Erschließung des Überlieferungsweges eines Textes, die Aufdekkung also der redaktionellen Umformungen eines Textes, die Feststellung aller Tradierungsänderungen, soweit dies die erhaltenen und bekannten Textzeugen zulassen, und schließlich die Nachweise ihrer Abhängigkeiten voneinander. Wenn versucht wird, diese Ergebnisse in einem Stemma zu verbildlichen, dann muß bedacht werden, daß dies nicht ein stemma codicum29 ist, sondern ein Stemma der Überlieferungswege und Abschreibestationen eines Textes, den die Codices lediglich als ihren Inhalt tradieren. Beispiel eines solchen Texttradierungs-Stemmas ist das Gesamtstemma der >RechtssummeRechtssumme< Bruder Bertholds. In: Text- und Sachbezug in der Rechtssprachgeographie (MMS 52). München 1985 (im Druck).

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25

gen sollte jeweils die stemmatologische Einordnung eines Textes mitgeteilt werden31. 2. Nicht zu erkennen sind in diesem Textwege-Stemma die eigentlichen Vorgänge der Textgeschichte. Diese sind kartographisch nur sehr bedingt zu erfassen. Wie sollten auch die Ergebnisse von Textbearbeitungen und noch dazu verschiedener Redaktoren und Schreiber - wie etwa der von A, B, C, Αχ, Bx 1 oder W 3 - in ein Stemma übertragen werden, die nur auf analytischem Wege zu gewinnen und in ihrer Differenziertheit nur monographisch darstellbar sind. Textgeschichtliche Prozesse lassen sich, wenn überhaupt, nur punktuell und in vertikalen Schritten anschaubar machen. Werden diese an Textstellen vorgenommen, die für Änderungen anfällig sind, vermögen sie in der Regel sehr aufschlußreiche Einblicke in textgeschichtliche Zusammenhänge zu gewähren. Wie unterschiedlich das Verhalten der Schreiber bei der Wiedergabe ein und desselben Begriffes (gerhab ~ >VormundRechtssumme< sein kann, zeigen die nachstehenden Beispiele, die den Kapiteln A 18 und S 43 entnommen sind. a) Der Textzusammenhang der Belege, differenziert nach den Fassungen Α, Β und C. Kapitel A 18, 55-59 Α: Auch waif en vnd vnfinnig laut, vnd all die vormund find vnd gerhaben, vnd all die irgut niht felber vermügen gefehen, die mugen niht gross almufen geben. B: Auch vnweifen law ten vnd all die verfprecher vnd gerhaben habent vnd ir güt nit felber haben, mugen nit gros almufen geben. C: Auch waifen vnd vnfynnig leut vnd alle die die in der gerhaben gewalt fein, vnd die ir hab nit felber miigen pefehen, die mugen nicht groffes almufen geben. Kapitel S 43, 12-15 A: Auch ein chind oder ein menfch das vnder fünf vndswaintsik iarn man ift, was das fpü verlewft, das dem vater oder den frewnten wider geben. B: Auch ain chind oder ain menfch das vnder fünf vnd swaincsig man jaren ift, was das ΦΗ verlewft, das dem vater oder dem gerhaben wider geben. 31

26

Vgl. Handschriftenbeschreibungen bei STEER (Anm. 6) und K . B E R G - M . K A S P E R (Hgg.), Das buch der fugenden. Ein Compendium des 14. Jahrhunderts über Moral und Recht nach der >Summa Theologiae< I I - I I des Thomas von Aquin und anderen Werken der Scholastik und Kanonistik (TTG 7-8). Tübingen 1984.

C:

Auch ain chind oder ain menfch das vnter funff vnd jwaintjig jaren ift, was das mit fpil verleiift, das fol man dem vater vnd den Vormunden wider geben.

b) Auszug aus der (an diesen Stellen auf alle Handschriften und relevanten Drucke erweiterten) Hauptkollation. A-Fassung: I 1 Di 1 W3 Gh 1 11 m1 m2 b2

A 18 gerhaben gerhabn gerhabn gerhaben vormundere vormundere vormüdere vormüdere

S 43 frewnten freunten frewndten fruden vrunde vrunden vrunde vrüden

Präredaktionelle Handschriften (mit Drucken): 12 gerhaben (Cx 1) vermüde W2 gerhaben (By 2) vord'n Μ3 gerhaben vormüden a1 gerhaben Pflegern a2 Gerhaben pflegerü a3 Gerhaben Pflegern b1 vSgt Pflegern B-Fassung: Μ 17 Stl Μ6 U1 Μ 25 Ch 1 Β1 W1 Bs 1 Ka 1 W7 Η5 Μ 18 W4 Η2 Kl PI Μ 14 Μ8

ger habent gerhaben ge'haben (MW) furmund furmunde gerhaben gerhaber gerhaber gerhaben gerhaben gerhaben Gerhaben gerhabn gerhaben gern haben gerhabe gerhaben gerhaben gerhaben

Pflegern

ρ feg'η Pflegern

pflege'η plegern gerhaben gerhaben gerhaben nehfte erbt gerhabn gerhaben Gerhaben gerhabn gerhaben gerhaben gerhaben gerhaben gerhaben gerhabn 27

Μ 15 Μ 20 Se 1 Β4 Μ9 W6 S1 Sp 1 Μ 24 Μ4 Β2 Μ5 Β3 Η1 Ss 1 Μ1 Μ 10 Μ 12 Μ 19 Μ2 Μ 16 Μ 21 Wü 1 Ζ1 C-Fassung: Μ 13 LI Dr 1 W5 Μ 22 Lz 1 Sf 1 Ab 1 W8 Kl 1 Gr 1 Η4 Μ 11 Kl 2 Β6 Ν1 Ba 1 Μ7 Br 1 28

gerhaber gehabett Gerhabn gerhaben -

gerhabn gan haben gernhaben gern habe gerhabn muntbar gern haben gerhaben gerhabn gerhaben gerhabn gerhaben gerhaben gerhabn gerhabn ger gerhaben gerhaben -

gerhaben gerhabn gerhabn gerhabenn gerhabn (By 6) gerhabn gerhabn gerhabm gerhaben gerhabn gerhaben ger haben gerhabn (Bx 7) gerhabn gerhaben gerhabn gerhaben formunde vormüden

gerhabn gerhabn gerhabn gerhab gerhaben gerhabn ger haben gerhaben gerhaben gerhabn gerhaben gerhabn gerhaben gerhaben -

gerhabn gerhaben gerhaben gerhaben gerhabn gerhaben gerhaben Gerhaben gerhaben vormüden gerhaben (Bx 12) gerhaben freuntn vo'müdn voruordm vorvordern frSmden freunden vormundern Gerhabn (Bx 6) Vormunden vormüd vormanide vorgefchriben vormonden vormüden -

vormüden

c) Übertragung der textgeschichtlichen Befunde auf das Texttradierungsstemma (Karte 1 und 2). Als zweite Aufgabe der internen Überlieferungsgeschichte zeichnet sich die Analyse und Beschreibung der redaktionellen Textausformungen ab, deren Profil mittels horizontaler und vertikaler Betrachtung des textgeschichtlichen Materials sehr klar erfaßt werden kann. Es gilt vor allem, die Ergebnisse der Redigierung in inhaltlicher, struktureller, lexikalischer, stilistischer und gebrauchsfunktionaler Hinsicht zu erarbeiten. 3. Bei der Aufnahme der Daten für die externe Überlieferungsgeschichte wird es für nötig befunden, u.a. genau zu registrieren, welchen Schriftraum ein Schreiber für die Kopie seines Textes wählt, welche kalligraphischen Eigenarten seine Schriftzüge aufweisen, ob die Überschriften rubriziert sind, ob Auszeichnungsstriche verwendet werden und welche Größe die Lombarden haben. Keine Mühe hingegen wird aufgewendet herauszufinden, wie der Schreiber den Text seiner Vorlage abschreibt. Dies zu wissen, wäre für die Kenntnis der mittelalterlichen und frühneuhochdeutschen Literaturvermittlung und der geistigen Interessen der Zeit wichtiger als Mitteilungen darüber, daß die Streicheisen-Diagonalen auf dem roteingefärbten Rindslederbezug des Vorderdeckels einer bestimmten Handschrift vier Felder bilden. Wenn schon die in Handschriften erhaltenen Textabschriften nicht das Interesse zu einer gründlichen Analyse auf sich zu ziehen vermögen, dann erst recht nicht, so ist anzunehmen, erschlossene Textformen, deren Redaktoren und Schreiber man nicht kennt und deren Entstehungszeit und Herkunftsraum ebenfalls unbekannt sind. Und doch erscheinen gerade sie geeignet für textgeschichtliche Untersuchungen, denn sie sind durch die nach dem Vergleichsprinzip arbeitende Hauptkollation dafür bereits vorsortiert. Alle Textpassagen, die nicht vorlagenabweichend sind, erscheinen von vorneherein weggelassen. Schreiberverhalten, Bearbeitungsintention, gebrauchsfunktionale Textausrichtung, kurzum die causae der Textredigierung, lassen sich deshalb am kollationierten Textmaterial der Redaktionsstufen am leichtesten und sichersten eruieren. Mitunter kann überlieferungsgeschichtlich neuem Text selbst entnommen werden, weshalb in die Textgestalt der Vorlage eingegriffen wurde. Ein Beispiel: Es läßt sich beobachten, daß in der Cy-Überlieferung der >Rechtssumme< (Gr 1, Ν 1, Ba 1, Μ 7, Br 1, Η 4, Kl 1, Μ 11, Kl 2, Β 6, Ab 1, W 8 [die Vorlage von Ab 1 und W 8 ist Vorlagenwechsler]) alle Kapitel der Buchstabenbereiche C und Κ nach Ch umgestellt wurden. Der Buchstabe Κ blieb unbesetzt. An seinem Ort hat der Cy-Redaktor, der einen C-Text vor sich hatte, für den Benutzer und Leser seiner Textabschrift eine Notiz hin29

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C Φ — σι φ c ε Ν Ε Φ 3 in (Λ k_ Rechtssumme< sehr klar herauszustellen. Zum dritten durch die postredaktionelle Textentwicklung, die die Fassungstexte Α, Β und C als 'Ursprungs'-Texte erweist. 16

W A C H I N G E R ( A n m . 13), S. X I X .

17

Vgl. den Beitrag von

46

T H . STADLER

in diesem Band.

