Überlieferungsgeschichten: Paradigmata volkskundlicher Kulturforschung 9783110424775, 9783110428445

R.W. Brednich, the principal editor of the Encyclopedia of the Fairy Tale and best-selling author of legendary tales, pr

252 34 8MB

German Pages 570 [572] Year 2015

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Table of contents :
Vorwort
Mediengeschichten
Zur Vorgeschichte des Bänkelsangs
Zur europäischen Vorgeschichte der Comics
Die Überlieferungen vom Kornregen. Ein Beitrag zur Geschichte der frühen Flugblattliteratur
Der Vogelherd. Flugblätter als Quellen zur Ikonographie der Jagd
Nacherzählen. Moderne Medien als Stifter mündlicher Kommunikation
Die neue Erzählkultur im Internet: Über die Veränderungen des Genderverhältnisses im Cyberhumor
Bildgeschichten
Die holländisch-flämischen Sprichwortbilderbogen vom Typus „De Blauwe Huyck“
Vogel am Faden. Geschichte und Ikonographie eines vergessenen Kinderspiels
Das Gänsespiel. Neues zu einem Klassiker der europäischen Spielkultur
„Wie das Korn harrt auf Mairegen, hoffen wir auf Freiheit und Frieden“. Das Stammbuch von August von Haxthausen (1812-1860)
Die Täufer und die Bilder. Im Anschluß an Felderfahrungen bei den Hutterern in Kanada
Lied- und Erzählgeschichten
Das Lied als Ware
Lieder als Lebensschule. Gesang als Vermittler von Volksbildung an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert
Das Herz der Mutter. Von den Wanderungen und Wandlungen eines Liedes
Die Legende vom Elternmörder in Volkserzählung und Volksballade
Der Edelmann als Hund. Eine Sensationsmeldung des 17. Jahrhunderts und ihr Weg durch die Medien der Zeit
Über Hören-Sagen in der früheren DDR
Alltagskulturgeschichten
Volkswelt als Kulisse. Folklorismusphänomene im höfischen Festwesen Württembergs im 18. Jahrhundert
„Das schöne Bild eines wohlregulirten Dorfes“. Der ungarische Aufklärer und Sozialreformer Sámuel Tessedik (1741–1820)
Die Hutterer – ein Stück alpenländischer Kultur in der Neuen Welt
Erinnertes und Vergessenes aus der Göttinger Stadt- und Universitätsgeschichte
Forschungsgeschichten
Der Volksliedforscher Ludwig Uhland
Das Weigelsche Sinnbildarchiv in Göttingen. Ein Beitrag zur Geschichte und Ideologiekritik der nationalsozialistischen Volkskunde
Projekt Saskatchewan. Neue Aufgaben und Methoden volkskundlicher Empirie
Bildforschung
Die volkskundliche Forschung an der Universität Göttingen 1782–1982
Anhang
Schriftenverzeichnis Rolf Wilhelm Brednich
Register zum Schriftenverzeichnis
Personenregister
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Überlieferungsgeschichten: Paradigmata volkskundlicher Kulturforschung
 9783110424775, 9783110428445

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Rolf Wilhelm Brednich Überlieferungsgeschichten

Rolf Wilhelm Brednich

Überlieferungs­ geschichten Paradigmata volkskundlicher Kulturforschung

De Gruyter

ISBN 978-3-11-042844-5 e-ISBN (PDF) 978-3-11-042477-5 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-042483-6 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2015 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck: CPI books GmbH, Leck ∞ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Festgabe zum 80. Geburtstag des Autors von den Mitherausgeberinnen und Mitherausgebern der Enzyklopädie des Märchens

Vorwort Dieser Band versammelt – aus Anlass des 80. Geburtstags seines Autors – eine besondere, viele Leser vielleicht überraschende Auswahl erzählender Texte Rolf Wilhelm Brednichs. Die in Deutschland zuerst von ihm syste­ matisch zusammengetragenen sagenhaften Geschichten vom Typ Die Spinne in der Yucca-Palme kennt heute jedermann; sie sind seit 1990 in einer kaum glaublichen Anzahl von mehr als anderthalb Millionen Taschenbüchern weitflächig verbreitet und allseits zu einem vertrauten Begriff geworden. Immer wieder und überall können wir heute im Alltag der Maus im JumboJet oder dem Huhn mit dem Gipsbein begegnen oder einem ihrer Verwandten wie der Ratte am Strohhalm und Pinguinen in Rückenlage, die alle schon bald je­ nem ersten ungewöhnlichen Spinnentier in neuen, neuesten, allerneuesten und brandneuen Geschichtensammlungen nachgefolgt sind. Im vorliegenden Buch freilich geht es um Geschichten anderer Art. Rolf Wilhelm Brednich erscheint mit ihnen kaum verkennbar als ein le­ gitimer Urenkel der Brüder Grimm, der aus gutem Grund für das Jahr 2004 den Brüder Grimm-Preis der Philipps-Universität Marburg erhalten hat. Denn er ist ja nicht allein ein höchst erfolgreicher Sammler und Ver­ mittler populärer Alltagsgeschichten, die von Mund zu Mund (und heu­ te vielfach über das Internet) weitergetragen werden, sondern muss auch als einer der bedeutendsten Forscher auf dem Fachgebiet der mündlichen Überlieferungen (und darüber hinaus) gelten. Er hat nämlich, gleich den berühmten Brüdern, das von ihm zupackend und geduldig Eingesammelte sowohl in sinnvoller Ordnung publiziert als auch ausführlich kommentiert. Und er hat nicht zuletzt ein für die kulturwissenschaftliche Forschung ge­ nerell wegweisendes, dem gewaltigen Grimmschen Wörterbuch durchaus vergleichbares Erzähllexikon hauptverantwortlich mitgeschaffen, das nach 40 Jahren intensiver internationaler Zusammenarbeit im Jahre 2015 mit 15 stattlichen Bänden nun vollendet vorliegt: die Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung. Wer einen Band der Märchen-Enzyklopädie zur Hand nimmt, wird das Exemplarische dieses Unternehmens bald erkennen. Fast viertausend Stichworte umkreisen und erfassen hier den Homo narrans. Das Handbuch, nach dem Tod seines Begründers Kurt Ranke seit dem Buchstaben F von Brednich jahrzehntelang souverän geleitet, stellt die Erzählstoffe und Er­

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Vorwort

zählmotive nahezu aller Völker dieser Erde vor; es interpretiert sie unter inhaltlichen, strukturellen und funktionalen Gesichtspunkten; es erläutert Stil- und Gattungsfragen; es expliziert die Vielzahl und Vielfalt der Theo­ rien und Methoden zu ihrer wissenschaftlichen Erfassung und vermittelt eine Fülle weiterer Informationen zur weltweiten Erzählüberlieferung und ihrer Erforschung. Es ist über weite Strecken ein Werk, das zu Leseaben­ teuern einlädt und zu dem Rolf Wilhelm Brednich selbst mehr als 80 Ar­ tikel beigesteuert hat, von der Altweibermühle über Ballade, Comics und Flugblatt, über Informant, Lesen, Pointe, (moderne) Sage und Schicksalserzählungen, über den Schlangenkönig, den Schlangenkuss und die Teufelsbraut bis hin zu Xeroxlore, Zeitung und Zensur. In Brednichs Beiträgen zur Enzyklopädie verdichtet sich all das, was er in seinen zwei Dutzend eigenen Büchern und weit über hundert Ein­ zelstudien in extenso vorführt. Allein diese Zahlen, die noch um rund drei Dutzend herausgegebene Sammelwerke sowie zahlreiche biographische und berichtende Texte, Tagungsprotokolle oder Begleithefte zu Doku­ mentarfilmen ergänzt werden müssen, deuten an, dass im vorliegenden Band nur eine kleine Auswahl der Brednichschen Forschungserzählungen berücksichtigt werden konnte. So wie er selbst im persönlichen Gespräch gerne erzählt und in geselligem Kreis mit witzigen Geschichten und Anek­ doten zu unterhalten weiß, so ist es auch für seine wissenschaftliche Arbeit charakteristisch, dass sie in eine erzählende Formensprache gerinnt. Seine Studien sind spannende und zugleich klar strukturierte Geschichten seiner Forschungsabenteuer, an denen er Leserinnen und Leser durch umsich­ tiges Voranschreiten – in einem zuweilen durchaus abgründig-gelehrten Terrain – bedachtsam teilhaben lässt. Rolf Wilhelm Brednich ist ein Hochschullehrer par excellence, der nicht nur forschen, sondern auch anregen und begeistern und das Erkann­ te weitergeben will. Nach seinem Studium der Volkskunde, Germanistik, Geschichte und evangelischen Theologie in Tübingen und Mainz, seiner Tätigkeit als wissenschaftlicher Assistent sowohl an der Universität als auch an der Akademie der Wissenschaften und Literatur in Mainz und schließ­ lich als langjähriger, mit vielen Initiativen brillierender Hauptkonservator am Deutschen Volksliedarchiv in Freiburg wurde Brednich im Jahr 1981 auf den Lehrstuhl für Volkskunde in Göttingen berufen. Insbesondere von Freiburg und Göttingen aus sind durch ihn nachhaltige Impulse zur Erforschung vergessener und übersehener volkskundlicher Problemfelder ausgegangen, zu denen hier wenige Stichworte genügen müssen: Liedpu­ blizistik, Deutsche Comics, Biographische Forschung, Populäre Bildme­ dien, Dorfplätze in Deutschland, Alternativkultur in Kanada und Humor in Neuseeland (wo Brednich nach seiner Pensionierung als Honorary Research Fellow und Visiting Professor of Anthropology an der Victo-

Vorwort

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ria University in Wellington weiterhin wissenschaftlich tätig geblieben ist). Im Bereich einer streng kulturwissenschaftlichen – das meint hier empi­ rischen, also auf Erfahrung gegründeten – Volkskunde hat er durch um­ fangreiche bibliographische und editorische Unternehmungen für Lehre und Forschung unverzichtbare Grundlagen bereitgestellt: schon 1973/75 (zusammen mit Lutz Röhrich und Wolfgang Suppan) das gewichtige zwei­ bändige Handbuch des Volksliedes oder 1988 (in dritter, erweiterter Auflage 2001) eine Einführung in die Forschungsfelder der Europäischen Ethnologie mit zu­ letzt 28 Kapiteln: den Grundriss der Volkskunde. Rolf Wilhelm Brednich hat geistige Brücken erbaut – in räumlicher, zeitlicher und sozialer Hinsicht. Gedanklich wie körperlich scheint er un­ entwegt unterwegs, und zwar vor allem auch jenseits seiner geliebten An­ gel- und Golfplätze in aller Welt. Sein wissenschaftliches Werk verbindet thematisch Deutschland mit Nordamerika und der Südsee; es verknüpft den gegenwärtigen Alltag mit seinen historischen Wurzeln und Entwick­ lungen; es lebt von internationalem Austausch und interdisziplinären Ge­ sprächen und befördert sie. Was also dürfen Leserinnen und Leser im Fol­ genden erwarten? Wissenschaft verlangt zuallererst Kärrnerarbeit am sachgebundenen Detail, bevor sie große Linien zu zeichnen vermag; Mikroanalyse geht der Makrobetrachtung voraus. Diese Überzeugung ist ein Leitmotiv dieser Auswahl. Dass empirische Arbeit als solche ihren Eigenwert besitzt und oft genug für sich allein zu markanten Einsichten führt, demonstrieren Brednichs Studien auf Schritt und Tritt. Und sie zeigen, dass die Attrak­ tivität der Forschung auch in ihren erzählerischen Qualitäten liegt, ohne dass die Darstellung ins Essayistische hinübergleiten müsste. Denn kultur­ wissenschaftliche Erkenntnisse zu präsentieren, heißt auch: Geschichten erzählen. Hier nun geht es um Überlieferungsgeschichten. Sie markieren mit dem Fokus auf Gegenwart und Geschichte des täglichen Lebens die Kernthe­ matik der Volkskunde. Überlieferungsvorgänge sind ein facettenreiches Gebiet, welches sich nur bedingt in strikt begrenzte Abschnitte aufteilen lässt. Denn im Feld der Traditionen und der Tradierungsprozesse spiegelt sich unser Alltag in seiner ganzen Buntheit, so dass er unter kulturellen As­ pekten vor allem als ein Konglomerat aus Mischungen, Abtönungen und Überlagerungen erscheint. Dieses Bild zeigt sich entsprechend auch in der Forschungspraxis. Das spezielle analytische Prisma Rolf Wilhelm Bred­ nichs ist stark medial eingefärbt, mit dem Blick auf die materialen Träger der Überlieferung wie Flugschrift, Bilderbogen, Stammbuch, Film, aber auch Fernsehen und Computer. Schon sehr früh hat er hier insbesondere den bildlichen Ansatz zur Kulturanalyse findig und ideenreich verfolgt und ihn zunächst hauptsächlich unter quellenkundlich-ikonografischen Ge­

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Vorwort

sichtspunkten für seine Lied-, Erzähl- und Spielstudien fruchtbar gemacht, ehe er ihn später, zum Beispiel in seinem Feldforschungsprojekt unter den Hutterern in Kanada, dezidiert auf die Untersuchung des praktischen Bildgebrauchs ausdehnt. Doch Brednich vollzieht noch einen weiteren Schritt: zur Synthese. Das sollen in diesem Band jene Beiträge andeuten, die hier (hilfsweise) als Alltagskultur- und Forschungsgeschichten charakterisiert werden. Sie zeigen zum einen längere kulturgeschichtliche Strömungen auf oder sind darin eingebettet, sie präsentieren zum anderen eine programmatische oder systematische Zusammenschau. Solche Geschichten verlebendigen den historischen Wandel, etwa in der 200jährigen volkskundlichen Fachge­ schichte an der Universität Göttingen, oder sie veranschaulichen Aufgaben und methodische Ansätze der ethnologischen Arbeit, ob im „Feld“ oder bei der Bildanalyse. Insgesamt repräsentieren die Beiträge des Bandes nicht zuletzt ein persönliches Stück Forschungsgeschichte, die ein halbes Jahrhundert um­ spannt. Die vorliegende Auswahl will zum einen die Breite des Arbeitsfel­ des von Rolf Wilhelm Brednich zumindest andeuten, und soll zum anderen auch Untersuchungen wieder zugänglich machen, die zum Teil an abge­ legener Stelle publiziert wurden und inzwischen schwer greifbar sind. Es wurde versucht, die in einer Zeitspanne von über 40 Jahren erschienenen und hinsichtlich ihrer redaktionellen Gestaltung oft sehr ungleichen Text­ vorlagen formal weitgehend zu vereinheitlichen; doch haben sich Inkon­ sequenzen leider nicht ganz vermeiden lassen. Die ältere Rechtschreibung wurde im Prinzip beibehalten, offensichtliche Druckfehler sind stillschwei­ gend berichtigt. Die Bildbeigaben, die einen wesentlichen Bestandteil der Argumentation bilden, mussten trotz der nicht immer optimalen Druck­ qualität ihrer Vorlagen in der gegebenen Form übernommen werden. Im Übrigen bleibt jedoch stets im Auge zu behalten, dass es zu praktisch jeder der hier abgedruckten Studien aus Brednichs Feder (oft mehrere) ergän­ zende Aufsätze oder gar Bücher gibt, die man – mit Hilfe der Register – im beigegebenen Verzeichnis seiner Schriften auffinden kann. Die Herausgeber dieser Festgabe – die Fachkolleginnen und Fachkol­ legen des Jubilars im Leitungsgremium der Enzyklopädie des Märchens an der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen – möchten allen, die bei der Textaufbereitung an den Universitäten in Bamberg und Regensburg und in der Arbeitsstelle Enzyklopädie des Märchens geholfen haben, sowie der Göttinger Akademie für einen Druckkostenzuschuss verbindlich danken. Ihrem Kollegen und Freund Rolf Wilhelm Brednich wünschen sie in herz­ licher Verbundenheit weiterhin Gesundheit, Arbeitsfreude und Petri Heil! Helge Gerndt

Inhaltsverzeichnis Vorwort ........................................................................................................... VII Mediengeschichten Zur Vorgeschichte des Bänkelsangs ............................................................. 3 Zur europäischen Vorgeschichte der Comics ............................................. 25 Die Überlieferungen vom Kornregen. Ein Beitrag zur Geschichte der frühen Flugblattliteratur .......................................................................... 41 Der Vogelherd. Flugblätter als Quellen zur Ikonographie der Jagd ....... 57 Nacherzählen. Moderne Medien als Stifter mündlicher Kommunikation .............................................................................................. 77 Die neue Erzählkultur im Internet: Über die Veränderungen des Genderverhältnisses im Cyberhumor ................................................... 87 Bildgeschichten Die holländisch-flämischen Sprichwortbilderbogen vom Typus „De Blauwe Huyck“ .................................................................................... 105 Vogel am Faden. Geschichte und Ikonographie eines vergessenen Kinderspiels ................................................................................................... 119 Das Gänsespiel. Neues zu einem Klassiker der europäischen Spielkultur ...................................................................................................... 157 „Wie das Korn harrt auf Mairegen, hoffen wir auf Freiheit und Frieden“. Das Stammbuch von August von Haxthausen (1812-1860) .................................................................................................... 171 Die Täufer und die Bilder. Im Anschluß an Felderfahrungen bei den Hutterern in Kanada ...................................................................... 189

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Inhaltsverzeichnis

Lied- und Erzählgeschichten Das Lied als Ware ......................................................................................... 209 Lieder als Lebensschule. Gesang als Vermittler von Volksbildung an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert ............................................ 221 Das Herz der Mutter. Von den Wanderungen und Wandlungen eines Liedes .................................................................................................... 237 Die Legende vom Elternmörder in Volkserzählung und Volksballade ........................................................................................... 259 Der Edelmann als Hund. Eine Sensationsmeldung des 17. Jahrhunderts und ihr Weg durch die Medien der Zeit .............. 291 Über Hören-Sagen in der früheren DDR ................................................. 325 Alltagskulturgeschichten Volkswelt als Kulisse. Folklorismusphänomene im höfischen Festwesen Württembergs im 18. Jahrhundert .......................................... 341 „Das schöne Bild eines wohlregulirten Dorfes“. Der ungarische Aufklärer und Sozialreformer Sámuel Tessedik (1741–1820) ................ 359 Die Hutterer – ein Stück alpenländischer Kultur in der Neuen Welt .................................................................................................... 375 Erinnertes und Vergessenes aus der Göttinger Stadt- und Universitätsgeschichte .................................................................................. 387 Forschungsgeschichten Der Volksliedforscher Ludwig Uhland ...................................................... 409 Das Weigelsche Sinnbildarchiv in Göttingen. Ein Beitrag zur Geschichte und Ideologiekritik der nationalsozialistischen Volkskunde .................................................................................................... 427 Projekt Saskatchewan. Neue Aufgaben und Methoden volkskundlicher Empirie .............................................................................. 447 Bildforschung ................................................................................................ 467 Die volkskundliche Forschung an der Universität Göttingen 1782–1982 ...................................................................................................... 493

Inhaltsverzeichnis

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Anhang Schriftenverzeichnis Rolf Wilhelm Brednich ........................................... 511 Register zum Schriftenverzeichnis .............................................................. 539 Personenregister ............................................................................................ 547

Mediengeschichten

Zur Vorgeschichte des Bänkelsangs* Der Bänkelsang ist erst zu einem Zeitpunkt als Forschungsgegenstand der Volkskunde anerkannt worden, als er – zumindest in Mitteleuropa – bereits zur historischen Erscheinung geworden war. Zu spät hat man sich also dieser Erscheinung zugewandt, deren Studium doch in so hohem Maße geeignet gewesen wäre, Einblick in den Prozeß von Entstehung, Verbrei­ tung, Konsum­tion und Rezeption von populärem Liedgut zu gewinnen. Die traditionelle Volksliedforschung des 19. Jahrhunderts stand diesem Phänomen aber ver­ständnislos, wenn nicht ablehnend gegenüber.1 So teilte die Wissenschaft im Grunde nur die obrigkeitliche Einstellung zu diesem Wandergewerbe, dessen geschichtliche Entwicklung sich noch am ehesten anhand staatlicher Zensur­maßnahmen und Auftrittsverbote verfolgen läßt. Erst die Namen von Hans Naumann, Adolf Spamer, Paul Neumann, Max Kuckei‚ Erich Seemann u.a. bezeichnen den Wandel, der sich bei der For­ schergeneration zwischen den beiden Weltkriegen anbahnte. Heute ist der Bänkelsang2 im Gefolge der „Folklorismus“-Welle neu entdeckt worden: Ausgaben von Bänkelliedern stehen hoch in Mode,3 Schallplatten entste­ * 1

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Erstveröffentlichung in: Jahrbuch des Österreichischen Volksliedwerkes 21 (1972) [Fest­ schrift für Leopold Schmidt], S. 78–92. Ein Beispiel für die negative Einstellung der Volksliedforschung zum Bänkelsang gibt etwa der Volksliedsammler Rossat, Arthur: La chanson populaire dans la Suisse romande. BâleLausanne 1917 (= Publications de la Société suisse des Traditions populaires, 14), S. 36, Anm. 1, der die Moritatensänger auf der Basler Messe für fehl am Platz hielt und mit Genugtuung reagierte, als die Polizei „eu le bon esprit d’inderdire ces exhibitions d’un goût plus que douteux“; vgl. Schenda, Rudolf: Der italienische Bänkelsang heute. In: Zeitschrift für Volkskunde 63 (1967), S. 18, Anm. 11. Zu den Bänkelsängern auf der Basler Messe vgl. den Katalog des Schweiz. Museums für Volkskunde: Gantner, Theo: Der Festumzug. Ein volkskundlicher Beitrag zum Festwesen des 19. Jahrhunderts in der Schweiz. Basel 1970, S. 38 und Abb. S. 21 und 41. Wir verwenden den Begriff im Folgenden in dieser Schreibweise; die Lesart „Bänkelge­ sang“, die Hans Naumann (wie Anm. 12) propagierte, hat sich nicht durchzusetzen ver­ mocht und entspricht auch nicht dem 1730 einsetzenden lexikalischen Gebrauch; vgl. Klu­ ge, Friedrich und Götze, Alfred: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. 17. Aufl. Berlin 1957, S. 49. Zum Beispiel: Kramer, Karl Heinz: Lob der Träne. Ein Moritatenbuch. Berlin u.a. 1955; Meysels, Theodor F.: Schauderhafte Moritaten. Salzburg 1962; Stemmle, Robert Adolf: Herzeleid auf Leinewand. Sieben Moritaten. München 1962; Petzoldt, Leander: Grause Thaten sind geschehen. 31 Moritaten aus dem verflossenen Jahrhundert. München 1968.

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Mediengeschichten

hen, Vortragskünstler gefallen sich wieder in der Verkleidung als Bänkel­ sänger, und vielfach macht z.B. das fast­nächtliche und karnevalistische Brauchtum Anleihen an diese versunkene Volkskunst. Nur allzu leicht vergißt man über dieser folkloristischen Renaissance die Tatsache, daß die Geschichte des Bänkelsangs noch nicht geschrieben ist und daß wir auch noch weit davon entfernt sind, Entstehung und Ent­ wicklung dieses komplexen Phänomens zu überschauen. Die Erforschung des Bänkelsangs ist bisher in recht einseitigen Bahnen verlaufen; im Vor­ dergrund stand von jeher das Bänkellied,4 da die Liederheftchen in den Bibliotheken noch am besten vertreten sind.5 Der komparatistische Aspekt hat bei der Unter­suchung des Bänkelsangs bisher kaum eine Rolle gespielt,6 obwohl doch mehrere Deutschland benachbarte Länder wie Holland, Frankreich, England, Spanien und Italien verwandte oder identische Er­ scheinungen ihr eigen nennen und dort teilweise eigene wissenschaftliche Studien vorliegen. Trifft es wirklich zu – wie es Riedel in seiner Monogra­ phie 1963 behauptet – daß die Quellen zur Geschichte des Bänkelsangs nur dürftig fließen?7 Wir stimmen dem nicht zu, nehmen vielmehr an, daß bisher einfach nicht alle Möglich­keiten der Aufbereitung historischer Quel­ len zum Bänkelsang genutzt sind. Rudolf Schenda8 hat mit Recht auf die Autobiographien des 19. Jahrhunderts und auf die in Archiven zahlreich vorhandenen Zensurakten9 hingewiesen, die der Erschließung harren. In diesen Zeilen soll ein weiterer Quellenbereich herangezogen wer­ den, der bei der Erforschung des Bänkelsangs stärkerer Berücksichtigung und systematischer Sammlung bedarf. Wir meinen die bildlichen Darstel­ lungen vom Auftreten der Bänkelsänger, ein Quellenmaterial, das schon deswegen nicht vernachlässigt werden sollte, weil die Leinwandtafeln der Bänkelsänger eine mindestens genau so starke Wirkung auf die Zuhörer und -schauer ent­falteten wie die Erzählungen und Lieder, denen bisher 4

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= die Moritaten. Die Probleme beginnen hier schon bei der Terminologie; für die Etymo­ logie kommen drei Möglichkeiten (aus spätma. „moritas“ = erbauliche Geschichte, aus rot­ welsch. „moores“ = Lärm, Schrecken, oder aus scherzhafter Latinisierung von „Mordtat”) in Betracht. Keine ist gesichert; vgl. Hansen, Wilhelm: Art. Bänkel­sang. In: Zastrau, Alfred (Hg.): Goethe-Handbuch. Bd. 1. Stuttgart 1955ff., Sp. 572. Die umfangreichsten Sammlungen besitzen das Deutsche Volksliedarchiv Freiburg i.Br., das Museum für Hamburgische Geschichte Hamburg und die Landesbibliothek Oldenburg i.O. Vgl. Riedel, Karl Veit: Der Bänkelsang. Wesen und Funktion einer volks­tümlichen Kunst. Hamburg 1963 (= Volkskundliche Studien, 1). Ebd., S. 9. Schenda: Der italienische Bänkelsang (wie Anm. 1), S. 17, Anm. 6. Clausen, Karl: Es können passieren … Es sind vorzuenthalten … Zensur deutscher und dänischer Lieder in Tondern 1830–1847. In: Jahrbuch für Volksliedforschung 15 (1970), S. 14–56.

Zur Vorgeschichte des Bänkelsangs

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nahezu alle Untersuchungen galten. Schon Goethe hat im „Urmeister“ auf den tiefgreifenden Einfluß der Moritatenbilder angespielt: „Am stärksten aber wird das Volk gerührt von allem, was unter seine Augen gebracht wird. Weit mehr als eine ausführliche Beschreibung zieht ein gesudeltes Gemählde, ein kindischer Holz­schnitt den dunkeln Menschen an … Die großen Bilder der Bänkelsänger drücken sich weit tiefer ein als ihre Lieder, obgleich auch diese die Einbil­dungskraft mit starken Banden fesseln“.10 Das Auftreten des Bänkelsängers auf dem Jahrmarkt oder an anderen Orten hat wohl von Anfang an die Künstler dazu angeregt, diese Szenen im Bild festzuhalten. Gemälde, Zeich­nungen, Kupferstiche, Holzschnitte, aber auch Silber- und Terrakottaarbeiten begleiten den Weg des Bänkel­ sangs. Jedes zweite Museum bewahrt irgendein Zeugnis dieser Art. Eine vollständige zentrale Erfassung aller dieser Bilddokumente zum Bänkel­ sang fehlt bisher. Das Deutsche Volksliedarchiv in Freiburg i.Br. hat es sich nunmehr zur Aufgabe gesetzt, die bisher verab­säumte Dokumentation der bildlichen Bänkelsängerszenen in Angriff zu nehmen. Erste bei dieser Sammlung getroffene Beobachtungen können hier vorgelegt werden. Wir knüpfen dabei an eine Arbeit von Leopold Schmidt an, der durch eine bei­ spielhafte Interpretation einer unbekannten Bildquelle vor einigen Jahren die Anregungen zu näherer Beschäftigung mit alten Bild­quellen und mit der Frühgeschichte des Bänkelsangs vermittelte.11 Dafür sei ihm auch an dieser Stelle gedankt. Im Jahre 1957 erwarb das österreichische Museum für Volkskunde aus dem Wiener Kunsthandel ein undatiertes Ölgemälde, das als Hauptmotiv „Bänkelsänger an einem Wallfahrtsort“ zeigt. Das Bänkelsängerpaar steht in Pilgertracht gehüllt etwas erhöht vor einer gefelderten Leinwand, auf der ein Mittelbild und darum angeordnete Einzelbilder zu erkennen sind. Einzel­heiten dieser Bänkelsängerleinwand lassen darauf schließen, daß es sich um die Darstellung eines Marienmirakels handelt. Leopold Schmidt konnte das Gemälde auf Grund der Trachten in die Zeit zwischen 1620 und 1630 und stilistisch in den Umkreis der niederdeutschen bzw. nieder­ ländischen Malerei einordnen. Als nächste Parallele bezeichnete er ein Bild von Adrian van de Venne (1589–1662) aus dem Rijksmuseum Amsterdam mit dem Titel Prinz Moritz auf dem Pferdemarkt in Valkenburg aus dem Jahre 1618. Beide Darstellungen haben vorläufig als die ersten Belege für die Existenz des Bänkel­sangs um den Anfang des 17. Jahrhunderts zu gelten. 10 Goethe, Johann Wolfgang: Wilhelm Meisters theatralische Sendung. In: Werke. Weimarer Ausgabe. Bd. 51 (1911), S. 150. 11 Schmidt, Leopold: Geistlicher Bänkelgesang. In: Jahrbuch des österreichischen Volkslied­ werkes 12 (1963), S. 1–16. Wiederabgedruckt in: Ders.: Volkslied und Volksgesang. Proben und Probleme. Berlin 1970, S. 223–237.

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Mediengeschichten

Der Bänkelsänger tritt uns auf dem Gemälde des Wiener Museums be­ reits mit all jenen Requisiten ausgestattet entgegen, die Hans Naumann12 als die Charakteristika dieser Erscheinung hervorgehoben hat: 1. Bildlein­ wand, 2. Bänkel (hier vielleicht nur ein erhöhter Platz), 3. Gesangsvortrag und 4. Verkauf der Lieddrucke. Nach Ausweis der beiden von Leopold Schmidt herangezogenen Bilder hat es den Bänkelsang demnach bereits zu einer Zeit gegeben, die nach Ansicht der älteren Forschung allenfalls das Zeitungslied und den Zeitungssänger gekannt hat. Den Begriff „Bänkel­ sang“ vermögen wir nicht bis in diese frühe Zeit zurückzuverfolgen.13 Hier erheben sich manche Fragen, die geradezu eine Antwort herausfordern, die aber wohl ohne die Heranziehung weiteren Quellenmaterials nicht ent­ schieden werden können. Es muß u.a. die Frage nach dem Zusammenhang zwischen dem Bänkelsang und seinen Vorstufen neu erörtert werden, und außerdem muß dem Problem des Zusammenhangs zwischen Bänkelsang und religiöser Sphäre (Volksdevotion, Wallfahrt) be­sondere Aufmerksam­ keit gelten. Auf die engen Beziehungen zwischen dem Vertrieb der „Neuen Zei­ tungen“ des 16. und 17. Jahrhunderts einerseits und dem Bänkelsang ande­ rerseits hatte bereits Hans Naumann aufmerksam gemacht: „Der Bänkel­ sänger ist nichts als der Kolporteur der Neuen Zeitung“.14 Ähnlich äußerte sich auch Adolf Spamer: „Unverkennbar lebt in diesen Texten [der Bän­ kelsänger] die Neue Zeitung, die Relation des 16. Jahrhunderts in fast unver­ änderter Form weiter, die sich auch in der ganzen Gestaltung der meist vierblättrigen Texte im alten Gebetszettel- und Flugblattformat bewahrt hat“.15 Demgegenüber hatte Erich Seemann vor einer unkritischen Vermi­ schung der beiden Er­scheinungen gewarnt und vor allem auf den Unter­ schied hingewiesen, der im Stil der Zeitungs- bzw. der Bänkellieder erkenn­ bar ist. Einen möglichen historischen Bezug hatte jedoch auch er nicht grundsätzlich abgelehnt: „… vielleicht … ist der Bänkelgesang erst im Lau­ fe der Zeit durch die Besonderheit des Vortrags, den reklamehaften Betrieb und die Rücksicht auf den Geschmack des Jahrmarktpublikums nach einer Entwicklungslinie abgedrängt worden, die ihm schließlich sein eigenartiges 12 Naumann, Hans: Studien über den Bänkelgesang. In: Zeitschrift für Volkskunde 30/32 (1920/22), S. 1–21, hier S. 3ff. 13 Das Wort „Bänklein-Sänger“ erscheint zuerst bei Benjamin Neukirch 1709, s. Kluge-Götze: Etymologisches Wörterbuch (wie Anm. 2). 14 Naumann: Studien Bänkelgesang (wie Anm. 12), S. 21. 15 Spamer, Adolf: Art. Bänkelsang. In: Sachwörterbuch der Deutschkunde. Bd.  1. Leipzig, Berlin 1930, S. 85; vgl. auch den Satz von Otto Görner: „In diesem Zeitungssinger steckt der Vorläufer des Bänkelsängers. Das Textblättchen, das er zum Verkauf bringt, ist nichts anderes als diese ‚Neue Zeitung‘ in ihrer alten Form.“ Görner, Otto: Volkslesestoff. In: Spamer, Adolf: Die deutsche Volkskunde. Bd. 1. Leipzig 1934, S. 394.

Zur Vorgeschichte des Bänkelsangs

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Gepräge verlieh“.16 Es ist nicht anzunehmen und kaum denkbar, daß der Bänkelsänger mit all seinen Requisiten plötzlich als fertige Erscheinung in der Geschichte vor uns steht. Sein Auftreten wird erst allmählich jene aus Darstellungen bekannte komplexe Form angenommen haben. Verwandte Erscheinungen, die sich gleich ihm dem kommerziellen Vertrieb von Lied­ drucken widmeten, dürfte es schon seit dem Beginn des 16. Jahrhunderts gegeben haben, zu einem Zeit­punkt also, an dem die massenhafte Verbrei­ tung von Liedern in Form von Flugblättern oder Flugschriften einsetzt.17 Den frühesten Beleg für einen Lied­vortrag kombiniert mit einer Bilddar­ stellung verdanken wir Walter Salmen,18 der in den Rechnungsbüchern der Stadt Ochsenfurt a.M. vom Jahre 1536 fol­genden Eintrag fand: „1 lb 12 dn geben einem spilman, der ein respectif vf einer tafeln gemalt vff dem rathaus meniglich besichtigen lassen vf dienstag nach Judica“. Hier haben wir es offenbar mit einem Zeitungssänger (= Sänger von Neuigkeiten) zu tun. Vergleichende Untersuchungen des Zeitungs- und Bänkelliedes in Be­ zug auf das Repertoire führen zu dem Ergebnis, daß auch vom Stoff her gesehen die Kontinuität der Erscheinungen gewahrt ist,19 wenn auch jede Zeit in der Wahl der Darstellungsmittel eigene Wege eingeschlagen hat. Die Unterschiede zwischen Zeitungslied und Bänkelsang erscheinen dem­ nach als das Ergebnis eines historischen Entwicklungsprozesses, in dessen Ver­lauf dem Bänkelsänger allmählich veränderte Aufgaben zugewachsen sind. Bis weit ins 18. Jahrhundert hinein wurde, zumindest terminologisch, zwischen den beiden Erscheinungen noch nicht streng geschieden. Zum Beweis führen wir eine Stelle bei Johann Gottfried Herder an, der in seinen Gedanken über den Werth der Gefühle im Christenthume 1769 den Vergleich mit den alttestamentlichen Propheten zieht und sagt: „wahrlich, meine Brü­ der, sie waren mehr als Bänkel-, Markt- und Straßensänger! Männer voll Glaubens und Gottesgeistes“.20 Wenn sich also auf diese Weise bei nä­ herem Zusehen die Unter­schiede zwischen beiden Vertriebsarten popu­ lären Liedgutes stark verringern, so muß sich die Frage erheben, was das eigentlich „Neue“ am Bänkelsang gewesen ist. In der Literatur21 wird hier

16 Seemann, Erich: Newe Zeitung und Volkslied. In: Jahrbuch für Volksliedforschung 3 (1932), S. 90. 17 Roth, Paul: Die Neuen Zeitungen in Deutschland im 15. und 16. Jahrhundert. Leipzig 1914 (= Preisschriften gekrönt und hg. von der Fürstlich Jablonowskischen Gesellschaft zu Leip­ zig. Geschichtlich-ökonomische Sektion, 25), Nachdruck ebd. 1963, S. 69ff. 18 Salmen, Walter: Der fahrende Musiker im europäischen Mittelalter. Kassel 1960 (= Die Musik im alten und neuen Europa, 4), S. 138, Anm. 503. 19 Naumann: Studien Bänkelgesang (wie Anm. 12), S. 19f.; eine größere Arbeit des Verf. zum Repertoire der Flugblattdrucke im 16. und 17. Jahrhundert ist in Vorbereitung. 20 Suphan, Bernhard (Hg.): Herders Sämmtliche Werke. Bd. 7. Berlin 1884, S. 274, Anm. 21 Z.B. Seemann: Zeitung und Volkslied (wie Anm. 16), S. 90.

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Mediengeschichten

auf die „schreienden Bilder“ mit ihrer gefelderten Darstellungsweise, auf Bänkel‚ Rohrstab und musikalische Begleitung (etwa durch die Drehorgel) verwiesen. Wenn es uns gelänge, einzelne dieser Darstellungsmittel schon als Attribute des Zeitungssängers auszuweisen, so fiele damit ein weiteres Kriterium für die Differenzierung beider Erscheinungen aus. Wir kennen nun tatsächlich literarische Zeugnisse und Bilddarstel­ lungen, mit deren Hilfe wir den Beweis in der angegebenen Richtung zu führen vermögen. Der schon von Hans Naumann herangezogene Liber vagatorum spricht Ende des 15. Jahrhunderts im 28. Kapitel bereits von „Platschierern, das sind die blinden, die vor den Kirchen uff die Stul steen und schlahen die Lauten und singen darzu mancherlei gesang von fernen landen … und von den Heiligen … dann der mensch wil betrogen sein, … das heist Platschirt“.22 Hier ist also schon vom Stuhl als einem erhöhten Ort und der Lauten­begleitung die Rede, so daß wir in diesen „Platschie­ rern“ die Vorstufe zum „geistlichen Bänkelsang“ erblicken können. Vom Stuhl zum Bänkel ist nur ein kleiner Schritt. Wir verweisen auf eine Ra­ dierung des Holländers Jan Georg von Vliet (* 1610 in Delft‚ nachweisbar bis 1635), die unter Beweis zu stellen vermag, daß zu Beginn des 17. Jahr­ hunderts Lieddrucke von einem erhöhten Ort aus angepriesen wurden:23 Die Abbildung zeigt vor einer kleinstädtischen Szenerie (hoher gotischer Dachreiter, rechts daneben giebelständiges Haus mit Ziegeldach, daneben traufenständiges Haus mit Stroh­dach) ein Ehepaar in zerlumpter Kleidung auf einem erhöhten Standort: während der Mann mit weit geöffnetem Mund aus einem Flugblatt mit knalligem Titel vorliest oder vorsingt, ver­ teilt die Frau den gleichen Druck an die Umstehenden, die sich auf Grund ihrer Tracht als Angehörige verschiedener sozialer Schichten erweisen. Ein besonders elegant gekleideter Käufer wird gerade von einem hinter ihm stehenden Taschendieb bestohlen. Während auf dieser Abbildung Lein­ wand und Deutestock noch fehlen, be­sitzen wir aus der Zeit um 1721 eine Darstellung von noch stärkerer Aussage­kraft für die von uns angestrebte Beweisführung, daß nämlich schon der Zeitungssänger mit den gleichen Requisiten arbeitete wie der Bänkelsänger. Es handelt sich um einen an­

22 Avé-Lallemant, Friedrich Christian Benedict: Das Deutsche Gaunerthum. T. 1. Leipzig 1858, S. 178; vgl. Naumann: Studien Bänkelgesang (wie Anm. 12), S. 18. 23 Wiedergabe in: Die Singenden in der graphischen Kunst 1500–1900. Katalog der Ausstel­ lung anläßlich des XV. Deutschen Sängerbundfestes in Essen, hg. von den Kunstsammlun­ gen der Veste Coburg. Coburg 1962, Abb. 17 (Kat. Nr. 186); Diederichs, Eugen: Deutsches Leben in der Vergangenheit in Bildern. Bd.  2. Jena 1908, Abb. 1066; Propyläen-Weltge­ schichte. Bd. 5. Berlin 1930, S. 467.

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onymen Kupferstich (Abb. 1) aus der Kunstbibliothek der Stiftung Preußi­ scher Kulturbesitz Berlin.24

Abb. 1: Markt- und Zeitungssänger. Bilderbogen, um 1721 (Kunstbibliothek Berlin, Preußischer Kulturbesitz, Sign. 930.35; Aufn. K.-H. Paulmann).

Wie aus der Bildunterschrift25 zu entnehmen ist, zeigt das Kupfer „HanßPumsack, privilegirter Marckt- und Zeitungs Sänger mit seinem Musicali­ schen Weibe“. Das Paar steht auf einer Bank, und da es der Stecher nur mit wenig Publikum umgab, können wir Tracht und Haltung der beiden gut erkennen: Während die Kleidung der Sängerin mit Haube, Mieder, Rock und Schürze eher an eine bäuerliche Tracht erinnert, scheint Hanß Pum­ sack nach städtischer Mode gekleidet zu sein. Sein auffällig geschnittener Mantel ist in der Mitte geöffnet und gibt einigen nachlässig eingesteckten 24 Graphik-Sammlung der Lipperheide-Kostümbibliothek, Sign. 930,35. Für die Erlaubnis zur Wiedergabe danke ich der Kunstbibliothek Berlin herzlich. 25 Diese ist in Deutsch und Französisch abgefaßt. Im französischen Titel wird der Zeitungs­ sänger als „Jean Pompesac, Chantre des Vaudevilles privilegié avec sa femme sçavante en Musique“ bezeichnet. Da auch das beschriebene Ereignis in den französischen Sprachraum verweist, könnte man auf eine Herkunft des Druckes von der Westgrenze des deutschen Sprachraumes (Straßburg?) schließen.

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Blättern Platz. In der Rechten hält er ein einzelnes Exemplar, auf dem No­ ten zu erkennen sind. Der Größe nach zu schließen dürfte es sich um Heft­ chen gehandelt haben. Auch die Sängerin hält einen solchen Druck in der Hand, von dem sie absingt, während weitere Exemplare sich wohl in der gerafften Schürze verbergen. Unter dem Bänkel liegt die Trage, mit der die wenigen Habseligkeiten des Paares transportiert werden konnten. Beson­ dere Aufmerksamkeit verdienen indes die beiden Tafeln im Hintergrund. Die linke Tafel, die mit einem Strick an der Bank befestigt ist, läßt keine Einzelheiten erkennen; die rechte jedoch mit der französischen Überschrift „La Bande des Cartouches“ zeigt in Umrissen die bildliche Erläuterung zu der Textunterschrift, von der wir die deutsche Fassung wiedergeben: Hört was mit dem Cartouche und seiner Rott geschehn Wie man mit Rad und Strick sie pflegte hinzurichten Könt ihr wenn ihr nicht blind auf dieser Taffel sehn. Wovon euch mein Gesang ein mehrers wird berichten. O solte jeder Dieb auch also müßen sterben Die Hencker könten jetzt manch Ritter Gut erwerben.

Die zugehörige Bilddarstellung ist nicht gefeldert, sondern die einzelnen Hinrichtungsszenen sind ohne Trennungslinien nebeneinandergestellt. Mit dem Deutestock weist Hanß Pumsack auf eine besonders grausige Szene hin: Ein Mann ist mit einem Fuß an einem Galgen aufgeknüpft. Es han­ delt sich dabei um die Hinrichtung des Bandenführers Louis Dominique Cartouche am 27. November 1721, dessen spektakulärer Prozeß damals in ganz Europa verfolgt wurde.26 Der Kupferstich läßt eine wichtige Feststel­ lung zu: Es gab demnach zu Beginn des 18. Jahrhunderts Zeitungssänger, die sich für ihre Schaustellungen des erhöhten Bänkels, der zusammen­ rollbaren Leinwand­tafeln und des Zeigestockes bedienten, Attributen also, die man bisher als alleinige Charakteristika des Bänkelsängers in Anspruch nehmen wollte. Wir können annehmen, daß der Bänkelsänger als der jün­ gere Bruder des Zeitungssängers die genannten Darstellungsmittel von jenem übernahm und nicht umgekehrt. Leider fehlen bisher ältere Bild­ zeugnisse vom öffentlichen Auf­treten von Zeitungssängern, aber zumin­ dest einen weiteren Beleg vermögen wir anzuführen, bei dem ein auf einer Bank stehender Sänger die ältere Bezeichnung „Marck[t]-Singer“ trägt.27 Spamers daran geknüpfte Bemerkun­gen, daß der Bänkelsänger „eine be­ 26 Vgl. Maurice, Barthélemy: Cartouche. Histoire authentique. Paris 1859; und Hitzig, Julius Eduard und Alexis, Willibald: Der neue Pitaval. Eine Sammlung der interessantesten Cri­ minalgeschichten aller Länder aus älterer und neuerer Zeit. Bd. 13. Leipzig 1848; Schenda, Rudolf: Volk ohne Buch. Frankfurt a.M. 1970, S. 400. 27 Spamer, Adolf: Die Deutsche Volkskunde. Bd. 2. Leipzig 1935, S. 444.

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sondere Form des ‚Markt‘- und ‚Gassensängers‘“ darstellt,28 ist demnach kaum zu widersprechen. Die Aushängetafel mit Werbeeffekt oder Demonstrationscharakter ist keinesfalls als Erfindung des Zeitungssängers zu betrachten. Wir finden sie schon sehr alt bezeugt auf allerlei Volks- und Marktszenen seit dem 15. Jahr­hundert. Wir greifen einige Belege heraus: 1. Auf einer Federzeichnung im Hausbuch des Fürsten WaldburgWolf­egg (15. Jahrhundert) erkennen wir unter anderem eine Bude mit ei­ ner ausgehängten Fahne, auf der ein Gaukler seine Kunststücke anpreist.29 2. In Grimmelshausens Abenteuerlichem Simplicissimus, Buch IV, Kap. 7–9, wird Simplex im Elsaß für kurze Zeit Theriakkrämer. Eine Illustration aus der 1. Gesamtausgabe des Romans von 1683/84 zeigt Simplex mit dem Deutestock als Quacksalber vor einer Bude, deren Seitenwand mit einer Reklametafel ausgekleidet ist.30 3. Im Titelkupfer des Werkes Die so genannte Moscowitische Brieffe, Oder Die, wider die löbliche Rußische Nation von einem … Italianer ausgesprengte abend­ theurliche Verläumdungen und Tausend-Lügen …, Frankfurt a.M. und Leipzig 1738, deutet der (anonyme) Verfasser mit dem Zeigestock auf die in einer Leinwandtafel zusammengestellten angeblichen Seltsamkeiten, die ihm in Rußland begegnet sind. 4. Auf vielen Jahrmarktszenen drängen sich Reklametafeln jeder Art und Größe; man vgl. etwa William Hogarths berühmten Jahrmarkt von Southwark31 oder die beliebten Kirmesszenen der flämischen Imagerie populaire.32 Reklametafeln und Deutestock scheinen demnach beim am­ bulanten Schaustellergewerbe der Jahrmärkte ihre Wurzeln zu haben; der Zeitungs­sänger hat diese Dinge nicht erfunden, sondern übernommen. Es ist jedoch nicht zu verkennen, daß sich die Bänkelsängerleinwand durch ein wichtiges Merkmal von den meisten der genannten Reklameta­ feln unterscheidet: sie weist in der Regel die kennzeichnende Felderung in Einzel­bilder auf, d.h. entsprechend dem Inhalt des zugehörigen Liedes ist die Handlung in einzelne Bildepisoden zergliedert, die meist um ein gro­ ßes Mittelbild mit einem Hauptmotiv angeordnet sind. Leopold Schmidt hat an diese „lesbare Bildkunst“ der Moritatentafeln bereits Überlegungen 28 Ebd., S. 445. 29 Hampe, Theodor: Die fahrenden Leute in der deutschen Vergangenheit. Leipzig 1902 (= Monographien zur deutschen Kulturgeschichte, 10), S. 37, Abb. 29. 30 Grimmelshausen, Hans Jacob Christoffel von: Der abenteuerliche Simplicissimus. Darm­ stadt 1956, Kupfer nach S. 480. 31 Riepenhausen, Ernst Ludwig: Hogarths Werke in verkleinerten aber vollständigen Kopien. Neue Ausgabe von H. Loedel. Göttingen 1850–1854, Bl. 57. 32 Z.B. Heurck, Emile van und Boekenoogen, Gerrit J.: Histoire de l’imagerie populaire fla­ mande. Bruxelles 1910, S. 339; dies.: L’imagerie populaire des Pays-Bas. Paris 1930, S. 65.

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geknüpft und ist dabei zu der Überzeugung gelangt, „daß die Lesbarkeit von Bildgeschichten durch Felderung in der geistlichen Kunst erwachsen ist und offenbar durch sie auch weiter vermittelt wurde“.33 Er verweist u.a. auf die vielfeldrigen Flügelbilder der spätmittelalterlichen Schreinaltäre, die Fastentücher, die Fresken in den Pilgerkirchen und die Legendentafeln und erwähnt das von Hans Naumann ebenfalls besprochene triptychonähnli­ che Moritatenbild, das ehemals im Görlitzer Museum aufbewahrt wurde. Da dieses Gemälde nicht erhalten ist und auch keine Abbildung davon existiert, dürfte es für unsere Kenntnis von der Vorgeschichte des Bänkel­ sangs von Interesse sein, auf einige verwandte Darstellungen einzugehen, die bisher in diesem Zusammen­hang noch nicht herangezogen wurden. Es handelt sich um Bildzeugnisse, auf deren Existenz schon Hans Nau­ mann beiläufig anspielte, ohne allerdings konkrete Beispiele zu nennen: „… es gibt Bänkelsängerbilder aus dem frühen 17. Jahr­hundert in deut­ schen Museen, die auf den ersten Blick mit ihrem religiösen Beiwerk sich wie schlechte Altartriptychen ausnehmen“.34 Als ersten hierhergehörigen Beleg nennen wir ein Schabkunstblatt des Holländers Jacob Gole (um 1660–1737). Gole lebte in Amsterdam, Haarlem und vorübergehend in England. Er hinterließ ein umfangreiches Oeuvre von etwa 400 Schabkunstblättern und 37 Kupferstichen, in der Mehrzahl Por­träts.35 Auf einem seiner Blätter (Abb. 2) hat er einen Sänger festgehalten, der auf einem Hocker seinem aus Kindern bestehenden Pu­ blikum einen kleinen Schrein darbietet.36 Die ganze Gruppe befindet sich offenbar nicht im Freien, sondern in einem Wohnraum, denn im Hintergrund ist der Abzugs­schacht eines offenen Kamins zu erkennen. Die Seitenwände des Schreins sind nach Art eines Triptychons geöffnet, so daß der Blick auf insgesamt neun Bilder frei wird. Auf den Seitenwänden sind jeweils drei einepisodige Bilder wiederge­ geben, während die drei mittleren Bilder etwa den doppelten Raum einneh­ men und durch Rundbogen mit Säulen wiederum in je drei Einzel­szenen unterschieden sind. Das ergibt zusammen 15 Szenen einer Handlung, über deren Inhalt sich nur schwer etwas aussagen läßt. Die mehrfach auf­tretende 33 Schmidt: Geistlicher Bänkelgesang (wie Anm. 11), S. 5. 34 Naumann: Studien Bänkelgesang (wie Anm. 12), S. 18. 35 Vgl. Wesse1y, Joseph Eduard: Jacob Gole. Verzeichnis seiner Kupferstiche und Schabkunst­ blätter. Hamburg 1889 (= Kritische Verzeichnisse von Werken hervorragender Kupferstecher, 6); unter den 433 katalogisierten Nummern findet sich das von uns wiedergegebene Blatt nicht; Thieme-Becker: Allg. Lexikon der bildenden Künstler. Bd. 14. Leipzig 1921, S. 343f. 36 Ein Exemplar aus dem Nachlaß von John Meier findet sich in der Graphiksammlung des DVA, Inv.-Nr. 362. Faksimilewiedergabe bei Meier, John: Balladen. 2. Teil. 2. Aufl. Darm­ stadt 1964 (= Deutsche Literatur in Entwicklungsreihen. Reihe Das deutsche Volkslied, 2), nach S. 4.

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Abb. 2: Jacob Gole, Sänger mit Tryptichon. Schabkunstblatt (Deutsches Volksliedarchiv Freiburg i.Br., Inv.-Nr. 362).

Hauptperson scheint ein Geistlicher in Priester- oder Bischofsgewand zu sein; es könnte sich möglicherweise um eine Märtyrergeschichte handeln, auf die auch einige weitere Details (Backofen, Wassertrog, Rad) hindeuten. Jedenfalls ist diese Darstellung ohne zugehörige Erläuterung durch Prosa oder Lied nicht recht verständlich.37 Weiter läßt sich bei diesem Bildwerk

37 Diese Beobachtung scheint allgemein für den Bänkelsang der späteren Jahrhunderte zuzu­

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schwer bestimmen, ob es sich bei den Einzelbildern um aufgeklebte, auf­ gemalte oder gar um plastische Darstellungen handelt. Aber unbestreit­ bar haben wir hier ein Zeugnis aus der Frühgeschichte des Bänkelsangs vor uns, wahrscheinlich zum „geistlichen Bänkelsang“, zudem noch aus dem gleichen Kulturbereich, in welchen auch das von Leopold Schmidt untersuchte Gemälde verweist. Als einen Bänkelsänger werden wir Goles Sänger noch nicht bezeichnen können, wohl aber als eine Entwicklungs­ stufe, die anzudeuten vermag, aus welcher Sphäre das Darstellungsmittel der gefelderten Bilderzählung erwuchs. Für sich allein genommen hat die­ se Abbildung noch keine allzu große Beweiskraft. Der Erwägung aber, es könne sich bei dem Triptychon Goles um eine Erfindung des Künstlers handeln, wird durch das im Folgenden zu besprechende Bildzeugnis der Boden entzogen. In ihrem Buch L’Imagerie populaire bilden Pierre-Louis Duchartre und René Saulnier38 einen in Paris gedruckten Kupferstich nach einer Zeich­ nung von Charles-Nicolas Cochin le fils (1715–1790) ab. Dieser Zeichner, Kupferstecher und Schrift­steller, Sohn eines nicht weniger berühmten Va­ ters gleichen Namens, war ein vielbeschäftigter Künstler, der besonders durch seine Zeichnungen und Radie­r ungen der Feste und Zeremonien am Hof Ludwigs XV. bekannt wurde.39 Arbeitsüberlastung und Kränklich­ keit führten in seinen letzten Lebensjahren dazu, daß er vielfach nur noch zeichnete, die Ausführung der Stiche aber anderen überließ. So verhält es sich auch bei unserem Bild (Abb. 3), das er 1778, also zwölf Jahre vor sei­ nem Tode, schuf. Der Stich trägt den Titel Le Chanteur de Cantiques. Wir erblicken einen mit langem Mantel modisch gekleideten Mann mit lang herabhängendem Haar, der im Freien auf einem erhöhten Platz vor einer Kirchen- oder Hauswand steht und mit dem Zeigestock in der lin­ ken Hand das Interesse der Zuhörer auf den Gegenstand seines Liedes zu lenken versucht. In der rechten Hand hält er einen aufgeschlagenen mehrseitigen Lieddruck im Oktavformat. Seinen Hut, einen überdimen­ sional großen schwarzen Dreispitz, hat er nachlässig auf das an seiner Seite treffen. Die Leinwandtafeln waren zwar „lesbare Bildkunst“, aber immer nur insoweit, als die Neugierde durch sie angestachelt wurde. Erst die Prosaerzählung und (oder) das Lied erklärten die Zusammenhänge. Diese bewußt sprunghafte Darstellung der Moritatentafeln sollte offenbar einen zusätzlichen Anreiz zum Kauf der Moritatenhefte sein. 38 Duchartre, Pierre-Louis und Saulnier, René: L’imagerie populaire. Les images de toutes les provinces françaises du XVe siècle au second empire. Les complaintes, contes‚ chansons, lé­ gendes qui ont inspirés les imagiers. Paris 1925, S. 52; die Abbildung ist auch wiedergegeben bei Davenson, Henri: Le livre de chansons. Paris 1946, Vorsatzblatt. Eine seitenverkehrte Kopie dieses Kupfers mit der Bezeichnung „S. Duflos inv. – A. Ono Sculps.“ aus dem An­ fang des 18. Jahrhunderts ist abgedruckt in (o.A.): Kulturleben der Straße. Vom Anfang bis zur großen Revolution. Berlin o.J., nach S. 80 (freundlicher Hinweis von Otto Holzapfel). 39 Thieme-Becker (wie Anm. 35). Bd. 7 (1912), S. 139.

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Abb. 3: Kupferstich nach Zeichnung von Charles-Nicolas Cochin. Paris 1778.

befindliche Requisit gestülpt. Diesem Requisit gilt unsere Aufmerksamkeit. Es erinnert sogleich an das Schränkchen des Sängers bei Jacob Gole. Hier ist es ein läng­licher, oben rundbogiger Kasten, dessen Deckel nach links aufgeschlagen ist. Im Innern des Gehäuses erkennen wir die Umrisse ei­ nes Ecce-Homo-Bildes. Die gefesselten Hände Jesu und sein Oberkörper sind über und über mit Wunden bedeckt. In den gleichen thematischen Umkreis verweisen nun auch die Bilder, die wir auf der Innenseite des Deckels sehen: Kreuztragung, zwei Frauen unter dem Kreuz, der Aufer­ standene, Golgatha, Kreuzabnahme, Beweinung. Jedes einzelne Bild ist

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durch einen Rahmen deutlich vom benachbarten abgegrenzt. Dies macht es wahrscheinlich, daß die sechs Einzelbilder aus Papier bestanden und an­ geheftet wurden. In der oberen Reihe sind die zur Befestigung dienen­den Stifte angedeutet. Die Vermutung liegt nahe, daß dieser Straßensänger die für seinen Liedvortrag benötigten Bilder bei den Erzeugern von Bilderbo­ gen und Andachtsgraphik bezog.40 Auf diesen Zusammenhang zwischen Imagerie populaire und Bänkelsang deuten auch die Firmenzeichen, die über dem Ein­gang der sich im Hintergrund öffnenden Gasse angebracht sind: es handelt sich unverkennbar um Spielkarten, die Firmenschilder der „Cartiers“ und „Dominotiers“,41 die in Paris ihren Sitz vorzugsweise in der Rue St. Jacques hatten. Vielleicht befinden wir uns mit unserem Bild über­ haupt am Eingang zu dieser berühmten „Bilderbogenstraße“?41a Jedenfalls besitzen wir in diesem Kupferstich von dem jüngeren Cochin ein einzigar­ tiges Zeugnis für die Existenz jenes Phänomens, das Leopold Schmidt auf Grund eines um rund 150 Jahre älteren Gemäldes als „geistlichen Bänkel­ sang“ umschrieben hat. Der Kupferstich berechtigt zu der Annahme, daß es den Bänkelsänger mit einem Repertoire an geistlichen Liedern (Can­ tiques) auch im Frankreich vor der großen Revolution gegeben hat. Daß unser Sänger mit seinem erbaulichen Gesang keine besondere Wirkung erzielen konnte, steht auf einem anderen Blatt. Gerade dieses Mißverhält­ nis zwischen der Hingabe des Chanteurs an sei­nen Vortrag – das Leiden Christi – und der Teilnahmslosigkeit der vorüber­eilenden Menge mag den Zeichner angeregt haben, die Szene im Bild fest­zuhalten. Nur wenige der Umstehenden sind von dem Lied gepackt, von den übrigen erntet der Sän­ ger nur unbeteiligte Blicke. Auch der beigegebene Reim weist in diese Rich­ tung: während der Sänger die Seelen bewegen will, geht doch alles seinen gewohnten Gang, auch beim Soldaten und beim Taschendieb. Wenn wir auf der Suche nach weiteren verwandten Zeugnissen zum geist­lichen Bänkelsang und somit zur Frühgeschichte dieser Erscheinung über­haupt noch in der Romania verweilen, so folgen wir einer weiteren Spur, auf die der Jubilar in seiner erwähnten Studie gewiesen hat. Sie führt uns zu Alessandro Magnasco (1667–1749), einer eigenwilligen Künstler­ persönlichkeit, deren Hinterlassenschaft von annähernd 1000 Bildern von der Volks­kunde einmal systematisch ausgewertet werden sollte. Der Zu­ gang zu diesem Werk von wahrhaft barocken Ausmaßen wird dadurch er­

40 Vgl. Adhémar, Jean u.a.: Populäre Druckgraphik Europas. Frankreich. München 1968, S. 21, 24, 25. 41 d’Allemagne, H. R.: Les cartes à jouer du XVIe au XXe siècle. Paris 1906; Adhémar: Druck­ graphik (wie Anm. 40), S. 77–84. 41a Duchartre, Pierre-Louis und Saulnier, René: L’imagerie Parisienne. L’imagerie de la rue St. Jacques. Paris 1944.

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schwert, daß Magnascos Bilder in aller Welt zerstreut sind und nur die we­ nigsten davon datiert werden können. Magnasco verleiht seinen Gestalten gerne Züge des Grotesken, und auch die religiösen Dinge zieht er gerne ins Komische. „Bei Magnasco entlädt sich alles explosionsartig, konvulsisch, zusammengedrängt auf einen kurzen schöpferischen Akt, der keine be­ dächtig kritische Durcharbeitung duldet“.42 Schon bei seinen Zeitgenossen war Magnascos Werk umstritten, und auch die neuere Kunstkritik hat nicht mit Vorwürfen über die Stereo­typie und Einseitigkeit seiner Darstellungen, über die Nervosität seiner Pinsel­führung usw. zurückgehalten. „Demge­ genüber bekannten sich damals wie heute Kenner der eigentümlichen Fas­ zination, die von seinen Werken aus­geht“, schreibt Georg Gerriet Syamken in seiner Hamburger Dissertation über Magnasco.43 Die Bänkelsängerdarstellungen Magnascos stehen keineswegs als iso­ lierte Erscheinung in seinem Werk, sondern sie gehören in den größeren Zusammen­hang der genrehaften Bildinhalte, die einen breiten Raum in seinem Schaffen einnehmen. Dabei ist sogar eine gewisse Vorliebe für die sozial niedrigen Volksschichten unverkennbar. Magnasco hat in vielen Bil­ dern das gesamte Mailänder Stadtproletariat, die „genta bassa“ festgehal­ ten. Auf den großen Straßen- und Marktszenen finden wir ganze Scharen zerlumpten Volkes ver­sammelt, Zigeuner, Quacksalber, Spielleute, Gauk­ ler, Bettler, Soldaten, Pilger, dazu Mütter mit Halbwüchsigen und Säug­ lingen, Krüppel und Greise. „Diese vagabundierenden, außerhalb einer bürgerlichen Ordnung stehenden Jahrmarktsfiguren sind geradezu Mu­ sterbeispiele aus der Gedankenwelt des Künst­lers. Sie musizieren, dressie­ ren Tiere, halten improvisierte Festgelage ab, führen Schaulustigen einen Guckkasten vor,44 spielen Karten … Die beson­dere Nuance des Wunder­ lichen erhalten diese Vorgänge oft durch die Um­gebung, in der sie sich abspielen. In monumentalen antikischen Hallen und Torbauten, die von Zeit und Witterung angenagt einem zerbröckelnden Zerfall entgegenge­ hen, vertreibt sich eine schäbige Gesellschaft ihre Zeit“.45 Diese Welt der Unterprivilegierten und „Outlaws“ ist spätestens seit Callot Bestand­teil der

42 Dürst, Hans Joachim: Alessandro Magnasco. Basel 1966, S. 13. Dem Autor dieser verdienst­ vollen Arbeit bin ich für die freundliche Wegbereitung zum Oeuvre Magnascos auch per­ sönlich sehr zu Dank verpflichtet. 43 Syamken, Georg Gerriet: Die Bildinhalte des Alessandro Magnasco 1667 bis 1749. Diss. Hamburg 1965, S. 1. 44 Für die Frühgeschichte des Guckkastens bietet Magnasco prächtiges Anschauungsmaterial, das der Verf. gelegentlich in größerem Rahmen zu behandeln gedenkt; s. Geiger, Benno: Magnasco. Bergamo 1949, Taf. 141 und 159; dazu Pigler, Andor: Barockthemen. Eine Aus­ wahl von Verzeichnissen zur Ikonographie des 17. und 18. Jahrhunderts. Bd. 2. Budapest 1956, S. 519. 45 Dürst: Magnasco (wie Anm. 42), S. 53.

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Genremalerei geworden,46 aber was dort noch weitgehend Staffage und pittoreskes Detail bleibt, wird bei Magnasco zu unmittelbarer Anschauung, „wie sie auch einem unvoreingenommenen Reisenden der Zeit sich beson­ ders in Mailand aufdrängte, das voller merkwürdiger Gestalten gewesen sein muß“.47 Diese Gestalten und Randexistenzen mögen dem Betrachter zunächst recht phantastisch vorkommen; auch die Maltechnik Magnascos mit sei­ ner Vorliebe für schummrig-verschwebende Konturen vermag ihnen keine unmittel­bar wirkende Realität zu verleihen. Es dürfte jedoch zweifelsfrei feststehen, daß sich der Maler an tatsächlichen Beobachtungen und Erschei­ nungen aus seiner eigenen Umwelt orientierte, wenn er auch die phanta­ stischen Züge gelegentlich etwas übersteigerte. Über die Deutung dieser Genreszenen gibt es in der neueren Magnasco-Forschung keine einheitliche Auffassung. Während Syamken in Magnasco mehr den „malenden Aufklä­ rer“ sieht, der das Volk in seiner „trübsinnigen Devotion“ zeigen wollte, um damit den „aus Heidentum und Christentum entstandenen Aberglauben und häretischen Irrtum“ zu exemplifizieren,48 versucht Dürst einleuchten­ der eine Erklärung unter dem Vorzeichen des Paradoxen: „In diesen Zerr­ bildern der Gesellschaft erkennt der Künstler Sinnbilder, in denen sich die vitalen Grundkräfte des mensch­lichen Lebens rücksichtsloser offenbaren und die in phantastischer Übertrei­bung vom Menschlichen zeugen“.49 Bei­ de Autoren stimmen jedoch darin überein, daß sie Magnascos Genrebildern Quellenwert für das Volksleben der Zeit beimessen. Dies bestätigt sich nicht zuletzt bei der Betrachtung der Bänkelsängerdarstellungen Magnascos. Der Künstler hat sich dieses Gegenstandes nicht nur einmal, son­ dern ins­gesamt dreimal angenommen. Nur entfernt hierher zählt ein vier­ tes Gemälde mit dem Titel Il dicitore di avventure.50 In einer zerklüfteten

46 Der Lothringer Malerradierer Jacques Callot (1592–1635) soll nach Ausweis von Altamura, Antonio: I cantastorie e la poesia popolare italiana. Napoli 1965, S. 7; und von Nasse, Her­ mann: Jacques Callot. Leipzig o.J. (= Meister der Graphik, 1), S. 36, auf seinem berühmten Florentiner Werk „Der Jahrmarkt von Impruneta“ auch einen Bänkelsänger festgehalten haben. Die Radierung von 1620 (Florenz, Uffizien; Meaume Bd. 2, Nr. 624) wird jedoch gewöhnlich so klein reproduziert, daß ich dieses Detail nicht zu erkennen vermag; wahr­ scheinlich ist ein Zeitungs- oder Liedausrufer an der Kirchenmauer, aber ohne Leinwand und Deutestock, gemeint; vgl. Plan, Pierre-Paul: Jacques Callot. Maître Graveur (1593– 1635). Brüssel, Paris 1911, Abb. 256; Ternois, Daniel: L’art de Jacques Callot. Bd. 1. Paris 1962, Abb. 22a; und Nasse : Jacques Callot (wie Anm. 46), Taf. 15. 47 Syamken: Bildinhalte Magnasco (wie Anm. 43), S. 109. 48 Ebd., S. 61. 49 Dürst: Magnasco (wie Anm. 42), S. 92. 50 Geiger: Magnasco (wie Anm. 44), Taf. 165; vgl. Tatarkiewicz, W.: Die Bilder des Warschauer Museums. In: Zeitschrift für bildende Kunst. N.F. 21 (1910), S. 269, Abb. 23, mit irrtümli­ cher Zuweisung an J. Callot.

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Landschafts­szenerie sitzt ein Mann, umgeben von kindlichen Zuhörern. Rechts neben ihm ist an einer hohen Stange eine kleine Tafel aufgehängt, in der Hand hält er einen Zeigestock, an dessen anderem Ende sich ein Knabe zu schaffen macht. Wahrscheinlich handelt es sich um einen Erzäh­ ler (cantastorie); augenfällig bleibt die Verwendung einer bemalten Tafel.51 Folgende Bänkelsängerszenen können wir im Werk Magnascos nach­ weisen: 1. Gemälde mit dem Titel Cantastorie. Venedig, Privatbesitz.52 Geiger Taf. 163. Die Szenerie ähnelt derjenigen im zuvor erwähnten Gemälde, jedoch haben wir hier eine voll ausgebildete Bänkelsängergruppe vor uns. Ihr gehören an: ein Sänger, der im zerlumpten Aufzug mit der einen Hand Lieddrucke feilhält, während der Deutestab in der anderen Hand auf die bildliche Dar­stellung der Leinwand gerichtet ist. Diese Leinwand wird von einem Knaben gehalten. Die Gruppe vervollständigt ein weiterer Mann mit federgeschmück­tem Hut, der Guitarre spielt. Das Publikum, bestehend aus zwei Frauen und drei Kindern, ist in andächtiger Haltung auf die Knie gesunken. Offenbar handelt es sich bei dem vorgetragenen Lied um einen geistlichen Stoff, der vom Hörer entsprechende Devotion fordert. In diese Richtung deutet auch ein weiteres Detail des Gemäldes: Im Mittelgrund rechts steht ein geöffnetes Altärchen mit Maria und dem Jesusknaben, das hier sicher nicht zufällig seinen Platz gefunden hat. Leopold Schmidt sah darin einen Bildstock, „ein kleines Heiligenhäuschen mit wallfahrtsmäßiger Verehrung“.53 Im Lichte der bisher interpretierten und der folgenden Bild­ belege ergibt sich uns eine ver­änderte Deutung: das altarähnliche Gebilde erscheint als weiteres Requisit des Bänkelsängers. Im Gegensatz zu dem Niederländer Gole und dem Fran­zosen Cochin ist bei Magnasco offen­ sichtlich eine Trennung zwischen dem Triptychon und der Bildleinwand eingetreten. Das Gemälde erscheint bis in die Details hinein realitätsgetreu, so daß wir noch eine weitere Einzelheit erkennen können: das Altärchen ist keineswegs nach Art eines Bildstockes fest am Ort installiert, sondern steht auf einem dreibeinigen Bock, ist also transportabel. Wir begegnen der glei­ chen Gruppe mit allen Requisiten auf zwei weiteren Gemälden.

51 Ein weiteres Gemälde Magnascos trägt im Oeuvre-Katalog von Geiger: Magnasco (wie Anm. 44), Taf. 164, noch die Bezeichnung „cantastorie“; es zeigt einen Mann in Pilgertracht mit Guitarre in einer ähnlichen Szenerie wie beim „Dicitore di avventure“. Wir werden hier wohl aber richtiger von einem Volkssänger zu sprechen haben, da die typischen Requisiten des Bänkelsängers allesamt fehlen. 52 Wiedergabe bei Janda, Elsbeth und Nötzoldt, Fritz: Die Moritat vom Bänkelsang oder Das Lied der Straße. München 1959, vor S. 175. 53 Schmidt: Geistlicher Bänkelgesang (wie Anm. 11), S. 4.

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2. Cantastorie. Mailand, Privatbesitz.54 Die Szene ist volkreicher. Den Hintergrund bilden die Torbogen einer Halle. Die Bänkelsängergruppe mit Vorsänger, der zugleich Liedverkäufer ist, und Guitarrist ähnelt sehr stark der Anordnung der Figuren im zuvor beschriebenen Gemälde. Die Requisiten (Lein­wand mit Deutestock, aufklappbarer Altar) sind identisch. Einzelheiten treten z.T. noch deutlicher hervor: die Leinwand ist regel­ mäßig gefeldert, die Flügel des Altars sind bemalt, das Publikum verharrt in andächtiger, fast verzückter Gebetshaltung. Eine Figur im Hintergrund links ist in die Lektüre des Bänkelsängerdrucks versunken. 3. Cantastorie con chitarra e ciarlatano che mostra un cosmorama a molte persone raggruppategli intorno. Venedig, Privatbesitz. Geiger, Taf. 109 (Abb. 4). Die Bänkelsängergruppe ist hier wiederum in ihrer Zusammensetzung gleich, nur quasi seitenverkehrt angeordnet. Den Hintergrund bilden Ruinen (die Magnasco nicht selbst zu malen pflegte; in diesem Fall stammen sie von Cle­mente Spera), die Szene ist mit weiteren Figuren bereichert, u.a. wird der Vordergrund durch eine Frauengestalt belebt, die mit einer Gebärde der linken Hand ihren Säugling auf die Bilddarstellungen der Gruppe hin­ weist. Über­haupt führen zahlreiche Gesten, Blicke und Linien leitmotiv­ artig zu dem Altärchen und der Leinwand hin. Es besteht kein Zweifel daran, daß sich auf diese Art zu Lebzeiten Magnascos das Auftreten der Bänkelsänger in Mailand vollzogen hat. Die Kompo­sition erscheint durchaus natürlich, wenn auch vielleicht die Sän­ ger um einen Grad zu zerlumpt, die Zuhörer um einen Grad zu verzückt gezeigt werden. Die­ses Übersteigern gewisser phantastischer Züge kann wie oben gezeigt als durch­gehendes Stilmittel Magnascos gelten. Syam­ ken schließt nun daraus, daß mit diesen Darstellungen eine Kritik an be­ stehenden Zuständen und eine aufkläre­rische Haltung verbunden waren: „Ohne Rücksicht gab sein Pinsel wieder, was er an seelischen Schwächen asketischer Einsiedler entdeckte und an primitiver Devotion sehen mußte, die von missionierenden Bänkelsängern mit Hilfe transportabler Heiligen­ bilder unter dem ärmsten Volk immer wieder genährt wurde …“.55 Syam­ kens Annahme, daß die Bänkelsänger im Dienste einer Art Volksmission standen und vielleicht von Predigerorden ausgesandt wurden, ist quellen­ mäßig aber nicht unterbaut56 und wenig wahrscheinlich. Seine Deutung 54 Geiger: Magnasco (wie Anm. 44), S. 111; Wiedergabe bei Geiger, Benno: Beiträge zum Ka­ talog der Werke von Magnasco. In: Belvedere. Monatsschrift für Sammler und Kunstfreun­ de, ohne Nr. (1922), Taf. 32. Herrn Dr. Hans Joachim Dürst danke ich für die Vermittlung einer Fotografie. 55 Syamken: Bildinhalte Magnasco (wie Anm. 43), S. 33f. 56 Die von Syamken: Bildinhalte Magnasco (wie Anm. 43), S. 33, Anm. 64, gegebenen Hinwei­ se auf Obermayr, F. A.: Bildergalerie katholischer Mißbräuche 1784; Veit, Ludwig Andreas und Lenhart, Ludwig: Kirche und Volksfrömmigkeit im Zeitalter des Barock. Freiburg

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Abb. 4: Alessandro Magnasco, Cantastorie. Ölgemälde, 73 x 97 cm (Venedig, Privatbesitz).

der Bildinhalte erscheint etwas gewaltsam und nicht ganz den Tat­sachen entsprechend. Er nimmt an, daß zu der Gruppe der Cantastorie auch die stets in Erscheinung tretende „hexenartige“ Frau gehört, „die den Kindern die Gebärden der Devotion suggestiv vorführt“, und kommt dann zu dem Schluß: „Die Darstellung dieses Genres wäre nun nicht möglich gewesen, wenn nicht damals schon unter der Geistlichkeit sich eine heftige Kritik ge­ gen ein derartiges Vorgehen erhoben hätte und sich nicht ernsthafte Span­ nungen zwischen den autorisierten Missionaren und den ortsansässigen Pfarrherrn ergeben hätten, die weit in die moraltheologische Problematik hineinreichten und keineswegs nur auf eine Geschmacksfrage in der Wahl der Mittel zurück­zuführen waren“.57 Es scheint uns, als ob hier der Inhalt der Bänkelsänger­szenen Magnascos etwas zu stark vom aufklärerischen Standpunkt interpre­tiert wird, zumal entsprechende Beweismittel für einen aktiven Widerstand der Kirche gegen diese Art des geistlichen Bänkelsangs nicht beigebracht wer­den konnten. So lange nicht das Gegenteil bewiesen 1956; führen nicht weiter und sagen vor allem nichts über die Existenz eines „missionieren­ den Bänkel­sängers“ bzw. dessen Verhältnis zur Kirche aus. 57 Syamken: Bildinhalte Magnasco (wie Anm. 43), S. 109.

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ist, nehmen wir an, daß sich Kirche und Bänkelsang recht gut miteinander vertrugen, ja daß sie sich sogar, etwa an Wallfahrtsorten, wechselseitig an­ zogen. Gehen wir von den besprochenen Abbildungen aus, so können wir festhalten, daß der Bänkelsang bei der Entwicklung seiner bildlichen Dar­ stellungsmittel entscheidende An­regungen aus dem kirchlichen Bereich bezog, indem die Technik der gefelderten Bilder auf die schon vorher üb­ lichen zurschaugestellten Leinwandtafeln übertragen wurde. Bei Magnas­ co konnten wir noch das Nebeneinander der beiden Darstellungsmittel – Triptychon und Leinwandtafel – beobachten, während im holländischen Schabkunstblatt und im französischen Kupferstich der kleine Flügelaltar noch alleiniges Requisit der Sänger bildete. Das Nebeneinander der beiden bildlichen Darstellungsweisen von Lied­inhalten scheint sich in Verbindung mit dem Bänkelsang vom 17. Jahr­ hundert bis in jüngere Zeiten erhalten zu haben. Leider besitzen wir bisher keine Bild­belege, sondern wir müssen uns mit einem literarischen Zeugnis begnügen. In seiner Histoire de l’Imagerie populaire berichtet Jacques-Marin Garnier von den wandernden Bänkelsängerpaaren aus Lothringen: „Leur établissement se composait d’une châsse (= Reliquienkästchen), dont le principal sujet était‚ soit une Vierge de pèlerinage plus ou moins riche­ ment habillée, soit la Crucifixion du Sauveur … Enfin‚ quelques-uns de ces marchands possédaient un grand tableau peint à l’huile, divisé en six ou huit compartiments, représentant les divers épisodes de la Passion de Jésus-Christ. Placé derrière la châsse‚ ce tableau la dominait … A chacun des côtés de la châsse se tenaient les deux époux Lorrains, dont l’un‚ jouant quelquefois du violon‚ accompagnait alors de sons langoureux le cantique de Notre-Dame-de-Liesse, celui de l’Horloge de la Passion, ou bien encore le cantique si naïf de la Creation du Monde. Entre les cantiques, psalmo­ diés avec la plus vive componction, un temps de repos‚ était toujours em­ ployé à la vente“.58 Diesem wichtigen Bericht ist weiter zu entnehmen, daß die Sänger nicht nur Lieddrucke verkauften, sondern einen schwunghaften Handel mit allerlei Devotionalien trieben. Diese Gegenstände erhielten durch Berührung mit den „Gnadenbildern“ vor dem Verkauf noch die notwendigen Weihen. Bedeutsamer als dieser Aspekt sind für unseren Zu­ sammenhang der Vortrag und der Vertrieb geistlicher Lieder durch Bänkel­ 58 Garnier, Jacques-Marin: Histoire de l’imagerie populaire et des cartes à jouer à Chartres. Chartres 1896, S.  246; vgl. Duchartre und Saulnier: L’imagerie populaire (wie Anm. 38), S. 52f.; und Spamer, Adolf: Weißenburg im Elsaß als Bilderbogenstadt. In: Beiträge zur Gei­ stes- und Kulturgeschichte der Oberrheinlande. Franz Schultz zum 60. Geburts­tag. Frank­ furt 1938 (= Schriftenreihe des wissenschaftlichen Institut der Elsaß-Lothringer im Reich an der Universität Frankfurt. N.F. 18), S. 222f.; Brückner, Wolfgang: Trivialer Wandschmuck in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts. Aufgezeigt am Beispiel einer Bilder­fabrik. In: Anzeiger des German. Nationalmuseums Nürnberg 1967, S. 122 u. Anm. 31.

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sänger. Die entsprechenden Drucke französischer „Cantiques“ sind in den einschlägigen Werken zur französischen Imagerie gut dokumentiert.59 Die hohe Frequenz von französischen Lieddrucken im typischen Bilderbogen­ format mit dem kolorierten Holzschnitt in der Mitte und dem geistlichen Lied­text zweispaltig daneben ist daraus zu erklären, daß es für diese Er­ zeugnisse auch eine besondere Vertriebsart gegeben hat, den „Chanteur de Cantiques“. Die Zeugnisse für diese von Leopold Schmidt zuerst erkannte Sonder­ form des Bänkelsangs konzentrieren sich auf die Niederlande, Frankreich und Italien. Für Spanien ist auf Grund der ähnlich gearteten Lieddrucke60 auf die Existenz einer gleichen Erscheinung zu schließen. Besonders in Italien läßt sich die Affinität des Bänkelsangs zu religiösen Themen durch­ gehend bis zur Gegenwart bezeugen.61 Für den deutschsprachigen Bereich stehen entsprechende Untersuchungen noch aus, vor allem harren weitere Bild­zeugnisse der Entdeckung. Auf die in Bibliotheken und Archiven la­ gernden Unmengen von geistlichen Lieddrucken brauchen wir nicht ei­ gens hinzu­weisen. Auch im deutschen Sprachraum wird der Bänkelsänger vielfach enge Beziehungen zur religiösen Sphäre unterhalten haben, sei es, daß er geist­liches Liedgut in sein Repertoire mit einbezog, sei es, daß er mit Vorliebe an Wallfahrtsorten oder bei großen kirchlichen Festtagen in Erscheinung trat. Nach dem Zeugnis des „letzten deutschen Bänkelsän­ gers“ Ernst Becker lagen seine besten Absatzgebiete bezeichnenderweise in katholischen Gegenden.62 Daß die Technik der gefelderten „lesbaren“ Bilddarstellung letzten Endes in der geistlichen Sphäre erwachsen ist und über den Umweg der populären Schreinaltäre in den Bänkelsang eingegangen ist, sollten die hier zusammengestellten Dokumente dartun. Zum zweiten konnten wir verdeut­lichen, daß die Frühgeschichte des Bänkelsangs einmündet in die Untersuchung des sogenannten Markt-, Avisen- oder Zeitungssingens und daß wir an die Stelle einer Differenzierung dieser Phänomene künftig die 59 Adhémar: Druckgraphik (wie Anm. 40); Duchartre und Saulnier: L’imagerie populaire (wie Anm. 38) u. Duchartre und Saulnier: L’imagerie Parisienne (wie Anm. 41a). 60 Amades, Joan und Colominas, Josep und Vila, P.: Imatgeria popular catalana. 2 Bde. Bar­ celona 1931; Amades, Joan und Colomines, Josep: El goigs. 2 Bde. Barcelona 1939–1948; Amades, Joan: La Imatgeria popular religiosa a Reus. Reus 1953 (= Asociatión de Estudios Reusenses. Publicación, 4); Amades, Joan: Goigs d’imatges de la Mare de Déu trobades en la noble ciutat de Barcelona. Barcelona 1959; Duran i Sanpere, Augusti: Populäre Druckgra­ phik Europas. Spanien vom 15. bis zum 20. Jahrhundert. München 1971, S. 58ff. 61 Buttitta, Antonino: Cantastorie in Sicilia. Premessa e testi (Annali del Museo Pitrè 8–10, 1957–59, S. 149–236, s. S. 157f.); Altamura: Cantastorie (wie Anm. 46), S. 10f; Toschi, Pa­ olo: Populäre Druckgraphik Europas. Italien. München 1967, bes. Taf. 165; Schenda: Der italienische Bänkelsang (wie Anm. 1), S. 28. 62 Becker, Ernst: Bei den letzten Bänkelsängern. Berlin 1942, S. 325f.

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Erforschung des kommerziellen Vertriebs von Liedern als durchgehender Erscheinung seit der Erfindung des Buchdrucks zu setzen haben. Der drit­ te Aspekt dieser Untersuchung besteht darin, daß der Bänkelsang künftig stärker als bisher unter komparatistischen Vorzeichen betrachtet werden muß, da es sich ganz offensichtlich um eine internationale Erscheinung handelt, deren Entwicklung in Mittel-, West- und Südeuropa in ähnlichen Bahnen verlaufen ist.

Zur europäischen Vorgeschichte der Comics* Im Jahr des amerikanischen Bicentennials ist viel von den Einflüssen des American way of life auf Europa die Rede. Fragt man konkret nach den Kom­ munikationsmitteln oder Medien, die für diesen modernen Kulturprozeß verantwortlich sind, so fällt der Blick sehr bald auch auf die Comics, die in der Forschung übereinstimmend und ohne Einschränkung als ein wesentli­ cher Beitrag Amerikas zur zeitgenössischen Kultur Anerkennung gefunden haben. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts gehören die gezeichneten und vervielfältigten Bildserien in der Form der Newspaper Strips zum alltägli­ chen Leben beinahe jeden Amerikaners. Den Einflüssen der sich täglich erneuernden Serien für jeden Geschmack und für jedes Niveau kann man sich in der Neuen Welt kaum entziehen. „America without Comics would not be America“: dem wird kaum jemand widersprechen wollen. So ist es auch kaum verwunderlich, daß der Popularität des Mediums Comics in den Vereinigten Staaten eine wissenschaftliche Literatur entspricht, der wir in Europa erst in der jüngsten Zeit Gleichwertiges an die Seite zu stellen vermögen. Relativ spät und entsprechend zaghaft beginnen sich auch bei uns die Wissenschaften mit dem Phänomen der Comics zu beschäftigen. In Eu­ ropa ist dieses Gebiet erst nach Überwindung mannigfacher Widerstände wissenschaftlich salonfähig geworden. Die Museen in Frankreich und der Bundesrepublik leisteten mit Ausstellungen zum Thema Comics Pionierar­ beit. 1970 fand in der Akademie der Künste in Berlin die erste Ausstellung über Comics im deutschsprachigen Raum statt, 1971 folgte das Hambur­ ger Kunsthaus mit einer großangelegten Ausstellung. Diese Ausstellungen bezeichneten das Ende der Phase in den 50er und 60er Jahren, in denen die gesamte Öffentlichkeit einschließlich der Wissenschaft gegenüber dem Phänomen „Comics“ eine ausschließlich ablehnende Haltung an den Tag legte. Titel wie „Bild-Idiotismus“, „Visueller Dadaismus“, „Bunte Jugend­ pest“, „Esperanto für Analphabeten“, „Rückfall ins Primitive“, „Verstep­ pung des Geistes“, „Opium der Kinderstube“, „Bilderdrogen“ usw. ge­ hören heute der Vergangenheit an und haben einer mehr nüchternen und rationalen Sicht Platz gemacht. Seit dem Ende der 60er Jahre beobachten *



Erstveröffentlichung in: Freiburger Universitätsblätter 15 (1976), Heft 53/54, S. 57–68.

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wir in Deutschland ein starkes Anwachsen der wissenschaftlichen Literatur zum Thema Comics, wobei vor allem Veröffentlichungen aus den For­ schungsgebieten der Germanistik, der Kunstwissenschaft, der Soziologie und der Pädagogik zu verzeichnen sind. Das Interesse an diesem For­ schungsgegenstand ist noch immer im Zunehmen begriffen, so daß der Höhepunkt in der Entwicklung noch lange nicht erreicht zu sein scheint, zumal der europäische und auch der deutsche Markt inzwischen eigene Zeichenserien hervorgebracht haben, die zu untersuchen heute bereits eine lohnende Aufgabe darstellt. Zu den Fächern, die sich in zunehmendem Maße den Erscheinungen der aktuellen Massenkommunikation annehmen, gehört auch die Volks­ kunde. Sie hat sich in den letzten Jahren – auch unter neuen Fachbezeich­ nungen wie „Europäische Ethnologie“ oder „Empirische Kulturwissen­ schaft“ – zunehmend der Erforschung der sog. „kulturalen Werte“ unterer Sozialschichten in Objektivationen und Subjektivationen angenommen und sieht in der Untersuchung von Phänomenen gegenwärtiger Alltags­ kultur eine ihrer Hauptaufgaben. Innerhalb dieses Zweiges der Gegen­ wartsvolkskunde beginnt sich auch – in Fortführung der älteren Bilderbo­ gen- und Imagerieforschung – eine eigene Comic-Forschung zu etablieren, von der hier die Rede sein soll. Es soll gezeigt werden, welchen Beitrag die Volkskunde als kulturhistorisches Fach zur Analyse des Phänomens erbringen kann. Weitere empirische Studien zu den Darstellungsmitteln, Inhalten und Wirkungsweisen ausgewählter Comic-Serien sind in Freiburg in Vorbereitung und versuchen den Beweis zu erbringen, daß das Fach Volkskunde bei der Untersuchung eines Massenphänomens der gegenwär­ tigen Kulturindustrie ein gewichtiges Wort mitzureden vermag. Für den Volkskundler ist an der bisher vorliegenden Literatur zum Thema Comics vor allem der Umstand unbefriedigend, daß die Vorge­ schichte der Comics als „lesbarer Bildkunst“ bisher nicht mit der notwen­ digen Sachkenntnis aufgearbeitet wurde. Die meisten Darstellungen be­ gnügen sich mit der pauschalen Feststellung, die Bildergeschichte sei ein typisches Produkt des 19. Jahrhunderts, besitze ihre unmittelbaren Vor­ bilder in Wilhelm Buschs Max und Moritz (1865) und in den komischen Bilderromanen des Schweizers Rodolphe Toepffer (1799–1846). Allen­ falls wird noch auf Neuruppiner und Münchener Bilderbogen verwiesen. Andere Darstellungen wiederum greifen bezüglich der Vorgeschichte der Comics kulturhistorisch sehr weit aus und beziehen die gesamte bildende Kunst der Menschheit mit ein. Mancher Autor läßt die Geschichte des Mediums bei assyrischen Jagdreliefs und ägyptischen Totenbüchern begin­ nen oder beruft sich auf griechische Vasenmalerei ebenso wie auf römi­ sche Triumphsäulen, auf den Wandteppich von Bayeux, auf romanische Portalplastik und spätmittelalterliche Buchmalerei. Eine 1950 in der New

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Yorker Staatsbibliothek veranstaltete Ausstellung stand bezeichnenderwei­ se unter dem Titel „20.000 Jahre Comics“ und brachte die amerikanischen Bildergeschichten mit steinzeitlichen Höhlenmalereien und Felsskulpturen in Verbindung. Zwischen diesen beiden Extrempositionen – der Unter- und der Über­ bewertung der geschichtlichen Bezüge – gilt es eine Mittelrolle einzuneh­ men. Die Comics sind am Ende des 19. Jahrhunderts in den Vereinigten Staaten unter bewußter Verwendung und Weiterführung von Darstel­ lungsmitteln und -techniken der europäischen Populärgraphik geschaffen worden. Die Entwicklungen, die zu der Entstehung eines neuen Mediums „Newspaper strip“ geführt haben, lassen sich Schritt für Schritt nachzeich­ nen und öffnen damit den Blick für das, was das eigentlich Neue an den Comics war. Als Richard Felton Outcault am 18.11.1889 in der New Yor­ ker World unter dem Titel The Yellow Kid seine erste Bildserie veröffentlichte und als wenig später Rudolph Dirks seine The Katzenjammer Kids erscheinen ließ, da war nach übereinstimmender Meinung der Fachleute tatsächlich ein neues Medium geboren worden. Das eigentlich Neue an diesen Bildern oder Bilderstreifen war ihre Verbindung mit der Publikationsform der Zei­ tung: Die ersten Comics erschienen als Farbbeilagen zu den Sonntagsaus­ gaben zweier New Yorker Tageszeitungen. Vervielfältigte Bildergeschichten außerhalb der Tageszeitungen hatte es auch schon vorher gegeben, und sie bedienten sich auch bereits der gleichen zeichnerischen Darstellungsmittel wie die Comics. Durch die Ver­ pflanzung der gezeichneten Bildergeschichte in die Massenauflagen der amerikanischen Boulevardzeitungen gelangten die Zeichenserien unter das Diktat periodischer Erscheinungsweise, sie unterlagen dem Serienzwang und damit dem Zwang zur Stereotypisierung der Darstellungsmittel und Figuren. Die Periodizität des Erscheinens hat sehr früh dazu geführt, daß die Heldengestalten der Zeichenserien zu quasi unsterblichen Figuren ge­ rannen. Die Katzenjammer Kids liefen 70 Jahre, ohne daß die Helden alterten, und so sind mehr oder weniger alle Figuren der Comic Strips von Tarzan über Dick Tracy und Micky Mouse bis zu Charlie Brown, Superman, Aste­ rix und Obelix zur Unsterblichkeit verurteilt, weil sie von Folge zu Folge im Dienste der Hauptaufgabe stehen, die Leser an die betreffende Zeitung zu binden oder die Konsumenten auf den Bezug der verselbständigten Heftserie festzulegen. – Mit dem periodischen Erscheinen und der Her­ ausbildung feststehender Figuren sind die beiden wichtigsten Charakteri­ stika für das genannt, was wir heute unter „Massenzeichenware“ verstehen und was sich als modernes Kommunikationsmittel nach 1945 seinen festen Platz auf dem europäischen Medienangebot erobert hat. Nachdem wir die beiden Merkmale besprochen haben, die die Comics zu einem unverwechselbaren Phänomen der Kulturindustrie gemacht ha­

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ben, wollen wir uns jetzt den beiden Charakteristika zuwenden, mit denen sich eine Brücke zu den Vorläufern der Massenzeichenserien schlagen läßt: die Darstellung einer Handlung durch mehrere aneinandergereihte Ein­ zelbilder (figuration narrative) und die Integration von Wort und Bild. Wir wollen den Nachweis erbringen, daß diese beiden charakteristischen Dar­ stellungsmittel der Comics in der europäischen Kulturgeschichte und in der Populärgraphik eine lange Vorgeschichte besitzen, daß es also schon lange vor der Kreation der ersten Comics am Ende des 19. Jahrhunderts in Europa eine populäre Bildtradition gab, die sich der gleichen Darstellungs­ mittel bediente und auch ähnliche Unterhaltungs- und Ablenkungsbedürf­ nisse befriedigte. Es geht um das Phänomen der massenhaft verbreiteten, reproduzierbaren Bildgeschichte, um den Bilderkonsum als durchgehendes Phänomen, das seit der frühen Neuzeit zu registrieren ist und letztlich den Comics den Boden bereitet hat. Wenn wir zunächst von dem ersten charakteristischen Merkmal der Bildergeschichte, der Felderung oder Panellierung sprechen, so können wir als typologische Vorläufer der Comic strips die Holzschnittfolgen auf den Flugblättern der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts in Anspruch nehmen. Die frühesten vervielfältigten Bildergeschichten, die wir kennen, entstammen geistlichen Traditionen des ausgehenden Mittelalters. Es sind Holzschnittbilderbögen mit der Darstellung von Heiligenviten und Heils­ tatsachen. Berichte von Wunderereignissen, Hostienschändungen und son­ stigen Mirakeln rücken diese Druckerzeugnisse schon stark in die Nähe des Bildjournalismus, der im Reformationszeitalter das grellbunt illuminierte Sensationsflugblatt hervorbrachte. Das illustrierte Flugblatt mit seiner Auf­ lösung der Handlungsinhalte in eine Folge selbständiger, nacheinander zu lesender Einzelbildchen war eine populäre Form der Kunst, war Kunst für das Volk, es wandte sich vornehmlich an Rezipienten, die noch nicht lesefähig waren und denen man den Inhalt einer Heiligenlegende, die zehn Gebote, das Glaubensbekenntnis oder ein Wunderthema am leichtesten in Form des illustrierten Einzeldruckes nahebringen konnte. Ein frühes Beispiel eines solchen gefelderten Holzschnittbilderbogens, 1495 bei Caspar Hochfelder in München gedruckt, bezieht sich auf ein Ereignis des Jahres 1470, einen angeblichen Hostiendiebstahl der Juden in Passau und dessen grausame Bestrafung (Abb. 1). In den Kästchen 1–2 wird im Bild mit überschriebenem Text geschildert, wie die Juden die gestohlene Hostie in ihre Synagoge tragen, mit einem Messer darauf einstechen, wor­ auf Blut daraus fließt (Kästchen 3–4). In ihrer Angst werfen sie die Hostie in einen Backofen. Dort ertönt Engelsgesang, im Feuer erscheint ihnen ein Knabe (Kästchen 5–6). Der Rest des Blattes ist der Gefangennahme und Bestrafung der Juden gewidmet, das abschließende Bild zeigt die christliche Wallfahrtsstätte mit ersten Pilgern und Votivgaben. Über jedem Bild steht

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Abb. 1: Flugblatt auf den Passauer Hostienfrevel von 1470, München 1495.

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ein kurzer Text (ein sog. Titulus), das ganze Geschehen ist in Prosa auf dem unteren Blattdrittel ausführlicher nacherzählt. Vor einigen Jahren noch hätte es wahrscheinlich in Gelehrtenkreisen Naserümpfen verursacht, wenn man ein solches Blatt aus der ehrwürdigen deutschen Inkunabeltradition mit den Comics in Zusammenhang gebracht hätte. Aber mittlerweile hat ein englischer Kunsthistoriker namens David Kunzle mutig die teilweise hier offenbar noch bestehenden Tabus durch­ brochen und ein Werk veröffentlicht, das sämtliche überlieferten europä­ ischen Bilderserien als Vorläufer der Comics in Anspruch nimmt und mit einem imponierenden Faksimilematerial den Blick für die Vorgeschichte der heutigen Massenzeichenserien schärft. Zwar sind die gravierenden Unterschiede in der Darstellungstechnik nicht zu übersehen. Die Holz­ schnittfolgen auf den frühen Flugblattdrucken wissen noch nichts von der Veränderung der Perspektive, von verschiedenen Einstellungsarten, von Hell-Dunkelkontrasten und Blendenwirkung; auch wird noch keiner­ lei Versuch einer Integration des Textes in die Bildebene unternommen. Es kann aber nicht geleugnet werden, daß die „lesbare Bildkunst“ dieser Holzschnitte und späteren Kupferstiche entscheidend dazu beigetragen hat, dem einfachen Mann das Bild ins Haus zu bringen und ihn gleichzeitig im Umgang mit diesen Bildern zu unterrichten: Sein Auge wurde geschult für die Aufnahme von aneinandergereihten Bildfolgen, die einen bestimm­ ten narrativen Bedeutungsgehalt vermittelten. „Lesbare“ Bilderzählungen, wie sie die Menschheit wohl schon von den frühesten Anfängen eines bild­ nerischen Schaffens an gekannt hat, waren durch das Medium des flie­ genden Blattes für den einzelnen verfügbar geworden, das Bild hielt im ausgehenden Mittelalter seinen Einzug in die private Sphäre. Durch das Vervielfältigungsverfahren des Bilddruckes in Verbindung mit dem Buch­ druckverfahren war ein entscheidender Schritt zu einer Demokratisierung auch der „Bildliteratur“ getan. Nicht erst durch die Comics ist aus der Bildergeschichte ein Massen­ medium geworden. Schon die geschäftstüchtigen Bilderbogenhersteller des 19. Jahrhunderts in Epinal, Weißenburg, Neuruppin, Turnhout, München und anderswo haben den gleichen Markenartikel – den gefelderten Bogen mit viel Bild und wenig Text – hergestellt und durch das überlegene techni­ sche Verfahren des lithographischen Flachdruckes in Millionenauflage auf den Markt geworfen. Dieser Markt bestand nicht nur in der Alten Welt, sondern auch in der Neuen. Wir wissen z.B. von der Imagerie Pellerin im elsässischen Épinal, daß ein Teil der dortigen lithographierten Bilderbogen mit traditionellen Erzählthemen ins Englische übertragen und in hoher Auflage als Beilage für die Veröffentlichungen der Humoristic Publishing Co. Kansas City, Mo. in den Vereinigten Staaten herausgegeben wurde. Nicht nur Wilhelm Buschs Bildergeschichten, sondern auch die Erzeugnisse des

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traditionellen europäischen Bilderbogenmarktes haben in Amerika den Boden bereitet für das Entstehen der Newspaper Comics am Ende des 19. Jahrhunderts. Das gilt nicht nur für die rein zeichentechnische Seite des in Bildfelder zerlegten Blattes, sondern auch für die Inhalte selbst. Die erste Phase in der Entwicklung der amerikanischen Zeitungsstrips ist durch Gag-Strips mit Kindern, Tieren und komischen Außenseitern gekenn­ zeichnet, und für eben diesen Bereich liefert der europäische Bilderbogen hundertfach Anschauungsmaterial. Ein amerikanischer Comic-Zeichner hätte allerdings aus der Gag-Sammlung eines einzigen Epinaler Bilderbo­ gens (Abb. 2) sicher ein ganzes Dutzend von Zeitungsstrips gemacht. Im Lichte der vergleichenden kulturhistorischen Betrachtung verliert das Phänomen Comics einiges von seiner vermeintlichen Einmaligkeit, wir erkennen darin formal und inhaltlich die Fortführung von Ansätzen, wie sie in der europäischen Populärgraphik des 19. Jahrhunderts vorgegeben waren. Allerdings fehlt uns dieser Nachweis noch für ein formales Dar­ stellungselement, das stets als ein besonderes Charakteristikum der Co­ mics angesehen wird: die Einbeziehung von Sprache durch das Mittel der Sprechblase. Mit diesen vielgelästerten „Luftblasen“, von deren Inhalten angeblich ein ganz besonders verdummender Effekt auf die Rezipienten ausgehen soll, steht dem Medium Comics ein zeichnerisches Mittel zur Verfügung, Sprache in das Bild zu integrieren und gleichzeitig zu visualisie­ ren. Im Laufe der Entwicklung ist die Sprechblase in den Comics nämlich zu einem differenzierten Gebilde ausgeformt worden, mit dem sich nicht nur einfache Dialoge, sondern darüber hinaus ein breites Spektrum von Ausdrucksmöglichkeiten wie Gedanken, Emotionen etc. umsetzen ließen. Wie alt ist die Sprechblase bzw. die Technik der Einbeziehung gespro­ chener Sprache in Bilddarstellungen? Was man bei oberflächlicher Betrach­ tung als gelungene Erfindung der ersten amerikanischen Comic-Zeichner ansehen könnte, erweist sich bei näherem Zusehen als kulturgeschichtlich sehr altes Stilmittel. Das Problem, wie man Bilder zum Sprechen bringen könne, ist als solches alt und hat beispielsweise schon in der archaischen Periode der griechischen Kunst eine ebenso einfache wie sinnvolle Lösung gefunden. Wo es zum Verständnis von einzelnen Bilddarstellungen not­ wendig erschien, ließen etwa die griechischen Vasenmaler dem Mund der abgebildeten Personen einzelne Worte in Form von Buchstabenketten ent­ strömen, und zwar je nachdem, ob die dargestellte Person nach rechts oder links gewendet war, rechtsläufig oder linksläufig, so daß auf diese Weise die Aussprüche sichtbar in die Komposition miteinbezogen waren. Der christlichen Kunst ist diese Form der konkretisierten Beziehung zwischen direkter Rede und Sprechendem zunächst durchaus fremd. Im frühen Mittelalter hatten die Worte, die zur näheren Erklärung eines Bild­ inhaltes zur Bilddarstellung hinzutraten, ihren festen Platz unter den Bil­

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Abb. 2: Bilderbogen aus der Imagerie Pellerin, Épinal, Ende 19. Jahrhundert.

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dern. Die erklärenden Verse lagen meist dem Maler schon vor; sie wer­ den als Programmtituli bezeichnet. Erst mit dem gotischen Stil entstand zusammen mit der Entfaltung eines subjektiveren Lebensbewußtseins das Bedürfnis, den Bildpersonen Äußerungen in Form direkter Rede sichtbar zuzuordnen. Dies geschah mit Hilfe des Sprach- oder Schriftbandes. Die­ ses Darstellungsmittel hat sich nach den Forschungen von Hellmut Rosen­ feld aus dem Motiv der geöffneten Buchrolle entwickelt, mit der seit der Antike Schauspieler, Gelehrte usw. ausgestattet wurden. In einer Zeit, in der die ältere Buchrolle außer Gebrauch kam und vom Buchkodex abge­ löst wurde, mußte man die älteren Darstellungen dieser Art mißverstehen. Aus dem Attribut der Buchrolle wurde ein sich mit der Zeit reich entfal­ tendes Spruchband, auf dem sichtbar gemacht werden konnte, was die betreffende Person zu sagen hat. Zu beachten ist, daß das Spruchband zu­ nächst nicht direkt mit dem Mund des Sprechenden in Beziehung gesetzt, sondern von ihm stets in einer Hand gehalten wird. Die Reime für diese Spruchbänder entnahm man nicht der Dichtung selbst, sondern schuf – da es sich um komprimierte Äußerungen des Spre­ chers handelte – eigene Reime, die sog. Spruchbandtituli. Im Laufe des 16. Jahrhunderts beginnt das Spruchband in den Abbildungen zu wuchern und wächst girlandenartig um die Sprecher herum, bevor es dann als Dar­ stellungsprinzip aufgegeben und durch ein eigenes Schriftfeld ersetzt wird, d.h. die Schrift gewinnt unter oder über dem Bild als sog. versetzter Schrift­ bandtitulus wieder eine eigene Ebene zurück, so wie wir sie aus den Flug­ blättern und Bilderbogen bis ins 19. Jahrhundert hinein kennen. Die ersten Belege für das, was wir nach heutiger Terminologie als „Bla­ sensprache“ bezeichnen könnten, finden sich in der Graphik des 17. Jahr­ hunderts. Zunächst sind es noch keine ganzen Sätze, die in Form kleiner Wölkchen in das Bild hineinkomponiert werden, sondern einzelne Wörter oder Ausrufe, wie dies z.B. in der Titelillustration zu Johann Rists Friedewünschendem Deutschland 1647 der Fall ist: Die von bewaffneten Angehörigen verschiedener Nationen bedrohte und am Boden kniende Germania erfleht in einer Art Sprechblase vom Himmel „Friede, Friede, Friede“ (Abb. 3). In dieser oder ähnlicher Form sind Vorläufer der aus den heutigen Co­ mics wohlbekannten Sprechblasen in der Graphik des 17. und 18. Jahrhun­ derts immer wieder benutzt worden, aber eigentlich nicht systematisch und konsequent, sondern eher zufällig und nebenbei. Nur mit einem Bereich der Populärgraphik ist die Sprechblase nahezu untrennbar verbunden, und von dorther sind starke Impulse auf die Comics ausgegangen: gemeint ist die englische Karikatur. Die überragende Bedeutung derselben ist vor allem dem Umstand zuzuschreiben, daß seit der ersten Hälfte des 18. Jahrhun­ derts in nahezu ununterbrochener Folge geniale Künstlerpersönlichkeiten in Erscheinung traten und in der Lage waren, die Zeitereignisse mit dem

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Abb. 3: Titelblattillustration zu Johann Rist, Friedewünschendes Deutschland, 1647.

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Zeichenstift in das neue Medium der politisch-sozialen Karikatur umzu­ setzen, das durch Vervielfältigung weiten Bevölkerungskreisen zugänglich gemacht wurde und zu einem wichtigen öffentlichen Korrektiv, ja geradezu zu einer Institution wurde. Innerhalb dieser Publikationsform verfestigten sich im Laufe der Zeit bestimmte zeichnerische Darstellungsmittel, zu de­ nen auch die Integration von direkter Rede durch die Sprechblase gehört. Was sich bei William Hogarth (1697–1764) mit zunächst noch wenigen und marginalen Beispielen anbahnt, gewinnt bei seinen Nachfolgern zu­ nehmend an Bedeutung. Einen ersten Höhepunkt erreicht die Verwendung der Sprechblase als Stilmittel bei dem bedeutenden Karikaturisten James Gillray (1756–1815). Der erbitterte Gegner der Französischen Revolution hat an die tausend Karikaturen hinterlassen, und seinen Zeichnungen ist es vielfach zu ver­ danken, daß auch der einfache Bürger die politischen Entwicklungen der Zeit durchschaute, weil Gillray sie ihm mit einfachen künstlerischen Mit­ teln der Kontrastierung und Übertreibung sichtbar machte. Von Gillray ist bekannt, daß er unwahrscheinlich rasch auf die politischen Tagesereignisse zu reagieren vermochte. Das berühmteste Beispiel, in dem auch Sprech­ blasen eine nicht zu übersehende Rolle spielen, ist die Karikatur Armed Heroes vom 18. Mai 1803, eine drastische Stellungnahme des Künstlers zu der am Vortag erfolgten Kündigung des Friedens von Amiens (Abb. 4). England nahm an diesem Tag den seit März 1802 unterbrochenen Krieg gegen Frankreich wieder auf. Für die Engländer stellvertretend stehen links Lord Hawkesbury und der damalige englische Premierminister Addington; ihnen gegenüber rüstet sich Napoleon zum Kampf. Der eigentliche Witz der Zeichnung ist jedoch in den Sprechblasen verborgen. In den Worten Addingtons kommt wirkungsvoll das Schwanken zwischen Großspreche­ rei und kleinmütiger Furcht zum Ausdruck, während auf der anderen Seite des Kanals dem kleinen Bonaparte beim Gedanken an das englische Roast­ beef schon das Wasser im Munde zusammenzulaufen beginnt. Andere englische Karikaturisten setzen das Werk Gillrays mit den glei­ chen Darstellungsmitteln fort. Unter ihnen ist vor allem Thomas Rowland­ son (1756–1827) zu nennen, der mehr die sozialkritische Karikatur pflegte und sich weniger aggressiv gab als Gillray. Auch das graphische Werk von Georg Cruikshank (1792–1878) ist durch die Verwendung der Sprechblase als zeichnerischem Mittel gekennzeichnet. Schließlich wäre auch noch der als Schriftsteller und Karikaturist gleichermaßen bedeutsame George M. Woodward (ca. 1760–1809) zu nennen. Der von diesen Zeichnern inau­ gurierte Stil hat das Erscheinungsbild der anonymen englischen Karikatur ebenso geprägt wie dasjenige der kontinentaleuropäischen Länder. Das gilt vor allem für die graphischen Traditionen in Frankreich und Deutschland und insbesondere für die Karikaturen der napoleonischen Ära, in der der

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Abb. 4: James Gillray, Armed Heroes, 1803.

englische Einfluß besonders augenfällig war. Die seit 1798 in Weimar er­ scheinende Zeitschrift London und Paris vermittelte mit regelmäßigen Be­ richten über Neuerscheinungen auf dem Graphik-Markt die entsprechen­ den Impulse. Was in diesem Zusammenhang besonders interessiert, ist die Ausstrah­ lung dieser europäischen Traditionen in die Neue Welt. Auch dort hat sich die Sprechblase im graphischen Humor bereits sehr früh einen festen Platz erobert. William Murell bringt im ersten Band seiner Geschichte des ame­ rikanischen graphischen Humors schon ein Beispiel aus dem Jahre 1764, und von dort aus läßt sich der in die Zeichnungen integrierte Sprechbla­ sentext lückenlos bis zum Ende des 19. Jahrhunderts und damit zu den ersten Comic-Zeichenserien verfolgen. Das Darstellungsmittel der sog. „balloons“ brauchte von den für die New Yorker World oder das New York Journal arbeitenden Zeichnern keineswegs erfunden zu werden, sondern sie führten graphische Traditionen fort, die sich schon mehr als ein Jahrhun­ dert zuvor in der politisch-sozialen Karikatur verfestigt hatten. Die Comics vereinen per definitionem das Darstellungsmittel der nar­ rativen Figuration und der Integration von Wort und Bild. Es ist jedoch wiederum nicht das Verdienst der ersten Comic-Zeichner, zum ersten Mal

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die Kombination beider Stilmittel verwendet zu haben. Die Vereinigung dieser beiden für die heutigen Comics konstitutiven Wesensmerkmale fand ebenfalls in Europa statt, und zwar finden sich Frühbeispiele bei eben den Karikaturisten in England, die auch die Balloon-Technik entwickelt haben. Ein charakteristisches Beispiel für die Verbindung von Strip-Technik und integrierter Blasensprache liefert Rowlandsons The Loves of the Fox and the Badger, eine Karikaturenfolge aus dem Jahre 1784, die man mit Recht als eine Art Prototyp der Comics bezeichnen kann, erschienen mehr als ein Jahrhundert vor The Yellow Kid (Abb. 5).

Abb. 5: Thomas Rowlandson, The Loves of the Fox and the Badger, 1784.

Karikaturen-Magazine wie das Monthly Sheet of Caricature von 1832, Comic Cuts und Chips von 1890 in England, Puck, Judge und Life (zwischen 1877 und 1883) in Amerika popularisierten die gezeichnete Bildergeschichte be­ reits so intensiv, daß den ersten Newspaper Comics der Zeit nach 1896 der Boden sehr gut vorbereitet war. Ja, eigentlich sind die ersten Comics ohne diese Vorstufen und Vorläufer überhaupt nicht denkbar, weil durch sie in breiten Bevölkerungskreisen die Aufnahmebereitschaft für die Dop­ pelinformation „Bildergeschichte + integrierter Text“ erzeugt worden war.

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Auch thematisch ist die Verbindung der ersten Comics mit den sozialen Satiren eines Rowlandson sehr deutlich: The Yellow Kid ist zunächst nichts anderes als eine mit den Mitteln der karikaturistischen Verkürzung und Übertreibung arbeitende sozialkritische Zeichenserie, und für viele andere Zeichenserien in der ersten Phase der Entwicklung der Comics bis zum Ersten Weltkrieg gilt ähnliches. Das eigentlich Neue an den Comics reduziert sich somit – wie ein­ gangs betont – auf die 1896 einsetzende Bindung an die Farbbeilagen großer Boulevard-Tageszeitungen in Amerika und auf die Herausbildung bestimmter Figuren, die als Helden dem jeweiligen Strip seinen Titel und sein unverwechselbares Gepräge geben. Als wichtiges Ergebnis bleibt fest­ zuhalten, daß die Comics aus zeichnerischen Traditionen der europäischen Populärgraphik und Karikatur herauswachsen und Darstellungsmittel wei­ terführen, die bereits lange vorher entwickelt und im vergleichbaren Rah­ men verwendet worden sind. Auf diesem Hintergrund verlieren die Comics ein wenig von dem Neuigkeitscharakter, der ihnen in der amerikanischen Literatur gerne zugeschrieben wird, sie rücken näher an ihre europäischen Vorstufen und Vorläufer im Flugblatt, im Bilderbogen, im Illustriertenma­ gazin usw. heran. Entsprechend sehen wir heute im Comic-Konsum nicht mehr nur ein Rezeptionsproblem unserer eigenen Zeit, sondern der Blick weitet sich, ausgehend von heutigen Erfahrungen und Beobachtungen und unter Einschluß historischer Bildmedien, zu einer übergreifenden Wissen­ schaft von der Bildkommunikation, zu der auch die Volkskunde ihren Bei­ trag zu leisten vermag.

Literatur Adhémar, Jean: Europäische Graphik im 18. Jahrhundert. Gütersloh 1963. Ashton, John: English caricature and satire on Napoleon I. 2 Bde. London 1884. Brückner, Wolfgang: Populäre Druckgraphik Europas. Deutschland vom 15. bis zum 19. Jahrhundert. München 1969. Douglas, Richard: The works of George Cruikshank, classified and arranged. London 1903. Everitt, Graham: English caricaturists and graphic humorists of the 19th century. Lon­ don 1893. Hill, Draper: Mr. Gillray. The caricaturist. London 1965. Kempkes, Wolfgang: Bibliographie der internationalen Literatur über Comics. 2. Aufl. München-Pullach 1974. Kunzle, David: The early comic strip. Picture stories and narrative strips in the Euro­ pean broadsheet, c. 1450–1826. Berkeley, London 1973. Murrell, William: A history of American graphic humor. Bd. 1 (1747–1865). New York 1933.

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Perry, George und Aldridge, Alan: The Penguin book of Comics. Harmondsworth 1971. Piltz, Georg: James Gillray. München 1971. Rosenfeld, Hellmut: Bild und Schrift. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens 11 (1971), S. 1653–1672. Schultze, Friedrich: Die deutsche Napoleon-Karikatur. Weimar 1916. Wright, Thomas: A history of caricature and grotesque in literature and art. London 1875. Wright, Thomas: Caricature history of the Georges or annals of the house of Ha­ nover. London 1898.

Die Überlieferungen vom Kornregen Ein Beitrag zur Geschichte der frühen Flugblattliteratur* Die Entdeckung der Tageszeitung als volkskundliche Quelle reicht noch nicht all­zuweit zurück. Otto Görner gab 1933 erste Hinweise,1 während der Erzählforscher Walter Anderson später Proben zum Auftauchen von Erzählthemen in Zeitungen und Wochenblättern zusammenstellte.2 Kürz­ lich hat Rudolf Schenda mit Nachdruck die Berücksichtigung der Zeitung als Quelle volkskundlicher Forschung gefordert und praktische Anleitun­ gen zur Auswertung dieses oft vernachlässigten Quellen­bereichs gegeben.3 Die Forderung nach Heranziehung der auf die Vermittlung ak­tueller Be­ wußtseinsinhalte zielenden Tagesliteratur gilt für die Gegenwart genauso wie für die Vergangenheit, also auch für die Vor- und Frühgeschichte der perio­dischen Presse. Je weiter wir die Geschichte der Zeitung zurückverfol­ gen, um so mehr verschiebt sich der Anteil der Informationen zugunsten derjenigen Nachrichten, die das Sensationsbedürfnis der Leser befriedigen wollten. Die fiktive, nichtauthentische Nachricht steht in den frühen nicht­ periodischen Zeitungen, den Flugblättern und Flugschriften, gleichberech­ tigt neben der tatsächlichen, verbürgten Nachricht, die einer Überprüfung standhält. Die traditionelle Erzählforschung, die sich vorzugs­weise auf die Aufhellung oraler Traditionen konzentriert, hat im Unterschied zur Lied­ forschung diesem Quellenbereich der frühen Zeitungsnachricht bisher * 1 2

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Erstveröffentlichung in: Gerndt, Helge und Schroubek, Georg R. (Hg.): Dona Ethnologica. Beiträge zur vergleichenden Volkskunde. Festschrift für Leopold Kretzenbacher zum 60. Geburtstag. München 1973 (= Südosteuropäische Arbeiten, 71), S. 248–260. Görner, Otto: Volkskunde und Tageszeitung. In: Mitteldeutsche Blätter für Volkskunde 8 (1933), S. 73–84. Anderson, Walter: Volkserzählungen in Tageszeitungen. In: Rheinisches Jahrbuch für Volkskunde 10 (1959), S. 163–175; ders.: Volkserzählungen in Tageszeitungen und Wochen­ blättern. In: Humaniora. Essays in literature, folklore, and bibliography honoring Archer Taylor. New York 1960, S. 58–68. Schenda, Rudolf: Die Zeitung als Quelle volkskundlicher Forschung. In: Württembergi­ sches Jahrbuch für Volkskunde 1970, S. 156–168; vgl. auch Dölker, Helmut: Tageszeitung und Volkskunde. In: Schwäbische Heimat 20 (1969), S. 338–342; Roth-Blümcke, Hannelore: Tageszeitungen als Quelle der volkskundlichen Forschung. In: Württembergisches Jahrbuch für Volkskunde 1957/58, S. 34–48; Trümpy, Hans: Presse und Volkskunde. In: Schweizer Volkskunde 51 (1961), S. 73–78.

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nicht das gebührende Interesse entgegengebracht.4 Die Geschichte der populären Lesestoffe, die im 16. und 17. Jahrhundert vielfach mit dem Bereich des Flugblattes und der Flug­schrift identisch sind, ist für diesen Zeitraum noch nicht geschrieben worden.5 An­schauungsmaterial ist in je­ der zweiten größeren Bibliothek in ausreichendem Maß vorhanden. Der Einwand, es handle sich bei dieser frühen Flugblattliteratur um den Lese­ stoff gebildeter Leserschichten, trifft nicht zu: Aufmachung und Stil dieser Druckwerke verraten, daß es tatsächlich schon eine „Massenkunst“,6 eine Art Mas­senmedium war, das mit Hilfe des Bildes auch sozial und bildungs­ mäßig unterprivilegierte Schichten anzusprechen vermochte. Dem hohen Anteil von Kleinformen der Trivialliteratur an der frühen Buchdruckpro­ duktion wird zweifellos in der zukünftigen Forschung im Rahmen unseres Faches wachsende Bedeutung zukommen. Auf dem 4. Internationalen Kongreß der Volkserzählungsforscher in Bukarest hatte ich 1969 Gelegenheit, im Beisein des durch diese Festschrift Geehrten erste und vorläufige Ergebnisse zu Forschungen über „Sagenthe­ men im deutschen Flugblatt­druck“ vorzulegen. Anregungen, bei meinen verschiedenen Bibliotheksreisen diesen Quellenbereich stärker zu beach­ ten, waren u.a. von einem Aufsatz von Annemarie Brückner ausgegangen, die 1961 zwei Drucke der Gustav-Freytag-Sammlung in Frankfurt behan­ delt hatte.7 Die inzwischen zu bedeutendem Umfang angewachsene Be­ legsammlung erlaubt heute bereits einen aufschlußreichen Überblick über die im deutschen Flugblattdruck des 16. und 17. Jahrhunderts vertretenen, in Prosa- und Liedgestalt behandelten Sagen und sagenähnlichen Erzähl­ themen, die als Massenlese- und Unterhaltungsstoff eine Art literarischer Existenzform angenommen haben. Es handelt sich vor allem um Themen und Motive aus dem Traditionskreis der Sagen mit sozialer Problematik (Brotgeiz und Brotfrevel, Kornverweigerung, Korn­wucher, Grenzsteinver­ rückung usw.) und um Zeugnisse aus dem Bereich der Teufels-, Hexenund Werwolfsagen. Zu diesen Erzählüberlieferungen, die in den regionalen Sagenanthologien des 19. und 20. Jahrhunderts gut dokumentiert sind, bie­ tet die Flugblattliteratur zahlreiche Früh- und Erstbelege.

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Vgl. vor allem Seemann, Erich: Newe Zeitung und Volkslied. In: Jahrbuch für Volksliedfor­ schung 3 (1932), S. 87–119. Vgl. die verschiedenen Vorarbeiten von Rudolf Schenda, zum 19. Jahrhundert, zuletzt: Volk ohne Buch. Studien zur Sozialgeschichte der populären Lesestoffe 1770–1910. Frankfurt a. M. 1970. Fehr, Hans: Massenkunst im 16. Jahrhundert. Berlin 1924 (= Denkmale der Volkskunst, 1). Brückner, Annemarie: Volkstümliche Erzählstoffe auf Einblattdrucken der Gustav-Frey­ tag-Sammlung. In: Zeitschrift für Volkskunde 57 (1961), S. 230–238.

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Im vorliegenden Beitrag soll von einem weiteren Themenbereich die Rede sein, der in den Kleindrucken der frühen Neuzeit eine dominieren­ de Rolle spielt, ohne aber in den mündlichen Erzähltraditionen späterer Jahrhunderte greifbare Spuren hinterlassen zu haben. Gemeint ist der Be­ reich der Wundererzählungen und Sensa­tionsberichte, der für die Flug­ blatt- und Flugschriftenliteratur des 16. und 17. Jahr­hunderts so überaus charakteristisch ist, nicht nur in Deutschland, sondern beispiels­weise auch in Frankreich.8 Gemeinsame Grundlage dieser heute vielfach vergessenen Traditionen ist der Wunderglaube, die Vorstellung von der Bedeutsamkeit außer­gewöhnlicher Naturerscheinungen als Ausdruck göttlicher Offenba­ rung bzw. als Strafe für die Übertretung göttlicher Gesetze und Ordnun­ gen. Bedeutende Flug­blattsammlungen wie die des Zürcher Chorherrn Johann Jakob Wick9 verdanken diesem oft übersteigerten Wunderglauben ihre Entstehung. Bei näherer Untersuchung dieses Teilbereichs der frühneuzeitlichen Informations­literatur wächst die Einsicht in die Tatsache, daß es sich bei den einzelnen Druck­erzeugnissen keineswegs immer um selbständige, von­ einander unabhängige Schöp­fungen der Verleger handelt, sondern daß auf diesem Sektor mit einem starken Beharrungsvermögen der Wunderthe­ men gerechnet werden kann. So ist es keine Seltenheit, daß sich einzelne Ereignisse über mehrere Jahrzehnte, ja sogar Jahr­hunderte im Repertoire der Flugblattdrucker gehalten haben, die es verstanden, sie unter wechseln­ der Datierung und Lokalisierung stets neu zu aktualisieren. Eine solche sich mehrfach verjüngende Wundergeschichte ist etwa diejenige von der zwölfeinhalbjährigen Jungfrau Margarete Weiß in Rod bei Speyer, die ei­ nige Jahre lang die Spalten der zeitgenössischen Flugblätter beherrschte10 und auch durch gleichzeitige Zeitungslieder11 Berühmtheit erlangte. Seit ihrem 10. Lebensjahr soll sie keine Speise und seit dem 11. Lebensjahr auch keinen Trank mehr zu sich ge­nommen haben. In Unna wird 1574 eine   8 Vgl. die verschiedenen Arbeiten von Jean-Pierre Seguin, z.B.: L’information en France, de Louis XII à Henri II. Genève 1961; siehe auch Schenda, Rudolf: Die französische Pro­ digienliteratur in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts. München 1961 (= Münchner Romanistische Arbeiten, 16).   9 Vgl. Fehr: Massenkunst (wie Anm. 6). 10 Geisberg, Max: Der deutsche Einblatt-Holzschnitt in der 1. Hälfte des XVI. Jahrhunderts. München 1923ff., Nr. 1436: Flugblatt von 1542 in lateinischer Sprache mit dem Holzschnitt Heinrich Vogtherrs d.Ä. Trotz kaiserlicher Privilegien ließen sich Nachdrucke und Über­ setzungen nicht verhindern: Vgl. Hirth, Georg: Kulturgeschichtliches Bilderbuch. Bd. 2. Leipzig, München 1883, S. 641, Abb. 981; Halle, J.: Katalog 70. Newe Zeitungen, Rela­ tionen, Flugschriften, Flugblätter, Einblattdrucke. München 1929, S. 90, Nr. 273; Seguin: L’information en France (wie Anm. 8), S. 131 u. Anm. 9. 11 Weller, Emil: Annalen der poetischen National-Literatur der Deutschen im XVI. und XVII. Jahrhundert. Bd. 2. Freiburg 1864, S. 433, Nr. 572 (1541) und Nr. 573 (1544).

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täuschend ähnliche Geschichte zeitungs­kundig: Ein zehnjähriges Mädchen soll sich 40 Wochen lang jeglicher Nahrung ent­halten haben.12 1585 soll es in Schmidtweiler in der Pfalz ein siebzehnjähriges Mäd­chen sieben ganze Jahre ohne Speise und Trank ausgehalten haben.13 Ähnliche Wunderbe­ richte wiederholen sich 160614 und 1607.15 Eine französische Informa­ tionsschrift aus dem Jahre 161216 ist der (vorläufige) Endpunkt dieser Belegreihe. Ohne einer monographischen Darstellung dieses Komplexes vorgreifen zu wollen, können wir aus dem skizzierten Befund schließen, daß Fastenwunder dieser Art offenbar der Wundergläubigkeit des 16. Jahr­ hunderts entgegenkamen; es bedurfte nur geringer Anstöße (ein Fünkchen Wahrheit dürfen wir bei jeder dieser Ge­schichten vermuten), damit das einmal geprägte Klischee von der mit prophetischen Gaben ausgestatte­ ten Hungerkünstlerin von einem Ort auf den anderen übertragen und in einem neuen Flugblatt gefeiert wurde. Wir wissen zumindest von einer Fa­milie, die den Wunderglauben ihrer Mitmenschen auf sehr geschäfts­ tüchtige Weise zu nutzen verstand: Die Ulmers in Eßlingen, die 1549 ihre Tochter gegen Entgelt zur Schau stellten. Da letztere drei Jahre lang keine warme Speise mehr zu sich genommen haben sollte und von dem wenigen Genossenen angeblich nichts von sich geben konnte, war ihr Leib überdi­ mensional angeschwollen. Sie war in ganz Süd­deutschland als Sehenswür­ digkeit bekannt geworden. Auch der Maler Hans Schießer aus Worms fiel auf das „Wunder“ von der geschwollenen Jungfrau herein und reiste nach Eßlingen, um seinerseits an diesem Wunder zu verdienen und dem Bedürf­ nis der Menschen nach einem illustrierten Flugblatt abzuhelfen: „Dieweil aber meniglich auch ein truck daruon begeret/ bin ich hans Schiesser Maler zu Wormbs (dieweil ich auch das vorige Junckfraͤwlin von Rod/ das so lange zeit nicht hat gessen/ ab contrafect hab) auch jetzunder … gebetten worden/ dises wunder … an tag zu bringen und zu publicie­ ren …“.17 Aus Grimmelshausens Simplicianischen Kalendergeschichten und

12 Folioblatt der Zentralbibliothek Zürich, Pas II 11/5; vgl. Serapeum 24 (1863), S. 126, Nr. 100; Flugschr. 8 Bl. 8° des Instituts für Zeitungsforschung Dortmund. 13 Staatsbibliothek Berlin-West, Einbl. m. Ya 1940, Serapeum 24 (1863), S. 160, Nr. 135; vgl. Weller, Emil: National-Literatur (wie Anm. 11), Bd. 1, S. 255f., Nr. 303. 14 Drugulin, Wilhelm Eduard: Historischer Bilderatlas. Teil 2: Chronik in Flugblättern. Leipzig 1867, Nr. 1145–1146. 15 Holländer, Eugen: Wunder, Wundergeburt und Wundergestalt in Einblattdrucken des 15.– 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1921, S. 214ff. und Abb. 117. 16 Seguin, Jean-Pierre: L’information en France avant le périodique. Paris 1964, S. 124, Nr. 491; andere Ausgabe von 1618, S. 125, Nr. 495. 17 Geisberg: Der deutsche Einblatt-Holzschnitt (wie Anm. 10), Nr. 1118.

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anderen Quellen wissen wir, daß sich das ganze Wunder als ein ein­ziger Schwindel entpuppte: Als der Eßlinger Stadtmedicus in Begleitung dreier Barbiere und einer Hebamme von Amts wegen zur Untersuchung schritt, „fanden sie ein seltsams Gemächt von Reifen und Kissen, auch andern ausgefüllten Bogen“, und der Betrug wurde an Mutter und Tochter mit harten Strafen gesühnt.18 Die Überlieferungsgeschichte einzelner Wundererzählungen in der populären Flugblattliteratur nachzuzeichnen ist deshalb kein nur biblio­ graphisch oder allge­mein kulturgeschichtlich bedeutsames Unterfangen, sondern besitzt auch für die Volkskunde Relevanz, da solche Monogra­ phien Einblicke in die Glaubensvorstel­lungen, die Nöte, Bedürfnisse und Wünsche von einfachen Menschen in einem Zeit­alter ermöglichen, das wir viel zu sehr von Hochliteratur, Philosophie, bildender Kunst usw. zu be­ trachten und zu beurteilen gewohnt sind. Monographien dieser Art sind in unserem Fach allerdings noch sehr wenig geschrieben worden, da die Quel­ lenlage zu solchen Untersuchungen nicht gerade ermuntert. Das Material ist in vielen Bibliotheken zerstreut und bisher nirgends zentral erfaßt. Zu verweisen ist etwa auf Schendas Arbeit über das Monstrum von Ravenna,19 die sich auf die in der Bayerischen Staatsbibliothek München vorhandenen Quellen zu einem be­stimmten Prodigium stützt und die Wandlungen ver­ deutlicht, welche die Wundergeschichte in den Werken der verschiedenen Prodigienschreiber oder -kompilatoren erfuhr. Im vorliegenden Beitrag soll am Beispiel der Wundererzählungen vom Korn­regen die Entwicklung eines Erzählthemas in der Flugblattliteratur des 16. und 17. Jahrhunderts aufgezeigt werden. In der mündlichen Tradi­ tion späterer Jahr­hunderte hat es keine Spuren hinterlassen, aber das kann in diesem und in vielen ähnlich gelagerten Fällen nicht als Gradmesser für die Popularität einer Erzählung gelten. Der Überlieferungsbereich der Wundererzählungen und Prodigien war im beginnenden 16. Jahrhundert eine dauerhafte Verbindung mit dem Flugblattdruck eingegangen, zumal die in diesem Umkreis kolportierten Stoffe immer wieder nach bildlicher Konkretisierung, nach anschaulicher Illustration verlangten. Wie beim Monstrum von Ravenna, so steht auch beim Kornregen das Bild im Zen­ trum des Interesses. Die enge Bindung an das zugehörige Bild bedingt die Fixierung zahl­reicher Stoffe aus dem Umkreis der populären Wunderer­

18 Grimmelshausen, Hans Jacob Christoffel von: Simplicianische Kalendergeschichten. Hg. von Gersch, Hubert. Frankfurt a.M. 1966 (= Insel-Bücherei, 884), S. 11f. (1670). 19 Schenda, Rudolf: Das Monstrum von Ravenna. Eine Studie zur Prodigienliteratur. In: Zeit­ schrift für Volkskunde 56 (1960), S. 209–225.

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zählungen des 16. Jahr­hunderts an die schriftliche Form der Tradierung. Trotzdem ist bei der großen Auf­lagendichte, die zu besprechen sein wird, eine weite Verbreitung der Drucke und demzufolge ein hoher Grad an Popularität anzunehmen. Die Tatsache, daß zu einem Ereignis oft eine ganze Fülle von Flugblättern und Flugschriften vorliegt, hat schon Gustav Hellmann20 anhand der Überlieferung eines Blutregens vom Jahre 1501 hervorgehoben. Im Abstand von wenigen Jahren taucht dieses Ereignis – auf­grund tatsächlicher Vorkommnisse oder auch fingierter Anknüpfung – in der Kol­portageliteratur des 16. Jahrhunderts immer wieder auf. Die Naturwissenschaft hat für diese in der frühen Neuzeit wie im Mittelalter ängstlich bestaunten und auch heute noch hin und wieder zu beobachten­ den Niederschläge längst eine Er­klärung gefunden.21 In die Nähe zu diesem Wunderereignis gehören auch die verbreiteten Überliefe­r ungen vom Kornregen. Abb. 1 zeigt einen solchen an verschie­ denen Orten Süd­deutschlands lokalisierten Wunderregen in der für das illustrierte populäre Flug­blatt typischen Form. In dem Begleittext zu dem Bild wird auf einen gleichzeitig beobachte­ ten Blutregen ausdrücklich Bezug genommen. Außerdem stellt dieser Text auch die naheliegenden biblischen Bezüge her: „wie er [Gott] dann auch vor alter zeit/ im Alten Testament/ den Kindern Israel das Himmelbrot geschickt hat/ damit angezeigt/ das er die seinen nit verlassen wo̊ll …“ Gemeint ist das biblische Manna oder Man, welches beim Auszug des Vol­ kes Israel aus Ägypten in der Wüste Sinai vom Himmel gefallen war und das hungernde Volk gespeist hatte (2. Mos. 16, 4–35 und 4. Mos. 11, 6–9). Die Wissenschaft nimmt heute an, daß es sich bei diesem biblischen Wun­ derregen um die legendäre Ausschmückung von realen Naturvor­gängen handelt. Das ganze Mittelalter hindurch hat man naturgemäß an der über­ natürlichen Herkunft des Mannas festgehalten und dieses Geschehen in

20 Hellmann, Gustav: Die Meteorologie in den deutschen Flugschriften und Flugblättern des XVI. Jahrhunderts. Berlin 1921 (= Abh. d. Preuß. Ak. d. Wiss., Jg. 1921, phys.-math. Kl. Nr. 1), S. 14. 21 Vgl. z.B. Ehrenberg, Christian Gottfried: Passat-Staub und Blut-Regen. Ein großes orga­ nisches Wir­ken und Leben in der Atmosphäre. Berlin 1849; vgl. Archenhold, Friedrich Si­ mon: Der Sicilianische Blut­regen und der Berliner Sandregen vom 9.–11. März 1901. In: Weltall 1 (1900/01), S. 106–108. Für diese bibliographischen Hinweise danke ich Herrn Dr. Bruno Weber von der Zentralbibliothek Zürich, der eine Faksimile-Edition ausgewähl­ ter Flugblätter aus der Sammlung Wick vorbereitet [inzwischen erschienen: Weber, Bruno: Erschröckliche und warhafftige Wunderzeichen 1543–1586. Dietikon-Zürich 1972. Tafel 3 bringt ein weiteres Flugblatt zum Kornregen bei Klagenfurt 1550, gedruckt bei Eustachius Froschauer in Zürich. Der zugehörige Kommentarband verzeichnet S. 63–67 weitere Lite­ ratur zum Thema Mannalese und Kornregen].

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Abb. 1: Kornregen in Oberösterreich 1570. Kolorierter Holzschnitt. Augsburg: Michael Manger (Germanisches Nationalmuseum Nürnberg, Kaps. 1283, H. B. 786).

entspre­chenden Illustrationen der Blockbücher22 (Biblia pauperum,23 Speculum humanae salvationis24) dargestellt. Von den mittelalterlichen Belegen zum Kornregen kann hier aus Raumgründen nicht die Rede sein. Die Acta Sanctorum der Bollandisten berichten an mehreren Stellen von solchen Wundern (Hypolistus, Mai I, 42, 2; Agnes, April II, 796, 1; Rosa, September II, 439, 2; vgl. Thompson: Motif-Index F 962.6.2.). Den nächsten Anhaltspunkt dafür, daß dem biblischen Mannaregen vergleich­bare Erscheinungen auch im Abendland zu beobachten waren, 22 Schlosser, Julius von: Zur Kenntnis der künstlerischen Überlieferung im späten Mittel­alter. In: Jahrbuch der kunsthistorischen Sammlungen 23. Wien 1903, S. 277ff., Taf. XXII, Bild 2 oben: Holztafeldruck von Johannes Eysenhut 1471. 23 Schramm, Albert: Der Bilderschmuck der Frühdrucke. Bd. 1: Die Drucke von Albrecht Pfister in Bamberg. Leipzig 1922, Taf. 29, Abb. 208: 1462. 24 Ebd., Bd. 2: Die Drucke von Günther Zainer in Augsburg. Leipzig 1920, Taf. 51, Abb. 410: 1473.

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gibt Sebastian Brant im Text zu seinem berühmten Flugblatt25 auf den „Donnerstein von Ensisheim“ 1492. Hier zählt Brant zunächst entspre­ chend der Tradition von Mirakelberichten eine Reihe von Wundererschei­ nungen auf, die dem Meteorfall im Elsaß voraus­gingen: 11 Tratzlich zerstiessen sich zwen berg Greußlich tromett/ vnd harnsch werck Isen/ mylch/ regen / stahel/ korn26 Ziegel/fleysch/ woll von hymels zorn...,

also eine ganze Fülle von Himmelserscheinungen, zu denen sich außer dem schon erwähnten Blutregen noch weitere Wunderberichte der frühneuzeit­ lichen Flugblatt­literatur stellen ließen: Frosch- und Heuschreckenschauer,27 Feuerregen,28 Kiesel- und Steinregen29 usw. Einige solcher Nachrichten über allerlei Wunderregen hat schon Johann Peter Hebel zusammengestellt und erklärt.29a Aus den erwähnten Naturerscheinungen hebt sich der Korn­ regen als ein weniger feindseliges und minder ge­fährliches Phänomen ab. Wir können es als eine Art günstigen Prodigiums in die Nähe derjenigen Wunderberichte stellen, die sich mit anderen „Nahrungsmittel­wundern“ beschäftigen: riesigen Weintrauben,30 überdimensionalen Kohlköpfen31 oder wunderbaren Getreideähren.32 Noch heute pflegt man solche Kurio­ sitäten als Launen der Natur auf die Redaktionen der Lokalzeitungen zu tragen; in Zeiten wirtschaftlicher Not im 16. und 17. Jahrhundert werden

25 Heitz, Paul (Hg): Die Flugblätter des Sebastian Brant. Mit einem Nachwort von Franz Schultz. Straßburg 1915 (= Jahresgaben der Gesellschaft für elsässische Literatur, 3), Taf. 4. 26 Dazu die parallel gedruckte lateinische Zeile 12f.: Lac pluere e celo visum est: frugesque calybsque Ferrum etiam: et lateres: et caro: lana: cruor. 27 Brant, Sebastian: Das Narrenschiff. Faksimile der Erstausgabe von 1494. Hg. von Schultz, Franz. Straßburg 1914, S. 234. 28 Z.B. Weller, Emil: Volksgemälde des 16. Jahrhunderts. In: Serapeum 24 (1863), S. 92, Nr. 60 (1561). 29 Brückner, Wolfgang: Populäre Druckgraphik Europas. Deutschland vom 15. bis zum 20. Jahrhundert. München 1969, Abb. 70; Widerspiegelungen dieser Ereignisse in der Volks­ sage vgl. Kühnau; Gustav: Schlesische Sagen. Bd. 3: Zauber-, Wunder- und Schatzsagen. Leipzig, Berlin 1913, Nr. 1824ff. 29a Hebel, Johann Peter: Erzählungen des rheinländischen Hausfreundes. In: Werke. Bd.  3. Karls­r uhe 1843, S. 27ff.: Mancherlei Regen. 30 Geisberg: Der deutsche Einblatt-Holzschnitt (wie Anm. 10), Nr. 1440: Wundertraube von Albersweiler 1541. 31 Weller: Volksgemälde des 16. Jahrhunderts (wie Anm. 28), S. 62, Nr. 22 (1553). 32 Bartels, Adolf: Der Bauer in der deutschen Vergangenheit. Leipzig 1900 (= Monographien zur deutschen Kulturgeschichte, 6). S. 79, Abb. 89; vgl. Weller: Annalen der poetischen National-Literatur (wie Anm. 11), Bd. 1, S. 221, Nr. 107; S. 234, Nr. 179: S. 239, Nr. 203; Bd. 2, S. 540.

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solche „Wunder“ und die zugehörigen gedruckten Berichte allerdings eine ganz andere Rolle gespielt haben: Sie sollten von den sozialen Mißständen ablenken und propagierten statt ihrer Be­seitigung die Wundererwartung, die Aussicht auf greifbare Hilfe des Himmels. Der sagenumwobene Mehl­ berg, den die Dichtung des 16. Jahrhunderts beschwor33 und dem die Po­ pulärgraphik bildliche Realität verlieh,34 war um noch eine Stufe utopischer als der Kornregen und ebensowenig in der Lage, die Not der Armen und Ärmsten zu lindern. Bezeichnenderweise ist immer in Zeiten der Teuerung und Hungersnot von solchen Erscheinungen die Rede. Der früheste Kornregen, den wir zu fassen vermögen, soll 1531 in Sorau/Lausitz niedergegangen sein. Zu diesem Ereignis besitzen wir aller­ dings keine gesicherten Nachrichten aus der Zeit selbst. Johann Gottlieb Worbs35 berichtet 1826 aufgrund „alter Quellen“ darüber und steuert auch eine Erklärung für das vom Volk gesammelte Manna oder Himmelsbrot bei: „Das Brodt‚ welches 1531 im Regen vom Himmel gefallen seyn soll … war nichts anderes, als die Knollen der Erdnuß (Lathrysus tuberosus), die man noch jährlich auf den hiesigen Feldern … findet.“36 Im 18. Jahr­ hundert hat dieses Ereignis durch den Stecher I. Martin Will (1727–1806) eine bildliche Darstellung gefunden, in der das Geschehen in eine Folge von Szenen zusammengefaßt und vor die Tore der Stadt Sorau verlegt wird (Abb. 2). Das erste Ereignis dieser Art, das in der gleichzeitigen Flugblattbericht­ erstattung seinen Niederschlag gefunden hat, ist der Kornregen, der sich am 23. März 1550 bei Klagenfurt in Kärnten ereignete. Mit einem Flugblatt kam - soweit sich das an­hand der in ungewöhnlich hoher Zahl erhalte­ nen Zeugnisse ablesen läßt - als erster der Drucker Wolffgang Köpphel in Straßburg auf den Markt, und zwar am 1. Juni 1550.37 Die Beschreibung des Holzschnittes ist in Deutsch, Lateinisch und Fran­zösisch abgefaßt. We­ nig später, am 20. Juni, legt der Nürnberger Briefmaler Steffan Hamer ein 33 Mangold, Marx: Das Marckschiff (um 1550), berichtet von den Themen der zeitgenössi­ schen Frankfurter Zeitungssänger während der Messe: Da hat man einen Berg gefunden Voll Mehl, das mans bachen künden. Vgl. Kelchner, Ernst: Sechs Gedichte über die Frankfurter Messe. In: Mittheilungen des Vereins für Geschichte und Alterthumskunde in Frankfurt a.M. 6 (1881), S. 321. 34 Weller, Emil: Die ersten deutschen Zeitungen. Tübingen 1872 (= Bibl. d. Lit. Vereins in Stuttgart, 111), S. 523, Nr. 716 (1590). Ferner: Vorstellungen deß in Anhaldischen ohnfern Koßwick entdeckte Mehl-Berg (o.J.). Kupferstich in der SuUB Frankfurt a. M., Flugschr.Slg. G. Freytag 2°. 35 Worbs, Johann Gottlob: Geschichte der Herrschaften Sorau und Triebel. Sorau 1826, S. 84f. und 259. 36 Ebd., S. 85; vgl. Kühnau: Schlesische Sagen (wie Anm. 29), Nr. 1824. 37 Bibl. Univ. et. Nat. Strasbourg, Slg. J. Hermann, R. 5, Nr. 233.

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Mediengeschichten

Querfolioblatt mit deutschem Begleittext vor,38 und dieser populäre Druck war es vor allem, der andere süddeutsche Erzeuger von Kleinschriften zum Nachdruck reizte. So ist das Kärntner Lokalereignis damals zeitweise zu außer­ordentlicher Popularität gelangt. Die zahlreichen bekannten Aufla­ gen, die ihrer­seits nur einen Bruchteil des einst im Umlauf Befindlichen ausmachen, kamen dem Interesse des Publikums an Wunder- und Sensati­ onsereignissen entgegen und ent­fachten es wiederum neu.

Abb. 2: Kornregen in Sorau 1531. Kupferstich von I. Martin Will (1727–1806) (Stadt- und Universitätsbibliothek Frankfurt a.M., Flugschriften-Sammlung Gustav Freytag).

Das von uns wiedergegebene Exemplar (Abb. 3) beruft sich direkt auf den Briefmaler Hamer, während andere Nachdrucke39 sich mit der Nen­ nung der Stadt Nürnberg als Herkunftsort der Vorlage begnügen. Text und Holzschnitt weichen in den einzelnen Auflagen nur in unbedeutenden Einzelheiten voneinander ab. Recht bemerkenswert will es erscheinen, daß die offenkundig große Anteilnahme der Konsumenten an dieser Art Ta­ gesliteratur noch im gleichen Jahr die Herausgabe eines zweiten Druckes begünstigte, der unverkennbar von der Popu­larität des vorangegangenen getragen wurde: Ein in der Aufmachung eng ver­wandtes Blatt im Quer­ format, das ebenfalls bei Hamer in Nürnberg erschien und „Ein ander 38 Hellmann: Flugschriften und Flugblätter (wie Anm. 20). S. 45 (Expl. Schloßmuseum Go­ tha). 39 Zentralbibl. Zürich Pas II 9/15; vgl. Weller: Volksgemälde (wie Anm. 28), S. 48, Nr. 17.

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Abb. 3: Kornregen bei Klagenfurt 1550. Kolorierter Holzschnitt. Nürnberg: Stephan Hamer (Zentralbibliothek Zürich, Slg. Wickiana, Pas II 2/23).

wunderzeychen“ überschrieben ist, schildert einen Kornregen bei Wei­ mar und Auerstedt in Thüringen.40 Der Holzschnitt ist dem Klagenfurter Korn­regen ebenso nachempfunden wie der Text, der teilweise wörtliche Übernahmen aufweist (z.B. „vnd ist auch solches korn z7 wolgeschmachen brot gebachen wor­den“). Von Interesse ist es auch, daß als Quelle für die­ se Replik die Anführung einer angeblichen brieflichen Mitteilung genügte: „Solches hat warhafftig ein mitpurger von weymar / seynem Br7der gen Nürnberg geschrieben / vnnd jm desselbigen Korn vnnd Weytzen etliche ko̊rnlein geschickt“. Auch spätere Chroniken wie die von Zacharias Bec­ ker41 bewahren die durch das Nürnberger Flugblatt ausge­streute Kunde von diesem Ereignis. Nur zwanzig Jahre vergingen, bis sich eine neuerliche Kunde von ei­ nem denk­würdigen Getreideregen in Mitteleuropa verbreitete. Wieder kam der Bericht aus Österreich (vgl. Abb. 1), aber außer Zwispalen in Oberö­ sterreich wird noch eine Reihe weiterer Orte erwähnt, die in den Genuß des vom Himmel gefallenen Korns gekommen sein sollen. Der Nachrichten­ 40 Nach dem Exemplar im Schloßmuseum Gotha abgedruckt bei: Diederichs, Eugen: Deut­ sches Leben in der Vergangenheit in Bildern. Bd. 1. Jena 1908, S. 126, Abb. 417. 41 Becker, Zacharias: Fest-Chronica. Der ander Theil. Halle 1602, Bl. 5 r°. Für diesen und andere freundliche Hinweise danke ich Dr. Ernst Rehermann, Göttingen.

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wert der Drucke bleibt ähnlich wie bei dem Ereignis von 1550 sehr dürftig. Trotzdem setzten sich auch jetzt wieder viele Pres­sen in Bewegung. Nach­ drucke des ursprünglich bei Michael Manger in Augsburg herausgegebe­ nen Blattes erscheinen u.a. bei Peter Hug in Straßburg42 und bei Christoffel Schwytzer in Zürich.43 Gleichzeitig erweitert sich die Skala derjenigen Me­ dien, die zur Verbreitung dieser Wundergeschichte beitrugen, um die aus meh­reren Druckseiten bestehende Flugschrift mit längerem Prosatext und um das in der Form der Flugschrift gedruckte Zeitungslied: In Augsburg erscheint in mehreren Auflagen eine Newe zeytung vom Korn regen,44 in Nürn­ berg kommt bei Hans Koler ein Zeitungslied von 15 Strophen zu je sieben Versen im Ton So wolt ich gerne singen heraus.45 Und selbstverständlich gehen auch zeitgenössische Chronik­werke an diesem Ereignis nicht vorbei.46 Eine ähnlich breit gefächerte Überlieferungslage treffen wir auch bei den nächsten Terminen an, von denen wunderbarer Kornregen berichtet wird. Aus Platzgründen müssen wir es uns leider versagen, diese Ereignisse ebenso ausführlich zu würdigen. Der Kornregen, der während einer Teue­ rung im Jahre 1571 in Schlesien beobachtet wurde, verdiente allein eine monographische Darstellung, so dicht ist hier die Flug­blattüberlieferung, die sogar ins Tschechische ausstrahlt;47 dazu kommen wiederum Zeitungs­ lieder48 und zeitgenössische Chronikberichte.49 Ähnliches gilt für den

42 Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel, Slg. Einblattdrucke. 43 Zentralbibl. Zürich Pas II 10/20 (selbständiger Holzschnitt und erweiterter Text, der auf frühere Kornregen in Frankreich Bezug nimmt und auch das Kärntner Ereignis von 1550 erwähnt). 44 Bayer. Staatsbibl. München, 4° Phys. sp. 300 (47 und 48); vgl. Weller: Die ersten deutschen Zeitungen (wie Anm. 34), Nr. 359 und 359a. 45 Vatikan. Bibl. Rom Pal. V 444, 51 = DVA Bl. 5024: „FReut euch jr frommen Ar­men …“. 46 Vgl. z.B. Brednich, Rolf Wilhelm: Das Reutlingersche Sammelwerk im Stadtarchiv Über­ lingen als volkskundliche Quelle. In: Jahrbuch für Volksliedforschung 10 (1965), S. 70f. 47 Zíbrt, Čeněk: Pršelo obilí r. 1571 ve Slezsku. In: Český lid 28 (1928), S. 359–361. Freundli­ cher Hinweis von Dr. Hannjost Lixfeld, Freiburg. 48 Hellmann: Flugschriften und Flugblätter (wie Anm. 20), S. 68. Aus diesen ziemlich unge­ nießbaren Reimereien sei wenigstens eine Strophe als Kostprobe wiedergegeben: Erstlich bey einer Stadte/ Goltberge ist sie genant/ auch zu Lemberg [Löwenberg] man hatte/ solches funden zu hand/ dieses geschah furware/ im Junio merckt mich/ den viersehenden so klare/ auch zum Lauben [Lauban] es zware/ fand man das mildiglich. Ein scho̊n new- || es Lied/ von dem Korn reg- || n e n … 1571. SuUB Frankfurt a.M., Flugschr.-Slg. Gustav Freytag XXI, 288 (Hohenemser Nr. 4425). 49 Vgl. Kühnau: Schlesische Sagen (wie Anm. 29), Nr. 1830.

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Abb. 4: Kornregen in Westerhausen/Brandenburg, 1580. Kolorierter Holzschnitt mit Typendruck (Zentralbibliothek Zürich, Slg. Wickiana, Pas II 17/14).

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Korn­regen von 1580 in Westerhausen in der Mark Brandenburg, der auf etwa 10 Drucken in Prosa, Reimversen und Liedern Bearbeitung erfahren hat50 (vgl. Abb. 4). Der Text des von uns wiedergegebenen Flugblattes51 von Ambrosius Wetz bringt an Information über das Ereignis in der Mark Brandenburg wiederum recht wenig, dafür beruft sich der Verfasser wie der Text aus Oberösterreich zur Erhöhung der Glaubwürdigkeit auf fünf andere Fälle von Kornregen in verschiedenen nord­deutschen Orten. Vermutlich gab es auch dazu jeweils Berichte auf Flugblättern, die allerdings verloren zu sein scheinen. Jedenfalls spricht daraus eine starke Verflech­tung der Flugblatt­ literatur, was auch äußerlich an der engen Verwandtschaft der Holzschnitt­ illustrationen untereinander abzulesen ist. Wachsenden Umfang nimmt die geistliche Deutung des Ereignisses in Anspruch, und zudem erkennen wir, daß die zunächst nüchternen Zeitungsberichte allmählich mit epischen Motiven ange­reichert werden. Im Falle des Westerhauser Kornregens vom April 1580 ist es das Motiv, daß angeblich das Vieh die Aufnahme des Wunderkorns verweigerte (siehe Z. 79–82). Ein vom gleichen Verfasser gedichtetes Zeitungslied drückt dieses Er­zählmotiv so aus: Wie auch zu disen Zeiten Gott durch das Korn bericht/ Wenn mans für die Hüener strewete/ dieselben aßens nicht/ auch dhain ander vogel‚ vieh oder Schwein/ es genoßens nur die menschen allain/ das solle man nicht verachten/ sonnder herzlichen betrachten.52

Im 17. Jahrhundert tritt neben die in Flugblatt- oder Flugschriftenform verbrei­tete Einzelzeitung die periodische Presse. Aber auch diese neue Form der Informa­tionsliteratur blieb der Berichterstattung von wunder­ baren Naturereignissen und Kuriositäten treu, und das bis zum heutigen Tage. Im Jahre 1694 beschäftigt sich die in München erscheinende Mercurii Relation gleich zweimal mit dem Phänomen Kornregen. In Nr. 20 berichtet 50 Hellmann: Flugschriften und Flugblätter (wie Anm. 20), S. 78; Brednich: Das Reutlinger­ sche Sammelwerk (wie Anm. 46), S. 71f. 51 Das Original des Magdeburger Druckers J. Walde ist wiedergegeben bei: Brednich: Das Reutlingersche Sammelwerk (wie Anm. 46), S. 56. 52 Brednich: Das Reutlingersche Sammelwerk (wie Anm. 46), S. 71. Die dem Chronikeintrag zugrundeliegende Liedflugschrift fand sich inzwischen als „Warhafftige vnd || Grundtliche ne- || we Zeittung …“ o. O. M.D.LXXXI. 8 Bl. 8°, SuUB Frankfurt a.M., Slg. G. Freytag XI, 116 (Hohenemser Nr. 4441, vgl. Weller: Die ersten deutschen Zeitungen, wie Anm. 34, Nr. 516a).

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ein Korrespondent von einem Korn-, Hafer-, Boh­nen- und Erbsen-Regen in Frankreich,53 und in Nr. 34 wird am 4. August 1694 aus Breslau kolpor­ tiert: Gestern hat es allhier vnd vmb hiesige Statts Dörffer rechten Hirsen geregnet/ doch allhier nicht in so grosser Menge als vor etlichen Tagen im Brügischen/ 6 Meilen von hier/ allwo solcher Streichweiß so hoch gefallen seyn solle/ daß er an manchem Ort 3 viertel Elen hoch gelegen. Die armen Leute bedienen sich solches/ vnd gedeyet jhnen zur guten Speise/ hingegen aber wird es den Reichen zu lauter Wasser.54

An diesem Beleg wird deutlich, daß in Verbindung mit den Überlieferun­ gen vom Kornregen z.T. die gleichen Motive weitergelebt haben bzw. wie­ der aufgenommen und abgewandelt wurden, denen wir schon im 16. Jahr­ hundert begegneten. Die jüngste „Sensation“ dieser Art, die ich ermitteln konnte, findet sich wiederum in einer Einzelzeitung, die in Straßburg 1763 erschien.55 Sie berichtet von einer Hun­gersnot in Alexandria in Spanien (!?), die ihr plötzliches Ende durch einen wunder­baren Kornregen gefun­ den haben soll. „Gott hat unser Elend in Gnaden ange­sehen …, er wolle auch alle nothleidende Menschen-Kinder in der ganzen Christen­heit vat­ terlich erhalten, wie er vor Zeiten an unsern Vattern hat gethan in der Wusten und an vielen andern Orten mehr. Der alte Gott lebt noch …“. Damit hat sich der Kreis wieder geschlossen: Nach diesem Zeugnis des 18. Jahrhunderts stellen sich alle Fälle von wunderbarem Kornregen als Wiederholung des biblischen Manna-Wunders dar, als gottgewollte Durch­ brechung der Naturgesetze. Diese Deutung, die den Konsumenten solcher Sensationsnachrichten im 18. Jahr­hundert noch zufriedengestellt haben mag, genügte einem weni­ ger wundergläubigen, aufgeklärten Zeitalter natürlich nicht mehr. Während es früher der Wunderglaube war, der die Chronisten und Sammler zum Aufbewahren oder Kopieren dieser Drucke veranlaßte, so war es jetzt das naturwissenschaftliche Interesse, das die Gelehrten dem Gegenstand ent­ gegenbrachten. Der Straßburger Naturgeschichtler Jean Hermann (1738– 1800) beispielsweise besaß in seiner Flugblattkollektion56 u.a. einen Origi­ naldruck vom Kärntner Kornregen von 1550. Hermann deutete das Korn als die Eierstöcke einer Insektenart (Ephemera). Jedenfalls verwies er den 53 Buchner, Eberhard: Das Neueste von gestern. Kulturgeschichtlich interessante Doku­mente aus alten deutschen Zeitungen. Bd. 1. München 1911, S. 274, Nr. 565. 54 Ebd., S. 276, Nr. 571. 55 Wahre || und aus den besten Nachrichten gezogene || Beschreibung... . Straßburg 1763. UB Basel J. w. VIII. 27, Nr. 27 a. 56 Wickersheimer, Ernest: Catalogue des „Folia naturales res spectantia, a Johannes Her­mann collecta”. In: Revue des Bibliothèques 35 (1925), S. 237–260; 425–452.

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Flugblattbericht nicht in die Sphäre reiner Phantasie, sondern gestand ihm einen wahren Kern zu. Durch die Häufigkeit der Meldungen und die z.T. erhebliche Freude an der detailreichen Darstellung ist eine gewisse Glaub­ würdigkeit tatsächlich nicht von der Hand zu weisen. Eine naturwissenschaftlich einleuchtende Erklärung des Phänomens Kornregen ist indes nicht nur für das Mannawunder in der Bibel, son­ dern auch für die Erschei­nungen in Mitteleuropa durchaus möglich. Das biblische Manna wird heute als das Exsudat der Mannaschildlaus erklärt oder auf die sog. Mannaflechte (Lecanora esculenta) zurückgeführt. So wie schon die biblischen Erzählungen vom Mannafall wahrscheinlich epische Ausgestaltungen tatsächlicher Naturereignisse darstellen, so ist auch bei uns an reale Naturvorgänge zu denken. In den süd- und kleinasiatischen Steppen ist die erwähnte Mannaflechte heimisch, eine Wanderflechte, die in grünlich­grauen, krustigen Lagern weite Landstriche bedeckt und die in trockenem Zustand durch den Wind in große Höhen und über weite Strec­ ken mitgeschleppt werden kann.57 In diesem Phänomen könnte auch der Kornregen nördlich der Alpen seine Erklärung finden. Bezeichnend ist es, daß die Flugblatt- und Zeitungsliteratur des 16./17. Jahrhunderts noch an keiner Stelle solchen naturwissenschaftlichen Erwä­gungen Raum gibt und das Phänomen Kornregen ausschließlich unter dem Aspekt des Wunders verbucht. Zur Verbreitung solcher Wunderberichte entstand im Rah­men der populären Flugblattliteratur der frühen Neuzeit beginnend mit den Flug­blättern Sebastian Brants die „illustrierte Wunderzeitung“, eine Gat­ tung der frühen Trivialliteratur, die anhand dieses auf knappstem Raum dargestellten Beispiels in den Blickpunkt volkskundlicher Forschung ge­ rückt werden sollte. Es wird noch zahl­reicher Studien dieser Art bedürfen, um ein wirklichkeitsgetreues Bild früherer Glaubensvorstellungen anhand der populären Lesestoffe zeichnen zu können.

57 Brockhaus Enzyklopädie. 17. Aufl. Bd. 12, S. 95 s. v. „Mannaflechte“.

Der Vogelherd Flugblätter als Quellen zur Ikonographie der Jagd* Die europäische Flugblattliteratur stellt einen bisher von der Volkskun­ de noch kaum systematisch ausgewerteten Quellenbereich dar. Er hält für zahlreiche Forschungsgebiete wertvolles und aufschlußreiches Material bereit. Die Errichtung eines zentralen Flugblattarchivs und die Heraus­ gabe von Katalogen und Registern sind ein dringendes Desiderat der in­ terdisziplinären Forschung. Solange ein solches Unternehmen noch nicht existiert,1 müssen wir uns damit begnügen, an Einzelbeispielen und Detail­ studien immer aufs neue die Aussagekraft des Flugblattes als Quelle der Volkskunde zu erhärten, um auf diese Weise die Relevanz und die Not­ wendigkeit systematischer Erschließung dieses Forschungsobjektes zu ver­ anschaulichen. Dies soll auch im vorliegenden Beitrag geschehen, der dem Thema der „Ikonographie der Jagd“ gewidmet ist. Unser Ausgangspunkt ist ein illustriertes Flugblatt aus dem Jahre 1532 (Abb. 1). In öffentlichen Sammlungen sind vier Exemplare des Druckes erhalten geblieben,2 die nur typographisch und in den verwendeten Zier­ leisten geringfügig voneinander abweichen. Es handelt sich demnach um verschiedene Auflagen eines Druckes, woraus geschlossen werden kann,

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Erstveröffentlichung in: Rheinisch-westfälische Zeitschrift für Volkskunde 24 (1978), S. 14–29. In letzter Zeit ist im Zusammenhang mit der Erforschung der populären Lesestoffe und Druckgraphik auch ein verstärktes Interesse am Flugblatt zu registrieren. Mehrere Editio­ nen (u.a. durch Wolfgang Harms und Roger Paas) sind in Vorbereitung; die Herzog-AugustBibliothek in Wolfenbüttel veranstaltet parallel zu der in Gang befindlichen Katalogisierung ihrer Flugblattbestände regelmäßige Colloquien über Flugblattprobleme usw. A: Germanisches Nationalmuseum Nürnberg, Kaps. 1314, H.B. 501, danach unsere Abb. 1; abgedruckt bei Coupe, William Arthur: The German Illustrated Broadsheet in the seven­ teenth Century. Bd. 2. Baden-Baden 1967 (= Bibliotheca Bibliographica Aureliana, 20), Abb. 82 (Kat.-Nr. 295). B: British Museum London 1750b 29/24. C: Stadtbibliothek Ulm, Einblattdrucke III 47 3116; Staatsbibl. Berlin Preußischer Kul­ turbesitz Ya 6460; dieses Expl. beschrieben von Drugulin, Wilhelm Eduard: Historischer Bilderatlas. Bd. 2. Leipzig 1867, S. 170, Nr. 1904. D: Stadt- und UB Frankfurt a.M., Slg. G. Freytag, Nachtrag 2°, Nr. 277.

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Abb. 1: Sächsischer Vogelfang. Flugblatt, Kupferstich und Typendruck, 1632 (Germanisches Nationalmuseum Nürnberg).

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daß das Blatt in einigen tausend Exemplaren im Umlauf und relativ be­ kannt war. Es führt uns mitten in die Zeit des Dreißigjährigen Krieges, die in der Geschichte der Flugblattpublizistik überhaupt einen absoluten Höhepunkt darstellt.3 Unzählige Drucke überschwemmten in dieser Zeit den gesam­ ten mitteleuropäischen Raum und zeugen noch heute von dem erbitterten Ringen der Parteien und Konfessionen miteinander. Zum erstenmal in der Geschichte wurde ein Krieg nicht nur auf dem Schlachtfeld, sondern auch in einem nahezu unübersehbaren Propagandaschrifttum mit der Waffe des Wortes und des Bildes ausgefochten. Das illustrierte Flugblatt avancierte dabei zum schlagkräftigsten und wirkungsvollsten Propagandainstrument. Das bedeutet, daß sich seine Funktion keineswegs in der Vermittlung von Informationen erschöpft, sondern es dient beinahe durchgehend der Ver­ unglimpfung, Verspottung, Verhöhnung und Verächtlichmachung des po­ litischen Gegners. Es wendet sich in der Regel an gebildete Rezipienten­ schichten, d.h. lesefähige und kaufkräftige Abnehmer, und daher ist die Entschlüsselung der in den Bildern und Texten enthaltenden Aussagen für den heutigen Leser nicht immer ganz einfach. Sehen wir uns daraufhin den Flugblattdruck aus dem Jahre 1632 an. Auch hier ist ohne weiteres deutlich, daß wir zunächst den politischen Hin­ tergrund kennen müssen, um seine Aussage und seine beabsichtigte Wir­ kung aus den verwendeten Chiffren dekodieren zu können. Wir befinden uns mit diesem Blatt im „Schwedischen Krieg“ (1630–1635), der mit der Landung des Schwedenkönigs Gustav Adolf II. in Pommern begann. Der militärische Gegenspieler der Schweden war der kaiserliche Feldherr Til­ ly‚ der mit der Streitmacht der katholischen Liga 1631 das protestantische Magdeburg eingenommen hatte. Kurze Zeit später wurde Tilly von Gustav Adolf bei Breitenfeld in der Nähe von Leipzig besiegt und mußte sich nach Süden zurückziehen. Genau auf diese für das Reich ungünstige und für die Sache des Protestantismus hoffnungsvolle Situation zielt das vorliegende Spottblatt auf Tilly und die Liga. Es rührt also aus dem protestantischen Lager her, wie u.a. aus den beiden Schlußzeilen des Textes eindeutig sicht­ bar wird. Wie meist in der Flugblattliteratur wird die dargestellte Situation in Illustration und Text in eine Metapher gekleidet, hier in das Bild vom Vogelfang, das dem Blatt auch seinen Titel gegeben hat. Der Kurfürst Jo­ hann Georg von Sachsen sitzt hinter einem Spalier von Lanzen verborgen und betätigt ein Schlagnetz, in dem eine große Menge von Vögeln gefangen sind. Rund um das Netz bis hinaus auf das „breite Feld“ sind schwedische

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Bohatcová, Mirjam: Irrgarten der Schicksale. Einblattdrucke vom Anfang des Dreißigjähri­ gen Krieges. Praha 1966.

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Krieger mit der Verfolgung und Tötung weiterer Vogelscharen beschäftigt. An der Treibjagd beteiligt sich im Vordergrund rechts hoch zu Roß mit sichtlichem Vergnügen auch der Schwedenkönig selbst, während der Geg­ ner Tilly (kenntlich am hinzugefügten Buchstaben T) nur mit Mühe der Verfolgung entgehen kann. Rund um das Vogelnetz sind Trommeln aufge­ stellt, darauf werden auf silbernen Schalen allerlei Speisen bereitgehalten, eine Anspielung auf das Flugblatt vom Sächsischen Confect4 vom Jahre 1631 (vermutlich aus der gleichen Offizin wie unsere Abb. 1), das einen großen propagandistischen Erfolg zu verzeichnen hatte und deshalb auch im Text des vorliegenden Flugblattes (Z. 25, 34, 38) mehrfach erwähnt wird. Das Confect übernimmt hier die Funktion der Lockvögel, über die weiter unten noch zu sprechen sein wird. Im Mittelpunkt der Kupferstichillustration befindet sich jene Vogelfal­ le, mit deren Geschichte, Verbreitung und Wirkungsweise wir uns anhand einiger ikonographischer Dokumente beschäftigen wollen. Unser Blatt selbst hält zu dem ikonographischen Leitthema kaum irgendwelche zu­ sätzlichen Informationen bereit. Der oder die Publikatoren setzen bei dem Leser die Bekanntschaft mit diesem Fanggerät als selbstverständlich vor­ aus, wir erfahren nur eben beiläufig die Bezeichnungen „Herd“ (Z. 28) und „Vogelgarn“ (Z. 36), im übrigen wird das ikonographische Zentralmotiv in stark entfremdeter Form nur dazu benutzt, die Niederlage der Ligisten karikierend in ein seinerzeit leicht eingängiges Bild zu fassen. Bezeichnenderweise ist das Thema vom Vogelfang in der politischen Karikatur des 17. Jahrhunderts nicht nur in diesem einen Druck aufge­ griffen worden.5 Volkskundlich gesehen ist die Flugblattliteratur ja gerade dadurch so interessant, daß wir auch hier häufig mit „Traditionen“ kon­ frontiert werden, d.h. bestimmte Erfolgsmuster sind in dieser Art von Ge­ brauchsliteratur fest geworden und lassen sich oft über Jahrzehnte hinweg im illustrierten Flugblatt verfolgen. Das gilt für bestimmte Themenkomple­ xe, z.B. auf dem Gebiet der Prodigien, Sensations- und Wunderberichte6 ebenso wie für Strukturen und patterns im Bereich der Visualisierung. Das Thema der Jagd erwies sich dabei als eine solche unerschöpfliche Fund­ grube für die politische Bildpropaganda. Innerhalb dieses umfassenderen Themas, zu dem bereits Sebastian Brant mit seiner berühmten Fuchshatz7 4 5 6 7

Coupe: German Illustrated Broadsheet (wie Anm. 2), Abb. 120 (Nr. 292). Vgl. Coupe 2, Abb. 121–123 (Nr. 267, 192, 135). Vgl. Brednich, Rolf Wilhelm: Die Überlieferungen vom Kornregen. In: Dona Ethnologica. Leopold Kretzenbacher zum 60. Geburtstag. München 1973, S. 248–260, 2 Abb. S. 390– 391. Heitz, Paul und Schultz, Franz: Flugblätter des Sebastian Brant. Straßburg 1915 (= Jahres­ gaben der Gesellschaft für elsässische Literatur, 3), Nr. 18: Auf dem Holzschnitt rechts eine Fuchsfalle.

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von 1497 einen wichtigen Beitrag geleistet hatte, finden wir auch das spezi­ elle Motiv vom Vogelfang mittels Schlagfalle wieder. Unsere Abb. 2 zeigt ein weiteres kupferstichillustriertes Flugblatt aus dem Dreißigjährigen Krieg, einen Druck8 aus dem Jahre 1623, von dem wir zwei erhaltene Exemplare kennen.9 Der Illustration sind exakt beobachtete Details über die Funktions­ weise eines Schlagnetzes zum Vogelfang zu entnehmen. Auf einer Land­ zunge an der Mündung eines Flusses in einen See haben sich zwei Jesuiten hinter einem ausgehöhlten, wahrscheinlich künstlichen Busch verborgen. Der rechte bläst auf einer Pfeife, während der zweite die Fäden in der Hand hält, die zu einem zweiteiligen Vogelherd hinführen. Fünf Vögel sind schon über den ausgelegten Ködern zwischen den Netzen, viele wei­ tere sind im Anflug aus den nahegelegenen Bäumen, angelockt durch das Geschrei der beiden Lockvögel, die oberhalb und unterhalb des Netzes auf ihren Käfigen sitzen. Auf diese Szene haben die beiden Beischriften Bezug: „fistula dulce canit volucrem dum decipit auceps“ (die süße Flöte pfeift dem Vogel, während der Vogelfänger ihn hintergeht) und „Sein sie balt darin“. Wie diese Szene, so korrespondieren auch die übrigen Moti­ ve der Darstellung mit dem von L. Primnicius verfaßten Text und finden in ihm ihre Erklärung. Das Blatt richtet seine Angriffe gegen die Jesuiten und den „Römisch Antichrist“, der rechts oben thront und wie von dem gezähmten Papagei auf seiner Hand auch von allen Gläubigen blinden Gehorsam (Caeca oboedientia) fordert. Die Hoffnungen der Protestanten nach der kurz vorangegangenen bitteren Niederlage in Böhmen ruhen auf Gott, dessen Auge links oben im traditionellen „Wolkenkranz“ sichtbar ist. Über die vier Puttenköpfe, die die vier Windrichtungen symbolisieren, ergibt sich eine Rückkopplung zur Vogelfangszene und gleichzeitig zur In­ tention des Blattes, wenn es im zugehörigen Text (Z. 177–180, Spalte 3 unten) heißt: Doch ists nichts news / das manch mal / Der Himmel vorkompt dem vnfall / Vnd leßt sein windt vnd wetter lauffen / Reißt Garn vnd Voͤgler vbern hauffen.

Wir übergehen die übrigen bildlichen Details und den weitausholenden Text dieses Flugblattes und verweilen lediglich bei dem in unserem Zu­ 8 9

Zuerst beschrieben von Drugulin: Historischer Bilderatlas (wie Anm. 2), 2, Nr. 1602 und von Emil Weller in Serapeum 29 (1868), S. 255, Nr. 170. Coupe: German Illustrated Broad­ sheet (wie Anm. 2) 2, Nr. 108, Abb. 81. A: British Museum London. B: Herzog-Anton-Ulrich-Museum Braunschweig (D. 1602), danach unsere Abb. 2.

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Abb. 2: Der Römische Vogelherdt. Flugblatt, Kupferstich und Typendruck, 1623 (Herzog-Anton-Ulrich-Museum Braunschweig).

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sammenhang interessierenden Motiv vom Vogelfang. Die ikonographische Gleichsetzung von Jesuiten und Vogelfängern ist nicht gerade schmeichel­ haft für die durch dieses Flugblatt Angegriffenen. Dazu muß man wissen, daß die Vogelstellerei nicht zu den waidmännischen Jagdarten gerechnet wurde. Die Kniffe und Schliche, die nötig waren, die Opfer in den Hin­ terhalt zu locken und schließlich zu fangen, galten als wenig rühmlich. Für einen Adligen oder Patrizier wäre die Ausübung einer solchen Fallenstel­ lerei durchaus ehrenrührig gewesen. Wenn nun die Publikatoren unseres Blattes die Jesuiten im Verein mit dem Papst in der Rolle der Vogelsteller auftreten lassen, so zeugt dies vom Grad der Verachtung, den man dem Gegner im Glaubenskampf entgegenbrachte. W. A. Coupe hat mit Recht darauf hinweisen können, daß das Motiv des Vogelstellers mit dem Klapp­ netz in der Graphik von Anfang an mit negativen Konnotationen besetzt ist.10 Coupe hat mehrere ikonographische und literarische Beispiele für die Verwendung dieses Motives angeführt. Wir greifen davon eines heraus, da es uns genug Aufschluß über den Stellenwert des Vogelfanges mit dem Schlagnetz geben kann. Wir wissen von Hans Sachs, daß er 1534 einen aus 66 Versen beste­ henden Schwank mit dem Titel Der pueler fogelhert geschrieben hat.11 Der Text ist nicht erhalten geblieben. Er war vermutlich wie viele andere Ge­ dichte von Hans Sachs als Flugblatt im Umlauf. Der Inhalt läßt sich in Umrissen durch zwei Holzschnitte erschließen, die beide als Illustrationen zu dem Flugblatt in Frage kommen könnten.12 Es handelt sich einmal um einen Holzschnitt von Erhard Schön13 (Abb. 3) und zum anderen um einen Schnitt von Niklas Stör14.

10 Coupe (wie Anm. 2). Bd. 1, S. 153f. 11 Götze, Edmund (Hg.): Sämtliche Fabeln und Schwänke von Hans Sachs. Bd.  1. Halle a. d. S. 1893, S. 125, Nr. 38. 12 Röttinger, Heinrich: Die Bilderbogen des Hans Sachs. Straßburg 1927 (= Studien zur deut­ schen Kunstgeschichte, 247), S. 65, Nr. 652. 13 Becker, Rudolf Zacharias: Hans Sachs im Gewande seiner Zeit. Gotha 1821, Tafel XXV (dort fälschlicherweise kombiniert mit dem Gedicht „Die Ewlen Bays“, Götze: Sämtliche Fabeln und Schwanke von Hans Sachs [wie Anm. 11], S. 82–84, Nr. 25, ein Mißverständnis, das in der Sachs-Forschung noch lange eine Rolle spielen wird). Weitere Wiedergaben dieses Stiches s. bei Diederichs, Eugen und Kienzle, Hermann: Deutsches Leben der Vergangen­ heit in Bildern. Bd. 1. Jena 1907, S. 200, Abb. 677; Lichtenberg, Reinhold Frh. von: Über den Humor bei den deutschen Kupferstechern und Holzschnittkünstlern des 16. Jahrhun­ derts. Straßburg 1897 (= Studien z. dt. Kunstgeschichte, 11), Tafel IX; Hirth, Georg (Hg.): Kulturgeschichtliches Bilderbuch aus drei Jahrhunderten. Bd. 1. München o. J., S. 212, Abb. 327. Vgl. ferner Röttinger, Heinrich und Schön, Erhard und Stör, Niklas: Straßburg 1925 (= Studien zur dt. Kunstgeschichte, 229), S. 145, Nr. 190. 14 Röttinger u.a.: Straßburg 1925 (wie Anm. 13), Abb. 15 und Geisberg, Max: Der deutsche Einblatt-Holzschnitt in der 1. Hälfte des XVI. Jahrhunderts. München 1923ff., Nr. 1357.

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Abb. 3: Gimpelfang. Holzschnitt von Erhard Schön zu einem verlorenen Gedicht von Hans Sachs, 1534 (Diederichs­Kienzle, s. Anm. 13, Bd. 1, S. 200, Abb. 677).

In beiden Fällen ist die Zentralidee die, daß junge Frauen als Vogelstellerinnen oder Lockvögel Männer in eine Schlagfalle locken. Daß Hans Sachs ein solches Thema aufgriff, kommt nicht ganz von ungefähr. 1521 war die Nürnberger „Fastnachtshell“ beim Schembartlaufen „ein Vogelhert, darauff die jungen Weiber Narren fingen“.15 Das Thema war demnach in Nürnberg bekannt, und es ist nicht auszuschließen, daß es dem Dichter über eine solche Darstellung im Fastnachtsbrauch zugeflossen ist. In un­ seren Bildbeispielen verbergen sich links zwei Frauen hinter einem künst­ lichen Versteck, das stark an die Laubhütte in Abb. 2 erinnert. Es sind offensichtlich Dienstmägde, kenntlich an der fehlenden Kopfbedeckung und an den weit ausgeschnittenen Kleidern. Ganz links stehen die Auf­ traggeberinnen, reich gezierte Damen. Die Männer, die angelockt werden sollen, stehen rechts in einer Gruppe beisammen, zum Teil tragen sie Nar­ renkappen. Drei von ihnen sind bereits den Verlockungen verfallen: einer fliegt auf das Schlagnetz zu, ein anderer ist in die Falle gegangen, ein dritter liegt bereits den Mägden gefesselt zu Füßen. Die Fangvorrichtung besteht in diesem Falle nicht nur aus dem Schlagnetz, sondern die Magd im Vordergrund des Holzschnittes bedient sich zusätzlich noch einer langen Gabel, das ist der sog. Kloben, wie er allgemein zum Vogelfang verwendet wurde. Mit diesem gespaltenen Stock klemmt sie den ins Netz gegangenen Mann gleich einem gefangenen Vogel 15

Bolte, Johannes (Hg.): Georg Wickrams Werke. Bd. 5. Tübingen 1903 (BLV‚ 232), S. LXII f. (Erläuterungen zu Wickrams Fastnachtspiel „Das Narrengießen“ von 1537).

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ein. Das Schlagnetz liegt funktionslos auf dem Boden, die daran befestig­ ten Fäden führen nicht in das Versteck. Hier klafft also offensichtlich eine gewisse Lücke zwischen dem abgebildeten Objektbereich aus der Welt der Jagd und der metaphorischen Verwendung im Kunstwerk. Dies gilt weni­ ger für den zweiten Holzschnitt von Niklas Stör, der möglicherweise an­ stelle unserer Abb. 3 mit dem verlorenen Sachsschen Gedicht kombiniert war. Er läßt das Prinzip der Schlagfalle auf jeden Fall sehr viel deutlicher erkennen als das Werk seines Zeitgenossen E. Schön. Das Netz ist in einer Lichtung im Wald aufgebaut, die Zugseile führen ebenfalls in ein künst­ liches Versteck, in die uns schon bekannte Vogelhütte, und werden von einer älteren Frau – der Kupplerin – und dem Teufel gehalten. An drei Ecken des Netzes knien Lockvögel, d.h. in diesem Fall Dirnen. Die Falle ist bereits zugeschlagen und bedeckt sieben am Boden liegende Männer, fünf weitere verschiedenen Alters und Standes fliegen gleich Vögeln auf die Lichtung zu. Wahrscheinlich ist der verlorene Bilderbogen des Hans Sachs in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts nochmals erneuert worden. Wieder kennen wir leider nur die zugehörige Illustration. Sie stammt von dem Mo­ nogrammisten MW (Nagler IV, 2256, 17) und erscheint zu den beiden Vor­ gängern von Schön bzw. Stör seitenverkehrt.16 Das künstliche Laubhütten­ versteck ist identisch, im übrigen ist die Darstellung auf wenige Figuren zusammengerafft und scheint heute ohne den verlorenen Begleittext kaum noch verständlich. Dieser Eindruck täuscht aber, denn spätestens mit diesem Zeugnis ist aus dem Motiv vom Männerfang im Klappnetz ein verfügbares Bildmotiv geworden, das sich bald auch von seiner Bindung an die Publikationsform des Bilderbogens befreite und in andere Bereiche der Bildüberlieferung übergehen konnte. Zwei Belege sind anzuführen, die dafür sprechen, daß der „Buhler Vogelherd“ eine zeitlang zu den bekannten Formeln der west­ europäischen Bildtradition gehörte. Wenn man allerdings hier wie in vielen anderen Fällen zögern muß, den Bekanntheitsgrad solcher Bildmotive mit dem Etikett „populär“ zu verbinden, so deshalb, weil sich die Weitergabe und Rezeption des Motives in einer Gesellschaftsschicht vollzog, der nur eine kleine Minderheit der Bevölkerung angehörte. Die hier zu erwähnen­ den Zeugnisse gehören in patrizische und Adelskreise. Das erste Zeugnis für die Rezeption des erwähnten Motives außerhalb der vervielfältigenden Kunst befindet sich in einer Art Stammbuch, im sog. Liber amicorum des flä­ mischen Adligen Gilles de Beaufort (1576–1580), der während seiner Stu­

16 Abdruck nach einem in Dresden erhaltenen Exemplar bei Diederichs und Kienzle: Deut­ sches Leben der Vergangenheit (wie Anm. 13). Bd. 1, S. 201, Abb. 681.

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dienzeit am Kolleg von Marchiennes Widmungen von anderen Angehöri­ gen bekannter flämischer Familien sammelte.17 Auf Fol. 34 findet sich eine reizvolle Miniatur mit unserer Szene vom Männerfang: in der Vogelhütte rechts sitzen zwei modisch gekleidete Damen und ziehen das Schlagnetz über einem Mann zusammen, der soeben von einem Baum auf den Vo­ gelherd herabfällt. In den Bäumen befinden sich noch zwei weitere Buhler, von denen einer auf einer Laute spielt. In den beiden Käfigen im Vorder­ grund sind anstelle von Lockvögeln die Köpfe zweier junger Damen sicht­ bar. Der Herausgeber des Stammbuches hat verständlicherweise mit dieser Zeichnung nicht viel anfangen können, da ihm die graphischen Vorbilder unbekannt geblieben sind. Auch wir können nicht die unmittelbare und wahrscheinlich verlorene graphische Vorlage für diese Miniatur anführen, aber als gewisser Ersatz hierfür kann ein Model gelten, das in die gleiche Zeit verweist. Es ist als Positiv-Tonabdruck im Historischen Museum zu Frankfurt a.M. erhalten und von M. Wagner veröffentlicht worden.18 Auch hier bietet das über zwei Freiern zusammengezogene Vogelnetz den Mit­ telpunkt der Szene, hinter dem Netz erhebt sich ein Baum, auf dem drei weitere Opfer sichtbar sind, eines davon ist wie im zuvor angeführten Bild­ beleg ein Lautenspieler. Über die Funktion des mit dem Model gefertigten Gebäcks als Liebesgabe sagt der auf einem gotischen Schriftband lesbare Text alles Notwendige aus: sol ich nicht lachen das ich kan machen narren one zal so vil ich ir haben will ich lock und pfeif bis ich die vögel ergreif.

Mit diesen Belegen aus dem späten 16. Jahrhundert ist die Belegkette für diese Sonderform des Vogelfangmotives allerdings noch keineswegs ab­ geschlossen. Noch im 18. Jahrhundert finden wir in der Augsburger Po­ pulärgraphik ein weiteres reizendes Beispiel für die Verwendung des Bil­ des vom Vogelfang als Allegorie auf die Verlockungen der Geschlechter. Im Bilderverlag von Johann Christoph Hafner erschienen um 1710/20 zwei Kupferstiche im Format von je 29,7×18,6 cm, die zusammen ein sog. „Pendant“ bilden. Sie zeigen einmal eine „Buben Fängerin“, d.h. eine flötenspielende Vogelstellerin in der Laubhütte, die in der Schlagfalle alte 17 Pecquer-Grat, M.: Le „Liber Amicorum“ de Gilles de Beaufort (1576–1580). In: Mélanges dédiés à la mémoire de Félix Grat. Vol. II. Paris 1949, S. 389–403, planche XVI. 18 Wagner, Margarete: Aus alten Backstuben und Offizinen. Eßlingen 1961, S. 40, Abb. 29b (Model 10 cm Ø, um 1600).

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und junge Freier anlockt und gefangennimmt. Das zugehörige Gegenstück stellt den „Mägdlen Fanger“ dar, der vom gleichen Versteck aus vermittels Lautenspiels verschiedene vom Himmel herabschwebende Damen in seine Netze zieht.19 In dieser mit Hans Sachs einsetzenden Belegfolge aus dem 16. bis 18. Jahrhundert wird eine Überlieferungskette innerhalb der Graphik sichtbar. Neben dem Text von Hans Sachs mögen sicher weitere Glieder in dieser Kette verlorengegangen sein, aber es ist aufgrund der auffälligen Über­ einstimmung in manchen Details ganz unübersehbar, daß die erhaltenen Zeugnisse in ein gewisses Kontinuum hineinzustellen sind und die ein­ zelnen Realisationen nicht ohne die Kenntnis der betreffenden Vorstufen entstanden sein können. Ergänzend zu den Bildzeugnissen wären noch literarische Belege anzuführen, die das Weiterleben der Vorstellung von der Liebe als Vogelfängerei dokumentieren können. Das folgende Gedicht von Moritz August Thümmel (1738–1817) wirkt fast wie eine Kommentierung der erwähnten Bilderbogen:   Der Vogelsteller Die Liebe und der Vogelfang 1. Sind ziemlich einerlei, Es lockt der männliche Gesang, Er lockt – er lockt Vögel und Mädchen herbei. 2. Sie achten ihre Schwäche nicht, Denn ihre Herzen sind In jugendlicher Zuversicht Betäubt – betäubt Liebevoll, fröhlich und blind. Zwar bei dem ersten Ausflug ist 3. Das Vögelchen verzagt, Hält jeden Laut für Hinterlist Wohin, wohin Es seine Flügelchen wagt. Doch hüpft es bei dem zweiten Flug 4. Mit jubelndem Geschwätz Von Baum zu Baum und dünkt sich klug Und hüpft und hüpft Dem Vogelsteller ins Netz.20

19 Brückner, Wolfgang: Populäre Druckgraphik Europas. Deutschland vom 15. bis zum 20. Jahrhundert. München 1969, Abb. 110 und 111. 20 Müller-Melchior, Max: Galante Musenkinder. Sammlung verschollener und wenig bekann­ ter deutscher Liebes- und Scherzgedichte aus früheren Jahrhunderten. Leipzig 1906, S. 125.

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Verfolgten wir das ikonographische Motiv vom Vogelfang bisher aus­ schließlich in seiner allegorischen Verwendung in der politischen Propa­ ganda bzw. in der Ständesatire, so gilt es nun, den Bildzeugnissen zum Vogelfang selbst unsere Aufmerksamkeit zuzuwenden. Wenn auch die Vo­ gelstellerei wie erwähnt kein standesgemäßes waidmännisches Vergnügen darstellte, sondern beim ländlichen Bürgertum und besonders beim Bau­ ernstand zu Hause war, so lassen sich doch eine ganze Fülle von bildlichen Dokumenten beibringen, welche die Bedeutung dieser Jagdtechnik mit al­ ler Deutlichkeit unter Beweis stellen. In der jagdkundlichen Literatur liegt bisher noch keine spezielle Mo­ nographie über den Vogelherd vor, so daß wir die Frage nach dem Alter dieser Fangeinrichtung offen lassen müssen. Möglicherweise hat bereits die Antike die Schlagfalle für Vögel gekannt und verwendet. Harry Frank, der Verfasser einer zusammenfassenden Arbeit über die jagdlichen Fallen, hält das Netz für eine Erfindung des Steinzeitmenschen.21 Der bekannte Jagdhi­ storiker Kurt Lindner nimmt an, daß der Vogelherd zweifellos keine ger­ manische Erfindung gewesen sei, sondern durch römische Vermittlung aus dem Jagdwesen der Antike übernommen wurde.22 Aus den germanischen Volksrechten läßt sich der Schluß ableiten, daß der Vogelfang mit dem Vogelherd vor allem bei einigen westgermanischen Stämmen gebräuchlich war und von dort aus in das germanische Jagdwesen Eingang gefunden hat.23 Die Kontinuitätsfrage interessiert in unserem Zusammenhang genau so wenig wie das in der jagdkundlichen Literatur verschiedentlich erörterte Forschungsproblem, ob der Vogelherd eine „Falle“ oder eine „fallenähn­ liche Fangmethode“ darstelle.24 Für uns gilt es hier lediglich festzuhalten, daß es sich um eine Fangeinrichtung handelt, die nach dem Torsionsprin­ zip arbeitet. Lindner erblickt in diesem Instrument „eines der wichtigsten Elemente der europäischen Jagdtechnik“25 und führt anhand einer Reihe ikonographischer Belege aus dem 14. bis 17. Jahrhundert die Wirkungs­ weise dieses Fallentyps anschaulich vor Augen. Die Zeugnisse aus dem Bereich der Handschriftenminiatur, der frühen Holzschnittkunst und der Jagdliteratur des Barock verdeutlichen den hohen Bekanntheitsgrad die­ ser Vorrichtung zur Vogeljagd, so daß von daher gesehen ein Eindringen des Motivs in die Flugblattliteratur als ganz naheliegend bezeichnet werden muß. 21 Frank, Harry: Das Fallenbuch. Entwicklung, Verbreitung und Gebrauch jagdlicher Fallen. 4. Aufl. Hamburg, Berlin 1966, S. 10. 22 Lindner, Kurt: Die Jagd im frühen Mittelalter. Berlin 1940 (= Geschichte des Weidwerks, 2), S. 331. 23 Ebd., S. 382. 24 Vgl. z.B. ebd., S. 297. 25 Ebd., S. 312–313.

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Die von Lindner herangezogenen Abbildungen26 führen eine fallen­ ähnliche Fangeinrichtung für Vögel vor Augen, die ohne die Anwesen­ heit und Einwirkung eines Menschen nicht funktionierte. Die Aufgabe des Vogelfängers bestand zunächst darin, durch verschiedene Kniffe jagdbare Vögel anzulocken. Waren die Tiere auf der Suche nach Futter zwischen die beiden aufgerichteten Schlagnetze geraten, so betätigte der Vogelfän­ ger aus seinem Versteck heraus die Zugleine, so daß die um einen festen Punkt schwenkbaren Netzteile über den Opfern zusammenschlugen. Es sind einige weitere Details zu nennen, die sich aus den fünf von Lindner beigebrachten Abbildungen erkennen lassen: in der Person der Vogelfän­ ger erblicken wir in der Regel bäuerlich gekleidete Menschen. Sie benutzen zumeist ein künstliches Versteck und verwenden domestizierte Lockvögel, z.B. die Eule.27 Im 17. Jahrhundert sind die Fallen sehr viel größer als im ausgehenden Mittelalter. Offenkundig sind auch die Schwierigkeiten, die viele Künstler mit der perspektivisch korrekten Darstellung der Fangein­ richtung hatten. Sehr viel mehr ist aus diesen ikonographischen Zeugnis­ sen nicht herauszulesen. Nähere Auskünfte über die Träger dieser Jagdart, Jagdzeiten, -ergebnisse usw. werden uns aus diesen Quellen nicht zuteil. Daher ist es lohnend, noch weitere Bildzeugnisse heranzuziehen und auf ihren Aussagewert zu befragen. Wir geben im folgenden eine Zusammenstellung zur Ikonographie des Vogelherdes in chronologischer Ordnung, ohne Anspruch auf Vollstän­ digkeit.28 1379: Handschrift Paris, Bibliothèque Nationale, Nr. 12 3999, fol. 89: origi­ nelle Draufsicht von oben auf einen aufgestellten Vogelherd mit 4 Käfigen in den Ecken.29 Der Vogelfänger in bäuerlicher Tracht sitzt am Bildrand unterhalb der Schrift und betätigt die beiden Zugseile, die an Holzpflöcken in der Erde festgemacht sind und über die aufgestellten Netzteile in seiner Hand zusammenlaufen. Neben dem Vogelherd in der Tacuinum-sanitatisHs. Cod. 4182 der Bibliotheca Casanatense von Rom aus dem letzten Vier­ tel des 14. Jahrhunderts30 eine der ältesten existierenden Bilddarstellungen zum Vogelherd.

26 Ebd., Tafel 61–63, nach S. 248 und 256. 27 Siehe z.B. Blöte-Obbes, M. C.: De Uil als Lokvogel, In: Neerlands Volksleven 11 (1972), Nr. 1, S. 66–71, 5 Abb. 28 Herrn Prof. Gösta Berg (Stockholm) darf ich an dieser Stelle für viele wertvolle Hinweise herzlich danken. 29 Tilander, Gunnar (Hg.): Les livres du Roy Modus et de la Royne Ratio. Bd. 1. Paris 1932 (= Société des anciens textes français, 74,1), Faksimile-Anhang fol. 89. 30 Lindner: Die Jagd im frühen Mittelalter (wie Anm. 22), Taf. 62.

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14. Jahrhundert: Oxford, Bodl. MS. 264, stark schematisierte und per­ spektivisch verzerrte Darstellung eines Vogelherdes mit einem gefesselten Lockvogel.31 1428–1445 (?): Miniatur im Stundenbuch der Katharina von Kleve, New York, Pierpont Morgan Library:32 Der nackte Jesusknabe mit einem Apfel (oder der Weltkugel) in der Hand sitzt zwischen den beiden Netzen der Schlagfalle. Vor ihm sitzt ein angebundener Lockvogel, um das Netz stehen drei Käfige mit weiteren Lockvögeln. Die Schnur führt zu einem weiteren nackten Knaben (wohl Johannes), der in einem halbkreisförmigen niedrigen Flechtzaun sitzt. 1482: Holzschnitt aus dem Dialogus creaturarum, Gouda 1482. Stark sti­ lisierte Wiedergabe eines einteiligen Schlagnetzes, das über sechs unter der Falle befindlichen Tauben (?) zusammengezogen wird. Der Vogelfänger ist ohne Versteck dargestellt.33 1494: Holzschnitt aus einer deutschen Ausgabe von Petrus de Crescentiis, Opus ruralium, 1494: Kranichfang und Wildentenfang mit dem Schlagnetz. Auf der letzteren Darstellung sehr deutlich die künstliche Laubhütte, in der sich der Vogelfänger verborgen hält.34 1494: Holzschnitt zu Sebastian Brant‚ Narrenschiff, S.g.Ib [Nr. 39]: von offlichen anschlag.35 Der Holzschnitt zählt zu den Arbeiten des Hauptmei­ sters, unter dem sich nach neueren Forschungen Albrecht Dürer verbirgt. Die Illustration veranschaulicht den vorangestellten dreizeiligen Text, der folgendermaßen lautet: Wer öfflich schlecht syn meynung an Vnd spannt syn garn f7r yederman Vor dem man sich lycht huͤtten kan.

Der Holzschnitt zeigt ein Vogelnetz, bestehend aus einem einzigen, eng mit Garn bespannten Rahmen. Da es ungeschickt, d.h. „öffentlich“ ausge­ spannt ist, fliegen dem hinter einem Busch verborgenen Narren die Vögel davon. 31 Davis, Henry William Carless: Mediaeval England. Oxford 1924, Fig. 262 „netting birds“. 32 Die Miniaturen aus dem Stundenbuch der Katharina von Kleve. Mit einer Einleitung und Erläuterungen von John Plummer. Berlin 1966, Abb. 11; vgl. Bernet Kempers, A. J.: Rand­ versierungen van de Meester van Katharina von Kleef. In: Bijdragen en Mededelingen van het Rijksmuseum voor Volkskunde „Het Nederlands Openluchtmuseum“ 30 (1967), no. 2, S. 25–47, 25 Abb., 160 Zeichnungen; s. bes. S. 28 und 30 (vinkenbaantje). 33 Duchartre, Pierre-Louis und Saulnier, René: L’imagerie populaire. Paris 1925, S. 31. 34 Frank: Das Fallenbuch (wie Anm. 21), S. 39, Abb. 56–57. 35 Brant‚ Sebastian: Das Narrenschiff. Nach der Erstausgabe (Basel 1494) … Hg. von Lem­ mer, Manfred. 2. Aufl. Tübingen 1968 (= Neudrucke deutscher Literaturwerke, N.F. 5), S. 97.

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1501: Holzschnitt zu Sebastian Brant‚ Mythologia Aesopi. Basel, bei Ja­ kob (Wolff) von Pforzheim.36 Illustration eines unbekannten Basler Holz­ schnittkünstlers. Die Darstellung ist auf das Wesentliche reduziert: Zusam­ mengeschlagener Vogelherd mit einem Opfer darin, rechts ein Mann, der die Schnüre in der Hand hält und durch einen beigegebenen (randbeschla­ genen) Spaten deutlich als Bauer gekennzeichnet ist. Die zusammenge­ schlagene Falle ist so gezeichnet, als ob das Netz aus einem einzigen Stück bestünde, sie ist also nicht sehr realitätsgetreu. Mit dem Eintritt in das 16. Jahrhundert werden die ikonographischen Zeugnisse noch dichter;37 da sie allerdings typologisch kaum noch neue Aspekte eröffnen, können wir uns auf die Erwähnung einiger ausgewählter Belege beschränken. Wir legen dabei besonderen Wert auf Darstellungen des Vogelherdes im natürlichen Kontext, d.h. wir ziehen Illustrationen her­ an, aus denen noch mehr über Ort, Zeit und Verwendung des Vogelherdes zu erfahren ist als in den bisher besprochenen Bildbelegen. Ein besonders bekanntes Beispiel bietet das Gemälde Die Heimkehr der Herde von Pieter Bruegel d.Ä. aus dem Jahre 1565,38 das einen solchen Vogelherd auf einem flachen, spärlich bewaldeten Hügel über einem Flußufer zeigt. Weitere Zeugnisse führen in die vervielfältigende Graphik und veran­ schaulichen die bevorzugten Stellen für die Errichtung eines solchen Vo­ gelherdes: flache Hügel am Waldrand oder in Waldlichtungen. So erscheint der Vogelherd in der Holzschnittillustration zu dem Bilderbogen von Hans Sachs, Die eytel vergenklich Freudt vnd wollust diser welt, gedruckt 1534 bei dem sonst ganz unbekannten Drucker Christoph Zell,39 und zu einem Neu­ jahrswunsch40 des Nürnberger Spruchsprechers Wilhelm Weber (1602– 1661), wo der Vogelherd in die Nähe der Arche Noah gerückt wird. Ein besonders anschauliches Beispiel für den Vogelherd im landschaft­ lichen Kontext gibt uns ein holzschnittillustriertes Flugblatt aus dem Jahre 1589 (Abb. 4).

36 Wiedergabe bei Diederichs und Kienzle: Deutsches Leben der Vergangenheit (wie Anm. 13), S. 240, Abb. 816. 37 Vgl. Coupe: German Illustrated Broadsheet (wie Anm. 2), S. 154. 38 Wien, Kunsthistorisches Museum. 39 Benutztes Exemplar: Germanisches Nationalmuseum Nürnberg, Kaps. 1305, H.B. 19866. 40 Benutztes Exemplar: Staatsbibliothek Berlin Preuß. Kulturbesitz, Sign. m. Ya 7940.

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Abb. 4: Jemmerliche Zeitung 1589. Kolorierter Holzschnitt und Typendruck (Germanisches Nationalmuseum Nürnberg).

Es handelt sich um eine bei dem Nürnberger Formschneider Lucas May­ er gedruckte Einzelzeitung,41 die durch die Epitheta ornantia „Jemmerlich“ und „Schröcklich“ als zur Gattung der sog. „Neuen Zeitungen“42 der frühen Neuzeit gehörig erkennbar wird. Dargestellt ist die Missetat und Bestrafung von Frantz Seübolt aus Strahlfeld (westlich von Cham in der Oberpfalz), „leichtferdigen Kindern vnd auch andern vnbußwirdigen zu einem mercklichen Eixempel“, wie es im Prosa-Begleittext heißt. Dieser Mann war als Bierbrauer in Schulden geraten und hatte sich nach zwei vergeblichen Anläufen, seinen Vater mit Gift zu ermorden, hinter einem Strauch in der Nähe des Vogelherdes seines Vaters verborgen und gab aus 41 42

Benutztes Exemplar: Germanisches Nationalmuseum Nürnberg, Kaps. 1373, H.B. 25870. Roth, Paul: Die neuen Zeitungen in Deutschland im 15. und 16. Jahrhundert. Leipzig 1914 (= Preisschriften der Fürstl. Jablonowskischen Gesellschaft zu Leipzig, gesch.­ökonom. Sektion, 25), Neudruck Leipzig 1963.

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einer Büchse einen Schuß auf seinen Vater ab. Diese Szene ist oben links im Holzschnitt festgehalten. Das Opfer ist offensichtlich eben damit be­ schäftigt, die Käfige mit den Lockvögeln aufzustellen, sehr gut ist auch das künstliche Versteck des Vogelfängers zu sehen, in das die Schnüre hinein­ führen. Der Holzschneider hat sogar die Flugbahn des vom Sohn abge­ feuerten Geschosses eingezeichnet. Simultan mit dieser Szene bildet er im Vordergrund und oben rechts die grausame Ahndung des Verbrechens ab: das dreimalige Zwicken mit glühenden Zangen und das Zerschlagen der Glieder des Delinquenten mit dem Rad. Einem glücklichen Zufall haben wir es zu verdanken, daß dieses Ereignis des Jahres 1589 seine zeichneri­ sche Darstellung durch einen Holzschneider gefunden hat, dessen detail­ freudige und zweifellos realitätsgetreue Illustration uns einen plastischen Eindruck von einem solchen Vogelherd auf einer Waldlichtung liefert. Der im Text angegebene Beruf des Vogelstellers, Amtsverwalter, gibt zugleich einen Hinweis auf die soziale Umwelt, in der das Vogelstellen anzutreffen war. Fragen wir nach der bevorzugten Jahreszeit für den Vogelfang, so ergibt sich schon bei einem Blick in die mittelalterlichen Miniaturen und ähnliche Zeugnisse untrüglich, daß dafür der Herbst besonders bevorzugt wurde.43 Der Vogelfang wurde hauptsächlich beim Gegenstrich, d.h. also bei der Wanderung der Zugvögel nach dem Süden, ausgeführt und war im allgemeinen von St. Michaeli bis Allerheiligen üblich. Auf bildlichen Darstellungen der zwölf Monate findet sich regelmäßig im September oder Oktober auch der Vogelfang unter den herbstlichen Verrichtungen des Bauern. Als Beispiel führen wir eine Kupferstichfolge von Johannes Sibmacher an, die 1596 im Verlag eines H. Bange erschien. Unter dem Tierkreiszeichen der Waage erscheint im Monat September ein Vogelherd mit Lockvogelkäfigen und einem künstlichen Laubversteck, wie wir es auf verschiedenen anderen Darstellungen bereits kennengelernt haben.44 Eine Fülle von Bildbeispielen für die Anlage des Vogelherdes können aus den Kupferstichillustrationen der nachmittelalterlichen jagdkundlichen Literatur gewonnen werden. Auch hier beschränken wir uns auf wenige Hinweise und ein Abbildungsbeispiel (Abb. 5).

43 Vgl. z.B. Molsdorf, Wilhelm: Christliche Symbolik der mittelalterlichen Kunst. Leipzig 1926, z.B. Nr. 1120, 1125. 44 Benutztes Exemplar: Germanisches Nationalmuseum Nürnberg, Kaps. 1209, H.B. 2 2 6 1 .

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Abb. 5: Vogeljagd. Kupferstich von J. Collaert und J. Galle nach J. Stradanus (aus: Venationes ferarum, avium, piscium, pugnae bestiarum, Antwerpen, um 1580).

Lindner veröffentlichte zwei Bildbelege aus dem Jagdbuch des Herzogs Johann Casimir von Sachsen (1639) mit Vogelfallen von geradezu riesen­ haften Ausmaßen, die offenbar dem systematischen Vogelfang für die her­ zogliche Tafel dienten.45 Mehr im bürgerlichen Milieu ist ein Kupferstich von Hans Merian angesiedelt.46 Die hier vor reizvoller landschaftlicher Ku­ lisse aufgebauten Vogelherde dienen offenbar dem Fang von Singvögeln; Damen in bürgerlicher Tracht warten im Vordergrund links auf den Emp­ fang der Jagdbeute. Unser eigenes Abbildungsbeispiel47 führt in durchaus bäuerliches Milieu. Der Vogelherd steht hier außerhalb eines Dorfes am Waldrand und wird von den im Versteck sichtbaren Bauern zum Fang von Wildenten benutzt. Wie viele andere Darstellungen ist auch dieses Kupfer von der Perspektive her teilweise mißraten, da der linke Teil der Falle nicht deutlich genug als aufrecht stehend erfaßt wurde. 45 Lindner: Die Jagd im frühen Mittelalter (wie Anm. 22), nach S. 256, Taf. 63. 46 Diederichs und Kienzle: Deutsches Leben der Vergangenheit (wie Anm. 13), S. 299, Abb. 1023. 47 Aus: Venationes ferarum, avium, piscium, pugnae bestiarum …‚ Antwerpen um 1580. Kup­ ferstich 20 × 26,5 cm von Johannes Stradanus nach Johannes Collaert und Johann Galle.

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Es bleibt uns abschließend nur noch übrig, einen kurzen Blick auf die neuere Entwicklung zu werfen. Da das Vogelstellen mit dem Vogelherd stellenweise – besonders in den Alpen und im Voralpengebiet – noch bis in das 20. Jahrhundert hinein geübt wurde, findet sich in der volkskund­ lichen Regionalliteratur mancher Hinweis, der geeignet ist, die bisher her­ angezogenen Bildbelege noch mit etwas mehr Leben zu füllen. Vor allem lassen sich dort auch die notwendigen Informationen über Aufbau und Wirkungsweise des Vogelherdes gewinnen. Die älteren Bildzeugnisse las­ sen wegen z.T. starker Vereinfachung diesbezüglich doch manche Frage offen. Hier folgen noch einige Details aus dem ergänzend zu den Bildern zu Rate gezogenen neueren Schrifttum. Das Recht des Vogelfanges gehörte bis ins 18. Jahrhundert wie der ge­ samte Wildbann zum unbedingten Vorrecht des grundbesitzenden Adels, wurde aber von demselben im allgemeinen nicht selbst ausgeübt, sondern an die Untertanen, an Bürger und Bauern gegen eine entsprechende Ab­ gabe vergeben. In einem bayerischen Mandat vom 19. Juni 1673 heißt es: Vogeltenne zu schlagen ist ohne Bewilligung des Oberstwild- u. Forstmeisters keinem kurfürstlichen Ueberreiter oder Gejaisbedienten erlaubt … Wer aber von altersher eine Amtstenne gehabt, soll dabei gelassen werden … Die von den neu verwilligten Vogeltennen herkömmliche Gebühr ist fleißig zu verrechnen … Im übrigen aber neue Vogeltennen zu schlagen verboten.48

An den einstigen Standort der Vogelherde erinnern vielfach nur noch die Flurnamen, unter denen u.a. Schnepfenstand, Vogelweid oder Vogelhütte genannt werden. Zum Teil war der Standort des Vogelherdes mit einem kleinen Wall und Graben eingefaßt.49 Der Herd selbst war zumeist von einer Hecke aus beerentragenden Sträuchern umgeben, die die Schlagwän­ de verbergen und gleichzeitig die Vögel anlocken sollten. Zum Anlocken der Opfer wurden aber vor allem die Lockvögel verwendet, deren Käfi­ ge auf kaum einer der älteren Abbildungen fehlten. Teilweise benutzte man als Lockvögel auch gezähmte Vögel, deren Flügel mit einem dün­ nen Faden gebunden waren. Sie waren außerdem am Boden gefesselt, d.h. „angeläufert“50. Die einzelnen Vogelherde mußten so weit voneinander entfernt sein, daß sich die Lockvögel mit ihrem Gesang gegenseitig nicht mehr stören konnten. In der Vogelhütte, von wo aus der Vogelsteller die Zugseile bediente, bewahrte man die Fanggeräte auf. Dazu gehörten vor allem die Netze, deren Herstellung große Sorgfalt und viel Zeit erforder­ 48 Deutsche Gaue 28 (1927), S. 171. 49 Ebd., S. 170. 50 Bachofen von Echt, Baron Reinhart und Hoffer, Wilhelm: Jagdgeschichte Steiermarks. Bd. IV: Geschichte des Jagdrechtes und der Jagdausübung. Graz 1931, S. 383.

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ten. Dem Fang verschiedener Vogelarten entsprachen unterschiedliche Färbungen der Netze: Lerchennetze waren braun oder gelb, Finkennetze dunkelblau oder grün.51 Eine detaillierte Beschreibung der Mechanik eines Vogelherdes nach Josef Matthäus Bechstein, Handbuch der Jagdwissenschaft (1806), liefert Hans Freudelsperger.52 In Mitteleuropa hat der Vogelfang heute keine Bedeutung mehr, der Reim: Jagen, Fischen, Vogelstellen, das erhält den Junggesellen.53

trifft heute nicht mehr zu. Angesichts der alljährlich sich wiederholenden lautstarken Proteste gegen den organisierten Vogelmord in Italien darf man vielleicht daran erinnern, daß man früher auch nördlich der Alpen we­ niger Hemmungen kannte, den gefiederten Sängern nachzustellen und sie zu verzehren.54 Niemand wird dem längst aus dem ländlichen Leben ver­ schwundenen Vogelherd nachtrauern wollen. Die ökonomischen Zwänge, die zu einer solchen Art von Nahrungserwerb führten bzw. immer noch führen, dürfen bei solchen Überlegungen nicht ganz übergangen werden. Das Beispiel dieses historischen Fanginstrumentes lehrt uns, daß es unter Heranziehung verschiedener Quellenbereiche auch heute durchaus noch möglich ist, die Entwicklung solcher Objekte aus der Kultgeschichte der Jagd nachzuzeichnen, wobei dem Flugblatt als Quelle eine bedeutende Rol­ le zukommt.

51 Faistenberger, Josef: Einiges über den Vogelfang, wo und wie er vor alters in der Umgebung von Hall in Tirol betrieben wurde. In: Tiroler Heimatblätter 11 (1933), S. 94–100, s. S. 96. 52 Freudelsperger, Hans: Vogelfang und Vogelherde im Erzstift Salzburg. In: Mitteilungen der Gesellschaft für Salzburger Landeskunde 79 (1939), S. 9–26, s. Abb. S. 14. 53 Z.B. bei Schober, Manfred: Arbeits- und Lebensverhältnisse der Waldarbeiter im Elbsand­ steingebirge. In: Lětopis. Jahresschrift des Instituts für sorbische Volksforschung Reihe C 15 (1972), S. 86ff. 54 Wichtige Details über Verbreitung und wirtschaftliche Bedeutung des Vogelfangs in einigen Teilen Mitteleuropas sind aus zwei Aufsätzen neuesten Datums ersichtlich: Steffek, HansWolfgang: Der Vogelfang in den Sudetengebieten. In: Jahrbuch für ostdeutsche Volkskunde 19 (1976), S. 274–298; Tolksdorf, Ulrich: Der Vogelfang in Ost- und Westpreußen. Ebd., S. 299–305.

Nacherzählen Moderne Medien als Stifter mündlicher Kommunikation* Im Frühsommer des Jahres 1527 treffen sich auf dem Neumarkt zu Köln am Rhein eine Reihe ehrsamer Handwerksmeister zum abendlichen Bier, darunter auch ein Bader namens Johann Brednich. Das Gespräch in der Runde dreht sich wie oft in jenen religiös bewegten Jahren um Glaubens­ angelegenheiten, um die Sache Martin Luthers. Die Stadt des Kölner Erz­ bischofs war bis dahin von den ketzerischen Lehren der Reformation noch weitgehend abgeschirmt. Umso aufmerksamer registrieren alle im Wirts­ haus Anwesenden, auch außerhalb der kleinen Gruppe, was Johann Bred­ nich nach der Rückkehr von einer Reise nach Süddeutschland zu berichten weiß: Jesus Christus, so habe er erfahren, sei gar nicht Gottes Sohn gewe­ sen, sondern ein Mensch wie du und ich. Und die Gottesmutter Maria habe nach dem Kreuzestod Christi noch zwei weitere Kinder zur Welt gebracht, und der Vater der Kinder sei kein anderer als Johannes, der Lieblingsjünger Jesu, gewesen. Diese Äußerungen werden tags darauf von einem Wirtshausgast dem Magistrat der Stadt hinterbracht, der solche Irrlehren innerhalb der Mau­ ern der Stadt in dieser Zeit - besonders aus Furcht vor den Umtrieben der Täufer - hartnäckig bekämpfte. Brednich wird in den Turm geworfen und kurze Zeit später von der Inquisition verhört. Er gibt zu, die fraglichen Äu­ ßerungen gemacht zu haben, aber er fügt hinzu, es sei nicht seine Meinung, er habe dies im Süden von Predigern gehört und nach seiner Rückkehr zu Hause nacherzählt. Auch seine Wirtshausgesellen werden der Reihe nach vernommen und sagen sämtlich zu seinen Gunsten aus: Brednich sei ein strenggläubiger, aufrechter Katholik und ein untadeliger Ehrenmann. Ei­ ner der Zeugen bekennt, auch er habe das Gerede über die Jungfrau Maria von einem Karthäusermönch in einem württembergischen Wirtshaus ge­ hört und an einen Arnt Huntzeler in Köln weitererzählt, von ihm sei das Geschwätz zu Johann Brednich und auf den Kölner Neumarkt gelangt. Niemand in der Stadt glaube ernsthaft daran. So gelingt es Johann Bred­ * Erstveröffentlichung in: Röhrich, Lutz und Lindig, Erika (Hg.): Volksdichtung zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Tübingen 1989, S. 177–186.

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nich mit knapper Not, seinen Kopf noch einmal aus der Schlinge zu zie­ hen. Die Berufung auf mündliche Überlieferung, auf Gerüchte, gibt letzt­ lich den Ausschlag zu seinen Gunsten. Die Fahndung nach ketzerischem Schrifttum bleibt erfolglos. Die Ketzerei erweist sich als eine Kette von mündlich nacherzählten Berichten. Dieser Befund ist sehr charakteristisch für die Epoche der frühen Neuzeit. Auch im Reformationszeitalter, so hat Robert W. Scribner1 festgestellt, befinden wir uns durchaus noch in einer Zeit der vorherrschenden mündlichen Kommunikationsweisen, aber wir wissen auch, daß die Sphäre oraler Vermittlung seit dieser Zeit immer häu­ figer durch die Erzeugnisse der Print- und Bildmedien aufgebrochen wur­ de. Agitatorische Flugblätter und Flugschriften, wie sie als „Sturmtruppen der Reformation“ damals Mitteleuropa überschwemmten, trugen meistens etwas Neues bis Unge- oder Unerhörtes zum mündlichen Kommunika­ tionsprozeß bei. Texte und Bilder aus der Druckerpresse gewannen zum ersten Mal nachhaltigen Einfluß auf die Meinungen und Haltungen der Bevölkerung. Daraus erklärt sich die Sorge der Kölner Stadtväter, die mit den reformatorischen Druckerzeugnissen auch die zugehörigen nach- und weitererzählten Irrlehren aus der Stadt fernhalten wollten. Ganz gelang ihnen dies nicht, wie unser Beispiel zeigt. Zum Thema „Medien als Stifter oraler Kommunikation“: Ich ha­ be mich im Zusammenhang mit meinen Studien zum frühneuzeitlichen Flugblatt häufig mit dieser Problematik auseinandergesetzt, ich habe aber aufgrund der oft schwer nachzuweisenden historischen Rezeptionspro­ bleme meine Überlegungen auf die Gegenwartssituation ausgedehnt, weil der Medieneinfluß auf die gegenwärtige Gesellschaft und auf das Erzäh­ len und Nacherzählen zweifellos offenkundiger ist und sich empirische Forschungen hier auf einer festeren Grundlage bewegen. Ich erblicke im Aufgreifen dieser Problematik eine wichtige Aufgabe der volkskundlichen Erzählforschung als Fortführung der Bemühungen um die Einbeziehung dessen, was wir mit Hermann Bausinger „Alltägliches Erzählen“ nennen: Was für Bausinger damals, als er im Jahre 1952 seine Dissertation über Lebendiges Erzählen verfaßte oder später, 1958 seinen Aufsatz über „Strukturen des alltäglichen Erzählens“ für die Fabula schrieb, noch nicht von so großer Aktualität war, ist die mittlerweile eingetretene zunehmende Abhängigkeit alltäglicher Erzählinhalte breiter Bevölkerungskreise vom Angebot der Medien, insbesondere von Fernsehen und Video.

1

Scribner, Robert W.: Flugblatt und Analphabetentum. Wie kam der gemeine Mann zu refor­ matorischen Ideen? In: Köhler, Hans-Joachim (Hg.): Flugschriften als Massenmedium der Reformationszeit. Stuttgart 1981, S. 65–76, hier S. 69. Scribners Beitrag verdanke ich auch den Hinweis auf die Akten im Hist. Archiv der Stadt Köln, Sign. Verf. und Verw. G 310.

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Bei der Erforschung des alltäglichen Erzählens, das seinen Höhepunkt in den sechziger Jahren hatte, wurden die hier zu behandelnden Nacherzäh­ lungen von Medien-Ereignissen noch nicht berücksichtigt; im Mittelpunkt standen damals Arbeitserinnerungen als Erzählinhalte (ein oft zitierter Ti­ tel von Siegfried Neumann2), Kriegs- und Militärerlebnisse, Familienerin­ nerungen, Krankengeschichten etc. Sie alle wurden als neue Kategorien der Volksprosaforschung akzeptiert. In den siebziger Jahren gesellte sich die Lebensgeschichte als Quelle der Erzählforschung hinzu, und die Erfor­ schung alltäglichen Erzählens erhielt durch die biographische Forschung einen neuen kräftigen Impuls.3 Als Gemeinsamkeiten aller dieser neuen Genres bezeichnete Bausinger ihre Eigenschaft, daß sie „ein Stück aus der Wirklichkeit herausschneiden und an diesem Konkreten einen bestimmten Bereich der ‚Tatsächlichkeit‘ glaubwürdig machen“.4 Bausinger versuchte für diese Alltagserzählungen mit Wirklichkeitsbezug den Jolles’schen Be­ griff des „Memorabile“ verfügbar zu machen. Im Jahre 1974 hat Rudolf Schenda in seinen „Thesen zur Genre-Theo­ rie“ in Helsinki der Verabschiedung vom etablierten und fixierten Kanon der Genres das Wort geredet, weil dieser Kanon nach seiner Ansicht den Blick für bisher nicht klassifiziertes Erzählmaterial und einen kommunika­ tionswissenschaftlichen Zugang zur Folkloristík überhaupt verhindere. Aus diesem Kanon blieben deshalb z.B. nach seiner Erfahrung ausgeschlossen: Stammtischgespräche‚ Alltagsberichte, Traumerzählungen, Schulabenteuer, Autounfall- und Krankenberichte.5 Auch in dieser erweiterten Aufzählung von Genres des alltäglichen Erzählens vermisse ich noch das, was ich unter der Bezeichnung „Nacherzählen“ in den Diskurs der Erzählforschung ein­ beziehen möchte. Ausgeschlossen blieb diese Kategorie auch noch 1975 aus den Diskussionen des 20. Deutschen Volkskundekongresses, der dem Thema „Direkte Kommunikation und Massenkommunikation“ gewidmet war. In den Weingartener Beiträgen hat der Einfluß der Massenkommu­ nikationsmittel auf die Inhalte der direkten Kommunikation nur eine un­ tergeordnete Rolle gespielt.6 So trifft m. E. auch heute noch Bausingers editorische Vorbemerkung zum Weingartener Kongreßbericht zu:

2

Neumann, Siegfried: Arbeitserinnerungen als Erzählinhalt. In: Deutsches Jahrbuch für Volkskunde 12 (1966), S. 177–190. 3 Brednich, Rolf Wilhelm u.a. (Hg.): Lebenslauf und Lebenszusammenhang. Autobiographi­ sche Materialien in der volkskundlichen Forschung. Freiburg 1982. 4 Bausinger, Hermann: Alltägliches Erzählen. In: Ranke, Kurt u.a. (Hg.): Enzyklopädie des Märchens. Bd. 1. Berlin u.a. 1977, Sp. 323–330, hier Sp. 327 (im Folgenden in der kurzen Zitierweise als EM bezeichnet). 5 Schenda, Rudolf: Thesen zur Genre-Theorie. Ms. Göttingen 1974, S. 2. 6 Klusen, Ernst: Einflüsse von Funk und Fernsehen auf lebendiges Singen. In: Bausinger,

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... das Thema Kommunikation [ist] wissenschaftlich ganz sicher noch nicht er­ schöpft. In dem weiten Feld, das durch dieses Stichwort abgedeckt ist, stellen sich nach wie vor zahllose Fragen, prinzipiell-theoretische so gut wie konkret-empi­ rische. Und es hat den Anschein, daß die Volkskunde für manche dieser Fragen kompetenter ist als andere wissenschaftliche Disziplinen.7

Die konkret-empirische Fragestellung nach dem „Nacherzählen von Me­ dieninhalten“ soll als Anliegen und Aufgabe der volkskundlichen Erzähl­ forschung in dieses Symposion eingebracht werden mit der Absicht, eine der beiden Komponenten des Rahmenthemas – die Schriftlichkeit – zur Diskussion zu stellen. Es geht vor allem darum, diesen Begriff der Schrift­ lichkeit zu erweitern und ihn nicht ausschließlich als historisches Phäno­ men zu begreifen. Wenn wir einen aktualisierten Begriff von Schriftlichkeit ins Auge fassen, kommen wir an der Medienfrage nicht vorbei. Allerdings gehören die Erzählinhalte, um die es dabei geht, nicht zur Volksdichtung, und sie sind nicht mehr zwischen Schriftlichkeit und Mündlichkeit anzu­ siedeln, sondern zwischen audio-visueller Vermittlung und Mündlichkeit. Das Stichwort „Nacherzählen von Medieninhalten“ ist zunächst ein­ mal unter Berücksichtigung der immer stärker werdenden gesellschaftli­ chen Relevanz der Medienproblematik in unsere Nomenklatur aufzuneh­ men. Bei der Planung der Enzyklopädie des Märchens ist durch die Aufnahme von Stichwörtern wie „Comics“, „Flugblatt“, „Illustrierte“, „Rundfunk“ der Medienbereich durchaus berücksichtigt worden, aber die bisher er­ schienenen Artikel sehen das Phänomen noch fast ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der Traditionsrelevanz der Medien (z.B. Strukturen des Märchens im Abenteuercomic, traditionelle Erzählstoffe als illustriertes Flugblatt, Märchenfilme). Das Stichwort „Fernsehen“, das zweifellos der geeignete Ort gewesen wäre, aktuelle Phänomene des alltäglichen Erzäh­ lens darzustellen, wurde leider auf „Television“ und damit auf einen der letzten Bände des Lexikons verwiesen. Der Begriff „Nacherzählen“ oder „Nacherzählung“ taucht nach Auskunft des computerisierten Stichwortge­ samtregisters der Enzyklopädie des Märchens bisher noch nicht auf. Das Phänomen „Nacherzählen“ ist keineswegs so unbekannt und un­ bedeutend, wie es beim Blick in die volkskundliche Literatur erscheinen möchte. Uns allen ist der Begriff geläufig aus der Schule, wo das Nacher­ zählen auf allen Stufen der Ausbildung systematisch gepflegt wird, z.B. als Übung zur Umsetzung des einen Genres (Drama, Ballade) in das andere (meist in die Prosa), auch in der Fremdsprachendidaktik. Auch die berüch­

7

Hermann und Moser-Rath, Elfriede (Hg.): Direkte Kommunikation und Massenkommuni­ kation. Tübingen 1976, S. 97–104, hier S. 103. Vorbemerkung. In: Bausinger, Hermann und Moser-Rath, Elfriede (Hg.): Direkte Kommu­ nikation und Massenkommunikation. Tübingen 1976, S. 7.

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tigte Bildbeschreibung ist nichts anderes als das Nacherzählen ikonischer Botschaften in Prosa. Als Kategorie der Volkskunde hat das „Nacherzäh­ len“ bisher vor allem in der älteren Debatte um die sog. „Selbstberichtigung von Volkserzählungen“ eine Rolle gespielt. Die Beiträge von Walter Ander­ son, Kurt Schier u.a. zur „experimentellen Erzählforschung“8 dienten vor allem dem Nachweis, daß durch Nacherzählen eines einzigen narrativen Ereignisses keine Traditionen, sondern lediglich Verfallsprodukte von Tra­ ditionen entstehen. Diese Befunde stimmen sehr genau mit dem überein, was die moderne psychologische Forschung über die Gedächtnisleistung des menschlichen Gehirns herausgefunden hat. So hat beispielsweise der Psychologe Sir Frederick Bartlett in Cambridge seinen Probanden Kurzge­ schichten zum Lesen gegeben und sie in gewissen Abständen nacherzählen lassen. Was dabei herauskam, ist der bekannte fortgesetzte Schwund von Einzelheiten, die Verkürzung, die Vereinfachung, die Rationalisierung, die Verwandlung des Befremdlichen ins Vertraute, aber auch das Hinzuerfin­ den neuer, oft dramatischer Einzelheiten. Der ursprüngliche Text geht un­ aufhaltsam verloren: Unabsichtlich, unbemerkt wurden die Geschichten im Einklang mit den Interes­ sen, Kenntnissen, Vorlieben, Abneigungen, Gemütsverfassungen der Nacherzäh­ ler umfrisiert: Sie wurden ihnen immer ähnlicher.9

Ich bin der Meinung, daß wir das Schicksal narrativer Stimuli nicht in der Laborsituation simulieren müssen, sondern daß die alltägliche Kommu­ nikation natürliche Beobachtungs- und Aufnahmesituationen zur Genüge liefert, wenn es um das Nacherzählen von und das Reden über Mediener­ eignisse geht. In der volkskundlichen Literatur ist davon noch wenig zu finden. Das Problem ist zwar bereits früher erkannt worden, ohne daß dies jedoch zu konkreten Projekten geführt hätte. So hat z.B. der Erzählfor­ scher Siegfried Neumann in seinem Aufsatz über Volkserzählung heute 1980 das Phänomen durchaus treffend beschrieben: Daneben spielen heute Nacherzählungen von Büchern, Filmen oder Fernsehsen­ dungen, die besonderen Anklang gefunden haben, in der Unterhaltung eine nicht unwesentliche Rolle. Vor allem auf dem Lande werden Film- und Fernsehauf­ führungen lebhaft besprochen, und speziell unter der Jugend machen Nacher­ zählungen von Filmen, die andere nicht gesehen haben, einen wichtigen Teil des alltäglichen Erzählens aus. Hier handelt es sich meist um schlichte Resümees des erlebten Filmgeschehens, um eine Umsetzung mehr oder minder künstlerischer

8 9

Vgl. Oring, Elliott: Experimentelle Erzählforschung. In: EM 4 (1984), Sp. 684–694. Zimmer, Dieter Eduard: Das Gedächtnis. Im Kopf die ganze Welt (Teil 4). In: Zeitmagazin 19 (1987), S. 46–61, hier S. 52.

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Erlebnisse in die Sprache des Alltags – jeweils solange der unmittelbare Eindruck anhält. Doch in diesem raschen Wechsel nicht aus mündlicher Überlieferung stammender Erzählstoffe liegt zweifellos auch ein Charakteristikum heutigen Er­ zählens.10

Auch Neumann muß hinzufügen: „Diese Erscheinungen sind bisher kaum registriert, geschweige denn erforscht worden“.11 Bereits viele Jahre vor ihm hatte Ina-Maria Greverus gefordert, die Einflüsse der Medien auf das gegenwärtige Erzählverhalten in die volkskundliche Dokumentation ein­ zubeziehen: Nicht nur die traditionellen Erzählformen möchten wir weiterhin aufspüren und aufnehmen, sondern auch neue, unscheinbare, ja triviale Formen des Erzählens, und darüber hinaus wollen wir uns auch den Erscheinungen des Lesestoffes und der Massenmedien zuwenden, um die ganze Fülle volklichen Hörens‚ Sagens und Lesens zu erfassen.12

Auch diese Forderung blieb ohne erkennbare Auswirkung, etwa auf die Dokumentationspraxis des Marburger Zentralarchivs der deutschen Volks­ erzählung. Die von Johannes Künzig herausgegebene und von Leander Petzoldt kommentierte Edition Volkslesestoffe in mündlicher Überlieferung13 bil­ det angesichts dieser Defizite eine besonders hervorzuhebende rühmliche Ausnahme. Bei neueren empirischen Forschungen zu alltäglichen Kommunikati­ onsweisen ist auf die Bedeutung der Medien für die Erinnerungskultur vereinzelt hingewiesen worden. Wir begegnen dem Problemzusammen­ hang z.B. in Albrecht Lehmanns Buch Gefangenschaft und Heimkehr. Im Zu­ sammenhang mit den alltäglichen Kommunikationsgewohnheiten in den russischen Kriegsgefangenenlagern berichtet Lehmann von dem gegensei­ tigen Erzählen der Lagerinsassen in der Freizeit. Unter den Erzählern gab es z.B. Fachleute für erzählte Filme. „Sie versuchten (...), Filme, die sie vor Jahren gesehen hatten, Dialog für Dialog, Szene für Szene zu schildern, wobei sie gelegentlich auch noch die musikalische Untermalung mit dem

10 Neumann, Siegfried: Volkserzählung heute. Bemerkungen zu Existenzbedingungen und Daseinsformen der Volksdichtung in der Gegenwart. In: Jahrbuch für Volkskunde und Kul­ turgeschichte 23 (1980), N.F. 8, S. 92–108, hier S. 99. 11 Ebd, Anm. 26. 12 Greverus, Ina-Maria: Volksdichtung: Sammlung – Pflege – Forschung. In: Die Freundes­ gabe. Jahrbuch der Gesellschaft zur Pflege des Märchengutes der europäischen Völker 1 (1963), S. 27–38, hier S. 35. 13 Künzig‚ Johannes (Hg.): Volkslesestoffe in mündlicher Überlieferung. Authentische Tonauf­ nahmen 1959–1966, Kommentare: Petzoldt, Leander. Freiburg 1978 (= Quellen deutscher Volkskunde, 7).

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Mund und den Händen produzierten“.14 Wenn allerdings ein Hamburger Interviewpartner Lehmanns von einem Mitgefangenen berichtet, der sei­ nen Kameraden den trüben Lageralltag vergessen ließ, indem er sage und schreibe 103 Filme mit ganzer Handlung und allen Dialogen vorgetragen haben soll, so ist dies sicher in den Bereich phantasievoller Übertreibung zu verweisen, denn selbst wenn es sich um den Drehbuchverfasser gehan­ delt haben sollte, so ist es nach dem zuvor Gesagten noch nicht einmal denkbar, daß er ein einziges Drehbuch Wort für Wort wiederzugeben im­ stande war, weil ein langer Text praktisch nie ohne Veränderungen aus dem Gedächtnis reproduziert werden kann, geschweige denn 103 Filminhalte. Das Nacherzählen von Filminhalten indes ist auch heute noch eine ganz normale, alltägliche Erscheinung, die dem empirischen Zugriff des Erzähl­ forschers problemlos offensteht. Filmnacherzählungen, wie sie früher im Programmheft abgedruckt waren, sind von jeher das beste Propagandamit­ tel für den Spielfilm gewesen. Für die Filmerzählung wie für alle anderen Gattungen des alltäglichen Erzählens gilt, daß die „Traditionsstrecken“15 meist beträchtlich kürzer sind. Zur Stabilisierung solcher medienabhän­ giger Erzählinhalte trägt die Wiederholung des Medienereignisses bei. Im Zeitalter der ständigen Wiederholungen der Spielfilme im Fernsehen sind die Klassiker etwa des Abenteuer- oder Kriminalfilmes heute so allgemein bekannt, daß sich in geeigneten face-to-face-Gruppen schnell ein Gespräch über das Geschehen einstellt. Wichtig bleibt aber immer noch das Nacher­ zählen und Aufbereiten der Inhalte aktueller Kinofilme, die nicht von je­ dem gesehen worden sind, z.B. in Kleinstädten, die erst mit einer gewissen Verspätung in den Genuß etwa des neuesten James Bond kommen und in denen die Rezipienten zunächst auf Nacherzählungen angewiesen sind. Auch Nicht-Kinogänger können auf diese Weise rezeptiv an den neuesten Filmereignissen teilhaben. Die Schlüsselszenen aus Klassikern z.B. von Al­ fred Hitchcock kennen viele, ohne je den betreffenden Film gesehen zu haben. Für den Anfang 1988 in deutschen Kinos angelaufenen amerikani­ schen Spielfilm Eine verhängnisvolle Affäre wird mit dem Slogan geworben: „Man kann nicht mehr aufhören, über diesen Film zu reden“. Weit wichtiger als das Kino ist naturgemäß das Fernsehen als Stifter mündlicher Kommunikation der Gegenwart. Das Fernsehen als Faktor 14 Lehmann, Albrecht: Gefangenschaft und Heimkehr. Deutsche Kriegsgefangene in der So­ wjetunion. München 1986, S. 106. Solche Erzählungen fremder Erfahrungen werden in der Literatur auch als ‚Geschichten aus zweiter Hand‘ bezeichnet; vgl. etwa Michel, Gabriele: Biographisches Erzählen - zwischen individuellem Erlebnis und kollektiver Geschichten­ tradition. Untersuchung typischer Erzählfiguren, ihrer sprachlichen Form und ihrer inter­ aktiven und identitätskonstituierenden Funktion in Geschichten und Lebensgeschichten. Tübingen 1985 (= Germanistische Linguistik, 62), S. 143. 15 Bausinger: Alltägliches Erzählen (wie Anm. 4), Sp. 326.

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der Veränderungen binnenfamiliärer Kommunikation und Mittel der So­ zialisation hat bereits früh die Soziologen auf den Plan gerufen.16 Auch die Tübinger Untersuchungen von Klaus Jensen und Jan-Uwe Rogge über den Medienmarkt für Kinder in der Bundesrepublik (1980)17 haben sich z.T. sehr ausführlich mit Medienverhalten, Strukturen und Rezeptionsverhalten be­ schäftigt. Die Intensivierung des Erzählens als Folge der Rezeption visu­ eller Kommunikationsinhalte ist in diesem Zusammenhang bisher noch nicht untersucht worden. Nach meinen Erfahrungen lassen sich z.B. unter Kindern und Jugendlichen heute zwei Gruppen von Fernsehrezipienten unterscheiden: zum einen diejenigen, die früh zu Bett müssen und dadurch die Horror- und Crimespielfilme zu den späten Sendezeiten versäumen, zum anderen diejenigen, die sie sehen dürfen oder unkontrolliert sehen oder sogar Videos davon besitzen. Das Informationsdefizit der medial Unterprivilegierten wird spätestens am Montagmorgen auf dem Weg zur Schule oder in den Pausen durch ausführliche Nacherzählungen ausgegli­ chen. Den gleichen Vorgang des Nacherzählens als Ersatz für vorenthalte­ ne direkte Mediennutzung kenne ich auch vom Heftchenkonsum Jugend­ licher. Diejenigen Jugendlichen, die sich im „behüteten Elternhaus“ z.B. mit Liebes- oder Heimatromanheften nicht blicken lassen dürfen, haben immer noch die Möglichkeit, aus der Nacherzählung von Altersgenossen an den begehrten Stoffen zu partizipieren. Ich erinnere mich an einen Mit­ bewohner einer Bude während meiner Studentenzeit, der mich auf dem täglichen langen Fußmarsch zur Universität mit der Nacherzählung tags oder nachts zuvor gelesener Kriminalromane unterhielt. Neben dem Nacherzählen von Medieninhalten hat dem Erzählen über narrative Komponenten im Medienereignis die gleiche Aufmerksamkeit zu gelten. Für die empirische Untersuchung bieten sich hier vor allem die durch hohe Einschaltquoten gekennzeichneten Fernsehserien an, die seit langem in der westlichen Welt die Inhalte der Alltagskommunikation bestimmen, sei es auf dem Weg zur Arbeit, in Arbeitspausen, beim Kaffeekränzchen, beim Stammtisch, am Krankenbett usw. Was durch Serien wie Dallas und Denver-Clan an Anteilnahme und Kommunikation hervorgerufen worden ist, läßt sich kaum ermessen. Selbst wildfremde Menschen finden auf die­ ser Basis schnell eine gemeinsame Ebene der Begegnung, z.B. beim Erzäh­

16 Füllgraf, Barbara: Fernsehen und Familie. Die Rolle des Fernsehens im Prozeß des struktu­ rellen Wandels der Familie. Freiburg 1965; Ronneberger, Franz: Sozialisation durch Massen­ kommunikationsmittel. Stuttgart 1971. 17 Jensen, Klaus und Rogge, Jan-Uwe: Der Medienmarkt für Kinder in der Bundesrepublik. Tübingen 1980 (= Untersuchungen des Ludwig-Uhland-Instituts der Universität Tübingen, 50), S. 50.

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len im Zug.18 Die verbale Auseinandersetzung mit den weltweit bekannten Televisions-Trivialdramen erreicht in vielen Kommunikationszirkeln sol­ che Ausmaße, daß der noch außenstehende Nicht-Seher nolens volens in den Teufelskreis an den Dienstag- oder Mittwochabenden hineingezogen wird, um überhaupt noch mit der betreffenden Gruppe kommunizieren zu können. Naturgemäß ist die Rezeption in den verschiedenen sozialen Schichten durchaus verschieden. Hier ist zu differenzieren zwischen dem unkritischen Einbeziehen der Medieninhalte in das eigene Leben und dem kritischen bis persiflierenden Umgang mit der Serie, aber in jedem Falle stiftet die Zuwendung zum gleichen Medieninhalt bei den Rezipienten ei­ ne Ebene der gemeinsamen Kommunikation, ähnlich wie man früher von der „Lesergemeinde“ eines Autors sprach. Ähnliche Prozesse kollektiver Anteilnahme und anschließender verbaler Auseinandersetzung sind in der Bundesrepublik z.B. durch Serien wie Heimat von Edgar Reitz‚ Die Guldenburgs oder neuerdings Fackeln im Sturm hervorgerufen worden, gar nicht zu sprechen von der Schwarzwaldklinik. In nächster Nähe von Freiburg läßt sich im Glottertal nachvollziehen, welche Ausmaße der Professor-Brink­ mann-Kult annimmt: Das Nacherzählen der einzelnen Folgen und das Er­ zählen über die Einzelheiten der Serie und ihrer Akteure führt den Wunsch nach dem eigenen Erleben der Landschaft, der Drehorte usw. nach sich, getragen von der irrealen Hoffnung, den Akteuren persönlich zu begeg­ nen. Dieser „Serienkult“ wäre ein dankbares Thema für die volkskundliche Forschung. Auch der 1984 gesendete und 1987 wiederholte 18teilige Fern­ sehfilm Heimat von Edgar Reitz hatte ähnliche Wirkungen wie die Schwarzwaldklinik. Tausende von Touristen machten sich auf, um im Hunsrück nach Schabbach zu suchen, wie Reitz sein Dorf genannt hatte, und der Regisseur konstatierte nach Abschluß der Dreharbeiten: „Das Geschich­ tenerzählen, das im Hunsrück ohnehin große Tradition hat, ist durch die­ sen Film wieder in Schwung gekommen“.19 Wir sprachen bisher vom Nacherzählen von und Erzählen über selbst­ erlebte Medienereignisse. Als weitere Kategorie ist zur Vervollständigung noch das Erzählen über nicht selbsterlebte Sendungen anzufügen. Über wichtige Medienereignisse informiert heute an den Folgetagen die Presse, und mündliche Kommunikation tut ein Übriges, für die rasche Verbreitung der gesendeten Informationen Sorge zu tragen. Ich nehme die MonitorSendung über Würmer in Fischen vom August 1987 als Beispiel. Sie wurde 18 Gegenstand einer Göttinger Magisterarbeit von 1984: Fischer, Birgit: Erzählen im Zug. For­ men und Inhalte von Gesprächen auf der Bahnreise. Magisterarbeit. Göttingen 1984. 19 Reitz, Edgar: Die, die Heimat verlassen und die, die bleiben … Beilage zum Pressedienst des Deutschen Fernsehens ARD 34 (1984), I, S. 16; vgl. Roters, Ulrich: Heimat. Rückbesinnung oder Neubeginn? Untersuchungen zum Heimatfilm. Magisterarbeit. Göttingen 1987, S. 70.

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während der Urlaubszeit ausgestrahlt und von vielen Urlaubern nicht ge­ sehen. Trotzdem war der Entsetzensschrei über diesen Skandal fast überall zu hören, weil orale Vermittlung die Informationslücken rasch schloß. Was für den Erzählforscher an diesem Ereignis besonders aufschlußreich war, sind die in Windeseile revitalisierten archaischen Glaubensvorstellungen von Würmern als Krankheitserregern20 und die zugehörigen Horrorge­ schichten, denen zufolge der Genuß von Fischfilet schlimme Konsequen­ zen nach sich gezogen habe: Verlust eines Teils des Darmes, des Gedächt­ nisses oder gar den Tod. Von all dem wußte die Monitor-Sendung nichts, aber sie hat es in Gang gesetzt. Ich komme zum Schluß: Wenn ich es richtig sehe, haben sich für die em­ pirische Untersuchung des medialen Einflusses auf alltägliche Erzählge­ wohnheiten in unserem Fach bisher noch nicht viele Kräfte gerührt. Dabei kommt mir nach den ersten Erfahrungen auf diesem Gebiet der durch die modernen Bildmedien initiierte Strom an Kommunikation fast schon so übermächtig vor, daß ich mich frage, ob er nicht eines Tages sonstige narrative Kommunikationsinhalte völlig an den Rand gedrängt haben wird. Der Volkskundler muß sich diesen Fragen stellen. Ich fasse die hier sicht­ bar werdenden neuen Aufgaben der volkskundlichen Erzählforschung wie folgt zusammen: 1. Neben die mündliche und die schriftliche Vermittlung von Erzählin­ halten tritt seit langer Zeit die mediale, die im Zeitalter der audiovisuellen Kommunikationsmittel eine bisher nie erreichte Intensität verzeichnet. 2. Die kollektiven verbalen Reaktionen auf Medieninhalte sind ein Gradmesser für den Erfolg der betreffenden Medienereignisse und da­ her ein wichtiger Indikator für die Wertvorstellungen der Rezipienten. Im Kommunikationsmodell wirkt dieser durch Nacherzählen objektivierbare Erfolg von Filmen oder Serien auf diese zurück: Dallas kann nicht sterben, die Schwarzwaldklinik geht in ihre zweite Runde, Heimat erfährt eine Fort­ setzung usw. Fernsehunterhaltung wird überall auf Dauer gestellt, Serien gewinnen immer mehr an Bedeutung. 3. Die Erforschung des Nacherzählens von Medieninhalten erweist sich daher als ein wichtiges Anliegen volkskundlicher Gegenwartsforschung.

20 Grabner, Elfriede: Volksmedizin. In: Brednich, Rolf Wilhelm (Hg.): Grundriß der Volks­ kunde. Berlin 1988, S. 423–446, hier S. 434f.

Die neue Erzählkultur im Internet: Über die Veränderungen des Genderverhältnisses im Cyberhumor*

Der Witz ist männlich. (Karin Huffzky, 1979)

Das diesem Aufsatz vorangestellte Motto bedarf im digitalen Zeitalter ei­ ner Revision. Es entstammt noch einer Epoche, in der die seit Jahrhun­ derten unwidersprochene Diskriminierung der Frauen im Humor und ins­ besondere im Männerwitz zum ersten Mal Gegenstand der öffentlichen Wahrnehmung und nachfolgend auch der Forschung geworden war. Wir befinden uns mit diesem Zitat in den 70er Jahren, und 1974 fühlte sich sogar die UNO erstmals veranlasst, die Frauen weltweit vor der Verun­ glimpfung durch den aggressiven Männerwitz in Schutz zu nehmen und die Humorproduzenten zur Mäßigung zu mahnen, um den Frauen eine bessere Chance zur Emanzipation und Gleichberechtigung zu geben.1 Inzwischen haben die im Cyberspace entwickelten neuen Kommu­ nikationsmittel und Kommunikationsweisen starke Veränderungen des Frauenbildes im Humor mit sich gebracht. Dies ist vor allem darauf zu­ rückzuführen, dass Frauen die Produktion von Humor nicht mehr allein den Männern überlassen, sondern selbst aktiv in diesen Prozess eingrei­ fen. Dieser Aspekt ist von der volkskundlichen Erzählforschung bisher nur unzureichend wahrgenommen worden. Es erscheint daher lohnend, den damit einhergehenden neuen Phänomenen, die sich vor allem in der Cyberkultur herausgebildet haben, nachzugehen und sie durch ausgewählte Beispiele zu veranschaulichen. Für ihre Mithilfe bei diesen Forschungen möchte ich mich bei meinen zahlreichen Kolleginnen und Kollegen im In- und Ausland, besonders in Neuseeland bedanken, die mir in den ver­ gangenen acht Jahren durch ihre bereitwillige Aufnahme in ihre Netzwerke * 1

Erstveröffentlichung in: Catteeuw, Paul u.a.: Toplore. Stories and Songs. Trier 2006, S. 8–20. Moser-Rath, Elfriede: Frauenfeindliche Tendenzen im Witz. In: Zeitschrift für Volkskunde 74 (1978), S. 40–57. Zit. n. dem Wiederabdruck in: Marzolph, Ulrich und Tomkowiak, Ingrid (Hg.): Kleine Schriften zur populären Literatur des Barock. Göttingen 1994. S. 377–94, hier S. 377.