Es erscheint naheliegend, den »Redaktionstext« nach dem Modell III mit der sog. »Gebrauchsfassung«, wie sie H A N N S FISCHER 18 versteht und definiert, gleichzusetzen. Gewiß sind »Redaktionstexte« wie »Gebrauchsfassungen« »Zwischenprodukte des Traditionsvorganges vom Original des Autors zur letztlich erhaltenen Niederschrift«, aber sie sind mehr, sie sind Bearbeitungen des einen Textes, denen eine von der des Autors zu unterscheidende Intention und Textkonzeption eignet. Eine »Gebrauchsfassung« kann diese Textselbständigkeit dem ursprünglichen Autortext gegenüber nicht für sich in Anspruch nehmen. Deswegen kann sie als Gebrauchsversion des Textes den Text des Originals im großen und ganzen vertreten, Der Redaktionstext hingegen erhält wegen seines Eigenkonzepts eine Äquivalenz mit dem Autortext nur in Teilen aufrecht. Bestes Beispiel für den Unterschied zwischen »Gebrauchsfassung« und »Bearbeitungsfassung« ist der Α-Text der >RechtssummeRechtssumme< und die ursprüngliche Fassung des Autors Berthold sind nicht mehr die gleichen Texte. Hinzu kommt, daß die sog. »Gebrauchsfassung« eines Textes in der Regel auf eine textgeschichtliche Einordnung verzichten kann. Ein Redaktionstext wird erst durch eine textgeschichtliche Interpretation verständlich. Es erübrigt sich fast zu erwähnen, daß auch der sog. »eklektische Text« nichts mit einem »Redaktionstext« zu tun hat. Er ist ein montierter Text. Seine Legitimität und Konsistenz bezieht er in erster Linie aus den divinatorischen Fähigkeiten seines Editors. Der »Redaktionstext« hingegen gründet auf den Gegebenheiten der Überlieferung, die jeder Editor gleich herstellen muß. Wie ist nun an die Redaktionstexte heranzukommen? Sie sind im Falle der >Rechtssumme< durch keine Handschrift unmittelbar tradiert. Die Antwort ist einfach: Sie müssen rekonstruiert werden. Dank der breiten Textbezeugung durch die postredaktionelle Überlieferung läßt sich die Redaktionsgestalt von Α, Β und C vollständig und authentisch wiederherstellen. Wie dies unter gezielter, 'kritischer' Sichtung der Überlieferung vonstatten geht, ist schon öfter beschrieben worden19. Die18

Die deutsche Märendichtung des 15. Jahrhunderts (MTU 12). München 1966, S. XI; vgl. auch DERS. , Probleme und Aufgaben der Literaturforschung zum deutschen Spätmittelalter. GRM 40 (1959) 217-227. 19 K. RUH, Votum für eine überlieferungskritische Editionspraxis. IN: Probleme der Edition mittel- und neulateinischer Texte (Anm. 5), S. 35-40; G. STEER, Stand der Methodenreflexion im Bereich der altgermanistischen Editionen. Ebda. S. 117-129; DERS., Hugo Ripelin von Straßburg. Zur Rezeptions- und Wirkungsgeschichte des Kompendium theologicae veritatis< im deutschen Spätmittelalter (TTG 2). Tübingen 1981, S. 573614; DERS. , Edieren mit Hilfe von EDV. Zur Textausgabe der >Rechtssumme< Bruder

48

ses sog. überlieferungskritische Verfahren braucht deshalb hier nicht nochmals vor- und dargestellt zu werden. E§ muß aber dem Einwand begegnet werden, textgeschichtliches Edieren vertrage sich nicht mit Rekonstruieren. Was ist denn Rekonstruieren im historischen Bereich anderes als Aufdecken, Freilegen und Darstellen geschichtlicher Zustände und Zusammenhänge - auch von Texten und ihrer Überlieferung? Die textgeschichtliche Edition will ja gerade an der Grenze, an der die »bloße Vermutung der Philologen«20 beginnt, haltmachen und sich auf das historisch Belegbare zurückziehen, auf die Redaktionen, die mittels der großen Anzahl an Textzeugen in ihrer einheitlichen Textform sicher und von jedermann nachprüfbar aufzuweisen und zu dokumentieren sind21. Freilich, für immer verloren gegangen ist ihre Sprachgestalt. Auch sie erschließen zu wollen, wäre ein Unding. Man »leiht« sie der Einfachheit halber und dabei auch dem historischen Prinzip entsprechend von sekundären erhaltenen Handschriften »aus«, was bedeutet: die Redaktionstexte Α, Β und C werden in der Schreibsprache der folgenden Handschriften gelesen: 11 = Innsbruck, Univ.-Bibl. Cod 549, v. J. 1390; Μ 4 = München, Bayer. Staatsbibl. cgm 283, v. J. 1423; Μ 13 = München, Bayer. Staatsbibl. cgm 612, v. J. 145422. Überall dort, wo diese Redaktionshandschriften den authentischen Text der Fassungen nicht präsent haben, wird er Ersatzhandschriften (Di 1, St 1, W5) entnommen. Das Prinzip der Repräsentation des erschlossenen Fassungstextes durch eine historisch erhaltene Beleghandschrift erlaubt somit - und was die Ausgabe selbst auch beweist -, die >Rechtssumme< Bruder Bertholds in ihrer redaktionellen Ausfächerung wie in der individuellen Sprachgestalt historischer Abschriften relativ unkompliziert zur Darstellung zu bringen. Bertholds. In: Maschinelle Verarbeitung deutscher Texte. Beiträge zum dritten Symposion Tübingen 17.-19. Februar 1977. Tübingen 1980, S. 121-130; U. WILLIAMS, W. WILLIAMS-KRAPP (Hgg.), Die >Elsässische Legenda aureaRechtssumme< Bruder Bertholds. Eine deutsche abecedarische Bearbeitung der >Summa Confessorum< des Johannes von Freiburg. Die handschriftliche Überlieferung (TTG 6). Tübingen 1982.

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Vom festen Stand der Redaktionstexte aus und in Kenntnis des geschichtlichen Verlaufs der Textweitergabe kann der Blick gewagt werden einmal »zurück« zum Ursprung der Textentwicklung, zum Autortext, und zum anderen nach »vorne« auf die Veränderungen, die die >Rechtssumme< in ihrer postredaktionellen und - vom veränderten Standpunkt aus gesehen - auch in ihrer präredaktionellen Tradierungsphase erfahren hat. Was sich an ursprünglichem Berthold-Text im Bereich der redaktionellen Varianz sichern läßt - wo Α, Β und C unterschiedslos übereinstimmen, darf eine ungebrochene Texttradierung vom Original bis zu den Redaktionen angenommen werden -, wird nun nicht mehr im herkömmlichen Verständnis ediert, was bedeuten müßte: in den kritisch erstellten Text hineinmontiert, sondern im K o m m e n t a r zur Ausgabe (Bde. VI-VII) dokumentiert. Zweck des Kommentars ist es also nicht allein, die inhaltlichen und textlichen Übereinstimmungen zwischen der >Rechtssumme< Bruder Bertholds und der »Summa Confessorum< des Johannes von Freiburg aufzuzeigen, sondern den vorsichtigen Schritt hinter den Text der Redaktionen zu wagen und mittels des Vergleichs der Redaktionen untereinander und mit der lateinischen Vorlage, die hierbei als editorische Sonde fungiert, auf jene Stellen aufmerksam zu machen, die originär sind, oder an denen vermuteter Autortext mit redaktionellem Alternativtext konkurriert. Daß ein Text innerhalb weniger Jahrzehnte mehrere Male redigiert wird, zeugt von einem nachhaltigen Eindruck, den er auf seine Zeit ausüben konnte. Eine Ausgabe, die diese seine wirkungsgeschichtliche Vitalität nicht miterfassen und editorisch zur Darstellung bringen wollte und könnte, würde seiner geschichtlichen Bedeutsamkeit sicherlich nicht gerecht. Mit Recht fordert deshalb HORST F U H R M A N N von der Edition eines »lebenden Textes«23, daß »der Urtext ebenso greifbar wird wie seine später zu Einfluß gelangte Überlieferung«. Technisch bereitet es keine Schwierigkeit, die »Wirkform eines Textes« zur Kenntnis zu geben. Bereits ein »klar gegliederte(r) Variantenapparat« 24 vermag diese Aufgabe zu erfüllen. Die >RechtssummeRechtssumme< ein neues Editionskonzept aufgebaut werden wollte, das Vorbild für andere Editionen sein sollte. Eine Anregung und Lehre kann die >RechtssummeRechtssummeRechtssummeRechtssummeRechtssumme< Bruder Bertholds im Kontext volkssprachlichkanonistischer Rechtsliteratur Ein menfch der feinen vater oder fein muter tötet. . . fol, so ist in Kapitel Ε 91 der >Rechtssumme< des Dominikaners Berthold zu lesen, nach weltlichem rechten werden vernät vnd verftrickt in ainen leder fack vnd mit ainem hunt chappen, mit ainer flangen, mit ainem äffen geworffen werden in ain waffer. Diese gleichermaßen exotische wie unverständliche Rechtsvorschrift der B-Redaktion des in 3 Fassungen überlieferten Textes wird auch nicht klarer, wenn man die zwei parallelen Fassungen Α und C der >Rechtssumme< konsultiert: mit ainem hünd, mit ainer katjen schreibt C; mit einem hunt, vnd mit einem kappen heißt es in A. Um welche aparte Strafbestimmung handelt es sich hier in einem deutschen kanonistischen Text des 14. Jahrhunderts? Die Literatursituation im 14. Jahrhundert wird häufig charakterisiert als großangelegte Popularisierung lateinischen gelehrten Bildungsgutes. Zahlreiche Wissensgebiete, die bisher nur den lateinisch gebildeten, vorwiegend geistlichen litterati vorbehalten waren, werden durch ihre Umsetzung in die Volkssprache1 einem neuem Publikum erschlossen. Man denke etwa im Bereich der Enzyklopädie an Konrads von Megenberg >Buch der NaturLiber de natura rerum< des Thomas von Cantimpre überträgt, im Bereich katechetischer Literatur an die fälschlich Heinrich von Langenstein zugeschriebene 3 >Erchantnuzz der sundSumma de viciis et virtutibus< des Wilhelmus Peraldus sowie der >Summa Confessorum< des Johannes von Freiburg beruht 4 . Auch das >Compendium theologicae veritatis< des Hugo Ripelin von Straßburg, das im 14. und 15. Jahrhundert als Kompilation scholastischer Theologie 1

2

3

K. RUH, Geistliche Prosa. In: Neues Handbuch der Literaturwissenschaft, Bd. 8. Europäisches Spätmittelalter, hg. v. W. ERZGRÄBER. Wiesbaden 1980, S. 565-607. Nur zugänglich in der alten Edition von F. PFEIFFER, Stuttgart 1861 (Nachdr. Hildesh e i m / N e w York 1971). G. STEER, Hugo Ripelin von Straßburg. Zur Rezeptions- und Wirkungsgeschichte des >Compendium theologicae veritatis< im deutschen Spätmittelalter (TTG 2). Tübingen 1 9 8 1 , S. 5 7 3 .