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der Humorkommunikation und viele nützliche Hinweise hervorragende Einblicke in diesen neuen Bereich moderner Erzählkultur eröffnet haben. Zunächst gilt es aber kurz zurückzublicken auf die Zeit davor. Insge­ samt gesehen ist das Forschungsfeld Frauen im Humor, ebenso wie das benachbarte Feld des sexuellen Humors noch nicht sehr alt. Als nachfreu­ dianischer Pionier auf diesem Gebiet darf ohne Zweifel Gershon Legman angesehen werden, der zwar – ähnlich wie sein Altersgenosse Alan Dun­ des – nach traditionell nordamerikanischer Weise stark den Freudschen Denkkategorien verhaftet war, dem aber die Erzählforschung darüber hin­ aus wichtige Denkanstöße verdankt. Mit seinem viel zitierten, aber immer noch zu wenig wahrgenommenen Aufsatz Misconceptions in Erotic Folkore (1962) ging er mit der damaligen amerikanischen Folkloristik schonungslos ins Gericht und nannte die vernachlässigten Seiten der Folklore beim Na­ men. Noch konkreter wurde er dann in seinem berühmt gewordenen Horn Book (1966) und in seiner zweibändigen, monumentalen Ausgabe Rationale of the Dirty Joke (1968–75). Man mag zu seinen darin vorgelegten psycho­ analytischen Deutungsversuchen heute stehen, wie man will, man muss Legman anerkennend zugestehen, dass sein „Opus magnum“ aufgrund seiner überragenden Quellenkenntnis und seines lebenslangen Sammler­ fleißes einen unbestrittenen Meilenstein in der Erforschung der erotischen Volksüberlieferungen darstellt. Sein Fach hat es ihm nicht gedankt, so dass er es vorgezogen hat, dem prüden Amerika den Rücken zu kehren und den Rest seines Lebens in Frankreich zuzubringen. Legmans Hauptwerk ist allerdings nie ins Französische übersetzt worden; der erste Teil wurde zwar ins Deutsche übertragen, aber diese mutige Verlegertat war trotz des verlockenden Titels Der unanständige Witz (1970) ein Misserfolg, offenbar weil den Lesern darin zu viel an Theorie und zu wenig an erotischen Texten geboten wurde. Gershon Legman war der Überzeugung, dass das Verhältnis von Mann und Frau ein nicht enden wollendes Schlachtfeld der Geschlechter sei, wo­ bei dem Mann die Rolle des dominierenden Partners zukommt, sowohl als Witzerfinder und -erzähler als auch als prävalente Witzfigur, wohingegen das Frauenbild im Witz durch Stichworte wie Penisneid, Kastrationskom­ plex, Lüsternheit, Unersättlichkeit usw. gekennzeichnet sei. Die Analyse in seinem Kapitel „Women“2 endet mit der Feststellung, dass Frauen auf­ grund dieser Dispositionen und trotz mancher vereinzelter Beispiele für erfolgreiche Frauen in Hosenrollen (Marlene Dietrich!) in Geschlechter­ dingen noch meilenweit von einer Emanzipation entfernt seien. „Histori­

2

Legman, Gershon: Rationale of the Dirty Joke: An Analysis of Sexual Humour. New York 1968. S. 319–397.

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cally, women have been the last oppressed group to make their move‚ nor have they actually made it yet“.3 Und: „Women are still frozen at the paltry assimilationist stage of hating themselves for the women that they are, and wanting to be what they can never be: ‚men‘‚ – pants‚ penis‚ and all the rest of it“.4 Man hat fast Hemmungen, diese Zitate vierzig Jahre, nachdem sie geschrieben wurden, hier wiederzugeben, aber für die Zwecke meiner Beweisführung sind sie nützlich, ebenso wie die beiden folgenden: Für Legman war evident, „that this material has all been created by men‚ and that there is no place in it for women except as the butt“.5 Und: „[i]t is, furthermore, unquestionable that most modern jokes on sexual themes are the creation of men and not of women“.6 Legman besaß in den USA in Gestalt seines kalifornischen Kollegen Alan Dundes einen Mitstreiter, der sich „in eroticis“ zwar nicht ganz so weit vorgewagt hatte wie er, aber wer das Lebenswerk von Dundes kennt, der weiß, dass er vor allem in seinen verschiedenen Editionen der 70er Jahre zur sog. Bürofolklore, die er unter Titel wie Urban Folklore of the Paperwork Empire veröffentlichte, kein Blatt vor den Mund genommen hat. Auch sonst hat er mit seinen gewagten Interpretationen amerikanischer (und deutscher!) Volkskultur viele Tabus gebrochen, was mehr als einmal Leser seiner aufrührerischen Schriften zu der Forderung veranlasst hat, dass man ihm wegen Verunglimpfung von Teilen der nationalen amerika­ nischen Kultur oder von Minderheiten seinen Lehrstuhl für Anthropology in Berkeley entziehen sollte. Aber ähnlich wie Legman ist Dundes bei sei­ nen Untersuchungen über das Geschlechterverhältnis in den Genres der Volksüberlieferung dabei stehen geblieben, frauenfeindliche Folklore aus allen möglichen Lebensbereichen zu sammeln und den darin zum Aus­ druck kommenden männlichen Chauvinismus zu beklagen: „The male bias in American culture is not just reflected in American folklore, it is also actively transmitted to each new generation of Americans, often un­ consciously, through folkloristic means. Whether it be an autograph book­ verse, a superstition, or a nursery rhyme‚ the pattern is unmistaken – ably male first‚ female second“.7

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Ebd., S. 319. Ebd., S. 319. Legman: Dirty Joke (wie Anm. 2), S. 217. Ebd., S. 326. Dundes‚ Alan: The Crowing Hen and the Easter Bunny. Male Chauvinism in American Folk­ lore. In: Dégh, Linda (Hg.): Folklore Today. A Festschrift for Richard Dorson. Bloomington 1976, 123–138. Zit. n. dem Wiederabdruck in: Ders. (Hg.): Interpreting Folklore. Blooming­ ton 1980, S. 160–175; S. 297–300, hier S. 160.

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Er war sich auch darüber im klaren, dass es wenig helfen würde, die Veröffentlichung von Volksüberlieferungen künftig einer Zensur zu unter­ werfen, um die Chauvinismen zu unterdrücken. Die Rolle des Folkloristen müsse vielmehr darin bestehen, die vielen bewussten und unbewussten Formen der weiblichen Diskriminierung offen zu legen und ein gesell­ schaftliches Bewusstsein dafür zu entwickeln. „In the final analysis, it is the society and its attitudes which must be altered, not just folklore”.8 Dem ist uneingeschränkt zuzustimmen! Mit Elfriede Moser-Rath hat 1978 erstmals auch eine deutschspra­ chige Forscherin in die Diskussion eingegriffen. In ihrem Aufsatz Frauenfeindliche Tendenzen im Witz konnte die große Kennerin der mittelalterli­ chen und nachmittelalterlichen Schwankliteratur die im modernen Witz zum Ausdruck kommende Herabwürdigung der Frau zum allzeit willfäh­ rigen Sexualobjekt bis zu ihren antiken Wurzeln in misogynen Männerge­ sellschaften zurückverfolgen und breitete dazu ein beachtliches Material an historischen Quellenzeugnissen aus. Ihr Fazit klang aber wiederum eher resignativ als aggressiv: „Misogyne Attitüden erweisen sich gerade im Witz, trotz mancher Qualitätsverschiebungen, als ungemein stabil: im Grunde haben sie sich unter dem Einfluss der Sex- und Pornowelle eher noch vergrößert“.9 Die kritischen Einwände, die von Männerseite gegen diese Position erhoben wurden, können wir übergehen, da sie nichts zu dem grundsätzlichen Dilemma des Fehlens aktiver feministischer Hu­ morproduktion beizutragen hatten, denn selbst die ins Feld geführten Beispiele für Männerfeindlichkeit in Schwank und Witz entstammen männlicher Produktion,10 und die These von der Aggressionsneutralität von Schwank und Witz entbehrte empirischer Fundierung und ist des­ halb auch von anderer Seite als ästhetische „L’art pour l’art“-Theorie des Witzes zurückgewiesen worden.11 Die in den 60er Jahren einsetzende Frauenbewegung hat etwas später durch die Radio- und Fernsehjournalistin Karin Huffzky u.a. eine „Streit­ schrift“ gegen die Frauenfeindlichkeit im Männerwitz hervorgebracht (1979). Auch hier wiederholen sich – unterstützt durch viele Beispiele vor­ wiegend aus schriftlicher Provenienz – die Statements der vorangegange­ nen wissenschaftlichen Literatur: von der Ehe als tragischem Zweikampf der Geschlechter, vom Humor als ausschließlicher Männersache, von der

 8 Ebd., S. 174–175.  9 Moser-Rath: Frauenfeindliche Tendenzen (wie Anm. 1), S. 57. 10 Wehse‚ Rainer: Männerfeindliche Tendenzen in Witz und Schwank. In: Zeitschrift für Volks­ kunde 78 (1979), S. 57–65. 11 Lixfeld, Hannjost: Zur ästhetischen L’art pour l’art-Theorie des Witzes. In: Zeitschrift für Volkskunde 75 (1979), S. 67–69.

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nur passiven Rolle der Weiblichkeit im Witz, von dem männlichen Stamm­ tischrunden als soziologischer Metapher für das Patriarchat usw., aber Frau Huffzky sagt auf S. 32 ihrer Streitschrift auch etwas sehr Wichtiges, das er­ klären hilft, warum es keine von Frauen erfundenen Witze als anerkanntes Kulturprodukt gäbe: Witze seien ein Produkt der patriarchalischen Kultur, und Frauen verfügten über keine den Männern entsprechende Öffentlich­ keit. Wie eine solche hergestellt werden könnte und wie emanzipatorische Botschaften im Witz aussehen müssten, darüber hat die streitbare Autorin leider nicht reflektiert. Damals gab es zwar bereits den Computer, aber noch nicht in Form der privaten PCs, von der E-Mail war noch lange nicht die Rede, und das Internet war noch weit entfernt. Und damit sind wir beim Thema: Denn das Internet war es schließlich, das den Frauen mit großer Verspätung die Mittel zur Schaffung ihrer eigenen Öffentlichkeit in die Hand gegeben hat, und wir wollen sehen, auf welche Weise sie ihn genutzt haben. Und sie haben ihn genutzt! Erst das Internet hat den Frauen Stimmrecht und die Mittel gegeben, die Freiheit, zu sagen, was ihnen am Herzen liegt, und der jahrhunderte­ lang vorherrschenden Frauenfeindlichkeit im Witz eine eigene Humorkul­ tur entgegenzusetzen. Dazu hat die vermehrte Berufstätigkeit von Frauen ebenso beigetragen wie die Verfügbarkeit der elektronischen Medien am Arbeitsplatz. Aber das feministische Logo „Wir Frauen schlagen zurück“ und seine Widerspiegelungen im Humor ist älter und geht bereits in die Zeit vor der allgemeinen Verbreitung von PC und E-Mail in die 80er Jahre zurück. Derb männerfeindlicher Witz findet sich denn auch als neue Ka­ tegorie in manchen heutigen Witz-Datenbanken des Internets, deren Be­ treiber in den meisten Fällen wiederum Männer sind. Dies bedeutet nichts anderes, als dass die Männer sich diese Spielart des genderspezifischen Wit­ zes inzwischen angeeignet haben, um ihre angeblich liberale Einstellung zu demonstrieren. So findet man im Internet unter dem Suchwort „Männerfeindliche Witze“ heute denn auch Dutzende, wenn nicht Hunderte von Webseiten, in denen mit geringer Variationsbreite das vorhandene aggressive Poten­ tial an Misandrie im Humor ausgeschöpft wird. In aller Regel wird hier Humoristisches auf das im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts zur vor­ herrschenden Witzform gewordene stereotype Frage/Antwort-Schema reduziert. Das einst anzutreffende Erzählerische am Witz, welches ihn im Munde eines begabten Erzählers zum „Witzereignis“ werden ließ, bleibt in diesen Internet-Sammlungen weitgehend auf der Strecke. Ein paar Beispiele, mehr zum Abschrecken als zum Goutieren bestimmt, mögen genügen.

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Was war der erste Mann auf dem Mond? Ein guter Anfang. Was sind 200 Männer auf dem Grund des Meeres? Eine gute Fortsetzung. Was ist ein Mann in Salzsäure? Ein gelöstes Problem. Was hat man, wenn man drei Männer bis zum Hals in Sand eingegraben hat? Zu wenig Sand. Was sollte eine Frau tun, wenn ihr Mann im Zickzack im Garten herumhüpft? Weiterschießen! Was ist ein Mann im Knast? Artgerechte Haltung. Warum arbeiten so viele Männer auch am Wochenende? Damit man sie montags nicht wieder anlernen muß. Wie zeigt ein Mann, daß er Zukunftspläne hat? Er kauft zwei Kisten Bier. Was macht eine Frau morgens mit ihrem Arsch? Sie schmiert ihm ein Brot und schickt ihn zur Arbeit. Er nach dem ehelichen Verkehr: „Liebling, warum läßt du mich nie wissen, wenn du einen Orgasmus hast“? Sie: „Das würde ich ja gern, aber du bist ja nie dabei.“ Warum kommen nur 10 % aller Männer in den Himmel? Wenn alle reinkämen, wäre es die Hölle.

Diese Beispiele gehören zweifellos nicht zu dem, was ich im Titel dieses Aufsatzes als die „Neue Erzählkultur im Internet“ bezeichnet habe. Der Geist, der diese Witze, hervorgebracht hat, ist vielmehr noch derjenige der „streitbaren Emanzen“ als Protagonistinnen der frühen Frauenbewegung, für die das Oberhausener Frauenkabarett-Duo The Missfits beispielhaft ste­ hen kann, und dieser „Humor“ ist nur verständlich, wenn man ihm die männlich geprägte Denkweise entgegenhält, wie sie sich z.B. im Blondi­ nen-Witz objektiviert. Die neue Erzählkultur hat sich an anderer Stelle etabliert, nämlich in der E-Mail. Das Phänomen ist zu bekannt, als dass man es noch eigens vorstellen müsste. Mit der normalen Post („snail mail“) erhalten Menschen in der „westlichen Welt“ heute in der Regel hauptsächlich nur noch Rech­

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nungen (oder Mahnungen!) und Reklame, alles andere findet in der elek­ tronischen Mail statt. Vor allem seit sich die Benutzer der Mailprogramme gegen Ende des 20. Jahrhunderts in die Lage versetzt sahen, nicht nur reine Textbotschaften auf den Weg zu bringen, sondern ihre Briefe mit „attach­ ments“ zu bereichern, und seit es darüber hinaus möglich ist, in diesen „at­ tachments“ Bildbotschaften zu versenden, ist das Internet zu einem neuen Reservoir für eine neue, globalisierte Erzählkultur geworden. Obwohl sie tagtäglich damit konfrontiert werden, haben sich bisher erstaunlich wenige Forscherinnen und Forscher mit der neuen „attachment-Kultur“ auseinan­ dergesetzt.12 Die Vielfalt dessen, was unsere Mailboxen erreicht, ist erstaunlich: Die ganze Fülle literarischer und volksliterarischer Genres steht zur Ver­ fügung, ergänzt durch alle möglichen Arten von Zeichnungen, Karikatu­ ren, Cartoons, Fotos und Fotomontagen bis hin zu animierten Bildern und Kurzvideos (sogenannte MPEGs). Die Mailboxen sind zu einem eigenen Unterhaltungsmedium geworden, das mit der professionellen Computer­ arbeit einhergeht und von den Arbeitgebern mehr oder weniger gedul­ det wird, weil darin ein notwendiger Ausgleich für die oft geistestötenden Verrichtungen am Bildschirm stattfindet. Speziell für den Austausch von humoristischen Botschaften haben sich mittlerweile eigene Netzwerke he­ rausgebildet, und wer daran partizipiert, kann oft sicher sein, innerhalb weniger Tage oder sogar Stunden nach ihrer Entstehung mit den neuesten humoristischen Botschaften versorgt zu werden. Die neue Humorkommunikation ist interaktiv, denn jede/r Teilneh­ mer/in ist zumindest theoretisch in die Lage versetzt, vom Empfänger zum Sender zu werden und seinerseits andere an den erhaltenen Texten und/oder Bildern teilnehmen zu lassen. Zwar sind in der Regel die Urhe­ ber der Botschaften unbekannt, und sie entsprechen daher einem Kriteri­ um, das an die traditionelle Volksdichtung angelegt wird, aber wir kennen zumindest die Absender, ihren Wohnort, ihren Beruf, ihr Alter, ihre Vor­ lieben und Auswahlkriterien, und wir können ihnen unsererseits ähnliche Botschaften zusenden, Kommentare äußern oder uns beschweren, falls die Grenzen des guten Geschmacks verletzt werden. Insofern herrscht eine kommunikative Situation, die an die Regeln der oralen Vermittlung von Erzählstoffen erinnert. Wichtig erscheint mir auch, dass von den humori­

12 Vgl. Kalapoš, Sanja: The Culture of Laughter, the Culture of Tears: September 11th Events Echoed on the Internet. In: Narodna umjetnost 39 (Zagreb 2002), S. 97–113; Kuipers, Giselinde: Media Culture and the Internet Disaster Jokes. Bin Laden and the Attack on the World Trade Center. In: European Journal of Cultural Studies 5,4 (2002), S. 450–470; Oring‚ Elliott: The Context of Internet Humor. In: Ders.: Engaging Humor. Urbana 2003, S. 129–140, 199–200.

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stischen Botschaften unserer Mailboxen vielfach eine positive Sinnstiftung ausgeht, d.h. dass die Texte und Bilder teilweise aktiv angeeignet, schöp­ ferisch weitergestaltet und in der alltäglichen Kommunikation mit anderen Menschen interaktiv eingesetzt werden.13 Unter den wenigen Beispielen, die hier angeführt werden können, soll ein besonders bezeichnender Text aus der neuen narrativen Kultur des Internets an die Spitze gestellt werden. Das Dilemma von König Artus In jungen Jahren wurde König Artus von dem Regenten eines benachbarten Kö­ nigreichs in einen Hinterhalt gelockt und gefangen genommen. Der Rivale hätte ihn umbringen lassen können, aber er war von König Artus’ Jugendlichkeit und seinen Idealen bewegt und bot ihm die Freilassung an unter der Bedingung, daß er auf eine äußerst schwierige Frage eine Antwort finden könnte. Artus würde ein Jahr für die Lösung der Aufgabe gewährt werden, fände er aber keine Antwort, so müsse er sterben. Die Frage lautete: Was ist der geheimste Wunsch aller Frauen? Eine solche Frage hätte selbst den erfahrensten Mann verwirrt, umso mehr den jungen König Artus, dem eine Antwort auf diese Frage zu finden fast unmöglich schien. Aber da es besser war, die Aufgabe zu übernehmen, anstatt auf der Stel­ le zu sterben, nahm er das Angebot an, innerhalb eines Jahres eine Antwort zu finden. Er kehrte in sein Königreich zurück und begann alle Leute zu fragen: die Prinzes­ sin, die Prostituierten, die Priester, seinen weisen Mann, den Hofnarren. Er sprach mit jedem, aber niemand konnte ihm eine befriedigende Antwort geben. Viele Menschen rieten ihm, die alte Hexe zu befragen, die im ganzen Königreich für die exorbitanten Summen, die sie für ihren Rat forderte, berühmt war. Der letzte Tag des ihm gewährten Aufschubs war erreicht, und Artus blieb nichts anderes übrig, als mit der Hexe zu sprechen. Sie sollte ihm die Antwort verraten, aber Artus hatte zuerst ihren Preis zu akzeptieren: Die alte Hexe wollte Gawain heiraten, den edelsten Ritter der Tafelrunde und König Artus’ allerbesten Freund. Der junge König war entsetzt. Die Hexe war bucklig und sah abscheulich aus, hatte nur noch einen einzigen Zahn, stank wie eine Kloake und gab entsetzliche Töne von sich. Ihm war noch nie eine abstoßendere Kreatur begegnet. Wie konn­ te er seinem Freund zumuten, sie zu heiraten und sich eine so schreckliche Bürde aufzuladen? Aber als Gawain von dem Vorschlag hörte, sprach er mit Artus: Kein Opfer sei ihm zu groß, wenn er damit Artus’ Leben retten und den Fortbestand der Tafel­ runde sichern könne. Also wurde die Hochzeit ausgerufen, und die Hexe beant­ wortete die Frage so: „Der geheimste Wunsch einer Frau ist es, ihr eigenes Leben in die Hand zu nehmen.“

13 Vgl. Brednich, Rolf Wilhelm: www.worldwidewitz.com: Humor im Cyberspace. Freiburg 2005, S. 24–26.

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Jedermann wußte sofort, daß die Hexe eine große Wahrheit ausgesprochen hatte und daß damit das Leben von König Artus gerettet worden war. Und so war es auch, denn der König des benachbarten Königreichs sprach Artus frei. Was für eine Hochzeit Gawain und die Hexe feierten! Artus war zwischen Er­ leichterung und Qualen hin- und hergerissen. Gawain gab sich indessen zufrieden und war wie immer höflich und zuvorkommend. Die alte Hexe aber benahm sich furchtbar, so daß sich alle äußerst unwohl fühlten. Die Hochzeitsnacht kam heran, und Gawain, der sich auf das Schlimmste gefaßt gemacht hatte, betrat das Schlafzimmer. Aber welcher Anblick erwartete ihn! Die Schönste aller Frauen, die er je gesehen hatte, lag vor ihm. Gawain, hingerissen von dem Anblick, fragte sie, wie das alles möglich sei. Die Schöne antwortete ihm, weil er so nett zu ihr in ihrer Hexengestalt gewesen sei, würde sie von nun an einen halben Tag lang die schrecklich deformierte Hexe sein, die andere Hälfte des Tages eine wunderschöne Frau. Er habe die Wahl, in welcher Gestalt er sie tagsüber und nachts haben wolle. Was für eine grausame Wahl! Gawain dachte über seine mißliche Lage nach. Tags­ über eine Schönheit um sich zu haben, die er seinen Freunden vorführen könnte, aber nachts zu Hause eine alte Hexe? Oder wäre es vielleicht besser, den Tag mit einer abscheulichen Hexe zu verbringen, um die Liebesnächte mit einer wunder­ schönen Frau zu genießen? Was würden Sie getan haben? Wie sich Gawain entschieden hat, steht weiter unten, aber bitte lesen Sie es nicht, bevor Sie Ihre eigene Wahl getroffen haben. Warten Sie und denken Sie nach! Der edle Gawain antwortete, daß er ihr die Wahl überlassen würde. Als die Hexe dies vernahm, verkündete sie, daß sie von nun an immer eine schöne Frau sein werde, weil er ihr so viel Achtung entgegengebracht habe‚ so daß sie ihr Leben selbst in die Hand nehmen könne.14

Ich betrachte diesen Text als besonders gutes Beispiel für einen innovati­ ven Beitrag zur neuen Erzählkultur im Cyberspace. Die anonym überliefer­ te Erzählung baut zwar auf bekannten Motiven der älteren Erzähltradition auf: die Ritter der Tafelrunde, die Lösung eines Rätsels als Rettung vor dem Tod (Turandot!), der Freund als Helfer in der Not, die Hexe als weise Frau, ihre Teilverwandlung und endgültige Erlösung in der Hochzeitsnacht. Aber trotz dieser offenkundigen Anknüpfungen an bekannte Erzählthemen ist das, was der/die unbekannte Autor/in mit dem überraschenden Schluß daraus geformt hat, ein beachtlicher Beitrag zu einem neuen Genre der modernen digitalen Erzählkultur. Und dieser Beitrag ist für die neue Kom­ munikationsweise im Internet wie geschaffen, denn er ist interaktiv ange­ legt und fordert zu eigener Stellungnahme auf. Was ein begabter Erzähler in der oralen Tradition zu leisten vermag, sein Publikum an seine Erzäh­ 14 Brednich: www.worldwidewitz.com (wie Anm. 13), S. 37–39. Nach einem englischen Origi­ nal im Internet und mehreren Fassungen in meiner Mailbox.

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lung zu fesseln, das vermag auch dieser Text, obwohl er seine Rezipienten zunächst auf digitalem Weg erreicht. Aber er reizt zugleich auch nicht nur zum Weitersenden, sondern auch zum Weitererzählen. Dieses Phänomen der Re-Oralisierung von Internettexten ist mittlerweile schon ein sehr oft zu beobachtendes Element der Alltagskultur und wird die Erzählforschung in Zukunft vor neue Herausforderungen stellen. Das Internet hat eine weitere neue Form des schriftlichen Humors her­ vorgebracht: die Listen. Sie sind aus dem Faxzeitalter übernommen, aber im neuen Medium zur Perfektion entwickelt worden. Im Genderbereich enthalten sie vor allem witzige und originelle Verzeichnisse zu bestimm­ ten kontrastierenden Eigenschaften und Handlungsweisen von Menschen beiderlei Geschlechts. Der besondere Reiz dieser Listen liegt darin, dass sie vom Empfänger vor jeder Weiterleitung an andere kreativ fortgeschrieben werden können. Bemerkenswert ist weiter, dass diese Listen oft einen Gen­ der-Proporz einhalten und die Geschlechter im kontrastiven Einklang mit­ einander zeigen: So gibt es z.B. Listen mit 100 guten Gründen, eine Frau/ ein Mann zu sein, Frauen/Männer unter der Dusche, beide Geschlechter am Drive-Thru-Bankschalter, beim Barbecue, usw. Die männlichen Schwächen im täglichen Leben werden in diesem neu­ en Genre auf originelle Weise aufs Korn genommen. Im folgenden Bei­ spiel finden sich aus weiblicher Sicht zahlreiche der auch in anderen Texten auftretenden maskulinen Stereotypen versammelt. CLASSES FOR MEN AT YOUR LOCAL ADULT LEARNING CENTER Sign up by 19th August Note:

Due to complexity & difficulty level‚ each course will accept a maximum of eight participants

Topic 1:

How To Fill Up The Ice Cube Tray. Step by step, with slide presentation. Toilet Paper. Does it Grow On the Holder? Round table discussion. Is It Possible to Urinate by Lifting The Seat And Avoid Splashing The Floor/Walls And Nearby Bathtub? Group practice. Fundamental Differences Between The Laundry Hamper And the Floor. Pictures and explanatory graphics. Dishes and Silverware: Can They Levitate And Fly Into The Sink? Examples on video.

Topic 2: Topic 3:

Topic 4:

Topic 5:

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Topic 6:

Topic 7:

Topic 8:

Topic 9:

Topic 10:

Topic 11:

Topic 12: Topic 13:

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Identity Crisis: Losing The Remote To Your Significant Other. Helpline support and Support groups. Learning How To Find Things. Looking In The Right Place Instead Of Turning The House Upside Down. Diagrams and floor plans. Health Watch: Bringing Flowers is Not Harmful To Your Health. Graphics and audio tapes. Real Men Ask For Directions When Lost. Live testimonials (may be deleted due to unavailability of any men able to give testimonials).15 Is It Genetically Impossible To Sit Quietly As She Parallel Parks? Driving Simulation. Learning About Life: Basic Differences Between Mother And Wife. Online class and role playing. How To Be The Ideal Shopping Companion. Exercises, meditation and Breathing techniques. How To Fight Cerebral Atrophy. Remembering Birthdays, Anniversaries, Other Important Dates And Calling When You’re Going To Be Late. Cerebral shock therapy sessions (Full lobotomies offered).16

(E-Mail von einem Historiker der Victoria University Wellington, 13. September 2003)

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Je nachdem, wer in solchen Humornetzwerken federführend oder als Zu­ lieferer fungiert, können sich die Inhalte weiblicher „Mailing lists“ durchaus auch noch durch aggressivere Töne auszeichnen, die an die Frühzeit der Frauenbewegung gemahnen (siehe oben!). Hierzu ein aktuelles Beispiel, wiederum im Englischen als die Lingua franca der Humorkommunikation. Der kompilatorische Charakter des Textes ist leicht an der Inhomogenität des Samples abzulesen.

15 Ein häufig wiederkehrendes Motiv, welches mir auch als folgendes pseudowissenschaftliches Statement begegnet ist: „Human conception typically involves a chaotic dash by tens of mil­ lions of spermseeking a path to a Single egg. Some researchers believe that so many sperm are required because not one of them will stop to ask directions.“ Ward, Fred: Jokes from the Internet. Bethdesda 1999, S. 124. 16 „The most effective way to remember your wife’s birthday is to forget it once“ (aus dem Internet).

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15 PIECES OF ADVICE TO BE PASSED ON TO YOUR MUM‚ YOUR DAUGHTERS OR GRANDDAUGHTERS, NIECES‚ AUNTS‚ GIRLFRIENDS, ETC. Don’t imagine you can change a man – unless he’s in nappies. What do you do if your boyfriend walks out? You shut the door. If they put a man on the moon – they should be able to put them all up. Never let your man’s mind wander – it’s too little to be alone. Go for the younger man. You might as well, they never mature. Men are all the same – they just have different faces‚ so that you can tell them apart. Definition of a bachelor: a man who has missed the opportunity to make some women miserable. Women don’t make fools of men – most of them are the do-it-yourself types. Best way to get a man to do something is to suggest he is too old for it. Love is blind, but marriage is a real eye-opener. If you want a committed man, look in a mental hospital. The children of Israel wandered around the desert for 40 years. Even in Biblical times‚ men wouldn’t ask for directions. If he asks what sort of books you’re interested in, tell him cheque books. Remember a sense of humor does not mean that you tell him jokes‚ it means that you laugh at his. Sadly‚ all men are created equal. Send this to five bright women to make their day! Pass it to a few „goodmen“ too! (E-Mail einer Kollegin aus Wellington/Neuseeland, 26. Mai 2005)

Bei manchen humoristischen Texten sollte man fast annehmen, dass weib­ liche und männliche Autoren zusammengearbeitet haben, so bei den bei­ den folgenden: DER UNTERSCHIED ZWISCHEN LADIES UND RICHTIGEN FRAUEN Die Lady Falls sie ausnahmsweise einmal beim Kochen ein Gericht versalzen sollte, fügt sie der Speise eine geschälte Kartoffel hinzu, die das überschüssige Salz aufsaugt. Die richtige Frau Falls sie einmal beim Kochen zuviel Salz nimmt, ist das halb so schlimm. Bitte wiederholen sie mit mir das Motto einer richtigen Frau: „Ich habe es gekocht, und du wirst es essen, wie schlecht es auch immer schmecken mag.“ Die Lady Hilfe bei Kopfschmerzen: Nimmt eine Zitrone, schneidet sie mitten durch und reibt ihre Stirn mit dem Saft ein. Der Schmerz wird bald nachlassen.

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Die richtige Frau Nimmt den Saft einer Zitrone, mischt ihn mit Tequila und Eis und trinkt die Mi­ schung. Sie hat zwar immer noch Kopfschmerzen, aber sie fühlt sich trotzdem besser. Die Lady Um die Kartoffeln am Keimen zu hindern, legt sie einen großen Apfel zwischen die Kartoffeln. Die richtige Frau Kauft Kartoffelbrei zum Anrühren in der Schachtel und bewahrt ihn in der Spei­ sekammer ein Jahr lang auf. Die Lady Wenn es beim Kuchenbacken im Rezept heißt, man soll die Kuchenform mit Mehl einreiben, dann nimmt sie trockenen Kuchenmix, damit der Kuchen später keine Mehlspuren aufweist. Die richtige Frau Geht in die Bäckerei, dort werden sie ihn ihr sogar verzieren. Die Lady Streiche etwas geschlagenes Ei auf den Kuchen, damit nach dem Backen die Kruste schön glänzt. Die richtige Frau Die Gebrauchsanweisung für tiefgefrorene Torten sagt nichts über die Oberflä­ chenbehandlung aus. Die Lady Wenn sie ein Problem mit dem Öffnen von Einmachgläsern hat, versucht sie ei­ nen trockenen Latex-Spülhandschuh. Er sorgt dafür, daß die Hand beim Drehen nicht ratscht, und so öffnet man dein Glas ganz bequem. Die richtige Frau Sie geht und fragt den netten Nachbarn, es für sie zu tun. Die Lady Sie gießt den übrig gebliebenen Wein in der Flasche nicht aus, sondern friert ihn zu Eisklumpen ein zur Verwendung in Aufläufen oder Saucen. Die richtige Frau Übrig gebliebener Wein? (E-Mail einer ehemaligen Göttinger Studentin aus Kassel, Mai 2003) DREI WEISE FRAUEN Was wäre geschehen, wenn die drei Weisen aus dem Morgenland drei weise Frauen gewesen wären? Sie hätten nach dem Weg gefragt, wären rechtzeitig angekommen, hätten bei der Geburt des Babys geholfen, den Stall gesäubert, einen Auflauf zubereitet und einige praktische Geschenke mitgebracht.

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Aber was würden sie gesagt haben, nachdem sie sich verabschiedet hatten? „Hast du gesehen, daß Maria Sandalen zu ihrem Kleid getragen hat?“ „Dieses Baby sieht Josef kein bißchen ähnlich.“ „Die und Jungfrau? Daß ich nicht lache! Ich kenne sie noch aus unserer Schulzeit!“ „Wie konnten sie nur diese abscheulichen Tiere in das Haus hineinlassen?“ „Ich habe gehört, dass Josef noch nicht mal einen Arbeitsplatz hat.“ „Und der Esel, auf dem sie reiten, hat auch schon bessere Tage gesehen!“ „Und ich möchte wissen, wie lange es dauert, bis ich meinen Kochtopf wieder zurückbekomme!“ (Aus dem Englischen. E-Mail von einem Freund aus Porirua/Neuseeland, Okto­ ber 2003)

Die neue Erzählkultur hat eine Art Ausgleich, ein Gleichgewicht der Ge­ schlechter hervorgebracht, wie er z.B. auch im Märchen zu beobachten ist.17 Dazu hat naturgemäß beigetragen, dass weltweit Frauen heute in al­ len Berufszweigen und somit auch in der elektronischen Kommunikation präsent sind und dort zu einer vor Jahrzehnten von der UNO geforderten Mäßigung im Klima des aggressiven genderspezifischen Humors beigetra­ gen haben. Frauen verfügen heute vielfach über ihre eigenen Netzwerke, in denen kreative Beiträge zur neuen Erzählkultur entwickelt werden. Soweit sie Geschlechterthemen behandelt, hat sich diese narrative Cyberkultur so­ mit vom aggressiven Geist der früheren Frauenbewegung und der daraus erwachsenen Frauenforschung verabschiedet und ist eher in der Nähe der heutigen Genderforschung anzusiedeln, der es darum geht, sich mit den realen Beziehungen der Geschlechter auseinanderzusetzen, Asymmetrien im Geschlechterverhältnis aufzuzeigen und den jahrhundertelang vorherr­ schenden „Androzentrismus“ durch die Erschließung von weiblichen Le­ bens- und Erfahrungsräumen, Denk- und Verhaltensweisen als den wesent­ lichen Faktoren gesellschaftlicher, historischer, kultureller Repräsentation und Entwicklung aufzubrechen.18 Wer sich dem Humor im Internet in diesem Sinn mit geschärfter Aufmerksamkeit zuwendet, wird mit gewisser Befriedigung feststellen, dass diese Denkmuster auch vom Humor Besitz ergriffen haben. Hier ist mittlerweile eine deutliche Veränderung im Kli­ ma der alltäglichen Kommunikation eingetreten, und es erscheint denkbar, dass davon auch positive Rückwirkungen auf das wirkliche Leben und auf das Verhältnis der Geschlechter zueinander ausgehen können.

17 Moser-Rath, Elfriede: Frau. In: Ranke, Kurt u.a. (Hg.): Enzyklopädie des Märchens. Bd. 5. Berlin u.a. 1987, Sp. 100–137, hier Sp. 102. 18 Vgl. Labouvie, Eva: Was ist Geschlechterforschung? In: Fischer, Heinz und Feitzinger, Jo­ hannes Viktor (Hg.): Individuum und Kosmos: Die kleine und die große Welt. Mainz 2004, S. 57–73, hier S. 61.

Die neue Erzählkultur im Internet

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Literatur Brednich, Rolf Wilhelm: www.worldwidewitz.com: Humor im Cyberspace. Freiburg 2005. Dundes‚ Alan: The Crowing Hen and the Easter Bunny. Male Chauvinism in American Folklore. In: Dégh, Linda (Hg.): Folklore Today. A Festschrift for Richard Dorson. Bloomington: Indiana University‚ Research Center for Language and Semiotic Stu­ dies (1976), 123-38. Zitiert nach dem Wiederabdruck in: Ders. (Hg): Interpreting Folklore. Bloomington 1980, 160–75, 297–300. Dundes‚ Alan and Pagter, Carl R.: Urban Folklore from the Paperwork Empire. Austin 1975. Huffzky, Karin: Wer muß hier lachen? Frauenbild im Männerwitz. Eine Streitschrift. 2. Aufl. Darmstadt 1979. Kalapoš, Sanja: The Culture of Laughter, the Culture of Tears: September 11th Events Echoed on the Internet. In: Narodna umjetnost 39 (Zagreb 2002), S. 97–113. Kuipers, Giselinde: Media Culture and the Internet Disaster Jokes. Bin Laden and the Attack on the World Trade Center. In: European Journal of Cultural Studies 5,4 (2002), S 450–70. Labouvie, Eva: Was ist Geschlechterforschung? In: Fischer, Heinz und Feitzinger, Jo­ hannes Viktor (Hg.): Individuum und Kosmos: Die kleine und die große Welt. Mainz 2004, S. 57–73. Legman‚ Gershon: Misconceptions in Erotic Folklore. In: Journal of American Fol­k­ lore 75 (1962), S. 200–208. Legman‚ Gershon: The Horn Book. Studies in Erotic Folklore and Bibliography. 2. Aufl. 1966. Legman‚ Gershon: Rationale of the Dirty Joke: An Analysis of Sexual Humour. New York 1968. Legman‚ Gershon: Der unanständige Witz: Theorie und Praxis. Hamburg 1970. Lixfeld, Hannjost: Zur ästhetischen L’art pour l’art-Theorie des Witzes. In: Zeitschrift für Volkskunde 75 (1979), S. 67–69. Moser-Rath, Elfriede: Frau. In: Ranke, Kurt u.a. (Hg.): Enzyklopädie des Märchens. Bd. 5. Berlin u.a. 1987, Sp. 100–137. Moser-Rath, Elfriede: Frauenfeindliche Tendenzen im Witz. In: Zeitschrift für Volks­ kunde 74 (1978), S. 40-57. Nachdruck in: Marzolph, Ulrich und Tomkowiak, In­ grid (Hg.): Kleine Schriften zur populären Literatur des Barock. Göttingen 1994, S. 377–394. Oring‚ Elliott: The Context of Internet Humor. In: Ders.: Engaging Humor. Urbana 2003, S. 129-140, 199–200. Ward, Fred: Jokes from the Internet. Bethdesda 1999. Wehse‚ Rainer: Männerfeindliche Tendenzen in Witz und Schwank. In: Zeitschrift für Volkskunde 78 (1979), S. 57–65.

Bildgeschichten

Die holländisch-flämischen Sprichwortbilderbogen vom Typus „De Blauwe Huyck“* Sehr verehrter Herr Professor Peeters, gestatten Sie mir, daß ich diesen Aufsatz mit einer persönlichen Vorbe­ merkung beginne. Als ich im Jahre 1964 am IV. Kongreß der International Society for Folk Narrative Research in Athen teilnahm und mein erstes Re­ ferat vor internationalem Publikum zu halten hatte, waren Sie der liebens­ würdige und hilfsbereite Diskussionsleiter unserer Sektion für „Interdiszi­ plinäre Kontakte in der Erzählforschung“. Seit diesem Tag bin ich Ihnen dankbar verbunden. Nun wird mir heute die große Ehre zuteil, an Ihrer Festschrift mitwirken zu dürfen. Ich widme Ihnen die folgenden Zeilen in Verehrung und Dankbarkeit. Im Mittelpunkt des Beitrages sollen diesmal nicht Probleme der Erzählfor­ schung, sondern Zeugnisse aus der Populärgraphik Ihres Landes stehen, die als eine Besonderheit der holländisch-flämischen Imagerie gelten: die Sprichwortbilderbogen. Von Belgien und den Niederlanden ausgehend ha­ ben diese Bilderbogen sehr früh auch Deutschland erreicht und sind in deutschen Offizinen von einheimischen Künstlern nachgeahmt oder ko­ piert worden. Zusammenfassend ist über diesen Komplex bisher sehr we­ nig gearbeitet worden. Alle Arbeiten auf diesem Gebiet hängen irgendwo und irgendwie mit dem berühmten Bruegelschen Gemälde zusammen, das sich heute in den Berliner Kunstsammlungen befindet. Von den drei volkskundlich besonders interessanten Werken Pieter Bruegels d.Ä., den Kinderspielen, dem Streit des Karnevals mit den Fasten und den Niederländischen Sprichwörtern hat letzteres 1559 entstandene Gemälde seit jeher in besonderem Maße die Aufmerksamkeit der Forschung auf sich gezogen. Der Meister hat seinem Sprichwörterbild bekanntlich keine erklä­ rende Interpretation mitgegeben, so daß es späterem Forscherfleiß vorbe­ halten bleiben mußte, die fehlenden Deutungen der einzelnen Bildelemente nachzuliefern. Hier war es – wie so oft in unserem Fach – der Berliner

*

Erstveröffentlichung in: Miscellanea. [Festschrift für] Prof. em. Dr. K.C. Peeters. Antwer­ pen 1975, S. 120–131.

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Bildgeschichten

Altmeister Johannes Bolte‚ der mit bescheidenen Randbemerkungen zu ei­ nem Aufsatz von F. Weinitz viele zutreffende Deutungen erbracht hatte.1 Die Bruegelforscher Tolnay‚ Grauls‚ Jedlicka, Romdahl u.a. haben darüber hinaus unser Wissen um das schwierig zu erschließende Gemälde vermehrt und zusammengefaßt.2 Von deutscher Seite ist vor allem der Name des Ber­ liner Kunsthistorikers Wilhelm Fraenger zu nennen, dessen bahnbrechen­ den Forschungen wir den Nachweis verdanken, daß Bruegels Sprichwortge­ mälde mit bestimmten gleichzeitigen und vorausgehenden Erscheinungen in der europäischen Literatur (Seb. Brant‚ Murner, Rabelais) übereinstimmt, sozialkritische Tendenzen zum Ausdruck bringen will und den „Irrwahn menschlicher Geschäftigkeiten im Gleichnis ihrer Sprichwortbilder“3 darstellen soll. Seither ist es berechtigt, das gesamte Gemälde unter den Oberbegriff der „Verkehrten Welt“ einzuordnen und die einzelnen Szenen entsprechend sinnbildhaft auszudeuten. „‚Die Sprichwörter’ als Ganzheit kann man am ehesten als eine enzyklopädische Vorführung aller Torheiten, Laster, Verbrechen und Gottlosigkeiten betrachten, aus denen ‚die verkehr­ te Welt’ besteht“.4 Die mit dem Gemälde verbundenen Probleme waren damit aber noch keineswegs alle gelöst, da es zunächst offen bleiben muß­ te, aufgrund welcher Anstöße Bruegel seine literarischen Vorlagen in die Bilddimension überführen konnte. In den beiden Fragen der Bildquellen zum Bruegelschen Gemälde und der Deutung des Bildgehaltes ist die For­ schung heute über Fraengers Ergebnisse hinausgelangt. Dieser Fortschritt war durch die Heranziehung von weiteren Sprichwortbildern aus der Ent­ stehungszeit von Bruegels Gemälde möglich geworden. Von diesen neuauf­ gefundenen Bildquellen soll hier die Rede sein. Bei der Suche nach älteren Dokumenten zur graphischen Darstellung von Sprichwortthemen in einer einheitlichen Bildkomposition stieß man auf die überraschende Tatsache, daß neben Bruegels Gemälde von 1559 gleichzeitig Kupferstichdarstellungen existieren, die in manchen Details ei­ ne verblüffende Ähnlichkeit mit den Niederländischen Sprichwörtern aufwei­ sen, andererseits in der Gesamtkomposition in bemerkenswerter Weise von

1 2

3 4

Bolte, Johannes: Nachschrift zu Franz Weinitz. Die „Niederländischen Sprichwörter“ des Pieter Bruegel d.Ä. In: Zeitschrift für Volkskunde 25 (1915), S. 299–305. Tolnay, Charles de: Pierre Bruegel l’ancien. Bruxelles 1935, S. 23ff.; Grauls, Jan: De Spreek­ woorden van Pieter Bruegel den Oude verklaard. Antwerpen 1938; Jedlicka, Gotthard: Pie­ ter Bruegel. Der Maler in seiner Zeit. 2. Aufl. Erlenbach-Zürich o.J., S. 49; Romdahl, Axel Ludvig: Pieter Bruegel d.Ä. Stockholm 1947, S. 33ff. Fraenger, Wilhelm: Der Bauern-Bruegel und das deutsche Sprichwort. Erlenbach-Zürich 1923, S. 44. Stridbeck, Carl Gustav: Bruegelstudien. Untersuchungen zu den ikonologischen Proble­ men bei Pieter Bruegel d.Ä. sowie dessen Beziehungen zum niederländischen Romanismus. Uppsala 1956 (= Acta Universitatis Stockholmiensis, 2), S. 184.

    Die holländisch-flämischen Sprichwortbilderbogen vom Typus „De Blauwe Huyck“

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ihnen abweichen. Johannes Bolte war der erste, der im Berliner Kupfer­ stichkabinett auf eine solche verwandte Sprichwortillustration aufmerksam geworden war: Er beschrieb einen namenlos überlieferten Kupferstich von ca. 1570 mit französischen Bildunterschriften, die der Erklärung von 71 Einzelszenen mit Sprichwort- oder Redensartendarstellungen dienten. Bol­ te erkannte auch bereits, daß es sich um eine niederländische Darstellung handeln mußte und die Texte nur fehlerhaft ins Französische übertragen worden waren. Zudem bemerkte Bolte‚ daß zwischen dieser Quelle und Bruegel keine direkten Verbindungen bestehen konnten. Seine Schlußfolge­ rung: „Wir werden also anzunehmen haben, daß Bruegel und unser namen­ loser Stecher beide nicht bloß aus dem Volksmunde, sondern auch aus einer älteren gedruckten Sammlung niederländischer Sprichwörter schöpften und jeder eine Anzahl davon zu bildlicher Vorführung auswählten“,5 hat sich später tatsächlich bestätigt. Der „ikonographische Anlaß“ (wie es Stridbeck nannte6) zu Bruegels Gemälde ist ein nur als Bruchstück erhaltener Kupferstich des Mechelner Stechers Frans Hogenberg aus dem Jahre 1558. Louis Lebeer hat ihn 1941 erstmals veröffentlicht.7 Vorhanden ist lediglich die linke Hälfte eines Kup­ ferstiches, der überschrieben ist: DIE BLAV HVICKE IS ... MAER DES WEERELTS ...

und 21 Sprichwortszenen zeigt. Die Erklärungen sind in flämischer Spra­ che in das Bild hineingesetzt, so daß sich hier keinerlei Deutungsschwierig­ keiten ergeben. Erkennen wir – bei aller Selbständigkeit Bruegels – Hogen­ bergs Stich als Inspirationsquelle für sein Gemälde an, so ergibt sich uns auch eine unzweifelhafte Deutung für die mit Bruegel übereinstimmenden Szenen (Abb. 1). Es sind die folgenden:

5 6 7

Bolte: Nachschrift (wie Anm. 1), S. 303. Stridbeck: Bruegelstudien (wie Anm. 4), S. 36, 175. Lebeer, Louis: De blauwe Huyck. In: Gentsche Bijdragen tot de Kunstgeschiedenis 6, 1939/40 (Antwerpen 1941), S. 167, vgl. Abb. 46 bei Stridbeck.

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Bildgeschichten

Frans Hogenberg 15588

Bruegel 15599

Nr. 2

Deen scheert de scapen dander de verckens

Nr. 33

Nr. 5

Desen stroijt roosen voer verckens

Nr. 45

Nr. 6

Hier treckt de soch den tap uijt

Nr. 23

Nr. 10

Desen sit tussen twee stoelen in de assen

Nr. 21

Nr. 11

Dese die is ghepijnt dat de sonne int water schijnt

Nr. 69

Nr. 12

Twee honden aen een been

Nr. 48

Nr. 13

Dese hanck haer man de blau huijcke om

Nr. 46

Nr. 14

Desen draecht vier in deen hant en Water in dander hant

Nr. 18

Nr. 16

Desen doet die weerelt op sijn duijmken draeijen

Nr. 41

Nr. 17

Desen vanckt de palinck met den sterte

Nr. 78

Nr. 18

Desen vist al achter dat net

Nr. 67

Nr. 20

Desen beraeijt hem met den duvelle

Nr. 37

Nr. 21

Desen climt van den [os op den ezel]

Nr. 63

8 9

Betrachten wir im Gegensatz dazu die Deutungen, welche die entsprechen­ den Szenen bei Bruegel bisher erfahren haben, so ergeben sich beachtliche Abweichungen. Das gilt z.B. vor allem für die berühmte Szene Bruegels im Vordergrund links, in der zwei Bauern damit beschäftigt sind, ein Schaf bzw. ein Schwein zu scheren. Glück bietet zu dieser Szene nicht weniger als vier Deutungen an: Nr. 33 Der eine schert das Schaf, der andere das Ferkel Nr. 33a Viel Geschrei und wenig Wolle Nr. 33b Scher sie, aber schinde sie nicht Nr. 33c Geduldig wie ein Lamm. Hier muß es im Blick auf die Darstellung Hogenbergs, die Bruegel un­ zweifelhaft gekannt hat, so scheinen, als ob man im Laufe der Zeit etwas zu viel in die Szene bei Bruegel hineingedeutet hat. Sie läßt wie die Vorlage zunächst nur eine Deutung zu (Nr. 33), und das zugehörige Sprichwort soll soviel bedeuten wie: „Der eine hat viel Gewinn bei einer Sache, der 8 9

Numerierung nach Lebeer: De blauwe Huyck (wie Anm. 7), S. 196ff. Nach der Numerierung von Fraenger, ergänzt bei Glück, Gustav: Das große Bruegel-Werk. 3. Aufl. München 1955, Tafel 13, Kommentar S. 48ff.

    Die holländisch-flämischen Sprichwortbilderbogen vom Typus „De Blauwe Huyck“

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Abb. 1: Frans Hogenberg, Die Blav Hvicke. Kupferstich, 1558 (Herzog Anton Ulrich-Museum Braunschweig).

andere wenig.“ Auch eine weitere Deutung wäre aufgrund dieser Gegen­ überstellung zu berichtigen: Bei Glück Nr. 48 ist nicht die Vollform des Sprichworts „Zwei Hunde an einem Bein kommen selten überein“, son­ dern lediglich die kürzere Redensart „Twee honden aen een been“ (= eine schwierige Angelegenheit) anzusetzen. Das sind aber eigentlich nur Er­ gebnisse am Rande. Als wichtigste Erkenntnis ist festzuhalten, daß Pieter Bruegel d.Ä. keinesfalls die bildliche Darstellung von Sprichwörtern oder

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Bildgeschichten

Redensarten erfunden hat, sondern daß es ältere Vorstufen in der Populär­ graphik10 oder auch im Bereich der spätmittelalterlichen Wandteppiche11 gibt. Bruegel nimmt ohne Zweifel als Sprichwortillustrator künstlerisch den höchsten Rang ein. Es tut seinem Werk keinen Abbruch, wenn wir nachzuweisen vermögen, daß er bestimmten Traditionen der graphischen Darstellung von Volksweisheiten verbunden ist und sich in einigen seiner Szenen an diese älteren Traditionen angelehnt hat. Es verwundert daher wenig, daß diese älteren bildlichen Überliefe­ rungsformen mit Bruegels Gemälde von 1559 keineswegs an einem Schluß­ punkt angekommen sind. Sein Sprichwörterbild konnte ja keinesfalls eine so große Breitenwirkung entfalten wie etwa ein in vielen hundert Exem­ plaren verbreiteter Kupferstichbilderbogen. Ja es scheint sogar, als ob das Gemälde jahrhundertelang im Privatbesitz verborgen war und somit lange Zeit nahezu unbekannt geblieben ist. Erst 1914 konnte es aus englischem Privatbesitz für das Berliner Staatliche Museum erworben und damit einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Neben Bruegels Sprichwörterbild, das insgesamt ohne erkennba­ re Rückwirkung auf die Populärgraphik geblieben ist, besteht also eine selbständige Tradition des Sprichwortbilderbogens in Kupferstichmanier weiter; sie läßt sich in der flämisch-niederländischen Graphik bis ins 18. Jahrhundert hinein verfolgen. Das früheste uns bekannte Zeugnis, näm­ lich das erwähnte Fragment von Frans Hogenberg, gibt bereits in seinem bruchstückhaft erhaltenen Titel das Stichwort an, unter dem diese Kupfer­ stiche mit einer Sammlung von Sprichwort- und Redensartenillustrationen später vor allem bekannt geworden sind: De Blauwe Huyck (der blaue Man­ tel). Der Titel spielt auf die regelmäßig im Vordergrund der Abbildungen dargestellte Szene an, in der eine junge Frau ihrem ältlichen Mann einen blauen Mantel umhängt. Der vollständige Titel eines solchen vollständig erhaltenen Bilderbogens lautet z.B. bei Franciscus de Hoye (vgl. Abb. 3): „Die blav Huicke is dit meest ghenaemt / maer des werlts abvisen hem beter betaemt“ (Der blaue Mantel wird dies meist genannt, doch als die Torheiten der Welt wäre es besser bekannt). In diesem Zusammenhang be­ deutet die Redensart „jemandem den blauen Mantel umhängen“ mehr als „den Ehemann betrügen“, sondern sie erscheint als Symbol für Betrug, für

10 Vgl. die „Zwölf vlämischen Sprichworter“, 12 Einzelbilder aus dem Jahre 1558 im Museum Mayer van den Bergh Antwerpen (10 Übereinstimmungen mit Bruegelschen Szenen); vgl. Weinitz, Franz: Die ‚‚Niederländischen Sprichwörter“ des Pieter Bruegel d.Ä. im KaiserFriedrich-Museum zu Berlin. In: Zeitschrift für Volkskunde 25 (1915), S. 297; Glück: Das große Bruegel-Werk (wie Anm. 9), S. 115f., Nr. 85. 11 Vgl. Siple, Ella S.: Flemish Proverb Tapestry. In : The Burlington Magazine 62 (1933), No. 2, S. 29ff. (6 Übereinstimmungen mit Bruegel).

    Die holländisch-flämischen Sprichwortbilderbogen vom Typus „De Blauwe Huyck“

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das „kurzsichtige Illusionsdenken“12 der Menschen. Diese geheime Verbin­ dung von „De Blauwe Huyck“, „Des Werlts abvisen“ und „De verkeerde wereld“ dürfte auch Bruegel geläufig gewesen sein, so daß er die Szene mit dem „blauen Mantel“ nicht ohne Grund in den Blickpunkt seines ganzen Gemäldes gerückt hat. Vieles spricht zudem dafür, daß sein Werk anfangs überhaupt nicht unter der Be­zeichnung der Niederländischen Sprichwörter lief, sondern genau wie die gleichzeitigen Kupfer den Titel De Blauwe Huyck trug. So schreibt beispielsweise am 6. Dezember 1669 der Antwerpener Kunst­ händler Gilliam Fourchoudt an seine Söhne in Wien: „tegenwoordich is een ockasie van twee stucken van den ouden Brughel, het eene is de Blauwe huyck‚ het ander is een haey daer de boeren naer de merct gaen dat fraeyder noeyt hebbe gesien“.13 Durch diese ursprüngliche Identität der Titel rückt Bruegel noch näher an die Bilderbogen vom Typus der Blauwen Huyck heran. Von diesen mit Hogenberg einsetzenden Bilderbogen sind bisher sie­ ben verschiedene, aber voneinander abhängige Typen aufgefunden worden. Die Diskussion um diese Zeugnisse ist bisher vor allem in der kunstge­ schichtlichen Literatur geführt worden (Lebeer‚ Stridbeck). An einer Rezep­ tion durch die volkskundliche Parömiologie scheint es bisher noch etwas zu mangeln, weshalb es angebracht erscheint, die Zusammenhänge hier kurz zu wiederholen und durch neuentdecktes Bildmaterial zu ergänzen. An Ho­ genberg (Nr. 1) schließen sich an: Nr. 2 Johannes à Doetinchum (= Jean van Dietinchem), De Blauwe Huijcke, 4 Kupfer mit 88 Sprichwörtern, 1577.14 Die sorgfältig gestalteten Blätter nehmen eine gewisse Sonderstellung ein, weil sie sich nicht zu einem Groß­ bilderbogen vereinen, sondern eine Folge von Einzelblättern darstellen. Sie sind dem Hogenbergschen Bild nur insoweit verpflichtet, als dieser den Im­ puls für die neue Gestaltung geliefert haben mag. Nr. 3 Ein namenloser Kupferstich ohne Titel und Monogramm, aus zwei Hälften bestehend mit den Maßen 41,5 x 34,5 cm und insgesamt 71 Sprichwortdarstellungen. Es handelt sich um jene erwähnte, von Bolte be­ nutzte Darstellung, zu der sich im Berliner Kupferstichkabinett nur eine links unten angeheftete französische Erklärung der Sprichwörter und Re­ densarten fand. Lebeer lag ebenfalls nur ein unvollständiges Exemplar ohne die im Buchdruck hergestellten erklärenden Texte vor;15 den Aufsatz von Joh. Bolte und das Berliner Exemplar kannte er nicht. Da bisher offensicht­ 12 Stridbeck: Bruegelstudien (wie Anm. 4), S. 177; vgl. Röhrich, Lutz: Lexikon der sprichwört­ lichen Redensarten. Bd. 1. Freiburg, Basel, Wien 1973, S. 135–137. 13 Glück: Das große Bruegel-Werk (wie Anm. 9), S. 48. 14 Faksimilewiedergabe und Interpretation der 88 Darstellungen siehe bei Meyer, Maurits de: „De Blauwe Huyck“. La Cape Bleue de Jean van Doetinchem, datée 1577. In: Proverbium 16 (1971), S. 564–575; vgl. auch die Abb. bei Lebeer: De blauwe Huyck (wie Anm. 7), S. 171. 15 Lebeer: De blauwe Huyck (wie Anm. 7), S. 187 und Abb. 173.

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Bildgeschichten

Abb. 2: Anonymer Kupferstich, um 1570 (Herzog Anton Ulrich-Museum Braunschweig).

lich kein vollständiges Exemplar dieser um etwa 1570 zu datierenden Dar­ stellung vorliegt, scheint es uns berechtigt, einen Druck hier wiederzugeben, der im Kasten „Sprichwörter“ der Flugblattsammlung des Herzog Anton Ulrich-Museums in Braunschweig aufgefunden werden konnte (Abb. 2).16 Dieses Exemplar enthält auch jene meist fehlenden, weil in anderer Druck­ technik hergestellten Erklärungen, links in flämischer, rechts in französi­ scher Sprache. Es muß der Sprachforschung in Flandern bzw. in den Nie­ derlanden vorbehalten bleiben, aufgrund dieser 71 Bildunterschriften die nähere Lokalisierung dieses bisher noch frei im Raum schwebenden inter­ essanten Bilderbogens vorzunehmen. Die Bilddarstellung schließt in vielen Details eng an Hogenberg an, stellt also gewissermaßen auch einen Ersatz

16 Für die Vermittlung von Reproduktionen bin ich Herrn Kustos Dr. Christian von Heusin­ ger vom Herzog Anton Ulrich-Museum in Braunschweig zu besonderen Dank verpflichtet.

    Die holländisch-flämischen Sprichwortbilderbogen vom Typus „De Blauwe Huyck“

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für die verlorengegangene rechte Hälfte der Darstellung aus dem Jahre 1558 dar. Allerdings ist nicht zu verkennen, daß der jüngere Stich durch die Hö­ herlegung des Horizonts die Zahl der ins Bild umgesetzten Sprichwörter und Redensarten bedeutend vermehren konnte. Bei Hogenberg waren es etwa 2 x 21 = 42 Szenen, hier kommen wir auf 71 Nummern. Infolge der Amplifizierung reichte allerdings der Platz im Kupferstich selbst nicht mehr für die Erklärung der Szenen aus; daher stehen hier nur die Zahlen. Im übrigen ist der unbekannte Stecher dem Verfahren Hogenbergs treu geblie­ ben, die einzelnen Gestalten recht beziehungslos nebeneinanderzustellen. Nur 39 Szenen decken sich mit Bruegelschen Darstellungen. Der Rest von 32 zusätzlichen Szenen ist der beste Beweis dafür, daß es neben (vor und nach) Bruegels Gemälde von 1559 eine bruegelunabhängige holländischflämische Tradition von Sprichwortbildern gegeben hat. Nr. 4 Den Inhalt von Nr. 3 wiederholt seitenverkehrt eine weitere Kup­ ferstichillustration aus den Nordniederlanden vom Anfang des 17. Jahrhun­ derts, die mit „Franciscus Hoeius excudit“ bezeichnet ist. Es handelt sich demnach um eine Kopie aus der Werkstatt des Amsterdamer Kupferste­ chers und Verlegers Franciscus de Hoejus (Fr. de Hoeye‚ François Hoeye17), der von etwa 1591 bis 1636 lebte. Hoejus kehrt mit seinen Bilderbogen zum Verfahren der Erklärung der einzelnen Szenen durch gravierte Bildun­ terschriften zurück und erneuert auch den schon 1558 belegten Titel. Der Kupferstich ist nach meinen Feststellungen bisher noch nicht im Druck erschienen, so daß eine Wiedergabe des Exemplars, das sich zusammen mit Nr. 3 in Braunschweig fand, berechtigt erscheint (Abb. 3). Nr. 5 Kupferstich Ende 16. Jahrhundert, Brabant. Die Darstellung ge­ hört in die Nähe von Nr. 3/4, hat aber keine Numerierung der Szenen oder erklärende Texte. Die Unterschrift ist in Flämisch und Französisch. Erstere lautet: „Siet hier de weirelt gansch verkeert || Ick meyne spreucken daer men leert || Hoe ’t inde weirelt ommegaet || Bij ’t volck van alderhande staet“.18 Nr. 6 Kupferstich von Theodor Galle, Antwerpen, nach 1600. 70 Sze­ nen mit gravierten Texten. Nr. 7 Kupferstich von Jean Galle, Antwerpen, wahrscheinlich nach 1633. 70 Szenen mit gravierten flämischen und französischen Texten.19 Nr. 8 Kupferstich von L. Fruytiers, Antwerpen, 18. Jahrhundert. 80 Szenen mit gravierten flämischen und französischen Texten. Aus dieser Zusammenstellung geht hervor, daß im flämisch-niederlän­ dischen Kulturgebiet von der Mitte des 16. Jahrhunderts bis in das 18. Jahr­ 17 Thieme-Becker: Allgemeines Lexikon der bildenden Künstler. Bd. 17 (1924), S. 223. 18 Vgl. Lebeer: De blauwe Huyck (wie Anm. 7), S. 176. 19 Vgl. Ebd.

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Bildgeschichten

Abb. 3: Franciscus de Hoejus, Die Blav Hvicke. Radierung, um 1600 (Herzog Anton Ulrich-Museum Braunschweig).

hundert hinein ein Bilderbogentypus im Gebrauch war, der in Gestalt von Personen und Personengruppen Sprichwörter und Redensarten zum The­ ma der „Verkehrten Welt“ darbot. Bruegel ist durch einen frühen Prototyp eines solchen Bilderbogens von der Blauwen Huyck zu seinem Gemälde an­ geregt worden. Unabhängig von Bruegel sind Bilderbogen dieses Typs noch ca. 200 Jahre lang in Flandern und in den Niederlanden lebendig geblieben. Durch immer neue Kopien ist das ursprüngliche Modell mehrfach „umge­ dreht“, gekürzt oder durch neue Szenen bereichert worden. In der Popu­ lärgraphik ist dieser Typus zwei Jahrhunderte lang modern geblieben, vor allem wohl deshalb, weil man seinen ursprünglichen Sinnzusammenhang aus den einzelnen Episoden herauszulesen verstand. Diese Art des Sprichwortbildes ist nun keineswegs die einzige Form geblieben, die die europäische Imagerie zur graphischen Veranschauli­ chung von Sprichwortweisheit kennt. Die verbreitete Form ist diejenige des Bilderbogens, in der jede Einzelszene durch Umrandung von der be­ nachbarten geschieden ist. Solche gefelderten Bogen (französisch „feuilles à compartiments“) mit Sprichwörtern sind wiederum besonders in der flä­

    Die holländisch-flämischen Sprichwortbilderbogen vom Typus „De Blauwe Huyck“

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misch-niederländischen Imagerie vertreten.20 In Deutschland fehlt es bisher an Darstellungen zu diesem Traditionsbereich. Vielfach erweisen sich die in deutschen Sammlungen aufgefundenen Stiche als Nachahmung der hol­ ländisch-flämischen Vorbilder. Ein bemerkenswertes Zeugnis für das Auf­ tauchen von niederländisch-flämischen Sprichwortdarstellungen aus dem Traditionskreis der Blauwen Huyck in einer deutschen Bilderfolge ist bei der Sichtung der Graphikbestände des Braunschweiger Herzog Anton UlrichMuseums ans Licht getreten (Abb. 4–5). Das erste Blatt ist ein Karton mit neun aufgeklebten Radierungen, in der mittleren Reihe oben ist die Prove­ nienz der Drucke folgendermaßen bezeichnet: „|| Sprich und Denck- || Wörter Figuren / || zu Nutz und Belus- || tigung Vorgestellet. || Augs­ purg. || In Verlegung Johan Stridbeck Fünger Kupferstecher.“ Von diesem Augsburger Zeichner und Stecher Johann Stridbeck d.J. (II) (1665–1714) waren bisher nur Wappentafeln, Ansichten und Trachtendarstellungen bekannt.21 Im Register von Brückner22 wird er daher nicht genannt. Schon allein diese Tatsache weist darauf hin, daß bei der Erforschung älterer Populärgraphik noch viele Entdeckungen möglich sind. Das zweite Blatt besteht entsprechend aus neun aufgeklebten Kupferstichen. Die beiden Blättchen sind uns nun vor allem deshalb wichtig, weil sie trotz ihrer Her­ kunft aus einer süddeutschen Werkstätte offensichtlich der Tradition des flämisch-holländischen Sprichwörterbilderbogens vom Typus Blauwe Huyck verpflichtet sind. Der Augsburger Stecher wirkte zeitweise in Berlin, Frank­ furt/Oder, Leipzig und Frankfurt a.M., wo ihm leicht ein solches Vorbild begegnen konnte. Zeitlich steht dem um die Jahrhundertwende entstan­ denen Werkchen Hoejus am nächsten. Den Übereinstimmungen zwischen beiden Darstellungen soll abschließend unsere Aufmerksamkeit gelten.

20 Nur ungenügend dokumentiert z.B. bei Meyer, Maurits de: De Volks- en Kinderprent in de Nederlanden van de 15e tot de 20e eeuw. Antwerpen, Amsterdam 1962 und bei Veen, C. V. van: Dutch Catchpenny Prints. The Hague 1971. 21 Thieme-Becker (wie Anm. 17), Bd. 32 (1938), S. 185f. 22 Brückner, Wolfgang: Populäre Druckgraphik Europas. Deutschland vom 15. bis zum 20. Jahrhundert. München 1969, S. 21ff.; vgl. auch Benzing, Josef: Die Buchdrucker des 16. und 17. Jahrhunderts im deutschen Sprachgebiet. Wiesbaden 1963.

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Bildgeschichten

Abb. 4: Johann Stridbeck, Sprich- und Denck-Wörter I (Herzog Anton Ulrich-Museum Braunschweig).

Stridbeck

I,1 Mit unwilligen Hunden ist böß Hasen fangen

Bilder­ Hoejus bogen Anf. 17. Jh. ca. 1570 Nr. 64 Met onwillige honden es quat hasen vangen

Bruegel



I,2 Der Mann helt Haus die frau geth Lauffen

Nr. 14

De man houvuet huus dVuijf gaet lopen



I,3 Der hat die Sonn vor der ander gegen sich

Nr. 46

Der lieft de son mede en dander heeft se tegen



I,4 Es sind nicht alle Köch die lange messer tragen

Nr. 31

Tsijn niet al coecken de veel – messe tragen

    Die holländisch-flämischen Sprichwortbilderbogen vom Typus „De Blauwe Huyck“

Stridbeck

Bilder­ Hoejus bogen Anf. 17. Jh. ca. 1570

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Bruegel

I,5 Dem gilt alles gleich weßen Nr. 39 Haus das brent wann er sich nur bey den Kolen waermen kan

Hem roeckt niet wiens hu­ us dat brant als hij hem bij de colen wermen mach

Nr. 84

I,6 Wer vor Kombt Mahlt vor

Die ierst compt maelt ierst



I,7 Alles umb die saure kost





I,8 Der kan nicht leiden das die Nr. 30 Sonn in das wasser scheint

Dese es gepijnt dat de son­ Nr. 69 ne int Water scijnt

II,1 Der trekt mit allen Winden Nr. 15

Dese wäijt met alle wijnden –

II,2 Der ... gegen den Ofen

Nr. 5

Dese gaept tegen den houen

Nr. 55

II,3 Der bescheist die Welt

Nr. 35

Dese beschijt al de werlt

Nr. 7

II,4 Der haengt der Katz die Schelle an

Nr. 12

Dese hanget de catte de belle aen

Nr. 26

II,5 Der streüt die Rosen vor die Säü

Nr. 24

Dese stroijt roosen voer vercken

Nr. 45

II,6 Dieser geth dem Deuffel beichten unter dem galgen

Nr. 28

Dese beraet hem met dem duuelle onder de gal

vgl. Nr. 37

II,7 Der Narr brüt Eyer

vgl. Nr. 53

Hier es een narr op eijeren geset



II,8 Hier ist der Ofen durch gebrochen

Nr. 60

Dise heft den houen doer steecken



II,9 Am gang kent man den Mann







Nr.40

118

Bildgeschichten

Abb. 5: Johann Stridbeck, Sprich- und Denck-Wörter II (Herzog Anton Ulrich-Museum Braunschweig).

Außer I,7 und II,9 sind alle Sprichwörter bzw. Redensarten in den von uns wiedergegebenen Auflagen der Blauwen Huyck vertreten, was allein schon die Vermutung einer Abhängigkeit nahelegt. Für das Vorhandensein einer niederdeutschen Zwischenstufe sprechen einige stehengebliebene nieder­ deutsche Sprachreste wie „trekt“ für zieht in II‚l. Die Darstellung des Augsburger Kupferstechers ist im allgemeinen selbständig zu nennen, nur bei der Szene II,6 ist in der Darstellung des Teufels unter dem Galgen deutlich die graphische Abhängigkeit Stridbecks von Hoejus bzw. einer Illustration aus diesem Umkreis zu erkennen. Auch die Tatsache, daß Stridbeck neben geläufigen Sprichwörtern die im Deutschen relativ un­ bekannten Stücke II,5, II,2 oder II,6 aufnimmt, läßt auf eine Übernahme schließen. Wir können nur vermuten, daß der Augsburger Kupferstich­serie noch weitere Blätter mit anderen Szenen aus dem Vorbild der Blauwen Huyck zugehörten. Es ist zu hoffen, daß auch in Zukunft noch weitere Bausteine dazu beitragen werden, unser Wissen vom Leben und Weiter­ wirken eines einprägsamen ikonographischen Themas aus dem Umkreis der „Verkehrten Welt“ zu mehren.

Vogel am Faden Geschichte und Ikonographie eines vergessenen Kinderspiels* Volkskundliche Arbeiten zur historischen Kinderspielforschung sind in Deutschland in letzter Zeit selten geworden. In früheren Jahrzehnten, et­ wa zu Zeiten eines Johannes Bolte‚ Georg Schläger oder Samuel Singer, erfreute sich dieser Forschungszweig größerer Beliebtheit als heute. Nur noch einige wenige Spezialisten nehmen sich hin und wieder dieses Ge­ bietes an, was um so bedauerlicher ist, als es hier noch zahlreiche Fragen zu untersuchen und Probleme zu lösen gilt, die sich der älteren Forschung nicht stellten, da sie noch weitgehend bei der Sammlung und kritischen Sichtung der Quellen stehengeblieben war und den Schritt zu einer ver­ gleichenden Betrachtung der Kinderspiele unter Einbeziehung von Ma­ terialien und Methoden der Nachbardisziplinen vielfach noch nicht getan hatte. Erst neuerdings hat Roger Pinon in einem umfassenden Forschungs­ bericht nachdrücklich die Notwendigkeit einer vergleichenden Kinder­ spielforschung im Rahmen einer europäischen Ethnologie gefordert und begründet.1 Der Katalog seiner Desiderata ist umfangreich: Es fehlen kri­ tische Editionen ebenso wie gültige Versuche zu einer wissenschaftlichen Klassifikation2 und zusammenfassende Arbeiten über einzelne „Spielfami­ lien“, schließlich Monographien, die unter Einbeziehung philologisch-hi­ storischer, geographischer, soziologischer und psychologischer Methoden neue Impulse vermitteln und somit ein Gebiet auch für die Volkskunde wieder attraktiv machen könnten, das immer mehr aus dem Blickwinkel unseres Faches zu verschwinden droht.

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Erstveröffentlichung in: Ennen, Edith und Wiegelmann, Günter (Hg.): Festschrift Matthias Zender. Studien zu Volkskultur, Sprache und Landesgeschichte. Bonn 1972, S. 573–597. Pinon, Roger: Probleme einer europäischen Kinderspielforschung. In: Hessische Blätter für Volkskunde 58 (1967), S. 9–45. Vgl. vorerst Boratav, Pertev Naili: Classification générale des jeux. In: VIe Congrès inter­ national des Sciences anthropologiques et ethnologiques. Paris 1960. Bd. II/2. Paris 1964, S. 141–148.

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I. Aufgaben einer vergleichenden Kinderspielforschung3 und Möglichkeiten der Zusam­menarbeit mit anderen Disziplinen können unseres Erachtens methodisch am besten anhand einer Monographie zu einem bestimmten Spiel aufgezeigt werden. Das zu untersuchende Spiel wird uns geographisch gesehen unter anderem in die deutsch-holländische Kontaktlandschaft führen, die auch dem durch diese Festschrift Geehrten die entscheidenden Anstöße zu seinem Lebenswerk vermittelt hat. Im Mittelpunkt der Un­ tersuchung soll die Analyse neuer ikonographischer Quellen der Kinder­ spielforschung stehen. Aus der Interpretation dieser Quellen werden sich weitere Fragen über Ursprung, Entwicklung, Wandlung und Träger des zu untersuchenden Spiels ergeben. Zum Ausgangspunkt unserer Betrach­ tungen wählen wir eine Quelle zur Kinderspielforschung, die zwar schon 1909 an zwei Stellen unabhängig voneinander beschrieben,4 aber bisher noch nicht ausreichend interpretiert worden ist. Wir begeben uns auf eine „Spielwiese“, wobei darunter nicht unbedingt jene verstanden sein will, die in der aktuellen Diskussion um die Zukunft unseres Faches als „Tummel­ platz der Dilettanten ohne kritisches Bewußtsein“ eine gewisse Berühmt­ heit erlangt hat. Schauen wir uns auf diesem Spielplatz um (Abb. 1). Der Kupferstich von Johann von der Heyden5 aus dem Jahre 1632, der unseren Einblattdruck schmückt, zeigt einen Platz vor den Toren Straß­ burgs. Unter dem Stich befindet sich ein in vier Spalten angeordneter Text, der die einzelnen Kinderspiele sinnbildlich ausdeutet, wobei die Zeilen 13–17 gewissermaßen das Motto darstellen, unter welchem die Spiele be­ trachtet werden:

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Siehe auch: Brednich, Rolf Wilhelm: Aufgaben und Möglichkeiten der Kinderliedforschung. In: Cammann, Alfred: Die Welt der niederdeutschen Kinderspiele. Bleckede a.d. Elbe 1970, S. 322–338. Bolte, Johannes: Zeugnisse zur Geschichte unserer Kinderspiele. In: Zeitschrift für Volks­ kunde 19 (1909), S. 395–400, Nr. 22; Rausch, Heinrich A.: Kinder-Spiel/ oder Spiegel dieser Zeiten, Straßburg 1632. In: Jahrbuch für Geschichte, Sprache und Literatur Elsaß-Lothrin­ gens 25 (1909), S. 143–153. Rausch benutzte das Exemplar der Bibliothek in Straßburg, Bolte einen Druck in den Graph. Sammlungen München und im German. Nationalmuse­ um Nürnberg. Unser Abdruck erfolgt nach dem letztgenannten Exemplar mit freundlicher Genehmigung des Museums in Nürnberg. Ein Faksimiledruck s. auch bei Fritzsch, Ewald [= Manfred Bachmann]: Deutsches Spielzeug. Hamburg 1965, Abb. 2. Jan van der Heyden (um 1570–1637); zu der übrigen Straßburger Druckerfamilie siehe Ben­ zing, Josef: Die Buchdrucker des 16. und 17. Jahrhunderts im deutschen Sprachgebiet. In: Beiträge zum Buch- und Bibliothekswesen 12 (1963), S. 424.

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Abb. 1: Einblattdruck von Johann von der Heyden, Straßburg 1632 (Germanisches Nationalmuseum Nürnberg, Kaps. 144, H. B. 2779).

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Diß gantze Spiel/ist nur ein Bildt/ Was jetzt in der Welt wird gespilt. Alles warumb die Menschen rennen/ Kan man billich Kinderspiel nennen. Ist eitel Spaß Wollust vnd Tandt/ Was nur anhebt deß Menschen Handt.

Der Kupferstich von der Heydens stellt 18 Spiele dar. Die einzelnen Grup­ pen von Kindern, die sich den Spielen widmen, sind mit Zahlen versehen. Wir erkennen unschwer, ohne daß wir den Text zur Erläuterung heran­ ziehen müßten, eine ganze Reihe bekannter und heute noch geübter Spie­ le wie Steckenpferdreiten (Nr. 1), Reifentreiben (Nr. 2), Seifenblasen (Nr. 4), Stelzenlaufen (Nr. 7) oder Seilspringen (Nr. 14) in der linken Bildhälf­ te, Puppenspiel (Nr. 8), Drachensteigen (Nr. 10), Brummkreisel (Nr. 11), Kreisel (Nr. 12) oder Schlittern (Nr. 15) in der rechten Bildhälfte. Aber es finden sich auch weniger bekannte Kinderspiele darunter, so das Knö­ chelspiel (Nr. 18),6 oder aber solche, zu deren Verständnis uns der Text verhelfen muß: z.B. das Spiel Nr. 3, das einen Jungen auf einem Sandhau­ fen darstellt, während zwei andere Knaben sich zu beiden Seiten befinden. Dazu der Text (Z. 67–70): Der Knab schreyt auß/Ich bin Burckhard/ Vnd steh allhie/mein Feind erwart/ Die andern lauffen so lang vmb/ Biß einer auch so hoch nauff kumb.

Es handelt sich um das sog. Burg-Spiel, das auch sonst in der älteren Kin­ derspielliteratur häufig beschrieben ist.7 Links neben der Sandburg sind auf dem Kupferstich zwei weitere Spiele dargestellt, denen wir uns näher zuwenden wollen. Es sind zwei Spiele mit lebenden Vögeln, die – wie zu erweisen sein wird – eng zusammengehören. Bei dem einen Spiel (Nr. 13) fliegt ein dressierter Vogel aus der Hand des einen Buben auf einen kissen­ förmigen Anflugpunkt in der Hand des anderen Jungen. Das andere Spiel (Nr. 16) wird von einem einzelnen Knaben ausgeführt; es besteht einfach darin, einen am Faden befestigten Vogel in der Luft fliegen zu lassen und

6 Vgl. Rohlfs, Gerhard: Antikes Knöchelspiel im einstigen Großgriechenland. Tübingen 1963; Lemke, Elisabeth: Das Fangsteinchenspiel. In: Zeitschrift für Volkskunde 16 (1906), S. 46–66. 7 Vgl. Böhme, Franz Magnus: Deutsches Kinderlied und Kinderspiel. Leipzig 1897, S. 580, Nr. 413 (Burgspiel); Grimm, Wilhelm: Kleinere Schriften. Bd. 1. Berlin 1881, S. 367; Drost, Johanna: Het Nederlandsch Kinderspel vóór de zeventiende Eeuw. ’s-Gravenhage 1914, S. 11; Gomme, Alice Bertha: The traditional games of England, Scotland and Ireland. Bd. 2. London 1898, S. 301.

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ihn nach Belieben an diesem Faden zurückholen. Dazu reimt der Verfasser (Z. 217–224): Dort geht ein Knaͤblein auff der Gaß/ Suchend sein Lust/ vnd bsondern spaß/ Hat einen Vogel angebunden/ Laßt jhn aber fliegen zur stunden: Fleugt er zu hoch/ zeucht er jhn wider: Stellt sich das Voͤglein schon zur wehr/ So zeucht er jhn nur desto mehr. Was wollen wir dann so hoch fliegen/ Auß Thorheit nur vns selbst betriegen. Dann wir seind gfangen nach dem Bund/ Gefesselt wie ein Kettenhund: Steht vns schon offen Meer vnd Feld/ Ist doch jedem sein Zweck gestellt/ Wann der Faden ist außgereckt/ Darnach das Leben sich gestreckt/ So kompt der Schreck-den-Gast behend/ Vnd sagt/ kehr vmb kehr vmb zum End.

Verweilen wir zunächst bei dem letzten Spiel, dem wir die Bezeichnung „Vogel am Faden“ geben wollen. Es erhebt sich sogleich die Frage, ob es sich dabei um ein traditionelles Kinderspiel handelt oder ob dieses Spiel als die Augenblickseingebung eines kindlichen Tierquälers aufzufassen ist. Die bekannten mittelalterlichen und frühzeitlichen Text- und Bildquellen zum Kinderspiel, Meister Altswerts Spielregister in Der Tugenden Schatz,8 die Aufzählung von Spielen in Fischarts Gargantua (Kap. 25),9 Dohnas Spielverzeichnis vom Anfang des 17. Jahrhunderts10 oder Pieter Bruegels Kinderspielbild11 kennen dieses Spiel nicht. Auf der Suche nach Parallelen zu dem „Vogelspiel“ gilt es zunächst nach den Quellen zu fragen, die dem Straßburger Flugblattdruck vom Jahre 1632 zugrunde liegen. Schon Joh. Bolte12 verwies für die Abbildung auf holländische Vorbilder. Im Jahre   8 Vgl. Ranke, Kurt: Meister Altswerts Spielregister. In: Schweizerisches Archiv für Volkskun­ de 48 (1952), S. 137–197.   9 Vgl. Rausch, Heinrich: Die Spiele der Jugend aus Fischarts Gargantua cap. XXV. In: Jahr­ buch für Geschichte, Sprache und Literatur Elsaß-Lothringens 24 (1908), S. 53–145. 10 Vgl. Chroust, Anton: Fünf Briefe des Burggrafen und Freiherrn Christoph von Dohna an seine Braut Gräfin Ursula von Solms-Braunfels. In: Zeitschrift für Kulturgeschichte 2 (1895), S.  410–417, siehe S.  415ff.; dazu Meier, John: Zeitschrift für Kulturgeschichte 3 (1896), S. 120–122. 11 Hills, Jeanette: Das Kinderspielbild von Pieter Bruegel d.Ä., 1560. Wien 1957 (= Veröf­ fentlichungen des Österreichischen Museums für Volkskunde, 10); Portmann, Paul: Pieter Bruegel d.Ä. Die Kinderspiele. Bern, Stuttgart 1961 (= Orbis pictus‚ 36). 12 Bolte: Kinderspiele (wie Anm. 4), S. 396.

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1618 erschien in der Druckerei von Johann Hellenius in Middelburg/Hol­ land ein emblematisches Werk des großen holländischen Dichters Jacob Cats: Sinne- en Minnebelden. Ein Teil desselben trug den Titel Silenus Alcibiadis sive Proteus, und diesem Teil war wiederum ein kleines, nur wenige Seiten umfassendes Werk in Reimversen angebunden mit dem Titel Kinder spei ghedüijdet tot Sine-beelden ende Leere der Seden. Dieses kleine Werk13 mit der Beschreibung und sinnbildlichen Ausdeutung einer Reihe recht genau beschriebener Kinderbelustigungen ist in seiner ersten Auflage mit einem prächtigen Kupferstich geschmückt: Er zeigt eine Allee vor den Toren der Stadt Middelburg, auf der und zu deren beiden Seiten etwa 15 verschie­ dene Kindergruppen beim Spiel gezeigt werden.14 Der Vergleich mit dem Straßburger Flugblatt zeigt überraschende Ähnlichkeiten in der Anord­ nung und Darstellung, so daß wir in dieser holländischen Illustration von 1618 unschwer die Vorlage für den Druck von der Heydens erkennen kön­ nen.15 Hier finden wir auch – wiederum in das Zentrum des Geschehens gerückt – zwei Knaben, die einen Vogel zwischen sich hin- und herfliegen lassen und einen weiteren mit dem „Vogel am Faden“. Noch offenkundi­ ger wird die Abhängigkeit des Straßburger Druckes von der holländischen Vorlage bei einer Gegenüberstellung des Textes, der zu dem Vogelspiel bei Cats folgendermaßen lautet: De jongen die uyt spelen gaet‚ En heeft een musjen aen een draet‚ Wanneer het dier te verre schiet‚ Soo roept hy veerdigh; hooger niet! En of de musch haer stelt te weer Hy rucktse met het toutjen neêr.16

Cats steht somit als Quelle des Straßburger Druckes, der den Inhalt der kleinen Schrift auf ein Blatt zusammendrängt, fest. Für die Frage nach der weiteren Verbreitung des gesuchten Spiels ist aber damit noch nichts gewonnen. Bevor wir uns auf die Suche nach Parallelen begeben, verweilen wir noch kurz bei dem holländischen Dichter und seinen Illustratoren. We­ 13 Vgl. dazu Es, G. A. van und Overdiep, Gerrit Siebe: Geschiedenis van de Letterkunde der Nederlanden. Bd. 4. Brüssel o. J., S. 92. 14 Von mir benutztes Exemplar: German. Nat. Museum Nürnberg, Kaps. 1244. H.B. 19 863. Abdruck z.B. bei Diederichs, Eugen: Deutsches Leben in der Vergangenheit in Bildern. Bd 2. Jena 1908, Abb. 1036; Scheible, Johann: Die gute alte Zeit. Bd 1. Stuttgart 1847 (= Das Kloster, 6), Fig. II C; Flemming, Willi: Deutsche Kultur im Zeitalter des Barock. Potsdam 1937 (= Handbuch der Kulturgeschichte, 5), S. 187, Abb. 143; Hallema, Anne und Weide, J. D. van der: Kinderspelen. ’s-Gravenhage 1943, nach S. 96. 15 Nur die als Marginalien gedruckten Zitate aus lateinischen Dichtern scheinen eigene Zutat des gelehrten Übersetzers zu sein. 16 Vgl. Drost: Het Nederlandsch Kinderspel (wie Anm. 7), S. 151f.

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nige Jahre nach ihrem ersten Erscheinen erlebten die Kinderspiele von J. Cats eine Neuauflage; sie war der Erstausgabe seines berühmten Ehestandsbu­ ches Houwelyck, dat is de gantsche gelegentheyt des echtenstaets (Middelburg: J. P. van de Venne, 1625) vorangestellt und mit einer neuen Illustration seines Verlegers17 versehen. Der Kupferstich bietet im wesentlichen den gleichen Bildinhalt wie der in der Auflage von 1618, nur daß in den Mittelpunkt – den Zeitumständen entsprechend – eine Kompanie „Soldaten“ spielender Kinder gerückt ist. Auch hier sind die beiden Szenen vertreten, jedoch etwas weiter voneinander entfernt.18

Abb. 2: Conrad Meyer, Zürich 1657 (Staatliche Graphische Sammlung München, Inv. Nr. 82.441).

17 Adriaen Pietersz van de Venne (1589–1662); vgl. Thieme-Becker: Allgemeines Lexikon der bildenden Künstler. Bd. 34 (1940), S. 213. 18 Benutztes Exemplar: Kunstbibliothek Preußischer Kulturbesitz Berlin, Graphiksammlung Kostümbibliothek Lipperheide, Sign. 944.31. Abdruck bei Newell, W. W.: Games and songs of American children. New York 1963, im Vortitel.

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Im Jahre 1657 erschien in Zürich in der Übersetzung19 von Johann Hein­ rich Amman20 Catsens Kinderspielbüchlein auch in deutscher Sprache.21 Besondere Bedeutung kommt dem seltenen und fast vergessenen Druck dadurch zu, daß der Züricher Maler und Kupferstecher Conrad Meyer das Werk mit 18 Kupfern ausstattete. Die Kupfer ließ er im gleichen Jahr un­ ter dem Titel Sechs und zwanzig nichtige Kinderspiel22 auch separat erscheinen. Das liebenswürdige Büchlein enthält gleich drei Bildbelege für das Spielen mit Vögeln: Kupfer Nr. 13 zeigt einen Knaben, der einen Vogel aus einem Käfig entweichen läßt und ihn mit einem Stück emporgehaltenen Futters wieder auf seine Hand zurücklockt. Auf Kupfer Nr. 15 (Abb. 2) sehen wir einen Knaben mit dem „Vogel am Faden“. Das gleiche Spiel ist auf dem Titelkupfer nochmals dargestellt, wo ein Engel als Wappenhalter einen Vo­ gel am Faden flattern läßt. Die Wiedergabe der Texte in der Übersetzung Ammans können wir uns hier ersparen, da sie gegenüber Cats bzw. von der Heyden nichts Neues bringen.23 Die Frage, worin die Verbindung zwi­ schen beiden Spielen besteht, soll später geklärt werden. Zunächst ist der Geschichte und Verbreitung des Spiels vom „Vogel am Faden“ Aufmerk­ samkeit zuzuwenden. Haben wir es mit einem traditionellen Kinderspiel zu tun, das auch dort gespielt wurde, wo die Cats’schen Kinderspiele in Überset­ zungen kursierten, also etwa in Straßburg? Für den alemannischen Sprachraum können wir anfangs des 16. Jahr­ hunderts das Werk des elsässischen Predigers Geiler von Kaysersberg be­ 19 Bolte, Johannes: Verdeutschungen von Jacob Cats’ Werken. In: Tijdschr. Voor nederl. taalen letterkunde 16 (1897), S. 241–251, siehe S. 248. 20 Johann Heinrich Amman war Ratsmitglied und Münzmeister in Schaffhausen/Schweiz. 21 H. Jacob Catsen | Kinder-Lustspiele/ | durch Sinn- und Lehrbilder | geleitet; | zur un­ derweisung in guten sitten. | Auß dem Nider- in das Hochteutsche | gebracht | Durch H. Johann Heinrichen Amman: | . . . Getruckt im Jahr Christi | MDCLVII. Exemplar des German. Nat. Museums Nürnberg. Weller: Annalen. Bd. 1, S. 410, Nr. 731 kennt nur noch ein weiteres Exemplar der Zentralbibliothek Zürich. 22 Sechs und zwanzig | nichtige | Kinderspiel; | zu | Wichtiger Erinnerung | erhebt: | und in Kupfer gebracht, | durch Conrad Meyer | Maalern in | Zürich. Exemplar der Hess. Landesbibliothek Darmstadt, Sign. 31/651. Dieses und die weiteren Werke von Conrad Meyer (siehe bei Weller: Annalen. Bd. 1, S. 406, Nr. 703; S. 413f., Nr. 758 und 762) wären es wert, daß sie von der Volkskunde ausgewertet würden. Richard Weiss hat sie sich für seine „Volkskunde der Schweiz“ (1946) entgehen lassen. Die Kinderspielbilder sind erwähnt bei Hürlimann, Bettina: Europäische Kinderbücher aus drei Jahrhunderten. 2. Aufl. Zürich, Freiburg i.B. 1963, S. 263. Sechs Kupfer druckt Boesch‚ Hans: Kinderleben in der deut­ schen Vergangenheit. Leipzig 1900 (= Monographien zur deutschen Kulturgeschichte, 5), S. 71, Abb. 72–77. Zu dem Werk von C. Meyer (1618–1689) vgl. Thieme-Becker, Bd. 24 (1930), S. 467 und Allgemeine deutsche Biographie, Bd. 21, S. 608. Soeben ist in Zürich (Verlag Berichthaus, 1971) ein Neudruck der Kinderspiele von C. Meyer erschienen. 23 Auch spätere Übersetzungen mit ihren Illustrationen können wir hier übergehen, da sie stets nur das Cats’sche Original variieren, z.B. die Ausgabe „Außerlesene Kinder-Spiele, übersetzet durch M. J. D. mit Kupffern von J. C. Kolben“. Augsburg 1712.

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fragen, der ja in vieler Hinsicht als ein aufmerksamer Beobachter und Kriti­ ker des zeitgenössischen Volkslebens gelten kann. In seinen Predigten gibt er uns 1511 eine Beschreibung des Vogelspiels, die an Genauigkeit nichts zu wünschen übrig läßt und zudem vortrefflich zu dem Text bei J. Cats und dessen Illustrationen paßt: „Kurtz/ wie ich dirs nennen soll/ weltliche lieb ist der lym darinn du gefangen bist/ wenn ein knab ein spaͤtzlin gefacht/ so bindt er es an einen faden/ etwan eins arms lang/ oder zweyer oder drey­ er/ vnd laßt dz spaͤtzlin fliegen vnd behelt den faden in der hand so fleüget das spaͤtzlin vff vnd meynt es woͤl hin weg fliegen/ so zeücht der knab den faden zů im so felt das spaͤtzlin herwider ab. Also die seel wolt gern hinvff/ wann von art ist sie sich übersich zů richten. Aber die weltlich liebe laßt sie nit sie zeücht sie ymmermeder wider herab“.24 Nehmen wir noch einen zweiten Text aus dem Elsaß hinzu, der uns noch einige Jahrzehnte weiter zurückführt und der uns lehrt, daß man nicht nur Spatzen, sondern auch Tauben auf diese Weise zu fesseln pflegte und sie als Spielzeug verwendete. Konrad Dangkrotzheim schildert im Jah­ re 1435 in seinem Heiligen Namenbuch,25 dessen Handschrift beim Brand der Straßburger Bibliothek im Jahre 1870 vernichtet wurde, u.a. den Jahrmarkt in Hagenau und berichtet von der Kinderfrau, die ihren Zöglingen ein ent­ sprechendes Jahrmarktspräsent mitzubringen pflegte: V. 152

Der koufman machet sich uff die fart; Wann es ist jormerkt zuo Hagenowe. So kromet denn der Kinde lerfrowe dem Knaben ein tesche‚ der tochter ein hube und jedem Kinde ein turteltube, gevesselt an ein sidin borten.26

Gefesselte Vögel als Kinderspielzeug müssen demnach im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit eine vertraute – wenn auch nicht gerade er­ freuliche – Erscheinung gewesen sein. Bevor wir die weitere Verbreitung und Entwicklung dieses Spiels ins Auge fassen, ist zunächst die Frage nach Alter und Herkunft desselben zu stellen. Die frühesten Belege dafür, daß Kinder ihrer Überlegenheit über Tiere Ausdruck verliehen, indem sie die­ selben an Schnüren in die Luft fliegen ließen, begegnen uns schon in der 24 Geiler von Kaysersberg: Das Buch Granatapfel. 5. Predigt: Die geistliche Spinnerin, Straß­ burg: Joh. Knoblauch, 1511. Zitiert nach der Ausgabe 1516, S. N V b; vgl. Rochholz, Ernst Ludwig: Alemannisches Kinderlied und Kinderspiel aus der Schweiz. Leipzig 1857, S. 464 und Zingerle, Ignaz Vinzenz: Das deutsche Kinderspiel im Mittelalter. 2. Aufl. Innsbruck 1873, S. 16. 25 Siehe Verfasserlexikon, Bd. 1 (1933), Sp. 401–403. 26 Pickel, Karl (Hg.): Das Heilige Namenbuch von Konrad Dangkrotzheim. Straßburg 1878 (= Elsäss. Literaturdenkmäler aus dem XIV.-XVII. Jahrhundert, 1), S. 84, V. 152–157.

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griechischen Antike. Die ältesten Zeugnisse sprechen allerdings nicht von Vögeln, sondern von Insekten (vor allem Schmetterlingen) und Kriechtie­ ren (Käfern). Diese Form des Spiels – gewissermaßen eine „primitivere“ Seitenform des Vogelspiels – soll hier mitbehandelt werden, weil sich mög­ licherweise die eine Form aus der anderen entwickelt hat. Wir vermögen den Beweis dafür heute nicht mehr zu erbringen, da die Quellen in dieser Frühzeit naturgemäß sehr spärlich fließen. Die ältesten Belege, u. a. bei Aristophanes (Die Wolken, 3. Akt)27 hat Becq de Fouquières28 zusammen­ gestellt. Danach war es bei den Athener Kindern üblich, im Frühling Mai­ käfer (μηλολόνθη) zu fangen, an ihren Beinen Fäden von etwa drei Ellen Länge zu befestigen und die Tiere so fliegen zu lassen oder in der Luft zu schwenken. Eine besonders raffinierte Variante bestand darin, an das andere Ende des Fadens ein Holzklötzchen zu befestigen, das so schwer war, daß der Käfer es nicht emporheben konnte. Eine kleine Reihe ausge­ wählter Belege mag bezeugen, daß dieses barbarische Spiel mit Käfern in Europa bis an die Schwelle der Gegenwart in Übung war. J. Strutt veröffentlichte aus einer englischen Handschrift des 14. Jahr­ hunderts eine Zeichnung, die einen Knaben mit einem Schmetterling am Faden zeigt.29 Für Deutschland besitzen wir im sog. Kleiderbuch von Mat­ thäus und Veit Konrad Schwarz eine wichtige Quelle der Kinderspielfor­ schung, auf die schon Joh. Bolte30 aufmerksam gemacht hat. In diesem Augsburger Kostümwerk ist nämlich der jüngere Schwarz mehrfach in kindlicher Kleidung und mit entsprechenden Beschäftigungen dargestellt. Auf einer Abbildung spielt das kleine „Veitli“ im Garten mit Maikäfern, welche es an einen Zwirnsfaden gebunden hat und fliegen läßt. Der Ver­ fasser vermerkt selbst dazu: „Vom 1544 bis 1546 Jar wasen diß meine Klai­ dungen, vnnd darneben mein Kurzweil ... Da was nun mein Freud, was zue thuen‚ das wider die leutt was oder das sys vertroß ... Item. so Ich inn ain gartten kam, So ward mir alles vnziffer angnem‚ die Majokefer vnnd Ratzen bannd ich ann Feden‚ vnd muesten mir zurr Hannd fluegen oder kreisen x. vnnd ander boshait meer stifftet Ich ...“.31 Eine genauere Beschreibung dieses aus kindlichem Übermut erwachsenen Spiels finden 27 Vgl. Aristophanes’ Lustspiele verdeutscht von Johannes Minckwitz. Bd. 3. Stuttgart 1861, S. 53, Z. 762–764. 28 Becq de Fouquières, Louis: Les jeux des anciens. Paris 1869, S. 146f. 29 Strutt, Joseph: The sports and pastimes of the people of England. New edition. London 1855, S. 389. 30 Bolte, Johannes: Weitere Zeugnisse zur Geschichte unserer Kinderspiele. In: Zeitschrift für Volkskunde 33/34 (1923/1924), S. 86f., Nr. 4a. 31 Elias Caspar Reichard, Matthäus und Veit Konrad Schwarz nach ihren merkwürdigsten Lebensumständen und vielfältig abwechselnden Kleidertrachten ... Magdeburg 1786, S. 99; vgl. auch Scheible: Die gute alte Zeit (wie Anm. 14), S. 560.

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wir bei Strutt, der es für die 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts in England bezeugt, aber nicht ohne seine tiefe Abscheu vor diesen „acts of barbar­ ity“ zum Ausdruck zu bringen: „a crooked pin having two or three yards of thread attached to it‚ is thrust through the tail of the chafer‚ and on its being thrown into the air it naturally endeavours to fly away‚ but is readily drawn back by the boy‚ which occasions it to redouble its efforts to escape; these struggles are called spinning, and the more it makes of them‚ and the quicker the vibrations are, the more its young tormentor is delighted with his prize“.32 Zingerle bezeugt, daß man auch in Tirol im 19. Jahrhundert Mai- und Hirschkäfer auf diese Art tormentierte,33 und Handelmann weiß aus Schleswig-Holstein Gleiches zu berichten.34 Ob man bei diesem Spiel etwa auch das Kinderlied Maikäfer flieg35 zu singen pflegte, ist mir bisher noch nirgends begegnet, erscheint aber denkbar. Graphische Belege für diese Seitenform des Spiels vom Vogel am Faden sind selten. Immerhin ist auf eine Darstellung zu verweisen, die sich bezeichnenderweise in der holländischen Imagerie populaire gefunden hat. Dieser Quellenbereich, der auch beim „Vogel am Faden“ wiederum heranzuziehen sein wird, lie­ fert uns in einer Bilderbogenserie des Verlages J. Noman in Zaltbommel aus dem Anfang des 19. Jahrhunderts einen hübschen Beleg für das von Jungen und Mädchen geübte Spiel vom „Maikäfer am Faden“.36 Eine da­ zu passende detaillierte Schilderung des flämischen Maikäferspiels kann den Kinderspelen uit Vlaamsch België37 entnommen werden. Als Kuriosität sei schließlich noch ein Druck von Nicolaas de Bruyn erwähnt: darauf ist ein Engel abgebildet, der in der einen Hand eine Heuschrecke hält und mit der anderen Hand einen Schmetterling an einem Faden fliegen läßt.38 Es kann sich in dieser Studie nicht darum handeln, Vollständigkeit in der Erfassung der ikonographischen und ethnographischen Quellen zu er­ zielen. Wir begnügen uns jeweils mit Ausschnitten, die die Entwicklungsli­ 32 Strutt: Sports and pastimes (wie Anm. 29), S. 389. 33 Zingerle: Kinderspiel im Mittelalter (wie Anm. 24), S. 16. 34 Handelmann, Heinrich: Volks- und Kinderspiele aus Schleswig-Holstein. 2. Aufl. Kiel 1874, S. 100, Nr. 138. 35 Böhme: Kinderlied und Kinderspiel (wie Anm. 7), S. 165ff., Nr. 798ff. 36 Meyer, Maurits de: Populäre Druckgraphik Europas. Niederlande. München 1970, S. 149, Abb. 133, 3. Bildchen der 1. Reihe mit folgender zweizeiliger Unterschrift: „Anschouwd hœ deze Meikevren/ Aan de Kindren vreugde levren“. Einen Holzschnitt-Bilderbogen von 1587 mit dem Maikäferspiel bildet ab: Allemagne, Henry René de: Histoire des jouets. Paris (1903), S. 37. 37 Janssens, Jules (Hg.): Kinderspelen uit Vlaamsch België. Teil 2. Spelen zonder Zang. Gent 1905 (= Koninklijke Vlaamsche Academie voor Taal- en Letterkunde, VI, 35), S. 405f., Nr. 529. 38 Vgl. Drost: Het Nederlandsch Kinderspel (wie Anm. 7), S. 151 (Original in der Bibliothèque Royale Bruxelles, Cabinet d’Estampes).

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nien des Spiels erkennen lassen. Das gilt noch in verstärktem Maße für das Spiel vom Vogel am Faden, zu dem wir jetzt zurückkehren. Genau wie das entsprechende Spiel mit Käfern oder Schmetterlingen läßt sich auch das Vogelspiel bis in die Antike zurückverfolgen. Auf einer griechischen Vase der Sammlung Lamberg39 ist neben Venus auch Eros abgebildet, der einen Faden in der Hand hält, an dessen Ende ein Vogel, vermutlich eine Taube, befestigt ist. Den ersten mittelalterlichen Beleg liefert Anselm von Can­ terbury (1033–1109), in dessen Vita40 berichtet wird, daß er einmal Zeuge wurde, wie ein Knabe mit einem Vogel spielte, dessen eines Beinchen an einem Faden befestigt war, wie er ihn zum Schein ein Stück fliegen ließ, um ihn gleich darauf an dem Faden zurückzuziehen. Anselm befreite den Vogel und lehrte seine Begleiter, so wie der Knabe mit dem Vogel, so spiele der Teufel vielfach mit den Menschen.41 Ausgehend von dieser Ablehnung, welche unser Spiel bei Anselm er­ fahren hat, müßten wir eigentlich annehmen, daß die christliche Kunst als möglicher Quellenbereich auszuschließen ist. Das Gegenteil ist jedoch der Fall; und zwar eröffnet sich uns in der italienischen Malerei des Mittelalters ein weites Feld, das für die Geschichte des Vogelspiels von erstaunlicher Aussagekraft und Vielfalt ist. Der Vogel zählt bekanntlich zu den häufig­ sten Jesusattributen in der Malerei vom Spätmittelalter bis zum Barock. Gewöhnlich finden wir ihn auf Darstellungen vom Typus „Madonna mit Kind“. Die frühesten Belege für das Vogelattribut finden wir um 1270 in der französischen Skulptur und in der italienischen Malerei. Im frühen 14. Jahrhundert setzt dann die massenhafte Verbreitung von Bildern mit Ma­ donna, Kind und Vogelattribut ein. In mehr als zwei Dritteln aller Fälle ist der Vogel ein Distelfink (= Stieglitz). Herbert Friedman hat sich der Mühe unterzogen, sämtliche Bildzeugnisse mit diesem Attribut zusammenzustel­ len und zu untersuchen.42 Allein für Italien hat er 486 Ge­mälde nachge­ wiesen. Die Häufigkeit des Distelfinks auf Christusdarstellungen erklärt Friedman damit, daß diesem Vogel in Verbindung mit dem Christusknaben in verschiedener Hinsicht symbolhafte Bedeutung zukam: als Seelenvogel, als Sinnbild der Auferstehung, als Symbol für das von Jesus dargebrachte Blutopfer (wegen des roten Flecks im Gefieder) usw. So ist ihm der Distel­ fink schlechthin ein „symbol in bird form“. Auch die im 13. Jahrhundert 39 Borde, Alexandre de la: Collection des vases grecs de M. le comte de Lamberg. Bd. 2. Paris 1824, Taf. IV, Beschreibung S. 5. 40 Eadmeri Vita Anselmi, vgl. Migne, Jacques Paul: Patrologia latina. Bd. 158. Paris 1853, S. 92. 41 Vgl. Lauffer, Otto: Singvögel als Hausgenossen im deutschen Glauben und Brauch. Berlin 1939, S. 28; Ganzenmüller, Wilhelm: Das Naturgefühl im Mittelalter. Leipzig, Berlin 1914 (= Beiträge zur Kulturgeschichte des MAs. u. der Renaissance, 18), S. 175. 42 Friedman, Herbert: The symbolic goldfinch. Its history and significance in European devo­ tional art. Washington 1946 (= The Bollingen Series‚ 7).

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aufkommende Vorliebe für apokryphe Bibelschriften scheint eine Rolle ge­ spielt zu haben, besonders jene Stellen im Evangelium Infantiae Arabicum, in denen Jesus aus Lehm geformte Vögel zum Leben erweckt.43 Friedman hat nun sehr anschaulich gezeigt, daß im Laufe der Zeit dieser Symbolge­ halt nicht mehr verstanden wurde, besonders bei den weniger bedeutenden Malern, die auch für anspruchslosere Auftraggeber arbeiteten. Aus dem symbolträchtigen Vogel-Attribut wird das Spielzeug; und dann tritt uns auch das Spiel vom Vogel am Faden entgegen. Jesus mit dem gefesselten Vogel spielend – das scheint vielleicht nicht ganz so undenkbar in einem Land, in dem das Fangen und Verspeisen von Singvögeln noch immer als geheimer Nationalsport gilt. Eines der frühesten Beispiele findet sich auf einem Diptychon aus der Schule Cimabues im ersten Viertel des 14. Jahrhunderts (Abb. 3). Auf die­ sem Gemälde, das noch sehr dem byzantinischen Stil verhaftet ist, reicht Josef dem Jesusknaben einen gefesselten Distelfink entgegen. Wir messen mit Friedman diesem frühen Beispiel aus dem Umkreis der florentinischen Malerei durchaus eine Beweiskraft für die Existenz eines gleichzeitigen Kinderspiels bei: „In these pictures we have what amounts to a direct ‚ta­ king over‘ from contemporary domestic reality, a true genre touch ...“.44 Das wiedergegebene Beispiel ist kein Einzelfall, sondern steht am Beginn einer dichten Reihe von Zeugnissen, die sich vom 14. Jahrhundert bis in die Barockmalerei des 17. Jahrhunderts erstreckt. Darunter befinden sich u. a. Werke des jungen Raphael (die sog. Solly-Madonna45), von Leonardo da Pistoia (Madonna und Kind) und Antonia Solario (Hl. Familie mit Jo­ hannes d.T.46). Insgesamt kennt Friedman 18 Gemälde mit dem Distelfink am Faden aus Italien.47 Dazu treten drei weitere Bilder mit Jesus und einer Schwalbe am Faden.48 Von Italien aus hat dieses Motiv des spielenden Je­ susknaben auch auf die Malerei anderer Länder eingewirkt, so auf Spanien, wo u.a. Francisco de Zurbaran49 (1598–1662) zu nennen ist, oder auf die russische Ikonenmalerei, in der unter offensichtlich italienischem Einfluß unvermittelt eine Taube als Attribut Jesu „am Faden“ erscheint.50

43 Vgl. Hofmann, Rudolph: Das Leben Jesu nach den Apokryphen. Leipzig 1851, S. 204f., §40 und S. 232, §46. 44 Friedman: The symbolic goldfinch (wie Anm. 42), S. 115. 45 Ebd., Abb. 118. 46 Ebd., Abb. 105. 47 Vgl. die Nachweise bei ebd., S. 115f. 48 Ebd., Abb. 17, 17 a, 18, 21 und 21a. 49 Ebd., S. 188, Anm. 12. 50 Kondakov, Nikodim Pavlovich: The Russian icon, translated by E. H. Minns. Oxford 1927, S. 80–82; vgl. Friedman: The symbolic goldfinch (wie Anm. 42), S.116.

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Abb. 3: Detail eines Diptychons aus der Schule von Cimabue, 1. Viertel des 14. Jahrhunderts (Rom, Sammlung Sterbini; Friedman [wie Anm.42], Abb. 34).

Wie nicht anders zu erwarten, ist ein solches tief in der religiösen Kunst verankertes Spiel nicht auf die religiöse Tafelmalerei der Romania be­ schränkt geblieben, sondern es findet sich auch in der weltlichen Sphäre, von der Malerei über die Emblematik bis zur schon erwähnten Imagerie populaire in zahlreichen Beispielen, von denen im Folgenden die Rede sein soll. Wiederum kann es sich nicht darum handeln, Vollständigkeit in der Erfassung der Quellen zu erzielen; es sei lediglich der Versuch unternommen, die in Frage kommenden Quellenbezirke abzuschreiten und daraus ausgewählte Beispiele zu interpretieren.

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1. Religiöse Malerei und Graphik (Gemälde und Andachtsbilder, meist mit Darstellungen aus der Kindheits­ geschichte Jesu), vgl. den vorangegangenen Abschnitt. 2. Weltliche Malerei und Graphik a. Kinderspieldarstellungen (Darstellungen, die eigens auf die Abbildung und Beschreibung von Kinderspielen abzielen). Von der Technik her sind mehrere Formen zu unterscheiden: I. Das Büchlein mit einer Folge von Illustrationen zu den einzelnen Spie­ len (Beispiel: Conrad Meyers 26 nichtige Kinderspiel, s. o.). II. Der Bilderbogen mit der Aneinanderreihung von Einzelbildern auf einem Blatt. In dieser Form als „Kinderspiel-Bilderbogen“ haben vor allem die holländisch-flämischen Drucke des 18. und 19. Jahrhunderts Berühmtheit erlangt.51 Wir hatten oben bereits das Spiel vom „Maikä­ fer am Faden“ auf einem holländischen Bilderbogen nachweisen kön­ nen, und so finden wir auch den „Vogel am Faden“ in diesem Umkreis wieder. Auf einem Druck aus der Offizin Philippe-Jacques Brepols’ in Löwen (begr. etwa 1797) sind in winzigen Einzelbildchen 48 Kinder­ spiele dargestellt.52 Das 5. Bildchen der 2. Reihe zeigt ein Mädchen, das einen Vogel am Faden aufsteigen läßt, während am Boden der ge­ öffnete Käfig steht. Die Bildunterschrift ist zweisprachig flämisch und französisch. Die erstere lautet: Uit loutere voorzigtigheid Heeft zij haar piet aan’t touw geleid.

III. Darstellungen mehrerer Spiele nebeneinander in einer Abbildung (Ty­ pus der „Spielwiese“, s. Cats 1618/1625, v. d. Heyden 1632). Hierzu fügt sich ein Holzschnitt aus einem im 16. Jahrhundert in Rouen/ Frankreich benutzten Kalender (Abb. 4), der die im Januar in der Stube geübten Spiele darstellt.53

51 Vgl. die erste Zusammenstellung einschlägiger Quellen bei Muller, Frederik: De Neder­ landsche geschiedenis in platen Teil 2. Amsterdam 1876/1877, Nr. 3978, 3981, 3983, 3998; Teil 2. 1879, Nr. 6363f. usw. 52 Heurck, Emile van und Boekenoogen, Gerrit Jacob: Histoire de l’imagerie populaire fla­ mande. Burxelles 1910, S. 235: „Kinder-oefeningen – Récréations de la jeunesse“. 53 Vloberg, Maurice: Les Noëls de France. Paris-Grenoble 1953, S. 160.

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Abb. 4: „Januar“. Holzschnitt aus einem französischen Kalender des 16. Jahrhunderts (Bibliothèque „Arsenal“ Paris, Sign. 8° T. 2577).

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Neben Knaben, die eine Tierblase mit Luft füllen, mit dem Windrad und dem Steckenpferd laufen und die Zwickmühle schnurren lassen, ist auch ein Knabe zu sehen, der einen großen weißen Vogel (Taube?) an einem Band flattern läßt, während ihm ein anderer vergeblich etwas zu fressen hinstreckt. Daß dieses Spiel auch in Frankreich in Übung stand, wird uns angesichts der fast gesamteuropäisch zu nennenden Verbreitung des Spiels nicht wundern.

b. Familien- und Kinderporträts Hier bildet das Porträt den Mittelpunkt der Darstellung, aber die Spiele oder Spielgegenstände sind bewußt gewählte Zutaten, um – wie beim Je­ susknaben in der italienischen Malerei – die kindliche Altersstufe durch kindgemäße Attribute zu charakterisieren. Wir begnügen uns mit einer chronologisch geordneten Reihe von Bildzeugnissen, die sich gewiß noch vermehren ließen. Gute Beispiele bietet besonders die barocke Porträt­ kunst der Niederländer. Jacob von Utrecht, Triptychon der Familie Kerckring, 1520 (Lübeck, St. Annenmuseum).54 Peter Paul Rubens (1577–1640), Bildnis eines Kindes, um 1615 (Ge­ mälde in Berlin, Staat. Museen Preuß. Kulturbesitz, Kat.-Nr. 763).55 Brust­ bild eines blondgelockten Knaben, der zweite Sohn des Malers, der in der linken Hand eine Meise an einem kurzen Faden hält und sie mit der rechten neckt. Jan Mytens (± 1614–1670), Bürgermeister Willem van der Does‚ ’s-Gravenhage‚ und seine Familie, 1650 (Gemälde im Museum Mayer van den Bergh‚ Antwerpen, Kat.-Nr. 13).56 Das Gemälde – vollendeter Ausdruck barocken Repräsentationsbedürfnisses – zeigt den Bürgermeister mit seiner Frau, sieben Kindern und einer Amme im Freien vor einer zerklüfteten Landschaft. Der zweitälteste Sohn läßt einen Vogel am langen Faden hoch in der Luft flattern und versucht, ihn mit der ausgestreckten rechten Hand zurückzulocken. Jacopo Amigoni (1675–1752), Mädchen, das mit einem Vogel spielt. Gemälde.57 Brustbild eines Mädchens; die rechte Hand hält den Faden, während die linke nach dem Vogel greift. 54 Nicht eingesehen. Freundlicher Hinweis von Direktor Josef De Coo, Antwerpen. Eine Anfrage bei dem Lübecker Museum blieb erfolglos. 55 P. P. Rubens. Des Meisters Gemälde in 538 Abbildungen. Hg. von Oldenbourg, Rudolf. Suttgart, Berlin 1921 (= Klassiker der Kunst in Gesamtausgaben, 5), S. 102. Beschreibung siehe: Beschreibendes Verzeichnis der Gemälde im Kaiser Friedrich-Museum. 5. Aufl. Ber­ lin 1904, S. 330, Nr. 763. 56 Dem Direktor dieses Museums, Josef de Coo, danke ich sehr für die Anteilnahme an mei­ ner Studie und für diesen wie manch anderen freundlichen Hinweis. 57 1970 im englischen Kunsthandel. Angebot und Abbildung in: The Burlington Magazine, May 1970, S. XCII.

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Scherenschnitt mit der Silhouette des Erbprinzen Carl Friedrich von Sachsen-Weimar, geb. 1783 (Wittumspalais der Herzogin Anna Amalia zu Weimar).58 Der etwa 7-jährige Prinz steht vor einem Tisch mit Tierfiguren und läßt einen Vogel am Faden in die Höhe steigen. Francisco de Goya (1746–1828), Don Manuel Osorio de Zuñiga, um 1800 (Gemälde im Metropolitan Museum of Art, New York).59 Der Prinz als Knabe im leuchtend roten Gewand läßt eine an einem Faden festgebun­ dene Elster auf dem Boden spazierengehen. Rechts ein Käfig mit weiteren kleinen Vögeln, im Hintergrund links lauern – ein leicht sadistischer Ein­ fall – drei gierig dreinblickende Katzen. c. Emblematische Werke Die Auswertung der europäischen Emblembücher als Quelle der Kinder­ spielforschung steht noch aus. Impulse dazu sollten u.a. von dem epocha­ len Werk von Henkel und Schöne ausgehen.60 In diesen Quellenbereich gehört bereits das eingangs besprochene Werk von J. Cats. Weitere Belege für die sinnbildliche Deutung des Vogelspiels in Verbindung mit einer Illu­ stration fanden sich in dem folgenden Werk: Herman Hugo, Pia Desideria Emblematis, Antwerpen 1624, Abb. 39 (Kupfer von Boetius Bolswert, ca. 1580–1633).61 Das Vogelspiel dient hier zur Versinnbildlichung der Bibelstelle: „Coarctor autem e duobos‚ deside­ rium habens dissolui et este cum Christo“ (Phil. 1, 23). Die Deutung ist einleuchtend: So wie Paulus vom Diesseits scheiden möchte, um mit Jesus eins sein zu können, so strebt der Vogel nach seiner Freiheit. Aber die Ban­ de, die Paulus an seine Gemeinde knüpfen, sind stärker und verlangen von ihm, „im Fleische zu bleiben“ (Luther). Das holländische Emblembuch wurde durch Francis Quarles 1635 ins Englische übersetzt, wobei durch William Simpson auch die Kupfer von Bolswert nachgebildet wurden.62 d. Sonstige Bildquellen Hier werden alle Abbildungen zusammengefaßt, die sich der Einreihung in die vor­anstehenden Gruppen entziehen. Es handelt sich vor allem um 58 Abb. bei Lauffer: Singvögel (wie Anm. 41), Taf. 2 nach S. 22. 59 Eine Wiedergabe findet sich z.B. in Collier’s Encyclopedia. Bd. 18 (1969), Taf. 1 nach S. 318 und bei Hürlimann, Bettina: Kinderbilder in fünf Jahrhunderten europäischer Malerei. Zü­ rich 1949, Abb. 67 (vgl. auch Abb. 23). 60 Henkel, Arthur und Schöne, Albrecht (Hg.): Emblemata. Handbuch der Sinnbildkunst des 16. und 17. Jahrhunderts. Stuttgart 1967. 61 Praz, Mario: Studies in 17th-century imagery, 2nd edition. Rom 1964 (= Sussidi eruditi, 16), S. 159, Abb. 62. 62 Quarles, Francis: Emblemes. London 1635; Vgl. die Abb. 63 bei Praz: Studies (wie Anm. 61), S. 159.

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Bildzeugnisse, auf denen das Vogelspiel nur als zufälliges, nebensächliches Detail in Ornamenten usw. auftritt. Paolo Veronese (1525–1588) in den Fresken der Villa Maser bei Treviso:63 ein Knabe läßt eine Schwalbe am Faden fliegen. Johann Fr. Spangenberg, Deckengemälde in der Johanneskirche in Kronberg im Taunus, 1617: musizierende und spielende Putten zwischen Renaissanceornamenten.64 Gerard de Lairesse, Het groot Schilderboek, Amsterdam 1707. In die­ sem Lehrbuch der Malerei findet sich im Teil 2, S. 384, mitten in einem Ka­ pitel, in dem über Licht- und Schattenwirkung gehandelt wird, ein Kupfer­ stich von G. v. Gouwen nach Zeichnung von G. Rademaker: er stellt Amor auf einer Mauerbrüstung mit dem Vogel spielend dar.65 Im beschreibenden Text wird auf das Spiel kein Bezug genommen. Salomon Kleiner (1703–1756), Kupferstich Große Allee im Wiener Prater mit eleganten Karossen, Wien, Albertina:66 Auf den Seitenwegen tummelt sich allerhand Volk. Am linken Bildrand lassen Knaben zwei Vö­ gel an Fäden bis über die Kronen der Alleebäume steigen. II. Nur bei oberflächlicher Betrachtung könnte es scheinen, als ob mit dieser Zusammenstellung alle mit der Geschichte dieses Kinderspieles verbunde­ nen Probleme bereits erschöpfend behandelt seien. Das ist jedoch keines­ wegs der Fall. Der Eindruck, als handele es sich beim „Vogel am Faden“ um ein insgesamt recht einfallsloses, barbarisches Spiel, bei dem es nur darum geht, irgendeinen armen Vogel an einer Schnur zappeln zu lassen, ist falsch. Wir haben es beim Spiel mit dem Vogel am Faden durchaus nicht mit einer nur statischen, unveränderlichen Spielübung zu tun, denn wie für alle Äußerungen aus der kindlichen Lebens- und Überlieferungssphäre – vergleichbar besonders dem Kinderlied – sind für das Spielverhalten des Kindes der Wandel, die Lust am Erfinden, die Veränderung, die Variation, die Anpassung an veränderte Zeitverhältnisse usw. charakteristisch. Dies gilt auch für das von uns untersuchte Spiel. Wir haben bisher tatsächlich nur die weniger liebenswürdige Grund­form eines Spieles kennengelernt,

63 Siehe die Wiedergabe in den „Kunsthistorischen Bilderbogen“. 3. Aufl. Leipzig 1880, Bo­ gen 216. Nr. 1; vgl. Medea, Alba: Palladio, Veronese e Vittorio a Maser: guida agli affreschi. Mailand 1960. 64 Freundlicher Hinweis meines Kollegen Otto Holzapfel, Freiburg. 65 Auch für diesen Hinweis bin ich Josef De Coo zu Dank verpflichtet. 66 Wiedergabe bei Diederichs: Deutsches Leben (wie Anm. 14), S. 471, Abb. 1499.

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das ebenfalls die Wurzel zur Ausbildung und Wei­terentwicklung in sich birgt. Wir können davon ausgehen, daß das Anbinden eines Vogels an ei­ nen Faden zunächst dazu dient, das Tier gefügig zu machen, an einen ein­ geengten Lebensraum und an einen bestimmten Menschen zu gewöhnen. War der Vogel auf diese Weise erst einmal gezähmt, dressiert, so ließ sich mit ihm noch manch weiteres Kunststückchen ausführen, und zwar jetzt ohne die hemmende Schnur, die überflüssig wurde, sobald das domesti­ zierte Tier darauf abgerichtet war, stets zu einem bestimmten Punkt zu­ rückzukehren: die Voraussetzungen für einen neuen, andersartigen Typus des Vogelspiels waren geschaffen. Spätestens an dieser Stelle wird sich der mit der Kulturgeschichte des Jagens Vertraute daran erinnern, daß wir in der mittelalterlichen Falkenbei­ ze einen sehr ähnlichen Vorgang vor uns haben: Ein Raubvogel wird in der Gefangenschaft in Fesseln gehalten, durch Dressur an Berührung durch den Menschen und an die menschliche Stimme gewöhnt, schließlich an eine bestimmte Nahrung. Zur Jagd auf andere Vögel kann der Falke dann benutzt werden, wenn er auf einen bestimmten Ruf vom freien Flug zu der Lockspeise auf der Hand des Falkners zurückkehrt.67 Es ist sehr gut vorstellbar, daß der mit einem Sperling oder einem Distelfink am Faden spielende Knabe Ähnliches zu erreichen versuchte wie der Falkner: wenn auch nicht seinen Vogel zum Jagdtier auszubilden, so doch immerhin dazu, allmählich auf die Fessel zu verzichten und ihn zur freiwilligen Rückkehr auf seine Hand abzurichten. Ausgangspunkt der Weiterentwicklung unse­ res Spiels ist demnach der Nachahmungstrieb, jener Trieb also, der in dem noch heute gültigen Werk von K. Groos über die Spiele der Menschen als entscheidender Anstoß für zahlreiche Spielhandlungen an zentraler Stelle untersucht worden ist.68 In der Volkskunde wurden die Groos’schen Spiel­ theorien für den Bereich der Kinderspielforschung durchaus anerkannt,69 darunter auch jene „Imitationstheorie“, die ja nicht besagt, daß sich die Übernahme eines Spiels aus der Welt der Erwachsenen in die des Kindes nur als bloße Nachahmung darstellt, sondern positiv, daß damit meistens eine Neuschöpfung verbunden ist: „fast alles spielende Reproduciren ist auch ein Produciren“.70 Damit ist auch eine Abgrenzung vollzogen zu

67 Zur Einführung ist zu vgl. Dombrowski, Ernst von: Geschichte der Beizjagd. Wien 1886; Schultz, Alwin: Das höfische Leben zur Zeit der Minnesinger. 2. Aufl. Bd. 1. Leipzig 1889, S. 473–485. 68 Groos, Karl: Die Spiele der Menschen. Jena 1899, S. 360ff. 69 Siehe bei Schläger, Georg: Einige Grundfragen der Kinderspielforschung. In: Zeitschrift für Volkskunde 27 (1917), S. 111. 70 Groos: Spiele der Menschen (wie Anm. 68), S. 371.