4

Heinrich von Langenstein, Erchantnuzz der sund, hg. v. R. RUDOLF SDS (Texte d. spät. Mittelalt. u. d. frühen Neuzeit 22). Berlin 1969.

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gleich achtmal ins Deutsche übersetzt wurde5, die Teilübersetzung des mittelalterlichen Bibelkommentars, der >Postilla perpetua< des Nikolaus von Lyra durch Heinrich von Mügeln6 oder die drei Übersetzungen der >Sphaera MundiRechtssumme< Bruder Bertholds handelt es sich ebenfalls um einen Text, der einer lateinischen Vorlage verpflichtet ist und an dem sich geradezu beispielhaft der Prozeß der Wissensvermittlung an die illitterati, der Weg in die Volkssprache, verfolgen läßt. Hier nun, in der lateinischen Quelle, der 1298 fertiggestellten >Summa Confessorum< des Kanonisten Johannes von Freiburg, ist denn auch die Auflösung des eingangs zitierten Rätsels zu finden: In Buch II, titulus 1, q. 58, beruhend auf zwei Gesetzen der >Digesten< (D. 48.9.9) und des >Codex< (Cod. 9.17.1) und tradiert durch Hostiensis wird verfügt, daß ein Verwandtenmörder, eingeschnürt in einen Ledersack cum cane et gallo gallinacio, id est cappone iuxta vulgare, cum vipera et symia in profundum mare zu versenken sei. Ein Hund und ein Kapaun also verbergen sich hinter der hunt chappen (B), dem hünd und der kat$en von C. Nur A tradiert den richtigen Text, obwohl es schwer fällt, hinter dem kappen den Kapaun zu erkennen. Abgesehen von der sprachlichen Verständnishilfe wird durch den Quellennachweis deutlich, daß es sich hier nicht etwa um eine zeitgenössische Rechtsvorschrift 9 , sondern um die fast wörtliche Tradierung eines Gesetzestextes aus der Spätantike handelt. In annähernd 100 Textzeugen, darunter 12 Druckauflagen seit dem Ende des 14. Jahrhunderts überliefert, war Bertholds >Summe< zweifellos das erfolgreichste moraltheologisch-kanonistische Handbuch seiner Zeit in deutscher Sprache10. Vergleichbaren Konkurrenztexten wie dem >Büch 5

STEER ( A n m . 3).

6

Vgl. F. W. RATCLIFFE, Die Psalmenübersetzung Heinrichs von Mügeln: Die Vorrede, der >schlichte< Psalmentext und Probleme einer Herausgabe. ZfdPh 84 (1965) 46-76. 7 Johann von Sacrobosco, Das Puechlein von der Spera, hg. v. F. B. BR6VART (Litterae 68). Göppingen 1979; Konrad von Megenberg, Die deutsche Sphaera, hg. v. F. B. BR6VART (ΑΤΒ 90). Tübingen 1980; KONRAD HEINFOGEL, Sphaera materialis, hg. v. F. Β. BR£VART 8

(GAG 325). Göppingen 1981. Dazu grundlegend RUH (Anm. 1), spez. S. 566-578; G. STEER, Germanistische Scholastikforschung. T h e o l o g i e u n d Philosophie 45 (1970) 2 0 4 - 2 2 6 ; 46 (1971) 1 9 5 - 2 2 2 ; 48 (1973) 65-106.

9

So etwa Η. KOLLER, Die Entstehungszeit der Summa des Berthold von Freiburg. MIÖG 67 (1959) 124. 10 Η. WECK, Die >Rechtssumme< Bruder Bertholds. Eine deutsche abecedarische Bearbeitung der >Summa Confessorum< des Johannes von Freiburg. Die handschriftliche Überlieferung (TTG 6). Tübingen 1982, S. 244-256.

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der tilgendem11, einer Übersetzung der >Secunda Secundae< des Thomas von Aquin - durchsetzt mit kanonistischem Sondergut - sowie der deutschen Übertragung der >Summa Pisana< des Bartholomäus de San Concordio12 war kein ähnlicher Erfolg beschieden. Vom >Büch der tugenden< kennen wir 13 Textzeugen, davon nur 9 vollständige13; die >Pisana deutsch< zeigte, obwohl die Bedeutung des lateinischen Textes sich in mehr als 600 Handschriften spiegelt14, so gut wie keine Wirkung. Nur drei Textzeugen sind bekannt. Obgleich gerade seit den fünfziger Jähren zahlreiche Untersuchungen zur Popularisierung lateinischen Wissensgutes vor allem auf dem Gebiet der geistlichen Prosa15, aber auch anderer, v.a. Fachtexte16 erschienen sind, blieb die deutschsprachige kanonistische Literatur bisher weitgehend ausgespart. Das hat Tradition. »In den Darstellungen der deutschen Rechtsgeschichte wird die deutsche Rechtswissenschaft des späten Mittelalters meist mit Stillschweigen übergangen; offenbar haben gelehrte Bemühungen um das kanonische oder römische Recht in einer deutschem Rechtsgeschichte nichts zu suchen«17, obwohl auch hier der Weg der Wissenstradierung in die Volkssprache in ähnlichen Bahnen verläuft, wie in den oben genannten literarischen Gattungen. »Erst die grundsätzliche Neubewertung der Rolle des gelehrten Rechts im deutschen Spätmittelalter durch W. TRUSEN18 verspricht neue Ergebnisse auch für die Geschichte der Rechtswissenschaft und Rechtsliteratur« 19 . 11

K. BERG, Der tugenden büch. Untersuchungen zu mittelhochdeutschen Prosatexten nach Werken des Thomas von Aquin (MTU 7). München 1964. 12 P. JOHANEK, Bartholomäus von Pisa. In: 2VL 1 (1978) 622f.; s.a. Anm. 41. 13 Das büch der tugenden, hg. v. K . BERG U. M. KASPER (TTG 7/8). Tübingen 1984. 14 Vgl. Anm. 43. 15 Vgl. Anm. 8. 16 G. Eis, Mittelalterliche Fachprosa. Deutsche Philologie im Aufriß, Bd. II, Berlin 21960 Sp. 1103-1216; G. Eis, Mittelalterliche Fachliteratur. Stuttgart 1962; Fachliteratur des Mittelalters, Fs. G. Eis, hg. v. G. KEIL, R . RUDOLF, W. SCHMITT, H . J. VERMEER, Stuttgart 1968; P. ASSION, Altdeutsche Fachliteratur (Grundlagen der Germanistik 13). Berlin 1973; G.F.JONES, Fachschrifttum. In: Neues Handbuch der Literaturwissenschaft (Anm. 1), S. 645-657; Fachprosa-Studien, Beiträge zur mittelalterlichen Wissenschafts- und Geistesgeschichte, hg. v. G. KEIL, Berlin 1982. Vgl. auch zuletzt G. BÄRNTHALER, Aufgaben und Probleme der Analyse spätmittelalterlicher Übersetzungen am Beispiel des geistlichen Liedes. In: Chloe. Beihefte zum Daphnis. Bd. 1. Lyrik des ausgehenden 14. und des 15. Jh.s, hg. v. F. V. SPECHTLER. Amsterdam 1984, S. 29-44; I. REIFFENSTEIN, Übersetzungstypen im Mittelalter. Zu den geistlichen Liedern des Mönchs von Salzburg. Ebd., S. 173-205. 17 18

19

K. KROESCHELL, Deutsche Rechtsgeschichte, Bd. II (1250-1650). Reinbek 1973, S. 56. W. TRUSEN, Anfänge des gelehrten Rechts in Deutschland. Ein Beitrag zur Geschichte der Frührezeption. Wiesbaden 1962, bes. S. 116-147. KROESCHELL ( A n m . 17), S. 5 6 .

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Im folgenden soll an vier inhaltlich verwandten Texten, die bisher in der Forschung ζ. T. kaum Beachtung gefunden haben, dieser Vorgang der Popularisierung im Rechtsbereich transparent gemacht werden. Untersucht werden die bereits genannte >Rechtssumme< Bruder Bertholds, die >Summa Pisana deutsche >Das büch der tugenden< - alles Texte des frühen bis mittleren 14. Jahrhunderts, die kanonistisches Rechtsgut tradieren - sowie kontrastiv die etwas spätere, primär auf römisch-rechtlichen Quellen beruhende >Summa legum< des sog. Raymund von Wiener-Neustadt. Um die Bearbeitungsmodi der vier unterschiedlichen Werke zu verdeutlichen, wurde auf ein Beispiel zurückgegriffen, das in allen Texten behandelt wird und dessen Vergleich am ehesten exemplarisch die Unterschiedlichkeit der Rezeption einer gemeinsamen Quelle demonstriert: Funden gut. 1. Die Texte a. >Das büch der tugenden< Trotz der 1 9 6 4 erschienenen Monographie KLAUS BERGS20 ist >Das büch der tugenden< bis heute ein wenig bekannter Text geblieben, sowohl bei Germanisten wie bei Rechtshistorikern 21 . Bei dem bald nach der Wende zum 14. Jahrhundert wohl in der nördlichen Schweiz entstandenen südalemannischen Werk handelt es sich um eine Übertragung der >Secunda Secundae< des Thomas von Aquin ins Mittelhochdeutsche in Verbindung mit der Einarbeitung kanonistischen Sondergutes. An Zusatzquellen hat BERG22 die >Summa de viciis et virtutibus< des Wilhelmus Peraldus, die >Summa de summo bono< des Ulrich von Straßburg sowie zahlreiche weitere Werke dominikanischer Schriftsteller dingfest gemacht. Die von ihm aus diesem Befund gefolgerte Annahme, daß es sich bei dem unbekannten Autor des Werks wohl ebenfalls um ein Mitglied des Dominikanerordens handeln dürfte, scheint einleuchtend. Das in 9 Vollhandschriften, 4 Fragmenten und 10 Exzerpten überlieferte Werk23 gliedert sich in zwei Bücher. Buch I behandelt die drei gött20

BERG ( A n m . 11).