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Spencer, der den Ursprung der Kinderspiele zu eng bestimmen wollte und sie als „lauter Dramatisierungen der Thätigkeiten Erwachsener“ verstand.71 Da es für den Vorgang der „Dramatisierung“ des Spiels vom „Vogel am Faden“ zum „Vogel ohne Faden“ keinerlei literarische Dokumente gibt, wird es in unserer Beweisführung entscheidend darauf ankommen, weite­ re graphische Belege heranzuziehen und zu interpretieren. Als „Schlüs­ selbilder“ sind zunächst jene Darstellungen zu bezeichnen, in denen eine Verbindung zwischen Falkenzucht und Vogelspiel zu erkennen ist, danach solche Zeugnisse, die die Entwicklung des Spiels vom angebundenen zum zahmen Vogel zeigen. Der entscheidende Zeitraum, in dem sich diese Ent­ wicklung abzeichnet, ist das 16. Jahrhundert. Wiederum muß eine Auswahl von Belegen genügen. Als Beweis für den offensichtlichen Zusammenhang zwischen der Falknerei und dem Vogelspiel kann eine Kupferstichillustrati­ on aus dem Werk des bereits ausführlich herangezogenen J. Cats dienen:72 In seinem Spiegel van den Ouden en Nieuwen Tijdt befindet sich eine Illustra­ tion zu dem holländischen Sprichwort „Beter by een uyl geseten / als met een valck gevlogen“: Sie zeigt im Vordergrund rechts einen Mann in Be­ gleitung einer Dame. Mit der behandschuhten Rechten hat er einen Falken in die Luft geworfen, der dort soeben einen anderen Vogel schlägt. Links fressen ein Falke und eine Eule an einem Tierkadaver. Im Hintergrund spielen – sicher nicht zufällig – zwei Burschen mit Vögeln, die an ihren Schnüren angebunden hoch in den Lüften schweben. Eine weitere Darstellung von ähnlicher Aussagekraft ist ein Bilderbo­ gen des 16. Jahrhunderts mit 20 Einzelholzschnitten, die die zehn Lebens­ alter des Mannes und der Frau verkörpern. In unserer Abb. 5 bieten wir einen Ausschnitt aus diesem Druck,73 und zwar die benachbarten Bildchen „X. Jar ein Kind“ und „XX. Jar ein Jüngling“. Dem Jüngling ist der Jagd­ falke als Attribut beigegeben, während sich das Kind mit einem kleineren Vogel beschäftigt: Es hält ihn in der linken Hand, und die ausgebreite­ ten Flügel sollen wohl andeuten, daß der Vogel soeben im Begriff ist, auf den Anflugpunkt hinüberzufliegen, den ihm der Knabe mit der anderen Hand entgegenstreckt. Es ist ein ausgestopfter Stoffballen, um den sich die Faust schließt; der Vogel ist ungefesselt. Hier ist die Kontrastierung des gezähmten Vogels in der Hand des Kindes zum Jagdfalken in der Hand des Jünglings sehr deutlich, und nichts liegt näher, als die eine Übung als eine Nachahmung der anderen zu interpretieren. 71 Vgl. Beitl, Richard: Volksspiele. In: Pessler, Wilhelm: Handbuch der Deutschen Volkskun­ de. Bd. 2. Potsdam o. J., S. 251; S. auch Groos: Spiele der Menschen (wie Anm. 68), S. 469. 72 Cats, Jacob: Alle de Wercken. Amsterdam 1665, „Spiegel van den Ouden en Nieuwen Tijdt“, S. 29. 73 Die Wiedergabe erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Inkunabelabteilung der Staats­ bibliothek Berlin, Stiftung Preußischer Kulturbesitz.

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Zur Erhärtung kann noch eine weitere Bildquelle herangezogen wer­ den, und zwar die Darstellung der Jugendspiele Kaiser Maximilians im Weißkunig (um 1515). Der Holzschnitt74 von Hans Burgkmair (1473–1531) zeigt eine Anzahl von Knaben, die unter Anleitung erwachsener Lehrmei­ ster deren Spiele nachzuahmen versuchen: Ringkampf, Armbrustschießen, Lanzenturnier mit Pferdefiguren, Böllerschießen. Im Hintergrund rechts steht ein Knabe und streckt einem in den Ästen eines Baumes sitzenden Vogel einen ähnlichen Stoffballen entgegen, wie wir ihn aus Abb. 5 kennen. Es besteht kein Zweifel daran, daß hier das Vogelspiel geübt wird und daß dieses als Vorstufe zur Falkenbeize aufgefaßt wurde.

Abb. 5: Ausschnitt aus einem Bilderbogen mit den 10 Lebensaltern, 16. Jahrhundert (Staatsbibliothek Berlin, Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Einbl. m YA 3240).

74 Wiedergabe z. B. bei Boesch: Kinderleben (wie Anm. 22), S. 64, Abb. 63; Freytag, Gustav: Bilder aus der deutschen Vergangenheit. Bd. III/2. Leipzig o. J., S. 384.

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Nun ist noch der Beweis dafür zu erbringen, daß sich dieses „Falkenspiel“ aus dem Spiel vom „Vogel am Faden“ weiterentwickelt hat. Als Kronzeu­ gen können wir nochmals J. Cats anrufen, der in seinen Kinderspielbildern von 1618 und 1625 beide Spiele nebeneinander zeigte und sie im Text auch ausführlich beschrieb. Die Reime zum Spiel „musjen [Spatz] aen een draet“ haben wir bereits zitiert, hier folgen die entsprechenden Verse zum „Fal­ kenspiel“: Al is het musje van den bant Noch keertet na des jongens hant‚ En dit al om een weynigh aes; Maer wis‚ de vogel is te dwaes ...75

Aus dieser Stelle geht nun eindeutig hervor, daß der Sperling, bevor er zu diesem Spiel taugte, „am Band“ abgerichtet wurde. Wenn wir nunmehr die weitere Geschichte dieses neuen Spiels anhand seiner Belege in der bilden­ den Kunst verfolgen, so fällt auf, daß sich jeweils die verschiedenen Stufen der Entwicklung unseres Spiels mit und ohne Befestigung des Vogels an einem Faden in den Darstellungen niedergeschlagen haben: Teils ist der Faden noch sichtbar, d.h. die Dressur hat ihr Ziel noch nicht erreicht, teils ist der zahme Vogel ohne Fesseln in der Hand des Kindes oder vor dem Anflug auf einen Köder dargestellt. Das allen Bildzeugnissen gemeinsame Erkennungsmerkmal ist dieser Köder, der verschiedenes Aussehen haben kann. Ende des 15. Jahr­hunderts, wo wir das Spiel bildlich zuerst zu fassen vermögen, bestand der Köder aus einem Stück Leinwand, das zu einer Kugel zusammengedreht war und als eine Art Kissen in der Faust gehalten wurde. Auf dieses Kissen wurde wahrscheinlich Vogelfutter ausgestreut, um den Vogel dorthin zu locken. Später kehrte der Vogel auch dann auf das Kissen zurück, wenn kein Futter vorhanden war. Die Leinwand mußte wohl einen bestimmten Farbton haben, an den sich der Spielvogel allmäh­ lich gewöhnte. Ältere Beschreibungen des Spiels fehlen, so daß wir auf die Interpretation der reichlich vorhandenen Bildquellen angewiesen sind. Beispielsweise hat Israel von Meckenem (Ende des 15. Jahrhunderts) das Spiel auf seinem Kupferstich Das Kinderbad76 (Abb. 6) festgehalten: auffor­ 75 Johann Heinrich Amman hat auch diese Stelle 1657 ziemlich wörtlich ins Deutsche über­ tragen, und Conrad Meyer hat einen Kupferstich dazu gefertigt (Nr. 13), dem der folgende Vierzeiler unterlegt ist: Der ist gewiß nicht weis, Der umm ein hand foll speis Sich selbst in knechtschafft bringt, Wann jn die not nicht tringt. 76 Wiedergabe bei Schultz, Alwin: Deutsches Leben im XIV. und XV. Jahrhundert. Große Ausgabe. Wien 1892, nach S. 186; zu dem Künstler vgl. Thieme-Becker, Bd. 24, S. 325f.

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Abb. 6: Israel von Meckenem, Das Kinderbad. Kupferstich, Ende des 15. Jahrhunderts.

dernd streckt der links in der Badewanne stehende Knabe dem Vogel das Leinwandkissen entgegen. Mehr als hundert Jahre später hat sich in der Ausführung des Spiels wenig geändert, wie ein Holzschnitt des Meisters J. R. um 1600 beweist. Er zeigt einen Knaben mit verschiedenen Spielrequisiten: einem Steckenpferd, einem Windrad und einem Holzsäbel. In der linken Hand hebt er einen Leinwandbeutel empor, und darauf sitzt mit ausgebreiteten Flügeln ein Vogel, der mit einem Faden am Fuß festgebun­ den ist.77 An dieser Stelle muß der Verfasser der vorliegenden Zeilen bekennen, daß er in einer vorausgegangenen Arbeit zur Ikonographie der Kinder­ stube bei der Deutung einiger Bilddarstellungen von der Wende des 15.

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Wiedergabe bei Boesch‚ Hans: Kinderleben (wie Anm. 22), S. 65, Abb. 64; Blöte­Obbes, M. C.: Vogeltje op de Kruk‚ een vergeten Kinderspel. In: Neerlands Volksleven 17 (1967) Nr. 4, S. 344. Der Holzschnitt gehört wie unsere Abb. 5 zu einer Darstellung der zehn Lebensalter; auch hier ist dem Knaben ein Zicklein als Attribut zugeordnet.

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zum 16. Jahrhundert einem Irrtum unterlegen ist. Was ihm dort78 als Saug­ beutel (Schnuller) erschien, muß im Lichte der vorliegenden Darlegungen zumindest zu einem Teil79 richtiger als Requisit für das Spiel mit einem domestizierten Vogel gedeutet werden. Damit gewinnen wir für diesen Zeitraum eine Reihe von Bildbelegen, die keineswegs, wie ursprünglich angenommen, mit dem Jahre 1521 abbrechen, sondern sich bis in das 19. Jahrhundert hinein fortsetzen. Die früher im Zusammenhang mit einem Gemälde des Museums in Sigmaringen (Knabenbildnis 1516) geäußerte Vermutung,80 ein Teil der Bildzeugnisse müsse zu einem vergessenen Kin­ derspiel gehören, erfährt somit ihre Bestätigung. In die Reihe der bildli­ chen Frühbelege für unser Spiel gehören demnach auch die verschiedenen Darstellungen bei Albrecht Dürer, u.a. das Berliner Gemälde Madonna mit dem Zeisig81 von 1506. Eine genauere Betrachtung des Originals in Berlin ergab, daß an dem Leinwandkissen ein kleines Metallglöckchen angebracht ist, welches Jesus mit dem Zeigefinger der rechten Hand berührt. Der Ton des Glöckchens war offenbar das Kommando für den Vogel, auf das Lein­ wandkissen zu fliegen. Noch deutlicher läßt sich der Spielablauf auf einer Handzeichnung Dürers82 vom Jahre 1515 ablesen (Abb. 7): Jesus spielt auf dem Schoß seiner Mutter mit einem Vogel, der am Faden festgebunden in der Luft schwebt und im Begriff ist, auf den nur flüchtig gezeichneten Ruhepunkt zurückzukehren, der mit zwei Glöckchen versehen ist. In einen ganz anderen Bereich führt Abb. 8 mit dem Holzschnitt Buhlerin und Narr. Das Vorbild dazu ist ein Holzschnitt von Hans Brosamer (um 1500–1554), auf dem die nackte Buhlerin ein kostbares Gefäß und einen Spiegel in Händen hält.83 In der Nachbildung von unbekannter Hand, die Röttinger dem sog. „Zeichner des tutenden Narren mit der Dirne“84 zu­ schreibt, werden die Requisiten aus der Kinderstube (Vogelspiel, Kinder­ 78 Brednich, Rolf Wilhelm.: Ein Beitrag zur volkskundlichen Interpretation ikonographischer Quellen. Der Saugbeutel. In: Kontakte und Grenzen. Probleme der Volks-, Kultur- und Sozialforschung. Festschrift für Gerhard Heilfurth zum 60. Geburtstag. Göttingen 1969, S. 298–316. 79 S. die Abb. 5–7, 8–10, 12 und 14. 80 Brednich: Interpretation ikonographischer Quellen (wie Anm. 78), S. 306 und Anm. 36. 81 Wiedergabe bei Waetzoldt, Wilhelm: Dürer und seine Zeit. 2. Aufl. Leipzig 1936, Abb. 85; Brednich: Interpretation ikonographischer Quellen (wie Anm. 78), Abb. 12. 82 Wiedergabe bei Heidrich, Ernst: Geschichte des Dürerschen Marienbildes. Leipzig 1906 (= Kunstgeschichtl. Monographien, 3), S. 111; Albrecht Dürer 1471 bis 1528. Das gesamte graphische Werk. Bd. 1: Handzeichnungen. München (1970), S. 602. 83 Wiedergabe bei Geisberg, Max: Der deutsche Einblatt-Holzschnitt in der 1. Hälfte des XVI. Jahrhunderts. München 1923–1929, Nr. 410. 84 Röttinger, Heinrich: Die Bilderbogen des Hans Sachs. Straßburg 1927 (= Studien zur deut­ schen Kunstgeschichte, 247), S. 23. Vom gleichen Meister stammt der Holzschnitt „Wie ein altes Weyb bulet vmb eins Junglings Leyb“, 1570, bei Diederichs: Deutsches Leben (wie Anm. 14), Bd. 1, S. 141, Abb. 464.

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Abb. 7: Albrecht Dürer, Madonna von einem Engel gekrönt. Federzeichnung, 1515.

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trompete) in der Hand von Erwachsenen zum Sinnbild der menschlichen Torheit. Für uns ist jedoch das Spielprinzip sehr gut zu erkennen: gelockt durch den Ton des Glöckchens und durch die Fessel vor dem Entfliegen gesichert, wird der Vogel abgerichtet, von der rechten Hand der Frau auf die linke überzuwechseln.85 In der hier dargestellten Form ist das Spiel vom 15. Jahrhundert an in Mitteleuropa vielerorts geübt worden. Überall dort, wo wir Bildbelege antreffen, dürfen wir auf die gleichzeitige Existenz des Spieles schließen.86 Die „Spielregeln“ waren den Künstlern und den Rezipienten der Kunst­ werke vertraut. Aber für uns sind diese Bildwerke zunächst nur indirekte Zeugnisse, die durch neuere Quellen ergänzt werden müssen. Auf der Su­ che nach einer detaillierten Spielbeschreibung müssen wir uns ins 19. Jahr­ hundert begeben, denn erst mit dem erwachenden volkskundlich-wissen­ schaftlichen Interesse am Kinderspiel erhalten wir zum ersten Mal genaue Kenntnis von den mit dem Spiel verbundenen Einzelheiten. Das Spiel ist besonders in Belgien und Holland lebendig geblieben, weshalb wir uns in der folgenden Beschreibung auf die Untersuchungen aus diesen Ländern87 beziehen. Man benötigte für das Spiel einen gelehrigen Vogel, entweder einen Sperling, einen Zeisig, einen Grünfink oder Buchfink. Zuerst sperrte man das Tier für einige Tage in einen Vogelbauer ein und hängte neben das Futternäpfchen einen farbigen Stoffrest auf. War der Vogel dann einiger­ maßen zahm, so legte man ihm um den Hals und den Schwanz ein kleines ledernes Tragband (holländ. broekje oder haampje), befestigte daran einen Faden und band das andere Ende an einem Holz fest. In manchen Fällen war der Vogel auch am Füßchen festgebunden.88 Dieses Holz (holländ. krukje‚ wallonisch crosse) bestand aus einem Stab von der Länge eines Unterarms, an dem oben ein in den gleichen Farben wie das Läppchen im Käfig gehaltenes Querhölzchen befestigt war. Oft war letzteres noch mit zwei Glöckchen versehen. Durch einen Schlag gegen die Stange erreichte man, daß der auf dem Querholz sitzende Vogel das Gleichgewicht verlor und in die Luft flog, aber – durch die Fessel zurückgehalten – auf ein Pfeif­ 85 Wiedergabe erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Albertina Wien. Ein weiteres ko­ loriertes Exemplar befindet sich im Cabinet d’Estampes der Bibliothek des Fürstentums Monaco. 86 Z.B. für Köln: Auf dem Gemälde von Godert Wedige, „Dame am Virginal“ 1616 (Wallraf Richartz-Museum Köln, Inv.-Nr. 1714) sind neun Kinder dargestellt; eines davon hält einen Vogel, ein anderes das Kissen; s. die Wiedergabe bei Salmen, Walter: Haus- und Kammer­ musik. Leipzig 1969 (= Musikgeschichte in Bildern, IV, 3), S. 43, Abb. 2. 87 Comhaire, M.: Un jeu d’enfant disparu: „Fé riv’ni l’ouhai so l’cross“. In: Bulletin de la So­ ciété d’Anthropologie de Bruxelles 26 (1907), S. 45–50; Blöte-Obbes: Vogeltje op de Kruk‚ een vergeten Kinderspel (wie Anm. 77), S. 344. 88 Vgl. Cock, Alfons de und Teirlinck, Isidoor: Kinderspel en Kinderlust in Zuid-Nederland. 6. Teil: Kind en Natuur. Gent 1906, S. 76.

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Abb. 8: Buhlerin und Narr. Holzschnitt nach Hans Brosamer, Mitte 16. Jahrhundert (Albertina Wien, Inv.-Nr. 1961–285).

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signal hin oder durch das Erklingen der Glöckchen sogleich wieder auf den Sitzplatz zurückkehrte, um dort einen kleinen Leckerbissen in Emp­ fang zu nehmen.89 Das Spiel hieß in Holland und Flandern „Vogeltje op de kruk“, in Wallonien „Fé riv’ni l’ouhai so l’cross“ („faire revenir l’oiseau sur la crosse“), ein Ausdruck, der in mehreren Mundartlexika gebucht ist90 und sogar als sprichwörtliche Redewendung (im Sinne von „eine Person zu sich herüberziehen, an sich binden“) gebraucht wurde.91 Wichtig für die Be­ deutung dieses Spiels im Kinderleben wird der dramatische Akzent, den es dadurch erhält, daß es als eine Art Wettkampf zwischen mehreren Spielern ausgetragen werden konnte: Der Vogel wurde dabei ohne Befestigung am Faden im Freien losgelassen, und dasjenige Kind war Sieger, dessen Tier zuerst auf die „Krücke“ zurückfand. Eine Vorstellung von der Intensität, mit der dieses Spiel in früheren Zeiten geübt wurde, vermag uns wie beim „Vogel am Faden“ wiederum die bildende Kunst zu vermitteln, in der sich auch zahlreiche Belege für die Variante unseres Spiels vom „Vogel auf der Krücke“ finden. Die Bild­ zeugnisse konzentrieren sich wie die neueren Spielbeschreibungen auf den belgisch-holländischen Raum, so daß die Annahme naheliegt, daß sich die­ se Sonderform des Spiels in diesem Gebiet herausgebildet hat und daß die­ se Sonderform dort noch einige Zeit weiterlebte, während das Vogelspiel in den übrigen europäischen Ländern bereits in Vergessenheit geriet. Der früheste Bildbeleg (D. v. Alsloot, s. unten) stammt aus dem Jahre 1590. Bei der Besprechung der Zeugnisse legen wir die gleiche Einteilung zugrunde, die sich oben beim Vogel-am-Faden-Spiel bewährte. 1. Religiöse Malerei und Graphik Peter Paul Rubens (1577–1640), Die heilige Familie mit Elisabeth und dem Johannesknaben, um 1634. (Köln, Wallraf-Richartz-Museum, Inv.-Nr. 1038): Johannes hält den kleinen Stab mit einem kurzen Querholz ohne Glöck­ chen; der Faden, mit dem der Distelfink am Fuß befestigt ist, führt durch die linke Hand Jesu.92 89 Weitere z. T. ganz kurze Beschreibungen des Spiels, die aber für die Kenntnis seiner Ver­ breitung wichtig sind, s. z.B. bei Delaite, Julien: Glossaire des Jeux wallons de Liège. In: Bulletin de la Société liégeoise de Littérature wallone 27. Liège 1889, S. 148 und S. 151; Wal­ lonia 3 (Liège 1895), S. 135 (für Verviers). Für freundliche Hinweise und Auskünfte danke ich besonders Professor Roger Pinon (Liège). 90 Forir, Henri: Dictionnaire Liégeois. Liège 1866, s. v. Kross; Haust, Jean: Dictionnaire lié­ geois. Liège 1933, S. 185 s.v. crosse. 91 Dejardin, Joseph: Dictionnaire des Spots Walions. 2. Aufl. Liège 1889, Bd.  2, Nr. 2068; Defrecheux, Joseph: Recueil de comparaisons populaires. In: Bulletin de la Société liégeoise de Littérature walonne 22. Liège 1886, S. 239, Nr. 968. 92 P. P. Rubens: Des Meisters Gemälde (wie Anm. 55), S. 340. Eine Reproduktion nach dem Original verdanke ich dem Rheinischen Bildarchiv Köln.

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Abb. 9: Holzschnitt aus „Moralités pour la jeunesse“, Louvain, Ph.-J. Brepols, 19. Jahrhundert.

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2. Weltliche Malerei und Graphik a. Kinderspieldarstellungen Hier liegt wiederum wie beim „Vogel am Faden“ ein ergiebiges Feld vor uns, das wir an dieser Stelle nicht erschöpfend, sondern nur in Auswahl behandeln können. Wir wählen zwei Darstellungen aus dem Umkreis der flämischen Bilderbogenliteratur. I. Kinderbüchlein Das berühmte holländische Kinderbuch Kleine Gedichten voor Kinderen von Hieronymus van Alphen‚ Utrecht 1821, erfuhr im 19. Jahrhundert zahl­ reiche Übersetzungen und populäre Nachdrucke, darunter auch eine illu­ strierte Ausgabe aus der bereits genannten Löwener Druckerei von Ph.-J. Brepols.93 Darin finden wir u.a. auch unser Spiel (Abb. 9). II. Bilderbogen Ein Blatt aus der gleichen Offizin zeigt auf 24 Einzelbildern Kinderspiele zumeist holländischer Herkunft; Bild Nr. 4 der 2. Reihe zeigt das Spiel „Vogel op de kruk“ in zwei Stadien (Abb. 10): Der linke Knabe bedient sich noch des Fadens, während der rechte es schon wagen kann, den Vogel frei in der Hand zu tragen.94

93 Heurck, Emil van und Boekenoogen, Gerrit Jacob: Histoire de l’imagerie populaire flaman­ de. Bruxelles 1910, S. 173 (Brepols, Gal. Ord. No. 61; Holzschnitte nach den Illustrationen von A. Zeelander zur Originalausgabe der Gedichte des H. van Alphen). 94 Vergrößerte Wiedergabe aus Heurck und Boekenoogen: Histoire de l’imagerie populaire flamande (wie Anm. 93), S. 119 (Brepols, Gal. Ord. No.7; Holzschnitte aus dem Ende des 18. Jahrh.); das gleiche Blatt auch abgedruckt in Heurck, Emil van und Boekenoogen, Gerrit Jacob: L’Imagerie des Pays-Bas. Paris 1930, S. 158 und Veurman, B. W. E.: Over Kinderspel en Kinderled. In: Neederlands Volksleven 19 (1969/1970), S. 8

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Abb. 10: Detail aus einem Bilderbogen „Het Kinder Spel“, Louvain, Ph.-J. Brepols, 19. Jahrhundert.

b. Familien- und Kinderporträts Denis van Alsloot (erwähnt um 1590-ca.1628), Carnaval sur la glace à Anvers, 1590. Gemälde in den Musées Royaux des Beaux-Arts de Belgique Bru­ xelles, Kat.-Nr. 509.95 Inmitten einer Gruppe Erwachsener in vornehmer städtischer Kleidung steht ein kleines Mädchen und hält ähnlich wie in Abb. 11 den Distelfink auf dem Holzkreuz. Peter Paul Rubens, Porträt seiner Söhne Albert und Nikolaus, um 1625. Wien, Fürstl. Liechtensteinsche Galerie.96 Der jüngere Sohn Nikolaus hält in der Rechten den verzierten Krückstab mit zwei Glöckchen, die Linke führt den kurzen Faden, an dem ein Distelfink flattert.

95 Hinweis bei Drost: Het Nederlandsch Kinderspel vóór de zeventiende Eeuw (wie Anm. 7), S. 151. Es verdient Beachtung, daß auch das französische Kalenderbild (Abb. 4) das Vor­ spiel zu den Wintervergnügungen zählt. Zu D. v. Alsloot vgl. Thieme-Becker, Bd. 1, S. 337f. 96 P. P. Rubens: Des Meisters Gemälde (wie Anm. 55), S. 278.

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Abb. 11: Cornelis de Vos‚ Portrait de famille, 17. Jahrhundert (Antwerpen, Koninklijk Museum voor Schone Künsten, Kat.-Nr. 841, Copyright A. C. L. Bruxelles).

Cornelis de Vos‚ flämischer Bildnis- und Historienmaler (ca. 1584 bis 1651), Portrait de famille. Antwerpen, Koninklijk Museum voor Schone Kün­ sten, Kat.- Nr. 841 (Abb. 11).97 c. Emblematische Werke Minne-Plicht, ten toon gestelt in de Vryagie, van Diana en Filandre, enz. T’ Amsterdam, By Jacob Aertz Calom‚ 1625. Anhang 2: Kinder-werck, ofte Sinne-beelden van de spelen der kinderen, Amsterdam 1629, Nr. 26: „Van Mossen te leren“.98

97 Die Erlaubnis zum Abdruck erteilte freundlicherweise das Institut Royal du Patrimoine Artistique, Bruxelles; zu C. d. Vos vgl. Thieme-Becker, Bd. 34, S. 550–552. 98 Nicht eingesehen. Nachweis bei Hallema, Anne und Van der Weide, J. D.: Kinderspelen. ’s-Gravenhage 1943, S. 166f.

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d. Sonstige Bildquellen Treppenhaus des Musée d’Ansembourg in Liège, 18. Jahrhundert, Holz­ schnitzerei (Abb. 12).99

Abb. 12: Holzschnitzerei im Treppenhaus des Musée d’Ansembourg in Liège, 18. Jahrhundert (Copyright A. C. L. Bruxelles).

Wenn auch vereinzelte Belege für das Weiterleben dieses Spiels bis in den Anfang des 20. Jahrhunderts vorliegen,100 so kann doch allgemein von ei­ nem allmählichen Verschwinden seit der Mitte des 19. Jahrhunderts ge­ sprochen werden. Schon Comhaire mußte sich in seinem 1907 in Brüssel gehaltenen Vortrag vielfach auf die Aussagen älterer Gewährsleute stützen. Die zunehmende Ausbreitung der Tierschutzidee101 im 19. Jahrhundert wird als die Hauptursache des Zurückgehens anzusehen sein. Aber auch 99 Aufgrund eines freundlichen Hinweises von Roger Pinon dankenswerterweise mitgeteilt von Joseph Philippe, Konservator am Musée d’Ansembourg, Liège. 100 Z.B. bei Drost, Johanna: Het Nederlandsch Kinderspel (wie Anm. 7), S. 152. 101 Vgl. Narr, Dieter und Narr, Roland: Menschenfreund und Tierfreund im 18. Jahrhundert. In: Studium generale 20 (1967), S. 293–303; Scharfe, Martin: Kollektaneen zur Geschichte der Tierschutzidee. In: Schulwarte 21 (1968) Nr. 9, S. 826–846.

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schon früher mag es – wie bei Anselm von Canterbury – kritische Stimmen gegeben haben; daß sie sich nicht in größerer Zahl in der Literatur nie­ dergeschlagen haben, verwundert zunächst angesichts der vielgepriesenen Natur- und Tierliebhaberei des Mittelalters102 und besonders der hohen Wertschätzung, die man den Vögeln als Hausgenossen entgegenbrachte.103 Wir wissen allerdings auf der anderen Seite etwa aus den Stichen von Wil­ liam Hogarth, welche Grausamkeiten gegenüber Tieren noch im 18. Jahr­ hundert in England üblich waren.104 So scheint das Spiel mit dem Vogel am Faden allgemein toleriert worden zu sein, und wo wir einmal von einem Verbot lesen, wird unser Spiel nicht einmal völlig untersagt, sondern seine Ausübung auf einen bestimmten Zeitraum des Jahres eingeschränkt.105 Entscheidend für die obrigkeitliche Duldung des Spiels war dabei vor allem auch die soziale Stellung der Spielträger. Fassen wir die Aussage der voranstehenden zumeist ikonographischen Quellen kurz zusammen, so wird deutlich, daß das Spiel mit dem an einen Faden angebundenen Vo­ gel von Anfang seiner Bezeugung an einen anderen sozialen Ort aufweist als etwa das vergleichbare Spiel mit den Schmetterlingen oder Maikäfern am Faden. Der Vogel als Spielgefährte war nicht kostenlos zu haben: man mußte ihn beim Vogelhändler erstehen. Der höhere gesellschaftliche Rang, der diesem Spiel beigemessen wird, kommt vor allem im häufigen Auf­ treten des Spiels als Bildmotiv in der italienischen Malerei des Mittelalters zum Ausdruck. Hier wurde das Spiel gewissermaßen sanktioniert. Dürer hat es auf seiner Italienreise kennengelernt, und in seinen Marienbildern wird das Vogelspiel für einen gewissen Zeitraum zum stereotypen Attri­ but des nackten „italienischen“ Jesusknaben. Aber auch in der weltlichen Malerei der Neuzeit, in der barocken Porträtkunst (Rubens!), in der Gen­ remalerei der Niederländer und in der emblematischen Literatur behauptet unser Spiel wohl besonders deshalb seinen Platz, weil es im Gegensatz zu vielen mehr „bäuerlichen“ Spielgepflogenheiten beim städtischen Bürger­ tum und beim Adel geübt wurde, ja hier sogar als eine Art Modespiel viele Jahrzehnte lang seine eigentliche Pflegestätte besaß. Insofern verwundert

102 Kaufmann, Alexander: Über Thierliebhaberei im Mittelalter. In: Historisches Jahrbuch der Görres-Gesellschaft 5 (1884), S. 399–423, bes. S. 416ff.; Ganzenmüller, Wilhelm: Das Na­ turgefühl im Mittelalter (wie Anm. 41). 103 Brehm, Alfred Edmund: Gefangene Vögel. Bd. I, 1–2. Leipzig 1872ff.; Lauffer: Singvögel (wie Anm. 41); Bechstein, Johann Matthäus: Naturgeschichte der Stubenvögel. 4. Aufl. Hal­ le 1840. 104 Vgl. etwa den Stich „The first stage of cruelty“; Wiedergabe in der neuen Ausgabe der Wer­ ke W. Hogarths von H. Loedel. Göttingen 1850–1854, Nr. 78. Gegenüber den hier darge­ stellten Scheußlichkeiten muß das Vogelspiel noch als vergleichsweise harmlos erscheinen. 105 Bolte, Johannes: Zeugnisse zur Geschichte unserer Kinderspiele. In: Zeitschrift für Volks­ kunde 19 (1909), S. 382 (Polizeiverbot Ulm 1517).

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es uns jetzt nicht mehr, daß das Spiel auf Bruegels Kinderspielbild von 1560 fehlt. Hinzu kommt die skizzierte Entwicklung des Spiels unter dem Eindruck der Falkendressur des 15./16. Jahrhunderts: Auch hier war das nachgeahmte Vorbild ein Privileg höherer Kreise, und so blieb das aus der mittelalterlichen Falknerei abgeleitete Kinderspiel – zumindest während des 16. und 17. Jahrhunderts – vorwiegend ein „höfisches“ Kinderspiel, das den Söhnen und Töchtern regierender Fürsten angemessen, wenn nicht vorbehalten war. Eine „Demokratisierung“ dieses Spiels setzt in Bel­ gien und Holland erst während des 18. Jahrhunderts ein, als „Vogeltje op de kruk“ zu einem in weiten Volkskreisen geübten Zeitvertreib der Kinder wurde. Diese veränderten Bedingungen schlagen sich dann folgerichtig in den entsprechenden populären Quellenzeugnissen nieder: Das Spiel wird im 19. Jahrhundert zum beliebten Motiv der Imagerie populaire. Um 1900 ist seine Lebenskraft dann erloschen, und niemand wird ihm wohl ernstlich nachtrauern wollen. Wir wollen dieses kleine Kapitel Kinderspielforschung nicht beschlie­ ßen, ohne nochmals die eingangs erörterten Fragen nach der Methodik dieses Forschungszweiges aufzugreifen. Pinons Feststellung, daß im Grun­ de für jedes Spiel eine eigene, spezifische Problemstellung maßgebend sei,106 trifft auch für unser Vogelspiel zu. Die funktionelle Analyse, wie sie Pinon fordert, stößt allerdings dort an ihre Grenzen, wo die Dokumente zur Untersuchung eines bestimmten Spiels bzw. einer damit verbundenen Fragestellung eine solche Interpretation nicht erlauben. Unsere Untersu­ chung basierte zum größten Teil auf ikonographischen Quellen und somit auf indirekten Zeugnissen. Hier muß sich die Methodik des Vorgehens dem historischen Quellenmaterial, seiner verschiedenen Schichtung und Herkunft anpassen. Durch unsere Interpretation von Bildzeugnissen aus dem Bereich der religiösen und weltlichen Stilkunst, der Emblematik und populären Druckgraphik konnten wir erneut die Wichtigkeit und Ergie­ bigkeit vergleichender Arbeiten auf dem Gebiet der Ikonographie unter Beweis stellen. Es zeigt sich, daß eine auf Komparatistik ausgerichtete Wis­ senschaft wie die europäische Ethnologie die Methode des Vergleichs nicht nur im internationalen Rahmen, sondern auch interdisziplinär anwenden sollte, in der Zusammenarbeit mit verwandten Nach­barwissenschaften, zu denen im vorliegenden Fall besonders die Kultur- und Kunstgeschichte zu rechnen sind. Am Beispiel des untersuchten Kinderspiels erkennen wir aber zugleich in nuce die Prozesse der Tradierung, Variierung, Innovation usw., durch die die europäische Volkskultur insgesamt bestimmt wird. Ein aufmerksamer

106 Pinon: Kinderspielforschung (wie Anm. 1), S. 17.

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Beobachter der Kinderspiele unserer Tage – wie sie alljährlich im Wechsel der Jahreszeiten und Generationen neu erstehen – wird sich leicht selbst von den Wandlungen überzeugen können, denen Kinderüberlieferungen unterworfen sind. Und heute wie früher überspringen Kinderspiele – mö­ gen sie nun „Vogel am Faden“ oder „Gummitwist“ heißen – mit Leichtig­ keit ethnische oder politische Grenzen.

Das Gänsespiel Neues zu einem Klassiker der europäischen Spielkultur* Über das Gänsespiel (Jeu de l’oie, Giuoco dell’Oca, Juego de la Oca‚ Game of the Goose‚ Ganzenspel, Gaasespil), ein Würfellaufspiel mit 63 Feldern, ist bereits viel geforscht und geschrieben worden.1 Die Forschung durch einen kleinen Mosaikstein zu bereichern und dem Jubilar dadurch eine Freude zu bereiten, ist das Ziel meines vorliegenden Beitrages. Wie zu zei­ gen sein wird, hat die Druckgraphik – ein bevorzugtes Forschungsgebiet des Jubilars – bei der Ausbreitung des Spiels von seinen Anfängen an eine große Rolle gespielt. Diese in Italien oder Frankreich zu suchenden Anfänge des Gänse­ spiels werden in der Forschung allgemein auf die Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert gelegt, und es herrscht Übereinstimmung darüber, dass das Spiel zunächst in Adelskreisen beheimatet war und um Geld gespielt wurde, bevor es mit Hilfe gedruckter populärer Spielbogen allmählich in andere Bevölkerungsschichten vorgedrungen ist und letztendlich in der Kinderwelt landete.2 Hier vorzustellen ist zunächst eine bisher von der Forschung nicht beachtete älteste deutsche Beschreibung des Spiels, ein aus der Herzog August-Bibliothek in Wolfenbüttel stammender Fund. Unter den 83 so­ genannten Extravagantes-Handschriften der Bibliothek beinhaltet eine die Reiserelationen des bekannten Augsburger Kaufmannes Philipp Hainho­ fer (1578–1647) nebst angebundenen Varia aus dem Besitz des Herzogs August d.J. von Braunschweig-Wolfenbüttel von mehreren Schreiberhän­

* Erstveröffentlichung in: Alzheimer, Heidrun u.a. (Hg.): Bilder – Sachen – Mentalitäten. Arbeitsfelder historischer Kulturwissenschaften. Wolfgang Brückner zum 80. Geburtstag. Regensburg 2010, S. 339–348. 1 Vgl. die beigegebene kleine Spezialbibliographie S. 170. 2 Vgl. die umfangreiche historische Dokumentation von Porier, René: Histoire des jeux de l’oie. In: d’Allemagne, Henry René: Le noble jeu de l’oie en France, de 1640 à 1950. La vie quotidienne à Paris de 1820 à 1940. Paris 1950‚ S. 23–60.

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den des 16. Jahrhunderts.3 Als einziger Beitrag des Herzogs zu diesem Sammelband ist auf zwei Papierbogen, die ursprünglich zum Billet gefal­ tet waren, auf Bll. 401r° bis 403v° ein Text eingebunden, der die erste deutschsprachige Beschreibung unseres Spieles beinhaltet.4 Wir geben im Folgenden einen diplomatischen Abdruck dieses bisher unveröffentlichten Textes wieder: [Bl. 401 r°] „Beschreibung, des Gänße=Spiels:“ [Bl. 402 r°] „Dieses Spiel ist von Zahlen nemlich von 1. biß auf 63 zusamen gesetzet, und wird mit zween würffeln, gespielet. Es hat aber jeder Spieler, sein son­ derbahres Zeichen; umb dasselbe, für der andern zeichen, zu erkennen. Wan nuhn der außgedingte aufsatz gesetzet, und der die meiste Augen ge­ worffen, den ersten anwurf gethan‚ so setzet derselbe, sein zeichen, auf dieselbe Zahl oder Ziffren, welche die geworffene würffel andeuten. Komt dan der wurf wider an ihn, so hebt er nechst darbey‚ hinwider eins an zu zehlen; und setzet sein Zeichen, hinwider so weit, alß er geworffen: und das thut er so oft, biß er die Zahl 63 erreichet, und über oder unter derselben richtes würffet.* [Einschub als Marginalie] *Dan auf den fahl, einer alles gewinnet, was durchs gantze Spiel aufgesetzet worden, und fanget das folgende Spiel hin­ and an. Es seynd aber, bey diesem Spiele, nachfolgende Reglen, woll inacht zu haben. 1. [NB: Die im Text auftauchenden Zahlen werden als Marginalien am linken Seitenrand wiederholt] So oft einer, mit 2 würffeln, eine gans trifft, so mag Er, sein Zeichen, noch eins so weit, als er geworffen, setzen: Erreichet er noch eine andere Gans, so mag er, noch eins so weit springen, dan er muß auf keiner Gans stehen bleiben, es sey ein vorth oder zu rucke spielen.

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Otte, Wolf-Dieter: Die neueren Handschriften der Gruppe Extravagantes, Teil 1, A Extrav. - 90 Extrav. Frankfurt a.M. 1986, S. 203f. Dem früheren Wolfenbütteler Bibliothekar Dr. Manuel Lichtwitz danke ich für den Hinweis auf dieses Dokument.

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2. So oft einer, im ersten wurf‚ 9 wirft; so setzet er sein Zeichen, in der felder eines, darinnen die würffel gezeichnet: wirft Er (6.3) so setzet er, sein Zei­ chen, auf 26. wirft Er aber (5.4) auf 53. 3. Wer 6. zum anfange wirft, und also sein Zeichen, auf die bruken setzet; der muß so hohen Zollen geben, so mag er sein Zeichen, auf 12. rucken: wan aber der wurf hinwider an ihn kommet, so mag er weyter spielen. 4. Wer sein Zeichen, auf 19. daselbsten ein wirtshauß ist, setzet, der muß so viel geben, alß der aufsatz ist; und daselbsten, so lange verharren, biß die anderen, zweimahl geworffen haben. 5. Wer auf 31. sein Zeichen setzet, und daselbsten in den brunnen fället, der muß so viel einlegen, alß der aufsatz ist, [Bl. 402v°] und darf nicht ehe werf­ fen, biß einer auß den mit Spielern, dieselbe Schantze wirft, mit welcher er, in den brunnen gefallen ist. Er muß aber auch einen Satz einlegen; alßdan setzet er, sein Zeichen, an den Ort, da der ander gestanden, welcher seine schantze geworffen hat. Wan aber einer, im Zehlen‚ zu ihm hinein kommet, und schlähet ihn, so wird er auch darauß erlöset. Er muß aber demselben, der solches gethan hat, einen Satz in den Beutel geben, und muß derselbe [Randnotiz: zu den andern aufgesetzten Gelde legen, und] widerumb so lange darinnen bleiben, biß er obgesahter massen erlöset wird. 6. Wer auf 42. und also in den Irregarten, das Zeichen setzet, der gibt auch einen Aufsatz: und muß drey felder, nemlich ins 39. hinwider zu rück wei­ chen. 7. Wer auf 42. oder in den Turn der gefenknus sein Zeichen ruhet, der wird auch, umb den aufsatz gestraffet: darf auch nicht werffen, biß ein ande­ rer, zu ihm hinein kommet: auf welchen fahl er sein Zeichen hinwider zu rücke, auf dessen feld, der ihn erlöset hat, setzet: doch stehet es ihm frey, wan die anderen, viermal herumb geworffen, und er noch einen aufsatz gegeben, mit den andern, der ordnung nach, vorthzuspielen.

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8. [Nachtrag auf Bl. 403r°] Wer einen schläget, der auf der brucken stehet, oder im wirtzhause sitzet, oder im irregarten vorhanden, oder im gefenknus lieget, und also an die gefährliche örter kommet, so gibt ihm zwar der erlösete, so viel alß der aufsatz vermag; er muß es aber gleich zu dem anderen aufgesetzten gelde legen, und sich ferner verhalten, wie der Jehnige, den er auß denselben orten erlediget. 9. [durchgestrichen 8] Er auf 58 in des Todes feld‚ sein Zeichen setzet; der muß einen aufsatz legen, und von newen‚ zum anderen wurffe‚ hinwider anfangen. 10. [durchgestrichen 9] Wer über die 63. wirffet, so am letzten felde gezeichnet, der muß die üb­ rigen augen, welch er zu viele geworffen, wider zu rücke zehlen: Komt er, auf eine Gans, so muß er, noch eins so weit, hinwider zu rücke springen: Wan aber der wurf wider an ihn komt, so spielet er ferner für sich, nach dem letzten felde. 11. [durchgestrichen 10] Wan einer von den Anderen, einen trift‚ so muß der getroffene, wider zu rücke, auf das feld‚ darauf der [Bl. 403r°] ander gestanden, und diesem, der ihn getroffen, einen satz in den beutel geben. 12. [durchgestrichen 11] Wer ins letzte, oder 63 feld kommet, der gewinnet alles miteinander, so durchs gantze Spiel, aufgesetzes worden; and fanget das folgende Spiel hinwider an [dieser letzte Abschnitt (von anderer Hand?) durchgestrichen] FINIS den 26 7bris [=septembris] 1616 Wan mehr dan Zween dieses Spiel spielen; … [mehr nicht vorhanden].“ Der Verfasser dieser Spielbeschreibung, August d.J. (1579–1666), war zur Zeit der Abfassung noch nicht regierender Fürst von BraunschweigWolfenbüttel, sondern lebte in Warteposition mit einem eigenen kleinen Hofstaat in seiner Residenz in Hitzacker, wo er ungestört seinen gelehrten Neigungen nachgehen konnte und sich bereits als Sammler von Büchern und Handschriften hervortat, als der er später berühmt und zum Gründer der nach ihm benannten Bibliothek in Wolfenbüttel werden sollte. Zur Zeit der Niederschrift war August 35 Jahre alt und musste bis zu seinem Regie­ rungsantritt 1635 noch weitere 19 Jahre in Hitzacker zubringen. So ist es

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kein Wunder, dass in diesen langen Jahren seines Aufenthaltes an seinem kleinen Hof auch Gesellschaftsspiele eine Rolle spielten. So hielt kurz vor Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges auch das Gänsespiel, vermutlich von Frankreich kommend, seinen Einzug in Hitzacker. Da aber offenbar nicht alle am Spiel beteiligten Höflinge des Französischen mächtig waren, fertigte August selbst eine Übersetzung und schrieb sie auf einem Doppel­ bogen Papier nieder. Es war sicher eine sogenannte Gebrauchshandschrift, die beim Spiel selbst als Memorierhilfe verwendet werden konnte und auf­ grund mancher Verbesserungen und Zusätze deutlich zeigt, dass sie genau diesem Zweck diente. Der Zufall will es, dass aus der gleichen Zeit der Abfassung dieser ge­ nauen Spielbeschreibung in der Herzog August-Bibliothek Wolfenbüttel auch ein gedruckter Spielbogen vorhanden ist. Es handelt sich um einen Holzschnitt aus der Offizin der Erben des seit 1568 in Lyon nachgewiese­ nen Druckers Benoist Rigaud‚ der vor allem durch die erste französische Ausgabe des Prognosticons von Nostradamus in die Buchhandelsgeschichte eingegangen ist. Im Rahmen des von Wolfgang Harms und seinen Mit­ arbeitern durchgeführten Editionsprojektes der Wolfenbütteler Flugblatt­ bestände ist ein Blatt aufgefunden worden,5 das nicht nur im deutschen, sondern im europäischen Zusammenhang als eine der ältesten erhaltenen Spieltafeln zum Gänsespiel gilt.6 (Abb. 1) Die im Innern der Spirale ab­ gedruckte Spielbeschreibung stimmt in Grundzügen mit der Übersetzung von August überein, aber seine Spielbeschreibung ist in manchen Punkten etwas ausführlicher. Es ist also schwer zu entscheiden, ob der Druck tat­ sächlich als Vorlage für die Übersetzung gedient hat. Die Hofgesellschaft in Hitzacker wird sich beim Glücksspiel kaum dieses bescheidenen Blat­ tes bedient haben. Aber es ist immerhin darauf hinzuweisen, dass in den verschiedenen über die Jahrhunderte hinweg überlieferten Spielbögen und Spielbeschreibungen „eine wunderbare Zähigkeit in der Tradition bis in die Einzelheiten der Spielregeln“7 vorherrscht. Folglich haben die einzel­ nen Zahlenfelder des Spiels lange unverändert ihre Bedeutung behalten. So

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Harms, Wolfgang und Schilling, Michael (Hg.): Die Sammlung der Herzog August Biblio­ thek in Wolfenbüttel. Kommentierte Ausgabe. Bd. 3. Theologica, Quodlibetica. Bibliogra­ phie, Personen- und Sachregister. Tübingen 1989 (= Deutsche illustrierte Flugblätter des 16. und 17. Jahrhunderts, Bd. 3. Wolfenbüttel, Teil 3), Nr. III, 237, S. 462 (Kommentar), S. 463 Faksimile. Spielerische Spiele. Spiele und Spielbilder in der Herzog August Bibliothek. Wolfenbüttel 1992 (= Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel. Kleine Ausstellungen, 4), S. 10–15. Burdach, Konrad: Noten und Abhandlungen zum besseren Verständnis des West-östlichen Divans. In: Goethes Sämtliche Werke. Jubiläums-Ausgabe in vierzig Bänden. Bd. 5: Westöstlicher Divan. Stuttgart, Berlin 1905, S. 353–354, hier S. 354.

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sind denn auch in der Wolfenbütteler Handschrift die genauen Parallelen zu dem Lyoner Druck unverkennbar: Zu vergleichen ist etwa der deutschsprachige Kommentar zum Feld 19 mit dem französischen bei Rigaud: „Qui ira au nombre 19. où y a vne hostellerie, paye le prix conuenu, & se repose tandis chacun de ses compagnons aura tiré deux fois.“ Oder Feld 58: „Celui qui viendra au nombre 58. où y a vne mort‚ paye le pris conue­ nu, & tourne au commencement.“ Im übersetzten Text aus Hitzacker ist deutlich häufiger vom aufsatz (= Einsatz) oder aufgesetztem geld die Rede als im französischen Vorbild (prix conuenu). Daraus wird deutlich, dass das Gänsespiel am augustäischen Hof an der Elbe nicht nur zum Zeitvertreib, sondern auch dazu gespielt wurde, sich gegenseitig das Geld aus der Tasche zu ziehen („Dieses Spiel ist von Zahlen …“!). Nicht zuletzt erinnert es in seiner Spielanlage mit den zahl­ reichen Fallstricken an das heute international verbreitete Monopoly. Das Gänsespiel war in seinen deutschen Anfängen ähnlich wie in Italien und Frankreich ein Spiel der Adligen, die sich hohe Geldverluste beim Spiel leisten konnten. Der Titel des französischen Spielbogens macht aus dieser Tatsache kein Hehl und verkündet stolz: „Le Ieu De L’oye‚ Renouvveleé Des Grecs‚ Ieu de grand plaisir, comme auiourd’huy Princes & grands Sei­ gneur le practiquent“. Die Herleitung aus der griechischen Antike ist eine Pseudo-Attribution; es sollte dem Spiel höhere Weihen verleihen, ist aber aus der Geschichte des Spiels nicht zu rechtfertigen: Das Jeu de l’Oie ist aller Wahrscheinlichkeit ein europäisches Produkt und war anfangs Teil der höfischen Kultur.8 In Deutschland hielt es, wie unsere beiden Zeugnisse erkennen lassen, um oder nach 1600 seinen Einzug. Im berühmten Spieleverzeichnis von Johann Fischarts Geschichtklitterung von 1575 wird es noch nicht erwähnt.9 Nichts verdeutlicht diesen „adligen“ Rang des Gänsespiels besser als die frühen Zeugnisse aus dem Umkreis der Möbelkultur im Zeitalter von Renaissance und Barock, die bisher bei der Erforschung der Geschichte des Spiels wenig beachtet worden sind. Ein besonders schönes Beispiel für ein Gänsespiel, das in ein bedeutendes Möbelkunstwerk integriert war, ist der Arbeitstisch der Kurfürstin Magdalena Sibylla von Sachsen (1587–1659). Er gehört zur Gattung der sog. Kunstkammerschränke, die in höchster Vollendung im 17. Jahrhundert vor allem in Augsburg hergestellt wurden. Sie entstanden in Zusammenarbeit mit verschiedenen Kunsthandwerkern 8 9

Murray, Harold J. R.: A History of Board-Games other than Chess. New York 1978, S. 142. Vgl. Rausch, Heinrich A.: Das Spielverzeichnis im 25. Kapitel von Fischarts Geschichtklit­ terung (Gargantua). Diss. Straßburg 1908.

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Abb. 1: Flugblatt, Holzschnitt mit Typendruck‚ Lyon‚ um 1600, 33 x 47,6 cm (Herzog­August­Bibliothek Wolfenbüttel, Signatur IH 624).

unter der künstlerischen Leitung von Philipp Hainhofer. In der Forschung wird angenommen, dass das durch eine Kalendertafel auf das Jahr 1628 datierte Dresdner Mehrzweckmöbel auf Vermittlung Hainhofers in den Besitz der Kurfürstin gelangt ist.10 In dem Kunstwerk befinden sich in sie­ ben Behältnissen unter einer Ebenholzplatte Nähzeug, Schreibzeug, mathematische Instrumente und Toilettenartikel etc. und in einem unter der Plattenmitte verborgenen Kasten verschiedene Brettspiele. Dieser Kasten ist mit einem in die Ebenholzplatte eingelassenen Marmordeckel verse­ hen. Auf der Rückseite des Marmordeckels ist eine kolorierte Radierung mit dem Titel Tavolina da occha eingeklebt. Die Marmorabdeckung konnte herausgehoben und in ein Spielbrett verwandelt werden. Wie der hervor­ ragende Erhaltungszustand dieses Druckes – dem wohl ältesten auf deutschem Boden – vermuten lässt‚ gehörte das Gänsespiel nicht zu den Lieb10

Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Museum für Kunsthandwerk Dresden, Schloß Pill­ nitz, Kunsthandwerk der Gotik und Renaissance 13. bis 17. Jahrhundert. Red. Klaus­Peter Arnold. Dresden 1981, S. 40–46, Kat.­Nr. 28.

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Abb. 2: Gänsespiel im Arbeitstisch der Kurfürstin Magdalena Sibylla von Sachsen (1587–1659). Kolorierte Radierung, vor 1628. 24,2 x 28,6 cm (Kunstgewerbemuseum Dresden, Inv.-Nr. 47714).

lingsspielen der Kurfürstin (Abb. 2). Doch das Vorhandensein des Druckes belegt die Bekanntheit des Gänsespiels um 1628 am Dresdner Hof, und möglicherweise wurde es auch gespielt. Bemerkenswert ist außerdem, dass das oben und unten mit kolorierter Bogenborte versehene Blatt italienischer Herkunft nicht mehr als Holzschnitt, sondern als Radierung Verbreitung gefunden hatte.11 Der aus dem gleichen Augsburger Umkreis stammende und nicht minder berühmte Pommersche Kunstschrank, der 1617 für den gelehrten Herzog Philipp II. von Pommern hergestellt wurde, enthielt ebenfalls ein Gän­

11 Für freundliche Auskünfte und die Übermittlung einer Aufnahme danke ich Torsten-Pieter Rösler‚ Dipl.-Museologe am Kunstgewerbemuseum Dresden. Dr. Ira Spieker, Dresden, sei für freundliche Vermittlung Dank gesagt.

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Abb. 3: Gänsespieltischplatte, 18. Jahrhundert. Ölfarben auf Holz. Künstler unbekannt (Staatliche Schlösser, Burgen und Gärten Sachsen, Burg Stolpen).

sespiel. Das Gehäuse ist am Ende des Zweiten Weltkrieges im Berliner Schloss in Flammen aufgegangen, und nur der Inhalt der Behältnisse ist erhalten geblieben.12 Wir unternehmen von diesen Anfängen des Gänsespiels als integrier­ ter Teil von Renaissance-Prunkmöbelstücken des frühen 17. Jahrhunderts einen Sprung ins 18. Jahrhundert‚ zu einem Möbelstück, das ganz und al­ lein für das Gänsespiel ausgelegt war. Es handelt sich um eine bemalte Gänsespieltischplatte, die sich heute im Besitz von Burg Stolpen in Sachsen befindet (Abb. 3).13 Die mächtige, aus mehreren breiten Brettern gefertigte

12 Hausmann, Tjark: Der Pommersche Kunstschrank. Das Problem seines inneren Aufbaus. In: Zeitschrift für Kunstgeschichte 22 (1959), H. 4, S. 337–352; Mundt, Barbara: Der Pom­ mersche Kunstschrank. München 2009. 13 Eine kurze Erwähnung dieses Spieltisches findet sich in einem Kommentar zu einem Mär­ chen aus Capri in der Märchensammlung des Dresdner Autors Zschalig-Capri, Heinrich: Die Märcheninsel. Märchen, Legenden und andere Volksdichtungen aus Capri. Dresden 1925, S. 232 zu dem Märchen Nr. 24, in welchem das Gänsespiel eine nebensächliche Rolle spielt. Der Tisch befand sich damals im Dresdner Altertumsmuseum.

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Tischplatte zeigt im inneren Oval auf blauem Grund die rechts drehenden 63 Felder des Spiels, in deren Mitte eine Genreszene mit drei tanzenden Menschenpaaren in ländlicher Umgebung eingefügt ist. Die Vertiefungen für die Spielfiguren auf den einzelnen Feldern sind deutlich zu erkennen; die außerhalb des bemalten Ovals angebrachten Löcher dienten offenbar dazu, die Spielfiguren vor Beginn des Spiels bzw. nach dem Ausscheiden ei­ nes Spielers zu plazieren. Die Spielgesellschaft konnte bis zu zwölf Mitglie­ der umfassen. Bei der Restaurierung der Platte ist eine vorher großflächig unleserlich gewordene Spielanleitung hervorgetreten, die wahrscheinlich erst in späterer Zeit hinzugefügt worden war. Sie ist nur bruchstückhaft lesbar und weicht im erhaltenen Text stark von den klassischen Regeln des Gänsespiels ab, da es zum Beispiel am Anfang heißt: „Wer im ersten Wurff 6 und 6. würfft‚ der setzt sein Sieben nach vorn, dieser, wer aber zehn zu Anfang wirfft der sez es zu 33. Wer 6. zu anfang würfft‚ der muß 1. Satz außsetzen. Wenn der 1. der das WirthsHauß 19. trifft, muß auch ein faß ausgeben werden …“ Aus den weiteren Bruchstücken wird deutlich, dass der Einsatz jeweils mit „Faß“ bezeichnet wird, wobei unklar bleibt, ob es sich dabei um Wein oder Bier gehandelt haben mag.14 Dass das Gän­ sespiel im 18. Jahrhundert verbreitet auf Spieltischen ausgetragen wurde, geht auch aus einer Reihe einschlägiger Belege aus dem Deutschen Wörterbuch hervor,15 darunter das Zeugnis im Deutsch-lateinischen Wörterbuch von Frisch, wo ludus anserinus so übersetzt und erklärt wird: „ein gänsespiel mit spieltischen mit rechenpfennigen gespielt, die gänse waren auf der spielta­ fel gemalt.“16 In einem ganz anderen Kontext konnte man das Gänsespiel früher in der Französischen Kirche zu Berlin antreffen und erwerben. Dort gab es einen Spielbogen mit dem Titel „Die häusliche Glückseligkeit im Lebens­ lauf. Kinderspiel nach Daniel Chodowiecki. Zu beziehen von der Agentur des Rauhen Hauses in Hamburg“. Die nach Motiven aus den Kupfersti­ chen von Chodowiecki ausgestalteten Felder des Würfelspiels sollten Kin­ der hugenottischer Herkunft mit dem Werk des Künstlers vertraut machen; das Spiel war von einem weiblichen Nachkommen des Künstlers erdacht worden. Johann Hinrich Wichern (1808–1881), der Begründer des Rauhen Hauses für schwer erziehbare Jugendliche, in dessen Verlag das Spiel er­ schienen ist, war selbst ein Sammler der Kupferstiche von Chodowiecki.17 14 Für Auskünfte und die Vermittlung einer Reproduktionsvorlage bin ich dem Kustos der Burg Stolpen, Jens Gaitzsch, zu Dank verpflichtet. 15 Deutsches Wörterbuch, Bd. 4 (1878), Sp. 1278. 16 Frisch, Johann Leonhard: Teutsch-lateinisches Wörterbuch. Bd. 1. Berlin 1741, Sp. 318a. 17 Fuhrich-Grubert, Ursula und Desel, Jochen (Hg.): Daniel Chodwiecki (1726–1801). Ein hugenottischer Künstler und Menschenfreund in Berlin. Bad Karlshafen 2001, S. 391, Nr. E.21.

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Was angesichts all dieser Zeugnisse verwundert, ist die anhaltende Po­ pularität des Spiels über Jahrhunderte hinweg, denn es ist im Grunde kein „optimistisches“ Spiel, sondern eines, bei dem die Spieler auf dem Weg zum Ziel eine ganze Reihe höchst gefährlicher Felder (Brücke, Wirtshaus, Turm, Irrgarten, Tod) passieren müssen. Gelingt es ihnen nicht, müssen sie ihren Einsatz verdoppeln, so dass sich das Risiko kontinuierlich ver­ größert. Glücksbringende Felder unterwegs gibt es nicht, und nur wer mit einem genauen Wurf das Ziel auf Feld 63 erreicht, gewinnt alles („the win­ ner takes it all“). Bei dem bereits erwähnten, ähnlich angelegten modernen Monopoly ist das Verhältnis von „guten“ und „schlechten“ Feldern etwas ausgewogener, aber auch hier spielt das Geld die Hauptrolle. Ein ergiebiges Forschungsfeld für die Popularität des Gänsespiels sind schließlich auch die zahlreichen literarischen Zeugnisse. Neben die be­ kannten und in der Literatur längst nachgewiesenen Belege aus Werken der Weltliteratur wie dem Geizigen von Molière18 oder Byron’s Don Juan19 treten jetzt – u.a. ermöglicht durch die Volltextsuche in literarischen Datenbanken – weitere Zeugnisse bei deutschen Dichtern, die vom Bekanntheitsgrad des Spiels und vor allem von seiner Bedeutung in der historischen Kinderwelt zeugen. In einer von Christoph Martin Wielands Comischen Erzählungen wird sogar Zeus beim Gänsespiel überrascht und dafür getadelt: „Daß man mit Ganymed und Amor dich / (Den Donnerer!) beim Gänsespiel erschlich? / … So alt, so einen großen Bart / Und noch mit kleinen Buben spielen!“20 Bei Johann Wilhelm Ludwig Gleim (1719–1803) lautet in einem nostalgi­ schen Gedicht Die Kinderjahre von 1767, in dem er sich an seine Freund­ schaft mit Belinde erinnert, die dritte Strophe folgendermaßen: „Ich weiß es noch, wie wir mit Nüssen / Und Äpfeln, uns einander schmissen! / Ich weiß es noch, wie, bei dem Gänsespiel, / Ich bei ihr saß, und in den Brunnen fiel, / Und wie sie sich betrübt, wenn der Tod / Mir seine schar­ fe Sense bot!“21 Und in Wilhelm Raabes Die Chronik der Sperlingsgasse von 1857 besucht der Ich-Erzähler nach langen Jahren der Abwesenheit seine Heimatstadt München, lugt in das von fremden Menschen bewohnte Haus seiner Eltern „und sah zwei Kinder, die allein am Tische bei der Lampe

18 Molière, Jean-Baptiste: Oeuvres complètes. Vol. 2. Paris 1971, S. 535. 19 Truman, Guy Steffen und Pratt, Willis W. (Hg.): Byron’s Don Juan. Vol. III. Austin, Edin­ burgh 1957, S. 342. 20 Wieland, Christoph Martin: Comische Erzählungen (Erstdruck anonym Zürich 1765). In: Martini, Fritz und Seiffert, Hans Werner (Hg.): Werke. Bd. 4. München 1964, S. 130. 21 Gleim, Johann Wilhelm Ludwig: Neue Lieder. In: Lier, Leonhard (Hg.): Ausgewählte Wer­ ke. Leipzig 1885, S. 180.

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saßen; sie waren eifrig in ein Gänsespiel vertieft, und ich dachte an unsere Jugend, Nannerl, und das Herz ward mir immer schwerer“.22 Das bekannteste literarische Zeugnis ist zweifellos Goethes Gedicht Das Leben ist ein Gänsespiel vom 15. Dezember 1814, welches klar erken­ nen lässt‚ dass Goethe dieses Spiel gut gekannt und sicher auch selbst ge­ spielt hat.23 Das für unseren Zusammenhang Interessante daran ist, dass verschiedene Literaturwissenschaftler im späteren 19. Jahrhundert bei der Interpretation des Gedichtes in Schwierigkeiten gerieten, weil sie im Ge­ gensatz zu dem Autor mit dem Spiel selbst nicht mehr vertraut waren und die drei Zeilen „Je mehr man vorwärts gehet, / Je früher kommt man an das Ziel / Wo niemand stehet“ oft falsch ausgelegt haben. So kann man z.B. bei einem Goethe-Kommentator als Erklärung lesen: „Das Leben ist aber ein eigener Gänsemarsch, da man nach einem Ziele schreitet, das man nicht gern erreicht“24 oder bei einem anderen: „Gänsemarsch, das Hinter­ einandergehen nach Art der dummen Gänse“.25 Selbst das Deutsche Wörterbuch liegt falsch mit der Deutung: „In andern spielen stellen die spielenden selber die gänse und ein solches musz bei Göthe gemeint sein“.26 Hier musste erst ein Deutschlehrer eingreifen und diese und andere Fehlinter­ pretationen richtig stellen mit der lapidaren Bemerkung: „Das Gänsespiel wird noch heute von Kindern viel gespielt und ist – wenigstens hier – bei jedem Buchbinder käuflich.“27 Stuart Atkins hat in einem Festschriftbeitrag von 1967 alle diese Missverständnisse zusammengestellt und berichtigt.28 Tatsächlich war das Spiel im 19. Jahrhundert in jenen höheren Kreisen, die es lange gepflegt hatten, mehr und mehr in Vergessenheit geraten, dafür hat es über die an Volumen und Einfluss gewinnende populäre Druckgra­ phik die unteren Volksschichten erreicht und den Sprung von der Welt des Kupferstichs in die „Niederungen“ der Bilderbögen und Chromolithogra­ phien geschafft. Von dort war es nicht mehr weit zu den Kinderstuben, in denen das Gänsespiel seine letzte Pflegestätte fand. An Bildbelegen zu dem 22 Raabe, Wilhelm: Die Chronik der Sperlingsgasse. In: Goldammer, Peter und Richter, Hel­ mut (Hg.): Ausgewählte Werke in sechs Bänden. Bd. 1. Berlin, Weimar 1964, S. 258. 23 Goethe, Johann Wolfgang von: West-östlicher Divan. In: Goethes Werke. I. Abth., Bd. 6. Weimar 1888, S. 82. 24 Düntzer, Heinrich: Goethes Westöstlicher Divan. Leipzig 1878 (Erläuterungen zu den deut­ schen Klassikern, 1. Abth. 31–33), S. 271. 25 Strohmeyer, Otto: Zu Goethes Divan. In: Zeitschrift für den deutschen Unterricht 18 (1904), S. 210–211. 26 Deutsches Wörterbuch, Bd. 4 (1878), Sp. 1278. 27 Strohmeyer: Zu Goethes Divan (wie Anm. 25), S. 211:„Wer je das Gänsespiel gesehen hat, kann gar nicht zweifeln, daß Goethe es gekannt hat und diesem Gedicht zugrunde legt“. 28 Atkins, Stuart: „Das Leben ist ein Gänsespiel“. Some Aspects of Goethe’s West-östlicher Divan. In: Festschrift für Bernhard Blume. Aufsätze zur deutschen und europäischen Lite­ ratur. Göttingen 1967, S. 90–102, hier S. 96–101.

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Abb. 4: Kinder beim Gänsespiel in Alberobello‚ Apulien/Italien, August 1983 (Foto: Rolf Wilhelm Brednich).

Spiel besteht für den Zeitraum der letzten beiden Jahrhunderte kein Man­ gel.29 Walter von zur Westen konnte in einem Aufsatz in der Zeitschrift für Bücherfreunde 1935 konstatieren: „Das Gänsespiel in seiner ursprünglichen Form ist heute in Deutschland fast ganz vergessen, mag es auch in ei­ nigen Gegenden oder Bevölkerungskreisen noch gelegentlich gespielt wer­ den. Bei einer ziemlich ausgedehnten Umfrage im Bekanntenkreise fand ich nur einen, der sich erinnerte, das Gänsespiel in seiner Jugend gespielt zu haben.“30 Wir hingegen konnten das Spiel in Süditalien noch in leben­ diger Übung unter freiem Himmel beobachten (Abb. 4). Goethe hat in einem Brief an Marianne von Willemer am 3. Januar 1828 das Abscheiden 29

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Von zur Westen, Walter: Graphische Spieltafeln. In: Zeitschrift für Bücherfreunde 39 (1935), H. 3, S. 121–132; Himmelheber, Georg: Spiele. Gesellschaftsspiele aus einem Jahr­ tausend. München, Berlin 1972 (= Kataloge des Bayerischen Nationalmuseums München, 14), S. 163–174; Kimminich, Eva: Information, Edukation und Manipulation im Spiel. Gra­ phische Spieltafeln der Vergangenheit und Gegenwart. In: Bayerisches Jahrbuch für Volks­ kunde 1989, S. 52–62, Abb. 21–26 im Anhang; Vanja, Konrad: Themen des europäischen Bilderbogens in der Sammlung Hecht. Das Gänsespiel. In: Was ist der Ruhm der TIMES gegen die zivilisatorische Aufgabe des Ruppiner Bilderbogens? Die Bilderbogensammlung Dietrich Hecht. Potsdam 1995, S. 17–58, hier S. 38–43, Abb. Von zur Westen: Graphische Spieltafeln (wie Anm. 29), S. 122.

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seines Jugendfreundes und Mitstudenten Johann Jakob Riese (1746–1827) bedauert, als er schrieb „Er war bis jetzt als mein ältester Freund stehen ge­ blieben, bis er nun auch aus diesem Gänsespiel scheidet.“31 Mögen Sie uns, lieber Herr Brückner, in diesem Gänsespiel, welches das Leben ist, noch lange und in der gewohnten Frische und Produktivität erhalten bleiben: Ad multos annos!

Kleine Bibliographie zum Gänsespiel d’Allemagne, Henry René: Le noble jeu de l’oie en France, de 1640 à 1950. La vie quo­ tidienne à Paris de 1820 à 1940. Paris 1950. Amades, Joan: El juego de la oca. Valencia 1950 (Sonderdruck aus ‚Bibliofilía‘ 3). Atkins, Stuart: „Das Leben ist ein Gänsespiel“. Some Aspects of Goethe’s West-öst­ licher Divan. In: Festschrift für Bernhard Blume. Aufsätze zur deutschen und europäischen Literatur. Göttingen 1967, S. 90–102. Bost, Frans van: Het ganzenbord in Vlaanderen. Gent u.a. 1990. Braekman, Willy L.: Het oudste bewaarde Vlaamse ganzenbord. In: Volkskunde 76 (1975), S. 89–93. Drouin, François und Regnard, Annick: Jeu de l’Oie. Une activité ludique au collège. Institut de Recherche sur l’Enseignement des Mathématiques. Université de Nan­ cy I – Faculté des Sciences. Nancy 1994. Girard, Alain R. und Quétel, Claude: L’histoire de France racontée par le jeu de l’oie. Paris 1982. Hausmann, Tjark: Der Pommersche Kunstschrank. Das Problem seines inneren Auf­ baus. In: Zeitschrift für Kunstgeschichte 22 (1959), H. 4, S. 337–352. Himmelheber, Georg: Spiele. Gesellschaftsspiele aus einem Jahrtausend. München, Berlin 1972 (= Kataloge des Bayerischen Nationalmuseums München, 14). Kimminich, Eva: Information, Edukation und Manipulation im Spiel. Graphische Spieltafeln der Vergangenheit und Gegenwart. In: Bayerisches Jahrbuch für Volks­ kunde 1989, S. 52–62, Abb. 21–26 im Anhang. Mundt, Barbara: Der Pommersche Kunstschrank. München 2009. Ruyslinck, Ward: Het ganzenbord. ’s-Gravenhage 1974 (Grote Marnixpocket, 92). Thijs, Alfons K.L.: Een ganzenbord van de Antwerpse drukker Verhulst (1690). In: Volkskunde 92 (1991), S. 51–52. Vanja, Konrad: Themen des europäischen Bilderbogens in der Sammlung Hecht. Das Gänsespiel. In: Was ist der Ruhm der TIMES gegen die zivilisatorische Aufgabe des Ruppiner Bilderbogens? Die Bilderbogensammlung Dietrich Hecht. Potsdam 1995, S. 17–58. Viaene, Antoon: Datering van het Duinkerkse ganzenspel, 1750–1780. In: Biekorf 75 (1974), S. 177–178. Vinck‚ Baron de: Iconographie du jeu de l’oie. Bruxelles 1886. Von zur Westen, Walter: Graphische Spieltafeln. In: Zeitschrift für Bücherfreunde 39 (1935), H. 3, S. 121–132. 31 Goethes Werke IV. Abth. Goethes Briefe, 43. Bd. Weimar 1908, S. 226.

„Wie das Korn harrt auf Mairegen, hoffen wir auf Freiheit und Frieden“ Das Stammbuch von August von Haxthausen (1812–1860)* Ein Thema zu finden, das die beiden Hauptwirkungsorte der Jubilarin und des Autors – Münster und Göttingen – miteinander verbindet, ergab sich bei einem Besuch auf dem westfälischen Gut Bökendorf bei Brakel im Jahr 2005.1 In einer Ausstellungsvitrine wird dort an die Bedeutung des Or­ tes als einstiges Märchen- und Volksliedzentrum erinnert.2 Der Besucher erfährt, dass die Brüder Jacob und Wilhelm Grimm den Mitgliedern der Familie v. Haxthausen zahlreiche Texte für ihre Kinder- und Hausmärchen und ihre Deutschen Sagen verdankten und dass sie im Jahr 1813 für ihren Freund und Gönner August von Haxthausen (1792–1862) zwei der bekannten Göttinger Stammbuchblätter mit Widmungen versehen hatten. Das zugehörige Stammbuch befindet sich im Nachlass August von Haxthausens in der Universitäts- und Landesbibliothek Münster. In der Literatur sind bisher lediglich die beiden Grimm-Autografen ohne Kom­ mentar veröffentlicht worden,3 im Übrigen wurde das Haxthausensche Stammbuch von der Forschung nicht weiter beachtet. Als wichtiges Zeit­ dokument insbesondere für die Studienzeit Haxthausens in Clausthal und Göttingen (1811–1818) sowie für manche seiner freundschaftlichen und familiären Verbindungen ist dieses Stammbuch einer näheren Untersu­ chung wert. ∗ Erstveröffentlichung in: Hartmann, Andreas u.a. (Hg.): Die Macht der Dinge. Symbolische Kommunikation und kulturelles Handeln. Festschrift für Ruth-E. Mohrmann. Münster u.a. 2011 (= Beiträge zur Volkskultur in Nordwestdeutschland, 116), S. 245–260. 1 Für freundliches Geleit danke ich Dr. Bettina Eller-Studzinsky und Gerald Studzinsky (Brakel). 2 Vgl. Ernst, Ulrich: Literatur und Literaten in – um – aus Brakel. In: Jahrbuch 1985 Kreis Höxter. Höxter 1985, S. 169–191; vgl. auch ders.: Die Brüder Grimm und ihre Beziehungen zum Brakeler Raum. Brakel 1985 (= Brakeler Schriftreihe, 1). 3 Conrad, Horst: Aus westfälischen Stammbüchern. Münster 1990, S. 12, Abb. 17 (Widmung Jacob Grimm); Hesselmann, Peter: August Freiherr von Haxthausen (1792–1866). Sammler von Märchen, Sagen und Volksliedern, Agrarhistoriker und Rußlandreisender aus West­ falen. Ausstellungskatalog. Münster 1992, S. 57, Nr. 42 (Widmung J. Grimm); S. 57, Nr. 43 (Widmung von Wilhelm Grimm).

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Die Bedeutung August von Haxthausens für die frühe Erzähl- und Liedforschung sowie für die europäische Agrarhistorie ist in der Literatur bereits ausführlich gewürdigt worden und bedarf hier keiner Wiederho­ lung.4 Dem Festschrift-Thema nähern wir uns am besten, indem wir das in Münster aufbewahrte Zeitdokument aus dem Leben des Bökendorfer Ge­ lehrten im Sinne symbolischer Kommunikation und kulturellen Handelns analysieren. Seine äußeren Entstehungsursachen sind folgende: A. von Haxthausen hatte aufgrund seiner geologischen Interessen im Frühjahr 1811 als Student der Montanwissenschaft die Berghochschule in Clausthal bezogen und legte sich – dem damaligen Gebrauch der akademischen Ju­ gend folgend – bald ein Stammbuch zu, das wie viele studentische Stamm­ bücher jener Zeit eine Loseblatt-Sammlung war. Das Stammbuch von August von Haxthausen, das ich im Juli 2008 in Münster einsehen konnte, enthält insgesamt 77 Blätter; davon sind aber lediglich 51 benutzt worden, der Rest blieb ohne Widmungen. Das frü­ heste Blatt stammt von 1800, das späteste von 1860. Dies bedeutet jedoch nicht, dass das Stammbuch während der gesamten sechs Jahrzehnte durch­ gehend in Benutzung war. In den Widmungen zeichnen sich zwei zeitliche Schwerpunkte ab, die zugleich wichtige Einschnitte im Leben des Besitzers darstellen. Wir beginnen unsere Analyse dieses Stammbuchs mit dem Frühjahr 1813. August v. H. hatte sich damals entschlossen, von Clausthal an die Universität Göttingen überzuwechseln und das Studium der Kamerali­stik aufzunehmen. Der Abschied von einem Hochschulort stellte bezüglich der Pflege studentischer Stammbücher stets einen wichtigen Termin dar, an dem man sich von Freundinnen und Freunden sowie Studienkollegen und mitunter auch akademischen Lehrern Widmungen erbat; so war es auch bei August v. Haxthausen. Die Abschiedswidmungen sind meist auf rechteckige, postkartengroße Blättchen eingetragen. Sie kulminieren um den Tag seines Weggangs Ende Mai 1813. Die üblichen Bestandteile einer Widmung waren entweder ein aus der poetischen Literatur übernommenes Zitat oder ein selbst entworfenes Gedicht, gefolgt von einem „Symbol“ genannten Motto, wie sie aus Adelswappen bekannt sind, und beschlossen von einer persönlichen Widmung mit Angabe des Ortes, der Zeit und des Namens. Vielfach treten noch die sog. Memorabilien hinzu, persönliche Erinnerungen an die gemeinsame Zeit am Studienort. Stammbücher wa­ ren Teil eines ausgeprägten Freundschaftskultes, der darauf zielte, sich in

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Vgl. u.a. Schulte Kemminghausen, Karl: August von Haxthausen. In: Westfälische Lebens­ bilder. Bd. 1. Münster 1930, S. 87–102; Bobke, Wolfgang: August von Haxthausen. Eine Studie zur Ideengeschichte der politischen Romantik. Diss. München 1954.

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der Erinnerung eines Freundes ein symbolisches Denkmal zu setzen und in der Abschiedsstunde fortdauernde Treue zu bekunden. Die Texte sind aufgrund der Abschiedssituation geprägt von Empfindsamkeit5 und Rühr­ seligkeit, sie klingen oft schwülstig und neigen mitunter zur Morbidität. Aus den Bekundungen im vorliegenden Stammbuch werden aber auch die zeitgenössische Freiheitssehnsucht und der Hass auf die Fremdherrschaft unter König Jérôme von Westfalen deutlich.6 Unser erstes, sehr einfach gehaltenes Beispiel ist die Widmung eines Kommilitonen am Abschiedsabend August von Haxthausens aus Clausthal 1813 (Bl. 16r°): Tief in der stillen Brust Wehet des Lebens Schirm und Lust Die Treue. Clausthal 23. Mai 1813 Am Abend vor Deinem Abgang von hier. Zum Andenken an deinen treuen Freund und Bruder Eckardt.

Die folgende Dedikation ist auf der Vorder- und Rückseite eines Blattes (Bl. 20) eingetragen. Wir treffen eine Auswahl aus dem ausführlichen Text: Jedes Ding, indem es auf die Welt tritt trägt in sich den Samen der Zerstörung ... Symb[ol]: Schwarzbrot und Freiheit! Auch entfernt denke oft und gern Deines Freundes und Bruders Bernh. Osam‚ Zellerfeld am 23. Mai 1813. Rückseite: Einige Denksprüchlein statt der schlechten Memorabilien: Nr. 6: „Die Weiber bereden sich leicht, man liebe sie. Sobald sie ihren Irrthum gewahr wer­ den, glauben sie sich hintergangen, z.B. Lotte R...l, gebürtig aus der Bergstadt Wildemann.”

Hier wird offensichtlich auf eine Romanze zwischen August v. H. und ei­ ner einheimischen Freundin angespielt, die August in seinen Memoiren nicht erwähnt. Tatsächlich findet sich von ihr auch ein Andenken in seinem Stammbuch. Die etwas kryptische Widmung von zarter Hand ist in die­ sem Fall nicht auf ein leeres Blatt eingetragen, sondern auf ein grafisches Schmuckblatt aus der Produktion der Firma Wiederhold in Göttingen (Bl. 22), von der das Stammbuch im weiteren Verlauf noch mehrere Beispiele enthält:

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Krüger, Renate: Das Zeitalter der Empfindsamkeit. Kunst und Kultur des späten 18. Jahrhunderts. Leipzig 1972; Manger, Klaus und Pott, Ute (Hg.): Rituale der Freund­ schaft. Heidelberg 2006. Vgl. Bobke: August von Haxthausen (wie Anm. 4), S. 16.

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Eins nur wollen und seyn Und eins bei allen hinblikken Immer belebet nur werden von einem belebenden Geist, Fragen bei allen was kommt, Giebts einen edlern Beruf ? Liebe, und Weisheit, und Tugend, darnach strebe die Jugend die Gott nur dazu erschuf. Zellerfeld d. 11. Mai 1813 Zur Erinnerung an Charlotte Auguste Röhl.

Im Frühjahr des ereignisreichen Jahres 1813 kam August v. H. also als stud. iur. cameral. an die Georgia Augusta. Seine Stammbuchblätter führte er mit sich. An der Göttinger Alma Mater sah er sich an einen Ort versetzt, an dem das Stammbuch mit Illustrationen aus der lokalen Produktion ei­ nen ganz wesentlichen Teil studentischer Kultur ausmachte. In den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts war Göttingen infolge der Wirksamkeit einer Reihe von grafischen Werkstätten zu einer bedeutenden „Bilderstadt“ aufgestiegen,7 deren Produkte an viele deutsche Hochschulorte, ins euro­ päische Ausland und sogar bis in die Vereinigten Staaten exportiert wur­ den. Die „Göttinger Stammbuchkupfer“ bildeten den Grundstock unge­ zählter studentischer Stammbücher, für die die einfallsreichen Göttinger Verleger Buchdeckel und Schuber zur bequemen Aufbewahrung bereit­ stellten. Auch August von Haxthausen erwarb ein solches mit grünen Kup­ ferstichen beklebtes Futteral, falls er es nicht bereits in Clausthal besessen hatte. Wie die vom Verfasser dieser Zeilen veranstaltete umfassende Editi­ on der Göttinger Stammbuchbilder8 dokumentiert, standen den Käufern dieser Widmungsgrafik während der Blütezeit der Göttinger Stammbuch­ blätter zwischen 1780 und 1830 insgesamt mehr als tausend Bildmotive zur Verfügung, aus denen sich jeder Besitzer seinen eigenen Präferenzen entsprechend eine Auswahl von Motiven – Städte, Landschaften, Illustrati­ onen zu literarischen Werken, religiöse Themen oder reine Schmuckblätter – zusammenstellen konnte. Bei der Analyse dessen, was August v. H. für die Weiterführung seines Stammbuchs aus diesem fast universal zu nennenden Fundus bevorzugt hat, stoßen wir auf ein Charakteristikum dieses Dokuments – und seines Besitzers! Haxthausen wählte aus dem Angebot in der Hauptsache Por­

7 8

Heumann, Georg Daniel: Der Göttingische Ausruff von 1744. Neu hg. und kommentiert von Rolf Wilhelm Brednich. Göttingen 1987. Brednich, Rolf Wilhelm (unter Mitarbeit von Klaus Deumling): Denkmale der Freund­ schaft. Die Göttinger Stammbuchkupfer – Quellen der Kulturgeschichte. Friedland 1997.

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trätdrucke aus der Offizin des rührigen Göttinger Verlegers Ernst Ludwig Riepenhausen (1762–1840), der sich u.a. auf die Herstellung solcher Radie­ rungen spezialisiert hatte und sogar seine in Rom studierenden Söhne dazu anhielt, für ihn „kleine Köpfchen zu radieren“.9 Im Haxthausen-Stamm­ buch kommen vorwiegend Blätter mit Porträts von regierenden Fürsten, Militärs und berühmten Dichterpersönlichkeiten vor. Beim Studium Hun­ derter solcher Sammelbände ist mir so gut wie nie ein Band mit einer der­ artigen Konzentration auf Zelebritäten vorgekommen. Wir werden wohl nicht fehlgehen, wenn wir daraus schließen, dass sich in dieser Auswahl neben Augusts adligem Standesbewusstsein und seinem beeindruckenden Bildungshorizont bereits früh seine staatsmännische Gesinnung spiegelte. Wer von ihm ein solches Blatt zu Widmungszwecken erhielt, bekam damit zur gleichen Zeit einen diskreten Hinweis darauf, dass der Eintrag als ein Beitrag zur symbolischen und intellektuellen Kommunikation zwischen Freunden verstanden werden wollte. Entsprechend umfangreich und auch inhaltlich gewichtig kommen viele der Eintragungen daher. Das Haxthausen-Stammbuch enthält insgesamt 49 Porträtdarstellun­ gen. Ein Großteil der Blätter stammt aus der Offizin von Riepenhausen; darüber hinaus hat August v. H. weitere, bei Riepenhausen nicht verfüg­ bare Porträts aus anderen Quellen ausgeschnitten und auf offene Blätter geklebt. Die in meiner Edition abgedruckten Blätter werden mit dem Buchstaben B. und der Editionsnummer gekennzeichnet; für die übrigen, in meiner Edition nicht berücksichtigten Blätter erfolgt ein Hinweis auf mein Verzeichnis ungedruckter Blätter B. mit Seitenzahl 501–502: Bl. 1 Bl. 2 Bl. 3 Bl. 10 Bl. 11 Bl. 12 Bl. 13 Bl. 15 Bl. 17 Bl. 18 Bl. 19 Bl. 21 Bl. 23 Bl. 24

9

v. Savigny (nicht bei B.) Cervantes (B. S. 501) Shakespeare (B. Nr. 933) Cervantes (identisch mit Bl. 2) Georg, Prinz Regent von England (B. S. 501) Fürst Blücher (B. Nr. 969) Gustav Adolph König von Schweden Griechische Heldenfiguren (B. Nr. 923) Homer Wilhelm Kronprinz von Würtenberg (B. S. 502) A. van Dyck (B. Nr. 940) J. Haydn (B. Nr. 941) Thielemann (preußischer General) (B. S. 502) Porträtzeichnung ohne nähere Angaben

Ebd., S. XXII.

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Bl. 27 Friedrich Wilhelm III., König von Preussen (B. Nr. 967) Bl. 29 Laura (Pseudonym für die Dichterin Wilhelmine Henriette Dorothea Nehagen) (B. S. 502) Bl. 30 Erzherzog Carl (von Österreich) Bl. 32 Gr. Tauentzien (preußischer General) (B. S. 502) Bl. 34 v. Savigny (identisch mit Bl. 1) Bl. 36 Mayer (Johann Tobias Mayer‚ Professor der Physik in Göttin­ gen) (B. Nr. 946) Bl. 38 Mengs (Anton Raphael Mengs‚ deutscher Maler und Kunst­ schriftsteller) (B. S. 502) Bl. 39 Corday (Marie Anne Charlotte C. d’Armont, 1768–1793, französische Adlige, die den Jakobinerführer Jean-Paul Marat ermordet hat) Bl. 40 Michael Angelo Buonaroti (B. S. 502) Bl. 41 Ariost (italienischer Dichter) (B. S. 502) Bl. 44 Ankarstrom (Jan Jacon A., ca. 1762–1792, Mörder von König Gustav III. von Schweden) Bl. 45 Copernicus (B. S. 501) Bl. 46 Christina Kg. von Schweden Bl. 47 Graf Platow (kosakischer Hauptmann) (B. S. 502) Bl. 48 Petrarca (B. S. 502) Bl. 49 Schiller (B. Nr. 935) Bl. 50 Erzherzog Carl (B. S. 501) (nicht identisch mit Bl. 30) (von Bl. 51 bis Bl. 77 enthält das Stammbuch keine Widmungen mehr) Bl. 51 Porträtstich eines unbekannten antiken Heroen (Franck fe­ cit), gewidmet von Hans Bunchmayr Bl. 52 Wellington (B. S. 502) Bl. 53 Friedrich Wilhelm Herz. v. Braunschweig (B. S. 501) Bl. 54 Hercules iuvenis (B. S. 501) Bl. 55 Luther (B. Nr. 929) Bl. 56 Heinr. Dieterich (Göttinger Verleger) (B. Nr. 952) Bl. 57 Herzog Hr. von Guise (Heinrich I. von Lothringen, Herzog von Guise‚ 1550–1588) Bl. 58 Gustav Adolph IV. Bl. 60 J. v. Müller (Johannes von Müller, Schweizer Historiker und Politiker, 1807–1808 Kurator der Universität Göttingen) (B. Nr. 973) Bl. 61 Friederike Kg. von Schweden Czernitscheff (Tschernischeff, russ. General, 1786–1857) Bl. 63  (B. S. 501) Bl. 64 Philip de Goede (Philip III. von Burgund, 1396–1467) Bl. 65 Franz II Kaiser v. Österreich (B. Nr. 966)

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Bl. 66 Washington Bl. 67 Griechische Heldenfiguren (s. Bl. 15) Bl. 68 Blumenbach (Johann Friedrich Blumenbach, Medizinprofes­ sor in Göttingen) (B. Nr. 948) Bl. 69 Hz. Eberhard m. d. Bart Bl. 70 Chalier (Joseph Ch., 1747–1793, Jakobiner, einer der Märty­ rergestalten der Französischen Revolution) Bl. 71 Fr. Wilh. Frh. v. Seydlitz (1721–1773, preußischer Kavallerie­ general) Bl. 72 Passewandoglu (PaßwandOglu = Osman Pascha, 1757/58– 1807, osmanischer Rebell) Bl. 73 Fürst Hardenberg (preußischer Staatsmann) (B. Nr. 970) Bl. 74 Hans Joachim v. Zieten (1699–1786, preußischer Reitergene­ ral) Bl. 75 Carel de Stoute (Karl der Kühne, 1433–1477, Herzog von Burgund, Sohn Philipps des Guten, s.o. Bl. 64) Bl. 76 A Henry IIII Auguste Roy de France Bl. 77 Sir W. Sidney Smith (1764–1840, britischer Admiral, erfolg­ reich im Kampf gegen Frankreich) Dies ist insgesamt eine sehr bunte, man ist versucht zu sagen „wilde“ Mi­ schung von Dichtern, Professoren, Künstlern, regierenden Fürsten, Mili­ tärs, Rebellen und Mördern, die schwerlich unter einen Hut zu bringen sind. Übrigens scheint das jeweilige Porträt für diejenigen, die eine Widmung vorzunehmen hatten, von keinerlei Bedeutung gewesen zu sein, denn mit Ausnahme eines Falles, auf den später noch einzugehen sein wird, nehmen die Schreiber keinen Bezug darauf. Dies entspricht der Erkenntnis aus mei­ ner Editionsarbeit an den Stammbuchkupfern, dass die Illustrationen beim Verfassen der Widmungen selten eine Rolle gespielt haben; sie waren mehr oder weniger schmückendes Beiwerk. Neben den Porträtköpfen enthält das Stammbuch noch die folgenden, allgemeiner verbreiteten Motive, zumeist aus der Werkstatt von Johann Carl Wiederhold (1743–1826) in Göttingen: Bl. 5 Berlepsch [Burg bei Göttingen] (B. Nr. 280) Bl. 6 Das Schloß am heiligen See bey Potsdam (B. Nr. 499) Bl. 7 Eingang in den Plauischen Grund (B. Nr. 412) Bl. 8 Ulrichs Garten [heute Cheltenham-Park in Göttingen] (B. Nr. 69/70) Bl. 9 Die Allée in Göttingen [heute Goethe-Allee] (B. Nr. 55) Bl. 14 Der Hanstein (Variante zu B. Nr. 288) Bl. 22 Schmuckblatt (B. Nr. 819)

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Bl. 25 Bl. 26 Bl. 28 Bl. 33 Bl. 35 Bl. 37 Bl. 42

Berlepsch (Variante zu B. Nr. 279) Rheinfall bey Schafhausen (B. Nr. 574) Reinhausen [Dorf im Gartetal bei Göttingen] (B. Nr. 215) Präfectur. Museum zu Göttingen (B. Nr. 30) Das Schloss Habsburg (B. Nr. 578) Münden [Hann. Münden] (B. Nr. 223) Ankunft Napoleons auf St. Helena (B. Nr. 706)

Die heutige Reihenfolge und Nummerierung der Blätter in dem Sammel­ band entspricht nicht dem zeitlichen Ablauf der Widmungen, sondern die Blätter sind im Lauf der Zeit eher willkürlich neu und ohne innere Ord­ nung in das Behältnis eingelegt worden (was dem Loseblattcharakter dieser Sammlung von Widmungsgrafik durchaus entspricht). Im ereignisreichen Jahr 1813 kommt dem mit den Göttinger Radierun­ gen ausgestatteten Stammbuch August von Haxthausens eine besondere lebensgeschichtliche Bedeutung zu, auf die näher eingegangen zu werden verdient. Nach Abschluss seines ersten Göttinger Sommersemesters begab sich August in Begleitung seines besten Freundes und Göttinger Studien­ kollegen, des Dichters Heinrich Straube, der bereits die zwei Jahre an der Bergschule mit ihm geteilt hatte, im Herbst nach Kassel, in der erklär­ ten Absicht, sich aktiv an den Befreiungskriegen zu beteiligen. In seinen Memoiren,10 die er kurz vor seinem Tod einem Schreiber in die Feder dik­ tiert hatte, erinnerte er sich an seine Erlebnisse im Jahr 1813 wie folgt: [Bl. 8v°] 1813. Gehe nach Göttingen wo ich mit Straube auf der Weenerstraße zu­ sammen wohne. Halte mich zu den Hessen. Hassenpflug, v. Waitz‚ Bauer, Fritze, Dr. Becker mit Familie ... Im September mit Straube nach Cassel, schlafe bei Straube, erwache bei Kano­ nendonner, [Bl. 9r°] die Kosaken vor Cassel, dichter Nebel, die Kugeln pfeifen über den Fried­ richsplatz, ein Baum dicht bei Straubes Haus zerschmettert, ein junger Bursch er­ schossen. Die Kosaken nehmen das Castel‚ befreien die Gefangenen, werden aber dann bis zum Thore zurückgetrieben. Alles auf den Straßen. Jérome u. sein Hof flüchtet, auch die französischen Schauspieler ... Die Russen besetzen, biwakiren. Der Pöbel versucht [Bl. 9v°] umsonst die Statue Napoleons auf dem Königsplatz umzureißen. General Tschernicheff.11 Ich lasse mich von Major Dörnberg anneh­ men, zwei Tage darauf ziehen wir ab nach Göttingen mit vieler Beute.

10 Haxthausen, August von: Memoiren. Universitäts- und Landesbibliothek Münster, Sign. N. Hax. L 100, Bl. 8v°. 11 Dieser russische General ist auf Bl. 63 des Stammbuches Haxthausen auch als Riepenhau­ sen-Porträt vertreten, allerdings ohne Widmung.

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Von diesem Tag an diente August v. H. bei den Bremen-Verdischen Husa­ ren unter Oberst Busch und erlebte u.a. den Feldzug in Dänemark und die Belagerung Hamburgs mit, bevor er nach dem Zweiten Pariser Frieden im November 1815 als Jurastudent an die Universität Göttingen zurückkehrte. Die Tage und Wochen vor dem Beginn seiner militärischen Karriere haben in seinem Stammbuch sichtbaren Niederschlag gefunden. Die Eintragun­ gen, die auf die bevorstehenden Veränderungen in seinem Leben Bezug nehmen, beginnen bereits beim Abschied von Göttingen. Sein „Akademi­ scher Freund und Schmollesbruder“ K. Manus widmet ihm am 28. August in Göttingen auf der Rückseite einer Darstellung von Schloss Berlepsch ein Gedicht, das die damals unter Studenten herrschende Freiheitssehn­ sucht zum Ausdruck bringt: Unser Bündnis werde nie zertrümmert Bis des Tages goldner Morgen schimmert Der uns in Elysium begrüßt Wo umtönt von Engelmelodien Uns des Lebens dumpfe Sorgen fliehen. Und die Freiheit unsre Göttin ist! Doch schon hier laß uns ihr Treue schwören, Bis wir einst in den beglückten Sphären Näher den der golden Alter stehn. Laß uns streiten für der Menschen Rechte Und befreien unterjochte Knechte! Die Tyrannen sollen untergehn!

Im September 1813 war August v. H. nach Kassel gegangen, und ange­ sichts der aus dem Osten herannahenden Front wenige Wochen vor der entscheidenden Völkerschlacht bei Leipzig (16.–18. Oktober) war klar, dass auch er, der bereits früher für einen künftigen Militärdienst registriert und zum Studium beurlaubt worden war, zu den Waffen gerufen werden würde. In dieser Situation waren es zunächst seine engeren Familienmit­ glieder, die sich mit Abschiedsgrüßen in seinem Stammbuch verewigten. Seine Schwester Ferdinandine, seit 1805 verheiratet mit Engelbert Frhr. von Heereman-Zuydtwick auf Herstelle a.d. Weser, benutzte einen Rie­ penhausen-Stich mit dem Bildnis von Fürst Blücher für eine künstlerisch gestaltete Text-Widmung rund um das Porträt (Abb. 1). Ein Teil ihrer zahl­ reichen Abschiedsgrüße lautet: Halt das Herz frey‚ und hin auf zu Gott erhoben weil du hier auf Erden keine bleibende Stelle hast. Gott geleite dich lieber August und bringe dich gesund an Leib und Seele zu uns zurück. Deine dich liebende Schwester Dine Zuydtwyck geb. Haxthausen

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Abb. 1: Stammbuch August von Haxthausen, Bl. 12r°. Widmung von Ferdinandine Zuydtwick, geb. Haxthausen, ohne Datum (Landes- und Universitätsbibliothek Münster, Nachlass H.).

Anfang Oktober 1813 stand offensichtlich Augusts Abschied bevor, denn am 2. Oktober registrieren wir insgesamt sieben Widmungen in seinem Stammbuch. Zahlreich ist dabei zunächst die Familie Hassenpflug vertre­ ten, zu der August v. H. über viele Jahre hinweg freundschaftliche Bezie­ hungen unterhielt. Das Oberhaupt der auf hugenottische Einwanderer zurückgehenden und ursprünglich aus Hanau stammenden Familie war Johannes Hassenpflug (1755–1834), der seit 1802 als Regierungsrat in Kassel tätig war. Sein Sohn Hans Daniel Ludwig Friedrich Hassenpflug, genannt Ludwig (1794–1862), studierte wie August von Haxthausen in Göttingen Rechtswissenschaft und heiratete 1822 die Grimm-Schwester Charlotte. Seine umstrittene Karriere als erzkonservativer Politiker („Hes­ senfluch“) muss hier nicht weiter dargelegt werden; wir begnügen uns mit dem Hinweis darauf, dass sich in Augusts Stammbuch ein undatiertes Wid­ mungsblatt von Ludwig befindet, für das er ein Porträt des Rechtshistori­ kers Friedrich Carl von Savigny ausgewählt hatte (Bl. 1). Die Widmungen aus dem Kreis der Familie Hassenpflug beginnen mit Ludwigs Schwester Amalia Maria. Sie wählte – wie Augusts Göttinger Kommilitone Manus – das Schloss Berlepsch bei Göttingen und bediente sich zum Abschieds­ gruß an den scheidenden August eines Gedichts, das wir mit seinem naiven

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Lob auf den kollektiven Tod auf dem Schlachtfeld aus heutiger Sicht für reichlich unsensibel halten mögen. Aber die Menschen dachten über den Heldentod auf dem Schlachtfeld damals anders, und so hat dieses aus dem 17. Jahrhundert stammende Kriegslied12 Eingang in Herders Volkslieder (I, S. 177f) und in Des Knaben Wunderhorn (I, S. 245) gefunden, woraus es Ama­ lia geschöpft haben wird: (Bl. 25 v°) Kein sel’ger Tod ist in der Welt, Als wer vom Feind erschlagen Auf grüner Heid, im freien Feld, Darf nicht hören groß Wehklagen; Im engen Bett sonst einer allein Muß an den Todesreihn, Hier aber findt er Gesellschaft fein, fallen ab wie Blumen im Main. Cassel den 2ten October 1813 Amalia Maria Hassenpflug

Die Mutter von Ludwig Hassenpflug, Maria Magdalena, geb. Dresen (1767–1840), benutzte ein Göttinger Stammbuchkupfer mit der Darstel­ lung des Rheinfalls bei Schaffhausen, um sich mit einem Denkspruch von Jean Paul von August v. H. zu verabschieden: (Bl. 26 v°) Wirf deinen Anker nicht unter dich in den schmutzigen Erdenschlamm, sondern wirf ihn über dich in den blauen Himmel, und dein Schifflein wird fest stehen im Sturm.

Ein weiteres Mitglied der großen Familie Hassenpflug, wahrscheinlich Lud­ wigs älteste Schwester Marie Magdalene Elisabeth (1788–1856), benutzte einen Wiederhold-Druck mit der Ansicht von Reinhausen bei Göttingen, um auf der Rückseite einen markigen Spruch anzubringen: (Bl. 28 v°) Heil und die Schmach, die Knechtschaft schwanden! Wie Flammen aus der Meere Schoos, Wie Welten aus dem Chaos wanden, Aus Stürmen sich Heroen los. Maria Hassenpflug

Johanna Isabella Hassenpflug verwendete die Rückseite des Riepenhausen­ schen Porträts der Dichterin Laura für den folgenden Fünfzeiler:

12 Zur Liedgeschichte vgl. Eichler, Ferdinand: Kein seeliger Tod ist in der Welt. In: Viertel­ jahresschrift für Literaturgeschichte 2 (1889) S. 246–264.

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(Bl. 29 v°) Sieg und Tod macht frei! Lustig! Lustig! Tapfre Krieger Friede schließet ihr als Sieger; Frieden aller Welt zu geben Stehe Gott euch bei.

Auch eine von Augusts Tanten war in der Abschiedsstunde zugegen und widmete ihm einen Prosatext auf einem Blatt ohne Illustration: (Bl. 39 r°) Der Augenblick ist nahe wo du guter August auf den kriegerischen welt Theater erscheinen must. Dein schicksal ist zwar dort oben bestimmt, uns schwachen Erdbewohnern nicht bekannt. Es komme aber wie es will, bleibe dei­ nem großen schöpfer, und der Tugend getreu. Erindere dich zuweillen meiner, und meines nun leider Verstorbenen Eintzigen freundts, er war auch dir Freundt. Lebe wohl. Deine Freundin und Tante Verwittwete Von Calenberg, gebohrne Von Haxthausen.

Besondere Bedeutung gewinnt das Haxthausen-Stammbuch dadurch, dass sich beim Abschied von August aus Kassel im Herbst 1813 auch die beiden dort ansässigen Brüder Jacob und Wilhelm Grimm darin verewigt haben. Die Verbindung zwischen der Familie von Haxthausen und den Grimms war schon an der Jahreswende 1807/08 auf Vermittlung von Johannes Müller (Porträtstich im Stammbuch auf Bl. 60), damals Generaldirektor des Unterrichtwesens im Königreich Westfalen, und über Augusts älte­ ren Bruder Werner von Haxthausen zustande gekommen.13 Die Kontakte wurden dann vor allem von Wilhelm Grimm wahrgenommen, der zum ersten Mal im August 1811 und später noch öfter in Bökendorf zu Gast war, während Jacob erst im Jahr 1846 im Anschluss an eine Kur im benach­ barten Bad Lippspringe den Weg nach Bökendorf fand. Ein Besuch Jacobs in Bökendorf mit gemeinsamer Weiterreise mit August v. H. nach Münster und Köln war im Sommer 1813 ins Auge gefasst worden,14 fiel aber den schwierigen Zeitumständen zum Opfer, wie die folgende Stelle aus einem Brief Jacobs an August vom 25. August 1813 erkennen lässt: Herzlichen Dank, lieber H., für Ihren freundlichen Brief, und wenn Sie mir nur recht glauben, wie viel Lust ich habe, Ihrer gütigen Einladung zu folgen. Denn bestimmtes kann ich Ihnen durchaus nichts schreiben; die Zeit steht jetzt auf einer solchen Spitze, daß kein Tag für den andern bürgt und diese Angst und Un­ gewissheit unsere erholende, heitere Reise, wie ich mir dachte, gewaltig drücken 13 Hennig, Dieter und Lauer, Bernhard (Hg.): 200 Jahre Brüder Grimm. Dokumente ihres Lebens und Wirkens. Kassel 1985, S. 547. 14 Schoof, Wilhelm: Freundesbriefe der Familie von Haxthausen an die Brüder Grimm. In: Westfälische Zeitschrift 94 (1938), S. 57–142, hier S. 82, Brief Nr. 14.

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würde […] In der Hoffnung also, daß der kleine Nachen unseres Vorhabens nach dem Sturm der Zeit noch stilles Wetter finden könne zum Auslaufen, grüße ich Sie vielmal zum Beschluß. Jacob Gr.15

Die freundschaftlichen Verbindungen zwischen beiden Familien dauerten noch lange Jahre fort, und auch die Besuche der Haxthausens in Kassel sind für spätere Jahre gut dokumentiert.16 Im Jahr 1813, um das es uns hier vor allem geht, waren diese Beziehungen noch in ihren Anfängen, im gegenseitigen Verkehr war das förmliche „Sie“ noch nicht dem freund­ schaftlichen „Du“ gewichen. Die Widmungen von Jacob und Wilhelm Grimm in das HaxthausenStammbuch gehen auf den gleichen Tag – den 2. Oktober 1813 – zurück, an dem sich auch mehrere weibliche Mitglieder der Familie Hassenpflug darin verewigt hatten. Die beiden Grimms besaßen ebenfalls Stammbü­ cher, die bis in ihre Kindheit in Steinau und Hanau zurückreichen und vor allem während der gemeinsamen Marburger Studienjahre gepflegt wurden. Es ist interessant zu sehen, dass die von Göttingen ausgehende Mode der Benutzung illustrierter Stammbuchblätter diese beiden Dokumente noch nicht erreicht hatte. Das im Berliner Grimm-Schrank erhaltene Stammbuch von Jacob Grimm17 reicht mit seinen Eintragungen von Oktober 1801 bis 1808. Das Berliner Exemplar umfasst 44 Blätter; im Staatsarchiv Marburg ist 1989 ein Bestand mit weiteren 31 Blättern aufgetaucht und von Werner Moritz18 be­ schrieben worden. Nach 1808 wurde das Stammbuch Jacobs offenbar nur noch bei wichtigen Gelegenheiten zur Hand genommen. Ein solcher An­ lass war der Abschied seines Freundes August von Haxthausen aus Kassel, der auch im Haxthausen-Stammbuch, wie wir gesehen haben, viele Spuren hinterlassen hat. An jenem denkwürdigen 2. Oktober 1813 kommt es zur Doppeleintragung von August und Jacob im jeweils anderen Stammbuch. August schreibt in Anlehnung an das Goethe-Gedicht Beherzigung:

15 Reifferscheid, Alexander (Hg.): Freundesbriefe von Wilhelm und Jacob Grimm. Heilbronn 1878, S. 14f. 16 Schulte Kemminghausen, Karl: Dokumente zu Besuchen des westfälischen Freundeskreises der Brüder Grimm in Kassel. In: Denecke, Ludwig und Greverus, Ina Maria (Hg.): Brüder Grimm Gedenken 1. Marburg 1963, S. 125–146. 17 Schoof, Wilhelm: Die Stammbücher von Jakob und Wilhelm Grimm I-IV. In: Volk und Scholle 8 (1930), S. 248–253, 282–286, 306–310, 343–346. 18 Moritz, Werner: Jacob Grimms Stammbuch. In: Zeitschrift des Vereins für hessische Ge­ schichte und Landeskunde 94 (1989), S. 153–168.

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Wer da steht, der schaue, das er nicht falle!19 behalten Sie mich lieb, guter Jacob Ihren treuen Freund August Haxthausen Cassel, 2t October, wo der Sirius (Hundsstern)20 sich senkte 1813.21

Ein weiterer wichtiger Lebensabschnitt, der Vorabend von Jacobs Abreise in das Große Hauptquartier von Paris am 29./30. Dezember 1813, war nochmals Anlass‚ um von Kasseler Freunden Abschiedswidmungen zu er­ bitten. Der letzte Eintrag stammt von der bedeutenden Grimmschen Mär­ chengewährsfrau Johanna (Jeannette) Hassenpflug (die sich des gleichen Vierzeilers von Jean Paul bediente wie Maria Hassenpflug im HaxthausenStammmbuch, s. oben). Jacob Grimm war kein erklärter Freund von Stammbüchern. Dies geht vor allem aus der Tatsache hervor, dass er in späteren Jahren die ihm gewidmeten Blätter gelegentlich aus ihrem Futteral genommen und mit sarkastischen Randbemerkungen („lächerlich und ärgerlich“; „ist wie Nähzwirn“22) versehen hat – ein in der Geschichte der Stammbücher nicht sehr häufig anzutreffender Fall. Nur die Eintragungen aus der eigenen Fa­ milie blieben davon verschont.23 Im großen Bestand von 316 Stammbü­ chern des Stadtarchivs Göttingen mit nahezu 18.000 Eintragungen sind weder Jacob noch Wilhelm mit Widmungen vertreten24 (was auch davon zeugt, dass die Grimms in ihren Göttinger Jahren 1830–1837 nicht beson­ ders gut in das studentische Leben integriert waren). Wenden wir uns nun der Widmung Jacob Grimms an August von Haxthausen zu (Abb. 2). Sie wurde wie mehrere andere vor dem Abschied Augusts am 2. Oktober 1813 in Kassel verfasst. Ob August für Jacob das Porträt von Cervantes zur Widmung ausgewählt hat oder ob Jacob selbst diese Wahl getroffen hat, wissen wir nicht. Was wir aber aus der Widmung 19 August bediente sich hier einer Zeile aus dem Gedicht Beherzigung von Goethe, entstanden vor 1789, dessen letzte Zeilen lauten: Eines schickt sich nicht für alle! / Sehe jeder, wie ers treibe, / Sehe jeder, wo er bleibe, / Und wer steht, daß er nicht falle. Erstdruck in: Goethes Schriften. Bd. 8. Leipzig 1789, S. 120. 20 Der Sirius galt bereits in der Antike als Unheil (Hitze, Pest) bringender Stern; vgl. Bäch­ told-Stäubli, Hanns und Hoffmann-Krayer, Eduard (Hg.): Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. Bd. 4. Berlin 1931/1932, Sp. 498; Ebd., Bd. 8, Berlin 1936/1937, Sp. 459. 21 Moritz: Grimms Stammbuch (wie Anm. 18), S. 161. 22 Ebd., S. 156. 23 An den Bruder Carl Friedrich: „guter Carl, du bist mir gut“; an den Bruder Wilhelm: „ach liebster Wilhelm“; ebd., S. 155, 163. 24 Hauff, Maria und Heerde, Hans-Joachim und Rasche, Ulrich: „Ins Stammbuch geschrie­ ben ...“. Studentische Stammbücher des 18. und 19. Jahrhunderts aus der Sammlung des Stadtarchivs Göttingen. CD. Göttingen 2001 (= Veröffentlichungen des Stadtarchivs Göt­ tingen, 7).

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Abb. 2: Stammbuch von August von Haxthausen, Bl. 2r°. Widmung von Jacob Grimm, Kassel, 2. Oktober 1813 (Landes- und Universitätsbibliothek Münster, Nachlass H.).

schließen können, ist die Tatsache, dass Jacob das Blatt mit nach Hau­ se genommen haben muss‚ um seiner philologischen Gründlichkeit ent­ sprechend zunächst einen Bezug zu Cervantes herzustellen. Offensichtlich nahm er eine Ausgabe des Don Quijote zur Hand und rahmte das CervantesPorträt mit einem Zitat aus Teil 2, Kap. 42 ein.25 Oben steht esperando como el agua de Mayo‚ Don Quix. parte seg. cap. 42 (= „warten wie auf einen Maire­ gen“, ein im 16. und 17. Jahrhundert verbreitetes spanisches Sprichwort26). Unten erweitert Jacob dieses Sprichwort im Hinblick auf die herrschenden Zeitumstände: „wie das Korn harrt auf Mairegen, hoffen wir auf Frei­ heit und Frieden“, ein genialer Einfall! Ähnlich verfährt Jacob in schöp­ ferischer Aneignung einer Zeile aus einem Gedicht des Minnesängers von

25 Der Kontext im Roman ist folgender: Der Herzog hatte Sancho Panza eine (fiktive) Statt­ halterschaft auf einer Insel versprochen und ließ ihm ausrichten, die Insulaner warteten bereits auf ihn wie auf einen Mairegen. Vgl. Cervantes Saavedra, Miguel de: Don Quijote de la Mancha. Hg. und übersetzt von Rothbauer, Anton H. Teil 2, Kap. 42. Frankfurt a.M. 1964, S. 1018. 26 Martín, Alonso: Enciclopedia del Idioma. Bd. 2. Madrid 1958, S. 1852.

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Sachsendorf,27 das er auf das Blatt oben eingetragen hat: „Es ist ein alt gesprochen wort ‚wer mit Trauen dient, dem wird gelohnet wohl’ (der von Sachsendorf I. 159)“. Die erste Zeile ist von Jacob hinzugefügt; die zweite Zeile hat er aus der mittelhochdeutschen Literatur entnommen und wie­ derum der Situation angepasst, indem er den Minnedienst des Mittelalters auf den bevorstehenden Militärdienst des scheidenden August von Haxt­ hausen übertrug. In beiden Fällen vergaß Jacob nicht, seine Quellen genau nachzuweisen. Er schöpfte mit diesen beiden Texten die Möglichkeiten einer kreativen Stammbuchkultur voll aus, und sein Ingenium nötigt uns auch heute noch Bewunderung ab. Am gleichen Tag wie Jacob hat auch Wilhelm Grimm seinem Freund August ein Stammbuchblatt gewidmet (Bl. 3). Es handelt sich um das von Riepenhausen radierte Porträt von Shakespeare, auf das Wilhelm den fol­ genden Text eingetragen hat: Geh, ruf den Morgenstern, denn wenn der Tag anbricht so sieht man erst recht, was schön ist oder nicht. Gott behüt Sie, lieber August, und führe uns wieder vergnügt zusammen. Caßel am 2t October Abends 1813 W. C. Grimm

Wilhelm hat sich hier eines Zweizeilers aus dem Cherubimischen Wandersmann (1675) des Barockdichters Angelus Silesius bedient.28 Bemerkenswert daran ist, dass Wilhelm die auch von August v. H. benutzte Anspielung auf den Sirius aufnimmt. Dies deutet darauf hin, dass in diesen kritischen Tagen unter den Freunden eine Diskussion über die Unheil bringende Bedeutung des Sirius stattgefunden haben könnte. Und auch bei Wilhelm verblüfft die Vertrautheit mit der deutschen Literatur zur Auffindung eines geeigneten Zitats. Im November 1815 nahm August v. H. sein rechtswissenschaftliches Studium an der Georgia Augusta wieder auf. Nach eigenem Bekunden fühlte er sich anfangs in Göttingen fremd: „Unter den Studenten hatte ich fast gar keine Bekannte und suche sie auch nicht; zum eigentlichen Burschenleben bin ich zu alt [August war gerade 23 Jahre, d.V.] und habe

27 Jacob hat die Ausgabe der Minnesinger von Friedrich von der Hagen benutzt. Vgl. die neue Edition mit Kommentar von Kraus, Carl von (Hg.): Deutsche Liederdichter des 13. Jahrhunderts. 2 Bde. Tübingen 1952–1958, Bd. 1: Text, S. 401: swer mit triuwen dient, dem wirt gelônet wol; Bd. 2: Kommentar, S. 490. 28 Silesius, Angelus: Cherubimischer Wandersmann. In: Sämtliche poetische Werke in drei Bänden. Bd. 3. Tübingen 1952–1958, S. 64, Nr. 194, Überschrift „Das Licht gibt’s zu erken­ nen“.

„Wie das Korn harrt auf Mairegen, hoffen wir auf Freiheit und Frieden“

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auch schon zu tief ins wirkliche Leben hineingeguckt“.29 Es sollte aber nicht bei diesem ersten Eindruck bleiben, denn nach Auskunft seiner Memoiren fand er bald „eine Menge Kriegskameraden Haßenpflug, Pau­ li, drei Lützow’s, Bodelschwingh, Hofrath Hugo […] die schöne Augu­ ste Hassenpflug geliebt […] ich wohne in der Gronerstraße, dort besucht mich Jacob Grimm“.30 Die bald darauf einsetzenden literarischen Projekte des „adligen Romantikers“ August von Haxthausen,31 die in der Grün­ dung der (kurzlebigen) literarischen Zeitschrift Die Wünschelruthe von 1818 gipfelten,32 haben in dem Stammbuch kaum noch Niederschlag gefunden, d.h. die zahlreichen an dem Vorhaben beteiligten Mitglieder des Zirkels sind weder mit ihren richtigen noch mit ihren Gildenamen darin zu finden. Das Stammbuch wurde offenbar nur noch selten zur Hand genommen. Wir beschließen den Gang durch das aufschlussreiche Dokument mit einem bezeichnenden Zeugnis aus der Feder eines Kriegskameraden, Karl von Lützow. Sein Eintrag spiegelt die politische Aufbruchstimmung in der Studentenschaft nach den Befreiungskriegen ebenso wie die romantische Sehnsucht nach einem kulturellen Wiedererwachen der deutschen Nation. (Bl. 27 v°) Illustration auf Vorderseite: Friedrich Wilhelm III, König von Preussen Wir sind Teutsche! – wir haben lange sorglos gelebt im Schatten des großen Bau­ mes teutscher Verfassung […] Auf einmal ist ein neuer gewaltiger Sturm entstan­ den […] was kann unserm Leben für die Zukunft nun schönere Bedeutung geben, als wenn wir d. alten teutschen Sinn wieder hervorrufen, und wiederum nach unserem Charakter u. der alten Kraft und Reinheit unseres Vaterlandes handelten? Göttingen, im Sept. 1816 Zum Andenken an Ihren aufrichtigen Freund Karl von Lützow.

Und am 12. Juli 1860 beschließt der ehemalige Göttinger Mitstudent Hoff­ mann von Fallersleben Augusts Stammbuch mit der schlichten Widmung (Bl. 4): Heut und Immer!

Historische Stammbücher sind als massenhaft verfügbare Geschichtsquelle für die biografische Forschung bisher zu wenig beachtet und ausgewertet

29 Brief an Joseph Görres aus dem Jahr 1815, gedruckt bei Grauheer, Josepha: August von Haxthausen und seine Beziehung zu Annette von Droste-Hülshoff. Diss. Altena 1933, S. 17. 30 Von Haxthausen: Memoiren (wie Anm. 10), Bl. 14v°–15r°. 31 Gundlach, Henrike Barbara: August von Haxthausen (1792–1866). Literarische Projekte eines adligen Romantikers. MA. Münster 1990. 32 Grauheer, Josepha und Arens, Eduard: Die Poetische Schusterinnung an der Leine. Göttin­ gen 1929 (= Göttinger Nebenstunden, 7), S. 1–25.

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worden. Sie erweisen sich im Licht unserer Analyse als aufschlussreiche Zeugnisse für die symbolische und metaphorische Kommunikation unter Gleichgesinnten, hier junge Akademiker an einer Universität, sie geben Aufschluss über herrschende Geistesströmungen, patriotische ebenso wie religiöse Gesinnungen, sie spiegeln nicht nur den Bildungshorizont der Widmenden, sondern geben auch Einblick in die sich oft überschneidenden sozialen, intellektuellen und kulturellen Netzwerke, denen die betreffenden Mitglieder einer Standesgruppe zugehörten. Nachdem die historische Do­ kumentation der piktorialen Seite der Stammbuchblätter als abgeschlossen gelten kann,33 erscheint es nun an der Zeit, dass sich die kulturwissen­ schaftliche Forschung jenseits familiengeschichtlicher Ahnenforschung den in den Stammbüchern enthaltenen Lebensgeschichten zuwendet und einen faszinierenden Forschungsgegenstand für sich neu entdeckt.

33 Brednich: Denkmale der Freundschaft (wie Anm. 8); für Westfalen-Lippe vgl. Angermann, Gertrud: Stammbücher und Poesiealben als Spiegel ihrer Zeit. Münster 1971.

Die Täufer und die Bilder Im Anschluß an Felderfahrungen bei den Hutterern in Kanada* Dem Andenken an den unvergessenen Freund und Kollegen Ernő Kunt möchte ich diese Zeilen widmen, mit denen ich an eigene Felderfahrungen auf dem Gebiet der Visuellen Anthropologie anknüpfe und sie mit Er­ kenntnissen über die Bedeutung der Fotografien in der alten bäuerlichen Welt Europas zu verbinden suche, die ich dem Verstorbenen verdanke. Ich bin ihm verpflichtet für tiefe Einsichten in die Botschaft der Bilder in der ungarischen Volkskultur, in die Kunst, sie wissenschaftlich zu lesen und sie zusammen mit den Angehörigen des kulturellen Umkreises, aus denen sie entstammen, zu entziffern und zu deuten. Erste Bekanntschaft mit den Methoden von Ernő Kunt hat die deutschsprachige Fachwelt durch einen Aufsatz gemacht, den er vor mehr als zehn Jahren in der Zeitschrift für Volkskunde1 veröffentlicht hat. Die Problemstellung dieser Studie war die zen­ trale Frage, wie sich die Fotografie in einer Gesellschaftsgruppe mit einer traditionellen Kultur, also im ungarischen Bauerntum, „einbürgerte“ und welche Funktionen sie in dieser Kultur übernahm. „Hat die Bauernschaft das neu übernommene Kulturelement in ihre Traditionen integriert? Wie hat sie, wenn überhaupt, dessen ‚Anwendung‘ geregelt? Wie ist die Anpas­ sung an die herkömmliche Sachkultur der Bauernschaft vor sich gegangen? Welche Beziehung hat sich zwischen der Sache und dem Menschen hin­ sichtlich der Fotografie ausgebildet?“2 Mit dem gleichen Fragenkatalog ausgerüstet möchte ich mich einer Gruppe von Menschen nähern, die erst sehr viel später als die ungarischen Bauern, aber dafür um so nachhaltiger und unvermittelter mit den Proble­ men des Medienzeitalters und damit auch der Bildkommunikation kon­ frontiert worden sind. Mein Augenmerk gilt – nach einer längeren Periode

* Erstveröffentlichung in: Szarvas, Zsuzsa (Hg.): Traum vom Denken. In memoriam Ernő Kunt. Miskolc 1996, S. 47–79. 1 Kunt, Ernő: Lichtbilder und Bauern. Ein Beitrag zu einer visuellen Anthropologie. In: Zeit­ schrift für Volkskunde 80 (1984), S. 216–228. 2 Ebd., S. 218.

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des Forschens über ganz andere Problemstellungen – den Täufern, bei denen ich in den Jahren 1975–1982 im westlichen Kanada ein größeres Feldforschungsprojekt durchgeführt habe. Mir scheint, daß sich nach einer gewissen Periode der zeitlichen und räumlichen Distanz mein Blick für die Erfahrungen und Erlebnisse im Feld eher geschärft hat und daß sich mir inzwischen mein Verhältnis zu der erforschten Bevölkerungsgruppe und den damals entstandenen Forschungsgrundlagen verändert darstellt. Auch hierfür und besonders für meine Hunderte von Aufnahmen, die während der Aufenthalte im Feld entstanden sind, gilt die Aussage von Ernő Kunt, daß „Fotografien weder kommunikationstheoretisch noch semiotisch so eindeutig sind, wie sie auf den ersten Blick zu sein scheinen“.3 Der zweite oder dritte Blick auf das Material ist in jedem Fall stets erhellend. Wie im folgenden darzustellen sein wird, ist das Verhältnis der Täufer zum Bild derart spannungs- und problembeladen, daß es äußerst erstaunlich ist, wenn bisher außer einigen verstreuten Bemerkungen in der Literatur keine zusammenfassende Abhandlung zu diesem Problembereich vorliegt. Zunächst bedarf es einiger grundsätzlicher Vorbemerkungen über das Verhältnis der Täufer zum Bild allgemein. Die im 16. Jahrhundert parallel zur Reformation entstehende täuferische Bewegung steht, zu­ mal sie sich mehr den Lehren von Zwingli und Calvin als denen von Luther zugehörig fühlt, dem Bild prinzipiell ablehnend gegenüber, weil vor allem die in dieser Zeit dominierenden Bilder religiösen Inhalts mit der katholischen Kirche und dem Papismus in Zusammenhang gebracht und verworfen wurden. Mit den von den Täufern angestrebten einfachen Lebensformen ließ sich die Verwendung von Bildern vor allem im Got­ tesdienst nicht vereinbaren. Der Anabaptismus ist von seinen Wurzeln her gesehen generell bilderfeindlich. Ihre biblische Begründung findet diese Einstellung allerdings erst sehr viel später im dritten mosaischen Gebot, „Du sollst dir kein Bildnis noch irgend ein Gleichnis machen, weder dessen, das oben im Himmel, noch dessen, das unten auf Er­ den, das im Wasser oder unter der Erde ist. Bete sie nicht an und diene ihnen nicht“ (2. Mos. 20, 4–5). Das Verbot, Bilder herzustellen und sie anzubeten, wird im Alten Testament an verschiedenen weiteren Stellen bekräftigt: vgl. 3. Mos. 26, l; 5. Mos. 4, 16; 5, 8; 27, 15; Ps. 97, 7. In ihrem auch sonst durchgehend zu beobachtenden wörtlichen Verständnis und Ernstnehmen des Alten und Neuen Testaments haben die unterschiedli­ chen Täufergruppen aus diesen Vorschriften den Schluß abgeleitet, daß sowohl aus ihrem religiösen als auch dem familiären Leben das Bild in jeglicher Form ausgeklammert bleiben sollte.

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Ebd., S. 228.

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Allerdings wird dieser Grundsatz von den verschiedenen Denomina­ tionen heute ganz unterschiedlich gehandhabt. Am frühesten haben sich die niederländischen Mennonitengemeinden bereits im 17. Jahrhundert im privaten Bereich von der Ikonophobie der Gründer befreit: Unter ihnen gab es anerkannte Porträtmaler, und andererseits haben sich wohlhaben­ de Mennoniten auch gerne porträtieren lassen.4 Es scheint, als habe sich im Laufe der mennonitischen Wanderungsbewegung nach Westpreußen im 17. Jahrhundert vorübergehend wieder eine etwas rigorosere Haltung gegenüber dem profanen Bild als Wandschmuck durchgesetzt. Nur so ist es denkbar, daß der mennonitische Porträtmaler Enoch Seemann Sr. 1697 in Danzig von dem Kirchenältesten Georg Hansen mit dem Bann belegt und daraus erst mit dem Versprechen gelöst wurde, künftig nur noch Landschaften und Stilleben zu malen.5 Der Beruf des Kunstmalers blieb den Mennoniten im Danziger Werder bis gegen 1850 verwehrt.6 Die bilderfeindliche Haltung der plattdeutschen Mennoniten hängt zweifellos auch damit zusammen, daß sie vorwiegend in ländlichen Ge­ meinden organisiert waren und sich durch die Beachtung ihrer Tugenden der Einfachheit, Demut und Bescheidenheit von ihrer Umwelt zu diffe­ renzieren suchten. Für die aus Westpreußen weiterwandernden Menno­ niten ist die Vorliebe für das einfache Leben auch an ihren Siedlungsplät­ zen in der Ukraine und später in Nordamerika lange erhalten geblieben. Erst im 20. Jahrhundert haben sich die Angehörigen der modernen mennonitischen Gemeinden von der Bilderfeindlichkeit ihrer Vorväter entfernt und sich mittlerweile ohne Vorbehalte den Medien Fotografie, Kino, Fernsehen und Video geöffnet. Allenfalls im Wandschmuck lassen sich bei nordamerikanischen Mennonitenfamilien noch Präferenzen für bestimmte religiöse Bildmotive erkennen.7 Konservativere Gruppen, wie sie teilweise noch im westlichen Kanada, aber vor allem in Mexiko und Paraguay ansässig sind, verbieten bis heute jeglichen Wandschmuck und lassen sich auch von Fremden nicht fotografieren. Wir bleiben mit unseren Betrachtungen über die Rolle der Bilder bei den Täufern nunmehr in der Neuen Welt und wenden uns den in Nord­ amerika ansässig gewordenen Täufergruppen zu. Bei den Amishen, die sich an ihren heutigen Wohnsitzen in Pennsylvania, Indiana, Iowa, Onta­ rio und in anderen Bundesstaaten bis heute in vielen Bereichen ihrer Kul­

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Menn. Encycloped. I, 165f. Seemann, Enoch: Offenbahrung und Bestraffung des Gergen Hanszens Thorheit. Stolt­ zenberg 1697. Menn. Encyloped. I, 167. Brednich, Rolf Wilhelm: Mennonite Folklore and Folklife. A Preliminary Report. Ottawa 1977 (= National Museum of Man Mercury Series, 22), S. 34–45.

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tur einer Akkulturation erfolgreich widersetzt haben oder diesen Prozeß zumindest sehr genau kontrollieren, finden wir ebenfalls noch ein fast alttestamentliches Verhältnis zu den Bildern. Wandschmuck in den Woh­ nungen, auch solcher mit religiösen Motiven, war ursprünglich bei ihnen nicht erlaubt und ist heute allenfalls in Form von Kalendern anzutreffen. Bei der jüngeren Generation scheint das Verbot, die Wände mit Bildern zu schmücken, allerdings in allmählicher Auflösung begriffen zu sein.8 Systematische Beobachtungen dazu fehlen, die bisher vorliegenden Bild­ dokumentationen zum Leben der Amishen enden oft vor der Intimsphä­ re der Privatwohnungen, so daß Urteile über die Rolle der Bilder im heu­ tigen Leben dieser Bevölkerungsgruppe nur schwer zu fällen sind. Die zutiefst menschliche Faszination, von sich selbst ein Bild zu besitzen, ist bei den täuferischen Gruppen in Nordamerika ungeachtet aller Verbote überall weit verbreitet. Es bleibt aber dennoch die Tatsache festzuhalten, daß beim Vordringen des Mediums Fotografie in die Privatsphäre gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Amishen das Fotoporträt in den Katalog der verbotenen Dinge aufgenommen haben, natürlich im Hinblick auf Exodus 20,4, aber auch im Zusammenhang mit dem ihnen außerordent­ lich wichtigen Gebot der Gelassenheit. Dieser von jedem Amishen an­ gestrebten Kardinaltugend steht als Untugend der Stolz (pride) entgegen. Mit dem Stolz kam nach Amisher Überzeugung das Böse in die Welt, und wer ein Bild von sich machen läßt oder besitzt, unterliegt der Gefahr, daß er sich für etwas Besseres hält und dem Stolz verfällt. „Their aversion to photography is a way of suppressing pride“.9 Es ist leicht vorstellbar, daß bei einem solch distanzierten Verhältnis allein schon zur Fotografie der 1994 vor der Haustür der Amishen in der Lancaster County in Pennsylvania gedrehte Film Witness (dt. Der einzige Zeuge) eine schwere Herausforderung für sie darstellte. Hollywood steht bei ihnen ohnehin stellvertretend für Weltlichkeit und Sünde, Gewalt und Sex. Auch die Handlung des von der Firma Paramount Pictures produ­ zierten Films war durchaus nicht in ihrem Sinne, wenn z.B. der Filmheld Harrison Ford als Amisher verkleidet beim Besuch in einer Kleinstadt bei einer Provokation durch einen Einheimischen Prügel austeilt oder wenn der Film mit einem dramatischen shootout auf einer Amishen Farm endet. Das Mißtrauen gegen den Film verstärkte sich noch, als die Amishen herausfanden, daß die Hauptdarstellerin Kelly McGillis als Amishe ver­ kleidet einige Tage in einer Amishfamilie verbracht hatte. Den Gemein­ demitgliedern wurde daraufhin bei Strafe des Ausschlusses verboten, an 8 9

Vgl. Niemeyer, Lucian und Kraybill, Donald B.: Old Order Amish. Their Enduring Way of Life. Baltimore, London 1993, S. 106–109. Kraybill, Donald B.: The Riddle of Amish Culture. Baltimore, London 1991, S. 34.

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der Entstehung des Films mitzuhelfen. Die Amishen sandten drei ihrer Bischöfe mit einem Protest zur Regierung, es kam zu Verhandlungen, in deren Rahmen die Amishen mit dem Auszug aus der Lancaster County drohten. Diese Gefahr wurde durch weitgehende Zusagen an die Adres­ se der Amishen abgewendet: Künftig soll ihre Gruppe nicht mehr ohne ihre ausdrückliche Zustimmung zum Gegenstand eines Films gemacht werden.10 Der Film wurde zum überragenden Erfolg und spielte innerhalb der ersten sechs Wochen 37,3 Millionen $ ein. Der lokale Amish-Tourismus wuchs um 13 %. Donald Kraybill hat mit Recht auf die seltsame Ironie der Geschichte hingewiesen: Weil sie anders waren, wurden die Amishen aus Europa vertrieben.11 Weil sie anders (geblieben) sind, genießen sie heute die Bewunderung der amerikanischen Gesellschaft und werden zum Ziel des Tourismus. Der erfolgreiche Film lenkt weiteres touristi­ sches Interesse auf die Lebensräume der Täufergruppen. Obwohl der Film in Bezug auf die Darstellung des Lebens der Amishen nicht authen­ tisch, d.h. nicht bei den Amishen selbst aufgenommen wurde, erreicht er eine beeindruckende Wirklichkeitsnähe. Wohl selten ist die Gemein­ schaftsleistung einer Amish Barn Rising so eindrucksvoll eingefangen wor­ den wie in Witness.12 Die Amishen versuchen nach wie vor, gegenüber der immer stärker werdenden Bedrohung durch die Medien ihre Bilderfeindlichkeit auf­ rechtzuerhalten und sich durch immer neue Dämme gegen die Einflüs­ se von außen abzuschotten. Ein großes Problem ist der Tourismus, der durch den Film zweifellos neue Anreize bekommen hat.13 Der Beginn reicht bereits in die 30er Jahre zurück. Heute kommen immer größe­ re Scharen von amerikanischen (und mittlerweile auch deutschen u.a.) Touristen nach Lancaster County, um einen Blick in eine Amish farm zu erhaschen und natürlich auch Fotos zu schießen. Wenn sich die Amishen dagegen wehren, fotografiert zu werden, dann wird dafür heute nicht mehr das biblische Bilderverbot ins Feld geführt. In einer Art Rationa­ lisierung geht es den Amishen heute eher darum, daß sie nicht von den Touristen zum Gegenstand des Exotismus im eigenen Land gemacht werden und wie in einem Freilichtmuseum als fotografische Attraktion 10 Hostetler, John A. und Kraybill, Donald B.: Hollywood Markets the Amish. In: Katz, John und Ruby, Jay (Hg.): Image Ethics: The Moral Rights of Subjects in Photography, Film and Television. New York 1988; Kraybill: Amish Culture (wie Anm. 9), S. 223–227; Niemeyer und Kraybill: Old Order Amish (wie Anm. 8), S. 121. 11 Vgl. Kraybill: Amish Culture (wie Anm. 9), S. 227–234. 12 Vgl. Ruth, J. L. und Hostetler, John A.: The Amish – A People of Preservation. 16mm-Film. Philadelphia, Heritage Productions, Inc., IWF. Göttingen 1975, Nr. W 1909. 13 Kraybill: Amish Culture (wie Anm. 9), S. 227–234.

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gelten. „I just don't enjoy living in a museum or a zoo, whatever you would call it“; „They invade your privacy. They are a nuisance when I go to town, for I can't get to any public place without being confronted by tourists who ask dumb questions and take pictures“.14 Auf der anderen Seite ist nicht zu verkennen, daß die Touristenströme nicht unerhebliche Mengen an Kapital in das Gebiet einbringen und die Amishen davon teilweise nachhaltig profitieren. Das öffentliche Interesse an der Lebens­ weise der Amishen hat auch noch einen anderen Nebeneffekt: „Tourism has bolstered Amish selfesteem”.15 Wer sich heute einen visuellen Einblick in das Leben der Amishen ver­ schaffen will, kann auf zahlreiche Bildbände zurückgreifen, die mit oder ohne Zustimmung der betreffenden Menschen zustandegekommen sind. Aus ihnen konnten letzten Endes auch die Filmemacher von Paramount Pictures genaue Details für die Gestaltung von Witness entnehmen. Die Authentizität der Dokumente ist besonders dann gewährleistet, wenn die Fotografen lange bei der in Frage stehenden Gruppe gelebt haben und die Dokumentation mit ausdrücklicher Billigung der Fotografierten er­ folgte. Dies ist beispielsweise bei Lucian Niemeyer der Fall, dessen Fotos zu den besten gehören, die von den Amishen existieren.16 Einen anderen Weg, das Fotografierverbot zu umgehen, wählte das Ehepaar BachmannGeiser bei seinem Feldaufenthalt unter den Amishen in Berne, Indiana: Der künstlerisch begabte Ehemann verlegte sich aufs Zeichnen und stat­ tete das gemeinsame Buch mit Zeichnungen und Aquarellen zum Alltag der Amishen aus.17 Die Hutterer, zu denen ich jetzt übergehe, interessierten mich als Bevölkerungsgruppe deutscher Herkunft Mitte der 70er Jahre im Rah­ men meines Projektes Saskatchewan18 vor allem wegen ihres archaischen Gemeinschaftslebens, ihrer seit 450 Jahren erfolgreich praktizierten Gütergemeinschaft und ihres kontinuierlich über sehr lange Zeiträume tradierten kulturellen Besitzes. Als faszinierend erwiesen sich der Zusam­ menhang der hutterischen Kultur mit seinen alpenländischen Wurzeln in der frühen Neuzeit19 und das osteuropäische Erbe, das vor allem in Spra­

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Hostetler, John A.: Amish Society. Baltimore 1980, S. 310f. Kraybill: Amish Culture (wie Anm. 9), S. 232. Niemeyer und Kraybill: Old Order Amish (wie Anm. 8). Bachmann-Geiser, Brigitte und Eugen: Amische. Die Lebensweise der Amischen in Berne, Indiana. Bern 1988. 18 Brednich, Rolf Wilhelm: Projekt Saskatchewan. Neue Aufgaben und Methoden volkskund­ licher Empirie. In: Zeitschrift für Volkskunde 73 (1977), S. 24–41. 19 Ders.: Die Hutterer – ein Stück alpenländischer Kultur in der Neuen Welt. In: Österreichi­ sche Zeitschrift für Volkskunde 84 (1981), S. 141–153.

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che und Eßgewohnheiten bewahrt geblieben ist.20 Für den Volksliedfor­ scher wurde besonders die Begegnung mit dem hutterischen Gemeindeund Familiengesang zu einem einzigartigen Erlebnis.21 So erwies es sich z.B., daß in den hutterischen Märtyrerballaden frühneuzeitliche deutsche Zeitungslieder weiterlebten oder daß aus ihnen 450 Jahre alte Balladen­ weisen rekonstruiert werden konnten.22 Eine ähnlich große Rolle wie das tägliche Singen spielt bei den Hutterern bis heute das alltägliche Erzäh­ len, so daß bei den Feldaufenthalten auch viele Erzählsituationen erlebt und dokumentiert wurden, bei denen die ausgeprägte Erzählerbegabung vieler Männer und Frauen zum Vorschein kam.23 Dem Lied- und Erzählforscher bietet die hutterische Kultur in Nord­ amerika deshalb so viele Möglichkeiten der Entfaltung, weil sich bei die­ ser Menschengruppe in der Abgeschiedenheit der Prärien des westlichen Nordamerikas eine fast rein mündliche Kulturstufe bewahrt hat, in der insbesondere die modernen westlichen Massenmedien bis an die Schwel­ le der Gegenwart keine tiefgreifenden Wirkungen entfalten konnten, weil sie gemäß der strengen hutterischen Gemeindeordnung aus dem Lebens­ vollzug dieser Menschen ausgeblendet geblieben sind. Aus diesen Grün­ den erklären sich auch die Präferenzen des Volksdichtungsforschers bei seinen Aufenthalten auf verschiedenen hutterischen Bruderhöfen. Al­ lerdings bedurfte es zur Aufzeichnung der Gesänge einer technischen Apparatur, und hier kam es bei meinem zweiten Aufenthalt im Juli-No­ vember 1977 zu einer ersten Konfrontation zwischen den Regeln des hutterischen Gemeindelebens und den Wünschen des Forschers. Zu meiner vom National Museum of Man in Ottawa bereitgestellten ap­ parativen Ausstattung gehörte u.a. ein Uher Report Tonbandgerät, mit dessen Hilfe ich nach einigen Wochen des Einlebens und Mitarbeitens im Bruderhof Ereignisse wie Familiensingen oder Erzählabende aufzeich­ nen wollte. Ebenso wie andere täuferische Gruppen in Amerika lehnen auch die Hutterer Unterhaltungselektronik in ihren Siedlungen strikt ab und dulden weder Radio noch Kassettenrecorder, von Fernsehern oder Videorecordern ganz zu schweigen. Mit einem Tonbandgerät lassen sich gemäß der hutterischen Philosophie nicht nur Gesänge aufzeichnen, son­ dern auch wiedergeben, ja sie eignen sich auch für die Wiedergabe von 20 Ders. und Dittmar, Jürgen: Osteuropäisches Erbe in der Volkskultur der Hutterer in Nord­ amerika. In: Jahrbuch für ostdeutsche Volkskunde 24 (1981) S. 194–219. 21 Ders.: Beharrung und Wandel im Liedgut der hutterischen Brüder. Ein Beitrag zur empiri­ schen Hymnologie. In: Jahrbuch für Volksliedforschung 26 (1981), S. 44–60. 22 Vgl. Ders.: Erziehung durch Gesang. Zur Funktion von Zeitungsliedern bei den Hutterern. In: Jahrbuch für Volksliedforschung 27/28 (1982), S. 109–133. 23 Vgl. Ders.: Hutterische Volkserzählungen. In: German-Canadian Yearbook 6 (1981), S. 199–224.

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Musik und Gesang jeglicher Art, so daß von diesem Gerät eine unver­ kennbare Gefahr ausgeht. Auf der anderen Seite war jedoch durch mei­ ne Eigenschaft als Volksliedforscher und durch den Forschungsauftrag des National Museum of Man zur wissenschaftlichen Dokumentation der hutterischen Singpraxis die Verwendung eines Tonbandgerätes legi­ timiert, und ich durfte es auf allen besuchten Kolonien ohne Einschrän­ kung einsetzen, zumal sich die Prediger sehr schnell davon überzeugen konnten, daß auf meinen Bändern nur hutterische Weisen aufgezeichnet und keine englischen (d.h. fremden) Lieder eingeschmuggelt wurden. Mit der Zeit fanden besonders die hutterischen Kinder großen Gefallen daran, sich vom Tonband sprechen oder singen zu hören, und ein nicht enden wollender Spaß bestand schließlich darin, manche Aufnahmen mit veränderter Geschwindigkeit oder rückwärts abzuspielen. Auf diesem Gebiet meiner wissenschaftlichen Dokumentationsarbeit war also nach anfänglichem Zögern bald ein Konsens gefunden, die Hutterer sahen die wissenschaftliche Bedeutung der Aufnahmetätigkeit ein und unterstütz­ ten mich bei meinem Sommeraufenthalt des Jahres 1979 nach Kräften bei dem Plan einer vollständigen Erfassung aller auf den Kolonien der Dariusleute gebräuchlichen Weisen. Die 278 Melodien, in der Mehrzahl von den Geschwistern Rachel und Susanna Stahl auf der Riverview Col­ ony bei Saskatoon auf Band gesungen, sind heute Bestandteil des Ton­ archivs im Deutschen Volksliedarchiv Freiburg, und ich zähle sie zu den wichtigsten Aufnahmen, die ich in meinem Leben gemacht habe. Ganz andere Probleme stellten sich jedoch bei der fotografischen Dokumentation, die nunmehr in den Mittelpunkt der Betrachtung rüc­ ken soll. In der Rangfolge der täuferischen Gemeinden sind die hutte­ rischen Brüder zweifellos die Gruppe mit den ältesten Traditionen, die sich vielfach in direkter Linie auf das Reformationsjahrhundert zurück­ führen lassen. Auch bezüglich Glaubensfestigkeit und -strenge gelten sie vielfach als diejenigen, die dem täuferischen Erbe am nächsten stehen. In Bezug auf ihr Verhältnis zum Bild war daher bei ihnen ursprüng­ lich auch die strikteste Bilderfeindlichkeit vorherrschend. Allerdings sind auf diesem Gebiet die im 20. Jahrhundert eingetretenen Wandlungs- und Anpassungsprozesse ebenfalls inzwischen vorangeschritten. Von der ri­ gorosen Verdammung jeglicher Bilder wissen heute nur noch die Alten in den Kolonien zu erzählen. So lehnten die Hutterer bei Einführung der schriftlichen Fahrerlaubnis (driver's licence) in den 30er Jahren für ihre Mitglieder die Anfertigung von Paßbildern für diesen Zweck ab, und die Schmiedeleute in der kanadischen Provinz Alberta hatten bis vor weni­ gen Jahren das Vorrecht, daß sie Führerscheine ohne Paßbild besitzen durften (neue Daten hierzu fehlen mir). Bis nach dem Zweiten Weltkrieg achteten die Prediger und deutschen Schullehrer streng darauf, daß das

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Unterrichtsmaterial für die englische Schule keine Bilder enthielt, und wo solche vorhanden waren, wurden sie überklebt. Ich habe solche zen­ sierten älteren Lesebücher auf vielen Kolonien in der Hand gehabt. Die Lehrbücher für den deutschen Schulunterricht sind großteils bis heute ohne Bildschmuck.24 Allerdings ist die Unterdrückung alles Visuellen in der heutigen Zeit längst nicht mehr in der ursprünglichen Strenge aufrechtzuerhalten. John A. Hostetler, einer der besten Kenner der hutterischen Kultur, hat bei seinen Untersuchungen in den 70er Jahren in den Truhen mancher Mäd­ chen Fotografien vorgefunden, die ihnen von Besuchern oder Bekannten von draußen zugesteckt worden waren.25 Ein kanadischer Pädagoge, der durch eine kleine Buchpublikation zum Abbau der gegenüber den Hut­ terern bestehenden Vorurteile beitragen wollte, hat im gleichen Zeitraum festgestellt, daß das von Predigern auf ihren Kolonien ausgesproche­ ne Fotografierverbot nur noch augenzwinkernd beachtet wurde: „The question of photographs illustrates the kind of dilemma most colony ministers often experience. Hey you! What are you doing? No pictures of the women!“ shouted Eli Walter, minister of Spring Creek Colony in Montana, to professional photographer William Albert Allard when he found him in the community kitchen photographing the women can­ ning strawberries. ‚You know it is forbidden for us to be photographed‘. However, though his voice was stern, there was a laughter in his eyes. A minister ecpects outsiders to ask him for permission to take pictures, but he worries that other colonies, or even his own council of elders, will cause a fuss over such laxity. He is also concerned that the young will be tempted by the cameras and other signs of affluence of visitors, or become enraptured by the attention given them by subject-hungry photographers. In their desire to prevent conceit and self-indulgence, some colonies tolerate photographs only if they are put away in the hope chest of personal belongings that every Hutterite is given at the age of fifteen – but even then they are warned against admiring their own like­ ness“.26 Mit diesem Zitat ist etwa die Situation umrissen, die ich zu Be­ ginn meiner Feldforschungen in Saskatchewan/Kanada im Jahre 1975 vorfand. Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf drei jeweils mehrmonatige Aufenthalte bei den Hutterern in den Jahren 1977, 1979 und 1982 und vor allem die Dariusleut-Bruderhöfe Riverview Colony bei Saskatoon, Leask Colony bei Leask und Hillcrest Colony bei Dundurn, 24 Vgl. die Aufzählung bei Gross, Paul S.: The Hutterite Way. The Inside Story of the Life, Customs, Religion and Traditions of the Hutterites. Saskatoon 1965, S. 65. 25 Hostetler, John A.: Hutterite Society. London 1977, S. 198. 26 Flint, David: The Hutterites. A Study in Prejudice. Toronto 1975, S. 22.

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Sask. Während meiner Feldforschungen bei den Mennonitengemeinden im Saskatchewan Valley im Jahre 1975 hatte ich erste Kontakte mit diesen Bruderhöfen aufgenommen und den späteren Besuch vorbereitet.27 Ich habe bei den Aufenthalten die großartige Gastfreundschaft der Hutterer genossen und wurde bei meinem wissenschaftlichen Anliegen auf jede erdenkliche Weise unterstützt. Ich habe meinerseits alles getan, um auf die Dauer nicht als Fremder unter ihnen zu erscheinen: Durch Anlegen ihrer Kleidung, Annahme der vorgeschriebenen Barttracht, Erlernen ih­ rer Sprache, vorbehaltlose Teilnahme an ihrem gesamten religiösen Le­ ben und Integration in alle erdenklichen Arbeitsprozesse habe ich die Voraussetzungen für erfolgreiche Forschungsarbeit geschaffen und mei­ nen Gastgebern immer das Gefühl vermittelt, daß ich mich bei ihnen zu Hause fühle und die Art ihrer Lebensführung für mich voll akzeptiere. Die Bitte, in meine Dokumentationsarbeit auch die Fotografie ein­ schließen zu dürfen, habe ich wohlweislich nicht am ersten Tag geäußert, sondern einige Wochen verstreichen lassen. Als meinem ersten Gastge­ ber, dem Prediger der Riverview Colony klar wurde, daß sich in meinem Gepäck auch eine Kameraausrüstung befand, erlaubte er mir zunächst nur die Ablichtung der Gebäude auf dem Bruderhof. Als nach einiger Zeit die ersten Ergebnisse aus der Entwicklungsanstalt vorlagen, war er begeistert, denn aus diesem Blickwinkel hatte er „seine“ Kolonie mit ih­ ren zahlreichen Einrichtungen noch nie gesehen. Ich machte ihm aber zugleich klar, daß die Farmgebäude ohne Menschen der Außenwelt den Eindruck von Unbelebtheit und Öde vermitteln mußten. Inzwischen hat­ te ich über den Bookshop der University of Saskatchewan in Saskatoon auch einige neue Bücher über die Hutterer erworben, die mit Fotopor­ träts von Hutterern ausgestattet waren, darunter sogar die Schrift eines hutterischen Predigers.28 Daraufhin erhielt ich im Herbst 1977 die Ge­ nehmigung, auch Personen mit aufs Bild zu nehmen, mit der Beschrän­ kung auf natürliche Arbeitssituationen, bei denen die Dargestellten nicht für die Kamera posierten. An seine Gemeindemitglieder erging die Auf­ forderung: „Don't pose for pictures“. Von dieser Genehmigung habe ich reichlich Gebrauch gemacht und für das National Museum of Man in Ottawa eine umfassende Fotodokumentation der gesamten materiellen Kultur und des landwirtschaftlichen und handwerklichen Arbeitslebens auf einem hutterischen Bruderhof angefertigt (s. Abb. 1–3).

27 Vgl. Brednich: Mennonite Folklore (wie Anm. 7). 28 Vgl. Gross: The Hutterite Way (wie Anm. 24).

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Abb. 1: Der Feldforscher und Verfasser dieses Aufsatzes, fotografiert von dem Hutterer Michael Tschetter („Big Mike“), 28. September 1982 auf der Riverview Colony, Sutherland, Sask. am „Schlachthaisel“, im Hintergrund der Trog zum Seifekochen mit einem Stück fertiger Seife.

Abb. 2: Der Kontext, in welchem die Abb. 1 aufgenommen wurde: Frauen der Kolonie sind damit beschäftigt, die beim Saftkochen tags zuvor selbst hergestellte und anschließend zerschnittene Seife zu wiegen und portionsweise auf die einzelnen Haushaltungen zu verteilen. Die Männer haben mit diesem Vorgang nichts zu tun und sind nur Zuschauer. Daher blieb die Zeit für ein Foto des „teilnehmenden Beobachters“ aus Deutschland.

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Abb. 3: Die russische Dreschmaschine. Leask Colony, Sask., 11. Oktober 1977. Eine Situation, die für die Hutterer nichts Außergewöhnliches darstellt, weil sie jedes Jahr im Herbst beobachtet werden kann. Für den Feldforscher, der zufällig vorbeikommt und die Szene unbeachtet fotografieren kann, ist das Bild dennoch eine kleine Besonderheit. Es steht für das Ende der Sonnenblumenernte. Die Kerne sind auf die einzelnen Wohnungen verteilt. Rebecca Grass und Justina Wollmann sind damit beschäftigt, mit Unterstützung durch kräftigen Westwind die tauben Kerne von den vollen zu trennen. Die Kerne werden anschließend in Säcke verpackt. Einzelne Portionen werden von Zeit zu Zeit zu Hause geröstet und zum Knabbern ständig in den Taschen der Kleidung herumgetragen. Das Knabbern von Sonnenblumenkernen kann man auf den Bruderhöfen tagaus tagein beobachten. Es gilt als osteuropäisches Erbe der Hutterer.

Mit wachsender Vertrautheit mit den Gastfamilien waren schließlich auch Aufnahmen im Wohnbereich und sogar von Porträts kein Tabu mehr. Auch auf den anderen besuchten Bruderhöfen haben die Prediger diese Arbeiten später unterstützt, aber stets auch kontrolliert und die Ergebnisse gutgeheißen. An allen Orten blieben die Gottesdienste und das gemein­ schaftliche Essen von der Fotodokumentation ausgeschlossen. Zu den fotografischen Höhepunkten zählten zweifellos zwei Hoch­ zeiten in Riverview und Leask, die ich dokumentieren durfte. Der „Rolf Vettr“ mit der Kamera begegnete auf den Höfen bald keinerlei Scheu mehr, im Gegenteil: er wurde zu „besonderen“ Ereignissen herbeigeholt,

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z.B. wenn ein neues landwirtschaftliches Gerät geliefert wurde, eine Stute ein Fohlen gebar oder ein Trecker sich im Schlamm festgefahren hatte. Auf der Leask Colony dokumentierte ich im Herbst 1977 mit Einver­ ständnis der englischen Lehrerin den Schulunterricht in der einklassigen Schule. Die Lehrerin behandelte daraufhin in einer kleinen Unterrichts­ einheit das Thema Fotografie. Am Ende wurden aus Plastillin eigene Ka­ meras hergestellt.

Abb. 4: Leask Colony, 14. Oktober 1977. Die englische Lehrerin hat aufgrund meiner vorausgegangenen Fotodokumentation des englischen Unterrichts spontan das Thema „Fotografie“ behandelt und von den Kindern Kameras aus Plastilin basteln lassen. Anschließend wandert sie (Zweite von links) mit den Schulkindern vom Schulgebäude zu meiner Arbeitsstelle im Pferdestall, um mich durch eine Schülerin „fotografieren“ zu lassen. Die Kinder schauen teils scheu, teils freudig erregt diesem Vorgang zu.

Eines Morgens erschien die ganze Schulklasse vor dem Gebäude, in dem ich gerade arbeitete (Abb. 4), ich wurde herausgerufen, und eines der Mäd­ chen mußte mich fotografieren. Ich habe die „Fotografin“ wenig später ebenfalls im Bild festgehalten (Abb. 5).

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Bildgeschichten

Abb. 5: Wenig später habe ich meinerseits die „Fotografin“ für meine Sammlung festgehalten.

Der in dieser Szene zum Ausdruck kommende Symbolgehalt ist beträcht­ lich und kennzeichnet die Akzeptanz des Mediums Fotografie durch die Gruppe. Selbstverständlich haben später alle Fotografierten einen Teil der Aufnahmen erhalten; die Fotos sind in die hope chest oder ins private Fotoal­ bum gewandert, aufstellen darf man bei den Hutterern Fotos nach wie vor nicht. Und an ihren Wänden hängen wie bei den Amishen bis heute ledig­ lich Kalender und biblische Sprüche hinter Glas. Während meines zweiten längeren Aufenthaltes auf der Riverview Colony im Sommer und Herbst des Jahres 1979 wagte ich ein Experiment. Ich hatte damals mit Michael Taft einen Folkloristen von der University of Saskatchewan als Gast auf den Bruderhof eingeladen, und wir hatten beim Besuch des nahegelegenen Schulzentrums mit Medienverleih in Aberdeen festgestellt, daß dort zwei Filme über die Hutterer verfügbar waren. Auf Riverview war nie zuvor ein Film gezeigt worden, und den Mitgliedern des Hofes war es offiziell noch immer verboten, beim Besuch in Saskatoon oder bei Nachbarn Fern­ sehsendungen zu sehen, aber natürlich besaß jedes Koloniemitglied von Kindesbeinen an mehr oder weniger intensive Erfahrungen auf diesem Gebiet.

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Der Prediger stand der Idee einer Filmpräsentation auf seinem Bruder­ hof keineswegs ablehnend gegenüber und wurde dabei auch von seinem zweiten Prediger unterstützt, der sich bereiterklärte, Filme und Projektoren abzuholen und die Vorführung im common dining room zu organisieren. Der geringe Widerstand erklärt sich aus der Tatsache, daß man auf Riverview zumindest von dem ersten der beiden Filme schon sehr viel gehört hatte. Es handelte sich um den Film The Hutterites, ein 23-Minuten-Filmdoku­ ment, welches unter der wissenschaftlichen Verantwortung John A. Ho­ stetlers (Edmonton) vom National Film Board of Canada unter der Regie von Colin Low im Jahre 1963 auf einem Bruderhof in Alberta gedreht worden war. Der Vorgang hatte damals unter den hutterischen Gemeinden für viel Aufsehen gesorgt. Der betreffende Hof bekam nach Abschluß der Filmarbeiten große Schwierigkeiten mit der Predigerkonferenz, und der Film durfte weder dort noch auf anderen Kolonien gezeigt werden. Dabei bestand die erklärte Absicht des Filmkonzeptes darin, bei der Außenwelt ein besseres Verständnis für die Lebensweise der Hutterer herbeizuführen und die bei der kanadischen Bevölkerung bestehenden Vorurteile abzu­ bauen. Der von John A. Hostetler gemeinsam mit Gertrud E. Huntington verfaßte Bericht über die Verwirklichung dieses Filmprojekts ist ein span­ nendes Kapitel über Feldforschung unter schwierigsten äußeren Voraus­ setzungen.29 Zur Zeit meiner eigenen Feldforschungen war der Wirbel um den Film längst abgeklungen. Der Film hatte als Unterrichtsfilm längst den erwünschten Beitrag zum Verstehensprozeß geleistet und war inzwischen auch mehrfach im kanadischen Fernsehen gezeigt worden. Von dort war das Wissen um die Existenz des Filmes erneut in die verschiedenen Kolo­ nien gedrungen, und die Reaktionen waren jetzt sehr viel positiver,30 zumal bei den Dariusleut-Kolonien, auf die sich das Filmdokument bezog. So erwies es sich letzten Endes auch nicht mehr als allzu schwierig, die Erlaub­ nis zur Vorführung des Filmes zu erwirken. Der Abend wurde zu einem vollen Erfolg, die Kolonie war bis auf die Kleinkinder so gut wie vollzählig versammelt, und die Menschen auf Riverview genossen es sichtlich, zum ersten Mal in ihrem Leben einer Filmvorführung beizuwohnen, in der es sozusagen um sie selbst ging. Sie erkannten viele der Akteure des Films

29 Vgl. Hostetler, John A. und Huntington, Gertrude Enders: The Hutterites: Fieldwork in a North American Communal Society. In: Spindler, Georg D. (Hg.): Being an Anthropologist: Fieldwork in Eleven Cultures. New York 1970, S. 200–217. 30 Vgl. Georges, Robert A. und Jones, Michael O.: People Studying People. The Human Ele­ ment in Fieldwork. Berkeley, Los Angeles, London 1980, S. 96.

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und konnten sich mit allen gezeigten Szenen ohne Probleme identifizieren. Den Zuschauern entging auch nicht, daß der Stand der Technisierung auf der gezeigten Kolonie nicht mehr dem Standard entsprach. Kein Wunder, denn der Film war eineinhalb Jahrzehnte vorher gedreht worden! Die An­ teilnahme an den Bildern war verständlicherweise so groß, daß der Film zweimal gezeigt werden mußte. Für den darauffolgenden Herbstabend wurde die Vorführung des zweiten Filmes vereinbart. Es handelte sich um einen 15minütigen Fern­ sehfilm mit dem Titel Hutterites, der kurze Zeit zuvor in der Fairholm Colony der Schmiedeleute in Manitoba aufgenommen worden war. Die Unterschiede zu den konservativen Dariusleuten erwiesen sich im Film als beträchlich: In der englischen Schule unterrichtet eine hutterische Lehrerin, die über eine Collegeausbildung verfügt. Die Frauen und Mädchen auf dieser Kolonie tragen kürzere Röcke, kaum noch Kopftü­ cher über der Haube, sie haben kurze, nicht mehr hutterisch „gezopfte“ Haare, man sieht Männer in Blue Jeans ohne Hosenträger, sie gehen auch schon einmal ohne Janker zum Gebet, in den Häusern hängen bunte Bilder an den Wänden, alles wirkt heiter, freundlich und liebens­ würdig. Man erfährt, daß es den weiblichen Koloniemitgliedern erlaubt ist, beim Einkaufen in der Stadt „englische“ Kleider zu tragen, um nicht zu sehr aufzufallen. Es ist leicht einzusehen, daß dieser zweite Film eine sehr zwiespältige Aufnahme fand: Bei den zum konservativen Denken erzogenen Zultbrüdern (Funktionsträgern) einschließlich des Predigers stieß er auf offene Ablehnung, dafür waren ausnahmslos alle Jungen von diesem „Geist von Fairholm“ restlos begeistert. Um die Emotionen nicht noch weiter anzuheizen, wurde in diesem Falle auf eine Wieder­ holung der Vorführung verzichtet, was nicht verhindern konnte, daß er für mehrere Wochen das zentrale Gesprächsthema auf Riverview abgab. Die Älteren waren übereinstimmend der Meinung, die Fairholm Colony und darüber hinaus die Schmiedeleute in Manitoba seien „am Ende“. Der Blick über den Zaun der eigenen „Leit“ hatte besonders bei den Jungen auf einen Schlag Begehrlichkeiten geweckt, indem der Film zeig­ te, daß nicht alle Hutterer in ihrer Lebensgestaltung gleichen Zwängen, gleichen dos and don'ts unterliegen. Wenn ich heute nochmals zu entschei­ den hätte, würde ich auf die Vorführung dieses problematischen Films verzichten. Aber im Grunde bewirkte der Streifen nur eine verstärkte und konzentrierte Information über Vorgänge im eigenen Lager, die aufgrund des ausgeprägten mündlichen Kommunikationssystems der Hutterer auf Dauer gesehen auch ohne den Film ihren Weg nach River­ view gefunden hätten. Und außerdem sind diese Neuerungen unbedeu­ tend im Vergleich mit den liberalisierten Formen des Zusammenlebens, wie sie die sog. Neuhutterer auf ihren amerikanischen Bruderhöfen ent­

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wickelt haben31 und von denen jedermann auf Riverview ebenfalls auf mündlichem Wege Kenntnis erhalten hat. Das Beispiel zeigt allerdings, daß die bewegten Bilder eines modernen Mediums mehr bewirken und einen unvergleichlich stärkeren Eindruck hinterlassen als Erzählungen und Berichte. Bei meinem letzten, kürzeren Feldaufenthalt im Sommer 1982 auf Riverview hatte ich vom ersten Tag an den unbestimmten Ein­ druck, daß sich gegenüber früher etwas verändert hatte. Gewiß, ich war willkommen wie immer, wurde herzlich begrüßt und herumgereicht und sofort wieder als Vertrauter empfunden, wozu der Umstand beitrug, daß ich mich bereits im Flughafen von Saskatoon als Hutterer umgekleidet hatte und wie einer der Ihren durch das gate schritt. Aber nur zu bald wurde klar, was für die atmosphärische Trübung verantwortlich war: Mi­ chael Holzachs neuerschienenes Buch Das vergessene Volk.32 Bereits bei meinem vorangegangenen Aufenthalt war von der Wilson Colony aus Alberta die Nachricht herübergedrungen, ein „Deitschländer“ sei dort zu Gast und wolle ein „Biechel“ über die Hutterer schreiben. Nun war es seit zwei Jahren erschienen, aber die Erregung darüber war auch in Riverview noch nicht abgeklungen. Ich hatte die Originalausgabe in mei­ nem Gepäck, und da „meine“ Hutterer das Buch nur vom Hörensagen kannten, machte es von Stund an von Haus zu Haus die Runde. Es wurde nicht eigentlich gelesen, denn die Hutterer haben mit hochdeutschen, in lateinischer Sprache gedruckten Texten große Schwierigkeiten, da sie es gewohnt sind, deutsche Texte ausschließlich in Fraktur zu lesen. Es waren auch weniger die Texte des Journalisten Holzach (z.B. „Kar­ neval des auserwählten Volkes“), die interessierten, sondern die Farbfoto­ grafien, mit denen das Buch ausgestattet war, darunter auch eine Szene, die Buben und Mädchen vor einer klane Schul beim gemeinsamen Pinkeln zeigt.33 Die Situation ist nach meiner Erfahrung für das hutterische Kin­ derleben eher untypisch, auf jeden Fall hätte ich es mir nicht im Traum einfallen lassen, damit eine Publikation zu illustrieren. Die Fotoaufnahmen gehen auf den deutschen Bildjournalisten Timm Rautert zurück, der Michael Holzach zweimal im kanadischen Westen be­ sucht hat. Sie gehören zweifellos zu den besten Fotos, die je bei den Hut­ terern gemacht worden sind, aber sie haben den entscheidenden Nachteil, daß eben mit jenem erwähnten Foto aus der Sicht der Hutterer ein Tabu

31 Vgl. Eggers, Ulrich: Gemeinschaft – lebenslänglich. Deutsche Hutterer in den USA. Witten 1985. 32 Vgl. Holzach, Michael: Das vergessene Volk. Ein Jahr bei den deutschen Hutterern in Ka­ nada. Hamburg 1980. Taschenbuchausgabe München. Vgl. meine Rezension in GermanCanadian Yearbook 6 (1981), S. 278–280, hier S. 82. 33 Vgl. die Wiedergabe im Zeit magazin, Nr. ll, 7. März 1980, S. 19.

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Bildgeschichten

gebrochen wurde. Der fotografisch durchaus gelungene und eher singuläre shot hätte allenfalls in eine psychologische Abhandlung über Penisneid ge­ paßt, nicht aber in ein populäres Buch über die als überaus sittenstreng und kamerascheu geltenden kanadischen Hutterer. Hier wie in manchen Passa­ gen des Textes hat ganz offensichtlich der Sensationsjournalismus über die Seriosität der Reportage dominiert. Die Hutterer haben Michael Holzach diesen faux pas bei aller Liebe zu seiner Person und zu seinem von tiefem Verständnis geprägten Bericht über seinen Aufenthalt nicht verziehen. In der Predigerkonferenz der Dariusleute ist die gastgebende Kolonie des­ halb zur Rechenschaft gezogen worden, und es wurde der für die künftige Forschung folgenreiche und schwerwiegende Beschluß gefaßt, in Zukunft keine längerfristige Erforschung ihrer Kultur durch ausländische Besucher mehr zuzulassen. Auf mich selbst traf dieses Verdikt natürlich nicht zu, zumal ich meine Publikationen vorher stets mit dem Prediger abgestimmt hatte. Wie strikt dieses Verbot seit meinem letzten Aufenthalt gehandhabt wurde, entzieht sich meiner Kenntnis, aber deutlich ist auch, was unter Umständen durch ein einziges Foto bewirkt werden und wieviel Porzellan bei mangelndem Einfühlungsvermögen zerschlagen werden kann. Da half es auch nichts mehr, daß Michael Holzach das allgemeinen Anstoß erre­ gende „Pinkelfoto“ für die zwei Jahre später erschienene Taschenbuchaus­ gabe nicht mehr verwendet hat. Die Zeit, die angeblich viele Wunden heilt, hat auch über dieses T'schichtl wieder Gras wachsen lassen. Unvergessen sind mir bis heute die Erfahrungen, die ich in der so ganz anders gearteten Welt der Hutterer machen konnte. Meine größtenteils unveröffentlichte Fotosammlung habe ich mir für diesen Aufsatz wieder zur Hand genommen, sie ist zusammen mit meinen Tonaufnahmen und Feldtagebüchern sicher nur ein schwacher Abglanz dessen, was mein Leben geprägt hat wie keine andere Periode davor oder danach. Aber ich fühle mich nach den langen Jahren in meinem Tun durch einen Satz Ernő Kunts bestätigt, der einmal geschrieben hat, daß der Informationsgehalt der im Gelände gewonnen Fotos auch davon abhängt, bis zu welchem Grad es dem Forscher gelingt, „sich mit der zu untersuchenden Kultur zu identifizieren, sich in sie hineinzufühlen“.34 Ich glaube, dies habe ich in den sieben Jahren in Kanada gelernt, und ich zehre bis heute davon.

34 Kunt, Ernő: Fotografie und Kulturforschung. In: Fotogeschichte 6:21 (1986), S. 13–31, hier S. 14.

Lied- und Erzählgeschichten

Das Lied als Ware* Lied als Ware – käufliche Lieder – Chansons à vendre – Songs for sale. Dieses Thema weckt bestimmte Assoziationen. Es läßt am ehesten an den gegenwärtigen Musikbetrieb, an die sogenannte Unterhaltungsindustrie denken, an den Schlager, an seine rasche Verfügbarkeit über die heute je­ dem Menschen offenstehenden Medien Rundfunk, Fernsehen, Schallplat­ te, Tonbandkassette usw. Jeder von uns ist heute in die Lage versetzt, sich den neuesten Tagesschlager, die LP des Lieblingsstars, den Evergreen oder was es auch immer sei durch einen Gang in die Musikalienhandlung oder ins Kaufhaus zuzulegen, anzueignen. Zwischen den oder die Interpreten eines Liedes und seinen Konsumenten hat sich der technische Liedmittler, die Musikkonserve geschoben, im allgemeinen die Schallplatte, eine Ware also, die ein gewohntes Gebrauchsobjekt unserer Tage geworden ist, uns ebenso selbstverständlich wie das elektrische Licht oder das Telefon. Die populäre Unterhaltungsmusik unserer Gegenwart ist weitgehend vermarktet, und wenn wir sie überhaupt noch „populär“ nennen wollen, so bedeutet das heute weder „grundschichtig“ noch „volkläufig“, sondern heißt vielmehr soviel wie „aufgekauft von den kulturindustriellen Fertig­ teilproduzenten, die aus dem Volkstümlichen verbilligte Konfektions- und Massenware gemacht haben. Nicht das Produkt ‚populär‘ ist aufschluß­ reich, sein Produktionsprozeß“.1 Dieses Phänomen der Kommerzialisie­ rung und Vermassung der Kultur benennen wir mit Adorno und Hork­ heimer seit 1947 mit dem Begriff der „Kulturindustrie“. Der Begriff soll besagen, daß es sich dabei nicht um eine spontan aus den Massen selbst aufsteigende Kultur, um die gegenwärtige Gestalt von Volkskunst handelt. Es geht im Gegensatz dazu um die planvolle Produktion von auf den Mas­ senkonsum zugeschnittener Ware. „Kulturindustrie bedient sich der tech­ nischen Möglichkeiten, um in einem monumentalen Verdummungsprozeß die Millionen auf ihrem Niveau zu halten und damit gesellschaftlich zu ‚integrieren‘“.2 * Erstveröffentlichung in: Jahrbuch für Volksliedforschung 19 (1974), S. 11–20. – Antritts­ vorlesung, gehalten an der Universität Freiburg am 11. Januar 1974. 1 Jeggle, Utz und Korff‚ Gottfried. In: Tübinger Korrespondenzblatt, Nr. 6 (1972), S. 2. 2 Bausinger, Hermann: Volkskunde. Von der Altertumsforschung zur Kulturanalyse. Berlin, Darmstadt o.J., S. 196.

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Lied- und Erzählgeschichten

Der Schlager unserer Tage stellt also ohne Zweifel eine Ware dar. Das Wort „Schlager“, ursprünglich nur zur Bezeichnung einschlagender, zün­ dender Liederfolge gebraucht, wird ja heute allgemein zum Synonym für Ware, die sich gut verkauft (vgl. das Wort Verkaufsschlager). Die Parallele zwischen dem Musikmarkt und der Vermarktung der Kunst liegt nahe; auch Kunst ist vielfach zum Warenartikel, zum Konsumgut geworden. Die Reproduktionstechniken haben die Möglichkeiten dazu geschaffen, daß Kunst nicht länger Statussymbol einer Elite bleibt, sondern durch beliebige Multiplikation auch in den alltäglichen Lebensumkreis des „kleinen Man­ nes“ eintreten kann. Hans Heinz Holz rückt in seinem Buch Vom Kunstwerk zur Ware das vervielfältigte Kunstprodukt in die Nähe des Buches, der Schallplatte, der Photographie.3 Wir wollen im folgenden der Frage nachgehen, seit wann wir in der europäischen, speziell der deutschen Liedtradition mit dem Einbruch des Kommerzes in die Sphäre „unpolizierter“ oraler Überlieferung zu rechnen haben. Es geht darum, die Anfänge der Vermarktung unserer Liedtradi­ tionen und damit die Ablösung mündlich-schriftloser Liedkultur durch geschriebene und gedruckte Tradition näher zu bestimmen. Hermann Bausinger hat in seinem Volkskunde-Buch im Kapitel von den sogenann­ ten Funktionsäquivalenten folgende Hypothese formuliert: „Volkslieder sind die Schlager von gestern.“ Er hat diesen in seiner bewußten Verein­ fachung provozierenden Satz vor allem damit zu begründen versucht, daß die gesungenen Lieder seit langem „weniger Ausdruck und gewissermaßen direkte kulturelle Verlängerung der tatsächlichen sozialen Situation“ dar­ stellen, sondern kompensativ bestimmt sind. So wie der Schlager nach R. Malamud den „Beziehungsverlust ausgleicht“ oder in Erfüllung einer sozi­ alen Rolle „neue Schemata der Identifikation“ offeriert, so besitzt auch das Volkslied eine kompensative Funktion.4 Wir wollen im Vorliegenden die Analogie zwischen Schlager und Volks­ lied auf einer anderen Ebene als Bausinger ziehen. Es geht uns weniger um die kompensative Funktion von Schlagern heute und Volksliedern gestern, sondern um den Vertrieb von Liedern als Produktion, als Waren. Der für uns dominierende Gesichtspunkt ist die Frage nach dem kommerziellen Vertrieb von Lieddrucken durch gewinnorientierte Warenproduzenten, die Serienfertigung von Liedern auf Vorrat. Ausgangspunkt ist die These Theodor W. Adornos, daß jede Musik chiffrierte gesellschaftliche Realität darstellt und daß daher die geschicht­ liche Entwicklung der Musik nicht immanent betrachtet werden kann, 3 4

Holz, Hans Heinz: Vom Kunstwerk zur Ware. Studien zur Funktion des ästhetischen Ge­ genstands im Spätkapitalismus. Neuwied, Berlin 1972 (= Sammlung Luchterhand, 65). Bausinger: Volkskunde (wie Anm. 2), S. 232.

Das Lied als Ware

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sondern bezogen auf die realen ökonomischen, politischen und gesell­ schaftlichen Ereignisse.5 Auch die populären musikalischen Traditionen historischer Zeiträume müssen unter dieser Voraussetzung gewertet wer­ den. Versuchen wir von dieser These ausgehend, den Ort zu bestimmen, an welchem mündlich tradiertes und spontan variiertes Volkslied seinen ursprünglichen Platz hatte, so müssen wir bäuerliche oder ländliche Ver­ hältnisse als eigentliche Pflegestätte dessen, was wir Volksgesang nennen, namhaft machen. Eine lebendige Volksliedpraxis ist am ehesten auf der Grundlage einer nicht arbeitsteiligen vorindustriellen Wirtschaftsweise möglich. Mit zunehmender Industrialisierung wird das in oraler Sphäre tradierte Lied ebenso wie die ursprünglich mündlichen Prosakategorien Sage, Märchen, Schwank usw. immer mehr zurückgedrängt auf Randland­ schaften und Reliktgebiete, das Volkslied äußert sich spontan nur noch in marginalen Gattungen wie Kinderlied oder funktionell gebundenem Brauchtumslied. „Die gesellschaftliche Grundlage für die Produktion von Volksliedern bildet die einfache Hauswirtschaft. Man produziert für den eigenen Bedarf und nicht, um das Produkt zu verkaufen; damit steht der Gebrauchswert im Mittelpunkt des Interesses. Ein Publikum im eigentli­ chen Sinne gibt es nicht, weil das Volkslied im Prinzip Produkt derjenigen ist, die es auch reproduzieren. Zugleich fehlt in der Regel jede verbindliche schriftliche Fixierung; die Musik fungiert als spontaner Ausdruck von be­ stimmten Lebenssituationen und kann ohne spezielle musikalische Vor­ kenntnisse praktiziert werden. Tauschwert und Gebrauchswert sind noch nicht voneinander geschieden …“.6 Die Wende tritt im ausgehenden 15. Jahrhundert ein. Die vervielfälti­ genden Techniken des Bilddruckes und des Buchdruckes haben im ausge­ henden Mittelalter die entscheidenden Voraussetzungen für die Populari­ sierung von Bildwerken und Lesestoffen, m. a. W. für die Warenproduktion geschaffen. Einblattholzschnitt und Flugblatt waren die ersten volkstümli­ chen, verhältnismäßig billigen Produkte von Werkstattbetrieben, von Pro­ duzenten, die sich mit ihrem Sortiment weitgehend nach der Nachfrage richteten und den Bedürfnissen und dem Bildungsstand der jeweiligen Empfänger ihrer Waren entgegenkamen. In diese Periode fällt das Auftreten der ersten Lieddrucke. Es sind überwiegend die Texte, die der schriftlichen Fixierung und Literalisierung anheimfallen, während die orale Kraft der Melodien bis zur Gegenwart stets größer gewesen ist und eine Petrifizierung der Weisen nicht in dem 5 6

Adorno, Theodor W.: Musikalische Warenanalysen. In: Quasi una fantasia. Frankfurt a.M. 1963, S. 64ff. Schutte, Sabine: Kunstmusik und Trivialmusik. Eine Problemskizze. In: International re­ view of the aesthetics and sociology of music 4 (Zagreb 1973), S. 81–93, hier S. 88.

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Lied- und Erzählgeschichten

Maße stattfand wie die der Texte.7 Der Prozeß der Liedpopularisierung durch Drucke findet eine gewisse Parallele im Verfügbarwerden des ver­ vielfältigten Kunstwerkes. Walter Benjamin charakterisiert ihn in seinem Buch über Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit fol­ gendermaßen: „Der Vorgang ist symptomatisch; seine Bedeutung weist über den Bereich der Kunst hinaus. Die Reproduktionstechnik, so ließe sich allgemein formulieren, löst das Reproduzierte aus dem Bereich der Tradition ab. Indem sie die Reproduktion vervielfältigte, setzt sie an die Stelle seines einmaligen Vorkommens sein massenweises. Und indem sie der Reproduktion erlaubt, dem Aufnehmenden in seiner jeweiligen Situa­ tion entgegenzukommen, aktualisiert sie das Reproduzierte. Diese beiden Prozesse führen zu einer gewaltigen Erschütterung des Tradierten – ei­ ner Erschütterung der Tradition“.8 Beziehen wir diese Feststellungen auf die Sphäre der Liedtradition, so bedeutet dies: Das Volkslied besaß seinen originären Gebrauchswert in schriftloser Kultur, es war als Zeichen von bestimmter funktioneller Bindung Teil des Kommunikationssystems der traditionellen Gemeinschaft und bedurfte als oral Tradiertes keiner schrift­ lichen Fixierung, da es außerhalb der überlieferten Riten keinen Funktions­ wert besaß, ja da seine Aufführung außerhalb dieser durch die verbindliche Kraft der Sitte geregelten Riten als Verstoß angesehen wurde.9 Der Über­ gang in den Buchdruck bedeutet nicht nur die Wandlung des ursprünglich an den sozialen Verhaltenscode gebundenen Teils der Überlieferung zum Konsumgut und Massenprodukt, sondern gleichzeitig auch die Aufgabe der traditionellen Bindungen, den Verlust der Aura (W. Benjamin), die all­ gemeine Verfügbarkeit. In der volkskundlichen Forschung ist diese frühe Massenproduktion von Lese- und Unterhaltungsstoff, von Druckgraphik und Liedliteratur bisher zwar keineswegs mißachtet worden, aber in der Einschätzung des Quellenwerts dieser Produkte ist heute eine weitgehende Neuorientierung erforderlich. Anstöße dazu sind in der Liedforschung vor allem Ernst Klu­ sen zu verdanken. Er konnte sich in der älteren Volkskunde lediglich auf das Vorbild von Adolf Spamer berufen, der bei Untersuchung von Volks­ gut und Volkskunst nachdrücklich die Berücksichtigung des „Verbraucher­ standpunktes“ gefordert hatte. Klusens funktionale Forschungsrichtung versucht, die Gebrauchfähigkeit von Liedgut in der Gemeinschaft, in der 7 8 9

Klusen, Ernst: Über orale Tradition. In: Festschrift für Matthias Zender. Bd. 2. Bonn 1972, S. 845–856, hier S. 849. Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Drei Studien zur Kunstsoziologie. Frankfurt a.M. 1972 (= Edition Suhrkamp, 28), S. 16. Vgl. Pop, Mihai: Das Volkslied als Konsumgut. Ein Beitrag zum Folklorismus in Rumänien. In: Dona Ethnologica. Beiträge zur vergleichenden Volkskunde. Leop. Kretzenbacher zum 60. Geburtstag. München 1973 (= Südosteuropäische Arbeiten, 71), S. 288–297, hier S. 289.

Das Lied als Ware

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Gruppe, neu zu bestimmen als „werkzeugliche Handhabung“ von Liedern als „dienenden Gegenständen“, wobei die wichtige Erkenntnis hinzu­ kommt, daß die Zusammensetzung dieser für einen bestimmten Gebrauch tauglichen Gegenstände vielfach mit bewußt geplanter Herstellung und Distribution von Liedern zur Verbreitung und Einwurzelung von Ideen und Haltungen verbunden ist.10 Den Vorgang der „Verordnung“ von Liedgut durch massenhaft ver­ breitete und absichtsvoll lancierte billige Liederheftchen und Liederbücher kennen wir nicht erst seit dem 19. oder 20. Jahrhundert, sondern er setzt im 16. Jahrhundert bereits mit der Reformation ein und verstärkt sich im 17. Jahrhundert im Zeitalter der Gegenreformation. In beiden Fällen be­ dienen sich die Produzenten des aussagekräftigen neuen Liedtextes, der in Verbindung mit einer meist präexistenten Melodie in den Dienst der Popu­ larisierung von Glaubensinhalten gestellt wurde. Die Publikatoren dieses Liedgutes stützten sich auf protestantischer wie auf katholischer Seite auf das Medium Flugblatt, das die Buchdrucker im Gefolge der Demokratisie­ rung der Erzeugnisse der Druckerpresse seit 1480 auf den Markt brach­ ten. Verordnete, absichtsvoll verbreitete Lieder finden wir ebenso auf dem Sektor des historisch-politischen Propagandaliedes und des Zeitungs- und Zeitliedes. Neben diesem neugeschaffenen Liedgut steht das Alte, Eingewurzelte, das nun ebenfalls zu literarischer Fixierung aufsteigt und unter den Ein­ fluß kommerzieller Interessen gerät. Zwischen diesen beiden Polen – dem Neuen, Verordneten und Lancierten und dem Alten, Bodenständigen und Angestammten – bewegt sich die serienmäßige, kommerzielle Herstellung von gedruckten Singvorlagen. Altes und Neues, Aktuelles und Zeitloses, Bedeutendes und Niedriges, alles wird seitdem in großen Mengen in der Druckerpresse hergestellt, mit Reklame angepriesen, auf den Markt ge­ bracht, wo die Erzeugnisse miteinander konkurrieren und schließlich mit Gewinn veräußert werden. Damit erfüllen die Lieddrucke in idealer Weise die Bedingungen einer Ware. In ihrer Eigenschaft als Ware sind die auf diese Weise tradierten Liedtexte Teil und Ausdruck der ökonomischen und sozialen Wirklichkeit ihrer jeweiligen Zeit und müssen von daher neu in­ terpretiert werden. Grundsätzlich darf gelten, daß ein Lieddruck, unabhängig davon, ob er ein traditionelles oder neugeschaffenes Lied enthält, im volkskundli­ chen Sinne nicht mehr als Primärquelle angesehen werden kann. Die äl­ tere Forschung trat diesen Produkten der vervielfältigenden Presse sehr unbefangen gegenüber. Man trug in der Editions- und Forschungstätigkeit

10 Klusen, Ernst: Volkslied. Fund und Erfindung. Köln 1969, S. 112.

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Lied- und Erzählgeschichten

eigentlich nie ernsthafte Bedenken, die Lieddrucke unbeschadet ihres Wa­ rencharakters und der hinter ihnen stehenden kommerziellen Intentionen mit dem Prädikat des „Volksliedes“ zu versehen. Mit größter Selbstver­ ständlichkeit reihte man in den Liededitionen des 19. und 20. Jahrhunderts aus diesen angeblich populären Drucken gewonnene Liedbelege neben solchen ein, die aus handgeschriebenen Quellen oder aus oraler Tradition geschöpft wurden. Philipp Wackernagel, einer der bedeutendsten Hymno­ logen des 19. Jahrhunderts, hat Hunderte solcher Lieder aus Einzeldrucken in seine monumentale Sammlung deutscher Kirchenlieder aufgenommen. Rochus Frhr. von Liliencron gewann gut die Hälfte seiner Materialien für seine vierbändige Ausgabe historischer Lieder vom 14. bis zum 16. Jahr­ hundert aus diesen Flugblättern, und er hat alle seine Funde, gleich wel­ cher Herkunft – ob nur einmal und zufällig oder massenhaft belegt, ob gedruckt oder handschriftlich – mit dem Titel Historische Volkslieder verse­ hen. In seinem Buch Deutsches Leben im Volkslied um 1530 hat er sogar die Aufnahme in das fliegende Blatt zu einem der wichtigsten Kriterien des Volksliedes überhaupt gemacht, wenn er in der Einleitung schreibt: „Daß ein Lied um 1530 gesungen worden sei, darf man behaupten ... (2.) wenn es . . . in fliegenden Blättern etwa der 20 Jahre von 1525 bis 1545 gedruckt ward“.11 Was im Liedblatt gedruckt erschien, muß auch gesungen worden sein, muß Teil der mündlichen Tradition gewesen sein! Diesem zwar nahe­ liegenden, aber voreiligen Schluß werden wir heute kaum noch zustimmen können. Aber seit Wackernagel, Liliencron, Erk‚ Böhme, Uhland usw. hat das „fliegende Blatt“ als unkritisch benutzte Quelle der Liedforschung eine bedeutsame Rolle gespielt. Und schon Herder, Fr. David Gräter bedienten sich dieses Quellenbereichs, Arnims und Brentanos Wunderhorn ist ohne das „fliegende Blatt“ nicht denkbar. Woran es in der Liedforschung bisher mangelt, ist der kritische Um­ gang mit diesen Quellen. Es stellen sich vor allem zwei Fragen. 1. Waren das alles Volkslieder, die im Druck erschienen? 2. Führte jeweils notwen­ digerweise ein direkter Weg von der Druckerpresse zu den Konsumenten? Waren Aufnahme und Verbreitung durch den Buchdruck gleichbedeutend mit Rezeption durch Sänger und Singgruppen? – Wir werden diese beiden Fragen kaum affirmativ beantworten können. Das wäre etwa gleichbedeu­ tend damit, daß wir alle heutigen Produkte der Schlagerindustrie unbese­ hen zum Teil der mündlichen Volksüberlieferung erklären würden. Hier scheint es an der Zeit, mit veränderten Maßstäben zu messen. Unter Berücksichtigung der Tatsache, daß die Lieddrucke vom Spätmit­

11 Liliencron, Rochus Frh. von: Deutsches Leben im Volkslied um 1530. Berlin, Stuttgart [1884] (= Deutsche National-Litteratur, 13), S. II.

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telalter bis zur Gegenwart zunächst einmal eine Ware darstellen, die im Dienste der Popularisierung der durch sie vertriebenen Liedaussagen ste­ hen, müssen wir diese Produkte heute vielmehr mit Begriffen moderner Buchmarktforschung und Lesersoziologie angehen, nach Angebot und Nachfrage, nach Intentionen, Indoktrinationen, nach Reklame, Rezeption, Diffusion und Konsumption fragen und erkennen, daß wir seit dem Ende des 15. Jahrhunderts mit dem kommerziellen Vertrieb von Liedern als ei­ ner durchgehenden Erscheinung bis in unsere unmittelbare Gegenwart zu rechnen haben. Diese Vorgänge haben ohne allen Zweifel die oralen Traditionen in Europa so tief geprägt, daß heute kaum eine Kategorie der sogenannten Volkspoesie, keine Liedgattung, vom Einfluß der schriftlichen Petrefakte vollkommen verschont geblieben ist. Die Spuren der zu Tausenden und Abertausenden verbreiteten fliegenden Blätter, Flugschriften, Liederheft­ chen usw. haben sich der mündlichen Überlieferung so stark aufgeprägt, daß Liedforschung ohne die Berücksichtigung dieser Produkte heute nicht mehr denkbar ist. Aber bei der Verwendung dieser kommerzialisierten Formen der Liedtradition als Quelle bzw. als Korrektiv oraler Daseinsfor­ men sind folgende wichtige Gesichtspunkte zu berücksichtigen: Es ist nur ein Bruchteil der einst im Umlauf befindlichen Produktion an gedruckter und für den Konsum bestimmter Liedliteratur auf uns ge­ kommen. Das archivalische Interesse an dieser Ware „Lied“ ist erst verhält­ nismäßig spät erwacht, als vieles längst unwiderruflich verloren war. Das Medium „populärer Lieddruck“ ist vom jeweiligen Stand der Volksbildung abhängig und erreicht zu verschiedenen Zeiten einen un­ terschiedlich großen Kreis von Rezipienten. An der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert war das Potential an Empfängern noch wesentlich klei­ ner als einhundert oder zweihundert Jahre später. Nicht alles, was diese Literaturgattung ausmacht, ist mit dem mündlich Umlaufenden, tatsäch­ lich Rezipierten gleichzusetzen. Nur ein Bruchteil des Angebotenen wur­ de aufgegriffen, besaß Reproduzierwürdigkeit und wurde unter Loslösung von dem technischen Mittler gedächtnismäßig oder in handgeschriebener Form weitertradiert. Viele Produkte blieben ob ihrer Künstlichkeit oder Kompliziertheit von vornherein auf die Schriftlichkeit angewiesen, sie blieben Eintagsfliegen ohne erkennbaren Niederschlag. Bei anderen, über Jahrhunderte hinweg kontinuierlich tradierten Überlieferungen profitiert der kommerzielle Lieddruck als ständiger Begleiter von dieser bereits vor­ handenen Popularität. In einer größeren Arbeit zu diesem Gebiet12 habe

12 Brednich, Rolf Wilhelm: Die Liedpublizistik im Flugblatt des 15. bis 17. Jahrhunderts. Ba­ den-Baden 1974 (= Bibliotheca Bibliographica Aureliana, LV).

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ich vorgeschlagen, den gesamten Komplex schriftlicher Liedvermittlung durch gedruckte Medien, wie wir ihn seit dem ausgehenden 15. Jahrhun­ dert beobachten können, mit dem Begriff der „Liedpublizistik“ zu kenn­ zeichnen. Darunter soll die Gesamtheit der gesungenen Kommunikation von traditionellen und neugeschaffenen aktuellen Gebrauchsliedern ver­ standen werden, also Volks- und Gesellschaftslieder ebenso wie historische Ereignislieder und politische Hymnik, Kirchenlieder ebenso wie informa­ tive Zeitungsgesänge, sämtlich soweit sie in der Form von Einzeldrucken zum praktischen Gebrauch als Ware verbreitet waren. Die Lieddrucke sind derjenige Teil des Kommunikationsvorganges, den wir am besten kennen, der am leichtesten zu erschließen ist. Die Er­ scheinung ist keineswegs auf die deutschsprachigen Länder beschränkt. In vielen Nachbarländern spielen Liedflugblatt und Liedflugschrift eine durchaus deutschen Verhältnissen vergleichbare Rolle, wenn die Erzeug­ nisse auch entsprechend der Ausbreitung der Buchdruckerkunst und der Literarisierung der Bevölkerung später einsetzen. Die verschiedenen fremdsprachigen Bezeichnungen weisen teilweise deutlicher als im Deut­ schen auf den Warencharakter dieser Erzeugnisse hin: Skillingstrycke oder Skillingsviser (von Schilling) im Skandinavischen, kramářské písně (= Krä­ merlieder) im Tschechischen. Vor allem die angelsächsischen Länder haben bei der Erforschung dieser Literaturgattung einen deutlichen Vorsprung, der durch die höhere Einschätzung dieser Quellen für die Kulturgeschichte der betreffenden Länder zu erklären ist. Die Berechtigung, im Hinblick auf die populären Lieddrucke von ei­ ner Ware zu sprechen, ergibt sich schon vom äußeren Erscheinungsbild der Drucke her. Warencharakter verleiht diesen Produkten vor allem der Umstand, daß sich Größe, Aussehen und Ausstattung der Lieddrucke vom Zeitpunkt ihres ersten Auftretens bis zum allmählichen Verschwin­ den im ausgehenden 19. Jahrhundert kaum geändert haben. Stets treffen wir nach der um 1530 erfolgten Ablösung des älteren Folioformates durch das handlichere Oktavformat die gleichen heftchengroßen Drucke, die mit einem Titelholzschnitt als Kaufanreiz und als bildlich konkretisiertem Hin­ weis auf den Inhalt der nachfolgenden Liedtexte ausgestattet waren und die man sich nach eigenen Präferenzen zu privaten Sammelbändchen zu­ sammenstellen konnte. In dieser Form haben sie sich gewöhnlich im Besitz öffentlicher Bibliotheken erhalten. Es ist auch durchaus berechtigt, im Hinblick auf diese Produkte bereits von einer ausgeprägten Warenästhetik zu sprechen. Die Analogien gehen über das Äußerliche, die Verpackung, hinaus. Es werden bereits Gesichts­ punkte moderner Verkaufsstrategie sichtbar: Die Produkte tragen stets den stereotypen Titel „Ein neu Lied“, „Zwei neue Lieder“, „Drei schöne neue Lieder“, „Vier neue geistliche Lieder“ usw. Der Terminus „Neu Lied“ ist

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seit dem 16. Jahrhundert zum Markenzeichen, zur Warenbezeichnung ge­ worden und erstarrt, und er bezeichnet seitdem einheitlich alle durch den Einzeldruck vertriebenen Liedtexte, unabhängig davon, ob es sich tatsäch­ lich um neue Lieder handelt, die für die Popularisierung durch den Druck ad hoc neu geschaffen oder aus neuen Musenalmanachen, Singspielen, Opern und Operetten übernommen wurden, oder aber darum, daß alte Waren als neu und originell ausgegeben wurden, indem sie in veränderter Aufma­ chung oder Kombination zur Ausgabe gelangten. In der Flugblattherstel­ lung werden bereits Praktiken der gegenwärtigen Schallplattenproduktion erkennbar: Es sei an die Übung der Schallplattenproduzenten erinnert, auf Single-Platten nur die A-Seiten mit einem Hit auszustatten, auf den B-Sei­ ten dagegen einen unbekannten Titel ohne Chancen mitlaufen zu lassen. Ähnlich im Liederheftchen der Vergangenheit: Von fünf „neuen“ Liedern war oft nur das erste tatsächlich neu, die vier anderen stellten Reprisen aus vorangegangenen Drucken dar. Die Liedforschung darf jedoch nicht bei der Untersuchung dieser Liedblätter stehenbleiben, die ja nur den äußerlich sichtbaren und für uns heute noch greifbaren Teil eines komplexen Kommunikationsprozesses ausmachen. Die Hauptfrage nach den Distributionswegen, auf denen die­ se Produkte vom Erzeuger zum Konsumenten gelangt sind, blieb bisher meist unerörtert. Hier gilt es neu anzusetzen mit weiterführenden Fragen. Wenn es sich beim Lieddruck tatsächlich um eine Ware gehandelt hat, wor­ an nach den voranstehenden Ausführungen kein Zweifel mehr bestehen kann, dann müssen wir diese Erzeugnisse als Handelsobjekte auf ihrem Weg vom Erzeuger zum Verbraucher auch weiter verfolgen, müssen Spu­ ren des Umschlags und Vertriebs ausfindig machen können. Dazu ist es notwendig, daß wir den Blick von den Erzeugnissen selbst lösen und nach möglichen Kommunikationsbahnen Ausschau halten. Hierzu sind u.a. fol­ gende Quellenbereiche heranzuziehen: 1. Nachrichten über die Tätigkeit der Drucker, über Umfang und Zusammensetzung ihrer Produktion, Fragen des Repertoires und Reper­ toirewandels, des Anteils von Traditionellem und Neugeschaffenem usw. 2. Urkundenmaterial zum Vorgang der Rezeption der durch die zu un­ tersuchenden Druckwerkstätten hergestellten Waren: Gerichtsakten, Un­ friedenbücher, Zunftbücher, vor allem Akten der staatlichen Zensurkom­ missionen und spezielle Zensurlisten. 3. Bildmaterial aus der europäischen Malerei und Graphik, besonders der Populärgraphik, das uns gestattet, dem Stand der Liederkrämer und -kolporteure, die für den Vertrieb der Ware verantwortlich zeichneten, auf die Spur zu kommen. Die Anfänge der öffentlichen Kommunikation und des gewerbsmä­ ßigen Verkaufs von Lieddrucken haben wir uns sehr einfach vorzustellen.

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Zunächst waren es die Drucker und deren Familienmitglieder selbst, die den Vertrieb der eigenen Produkte am Verlagsort oder darüber hinaus bei Messen, Märkten und sonstigen Gelegenheiten übernahmen. Aber allmäh­ lich bildete sich mit der zahlenmäßigen Zunahme des Warenangebots im 16. Jahrhundert ein eigener Stand von Umträgern, Hausierern, ambulanten Buchkrämern und Kolporteuren heraus, ein Stand, der den Behörden viel zu schaffen machte und dessen Lebensverhältnisse sich in Richter- und Unfriedenbüchern, anhand von Prozeßakten und Verordnungen verfolgen läßt. Es waren vielfach sozial nicht sehr hoch geachtete Personen, die dem Liederhandel nachgingen, und ihr ganzer Besitz bestand oftmals aus dem, was sie im Bündel gepackt oder im Riemen geschnallt auf dem Rücken mit sich herumtrugen. Neuerdings haben Buchkunde (S. Taubert13), Image­ rieforschung (W. Brückner14) und Lesestofforschung (R. Schenda15) die­ sem Stand besondere Aufmerksamkeit zuteil werden lassen. Auch die Lied­ forschung ist in der Lage, durch systematische Auswertung der Quellen manchen aufschlußreichen Beitrag zur Frage der Liedkolportage zu leisten. Einen wichtigen Quellenbereich stellen die in vielen europäischen Großstädten seit dem 17. Jahrhundert auftretenden sogenannten Ausru­ ferdarstellungen dar. Die berühmtesten Bildserien dieser Art mit Darstel­ lungen des ambulanten Gewerbes in den Straßen dieser Städte sind die Cris de Paris, aber auch Nürnberg, Zürich, Basel, Wien, Breslau, Danzig‚ Berlin, Hamburg, London usw. sind mit aufschlußreichen Serien vertre­ ten.16 Zu vielen dieser Kupferstichfolgen gehört auch ein Liedverkäufer. Neben dieser bisher mangelhaft untersuchten ambulanten Liedkolportage gibt es einen weiteren, bis ins 20. Jahrhundert hinein reichenden kommer­ ziellen Vertrieb von Lieddrucken durch die öffentliche Zurschaustellung von Bildern: den Bänkelsang. Wirtschaftsgrundlage dieser kleinen Famili­ enunternehmen war der Verkauf von Liederheftchen. Das Bestreben des Bänkelsängers als Liedinnovators war vor allem darauf ausgerichtet, die Ware „Lied“ möglichst wirkungsvoll in Szene zu setzen, um gute Verkaufs­

13 Taubert, Sigfred: Bibliopola. Bilder und Texte aus der Welt des Buchhandels. 2 Bde. Ham­ burg 1966. 14 Brückner, Wolfgang: Populäre Druckgraphik Europas. Deutschland vom 15. bis zum 20. Jahrhundert. München 1968. 15 Schenda, Rudolf: Volk ohne Buch. Studien zur Sozialgeschichte der populären Lesestoffe 1770–1910. Frankfurt a.M. 1970 (= Studien zur Philosophie und Literatur des 19. Jahrhun­ derts, 5), vgl. dazu ausführlicher S. 228–274. 16 Vgl. Beall, Karen F.: Kaufrufe in Bildern. In: Philobiblon. Vierteljahrsschrift für Buch- und Graphiksammler 16 (1972), S. 3–20; eine Bibliographie der Kupferstichfolgen und Einzel­ blätter zum Thema der „Straßenhändler und verwandter Gewerbe“ bereitet die Verf. vor. Steinitz, Wolfgang: Les cris de Paris und die Kaufrufdarstellung in der Druckgraphik bis 1800. Salzburg 1971.

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ergebnisse zu erzielen. Daher genügte im Laufe der Zeit nicht mehr das Ausrufen oder Vorsingen der Lieder, sondern es mußten weitere Darstel­ lungsmittel herangezogen werden, um die Attraktivität dieser auf Liedver­ kauf angewiesenen ambulanten Kleinunternehmungen zu erhöhen. Die europäische Imagerie populaire bietet nicht nur Bildbelege für den öffentlichen Vertrieb von Lieddrucken, sondern auch dafür, daß aus den auf diese Weise distribuierten Blättern tatsächlich gesungen worden ist. Der Nachweis fortschreitender Literarisierung des Singens und des Repro­ duzierens präfabrizierter Produkte läßt sich somit auch auf die Untersu­ chung des Motivs der „Singenden in der graphischen Kunst“17 ausdehnen. Mit diesen Andeutungen sollten neue Aufgaben künftiger Liedfor­ schung sichtbar gemacht werden. Als neuer Forschungsgegenstand tritt neben das auf immer kleiner werdende Reliktlandschaften zurückweichen­ de oral überlieferte Lied jenes infolge seit Jahrhunderten zunehmender Kommerzialisierung nicht mehr zu übersehende Lied als Ware. Im Hin­ tergrund steht dabei das im Anschluß an die theoretische Konzeption der europäischen Ethnologie zu entwickelnde Konzept einer modernen Lied­ forschung, die sich nicht mehr ausschließlich den Objektivationen als den herausgelösten Einzelbestandteilen des Traditionsvorganges widmen soll­ te, sondern darum bemüht sein muß, diese Objekte der Kultur einheitlich auf Prozesse und Handlungen zurückzuführen, auf die „Realisierung des Kulturellen im Lebensvollzug“.18

17 Maedebach, Heino (Hg.): Die Singenden in der graphischen Kunst 1500–1900. Ausstel­ lungskatalog der Kunstsammlungen der Veste Coburg. Essen 1962; weiteres Material bei Brednich: Die Liedpublizistik (wie Anm. 12), im Bildband. 18 Wiegelmann, Günter: Theoretische Konzepte der Europäischen Ethnologie. In: Zeitschrift für Volkskunde 68 (1972), S. 196–212, hier S. 207.

Lieder als Lebensschule Gesang als Vermittler von Volksbildung an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert* Im Rahmen der als Volksaufklärung1 bezeichneten Epoche der Ausbrei­ tung aufklärerischen Gedankengutes über neue Bildungsinstitutionen und Medien in breite Bevölkerungskreise – bis hin zu Jugendlichen und Kin­ dern – spielt im ausgehenden 18. Jahrhundert auch der Volksgesang eine große Rolle. Mit dem Begriff „Lied“ verbinden sich hier allerdings Vorstel­ lungen, die dem in der gleichen Zeit entwickelten Volksliedkonzept J. G. Herders diametral entgegengesetzt sind. Die Aufklärung hatte mit der von Herder und seinen Zeitgenossen wiederentdeckten Naturpoesie der unverbildeten Völker wenig im Sinn. Für sie wurde der Volksgesang zum Mittel der Volksbildung. Sie setzte da­ her dem Lob der Natürlichkeit die Forderung nach Nützlichkeit entgegen, Belehrung ging ihr vor Naivität, Wirkung auf die Sittlichkeit vor Kreativi­ tät. Wir stehen somit vor der eigenartigen Tatsache, daß die romantische Volksliedbegeisterung in Deutschland, deren zahlreiche Anhänger in der Poesie des Volkes die schöpferischen Kräfte des Volksgeistes verkörpert sahen, auf erbitterten Widerstand stieß und eine mächtige Gegenbewe­ gung, vor allem in Norddeutschland, auslöste. Der Berliner Aufklärer Friedrich Nicolai z.B. setzte den Volksliedbe­ geisterten um Gottfried August Bürger die parodistisch gemeinte Volks­ liedsammlung seines Feynen kleynen Almanachs (1777/78) entgegen, Johann Heinrich Voß wurde zum militanten theoretischen Gegner der romanti­ schen Volksliedbewegung, und der Musikwissenschaftler Johann Nicolaus Forkel urteilte über das Volkslied: „Entsteht es unter dem Volk selbst, so enthält der Text meistens läppische, gedankenleere Reimereien oder schmutzige Zweideutigkeiten und andere Ungereimtheiten, und die Melo­

* Erstveröffentlichung in: Habla, Bernd (Hg.): Festschrift zum 60. Geburtstag von Wolfgang Suppan. Tutzing 1993, S. 221–238. 1 Böning, Holger und Siegert, Reinhart: Volksaufklärung. Bibliographisches Handbuch zur Popularisierung aufklärerischen Denkens im deutschen Sprachraum von den Anfängen bis 1850. Bd. 1. Stuttgart, Bad Cannstatt 1990.

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die dazu ist ihrem Charakter nach so unbedeutend, daß sie auf jeden an­ deren Text von gleichem Versmaß ebensogut passen würde [...]. In beiden Fällen ist es ein unbedeutender Gegenstand der Kunst“.2 Die Spätaufklärer verstanden demnach unter Volkslied etwas voll­ kommen anderes als die Romantiker: als Volkslieder galten ihnen nicht die Hervorbringungen frischer Phantasie, zarten und innigen Gefühls oder kindlich-naiver Laune, Volkslieder waren für sie nicht die Lieder aus dem Volke, sondern die für das Volk erzeugten, erfundenen, hergestellten Lieder, die Lieder im Volkston, die dazu bestimmt waren, die Menschen zu erzie­ hen, zu veredeln und zu verbessern. Verordnete Lieder dieser Art sollten den Menschen, vor allem den Landleuten, durch Unterricht „anerzogen“, „beigebracht“ werden.3 Je vollkommener sie diesen Zweck erfüllten, desto mehr waren es für sie „Volkslieder im edelsten Sinne des Wortes“.4 Ich möchte mich in diesem Beitrag mit dieser „anderen“ Seite des Volksliedes beschäftigen und damit den Zusammenhängen von Aufklärung, Volksbil­ dung und Volksgesang nachspüren. In der Spätaufklärung waren dies drei eng aufeinander bezogene Größen. Die Volksliedforschung hat diesem Problemfeld bisher insgesamt geringe Aufmerksamkeit entgegengebracht; die von Herder über das Wunderhom zu den Grimms und ihren Nach­ folgern reichende Linie fand von jeher größeres Interesse. Immerhin ist auf einige wissenschaftliche Leistungen zu verweisen, an die wir hier an­ knüpfen können: An Gottfried Weißerts Tübinger Dissertation über das Mildheimische Liederbuch,5 Günter Häntzschels Nachwort zur Neuausgabe des Mildheimischen Liederbuches,6 vor allem aber an Reinhart Siegerts Unter­ suchung zu R. Z. Beckers Noth- und Hülfsbüchlein.7 Aufgrund der Erkenntnis, daß die Wurzeln volkskundlichen Denkens vielfach bis in das Aufklärungszeitalter zurückreichen und z.B. eine Gestalt wie die Wilhelm Heinrich Riehls ohne die Kenntnis aufklärerischer Ansät­ ze von Staatswissenschaft und Volksbildung kaum richtig einzuordnen ist, gilt der Wende des 18. zum 19. Jahrhundert in der Wissenschaftsgeschichte 2 3 4 5 6 7

Forkel, Johann Nicolaus: Allgemeine Geschichte der Musik. Leipzig 1788, zit. nach Puli­ kowski, Julian von. In: Geschichte des Begriffes Volkslied im musikalischen Schrifttum. Ein Stück deutscher Geistesgeschichte. Heidelberg 1933, S. 26. Anonymus 1804, zit. nach Pulikowski: Geschichte (wie Anm. 2), S. 39. Ebd., S. 39. Weißert, Gottfried: Das Mildheimische Liederbuch. Studien zur volkspädagogischen Litera­ tur der Aufklärung. Tübingen 1966. Becker, Rudolph Zacharias: Mildheimisches Liederbuch. Faksimiledruck nach der Ausgabe von 1815. Mit einem Nachwort von Günter Häntzschel. Stuttgart 1971 (Nachwort S. 3*– 52*). Siegert, Reinhart: Aufklärung und Volkslektüre. Exemplarisch dargestellt an Rudolph Zacha­ rias Becker und seinem Noth- und Hülfsbüchlein. In: Archiv für Geschichte des Buchwe­ sens. Bd. 19. Frankfurt a.M. 1978, Sp. 566–1348.

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des Faches Volkskunde neuerdings vermehrte Aufmerksamkeit.8 Die vor­ liegende Studie soll aufzeigen, daß aus diesem Umkreis noch mancherlei Quellen der Auswertung zugeführt werden können und unser Bild von dieser Geschichtsepoche noch vieler Verfeinerungen bedarf. Dem Konzept der Spätaufklärer entsprach es, den Menschen in mög­ lichst vielen Stadien seines Lebens mit aufklärerischem Gedankengut in Berührung zu bringen. Auch der Volksgesang galt dabei als Mittel wir­ kungsvoller Einflußnahme auf breite Bevölkerungsschichten. Bei diesem Vorhaben waren allerdings die von den vorzeitbegeisterten Dichtern wie Bürger, Goethe, von Arnim, Brentano u.a. gesammelten und edierten Volkslieder eher ein Hindernis auf dem Wege, das beiseitegeräumt wer­ den mußte, um dem aufgeklärten Gedankengut durch ein neues Liedgut Eingang in die Gemüter der Menschen zu verschaffen. Das Ziel einer auf­ geklärten Volksbildung ist in Bezug auf das Lied daher stets ein doppeltes: auf der einen Seite Beseitigung der als unsittlich oder zumindest unpassend betrachteten Volkspoesie und auf der anderen Seite Ausbreitung neuer, „geistreicher“ Lieder über bestimmte Vermittlungswege und eigene Kom­ munikationsbahnen. Dem Schulunterricht kam bei diesen Bestrebungen eine besondere Be­ deutung zu. So wie Heinrich Pestalozzis pädagogisches Reformwerk (z.B. in Lienhard und Gertrud) von der Grundschule seinen Ausgang nahm, so sollte auch eine Reform des Volksgesanges auf dieser Ebene ansetzen. In einer frühen musikpädagogischen Zeitschrift (1829) heißt es z.B. dazu: Der Gesang ist eine Art Musik oder ein Theil der Kunst, welche man Musik nennt. Die Anlage zum Singen hat jeder Mensch in irgend einem Grade von Gott empfangen. Gott aber, der Allweise, giebt nichts ohne Zweck und Absicht. Der Zweck hinsichtlich der Anlage zum Singen kann kein anderer sein als der bei allen andern Anlagen, welche Gott den Menschen aus Güte und Liebe verliehen hat, nämlich daß sie ausgebildet, zu unserm Wohl und zu seiner Ehre gebraucht wer­ den [...]. Wenn er nun diesem Zwecke gehörig entsprechen soll, so darf derselbe nicht dem Zufall überlassen werden, sondern es muß vielmehr eine planmäßige Erstrebung desselben Statt finden. Das sind, abgesehen einstweilen von andern, z.B. daß er das Leben vorzüglich erheitern und verschönern kann, die dringend­ sten und bindendsten Gründe, warum der Unterricht im Gesang in den Schulen als ein allgemein, d.h. allen Kindern zu lehrender Gegenstand mit aufgenommen und betrieben werden muß. Darum ist er von den Behörden fast aller Länder

8

Hartmann, Andreas: Die Anfänge der Volkskunde. In: Brednich, Rolf Wilhelm (Hg.): Grundriß der Volkskunde. Einführung in die Forschungsfelder der Europäischen Ethnolo­ gie. Berlin 1988, S. 9–30.

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anbefohlen worden und wird noch immer von einzelnen auf ’s Neue emp- und anbefohlen.9

Der gleiche Verfasser gibt auch einen kleinen Einblick in die beklagenswer­ te Situation des Schulgesanges, die der Reform bedürfe: Wie der Gesang-Unterricht sonst beschaffen war und jetzt in vielen Schulen noch ist, wird den meisten Lesern wohl bekannt sein. In vielen Schulen nämlich bestand oder besteht das Ganze noch darin, daß zu Anfang und wohl auch am Schlusse der Lehrstunden ein Vers oder einige Verse aus dem Gesangbuche nach einer Choralmelodie gesungen werden, versteht sich nach dem bloßen Gehör. Und so wurden denn mit knapper Noth ungefähr ein Dutzend Choralmelodieen nach und nach eingesungen.

Aus diesem Bericht eines besorgten Pädagogen geht hervor, daß in deut­ schen Schulen für den Gesangsunterricht – wo er überhaupt stattfand – jedenfalls kein eigenes Schulgesangbuch zur Verfügung stand, sondern daß traditionsgemäß wie in der Kirche aus dem Gesang- oder Choralbuch gesungen wurde. Bibel, Katechismus und Gesangbuch waren ohnehin die wichtigsten, wenn nicht die einzigen Schulbücher, auf die sich die Pädago­ gen bis weit ins 19. Jahrhundert hinein stützen konnten. Ich führe noch eine zweite Momentaufnahme aus der Schweiz an, um nochmals die bei­ den Ziele der Volksbildungsbewegung – Verdrängung unsittlicher Volks­ lieder durch Reformen und Eingriffe von außen – anschaulich zu machen. Ein evangelischer Pfarrer namens Franz führt in der Allgemeinen Schulzeitung noch 1827 folgendes aus: Ueber die Verdrängung unsittlicher Gassenlieder unter dem jungen Volke. In un­ serer Schweiz, die seit einigen Jahren ein singendes Land werden will, und nach und nach im Volksgesange es immer weiter bringt, haben sich fast in allen evan­ gelischen Cantonen Singevereine gebildet, die oft 2 bis 400 Mitglieder zählen. Ihr Zweck ist nicht bloß, sich in dieser schönen Kunst zu vergnügen und Stunden und Tage in solchen freunschaftlichen Kreisen zu erheitern, sondern sie wurden hauptsächlich deßwegen gebildet, um schädliche, unsittliche Lieder zu verscheuchen, der heranwachsenden Jugend in müßigen Stunden, besonders an den Sonntagabenden eine angemessene und zugleich nützliche Unterhaltung zu verschaffen und dadurch spielend die Volksbildung auf diesem Wege mit befördern zu helfen. Da in den gewöhnlichen Fällen die Landgeistlichen Leiter des Gesanges oder wenigstens Mitglieder solcher Vereine sind, so trägt dies in den gemischten Kreisen junger Leute aus beiden Geschlechtern zur Erhaltung einer sittlichen Ordnung ungemein viel bei [...]. Daher werden fast in allen Landschulen der hiesigen Gegend die Lehrer angehalten, neben den Choral-

9

O.A.: Der Gesang-Unterricht in Schulen. In: Hientzsch, Johann Gottfried: Eutonia, eine hauptsächlich pädagogische Musik-Zeitschrift. Bd. l. Breslau 1829, S. 42f., S. 45 (Hervorhe­ bungen im Original).

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gesängen auch moralischreine Volksgesänge einzustudieren, u. diese verbreiten sich all­ mählich daheim immer mehr, gehen von Schulkindern auf ihre Geschwister über, werden gesellschaftlich auf Spaziergängen und selbst in Wirthshäusern gesungen, und dies trägt mit zu dem Zweck bei, die schlechten, unsittlichen Gassenlieder nach und nach zu verdrängen. Freilich muß auch die Zeit zur Erreichung dieses edeln Zweckes das Ihrige mit bei­ tragen, indem das Verdrängen so schlechter, seit urdenklichen Jahren einheimisch gewordener, und von Generation zu Generation fortgeerbter Lieder, nicht schnel­ les Schrittes geht; und ich behaupte keineswegs, daß wir hier zu Lande nun seit einigen Jahren unsern schönen Zweck schon völlig erreicht hätten! Ach, immer säet der böse Feind wieder Unkraut unter den Waizen. Namentlich wirken fremde Handwerksgesellen die für einige Zeit hier in Arbeit stehen, recht schädlich und ver­ derblich ein. Sie sind wie Raubvögel, welche den guten Saamen wegfressen, die auf­ keimende Saat zertreten und ihren Unrath – schlechte Gassenlieder – zurücklassen.10

Die Bemühungen, den Volksschulehrern geeignete Unterrichtswerke zur Beförderung des Gesangsunterrichtes an die Hand zu geben, gehen in das letzte Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts zurück. Es ist sicher kein Zufall, daß in Norddeutschland, genauer gesagt im Herzen des heutigen Niedersachsens, das erste Liederbuch für Volksschulen herausgegeben wurde. Sein Schöpfer ist der Theologe August Ludwig Hoppenstedt (1763–1830); er war der Sohn eines Landpfarrers aus dem Lüneburgischen, studierte in Göttingen Theo­ logie und erhielt 1788 von der Landesregierung in Hannover den Auftrag, zur Vorbereitung von Verbesserungen im Schulwesen und in der Lehreraus­ bildung eine Informationsreise in mehrere nord- und mitteldeutsche Län­ der zu unternehmen. Auf dieser Reise wird die Idee zur Herausgabe eines speziellen Liederbuches für Volksschulen entstanden sein, zumal Hoppen­ stedt das Fehlen eines solchen Werkes in den Schulen aller bereisten Städte bemerkt haben wird. Außerdem verfügte er über eine „poetische Ader“, mit der er selbst viele Texte für ein solches Werk beizutragen hoffte. Sein weiterer beruflicher Werdegang setzte ihn dann in den Stand, von führender administrativer Warte aus den Plan in die Tat umzusetzen. 1789 avancierte Hoppenstedt nämlich zum Ersten Inspector des Schullehrer-Seminars in Hannover. In dieser Eigenschaft widmete er sich nun der Sammlung geeig­ neter Lieder für sein Elementarwerk, das er im Jahre 1793 im Selbstverlag des „Schulmeister-Seminars“ zu Hannover herausgab: Die Lieder für Volksschulen, Hannover 1793. VI, 200 S.11 10 „Lesefrüchte“. In: Eutonia. Bd. 2. Breslau 1829, S. 155f. (Quelle: Allgemeine Schulzeitung 1827). 11 Die von seinem Schwiegersohn A.W. Knauer herausgegebene Lebensbeschreibung Hop­ penstedts vermerkt zu diesem Vorgang lediglich, Hoppenstedt habe sich durch sein „Volks­ liederbuch“ (!) bei den jungen Kindern „ein Lob zugerichtet“: Knauer‚ August Wilhelm: Dr.

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Hoppenstedt blieb übrigens nur vorübergehend in diesem pädagogi­ schen Amt, ging später aufgrund einer gegen ihn gesponnenen Intrige als Superintendent nach Stolzenau, war von 1805 bis 1814 General Superin­ tendent in Harburg, seit 1815 in der gleichen Eigenschaft in Celle; ein Jahr vor seinem Tod stieg er noch zum Abt des Klosters Loccum auf. An allen seinen Wirkungsorten tat er sich als philanthropischer Förderer des Schul­ wesens hervor, reformierte die Armenpflege und starb 1830 über den Ar­ beiten an einem neuen hannoverschen Kirchengesangbuch. Soviel in aller Kürze zu seiner Biographie. Zurück zu seinen Liedern für Volksschulen von 1793. Trotz ihres Erfol­ ges – sechs Auflagen bis 1846 – und ihrer Bedeutung für die Lied- und Schulbuchforschung ist diese Quelle bisher nicht im ausreichenden Ma­ ße beachtet worden.12 Das Buch geriet spätestens seit 1799 etwas in den Schatten des Mildheimischen Liederbuches von Rudolf Zacharias Becker‚ so daß es von da an oft an ihm gemessen und von manchen als zu leicht befunden wurde. Dabei ist aber festzuhalten, daß trotz aller offensichtli­ chen späteren Einflüsse von Becker auf Hoppenstedt den Liedern für Volksschulen ein Erstgeburtsrecht zukommt. Hoppenstedts Verdienst ist es, ein bis dahin fehlendes erstes Elementarwerk für den Gesangsunterricht an Volksschulen geschaffen zu haben. Die Bestimmung geht aus der Vorrede zu diesem Buch hervor, die durch alle sechs Auflagen hindurch beibehalten wurde. Wir reduzieren sie auf die wesentlichen Aussagen: Marie, die Enkelin des verständigen Großvaters und Dorfältesten Erich, bringt aus der Schule ein neues Buch, eben die Lieder für Volksschulen mit nach Hause und fragt ihn nach seiner Meinung dazu, weil sie das Buch behalten und bezahlen will. Der Großvater möchte sich nicht sofort dazu äußern, sondern es erst lesen und prüfen und mit anderen Leuten im Dorf darüber reden. Marie muß sich bis zum Sonntag gedulden. Inzwischen ist im ganzen Dorf die Diskussion um das neue Buch entbrannt. Unter der Dorflinde findet am Sonntag folgender Dialog statt: „Es ist ein weltliches Buch“, sagte der Eine, „die Bibel, der Catechismus und das Gesangbuch gehören in die Schule, aber nicht solche Bücher“. – „Und die Kinder sol­ len die weltlichen Lieder sogar singen lernen“, sagte ein Anderer. – „Die schöne Zeit!“ fügte ein Dritter hinzu, „sie könnte besser angewandt wer­ den“, – und so ging es fort. Den meisten aber gefiel das Buch, sie hatten Ludwig Hoppenstedts Leben und Wirken. Dargestellt von dessen Schwiegersohn, A.W.K., Stadtprediger zu Celle. Hannover 1831, S. l. Knauers Text ist mit Ausnahme einiger Tage­ buchauszüge großteils identisch mit der Würdigung Hoppenstedts in: Neuer Nekrolog der Deutschen. Jg. 8:l. Ilmenau 1832, S. 372–380, Nr. 154. 12 Eine Ausnahme stellt der folgende, stark sozialkritisch gefärbte Versuch der Analyse einiger Texte aus dem Liederbuch dar: Dahle, Gaby und Helbach, Bernd: Volksschule und Volks­ lied. In: Jahrbuch für Volksliedforschung 24 (1979), S. 48–67, vgl. S. 50–53.

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sich von ihren Kindern bereits daraus vorlesen lassen. Der Dorfvorsteher Erich, nach seiner Meinung befragt, gibt folgendes abschließende Urteil: „Seht, ich halte dafür: es sey ein gutes Buch. Freilich gehören die Bibel, der Catechismus und das Gesangbuch in die Schule, aber das heißt nur: vor allen andern Büchern, nicht aber allein ... Zur gegenwärtigen Zeit, wo auf die Schulen weit mehr Fleiß gewandt wird, als da wir noch klein waren, hat man es längst eingesehen, daß die Kinder, wenn gleich nicht viel, doch Einiges noch erlernen müssen, was nicht in geistlichen Büchern steht. Aber seht nur recht zu; auch das Liederbuch ist halb ein geistliches Buch. Wie viele gottesfürchtige Lieder sind nicht darin enthalten! Wie viele lehrrei­ che Erzählungen, selbst aus der biblischen Geschichte, wie viele nützliche kleine Verse, Sittensprüche u. dgl. [...] (S. V) [...] das Buch soll insonderheit auch zum Lesen dienen, und ist durch eine hohe Verordnung in die Schulen eingeführt“: In diesem Augenblick ziehen Handwerksburschen an der Lin­ de vorbei, die „unartige“ Lieder zu Gehör bringen. Der Dorfälteste zieht diesen Vorgang in sein Lob auf das neue Liederbuch mit ein und entschul­ digt quasi den Zwischenfall: „Sie kennen keine bessern Lieder. Laß nun erst unsre Kinder groß werden; die bringen ihre Lieder aus der Schule mit, und singen sie auch; und wie es sich gehört; zu aller Zeit, und bei aller Arbeit; und breiten sie weiter aus. Und wenn sie alsdann sich neue Lieder kaufen, so werden sie sicher nicht nehmen, was ihnen zuerst in die Hände fällt, sondern sie werden untersuchen, ob die Lieder von gleicher Art sind als diejenigen, die sie in der Schule erlernt haben“ (S. IIIf.). Mit diesen Worten ist das neue Buch approbiert, Marie erhält das Geld zur Anschaffung. „Es ist ein nützliches Buch“. Bei der Analyse dessen, was den Inhalt dieses neuen Liederbuches aus­ macht, muß man sehr sorgsam zwischen der ersten Auflage von 1793 und den stark erweiterten, nach 1800 erschienenen Ausgaben differenzieren. Die heute sehr selten gewordene Erstauflage ist ein relativ schmales Bänd­ chen von 200 Seiten Umfang, dessen zwei Abteilungen ganz auf die Be­ dürfnisse der Schule und des Schulgesanges zugeschnitten sind: Die erste Abteilung bringt „Lieder von der Schule überhaupt“, die zweite „Lieder christlicher Weisheit und Tugend“. Die ersten 28 Liedtexte folgen thema­ tisch dem Lebensweg eines Schulkindes von seiner Einschulung bis zur Entlassung, während die zweite Abteilung den Betrachtungen über Reli­ gion, allgemeine Tugenden und Lebensweisheiten vorbehalten ist. Jeder einzelne Text ist in ein Beiwerk von Prosageschichten, Merkversen und Bi­ belsprüchen eingebunden. Die Einteilung des Stoffes in Rubriken und das religiöse Beiwerk sind deutliche Anlehnungen an die traditionellen Struktu­ ren des evangelischen Kirchengesangbuches und zeigen, daß Hoppenstedt „unter dem Schein des Bekannten“ (sehr aufklärerisch gedacht!) ein neues Genre des Schulbuches schaffen wollte, denn nur so war es überhaupt ein­

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zuführen. Wie das Kirchengesangbuch verzichtet auch das Liederbuch für Volksschulen auf die Beigabe von Melodien, weil die Weisen, nach denen die Lieder zu singen waren, als bekannt vorausgesetzt wurden. Ich nenne einige Titel aus dem ersten Teil: Lied eines guten Schulkindes Das Kopfrechnen Die Arbeitsschule Lied bei der Aufnahme neuer Mitschüler und Mitschülerinnen Beim Tode eines Mitschülers Am Geburtstage eines Lehrers Beim Schluß einer öffentlichen Schulprüfung Bei der Confimation zu singen

Aus dem zweiten Teil: Wert der Religion Der Gehorsam Mäßigkeit Naschhaftigkeit, oder Fritz der Näscher (er hält in der Speisekammer Arsenikum für Zucker und bringt sich damit um) Leichtsinn oder das Lämmchen, eine Fabel An eine Langschläferin (natürlich ist es eine Sie, kein Er!) Grundlose Furcht, oder die Spukgeschichte Kindliche Furcht, oder der Fromme beim Gewitter („Es donnert; nein, ich zittre nicht, Ich bin ja Gottes Kind ...“) Wohlthätigkeit, oder der Greis und das Kind Hoher Edelmuth, oder das Lied vom braven Mann, etc.

Der Kontrast zu dem, was die Romantiker unter Volksliedern verstanden, könnte kaum größer sein. Ein ausgewähltes Textbeispiel soll für viele ste­ hen. Nr. II Lied der Schulkinder (3. Aufl. 1807, S. 2). Prosavorgeschichte: „Ich habe meinen Spruch gelernt, sagte Marie. Aber der Lehrer sagte, Was hast du denn gelernt? Was steht darin? Das wußte Marie nicht. Ja, so weißt du auch deinen Spruch noch nicht, versetzte der Lehrer. Das Auswendiglernen ist sehr gut, aber man muß auch verstehen, was darin enthalten ist; sonst hat man es nicht gelernt. Zum Lernen gehört Verstehen.“ Es folgt ein dreistrophiges Lied, zu singen nach der Melodie Nun ruhen alle Wälder (geistlich) oder Ohne Lieb und ohne Wein (weltlich).

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Kinder, fleißig wollen wir Stets zur Schule gehen! Unser Lehrer sorgt dafür, Daß wir ihn verstehen. O, es ist so gar nicht schwer, Wenn man's ernstlich treibet. Leichter wird es immer mehr, Wer nur fleißig bleibet.13

Man sieht, es handelt sich um eine Art Holzhammerpädagogik, die den Kindern in Liedform hier zuteil wurde. Im gleichen Stil schreitet das Lie­ derbuch fort, und von der Fröhlichkeit und aufheiternden Wirkung des Singens, die Hoppenstedt im Vorwort seiner Ausgabe so sehr betont, ist in den Liedern wenig zu spüren. Die Texte sind größtenteils für die Zwecke der Aufnahme in das Liederbuch von Hoppenstedt im Kontrafakturver­ fahren auf bekannte geistliche und weltliche Melodien selbst geschaffen worden, nur in wenigen Fällen hat er auf ihm geeignet erscheinende Kunst­ lieder der Zeit zurückgegriffen. An Übernahmen aus der zeitgenössischen Dichtung registrieren wir u.a.: Nr. XI „Was frag' ich viel nach Geld und Gut, wenn ich zufrieden bin...“ Verf. J. Martin Miller, 1776. Nr. XXXIII „In einem Bächlein helle...“ (Die Forelle). Verf. Chr. D. Schubart, 1760. Nr. LV „Üb immer Treu und Redlichkeit...“ Verf. L. Hölty, 1775. Nr. LXVI „Hoch klingt das Lied vom braven Mann...“ Verf. G.A. Bürger. Nr. LXXIV „Gott grüß' euch Alter! Schmeckt das Pfeifchen?“ Verf. G.K. Pfeffel, 1782. Nr. LXXXV „Wer sagt mir an, wo Weinsberg liegt?“ Verf. G.A. Bürger, 1774. Nr. XC „In Mirthills zerfallner Hütte...“ Verf. J. Fr. Schlotterbeck, um 1793. Nr. CXVII „Ach Schwester, die du sicher...“ (Lied einer Grasmücke). Verf. J.P. Sattler, um 1770. Volkslieder im Herderschen Sinne finden sich in der ganzen Sammlung keine.

Da das Repertoire der Hoppenstedtschen Lieder für Volksschulen bisher noch keiner kritischen und vergleichenden Auswertung unterzogen worden ist, kann die genaue Herkunft der einzelnen Stücke noch nicht in allen Fällen nachgewiesen werden. Es gibt jedoch keinen Zweifel daran, daß es dem Herausgeber gelungen ist, seine verschiedenen Quellen zu einem homo­ genen Ganzen zusammenzuführen, das es in dieser Form auf dem Buch­ markt noch nicht gegeben hat. Hoppenstedt ist – wir betonen es nochmals 13 Dazu als Anmerkung der Merkvers: „Klein und Groß und Groß und klein, Alle woll’n wir fleißig seyn.“

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– der erste Schöpfer eines Liederbuches für pädagogische Zwecke‚ sein Werk ist ein bisher wenig beachteter selbständiger Beitrag zur Volksaufklä­ rung durch das Medium des Liedes. Dies ist auch bereits von Hoppenstedts Zeitgenossen anerkannt wor­ den. Hier ist vor allem der Name des zweiten Spätaufklärers Rudolf Zacha­ rias Becker zu nennen, der wie Hoppenstedt durch die Einführung guter Lieder „eine sichtbare Verbesserung [der] Denkungsart und Sitte“14 der Menschen erreichen wollte. In seinem Reichsanzeiger von 1795 hatte er auf die eingegangene Anfrage, „welches die beste Sammlung von Liedern für Kinder der Landleute sey?“, geschrieben: „dient zur Antwort: daß meines Wissens die in Hannover für dasiges Seminarium erschienene Sammlung: Lieder für Volksschulen, zu dieser Absicht zu empfehlen sey“.15 Hoppen­ stedt seinerseits hatte in seine Sammlung eine artige Referenz vor Becker und seinem zuerst 1788 herausgekommenen Noth- und Hülfsbüchlein für Bauersleute... eingebaut. Ein Text seines Liederbuches ist betitelt Das Leben des Bauers (3. Aufl. 1807, Nr. XXXII, S. 266f.). Es beginnt „Ich bin das ganze Jahr vergnügt“, beschreibt zunächst den Jahres- und dann den Tageslauf eines zufriedenen Landmannes. Die 7. und 9. Strophe lauten: 7.

Und kommt der Sonntag dann heran, Zieh ich mich nett und reinlich an, Und geh zur Kirch' in stiller Ruh, Und hör der lieben Predigt zu.

9.

Dann geh ich in die Kinderlehr Und hör und lerne immer mehr, Und an dem Abend les' ich fein Im schönen Noth- und Hülfsbüchlein.16

Dieses zunächst offensichtlich freundliche Verhältnis der Autoren zuein­ ander sollte sich bald ins Gegenteil verkehren. Becker hatte nämlich seiner­ seits schon am Ende der 80er Jahre die Herausgabe eines eigenen Lieder­ buches – des Mildheimischen – geplant und durch ein Preisausschreiben in seiner Deutschen Zeitung Nr. 49 (1787) 403 die Vorarbeiten dazu in Gang gesetzt. Freilich zogen sich Sichtung und Auswahl der eingegangenen Bei­ 14 Becker, Rudolf Zacharias: Fragebuch für Lehrer über das Noht- und Hülfsbüchlein. Gotha 1799, S. 10. 15 Siegert: Aufklärung und Volkslektüre (wie Anm. 7), Sp. 795f. 16 In der Anmerkung dazu heißt es: „Dieß schöne Buch ist mit Bedacht/ für Bauersleuthe so gemacht/ daß, wer es liest und darnach thut, Verstand, Gesundheit, guten Muth/ erhält auch wol ein reicher Mann/ nach dessen Vorschrift werden kann. / Zur Lust für Kind und Kindeskind/ vile schöne Bilder drinnen sind/ Wohlfeilen Preises ist es auch./ Drum kauf ’s zum nützlichen Gebrauch“.

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träge über Jahre hin, so daß Hoppenstedt mit seinen Liedern für Volksschulen an Becker vorbeizog. Erst 1799 lag auch das Mildheimische Liederbuch von 518 lustigen und ernsthaften Gesängen über alle Dinge in der Welt und alle Umstände des menschlichen Lebens, die man besingen kann – so der Titel – im Druck vor. Reinhart Siegert hat den schlüssigen Beweis führen können, daß dieses Lie­ derbuch in das komplexe Beckersche System von „Mildheim“-Volkslese­ stoffen integriert17 und daß ihm die besondere Aufgabe zugedacht war, die Lebensregeln aus dem Noth- und Hülfsbüchlein in die Liedform umzusetzen, um sie über den Schulunterricht und den Schulgesang – als eine Art „ge­ sungener Aufklärung“ – bei den Schülern in Fleisch und Blut übergehen zu lassen. Zum richtigen Gebrauch des Liederbuches gab es die sog. Mildheimische Sittentafel, die in Schulen, Gasthäusern und an sonstigen öffentlichen Plätzen angeschlagen werden sollte. Dazu gibt Becker im Noth- und Hülfsbüchlein 2. Auflage 1798, S.  365 folgende Benutzungsanweisung: „In der Sittentafel sind bey jedem Gebot die Nummern der Lieder im Mildheimi­ schen Lieder-Buche, welche sich dazu schicken, angemerkt. Man kann sie bey der Betrachtung der Pflichten zur Aufmunterung singen, oder lesen, wenn man nicht singen kann.“18 Das Mildheimische Liederbuch trat somit ebenfalls mit dem Anspruch auf, ein Schulliederbuch zu sein. Hoppenstedts Lieder für Volksschulen waren im Kurfürstentum Hannover als Schulgesangbuch eingeführt, Becker setzte seinerseits seine Hoffnung darauf, durch die Verbesserung des Volksgesan­ ges zur Aufklärung, zur menschlichen Vervollkommnung und Veredlung beizutragen, und im Hinblick auf die Verwendung seines Liederbuches in den Schulen schrieb er: „Der Erfolg hängt nun bloß davon ab, wie Landesoder Ortsobrigkeiten, Beamte, Pfarrer und Schullehrer die Einführung dieses Liederbuches durch Austheilung oder Empfehlung begünstigen werden.“19 Ob sich der Erfolg im gewünschten Umfang eingestellt hat, bleibt für das Mildheimische Liederbuch mangels detaillierter Rezeptionsforschung durchaus zweifelhaft, wohingegen das Noth- und Hülfsbüchlein vielerorts – wenn auch nicht flächendeckend – als Lesebuch in die Schulen Eingang gefunden hat20 und eine gewisse Schubkraft für die Lektüre anderer auf­ klärerischer Schriften in den Schulen entwickelt haben dürfte. In der napo­ leonischen Ära, spätestens jedoch unter den Auswirkungen der Karlsbader

17 Siegert: Aufklärung und Volkslektüre (wie Anm. 7), Sp. 812. 18 Ebd., Sp. 814. 19 National-Zeitung, Jg. 1799, 850; Weißert: Das Mildheimische Liederbuch (wie Anm. 5), S. 35. 20 Siegert: Aufklärung und Volkslektüre (wie Anm. 7), Sp. 1114–1125.

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Beschlüsse ist vieles davon im deutschen Vormärz wieder verlorengegan­ gen. Kehren wir noch einmal zur Hauptfrage dieses Aufsatzes zurück und fragen wir nach den Wirkungen des Mildheimischen Liederbuches auf das Werk von Hoppenstedt. Der in hannoverschen Diensten stehende Schulmann reagierte auf das Erscheinen des Beckerschen Gesangbuches sofort durch eine zweite, gänzlich umgearbeitete Auflage (Hannover: In eigner Expedi­ tion, und in Commission der Hahnschen Buchhandlung, 1800. XVI, 62, 232, 235 S.). Schon dieser Umfang deutet an, daß hier eine bedeutende Erweiterung eingetreten sein muß. Sie geht eindeutig auf die Einflüsse des Mildheimischen Liederbuches zurück. Die beiden ursprünglichen, schulnahen Abteilungen erfuhren wesentliche Erweiterungen und eine Fortsetzung durch eine dritte Abteilung für Erwachsene: „Lieder frommer Fröhlich­ keit für allerlei Alter, Zeiten, Stände, Geschäfte und Gelegenheiten“. Hier werden nunmehr nach dem Vorbild Beckers alle nur denkbaren Anlässe des menschlichen Arbeits- und Festlebens in mehr oder weniger kinder­ tümlicher Form besungen. Etwa ein Drittel der neu hinzugekommenen Lieder hat Hoppenstedt bei Becker entlehnt, manchmal mit geringfügigen Textänderungen, um die Abhängigkeit nicht zu deutlich werden zu lassen. Geschickt hat Hoppenstedt die Übernahmen in seinem Buch verteilt, aber an einigen Stellen muß einfach deshalb Verdacht aufkommen, weil er in der Reihenfolge der Fremdtexte genau seiner Vorlage folgt (vgl. die beiden Melkerinnenlieder, 3. Auflage 1807, Nr. 57 und 59 mit dem Mildh. Ldb. 1. Auflage 1799, Nr. 413 und 414). Becker hatte schon angesichts der Vorankündigung von Hoppenstedts Neuauflage mit Betrübnis konstatiert, daß aus dem einstigen Freund ein Konkurrent geworden sei, der mit seiner „nachgeahmten Sammlung“ den Erfolg seiner eigenen Ausgabe empfindlich schmälerte.21 Auch die spätere Buchkritik hat das Konkurrenzverhältnis der beiden Editoren zueinander durchaus erkannt. So heißt es z.B. in einem „Bericht über die seit 40–50 Jahren herausgekommenen Lieder-Sammlungen“ 1829 über Hoppenstedt: „Sieht man dieses Liederbuch genauer an, so wird man finden, daß es ei­ gentlich das Mildheimische Liederbuch ist, nur umgearbeitet für Schulen; und das war kein übler Gedanke [...]. Es hätte aber ein großer Theil Lieder, namentlich in der zweiten u. dritten Abtheilung, recht füglich weggelas­ sen werden können. Man muß nicht alles besingen wollen; noch weniger muß man Kindern alles zum Singen vorlegen. Wozu die Braut- u. Ehestandslieder etc. für Kinder?“22 Diese Zeilen verraten bereits den zeitlichen und

21 National-Zeitung, Jg. 1798; Siegert: Aufklärung und Volkslektüre (wie Anm. 7), Sp. 795. 22 Eutonia, Jg. 2. Breslau 1829, S. 249.

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geistigen Abstand von der Spätaufklärung, der es ja eben darauf ankam, möglichst alle Bereiche des Alltags in die geplante Umgestaltung und Er­ neuerung einzubeziehen. Es gab aber viele Stimmen in der zeitgenössischen Literaturkritik, die beide Liederbücher in einen Wirkungszusammenhang einordneten und ihren Einfluß auf die Volkspädagogik positiv beurteilten. So hat sich bei­ spielsweise das berühmte Journal des Luxus und der Moden in einem „Volkslie­ der“ überschriebenen Artikel mit der Volksaufklärung im Lied beschäftigt und geurteilt: Wer da weiß, was durch Volkslieder auf den Theil der Nation, der die breite Basis des Staats ausmacht [...] in Masse gewirkt werden kann, und laut aller Geschich­ te und Erfahrung auch schon gewirkt worden ist, wird des menschenfreundli­ chen Beckers Mildheimisches Gesangbuch, des Superintendenden Hoppenstedts (im Hannoverschen) Liederbuch für Volk, nebst zweckmäßigen Melodien, und ande­ re dergleichen Sammlungen, woran es uns in diesen Tagen nicht mehr fehlt, für nichts weniger als geringfügige Vorschritte zur Förderung besserer Kultur halten, und überhaupt die Landespolizey respektiren, die gerade hierauf zuerst und vorzüg­ lich ihre Censurbefugnisse gründet und in stets thätige Wirksamkeit setzt.23

Hoppenstedt hatte wie Becker dafür Sorge getragen, seine Liedpädagogik in eine Art System zu integrieren und mit verschiedenen anderen Werken zu vernetzen. Was für Becker die Mildheimische Sittentafel darstellte, war für Hoppenstedt die 1803 herausgegebene Praktische Anweisung zum Gebrauch der Lieder für Volksschulen.24 Ferner gehörten dazu seine Bemerkungen zu den Liedern für Volksschulen (ebda. 1803). Die Lieder für Volksschulen erfuhren noch 1846, 16 Jahre nach Hoppen­ stedts Tod, eine unveränderte sechste Auflage, ein Beweis dafür, daß der in seinen Liedern waltende Geist der Spätaufklärung im Biedermeier noch immer verstanden wurde und Bedeutung hatte. Des Knaben Wunderhorn hat­ te im Vergleich dazu einen viel geringeren Verkaufserfolg. Noch unsere Urgroßeltern und Großeltern sind mit den Schulliedem aus dem späten 23 Bertuch, Friedrich Justin und Kraus, Georg Melchior (Hg.): Journal des Luxus und der Moden Nr. 8 (1803), S. 427; vgl. Tarnói, László: Verbotene Lieder und ihre Varianten auf Fliegenden Blättern um 1800. Budapest 1983 (= Budapester Beiträge zur Germanistik, 11), S. 87–89. 24 Hoppenstedt, August Ludwig: Praktische Anweisung zum Gebrauch der Lieder für Volks­ schulen in Schulen und Erziehungsanstalten. Hannover 1803, IV, 228, S. 8. Aus der 9. Unter­ haltung S. 215 wähle ich ein Textbeispiel‚ welches zeigt, wie sich Hoppenstedt die Rezeption seines Liederbuches naiverweise vorgestellt hat: „L.[ehrer]. Vor kurzem gieng ich durch's Feld. Da gieng ein Trupp junger Leute eine gute Strecke vor mir hin. Sie sangen. Was mögen sie singen! dachte ich. Ich eilte, und kam ihnen näher. Wie freute ich mich, da ich's vernahm. Es war ein Lied aus der Schule. Stimmt mit ein (3the Abth. 32). [L].ehrer u. Alle: 1. Daß unser Gott uns Leben gab...“.

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Aufklärungszeitalter groß geworden, und was ich selbst in der Schule an Liedern gelernt habe („Im Märzen der Bauer die Rößlein einspannt...“), unterscheidet sich nicht groß von dem Hoppenstedtschen Repertoire. Bis fest in die Gegenwart hinein war das Schullied vom Geist des Aufklärungs­ zeitalters durchdrungen. E. Nussbaumer25 und G. Weißert26 haben gezeigt, daß fast 10 Prozent der Lieder des Mildheimischen Liederbuches in der mündli­ chen Überlieferung bis ins 20. Jahrhundert weitergelebt haben, daß wir also auch auf diesem Gebiet mit wichtigen Auswirkungen zu rechnen haben. Auf einem ganz anderen Blatt steht allerdings die Frage, ob mit den tugendhaft-belehrenden Produkten der aufgeklärten Liederbücher und ih­ rer Verwendung im Schulunterricht letzten Endes die „unsittlichen“ Volks­ lieder aus dem Alltag der Menschen verdrängt werden konnten. Aus der Kenntnis der Entwicklung des Liedes im 19. Jahrhundert muß die Frage eher verneint werden. Es ist nicht zur Verdrängung der Volkslieder, son­ dern zu einer Koexistenz und Durchdringung von Volksliedern und „ver­ ordneten“ Kunstliedern gekommen. Jedes Genre hatte seinen bestimmten Platz, seine eigene Funktion. Innerhalb des Schulunterrichts konnte sich das Genre „Schullied“ im pädagogischen Bereich fest etablieren. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts bestimmte das von Minister Raumer für den Gesangsunterricht an preußischen Schulen erlassene Reglement, den Kin­ dern seien geeignete Lieder für die christliche Erziehung und die Beförde­ rung des nationalen Gedankens beizubringen.27 Außerhalb der Schule und unbeeindruckt von obrigkeitlichen Maßnah­ men behauptete daneben nach wie vor der „unbotmäßige“ Volksgesang seinen Rang im Leben der Menschen. Durch das ganze 19. Jahrhundert hindurch ziehen sich daher die Bemühungen hin, die gemeinen, unsittli­ chen Volkslieder durch bessere, edlere zu ersetzen. Die in der Spätaufklärung entwickelte Methode, dem Volk unter dem „Schein des Bekannten“ (Johann Abraham Peter Schulz) Neues zu „unter­ schieben“, „in die Hände zu spielen“, hatte weiter Gültigkeit. Johann Peter Hebel z.B. empfahl in seinem berühmten Gutachten über die Frage, wie dem Gebrauch anstößiger Lieder am sichersten vorzubeugen sein möchte 1822 das aus der Aufklärung bekannte Rezept, die Zahl der schlechten Lieder auf den Lie­ dertischen der Jahrmarktskrämer durch staatliche Zensur entscheidend zu verringern, um für die besseren Lieder geeignete Überlebensbedingungen zu schaffen.28 25 Nussbaumer, E.: Das Mildheimische Liederbuch (1799–1837) von Rudolph Zacharias Bec­ ker. Graz 1935. 26 Weißert: Das Mildheimische Liederbuch (wie Anm. 5). 27 Klusen, Ernst: Volkslied. Fund und Erfindung. Köln 1969, S. 148. 28 Ebd., S. 146f.

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In diesem Sinne war auch Wilhelm Heinrich Riehl noch tief dem auf­ klärerischen Gedankengut verhaftet, als er sich mit den Möglichkeiten der Verbesserung des Volksgesanges beschäftigte. Riehl hat auf seinen Wan­ derungen durch das oberbayerische Gebirge den Ist-Zustand der musika­ lischen Erziehung der Jugend kennengelernt und als einen „akuten öffent­ lichen Notzustand“ beschrieben. Für ihn kam das Böse und Gefährliche im Volksgesang nicht von den fahrenden Handwerksburschen, sondern aus der Stadt. „Wo unverdaute städtische Modemusik auf dem Lande das Feld gewonnen hat, da ist auch der Bauer verdorben“, meinte er.29 In sei­ nen Briefen an einen Staatsmann (Nr. 5, 1853) hat auch er eine Lösung für die Verbesserung des Volksgesanges bei der Hand. Er knüpft an die Erfah­ rung an, daß in den meisten deutschen Armeen Soldatenchöre existieren, in denen die Dienstleistenden zum Singen erzogen werden, und er stellt sich vor, daß hier nur das Edelste und Beste vermittelt werden sollte, auf daß die Ausgedienten diese beim Heer erlernten Lieder in ihre Heimat mitnehmen und ihr Repertoire mit den „originalen Gesängen des Volkes untrennbar verwächst [...]. In der Kriegsmusik sollten sich alle echt natio­ nalen Weisen sammeln, alles Volk erhebend und begeisternd.“30 Mit einer solchen nationalen Volks- und Militärmusik könne man – so Riehl – auch leichter Kriege führen und gewinnen. Von hier ist es nicht mehr weit zu Bismarcks Aussage aus dem Jahre 1893, das deutsche Lied sei in seinen Augen ein wichtiger Verbündeter bei der Führung künftiger Kriege.31 Das Lied als Waffe: So haben es die Aufklärer im 18. Jahrhundert si­ cher nicht gemeint, aber sie wußten bereits um die vielseitigen Manipula­ tionsmöglichkeiten des Menschen durch das Lied. Volksbildung, so wäre zu resümieren, muß daher nicht immer und von vorneherein ein positiv besetzter Begriff sein, zumal wenn er in Ideologisierung und Instrumenta­ lisierung umschlägt und – wie bei Riehl – seine gefährliche Seite offenbart.