21

F. EBEL, Ein Fragment eines kirchlichen Rechtsbuchs aus dem 14. Jahrhundert in deuts c h e r Sprache. Z R G K a n . Abt. 6 2 ( 1 9 7 6 ) 3 7 3 - 3 8 2 . D a z u : M . HAMM U. H. ULMSCHNEI-

DER, Zu Überlieferung und Rezeption von >Der Tugenden BflchPisana< I-CCCCXI, jüngere Foliierung der Rechtsregeln 412-413. Neuere Zählung der Gesamthandschrift 1-469. Format: 29 χ 20,5 cm. Schriftspiegel: zweispaltig 21 χ 13 cm. Spaltenbreite: 6 cm. Lagen: IV + (V-l) + VI + IV + VI + 2(VI-1) + (VI-5) + VI + (VI-1) + VI + III + VI + IV + VI + IV + VI. Custodenzählung A-M, Reklamanten vorhanden. Alter Holzdeckeleinband des 15. Jh., mit Schweinsleder bezogen. Vorder- und Rückendeckel mit je 5 einfachen Messingbuckeln versehen. Ehemals Langriemenverschluß: Einhängstifte und Reste der Schweinslederriemen vorhanden. Buchspiegel beklebt mit Pergamentbll. mit lateinischen Texten. Mehrere, schwierig zu unterscheidende Schreiberhände. Kunstvolle Initialen A mit Rankenwerk zu Beginn des Prologs der >Pisana< (f. 51r) und zu Beginn dös Textes (f. 52r). Herkunft: unbekannt, Stempel f. 3 r : Liber Biblioth. R. Brei. Sprache: ostmitteldeutsch Literatur:

P . JOHANEK,

Bartholomäus von Pisa, 2VL

1

(1978) 622f.

Inhalt: I. 3 ra -4 vb Anleitung zur Lektüre der Rechtsquellen mit Erklärung juristischer Grundbegriffe, Einteilung der Werke sowie gebräuchlicher Abkürzungen. Ad totius Juris volumina totaliter cognoscenda nota . .. idem esset si in propriis nominibus solum ponetur prima littera vt Η Hermannus Α Albertus etc. . . Sequitur registrum. II. 4 vb -460 rb Bartholomäus a Sancto Concordio, Summa Pisana-deutsch. a) 4 vb -8 ra Register lateinisch-deutscher Stichworte. Abbas - apt ... Zelus. b) 9 r -50 r Inhaltsverzeichnis Dye geret hart genung jw thun vnd dar vmb abgeloft fynt von banne vnd nyt thun . . . 50r Ob ejjymlich f y j u begeren von dem fterbenden da$ er fyn weifen offenbar 320 Β 31. c) Text 51ra Proömium: Dis ift das buch das man nennet Summa pisani in tutsch gar gantj vnd gerechte. Vnd ift dis dy vorrede. Alio fanctus gregorius fprichet vber Ejechyelem fo ift dem almechtigen gotte . . . 52ra Text: Abbas in suo monasterio. Capitulum primum. Ajn apt mag fynen vndertanen in fynem clofter verlihen dy erfte wyhunge . . . 460 rb Expl.: Grempnis oder mutpreft ift eygentlich wann fich ein menfche betrübet . . . betrübet fich aber ein menfche durch eins andern gut... So were is 47

Für seine freundliche Mithilfe bei der Anfertigung der Hss.-Beschreibung danken wir Herrn Dr. G. Knoll, Bremen, sehr herzlich.

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has als hy vorftet has 8 etc. Anno domini Μ CCCC LVl. III. 46l ra - 462vb Statuten Bonifaz VIII. - deutsch Von den regeln des Rechten bonifacius des achten. [EJjn geiftliche gäbe die mag necht mit recht. . . vnd fich flißet weder den wellen des recht tens. Es handelt sich um die Bestimmungen Papst Bonifaz' VIII., die später in den >Liber Sextus< und damit Eingang in das >Corpus Iuris Canonici gefunden haben. Sie finden sich unter anderem in Latein als >Regulae juris< im Anhang der >Summa Confessorum< - Drucke des Johannes von Freiburg, Augsburg 1476, Lyon 1518, Paris 1519. IV. 469v Registerartige Notizen zum Inhalt von III.

G ö r l i t z , R a t s a r c h i v , V a r i a 3 1465/67 (G) früher Milich'sche Bibl. ms. fol. 479 Papier, Vorsatz und letztes Blatt Pergament, 319 Bll. Leer: 229v und 230. Format: 41 χ 29,5 cm. Holzdeckel mit gelbbräunlichem Leder überzogen, an den vier Ecken Messingbeschläge mit Buckeln, in der Mitte stilisierte Messingplatten mit Buckeln und der Aufschrift: Mari, Mr. (Markus), Luca(s), Nc(?). Oben rechts und unten Messingstreifen, zwei Schließbänder mit Haken. Die offenbar früher im Magistratsarchiv befindliche Handschrift (so ein handschriftlicher Vermerk) gelangte im 19. Jahrhundert gemeinsam mit einer Sammlung der wichtigsten Rechtsbücher in die Bibliothek des Sammlers Johann Gottlieb Milich (1678-1726, Advokat am Amts- und Manngericht in Schweidnitz) und wahrscheinlich 1903 von dort wieder in das Ratsarchiv 48 . Im 2. Weltkrieg wurde die Handschrift durch Kriegseinwirkung vernichtet (Auskunft des Rates der Stadt Görlitz vom 2.1.1984). Sprache: ostmitteldeutsch Literatur: Verzeichnis der Hss. und geschichtlichen Urkunden der Milich'schen (Stadt- oder Gymnasial-) Bibliothek in Görlitz. In: Neues Lausitzisches Magazin, hg. von Ε. E. STRUWE, Bd. 44, Görlitz 1868, Anhang S. 1-154, hier: S. 53; R. JECHT, Über die in Görlitz vorhandenen Hss. des Sachsenspiegels und verwandter Rechtsquellen, Görlitz 1906, S. 34f; Rez.: E. STEFFENHAGEN. In: Literarisches Zentralblatt, 57. Jg. Nr. 51, Leipzig 1906, Sp. 1750f.; G. HOMEYER, Die deutschen Rechtsbücher des Mittelalters und ihre Hss., neu bearbeitet von C . BORCHLING, Κ . A . ECKHARDT, J. V. GIERKE, W e i m a r 1 9 3 1 / 3 4 , N r . 4 1 7 , S. 93.

48

64

R. JECHT, Quellen zur Geschichte der Stadt Görlitz bis 1600. Görlitz 1909, S. 8; s.a. R. JOACHIM, Gesch. d. Milich'schen Bibliothek und ihrer Sammlungen. IN: Jahresber. d. Städt. Gymnasiums von Görlitz, Teil I, Görlitz 1876, S. I-XXXII; Teil II, Görlitz 1877, S. I-XX.

Inhalt: 1. V-229' Bartholomäus a Sancto Concordio, Summa Pisana - deutsch Proömium: Als santus Gregorius spricht ober Ezechielem, so ist deme almechtigen gote . . . Expl.: Grempnisz addir mutprest ist eigentlich, wenne sich eyn mensche betrübet . . . Betrübt sich aber eyn mensche durch eyns andern gut... so were is has. Explicit diszer summen geendet noch gotes gebort 1465 an dem nehesten montage vor sente Georgien tage des heiligen merteres und ritter. Proch dolor! experior, quam sit sentencia vera, Dives ubique placet, pauper ubique jacet. Expl.(nach STRUWE) : Et sic est finis. 1468. II. 231r-319r Diversae regulae juris de fide katholica. Ad decus et decorem imperii.. . credo per universum. Text: Alle dy wedir den cristen gelouben leben . . . (E)z in mag keyη man mit einem weibe eyn ehe besitzen . . . den teilt man billich ledig vnd loß. 319r: 1467. Ire, redire solent regum sublimia castra, Egregiüs status est, quod sie non itur ad astra. Fors omnia versat. Es handelt sich um den vierten Abschnitt der >Blume des Sachsenspiegels< des Nicolaus Wurm (Regel 173 des Schlußbuchstabens). S t u t t g a r t , W ü r t t e m b e r g i s c h e L a n d e s b i b l i o t h e k , H B VI 93 2. H. 15. Jh. ( S ) Papier I und 310 Bll., Format: 29 χ 21 cm. Ein Schreiber, Bastarda currens, Zitate rot unterstrichen, rote Initialen. Brauner Ledereinband des 15./16. Jh. mit je fünf sechszackigen Buckeln, abgerissen, zwei Schließen. Auf dem Rücken Papierschild mit Titel, darunter Pergamentschild mit Signatur: Β 1 Richtbuch. Aus der Bibliothek der Deutschordenskommende Mergentheim (eingebranntes Kreuz im Schnitt; im Mergentheimer Katalog von 1793 bzw. 1811 erwähnt). Sprache: mitteldeutsch Literatur: Die Hss. der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart, 2. Reihe, 3. Bd. : Codices iuridici et politici. Patres, beschr. von J . AUTENRIETH, Wiesbaden 1963, S. 87f.; P. JOHANEK, Bartholomäus von Pisa, 2VL 1 (1978) 622f.; T H . KAEPPELI OP, Scriptores Ordinis Praedicatorum Medii Aevi. Bd. I, Rom 1970, S. 157168; W. SCHMIDT, PBB (Tüb.) 86 (1964) 351f. Inhalt: Auf dem vorderen Spiegel: Diß buch ist genant das richtbuech alle rieht he in zu findenn etc. 65

1 r-309r Bartholomaeus a Sancto Concordio, Summa Pisana - deutsch Proömium: Als sanctus Gregorius spricht obir Ezechielem. So ist dem almechtigen gote . . . l vb Text: Eyn apt mag synen vndertanen yn synem closter vorlien dy erste wyunge . .. 309ra Ab eyn monch möge werden eyn wertlich thumherre . . . 309va Vnd die meynunge Innocencii ist war wenne her beqwemelich eynen gesellen mag gehabin. Der Text bricht mitten im Satz auf Bl. 309va nach der ersten Hälfte der linken Spalte ab. Der Textstelle entspricht im Lateinischen das Stichwort Monachus. Utrum monachus possit effici canonicus secularis . . . sic Innocentius tenet. . . quod debet habere socium, si commode fieri potest. Der unbekannte Übersetzer der >Pisana deutsch< bleibt gänzlich der lateinischen Vorlage verhaftet. Er behält deren Gliederung bei und überträgt sie mechanisch, d.h. er beläßt das lateinische Alphabet. So findet man etwa das Stichwort Krieg unter Β (bellum), Ehe unter Μ (matrimonium). Das Gliederungsprinzip ist einem Laien, der die Vorlage nicht kennt, nicht einsichtig. Es läßt sich nur in der Gegenüberstellung mit dem lateinischen Register veranschaulichen. Die Zitate sind zum großen Teil extrem verkürzt und oft gänzlich verderbt. Ohne Rückgriff auf den lateinischen Text sind sie meist nicht zu identifizieren. Im Buchstabenbereich Α handelt es sich um folgende Stichworte: Abbas Abbatissa Absolutio - ab excommunicatione - percutientium clericos - regularium - quo ad satisfaciendum - quo ad modum - a peccato Acceptilatio Acceptio personarum Accidia Accomodatio Accusare sive accusatio Accusatus Adiuratio Adoptio vel arrogatio Adulatio 66

apt abtifchin vfßofunge vfflofunge VJ dem banne vflofunge der die pfaffen ader geiftlicher lute flan vflofunge begenener ader geiftlichen lute vflofunge vnd gungunge dy geloft syn vflofunge vnd yrre buffe vflofunge begüngunge annenunge der perfon lafheit Querverweis - fehlt rügen der gerügte befwerunge erwelunge adyr zcukyfünge liebekofen