29 Riehl, Wilhelm Heinrich: Kulturstudien aus drei Jahrhunderten. Drittes Buch: Zur ästheti­ schen Kulturpolitik. 6. Aufl. Stuttgart, Berlin 1903, S. 365–438, s. S. 385f. 30 Ebd., S. 389 und 391; vgl. Brednich‚ Rolf Wilhelm: Versuch über Volksliedpflege. In: An­ stöße (1985), Heft 2, S. 78–85, siehe S. 81. 31 Klusen: Volkslied (wie Anm. 27), S. 148.

Das Herz der Mutter Von den Wanderungen und Wandlungen eines Liedes* Lieber Herr Klusen, mit diesen Zeilen möchte ich an eine Zeit anknüpfen, in der wir in den 60er Jahren gemeinsam in der Kommission für Volksdichtung der S.I.E.F. zusammenarbeiteten und auf mehreren internationalen Konferenzen über die Probleme der Balladenklassifikation diskutierten. Da ich damals ein Gesamtverzeichnis der Erzähllieder im deutschsprachigen Raum zusam­ menstellte, registrierte ich am Deutschen Volksliedarchiv in Freiburg be­ sonders aufmerksam jeden Neuzugang aus diesem Bereich der Balladen und erzählenden Lieder. Im Zusammenhang mit den regelmäßigen Zusendungen aus dem Westfälischen Volksliedarchiv in Münster hatten wir folgenden bemerkens­ werten Liedtext zu verbuchen, dessen Inhalt mich seit dieser Zeit nicht mehr losgelassen hat: 1.

Es hatte ein Knabe ein Mädchen lieb, trallalla trallalla trallalla; das Mädchen nur sein Spiel mit ihm trieb, trallalla trallalla trallalla.

2.

Sie bat und sprach: „Bring mir zur Stund deiner Mutter Herz für meinen Hund!“

3. Er lief und erschlug sein Mütterlein, und bracht’ ihr Herz der Liebsten sein. 4. Doch er fiel, weil er so eilen wollt, und das zuckende Herz auf die Erde rollt. 5. Und als das Herz im Staube lag, da hörte der Knabe wie es sprach.

* Erstveröffentlichung in: Noll, Günther und Bröcker, Marianne (Hg.): Festschrift für Ernst Klusen zum 75. Geburtstag. Bonn 1984, S. 83–103.

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Lied- und Erzählgeschichten

6. Und das Mutterherz fragt’ unter Tränen lind: „Hast du dir auch nicht weh getan, mein Kind?“1

Die Aufzeichnung ist in Bezug auf Kontextdaten alles andere als eine vor­ bildliche Archivvariante. Es werden kein Aufzeichnungsort und -jahr sowie kein Name des Sängers oder der Sängerin angegeben, auch über Aufnahme­ situation und die Funktion des Liedes erfahren wir nichts. Der Aufzeichner ist der Prokurist Hans Brockpähler in Dortmund-Hörde (1899–1979?), der als Soldat im Ersten Weltkrieg und zwischen 1920/30 an seinem Wohnort Hörde und auf der Wanderschaft Lieder gesammelt hatte. Das Westfäli­ sche Volksliedarchiv in Münster besitzt von ihm außer den knapp 40 Auf­ zeichnungen (meist ohne Melodien) das Inhaltsverzeichnis eines im Ersten Weltkrieg niedergeschriebenen handschriftlichen Liederheftes mit weiteren 84 Texten (Sign. HL 34), unter welchen das obige Lied nicht enthalten ist.2 Einzelvarianten wie diese kamen für die Aufnahme in den damals in Vorbereitung befindlichen Index deutscher Erzähllieder nicht in Betracht, so daß es sich erübrigte, dem Lied im sog. Freiburger Klassifikationssystem einen Platz zuzuweisen (III. Liebe. Liebesbeweise? IV. Familie. Schlech­ tes Verhalten gegenüber Familienangehörigen?). Trotzdem reizte es, nach möglichen Parallelen zu diesem eigenartigen Muttermord-Motiv Ausschau zu halten und seiner Geschichte auf die Spur zu kommen. Die üblichen Nachschlagewerke, die der Erzählforscher in solchen Fällen zunächst zu Rate zieht, vermeldeten zu diesem Thema nichts. Thompsons Motif-Index bietet lediglich einige sehr allgemein gehaltene Motivnummern, die in Be­ zug auf unseren Stoff nicht weiterführen: D 997.1. Magic heart – human; D 1610 Magic speaking objects (ohne Nennung des Herzens!); S 139.6 Murder by tearing out heart. – Die textinterne Analyse der westfälischen Aufzeichnung mußte aufgrund der gekünstelten Reime und der unvolks­ tümlichen Satzkonstruktionen mit Zeilenenjambement zu dem Schluß führen, daß hier offensichtlich ein literarisches Produkt Anspruch darauf erhob, als Kunstlied im Volksmund in das Freiburger Archiv aufgenommen zu werden. Weitere Varianten des Liedes aus deutscher Volksüberlieferung sind bisher nicht aufgetaucht. Mit der Archivierung wäre die Beschäftigung mit diesem Text norma­ lerweise abgeschlossen gewesen, wenn mich nicht das Interesse an dem Stoff weiter begleitet hätte. Den Erzähl- und Liedforscher mußte die Frage reizen – wenn es sich schon um ein Stück Literatur handelte –, von wo das Lied seinen Ausgang genommen hat. In welchen Kulturraum wäre die 1 2

Deutsches Volksliedarchiv, A 203 981; Westfälisches Volksliedarchiv, W 7580, Sammlung Hans Brockpähler. Für freundliche Auskünfte danke ich Dr. Renate Brockpähler, Münster.

Das Herz der Mutter

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widernatürlich erscheinende Forderung einzuordnen, die Mutter für die Geliebte bzw. für ihren Hund aufzuopfern? Ist eine Gesellschaft denkbar, in der die Liebe zu einer fremden Frau so viel mehr gelten könnte als die Liebe zur eigenen Mutter, in der also eine solche Untat moralisch zu recht­ fertigen wäre? Die folgenden Materialien sollen bei der Beantwortung dieser Fragen helfen. Es handelt sich um mehr oder weniger zufällig gemachte Funde, die im Laufe der Zeit zusammengekommen sind, die sicher auch noch weit davon entfernt sind, die Geschichte dieses literarischen Motivs lückenlos zu dokumentieren, aber vielleicht doch Materialien, deren Mitteilung lohnt, weil sie uns Einblick geben in das immer wieder spannende Wechselver­ hältnis von Literatur und Volksdichtung und weil sie uns zeigen, daß ein­ gängige Themen auch stets mühelos die Grenzen zwischen den einzelnen Genres der Volksdichtung überspringen. Bei der folgenden Übersicht über den Stand unserer Kenntnisse benutzen wir dankbar auch die Ergebnisse zweier kleiner Beiträge, die Alexander Scheiber dem Motiv vom sprechen­ den Mutterherzen bereits früher gewidmet hatte.3 Die nicht sehr lange Geschichte dieses Liedes führt uns nach Frank­ reich. Im Jahre 1881 veröffentlichte der französische Romancier Jean Ri­ chepin (1849–1926) den Roman La Glu.4 Im Schlußkapitel dieses dem Rea­ lismus zuzurechnenden Werkes liegt der männliche Held der Geschichte, Marie-Pierre, krank und zerschlagen im Bett. Wegen seiner vorausgegange­ nen Liebesabenteuer mit einer aus Paris in die Bretagne zugereisten Lebe­ dame ist seine Mutter zur Mörderin geworden, seine Verlobte Naik hat er schmählich im Stich gelassen. Was er in dieser Lage fürchten muß, ist der Verlust der Zuneigung seiner Angehörigen – seiner Mutter Marie-des-An­ ges, seiner Verlobten und des alten Seemannes Gillioury, die um sein Bett versammelt sind. Aber sie alle verzeihen ihm, versichern ihm ihre Liebe. Und der einäugige, verkrüppelte Gillioury erinnert sich dabei an ein Lied, das auf diese Situation genau zu passen scheint. Je vas te dire la chose, qu’est la chose, répondit le vieux mathurin. C’est comme dans la chanson, pas moins. Tu ne la connais pas, tiens, celle-là. Je me la suis rap­ pellée à c’matin, pendant que tu dormais, et que la mère te soignait en Jesus de crèche. C’est une chanson du temps jadis. Ah! bon sang! Elle n’est pas gaie. Mais elle dit joliment la chose qu’est la chose. Attrape à écouter, pour voir.

3 4

Scheiber, Alexander: A tale of the mother’s heart. In: Journal of American Folklore 68 (1955), S. 72–89; ders.: Alte Geschichten im neuen Gewande. Das Mutterherz. In: Fabula 11 (1970), S. 279–280. Der Roman ist nach meinen Feststellungen bisher nicht ins Deutsche übersetzt worden. Wörtlich bedeutet der Titel Vogelleim, frei übersetzt müßte er Die Leimstänglerin o.ä. lauten.

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Lied- und Erzählgeschichten

Il accorda son banjo en mineur, pinça du pouce une ritournelle dolente, toussa, remonta sa lippe, cligna sa prunelle mélancoliquement et chanta: 1. Y avait un’ fois un pauv’ gas, Et lon lan laire, Et lon lan la, Y avait un’ fois un pauv’ gas Qu’aimait cell’ qui n’ l’aimait pas. 2. Ell’ lui dit: Apport’ moi d’main, Et lon lan laire, Et lon lan la, Ell’ lui dit: Apport’ moi d’main, L’coeur de ta mèr’ pour mon chien. 3. Va chez sa mère et la tue Et lon lan laire, Et lon lan la, Va chez sa mère et la tue, Lui prit l’coeur et s’en courut. 4. Comme il courait, il tomba, Et lon lan laire, Et lon lan la, Comme il courait, il tomba Et par terre l’coeur roula. 5. Et pendant que l’coeur roulait Et lon lan laire, Et lon lan la, Et pendant que l’coeur roulait Entendit l’coeur qui parlait. 6. Et l’coeur disait en pleurant, Et lon lan laire, Et lon lan la, Et l’coeur disait en pleurant: T’es-tu fait mal, mon enfant?5

In diesem Text haben wir zweifellos die Vorlage für die oben wiedergege­ bene deutschsprachige Fassung vor uns, die aus dem Original sogar den Refrain übernimmt, der im Deutschen allerdings sehr trivial ausgefallen ist. Die Frage, die sich zunächst aufdrängt, ist die nach der Herkunft des Textes bei Richepin. Wir wissen von ihm, daß er in seinen Romanen oft 5

Richepin, Jean: La Glu. Paris 1881. Benutzte Ausgabe: Paris 1927, S. 254f.

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Ausschnitte aus der bretonischen Volksüberlieferung benutzt hat. Für den Text in La Glu gilt dies aber nicht. Er muß nach dem heutigen Stand un­ serer Kenntnisse eindeutig als Dichtung Richepins aufgefaßt werden. Die bretonische Volksüberlieferung kennt einen solchen Stoff nicht. Wenn De Beaurepaire-Froment 1910 das Gedicht in seine Bibliographie des fran­ zösischen Volksliedes im Kapitel „Bretagne“ aufnimmt, so beweist dies nur, daß der Autor einen großzügigen Begriff von chant populaire angewen­ det und auch reine Kunstlieder übernommen hat.6 Allerdings scheint sich Richepin Anregungen aus verschiedenen französischen Volksliedern ge­ holt zu haben, deren Aussage er aber durch seine eigenwillige Gestaltung in ihr Gegenteil verkehrt hat. Die französische Volksliteratur kennt das Motiv, daß ein Mann auf Verlangen seiner Geliebten seine Mutter tötet, nicht. Nur für das Gegenteil, den Mord an der Geliebten auf Veranlassung der Mutter, liegen Belege vor. Eine solche Situation weist das im französischen Sprachraum verbreitete Erzähllied (complainte) Écolier de Paris (oder: Le Meurtre de ma Mie) auf. Hier fragt die Mutter ihren Sohn, woher er kom­ me. Antwort: Von der Schule aus Paris. Die Mutter glaubt dies nicht und vermutet, er komme stattdessen von seiner Freundin. „Je voudrais la voir morte er avoir son coeur ici.“ Als Lohn soll er ein neues weißes Hemd und Geld erhalten. Er führt die Geliebte in einen Garten; zuerst schneidet er ihr den kleinen Finger ab, danach nimmt er ihr Herz heraus, um es der Mutter zu bringen. „Tenez, cruelle mère, voilà le coeur de m’ami. – Tu as menti par la bouche, c’est le coeur d’une brebis.” Am Schluß des Liedes werden die beiden Übeltäter in Öl getränkt und auf dem Grill hingerichtet.7 Von diesem Lied, das bei der Entstehung der Richepin-Fassung möglicherweise Pate gestanden hat, sind bisher 29 frankokanadische und 5 binnenfranzö­ sische Aufzeichnungen nachgewiesen.8 Das Motiv vom Herzen, das auf die Erde fällt und zu sprechen be­ ginnt, begegnet in einigen Varianten der im französischen Sprachraum ver­ breiteten Liedtypen La fille soldat tue son amant9 und L’assassin à gage.10 Ähnlich konträr zum Inhalt des Liedes vom Mutterherzen wie die genannten französischen Beispiele ist auch die Handlung der Ballade Die Schlangenköchin (engl. Lord Randal), in der sich ein von seiner bösen Gelieb­   6 De Beaurepaire-Froment: Bibliographie des chants populaires français. 3ième édition. Paris 1910, S. 120.   7 Barbeau, Marius: Le rossignol y chante. Première partie du répertoire de la chanson folk­ lorique française au Canada. Ottawa 1962, S. 165–168.   8 Laforte, Conrad: Le catalogue de la chanson folklorique française, I. Chansons en laisse. Québec 1977 (= Les Archives de Folklore, 18), S. 42–44.   9 Ders: Le catalogue de la chanson folklorique française, II. Chansons strophiques. Québec 1981 (= Les Archives de Folklore, 20), S. 68–70, Typ A-32. 10 Ebd., S. 77, Typ A-44.

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ten mit Schlangenfleisch vergifteter Ritter zum Sterben in die Arme seiner Mutter flüchtet.11 Richepin wird man eine geschickte Hand bei der Komposition seines Gedichtes im übrigen nicht absprechen können. Er verarbeitet nicht nur die verschiedenen inhaltlichen Anregungen, die ihm aus französischen Volksliedern zuflossen, er lehnte sich auch in der formalen Gestaltung eng an den Stil der französischen Volksdichtung an und ging in der Imitati­ on derselben sogar so weit, etwa durch Auslassung der stummen e einen authentischen Liedvortrag eines bretonischen Volksliedsängers zu sugge­ rieren. Der onomatopoetische Refrain ist dem Volksliedstil hervorragend nachempfunden, und die Strophenform des Liedes weist auf die archa­ ische Form der Lieder mit endreimenden Langzeilen, der chansons en laisse12 zurück. Nach freundlicher Auskunft von Conrad Laforte, dem zur Zeit unbestritten besten Kenner des französischen Volksliedes, ist von einer Richepin-unabhängigen Tradition des Liedes im französischen Sprachraum nichts bekannt. In seinen Katalog des französischen Volksliedes13 ist das Richepin-Lied nur zufällig aufgrund einer vereinzelten frankokanadischen Aufzeichnung von Luc Lacourcière aus dem Jahre 1958 gelangt, deren Herkunft aus La Glu dem Autor bei der Zusammenstellung seines Verzeichnisses noch nicht bewußt war. Wenn wir uns im folgenden mit der Wirkungsgeschichte dieses Liedes befassen, so steht am Ausgangspunkt also eindeutig ein Kunstlied, das aber sowohl aufgrund seiner Affinitäten zum Volkslied als auch durch seine un­ gewöhnliche Motivik dazu prädestiniert erschien, im populären Kulturbe­ trieb des ausgehenden 19. Jahrhunderts eine bevorzugte Rolle zu spielen. Zunächst hat der Autor Richepin das Seine dazu beigetragen, daß seine Liedschöpfung über den Roman hinaus populär wurde. Zwei Jahre nach dem Erscheinen des Buches legte er eine dramatische Bearbeitung des Stoffes vor, die am Pariser Theater Ambigu unter Sarah Bernhardt seit Ja­ nuar 1883 51mal aufgeführt wurde.14 Das Gedicht wurde in diesem Drama nicht mehr von dem alten Seemann Gillioury gesungen, sondern von der Mutter des Helden, Marie-des-Anges. Eine Wiederaufnahme des Stückes im Jahre 1909 brachte es am Pariser Théâtre Porte Saint-Martin auf 27 Auf­ führungen. Im Januar 1910 bildete La Glu die Grundlage einer in Nizza uraufgeführten Oper mit der Musik von Gabriel Dupont, die anschließend 11 Deutsche Volkslieder mit ihren Melodien. Balladen. Bd. 5. Berlin 1959, Nr. 79, Child Nr. 12. 12 Laforte: Le catalogue de la chanson folklorique française, I (wie Anm. 8). 13 Laforte: Le catalogue de la chanson folklorique française. II. (wie Anm. 9), S. 34 Typ A-34 Le fils assasin. 14 Sutton, Howard: The life and work of Jean Richepin. Genève, Paris 1961, S. 157.

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auch in Brüssel und Antwerpen, allerdings nie in Paris aufgeführt wurde.15 Später hat die Handlung des Romans auch bei zwei Verfilmungen Pate ge­ standen, in denen die junge Mistinguette bzw. Marie Bell die Hauptrollen spielten.16 Schon von daher gesehen mußte dem Lied vom pauv’ gas eine enorme Resonanz beschieden sein. Es verwundert daher nicht, daß dieses Lied sich bald von seinen lite­ rarischen Bindungen an Roman bzw. Drama loszulösen und ein Eigenda­ sein zu führen beginnt. Bald nach dem Erscheinen des Romans gehen eine Reihe von Komponisten an die Vertonung des Gedichtes. Erste Populari­ tät verleiht ihm dann die berühmte Sängerin Thérésa (Emma Vallodon), la Muse des Faubourgs in verschiedenen Pariser Revuetheatern.17 Besonders folgenreich wird die Vertonung durch Charles Gounod, da sich die bald zu Weltruhm aufsteigende Pariser Diseuse Yvette Guilbert (1866–1944) diese zu eigen macht und auf ihren Konzertreisen mit Leidenschaft vorträgt. In ihrem Buch über die Kunst des Chansonvortrages hat die Sängerin denn auch die literarischen Qualitäten des Liedes und besonders seines Refrains rühmend hervorgehoben: Ces lonlonlaire, lonlonla, comme ils aident à rythmer l’allégro du crime, la bous­ culade de l’attaque, le corps à corps dans les halètements … et lonlonlaire! Et lon­ lonla! pour, dans un diminuendo expliquer l’atroce peur de l’assassin, quand dans sa fuite, il tombera avec ce pauvre coeur, sur le sol de la route, où il court éperdu, les mains rouges de sang. Et quel effroi d’entendre alors le coeur parler, gémir! déjà en route … loin de la terre, modulant ses lonlonlaire d’agonie, ses lonlonlaire si miséricordieux, si anxieux! T’es-tu fait mal mon enfant? Comme je fus longue à trauver ce dernier lonlonlaire, il me le fallait mystiquement, surnaturel, ce coeur mort et qui parlait! Je voulais l’équivalence de la pensée poétique, dans l’interpréta­ tion, et c’est en le récitant que, trouvant l’accent tant cherché, je le transposais alors, musicalement, en accents de même valeur: La Glu de Richepin est devenue célèbre dans le monde entier.18

Der Autor Richepin gab seinerseits das Lob zurück und äußerte sich begei­ stert über die Duse de la chanson, die sein Lied in die Welt trug: Écoutez-la plutôt en vous bouchant les yeux, ou regardez-la en vous bouchant les oreilles! Il semble alors que les aveugles doivent la voir en l’entendant, et les sourds l’entendre en la voyant. Ce qui est, j’en suis sûr.19

15 16 17 18 19

Ebd., S. 160. Ebd., S. 245, Anm. 22. Ebd., S. 248. Guilbert, Yvette: L’ art de chanter une chanson. Paris 1928, S. 95f. Dies.: La chanson de ma vie (Mes mémoires). Paris 1927, S. 167.

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Auch ein Literaturkritiker vom Range eines Max Nordau stimmte in das allgemeine Lob auf La Glu ein: Cette pièce est définitive. Dans la littérature qui a produit la ballade de La Glu, le sujet du dévouement de la mère et de l’ingratitude de l’enfant est épuisé.20

Aber es gibt auch andere Urteile. Dem deutschen Theaterkritiker Alfred Kerr begegnete das Lied um die Jahrhundertwende im berühmten Kaba­ rett Le Tréteau de Tabarin am Pariser Montmartre. In seinem Essay über Die wahren Überbrettl läßt er sich auch über das Brettl-Publikum und den litera­ rischen Wert der dort zu hörenden Lieder aus: In zwölf Zeilen spricht ein Dideldumlied von letzten Dingen. Vom stibitzten Brot, das Gott der Herr erhobenen Haupts dem Dieb verzeiht ... In zwölf Zeilen erzählt es (– susala, dusala! –) vom herausgeschnittenen Herzen der Mutter, das den fallenden muttermörderischen Sohn fragt: „Tut’ s weh, mein Kind?“ In zwölf Zeilen wird strebend der sterbende Zuhälterich vorgeführt, auf einer Bank im Freien, tröstsamer Hoffnung voll, daß er jetzt ein Englein werde. Hier rauscht die Ewigkeit. Blutiger Humor, gütevoller Leichtsinn durcheinander. Über allem strahlt das Beste, das Aufrichtigste, was wir geben können: Menschli­ ches, Menschliches, Menschliches.21

Daß das Gedicht vollends vom Standpunkt moderner Frauenforschung aus betrachtet nicht mehr allzu gut wegkommt, dürfte klar sein. Simone de Beauvoir hat in Le deuxième sexe kritisch herausgestellt, daß Richepin darin die stereotype Doppelrolle der Frau als männermordendes Geschöpf und als treusorgende Mutter, als gutes und böses Prinzip zugleich, zum Aus­ druck gebracht hat: Tatsächlich aber ist es so, daß, wenn der Mann in der Frau alles finden kann, sie eben gleichzeitig diese beiden Aspekte enthält. Auf eine sinnliche und lebendige Weise stellt sie alle die Werte und Gegensätze dar, durch die das Leben überhaupt einen Sinn erhält. Deutlich heben sich das Gute und das Böse in der Gestalt der aufopfernden Mutter und der treulosen Geliebten voneinander ab; in der alten englischen Ballade Randall my son stirbt in den Armen seiner Mutter ein junger Ritter, den seine Geliebte vergiftet hat. La Glu von Richepin greift mit größerem Pathos und schlechterem Geschmack das gleiche Thema auf. Die engelhafte Mi­ caëla steht der schwarzen Carmen gegenüber. Die Mutter, die treue Verlobte, die

20 Sutton: The life and work of Jean Richepin (wie Anm. 14), S. 249. 21 Kerr, Alfred: Die Welt im Drama IV: Eintagsfliegen oder Die Macht der Kritik. Berlin 1917 (= Gesammelte Schriften 1, Bd. 4), S. 332.

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geduldige Gattin geben sich dazu her, die Wunden zu verbinden, die Vamps und Alraunen dem Herzen der Männer geschlagen haben.22

Der Siegeszug des Liedes war aber seinerzeit – kurz nach der Entstehung – offenbar kaum aufzuhalten. Auch in Deutschland fand es über die Kon­ zertsäle bald Eingang. Yvette Guilbert sang es im Februar 1898 im Ham­ burger Hansa-Theater, worüber uns ein zeitgenössischer Zeitungsbericht vorliegt: Ihr berühmtestes Chanson, Das Herz der Mutter, geht auf eine alte bretonische Sage (!) zurück. Der Inhalt: eine Dame verlangt von ihrem Geliebten das Herz sei­ ner Mutter, um es ihrem Hund zum Fraße vorzuwerfen. Der Mann schlägt seine Mutter tot, reißt ihr das Herz aus dem Leibe. Und wie er eilt zur Buhle sein – da fällt er über einen Stein. Das ist der Schlußvers: Hin rollt das Herz – es springt empor. Da dringt’s wie Weinen an sein Ohr. Das Herz der Mutter flüstert lind: Hast du dir weh getan, mein Kind? Die Übersetzung ist scheußlich. Aber die Yvette Guilbert muß hinreißend gewe­ sen sein. Abend für Abend zahlten die Hamburger für einen Logenplatz 25 Mark. Goldmark, wohlverstanden.23

Der vollständige Text dieser angeblich scheußlichen Übersetzung ist uns nicht überliefert, dafür aber ein anderer Eindeutschungsversuch von E.F. Malkowsky,24 der nach Scheiber zuerst in der Zeitschrift Mein Magazin (Ber­ lin 1932) erschien und von dort in eine Muttertags-Anthologie aus dem Jahre 1933 übernommen wurde.25 Dort hat der Richepin-Text folgende Gestalt:   Mutterherz Ein Jüngling liebte einst ein Mädel heiß, Sie war die Schönste, doch ihr Blut war Eis. Sie sprach zu ihm: „Willst du mein Herz umschlingen, Mußt du das Herz mir deiner Mutter bringen!“ Da lief er hin, die Mutter zu erschlagen, Er lief, ihr Herz der Liebsten hinzutragen, Glitt aus und fiel im schreckgepeitschten Lauf. „Wer spricht zu mir?“ erschüttert horcht er auf Und hört des Mutterherzens letzten Ton: „Hast du dir weh getan, mein armer Sohn?“26 22 Beauvoir, Simone de: Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau. Hamburg 1951, S. 213. 23 Anderson, Walter: Volkserzählungen in Tageszeitungen. In: Rheinisches Jahrbuch für Volkskunde 10 (1959), S. 164. 24 Emil Ferdinand Malkowsky (geb. 1880) war nach Auskunft von Kürschners Literaturkalen­ der ein Humorist, Novellist und Herausgeber populärer Familienzeitschriften in Berlin. 25 Scheiber: A tale of the mother’s heart (wie Anm. 3), S. 86. 26 Ebd., S. 89, nach: Mutter. Ein Buch der Liebe und des Dankes. Berlin u.a. 1933, S. 108.

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Aus dem germanischen Sprachbereich liegen außer den genannten deut­ schen Übersetzungen zwei flämische Übertragungen vor. Die erste, ein altflämischer Text, stammt von dem Lyriker Victor dela Montagne, der mit seiner Angabe „naar Jean Richepin“ die Quelle für sein Gedicht mit dem Titel Een oudt Liedeken offengelegt hat: 1. Tsagh eens een cnape stervensgeern een valsche, vreede, boose deern. 2. Sei totten cnape: „hael mi terstont din moeders herte voor minen hont.“ 3. Hi ging en sloech sin moeder doot en vluchtte mettet herte root. 4. Mer twyl hi loopt, stuict oppen steen en valt, – dat erme hert meteen. 5. Al botsen op de harde baen, vingh plots dat hert te spreken aen; 6. Al weenen vinghet te spreken aen: „Och, jonghe, hebe di seer gedaen?“27

Mit weniger offenen Karten spielt der flämische Dichter Julius de Geyter bei seiner Übersetzung. Er läßt in seinem Epos Keizer Karel den Genter „Rederijker“ Hans de Raat eine „flämische Ballade“ vortragen, über deren Herkunft er weiter keine Auskunft gibt. 1. Ze was een zoo slechte, zoo eerlouze deerne, Maar liefde maakt blind en hij zag ze zoo geerne. 2. – Gij, spotte ze, gij? Zoo breng dan het hart uwer moeder tot mij! 3. Hij rukte zijn moeder het hart uit het lijf, En liep er mee weer naar het liederlijk wijf; 4. Doch stronkelde, viel en verplette het hart, Doch sprak, ja, hoe vermorzeld het werd.

27 Dela Montagne, Victor: Gedichten. 3. Ausgabe (1. Ausgabe 1907). Amsterdam 1913 (= Ne­ derlandsche Bibliotheek, 19), S. 79.

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5. Het vroeg, eer hij op was gesprongen: – Deed ge u geen zeer, o mijn jongen?28

Omer Wattez nahm diese Übersetzung 1908 in eine Beispielsammlung von 14 angeblich altflämisch/germanischen Balladentexten auf, uninformiert und zudem im guten Glauben, da De Geyter selbst zu seinem Lied – in Verschleierung seiner wahren Herkunft – bemerkt hatte: „Ik ken in geene kunst iets schooners dan dit Oudvlaamsch liedje.“29 Schon J. Bolte kam diese flämische Ballade vom Moederhart rätselhaft vor und hielt sie für eine „offenbare Fälschung“, womit er der Wahrheit ziemlich nahe kam.30 Neben dem germanischen Sprachraum kommt vor allem der europä­ ische Südosten als Rezipient des durch Jean Richepins Liedtext vermittel­ ten Stoffes in Frage. Eine frühe ungarische Übersetzung geht auf den be­ kannten ungarisch-jüdischen Dichter József Kiss (1843–1921) zurück, der seinem Gedicht den Titel Az anyaszív (Das Mutterherz) gab.31 Die Über­ setzung ist nach Scheiber32 zwischen 1883 und 1889 anzusetzen; daß nur Richepins La Glu als Quelle dafür in Frage kommt, geht aus dem Untertitel hervor, der in deutscher Übertragung lautet: Ein altes französisches Lied. Dar­ über hinaus konnte Scheiber33 im Nachlaß von József Kiss einen Brief von Richepin ermitteln, so daß die Verbindung zwischen den beiden Autoren zweifelsfrei erwiesen ist. Von Kiss führt der literarische Wanderweg des Themas weiter zu der ungarischen Schriftstellerin der Gegenwart Erzsébet Galgóczi (geb. 1930), deren Novelle Erwachen folgende Anspielung auf den Stoff enthält: Es fiel ihm das in seiner Kindheit gehörte Märchen vom bösen Sohn ein, der seine Mutter tötete. Er schnitt ihr das Herz heraus und rannte weg. Er stolperte jedoch über etwas und fiel. Das fallengelassene Mutterherz fragt besorgt: „Hast du dir nicht weh getan, mein Söhnchen?“34

Im südslavischen Sprachraum scheint das Thema vom Mutterherzen erst später als in Ungarn seinen Einzug gehalten zu haben. Srečko Kosovel (1904–1926), der frühverstorbene große slowenische Lyriker, hinterließ 28 Wattez, Omer: De germaansche ballade. Haar ontstaan en hare beteekenis. In: Verslagen en Mededeelingen der Koninklijke Academie voor Taal- en Letterkunde. Gent 1908, S. 371f. 29 Ebd., S. 371. 30 Bolte, Johannes: Neuere Arbeiten über das deutsche Volkslied. In: Zeitschrift für Volkskun­ de 19 (1909), S. 219–234, hier S. 223f. 31 Zu Kiss vgl. Klaniczay, Tibor (Hg.): Handbuch der ungarischen Literatur. Budapest 1977, S. 346–348. 32 Scheiber: A tale of the mother’s heart (wie Anm. 3), S. 86. 33 Ders.: Alte Geschichten im neuen Gewande (wie Anm. 3), S. 280. 34 Ebd., S. 279.

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u.a. eine freie Übersetzung des französischen Textes, die er selbst mit Richepinov motiv überschrieben hatte. Sie wurde 1927 in seinen Izbrane pesmi,35 1929 in der Zeitschrift Ljubljanski zvon (406) und in zwei Nach­ kriegsausgaben seiner Gesammelten Werke36 veröffentlicht.37 Maja Bošković-Stulli verdanken wir die Veröffentlichung einer Prosa­ aufzeichnung des Stoffes aus der Volksüberlieferung Istriens.    Das Mutterherz Eine Mutter hatte ein Söhnchen, bloß es. Sie sprach zu ihm: „Heirate, mein Sohn.“ Er sagte: „Ich, Mutter, will nicht heiraten, da ich mit dir gut stehe, deswegen geht es uns gut.“ Nachher heiratete er Armer, er fand einen Teufel von einer Frau. Und sie redete zu ihm: „Ich werde dir gut werden, bloß wenn du deine Mutter tötest.“ Er sagte: „Wie sollte ich meine Mutter töten, da die Arme immer gut ist?“ Und dieses Teufelsweib sagte zu ihm: „Geh sie zu töten und bringe mir ihr Herz.“ Und er ging, und er tötete die Mutter neben einer Grube. Und später trug er das Herz nach Hause. Und als er die Hälfte des Weges erreichte, dann fiel er, und das Herz sagte zu ihm: „Hast du dir weh angetan, mein Sohn?“38

Über die Existenz des Stoffes in der griechischen Volksüberlieferung gab zum ersten Male eine in den Basler Nachrichten vom 30. November 1974 publizierte Märchenvariante aus den Sammlungen von Marianne Klaar Aufschluß. M. Klaar gilt als eine der erfolgreichsten Sammlerinnen neugriechischer Volkserzählungen in der Gegenwart.39 Den folgenden Text, den wir aus den Basler Nachrichten wiederholen, hat sie am 7. Oktober 1973 in dem Gebirgsort Ágra auf der nordgriechischen Insel Mytiléne (früher Lesbos) aus dem Munde ihrer Gastgeberin, Frau Dímitra Jeorjélli aufgezeichnet und nach dem Tonbandprotokoll wortwörtlich ins Deutsche übersetzt. Die Erzählerin war zum Zeitpunkt der Erzählung ungefähr

35 Kosovel, Srečko: Izbrane pesmi. Ljubljana 1927, S. 80 36 Ders.: Zbrano delo. Prva knjiga: Pesmi. Ljubljana 1946, S. 117; ebd. 1964, S. 115, Kommen­ tar 451f. 37 Zu Kosovel vgl. Slodnjak, Anton: Geschichte der slowenischen Literatur. Berlin 1958 (= Grundriß der slavischen Philologie und Kulturgeschichte, 13), S. 335f. 38 Erzählerin: Marija Kravatin. Aufzeichner: N. Bonifačić Rožin. Die Erzählerin hat den Stoff angeblich irgendwo gelesen. Übersetzung aus dem Archiv der Enzyklopädie des Märchens, Göttingen (Bošković-Stulli, Maja: Istarske narodne priče. Zagreb 1959, S. 91f., Nr. 38). Die von M. Bošković-Stulli in der Anm. zu Nr. 38, S. 173 gegebenen Hinweise auf zwei serbokroatische gereimte Varianten in Srpski etnografski zbornik 54 (1939) 146f. und Hrvatske narodne pjesme 5 (1909) 146 weisen nur entfernte Motivverwandtschaft mit dem Lied von Richepin auf und können hier außer Betracht bleiben. 39 Klaar, Marianne: Christos und das verschenkte Brot. Neugriechische Volkslegenden und Legendenmärchen. Kassel 1963; dies.: Tochter des Zitronenbaums. Märchen aus Rhodos. Kassel 1970.

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60 Jahre alt, sie ist Hausfrau, Gattin eines Schafhirten und Mutter zweier erwachsener Töchter, sie hat vier Jahre lang die Volksschule besucht.     Das Herz der Mutter Es war einmal eine alte Frau, die hatte einen einzigen geliebten Sohn. Der aber liebte ein Mädchen, das eine Zauberin war ... Und (eines Tages) spricht er zur Mutter: „Mutter“, so spricht er, „ich habe einem Mädchen die Heirat versprochen – und das ist eine Zauberin.“ Darauf sagt die Mutter: „Nein, mein Sohn! Ist das notwendig, dass du eine Zauberin nimmst? Nimm ein (anderes) Mädchen – nimm die, die dich (gern) haben will!“ Er erwidert: „Nein! Ich will dies Mädchen nehmen ... das so sehr schön ist!“ „Hm ...“; sagt die Mutter, „Was kann ich mit dir machen, mein Sohn? du hörst ja doch nicht auf mich. So nimm sie eben! Aber“, sagt sie, „du wirst es bereuen!“ Es war gar nichts zu machen, da die Zauberin den Sohn verzaubert hatte, konnte er nichts anderes tun, er verheiratete sich mit ihr. Als schon viele Tage vergangen waren ... (spricht auf einmal die Zauberin): „Ich will, mein Mann“, so spricht sie, „dass du deine Mutter schlachtest.“ Er er­ widert: „Wie kann ich meine Mutter schlachten? Tut es dir nicht leid um sie? Eine Mutter“, erwidert er, „habe ich, sonst habe ich niemanden.“ Darauf entgegnet sie: „Du sollst sie schlachten!“ ... Dann war der junge Mensch dabei, einen Entschluss zu fassen ... Recht beengt war ihm zumute, er grübelte hin und her, was er tun sollte ... „Hm …“, spricht er dann (zu sich). „Was kann ich schon machen? Da meine Frau mich dazu anhält, schlachte ich sie eben.“ Nun geht er zu seiner Mutter – so wird erzählt – und spricht: „Ich bin sehr betrübt“, so spricht er. „Warum, mein Sohn?“ fragt die Mutter. „Warum?“ Er sagt: „Was die Frau angeht, die ich genommen habe ... so habe ich das bereut“, erwider­ te er. „Ich habe nicht auf dich gehört … die sagt, ich soll dich schlachten.“ Darauf spricht die Mutter: „Mein Sohn, was kann ich schon machen, da du ja nicht auf mich gehört hast? Jetzt“, spricht sie, „mache ich dir eben mein Leben zum Ge­ schenk“, so spricht sie, „mach mit mir was du willst. Schlachte mich! Aber wenn du mich geschlachtet hast“, spricht sie, „sollst du mein Herz aufbewahren und in deinen Geldbeutel tun. Denn“, spricht sie, „wenn etwas Böses geschehen sollte, hilft dir mein Herz.“ Der junge stattliche Mensch – so wird erzählt – konnte dann aber seine Hand nicht anlegen, um seine Mutter zu schlachten. Er ging vielmehr nach Hause ... Seine Frau, die ihn verzaubert hatte, sagte wieder zu ihm: „Du sollst sie schlachten!“ Da fasste er den Entschluss, ging hin, schlachtete seine Mutter … Er setzte sich hin, holte ihr Herz heraus ... Was machte der junge Mensch dann? Er steckte das Herz seiner Mutter in seinen Geldbeutel und grübelte, den ganzen Tag grübelte er ... „Was tu ich jetzt?“ sprach er dann (zu sich). Ins Haus seiner Frau ging er nicht ... Da die Frau ihn aber verzaubert hatte, ging er (schliesslich doch) ... Da spricht sie: „Mein Mann, wir wollen jetzt auch essen – was willst du da machen? Du musst arbeiten gehn!“ … Der konnte das aber nicht, er ertrug es nicht, für Fremde zu ar­ beiten … So erwidert er also: „Ich halte es nicht aus, für Fremde zu arbeiten.“ Sie spricht: „Du musst arbeiten gehn! Ich selbst werde dir sagen, wohin du zu gehen hast.“ Sie schickte ihn also zum Arbeiten fort. Und sie schickte ihn dorthin, wo die Neraiden, die Wassernixen, sind. Hm ... der junge Mensch ging also arbeiten für Fremde. Er ging dorthin ... Da sah er in einer wüsten Gegend Mädchen – so

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wird erzählt – die tanzten, machten allerlei (Seltsames) ... zeigten (allerlei Uebles von sich). Ihm wurde ganz verzagt zumute – so wird erzählt. Sie taten ihm auch manches an, behandelten ihn grausam, machten mit ihm, was sie wollten. Was sollte er tun, was jetzt machen? ... da sie ihn auch noch umzingelten. Was also sollte er tun? Er holte das Herz seiner Mutter aus seinem Geldbeutel – so wird erzählt. Das sprang aus seinen Händen und rollte weg ... „Ach … nicht so!“ ruft er. „Mutter!“ ruft er. „Hilf mir“, ruft er, „hilf mir in diesem Augenblick!“ (Das Herz) aber spricht: „Was soll ich nun mit dir machen, mein Kind? Du hast nicht auf mich gehört“, so spricht das Herz. „Hatte ich dir nicht gesagt, dass du die Zauberin nicht zur Frau nehmen solltest? In ihr steckt die Gefahr … Was willst du jetzt tun?“ spricht es. „Was werden die (Neraiden) noch mit dir machen? Die werfen dich noch in den Brunnen, und du wirst Angst bekommen ... Wilde Tiere wirst du zu sehn bekommen ...“ Er ruft: „Hilf mir, Mutter, Mutter, verzeihe mir!“ Nun bewegt sich das Herz im Kreise, bewegt sich im Kreise – bewegt sich in den Geldbeutel hinein ... spricht: „Mein Sohn, jetzt bist du in Ordnung ...“ Die Mutter holte ihn also heraus. Er entkam den Neraiden … stieg nach oben. Was sollte er jetzt tun? Er schritt zu, schritt zu ... grübelte dabei ... ging weiter. Wieder kam er – so wird erzählt – in eine wüste Gegend. Sein Weg führte ihn dahin. In eine wüste Gegend kam er also. Da sieht er einen Drachenriesen … Was sollte er da machen? „Der Drachenkerl wird mich fressen!“ (sagt er zu sich). Er ruft – da seine Mutter gesagt hatte, „Du wirst meiner bedürfen“. „Komm, Mutter, der Drachenmensch will mich fressen!“ Die Mutter kommt heraus ... entschlüpft ihm aber ... rollt fort … rollt fort, den Abhang hinunter … Jetzt hatte er seine Mutter verloren. Wo, wie könnte er sie finden …? „Mutter, Mutter!“ ruft er. „Ich habe es bereut, dass ich dich getötet habe – hilf mir!“ Hm ... da kam das Herz wieder zurück ... schlüpfte an seinen Platz, in den Geldbeutel, spricht: „Hab jetzt keine Angst, mein Sohn. Vor dem Drachenriesen“, spricht es, „brauchst du dich nicht zu fürchten ...“ Was sollte er tun? Er schritt wieder zu ... um nach Hause zu gehn, zu seiner Mutter. Hm, so zog er weiter, zog weiter, zog immer weiter – Da erblickt er (auf einmal) eine alte Frau. Die fragt: „Was hast du, mein Bürschlein, dass du so vergrübelt bist?“ Er erwidert: „Was soll ich wohl haben?“ so erwidert er. „Ich habe meine Mutter getötet“, spricht er. „Ich hatte eine Zauberin zur Frau genommen. Meine Mutter hatte mir gesagt ‚Nimm sie nicht‘ aber ich nahm sie, und nachher habe ich meine Mutter getötet“, spricht er. „Jene (Zauberin) befahl es mir, und so tötete ich sie, und ihr Herz bewahre ich auf.“ „Hm ... das Herz deiner Mutter bewahre gut auf“, sagt die Alte, „und hab keine Angst. Ich sage dir Bescheid ... Ich gebe dir das beschriebene Zettelchen hier, das sollst du auch gut aufbewahren, dann wird es dich zu eurer Türe führen.“ Hm ... Nun ging er wieder weiter; ging immer weiter ... befand sich auf ein­ mal vor der Tür, befand sich vor seiner Tür – so wird erzählt. Er gelangte hin (so schien es ihm) ... Er klopfte an die Türe ... Seine Mutter kommt herunter (so schien es ihm) ... Er holt das Herz hervor, spricht: „Komm, Mutter, mach mir auf und verzeih mir, was ich dir angetan habe.“ „Ah! ... “, spricht da die alte Frau (vom Wege, die auf einmal vor ihm stand), „ich werde die Zaubereien von dir nehmen, die von deiner Frau in dir sind ... habe keine Angst.“ Die Alte holte dann die Zau­ bereien aus ihm heraus – auch jene war eine Zauberin. Sie tat es. „Ich“, spricht sie, „habe Macht über die Zaubereien ... habe nur keine Angst! Geh weiter“, spricht sie, „zieh weiter.“ Sie gab ihm ein wegweisendes Zeichen – so wird erzählt. „Geh

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hin (zum Haus)“, spricht sie, „klopf an die Tür und rufe: ‚Mutter, komm heraus, mach mir auf!‘“ Er kam hin ... Er klopfte nun an die Tür, sagt: „Mutter, komm heraus, um mir aufzumachen, und verzeihe mir ... Ich habe es bereut, ich habe den Sinn gewech­ selt.“ „Hm ...“, erwidert sie. „Dann ist es gut.“ Sie kommt herunter, macht ihm auf, umarmt ihr Kind. Das Herz aber schlüpfte fort, er hatte es nicht mehr. Nun umarmte er die Mutter, und dann küssten sie sich ... „Ach ...“, ruft sie. „Mein Kindchen! Mein Sohn! Hm, ich“, spricht sie, „bin deine Mutter selber, ich bin nicht verlorengegangen.“ Und somit hatte er seine Mutter gefunden und weinte nun ... Seine Frau hatte er jetzt (aus dem Sinn) verloren – ja. Und von nun an lebte er mit seiner Mutter. Mit seiner Mutter lebte er. Die Frau war verschwunden, die Zauberin. Aber jene andere alte Frau hatte ihn gerettet.40

Die Frage liegt nahe: Haben wir es bei diesem Text mit einer von der bis­ her Behandelten literarischen Tradition unabhängigen neugriechischen Märchenüberlieferung zu tun? Wir glauben dies nicht und wollen unseren Standpunkt, daß auch dieser Märchentext in die Richepin-Nachfolge ein­ zuordnen ist, anhand dieser Aufzeichnung begründen. Bei genauer Ana­ lyse dieses Textes ergibt sich, daß er im Grunde eine Entfaltung der nar­ rativen Möglichkeiten darstellt, die das nach Volksballadenart auf wenige Strophen zusammengedrängte Handlungsgerüst der Vorlage jedem eini­ germaßen begabten Erzähler anbietet. Aus der relativ motivarmen Aus­ gangsfassung ist im Munde einer griechischen Erzählerin eine motivreiche­ re Erzählung geworden, die im märchenhaften Sinn den Hörer mit dem grausamen Mord an der eigenen Mutter versöhnen will. Dies wird durch zwei Erweiterungen gegenüber der Vorlage erreicht: Zum einen wird das mit der unerhörten Forderung nach dem Schlachten der Mutter auftreten­ de Mädchen zur Zauberin gestempelt. Damit erhält das Unbehagen, das man beim Hören der Richepinschen Fassung gegenüber dieser Frau emp­ finden muß, einen konkreten Anhaltspunkt: ihr Handeln erklärt sich aus ihrem Charakter als übernatürliches Wesen, sie ist eine Dämonengestalt. Zum anderen erfährt die Erzählung im zweiten Teil durch die Anfügung einer Suchwanderung des Helden mit dem dreimaligen hilfreichen Eingrei­ fen des Mutterherzens und durch den glücklichen Ausgang verstärkte mär­ chenhafte Züge. Daß dieser Schlußteil mehr oder weniger frei hinzuim­ provisiert ist, wird am ganzen unsicheren Erzählduktus sichtbar, vor allem aber am Schluß, wenn die Erzählerin den Helden zweimal am Haus seiner Mutter ankommen läßt. Als Bruch mit der klassischen Märchentradition muß es trotz des glücklichen Ausganges erscheinen, wenn auf eine Bestra­ fung der Zauberin verzichtet wird und diese stattdessen sang- und klanglos aus der Erzählung verschwindet. Löst man alle sekundären Zutaten heraus, 40 Basler Nachrichten, Nr. 281 vom 30. Nov. 1974, S. 41.

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Lied- und Erzählgeschichten

so bleibt das Grundmotiv des Liedes aus La Glu – die Forderung nach dem Herz der Mutter und die Ausführung der Untat – übrig, wobei auf das Motiv der besorgten Frage des Mutterherzens zugunsten einer weiteren Entfaltung des Dialoges zwischen Sohn und Mutterherz verzichtet wird. Von unschätzbarem Vorteil erwies es sich angesichts dieser Vermutun­ gen um die Herkunft der Erzählung, daß wir mit der aus Freiburg stam­ menden Sammlerin selbst in Kontakt treten konnten und sie ihrerseits die Verbindung zu ihrem Forschungsfeld auf Lesbos brieflich sowie durch weitere Sammelreisen aufrecht erhielt. Wir veranlaßten Marianne Klaar zu intensiveren Nachforschungen über das Alter und die Verbreitung des Stoffes auf Lesbos. Wir sind ihr sehr dankbar, daß sie sich unsere Frage­ stellung zu eigen gemacht hat und teilen im folgenden die Ergebnisse mit, die sich aufgrund gezielter Recherchen an Ort und Stelle abzeichnen. Im Juni 1977 war es Marianne Klaar möglich, nach dreijähriger Abwe­ senheit wiederum das Gebirgsdorf Ágra auf Lesbos zu besuchen und bei der gleichen Erzählerin nach dem Märchen vom Mutterherzen zu fragen. Die Gewährsperson hatte unterdessen infolge von Krankheit und sonsti­ gen Schicksalsschlägen in ihrer Familie manches Schwere durchzumachen und konnte sich zunächst nicht mehr an das Märchen erinnern. Erst nach einigem Zögern war sie bereit, die Erzählung erneut auf Band zu sprechen. Das Ergebnis ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. Auch durch die Übersetzung hindurch wird noch deutlich, daß die neuerliche Aufzeich­ nung lange nicht mehr so flüssig erzählt ist wie die von 1973; die Erzählerin war unkonzentriert, erzählte lückenhaft und versprach sich oft.     Das Herz der Mutter Es war einmal eine Mutter, die hatte einen Sohn, und der liebte eine Zigeunerin. Die Mutter mochte sie nicht ... Sie spricht: „Ich will nicht, mein Sohn, daß du eine Zigeunerin nimmst.“ „Ich, Mutter, werd sie aber nehmen, sie ist ein gutes Mäd­ chen.“ Er spricht ihr ein Lied vor: „Mein Mütterchen, sie ist ja gut, hat in der Fülle Liebreiz, weiß leuchtet ihre kleine Brust, auch ungeschmückt von Perlen.“ „Da sie ein gutes schönes Mädchen ist, mein Sohn … nimm sie also zur Frau, vermähle dich mit ihr.“ – Er heiratete sie … Später aber spricht sie zu ihm: „Schlachte deine Mutter, bringe mir ihr Herz!“ Er schlachtete seine Mutter und brachte das Herz. Unterdessen trennte sie sich von ihm, sie wollte ihn nicht mehr. Der Sohn ging bedrückten Mutes fort. Er öffnete den Geldbeutel, um das Herz anzusehen. Das Herz sprang heraus, rollte den Hang hinab und sprach: „Mein Sohn, ich hatte dir gesagt, daß du die Zigeu­ nerin nicht nehmen sollst, du hast nicht auf mich gehört.“ Der Sohn war sehr in Bedrängnis …

Das Herz der Mutter

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Da erschien eine alte Zauberin vor ihm und sprach zu ihm: „Was hast du, mein Kind, daß du so bedrückten Muts bist?“ Er antwortete der Alten: „Ich habe eine Zigeunerin geheiratet, und meine Mutter wollte sie nicht … (Meine Frau) sag­ te mir (dann), ich sollte meine Mutter schlachten, ihr Herz an mich nehmen. Ich habe sie geschlachtet, nahm ihr Herz an mich, tat es in meinen Geldbeutel … den öffnete ich nun, um das Herz anzusehen. Und da machte es sich davon. Und das Herz hat auch gesprochen: ‚Ich hab dir gesagt, mein Sohn, daß du die Zigeunerin nicht heiraten sollst. Du hast nicht auf mich gehört – jetzt mußt du’s halt erleiden.’ Da gab ihm die Zauberin einen Flügel, sprach zu ihm: „Nimm den Flügel hier! Wenn du mich brauchst, seng ihn an, dann bin ich gleich da.“ Er nahm den Flügel, ging zu seiner Frau – und sie jagte ihn davon … Er sengte den Flügel an, und gleich kam die Zauberin an. Sie gab ihm ein Knöchelchen und sprach zu ihm: „Ich geh nun an eine windgeschützte Ecke, und da werden all die Mädchen (die Neráiden) zum Vorschein kommen, um zu tanzen, und unter ihnen wird auch deine Frau sein. Mach du dich daran, das Knöchelchen zu berühren!“ Gleich erschienen die Mädchen (die Neráiden) zum Tanze. Auch die Frau des jungen Menschen war darunter. Er machte sich daran, das Knö­ chelchen zu berühren – und sofort rannte die junge Frau zu ihrem Manne und umarmte ihn und küßte ihn. Und nun aber liebte sie ihn sehr. Und so lebten sie dann gut, und sie noch besser.41

Die eklatanten inhaltlichen Unterschiede zwischen den beiden im Abstand von vier Jahren aufgezeichneten Fassungen deuten darauf hin, daß es sich insgesamt um keine gefestigte, abrufbare Erzähltradition handelt, sondern um eine instabile, von der erzählerischen Disposition abhängige und star­ ker Improvisation unterworfene Überlieferung. Aus der Zauberin des er­ sten Textes ist jetzt eine Zigeunerin geworden. Das früher als Hauptmotiv figurierende Herz der Mutter ist hier sogar zum stumpfen Motiv herabge­ stuft worden, die ganze Erzählung läuft inhaltlich jetzt auf die Trennung von Liebenden und ihre Wiedervereinigung durch übernatürliche Helfer hinaus. Zu unserer Überraschung schlägt zu Beginn des Prosatextes ein Liedbruchstück durch. Um noch größere Sicherheit über die Überlieferungslage zu gewinnen, sandte Marianne Klaar eine Umschrift der zweiten, unvollständigen Ton­ bandaufzeichnung an die 27 Jahre alte Tochter der Erzählerin mit der Bitte um eine vollständigere schriftliche Neuaufzeichnung. Das Ergebnis war eine korrigierte und von einigen Inkonsequenzen gereinigte Variante der Zweitfassung, die jedoch in keiner Weise an die ausführlich erzählte Erst­

41 Erzählt von Frau Dímitra Jeorjélli in Ágra/Lesbos, Juli 1977. Tonbandaufzeichnung und Übersetzung von Marianne Klaar, Tonband Lesbos 1977, Nr. 3. In Klammern eingeschlos­ sen sind Ergänzungen der Übersetzerin, ohne die die Erzählung keinen Sinn mehr ergeben würde.

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Lied- und Erzählgeschichten

fassung heranreicht, die damit nachträglich als ausgesprochener Glücksfall zu bezeichnen ist. Die zentrale Frage, ob der Erzählstoff vom sprechenden Mutterher­ zen aus Lesbos eine heimische Tradition darstellt oder jüngerer Import ist, konnte mit dieser Gegenüberstellung noch nicht abschließend beantwor­ tet werden. In dieser Hinsicht erhalten wir erst durch weitere Materialien Aufschluß, die Marianne Klaar auf Lesbos zusammengetragen hat. Nicht weit vom ersten Aufzeichnungsort, im Flecken Kalloní auf Lesbos, kam sie einem griechischen Volksgedicht auf die Spur, welches ihr ebenfalls im Jahre 1977 in die Feder diktiert wurde und welches nach etwas freierer deutscher Übersetzung von Marianne Klaar folgendermaßen lautet:     Das Herz der Mutter Ein Bursche, einziger Sohn, ein Knabe, liebte sehr die Tochter einer Hexe. Die spricht: „Ich mag aber keine Burschen, wenn du also willst, daß ich dich küsse, so bringe mir das Herz deiner Mutter, ich werd’s meinem Hund zu fressen geben.“ Der Sohn rennt los, er tötet seine Mutter, das Herz holt er heraus, aus der Wurzel, rennt hin, um es ihr zu bringen, stolpert. Er stürzt mit dem Herzen auf die Erde, der Sohn rollt runter, das Herz herunter. Er hört es wimmern, hört es sprechen. Die Mutter spricht zum Sohn, sie redet: „Tut es dir weh, Junge?“, und sie wimmert.42

Hier haben wir nun wiederum ganz unverkennbar den Liedtext von Riche­ pin vor uns, der seit noch nicht allzu langer Zeit auf der griechischen In­ sel Wurzel geschlagen und neben dem sich eine kurzlebige Prosatradition entwickelt zu haben scheint. Dem Lehrer Strátis Misjíris aus Kalloní (Les­ bos) verdanken wir durch die Vermittlung von Marianne Klaar wertvolle Auskünfte über die Frage, wie das französische Gedicht von Jean Richepin nach Lesbos gelangen und dort in die Volksüberlieferung eingehen konn­ te. Eine volkstümliche Übersetzung erschien danach in den 60er Jahren in irgendeiner populären griechischen Zeitschrift. Kurze Zeit später wurde bereits in der Stadt Mytilíni auf Lesbos ein von einem Philologie-Profes­ sor verfaßtes Drama mit dem Titel Das Herz der Mutter aufgeführt. Später hat sich mit dem Gedicht auch der bekannte griechische Schriftsteller und Dichter Ángelos Vláchos beschäftigt. Seine Nachdichtung lautet in einer 42 Kalloní auf Lesbos, Juli 1977. Aufzeichnung und Übersetzung Marianne Klaar.

Das Herz der Mutter

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von Marianne Klaar vorgenommenen freieren rhythmischen Übersetzung ins Deutsche so:     Das Herz der Mutter Zum neuen Freunde sprach die Zauberin: „Wünschst du, meine Liebe währ’ in Treue, so lauf hin und bring das Mutterherz, wirf es meinen Hunden vor als Fressen.“ Der Bursche, vor Liebessehnsucht ungestüm, im Rausche frevelhafter Leidenschaft, folgt dem Gebote der Vergötterten, stürzt auf die Mutter zu – ein Wildwütender. Ein scharfes Messer dringt erbarmungslos ins edle Herz, das ihn aufgezogen, aus der Wurzel reißt er das Mutterherz, läuft zur Neráida – die soll ihm trauen. Im stürmischen Drange tritt er fehl, stürzt hin, und das ausgeriss’ne Herz der Mutter rollt auf die Erde, in den Schlamm hinein. Und während das Herz durch die Pfütze rollt, spricht’s zum Sohne, und heiser es stöhnt: „Hast du dich irgendwo gestoßen, Sohn?“43

Zusammenfassend läßt sich aufgrund dieser Quellenlage auf der griechi­ schen Insel schließen, daß offenbar auch hier immer aufs neue die Lied­ einlage im Richepin-Roman von 1881 als traditionsanregend und -stiftend in Erscheinung tritt, ein neuer Beweis für die seit langem bekannte, aber gelegentlich noch immer angezweifelte partielle Abhängigkeit mündlicher Überlieferung (sei es als Erzählung, sei es als Lied) von literarischen Vor­ lagen. Den – vorläufig – letzten Stein zu diesem sicher sehr lückenhaften Mo­ saik der Wirkungsgeschichte eines literarischen Motivs hat erneut Alexan­ der Scheiber44 beigebracht, allerdings aus einem ganz anderen Kulturkreis. Der Beleg führt in die moderne amerikanische Literatur, genauer zu dem Schriftsteller Howard Melwin Fast (geb. 1924), lange Zeit einer der Wort­ führer der amerikanischen Linken. Er veröffentlichte 1952 seinen histo­ rischen Roman Spartacus der von der Niederschlagung des letzten großen Sklavenaufstandes im Altertum durch römische Truppen handelt. Gegen 43 Nach Ángelos Vlàchos. 44 Scheiber: A tale of the mother’s heart (wie Anm. 3), S. 72 und S. 86.

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Lied- und Erzählgeschichten

Ende des Romans kommt es auf dem Weg von Capua nach Rom in einer Sänfte zur Begegnung zwischen Gracchus und Cicero, in deren Verlauf ersterer dem letzteren die Geschichte vom Mutterherzen erzählt. „Dann erzähle ich dir meine Geschichte,“ lachte Gracchus. „Sie handelt von einer Mutter, die nur einen Sohn hatte. Er war groß, gut gewachsen und schön, und sie liebte ihn sehr.“ „Ich glaube, meine Mutter hat in mir immer nur ein Hindernis für ihren Ehrgeiz gesehen.“ „Meine Geschichte spielt vor langer Zeit, als Tugend immerhin noch möglich war. Diese Mutter also liebte ihren Sohn über alles. Dann verliebte er sich. Er verlor sein Herz an eine Frau, die ebenso schön wie schlecht war. Sie aber hatte für ihn überhaupt nichts übrig, keinen Blick, kein Kopfnicken, kein freundliches Wort.“ „Solche Frauen kenne ich,“ pflichtete Cicero bei. „Er sehnte sich also nach ihr. Einmal bot sich die Gelegenheit, ihr zu erzählen, was er alles für sie tun würde, was für Schlösser er bauen, welche Reichtümer er ihr bieten wolle. Sie erwiderte, daß ihr daran nicht das geringste läge. Statt dessen bat sie ihn um ein Geschenk, das er ihr ohne weiteres machen könne.“ „Ein einfaches Geschenk?“ fragte Cicero. Gracchus genoß es, wenn er eine Geschichte erzählte. Er erwog die Frage und nickte schließlich. „Ein ganz einfaches Geschenk. Sie bat den jungen Mann, ihr das Herz seiner Mutter zu bringen. Und er tat es. Er nahm ein Messer, stieß es seiner Mutter in die Brust und riß das Herz heraus. Dann packte ihn das Entset­ zen über seine Tat, und er lief durch den Wald, in dem die schlechte, aber schöne junge Frau lebte. Dabei stolperte er über eine Wurzel und stürzte. Das Herz fiel ihm aus der Hand. Er eilte, das kostbare Herz aufzuheben, das ihm die Liebe einer Frau erkaufen sollte, und als er sich herabbeugte, hörte er das Herz sagen: ‚Hast du dir weh getan, mein Kind?‘“45

Auch in diesem Falle handelt es sich wiederum um eine motivgenaue Wie­ dergabe nach Richepin. Scheiber hat den Autor brieflich nach der Quelle der Erzählung gefragt. Er war offenbar nicht der erste, der mit einer sol­ chen Frage zu Fast kam; er hat ihm am 23. März 1954 nämlich folgendes geantwortet: I have your postcard and your inquiry. I think you will be interested to know that I have had many inquiries from various parts of the world concerning this story. 45 Fast, Howard: Spartacus. Roman. Deutsch von Juergen Seuss. Frankfurt a.M., Köln 1978, S. 333f.

Das Herz der Mutter

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Some have written to me that it is an old Italian folk tale, others that it is a tale from the Talmud, and still others, that it owes its origin to ancient Indian folklore. I myself have no idea at all where I got it from. It is one of those stories you hear at one time or another and remember, and it has probably been told and retold for many thousands of years.46

Wir können nach diesem Streifzug durch die Bezeugung des Themas in Literatur und Volksdichtung nicht mehr an ein solch hohes Alter glauben. Wenn allerdings Scheiber47 der Vermutung Ausdruck gibt, daß das Motiv vom Mutterherzen „sicherlich noch weitere Stationen“ haben wird, so wird er zweifellos recht haben. Einer Reihe von weiteren Hinweisen auf die Wirkungsgeschichte des Liedes konnte aus Platz- und Zeitgründen nicht nachgegangen werden, so z.B. dem auf eine italienische Übersetzung von Giovanni Pascoli.48 Isidor Levin (Leningrad) hat mich früher darauf aufmerksam gemacht, daß das Thema vom Mutterherzen bei Leo Tolstoi belegt ist und daß das Lied durch Übersetzung aus dem Deutschen auch in Persien bekannt wurde.

46 Scheiber: A tale of the mother’s heart (wie Anm. 3), S. 86. 47 Scheiber: Alte Geschichten im neuen Gewande (wie Anm. 3), S. 280. 48 Sutton: The life and work of Jean Richepin (wie Anm. 14), S. 249 und Anm. 29.

Die Legende vom Elternmörder in Volkserzählung und Volksballade* In den vergangenen Jahren sind mehrere bedeutsame Abhandlungen zu dem Problem des Verhältnisses zwischen Volkserzählungen und erzäh­ lenden Liedern veröffentlicht worden.1 Erzähl- und Volksliedforschung bleibt jedoch die Aufgabe gestellt, auf diesem Gebiet der Volkskunde­ forschung noch zahlreiche Einzeluntersuchungen zu leisten und den oft verwickelten Beziehungen zwischen Sagen und Märchen einerseits und der Volkspoesie auf der anderen Seite nachzuspüren. Auch die vorlie­ gende Studie soll einen kleinen Beitrag dazu geben; ihr Anliegen ist es, die Verästelungen eines mittelalterlichen Legendenthemas literarischen Ursprungs bis hin in die Sagen und Lieder der europäischen Völker zu verfolgen. Als Ausgangspunkt wurden Materialien gewählt, die der ehe­ maligen deutschen Sprachinsel Gottschee entstammen. Der Jubilar, dem dieser Beitrag zugedacht ist, hat der Erforschung der Gottscheer Ballade in jahrzehntelanger Arbeit viele wichtige Spezialuntersuchungen gewid­ met, und der Verfasser weiß sich ihm für die empfangenen Anregungen und wertvollen Hinweise bei der gemeinsamen Arbeit am Deutschen Volksliedarchiv dankbar verbunden. Der ungedruckten Sammlung Das deutsche Volkslied in der Sprachinsel Gottschee (1913) von Hans Tschinkel, die sich im Besitz des Deutschen Volksliedarchivs in Freiburg i.Br. befindet, entnehmen wir das folgende im Jahre 1907 von Josef Perz in Bühel aufgezeichnete Lied.

∗ 1

Erstveröffentlichung in: Brednich, Rolf W. (Hg.): Festschrift zum 75. Geburtstag von Erich Seemann. Berlin 1964 (= Jahrbuch für Volksliedforschung, 9), S. 116–143. Taylor, Archer: The parallels between ballads and tales. In: Festschrift für Erich Seemann. Berlin 1964, S.  104–115; Siuts‚ Hinrich: Volksballaden - Volkserzählungen. Motiv- und Typenregister. In: Fabula 5 (1962), S. 72–89; Bošković-Stulli, Maja: Sižei narodnih bajki u hrvatskosrpskim epskim pjesmama. In: Narodna umjetnost 1. Zagreb 1962, S. 15–36.

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Lied- und Erzählgeschichten

B. Dər Shindar groß Noch du̇ riəfət mon dər Shindar groß: „Shȯ kehrət Aich hintərshi, Herr Jeshon Khrischt! Biə großai Shintə hon i getuən!“ Ar riəfət mon noch dai ondrə Vuhrt‚ dai dritte Vuhrt, dai virtə Vuhrt: „Biə großai Shintə hon i gətuən! Mein Vuetər u̇nd Muətər hon i dərschlugən, mein Shbeschtər u̇nd Pruədər ischt mər kammar intgean. In Vuətər hon i pəgrubn au̇sbeanik intər’n Stu̇bndrischibl, da Muətər hon i pəgrubn inbeanik intər’n Hau̇shdrischibl.“ Hintərshi kehrət shich Herr Jeshon Khrischt: „Du̇ hoscht dein drei Värlə uəngəshoait Du̇ hoscht dein drei Värlə uəngəkloait.“ Ashȯ do sprichət Herr Jeshon Khrischt: „Dȯrthin shihəscht du̇ a hoahəs Pārgle; Dȯrt bərscht du̇ vinnən an Ölpām griən; ahant khniənəscht du̇ untər’n Ölpām griən, ahant bərscht du̇ khniənən dreiindreißik Juhr,“ Benn u̇mmar hent kamən dreiindreißik Juhr‚ u̇nd hin ischt kamən Herr Jeshon Khrischt: „Biə geat’s‚ biə geat’s‚ mein Piəßar groß?“ „Aus guət, aus guət‚ Herr Jeshon Khrischt!“ „Stea au̇f‚ stea au̇f, mein Piəßar groß!“ „I mug əs barlein et au̇fstean; mein də Zeahlein hont əs Birzlein gəvossət, mein də Khniəlein hent mit Shontə varrishnt mein də Nägəłein treibənt Schißlinglein,

Die Legende vom Elternmörder in Volkserzählung und Volksballade

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af mein Kȯpfə bokschət stainein Miəsch.“ Ar nahmaťn har pei beißər Hont, ar vihraiťn au̇ßar an də Shu̇nnǝ khlur‚ ar ischt zǝrrishn biə Schtāb u̇nd Aschə; a beißai Tau̇bə vliəhət gegn Himmbl hoach. (Jeder Vers wird wiederholt; darauf folgt immer der Kehrreim: O Jeshisch, purmharzigər!) Übertragung: Herr Jesus ziehet am Meere hinauf; Herr Jesus ziehet am Meere hinauf; O Jesus, barmherziger! Nach ruft ihm da der Sünder groß: „So kehrt Euch zurück, Herr Jesus Christ! Wie große Sünden hab’ ich getan!“ Er rufet ihm nach das andre Mal, das dritte Mal, das vierte Mal: „Wie große Sünden hab’ ich getan! Mein’ Vater und Mutter hab’ ich erschlagen, Schwester und Bruder ist mir kaum entkommen. Den Vater hab’ ich begraben außerhalb unter der Stubentürschwelle, die Mutter hab’ ich begraben innerhalb unter der Haustürschwelle.“ Zurück da kehrt sich Herr Jesus Christ: „Du hast denn dreimal angesagt, du hast denn dreimal angeklagt.“ Also da spricht Herr Jesus Christ: „Dort da siehst du ein hohes Berglein; dort wirst du finden einen Ölbaum grün; dort knieest du unter dem Ölbaum grün, dort wirst du knieen dreiunddreißig Jahr’.“ Als heran sind kommen dreiunddreißig Jahr’, und hin ist kommen Herr Jesus Christ: „Wie geht’s, wie geht’s, mein Büßer groß?“ „Alles gut, alles gut, Herr Jesus Christ!“ „Steh auf, steh auf, mein Büßer groß!“ „Ich kann es wahrlich nicht aufstehn; meine Zehen haben Würzlein gefaßt, meine Knie sind mit Sand verschüttet, meine Finger treiben Schößlinge, auf meinem Kopfe wächst steinern Moos.“ Er nimmt ihn her bei weißer Hand, er führt ihn heraus an die Sonne klar, er ist zerfallen wie Staub und Asche; eine weiße Taube fliegt gegen Himmel hoch. (= DVA A 109541)

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Lied- und Erzählgeschichten

Das Lied liegt uns noch in einigen weiteren Aufzeichnungen aus der Gott­ schee vor. Die älteste bekannt gewordene Fassung steht in Hauffens Buch über die deutsche Sprachinsel2 (*A). Die Sammlung Tschinkel enthält ins­ gesamt drei Varianten: außer der oben abgedruckten Fassung (*B) noch folgende: *C, aufgezeichnet 1907 von Wilhelm Tschinkel in Oberpock­ stein, DVA 109 542; D, aufgezeichnet 1912 von Josef Kosar in Hohen­ egg, DVA A 109 543. Die vier Fassungen gehören nach Text und Melodie ziemlich eng zusammen. Alle, außer der hier wiedergegebenen, haben am Anfang den Gottscheer Normaleingang „Bie vrie ischt auf dar Shindar groß“. Kurzgefaßt ist dies der Inhalt aller Aufzeichnungen: Ein Sünder beichtet Jesus oder dem lieben Gott, er habe seine Eltern erschlagen und unter der Türschwelle vergraben; seine Geschwister seien ihm kaum entgangen. Dem Sünder wird als Buße auferlegt, dreiunddreißig Jahre lang auf einem Berg unter einem Ölbaum zu knien. Nach Ablauf der dreiunddreißig Jahre kommt Jesus zu dem Knienden und fordert ihn auf, sich zu erheben. Der Sünder kann dem Gebot jedoch nicht folgen, weil seine Zehen Wurzeln gefaßt und seine Finger Schößlinge getrieben haben; sein Körper ist mit Sand und sein Haupt mit Moos bedeckt. Jesus vergibt ihm seine Sünden, nimmt ihn bei der Hand und führt ihn in den Himmel. Wir wollen bei diesem Lied unsere besondere Aufmerksamkeit dem Motiv vom Elternmord zuwenden. Dieses Motiv steht hier keineswegs im Mittelpunkt des Geschehens; der Mord an Vater und Mutter wird nur bei­ läufig neben dem Geschwistermord erwähnt. Wir erfahren nichts über die Gründe, die zu der Untat führten, keine Einzelheiten über die Ausführung des Verbrechens. Im Vordergrund des Interesses steht die Buße, die der „große Sünder“ auf sich nehmen muß. Die Handlung verweilt ausführlich bei den Folgen des dreiunddreißig Jahre währenden Büßens unter dem Öl­ baum. Dieses erstaunliche Geschehen, besonders die schließlich gewährte Verzeihung und Erhöhung des Sünders, bilden den Kern der Gottscheer Ballade. Auch ohne das Motiv des Eltern- und Geschwistermordes würde diese Ballade noch nicht unvollständig und bruchstückhaft wirken, und tat­ sächlich ist in der Steiermark eine Fassung des Liedes aufgezeichnet wor­ den, in der jegliche Angabe darüber fehlt, worin die Sünde bestanden hat, die eine solch schwere Buße erfordert.

2

Hauffen, Adolf: Die deutsche Sprachinsel Gottschee. Graz 1895, S. 222f., Nr. 26; vgl. die Anmerkung S. 397f. Aufgezeichnet von Josef Perz in Lichtenbach, mit Melodie und Vari­ anten einer zweiten von Perz mitgeteilten Fassung. Abdruck bei Marolt, France: Slovenske prvine v kočevski ljudski pesmi. In: Kočevski zbornik. Ljubljana 1939, S. 230f.

Die Legende vom Elternmörder in Volkserzählung und Volksballade

1.

Herr Jesus wollt über die Brücke ausgehn da siacht er ein armen Sünder dort stehn.

rep.

2.

O, Sünder o, Sünder geh weg von mir, du bist es nit wert daß ich rede mit dir.

rep.

3.

O, Sünder o, Sünder sollst in den Wald hinein gehn‚ und unter ein dürren Baum zuwi knien. rep.

4.

Da sollst du knien a sieben Jahr bis das der dürre Bam grun ausschlagt.

5.

Der Baum, der Baum fangt zum Grünen an, int uma a grüne Gras und obn uma a grüns Laub bei der Mitt wachsen heraus drei goldene Zweig.

6.

O Sünder o Sünder sollst auferstehn und sollst glei wieder nach Hause ham gehn.

rep.

7.

Wie wir den ich jetzt auferstehn bin i mit Mias verwachsen so schön.

rep.

8.

Der Sünder, der Sünder wollt jetzt auferstehn, zu Staub und zu Asche that er sich zergehn.

9.

Da flieget heraus ein Täuberl schneeweiß und flieget in das himlische Parideis.



263

rep.

10. Von Parideis in’s Himelreich Gott Vater Gott Sohn, und Gott heiliger Geist. rep. (DVA A 101063. Aus einem nicht datierten hdschr. Liederheft der Maria Fölzer‚ Bauerntochter a.d. Prossen bei Eisenerz/Steiermark)3

Trotzdem gehört dieser steirische Beleg in die enge Nachbarschaft zu den Gottscheer Zeugnissen, was besonders beim Vergleich der Schlußzeilen mit denen der abgedruckten Gottscheer Variante deutlich wird.

3

Eine kürzere mundartliche Variante dieses Liedes aus der Obersteiermark (Das deutsche Volkslied 32 [1930], S. 80) ist im Deutschen Volksliedwerk, Bd. 1, S. 152 unter Nr. 15 „Der Tannhäuser“ als Fassung 7 (VV) abgedruckt. Sie wird dort als letzter Nachklang der Tannhäuser-Ballade bezeichnet. Ähnlich bei Kretzenbacher, Leopold: Der Tannhäuser in der Volksdichtung Österreichs. In: Das deutsche Volkslied 48 (1947), S. 5. Nach unserer Meinung handelt es sich um ein selbständiges Lied, das in keiner Beziehung zur Tannhäu­ ser-Ballade steht.

264

Lied- und Erzählgeschichten

Der zweite Teil der Gottscheer Ballade, in dem von der Buße des Sün­ ders die Rede ist, findet sich auch in der Prosaüberlieferung der Sprach­ insel. In einer von Wilhelm Tschinkel4 mitgeteilten Legende erfährt ein Räuberhauptmann, welches Schicksal ihm in der Hölle bevorsteht: er wird in tausend Stücke zerhackt und in einem Kessel mit brodelndem Öl gesot­ ten und gebraten werden. Um diesen schrecklichen Qualen zu entgehen, muß er folgende Buße auf sich nehmen: er muß den Stock, mit dem er den ersten Menschen erschlagen hat, einpflanzen und so lange davor knien und beten, bis dieser ausschlägt und Äpfel trägt. Der Räuberhauptmann kniet davor und betet, bis sein Bart zur Erde reicht und seine Knie mit der Erde verwachsen sind. Als der erste Apfel zur Erde fällt, sinkt der Räuber­ hauptmann tot nieder. Eine weiße Taube fliegt zum Himmel, die Seele des Räubers ist gerettet. Auch sonst ist das Motiv vom grünenden Stab in der Volksüberlieferung sehr verbreitet (Tannhäuser-Ballade, Legende von den zwei Erzsündern). In der Gottscheer Überlieferung vom großen Sünder wird das Thema vom Elternmord und seiner Buße behandelt. Ehe wir diesen Stoff weiter in die europäische Volksüberlieferung hinein verfolgen, gilt es, der unmit­ telbaren Herkunft des Gottscheer Liedes nachzugehen. Dabei stellen wir fest, daß wir der Gottscheer Tradition vom Elternmörder auch bei den Slowenen wiederbegegnen. Bei der Behandlung vieler Gottscheer Balladen im Deutschen Volksliedwerk stellte sich heraus, daß slawische und deut­ sche Überlieferung vielfach stark aufeinander eingewirkt haben. Dies ist auch bei dem vorliegenden Stoff der Fall. Das Lied vom großen Sünder ist sowohl bei den Slowenen wie bei den Deutschen der Gottschee heimisch. Schon Adolf Hauffen5 hat auf ein slowenisches Lied gleichen Inhalts in der Sammlung von Anton Janežič6 hingewiesen. Im ersten Band der slowe­ nischen Volksliedsammlung Karol Štrekeljs7 sind unter dem Titel Spokorjeni grešnik bereits sechs Fassungen des Liedes abgedruckt; France Marolt hat im Kočevski Zbornik 1939 eine weitere 1931 von ihm in Bistrica aufge­ zeichnete Variante nachgetragen.8 Das Glasbeno narodopisni institut in Ljubljana bewahrt außerdem noch weitere dreißig Belege mit Melodien in seinem handschriftlichen Ma­

4

Tschinkel, Wilhelm: Gottscheer Volkstum. Gottschee 1931, S. 128–130; Variante zu AT 756 B, vgl. Andrejev, Nikolaj Petrowitsch: Die Legende vom Räuber Madej. Helsinki 1927 (FFC 69). 5 Hauffen: Sprachinsel Gottschee (wie Anm. 2), S. 397. 6 Janežič, Anton: Cvetje slovanskega naroda I. Celovec 1852, Nr. 27. 7 Štrekelj, Karol: Slovenske narodne pjesme I. Ljubljana 1895–1898, S. 493–498, Nr. 484– 490. 8 Marolt, France: Slovenske prvine v kočevski ljudski pesmi. Ljublijana 1939, S. 228f.

Die Legende vom Elternmörder in Volkserzählung und Volksballade

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terial auf.9 Kürzlich hat Josip Dravec10 drei neue Varianten aus dem Prek­ mur-Gebiet publiziert. Deutsche und slowenische Überlieferung gleichen sich in den älteren Aufzeichnungen, von wenigen Einzelheiten abgesehen. Am nächsten steht dem Gottscheer Lied Štrekelj Nr. 485, S. 494f. Auch im slowenischen Lied fährt Jesus über das Meer, und der Sünder ruft ihn dreimal an, er möge stehenbleiben, damit er ihm seine Sünden bekennen könne: er habe Vater und Mutter erschlagen, der Bruder sei ihm kaum entkommen. Zur Strafe muß er unter einem dürren Baum knien, bis dieser wieder grünt. Im sechsten Jahr geschieht dies. Die Zahl 33 findet sich im Slowenischen nicht.11 Jesus berührt den Sünder, der daraufhin entschläft. Eine weiße Taube fliegt auf und setzt sich auf Jesu Schultern. Die Frage nach dem Ursprung dieses Liedes wird sich nicht leicht beantworten lassen. Auf Grund der zahlenmäßig reichen slowenischen Überlieferung könnte man zu dem Schluß kommen, das Lied vom reu­ igen Sünder sei slowenischen Ursprungs und erst sekundär in die Gott­ schee übertragen worden. Dies nahm auch Hans Tschinkel im Kommentar seiner handschriftlichen Sammlung an. Umgekehrt wäre aber auch eine Wanderung des Liedes von den Deutschen zu den Slowenen denkbar, vor allem deshalb, weil die deutsche Überlieferung nicht auf die Gottschee be­ schränkt ist. Die Aufzeichnungen aus der Steiermark sind möglicherweise ein letztes Zeugnis für das ehemals auch im binnendeutschen Sprachgebiet verbreitete Lied. Ähnliche Vorsicht ist bei der Beurteilung der Melodien angebracht.12 Von den Gottscheer Weisen des Liedes befriedigt am ehesten die oben als B abgedruckte; dagegen scheint C eine zersungene Form zu sein, die sich nur fragmentarisch erhalten hat, und in der aus der Ungewiß­ heit heraus – eine neue Wendung Eingang fand. Auch die Melodie A bei Hauffen Nr. 26 scheint nicht allzufest gefügt. Zweifellos besteht eine gene­ tische Verbindung zwischen den Gottscheer Melodien und der bei France Marolt13 wiedergegebenen Weise. Aus der Ähnlichkeit der Melodien kann jedoch nicht voreilig auf eine Übernahme aus der einen oder anderen Rich­ tung geschlossen werden. Melodien, wie die bei Hauffen (Nr. 26) über­

9 Dr. Zmaga Kumer (Ljubljana) danke ich für die freundliche Mitteilung. 10 Dravec, Josip: Glasbena folklora Prekmurja. Pesmi. Ljubljana 1957, S. 287f. (Text); S. 43, Nr. 131; S. 34, Nr. 99 u. S. 18, Nr. 44 (Melodien). 11 Diese Zahl enthält vielleicht einen Hinweis auf die 33 Jahre, die Christus auf der Erde weilte. Sie kommt auch in einem Passionslied aus der Iglau vor: „Dreiunddreißig Jahr war’s eben als Jesus an der Erd hat g’lebet“. Tonaufnahme im Archiv des Instituts für ostdeutsche Volkskunde, Bd.  277, 1–70, freundliche Mitteilung von Prof. Dr. Johannes Künzig (Frei­ burg i. Br.). 12 Für freundliche Hinweise bin ich meinem Kollegen Dr. Wolfgang Suppan zu Dank verbun­ den. 13 Marolt: Slovenske prvine v kočevski ljudski pesmi (wie Anm. 8), S. 229.

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lieferte oder die unter B abgedruckte, sind einerseits auch im deutschen Liedgut denkbar, andererseits finden sich auch in slawischen Sammlungen mehrere Parallelen. Besonders eingängig ist etwa der Vergleich zwischen B und einer Melodie bei Žganec.14

Der Stoff dieses slowenisch-gottscheeischen Liedes vom Elternmord und seiner Sühne durch jahrelange Buße erinnert uns sogleich an verschiedene mittelalterliche Legendenstoffe, in denen Menschen große und untilgbar scheinende Schuld auf sich laden und durch Reue und übermenschliche Buße doch noch die göttliche Vergebung erlangen, ja sogar zu Heiligen erhöht werden. Man wird vor allem an die Legende vom hl. Gregorius denken, das Kind zweier in unkeuscher Liebe zueinander entbrannten Geschwister, das seine eigene Mutter heiratet und nach langer Buße zum Papst berufen wird.15 In diesen Zusammenhang mittelalterlicher Inzester­ 14 Žganec‚ Vinko: Hrvatske narodne popijevke iz Koprivnice i okoline. Zagreb 1962, Melodie Nr. 119. 15 Seelisch, Adolf: Die Gregoriuslegende. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 19 (1887), S. 385–421; AT 933.

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zählungen, von denen Otto Rank16 eine eindrucksvolle Zusammenstellung gegeben hat, vermögen wir auch die Überlieferungen vom Elternmörder zu stellen. Die Gesta Romanorum,17 die Legenda aurea des Jacobus de Vora­ gine18 und viele andere mittelalterliche Literaturdenkmäler enthalten die folgende Legende von dem Elternmörder Julian: Ein Ritter namens Julian will auf der Jagd einen Hirsch erschießen. Das Tier wendet sich ihm zu und sagt: „Du verfolgst mich, der du Vater und Mutter töten wirst?“ Julian will diesem Schicksal entgehen, zieht in die Welt und heiratet in einer anderen Stadt. Seine Eltern gelangen auf der Suche nach ihrem Sohn in sein Haus. Da Julian nicht zu Hause ist, werden sie von seiner Frau bewirtet; sie berei­ tet ihnen die Ehebetten zum Ausruhen und begibt sich zur Kirche. Julian kehrt zurück, findet die beiden schlafend im Bett und denkt, seine Frau schlafe mit einem Liebhaber; er zieht sein Schwert und tötet die beiden. Als seine Frau nach Hause zurückkehrt, erfährt er, daß er seine Eltern ge­ tötet hat und daß die Voraussage des Hirsches somit in Erfüllung gegangen ist. Die Eheleute ziehen gemeinsam an einen großen Fluß und erbauen ein Hospital; dort bewirten sie vorüberziehende Pilger, Arme und Kranke. Eines Nachts erscheint Jesus in Gestalt eines Aussätzigen und verkündet ihnen: „Juliane, dominus misit me ad te‚ mandans tibi, quod tuam peniten­ ciam acceptavit et ambo post modicum in domino requescetis …“.19 Unsere Aufgabe wird es im folgenden sein, die Entwicklung dieser literarischen Legende des christlichen Mittelalters bis hin zu den südost­ europäischen Volkserzählungen und Volksballaden zu verfolgen. Auf den ersten Blick möchte es scheinen, als ob zwischen der wiedergegebenen Ju­ lianuslegende und den slowenisch-gottscheeischen Überlieferungen vom großen Sünder keine direkten Beziehungen existierten. Um so enger rüc­ ken beide Bereiche zusammen, wenn wir an eine zweite mittelalterliche Gestaltung des Elternmörderstoffes erinnern: die Geschichte des Kauf­ mannes Baldus von Sens. Derselbe war in Spanien zu Reichtum gelangt und wurde von seinen Eltern gesucht. Als Baldus nach Hause kam, glaubte er – auf Grund einer Eingebung des Teufels – seine Frau und deren Liebhaber vor sich zu haben, und tötete seine Eltern. Er wallfahrtete nach Jerusalem; sein Bischof legte ihm zur Buße auf, in die Einsamkeit zu gehen und dort einen dürren Stab einzupflanzen und zu begießen, bis er blühe. Zum Zei­ chen, daß er Vergebung erlangt hat, tritt dieses Wunder ein, und Baldus 16 Rank, Otto: Das Inzest-Motiv in Dichtung und Sage. Grundzüge einer Psychologie des dichterischen Schaffens. 2. Aufl. Leipzig, Wien 1926. 17 Oesterley, Hermann (Hg.): Gesta Romanorum. Berlin 1872, S. 311–313. 18 Gräße, Jac. Georg Theodor (Hg.): Jacobus de Voragine. Legenda aurea. Dresden, Leipzig 1843, S. 142f.; vgl. Benz, Richard: Die Legenda aurea des Jacobus de Voragine in deutscher Übersetzung. Heidelberg 1963, S. 166–168. 19 Oesterley: Gesta Romanorum (wie Anm. 17), S. 311ff.

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stirbt.20 An diesem Beispiel wird bereits folgende Tatsache sehr deutlich: Die Legende vom Elternmörder besteht in der Regel aus zwei Teilen, de­ ren erster übereinstimmend von dem Frevel eines Menschen berichtet. Im zweiten Teil dagegen können verschiedene und voneinander abweichende Erzählungen von der Sühne dieses Verbrechens ihren Platz finden. In der Überlieferung unserer Legende ist der Stoff vom Elternmörder meistens eng mit der Buße am Flußübergang verbunden; daher wird sie auch Le­ gende von Julian dem Gastfreien (englisch: Julian the Ferryman, italien.: Giuliano l’Ospitaliere) genannt. In der slowenischen Ballade vom Grešnik und in dem Gottscheer Lied vom großen Sünder ist offenbar eine Ände­ rung eingetreten, vergleichbar derjenigen in der Legende von Baldus von Sens. Der Bericht über die Buße hat in dem Liede die Oberhand gewonnen und den ersten Teil vom Elternmord so weit zurückgedrängt, daß nur noch der Frevel als solcher, aber ohne nähere Begleitumstände, erwähnt wird. Solchen Änderungen und Neuformungen werden wir immer wieder be­ gegnen, wenn wir nunmehr der Entwicklungsgeschichte der Legende vom Elternmörder nachgehen. In der Form, wie sie uns in der Legenda aurea und in den Gesta Romanorum gegenübertritt, ist sie in die Acta Sanctorum übernommen wor­ den.21 Durch viele mittelalterliche und neuzeitliche Literaturdenkmäler hat sie weltweite literarische Verbreitung gefunden.22 Wir finden sie z.B. im Großen Seelentrost,23 in Valentin Schumanns Nachtbüchlein von 155924 oder in der Lauberhütt von Abraham a Sancta Clara.25 Von den dichterischen Be­ arbeitungen sind am bekanntesten geworden die dramatische Gestaltung bei Lope de Vega26 und die 1877 erschienene Légende de s. Julien l’hospitalier

20 Günter, Heinrich: Psychologie der Legende. Freiburg i.Br. 1949, S. 54 (um 600). 21 Acta Sanctorum, 2. Januar, S. 974. 22 Nachweise bei Oesterley: Gesta Romanorum (wie Anm. 17), S. 715; vgl. Bolte‚ Johannes und Freys, Jakob: Gartengesellschaft (1556). Tübingen 1896 (= Bibliothek des Litterari­ schen Vereins in Stuttgart, 209), S. 280. 23 Schmitt, Margarete: Der Große Seelentrost. Ein niederdeutsches Erbauungsbuch des 14. Jahrhunderts. Köln, Graz 1959 (= Niederdeutsche Studien, 5), S. 139–141, Exempel Nr. 17 zum 4. Gebot. 24 Bolte, Johannes (Hg.): Valentin Schumanns Nachtbüchlein (1559). Tübingen 1893 (= Bi­ bliothek des Litterarischen Vereins in Stuttgart, 197), S. 44–47, Nr. 14; vgl. Wiederabdruck bei Bobertag, Felix: Vierhundert Schwänke des 16. Jahrhunderts. Berlin, Stuttgart 1887 (= Deutsche National-Literatur, Bd. 24), S. 281–284, Nr. 323. 25 Abraham a Sancta Clara: Abrahamische Lauber-Hůtt. Ein Tisch mit Speisen in der Mitt … Dritter Theil. Wien, Nürnberg 1723, S. 346–348. 26 Vega, Lope de: „El animal profeta“; vgl. Schack, Adolf Friedrich von: Die dramatische Literatur in Spanien. 2. Aufl. Bd. 2. 1854, S. 386; vgl. Tobler, Adolf: Zur Legende vom hl. Julianus I. In: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen 100 (1898), S. 293–310.

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von Gustave Flaubert.27 Der hl. Julian stand in früheren Zeiten in hohem Ansehen; er wurde gemäß seiner Legende besonders von Fahrenden an­ gerufen, die eine Herberge suchten.28 In den romanischen Ländern sind die Hilfe des hl. Julian bei der Quartiersuche und seine Gastfreundschaft geradezu sprichwörtlich geworden. So richtet in einer Erzählung in Boc­ caccios Dekamerone (II, 2)29 ein Mann sein Vertrauen auf den Heiligen und erhält eine gute Herberge, während die Räuber, die ihn ausgeplündert und wegen seines Vertrauens verspottet hatten, bald darauf gefangen und ge­ hängt werden. Die englische Legende vom hl. Julian führt den Titel The Gode Herberjour.30 Auf das Weiterleben des Stoffes in der Volksüberlieferung Europas ist bisher noch wenig geachtet worden. Im Märchentypenkatalog von Thompson ist die Erzählung noch nicht erfaßt; sie wird in Zukunft am besten unter der von mir an anderer Stelle vorgeschlagenen Typen-Nr. 931 C* geführt.31 Die volkstümlichen Nachkömmlinge der Legende sind ähn­ lich wie die oben behandelten südosteuropäischen Lieder so sehr zum Be­ standteil lebendigen Erzählens und Singens geworden, daß oft nichts mehr auf ihre Herkunft hindeutet. Nur so ist es verständlich, daß bei der Unter­ suchung der volkstümlichen Überlieferung vom Elternmörder mehrfach offensichtlich falsche Feststellungen getroffen wurden. Ivan Grafenauer z.B., dem 1944 einige slowenische Aufzeichnungen vorlagen, hat vermutet, daß in ihnen das Motiv des Vatermordes aus der Ödipus-Sage übernommen und verdoppelt worden sei, und daß der so umgeformte Stoff durch die alteingesessenen romanisch-walachischen Stämme bis in die Gegenwart überliefert wurde.32 Dieser Auffassung wird man nicht zustimmen können. Bei der Beurteilung solcher Abhängigkeiten ist größte Vorsicht geboten. Es geht nicht an, jede volkstümlich gewordene Erzählung von Elternmord oder Inzest unbesehen als Nachfahren antiker Tradition in Anspruch zu nehmen.33 Die Typen-Nr. AT 931 ist eine Sammel-Nummer für die he­ terogensten Volkserzählungen verschiedenster Herkunft, die sämtlich 27 Flaubert, Gustave: Die Legende von St. Julianus, dem Hospitaliter. Neustadt/Haardt 1947 (= Musenreihe, 1); vgl. Tobler‚ Adolf: Zur Legende vom hl. Julianus II. In: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen 101 (1889), S. 99–110. 28 Graf, Arturo: Miti, leggende e superstizioni del Medio Evo II. Torino 1893, S. 206–319. 29 Boccaccio, Giovanni di: Das Dekameron. Übertragung von Albert Wesselski. Leipzig 1921, S. 10–110. 30 Liebrecht, Felix: John Dunlop’s Geschichte der Prosadichtungen. Berlin 1851, S. 222. 31 Brednich, Rolf Wilhelm: Volkserzählungen und Volksglaube von den Schicksalsfrauen. Helsinki 1964 (= Folklore Fellows Communications, 193). 32 Grafenauer, Ivan: Slovensko-kajkavske bajike o Rojenicah-Sojenicah. In: Slovenski Etnolog 17 (1944), S. 38. 33 So etwa Thompson, Stith: The Folk-tale. New York 1951, S. 141; vgl. Megas, G. A. In: Epeteris tou laographikou Archeiou 3–4. Athen 1941–1942, S. 19, Anm. 1 und 2.

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sehr gewissenhaft auf ihren Motivbestand und möglichen Ursprung hin untersucht werden müssen. Dabei erweist es sich, daß die meisten Zeug­ nisse volkläufiger Elternmord- und Inzestgeschichten auf mittelalterliche Legendenstoffe zurückgeführt werden können.34 Das Mittelalter kannte zahlreiche Legenden, in denen die Motive des Eltern- oder Vatermordes, der Mutterheirat etc. verwendet worden sind: z.B. die Legende von Judas Ischariot,35 die Legende vom hl. Andreas36 oder die Gregorius-Legende (AT 933). Die Abhängigkeit dieser Legendenstoffe von der antiken Ödipustra­ dition ist allerdings ein anderes und ebenso verwickeltes Problem. Zwei­ fellos sind sie teilweise der antiken Vorlage nachgebildet, doch werden sich die genauen Abhängigkeitsverhältnisse wohl kaum je mit Sicherheit ergründen lassen. Für den Zusammenhang der vorliegenden Untersu­ chung ist lediglich von Interesse, daß die Elternmörder-Legende zwar in den Umkreis mittelalterlicher Elternmord- und Inzesterzählungen ge­ hört, unter ihnen aber eine deutliche Ausnahmestellung einnimmt und mit dem Ödipus-Thema nur das Motiv des Vatermordes gemeinsam hat. Mit den andern Legenden stimmt sie in der Sinngebung überein: Der Mensch, der große und untilgbare Schuld auf sich geladen hat, kann durch Reue und Buße doch noch die göttliche Vergebung erlangen und zum Heiligen erhöht werden. Im Folgenden sollen die volkstümlichen Überlieferungen, die sich aus der mittelalterlichen Elternmörder-Legen­ de herleiten, vorgelegt werden. Die volkstümlichen Varianten Am Übergang zwischen Hoch- und Volksliteratur steht ein Meisterlied, das auf einem Nürnberger Flugblatt überliefert ist und den Inhalt der Legende bereits ganz auf die Hauptmotive reduziert. Der zweite Teil mit der Buße und Erhöhung des hl. Julianus, der hier nur noch Ritter Julianus genannt wird, fehlt bereits.

34 Brednich: Volkserzählungen und Volksglaube (wie Anm. 31), Teil I, Kap. D. 35 Ebd., als AT 931 A* eingereiht. 36 Ebd., als AT 931 B* eingereiht.

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1. JVlianus ein junger Ritter wardt Der im Wald jaget Sein hund triben in einen ring Ein schȯnen Hirschen den er fieng Der sprach/ du durch ȧchtest mich jetzt geleich/ Wie du ertȯden wirst vatter vnd mutter dein. Als der Ritter das hȯrt erschrack er hart War gar verzaget/ Vnd wolt entrinnen diser schandt

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Zog heimlich auß seim vatterlandt Vnd zog fern in ein anders ku̇nigreich Dient eim Herrn fleissig nach dem willen sein. Welcher jm gab Mit reicher hab/ Ein Weyb/vnd jhn fertiget ab Auff ein Schloß das er auff jn hett gespart/ Sein Vatter klaget Vnd sein Mutter ein lange zeit Zogen vmb inn dem lande weit Suchten jren son mit hertzlicher peyn. 2. Zu letzt man jn ein schloß anzeigen thet Sie beyde kamen Hinauff mit grossen frewden nun Aber Julianus jr Sun War nit daheim die selbige nacht Allein sein Weib/welche jhn groß Ehr entpot. Die fraw jr eigen bett bereytet hett Sie beyde sammen Darein legen hieß in grosser rhu Zu morgens als es taget fru Gieng sie ind Kirchen mit grosser andacht Dieweil Julianus geritten kam ohn spot. Bald gieng ein Die Kammer sein Meint sein Weib zu finden allein Sach er die zwey ligen in seinem betth/ Vor zorens flammen Meint er es wer ein ander Man Der leg bey seiner Frawen schon Zog er auß sein schwerdt vnnd sie beyd stach zu todt 3. Als die fraw kam fragt er wer sind die zwey In vnserm bette? Sie sprach dein Vatter vnd Mutter Haben dich gesucht weit vmbher Da erschrack er/ dacht an des Hirschen wort Raufft auß sein har/weinet vnd wand sein hend.

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Fieng an ein kleglich jem̄erlich geschrey Sprach warumb thete Ich erwu̇rgen in grosser pein Den Vatter ynd die Mutter mein Nun wil ich in das ellendt reysen fort Sie sprach ich laß dich nit allein in das ellendt. Weil ich fu̇rwar Inn frewden gar Bey dir bin/so ists billich zwar Das ich in den nȯten auch bey dir sey/ Vnd auff der stette Zogen sie in das ellendt hin Also bringt offt ein jȧher sinn zu letzt auch mit jhm gar ein trawrigkliches endt.37

Eine der Legende von Julianus sehr nahestehende volkstümliche Variante ist in Wolfs Sammlung niederländischer Sagen enthalten.38 Abgesehen davon, daß die Aufzeichnung durch Nennung einiger südniederländischer Ortsund Flußnamen mit einem gewissen Lokalkolorit versehen wurde, ist sie eine genaue und ausführliche Nacherzählung der Legende. Ähnlich verhält es sich mit einer von Aurelio de Llano Roza de Ampudia in Asturien in Spanien aufgezeichneten Variante.39 Nur der Schluß weicht ab: die Buße und Erhöhung des Frevlers fehlen; er fällt tot um, als er von seiner Frau erfährt, daß er seine Eltern umgebracht hat. Neuerdings ist der gleiche Stoff auch in der Volksüberlieferung der Zigeuner aufgetaucht. In der Tradition der französischen Kaldaraš-Zigeuner, zu denen auch der bekannte Zigeuner-Erzähler Matéo Maximoff gehört,40 fand sich die Elternmörder-Erzählung in eigentümlicher mythologischer Einkleidung. Die Legende wird von dem Stammesoberen Zanko zur Er­ 37 Biblioteca Vaticana, Pal. V, 432 = DVA Ph 502 / 1, 2. Staatsbibliothek Berlin Yd 8546, Ab­ druck bei Bolte, Johannes (Hg.): Valentin Schumanns Nachtbüchlein (1559) (wie Anm. 24), S. 367–369. Dort findet sich die Angabe: „Gedruckt zu Nürnberg durch Valentin Newber“ (Mitte des 16. Jahrh.). 38 Wolf, Johann Wilhelm: Niederländische Sagen. Leipzig 1843 (Quelle: Feuilleton der Eman­ cipation, März 1834), S. 231–237, Nr. 149. 39 Ampudia, Aurelio de Llano Roza de: Cuentos asturianos. Madrid 1925, Nr. 53; vgl. Boggs, Ralph Steele: Index of Spanish folktales. Helsinki 1930, Typ Nr. 931 *A (= FFC 90); vgl. Busk, R. H.: Folk-lore of Rome. Collected by word of mouth from the people. London 1874, S. 203–208. 40 Maximoff, Matéo: Les Ursitory. Paris 1947; aus dem Französischen übertragen von Walter Fabian. Zürich 1954; vgl. ders.: Le Prix de la Liberté; aus dem Französischen übertragen von B. Jolles. Zürich 1955; vgl. ders.: Savina. Paris 1957; vgl. Brednich, Rolf Wilhelm: Les sources folkloriques du roman tsigane „Les Ursitory”, de Matéo Maximoif. In: Études Tsiganes 9, H. 3. Paris 1963, S. 5–16.

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klärung dafür erzählt, warum dem (hl.) Ilia die Macht über Donner und Blitz zugeschrieben wird.41 Ilia begegnet bei der Rückkehr von der Getrei­ demühle zweimal einer Schar „Benga“-Geister, die sich betrunken stellen, tanzen, schreien, lachen und behaupten, von einer Hochzeit zu kommen. Bei der zweiten Begegnung sagen sie Ilia‚ die Hochzeit habe in seinem Dorf stattgefunden, seine eigene Frau habe sich wiederverheiratet und schlafe mit ihrem neuen Mann im Gartenhaus. Ilia treibt eilig seine Ochsen nach Hause, findet im Pavillon richtig die beiden Liebenden und haut sie mit der Axt mitten entzwei. Es sind seine Eltern. Nachdem er sie mit Hilfe von Taubenfedern wiederbelebt hat, tröstet ihn sein Vater und verspricht ihm die Erfüllung eines Wunsches. Ilia bittet seinen Vater Proroc um die Macht über den Donner und um seinen Spieß. Seit dieser Zeit verfolgt er mit den beiden Waffen unermüdlich die Bengas. Sein Zorn droht das Gleichgewicht in der Welt zu zerstören; deshalb nehmen ihm seine Eltern nacheinander ein Bein, einen Arm und schließlich ein Auge. Von der zugrunde liegenden Legende ist hier nur das Kernmotiv vom unwissentlichen Mord an den Eltern erhalten. Prophezeiung und Flucht aus dem Elternhaus fehlen. In dieser Form wird die Erzählung von den Kalderaš-Zigeunern aus ihren früheren Wohngebieten auf dem Balkan mit nach Frankreich gebracht worden sein. Auf der nördlichen Balkanhalbinsel hat die Erzählung vom Elternmörder weitere Verbreitung gefunden und ist auf verschiedene Heiligengestalten übertragen worden. Vom hl. Elias wird sie auch in Rumänien erzählt. Der heilige Elias war einst Husar in Diensten des Kaisers, da log ihm der Teufel vor, sein leiblicher Vater halte es mit seiner Frau. Sofort eilte der hitzköpfige Heili­ ge noch in der Nacht nach Hause und fand wirklich einen Mann und eine Frau im Bette beisammen. Voll blinder Wut erschlug er sie auf der Stelle, als er aber Licht herbei brachte, erkannte er seinen schrecklichen Irrtum, denn er hatte Vater und Mutter gemordet. Verzweifelnd floh er und fand nirgends mehr Ruhe. Auf seinen Wegen begegnete ihm der Herr in Begleitung des heiligen Petrus, die er aber beide nicht erkannte. Ersterer fragte ihn, wohin er gehe, worauf Elias klagte und erzählte, wie fürchterlich ihn der Teufel betrogen habe. Er bekannte auch, daß er nun Gott aufsuchen möchte, der werde ihm um seiner mächtigen Reue willen verzeihen. Auf dieses fragte der Herr den niedergeschlagenen Elias, was er denn mit dem Teufel anfangen würde, wenn er ihn in seine Gewalt bekäme. „Ich würde ihn mit meinem Gewehre tief in die Erde schlagen“, war des Heiligen Antwort. „So ziehe aus!“ sprach hierauf der Herr, „ich gebe dir Gewalt, den Teufel zu vernichten; sei getrost, die Sünde ist dir vergeben, ich bin der Herr, dein Gott.“ 41 Chatard, R. P. (Hg.): Zanko (Chef tribal chez les Chalderash). La tradition des Tsiganes conservée par l’aristocratie de ce peuple. Documents recueillis par le R. P. Chatard présentés par Michel Bernard. Paris 1959, S. 95–103.

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Hocherfreut zog nun Elias weiter, und wo er von jetzt an glaubte, den Teufel oder einen seiner Helfer gefunden zu haben, setzte er ihm so fürchterlich zu, daß ringsum alles mit Schrecken und Grausen erfüllt, ja daß die Samen aller Pflanzen taub wurden; ebenso ging auch jede Frucht im Mutterleibe von Menschen und Tieren zugrunde, so schrecklich war des Heiligen Zorn. Dies nahm der Herr mit Schrecken wahr und lähmte schnell dem furchtbaren Eiferer den rechten Arm, damit er nicht die ganze Schöpfung vernichte, wenn er fortmachte wie er angefangen. So kämpft der erzürnte Heilige noch heutzutage nur mit der Linken, auf daß mit dem Teufel nicht auch die ganze Welt zugrunde gehe. Ist ein Gewitter am Himmel, so leidet noch jetzt kein Walache einen Hund oder eine Katze bei sich in der Stube. Denn er glaubt von diesen Tieren, der Teu­ fel nehme gern Besitz von ihrer Gestalt. Da nun Elias der Donnerer ist und mit seinem Feuergeschosse, dem Blitz, den Teufel allenthalben verfolgt, so schwebt während eines Gewitters über einem Haus, wo solche Tiere sich aufhalten, große Gefahr.42

Eine weitere rumänische Variante hat folgende Einleitung: Eine alte Frau, die oft in der Kirche betete, bekam im Alter einen Sohn. Die Schicksals­ frauen (Ursitoare) bestimmten ihm bei der Geburt folgendes: die erste sagte, er solle der Kirche übergeben werden, die zweite wollte, er solle gottesfürchtig werden, und die dritte bestimmte, er solle Ilie genannt und Herr über Blitz und Donner werden. Der alte Mann, der alles hörte, taufte das Kind Ilie.43 Auch in Ungarn findet sich die Erzählung; Lajos Kálmány hat in Szeged eine Variante aufgezeichnet, die sich nur wenig von dem Inhalt der Legen­ de entfernt: Bei der Geburt eines Kindes erscheint Christus und weissagt, daß der Sohn am Kriege teilnehmen, ein großer Herr sein und schließlich seinen Vater und seine Mutter töten wird. Die Erzählung endet mit der Ermordung der Eltern.44 In einer von Bünker in heanzischer Mundart auf­ gezeichneten ungar-deutschen Fassung45 wird erzählt, daß reiche Bürger einen einzigen Sohn hatten und ihn studieren ließen. Als er in den Ferien nach Hause kam, weinten sie immer. Den Grund wollten sie ihm aber nicht sagen. Durch eine List brachte er aber sein Schicksal doch in Erfahrung. Er steckte eine mit Blut gefüllte Ochsenblase unter seinen Rock, stach 42 Schott, Arthur und Schott, Albert: Walachische Mährchen. Stuttgart, Tübingen 1845, S. 281f., Nr. 29. 43 Vulpescu, Michail:Poveşti din satele noastre. Bucureşti 1943, S. 39–49. 44 Kálmány, Lajos: Hagyományok. Bd. 1. o.O., o.J., S. 131f., Nr. 53; vgl. Honti, Hans: Verzeich­ nis der publizierten ungarischen Volksmärchen. Helsinki 1928 (= Folkore Fellows Commu­ nications, 81), Typ 931, Variante 2; vgl. Berze-Nagy, János: Magyar népmesetípusok, Bd. 2. Pécs 1957, S. 346, Typ 779 IX* Nr. 6. 45 Bünker, Johann Reinhard: Sagen und Märchen in heanzischer Mundart. Leipzig 1906, S. 371–373, Nr. 104.

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mit einem Messer hinein und tat so, als ob er Selbstmord begangen habe. „Sou schlagt t’Muida’ t’Hänt’ z’samme unt sag’: ‚siachst as hiatz hat ea‘ si’ ’s Leib’m g’noumma’‚ aunstatt uns, wia’s si pa saina Gepua’t in Zaacha’ hat aunaagt.“ Der Sohn reiste in ein anderes Land, heiratete und wurde Bür­ germeister. Als er später seinen Eltern den Kopf abgehauen hatte, stellte er sich dem Gericht. Sein Professor, der ihm den Rat zur Benutzung der Ochsenblase gegeben hatte, verteidigte ihn bei der Verhandlung und sagte, der Bürgermeister sei unter dem Zeichen auf die Welt gekommen, einmal seine Eltern umzubringen. Es ist ihm nichts geschehen, er ist Bürgermei­ ster geblieben. Auf mehrere kleinrussische Varianten aus Podolien, Galizien und Süd­ rußland hat Victor Diederichs hingewiesen.46 Aus kroatischem Sprachgebiet liegen mir drei Texte vor. Der erste stammt aus Banja Luka47 und berichtet davon, wie der hl. Ilia nach dem Mord an seinen Eltern achtzehn Jahre lang in der Wüste Gott dient und schließlich in den Himmel berufen wird. Von dort schleudert er aus seiner Hand Blitze gegen die Feinde. In der zweiten Variante aus Istrien48 prophezeien zwei Bettler einem neugeborenen Kind, es werde seine Mutter, seinen Vater und sich selbst töten. So geschieht es. In einer dritten kroatischen Variante49 ist die Elternmördererzählung mit der Erzählung vom Verbrannten und wiedergeborenen Menschen konta­ miniert worden. Milko Matičetov50 hat darauf hingewiesen, daß der Frevel des Elternmordes für diese Erzählung nicht typisch ist und daß der Ver­ stoß gegen Kirchengebote (Fastenbruch, Weinbergfrevel) besser mit ihr verwachsen ist. Die Aufzeichnung geht auf Matija Kračmanov Valjavec zurück: Ein König bekam nach vielen Jahren der Kinderlosigkeit endlich einen Sohn. Er veranstaltete ein großes Fest, zu dem sich auch zwei Bettler einstellten. Sie übernachteten im Stall und wurden Zeugen, wie drei weiß­ 46 Diederichs, Victor: Russische Verwandte der Legende von Gregor auf dem Stein und der Sage von Judas Ischariot. In: Russische Revue 17 (1880), S. 139 u. Anm. 31; vgl. Veselovskij, Aleksandr’: Legende ob’ Evstratii-Juliane u srodnyja s’ nej. In: Izvestija otdelenija russkago jazyka i slovesnost imperatorskoj Akademii nauk 6 (1901), S. 1–16; vgl. Andrejev, Nikolai Platonovich: Die Legende von den zwei Erzsündern. Helsinki 1924 (= Folklore Fellows Communications, 54). 47 Bosanska Vila 17. Sarajevo 1912, S. 31. Dr. Vlajko Palavestra (Sarajevo) danke ich für die Abschrift. 48 Narodno blago iz Istre. Sabrao Ante Flego. Handschrift des Odbor za narodni život i običa­ je Jugoslavenske akademije znanosti i umjetnost u Zagrebu br. S.Z. 155, tekst br. 6 God. 1912. Von Dr. Maja Bošković-Stulli freundlichst übermittelt. 49 Valjavec, Matija Kračmanov: O Rojenicah. In: Novice XVI/2 (1858), S. 13 f. = Ders., Narodne pripovedke skupio u i oko Varaždin. Varaždin 1858, S. 89f., Nr. 8; vgl. Matičetov, Milko: Sežgani in prerojeni človek. Ljubljana 1961, S. 28, Variante SSH 1. In deutscher Übersetzung bei Fr. S. Krauß: Sagen und Märchen der Südslaven. Bd. 2. Leipzig 1884, S. 67, Nr. 47. 50 Matičetov, Milko: Der verbrannte und wiedergeborene Mensch. In: Fabula 2 (1958), S. 97.

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gekleidete Frauen, die Sujenice, hereintraten und miteinander sprachen. Die erste sagte: „Was soll aus dem Kind werden? Ich denke, Soldat.“ Die zweite sprach: „Nicht doch, es soll ein General werden.“ Die dritte sprach: „Auch das nicht, sondern es soll in seinem 22. Lebensjahr Vater und Mut­ ter töten.“ Am nächsten Morgen erzählten die Bettler dem Königspaar alles. Seitdem weinte die Mutter immer über das Schicksal des Sohnes. Als er die Prophezeiung erfuhr, zündete er im Wald einen Holzstoß an, sprang mutig hinein und verbrannte, doch sein Herz blieb unversehrt und schlug weiter. Einmal ging ein reiches Fräulein dort vorbei, und als sie sein Herz anblies, erweckte sie den Königssohn zum Leben. Er wuchs auf und ging nach Hause zu seinen früheren Eltern. Als er einmal abends fortgegangen war, sagte man ihm, zu Hause seien Räuber eingebrochen. Er eilte nach Hause, nahm einen Säbel von der Wand, schlug damit umher und tötete seine Eltern, die im Bett lagen. Diese Variante weist deutliche Zersagungserscheinungen auf: Der Prinz büßt das Verbrechen des Elternmordes, bevor er es noch begangen hat. Eine in der Tschechoslowakei aufgezeichnete Variante hat den ursprüngli­ chen Zusammenhang besser bewahrt:51 Ein reicher Kaufmann hatte einen Sohn, dem träumte, er habe seine Eltern erschlagen. Er zieht darauf in die Welt und heiratet eine Kaufmannstochter. Ein Nachbar redet ihm eines Tages auf dem Rathaus ein, seine Frau sei ihm untreu. Er geht nach Hause und tötet seine Eltern, die zu Besuch gekommen sind. Der junge Kauf­ mann beichtet und fragt, ob ihm verziehen werden könne. Der Priester rät ihm, in den Wald zu gehen und sich sieben Jahre lang von Wurzeln zu ernähren, sodann solle er auf einer Wiese einen Scheiterhaufen entzünden und sich verbrennen. Er befolgt den Rat, und als er im Scheiterhaufen ver­ brennt, bleibt nur sein Herz übrig. Der Priester entdeckt bei einem Spazier­ gang das Herz an seinem Geruch und bewahrt es in einem weißen Tuch auf. Eine Königstochter, die bei dem Priester unterrichtet wurde, roch an dem Herz, da verschwand es. Sie wurde schwanger und brachte einen Kna­ ben zur Welt, der sofort nach der Geburt zu sprechen anfing. Später erzähl­ te er vor allen Leuten seine Geschichte, dabei wurde er ständig kleiner, bis er sich schließlich in eine Taube verwandelte und fortflog. In Slowenien hat sich die Elternmörderlegende in besonderem Maße mit dem Volksglauben an ein unentrinnbar vorherbestimmtes Schicksal ver­ bunden. An den Anfang stellen wir eine Variante aus der Sammlung Georg

51 Slavie II. 2 (1878), S.  28 Nr. 7; Abdruck: Tille, Václav: Soupis Českých pohádek II. 1. Praha 1934 (= Rozpravy Česke Akademie Věd a Umění, třída III, 72), S. 166f. Erwähnt bei Matičetov: Sežgani in prerojeni človek (wie Anm. 49), S. 20, Variante SČ.

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Grabers.52 Wie Milko Matičetov53 betont hat, enthält diese Sammlung ei­ ne ganze Reihe slowenischer Erzählungen, die in einer Ausgabe Kärntner Sagen nur bedingt hätten Aufnahme finden dürfen. Hierzu zählt auch die Sage vom „Schicksalsspruch“. In der Gegend am Loibl heißen sie (d.h. die saligen Frauen, die Salkweiber oder Salaweiber) Žark žane‚ d.i. Salige Frauen. Hier ist es üblich, vor der Geburt eines Kindes einen Laib Brot auf den Tisch zu stellen. Als nun einmal ein Knäblein ge­ boren wurde und kein Brot bereit stand, sagten die Saligen, welche der Wöchnerin in ihrer schweren Stunde beistanden: „Das Kind wird großes Unheil stiften, es wird seine eigenen Eltern erschlagen“. Eine Frau hatte dieses Gespräch belauscht und erzählte es der Mutter des Kindes. Als der Knabe größer geworden, teilte sie ihm den Sachverhalt mit und riet ihm, weit fortzuziehen, was er gerne tat, um seinem Schicksale zu entgehen. In der Fremde heiratete er ein schönes Mädchen und genoß mit seiner Frau viele Jahre ein trautes Glück. Während er eines Tages im Walde Holz hackte, kamen seine Eltern, die seinen Aufenthalt ermittelt hatten, in sein Haus und begrüßten das junge Weib aufs herzlichste. Doch der Tag neigte sich, und der Erwartete kam nicht nach Hause. Um die unverhofft gefundenen Schwiegereltern nach Gebühr zu ehren, wußte die Frau vor Freude nichts Besse­ res, als den noch von der langen Reise müden Leutchen die Ehebetten anzubieten, und hieß sie schlafen gehen. Während dies im Hause vorging, erschien dem Manne im Walde ein Vöglein und sang: „Dein Weib indes hat andre … dein Weib indes hat andre …“ und so fort im Takte, bis er in hellem Zorn und wütender Eifersucht nach Hause lief und wirklich ein Weib und einen Mann in seiner Schlafstube liegen fand. In blin­ der Wut erschlug er beide mit der Axt. Doch eben nach der Tat sah er sein Weib über den Hof herschreiten und fiel vor Schreck über die unselige Tat entseelt zu Boden.

Diese Sage gehört in den Umkreis der in Südosteuropa weit verbreiteten Volkserzählungen vom vorherbestimmten Schicksal und den Schicksals­ frauen.54 In unserer Variante werden sie Žark z̆ane genannt, d.i. eine un­ vollständige Slowenisierung der alpenländischen „Saligen Frauen“. Eine weitere slowenische Aufzeichnung von F. Peterlin55 stammt aus Unterkrain 52 Graber, Georg: Sagen aus Kärnten. 4. Aufl. Leipzig 1927, S. 56, Nr. 64. 53 Matičetov, Milko: Gefahren beim Aufzeichnen von Volksprosa in Sprachgrenzgebieten. In: Internationaler Kongreß der Volkserzählungsforscher in Kiel u. Kopenhagen (19.8.– 29.8.1959). Vorträge u. Referate. Berlin 1961 (= Fabula. Supplement-Serie Reihe B, 2), S. 186. 54 Brednich: Volkserzählungen und Volksglaube (wie Anm. 31). 55 Peterlin, F.: Stare pripovedke slovenske. In: Novice XXII/22 (1864), S. 178. Abdruck: Ljudska knjižnica 1, Maribor 1885, S. 656–658, Nr. 1; Kelemina, Jacob: Bajke in pripove­ dke slovenskega ljudstva. Celje 1930, S. 278–280, Nr. 205; vgl. auch die beiden wichtigen Besprechungen der Sammlung Kelemina von Jir̆i Polívka. In: Slavia‚ časopis pro slovanskú filologii 11 (1932), S. 648–659, bes. S. 656 und in: Germanoslavica 1 (1931/1932), S. 619– 628, bes. S. 624.

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(Dolenjsko): Bei der Geburt des hl. Matthias sagen die Rojenice (die Schick­ salsfrauen der Slowenen) voraus, er solle Vater und Mutter töten. Seine Mutter war stets traurig und vergoß Tränen, sooft sie ihm Brot reichte. Sie sagte ihm, was ihm die Rojenice beschieden hatten. Darauf zog er in die Fremde, so daß die Heimischen nicht wußten, wohin er gegangen war. Er hatte Glück, bekam die Tochter eines Grafen zur Gattin und ein Schloß als Mitgift. Eines Tages veranstaltete er eine Jagd. Zunächst fing man statt Hasen drei junge Burschen, die spotteten: „Was machen Sie hier, Herr Burgherr? Bei Ihrer Frau daheim aber sind andere.“ Dann fing man drei Jünglinge, die dasselbe behaupteten; dann drei Männer. Matthias dachte sich: „Alten Leuten darf man glauben“, ging nach Hause und tötete seine Eltern. Tiefe Reue empfand er deswegen. Er war reinen Herzens und hatte vorher noch nichts verbrochen. Gott erbarmte sich seiner. Einst hörte er eine Stimme: „Matthias, bau die römische Brücke, und du bist deiner Sün­ den ledig.“ Er tut dies; was er am Tage errichtet, vernichtet der Böse des Nachts. Da rät ihm die Stimme, er solle dem Teufel die ersten drei Pilger versprechen, die über die Brücke gehen. Auf der Suche nach drei Pilgern kam ihm eine Eingebung: Als die Brücke vollendet war, trieb er drei Hunde mit Jägertaschen um den Hals und mit angebundenen Stöcken darüber. Der Teufel geriet in Wut und wälzte die Hälfte der Brücke fort; diesen Teil konnte man nie ergänzen. Weitere Varianten: Aufzeichnung von Josip S̆as̆el und Fran Ramovš aus dem Rosental:56 die Žark-žane bestimmen über einen neugeborenen Kna­ ben. Die Variante entspricht etwa der kärntnerischen bei Graber (s.o.). Es fehlt der Zug, daß ein Vogel im Wald dem Mann den unseligen Gedanken eingibt. Aufzeichnung von Matija Kračmanov Valjavec 1857:57 Eine der zwei­ ten slowenischen Variante sehr ähnliche Aufzeichnung. Der hl. Matthias flieht in das Neunte Land. Nach der Heirat begegnen ihm auf der Reise ein Weib, ein Jüngling und ein alter Mann. Erst dem Greis schenkt Matthias Glauben. Der Bau der römischen Brücke fehlt. Matthias schreit und jam­ mert: O Rojenice, Rojenice! Aufzeichnung von Ivan Šašelj aus Weißkrain:58 Eine Mutter hat zwölf Söhne; der jüngste war Matthias. Mit zwölf Jahren erklärt er, daß es ihm vorbestimmt ist (kaj mu je bilo sojeno), Vater und Muter zu töten. Er zieht 56 S̆as̆el, Josip und Ramovš‚ Fran: Narodno blago iz Roža. Maribor 1936 (= Arhiv za zgodovi­ no in narodopisje, 2), S. 7. 57 Valjavec, Matija Kračmanov: Še nekaj o Rojenicah. In: Novice XV/46 (1857), S. 182; über­ setzt bei Klun‚ V. F.: Rojenice. Die Schicksalsgöttinnen der Slowenen. In: Österreichische Blätter für Literatur und Kunst 47 (1857), S. 370, Nr. 4. 58 Šas̆elj‚ Ivan: Bisernice iz belokranjskega narodnega zaklada II. Ljubljana 1909, S. 233–235.

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ins Neunte Land. Nach dem Mord geht Matthias zum Papst. Der rät ihm, eine Brücke zu bauen (maniški most). Wie in der zweiten slowenischen Variante wird der Böse mit jungen Hunden geprellt. Von besonderem Interesse ist es nun, daß dieser in der Volkserzählung verbreitete Stoff vom Mörder seiner eigenen Eltern in Slowenien auch in der Form der Volksballade vorliegt. In zahlreichen ähnlich gelagerten Fällen sind im Slowenischen Sagen- und Legendenstoffe in Balladenform überlie­ fert. Die Volksliedsammlung Karol Štrekeljs enthält viele Beispiele dafür, man vgl. etwa das Lied vom hl. Ulrich (sveti Urih).59 Auf ein anderes Bei­ spiel dafür, daß eine bereits in der Legenda aurea bezeugte Legende als er­ zählendes Lied in der Volksüberlieferung Dalmatiens erscheint, hat Milko Matičetov60 hingewiesen. Als Beispiel für die Gestaltung der Legende vom Elternmörder im slo­ wenischen Erzähllied gebe ich eine bisher ungedruckte Variante aus den handschriftlichen Beständen des Glasbeno narodopisni institut in Ljublja­ na61 wieder.

1. Svet Matija j biv star sedem let in ta vosmega pov‚ vənder se j mat zmeraj jokala‚ kor je nemu kruha dajala. 2.

Svet Matija spregovori: Zakaj se vi zmeraj jokate‚ kor men kruha dajete‚ kor men kruha dajete?

59 Štrekelj: Slovenske narodne pjesme I (wie Anm. 7), S. 263–265, Nr. 201 u. 202; Glomar, Joža: Stare žalostne. Slovenske pripovedne pesmi. Ljubljana 1939, S. 176. 60 Matičetov, Milko: Deklica Menih. Pripovedna pesem iz Južne Dalmacije. In: Zbornik etno­ grafskog Muzeja u Beogradu 1901–1951. Beograd 1953, S. 292–299; vgl. Bolte-Polívka IV, S. 181. 61 Dr. Valens Vodušek danke ich für die Überlassung des Liedes und die Erlaubnis zum Ab­ druck.