Adulterium Advocatus Affinitas Alchimia Alienatio Altare Ambitio Angaria Appellatio Apostasia - in generali - a fide - inobedientie - a clericatu - a religione Aqua benedicta Arbiter Archidyaconus Archiepiscopus Arra Ars notoria Assissimis Astutia Avaricia

ebrecherie vorwefer lybliche angehorunge kunft von ertcje entpfremden legende guter altar obermut vngeld vnd ober vngelt das gerichte blyen ader wedern mit beruffunge oberkerunge oberkerunge von dem heiligen gelouben oberkerunge des vngehorfams oberkerunge des orden der pfaheit oberkerunge von geiltlichem orden geleynt waller Icheidellute ader richter archidiacon ertc^bilchof brute gäbe kunlt die man nennet notoria allillim liltikeit gyrickeit

Der Übersetzer muß das Unzulängliche seines Werkes selbst erkannt haben, denn gelegentlich lassen sich Spuren einer eigenständigen Bearbeitung erkennen: er faßt Themenkreise, die inhaltlich eine Einheit bilden, im Zuge der Alphabetisierung durch Bartholomäus jedoch unter verschiedenen Stichworten eingeordnet wurden, zu einem Artikel zusammen. Ausschlaggebend ist dabei stets ein Querverweis seiner Vorlage. So wird etwa nach dem Stichwort communicare (gotis lichnam entphan) durch Bartholomäus auf das Stichwort eucharistia verwiesen. Der Übersetzer greift dies auf und verbindet eucharistia mit communicare zu einer thematischen Einheit (gotis lichnam). Eine ähnliche, jedoch entschieden weitergehende Bearbeitungstendenz findet sich auch in der >RechtssummePisana< wie die >Rechtssumme< gleichermaßen auf die >Summa Confessorum< zurückgehen, kommt es so ganz unabhängig zu teils frappierenden Übereinstimmungen. Wie der Bearbeiter der >Pisana< den lateinischen Text ins Deutsche umsetzt, sei wiederum exemplarisch an dem Kapitel Funden gut illustriert. 67

>Pisana d e u t s c h < (S: f. 255 V ) Wje sal man is halden mit gefunden dingen.

P i s a n a (f. L X X X I X v a ) Inventa. Quid est agendum de inventis.

e

Spricht sente Thomas 2-2 q. Ixvj.

Resp. sec. Thomam secunda secunde q. Ixvj. Distinguendum est circa res inventas. Etczliche ding sein Quedam enim sunt die nymandes gewest seyn que nunquam fuerunt in bonis alicuius, als edele steyne sicut lapilli et gemme die man findet an dem vber des meres qui inveniuntur in litore maris, vnd die werden erleubet deme der sie ynne hat. et talia occupanti conceduntur. Also ist is ouch vmb alden schacz Et eadem ratio de thesauris der lange czeit ist in der erden vorborgen gewest. antiquo tempore sub terra occultatis Also das kein herre dorczu ist, quorum non est aliquis possessor, alleine das man noch wertlichem rechte nisi quod secundum leges civiles die helffte mus gebin dem herren des ackers, tenentur medietatem dare domino agri, ab her den findet in fremdem acker intellige si invenit in alieno solo, vnd hat keyne arbeid dorvmb gehabt. non data opera invenit. Hät her arbeid ader ßeiß dorvmb getan Sed si data opera invenit, vnd hat yn funden, nihil tenetur domino, so darff her dem herren nichtes gebin, Inst, de rerum divisione § Item ea. Inst, de rerum divisione § Ea.

d. Die >Rechtssumme< Bruder Bertholds Einen ganz andern Weg nahm die Bearbeitung der >Summa Confessorum< durch Bruder Berthold, mit dessen Werk sich die Forschung in den letzten Jahren intensiv befaßt hat49. Obwohl die >Rechtssumme< von ihrer Überlieferungsdichte her zu den mittelalterlichen »Bestsellern« gehört, wurde sie doch lange Zeit wenig beachtet. Vieles blieb im Dunkeln, auch wenn Berthold im Vorwort seiner >Summe< erschöpfend Auskunft gibt über Intention, Auftraggeber und Quelle seines Werkes. Die Palette der Beurteilung reichte vom Handbuch für das forum internum50 bis hin zur Interpretation als Modernisierung eines älteren Rechts49

Die >Rechtssumme< Bruder Bertholds. Eine deutsche abecedarische Bearbeitung der >Summa Confessorum< des Johannes von Freiburg. Untersuchungen I, hg. von M. HAMM und H . U L M S C H N E I D E R (TTG 1). Tübingen 1980; W E C K (Anm. 10); Synoptische Edition der Fassungen A, B, C mit textgeschichtlichen Lesarten, hg. v. G. STEER und

W . KLIMANEK,

D . KUHLMANN,

F . LÖSER,

J. M A Y E R ,

Κ . H . SÜDEKUM.

Bd. I-V

(TTG 11-15). Tübingen 1985; Kommentar, hg. v. M . H A M M und H . U L M S C H N E I D E R (TTG 16-17). Tübingen 1986; Wortindices, hg. ν. T H . STADLER und P. STAHL (TTG 18). Tübingen 1986. 50 W. T R U S E N , Forum internum und gelehrtes Recht im Spätmittelalter. Summae Confessorum und Traktate als Wegbereiter der Rezeption. ZRG Kan. Abt. 57 (1971) 98f.

68

buchs durch Einarbeitung neuer landes- und gewohnheitsrechtlicher Bestimmungen 51 . Inzwischen ist die Richtigkeit der Angaben Bertholds im Vorwort nachgewiesen: Die >Rechtssumme< ist die einzige eigentlich popularisierende Bearbeitung der >Summa Confessorum< des Johannes von Freiburg. Eine gerechte Einordnung und Würdigung der Leistung Bertholds kann nur erfolgen, wenn man ihn als Vermittler lateinischen Wissens an ein deutschsprachiges Publikum im Spannungsfeld zwischen Latein und Volkssprache, zwischen litteratus und illitteratus sieht. G. STEER52 hat anhand einiger repräsentativer Beispiele nachgewiesen, daß Wissensvermittlung an Laien kein »von oben« verordneter Prozeß ist, sondern aus dem Kreis der illitterati selbst kommt, aus den literarischen Bedürfnissen einzelner, meist gesellschaftlich hochstehender Laien erwachsend. Als Vermittler sind jene Schichten tätig, die traditionell als Bindeglied zwischen lateinischer Schriftkultur und dem »Volk« in pastoraler Intention fungierten, nämlich Prediger und andere Geistliche, vor allem die Orden. Deren Verpflichtung zur Mitteilung ihres Wissens, mehr als nur ein gängiger Topos53, findet in der Popularisierung lateinischer Schriften neue Wege. Bereits im ersten Satz der >Rechtssumme< zeigt sich Berthold dieser Tradition verbunden: Unufquifque ficut accepit graciam in alterutrum illam aminiftrantes (1 Pt 4,10). Programmatisch zu Beginn seines Werkes den lateinischen Satz setzend, beweist er seine bewußte Vermittlerrolle im Grenzgebiet zweier Sprachen durch die sich sofort anschließende Übersetzung: . . . daj ein yeglichs menfch, als er hat gnad der tugend enpfangen von got, alio fol er die gnad auch anderen luten mit taylen und geben. Adressaten sind die läwt, also keine genauer verifizierbare Leserschicht wie vemonftige, wiczige, auch nicht einfeltige Laien54, sondern die Gesamtheit christlicher Leser, für die Berthold Summa Confessorum< ausgewogen hat. Ganz im Sinne seines Auftraggebers, des herren Hänfen von Awr feiigen des andächtigen ritters hat Berthold sein Werk j e täwcjer fprach nauch der Ordnung des Abc gemacht. Ziel seines Unternehmens war also 51

KOLLER ( A n m . 9 ) , S . 1 2 1 .

52

G. STEER, Der Laie als Anreger und Adressat deutscher Prosaliteratur im 14. Jahrhundert. In: Zur Deutschen Literatur und Sprache des 14. Jahrhunderts. Dubliner Colloquium 1981, hg. v. W . H A U G , T. R . J A C K S O N , J. JANOTA (Reihe Siegen 45: Germanist. Abt.). Heidelberg 1983, S. 354-367. E . R. C U R T I U S , Romanische Forschungen 5 4 ( 1 9 4 0 ) 1 3 2 - 1 3 5 .

53 54

STEER ( A n m . 5 2 ) , S . 3 6 0 .

69

nicht die Aktualisierung der »Summa ConfessorumRechtssumme< sicher nicht allein für Laien konzipiert - Berthold konnte auch 55

56

70

M. HAMM, Die Entstehungsgeschichte der >Rechtssumme< des Dominikaners Berthold. Ihr Verhältnis zur >Summa Confessorum< des Johannes von Freiburg und zu deren lateinischen Bearbeitungen. In: Die >Rechtssumme< Bruder Bertholds. Untersuchungen I (Anm. 49), S. 35-115. R . R U D O L F SDS, Heinrichs von Langenstein >Erchantnuzz der sund< und ihre Quellen. In: Fachliteratur des Mittelalters. Fs. G.Eis. Stuttgart 1968, S. 53f.; RUH (Anm. 1), S. 570.

mit der Benutzung durch simplices clerici rechnen 57 - jedoch wurde sie meist in Laienkreisen rezipiert, vor allem in der Unter- und Mittelschicht des Adels und im Bürgertum. Als ursprünglicher Klosterbesitz konnten von WECK58 nur 10 der 72 analysierten Handschriften nachgewiesen werden. In vielen Fällen läßt sich ein eindeutiger Bezug zur spätmittelalterlichen Gerichtspraxis erkennen, da Richter, Pfleger und Gerichtsschreiber als Auftraggeber und Besitzer des Werkes nachgewiesen werden konnten. Der Weltklerus ist nur durch seine gebildeten Vertreter repräsentiert, vom Bischof herab bis zum Dekan. Für Leutpriester als Erstbesitzer ergab sich kein Anhaltspunkt. Auch die Mitüberlieferung der >Rechtssumme< ist »in wünschenswerter Eindeutigkeit getreues Spiegelbild des soziologischen Aspektes der Überlieferung wie auch aussagekräftiges Dokument zur Bestimmung der historischen Gebrauchsfunktion« 5 9 . Als Kontext zur >Rechtssumme< wird vor allem praxisbezogene juristische Fachprosa wie >SchwabenspiegelBelialStadtrechtsbuch< Ruprechts von Freising tradiert 60 . Die Ambivalenz des Textes zeigt sich daneben in der gleichzeitigen Mitüberlieferung geistlicher Prosa: Gregor der Große >Buch der Dialoge< (deutsch), Martin von Amberg >GewissensspiegelSpiegel der TugendVon dreierlei Wesen der MenschenHieronymus-BriefeBüchlein von der Liebhabung Gottes< und andere Texte mehr 61 . Auch hier soll wieder das Textbeispiel Funden gut die Umsetzungspraxis Bertholds demonstrieren. > R e c h t s s u m m e < F 32 Gefunden gut wann man das pehalten.

m

"S

»Summa C o n f e s s o r u m < II, 6 q. 16 Queritur etiam quid iuris sit de thesauris vel aliis rebus inventis.

Fvnden gut mag man etwan behalten vnd Resp. sec. Thomam in summa q. lxvj etwann nit in fSlicher weij. Wann ej art. ν arg. ij. fint etleich gut die nie chain herren Distinguendum est 57

Klosterneuburg, Stiftsbibl. Cod. 362 (Kl 1), Schreibernachtrag: wolt ich das es abgefchriben hietten all trew chriften lay vnd auch flecht priefter die in latein villeicht als vil nicht vernemmen als not war.

58

WECK ( A n m . 10), S. 2 4 4 - 2 5 6 .

59

WECK ( A n m . 10), S. 2 8 2 .

60

»Die Handschrift W 7 kann geradezu als Kompendium der geltenden Rechtsbücher des 15. Jahrhunderts im bayerischen Raum angesehen werden.« (WECK [Anm. 10], S. 284).

61

WECK (Anm. 10), S. 269-282.

71

haben gehabt, vnd werdent die funden von dem menfchen, fo mag er die pehalten. Alfo ob der menfch pey dem mer oder pey andern wafferen edel geftain fund oder jn den pergen fünd eres von [Uber oder von gold, das die funn geworckt hat in dem wilden gepirg, das mocht er auch pehalten. Awer den perg folt er nit dar nach graben vnd das fuchen, der ainen herren hiet, an des herren wiffen.

circa res inventas. Quedam enim sunt res que numquam fuerunt in bonis alieuius, sicut lapilli et gemme que inveniuntur in litore maris, et talia occupanti conceduntur.

Awer gelt, filber, golt, edelgeftain, das vor menger seit wir verporgen in der erden, vnd die laut vor langer seit wären tod gewefen, der das Sut w^r gewefen, das Sut w&r halbs des frömden vnd halbs des herren, auf des erb vnd grünt das Sut funden w&r. . .

Et eadem ratio est de thesauris antiquo tempore sub terra occultatis quorum non est aliquis possessor, nisi quod secundum leges civiles tenetur medietatem dare domino agri, si in alieno agro invenerit... Sed Hostiensis lib. ij rubr. xij. De causa possessionis et proprietatis sub rubr. De causa proprietatis § j. Quid sit, vers. Item per inventionem, dicit sic quod si thesaurum in proprio fundo invenero, meus sit. Idem si in alieno data opera. Sed si non data opera, medietatem debeo dare domino fundi, Inst, de rerum divisione § Item ea. Res autem . . .

Inft. de rerum divifione. Res autem.

2. Zur Übersetzung 62

hat die »Literatursituation« des 14. Jahrhunderts als eine »offene« charakterisiert, als Zeit von »Abbrüchen und Übergängen, von Stagnationen und Diskontinuitäten«, gekennzeichnet durch den Durchbruch einer allgemeinen Schriftkultur auf deutsch. Verschriftlichung mündlicher Traditionen, U m f o r m u n g e n tradierter Stoffe, Neurezeptionen, Verschwinden von Gattungsgrenzen und Funktionsumwandlungen sind Zeichen der volkssprachlichen Emanzipation. H U G O KUHN

"H.KUHN, Versuch einer Literaturtypologie des deutschen 14. Jahrhunderts. In: Liebe und Gesellschaft, hg. v. W. WALLICZEK. Stuttgart 1980, S. 122.

72

Bereits Κ. RUH hat darauf aufmerksam gemacht, daß in der Regel zwischen »scholastischer >hoher< Theologie und volkssprachlicher Scholastik« eine »vermittelnde Zwischenschicht >vulgarisierter< Scholastik in lateinischer Sprache« festzustellen sei, die in »bestimmten Werktypen, Abbreviationen, Compendien, Exzerpten, Tafeln, Florilegien« usw. überliefert sei63. In der Tat lassen sich solche >SummulaeExcerptaManualia< usw. auch für kanonistische Texte in reichem Maße nachweisen. Die kürzende Bearbeitung der >Summa Confessorum< durch Johannes selbst im >Manuale< wurde bereits erwähnt. Weitere lateinische Bearbeitungen und Abbreviaturen teils unbekannter Autoren folgten, z.B. die >Summa abbreviata< des Wilhelm von Cayeu, die >Kaisheimer SummeSumma RudiunK64 und neuerdings eine bisher unbekannte Version in der Handschrift Berlin, Preuß. Staatsbibliothek, Ms. theol. lat. qu. 35365. Die bekannteste Bearbeitung, die in ihrer Rezeption selbst die Vorlage bei weitem übertraf, ist die bereits vorgestellte >Summa de casibus conscientie< des Bartholomäus von Pisa66. Die Bearbeitungsintentionen der jeweiligen Abbreviatoren waren unterschiedlich. Teils handelte es sich um eine fachspezifische Auswahl aus dem Gesamtmaterial zugunsten eines einseitig interessierten Publikums (>Excerpta ex Summa JohannisSumma RudiumManualeSumma PisanaKaisheimer SummeRechtssumme< kann - wie neuerdings auch wohl für >Das buch der tugendenSumma Confessorum< beruht, d.h. daß Berthold, wie er dies in seinem Vorwort bemerkt, direkt aus der >Summa Confessorum< geschöpft hat und den Text in einem Arbeitsgang bearbeitet und in die Volkssprache übertragen hat. Auch die >Pisana deutsch< kann nicht als Endprodukt einer mehrstufigen Popularisierung der >Summa Confessorum< gesehen werden, da sie wörtlich auf der »Summa de casibus conscientie< des Bartholomäus beruht, die eindeutig auf Erweiterung und Aktualisierung der durch neueste kirchenrechtliche Publikationen veralteten >Johannina< abzielte. Fragt man nach der Ursache für dieses Phänomen, so wird sicher einer der Gründe in der Gattung >kanonistischer Text< zu suchen sein. Offensichtlich verbietet die geforderte Authentizität der Quellen auf eine wie auch immer geartete Zwischenschicht zurückzugreifen, die die Glaubwürdigkeit beeinträchtigen könnte. Auch für Berthold steht die Autorität seiner Vorlage so stark im Vordergrund, daß er Zweifler an seiner Bearbeitung an diese zurückweist: Vnd wer ^wyffel hat an dem puch oder an dem fynn oder an der der quoten . . . der mag gen jw der Summen Johannis oder jw dem decret vnd lefen nach feyner begir feiner fei fälichait69. Es ist sein ernstes Anliegen, allgemeine Rechtserkenntnis zu vermitteln, daher darf seine Bitte an die Leser nit da jw noch da von fec$en70 nicht als übliche Schlußtopik angesehen werden, sondern wie in der Vorrede in Reimpaaren zum >SachsenspiegelRechtssumme< zeigt deutliche Anzeichen einer solchen Übergangssituation, sowohl durch ihre lateinischen Inserte, als auch durch den gezielten Ausschluß der Laien bei gewissen theologischen Problemen73. Das Mittelalter kennt hauptsächlich zwei aus der Antike übernommene Leitprinzipien des Übersetzens74: Die Wiedergabe Wort für Wort (verbum de verbo) und die Wiedergabe allein nach dem Sinn (sensus de sensu). Dazu tritt im Spätmittelalter ein dritter Übersetzungstyp, der durch die Verwendung von Wortneuschöpfungen (nova verba) und das Mittel der Umschreibung (circumloqui oder vmbred) gekennzeichnet ist. G. STEER hat gezeigt, daß der soziologische Aspekt ein entscheidender Ausgangspunkt bei der Wahl des modus transferendi ist. Während die verbum-de-verbo Methode die deutsche Sprache den Zwängen des Lateins unterordnet und die Regeln lateinischer Grammatik und Rhetorik zu erhalten sucht, richtet sich die vmbred unabhängig vom lateinischen Satzbau nach dem gemainen lauf dewtscher sprach nach des lanndes gewonheit (Ulrich von Pottenstein75). Fm/wJ-Übersetzer schreiben für ein ungebildetes Publikum, die illitterati16; das aignew dewtsch dagegen wendet sich in seiner durch die Wort-für-Wort-Methode konstruierten Übersetzersprache an ein elitäres Publikum, die vernonfftig(en) leye(n)11. Berthold verwendet keinen der genannten Übersetzungsmodi ausschließlich. Er hat sein Werk aus dem Lateinischen ausgewogen und j e täwcjer fprach . . . gemacht. Dabei bedient er sich der wörtlichen Über72

Noch im 16. Jh. beklagt der Basler Humanist Johannes Herold, der 1559 zum ersten Mal Dantes >Monarchia< verdeutschte, die Schwierigkeit, die politischen Begriffe und Gedanken Dantes verständlich ins Deutsche zu transponieren, um sie einem Laien ohne Lateinkenntnisse zu vermitteln: Wo nun ein läser dorüber kumpt, der die Lateinischen wörther versteht, so kann er das Teutsch auch wol mörcken; lißt es einer, der keiner anderer spräche bericht, so darff er sich die umbfürung nit verdrießen lassen . . . (zitiert nach H. GRUNDMANN, Übersetzungsprobleme im Spätmittelalter. Zu einer alten Verdeutschung des Memoriale Alexanders von Roes. ZfdPh 70 [1948/49] 113-145. Nachdr.: H. GRUNDMANN, Ausgewählte Aufsätze. Teil 3: Bildung und Sprache. Stuttgart 1978, S. 163-195, hier S. 164.).