Die Legende vom Elternmörder in Volkserzählung und Volksballade

3.

Kaj b se jest na jokala? Ka sa jeramice sadile‚ de boš ti mene in oče vbov‚ de boš ti mene in oče vbov!

4.

Svet Matija spregovori: Rajši grem v ta deveto deželo‚ kot pa storim en taki greh‚ kot pa storim en taki greh!

5.

Svet Matija gre v ta deveto deželo‚ not pod pot je bla ene vdova. Svet Matija ja pri ne prenoči, in se tud čez leto z njo zaroči.

6. Svet Matija je jager biv‚ zjutraj zgodaj na jago gre, srečata ga gaspuda dva, srečata ga gaspuda dva. 7.

Matija, Matija, pejd domov, pr toji ženi pa drug spi!

8.

Matija pa spregovori: Kar gaspudi gavare‚ vsi radi lažejo‚ vsi radi lažejo!

9. Matija pa spet gre naprej‚ srečata ga študenta dva: Matija, Matija, pejd domov, pr toji ženi drugi spi! 10.

Matija pa spregovori: Kar študenti govore‚ ta vse rado res je, ta vse rado res je!

11. Matija se hitro obrne in naravnost damu gre, zvečer pa v tam damu pride in naravnost v kamro gre. 12. Not sta ležala oče in mat: obema vrže glave preč! 13. Žena hitro prleti in naravnost govori:

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Matija, Matija, oče in mat sta pršia v gastje h teb!

14.

Matija močnu prestraší se: Oh obema səm vrgu glave prač! Nebeški Oče, kaj mi je storit? Kakšna pakura čem nardit, nebešku veselje zadobit?

15. Nebeški Oče mu odgovori: Pojd, pojd zidat rimski most! 16. Matija rimski most začel zidat: Kar podnev naredil je, ponoč hudobač podəru je, ponoč hudobač podəru je. 17. Matija zvečer počakal je, hudobač k nimu pršu je začela sta zgovarjat se‚ začela sta zgovarjat se. 18.

Pust mi‚ pust mi zidat rímski must! Ti hočem dati duše tri in pa tudi hlebe tri, v tistih hlebah duše tri!

19.

Most končan biv hmal je zdej‚ Matija potanka po mostu hlebe tri, za njim hudobač silno se spusti, za njim hudobač silno se spusti.

20.

Na konc vse se podre dol, da se še dandanes pozna, gdor ne verjame, naj pa gledat gre, gdor ne verjame, naj pa gledat gre!

(GNI, Archiv-Nr. 8649, aufgezeichnet 1911 von Franc Kramar)

Inhalt: Der hl. Matthias war siebeneinhalb Jahre alt; seine Mutter weinte immer, wenn sie ihm Brot gab. Matthias fragte sie nach der Ursache ih­ rer Trauer. Sie antwortete ihm, die „Jeramice“ hätten ihn dazu bestimmt, Mutter und Vater zu töten. Der hl. Matthias erwiderte, lieber ginge er in das Neunte Land, als daß er eine solche Sünde auf sich nehme. Er zieht in das Neunte Land; unterwegs übernachtet er bei einer Witwe, und nach

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einem Jahr heiratet er sie. Er wurde ein Jäger; als er einmal morgens zur Jagd ging, begegneten ihm zwei Herren, die ihm sagten: „Matthias, geh nach Hause, denn deine Frau schläft mit einem anderen.“ Matthias sagte sich: „Was Männer reden, ist leicht erlogen!“ Dann begegnete er zwei Stu­ denten, die ihm dasselbe zuriefen. „Was Studenten sagen, das kann leicht wahr sein“, dachte Matthias, lief geradewegs nach Hause, kam abends an und ging sofort in die Kammer. Dort lagen Vater und Mutter, denen bei­ den er die Köpfe abschlug. Seine Frau kam zurück und sagte ihm, daß Vater und Mutter als Gäste angekommen seien. Matthias fragte Gott, wie er seine Vergebung erlangen könne. Gott antwortete ihm, er solle die römi­ sche Brücke erbauen. Matthias begann die römische Brücke zu bauen, aber soviel er auch am Tage erbaute, es wurde in der Nacht vom Teufel wieder zerstört. Matthias erwartete den Teufel abends und redete mit ihm. Er bat den Bösen, daß er ihn die Brücke bauen lassen möge, er werde ihm dafür drei Brote und darin drei Seelen geben. Als die Brücke vollendet war, rollte Matthias drei Brote auf die Brücke, hinter ihnen rannte der Teufel kräftig her. Am Schluß stürzte alles hinab, daß man es heutzutage noch erkennen kann. Wer es nicht glaubt, gehe selbst und sehe es an. Die Melodie dieses Liedes entspricht einem verbreiteten europäischen Formtypus;62 sie ist auch in der Gottschee überliefert.63 Beim Vergleich des Textes mit den Prosaerzählungen ergibt sich, daß hier sehr enge Bezie­ hungen bestehen, die auf eine unmittelbare Verwandtschaft der Ballade und der Sagen hindeutet. Wie in dem slowenischen Text aus Unterkrain (Peterlin) handelt die Erzählung hier von dem hl. Matthias. Seine Mut­ ter weint stets, daraufhin erfährt er sein Schicksal, das hier von den soge­ nannten Jeramice bestimmt wird. Der Zug ins Neunte Land stimmt mit den Aufzeichnungen von Valjavec und Šašel überein. Der Bau der römischen Brücke entspricht wieder der Fassung bei Peterlin; dieses Motiv kehrt auch in der Aufzeichnung von Šašelj aus Weißkrain wieder. Auf Grund dieser Übereinstimmungen dürfen wir annehmen, daß die slowenische Volks­ ballade vom Elternmörder aus der Prosaüberlieferung herausgewachsen ist. Der umgekehrte Weg – die Entstehung der Sage aus der Ballade – ist im vorliegenden Fall weniger wahrscheinlich, da sich die Entwicklungsge­ schichte des Stoffes in Slowenien etwa so darstellt: Am Anfang steht die christliche Legende, die zur legendenartigen Volkserzählung und schließ­ lich zur Erzählung vom vorherbestimmten Schicksal wird. Immerhin bleibt 62 Wiora‚ Walter: Europäischer Volksgesang. Gemeinsame Formen in charakteristischen Ab­ wandlungen. Köln 1952, S. 20, Nr. 28/1. 63 Hauffen: Sprachinsel Gottschee (wie Anm. 2), S. 239, Nr. 41, vgl. Suppan, Wolfgang: Bi- bis tetrachordische Tonreihen im Volkslied deutscher Sprachinseln Süd- und Osteuropas. In: Studia Musicologica 3 (1962) S. 239–356, bes. S. 348.

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als ungelöstes Problem die Frage bestehen, warum sich gerade in Sloweni­ en der Stoff vom Elternmörder in der Form des Erzählliedes ausgeprägt hat. Bewahrt hier nur die slowenische Volksüberlieferung ein Lied, das in anderen Teilen Europas ehemals existierte, heute aber verloren ist? Oder haben wir bei den Slowenen mit einer besonderen Veranlagung zu solcher balladenhaften Gestaltung von Sagen- und Legendenthemen zu rechnen? Die hier wiedergegebene Balladen-Variante steht im Slowenischen nicht allein. Wir kennen das Lied aus einer zweiten Aufzeichnung von A. Breznik aus dem Jahre 1899, abgedruckt in J. Glonars Stare žalostne.64 Diese Fassung besitzt eine in der oben abgedruckten Variante nicht vorhandene Einleitungsstrophe: K’ se je sveť Matija na svet rodiv‚ h nemo so pršle rojenice tri. Ta prva mu je umerila: „Pubič se bo l’pó rediv.“ Ta druga mu je umerila: „Pubić se bo łepó učiv.“ Ta treka mu je umerila: „Pubič bo očeta in mater ubov.“

Hier ist in ähnlicher Form wie in zahlreichen slowenischen Volkserzählun­ gen von der Voraussage des Schicksals durch die drei Rojenice die Rede.65 Die beiden ersten Frauen machen ihre Vorschläge (er soll zu einem schö­ nen Jungen heranwachsen, er soll gut lernen), aber was die dritte bestimmt, das muß eintreten. Wie in der ersten Fassung der Ballade erfährt Matthias durch die weinende Mutter sein Schicksal, zieht in die Welt und wird Jäger. Nach vollbrachter Freveltat (den Studenten hält er für einen Lügner, einem alten Mann schenkt er Glauben), wehklagt er. Der zweite Teil mit der Buße des Matthias beim Bau der römischen Brücke fehlt. Eine dritte Variante des slowenischen Liedes vom Elternmörder ist in der Sammlung von Karol Štrekelj66 enthalten. Diese Fassung entspricht derjenigen bei Glonar fast wörtlich mit Ausnahme davon, daß die Hand­ lung auf den hl. Lukas (sveti Lukež) übertragen worden ist.

64 Glonar, J.: Stare žalostne, S. 174–176; Wiederabdruck: Merhar‚ Boris: Slovenské ljudske pesmi. Ljubljana 1961, S. 23–25. 65 Valjavec, Matija Kračmanov: Chorvatisch-slovenische Märchen aus der Umgegend von Wa­ rasdin. In: Slavische Bibliothek. Bd. 2. Wien 1858, S. 151–170; vgl. ders.: O Rozdjenicah ili Sudjenicah. In: Književnik 2. Zagreb 1865, S. 52–61. 66 Štrekelj: Slovenske narodne pjesme I (wie Anm. 7), S. 574f., Nr. 608.

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Schließlich ist noch zu erwähnen, daß uns eine dichterische Bearbei­ tung des Stoffes aus dem Jahre 1853 vorliegt;67 das slowenische Gedicht hat wahrscheinlich eine Volksballade zum Vorbild. Wir dürfen deshalb ver­ muten, daß die Ballade vom Elternmörder, die wir in Slowenien erst seit dem Ende des 19. Jahrhunderts nachweisen können, schon ältere Wurzeln hat. Die Novaksche Dichtung überträgt das Legendengeschehen wieder­ um auf den hl. Matthias. Bemerkenswert darin ist, daß hier noch ein deutli­ cher Anklang an die Julianus-Legende besteht. Während Matthias im Wald jagt und gerade einen Schuß auf ein Tier abgeben will, ruft ihm zunächst ein Student, beim zweiten Mal eine alte Frau zu: Oj Matija! ti loviš košute‚ ženo drugi ti svamotno ljubi.

Hiermit vergleiche man den Text der Legende, wie er sich im 18. Kap. der Gesta Romanorum68 findet: „Cum enim Julianus iste nobilis ac juvenis qua­ dam die venatione insisteret, et quendam cervum repertum insequiretur, subito cervus versus eum se vertit atque dixit: Tu me insequeris, qui patris et matris tue occisor eris.“ Überhaupt ist diese Stelle in den volkstümlichen Varianten dem Wort­ laut der mittelalterlichen Legende meist sehr nahe geblieben. Regelmäßig wird der Elternmörder noch als Jäger bezeichnet, der während der Ankunft seiner Eltern der Jagd obliegt. Um so bedeutungsvoller sind andererseits die Veränderungen, die die Legende beim Eindringen in die Volksüberlie­ ferung erfahren hat. In den meisten Varianten, besonders im südslawischen Raum, aber auch bei den Ungardeutschen, den Ungarn und Rumänen, ist der Mörder seiner eigenen Eltern zum Schicksalshelden geworden, d.h. die volkstümlichen Aufzeichnungen der Erzählung enthalten eine Begründung dafür, warum der Held seine eigenen Eltern umbringt: er führt nur das aus, was die Schicksalswesen bei seiner Geburt an seiner Wiege über ihn be­ schlossen haben oder was in den Sternen vorherbestimmt war. Durch diese Veränderung ist aus der Legende vom Verbrechen und der Buße des hl. Julianus eine Volkserzählung vom vorherbestimmten Schicksal geworden. Zwar ist diese Veränderung im Text der Legende selbst schon vorgebil­ det; Julianus Frevel war durch die Prophezeiung des Hirsches ebenfalls vorherbestimmt. Aber in der volkstümlichen Überlieferung bedeutet die Voraussage der Schicksalsgestalten bei der Geburt eine psychologisch weit­

67 Novak, Josip: Sveti Matija (Legenda). In: Novice 11 (1853), S. 276 u. S. 280. Für die freund­ liche Übermittlung einer Abschrift danke ich Milko Matičetov, Ljubljana. 68 Oesterley: Gesta Romanorum (wie Anm. 17), S. 311.

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aus bessere Motivierung als der redende Hirsch in der Legende. Auf der anderen Seite hat diese Veränderung im Gefüge der Erzählung zu einer deutlichen Inkonsequenz geführt. In der Legende gilt die Prophezeiung Ju­ lianus selbst, der daraufhin seine Heimat verläßt, um dem vorhergesagten Unheil zu entgehen. In den Varianten aus dem Volksmund dagegen erhal­ ten zuerst die Eltern Kunde von der Vorherbestimmung. Gelegentlich wird berichtet, die Mutter habe immer geweint, wenn sie ihrem Sohn Brot ge­ geben habe. Erst durch die Mutter erfährt der Sohn von der Prophezeiung der Rojenice oder der Žark žane. Daraufhin zieht er vom Elternhaus fort. Jahre später machen sich die Eltern auf die Suche nach ihrem Sohn und gelangen in sein Haus. Dieses Motiv ist unverändert aus der Legende über­ nommen worden, obwohl es dem Handlungsablauf nach nicht folgerichtig ist: die Eltern kennen den Inhalt der für sie gefährlichen Prophezeiung und besuchen trotzdem den Sohn, durch dessen Hand sie den Tod finden, weil sich die Voraussage der Schicksalsgestalten erfüllen muß. Im Gegensatz dazu weist eine andere Stelle der Volkserzählungen und -balladen eine bessere Motivierung auf als die mittelalterliche Über­ lieferung. In der Legende kehrt Julianus nach Hause zurück, sieht zwei Gestalten in den Ehebetten liegen und erschlägt sie. Die volkstümlichen Varianten haben als Neuerung gegenüber der Legende durchweg noch eine zusätzliche Begründung dafür eingefügt, warum der Sohn das Ver­ brechen begehen muß. Er kehrt nämlich keineswegs nichtsahnend in sein Haus zurück, sondern sein Verdacht gegen seine Frau ist unterwegs durch verschiedene Gestalten, die ihm begegnen, geweckt worden. Alte Frauen, Greise, Studenten oder ein singendes Vöglein beschuldigen seine Frau der Unzucht und stacheln ihn zu der Mordtat an. Dieses in den volkstümli­ chen Varianten sehr typische Motiv hat in der ursprünglichen Legende kein Vorbild und muß als eigene Leistung der volkstümlichen Erzähltradition angesehen werden. Besondere Bedeutung hat dieses Motiv in der Überlie­ ferung der Rumänen und Zigeuner erlangt, wo es der Ausgangspunkt für eine Ursprungserzählung vom hl. Elias wurde. Die mittelalterliche Legende vom hl. Julian hat in der slowenischen Volksüberlieferung ihre eindrucksvollste Ausprägung gefunden. Sie ist in den meisten slowenischen Aufzeichnungen Legende geblieben; die Vari­ anten weisen noch verschiedene Merkmale dieser Gattung auf: Die Welt der Legende ist fest gefügt, es gelten streng geregelte moralische Normen, während im Märchen die moralischen Regeln willkürlich gesetzt werden. Der Elternmörder muß die begangene Freveltat büßen, um selig werden zu können. Sein Streben ist darauf gerichtet, die himmlische Seligkeit zu er­ langen, wohingegen der Held des Märchens im irdischen Leben das größt­ mögliche Glück erreichen will. In den meisten slowenischen Aufzeichnun­ gen wird der hl. Matthias als Held genannt. Diese Verbindung nahm wohl

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davon ihren Ausgang, daß der hl. Matthias in Slowenien in bildlichen Zeug­ nissen oft mit einer Handaxt (žatlaka) dargestellt wird.69 Der zweite Teil der Julianus-Legende mit dem Bau des Hospitals an ei­ nem Flußübergang ist in den südosteuropäischen Varianten nicht erhalten. Ein Schluß fehlt entweder ganz, oder es ist Kontamination mit anderen Erzählungen eingetreten. In drei slowenischen Varianten ist der Stoff vom Elternmörder mit der Erzählung vom Bau der sogen. Römischen Brücke kontaminiert worden: In den Prosafassungen bei Peterlin und bei Šašelj sowie in der Ballade aus dem Besitz des Volksmusikinstituts in Ljubljana. Der zweite Teil dieser Fassungen ist zweifellos nicht ursprünglich, sondern aus einer Erzählung vom geprellten Teufel herübergenommen worden. In einer slowenischen Volksballade vom hl. Wolfgang ist von der gleichen Überlistung des Teufels mit Hilfe von Hunden die Rede.70 Dieses Lied ist schon im Jahre 1525 in Deutschland belegt; es erscheint in der Liederhand­ schrift Valentin Holls der Bibliothek des Germanischen Nationalmuseums in Nürnberg fol. 13171 und findet sich auch in einem Münchner Einblatt­ druck des 16. Jahrhunderts.72 Die vierte Strophe hat folgenden Wortlaut: Sol ich ein gotzhauß pawen/ die stain seind mir zu schwer/ so kann ich yr nit hawen/ der Teuffel der kam her/ ich hilff dir pawen schone/ den ersten Pilger wil ich hane/ ain wolff dz war sein lone/ der kam gewallet dar/ tru̇g ein walsack ist war.

Das Motiv vom geprellten Teufel begegnet ähnlich auch in der sloweni­ schen Volkserzählung. Vinko Möderndörfer hat eine Legende vom Bau der Arche Noah veröffentlicht.73 Darin wird berichtet, daß der Teufel des Nachts wieder einriß, was Noah am Tage baute. Gott schickte dem Noah 69 Vgl. Peterlin in Novice 1864, S. 178. Auch im Deutschen ist die Axt sein Attribut; vgl. die Darstellung auf einem fl. Blatt, Staatsbibliothek Berlin Yd 9813 (= DVA BL 3755), gedruckt ca. 1515–20 von Jobst Gutknecht in Nürnberg (Quelle für Erk-Böhme, Nr. 1537). 70 Štrekelj: Slovenske narodne pjesme I (wie Anm. 7), S. 593, Nr. 630 „Sveti Voljbenjk prekani hudobo.“ 71 = DVA M fol. 224. Abdruck bei Uhland, Ludwig: Alte hoch- und niederdeutsche Volkslie­ der mit Abhandlungen und Anmerkungen. Bd. 1, 2. Abt. Stuttgart, Tübingen 1845, S. 810– 813, Nr. 307; vgl. Wackernagel, Phillipp: Das deutsche Kirchenlied von der ältesten Zeit bis zum Anfang des XVII. Jahrhunderts. Bd. 2. Leipzig 1867, S. 1004f., Nr. 1241. 72 Münchner Einblattdrucke III, 38 = DVA Bl. fol. 151. 73 Möderndörfer, Vinko: Koroške narodne pripovedke. Cilli 1946, S. 365 (Anm. zu der Erzäh­ lung S. 291f.).

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vier Wachhunde, die dieser nachts an die vier Ecken des Schiffes band, um den Teufel abzuwehren. Seitdem benutzt der Mensch den Hund als Wächter. Die uns vorliegenden volkstümlichen Varianten aus Slowenien und den anderen Gebieten Südosteuropas müssen wir im wesentlichen als Ab­ kömmlinge der Legende vom hl. Julianus betrachten. Die Form der Legende, wie sie durch die Legenda aurea und die Acta Sanctorum kanonisiert wurde, hat demnach bis in unser Jahrhundert hinein in der Volksüberlieferung weitergelebt. Daneben existiert noch ein weiterer Überlieferungsstrang der Legen­ de, der nicht so deutlich faßbar und verborgener fortgelebt hat: die Legende vom Kaufmann Baldus von Sens, der in der Wüste einen dürren Stab zum Grünen bringen muß. Dieser Überlieferungszweig wird uns erst wieder in volkstümlichen Zeugnissen des 19. Jahrhunderts greifbar. In den erwähn­ ten südrussischen Varianten wird von einem gewaltigen Räuber berichtet, der Vater und Mutter erschlagen und bei mehreren Priestern vergeblich nach einem Weg der Buße gesucht hat. Zuletzt wird ihm auferlegt, die Kohlen eines verbrannten Apfelbaumes zu begießen, bis aus ihnen wie­ der ein blühender Baum wird. Auch in der oben erwähnten kroatischen Erzählung aus Banja Luka dient der hl. Elias Gott achtzehn Jahre lang in der Wüste, bevor er in den Himmel berufen wird. Dieser untergründig fortlebende Seitenast der Legende hat wahrscheinlich auch die Quelle für die slowenisch-gottscheeische Volksballade vom Großen Sünder gebildet, ohne daß wir heute im einzelnen zu sagen vermöchten, bei welchem Volk und zu welcher Zeit es zur Entstehung des Liedes aus der Legende heraus gekommen ist. Zum Abschluß wollen wir unser Augenmerk noch einmal zurücklen­ ken auf die Volksüberlieferung der Gottschee. Wie wir gesehen haben, war bei den deutschen Siedlern dieser Sprachinsel der eine Zweig der El­ ternmörderlegende, das Lied vom Großen Sünder, in mehreren Varianten verbreitet. In diesem Lied steht die Buße des Sünders im Vordergrund. Der andere Zweig unserer Legende, die Geschichte des Schicksalshelden Julianus, der unwissentlich seine Eltern tötet, hat in Slowenien durch Er­ zählung und Ballade weite Verbreitung gefunden. Der Stoff ist im Slo­ wenischen vor allem deshalb lange lebendig geblieben, weil er sich sehr eng mit dem Volksglauben von den slowenischen Rojenice verbunden hat. Eine dem Volksglauben von den slowenischen Schicksalsfrauen verwand­ te Vorstellung kennen auch die Deutschen der Gottschee. Den Rojenice vergleichbar sind die Gottscheer Schöpferlein, über die zuerst Tschinkel be­ richtet hat:

Die Legende vom Elternmörder in Volkserzählung und Volksballade

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Wenn ein Kind zur Welt kommen soll, bitten die „Schöpferlein“ (Schicksalsgöt­ tinnen, zu mhd. schepfe), die über dem Haus schweben sollen, ununterbrochen: „Lei dei Schtunde et, lei dei Schtunde et!“ (Nur diese Stunde nicht), wenn diese Stunde keine glückliche ist; denn die Stunde der Geburt ist für das Schicksal des Menschen bestimmend. Nach der Geburt verkünden sie das Los des jungen Welt­ bürgers. Dem einen verheißen sie Glück und Segen, dem anderen sagen sie ein trauriges Ende, wohl auch Raub- und Selbstmord, vorher. So prophezeiten sie einem einmal den Tod durch Ertrinken. Ängstlich mied er die Nähe des Wassers. Da schlummerte er einst unter einem Baume ein. Ein Windhauch wirbelte einige nasse Blätter auf und trieb sie gerade auf den Mund des Schlafenden. Er ertrank an den wenigen Tropfen, die am Laub hingen.74

In diesen „Schöpferlein“ lebt zweifellos die Erinnerung an die schicksals­ bestimmenden Frauengestalten der Germanen weiter. Die schepfen sind uns zuletzt in der mittelhochdeutschen und frühneuhochdeutschen Literatur greifbar (Marner‚ Ottokars Österreichische Reimchronik, Vintler, Michael Behamer)75 und verschwinden dann für mehrere Jahrhunderte aus unse­ rem Gesichtsbereich. Über ihre Bedeutung im Volksglauben und in der Volkserzählung besäßen wir so gut wie keine Vorstellung, hätten uns nicht die Gottscheer ihre Überlieferungen bewahrt. Zwar ist die systematische Erfassung des Erzählgutes dieser Sprachinsel zugunsten des Volksliedes leider sehr vernachlässigt worden; um so dankbarer müssen wir Richard Wolfram sein, der den Volksglauben von den Schöpferlein und die da­ mit verbundenen Sagen noch kurz vor der Zerstreuung der Gottscheer in alle Welt erfragt hat.76 Der Glaube an die Schicksalsgestalten hat sich in der Gottschee wohl besonders auch deshalb erhalten, weil er durch die entsprechenden Vorstellungen in der slawischen Umwelt gestützt wurde. Slowenisches und kroatisches Sagengut von den Rojenice-Sojenice konnte ungehindert Eingang in die Sprachinsel finden und sich mit dem ursprüng­ lich deutschen Gut vermischen. Auf diesem Wege wird auch die Erzählung vom Elternmörder in die deutsche Überlieferung der Sprachinsel gelangt sein. Das von Richard Wolfram gesammelte Material bietet allerdings nur noch einen Nachklang zu unserer Erzählung. In einem Bericht aus Altlag (nördl. Teil der Gottschee) ist einmal vom Elternmord, das andere Mal vom Mord an der Mutter die Rede.

74 Tschinkel, Wilhelm: Brauch und Volksglaube in Gottschee. In: Zeitschrift für österreichi­ sche Volkskunde 13 (1907), S. 21; später abgedruckt in seinem Buch: Gottscheer Volkstum. Gottschee 1931, S. 10. 75 Brednich: Volkserzählungen und Volksglaube (wie Anm. 31), Teil II, Kap. 8. 76 Wolfram, Richard: Die Schöpferlein. Gottscheer Volksglaube von den Schicksalsgestalten. In: Jahrbuch für Volkskunde der Heimatvertriebenen 1. Salzburg 1955, S. 77ff.

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Die Schepferlein sind oben auf dem Dach, da hat man sie gehört, wenn ein Kind geboren ist. Da ist immer eine Stimme gewesen: das wird brav sein. Oder das wird ein Räuber sein, oder ein Arbeiter, oder der wird die Eltern umbringen. In so einem Fall haben sie die Kinder gar nicht aufgezogen … Bei einem Buben haben sie gesagt, der wird die Mutter umbringen, wie er 12 Jahre alt wird. Da haben sie immer geweint, wenn sie ihm etwas gegeben haben. Dann hat sie den Buben weggegeben, weit fort. Der Bub ist zwei Tage, bevor er 12 Jahre alt geworden ist, gekommen und hat die Mutter umgebracht.77

Diese bruchstückhaften Aufzeichnungen von den Schöpferlein vermitteln uns nur noch einen unvollkommenen Eindruck vom einstigen Leben der Erzählung in der Sprachinsel. Die Gottscheer Volksballade bietet nichts Vergleichbares. Immerhin dürfen wir aufgrund dieser Fragmente anneh­ men, daß die bei den Slowenen verbreitete Prosaüberlieferung vom Eltern­ mörder in der Gottschee nicht unbekannt geblieben ist. Wir sind an den Ausgang unserer Übersicht zurückgekehrt. Der Über­ blick über das lebendige Weiterwirken eines mittelalterlichen Legenden­ stoffes bis in die Sagen und Lieder des 19. und 20. Jahrhunderts hat sich gerundet. Erich Seemann hat im Jahre 1959 einen Vortrag vor dem ju­ goslawischen Volkskundekongreß in Bled mit den Worten abgeschlossen: „Volksliedforschung kann nur im engsten Einvernehmen zwischen den Völkern getrieben werden; sie wird dann nicht nur vor Fehlschlüssen be­ wahren, sondern auch für alle Beteiligten wertvolle Ergebnisse zeitigen.“78 Wir können uns diesem Satz, der das Programm eines ganzen Forscher­ lebens beinhaltet, nur von Herzen anschließen und ihn dahingehend er­ weitern: Der Volksliedforscher muß im engsten Einvernehmen mit den anderen Zweigen der Volkskundeforschung und besonders mit der Erzähl­ forschung zusammenarbeiten, um eine erschöpfende Darstellung von Zu­ sammenhängen zwischen den Völkern und innerhalb der Gattungen der Volksüberlieferung bieten zu können.

77 Ebd., S. 81. Hervorhebung von mir. 78 Seemann, Erich: Die deutsche Volksballade und das slovenische Erzähllied. In: Rad kongre­ sa folklorista Jugoslavije VI. Bled 1959. Ljubljana 1960, S. 108.

Der Edelmann als Hund Eine Sensationsmeldung des 17. Jahrhunderts und ihr Weg durch die Medien der Zeit* Mit welchem Recht wird in einer Zeitschrift für Erzählforschung eine Sen­ sationsmeldung des 17. Jahrhunderts zum Thema eines Aufsatzes gewählt? Auch Sensationsmeldungen, so wissen wir z.B. aus den Forschungen von Rudolf Schenda über das Monstrum von Ravenna,1 haben ihre Geschichte und entfalten mitunter in der Medienlandschaft ihrer Zeit ein reges Eigen­ leben von teilweise beachtlicher Langlebigkeit. Nicht nur in der mündli­ chen Erzählüberlieferung, nein auch in den populären Lesestoffen und in der „Bildlore“ registrieren wir viele Stoffe, die über Jahrhunderte hindurch Dauererfolge geblieben sind und neben den unvergänglichen Themen der mündlichen Überlieferung einen Platz in der Geschichte der populären Li­ teratur beanspruchen dürfen. Im Gegensatz zu den bekannten Stoffen aus der Sphäre der oralen Traditionen haben die historischen Sensationsmel­ dungen in der Forschung bisher geringere Beachtung gefunden, so daß den zahlreichen Monographien über Märchen-, Sagen- und Schwanktypen bis­ lang nur verschwindend wenige Abhandlungen zur Geschichte von Wun­ der- und Sensationsereignissen gegenüberstehen. Die vorliegende Studie kann diesen Mangel zwar nicht grundsätzlich beheben, sie will aber einen Beitrag zum Abbau der hier sichtbar werdenden Defizite leisten und deut­ lich machen, daß auch die Untersuchung von Themen aus dem Bereich der Wunder- und Sensationsliteratur wichtige Einblicke in die Geschichte der historischen Medien und ihrer Abhängigkeit voneinander vermitteln kann. Das Ziel dieses Aufsatzes besteht daher vor allem darin, eine Sensa­ tionsmeldung des 17. Jahrhunderts in den verschiedenen Medien der Zeit vor Augen zu führen und nach den Gründen für den Langzeiterfolg dieser Nachricht zu fragen.

∗ Erstveröffentlichung in: Fabula 26 (1985), S. 29–57; Erweiterte Fassung des Vortrags vor dem 8. Kongreß der International Society for Folk Narrative Research, Bergen, 12.–17. Juni 1984. 1 Schenda, Rudolf: Das Monstrum von Ravenna. Eine Studie zur Prodigienliteratur. In: Zeit­ schrift für Volkskunde 56 (1960), S. 209–225.

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Die Nachricht, deren Überlieferungsgeschichte hier mit einem gewis­ sen Anspruch auf Vollständigkeit aufgerollt werden soll,2 ist relativ einfach konstruiert und läßt sich daher sehr gut in der folgenden Schlagzeile zu­ sammenfassen: Eine Standesperson wird zur Strafe für ihre Hartherzigkeit gegenüber Armen und wegen Gotteslästerung in einen Hund verwandelt. Diese Geschichte beginnt ihr literarisches Leben im Medium der sog. Neu­ en Zeitung3 oder Einzelzeitung im Jahre 1633. Ein bei Michael Fischer in Frankfurt a. d. Oder erschienener Oktavdruck von vier Blättern Umfang bringt neben einem Klagegesang auf den in der Schlacht von Lützen 1632 gefallenen Schwedenkönig Gustav Adolf Ein erschröckliche doch warhafftige Newe Zeitung / von einem gottlosen Edelmann in Polen / wie er zu einem Hund worden / vnd was sich sonst mehr darbey zugetragen / wird hierinn außführlich zu lesen gefunden.4 Der Text der Nachricht hat folgenden Wortlaut: Folget Ein erschröckliche Geschicht von einem ruchlosen Edelmann / geschrie­ ben auß Stettin den 1. Septemb. NEwes dem Herrn zu avisirn ist nichts sonderlichs / doch muß ich jhm eine wun­ derliche Historiam / so an der Masuzischen5 Grentz 10. Meil vom Ampt Soldaw geschehen / erzehlen / dann daselbst liget ein Dorff  / Beinen genandt / darin­ nen wohnet ein Edelmann / mit Namen Albrecht Pereckonsky / welcher deß Landes Schosse Einnehmer / vnd dabey ein vngerechter lasterhafftiger Mensch gewesen: dann wann die Leute nicht hatten Schoß6 geben können / er jhnen jhr Vieh zum Pfand lassen weg nehmen / vnd mit solcher Vngerechtigkeit viel Viehs an sich gebracht. Wie er nun jrgend nach Fastnacht seines Ampts Geschäffte zu verrichten verreiset gewesen / stirbt jhm vnter dessen durch Gottes Verhengnuß sein vngerecht an sich gezogene Vieh hinweg / also / daß nicht ein Stück davon im Leben geblieben / wie er nun wieder heim gezogen / kompt jhm ohngefehr 2

Das Thema vom Edelmann als Hund wurde zuvor bereits in einem Aufsatz und in einem Lexikonartikel behandelt: Jacoby, Adolf: Von dem bösen Amtmann, der in einen Hund verwandelt wurde. In: Mitteilungen der Schlesischen Gesellschaft für Volkskunde 15 (1913), S. 212–230; Peuckert, Will-Erich: Amtmann, böser, in Hund verwandelt. In: Ders. (Hg.): Handwörterbuch der Sage. Bd. 1. Göttingen 1961–63, 504f. 3 Roth, Paul: Die Neuen Zeitungen in Deutschland im 15. und 16. Jahrhundert. Leipzig 1914 (Neudruck 1963). 4 Seufftzende Klag vnd Threnen Gesang [...] Darbey auch Ein erschröckliche doch warhaff­ tige Newe Zeitung […]. Erstlich gedruckt zu Franckfurt an der Oder bey Mich. Fischer / 1633. Staatsbibliothek Berlin (Ost), Ye 6726. Die Angabe „Erstlich gedruckt [...]“ bedeutet, daß ein Druck in Frankfurt a. d. Oder vorausgegangen ist, von dem das vorliegende Exem­ plar einen Nachdruck darstellt. Der Drucker M. Fischer ist nicht nachgewiesen bei Benzing, Josef: Die Buchdrucker des 16. und 17. Jahrhunderts im deutschen Sprachgebiet. 2. Aufl. Wiesbaden 1982 (= Beiträge zum Buch- und Bibliothekswesen, 12); Nachweis des Druckes bei Hayn, Hugo und Gotendorf, Alfred N. (Hg.): Bibliotheca Germanorum erotica et cu­ riosa. Bd. 3. München 1913, S. 354. 5 Gemeint ist wahrscheinlich: Masurischen. 6 Einnehmer = Steuereinnehmer, Rentmeister, Amtmann; Schoß = Abgabe, Steuer (Vgl. Grimm, Jacob und Grimm, Wilhelm: Deutsches Wörterbuch. Bd. 9. Leipzig 1899, S. 1600).

Der Edelmann als Hund

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sein Knecht auff dem Wege entgegen / den fraget er / wie es daheim stehe? Nie dobritz7 / gibt jhm der Knecht zur Antwort / sintemal das Vieh / welches er der Armuth genommen / alle gestorben / vnd daß Gott jhre Zehren angesehen / vnd jhr Weheklagen erhöret / darauff er geantwortet / laß es zum Teuffel fahren / vnd ferner nach seinem Hoff geritten. In dem er nun eingeritten / ist jhm seine Fraw begegnet / sagend / daß sie Gott so sehr gestrafft / vnd alles Vieh / welches er genommen / vnd deßgleichen auch was sie ohne das gehabt / hinfallen vnd sterben lassen: Darauff er angefangen mit grewlichen Lästerworten / wider Gott zu fluchen / sagend / fresse ers auch nun selber auff  / sich darüber ergrimmet / weiter zu lästern vnd zu fluchen angefangen / sein Pistol geladen / in die Lufft geschossen / vnd gesagt: Ey du solt vnd must das Vieh fressen / oder ich wils fressen / wir wollen sehen / wer sich einander vexiren soll / vnd was der läster­ hafftigen Wort mehr gewesen / die er wider den HErren gethan. Wie nun solches geschehen / ist er jnnerhalb fünff Stunden zum Hunde worden / in der ersten Stunde ist er bald vnsinning worden / in der andern hat sich sein menschlich Gestalt in eine Sawe verändert / in der dritten hat sich die Verwandlung in die krümb gegeben / in der vierdten Stunde hat sich die Gestalt schon erzeiget wie ein Hund / vnd in der fünfften Stund ist er wie ein großer schwarzer Englischer Hund ins Feld gelauffen / vnd angefangen von dem todten Vieh zu fressen / vnd hat allein davon gefressen den gantzen Früling durch / vnd ob ers nun auff mag haben / kan ich nicht wissen / dann mein Stubengesell zu der Zeit eben da gewe­ sen / denselben Hund gesehen / vnd auch reden gehört / welcher mir dieses er­ zehlet / deßgleichen ist es auch von dem Hauptmann von Soldaw / welcher drey geschworen Männer dahin gesandt solches zu erkundigen / die auch den Hund gesehen / warhafftig allhie bey vnserm Cantzler erzehlt worden. Dann er ist alle­ zeit bey dem todten Vieh gewesen / vnd hat dabey gelegen / wann schon andere Hunde sind kommen zu fressen / hat er doch keinen darzu gelassen / sondern allzeit allein darvon gefressen / drey Tage lang hat er in solcher Hundes Gestalt mit seiner Frawen geredet: dann er ist allzeit / wann er satt gewesen / zu hause kommen / da jhn sein Fraw gefragt / ob sie jhm ein Beth machen solte? Nein hat er gesaget / sondern sie solt jhm betten wie einem Hunde gebühret / vnd hat jhm vnter der Stiegen Erbsenstroh müssen legen / darauff er sich geleget / vnd soll auch noch alle Nacht drauff ligen / seine Fraw hat jhn weiter gefraget / was er dann hernacher essen wolte / wann das todte Vieh auff were /worauff er ge­ saget: sie solte jhm geben was einem Hunde gebühret / sintemal er nichts anders werth / dann er hette sich höchlich an GOtt versündiget. Nach diesen dreyen Ta­ den8 hat er nichts mehr geredet / vnd soll noch täglich wie ein Hund auff seinen Güttern erhalten werden. Wie lang er nun die Straffe von dem lieben GOtt tragen wird / kan man nicht wissen / vnd ob er ein Hund biß an den Jüngsten Tag ver­ bleiben wird / das weiß GOtt: Aber durch grosse Bekummernuß vnd Schrecken dieses Exempels ist seine Fraw gestorben / vnd er wird also / wie vor gedacht / in solcher Hundes Gestalt auff seinen Güttern erhalten / aber keinem Menschen thut er nichts. Gott allein die Ehr.

7 8

= nicht gut (poln.). Lies: Tagen.

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Der Inhalt des hier von einem Stettiner Zeitungsschreiber Berichteten ist zunächst nichts anderes als eine Art Frevelsage, wie wir sie in mitteleuro­ päischen Sagensammlungen häufig verzeichnet finden.9 Die Verwandlung mißliebiger Menschen in Tiere,10 vielfach in Hunde,11 ist in der populären Literatur gang und gäbe, zumal auf einer älteren Entwicklungsstufe der europäischen Volkssage, in der die Tier- und die Menschenexistenz vorstel­ lungsmäßig noch nicht so weit voneinander geschieden sind wie heute.12 Daß die Verwandlung in einen Hund als besonders widerwärtige Strafe angesehen wurde, scheint indes eine jüngere Entwicklung in der Volkssa­ ge darzustellen. In der Vorstellung der indogermanischen Völker war der Hund als Haustier allgemein hochgeachtet, die abwertende Bedeutung im Sinne heutiger Schimpfwörter wie „Du Hund!“ etc. ist eine Denkweise, wie sie von christlich-jüdischen Vorstellungen vom Hund und vom Schwein als unreinen Tieren abgeleitet sein dürfte.13 Von den in Sagensammlungen häufig belegten Frevelsagen mit Tier­ verwandlung als Strafe unterscheidet sich unsere Zeitungsmeldung aus dem Jahre 1633 durch wichtige Details: Zum einen handelt es sich bei dem Frevler stets um einen Edelmann und somit um einen Angehörigen der höheren Schichten, was dieser Nachricht den Charakter einer sozialkriti­ schen Botschaft verleiht. Zum anderen wird die Strafe für das doppelte Fehlverhalten nicht erst im Jenseits vollzogen, sondern der Frevel zieht die Strafe, die hier den Charakter einer Selbstschädigung hat, im unmittelba­ ren Anschluß an die Verfehlung nach sich. Diese beiden Tatsachen haben zweifellos ihr Teil dazu beigetragen, daß die 1633 erstmals in Erscheinung tretende Nachricht von der Hundsverwandlung eines Edelmannes einen fast beispiellos zu nennenden Siegeszug durch die publizistischen Medien der Zeit angetreten hat. Allerdings kann schon an dieser Stelle angemerkt werden, daß der Bericht später nie wieder so vollständig und dramatisch so gut aufbereitet erscheint wie bei dem unbekannten pommerschen Zei­ tungsschreiber, mit dem alles beginnt. Noch im gleichen Jahr findet der von uns einleitend wiedergegebe­ ne Text eine Bearbeitung als Zeitungslied. In dieser neuen Gestalt bleibt 9 10 11 12 13

Röhrich, Lutz: Frevel, Frevler. In: Ranke, Kurt u.a. (Hg.): Enzyklopädie des Märchens (EM). Bd. 5. [Berlin, New York 1987, Sp. 319–333]. Beth, Karl: Verwandlung. In: Hoffmann-Krayer, Eduard und Bächtold-Stäubli, Hanns (Hg.): Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. Bd. 8. Berlin, Leipzig 1936/1937, S. 1623–1652. Güntert, Hermann: Hund. In: Ebd. 4 (1931/1932), S. 470–490; Leach, Maria: God Had a Dog. New Brunswick, New York 1961. Vgl. Brednich, Rolf Wilhelm: Anthropomorphisierung. In: EM 1 (1977) (wie Anm. 9), Sp. 591–596. Güntert: Hund (wie Anm. 11).

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die Nachricht zwar an die Publikationsform der Einzelzeitung gebunden, aber die Liedform verweist jetzt auf die spezifische Vertriebsart durch Zei­ tungssänger auf Jahrmärkten.14 Drey warhafftige vnd grundtliche Zeitungen [...] Die Dritte. Auß polen in dem Ampt Soldaw / wie ein Edelman sich selber verflucht / daß er zu einem schwart­ zen Englischen Hund worden ist / vnd bleiben muß / biß an Jüngsten Tag / diß alles ist in das Gesang versetzt / wie folgt. Getruckt zu Franckfurt / bey Johann Fridrich Weissen / Im Jahr / 1633.15 [1.] DAs seynd die rechte Zeichen / wol vor dem jüngsten Tag / O Mensch laß dich erweichen / merck weiter was ich sag / in Polen ein Wunder gschehen ist / dort in dem Königreiche / wie männiglich bewust. [2.] Im Ampt Soldaw merckt eben  / der Fleck Beinen genandt  / hat sich die Gschicht begeben / ein Edelmann bekandt / Albrecht Berkonski der Name sein / führt ein Gottloses Leben / wie jhr werdt hören fein. [3.] An dem weissen Sontage / der Edelmann bereit / gar grimmig ließ ansagen / wol in dem Lande weit / ein grosse Contribution / die man nit kondt ertragen / wie jhr werdt hören nun. [4.] Der Gulden solt jhm eben / zahlen fünff batzen werth / vnd wer das nicht kondt geben / dem nahm er Küh vnd Pferd / ja alles Gevögel darzu / die Schwein / was einer hat zu leben / das thet er ziehen ein. [5.] Vnd also hat bekommen / auff die acht tausend Stuck / so er der Gmein genommen / vermeynt es wer sein Glück / dem König thet ers zeigen an / wie er ein grosse Summen / deß Vihs hat auff der Bahn. [6.] Deßhalb der König prächtig / lobt jhn insonderheit / der Edelmann hoch­ drächtig / mit stoltzem Muth hinreit / vnd als er kam zu seim Hauß / sein Fraw durch Gott Allmächtig / gieng jhm entgegen rauß. [7.] Ach Herr last euch doch klagen / das Vieh der armen Rott / ist alles in zwey tagen / gestorben durch schnellen Todt / sampt vnser Vih ist alles hin / da hub er an zu sagen / mit gantz verfluchtem Sinn.

14 Brednich, Rolf Wilhelm: Zur Vorgeschichte des Bänkelsangs. In: Jahrbuch des Österreichi­ schen Volksliedwerkes 21 (1972), S. 78–92. 15 Nach Benzing (wie Anm. 4), S. 133 druckt Johann Friedrich Weiß in Frankfurt a.M. von 1618 bis 1627, muß dann wegen Verschuldung seine Druckerei schließen, ist vorüberge­ hend als Lohndrucker tätig und macht sich erst 1642 wieder selbständig. Unser Druck von 1633 paßt nicht in diese Biographie.

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[8.] Hat dann Gott so vermessen / mein Vih genommen weg / so muß ers selbs aufessen / dann ich bin wol so keck / oder will werden selbs ein Hund / vnnd das Fleisch dort auffessen / sagt sein Gottloser Mund. [9.] Vnd ließ sich nicht verdriessen / zog sein Pistol herfur / thet jhn gehn Him­ mel schiessen / vnd sprach komm rab zu mir / ich vnnd der Teuffel wollen heut / den Zorn an dir biessen / er gantz verzweifflet schreyt. [10.] Die Gottes Rach Allmächtig  / kam zu derselben stund  / der Edelmann hochprächtig / wurd schnell zu einem Hund / kolschwartz vnnd zottend sah er auß / erstlich laufft er bedächtig / in seiner Frawen Hauß. [11.] Vnd sprach Fraw hochgebohren  / schaw an die Straff jetzund  / ob mir schwebt Gottes Zoren / daß ich muß seyn ein Hund / warhafftig biß an Jüngsten Tag / ich hab mich selbs verschworen / O weh der grossen Klag. [12.] Wie ein Hund gantz vermessen / laufft er zum todten Vih / vnd hub da an zu fressen / schreyt ach vnnd weh schröcklich / drey Tag hatt er noch sein Ver­ stand / darnach die Witz vergessen / vnd bleibt ein Hund im Land. [13.] Jederman zum Abschewen / da laufft er ein vnd auß / sein Fraw kondt nicht gedeyen / die starb vor Leyd im Hauß / ach frommer Christ thu das verstohn / wilt dem Gesang nicht glauben / liß die Relation. [14.] Darinn so wirstu finden / wie dieser Edelmann / an Gott sich thet versün­ den / kein Mensch jhm helffen kan / deßhalb mach dich zur Buß bereit / wiltu bey Gott erlangen / die ewig Seeligkeit / Amen.16

Der Vergleich der beiden Versionen macht deutlich, daß der Dichter des Zeitungsliedes mit der Vorlage recht frei umgegangen ist, Motive neu hin­ zugefügt (z.B. die Ausschreibung einer Kontribution oder die bis an den Jüngsten Tag währende Strafe) oder andere weggelassen hat (z.B. die Rolle des Knechtes). Aufschlußreich sind die beiden letzten Strophen, in welchen der Lieddichter zur Erhöhung der Glaubwürdigkeit auf die Darstellungs­ form der Nachricht in der gleichzeitig verfügbaren „Relation“ (= Prosazei­ tung) verweist. Hier macht sich ein erster „Verbund“ zwischen gleichzeitig sendenden Medien bemerkbar. Für den weiteren Weg dieser Nachricht von einem großen Frevel durch die verschiedenen Medien der Zeit wird nun besonders wichtig, daß sich be­ 16 Stadtbibliothek Ulm, Schad. 10692; Nachweis: Hayn und Gotendorf (wie Anm. 4), S. 354; Weller, Emil Ottokar: Annalen der Poetischen Nationalliteratur der Deutschen im XVI. und XVII. Jahrhundert 1. Freiburg i.Br. 1862, S. 283. Eine Auflage dieses Druckes von 1635 war 1983 bei F. Dörling in Hamburg im Handel, vgl. Auktionskatalog „Wertvolle Bücher [...]“. Hamburg 1983, S. 141, num. 1142; Abdruck des Textes auch bei Jacoby: Von dem bösen Amtmann, der in einen Hund verwandelt wurde (wie Anm. 2), S. 213f.

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reits in dieser Frühphase der Überlieferung die „seriöse“ Geschichtsschrei­ bung des Stoffes annimmt und die Hundsverwandlung eines Edelmannes als tatsächliches Ereignis für das Jahr 1633 historiographisch registriert. Hier ist zunächst Johannes Cluever (Cluverus) zu nennen, ein lutherischer Theologe (1593–1633), der in Dithmarschen als Prediger tätig war17 und neben theologischen Schriften eine Weltgeschichte herausgebracht hat, die auch noch nach seinem Tode von seinem Sohn Michael Cluever in meh­ reren Auflagen weitergeführt wurde. In der 6. Auflage von 1657 fand im Appendix zum Buch X für das Jahr 1633 folgende lateinische Kurzfassung der Nachricht ihren Platz: In finibus Muscoviæ Martio hujus anni mense vivebat vir nobilis genere‚ dignita­ te quæstor, nomine Albertus Pericofcius. Hic miseram plebem‚ si tributa tardius exsolveret, pecoribus & jumentis spoliare suetus‚ cum domo forte abesset, unica nocte omnem injuste quæ situm gregem amisit. Exstinctum subitanea interneci­ one jacuit‚ quicquid rapuerat, quicquid coëmerat homo improbus. Revertenti per­ egre nunciat servus‚ inde uxor‚ cladem divinitus immissam. Ad hoc frendere ho­ mo blasphemus, sclopetum in cœoelum explodere, nefandas eructare voces: Qui interfecit, devoret. Si noluisti me edere‚ tute edas. Ad furiosos in Deum latratus, guttæ destillarunt sanguinis. Homo confestim in canem versus nigrum‚ ululando invasit pecudes morticinas, iisque pasci caepit‚ ac forsan hodieque pascitur. Mulier gravida, aliquandiu viri casui superstes, tanti horrore judicii exanimata est. Non ab auritis tantum‚ sed ab oculatis accepi testibus, quod narrow.18

Wenige Jahre später reiht ein weiteres berühmtes Geschichtswerk, nämlich das Theatrum Europaeum den Vorgang unter die denkwürdigen Geschichts­ ereignisse des Jahres 1633 ein. Es wurde dieser Zeit eine erschreckliche Geschieht spargiret / welche sich in Po­ len an der Masuzischen Gräntze 10. Meylen vom Ampt Soldau in einem Dorff Beinen genannt / mit des Lands Schoß Einnehmer / einem vom Adel / Namens Albrecht Perekonsky begeben / indeme selbiger wegen vieler außgestossener greulicher Lästerwort wider Gott den Allmächtigen sich dergestalt versündiget / daß er auß dessen Verhängnuß in einen grossen schwartzen Englischen Hund verwandelt / sich der todten Aasen auff dem Feld / gleich andern Hunden neh­ ren müssen / doch darbey seinen Verstand und Menschliche Sprach behalten; gestaltsamb der Hauptmann zu Soldau drey geschworne Männer nacher besagtem Dorff Beinen abgeordnet / welche außgesagt und erzehlet / daß sie bemelten Hund bey dem todten Aaß gesehen / und ihnen reden gehöret. Diese Geschicht

17 Jöcher‚ Christian Gottlieb: Allgemeines Gelehrten-Lexicon. Bd. 1. (Leipzig 1750) Neu­ druck: Hildesheim 1960, S. 1974f. 18 Cluever, Johannes: Historiarum totius mundi epitome, editio sexta correctior. Lugduni Ba­ tavorum [= Leiden] 1657, S.  790f. (benutztes Exemplar: Landesbibliothek Stuttgart, HB 2847).

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mögen alle dieses Edelmanns hinterlassene Brüder und Gesellen / als alle GottesLästerer deren es heut zu Tag sehr viel gibt / wol zu Hertzen nehmen / und sich vor dergleichen und andern Sünden hüten.19

Dieser deutsche Text ist ebenso wie der lateinische bei J. Cluever abhängig von dem ersten Zeitungsbericht aus Stettin (er übernimmt sogar daraus den Druckfehler „Masuzische Gräntze“), aber durch diese beiden Wiedergaben ist das ursprüngliche Sensationsereignis zum Gegenstand der Historiogra­ phie geworden und somit durch zwei Autoritäten der Zeit verbürgt. Dies wird für die weitere literarische Überlieferungsgeschichte des Stoffes wichtig, denn diese Autoritäten werden von nun an immer wieder genannt und als Zeugen für die historische Wahrheit des Berichtes ange­ rufen. Das läßt sich z.B. sehr gut bei dem Kompilator Martin Grundmann beobachten, in dessen alphabetisch geordneter Geist- und weltlicher GeschichtSchule die Geschichte vom Edelmann als Hund unter dem Stichwort „Al­ brecht Pericofzky“ nach J. Cluever mit Quellenangabe in deutscher Spra­ che wiedergegeben wird. Grundmann verwendet den Text als Exempel zur Veranschaulichung des Satzes: „So du im Zorn GOtt den HErrn lästerst / Thust du zwar ihm keinen Dampf an / aber dir schadest du am meisten / indem du ein Schwert in dich selber stößest“.20 Der Herausgeber bekennt, daß ihm diese Geschichte trotz der von Cluever benannten Augenzeugen „etwas fabelmäßig“ vorkam, aber er beruhigte sich mit der „Erinnerung“: „Inest saepè in incredibli verum, & in verisimili mendacium“.21 Sicher wird er seiner Sache dann aber wieder, als er feststellt, daß auch der dritte Teil des Theatrum Europaeum die Geschichte von dem Gotteslästerer wiedergibt, die er dann ebenfalls als zusätzlichen Wahrheitsbeweis abdruckt, ohne zu bemerken, daß der Herausgeber des Theatrum‚ Heinrich Oraeus‚ seinerseits auf Cluever fußte. Andere Kompilatoren wie der berühmte Eberhard Werner Happel haben sich die Geschichte von dem Edelmann als Hund ebenfalls später nicht entgehen lassen. Happel beruft sich in seiner Wiedergabe des Tex­ tes in seinen Relationes curiosae 1687 zwar ausdrücklich auf die Autorität Cluevers, druckt aber nicht direkt aus dessen Historiographie, sondern aus

19 Theatri Europaei continuatio. Bd. 3. Frankfurt a.M. 1670, S. 77. 20 Grundmann, Martin: Neu-eröffnete Geist- und Weltliche Geschicht-Schule / Oder Ergötz­ liche / Nutz- und Lehrreiche Geschichte / Beyspiele und Begebnisse / Von mancherley wunderbahren Verhengnissen // Gerichten / Wolthaten und Strafen GOttes [...] 1. Görlitz 1677, S. 32f. (benutztes Exemplar: Stadtbibliothek Braunschweig, M 27). 21 Ebd., S. 33. Aus Cluever (wie Anm. 18), Theatrum Europaeum (wie Anm. 19) und Grund­ mann (wie Anm. 20) hat Johann Wilhelm Wolf im 19. Jahrhundert den Stoff für eine ‚Sage‘ mit dem Titel „Der schwarze Hund zu Beinen“ gewonnen, vgl. ders.: Deutsche Märchen und Sagen. Leipzig 1845, S. 305f., num. 194.

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Grundmanns Geschicht-Schule wortwörtlich ab, wobei seine eigene Zutat le­ diglich in der applicatio moralis besteht, die lautet: „Dem Allmächtigen Schöpffer ist seine Hand noch im geringsten nicht verkürtzet; Er verrichtet lauter Wunder damit / darumb darff man diese unglaublich scheinende Erzehlung nicht alsobald for eine Fabel halten“.22 Auch Theophilus Laube, der Verfasser einer Abhandlung über die Lycantbropia‚ druckt 1686 den Text aus Grundmanns Geschicht-Schule wörtlich ohne Quellenangabe ab.23 Aus der Sphäre der Historien-, Exempel- und Kuriositätenliteratur fin­ det unsere Geschichte bald auch Eingang in die Predigtliteratur. Als ein­ prägsames Beispiel für die Verwendung der Geschichte vom Edelmann als Hund im Predigtexempel kann der Gebrauch bei dem lutherischen Straß­ burger Theologieprofessor und Münsterprediger Johann Konrad Dann­ hauer (1603–1666)24 dienen, der in seinen zahlreichen gedruckten Predigt­ werken nicht weniger als dreimal darauf zurückkommt. In seinem Memorial von 1661 ist eine Predigt auf den 8. Sonntag nach Trinitatis über Matthäus 7,15 („Sehet euch für / für den falschen Propheten, die in Schaffs-Kleidern zu euch kommen, inwendig seind sie reissende Wölffe“) abgedruckt, in der Dannhauer neben verschiedenen anderen Mensch-Tier-Verwandlungen aus Cluever die „vnerhört seltzam [...] Geschicht“ von dem polnischen Edelmann Albrecht „Periccotzii“ wiedergibt,25 als Beweis für die Existenz von Wolfsmenschen oder Lycanthropen. In seiner Epistoliographia von 1683 steht eine Predigt über Galater 6,1 sqq.: „Irret euch nicht, Gott lasset sich nicht spotten“, und auch hier hat sich Dannhauer das Exempel nicht ent­ gehen lassen. Nach zahlreichen biblischen Beispielen für die Bestrafung von Gotteslästerern schreibt er: „Dazu kommet auch noch die experientz und leidige Erfahrung, dann wann wir uns umbsehen, werden wir Exempel

22 Happel, Eberhard Werner: Gröste Denkwürdigkeiten der Welt oder so genannte Relationes curiosae. Bd. 3. Hamburg 1687, S. 369. In Bd. 5. Hamburg 1691, S. 694f. kommt Happel nochmals ausführlich auf diese Geschichte zurück und bemerkt nach dem erneuten Ab­ druck des Textes: „Diese erschreckliche Geschicht / hat man alsofort dem Könige / durch einen Abgeordneten wissen lassen / und dieses erschreckliche Exempel / allen dergleichen Befehlhabern und Bedienten zur ernstlichen Warnung / mit den armen Leuten besser um­ zugehen / recommendiren lassen / mit der ernstlichen Bedeutung / damit sie nicht in gleiche Straffe verfielen.“ 23 Laube, Theophilus: Dialogi und Gespräch von der Lycanthropia, Oder der Menschen in Wölff-Verwandlung. Frankfurt a.M. 1686 (Universitätsbibliothek München, P. germ. 231/2. Für die Vermittlung des Textes bin ich Dr. Michael Schilling, München, zu Dank verpflich­ tet). 24 Vgl. Allgemeine Deutsche Biographie. Bd. 4. Leipzig 1876, S. 745f. 25 Dannhauer, Johann Conrad: Evangelisches Memorial oder Denckmahl der Erklärungen vber die Sontägliche Evangelien, welche zu Straßburg im Münster abgelegt. Straßburg 1661, S. 599.

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gnug finden der Gottes-spötter, welche jhren Gottes-spott thewr haben be­ zahlen müssen [...]. Ich kann nicht fürüber zu erzehlen das erschröckliche Exempel / welches Cluverius in append. Epit. histor. p. 38 auffgezeichnet [...]“.26 Wie in der erstgenannten Predigtsammlung fügt Dannhauer auch hier eigenmächtig das Motiv von den Blutstropfen hinzu, die nach dem Schuß des Edelmannes in den Himmel zur Erde herabgefallen seien.27 Ein drittes Mal hat Dannhauer das Exempel in seine Catechismus-Milch von 1680 eingebaut.28 Mit den bisher genannten Quellen aus dem Zeitraum zwischen 1633 und 1691 ist zunächst einmal der erste „Schub“ der Überlieferungsge­ schichte des Exempels vom Edelmann als Hund dargestellt. Als Gemein­ samkeit der Berichterstattung in den verschiedenen Medien (Neue Zeitung, Zeitungslied, Historiographie, Predigtexempel) ist die kritiklose Wieder­ gabe des Geschehens festzuhalten. Das Jahr 1673 leitet dann eine neue Welle von Nachrichten über die Hundsverwandlung eines Edelmannes ein, an der weitere Medien beteiligt sind: neben den bereits genannten vor al­ lem die periodische Presse und das illustrierte Flugblatt. Das Jahr 1673 ist zugleich der eigentliche Höhepunkt in der literarischen Überlieferungsge­ schichte der Story und stellt durch die Dichte der Bezeugung alles Voran­ gegangene weit in den Schatten. Die Neuauflage der Sensationsmeldung beginnt mit einem illustrierten Flugblatt (A) Warhafftige und glaubwürdige Vorstellung der jenigen erschröcklichen Geschicht [...] (Abb. 1).29

26 Dannhauser, Johann Conrad: Epistoliographia. Das ist: Predigten / über die Sonn- und Festtägliche Lectionen und Episteln / Gehalten im Münster zu Straßburg. Straßburg 1683, S. 667. 27 Die Sage vom „Schuß gen Himmel“, die sich vor allem in der Frevelsage vom sog. „Blut von Willisau“ (Schweiz) niedergeschlagen hat, wird hier aus Platzgründen nicht mitbehandelt. Ma­ terialien zu dieser mit der Edelmann-Geschichte nur lose verknüpften Sage hat Jacoby: Von dem bösen Amtmann (wie Anm. 2), S. 213, not. 1 und S. 222ff. zusammengetragen. 28 Dannhauer, J. C.: Catechismus-Milch. Bd. 1. Straßburg 1680, S. 364 (nicht eingesehen); Nachweis bei Jacoby: Von dem bösen Amtmann, der in einen Hund verwandelt wurde (wie Anm. 2), S. 213, not. 1; Peuckert: Amtmann (wie Anm. 2), S. 505, not. 1. 29 Von diesem Flugblatt sind zwei identische Exemplare erhalten: (1) Herzog Anton UlrichMuseum Braunschweig, FB IX (= Abb. 1); (2) Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel, Quod. N. 205 (24). Der Abdruck des 2. Exemplars ist vorgesehen in der Edition: Die Sammlung der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel. 1: Ethica‚ Physica (= Deutsche il­ lustrierte Flugblätter des 16. und 17. Jahrhunderts, 1). Hg. von Harms, Wolfgang u.a. Tü­ bingen 1985, num. 233. Herrn Dr. Schilling danke ich herzlich dafür, daß er mir seinen Kommentar zu diesem Blatt im Vorabdruck zugänglich gemacht hat.

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Abb. 1: Illustriertes Flugblatt, S. 1, 1673 (Herzog Anton Ulrich-Museum Braunschweig, FB IX).

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Erstmals erfolgt hier die Darstellung des Geschehens auf zwei getrennten Ebenen im Bild und im Text. Der Blick in die Textfassung zeigt, daß in­ folge verschiedener inhaltlicher Veränderungen gegenüber dem Zeitungs­ bericht von 1633 eine neue und teilweise selbständige Geschichte entstan­ den ist. Folgende inhaltlichen Unterschiede fallen besonders ins Gewicht: Der vornehme Kavalier (dessen Name aus Gründen der Schonung seiner weitberühmten Familie nicht genannt wird) stammt aus dem Königreich Böhmen. Der Hartherzige nimmt einer armen Witwe mit fünf Kindern die letzte Kuh und läßt sich auch durch die Fürbitte der eigenen Frau nicht erweichen, ja er vergleicht die Waisenkinder mit Hunden, die Luder30 fres­ sen sollen, wenn sie Hunger haben. Zur Strafe stirbt sein gesamter eigener Viehbestand mit Ausnahme der Kuh der Witwe. Die Lästerreden wider Gott und die beiden Schüsse gen Himmel verbinden die vorliegende Ver­ sion wieder enger mit der von 1633. Das Flugblatt liefert in Wort und Bild zudem eine genaue Beschreibung des verwandelten böhmischen Edelman­ nes. Im Unterschied zu dem polnischen Edelmann der früheren Version bleibt der menschliche Kopf des Kavaliers samt gelbem Haar, Bart und Allongeperücke erhalten, während der übrige Teil des Leibes die Gestalt einer deutschen Dogge angenommen hat. Neu ist ferner, daß der Hund in einem Käfig auf einem Karren herumgeführt wird und die Frau in einer Kutsche folgt. Die einzelnen Episoden der Geschichte sind im Kupferstich simultan nebeneinander dargestellt und in der Legende rechts unten mit den Ziffern 1–12 erklärt. Von Interesse ist ferner noch, daß der Autor des Textes am Ende selbst seine Version von der älteren Lesart der Geschichte absetzt: „Und ob gleich etliche vorgeben diese Geschicht habe sich schon allbereit vor 40.Jahren zugetragen / so ist zu wissen / daß selbige auf ei­ ne andere Art sich ereignet / doch in etlichen Stücken mit dieser überein treffe.“ Das in der chronologischen Reihenfolge nächste Flugblatt B (Abb. 2)31 wiederholt mit leichten Änderungen und Erweiterungen den Text von A, macht aber durch eine völlig neue Gestaltung der Illustration und der schlagzeilenähnlichen Titelanordnung deutlich, daß es hier bereits weniger um Information über das Ereignis selbst, sondern schon mehr um dessen publizistisch-propagandistische Auswertung als abschreckendes Exempel geht.

30 = Aas, verwestes Fleisch (vgl. Grimm: Deutsches Wörterbuch [wie Anm. 6]. Bd. 6 [1885], S. 1232). 31 Wiedergabe auch bei Holländer, B.: Wunder, Wundergeburt und Wundergestalt in Einblatt­ drucken des fünfzehnten bis achtzehnten Jahrhunderts. Stuttgart 1921, S. 193, Abb. 101.

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Abb. 2: Illustriertes Flugblatt, S. 1, 1673 (Germanisches Nationalmuseum Nürnberg, 3941/1283a).

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Flugblatt C, das in zwei voneinander abweichenden Auflagen vorliegt,32 ist in bezug auf die Illustration von A abhängig: der Kupferstich wiederholt in leicht veränderter Komposition die Szenenfolge von A; der Hund mit Allongeperücke erscheint nach rechts gewendet. Der Text von C ist dem­ gegenüber selbständig. Er beginnt mit einer allgemeinen Maxime über die öffentliche Meinung: „DAs gemeine Geschrey gleichet sich einem betrüg­ lichen Spiegel / welcher offt ein Ding änderst zeigt / als es ist [...]“. Dies gelte auch für die derzeit „weit und breit erschollene Verwandelung einer fürnehmen Person in einen Hund“, die – obwohl von verschiedenen Orten bekräftigt und als Strafzeichen für alle Gotteslästerer und Ungerechte nicht gering zu achten – dennoch „ein bereit vor 40 Jahren  / jedoch in War­ heit geschehenes Wunder sey / welches von bewerthen Geschichtschrei­ bern dergestalt erzählt wird“. Im folgenden wird der Text aus J. Cluever ins Deutsche übersetzt, der dem Chronisten offenbar vertrauenswürdiger schien als die im Jahre 1673 neu in Umlauf gebrachten Nachrichten von einer Wiederholung der Geschichte in Böhmen. Flugblatt D (Abb. 3) schließlich, das wiederum in zwei unterschiedli­ chen Auflagendrucken erhalten ist,33 schließt an C an, wiederholt die Bild­ aussage der Vorlage seitenverkehrt und übernimmt dessen Text. Aber der Drucker Joh. Wilhelm Ammon34 gibt sich damit noch nicht zufrieden, son­ dern er greift zusätzlich auch noch die in „neulichster Zeit“ in Deutschland umlaufende Verwandlungsgeschichte aus N. auf und fügt sie der Überset­ zung aus dem „berühmten Geschichtschreiber“ Cluever an. Mit dieser letzteren Version der Verwandlungsgeschichte findet in das illustrierte Flugblatt ein Text Eingang, der zur gleichen Zeit auch in der periodischen Presse die Runde durch Mitteleuropa machte. Im Archiv der Deutschen Presseforschung an der Universität Bremen sind nicht weniger als acht verschiedene Presseorgane nachgewiesen, die die Geschichte vom Edelmann als Hund als die Sensationsmeldung des Jahres 1673 kolportier­ ten. Es sind dies im einzelnen:35 32 C 1: Ebd., S. 191, Abb. 100 (ohne Herkunftsangabe); C 2: Diederichs, Eugen: Deutsches Leben in der Vergangenheit in Bildern 1. Jena 1908, S. 124, Abb. 413 (Germanisches Natio­ nalmuseum Nürnberg). 33 Beide sind erhalten als Bll. 122 (D 1) und 123 (D 2) in der Collection Jean Hermann der Bibliothèque Nationale et Universitaire Strasbourg, R. 5. Unsere Abb. 3 gibt Bl. 123 mit der handschriftlichen Eintragung Hermanns (= dummes Zeug von den Wolfsmenschen) wieder. Die beiden Drucke unterscheiden sich lediglich in der Schrifttype des Titels vonein­ ander; der Kupferstich von Bl. 122 ist am unteren linken Rand defekt; vgl. die Beschreibung der Sammlung in Revue des bibliothèques 35 (1925), S. 428. 34 Nicht bezeugt bei Benzing: Die Buchdrucker des 16. und 17. Jahrhunderts im deutschen Sprachgebiet (wie Anm. 4). 35 Herrn Prof. Dr. Elger Blühm‚ Bremen, bin ich für die Nachweise sowie für die großzügige Überlassung von Fotokopien aus seinem Archiv zu herzlichem Dank verpflichtet.

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Abb. 3: Illustriertes Flugblatt. Frankfurt a.M. 1673 (Bibliothèque Nationale et Universitaire Strasbourg, R. 5, num. 123).

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1. Nordischer Mercurius. Hamburg, Herausgeber Georg Greflinger, Januar 1673, 33–35. Die Nachricht ist auf den 16. Januar 1673 datiert, der Text ist identisch mit dem auf Abb. 3, Sp. 2 wiedergegebenen Wortlaut. Am Schluß fügt der Herausgeber – offenbar zu seiner Rechtfertigung – folgen­ des Notabene an: „Dieses gebe ich / wie ich es vorgestern schrifftlich von Nürnberg / über Leipzig empfangen habe.“ Auf S. 73 des gleichen Organs steht noch die folgende Nachbemerkung zu dem ersten Bericht: Was von einem in einen Hund verwandelten Menschen gedacht worden, findet bey den meisten kleinen Glauben weil in so vilen nachgekommenen Brifen hier­ von nichts gedacht wird. Es muß aber doch in Hoch-Deutschland solches etwas weit außgebreitet seyn‚ weil jüngst aus Cöllen36 Worte hiervon im Drucke sind ein­ geschicket worden: Memorati nuper N. in Canem conversi blasphemiam nupera longe grandiorem recentior Sabbatinus Superioris Germaniae Veredarius contulit, & confirmavit, hanc scilicet: DEus optime maxime, Si ego ab æterno DEus essem immensus & omnipotens & tum tempore creatus homo fragilis mihi subesses, per Omnipotentiam meam te hominem in Canem commutatem voracissimum, qvi hæc Boum cadavera absumeret. Cetera nuperis convenunt. Solche abscheu­ lichste Gottes Lästerung deutsch zugeben ist wegen des gemeinen Mannes / im Bedenkken.

2. Altonaische Relation, Verleger Victor de Low, Redaktor wahrscheinlich Jo­ hann Frisch, 1673, 55sq.: Meldung aus Nürnberg vom 1./10. Januar, unter Altona 17./27. Januar 1673. Die Geschichte soll sich „unweit von Mün­ chen“ abgespielt haben; der Text gibt eine sprachlich selbständige Version der Story. Die Nachbemerkung des Redaktors lautet: „Der Leser wird sich zuentsinnen wissen / daß im verwichenen Jahr in No. 7 ein gleichmäßiges auß Königsberg berichtet worden / weil um schier eben die Umbstände in selben Brieff darauß es damahlen genommen sich enthielten / so weiß ich nicht wofür ich es halten sol / stelle es eines jeden Vernünnftigen Judicio heim.“ Auf den Gedanken, daß das Ganze ob der Duplizität der Ereignisse eine Wandersage darstellen könne, kommt der altonaische Redaktor aller­ dings noch nicht. 3. Extraordinaires RELATIONES Aus Allerley Orten. Kopenhagen, Ver­ lag Daniel Paulli‚ 1673, num. 11 vom 21. Jan. 1673, 78sq.37 Die Erzählung

36 Möglicherweise ist mit diesem Hinweis die in Köln bei Peter Hilden gedruckte lateinische Zeitung „Ordinariae Relationes Extraordinariae“ gemeint. Nach Blunck‚ Jürgen: Die Köl­ ner Zeitungen und Zeitschriften vor 1814. Münster 1966, S. 21f. war der Jahrgang 1673 die­ ser Zeitung früher in der Universitäts- und Stadtbibliothek Köln vorhanden. Nach freund­ licher Auskunft dieser Bibliothek vom 24.5.1984 ist der betr. Jahrgang seit geraumer Zeit verschollen. 37 Wiedergabe bei Brednich, Rolf Wilhelm: Der in einen Hund verwandelte Edelmann. Eine Nürnberger Pressemeldung des Jahres 1673. Wundergeschichte und politische Wirklichkeit

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war auf p. 77, dem Schluß von num. 10, bereits angekündigt worden, wes­ halb der Text hier beginnt: „Die jüngsthin versprochene erschröckliche Hi­ storia / daran sich alle Gottes-Lästerer wol spiegeln mögen / hat man aus Nürnberg vom 16. Januarii wie folgt mitgetheilet“ (der sich anschließende Text entspricht num. 1 und Abb. 3). 4. ibid., 109. In diesem Falle reichen sich periodische Zeitung und illu­ striertes Flugblatt die Hand, denn die Extraordinaires RELATIONES geben sich mit der nüchternen Zeitungsmeldung vom 21. Januar nicht zufrieden, sondern der Herausgeber liefert seinen Lesern die Hundsverwandlung des nürnbergischen Edelmannes nochmals als Extrablatt im Großformat mit Holzschnittillustration. Der Text entspricht dem von num. 3. 5. Anhang der Ordinaire Post-Zeitung Aus allerley Orten. Worinne zu lesen ein Wunder-Geschicht / so sich an ein Grafen in Teutschland ohnweit München wegen Gotteslästerung hat zugetragen. Kopenhagen, gedruckt bei Georg Göden‚ den 23. Januar 1673. Nachricht aus Nürnberg vom 16. Januar 1673 (Text wie num. 2). Original in der Kgl. Bibliothek Stockholm. 6. „Die Leipziger Zeitung schilderte im Jahre 1673 in einer Beilage, wie ein Mann wegen Gotteslästerung in einen Hund verwandelt wurde, und sie fügte dem Texte das Bild einer großen Dogge mit Löwenpranken und ei­ nem Kavalierkopf unter einer Allongeperücke bei“.38 Das Extrablatt liegt dem Archiv der Deutschen Presseforschung Bremen nicht vor. 7. Einkommende Ordinari- und Postzeitungen. Berlin, Offizin Runge, 1673, III. Woche, Stück IV, num. XII, 2sq. Nachricht aus Nürnberg vom 16. Ja­ nuar 1673 (Text wie num. 1). 8. Königsb. Sontags ORDINARI PostZeitung. Königsberg, Offizin Reuß­ ner, 1673, num. 13. Nachricht aus Nürnberg, 16. Januar 1673 (Text wie num. 1). Der Niederschlag der Edelmann-Geschichte in den frühen periodischen Zeitungen ist zweifellos überraschend dicht, trotzdem muß man sich wohl davor hüten, diesen Befund überzubewerten. Zum einen wird deutlich, daß die Redaktoren der Zeitungen hemmungslos voneinander abgeschrieben haben, zum andern ändert der hier zu beobachtende offensichtliche Rück­ fall der Zeitungsschreiber in das „Mittelalter der Zeitung“ nichts daran, daß die frühe periodische Presse im Grunde doch ein seriöses Medium gewe­ sen ist. Sensations- und Wunderberichte wie die vom Edelmann als Hund

im Medienverbund der Zeit. In: Blühm, Elger und Gebhardt, Hartwig (Hg.): Presse und Geschichte. II. [München u.a. 1987, S. 159–170]. 38 Groth‚ Otto: Die Zeitung. Ein System der Zeitungskunde (Journalistik). Bd. 1. Mannheim, Berlin, Leipzig 1928, S. 1019.

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stellen unter den in Bremen bisher erfaßten 60.000 Zeitungsnummern des 17. Jahrhunderts nur einen Bruchteil dar. Trotzdem sollten wir an dieser Stelle unserer Materialdarbietung zu­ nächst einmal innehalten und fragen, worin der erstaunliche Erfolg unserer Meldung in dieser großen Bandbreite von Medien des 17. Jahrhunderts seine Erklärung findet. Das Ungewöhnliche dieser Nachricht besteht zwei­ fellos in der Tatsache, daß es sich bei der Person des Frevelnden stets um einen Adligen handelt. Keines der bisher vorgeführten Text- und Bildzeug­ nisse versäumt es, eigens auf diesen Aspekt des Themas hinzuweisen. Wir haben es demnach mit einer sozialkritischen Botschaft von einiger Spreng­ kraft zu tun, wie sie im Flugblatt39 und in den parallel damit sendenden Medien des 17. Jahrhunderts nicht eben häufig anzutreffen ist. Nach al­ ler Erfahrung sind diese Publikationsorgane stets eher Instrumente der Anpassung an die bestehende Ordnung und der Beschwichtigung sozialer Gegensätze als Vorkämpfer der Kritik und der Veränderung gewesen.40 Um so wichtiger sind uns die relativ seltenen Zeugnisse aus der popularen Literatur, die ausnahmsweise einmal Sympathie mit den Namenlosen und Unterprivilegierten erkennen lassen. In diesem Zusammenhang erscheint es bezeichnend, daß die Nachrichten von der Bestrafung des hartherzigen Edelmannes in der Mehrzahl der Fälle aus Ostmitteleuropa stammen, ei­ nem Gebiet also, das durch die Dominanz der Gutsherrschaft und durch starke Ausbeutung der Gutsuntertänigen gekennzeichnet war. Besonders in diesen Landschaften mußte die Kunde von der Verwandlung einer der Ausbeuter wie ein Fanal der Hoffnung wirken. Auch auf dem weiteren Weg der Nachricht durch die Medien wird der sozialkritische Aspekt der Meldung im Vordergrund stehen. Wir verweilen noch im Jahre 1673, das nicht nur eine Hochflut von Zeitungsmeldungen zum Edelmann als Hund hervorgebracht hat, sondern auch noch andere Medien für den Stoff mobilisierte. Was sich bereits 1633 mit der Edelmanngeschichte ereignete, wiederholte sich vierzig Jahre spä­ ter: Abermals wird aus der Prosazeitung eine Liedzeitung, die für die noch nicht alphabetisierten Teile der Bevölkerung auf dem Jahrmarkt vorgesun­ gen werden konnte. Aus der Offizin von Jacob Straub in München liegt 1673 ein populärer Heftchendruck mit einem solchen Zeitungslied vor, welches in 30 fünfzeiligen Strophen die Zeitungsmeldung in einen langat­ migen, barocken Gesangstext umsetzt, der im Ton der geistlichen Lieder Die sieben Worte oder In dich hab ich gehoffet zu singen war. 39 Schilling, Michael: Das Flugblatt als Instrument gesellschaftlicher Anpassung. In: Brückner, Wolfgang (Hg.): Literatur und Volk im 17. Jahrhundert. Wolfenbüttel 1985 (im Druck). 40 Brednich, Rolf Wilhelm: Flugblatt, Flugschrift. In: EM (wie Anm. 9), Bd. 4 (1984), Sp. 1339–1358, bes. Sp. 1347f.

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Ein erschröckenliche vnd auch warhafftige / wunder über wunderliche Geschicht vnd Newe Zeitung / Welche sich hat begeben vnd zu getragen den zwäntzigsten Tag Christenmonats: deß 1672. Jahrs / zu München im Beyerland / mit einem Grafen / welcher sich hat versündiget mit einer armen Wittfrawen / deren jhr Mann nit langest gestorben / daß er jhren ein Kuh vß den Stall in Erbschatzes wyß mit gewalt hat lassen nemmen / welche sunst nichts hatte / als neun vner­ zogene Kinder / darumb hat jhn Gott gestrafft / daß jhm alle seine Kühe all dar­ durch verdorben / dafür er grausam geschworen / auch Gott vnd sein heilige Ma­ jestät hat Hunden genamset / daß sie kommen / seine verderbte Kuh gefressen / darumb er augenscheinlich von Gott gestrafft / vnd zu einem Hund worden ist / vnd ist diß jedermänniglich zu einer trewhertzigen Warnung in Truck gegeben. Im Thon / der H. sieben Worten / Oder / In dich hab ich gehoffet / x.41 [1.] Hörend zu jhr Christen allgemein / Ihr seyt reich / arm / groß oder klein / Dann ich treib gar kein schärtzen / was sich kurtzlich zugetragen hat / Das laßt euch gehn zu hertzen. […] [5.] Erst neulich wir vernommen hand / ein gleiche Gschicht hört mit Verstand / Vnd merckend mich gar eben / In der Statt München in Beyerland / Hat sich diß Wunder begeben. [6.] Ein Graf wol in derselben Statt / Viel Gut vnd Gelt derselbig hat / Ross Vieh vnd anders mehre / Wie mehr er hat / wie mehr er wolt / Da strafft jhn Gott der HErre. [7.] Daselbst wohnte ein armer Mann / der lag lang kranck / das Gott erbarm / Endlich thät er auch sterben / Er hat nichts dann ein eintzige Kuh / Die wolt der Graf gan erben. [8.] Der Graf der gieng wol ohne grauß / Der armen Frawen zu dem hauß / Vnd thät zu jhrer sagen / Den Erbschatz wil ich jetzund han / Sie thät sich hefftig klagen. […] [25.] Gott hat jhn geschaffen zu eim Hund / das sag ich euch zu dieser stund / Allein der Kopff ist blieben / der ist noch wie ein Menschenkopff  / Also kan es Gott schieben. [26.] Der Graf hat die Form zu dieser stund / wie ein rechtschafner Zottelhund / Allein er hat noch Ohren / gleichsam wie ein Mensch haben soll / also hats Gott erkohren.

41 Stadtbibliothek Bern, Rar. 6821 (= Deutsches Volksliedarchiv Freiburg i.Br., Bl 4185). Der gleiche Liedtext ist auch enthalten in: Zwo erschröckliche Newe Zeitungen [...]. Getruckt im Jahr 1673. Stadtbibliothek Bern, Rar. 6822 (= Deutsches Volksliedarchiv Freiburg i.Br., Bl 4186).

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[27.] Weiters so thut mich recht verstahn / recht Hundsohren thut er auch han / die hinder seinen standen / Dergleichen hat man nie gesehn / in Teutsch vnd Welschen Landen. [28.] Er redt nit viel mit seinem mund / nicht mehr dann nur / Gott ist ob vns / Darumb jhr lieben Fründen / laßt euch die Gschicht zu hertzen gahn / wo man das thut verkünden. [29.] Ihr lieben Christen allgemein / land euch die Gschicht ein Warnung seyn. Flucht nit / stohnd ab von sünden / so werdt ihr Gottes Gnad vnd Huld / hie vnd dort ewig finden. [30.] Solchs zu erlangen allermeist / Gott Vatter / Sohn vnd H. Geist / die wöllen vns allsamen / hie vnd dort ewig gnädig seyn / durch Jesum Christum / Amen. ENDE.

Dieses Lied läßt durch seine kritiklose Übernahme der Vorlage erkennen, daß noch im ausgehenden 17. Jahrhundert mit einer allgemeinen Disposi­ tion des Publikums für Wundernachrichten dieser Art, die nach unseren heutigen Begriffen jenseits jeglicher Glaubwürdigkeit angesiedelt sind, ge­ rechnet werden kann. Bei dieser starken Neigung zum Irrationalen fällt es auch bei der vorliegenden Geschichte schwer, im 17. Jahrhundert Zeugnis­ se nachzuweisen, die die Geschichte vom Edelmann als Hund mit ersten Fragezeichen versehen. Als einer unter wenigen kann diesbezüglich der protestantische Schweizer Theologe Bartholomäus Anhorn von Hartwiss (1614–1700) genannt werden, der im zweiten Teil seiner Magiologia von 1675 in einem Kapitel der Frage nachgegangen ist, „ob vernünftige Men­ schen / Zauberer oder Bezauberte / wahrhafftig in Thier [...] verwandelt werden können“.42 Anhorn bejaht diese Möglichkeit durch die Heranfüh­ rung biblischer Beispiele von Mensch-Tier-Verwandlungen und geht dann (p. 565sq.) ausführlich auf die „erschreckliche Histori“ des Jahres 1632 mit „Albrecht Pericofz“ ein, die er aus J. Cluever gewinnt und als „wahre Hi­ stori vnd ein erschreckliches Gericht Gottes“ ansieht. Anhorn vertraut hier wie viele andere vor ihm nach wie vor auf die Autorität des angesehenen Historiographen, setzt sich aber zugleich mit folgenden Worten von der zweiten „Welle“ der Berichterstattung über das Ereignis in den illustrierten Flugblättern entschieden ab:

42 Magiologia. Das ist: Christlicher Bericht Von dem Aberglauben und Zauberey. Der Welt / ohne einige passion der Religionen fürgestellt Durch Philonem [d.i. B. Anhorn von Hart­ wiss]. Augustae Rauracorum 1675, S. 558 (benutztes Exemplar: Universitätsbibliothek Frei­ burg i.Br., F 954, am).

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[...] also ist hingegen nur eine Fabel der Leutbetriegeren gewesen / da das ver­ schienene 1672. Jahr / ein Kupfergemäld von einem in einen Hund verwandleten Graffen / mit behaltenem Menschenkopf  / in die Welt außgesprenget worden; welche Fabel / newgierige Leut zuäffen (weil je die Welt will betrogen werden.) vnd jhnen selber einen Gewinst zuerwerben / fürwizige Müssiggänger / auß der obigen Histori gedichtet / vnd die Augen sampt den Gemüteren vnd Beuden de­ sto mehr an sich zuziehen / dem Hund ein Menschengesicht angemahlet haben. Dann wie immer das Geschrey in dem ganzen Land erschallen / vnd das Kup­ ferbildnuß häufig verkaufft / ist doch kein einiger Mensch gehöret worden / der sagen können / er habe diesen Menschen mit dem Hundsleib / oder den Hund mit dem Menschenkopf selber gesehen.43

Die gleiche Argumentation macht sich – ohne Quellenangabe – der Kom­ pilator Adami â Lebenwaldt zu eigen, der in einem seiner Traktate Von deß Teuffels List vnd Betrug 1682 mit folgenden Worten den Stab über den illustrierten Flugblättern bricht: Göttliche Verwandlungen können geschehen tam beno quod ad substantiam, quàm quo ad accidentia, so wol in der selbst Wesenheit als zufälligen Dingen / also wurd deß Loths Weib in ein Saltz-Saulen; der Stab Aaronis in Schlangen / das Wasser zu Cana in Galilaea in Wein verändert. Es solle auch die Moscowitische Histori / Teste Cluverio, von dem gottlosen Bauren-schinderischen Edelmann Albrecht Preitzoffen wahr seyn / welcher 1632. in einen Hund verwandlet wor­ den / auß disem Geschicht wurde erdicht das jenige Kupffer-Gemähl von einem Graffen / welches 1672. herumb getragen worden.44

Man muß schon weit ins 18. Jahrhundert vorgreifen, um einen Autor be­ nennen zu können, der nicht nur einzelne Versionen oder publizistische Darbietungsformen, sondern den Wahrheitsgehalt der ganzen Verwand­ lungsgeschichte schlechthin in Zweifel zieht. Ein Beispiel für diese kriti­ sche Haltung bietet Georg Wilhelm Wegner, der unter dem Pseudonym Tharsander eine Reihe von Beiträgen zur sog. Schauplatz-Literatur des 18. Jahrhunderts geliefert hat. In einer dieser Kompilationen geht er mit den „Prodigiis oder Wunder-Zeichen“ kritisch ins Gericht und äußert sich auch zum „Edelmann als Hund“: Man darff aber nicht alles gelauben, was uns die Alten von Wunder-Zeichen be­ richten, weil sie gar zu leichtgläubig waren, und gewohnt sind viele Nachrichten einzumischen, oder die wahren mit falschen Umständen auszuschmücken, oder aus bloß natürlichen Dingen Wunderzeichen zu machen. Man lieset so gar mit

43 Ebd., S. 567. 44 Lebenwaldt, Adami â: Achter Tractätl / Von deß Teuffels List vnd Betrug in Verführung der Menschen zur Zauberey. Salzburg 1682, S. 169 (benutztes Exemplar: Universitätsbiblio­ thek Freiburg i.Br., F 1022).

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Lied- und Erzählgeschichten

vieler Verwunderung, daß Menschen seyn in Hunde verwandelt worden, derglei­ chen Exempel man von einem Edelmann in Pohlen, Nahmens Albrecht Peri­ koffsky erzehlet, so sich Anno 1632. soll begeben haben [Happelii Relat. Curios. Tom. 3, p. 369]. Jedoch ist kein Zweiffel, man habe dergleichen Mährgen von den Landstreichern gelernet, die auf die Märckte herum ziehen, und allerhand traurige Mord-Geschichte absingen, damit sie ihre davon gedruckte Lieder desto besser verkauffen, auch zum Überfluß solche erschreckliche Geschichte abgemahlt bey sich führen, und beym Absingen mit einem Stock darauf weisen, auf daß die ein­ fältige Leute es desto eher glauben mögen.45

Mit diesem Zeugnis haben wir in der Zeit allerdings schon etwas vorgegrif­ fen. Wir müssen zunächst noch einmal in das Jahr 1673 zurückblenden, in welchem die zeitgenössische Berichterstattung über unser Wunderereignis ihren unbestrittenen Höhepunkt erreichte. Die verschiedenen Pressebe­ richte hatten das Publikum offenbar so auf das Thema eingestellt, daß der Hundemensch mancherorts den Hauptgegenstand der mündlichen Kom­ munikation bildete. An vielen Stellen schien man nur darauf zu warten, daß der Edelmann als Hund vorgeführt wurde bzw. in Erscheinung trat. Theophil Laube erinnert sich noch 1686 an das gespannte Warten der Ein­ wohner Nürnbergs auf die angekündigte Zurschaustellung des Hundes: Als nun etliche Tag vorbey / und solcher Hund nicht ankommen / hat es sich begeben / daß einer in gantz Deutschland beruffener vornehmer Medicus, nach Nürnberg in seinen Verrichtungen gekommen / und weilen es eben damals sehr kalt Wetter war / hat er nach Nordwegischem Gebrauch etliche Peltzwerk / so heraus gewandt gewesen / angehabt / umb damit der Kält zu widerstehen / bald ist in der gantzen Stadt ein allgemeynes Geschrey entstanden / als ob man den Menschen / so in einen Hund verwandelt worden / in die Stadt gebracht / da dann ein grosser Zulauff von viel tausend Menschen worden / welche aber bald ihren Irrthumb erkant haben. Ich laß hierüber einen jeden sein eigenes Judicium und Urtheil fällen / da indessen dieses gewiß / daß viel vornehme Authores, und berühmte Historici, diese Begebenheit mit vielen nachdencklichen Umbständen gedencken / auch ihrer viel dergleichen zu behaupten begehren.46

Vor diesem Hintergrund wird verständlich, daß die Geschichte vom Edel­ mann als Hund ihren Niederschlag nicht nur im aktuellen Tagesschrifttum fand, sondern daß sich sogar ein zweiteiliger zeitgenössischer Roman mit dem Stoff auseinandersetzte. Dieses für den Literaturhistoriker wie für den Erzählforscher gleichermaßen bemerkenswerte Dokument erschien im unmittelbaren Anschluß an die publizistische Vermarktung des Stoffes durch die Einzelzeitungen und durch die periodische Presse in den Jah­ 45 Tharsander [d.i. Wegner, Georg Wilhelm.]: Schau-Platz Vieler Ungereimten Meynungen und Erzehlungen. Bd. 1. Berlin 1736, S. 224f. 46 Laube: Dialogi und Gespräch von der Lycanthropia (wie Anm. 23), S. 92f.

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ren 1675 und 1676. Der erste Teil dieses Romans trägt folgenden Titel: Güldner Hund / oder Ausführliche Erzehlung / wie es dem so genannten Cavalier aus Böhmen / welcher nicht / (wie etliche mit Unwahrheit vorgegeben /) wegen greulicher Gotteslästerung / sondern durch Zauberey / in einen Hund verwandelt worden / bißhero ergangen / Und wie er wieder seine vorige menschliche Gestalt überkommen: (So nützlich und lustig zu lesen als deß Apuleji güldner Esel / oder Samuel Greifen Sohns Simplicius Simplicissimus;) Erstlich in Polnischer Sprache beschrieben / anitzo aber / denen Böhmischen Lands-Leuten zu Ehren verteutschet von Cosmo Pierio Bohemo. Gedruckt zu Wrzeckowitz. im Jahr 1675.47 Bei dem Verfassernamen Cosmus Pierius Bohemus48 handelt es sich nach den Forschungen von Richard Alewyn49 um ein Pseudonym für den aus dem oberpfälzischen Waldthurn gebürtigen protestantischen Musiker und Schriftsteller Wolfgang Caspar Printz (1641–1717), der seit 1665 in Sorau/Lausitz als Kantor tätig war. In der Musikwissenschaft steht heute noch seine Sing- und Kling-Kunst von 1690 in einigem Ansehen, eine Musik­ geschichte, die in zwei Neudrucken zugänglich ist.50 Das Werk enthält auch eine Autobiographie des Verfassers, in welcher er sich allerdings nicht zur Autorschaft am Güldenen Hund bekennt. Viele Indizien sprechen aber dafür, daß Printz seine literarische Laufbahn mit diesem originellen satirischen Roman begonnen hat, dessen literarische Vorbilder auf dem Titelblatt namhaft gemacht sind. Auch der Druckort Wrzeckowitz (polnisch = Alles­ stadt oder Überallstadt) ist fiktiv, und ebenso muß nach den Forschungen von Alois Eder51 die auf dem Titelblatt behauptete Übersetzung aus dem Polnischen als Fiktion angesehen werden. Zum Inhalt: Das 1. Kapitel bietet bereits in seiner Überschrift den Schlüssel zu dem Romanwerk an: „Das I. Capitel Wiederleget das Pasquil von dem böhmischen Cavalier, und erzehlet / wie der Autor durch Zau­

47 Benutzte Exemplare: Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel, P 468 Heimst. 12°, St. 5; Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Fab. Rom. X, 5472. 48 Nur mit dem genannten Werk gebucht bei Jöcher: Allgemeines Gelehrten-Lexicon (wie Anm. 17). Forts. 6. Bremen 1819, S. 160. 49 Alewyn, Richard: Johann Beer. Studien zum Roman des 17. Jahrhunderts. Leipzig 1932, S. 92–96. 50 Printz, Wolfgang Caspar: Historische Beschreibung der edelen Sing- und Kling-Kunst. Dresden 1690; Faksimile-Neudruck hg. von Othmar Wessely (= Die großen Darstellungen der Musikgeschichte in Barock und Aufklärung, 1). Graz 1964; Printz, Wolfgang Caspar: Ausgewählte Werke. Bd. 2 (= Ausgaben deutscher Literatur des XV. bis XVIII. Jahrhun­ derts). Hg. von Krausse, Helmut K. Berlin, New York 1979; zu Printz vgl. Wilhelm Bäum­ ker in ADB (wie Anm. 24). Bd. 26 (1888), S. 593–596; Winkler, Karl: Literaturgeschichte des oberpfälzisch-egerländischen Stammes. Bd. 1. Kallmünz 1940, S. 202–206, 677f. 51 Eder, Alois: Erstlich in polnischer Sprach beschrieben. Wolfgang Caspar Printz’ Güldener Hund und Polen. In: Acta Universitatis Wratislaviensis. Bd. 431. Wrocław 1978 (Germanica Wratislaviensia, 39), S. 213–239.

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berey in einen Hund verwandelt worden“.52 Mit „Pasquil“ bezieht sich der Autor gleich zu Beginn seines Werkes auf die illustrierten Flugblätter des Jahres 1673, die seiner Meinung nach als Lügengeschichten zu betrachten seien: Also ist es auch ergangen mit der Historie von dem vornehmen Cavalier aus Böh­ men / so zum Hunde worden / in welche / weil die Kupferstecher und Buch­ drucker nur ihren Nutzen darmit gesucht / und auch gefunden / so viel Lügen mit eingeschliechen / daß verständige Leute solche Geschieht billig für eine Fabel halten. Dieweil aber niemand besser Wissenschaft von besagter Historie hat / als ich; als will ich den günstigen Leser die klare Wahrheit in gegenwärtigen geringen Tractätlein mit wenigen darstellen. Die jenigen / so offt erwehnte Historie beschrieben / irren erstlich an der Person: Denn sie setzen / es were ein vornehmer Cavalier gewesen / dessen Namen / umb seiner weitbekandten / Hoch Adelichen familien willen nicht zu nennen we­ re [...]. Was bemühe ich mich aber solche ungeschickte Fabul zu wiederlegen / da ich doch selbst der jenige bin / der in einen Hund verwandelt worden / und also am besten weiß / wer ich bin. Ich begehre mich aber heutigen Weltbrauch nach / nicht für einen Edelmann auszugeben / sondern bekenne gut und rund / daß ich niemals ein Cavalier, vielweniger ein Graf [...] gewesen. Denn mein Vater ist ein Bauer in der Wallachey [...]. Ich bin aber mit der Zeit in Pohlen kommen / und daselbst von einem vornehmen Edelmann erstlich zu einem Kammerdiener / und endlich gar zu einem Schösser angenommen worden [...]. Es ist auch ferner fast der gantze Verlauff falsch und erlogen / verhelt sich aber in der Wahrheit also: Anno 1668 befahl mir mein Juncker / ich solte bey Vermeidung unnachläßlicher Straffe die Contribution oder Steuer einbringen / und im Fall sich jemand seine Schuldigkeit abzuführen / weigern würde / solte ich denselben pfänden / und das Vieh / oder andere Mobilien wegnehmen. Als ich solchen Befehl nachlebete / und meinem Ampte gebührende Genüge that / forderte ich unter andern auch von einer Witwen ihre schuldige Contribution […].53

Diese Witwe habe sich als Hexe erwiesen, sie habe dem Steuereinnehmer den Nacken mit einer Salbe bestrichen und ihn dadurch in einen schwar­ zen, zottigen Pudelhund verwandelt. Der weitere Roman beschreibt nun die Abenteuer dieses possierlichen Menschenhundes, der in die Dienste aller möglichen Herren eintritt und durch die Vorführung seiner Hunde­ künste Berühmtheit erlangt. Aber meistens erntet er für seine Künste nur Undank, er muß von Ort zu Ort ziehen, um zu überleben. So kommt er u.a. in ein Kloster, wo ihn der Abt gut behandelt, aber der Prior ist sein Feind und will ihn kastrieren lassen. Der Pudelmensch entflieht und dient zunächst einem Edelmann, dann einem frommen Pfarrer. Die Köchin aber vertreibt ihn mit siedendem Wasser. Nach weiteren Abenteuern kommt 52 Der Güldene Hund (künftig GH) 1 (1675) A 2a. 53 Ebd., A 2b-A 4b.

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er wieder zu seinem ersten Herrn, findet die Hexensalbe und erlangt mit ihrer Hilfe seine menschliche Gestalt zurück. Hier endet der erste Teil des Romans. Der zweite Teil trägt folgenden Titel: Güldenen Hundes Ander Theil / Das ist / Fernere Erzehlung / wie es dem so genannten Cavalier aus Böhmen / welcher in einen Hund verwandelt worden / in seiner Hundes Gestalt bey unterschiedlichen Herren ergangen / welche der Autor, wegen seines schleunigen Abzugs / dem ersten Theil nicht beyfügen können / Erstlich in Polnischer Sprach beschrieben / anitzo aber verteutscht von Cosmo Pierio Bohemo. Gedruckt zu Wrzeckowitz. im Jahr 1676.54 In dieser Fortsetzung nennt der Autor einleitend die Gründe, die ihn zur Abfassung eines zweiten Teils bewogen haben, weil nämlich die Leute „vorwitzig“ und „begierig“ gewesen seien, noch mehr Abenteuer des Hun­ des (bei einem Gastwirt, einem Advokaten, einem Arzt, einem Soldaten und anderen Herren) zu erfahren. – Platzgründe verbieten es uns, ausführ­ licher auf die einzelnen Episoden dieses originellen Schelmenromans mit einem Hund als Hauptperson einzugehen. Wir wollen nur noch kurz bei dem 13. Kapitel des ersten Teils verweilen, in welchem Printz erneut auf die publizistische Wirkung der illustrierten Flugblätter mit der Edelmanns­ geschichte zu sprechen kommt. Der Romanheld hat eine Zeitlang in einem Kloster gelebt und leidet wieder einmal unter seiner hündischen Gestalt, die er gerne loswerden möchte. Also begibt er sich in einer Dorfkirche in die Messe, um Gottes Wort zu hören und zu beten. Unvermittelt bege­ gnet er bei dieser Gelegenheit seiner eigenen angeblichen Verwandlungs­ geschichte als Predigtexempel auf der Kanzel: Der Prediger predigte von der Mäßigkeit / und schalte so jämmerlich auff das Fressen und Sauffen / daß einem die Haar hätten mögen gen Berge stehen. Von den Säuffern kam er auff die Flucher / und erzehlete von denselben unterschied­ lich grausame Historien / und endlich auch die gantze Fabel von dem Cavalier aus Böhmen / der zum Hunde worden. Diese Fabel gab er für eine so unzweifliche Warheit aus / daß er auch diejenigen / so sie nicht glauben wolten / hefftig straf­ fete. Was mir die Erzehlung dieser Fabel für närrische Gedancken gemacht / mag ich nicht zu Papier bringen. Dieser Prediger / so sonst auf einem Dorfe wohne­ te / ward mit an des Prälaten Tafel genötiget / daselbst fand sich auch ein junger von Adel aus Böhmen / welcher sich nicht scheuete in Gegenwart des Prälaten den Pater Prediger zu fragen; in welcher Bibel oder in welchem Patre er die Histori von dem Böhmischen Cavalier / so in einen Hund verwandelt worden / gelesen? Der Pater antwortete / die Geschicht hätte sich neulich zu getragen / könte also weder in der Bibel / noch in einigen Patre gefunden werden: Er hätte aber die

54 Beide Teile sind im Neudruck von Krausse: Ausgewählte Werke. Bd. 2 (wie Anm. 50) be­ quem zugänglich.

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gantze Histori gedruckt / und wär der Hund da bey in Kupfer gestochen. Ergò, sagte der Böhmische Edelmann / so muß es nothwendig wahr seyn / weil es ge­ druckt ist / als wenn niemals einiges Pasquil gedruckt wäre worden. Der Erfinder dieser Fabel ist ein Ertzschelm / und wäre werth / daß man ihn mit Ruthen aus strieche. Denn wenn es eine wahrhaftige Histori / warum hat sich der Schelm nicht genennet / oder zum wenigsten den Ort nahmhafft gemacht / an welchen die Fabel gedruckt worden. Mein Herr Pater / wenn ihr solche Schandlügen / und Pasquillen auf die Cantzel wollet bringen  / so wird man nicht sagen kön­ nen / man habe Gottes Wort gehört / sondern man habe Lügen und Pasquillen erzehlen hören. Als der Prälat sahe / daß sich der Edelmann so erzürnete / legte er sich drein / besänftiget den Edelmann etlicher massen / den Pater aber gab er einen Leviten / und verwarnete ihn / er solte sich hinführo enthalten Avisen auff die Cantzel zu bringen. Der Pater entschuldigte sich aufs beste alß er kunte / mit Vermelden / er hette nicht anderst vermeinet / es sey eine wahrhaffte Histori / und er glaube es auch noch. Denn Gott sey ja ein Allmächtiger Gott / der da thun könne / was er wolle / und weil der Cavalier Gott so gräulich gelästert / so habe ihn auch Gott / als ein gerechter Richter in einen abscheulichen Hund verwandelt. Und were zu beklagen / daß Gottlose Weltkinder sich an keine Warnung wolten kehren / sondern solche vielmehr verlachten. Ein trefliches Argument / fieng der Edelmann wieder an / Gott ist Allmächtig und kan thun / was er will. [...] drum hat er den Pasquillanten in einen Esel verwandelt. Woher weiß man aber / daß der Cavalier so grausam geflucht und Gott gelästert habe? Aus dem gedruckten Pasquil? darum muß es wahr seyn. Ja hinter sich tragen die Bauren die Spiesse. Der verlogene Schelm / so das Pasquil verfertiget / hat die verlogene Fabel von dem Edelmann aus Lithauen / so eben auf solche Weise zum Hunde hat sollen geworden seyn / wieder auffgefrischet / den Preißwürdigen Adel / Böhmischer nation‚ damit zu beschimpfen […].55

Diese Stelle des Romans ist in doppelter Hinsicht aufschlußreich. Zum einen, weil hier gegen die damals offenbar allgemein übliche kritiklose Vereinnahmung von Mirakelberichten in die Predigt- und Verkündigungs­ praxis der Dorfgeistlichen Stellung bezogen wird, zum anderen, weil der Autor des Romans zu erkennen gibt, aus welcher politischen Motivation heraus er das Werk überhaupt verfaßt hat. Wir haben bereits herausgear­ beitet, daß Flugblatt- und Zeitungsberichte des Jahres 1673 wie schon 1633 unüberhörbare Kritik an der Ausbeutungspraxis des grundbesitzenden Adels, in letzterem Falle des böhmischen Adels geübt haben. Wir wissen nicht, ob Printz von dem Sorauer Hof in der Lausitz, in dessen Diensten er stand, mit der Abfassung einer Gegenschrift beauftragt oder zumindest dazu ermuntert worden war, es liegt jedoch nahe anzunehmen, daß sich der Verfasser des Güldenen Hundes bei seinem Dienstherrn „lieb Kind“ machen wollte, indem er sich mit dem Adel solidarisierte und versuchte, die den

55 GH 1, E 2b-E 4a.

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Flugblättern und Zeitungsberichten innewohnende soziale Sprengkraft zu entschärfen.56 Mit dieser Absicht war dem Roman eine aktuelle propagandistische Funktion zugewiesen, wobei heute offen bleiben muß, ob er sie tatsäch­ lich auch erfüllte oder ob die Leser nicht einfach nur aus Freude an den burlesken Hundeabenteuern nach dem Roman griffen. Was der Verfasser damals sicher nicht absehen konnte, ist die Tatsache, daß sein Erstlings­ werk noch über hundert Jahre lang als Volksbuch lebendig bleiben würde. Dazu bedurfte es allerdings einiger Umarbeitungen, die das Werk von sei­ nen aktuellen propagandistischen Bezügen befreite und es der Sphäre des Volkslesestoffes annäherte. Diese Bearbeitung fand in den 30er Jahren des 18. Jahrhunderts statt; sie erschien 1733 unter dem Titel: Der Wunderbare Hund, Oder / Der durch List und Boßheit eines bösen Weibes in einen Hund verwandelte Amts-Schösser Welcher mit seinen Avanturen den Lauff der Welt vorstellet. Aus dem Polnischen ins Teutsche übersetzet von C. P. B. Anno 1733. 95 S.57 Die Bearbeitung beschränkt sich auf den ersten Teil des Printzschen Romans und folgt in Umrissen der Vorlage, ist aber im Detail oft stark sen­ timentalisierend und moralisierend verändert und mit lehrhaften Reimen und Liedeinlagen durchsetzt worden. Eine Neuauflage dieses Wunderbaren Hundes erschien noch ca. 1790 bei dem Kölner Volksbuchverleger Christi­ an Everaerts (Abb. 4); ein Exemplar dieses Volksbuches befand sich in der Bibliothek von Clemens Brentano, die Joseph Görres für seine Monogra­ phie über die Teutschen Volksbücher58 benutzte. Das Nachwort an den Leser macht die belehrende Grundtendenz der Neubearbeitung besonders deut­ lich: „[...] der günstige Leser lasse sich dieses Traktätlein ein Exempel der Härtigkeit gegen die armen Unterthanen seyn; und helfet mir Gott danken, daß meine hündische Gestalt, in welcher ich über vier Jahr lang Jammer und Elend genugsam ausgestanden habe, zu einem glücklichen Ende aus­ geschlagen, daß ich nunmehr wieder zu meiner vorigen Menschengestalt gelangt und gekommen bin.“ 56 Eder: Wolfgang Caspar Printz’ Güldener Hund und Polen (wie Anm. 51), S. 230. 57 Staatsbibliothek Berlin (Ost), 8° Yn 4381; eine Auflage von 1727 nachgewiesen bei Hayn und Gotendorf: Bibliotheca Germanorum erotica et curiosa (wie Anm. 4), S. 355. 58 Görres, Joseph: Die teutschen Volksbücher. Heidelberg 1807, num. 37. Görres stellt in sei­ nem Kommentar eine direkte Beziehung des Wunderbaren Hundes mit Cervantes’ Novelle „Zwiegespräch der Hunde Cipion und Berganza“ her. Es liegt jedoch nur insofern eine entfernte typologische Verwandtschaft vor, als sich in der spanischen Novelle zwei Hunde gegenseitig ihr Leben erzählen und von ähnlichen Abenteuern wie im GH berichten, vgl. Cervantes Saavedra, Miguel de: Gesamtausgabe. Bd. 1: Exemplarische Novellen. Stuttgart 1963, S. 612–686. E. T. A. Hoffmann hat die Geschichte fortgesponnen, indem er Berganza auferstehen und 100 Jahre später weitere Abenteuer erzählen läßt, vgl. ders.: Nachricht von den neuesten Schicksalen des Hundes Berganza. In: Gesammelte Schriften. Bd. 7. Berlin 1873, S. 84–148.

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Mit dem Niederschlag im Volksbuch haben wir die Darstellung der Wirkungsgeschichte des Stoffes in den verschiedenen Medien noch keines­ wegs erschöpft. Populäre Flugblätter und Flugschriften haben auch im 18. Jahrhundert noch verschiedentlich auf das Thema zurückgegriffen und für seine periodische Wiederauferstehung Sorge getragen. Aus dem Jahre 1701 liegen zwei Auflagen eines illustrierten Flugblattes vor, die für dieses Jahr von einer reichen Getreideernte und damit einhergehenden niedrigen Ge­ treidepreisen berichten. Einen Edelmann, der zuvor Getreide eingelagert hatte und dieses nun nicht mehr mit Gewinn verkaufen konnte, habe dies so sehr verdrossen, daß er das Getreide den Schweinen zum Fraß vorge­ worfen habe. „Allein die Göttliche Rache hat ihn alsbald in ein Schwein verwandelt / und ob zwar das Angesicht samt seinem Knebelbart geblie­ ben / daß ihn jedermann kennen konte / so muste die Bestie doch auf allen vieren wie ein Schwein allen Kippern und Geitzhälsen zum Exempel herum gehen / wie solches die obige Figur / welche nach dem Original [!] nachgemacht / vor Augen darstellet.“59 Gut 100 Jahre nach dem Kulminationspunkt unserer Geschichte im Jahre 1673 setzen sich noch einmal die Pressen in Bewegung, um zwei schlesische Adlige in den Geruch zu bringen, sie hätten ihre Untertanen geknechtet und seien dafür in Hunde verwandelt worden. Der erste, dem solches nachgesagt wurde, hieß mit Namen Herr von Schlotberg, und auch er soll gleich dem polnischen oder böhmischen Edelmann von 1633 bzw. 1673 die Armen ausgesaugt und ihnen ihre letzte Kuh genommen haben. Die Gotteslästerung ist hier etwas verändert dargestellt: „Was, sprach der Herr, sich nach einem im Hof stehenden Cruzeficks wendend, hast du das gethan‚ so kanst du mit den Hunden diese deine geschlachtete Braten fres­ sen. Er nahm eine Pistol und schoß dem Bilde einen Arm ab, und warf ihn voller Grim auf das verreckte Vieh und sprach: Da lig du Luder bey dem andern […]“.60 In einer zweiten Quelle aus dem gleichen Jahr handelt es

59 Der in ein Schwein Verwandelte Polnische Edelmann. Illustriertes Flugblatt mit Kupfer­ stich und Prosatext in zwei Spalten: (1) Holländer: Wunder, Wundergeburt und Wunder­ gestalt (wie Anm. 31), S. 194, Abb. 102; (2) Bartels, Adolf: Der Bauer in der deutschen Vergangenheit. Jena o.J., S. 130, Abb. 146; zu (1) vgl. Hackfeld, Birgit: Wunderähren und Riesenkorn. Ein Beitrag zur Flugblattliteratur der frühen Neuzeit. Magisterarbeit. Göttin­ gen 1984, S. 90–92, Abb. 26. Eine weitere Auflage mit koloriertem Holzschnitt und gereim­ tem Text verzeichnen Hayn und Gotendorf: Bibliotheca Germanorum erotica et curiosa (wie Anm. 4), S. 345f. 60 Erschröckliche Gerichte Gottes, welche sich in Schlesien begeben An den Herrn von Schlotberg Welcher in einen Hund verwandelet worden Den 5. Merz 1764 [Holzschnitt: Nach rechts gewendeter Hund mit Menschenkopf]. Allen im Geiz ersoffenen Welt-Men­ schen zur heilsamen Warnung unter Augen gestellet. Getruckt nach dem Nürrenberger Ex­ emplar. Flugschrift o.O. o.J., Marburg, Zentralarchiv der deutschen Volkserzählung (Bolte-

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Abb. 4: Volksbuch. Köln ca. 1790, Titelseite (Niedersächsische Landesbibliothek Hannover, Lh 5371, St. 25).

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sich um einen gottlosen Grafen zu Brieg in Schlesien, der am 13. Februar 1764 wegen Gotteslästerung in einen Hund verwandelt wurde.61 Das aufgeklärte Journal von und für Deutschland von 1785 druckt eine Ver­ sion der gleichen Geschichte von 1780 aus der Offizin der Enterischen Erben in Nürnberg nach und bemerkt dazu: „Ein Beamter im Fuldischen hat diese auf einen halben Bogen gedruckte Nachricht unter andern con­ fiscirten Büchern gefunden, die vor einiger Zeit eine Landstreicherin in seinem Amtsbezirk zum Verkauf herumgetragen [...]. Im J. 1785 hätte man so etwas nicht erwarten sollen.“62 Doch damit nicht genug: 34 Jahre später wird auch dieser Text noch­ mals aktualisiert und nunmehr auf einen Herrn von Schotenberg in Itali­ en [!] bezogen, der am 14. August 1798 wegen des nämlichen Vergehens das Schicksal der Hundsverwandlung auf sich nehmen mußte.63 Und J. Scheible, der Herausgeber der berühmten Sammlung Das Schaltjahr, setzt der ganzen Sache noch die Krone auf, indem er die Wundergeschichte von dem Herrn von Schotenberg aus dem Jahre 1798 wortwörtlich und ohne jegliche Andeutung einer Kritik in seine Kompilation übernahm.64 Zum Abschluß dieses ergebnisreichen Überblicks über den Weg ei­ ner Zeitungsmeldung durch die Zeiten und Medien muß sich der Volks­ erzählungsforscher die Frage stellen, ob die vielfältigen Rückwirkungen der literarischen Zeugnisse auf die mündliche Erzählüberlieferung des 17.–19. Jahrhunderts nicht ihre Spuren in der späteren Volksüberlieferung hinterlassen haben. Dieser Frage war bereits A. Jacoby nachgegangen, und er fand erste Spuren einer solchen Rezeption in einer slowenischen Volks­ ballade.65 Durch den inzwischen vorliegenden Typenindex slowenischer

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Bibliothek), So VZ 1, 2 Bll. 4°. Den Hinweis auf den Druck verdanke ich Dr. Hans-Jörg Uther‚ Göttingen. Lied auf den Gottlosen Grafen Martin zu Brieg in Schlesien [...]. Typendruck mit Holz­ schnitt, 4 Bll. 4°; Nachweis bei Drugulin, Wilhelm Eduard: Historischer Bilderatlas. Ver­ zeichnis einer Sammlung von Einzelblättern zur Cultur- und Sittengeschichte vom 15. bis in das 19. Jahrhundert. Bd. 2. Leipzig 1867, num. 4809 (der Druck lag mir nicht vor). Journal von und für Deutschland (1785), S. 224–226, hier 224; Abdruck des Textes bei Jaco­ by: Von dem bösen Amtmann, der in einen Hund verwandelt wurde (wie Anm. 2), S. 220f. Erschreckliches Gericht Gottes, welches sich in Italien begeben an dem Herrn von Scho­ tenberg, welcher den 14. August 1798 in einem Hund verwandelt wurde [Holzschnitt: Ge­ scheckter Hund mit Menschenkopf, nach rechts gewendet]. Gedruckt nach dem Original 1798. Flugschrift, 2 Bll. 8°, nur Bl. 1 und 4 erhalten: Germanisches Nationalmuseum Nürn­ berg, H. B. 25778. Scheible, Johann: Das Schaltjahr; welches ist der teutsch Kalender mit den Figuren. Bd. 1: Januar. Stuttgart 1846, S. 169–171, num. 3. Štrekelj, K.: Slovenske narodne pesmi 1. Ljubljana 1895–1898, S. 331f., num. 287; ins Deut­ sche übersetzt bei Jacoby: Von dem bösen Amtmann, der in einen Hund verwandelt wurde (wie Anm. 2), S. 222.

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Erzähllieder66 wissen wir, daß es sich bei dieser Aufzeichnung nicht um ein vereinzeltes Zeugnis handelt, sondern daß es in ein ganzes Feld von erzählenden Liedern hineingehört, in welchem die Konturen der jüngsten Ausformung der Edelmannsage aus dem 18./19. Jahrhundert (Herr von Schlotberg/Schotenberg) klar wiederzuerkennen sind: Ein unbarmherzi­ ger Schloßherr nimmt einem Bauern sein Vieh weg, weil an der erforder­ lichen Steuersumme ein einziger Kreuzer fehlt. Die Schloßherrin erweist sich als barmherzig und gibt dem Bauern das Vieh auf seine Bitten hin wieder zurück. Der Schloßherr gerät darüber in Zorn, verfolgt den Bauern und will ihn erschießen. Ein Kruzifix bietet dem flüchtenden Bauern sei­ nen Schutz an. Der Verfolger schießt auf das Kruzifix und verletzt es (Mot. D 1642.2), das austretende Blut verwandelt den Herrn in einen Hund. Die Schloßherrin schickt den Hund mit Wallfahrern nach Krížna gora oder Rom, aber der Verwandelte kann keine Buße erlangen. Trotz der starken Umformung des Stoffes sind die drei Grundelemente: (a) Hartherzigkeit gegen Arme, (b) Gotteslästerung (Schuß gen Himmel > Schuß auf das Kruzifix) und (c) Strafverwandlung in den slowenischen Volksballaden noch gut zu erkennen. Die Zusammenhänge des slowenischen Erzählliedes mit den Liedern der ehemaligen deutschen Sprachinsel Gottschee im slowenischen Krain sind in der Forschung gut bekannt.67 Auch die Ballade von der Hundsver­ wandlung des hartherzigen Schloßherrn hat an dem interethnischen Lied­ austausch Anteil, der zwischen Slowenen und Kroaten auf der einen Seite und den Gottscheern auf der anderen Seite oft zu beobachten ist. Das Gottscheer Gegenstück war noch bis in die 20er Jahre unseres Jahrhun­ derts im Volksgesang lebendig:    Der fehlende Kreuzer 1. Biə vriə bâraitən au̇f də Veldpȯtən! Shai shugənt uən, shai shugənt uən Də Schtaiəer im Gəshlȯß. 2. U̇nt hin hent kâm ollə də Pau̇ərn; An ollərpeschtən Pau̇ər Ischt a Kraizer ûgəgean.

66 Kumer‚ Zmaga: Vsebinski tipi slovenskih pripovednih pesmi – Typenindex slowenischer Erzähllieder. Ljubljana 1974, S. 302–305, Typen 284–286. 67 Seemann, Erich: Die deutsche Volksballade und das slovenische Erzähllied. In: Rad kon­ kresa folklorista Jugoslavije. Bd. 6. Bled 1959. Ljubljana 1960, S. 103–109; Brednich, Rolf Wilhelm: Gottscheer Volkslieder. Ein Vorbericht zu ihrer Gesamtausgabe. In: Jahrbuch für Volksliedforschung 11 (1966), S. 123–130.

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3. ’Schraibət îr mir’n au̇f ȯdər burtət îr mi?’ ’Au̇fschraibən tu̇ən br’n et U̇nt buərtən â net!’ 4. Shai pȯ̑laitən în in ’n Kerkər tiəf. U̇mmar ischt kâm, u̇mmar ischt kâm Juər u̇nd Tôk u̇nt Tôk u̇nd Juər. 5. Shai schikkənt bîdr au̇s îrə Veldpȯtn, Zə shugən uən, zə shugən uən Də Schtaiər im Gəshlȯß. 6. U̇nt hin hent bîdər kâm ollə də Pau̇ərn. Da ollərpeschtə Pau̇ər Ischt bârlain et du gəbân. 7.

’Lai bessət îr et, bu îr’n brt’n hin gətuən?’ ’Geat schâgət, geat schâgət, Îr Diənarə shnell!’

8.

Shai mochaitən âf də Kerkərtîr; A Haivle Poaindər, a Haivle Poaindər, Dos liəgət voar dr Tîr.

9.

A baißai Tau̇bə ischt aufgəvlȯchən; Drai shburzə Hu̇ntə, drai shburzə Hu̇ntə Hent hargəzȯ̑chən.

10. ’Lai mochət zu̇ə ollə də Tîrn, Drai shburzə Hu̇ntə, drai shburzə Hu̇ntə Diə geant insch jo nôch!’ 11. ’Lai mochət îr insch au̇f, ȯdər gea br shischən in!’ ’Au̇fmochən tuə br et, au̇fmochən tue br et, U̇nt innar luəßən br ai et.’ 12. Də Hu̇ntə, shau prâchənt dai vrischə Mau̇ər du̇rch Unt zərraißənt, u̇nt zərraißənt Də Herrn in Aschə u̇nt Schtâp. 13. O Kraizar, o Kraizar, du̇ beanigəs Galt, Doß du̇rch a Kraizar, doß du̇rch a Kraizar Drai Shealn zəgru̇nd messənt gean!68

68 Brednich, Rolf Wilhelm und Suppan, Wolfgang (Hg.): Gottscheer Volkslieder. Bd. 1: Volks­ balladen. Mainz 1969, S. 81–83, num. 25b (Aufzeichnung aus Stockendorf und Gottschee 1922).

Der Edelmann als Hund

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Inhaltsangabe: Weil ein einziger Kreuzer an der Steuersumme fehlt, wirft ein Steuereinnehmer einen Bauern in den Turm. Nach einem Jahr erinnert er sich des Bauern, findet aber im Turm nur noch seine Knochen. Eine weiße Taube erhebt sich daraus, und drei schwarze Hunde zerreißen den Herrn zu Staub und Asche. Wie sehr die Deutung eines solchen einzelnen Liedbeleges ohne aus­ reichende historische Forschung in die Irre gehen kann, zeigt die an die Erstveröffentlichung dieser Variante geknüpfte Mutmaßung des Herausge­ bers A. T., der Stoff des Liedes reiche bis ins 16. Jahrhundert zurück: „Es ist gar nicht daran zu zweifeln, daß die Tragödie sich tatsächlich so zuge­ tragen hat. War es schon nicht Absicht, so sicher grenzenloser Leichtsinn, einen der größten Steuerzahler wegen eines fehlenden Kreuzers einfach in den Turm zu werfen [...]. Ob nicht dieser Fall dazu beigetragen hat, das Volk in tiefste Empörung und höchste Erregung zu versetzen und den Ausbruch des Aufstandes im Jahre 1515 zu beschleunigen? Vielleicht sind mit den rächenden ‚schwarzen Huntä‘ die aufrührerischen Bauern ge­ meint, die Türen und Mauern aufbrachen und die Schuldtragenden Ge­ org von Thurn und den Pfleger Stersen richteten, zumal zuletzt von drei Opfern die Rede ist, die der fehlende Kreuzer zur Folge hatte“.69 Daß die slowenisch-gottscheeische Geschichte vom fehlenden Kreuzer nicht in solche Zusammenhänge zurückreicht, sondern als Widerspiegelung der populären Flugblatt- und Zeitungsberichte vom „Edelmann als Hund“ zu betrachten ist, dürfte inzwischen klar geworden sein. Die Rezeptionsgeschichte des Stoffes ist mit diesen Volksballaden von der Wende des 19. zum 20. Jahrhundert immer noch nicht ganz beendet. Den vorläufigen Schlußpunkt setzte der ungarische Schriftsteller István Békeffi mit seiner Erzählung Der Hund, der Herr Bozzi hieß.70 Békeffi läßt die Verwandlungsgeschichte im Brooklyn der Gegenwart im italienischen Ein­ wanderermilieu spielen. Der hartherzige Anwalt Bozzi verwaltet in dem New Yorker Stadtteil ein großes Mietshaus und beutet die italienischen Mieter schamlos aus. Der armen Waise Julia z.B. enthält er ihre Rente vor. Sein Kanzleigehilfe Bruno muß durch Nachahmung von Hundegekläff die Bettler von seiner Bürotür verscheuchen. Daraufhin verwandelt eine alte Frau den Herrn Bozzi in einen häßlichen Hund und bestimmt, daß er seine menschliche Gestalt erst wieder zurückerlangen kann, wenn ihn jemand so lieb gewinnt, daß er ihn küßt (Froschkönig-Motiv, Mot. D 735.1). Der klei­ ne Italienerjunge Filippo, Enkel des alten Schildermalers Pietro‚ vollbringt dieses Wunder und heilt den Anwalt schließlich von seiner Hartherzigkeit. 69 T., A.: O Kreizar, du beanigäs Galt. Eine Ballade aus der Zeit des Gottscheer Bauernauf­ standes im Jahre 1515. In: Gottscheer Zeitung 6, 44 (1960), S. 1. 70 Békeffi, István: A kutya‚ akit Bozzi úrnak hívtak. Neueste Auflage: Budapest 1980.