73

Item funt multi alij cafus de quibus tranfeo, quia non funt de foro laycorum qui continentur in jure fparfim (S 20, Z. 30-33). 74 Zum folgenden vgl. STEER (Anm. 3 ) , S. 5 8 9 - 5 9 8 . 75 G. BAPTIST-HLAWATSCH, Das katechetische Werk Ulrichs von Pottenstein. Sprachliche und rezeptionsgeschichtliche Untersuchungen (TTG 4). Tübingen 1980, S. 146. 76 H. GRUNDMANN, Litteratus - illitteratus. Der Wechsel einer Bildungsnorm vom Altertum zum Mittelalter. Arch. f. Kulturgesch. 4 0 (1958) 1-65. Nachdr.: H . G R U N D M A N N , Ausgewählte Aufsätze (Anm. 72), S. 1-66. 77

STEER ( A n m . 5 2 ) , S. 3 6 0 .

75

Setzung wie der expositio aus dem Sinn der lateinischen Vorlage, daneben der circumlocutio wie auch der weitgehenden Paraphrase. Auch Neologismen können bei ihm nachgewiesen werden. Sprachtheoretische Reflexionen sind nicht vorhanden, das spricht für eine Entstehung der Übertragung zu Beginn der allgemeinen Übersetzungstätigkeit. Wie der Verfasser des >BelialRechtssummeSumma ConfessorumCompendiumSuper MissamRechtssumme< von Anfang an in Laienkreisen rezipiert wurde, die des Lateins nicht mächtig waren (anders das >CompendiumSumma Confessorum< anschaulich und bildhaft umsetzt. Häuptcharakteristikum seiner Diktion, die entscheidend von der Predigtsprache beeinflußt ist (nicht umsonst hat Berthold zeit seines 78

Vgl. unten S. 86.

79

STEER ( A n m . 3 ) , S. 4 3 9 .

80

K. ILLING, Alberts des Großen >Super MissamSumma legumPisana deutsch< und >Das buch der tugenden< schreiben an dieser Stelle generell schätz), jedoch ist die Explanation häufiger ein zwingend notwendiger Bestandteil der Übertragung und durch das Fehlen einer adäquaten Fachterminologie bedingt. Arre sponsalice wird übertragen mit gelt oder das güt daj ains dem anderen geit, wann fi fich mdhelen vnd $efamen geben, alio daj vingerlein, da$ fur [pan oder gelt (Ε 12)84. Wo Berthold bei einer Aufzählung verschiedener Begriffe zur knappen und formelhaften Übersetzung gezwungen ist, schreibt er sicherheitshalber den lateinischen Terminus mit: has vnd nach red vnd haimleich vnfrit machen, id eft fuffurracio (Ν 3) oder er verbindet das lateinische Wort mit dem übersetzten Begriff zu einer Paarformel: confciencie vnd gewiffen (G 38), fentencien vnd vrtailen (P7). >Das buch der tugenden< bedient sich der nämlichen didaktischen Hilfsmittel85. Im Satzbau geht Berthold ebenfalls eigene Wege. Der indirekte Fragesatz der Überschrift: Queritur etiam quid iuris sit de thesauris wird konditional wiedergegeben: Gefunden gut wann man daj mugpehalten. Komplizierte lateinische Satzgefüge werden ebenso aufgelöst, der Einfluß der Predigtsprache zeigt sich vor allem in seiner ungeformten, fließenden Syntax. Berthold bevorzugt die Parataxe86, d.h. der lateinische Nebensatz wird zu einem gleichgeordneten Hauptsatz ohne temporale Zuordnung: que inveniuntur - vnd werdent die funden. Auch das ut consecutivum und der ablativus absolutus werden in ein beiordnendes und übergeführt oder auch mit Relativsatz angeschlossen: thesauris antiquo 83

Prolog S. 63, Z. 17. Auch der Bedeutungsbereich von histriones im Deutschen kann nur ausgelotet werden durch die Reihung: lotern vnd päben, fchenderen vnd freyen gefeiten vnd sölichen spillaäten (L 28, Z. 3f.). 85 z . B . T B II. 1.2.2 Von gShi. Gehi ist ein sunde, du heisset in latine precipitacio, s. BERG (Anm. 13), S. 96. Noch im 16. Jh. werden den immer noch nicht allgemeinverständlichen termini technici der lateinischen Rechtssprache ihre deutschen Entsprechungen beigefügt, wie G. KISCH, Bonifacius Amerbach als Rechtsgutachter. In: Festgabe M. Gerwig (Basier Studien zur Rechtswissenschaft 55). Basel 1960, S. 85-120, hier S. 104 belegt: ab intestato oder on testament ... opinion oder meinung, curatom oder vogten 84

86

R. GROSSE, Zur sprachgeschichtlichen Untersuchung der spätmittelalterlichen deutschen Rechtsdenkmäler. FuF38/2 (1964) 56-60, bezeichnet die Hypotaxe und die Konditionalsätze als spezifische Züge der Syntax in deutschen Rechtsbüchern; hier auch weitere Literatur zur Sprachgeschichte.

77

tempore sub terra occultatis wird übersetzt mit daj vor menger jeit wär verporgen in der erden. Ähnlich verfahren die >Pisana< {der lange czeit ist in der erden vorborgen gewest) und >Das buch der tugenden< (der hie vor von alter verborgen wart vnder der erde). Der relative Satzanschluß quorum non est aliquis possessor wird in der >Rechtssumme< in einem beiordnenden Hauptsatz erläuternd umschrieben : vnd die laut vor langer jeit wären tod gewefen, der daj gut wär gewefen. Die >Pisana deutsch< dagegen überträgt hier wörtlich: das kein herre dorczu ist. Das >Büch der tugenden< nimmt sogar das lateinische Substantiv lautmalend auf: der enkeinen besesser hat des er si. Nur noch eine Sinnäquivalenz zeigt die freie Nachschöpfung Bertholds die nie chain herren haben gehabt für que numquam fuerunt in bonis alicuius. Die gleiche Satzkonstruktion wie das Latein zeigt dagegen wiederum >Das büch der tugendenPisana< sich am lateinischen genetivus possessivus orientiert: die nymandes gewest seyn. Welche Übertragungsschwierigkeiten eine präzise Rechtsformulierung den spätmittelalterlichen Bearbeitern bereitet, zeigt die umständliche Umsetzung des antik-rechtlichen Terminus tenetur dare medietatem domino agri. Berthold erläutert ihn ausführlich: daj gut war halbs des frSmden87 vnd halbs des herren, auf des erb vnd grünt daj gut funden wär. Auch die >Pisana deutsch< benötigt einen Nebensatz zur Wiedergabe: das man . . . die helffte mus gebin dem herre des ackers. Noch ausführlicher wird >Das büch der tugendenSumma legum< überträgt präzis: so wirt der halbteil des finders vnd der ander halbteil des gruntherren. Wie wenig es Berthold um eine »genaue Nachbildung der Wortvorlage88« geht, beweist er auch dort, wo gewiß keine terminologischen Schwierigkeiten ihn zu einer auslegenden, worterklärenden Übersetzung zwingen: in litore maris wird bei ihm sinngemäß interpretiert: pey dem mer oder pey andern wafferen. Die beträchtliche Varianz der Übersetzungsmöglichkeiten für litus zeigen die übrigen Texte: an den gestaten heißt es in der >Summa legumPisanaDas büch der tugenden< das Äquivalent an des meres grien89 verwendet. 87

Das Wort wurde offensichtlich vom B-Redaktor verlesen (die A- und C-Fassung tradieren richtig des finders). Die Textverderbnis wurde erkannt und verursachte im weiteren Verlauf mehrere Besserungsversuche (de; friimds oder finders, des finders, des friundes). 88 Dazu vgl. etwa K. RUH, Bonaventura deutsch. Ein Beitrag zur deutschen Franziskanermystik und -scholastik (Bibliotheca Germanica 7). Berlin 1956, S. 84.

78

Zusammenfassend läßt sich ein grundsätzlicher Unterschied zwischen den vier Bearbeitungen erkennen. Sowohl die verbum-de-verbo Methode als auch die vmbred bis hin zur Paraphrase und freien Nachschöpfung sind hier vertreten. Auf eine Stufe in übersetzungstechnischer Hinsicht zu stellen sind die >Summa legum< und die >Pisana deutsche Beide Übertragungen sind so wörtlich, daß eine zeilensynoptische Gegenüberstellung der lateinischen und deutschen Fassung ohne Probleme herzustellen ist. Der einem Rechtstext eigene Nominalstil wird in der >Summa legum< bis ins Detail beibehalten (per invencionem - durch findung). Lateinische Satzkonstruktionen wie der genetivus possessivus werden ebenso übernommen (inventorum fiunt - sein der finder) wie passivischer Satzbau (acquiruntur nobis - es wirt vns gewunnen). Lediglich der ablativus absolutus wird - wie bei den anderen Übertragungen - durch einen Konditionalsatz wiedergegeben: non data ad hoc opera - so er nit darzw sein hulf. Aufzählungen werden in ihrer vollen Breite übertragen: gemme, margarite et lapides preciosi - edel gestain, margariten, köstlich stain. Die einzige explanatorische Variante in unserem Beispiel findet sich, wenn expulsi mit mit den wellen ausgetriben übertragen wird. Die Übersetzung scheint angefertigt zu sein zur Vorbereitung auf die eigentliche Hauptlektüre des lateinischen Textes, den sie mechanisch umsetzt. Auch die Tatsache, daß die beiden existierenden Handschriften von einem Schreiber stammen, der wohl zugleich der Übersetzer ist, deutet - wie auch die Mitüberlieferung - auf ihren Verwendungszweck in der Praxis hin. Sie blieb als Hilfsmittel im gleichen Rezipientenkreis, war ohne Eigenwert und daher auch ohne weitere Wirkung. Ähnliches läßt sich von der >Summa Pisana deutsch< sagen. Die Übertragung ist lexikalisch wie syntaktisch um eine getreue Wiedergabe bemüht: tenentur dare - mus gebin; talia occupanti conceduntur - die werden erleubet deme der sie ynne hat. Allenfalls läßt sich eine gewisse Tendenz zum strafferen Ausdruck feststellen: que nunquam fuerunt in bonis alicuius - die nymandes gewest seyn. Die ohnehin schon in der lateinischen >Pisana< auf die Paarformel lapilli et gemme verkürzte Reihung lapilli, gemmae et cetera der >Institutiones< wird noch knapper wiedergegeben: edele steyne. Nur einmal wird das Partizipialgefüge data opera bildhaft erläutert: hät her arbeid ader fleiß dorvmb getan90, die 89 90

Md. Kiessand, sandiges Ufer (LEXER I, 1080). Der Unterschied zu Bertholds Arbeitsweise läßt sich hier an einem ähnlichen Beispiel deutlich machen. In Κ 13 schreibt Berthold für periculum: forg, vorcht, arbait, chSft. Diese mehrgliedrige Synonymik ist für die spätmittelalterliche Prosa typisch, vgl. H. KRAUME, Die Gerson-Übersetzung Geilers von Kaysersberg. München 1980, S. 215f.

79

Passivkonstruktion qui inveniuntur aktivisch übersetzt: die man findet. Man wird sich die Entstehung dieser Übertragung im dominikanischen Schulbetrieb91 vorstellen dürfen, damit wäre auch ihre schwache Wirkung erklärt. Ein Wechsel der Gebrauchssphäre war wohl nicht intendiert, der Leserkreis - ähnlich im >Compendium theologicae veritatisPisanaSumma theologiaeCatena aureaEpistula ad fratres de Monte DeiConclusiones in IV libros sententiarumTraktat von der GottesliebeLibri quattuor Sententiarum< des Petrus Lombardus 99 sind Unikate. Die Schwerverständlichkeit dieser Wort-für-Wort-Übertragungen verhindert offensichtlich den Erfolg dieser doch auch nur einen spezifischen Leserkreis ansprechenden Litera91

92

Bedauerlicherweise geben die drei Handschriften keinerlei Hinweise auf historische Benutzer. Die Hs. S ist erst für das 18. Jh. im Besitz des Deutschen Ordens belegt. In zwei Fällen, in denen das >Compendium< ausdrücklich für Laienbrüder bestimmt war, wird nicht einfach wörtlich übersetzt, sondern entsprechend bearbeitet (STEER [Anm. 3], S. 459).

93

STEER ( A n m . 3 ) , S . 4 5 7 .

94

STEER ( A n m . 3 ) , S . 4 5 8 .

95

Middle High German Translation of the >Summa Theologica< by Thomas Aquinas. Edited by Β . Q . M O R G A N and F R . W . S T R O T H M A N N . Stanford (California) 1950; K . R U H , Thomas von Aquin in mittelhochdeutscher Sprache. Zu einer Textausgabe. Baseler Theol.Zs. 7 (1951) 341-365. 96 Der einzige Textzeuge, ehemals Königsberg, Univ. bibl. Cod. 885-887, befindet sich heute in Thorn. Edition in Vorbereitung durch D. SCHMIDTKE und U. HENNIG. Freundliche Mitteilung von V. Honemann, Berlin. 97 V. HONEMANN, Die >Epistula ad fratres de Monte Dei< des Wilhelm von Saint-Thierry. Lateinische Überlieferung und mittelalterliche Übersetzungen (MTU61). München 1978, S. 119-148 und 282-413. 98 V. HONEMANN, Petrus Lombardus in mittelhochdeutscher Sprache: Die Sentenzenabbreviation des Johannes de Fonte. ZfdA 109 (1980) 251-275. 99 K. SCHNEIDER, Petrus Lombardus in mittelhochdeutscher Sprache. ZfdA 107 (1978) 151164.

80

tur. Eine Popularisierung lateinischer Scholastik findet durch sie nicht statt. Dazu bedurfte es mehr als nur einer mechanischen Transmission. Das Bildungsgefälle ließ sich nicht durch wörtliche Übertragung ausgleichen. Eine breitere Wirkung hingegen können eigentliche Bearbeitungen verzeichnen, wie sich anhand des >Büchs der tugenden< belegen läßt. Schon die souveräne Themenauswahl aus der >Secunda SecundaeDas büch der tugenden< mit einer selbständig konzipierten Überschrift aufwarten, die bei Thomas nicht belegt ist. Zwar finden sich die üblichen Übersetzungsmodelle des verbum-de-verbo (que nunquam fuerunt in bonis alicuius - der nie gelag in deheines menschen gute), doch nimmt der Bearbeiter sich die Freiheit, Aufzählungen im Hendiadyoin abzuhandeln (lapilli et gemmae - edel gesteine) oder passivische Satzkonstruktionen in einen persönlicheren aktiven Stil umzusetzen (quae inveniuntur das man da vindet). Auch der Nominalstil des Rechtstextes weicht dieser Ausdrucksweise: inventor - wer den vindet. Gelegentlich zeigt sich eine totale Abhängigkeit von der lateinischen Satzkonstruktion: quorum non est aliquis possessor - der enkeinen besesser hat des er si. Gewichtiger aber erscheinen interpretative Erläuterungen des Vorlagentextes, die einen Wechsel der Gebrauchssphäre signalisieren: talia occupanti conceduntur - wer das vindet der nimet es an sunde. Die >Pisana< übersetzt an dieser Stelle wörtlich: die werden erleubet deme der sie ynne hat. charakterisiert Stil und Wortschatz des >Büchs der tugenden< als Kanzlei- und Rechtssprache101. Syntaktisch noch ganz in der Nähe des Latein, versuche der Verfasser, über die Kanzleisprache hinaus »mit gebräuchlichen Mitteln handwerklich sauber lateinische Begriffe aufzufangen102«. Jedoch bleibt die Sprache nüchtern und spröde, durch die Nähe zum Latein anspruchsvoll und nicht einfach zu verstehen. Daher bleibt >Das büch der tugenden< einem gebildeten Leserkreis vorbehalten, der zu Abstraktion und begrifflichem Denken fähig ist. Die Ambivalenz des Textes zwischen den Begriffen >NutztheologieRechtsbuch< erschwert zum einem die Einordnung des Werkes in traditionelle Gattungsraster, ermöglicht zum andern aber auch die vielfältige Nutzung durch BERG

100

BERG(Anm. 11), S. 81-85.

101

BERG ( A n m . 11), S. 1 7 2 .

102

BERG ( A n m . 11), S. 1 9 2 .

103

A. WALZ, Dominikaner und Dominikanerinnen in Süddeutschland (1225-1966). Freising 1967, S. 15.

81

seine Rezipienten. Das spiegelt sich denn auch in seiner Überlieferungsgeschichte, die ihn in die Nähe der großen Rechtsbücher rückt. Ähnlich wie für den >Belial< gelten auch für >Das buch der tugenden< die von NORBERT O T T festgestellten »gewandelten Funktionen in einer gewandelten volkssprachlichen Öffentlichkeit' 04 «. »Lehrbücher theoretischen wie praktikablen Wissens schaffen sich ihre Gebrauchssphäre und damit ihre oft sehr lange Überlieferungs- und Wirkungsgeschichte selbst105«. Überblickt man die historische Gebrauchssituation der vorgestellten Texte, so ist evident, daß sie ihre hauptsächliche Verbreitung im Kontext der Rezeption des gelehrten Rechts106 erfahren haben, d.h. der Vermittlung kanonistischen wie römisch-rechtlichen Wissens an Laien in den Abstufungen vom vernünftig laien bis hin zum illitteratusm dienten. P. JOHANEK108 hat nachdrücklich auf die »einzigartige Bedeutung« der >Rechtssumme< Bruder Bertholds für die Rezeption des kanonischen Rechts in deutscher Sprache aufmerksam gemacht. A . LAUFS spricht von einem »kanonistischen Parallelwerk zu anderen Rechtsbüchern seiner Zeit109«. »Erst die Entdeckung von Bertholds Summe als Quelle kanonischen Rechts war es, die den Erfolg des Werks sicherte, nachdem es im ursprünglich intendierten Benützerkreis ohne breiten Erfolg geblieben war110«, führt JOHANEK weiter aus und setzt die Rezeption der >Rechtssumme< in Parallele zur Wirkungsgeschichte des >SachsenspiegelsRechtssumme< als accessus ad auctorem einen Grund für 104

N. OTT, Rechtspraxis und Heilsgeschichte. Zu Überlieferung, Ikonographie und Gebrauchssituation des deutschen >Belial< (MTU 80). München 1983, S. 4; vgl. unten S. 85.

105

K U H N ( A n m . 6 2 ) , S. 132.

106

D a z u g r u n d l e g e n d TRUSEN ( A n m . 18), S. 1 2 5 - 1 4 7 ; F. WIEACKER, P r i v a t r e c h t s g e s c h i c h t e

der Neuzeit. Göttingen 1967, S. 97-203. G. STEER, Zum Begriff >Laie< in deutscher Dichtung und Prosa des Mittelalters. In: Literatur und Laienbildung im Spätmittelalter und in der Reformationszeit. Kolloquium Wolfenbüttel 1981, Stuttgart 1984, S. 579-582. 108 P. JOHANEK, Literaturgattung und Wirkungsgeschichte. Zur Titelbezeichnung der >Summe< Bruder Bertholds. In: Sprache und Recht. Beiträge zur Kulturgeschichte des Mittelalters. Fs. R. Schmidt-Wiegand (erscheint 1986). 109 A. LAUFS u.a., Das Wimpfener Rechtsbuch. Bericht über eine unbekannte Handschrift der Rezeptionszeit. ZRG Germ. Abt. 89 (1972) 175-211, hier S. 191. 107

110

JOHANEK ( A n m . 1 0 8 ) .

111

D a z u z u l e t z t I. BUCHHOLZ-JOHANEK. I n :

82

2

V L 4 (1983)

551-559.

die enorme Verbreitung des Werkes sieht. Wie wichtig diese Funktion auch heute noch ist, läßt sich anhand unseres Beispieles in nuce verdeutlichen. Die >Summa legum< bezieht sich allein auf das ius naturale, >Das büch der tugenden< nennt keinerlei Quelle und Berthold verweist am Ende der langen Quästion auf die >Institutiones< des >Corpus Juris Civilis^ Lediglich die >Pisana< zitiert Thomas und die >InstitutionesRechtssumme< als auch im >Büch der tugenden< die dort nicht genannte Thomas-Stelle verifizieren und für die >Summa legum< Hostiensis als Hauptquelle neben den >Institutiones< nachweisen. Warum haben >Das büch der tugendenPisana deutsch< und die >Summa legum< nicht einen ähnlichen Erfolg gehabt wie die >Rechtssumme