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Als Quelle lag Békeffi offensichtlich eine Version des Volksbuches vom Wunderbaren Hund vor. Da sich mit dem Film und dem Hörspiel71 inzwi­ schen weitere Mittler des Stoffes angenommen haben, erscheint sicherge­ stellt, daß die Geschichte auf ihrem langen Weg durch die Medien noch lange nicht an ihrem Ende angelangt ist.

71 Filmfassung von Peter Ustinov in den 50er Jahren; Bearbeitung als Hörspiel von Peter Fol­ ken. Düsseldorf, Pädagogischer Verlag Schwann. Kassette 1982 (freundliche Hinweise von Christine Shojaei Kawan‚ Göttingen).

Über Hören-Sagen in der früheren DDR* Wir können an bestimmten politischen Systemen beobachten, daß sie eine spezifische Erzählkultur hervorbringen. Bisher ist diese Erscheinung von der Forschung am intensivsten in der Witzkultur totalitärer Staatssysteme wahrgenommen und erforscht worden. Wo die Meinungsfreiheit einge­ schränkt ist, findet das Erzählen allemal einen günstigen Nährboden. Die Forschungsarbeit erfolgt in der Regel von außen, da im Innern der betref­ fenden Staatsgebilde das Infragestellen des eigenen Systems durch Witze und damit auch die Forschungsarbeit darüber verboten ist und strafrecht­ lich verfolgt wird, oder sie setzt nach dem Untergang oder der Beseitigung der betreffenden Regimes ein, weil dann erst der volle Umfang der politi­ schen Erzählkultur greifbar wird. Diese Vorbemerkungen treffen vor allem auf die Erforschung des sog. Flüsterwitzes im Dritten Reich zu, sie können aber auch für die Situation nach der Öffnung der innerdeutschen Grenzen 1989 und den Zusammenbruch des Herrschaftssystems in Osteuropa an­ gewendet werden. Mit der Einleitung demokratischer Entwicklungen in den ehemals sozialistischen Ländern und der deutschen Vereinigung ist gleichzeitig auch ein Niedergang der mit dem politischen System einherge­ henden kritischen Erzählüberlieferungen verbunden. Für die Erzählforschung erwachsen in dieser Situation zweifelsohne wichtige Aufgabenstellungen. Das Erzählen und die Erzählinhalte der Menschen in den ehemals sozialistischen Ländern sind deswegen ein au­ ßerordentlich wichtiger Forschungsgegenstand, weil in ihnen eine ergän­ zende sozialgeschichtliche Quelle von bedeutendem Rang zur Verfügung steht. Wer wissen möchte, wie die Stimmung unter der Bevölkerung in den Zeiten der politischen Unterdrückung und Gängelung gewesen ist, wird an den Inhalten der alltäglichen, privaten Kommunikation nicht vorbei­ gehen dürfen. Sie können als ein Gradmesser für die Zufriedenheit oder Unzufriedenheit einer Bevölkerung mit dem herrschenden Regierungsund Wirtschaftssystem gelten, und es ist bekannt‚ daß der DDR-Staats­ sicherheitsdienst ebenso wie die NS-Gestapo durch ihre Spitzel laufend die Stimmung innerhalb der Bevölkerung überwachen und protokollieren ∗ Erstveröffentlichung in: Brunold-Bigler, Ursula und Bausinger, Hermann (Hg.): Hören – Sagen – Lesen – Lernen. Bausteine zu einer Geschichte der kommunikativen Kultur. Fest­ schrift für Rudolf Schenda zum 65. Geburtstag. Bern u.a. 1995, S. 69–83.

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ließ, wobei auch die jeweils im Umlauf befindlichen Gerüchte, Witze und sonstigen aktuellen Erzählinhalte Berücksichtigung fanden. Diese Berichte sind daher auch für die Erzählforschung von hervorragendem Interesse.1 Der subversive Witz, wie er für die Periode der NS-Herrschaft in Deutsch­ land bezeichnend war, gilt in der Forschung als wichtige Quelle für die Einstellung der Bevölkerung zum Faschismus. Der Flüsterwitz vermittelt […] anthropologische Aufschlüsse über den Menschen im Totalitarismus, wie sie von anderen Dokumenten nicht erwartet werden kön­ nen. Er sagt etwas aus über die Grundbefindlichkeit in einem Lebenskreis, in wel­ chem das Unrecht regiert und die Perversion sich unangefochten brüsten darf, wie es im NS-Staat der Fall war. Er enthüllt das Selbstverständnis des Menschen unter dem äußersten Druck staatlicher Willkür und zeigt den Zusammenstoß von Ein­ zelanspruch und kollektiver Gewalt, von Individualgewissen und Gruppenmoral.2

Andere Autoren sind in ihrer Einschätzung des politischen Witzes in der jün­ geren deutschen Vergangenheit vielleicht um einen Grad zurückhaltender,3 aber insgesamt ist die Forschung darin einig, daß der Flüsterwitz eine Art „Surrogat für das freie Manneswort“4 darstellte und wenn nicht als Zei­ chen, so doch zumindest als „Anzeichen des Widerstandes“5 verstanden werden kann. Ohne einer leichtfertigen Gleichsetzung des Unrechtssystems unter Hitler mit der DDR das Wort reden zu wollen, so stehen wir mit der Auf­ lösung des zweiten deutschen Staates in einer für die Erzählkultur annä­ hernd vergleichbaren Situation, denn mit der Wende von 1989/90 ist auch eine selbständige Errungenschaft des real existierenden Sozialismus zu Ende gegangen: der politische Witz in der DDR und mit ihm die gesamte politische Witzkultur im europäischen Osten, die während der Zeit des Kalten Krieges und der politischen Abgrenzung eine Reise in diesen Herr­ schaftsbereich für Volkskundler so ungemein spannend machen konnte. Die bevorzugten Objekte des Spotts sind inzwischen entweder verschwun­ den: die Grenzanlagen, die Politbürokratie, die sozialistische Mangelwirt­ schaft, oder andere haben ihre Gefährlichkeit eingebüßt: die politischen „Freunde“ im Osten. Die Gründe für dieses Verschwinden eines kritischen Verständigungsmittels im kleinen Zirkel von Freunden und Eingeweihten 1 2 3 4 5

Für Köln vgl. z.B. Mann, Reinhard: Protest und Kontrolle im Dritten Reich. Nationalsozia­ listische Herrschaft im Alltag einer rheinischen Großstadt. Frankfurt a.M., New York 1987 (= Studien zur historischen Sozialwissenschaft, 6). Gamm, Hans-Jochen: Der Flüsterwitz im Dritten Reich. München 1964, S. 174. Vgl. Hirche‚ Kurt: Der ‚braune‘ und der ‚rote‘ Witz. Düsseldorf, Wien 1964. Meier, John Alexander (Hg.): Vox Populi. Geflüstertes. Die Hitlerei im Volksmund. Heidel­ berg 1946, S. 15 [gilt selbstredend auch für das Frauenwort!]. Ebd., S. 19.

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sind darüber hinaus vielfältigerer Natur. Angelika Soldan ist ihnen nachge­ gangen und hat Antworten auf die Frage zu finden versucht, warum dem „Ossi“ das Lachen vergangen ist. „War der politische Witz in der DDR ein sensibler Seismograph für politische Stimmungen, so ist sein (fast) Fehlen selbst Symptom der entstandenen politischen und sozialen Lage“.6 Im vorliegenden Beitrag soll ein anderer Bereich des alltäglichen Er­ zählens in der früheren DDR betrachtet werden, der auf ähnliche Wei­ se wie der Witz im Bereich der privaten Kommunikation eine wichtige Funktion ausgeübt hat: die moderne Sage (contemporary legend). Sie kann wie der Flüsterwitz als Ausdruck der beständigen Legitimationskrise des Sozia­ lismus und der kritischen Einstellung der Bevölkerung zu diesem System betrachtet werden, und da dieses System aufgehört hat zu existieren, haben auch die entsprechenden Erzählüberlieferungen ihre Bedeutung weitge­ hend verloren und werden innerhalb kurzer Zeit aus dem kollektiven Be­ wußtsein verschwunden sein.7 Einiges davon soll hier vor dem Einsetzen dieses Prozesses festgehalten und interpretiert werden. Die dabei ange­ wandte themenzentrierte und problemorientierte Zugangsweise löst eine Forderung von Helge Gerndt ein, der in seinen Gedanken zur heutigen Sagenforschung Beiträge dieser Art als Desiderat bezeichnet und sich dafür aus­ gesprochen hat, daß die Gegenstandserweiterung „konstruktiv und nicht additiv“ erfolgt.8 Der Präsentation eines kleinen Samples an neuen Erzählstoffen muß die Bemerkung vorausgeschickt werden, daß in Bezug auf die modernen Sagen, bevor sie als Quelle zur Sozialgeschichte der ehemaligen DDR in Anspruch genommen werden können, eine Zweiteilung erforderlich ist. Wie beim politischen Witz, wo zwischen Import und Eigengewächs unterschieden werden muß,9 ist auch hier zu differenzieren zwischen den nahezu überall anzutreffenden und weltweit verbreiteten „Wahr­ geschichten“ vom Typus Vanishing Hitchhiker,10 Gestohlene Großmutter,11   6 Soldan, Angelika: Ist dem „Ossi“ das Lachen vergangen? Überlegungen zum politischen Witz vor und nach der Wende in der Ex-DDR. In: Deutsche Studien 115 (1991), S. 270– 279, hier S. 274.   7 Vgl. Brednich, Rolf Wilhelm: „Deutschland, einig Vaterland?“ What Germans narrated before and after the reunification? In: Folklore Processed in Honour of Lauri Honko on his 60th Birthday 6th March 1992. Helsinki 1992, S. 78–88.  8 Gerndt, Helge: Gedanken zur heutigen Sagenforschung. In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde 1991, S. 137–145, hier S. 142.   9 Vgl. de Wroblewsky, Clement: Wo wir sind ist vorn. Der politische Witz in der DDR. Ham­ burg 1990, S. 13–15. 10 Asmuß‚ Birthe: Veränderung und Kontinuität in ‚modernen Sagen‘. Untersucht am Beispiel des Typs „Der verschwundene Anhalter“. Magisterarbeit. Hamburg 1991. 11 Virtanen, Leea: Varastettu isoäiti. Kaupungin kansantarinoita [Die gestohlene Großmutter. Urbane Volkssagen]. Helsinki 1987.

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Rattenhund12 oder Baby im Bratofen,13 die selbstverständlich auch bei der DDR-Bevölkerung bekannt waren, und dem authentischen DDR-Eigen­ gut, welches seine Entstehung ganz bestimmten politischen oder ökono­ mischen Konstellationen verdankt und von ihnen nicht losgelöst werden kann. Letzteren soll in diesem Beitrag das besondere Augenmerk gelten. Die Wahrnehmung dieses Forschungsanliegens erscheint umso dringlicher, als die DDR-Volkskunde in ihrer allgemein zu beobachtenden Berührungs­ angst vor aktuellen Forschungsthemen das alltägliche Erzählen fast völlig ausgeklammert hat14 und zudem die volkskundliche Erzählforschung in den fünf neuen Bundesländern kaum noch präsent ist. Den ersten Versuch einer Bestandsaufnahme von modernen Sagen als Teil der Alltagskultur der DDR hat die Leipziger Germanistin Ulla Fix im Wintersemester 1990/91 von der Universität Leipzig aus unternommen. Das von ihr selbst als „mager“ bezeichnete Ergebnis bestand aus insgesamt 34 verwertbaren Texten.15 Die Unterstützung des empirischen Projektes durch eine Reihe von Medien veranlaßte zwar fünf Verlage, ihr Interesse an einer Publikation der Ergebnisse zu bekunden, aber der Schreibaufruf erbrachte lediglich 87 Einsendungen. Auch die an dem Projekt teilnehmen­ den Studierenden waren bei ihrer Sammeltätigkeit nicht sehr erfolgreich und machten die allgemeine Unsicherheit der Lebenssituation nach der politischen Wende für diesen Mißerfolg verantwortlich. Der Hauptgrund für den Mißerfolg wird aber wohl in der angewandten Methode zu suchen sein, denn wenn man über den Rundfunk nach „modernen Sagen“ fahn­ det, werden sich alle die nicht angesprochen fühlen, die diese Geschichten für wahr halten, und das ist zunächst die Mehrheit. Bei Anlegung der oben entwickelten Kriterien für die Authentizität bleiben nicht mehr als neun Geschichten übrig, die als DDR-spezifisches modernes Erzählgut gelten können. Nur eine einzige davon würde ich als „moderne Sage“ gelten las­ sen, und sie sei hier wiedergegeben als Einführung in das Genre, um das es hier geht.

12 Fischer, Helmut: Der Rattenhund, Sagen der Gegenwart. Köln, Bonn 1991 (= Beiträge zur rheinischen Volkskunde, 6). 13 Bermani, Cesare: II bambino è servito. Leggende metropolitane in Italia. Bari 1991 (= Pris­ ma, 31). 14 Vgl. Neumann, Siegfried: Volkserzählung heute: Bemerkungen zu Existenzbedingungen und Daseinsformen der Volksdichtung in der Gegenwart. In: Deutsches Jahrbuch für Volkskunde und Kulturgeschichte N.F. 8 (1980), S. 92–102. 15 Fix, Ulla: Moderne Sagen in der DDR. Ein Projektbericht. In: Fabula 35 (1994), S. 94–109.

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Der Betonmischer in der Neubauwohnung Ein Ehepaar hat nach langem Warten endlich eine Neubauwohnung für die näch­ ste Zeit zugesprochen bekommen. Um Möbel kaufen zu können‚ die in die en­ ge Wohnung passen, maßen sie bei Freunden, die eine Wohnung gleichen Typs bewohnten, die Räume aus. Als sie endlich einzogen und die Möbel aufstellten, merkten sie, daß die Schränke nicht in den Korridor paßten, obwohl doch alles ge­ nau ausgemessen war. Nach langem Hin und Her stellten sie fest, daß eine Wand hohl klang. Eine Trennwand war eingezogen worden, hinter der ein Betonmischer abgestellt war.16

Dies kann als eine DDR-spezifische Erzählung gelten: Die genormte Plat­ tenbauweise war für zahlreiche Neubausiedlungen und ganze Trabanten­ städte typisch. Bemerkenswert an dem Text ist eine ganz bestimmte Aus­ sage, die sich nur dem mit dem politisch-ideologischen System Vertrauten erschließt. Die Erzählung brandmarkt die Nachlässigkeit der DDR-Bau­ handwerker, die hier als so bequem dargestellt werden, daß sie ihre Geräte lieber einmauern, als daß sie sie nach Feierabend ordentlich versorgen (in anderen mir vorliegenden Varianten wird in dem Verschlag darüber hinaus jede Menge Bauschutt und eine Schubkarre gefunden). Die Bauarbeiter aber gehörten wie das gesamte Bauwesen aufgrund des erfolgreichen Plan­ solls zu den Hätschelkindern des Systems. Hier zählte aber im Grunde nur die Zahl der fertiggestellten Wohnungen („Tonnenideologie“); auf welche Weise der Plan erfüllt worden war, interessierte dagegen weniger. In der Geschichte kommt somit eine deutliche Kritik am Ordnungssinn der Bau­ arbeiter zum Ausdruck. Der Wahrheitsgehalt der Sage ist gering: In einem Plattenbau eine Zwischenwand einzuziehen, wäre mit erheblichem Auf­ wand an Zeit und Material verbunden gewesen. Daß man den Bauarbeitern eine solche Verhaltensweise aber durchaus zutraute und diese Geschichte als „tatsächlich passiert“ in der Republik kursierte, macht ihren Wert als bezeichnendes Stück inzwischen zu Ende gegangener DDR-Erzählkultur aus. Insgesamt gesehen ist der von Ulla Fix eingeschlagene Weg der Ein­ sammlung moderner Erzähltexte durch einen mehr oder weniger anony­ men Schreibaufruf nicht so erfolgreich wie der persönliche Kontakt zu Sammlern oder Erzählern. Für mich haben sich solche Kontakte seit der Veröffentlichung meines ersten Bandes „sagenhafter Geschichten von heute“17 mit allen Schichten und Altersklassen im deutschsprachigen Mit­ 16 Quelle: Erzählung eines Studenten, dessen Quelle wiederum ein Student war; Fix, Ulla: Moderne Sagen (wie Anm. 15), S. 106. 17 Brednich, Rolf Wilhelm: Die Spinne in der Yucca-Palme. Sagenhafte Geschichten von heu­ te. München 1990 (= Beck’sche Reihe, 403).

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teleuropa in reichem Maße ergeben. Die ca. 6.500 Leserbriefe, die mich seitdem erreicht haben, bilden auch eine vorzügliche Quelle für das all­ tägliche Erzählen in der DDR. Nachdem mein erster Erzählband und die Folgebände18 auch in den fünf neuen Bundesländern Verbreitung fanden, mehrten sich die Leserstimmen aus diesem Einzugsbereich, um mir zu be­ stätigen, daß ein Großteil der von mir zusammengetragenen Geschichten auch im anderen Teil Deutschlands bekannt war, wobei in manchen Fällen einzelne Motive oder Elemente ausgetauscht wurden, um die Stories der Realität im anderen Teil Deutschlands anzupassen. Aufschlußreicher waren aber jene Zuschriften, in denen die Verfasser solche Texte mitteilten, die sie in meinen Editionen vermißt hatten und von denen sie der Meinung waren, sie seien für die spezielle ökonomisch-politische Situation in ihrem Land charakteristisch gewesen. Auf diesem Wege ist beispielsweise die Ge­ schichte vom Überraschungsteppich an mich gelangt. Bei diesem Teppich, von einem Ost-Berliner Ehepaar angeblich in einem sog. „Russen-Magazin“ erworben, stellt sich zu Hause heraus, daß in seine Mitte ein großes LeninBildnis eingewebt ist.19 Auf diese Geschichte beziehen sich zahlreiche Leserbriefe aus der frü­ heren DDR, die mir bestätigten, daß es sich um eine republikweit bekann­ te und belachte Story handelt, und mir viele Varianten vermittelten. U.a. erhielt ich auch eine Zuschrift von Dr. Fred Walkow aus Wolfen/Sachsen, der zu meinem Text ausführte: Diese Geschichte war recht verbreitet. Natürlich ereignete sie sich auch in Halle, wo ein sehr großer Standort der Sowjetarmee war. Die Darstellung des Warenan­ gebots in Russen-Magazinen ist eher eine Legende. Was hier als Raritäten bezeich­ net wird, sind Artikel, die für Russen wenig attraktiv sind. So trinken Russen lieber Tee als Kaffee und brauchen deshalb keine Kaffeesahne, auch Tomatenketchup findet in der russischen Küche kaum Verwendung. Immerhin zeigt sich, wie man mit bescheidenen Dingen DDR-Bürger glücklich machen konnte. In der Vari­ ante, die ich kenne, steht weniger das Versorgungsproblem im Vordergrund als die mangelnden Russischkenntnisse. Der gekaufte Teppich ist ein Wandteppich, keiner für den Fußboden. Einen ähnlichen Teppich habe ich 1990 im ehemaligen Stasi-Feriencamp in Kuhlmühle in Mecklenburg gesehen.

18 Brednich, Rolf Wilhelm: Die Maus im Jumbo-Jet. Neue sagenhafte Geschichten von heute. München 1991 (= Beck’sche Reihe, 425); Brednich, Rolf Wilhelm: Das Huhn mit dem Gipsbein. Neueste sagenhafte Geschichten von heute. München 1993 (= Beck’sche Reihe, 1001). 19 Brednich: Das Huhn mit dem Gipsbein (wie Anm. 18), S. 164f.; vgl. die Variante bei Fix: Moderne Sagen (wie Anm 15), S. 107, von der Bettwäsche mit dem Schriftzug „35 Jahre DDR“.

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Diese Mitteilung war in einem umfangreichen Dossier enthalten, das mir der Einsender am 30. Dezember 1993 zugänglich gemacht hat (bemerkens­ wert das Datum, das auf vorangegangene intensive Lektüre in den Weih­ nachtsferien schließen läßt. Das Phänomen der Häufung von Zuschrif­ ten nach vorangegangenen Ferienzeiten oder Urlaubsreisen ist in meinem Sample durchgehend zu beobachten). Der Verfasser, der mich inzwischen auch zur Auswertung seiner Einsendungen legitimiert hat, beschrieb in sei­ nem ersten Brief den bei der Begegnung mit meinen knapp 400 Texten einsetzenden Rezeptionsprozeß wie folgt: Die Begegnung mit Ihren Büchern löste bei mir einen intensiven Erinnerungs­ prozeß aus, der insofern relativ ungestört blieb, als er mit einem Urlaub in Tirol zusammenfiel. Beim Lesen Ihrer Bücher mußte ich dann immer öfter feststellen, daß viele mir bekannte Geschichten häufig nur Variationen international verbrei­ teten Erzählguts sind. Nachdem ich alle drei Ihrer Bücher ausgelesen hatte, setzte eine zweite Erinnerungsphase ein. Hierin ordneten sich einige Geschichten, die ich für wahr oder wenigstens wahrscheinlich hielt, doch eher den modernen Sagen zu, obwohl sie recht spezifisch und lokal gebunden erscheinen. In einer dritten Phase versuchte ich die Erinnerungen meiner Bekannten zu aktivieren. Was dabei herauskam, waren bis auf wenige Ausnahmen meist Variationen bekannter Klas­ siker. Nachdem mir selbst auch in dieser Beziehung nichts Neues mehr einfiel, schrieb ich das Erinnerte auf, um es Ihnen zu schicken. Hierbei bemerkte ich, wie schwer es ist, die mündlichen Mitteilungen in die Schriftform zu bringen. Hier habe ich etwas experimentiert, wie Sie bemerken werden, ohne der Versuchung zu erliegen, nachträglich den Erzählstil zu vereinheitlichen […]. Zu den mir be­ kannten Variationen habe ich nur kurze Bemerkungen verfaßt. Sie sollen lediglich ihre Verbreitung in der DDR dokumentieren und Ihnen in Einzelfällen Hinweise auf mögliche Quellen geben. Niedergeschrieben habe ich nur solche Variationen, die in den Details den spezifischen DDR-Verhältnissen angepaßt wurden […]. Mein Interesse an diesen Geschichten ist stark persönlich geprägt. Durch meine naturwissenschaftliche Ausbildung, ich bin von Beruf Chemiker, und meine Tätigkeit in der Forschung neigte ich jahrelang eher zu einer kritischen, rationalen Bewertung solcher Geschichten. Immer wieder mußte ich bemerken, daß Leute bitterböse werden konnten, wenn man „ihre“ Geschichte entsprechend einschätzt. Nur die wenigsten Erzähler besitzen so viel Anstand, augenzwinkernd den Standpunkt eines bekannten Kinderliedes zu vertreten, in dem es heißt „und wenn es nicht die Wahrheit ist, so ist es gut gelogen“. Nachdem ich den Charak­ ter der Geschichten als eine Art Gesellschaftsspiel erkannt hatte, versuchte ich eine Weile, selbsterfundene Gerüchte / Geschichten gemeinsam mit Freunden in Umlauf zu bringen (ich kann Sie dahingehend beruhigen, daß ich nicht versuche, Ihnen solche Erfindungen in diesem Schreiben zu unterbreiten). Geblieben ist aber die Verwunderung, warum sich Leute eine höchst unwahr­ scheinliche Geschichte derart zu eigen machen, daß sie jeden Zweifel auf das heftigste abwehren oder sich gar als Akteur in die Geschichte einbinden. Sie un­ terwerfen sich damit einem Zwang zur Plausibilität, der sie zwingt, den Kern der Geschichte lokal und aktuell anzupassen. Das läßt sich meiner Meinung nach gut durch Vergleiche von Ost- und Westvarianten der gleichen Geschichte belegen.

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Die gestohlene Oma20 tauchte in der DDR Ende der 60er Jahre auf, als Auslandsrei­ sen in die Ostblockländer mit dem Auto erstmals vom Staat erlaubt wurden; das Auto beim Elefant im Safaripark21 wird nicht in einem Safaripark zerbeult, weil es keine Safariparks in der DDR gab, und der Rattenzahn22 steckt in einer Soljanka und nicht in einem Hamburger, die es ebenfalls in der DDR nicht gab.

Dieser Brief ist ein äußerst aufschlußreiches Dokument für die durch die Veröffentlichung moderner Sagen ausgelösten Wirkungen und Reaktio­ nen. Die treffenden Gedanken von Fred Walkow zu den modernen Er­ zählstoffen, zu ihrer Bedeutung in der eigenen Erinnerung, zur schöpferi­ schen Aneignung, zur Identifikation der Erzähler mit ihnen würden einem Erzählforscher zur Ehre gereichen, seine analytischen Bemerkungen zu einer großen Anzahl meiner Texte verraten den scharfsinnigen Denker, und die von ihm mitgeteilten eigenen Aufzeichnungen (allein 33 Texte im ersten Brief) erweisen ihn als einen Menschen mit hohem Erinnerungs­ vermögen und zahlreichen Kontakten. Nach diesem ersten Schreiben hat sich ein intensiver brieflicher Gedankenaustausch entwickelt, wobei mein Briefpartner in einem seiner nächsten Briefe auch eine Erklärung für sein erfolgreiches Eindenken in die Bedeutung des Erzählens und der Erzäh­ lungen versucht, wenn er schreibt: Die Ursachen für den Erfolg sehe ich in zwei Dingen: Man muß zunächst das „Strickmuster“ der Geschichten erkannt haben, um sie richtig einzuordnen, und man muß viele solcher Geschichten erzählt bekommen haben. Letzteres hängt erst einmal vom Lebensalter ab. Ferner braucht man ein breites soziales Einzugs­ feld. Viele Geschichten kann ich bestimmten Lebensabschnitten zuordnen, Kind­ heit auf dem Lande, Abiturientenzeit in der Stadt Halle, Armee, Universität und Arbeit in einem Großbetrieb der chemischen Industrie. Bestimmte Geschichten sind an begrenzte soziale Bereiche gebunden. Besteht dazu kein Kontakt, erfährt man auch nichts von seinen Geschichten.23

Gewiß ist ein solches hier zum Ausdruck kommendes kritisches Vermö­ gen nicht für die Masse der Leserbriefschreiber kennzeichnend, die in der Regel eher Texte oder Textvarianten mitteilen, den Wahrheitsbeweis für einzelne meiner Geschichten antreten wollen oder bestimmte Texttypen oder -motive in der Literatur, in Comics oder Filmen wiedererkannt ha­ ben. Insofern vertritt Fred Walkow hier den eher seltenen, aber im Sample immerhin noch signifikant auftretenden Typus des „Lesers als Forscher“ (reader-researcher). Wir wollen ihn im folgenden mit seinem Einverständnis 20 21 22 23

Brednich: Die Spinne in der Yucca Palme (wie Anm. 17), Nr. 29. Ebd., Nr. 22. Ebd., Nr. 55. Brief vom 24. 2. 1994.

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als Quelle für die „sagenhaften Geschichten“ in der DDR heranziehen und zeigen, daß das inzwischen untergegangene politische System nicht nur im Witz eigene Formen der Erzählüberlieferung ausgelöst hat. Die Mitteilung einiger ausgewählter Texte orientiert sich an den spezifischen Elementen des „real existierenden Sozialismus“, die die Geschichten auf sich gezogen haben. Ein beherrschendes Thema waren, nicht erst seit dem Berliner Mau­ erbau von 1961, die bedrückenden Grenzanlagen,24 die auch ein ständiges Motiv für den politischen Witz abgaben: Warum sind die DDR-Bobfahrer so erfolgreich? Ganz klar: Links eine Mauer, rechts eine Mauer, und dazwi­ schen geht es steil bergab. Die Berliner Loreley Zwei Posten saßen in einem Beobachtungsturm an der Berliner Mauer. Nach ei­ niger Zeit fiel ihnen eine attraktive Frau im Minirock auf, die auf westlicher Seite nicht weit vom Postenturm stand. Die Posten wechselten sich am Fernrohr ab und phantasierten gemeinsam, was sie mit der Frau alles treiben würden, wenn sie an sie herankämen. Bald begann die Frau ebenfalls interessierte Blicke auf die Soldaten zu werfen. Plötzlich kam sie mit wiegendem Gang bis unmittelbar unter den B-Turm. Sie warf sich in eine provozierende Position und sagte: „Na, wollt Ihr mal einen Berliner Bären sehen?“ wobei sie den Minirock hob, unter dem sie nichts anhatte. Die Soldaten starrten wie gebannt, bis die Frau nach einigen Minuten wieder wegging. Am nächsten Tag wurden die beiden Posten verhaftet; während des Auftritts der Frau war in ihrem Postenbereich jemand über die Mau­ er in den Westen geflüchtet.

Kommentar des Aufzeichners: Diese Geschichte hörte ich selbst im PolitUnterricht eines Grenzausbildungsregiments 1970 von meinem ehemali­ gen Zugführer. Sie fand damals allgemein Glauben bei den Spritzern, wie die Neulinge der NVA genannt wurden. Später wurde sie mir noch mehr­ mals erzählt. Die politisch-moralische Absicht liegt klar auf der Hand, das Grundmotiv der fatal attraction auch. Viele Grüße, lieber Spieß Ein DDR-Grenzer nutzte eine günstige Gelegenheit zur Flucht in den Westen. Nach einiger Zeit kam sein ganzer alter Armeefrust hoch; vor allem der Spieß in der Grenzkompanie hatte ihn oft „geschnickt“. Die Erinnerungen an die Demü­ tigungen lassen ihn nicht zur Ruhe kommen, bis ihn seine Rachegelüste auf einen Einfall bringen. Wochen später trifft eine Postkarte aus Mallorca in seiner ehema­ ligen Kompanie ein, in der er sich bei dem Spieß für die hilfreichen Tips bedankt 24 Vgl. auch Hartmann, Andreas und Künsting, Sabine (Hg.): Grenzgeschichten. Berichte aus dem deutschen Niemandsland. Frankfurt a.M. 1990.

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und daß alles genau so geklappt habe, wie er es dem Absender beschrieben habe. Selbstverständlich las die Stasi die Karte. Obwohl man dem Spieß in dem an­ schließenden Ermittlungsverfahren keine Beteiligung an der Republikflucht seines Untergebenen nachweisen konnte, wurde er aus der Armee entlassen.

Kommentar des Aufzeichners: Es war bei den Grenztruppen streng un­ tersagt, Korrespondenz mit Verwandten oder Bekannten im Westen zu führen. Schon der Verdacht, eine Flucht unterstützt zu haben, auch wenn er sich nicht beweisen ließ, führte zu unangenehmen Konsequenzen. Die Geschichte erzählte man sich an verschiedenen Standorten der NVA, wo ich sie 1970 das erste Mal hörte.25 Aus mehreren anderen mündlichen und schriftlichen Quellen kenne ich die DDR-Erzählung von einem nächtlichen Fluchtversuch eines DDRGrenzsoldaten an der sächsisch-bayerischen Grenze, die an der betref­ fenden Stelle einen sehr unregelmäßigen Verlauf hatte. Der Flüchtende überwindet die Grenzanlage unbehelligt und steht nach kurzem Lauf er­ neut vor einem weiteren Zaun. Auch diesen überwindet er glücklich und bittet im Hinterland den ersten Grenzbeamten, den er trifft, um politisches Asyl. Unglücklicherweise hat er aber die eigenen Grenzanlagen zweimal überwunden, und der Beamte ist ein Angehöriger der DDR-Grenztruppe. Die Geschichte ist diesseits und jenseits der (ehemaligen) Grenzanlagen zu Hause, sie dürfte aber eher im Westen entstanden sein, denn die Schaden­ freude oder Tragikomik, die darin zum Ausdruck kommen, sind für das Erzählgut im Osten weniger charakteristisch. Dort dominierten unter den zahlreich verbreiteten Fluchtgeschichten eher solche, mit tragischem, d.h. tödlichem Ausgang.26 An der zweiten Stelle der Häufigkeit stehen Geschichten über die sog. Freunde oder den großen Bruder im Osten. Ich fasse hier den Inhalt einer ganzen Reihe von Aufzeichnungen von Fred Walkow zusammen, da sie in dem Tenor übereinstimmen, daß die russischen Besatzungssoldaten ‑ besonders zu Beginn der Besatzungszeit ‑ naiv und von westlicher Kultur vielfach unbeleckt waren. – Ein russischer Besatzungssoldat soll versucht haben, im Nord-Bad in Halle vom Zehnmetersprungturm nicht in das Springerbecken, sondern in das angrenzende Schwimmbecken zu springen. Er landete auf dem Betonsteg und war sofort tot (im Nord-Bad in Halle gab es keinen Sprungturm). – In Pockau sollen zwei betrunkene Russen mit dem Schlitten die Sprungschanze hinuntergefahren sein. Sie waren sofort tot (in Pockau gab es damals noch keine Sprungschanze).

25 Einsendung von Dr. F. Walkow. Wolfen, vom 27.2.1994. 26 Vgl. Brednich: Das Huhn mit dem Gipsbein (wie Anm. 18), Nr. 79.

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– Ein russischer Offizier hat gewettet, er könne mit seiner Maschine unter einer Hochspannungsleitung hindurchfliegen. Er hat die Wette verloren. – Zwei russische Soldaten sehen einen Jungen in Thüringen mit einem klapprigen Fahrrad freihändig einen Berg hinab fahren. Sie kaufen ihm das Fahrrad für eine hohe Summe ab, weil sie glauben, das Fahrrad fahre von selbst und brauche nicht gelenkt zu werden. Der Versuch mißlingt, und die beiden Russen werfen das Fahr­ rad verärgert in den Straßengraben.

Manche dieser Geschichten bewegen sich im Grenzbereich zum Witz und können im Zusammenhang mit anderen „Russenwitzen“ (z.B. dem Dieb­ stahl von Bad-Armaturen oder Klo-Ketten, um zu Hause fließendes Was­ ser zu haben) wahlweise auch als solche erzählt werden. Eine weitere Geschichte von Fred Walkow‚ eine kleine Perle auch für die historische Erzählforschung, sei hier im Wortlaut wiedergegeben. Sie nimmt auf gelungene Weise die verbreitete Agentenneurose des DDRStaatssicherheitsdienstes und die oft mangelhafte Allgemeinbildung der Stasi-Mitarbeiter aufs Korn. Der geheimnisvolle Frosch In allen größeren Kombinaten der DDR kontrollierte die Stasi die Dienstpost, was allgemein bekannt war. Eines Tages kam ein Telegramm von einem Mitarbei­ ter aus Moskau an seine Kollegen, das sofort den Verdacht der Stasi-Leute erregte. Der Text lautete: „Der Frosch sitzt auf der Butter!“ Die zentrale Dechiffrierabtei­ lung konnte sich keinen Reim auf den Text machen. Der Mitarbeiter kam einige Tage später von der Reise zurück und mußte sofort bei der Stasi antreten. Als man ihm das Telegramm vorhielt, konnte er sich kaum halten vor Lachen. „Ja kennt Ihr denn nicht die Fabel von den beiden Fröschen, die in ein Milchfaß fallen?27 Der eine sagt: ‚Hier kommen wir nie heraus‘, hört auf zu schwimmen und ertrinkt. Der zweite strampelt weiter, die Milch wird zu Butter, und er springt aus dem Faß. So wie diesem Frosch erging es mir. Meine Kollegen hielten die Verhandlungen in Moskau für sinnlos und reisten ab, ich aber konnte sie nach langem Bemühen zum Erfolg fuhren.“ Die Darstellung des Mitarbeiters bestätigte sich, und er blieb unbehelligt.

Kommentar des Aufzeichners: In der 80er Jahren wurde diese Geschichte in der Filmfabrik Wolfen als dort passiert erzählt. Sie dürfte im Kreis der sog. Reisekader entstanden sein. Diese arbeiteten oft eng mit der Stasi zu­ sammen, doch mitunter ging ihnen deren Diensteifer auf die Nerven. Die Moral der Geschichte ist aber letztlich systembejahend: Wer sich nichts zuschulden kommen läßt, braucht auch von der Stasi nichts zu befürchten. Sch... deutsche Spießer!

27 AaTh 278B*.

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Lied- und Erzählgeschichten

In diesem kleinen Sample von DDR-eigenen Wandergeschichten darf auch ein Beispiel aus dem Bereich der sozialistischen Mißwirtschaft nicht fehlen. Großzügige Teer-Zuteilung Ein westdeutsches Ehepaar besuchte im Sommer 1992 Chemnitz. Man entschloß sich, das Auto zu parken, um zu Fuß die Stadt zu erkunden. Als sie nach kurzer Suche einen akzeptablen Parkplatz fanden, trauten sie ihren Augen nicht: Alle auf diesem Parkplatz stehenden Fahrzeuge waren bis zum Bodenblech in den Teer eingesunken. Es war nicht im Traum daran zu denken, mit einem geparkten Fahr­ zeug den Platz zu verlassen. Mehrere betroffene Fahrzeughalter unterhielten sich lautstark über den früheren DDR-Staat und die fragwürdigen Methoden seiner Straßenarbeiter. Als sich die interessierten Westler dazustellten, kam die Ursache der Misere ans Licht. Bekanntermaßen waren ja in der DDR alle Baustoffe knapp und schlecht. Auch im damaligen Karl-Marx-Stadt wartete man schon lange auf eine Zuteilung von Teer, um endlich einen asphaltierten Parkplatz vorweisen zu können. Als es dann nach langem Warten soweit war, stellte sich heraus, daß die angelieferte Teermenge viel zu groß war, um eine so kleine Fläche damit zu teeren. So entschloß man sich, die riesige Teermenge trotzdem auf der kleinen Fläche zu verteilen. Zum Schluß hatte man eine mehrere zehn Zentimeter dicke Teer­ schicht. Als es dann später in einem Sommer ziemlich heiß wurde, zeigte sich das ganze Ausmaß dieser Aktion: Der billige Teer weichte in der Mittagsglut völlig auf, und die Autos versanken aufgrund ihres Gewichts wie in einem Pudding. Gegen Abend, als sich die Luft wieder abkühlte und der Teer fest wurde, bewegte sich dann gar nichts mehr. Die Stadt mußte für viel Geld ein Bauunternehmen beauftragen, welches die eingeteerten Autos mit Preßlufthämmern und Hacken befreite.

Aufgezeichnet von Dipl.-Ing. Ralf Mönnig‚ nach der Erzählung eines 25jährigen Zeitsoldaten und Studenten, der die Geschichte von seinen El­ tern gehört und auf dem Weg zu einer Gaststätte erzählt hat, eingesandt aus Quakenbrück, 25.11.1993. Bei diesem Text ist – wie oft in diesem Erzählgenre – ein wahrer Kern zu vermuten, der hier in der Erzählung aus westlichem Mund mit einer Portion Übertreibung und Überspitzung genüßlich ausgestaltet wird. Die Geschichte gehört somit eigentlich in den Umkreis der seit der Wende von 1989 zahlreich verbreiteten DDRGeschichten westdeutschen Ursprungs, von denen ich bereits früher ein knappes Dutzend veröffentlicht hatte.28 Um das Dutzend vollzumachen, füge ich hier zum Schluß eine Geschichte an, die viele Jahre unter west­ deutschen Bundeswehrsoldaten die Runde gemacht hat und die auf ihre Art eine geheime Hochachtung vor der allwissenden Firma „Horch, Guck und Greif“ der DDR zum Ausdruck bringt. 28 Brednich: Die Maus im Jumbo-Jet (wie Anm. 18), Nr. 1–11.

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Die Beförderung Diese Geschichte habe ich 1985 während der Absolvierung meines Grundwehr­ dienstes in einer Kaserne in Euskirchen von einem Feldwebel gehört. Ein Be­ kannter des Feldwebels, damals Unteroffizier, befand sich auf der Transitstrecke in Richtung Berlin, als er von einem Grenzbeamten der DDR herausgewunken wurde. Dieser Grenzbeamte sprach ihn freundlich an und gratulierte dem Unter­ offizier zu seiner Beförderung zum Feldwebel. Der Unteroffizier wußte jedoch nichts von der Beförderung. Als er nach der Reise in seinen Stützpunkt zurück­ kehrte, fand er dort auf seinem Schreibtisch einen Brief liegen, in welchem ihm die Beförderung zum Feldwebel mitgeteilt wurde.29

Die hier beigebrachten Texte sind neu und liefern der Erzählforschung da­ mit auch neuen Stoff zum Nachdenken. Zunächst kann es offen bleiben, ob diese Erzählungen das Prädikat „Sagen“ verdienen. Wie immer man sie in Zukunft nennen wird, in Bezug auf die DDR-Geschichte können sie als Beweis dafür ins Feld geführt werden, daß die Bevölkerung im „ande­ ren“ Deutschland nicht nur ihren Anteil an den international kursierenden Wandergeschichten hatte und sie auf die eigenen Verhältnisse umformte, sondern darüber hinaus in kritischer Auseinandersetzung mit dem poli­ tischen System spezifische Erzählkomplexe entstanden, die sich mit den Schwach- und Reizstellen des Sozialismus (Grenzen und Mauern, Flucht, Mangelwirtschaft, Bespitzelung etc.) befaßten und im Westen meist unbe­ kannt blieben. Die Auseinandersetzung damit erscheint lohnend. Die volkskundliche Erzählforschung hat gegenüber den Zeiten, als sie noch als zentrales Anliegen des Faches betrachtet wurde, inzwischen ge­ genüber anderen Forschungsfeldern an Terrain verloren. Die Narrativistik benötigt heute dringend akademischen Nachwuchs. Vielleicht besteht ein gangbarer Weg zur Lösung der Nachwuchsprobleme auch darin, unsere Studierenden über das alltägliche und aktuelle Erzählen neu an diesen ver­ nachlässigten Zweig der volkskundlichen Wissenschaft heranzuführen. Mit dem vorliegenden Beitrag kann in diesem Sinne jedenfalls aufgezeigt wer­ den, daß wir zumindest keinen Mangel an aktuellen Erzählinhalten und Forschungsthemen zu beklagen und somit keinerlei Anlaß haben, in kul­ turkritische Verlust-Klagen oder Verteufelung der Medien als die angeb­ lichen Totengräber der mündlichen Kommunikation einzustimmen. Ein Zitat aus dem jüngsten Buch des durch diese Festschrift Geehrten zielt in die gleiche Richtung, wenn er sagt, „daß immer wieder neue kommu­ nikative Gemische frische und reichhaltige, bisher teilweise unentdeckte

29 Erzählt von dem Kölner Medizinstudenten Christian R. Ploenes, 25, aus Hürth-Hermühl­ heim am 18.1.1993 auf Tonbandkassette, Wiedergabe in wörtlicher Transkription.

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Kulturformen der Rede und Schreibe produziert haben und auch weiterhin hervorbringen“.30

30 Schenda, Rudolf: Von Mund zu Ohr. Bausteine zu einer Kulturgeschichte volkstümlichen Erzählens in Europa. Göttingen 1993, S. 16.

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Volkswelt als Kulisse Folklorismusphänomene im höfischen Festwesen Württembergs im 18. Jahrhundert* Günter Wiegelmann hat sich im Schlußwort des von ihm mitherausge­ gebenen Einführungswerkes in die Volkskunde 1977 für die Beachtung der Prinzipien von Konstanz und Konzentration der Forschung ausge­ sprochen. Er warnte vor den Gefahren der Zersplitterung und damit der Verwässerung spezieller volkskundlicher Forschungsansätze und benannte als ein Schwerpunktthema, dem weitere Aufmerksamkeit gelten sollte, die internationale Folkorismusdiskussion.1 Der vorliegende Beitrag greift diese Anregung auf und folgt einer Perspektive der Folklorismusforschung, die der Nestor dieses Forschungszweiges, Hans Moser, in einem seiner grund­ legenden Aufsätze zum Folklorismusphänomen aufgezeigt hat: „Die Vor­ führung traditionell und funktionell festgelegter Elemente des Volkslebens außerhalb ihrer lokalen oder ständischen Gemeinschaft, die spielerische Nachahmung volkstümlich wirkender Elemente abseits einer Tradition, das alles hat es seit langem und, wie es scheint, in allen, auch den früheren Kulturen schon gegeben. Dem nachzugehen wird die Aufgabe künftiger Veröffentlichungen sein“.2 Hans Moser hat diese historische Dimension des Folklorismus nicht mehr selbst weiterverfolgt; er konnte aber bereits auf Friedrich Siebers bahnbrechendes Werk verweisen, das anhand von Bilddokumenten des 16. bis 18. Jahrhunderts die volkstümlichen Motive im Festwerk des Dresdner Hofes aufzeigte. Der „Vorführungscharakter“ der aus der Sphäre der Volkskultur entlehnten Elemente in den festlichen Inventionen des kursächsischen Hofes wurde in Siebers Buch am Beispiel von Festaufzügen zu Taufen, Hochzeiten, Fastnachtsveranstaltungen und ∗ 1 2

Erstveröffentlichung in: Bringéus, Nils-Arvid u.a. (Hg.): Wandel der Volkskultur in Europa. Festschrift für Günter Wiegelmann zum 60. Geburtstag. Bd. 2. Münster 1988 (= Beiträge zur Volkskultur in Nordwestdeutschland, 60), S. 741–756. Wiegelmann, Günter und Zender, Matthias und Heilfurth, Gerhard: Volkskunde. Eine Ein­ führung. Berlin 1977 (= Grundlagen der Germanistik, 12), S. 232. Moser, Hans: Vom Folklorismus in unserer Zeit (1962). Wiederabdruck in: Ders.: Volks­ bräuche im geschichtlichen Wandel. Ergebnisse aus fünfzig Jahren volkskundlicher Quel­ lenforschung. München 1985, S. 344.

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Alltagskulturgeschichten

Fürstenbesuchen eindrucksvoll dargestellt. Bauern, Schäfer, Berg- und Hüttenleute, Winzer und Handwerker dienten in den Dresdner Festzügen den Repräsentationsabsichten des fürstlichen Territorialismus; das stattli­ che, fröhliche und fleißige „Volk“, so wie es sich der Landesherr wünschte, wurde in der barocken Festkultur aus seiner ländlichen Lebenswelt her­ ausgelöst und für städtische Verhältnisse zugerichtet. „Mit dem Übergang volkstümlicher Motive in das Festwerk ist ein tiefgreifender Funktionswan­ del verbunden“, schreibt Sieber, und er fährt fort: „Die Motive treten aus einem Gemeinwesen, das in historischer Entwicklung zu einer Lebensge­ meinschaft verwuchs, in die Publizität einer geselligen Veranstaltung terri­ torialen Ausmaßes. Sie treten damit aus einem Raum zunächst absinkender Geltung in einen solchen zunächst steigender. Sie verlieren ihre Identität und gewinnen dafür Publizität […]. Nicht Bewahrung will die Gesellschaft, sie sucht Effekt“.3 Für andere Fürstenhöfe und Residenzen bleibt eine solche Herausar­ beitung früher Folklorismus-Tendenzen im höfischen Festwesen noch zu leisten. Für den vorliegenden Beitrag wurde der württembergische Her­ zogshof im Stuttgart des 18. Jahrhunderts als Beispiel gewählt. Die für das Festwesen an diesem Hof vorhandenen Quellen sind von volkskundli­ cher Seite bisher kaum ausgewertet worden. Dabei läßt sich an ihnen sehr gut aufzeigen, auf welche Weise, in welchem Umfang und mit welchen Intentionen Elemente aus der ländlichen Kultur Württembergs in das höfische Festwesen Eingang fanden. Für die höfische Festkultur des 17. Jahrhunderts ist auf Werner Fleischhauers Darstellung Barock im Herzogtum Württemberg zu verweisen, in der die nach den Wirren des Dreißigjährigen Krieges am Herzogshof neuerwachende Freude an barocken Lustbarkei­ ten, Kutschen- und Schlittenausfahrten etc. kurz behandelt ist. Darin wird u.a. berichtet, daß bei einer Maskerade im Jahre 1661/62 die „Wilden Män­ ner“ in Erscheinung traten, für die die Kostüme allerdings vom Ansbacher Hof geborgt werden mußten. Bei den großartigen Festlichkeiten anläßlich der Heimführung der Erbprinzessin Magdalena Sibylle, Landgräfin von Hessen, im Februar 1674 wurden während des Schauessens Singspiele und Ballettvorführungen veranstaltet. Auf einem „nach der Grottierkunst zu­ bereiteten Felsen“ wurde u.a. die Sage von der Weinsberger Weibertreue dargestellt, bei der die „Weibsbilder“ ihre Ehemänner aus dem belagerten Schloß hinaustrugen. Auf einem anderen künstlichen Berg war ein „Fast­ nachts-Butz“ zur Schau gestellt. 1686 traten bei einer sog. Bauernwirtschaft der Herzog von Württemberg als Küfer, die Herzogin als Wirtin auf, der 3

Sieber, Friedrich: Volk und volkstümliche Motivik im Festwerk des Barocks dargestellt an Dresdner Bildquellen. Berlin 1960 (= Veröffentlichungen des Instituts für deutsche Volk­ skunde, 21), S. 152f.

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Herzog von Gotha als Kellermeister, andere Kavaliere als Hausknechte, Zigeuner, Kaminfeger, Quacksalber u.a.4 Daß es diese Phänomene gerade am württembergischen Herzogshof gegeben hat, scheint nicht weiter ver­ wunderlich, denn das Haus Württemberg stand schon seit dem ausgehen­ den Mittelalter im Ruf, in Bezug auf Volksnähe und -verbundenheit andere deutsche Landesherrschaften bei weitem zu übertreffen. Justinus Kerner hat 1818 dieser besonderen Stellung des Hauses Württemberg im Lied von Graf Eberhard im Barte (1445–1496) Ausdruck verliehen, der angeblich jedem Untertan unbesorgt sein Haupt in den Schoß legen konnte.5 Insgesamt gesehen bleiben die Zeugnisse für die Rezeption volkstüm­ licher Elemente in der höfischen Sphäre im 17. Jahrhundert noch eher sporadisch und gewinnen nur selten die Anschaulichkeit und Intensität, die etwa den Dresdner Bildquellen innewohnt. Mehr Farbe erhält das Bild beim Übergang in das 18. Jahrhundert, für das auch weitaus mehr Hofak­ ten überliefert sind. Sie bilden zusammen mit einigen literarischen Quellen die Grundlage für die folgende knappe Darstellung einiger Erscheinungs­ formen des „höfischen Folklorismus“ in Württemberg. Unser Ziel ist dabei nicht die Rekonstruktion des gesamten Festwesens am württembergischen Hof der Barockzeit, es geht uns lediglich um einen Teilaspekt jenes „großen Welttheaters“, das von R. Alewyn und K. Sälzle gültig dargestellt wurde,6 besonders um die Anleihen, die die Herrschenden zur Ausgestaltung der höfischen Festkultur bei den unteren Volksschichten machten. Es soll ge­ zeigt werden, daß die Untertanen an diesen Festlichkeiten nicht eigentlich beteiligt wurden, sondern daß man sich lediglich ihres kulturellen Besitzes bediente, um die Hoffestivitäten gelegentlich mit rustikalen Farbtupfern zu versehen und den Festteilnehmern die Möglichkeit zu geben, die durch die höfische Etikette gezogenen Grenzen hin und wieder zu überschreiten.7 Es kann aber auch gezeigt werden, daß angesichts der oft nur bescheidenen Möglichkeiten des Stuttgarter Hofes zur Prunkentfaltung der Adel nicht ohne diese Anleihen an das heimische Festwesen auskam. Adel und „Volk“ standen im Verhältnis gegenseitigen Gebens und Nehmens: „Zwischen

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Fleischhauer, Werner: Barock im Herzogtum Württemberg. Stuttgart 1958, S. 58–60 (freund­ licher Hinweis von Hermann Bausinger). Böhme, Franz Magnus: Volkstümliche Lieder der Deutschen im 18. und 19. Jahrhundert. Leipzig 1895. Zitiert nach dem Nachdruck Hildesheim, New York 1970, S. 10f., Nr. 14, S. 600; vgl. Fröschle, Hartmut: Das Haus Württemberg in der Literatur. In: Uhland‚ Robert (Hg.): 900 Jahre Haus Württemberg. Leben und Leistung für Land und Volk. Stuttgart u.a. 1985, S. 537–553, hier S. 543. Dieser Sammelband enthält keinen Beitrag über das Haus Württemberg und das „Volk“. Alewyn, Richard und Sälzle, Karl: Das große Welttheater. Die Epoche der höfischen Feste in Dokument und Deutung. Hamburg 1959 (= rde, 92). Fleischhauer: Barock (wie Anm. 4), S. 60.

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Adel und Volk entdeckte man trotz der Abstände von Respekt hier und Verachtung dort einen nicht unbedeutenden Austausch. Das Volk über­ nimmt von der Gesellschaft Formen der Kunst, des Liedes, des Theaters und pflanzt sie auf seine Weise fort, die Gesellschaft tauscht dafür Feste und Tänze ein“.8 Von dem letzteren der beiden Austauschprozesse soll im Folgenden die Rede sein. Eine erste Annäherung zwischen den Sphären der höfischen und volks­ tümlichen Kultur konstatieren wir beim Karneval. Es ist vielleicht etwas überraschend, aus den Stuttgarter Hofakten zu erfahren, daß die Herzöge von Württemberg in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts den Bewoh­ nern der protestantischen Residenzstadt Stuttgart regelmäßig die Abhal­ tung eines mehrwöchigen Karnevals gestatteten.9 Aus dem Erlaß des Her­ zogs Carl Alexander (1733–37) vom 10. Dezember 1735 spricht sogar so etwas wie eine demokratische Auffassung von der Fastnacht, wenn es darin im ersten Paragraphen heißt: „Daß einem jeden ohne Unterscheid seines Standes und Würde, eine Masque nach seinem Gefallen zu gebrauchen ohnverwehrt seyn“. Allerdings wird diese allgemeine Maskenfreiheit nicht nur durch eine Reihe von Verhaltensvorschriften, sondern auch durch den Umstand eingeschränkt, daß gewisse Maskierungen allein dem Adel vor­ behalten blieben. Das Karnevals-Reskript des Herzogs Eberhard Ludwig (1677–1733) vom 10. Januar 1719 sagt dazu beispielsweise, daß die „No­ bles, Dominos und Polnische Röcke allein vor die Cavalliers und Dames reservirt bleiben / herentwegen niemand erlaubt seyn / er mag seyn wer Er will / obig gemeldte Kleidung zu tragen / es wären dann fremde Personen von qualité. Inzwischen darff man indistincte allerhand Masquen tragen / und sich deren bedienen“. Aus den Erlassen geht ferner hervor, daß der herzogliche Hof bei den Karnevalsbällen oder Redouten im Schloß auf die Teilnahme von Kanzleibedienten, Kaufleuten und sonstigen ehrbaren Bürgern Wert legte. Daneben muß aber auch gleichzeitig eine Straßenfast­ nacht existiert haben, sonst hätte der Erlaß von 1735 den Maskenträgern nicht das „Johlen, Schreyen, Peitschen, Glatschen“ auf der Straße und das Eindringen in fremde Häuser verboten. Über die 1737 am Stuttgarter Hof gehaltene Fastnacht besitzen wir ein interessantes literarisches Zeugnis. Es entstand ein Jahr später anläßlich der Verurteilung und Hinrichtung von Joseph Süß-Oppenheimer (1698/99– 1738), genannt Jud Süß, Finanzberater des Herzogs Carl Alexander. Süß werden auch im Zusammenhang mit der karnevalistischen Hoffête schwe­ 8 9

Alewyn und Sälzle: Das große Welttheater (wie Anm. 6), S. 24. In den Hofakten fanden sich drei gedruckte Erlasse zur Verkündigung und Reglemen­ tierung des Karnevals in den Jahren 1715, 1719 und 1735. Hauptstaatsarchiv Stuttgart (künftig HStAStgt) A 21 Bü 189.

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re Betrügereien bei der Beschaffung der Maskenkostüme und bei der Ab­ haltung einer Karnevals-Lotterie vorgeworfen. Der Verfasser der Schmäh­ schrift benutzt das Stichwort „Carneval“ zu einigen Ausführungen über dieses Hoffest. Es heißt darin u.a.: Carneval, Bacchanalia, Fastnacht ist die Zeit von Fest der Heil. 3 Könige an, bis zum Anfang der 40tägigen Fasten, und wird solche Zeit, an vielen Orten und Fürstl. Höfen in der Christenheit, mit allerhand Masqveraden, Comödien, Opern u.d.m. zugebracht. Eben dergleichen Carneval pflegte man nun auch an dem Württembergischen Hofe im vorigen 1737. Jahre anzustellen, da hatte man sein Vergnügen, wann jedermann an denen Lustbarkeiten wolte Theil nehmen, man erkannte das Aussenbleiben vor nichts anders, als vor eine unleidentliche Aversi­ on vornehme Leute anzusehen; indem dem Hof nichts anständiger war, als eine grosse Frequentz von Leuten um sich zu sehen, die von seinen Divertissements profitiren wollten.10

Im Anschluß an diese als Fußnote gedruckte Erläuterung über das damals vielerorts und auch zu Stuttgart neu eingeführte Fest setzt der Verfasser seinen Bericht über den Stuttgarter Karneval von 1737 in Gedichtform fort. Teilweise schöpfen seine Reime aus den gedruckten Karnevals-Re­ skripten, bei der Schilderung des Balles dagegen spricht er offensichtlich als Augenzeuge. Aufschlußreich für unseren Zusammenhang ist die fol­ gende Stelle, in der von der Zweiteilung der Redoute in einen Hof- und einen Volks-Karneval die Rede ist: Zum Tantzen kont ein Platz von zwey Redouten dienen, Auf einer ist der Fürst und dessen Hof erschienen, Der Adel, und wer sich als Officier gab an, Dann auch, wer zierlich war masqvirt und angethan. Die andre Helffte Saals, die man Redoute nennet, Hat man derjenigen zur Lustbarkeit vergönnet, Von g’ringerem Extract, und der sich weiter nicht In Kleidern, oder schlecht, verstellt als am Gesicht.11

Aus diesem Zeugnis geht hervor, daß sich städtisches und höfisches Fest­ wesen im Karneval miteinander berührten. Es bestand der Brauch, wenig­ stens einmal im Jahr die Bewohner der Residenzstadt an den Vergnügun­ gen des Hofes teilnehmen zu lassen, und zumindest teilweise werden sich die Hoffeste durch einen gewissen volkstümlichen Zuschnitt ausgezeich­ net haben. Natürlich hatte dieses Vergnügen für den Bürger auch seinen 10 Liberius, Arnoldus: Vollkommene Historie und Lebens-Beschreibung des fameusen und berüchtigten Würtembergischen Avanturiers, Jud Joseph Süß-Oppenheimer etc. Frankfurt, Leipzig 1738, S. 36. 11 Ebd., S. 41f.

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Preis, und wenn man sich den „Taxzettel für die Karnevalsküche“12 vor Augen führt und die Preise für die Festspeisen bei der Redoute studiert – ein welscher Hahn mit Austern gefüllt 6 fl. 30 kr., ein „marginirter Hering“ 30 kr. – so erkennt man schnell die Grenzen der allgemeinen Zugänglich­ keit eines solchen Hoffestes. Von „höfischem Folklorismus“ werden wir hier wohl noch nicht sprechen können, denn es handelt sich mehr um die Initiierung und Reglementierung eines Festes, an dem traditionsgemäß alle Stände Anteil nehmen konnten. Eine weiterentwickelte Form des „Hoffolklorismus“ haben wir dage­ gen vor uns, wenn wir uns den für den Stuttgarter Hof seit dem 17. Jahr­ hundert charakteristischen Bauernhochzeiten zuwenden. Hierbei handelt es sich nicht um wirkliche Hochzeitsfeierlichkeiten, sondern um die spieleri­ sche Nachahmung bäuerlicher Hochzeiten zum Vergnügen der Hofgesell­ schaft. Das „Volk“ konnte an diesen von der Adelsgesellschaft inszenier­ ten Aufzügen nur als Zuschauer teilnehmen, es war allenfalls als Staffage, als Kulisse willkommen. Außerdem mußte es die für die Durchführung solcher Hofdivertissements notwendigen Requisiten bereitstellen. Für die im Jahre 1721 vom Stuttgarter Hof veranstalteten Bauernhochzeiten z.B. wurden die erforderlichen „Bauernkleider“ (der Ausdruck Tracht taucht in diesem Umkreis noch nicht auf!) in Böblingen „eingezogen“, und zwar 20 Männerkleider, die zu bestehen hatten aus Hut, Rock, Kamisol und Hosen mit Latz.13 Wir verfügen in diesem Zusammenhang über ein sehr aufschlußrei­ ches, in den Hofakten erhaltenes Dokument, welches zeigt, daß der Hof bei der Durchführung solcher Bauernhochzeiten nicht nur in der Übernah­ me ländlicher Kleidung für die Akteure, sondern auch in der ganzen Insze­ nierung um eine gewisse Authentizität bemüht war. Im Jahre 1718 erhält ein Hofbeamter den Auftrag, den Ablauf einer ländlichen Hochzeit in der Umgebung der Residenzstadt zu recherchieren. Die zugehörige Akte trägt den Titel Entwurff was bei Celebrirung einer Bauren Hochzeit zu bestellen, und zu observiren. Bernhausen, Degerloch 1718. Offenbar waren aus mehreren Orten Erkundigungen eingezogen worden, die zu einem Schriftstück zusammen­ gezogen wurden. Die Angaben beziehen sich auf ländliche Gemeinden südlich von Stuttgart.14 Wir drucken dieses Dokument als Beispiel für das

12 Herzog Karl Eugen von Württemberg und seine Zeit. Hg. vom Württembergischen Ge­ schichts- und Altertums-Verein. Bd. 1. Eßlingen 1907, S. 113. 13 HStAStgt. A 21, Bü 188. Acta Hofdivertissements 1718–1748. 14 Vgl. Beschreibung des Oberamts Stuttgart, Amt. Hg. von dem Kgl. topographischen Bu­ reau. Stuttgart 1851, S. 111–118 (Bernhausen), S. 137–143 (Degerloch), S. 143–151 (Ech­ terdingen).

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frühe „folkloristische“ Interesse des Stuttgarter Hofes am schwäbischen Volksleben im Wortlaut ab. Entwurff Einer Bauren Hochzeit Die Invitation geschihet 8. Tag vor dem Hochzeit Termin, und zwar die Ledi­ ge Manns Personen werden durch den Hochzeiter und eines seiner Vertrauten Cammeraden, dene Er sich Selbsten erwählet, eingeladen, worbey der letzere das wortt zu führen, und solchergestalten wird auch bey denen Ledigen Weibs Personen procedirt, doch daß die Brauth und ihre gespihlen, die das wortt auch zu führen, mit kölschenen Küßen ziechle15 uf den ärmen tragend die Einladung thun. Die geheurathete Manns- und Weibsbilder, alß nur die nechste Freunde, oder wer sonsten invitirt werden will, werden die mannsbilder durch die Vätter beeder Verlobten, und die Weibs Bilder durch die Müttern, falls solche noch im leben, eingeladen, in deßen ermanglung aber durch andere Bekandte Manns und weibs personen. Montags abendts vor angehenden hochzeit Tag kommen die nechste Freun­ de zusammen, halten eine Mahlzeit, dantzen darbey entweder bey einem Dudel­ sack und Schallmeyen oder geigen. Hierauff folget am Dienstag das solenne Hochzeit Fest. Und kombt man gemeinglich morgens um 9. Uhr auf dem Rathauß zusamen, nach disem wird der Kirchgang formirt, als: Kleine Kinder, wann da seyn‚ darauf die ledige Mägdlen und bloß vor der Brauth ihre gespiehlin, die zur Hochzeit hülft einladen, mit noch einem andern mädle‚ nach disen die Brauth, welche Er Schulmeister, alß Brauthführer führt, auf dise folgen die Eltern weibl. Geschlechts und die übrigen Weiber, nach denen Weibern die Junge gesellen, nach disen der Bräutigam, dene sein Cammerad, der zur Hochzeit helfen einladen, mit noch einem in die Kirche führt, und dann die Eltern männl. Geschlechts und so weitter die übrige Männer. Der Brautführer führet die Brauth zur copulation, nach solcher gehen alle Hochzeit Gäste vorgemelter massen und in der Ordnung, wie selbe in die Kirch gangen, um den altar und opfern, mithin von der Kirch wider auf das Rathaus, zum Dantz‚ den Vordantz thut Brautführer, nach solchen führet der Brautführer die Brauth dem Hochzeiter zu, der nur auch gantz allein 2 à 3 Däntz mit der Brauth thut, nach disem dantzen alle ins gemein biß zu der mittags Eßenszeit. Zu Mittag wird gespeist und aufgetragen, zuerst Kuttlenfleck in saurer brüeh. 1. 2. Suppen. Sauerkraut mit grün und dirr Schweine fleisch. 3. Leber- und Bluthwürste in einer å parten Schüßel. 4. 5. Rindfleisch. 15 Kölnisches Kissentuch ist seit dem 15. Jahrhundert bezeugt als Bezeichnung für eine Art Barchent oder Leinwand; vgl. Fischer, Hermann: Schwäbisches Wörterbuch. Bd. 4. Tübin­ gen 1914, Sp. 581.

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Zu Bernhausen und Degerloch wird auf Zihn angericht und gespeist, außer hül­ zernen Löffel. Zu Echterding aber auf höltzernem Deller und Iredin geschirr, und zwar müßen die höltzerne Deller auf beeden seiten beschmirt seyn‚ sonsten es kein gast von sich geben darff‚ schlecht Meßer und gabel‚ Kreutzergläser.16 Beeder Verlobten Vätter und Müttern müßen mit Hochzeiter und Hochzeite­ rin, und beede gespihlen, die zur Hochzeit helfen einladen nebst dem Brautführer aufwarten, und darff keines an Tisch sitzen. Nach endigung des Mittageßen wird wider 2 à 3 Stund so lang es Zeit zuläßt gedanzt. Hernach zum Nachteßen wider gegangen, und seynd die Tractamenter bey dem Nachteßen: Weißfisch in einer Zwibel brüeh. 1. 2. Reys.17 3. Zwetschgen. 4. Eine Sultz von Rindtsfüeß und drgl. Maul. 5. Brathens Rindts- oder Kalbsfleisch. 6. Mühl-18 und Käß Kuchen. Nach dem Nachteßen wird wider gedanzt, nach dem Dantz durch den Schulmei­ ster eine Dancksagung und zugleich die invitation auf den folgenden tag getan‚ worauf Er Schulmeister die Brauth alß Brautführer nach ihrem Hauß bringet, und ihren den Hochzeit Crantz ohne daß Hochzeitter oder jemand sonst dabey sein darff abnimmt. Nach disem komt Bräutigam zur Brauth, legt sich zu ihr und auf solches kommen die ledige Kerl und Mädle und singen denen Verlobten an, darauf alles von einander gehet. Hochzeiter muß entweder seinen Kirchen Rock oder Mantel mit einem Überschlag oder Kragen biß abendts nach deß Schulmei­ sters abdanckhung anbehalten und in solchem Habit bleiben. Wann Pfarrer zur Hochzeit kombt‚ wird Er oben an – und sofort Schultheiß, Gericht und Rath nach ihrem Stand an dem Tisch locirt (HStA Stg. A 21, Bü 188).

Dieser Text ist zweifellos in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. Als frü­ hes Zeugnis für den Ablauf einer schwäbischen Bauernhochzeit ist er von der Volkskunde bereits flüchtig zur Kenntnis genommen worden,19 jedoch wurde er nicht in den Kontext eingeordnet, in den er hineingehört. Dieser Kontext heißt höfisches Festwesen, und der zugehörige Text einer Bau­ ernhochzeit war für den Hof sicher nur insoweit von Interesse, als sich daraus Anregungen für die Inszenierung eines Hofdivertissements gewin­ 16 Kreuzerglas = geringwertiges Trinkglas; Fischer: Schwäbisches Wörterbuch (wie Anm. 15), Sp. 739f. 17 Reis wird im Schwäbischen schon seit dem ausgehenden Mittelalter als Bestandteil des Hochzeitsmahles genannt; Fischer (wie Anm. 15). Bd. 5. 1920, Sp. 272. 18 Mühlkuchen, ursprünglich die Leistung eines Müllers für ein Abhängigkeitsverhältnis, später Bezeichnung für Kuchen, besonders Butterkuchen; Fischer: Wörterbuch (wie Anm.15), Sp. 1792f. 19 Mehring, G[ebhard]: Bauernhochzeit auf den Fildern am Anfang des 18. Jahrhunderts. In: Württembergische Jahrbücher für Statistik und Landeskunde 1910, S. 78–79; vgl. Walter, Paul: Schwäbische Volkskunde. Leipzig 1929, S. 118f.

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nen ließen. So wird man sich bei Hof vor allem für die Rollenverteilung unter den Hochzeitsgästen, für die Aufstellung des Hochzeitszuges und die Sitzordnung bei Tisch interessiert haben. Der Hochzeitstermin für die dörfliche Hochzeit, das Laden, die Hochzeitsmusik, die Speisefolge, die Ehrentänze, das Geleit, das Kranzabnehmen, das Ansingen vor dem Bei­ lager und alle die anderen Details waren für den Hof dagegen quantité negligeable, da es sich bei den gewöhnlich zur Fastnachtszeit veranstalteten „Baurenhochzeiten“20 ja nicht um wirkliche Hochzeitszeremonien, son­ dern nur um einen Teil der höfischen Lustbarkeiten handelte. Der Volks­ kundler wird trotz des Kontextes „höfisches Festwesen“ an den wichtigen Detailinformationen dieses Berichtes von 1718 nicht vorbeigehen. Er re­ gistriert u.a. mit Aufmerksamkeit die genaue Aufzählung der Festspeisen beim Mittag- und Abendessen, die mit späteren Berichten aus dem 19. Jahrhundert sehr genau übereinstimmen.21 Der durch diese Festschrift Ge­ ehrte wird daneben besonders beachten, daß in Echterdingen das Hoch­ zeitsmahl noch auf Holztellern serviert wurde, während in Bernhausen und Degerloch in der größeren Nähe zur Residenzstadt bereits Zinnteller Einzug gehalten hatten. Zurück zu den Stuttgarter Bauernhochzeiten: der Grad der „folklori­ sierten“ Inszenierung ist auch daran abzulesen, daß die Rollen von Braut und Bräutigam unter den unverheirateten Gästen des Hofes durch Los ermittelt wurden, um Rangstreitigkeiten zu vermeiden.22 Was von der tat­ sächlichen schwäbischen Bauernhochzeit übrig blieb, wenn der Stuttgarter Hof Hochzeit spielte, erhellt aus den Acta die ao. 1737 zu Stuttgart gehaltene baurenhochzeit des Staatsarchivs. Das Hofzeremoniell schrieb den Teilneh­ mern die Beachtung des folgenden Rituals vor: 1. Hat Mann denen sämtl. Cavaliers und Dames anzusagen daß Sie sich den 5. Martij nachmittags vor 3. Uhr in dem Fürstl. Schloß alhier und zwar in Ihro Durchl. des Herrn Herzogs ante-chambres einfinden sollen. 2. Daß Mann von dort aus in der Statt herumfahre, und 3. Sämptl. Cavalier vor den Wagen herreiten; sodann 4. In dem Schloß biß zur Taffel spielen werde; worauff 5. Zur Taffel die sämptl. Cavalier voraus gehen.

20 Vgl. dazu Alewyn und Sälzle: Das große Welttheater (wie Anm. 6), S. 25f; von Gerstfeldt, Olga: Hochzeitsfeste der Renaissance in Italien. Eßlingen 1906 (= Führer zur Kunst, 6). 21 Volkstümliche Überlieferungen in Württemberg. Glaube – Brauch – Heilkunde. Bearb. von Bohnenberger, Karl unter Mitw. von Eberhardt, Adolf und Höhn, Heinrich und Kapf, Rudolf. 3. Aufl. Stuttgart 1980 (= Forschungen zur Volkskunde in Baden-Württemberg, 5), S. 151f. 22 HStAStgt. A 21, Bü 188: 18. Februar 1721. Das Datum deutet auf die Rolle der Bauern­ hochzeit im Fastnachtsbrauch hin. Zum Losverfahren vgl. Alewyn und Sälzle: Das große Welttheater (wie Anm. 6), S. 10.

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6. Die adeliche Kind auß der Statt mit dem Schulmeister von Lützelburg und dem Pfarrer von Montolieu folgen hernach, aber 7. Die Fräulen von Hayling alß Braut mit dem von Stockhorn und Taschau alß Brautführer, ferner 8. Der Bräutigam von Alvensleben mit den Cräntzels fräulen, von Münzing und von Franck‚ weiter 9. Der Breutigams Vatter und Mutter, alß der Printz von Waldeck und Fräulen von Wilmofsky, sodann 10. Der Braut Vatter und Mutter Frau von Lützelburg und Herr von Kettenburg. 11. Der Wirth und die Wirthin Ihro Durchl. der Herr Herzog und Ihro Durchl. die Frau Herzogin. 12. Wirths Töchterlein [… Es folgt die Aufzählung der Namen weiterer 13 Hochzeitsgäste, die den Schluß bilden] 26. Marktschreier 27. Nachtwächter. Worauf sodann folgt der Hofpoet Fleischmann und Hanß Wurst Ritter. Im Rittersaal soll für 24. Personen gedeckt werden.

Aus diesen Protokollvorschriften ist unschwer zu ersehen, daß allenfalls bei der Verteilung der Rollen das Vorbild der ländlichen Hochzeit noch schwach durchschimmert. Im Übrigen waren diese höfischen „Bauren­ hochzeiten“ barocke Festkompositionen, die sich wie zahlreiche andere Feste aus vielen – darunter auch einigen volkstümlichen – Elementen zu­ sammensetzten und durch Abwechslung und Abwandlung der Übersätti­ gung und Übermüdung der höfischen Gesellschaft vorbeugen sollten. Als Kronzeugen für die Richtigkeit dieser Interpretation können wir nochmals den Verfasser der Historie des Jud Süß anrufen, der nach dem höfischen Karneval in wohlgesetzten Worten auch die Stuttgarter Bauern­hochzeit schildert und als Farce entlarvt: Nach diesem, und zwar just am fünfften Tag des Mertzen, Kam eine Hochzeit vor, um Bäuerisch zu schertzen, Fünff Wagen wurden gleich aufs schönste ausgeschmückt, Und jedem, wer er war, das Looß ins Haus geschickt. Man pflegte kurz zuvor den Gästen anzusagen, Daß man des Nachmittags, sobald es drey geschlagen, In grossen Schloß allda zusammen kommen woll‚ Um solche Zeit lieff es in allen Gassen voll; Von diesem in so lang verstellten Bauren-Stammen, Aus Dames‚ Cavalliers, kam Paar und Paar zusammen, Man führte allgemach die grüne Wagen her, Trompet- und Paucken-Schall vernahm man ohngefehr. Wo die Verehligung vom jungen Paar geschehen Läßt sich inzwischen nicht aus einem Kirch-Buch sehen, Der Pfarrer, der bestellt, war selbigmal nicht hier, Nichts destoweniger gieng diese Hochzeit für. Schulmeister Lützelburg befande sich zugegen,

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Wolt aber gleichwohl nicht den Spruch, wie sonst, ablegen; Da dann der Hof-Poet an seine Stelle trat Und eine Red am Tisch im rothen Mantel that.23

Die gleiche Quelle überliefert auch einen Teil der Ansprache des Hofpo­ eten Johann Jakob Fleischmann an das Pseudo-Brautpaar. Der Dichter macht sich darin in Form eines schwäbischen Mundartgedichtes über den geringen Brautschatz der beiden Neuvermählten lustig. Eine Kostprobe aus diesem raffinierten höfischen Spektakulum, das sich der bäuerlichen Elemente bediente und sie gleichzeitig ins Lächerliche zog, muß hier ge­ nügen: Wia mier der Schulthes sait‚ so bstoht Dei Sach in dem, An alte Lumpa-Truch, a Stück vom Ofa-Grem, An nuier Fuier-Zuig, a Nagel nuie paar Hosa‚ A Mörschel von Metall, nex aber drinn zum stosa‚ An Obet-Seaga Buech‚ des aber nimme gantz‚ A Kreutzer-Spiagele, an alter Farra-Schwantz; A Löffel und a Bsteck‚ do fehlt davon ah Gabel, A halb verrißner Holg‚ do druff der Thun von Babel, A Butt, a Beasastihl, a halba Büschel Strau A Simmre Bira-Schnitz, a Mützle vor a Frau, Fainf Groscha ah baar Geld, a Karr, an Ochsa Joch, An Erda Grechtsame ins Pflaute Basches Loch ...24

Am Stuttgarter Hof erscheinen alle diese Phänomene oft eine Nummer kleiner als anderswo, etwa am Wiener Hof, und mitunter fehlte es auch einfach an den notwendigen Mitteln zur Finanzierung der aufwendigen Festlichkeiten. So bittet der Herzog Carl Eugen 1747 seinen Obermar­ schall um die Durchführung einer neuen Bauernhochzeit, dieser aber gibt folgendes zu Protokoll (12. Februar): „Eine ordentliche und wie ehemalen eingerichte Bauren Hochzeit […] anzustellen, will die kurtze der Zeit nicht vergönnen: dann es ist nicht genug ein oder andere Art von Bauren Klei­ dern darzu in vorrath zu haben: Sondern es erfordert gantz besondere an­ züge‚ gleich wie e.g. des breuthigams, der braut, des braut und breutigams vatter und Mutter, der Schuldheißen, des Schulmeisters, des Nachtwäch­ ters, des Wirths etc. Ew. Churfürstl. Durchl. werden dahero am besten ohn maßgeblich thun‚ wann höchst dießelbe keine vorschrifft von ein oder den ander art der Verkleidung ergehen laßen, oder wann je etwelche Bauren Verkleidung annoch vorgehen solte‚ daß man von einer Bauren Hochzeit abstrahiren, und nur der Noblesse angesagt werden möchte, daß sie von 23 Liberius: Vollkommene Historie (wie Anm. 10), S. 42. 24 Ebd., S. 43f.

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dienstag so viel mögl. in bauren habit erscheinen möchte, der habit aber darff ein Schwäbischer, ein Saltzburgischer, Tirolischer oder fränkischer bauer seyn“.25 In diesem Text wird mit der wünschenswerten Deutlichkeit zum Aus­ druck gebracht, daß bei diesen Stuttgarter Bauernhochzeiten von der Noblesse keine Kleider, sondern Verkleidungen getragen wurden, wobei die Wahl des bäuerlichen Habits jedem Teilnehmer freigestellt war. Da­ mit rückt dieses Hofvergnügen – nicht nur terminlich – in die Nähe der höfischen Karnevalsaufzüge. Um eine ausgeprägte Form des historischen Folklorismus handelt es sich bei der für 1736 bezeugten Stuttgarter Bau­ ernhochzeit, bei der die 17 teilnehmenden Paare in folgender Verkleidung erschienen: Schwäbischer Bauer – schwäbische Bäurin; Spanischer Bauer und Bäurin; Französischer Bauer und Bäurin; Tiroler Bauer und Bäurin; Hannac und Hannackin; Schwarzwälder und Schwarzwälderin; Breisgauer und Breyßgäuerin; Soldat und Soldätin; Jäger und Jägerin; Wirth und Wir­ thin; Salzburger und Salzburgerin; Bayerischer Bauer und Bäurin; Schwei­ zer Bauer und Bäurin; Sicilianer und Sicilianerin; Unger und Ungarin; Türk und Türkin.26 Für manche Teilnehmer wird wohl eine Kopfbedeckung ge­ nügt haben, um das jeweils gemeinte Ethnikum zu signalisieren. Hier fas­ sen wir ein frühes Beispiel für die Verwendung volkstümlicher Traditionen in anderen als ihren ursprünglichen Zusammenhängen, ein historisches Musterbeispiel für das also, was man im Anschluß an Hans Moser „Trach­ tenfolklorismus“ genannt hat. Trachten werden hier zu Uniformierungen, historische Kostümierung und Trachteneinkleidung sind hier bereits eine enge Verbindung miteinander eingegangen, wie wir sie im Allgemeinen erst aus dem 19. Jahrhundert – Biedermeier oder Gründerzeit – kennen.27 Zu­ gleich wird an diesem Phänomen Tracht als Verkleidung deutlich der Zug zur Internationalität und Verfügbarkeit der Kulturgüter sichtbar, und es zeigt sich, daß auch die Kultur des Adels auf Zuschauer ausgerichtet war und ihr Publikum benötigte.28 Wir wollen uns zum Abschluß noch einem Beispiel für den Hof-Folk­ lorismus in der Regierungszeit des württembergischen Herzogs Carl Eugen 25 HStAStgt. A 21, Bü 188: 12. Februar 1747. 26 HStAStgt. A 21, Bü 188: 1736 (bei jedem Paar sind die Namen der adligen Akteure angege­ ben). 27 Vgl. Brückner, Wolfgang: Trachtenfolklorismus. In: Jeggle, Utz (Hg.): Volkskultur in der Moderne. Probleme und Perspektiven empirischer Kulturforschung. Reinbek 1986 (= re, 431), S. 363–382. Ergänzend Ders.: Mode und Tracht. Ein Versuch. In: Bayerische Blätter für Volkskunde 13 (1986), S. 147–169, bes. S. 150f. 28 Köstlin, Konrad: Folklorismus als Therapie? Volkskultur als Therapie? In: Hörandner, Edith und Lunzer‚ Hans (Hg.): Folklorismus. Neusiedl am See 1982 (= Neusiedler Kon­ frontationen, 1), S. 129–148, hier S. 129.

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(1737–1793) zuwenden. Unter seiner langen Regentschaft setzte sich das verschwenderische, ausschweifende Hofleben seiner Vorgänger zunächst ungemindert fort. In seiner zweiten Lebenshälfte wandte sich Carl Eu­ gen jedoch mehr und mehr von diesem Lebensstil ab. Seine Neigung zu einfacherer Lebensgestaltung wurde durch die seit 1779 bestehende Ver­ bindung zu einem schwäbischen Landeskind gestärkt. Seine erste Ehe mit Friederike, der Tochter des Markgrafen Friedrich von Bayreuth, war ge­ scheitert, nach verschiedenen Abenteuern wandte er sich schließlich der Freifrau Franziska von Leutrum, Tochter des Freiherrn Ludwig Wilhelm von Bernerdin aus Adelmannsfelden bei Aalen zu. Der Name dieser Frau, die aus einfachen ländlichen Verhältnissen stammte und später württem­ bergische Herzogin wurde, ist aufs engste mit dem Aufstieg von Hohen­ heim zur herzoglichen Residenz und mit der sog. Englischen Anlage da­ selbst verbunden. Ursprünglich befand sich in Hohenheim am Rande der Filderhochebene bei Stuttgart nur ein Gutshof mit einem altmodischen Schlößchen. Herzog Carl Eugen schenkte 1772 diesen sog. Garbenhof seiner neuen Favoritin Franziska, mit der er 1785 die Ehe schloß. Schon vorher hatte Franziska den Herzog auf seinen verschiedenen Auslandsrei­ sen begleitet. Vor allem die Begegnung mit englischen Landschaftsgärten ließ in dem Paar den Entschluß zur Errichtung einer ähnlichen Anlage in Hohenheim reifen. Damit war gleichzeitig der Rückzug Carl Eugens vom Glanz der aufwendigen Hofhaltung in Ludwigsburg und auf der So­ litude und die Hinwendung zum ländlich-einfachen Leben verbunden. Es scheint, daß diese bemerkenswerte Wende in seinem Leben nicht nur durch die Verbindung zu Franziska hervorgerufen wurde, sondern daß die tiefere Ursache dazu im gesunkenen politischen Ansehen des Herzogs nach 1770 zu suchen ist.29 In Hohenheim setzte eine sich über zwei Jahrzehnte hinziehende rege Bautätigkeit ein, während der nach den Plänen des Baumeisters Reinhard Ferdinand Heinrich Fischer (1746–1813) nicht nur das neue Schloß er­ stand, sondern auch das sog. Dörfle‚ dem der Herzog und Franziska eine von Jahr zu Jahr steigende Aufmerksamkeit zuwandten. Dieser englische Garten ist Ausdruck eines neuen Gestaltungsprinzips in der europäischen Gartenkunst: Der englische Landschaftsgarten betonte im Gegensatz zu der strengen Stilisierung des französischen Barockgartens die freie, un­ beschnittene Natur und die regellose, gewachsene Landschaftsform. Der französische Gartenstil hatte unter Carl Eugen seine reinste Ausprägung auf der Solitüde erfahren. 1776 machte der Herzog Hohenheim zu seiner 29 Die Gärten der Herzöge von Württemberg im 18. Jahrhundert. Katalog zur Ausstellung in Schloß Ludwigsburg. Bearb. von Berger-Fix, Andrea und Merten, Klaus. Worms 1981, S. 65.

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Sommerresidenz und ging zusammen mit Franziska daran, die Hohenhei­ mer Gartenanlage im englischen Stil auszubauen. Sie lag abseits der Schloßund Gutsgebäude in einem dreieckigen Grundstück von 21 ha Umfang. Die beim Ausbau dieser Anlage zugrundeliegende Leitidee war die Vorstel­ lung eines fiktiven Dorfes, dessen Bewohner sich auf den Trümmern ei­ ner antiken römischen Siedlung niedergelassen hatten. Zwischen 1776 und 1793 sind in diesem Dörfle 64 verschiedene Bauten errichtet worden, zum größten Teile Neubauten, aber in einigen Fällen wurden auch Gebäude von anderer Stelle nach Hohenheim transloziiert. Es entstanden u.a. ein Wirts­ haus zur „Stadt Rom“, das Grabmal des Nero, ein Tempel, ein Spielhaus, ein Rathaus, eine Moschee, eine Pyramide, eine Orangerie, sämtliche Ge­ bäude, die eher an städtische als an dörfliche Verhältnisse gemahnen. Da­ neben aber gab es auch viele Übernahmen aus der ländlichen Architektur: eine Käsküche, eine Meierei, eine Milchkammer mit Geschirr von Majolika angefüllt, ein Schäferhaus, ein strohgedecktes Schweizerhaus, eine Köhler­ hütte mit einer Bibliothek, dazu Mühlen, Scheunen, Heuschober usw. Das Ganze war durchsetzt mit Grotten, Brunnen, Teichen, Wasserfällen, aber aufgrund des in Hohenheim herrschenden Wassermangels konnten die von Fließwasser abhängigen Anlagen nur bei besonderer Gelegenheit in Betrieb genommen werden. Insgesamt handelte es sich um eine abwechs­ lungsreiche und raffinierte Kombination von bunt durcheinandergewürfel­ ten Phantasieprodukten und Imitationen, die sicher recht einfallsreich und originell, aber oft auch unfertig und improvisiert wirkten, weil sie in großer Eile und Ungeduld errichtet worden waren. Carl Eugen wollte mit die­ sem Dörfle voller Ehrgeiz etwas Einmaliges und in Europa nie Dagewe­ senes schaffen. Das Ergebnis lud aber keineswegs zur Rückkehr zum ein­ fachen Leben ein, wie sie der Kieler Theoretiker der Gartenkunst, C.C.L. Hirschfeld,30 in seinem Lob des Landlebens31 gepriesen hatte, eher war es eine Fortsetzung der rokokohaften Kleinteiligkeit und unüberschaubaren Vielfalt der Solitüde-Gärten mit anderen Mitteln.32 Auch in Hohenheim und speziell im Dörfle wurden nach Fertigstel­ lung der Anlagen Feste gefeiert, aber sie hatten nunmehr einen anderen Zuschnitt als zuvor. Im Hohenheimer Schloß gab es keine Festsäle für die früher üblichen Hofbälle, auch kein Theater. Carl Eugen und Franziska führten in Hohenheim das zurückgezogene Leben von Landedelleuten, die ihr Gut bewohnten und bewirtschafteten, und nur bei wenigen festlichen Anlässen erwachte ihr englisches Dorf zu regerem Leben: aus diesem An­ 30 Hirschfeld, C. C. L.: Theorie der Gartenkunst. 5 Bde. Leipzig 1779–1785. 31 Ders.: Das Landleben. 2. Aufl. Leipzig 1787, bes. S. 76. 32 Nau‚ Elisabeth: Hohenheim. Eine Charakteristik des ausgehenden 18. Jahrhunderts in Württemberg. München 1943, S. 438f.

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laß drehten sich dann die Mühlräder, aus den Schornsteinen stieg Rauch auf, die sonst unbewohnten Bauten wurden mit Scharen buntgekleideter Menschengruppen bevölkert. Daß sich hinter alledem jedoch wiederum nur eine künstliche Kulisse und inszenierte Scheinwelt verbarg, soll am Beispiel des „Festins“ vom 4. Oktober 1779 zu Ehren von Franziskas Namenstag verdeutlicht werden. In den Stuttgarter Hofakten sind die Anweisungen für die bei dem Fest in Aktion tretenden „Bewohner“ des Dörfles erhalten geblieben. Es waren nicht die Bauern aus den umliegenden Fildergemeinden, sondern das Hof­ personal, die Eleven der Militärakademie und die Schüler der Hohen Karls­ schule, die an diesem Tag aus dem Fundus der Gewölbsverwaltung mit den notwendigen Requisiten für ihren Auftritt beim Rundgang des herzogli­ chen Paares durch den Park ausgestattet wurden. Am römischen Wirtshaus beispielsweise wurde eine Gruppe von „Holländern“ postiert, in folgen­ der Ausstattung: „Holländische Mannskleider mit dunkelblauen Röcken, schwarze Westen, schwarze Beinkleider, schwarze Strümpfe, Perüquen nach dem Modell des Prof. Haug‚ Holländerinnen mit weißem Leibgereth, weißen Hauben und Sonnenschirmen, welche rund, außen schwarz, innen roth gefüttert seyn müssen. Eine Holländerin hat ein Besen und die Arm an den Leib gestützt. Die andern ein Joch mit 2 Aymern auf den Schultern“.33 Bei der Milchkammer wartete folgende Gruppe: „Ein Schweizer aus dem Berner Gebiet, nebst seiner Frau und 2 Kinder, sämmtlich bäurisch geklei­ det“. Beim Sibyllentempel: „Ein Schulmeister mit 10 jungen Leuten von beyderley Geschlecht angezogen, in Baurenkleidern. Sollen sich mit Schrif­ ten versehen und so etwas schreiben, das sich auf den Namenstag der Frau Gräfin schikt“. Beim Waschhaus: „6 Weiber, welche waschen und beglen müssen. Daher Begeleisen mit zu nehmen sind“. Beim Schäferhaus: „4 Schäfer mit blasenden Instrumenten müssen mit Schäferkleidung versehen werden“. An der Köhlerhütte, Franziskas Lieblingsaufenthalt im Dörfle: „1 Mann, 1 Frau, 3 Kinder welche ganz arm sind und an einem kleinen Feuer kochen“.34 Noch größere Zurüstung wurde 1782 beim Besuch des russischen Großfürstenpaares in Hohenheim getroffen. „Ein riesiges Auf­ gebot von Menschen wurde in Bewegung gesetzt. Zweitausend Personen aus umliegenden Ortschaften und verschiedenen Oberämtern mußten in ihren Festtagskleidern in Hohenheim erscheinen, teilweise schon im Au­ gust, und die Bauern waren gezwungen, mitten in der Ernte alles im Stich zu lassen, um drei Wochen lang als Statisten mitzuspielen“.35 33 HStA Stgt. A 21, Bü 100. 34 Vgl. die ausführlichen Festschilderungen von Nau‚ Elisabeth: Hohenheim. Schloß und Gärten. Konstanz, Stuttgart 1967, S. 69ff. 35 Ebd., S. 72.

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Die Herzogin hat über ihre Hohenheimer Jahre Tagebuch geführt, so daß wir die Feste im Dörfle auch aus ihrer Perspektive kennenlernen kön­ nen. Für sie waren die englischen Anlagen kein Prestigeobjekt, sondern eher ein Ort, an dem sie ihren Neigungen zu einfacherer Lebensart nach­ gehen und sich zusammen mit dem Herzog als Wohltäterin und Freundin ihrer Untertanen hervortun konnte. In ihrer kruden Orthographie schreibt sie z.B. über das Fest anläßlich ihres Namenstages am 4. Oktober 1780: „um 9.uhr geng es in das Dörfle, alwo Ser fielle von hof wahren, auch ein ser großer Theil von der academie u. die Benachbahrden Pfarrers. …] beim rat haus wahren wieder 40. arme, des ein jedes 4. Gulden an Geldt bekam […]. Alles deilden die von der academie aus, u. beim Wasserfalle wurden hondernde gespeist, die Ihro Durchleicht auch zu gleich haben kleiden lassen. Bey diesen Ihren Tischen danzden die Jung landleide, die auch Wein, brodt u. fleisch bekamen; der gantze Wasser fall wahr foll mit welche von der academie, u. es wahr eiserst rierend, alle die gnätige gese­ nongen Ihro Durchleicht hir so im liecht zu sehen“.36 Ein Jahr später weiß das „Tagbuch“ von einem Hahnentanz zu berichten, der von jungen Leu­ ten zu Franziskas Namenstag aufgeführt wurde,37 und für den 1. August 1783 bezeugt Franziska das Fest der „Sichelhänget“ in Hohenheim.38 Das englische Dorf wurde nach dem Tode des Herzogs 1793 für die Besichtigung durch die Öffentlichkeit freigegeben. Viele berühmte Reisen­ de machten im ausgehenden 18. Jahrhundert in Hohenheim Station; ihr Urteil über die Anlagen ist im Einzelnen recht unterschiedlich. Das Verdikt Goethes ist bekannt: „nur machen viele kleine Dinge zusammen leider kein großes“.39 Wir schließen diesen Beitrag mit der Stellungnahme von Fried­ rich Nicolai zu den Hohenheimer Anlagen, in denen der unbestechlich urteilende Berliner Aufklärer mit einem Schlag die durch glänzende Feste nur mühsam überbrückte Kluft zwischen Herr und Untertan, zwischen Anspruch und Wirklichkeit offenlegt. Nicolais Lösungsvorschlag für eine adäquatere Nutzung des Gartens und der zugehörigen Siedlung ist für die damalige Zeit geradezu aufregend progressiv:

36 Osterberg, Adolf (Hg.): Tagbuch der Gräfin Franziska von Hohenheim, späteren Herzogin von Württemberg. Stuttgart 1913, S. 51. 37 Ebd., S. 185. 38 Ebd., S.  230. Die Universität Hohenheim hat die Tradition dieses Erntedankfestes mit Erntewagen und Ernteball im Schloß später wieder aufgenommen – auch ein Beitrag zum Folklorismus; vgl. Schumann, Hans: Hohenheim. Bilder und Gestalten. Stuttgart 1981, S. 40. 39 Neuhäuser, Erika (Hg.): Goethe reist durchs Schwabenland. Aus Goethes Tagebüchern und Briefen (Tagebuch 1797). Stuttgart 1940, S. 47. Die Einstellung von Goethes Zeitgenossen zum Hohenheimer Dörfle und dessen weiteres Schicksal sollen an anderer Stelle ausführli­ cher dargelegt werden.

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Die angebliche Kolonie besteht nur bloß in der Imagination, in einer poetischen Idee, man findet nirgends ihre Existenz und Thätigkeit beym wirklichen Wan­ deln im Garten. Man sieht ein Milchhaus, worin keine Milch ist, ein Schäferhaus ohne Schaf und Schäfer, eine Mühle worin nicht gemahlen wird, eine Eremitage mitten in der Kolonie, ohne zu merken wie ein Eremit in eine Kolonie kommt. Ueberhaupt die Zusammenstellung der Wörter Kolonie und Wirtemberg führen auf Nebenideen, wodurch Empfindung des frohen Genusses vermindert wird. Welche ganz andre Wirkung würde eine solche Idee haben, wenn z.B. der Herzog von den vielen Leuten, welche aus Wirtemberg (sey es auch aus Vorurtheilen) bey hunderten auswanderten, einige nach Hohenheim gezogen, sie sich wirklich da hätten ansiedeln lassen, und sie in guthen Wohlstand gebracht hätte, wenn er unter ihren ländlichen Beschäftigungen gewohnt, und seine Spaziergänge unter ihnen mit den Gedanken verschönert hätte, diese Leute seinem Lande erhalten zu haben.40

40 Nicolai, Friedrich: Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz im Jahre 1781. Nebst Bemerkungen über Gelehrsamkeit, Industrie, Religion und Sitten. Bd. 10. Ber­ lin, Stettin 1795, S. 176.

„Das schöne Bild eines wohlregulirten Dorfes“ Der ungarische Aufklärer und Sozialreformer Sámuel Tessedik (1741–1820)* In der ausgedehnten Literatur, die mittlerweile über die Aufklärung und die Frühgeschichte des Faches Volkskunde1 vorliegt, fehlt in Deutschland bis­ her die Erwähnung des Namens von Sámuel Tessedik, dessen Leben und Werk im vorliegenden Beitrag vorgestellt werden sollen. Die Berechtigung dazu ergibt sich aus der Tatsache, daß Tessedik als ein früher Theoreti­ ker des Industrieschulgedankens gelten kann und bei der Förderung die­ ser Ideen nicht bei theoretischen Entwürfen stehengeblieben ist, sondern die erste, seinerzeit vielbeachtete Industrieschule gegründet und siebzehn Jahre lang geleitet hat. Sein literarisches Lebenswerk liegt größtenteils in deutscher Sprache vor, es ist aber von deutscher Seite bisher nicht seiner Bedeutung entsprechend gewürdigt worden. Dieses Versäumnis soll hier nachgeholt werden. Sámuel Tessedik stammt aus einer berühmten protestantischen Familie in Ungarn. Sein Vater Sámuel Tessedik I. (1710–1749) hatte seine Ausbil­ dung als evangelischer Theologe u.a. in Jena erhalten und übte als Pfarrer von Békéscsaba (in der südostungarischen Tiefebene) noch ein äußerst strenges, „unaufgeklärtes“ Kirchenregiment, das u.a. jährliche Hausbesu­ che bei den Gemeindemitgliedern vorsah. Bei dieser Inspektion hatte der jeweilige Pfarrer zu erforschen, ob und wie seine Gemeindeglieder beten; welche Bücher sie besitzen und lesen; ob sie Kirchenlieder singen, ob sie fleißig die Kirche besuchen, ob sie dabei auf das Wort des Predigers hören und es verstehen; ob ihnen das Herz während der Predigt klopft; ob und wie oft sie des Jahres beim Tische des Herrn erscheinen; ob Friede unter den Hausleuten herrsche; ob die Kinder gehorsam seien und die Eltern ihnen mit gutem Beispiel voran gingen; ob sie mit den Nachbarn in Frie­

∗ Erstveröffentlichung in: Jeggle, Utz u.a. (Hg.): Volkskultur in der Moderne. Probleme und Perspektiven empirischer Kulturforschung [Festschrift für Hermann Bausinger zum 60. Geburtstag]. Hamburg 1986, S. 54–68. 1 Narr, Dieter: Fragen der Volksbildung in der späteren Aufklärung. In: Württembergisches Jahrbuch für Volkskunde 60 (1959), S. 38–67.

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den verkehren usw.2 Eine derartig strenge Kirchenzucht, wie sie zweimal jährlich auch von der Kanzel verkündet wurde, läßt noch nichts vom Geist des aufgeklärten Säkulums erkennen. Und doch sollte schon bald der Sohn dieses erzkonservativen Theologen zu einer der führenden Gestalten der ungarischen Aufklärung aufsteigen. Sámuel Tessedik II. wurde im Jahre 1742 in der Gemeinde Alberti (heute Komitat Pest) geboren. Er erhielt in seinem Elternhaus eine strenge, sittliche Erziehung und wandte sich gleich seinem Vater dem Prediger- und Lehramt zu. Seine Ausbildung erhielt er an den Hochschulen in Preßburg (Bratislava), Sárospatak und Debrecen. Wichtig wurde ein Studienaufent­ halt in Deutschland, der ihn im Jahre 1763 u.a. an die Universitäten in Erlangen und Göttingen führte, ihn mit aufklärerischem Gedankengut in Berührung brachte und mit den Grundgedanken der Statistik und Kame­ ralistik vertraut machte. In Göttingen war der Kontakt zu dem Professor der Naturwissenschaft und Technologie, Johann B. Beckmann, beson­ ders folgenreich. Beckmann hatte in seinen Werken die Grundzüge einer „Handlungswissenschaft“3 beschrieben, die auf Grund naturwissenschaft­ licher Erkenntnisse Reformen in der Landwirtschaft und in der Industrie anstrebte und dafür konkrete Handlungsanleitungen bot. Tessedik muß die in Göttingen vertretenen Lehren einer praxisorientierten Sozialforschung begierig in sich aufgesogen haben, und schon damals muß der Wunsch in ihm wach geworden sein, die Gedanken seines Göttinger Lehrers in seiner Heimat in die Tat umzusetzen. Noch im gleichen Jahr 1763 trat Tessedik sein Amt als Dorfpfarrer in Szarvas (östlich der Theiß) an, einem Dorf, das durch Tessediks Wir­ ken bald internationale Berühmtheit erlangen sollte. Tessedik blieb Szarvas sein Leben lang verbunden, er starb dort im Jahre 1820.4

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Wurzbach, Constantin von: Biographisches Lexikon des Kaiserthums Oesterreich. Bd. 44. Wien 1882, S. 32; vgl. auch Meusel, Johann Georg: Das gelehrte Teutschland. Bd. 7. Lemgo 1798, S. 39–41. Beckmann, J. B.: Anleitung zur Technologie oder Kenntniß der Handwerke, Fabricken und Manufakturen. Göttingen 1777 (viele Neuauflagen); ders.: Anleitung zur Handlungswissen­ schaft, Vornähmlich zum Gebrauche derer, welche sich mit Polizey, Cameralwissenschaft, Geschichte und Statistik beschäftigen wollen. Göttingen 1789. Zu J. B. Beckmann (1739– 1811) vgl. Allgemeine Deutsche Biographie. Bd. 2 (1875), S. 238f. Die folgenden Ausführungen stützen sich vor allem auf die beiden in deutscher Sprache vorliegenden Hauptwerke Tessediks. Die ungarische Forschung hat eine ausgedehnte Li­ teratur über das Leben und Wirken Tessediks hervorgebracht, die jedoch auf Grund der bestehenden Sprachbarrieren nur zum geringsten Teil für die vorliegende Studie fruchtbar gemacht werden konnte. Für bibliographische Nachweise und Übersetzungshilfen danke ich Anna Lay, Bibliothekarin am Néprajzi Múzeum in Budapest, und Ilona Simon, Referat Schrifttum im Institut für den Wissenschaftlichen Film in Göttingen.

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Der Marktflecken Szarvas liegt im ostungarischen Tiefland, einem Gebiet, das in besonderer Weise durch die Türkenbesetzung in Mitleiden­ schaft gezogen war und erst seit 1699 wieder fest zum habsburgischen Herrschaftsbereich gehörte, nachdem es von den Türken befreit worden war. Die Masse der Bevölkerung in diesem Siedlungsraum – vorwiegend Madjaren – lebte unter den elendesten Bedingungen, ohne Eigentum oder Anteil am Grundbesitz, ohne Perspektiven auf die Zukunft, dazu noch regelmäßig von Überschwemmungen, Mißernten und Pockenepidemien heimgesucht. Zwischen der besitzenden Klasse und der Mehrheit der Be­ sitzlosen – den Handwerkern, Kleinstbauern und Dorfarmen – klaffte eine riesige Lücke. Das Land befand sich fast ausschließlich in der Hand von Großgrundbesitzern. Diese Schicht der in der zweiten Hälfte des 18. Jahr­ hunderts im ungarischen Tiefland herrschenden Grundbesitzer betrieb vorwiegend eine auf extensiver Großweidewirtschaft beruhende Vieh­ zucht bei geringer Investitionsneigung und geringen Arbeitslöhnen.5 Sie leistete damit der Herausbildung frühkapitalistischer Wirtschaftsstrukturen und einem starken Klassenantagonismus von Großbauern auf der einen und Dorfarmen auf der anderen Seite Vorschub. Wessen das Land am meisten bedurft hätte, wäre statt dessen die Erhaltung und Förderung einer starken kleinbäuerlichen Schicht und der Ausbau des landwirtschaftlichen Kleingrundbesitzes gewesen. Tessedik dürfen wir ohne Einschränkung zu dem Kreis derjenigen aufgeklärten Zeitgenossen zählen, die die Probleme der ungarischen Agrarverhältnisse klar erkannt hatten und die im Rahmen ihrer Möglichkeiten nach Abhilfe für die dringend reformbedürftigen Zu­ stände suchten. Seine während der Ausbildung in Deutschland gemach­ ten Erfahrungen kamen ihm dabei zugute. „Tessedik stützte sich auf jene Richtung der kameralistischen Literatur, welche auf Grund von physio­ kratischen Überlieferungen die grundlegenden Interessen und Rolle[n] des Bauernstandes in den Vordergrund schob, weil er überzeugt war, daß die ungarische Bauernschaft, die den größten Teil der Bevölkerung des Landes ausmachte, einzig und allein fähig wäre, das Gebiet des Landes nach der Türkenzeit zu bevölkern und durch seine Arbeit die Bedingun­ gen zur Erneuerung der Produktion zu schaffen.“6 Obwohl Tessedik in diesem Bestreben unter dem Druck der herrschenden Verhältnisse eine Reihe von Kompromissen eingehen mußte und viele Rückschläge erlitt, zieht sich die Fürsorge für die sozial Schwachen und Besitzlosen, für Dorf­ arme, Kranke, Waisen und Bettler wie ein roter Faden durch seine Werke. Mit vollem Recht darf man daher Tessedik als „bedeutenden Vorläufer des 5 6

Horváth, Róbert: Tessedik als Sozialwissenschaftler. Szeged 1969 (= Acta universitatis sze­ gedensis de Attila József nominatae. Acta juridica et politica, tom XVI, fasc. 6), S. 14. Horváth: Tessedik als Sozialwissenschaftler (wie Anm. 5), S. 11.

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ungarischen volkskundlichen Denkens“7 und damit als einen der Väter des Faches Volkskunde überhaupt in Anspruch nehmen. Tessediks zentrales Interesse an der Verbesserung der sozialen Lage der unteren Schichten geht bereits klar aus dem Titel seines deutschsprachigen Hauptwerks hervor, das innerhalb von drei Jahren zwei Auflagen erlebte. Die erste Veröffentlichung führte den fast klassisch gewordenen Titel Der Landmann in Ungarn, was er ist, und was er seyn könnte; nebst einem Plane zu einem regulirten Dorfe von Samuel Theschedik. Gedruckt auf Kosten des Verfassers [Pesth] 1784. (VIII, 216 [+8] S., 1 Plan; benutztes Exemplar: Bayerische Staatsbi­ bliothek, München, Oecon. 2153u).8 Die bis auf das Titelblatt identische zweite Auflage bringt das Anliegen des Verfassers noch deutlicher zum Ausdruck: Oekonomisch-physikalisch-statistische Bemerkungen über den gegenwärtigen Zustand des Landwesens in Ungarn, besonders in der Gegend an der Theiß, zur Aufklärung und Beruhigung der so nützlichen Classe von Menschen auf dem Lande, nebst gemeinnützigen Vorschlägen zur Landwirthschaft. Von einem Menschenfreunde, O.O. [Preßburg] 1787 (benutztes Exemplar: Staats- und Universitätsbiblio­ thek Göttingen, 8o H Ungar. II, 2550). Der Leitbegriff, unter dem dieses wichtige und in Deutschland bisher unbekannte Hauptwerk Tessediks steht, ist der Begriff der „Aufnahme“. Er kommt bereits im ersten Satz des Buches vor und wird insgesamt acht­ zehnmal, jeweils an zentraler Stelle, wiederaufgenommen. Die Frage nach der Bedeutung dieses Leitbegriffs führt direkt zu dem eigentlichen Anlie­ gen des Buches, über die Beschreibung des Status quo zu Verbesserungen zu gelangen, die der „größten und nützlichsten Klasse von Menschen“ (S. 16), nämlich den Landbewohnern, zugute kommen sollen. Zwei Zitate sollen den Kontext des Begriffs der „Aufnahme“ dartun: „Die dem Land­ manne so unentbehrlich nöthige Kenntniß der schönen und freygebigen Natur, diese zu seiner Aufnahme so thätig mitwirkende Kenntniß wird auf den Landschulen gar nicht getrieben. Welche Wissenschaft ist dem Landmanne nöthiger und nützlicher, ihm, der die Natur,wenn ich so sagen darf, bearbeiten, benutzen soll, und kennet sie nicht? […] Ich getraue mir mit den sichersten Gründen darzuthun, daß der Landmann ohne bessere Kenntniß der natürlichen Dinge kein besserer vernünftigerer Mensch, kein tüchtigerer Landwirth und Bürger, ja sogar kein thätigerer Christ werden könne, als er bishero ist.“ (S. 16f.)

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Ortutay, Gyula (Hg.): Magyar néprajzi lexikon. Budapest 1982, S. 274. In diesem Titel kam gewissermaßen ein aufklärerisches Programm zum Ausdruck. Ähnlich strukturierte Titel lassen sich noch bis zum Ende des 19. Jahrhunderts verfolgen, zum Bei­ spiel bei Rhamm, Karl: Dorf und Bauernhof im altdeutschen Lande, wie sie sind und wie sie sein werden. Leipzig 1890.

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„Was aber die so sehr zu wünschende Aufnahme der verbesserten Land­ wirthschaft in Ungarn betrifft, so ist wohl hierinn von dem Landmanne sehr wenig zu hoffen, solange er sich selbst überlassen bleibt. Die Verbes­ serung der Wiesen und des Ackerbaues wird der Landmann schwerlich oh­ ne wohlgerathene Proben begreifen und lernen. Er selbst ist wirklich nicht aufgelegt, die ersten Proben zu machen [...]. So sehr ich dem armen Land­ mann Hilfe wünsche, so sehr zweifle ich (wenn ich die Lage seiner jetzi­ gen Umstände ganz durchdenke) so lang an seiner bessern Aufnahme, bis nicht Grundherrschaften selbst durch wohlgerathene Vorgänge und in die Augen leuchtende Beyspiele, werkthätige Aufmunterungen, und nach den Lokalumständen sehr genau bestimmte Einrichtungen dem Landmann so zu sagen unter die Arme greifen [...].“ (S. 61f.) Und an der gleichen Stelle gibt Tessedik auch die Richtung an, in der sich die beabsichtigten Verbesserungen bewegen sollten: „Vergeblich verlangt man von dem Landmanne, daß er seine Wirth­ schaft nach neuen Einsichten verbessern soll, wenn er diese Einsichten nicht kennt, nicht selbst hat oder haben kann; vergeblich wünscht man, daß er den Seidenbau, die Bienenzucht, die Stallfütterung, bessere Pferdezucht, die verbesserten Wiesen, die Wässerung der Wiesen einführen soll; so lang man ihm nicht mit dastehenden vor seinen Augen wohlgerathenen Beyspielen vorgeht, den Weg zeigt, den er gehen soll, und so lang man ihm nicht so zu reden den Übergang von der alten zur neuen Landwirthschaft selbst machen hilft […]. Ohne Vorgang und thätige Beyhilfe der Grundherrschaften ist also wohl wenig oder gar nichts zu hoffen; den ersten Stoß, die erste Bewegung zur Aufnahme der Landwirthschaft erwarte ich von der Grundherrschaft.“ (S. 63) Der Begriff der „Aufnahme“, der in auffälliger Häufung in Tessediks Hauptwerk begegnet, wurde im 18. Jahrhundert im Sinne von gedeihen, aufbringen, emporbringen9 verwendet, ja er bezeichnete „die Verbesserung des bürgerlichen Zustandes im Gegensatze der Abnahme“10, und in dieser Bedeutung wird er auch sonst im aufgeklärten Schrifttum der Zeit verwen­ det. Allen voran ist hier der hohenlohische Pfarrer Johann Friedrich Mayer (1719–1798) aus Kupferzell zu nennen, dessen wichtiges Fortsetzungswerk den bezeichnenden Titel trug: Beiträge und Abhandlungen zur Aufnahme der Land- und Hauswirthschaft nach den Grundsätzen der Naturlehre und der Erfahrung.11 So verwundert es auch nicht, daß Tessedik dieses Werk in seinem Li­ teraturverzeichnis nennt und auf S. 61 eine Stelle aus den Mayerschen Bei  9 Grimm, Jacob und Grimm, Wilhelm: Deutsches Wörterbuch. Bd. 1. Leipzig 1854, S. 695. 10 Adelung, Johann Christoph: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart. Bd. 1. Leipzig 1793, S. 512. 11 14 Teile. Frankfurt a.M. 1769–1786, Neuauflage Ulm 1780–1786.

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trägen (6, S. 179) anführt, die sich ganz auf der von ihm selbst vertretenen Linie einer engagierten Schul- und Agrarreform bewegt: „Also Vorgang, also Handgriffe vorgemacht; und durch dastehende Proben unterrichtet, dieses ist für den Bauer die einzig gute Schule.“ Und umgekehrt findet auch Mayer im dritten Anhang zu seinen Beiträgen 1789 (S. 275 und S. 284) lo­ bende Worte für das mittlerweile von Tessedik im fernen Szarvas ins Leben gerufene Modell einer landwirtschaftlichen Industrieschule. Aber so weit war es bei Erscheinen seines Landmannes in Ungarn 1784 noch nicht. Die Überprüfung der von ihm herangezogenen Quellen zeigt aber jedenfalls, daß er sich für seinen theoretischen Entwurf an den Autoritäten der Zeit orientierte und er sich damit auf der Höhe seiner Zeit befand. Neben den erwähnten Beckmann und Mayer wurden von ihm u.a. noch beigezogen: Johann Christian Bernhard12 († 1784), von dem wiederum ein entschei­ dender Satz aus seiner Handlungstheorie angeführt wird: „Landleute und Bauern lassen sich weder durch Vorstellungen, noch durch Befehle, noch durch hundert gedruckte Vorschriften und ökonomische Bücher zur Ver­ besserung in der Landwirthschaft bringen; wenn sie nicht den Glauben so zu sagen in die Hände bekommen, und Muster und Beispiele zur Nachah­ mung vor Augen sehen.“ (S. 62) Weiter werden herangezogen: Der Abt Friedrich Gabriel Resewitz,13 Johann August Schlettwein14 († 1802) und der von Johann Heinrich Ress herausgegebene Patriotische Landprediger15. Bei einer solchen Belesenheit Tessediks ist es fast schon selbstverständlich, daß er – und zwar auf Seite 1 seiner Vorrede – Justus Möser und seine „Vortrefflichen Phantasien“ aus­ drücklich als Vorbild benennt. Tessediks Buch über den Landmann in Ungarn stellt sich zunächst als eine Bestandsaufnahme derjenigen Hindernisse dar, die einem Aufblühen des „Nährstandes“ in seinem Lande hinderlich im Wege stehen. Die er­ sten hundert Seiten widmet Tessedik diesen Ursachen der herrschenden Mißstände, wobei er u.a. folgende Fehlentwicklungen beim Namen nennt: Die landesherrlichen Verordnungen werden vom Bauern meist falsch oder gar nicht verstanden und bleiben daher erfolglos; es fehlt an praktischökonomischen Schulen, auf denen der Landmann an die für ihn nützli­ chen Naturkenntnisse herangeführt wird; hinzu kommen lokale Übel, National- und Religionshaß, Eigennutz und Herrschsucht der sog. reichen 12 Bernhard, Johann Christian: Vorschläge zu einer wirthschaftlichen Polizey der Dörfer. Stuttgart 1768. 13 Resewitz, Friedrich Gabriel: Die Erziehung des Bürgers zum Gebrauch des gesunden Ver­ standes. Kopenhagen 1773. 14 Schlettwein, Johann August: Archiv für den Menschen und Bürger in allen Verhältnissen. 8 Bde. Leipzig 1780–1784. 15 Ress, Johann Heinrich (Hg.): Der patriotische Landprediger. 4 Bde. Leipzig 1779–1783.

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„Bauernkönige“, schlechter Zustand des Landes und die in der Aufklärung vielerorts angeprangerten hergebrachten, schädlichen Gewohnheiten, tief­ eingewurzelten Vorurteile, Aberglauben, Mißbräuche bei Taufen, Hoch­ zeiten oder Totenmählern. Tessedik beklagt den Mangel an Fabriken im Lande, die geringen Möglichkeiten zum Absatz der inländischen Produkte, die fehlende Flexibilität der Landbewohner, sich die reichen Gaben der Natur anzueignen und ihren Lebensunterhalt daraus zu gewinnen. Bei dieser Diskussion der Gründe für den darniederliegenden Nah­ rungsstand wagt sich Tessedik an einer Stelle besonders weit vor. Dem Ka­ pitel „Siebente Ursache“, stellt er folgenden programmatischen Satz voran: „Die gehörige Industrie16 darf und kann so lange von dem Bauer gar nicht verlangt, viel weniger erwartet werden, so lang er nicht sein ihm quasi eigenthümlich eigenes Feld besitzt, oder wenigstens in dem ihm vermöge des Urbariums zugetheilten Felde wider alle Eingriffe, Sicherheit, und völ­ lig freye Hände hat, das zu thun, was für ihn das Beste ist.“ (S. 72) Fast als ob er selbst gemerkt hätte, daß er mit dieser Forderung an die bestehende Ordnung tastet, schiebt er zwar sogleich einen beschwichti­ genden Satz hinterdrein: „Fern sey es von mir, die Rechte der Ober- und Grundherrschaften durch diesen Satz anzugreifen; es soll und muß unge­ kränkt bleiben, was an die Ober- und Grundherrschaft zu bezahlen, oder auf eine Art abzutragen recht und billig ist“, um dann aber erneut eine Lanze für die Besitzlosen zu brechen: „[...] nur wünschte ich zum Besten der nützlichsten Klasse der Men­ schen, zum besten des Landmanns, der doch so viel, und vielleicht, darf ich es laut sagen, das Meiste zum gemeinen Besten durch Zahlung und Arbeit beyträgt, daß doch auch er, als Mitglied, und gewiß nützliches Mit­ glied der menschlichen Gesellschaft, der größtmöglichen Sicherheit seines Personal- und Realeigenthums, und der größtmöglichen Unterstützung zur besten Benutzung desselbigen sich zu erfreuen hätte: um so seines sonst gewiß sehr mühseligen und kummervollen elenden Lebens auch einiger­ maßen froh zu werden.“ (S. 72) In dieser Forderung nach der Schaffung eines leistungsfähigen klein­ bäuerlichen Wirtschaftssystems mit verbrieften Rechten auf den eigenen Grund und Boden weiß sich Tessedik mit vielen seiner schreibenden Zeit­ genossen einig, mit J. Möser (vgl. S. 76), J. A. Schlettwein (vgl. S. 77) ebenso wie mit dem Patriotischen Landprediger von J. H. Ress, aus dessen 2. Stück (S. 629f.) Tessedik durch folgendes Zitat wirksame Schützenhilfe erhielt: 16 „Industrie“ wird bei Tessedik stets gebraucht im Sinne von Fleiß, Aktivität, Förderung des Gemeinwohls. Die von Tessedik später eingerichtete Schule nennt er gelegentlich „Indu­ strieschule“, was mit Horváth (wie Anm. 5, S.  19, Fußn. 47) als „Wirtschaftsschule“ zu übersetzen ist.

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„Das allergrößte irdische Verdienst um die Landleute, folglich [... ] ums ganze Land ist, ihm Freyheit und Eigenthum zu verschaffen, oder auszu­ richten, daß der Bauer Grundstücke erb- und eigenthümlich, und dabey völlige Freyheit bekomme, sie nach seiner Einsicht ganz ungestört zu nut­ zen und zu verändern.“ (S. 77) Die Forderung nach Neuverteilung des Grundbesitzes ist nur ein be­ sonders ins Auge fallender Reformvorschlag Tessediks; das ganze Buch ist darüber hinaus voll von Anregungen, Wünschen, Bitten, Beschwö­ rungen, Hoffnungen. Tessedik bleibt nun aber nicht bei systematisch vorgetragener Kritik und einzelnen Verbesserungsvorschlägen stehen, sondern sein ganzes Buch ist auf den 2. Teil hin konzipiert, in welchem er alle seine Reformvorstellungen in einem sehr konkreten Plan Gestalt annehmen läßt. Es handelt sich um den Plan für ein reguliertes Dorf und eine dazugehörige Dorfordnung. Es ist nicht übertrieben, wenn wir aus heutiger Sicht diesen Plan als empirisch sehr gut abgesichert bezeichnen. Er ist aus jahrelanger, intensiver Beobachtungs- und Erhebungstätigkeit vorgegangen und erhebt dennoch nicht den Anspruch, universell gültig zu sein, sondern will speziell die Lebensbedingungen in seiner Gemeinde Szarvas verbessern helfen: „[...] ich habe den Uebeln, die ich da bemerkte, nicht nur durch Nach­ denken, sondern auch theils durch eigene Erfahrungen, theils durch ver­ trauliches Nachfragen, soviel nur immer möglich war, genau nachgespürt; ich habe besonders darauf mein Augenmerk gerichtet, ob und wie diesen lokalen Uebeln, wo nicht in den alten schon angelegten, wenigstens in den neuen noch anzulegenden Ortschaften durch eine Dorfordnung vorgebaut und vorgebeuget werden könnte.“ (S. 106) Mit dem Hinweis Tessediks auf die zu damaliger Zeit im vollen Gang befindliche Rekolonisation großer Gebiete der sog. „Schwäbischen Türkei“ durch die Anwerbung von Siedlern außerhalb der Donaumonarchie, vor­ zugsweise in Oberdeutschland, gewinnt sein Bemühen um das Dorf und die zugehörige neue Dorfordnung stark an Aktualität. Trotzdem zielt sein Versuch weniger auf die Kolonistensituation, in der ganz anders geartete Startbedingungen herrschten. Sein Modell setzte entwickelte lokale Struk­ turen voraus, die in das eigentliche Dorf herübergenommen, integriert und in ihm weiterentwickelt werden sollten. Es ist aber unverkennbar, daß sein Entwurf auch Lösungsmöglichkeiten verarbeitet, wie sie bei der Neu­ ansiedlung von Kolonisten in Südungarn, im Banat und in der Batschka entwickelt worden waren. Insgesamt wird Tessedik in seinem Buch sehr konkret, das heißt, er beschwört mit seinem Modell keine Utopie, sondern für ihn als Realisten ist das Vorgeschlagene zugleich auch das „Machbare“. Dieser Gesichtspunkt unterscheidet ihn von den vielen Dorf-Utopien, die das Zeitalter der Aufklärung in reicher Fülle hervorgebracht hat und die

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1939 in einer von Olga von Hippel17 vorgelegten Göttinger Dissertation untersucht worden sind. Tessediks Absicht ist eine andere. Er greift nicht zum Mittel des lite­ rarischen Kunstwerks, um seinen Landsleuten in Romanform die Vorteile seines Ideals eines regulierten Dorfes vor Augen zu führen, sondern er gibt detaillierte Handlungsanleitungen, wie dieses neue Dorf in gemeinsa­ mer Anstrengung aller geschaffen werden könnte, „um dereinst etwas zu Stande zu bringen, das der ungarischen Nation zur vorzüglichen Ehre, dem Landmann zur Aufnahme, dem Lande zum Flor und gemeinen Besten, der Grundherrschaft zum Vortheil, und den Dorfschaften zu einem gewissen Wohlstande gereichen möge“ (S. 137). Beiden Ausgaben des Buches über den Landmann in Ungarn ist ei­ ne ausklappbare Kupfertafel mit dem Plan eines regulirten Dorfs beigeheftet (Abb. 1). In diesem Plan haben Tessediks Vorstellungen vom Dorf der Zukunft konkret Gestalt angenommen. Unser Blick fällt auf einen durch breite, baumbestandene Alleen in regelmäßige Quadrate eingeteilten Aus­ schnitt aus einem Dorf, welches sich innerlich und äußerlich durch die vollkommene Harmonie aller Bedürfnisse seiner Bewohner auszeichnet. Im Mittelpunkt stehen, von oben nach unten betrachtet, das Gemeinde­ haus (Nr. 4), die Kirche (Nr. 9) mit dem Pfarrhaus (Nr. 10), das Schulhaus, „nebst dem daran stossenden praktischökonomischen Garten“ (Nr. 11), das herrschaftliche Haus oder das Komitatshaus (Nr. 7) mit dem dazuge­ hörigen Meierhof (Nr. 8). In einigem Abstand zu diesem kulturellen Mittelpunkt des regulierten Dorfes lagern sich das Armenhaus (Nr. 12), das Haus des Dorfchirurgen (Nr.13), das Spital (Nr.14), die Fleischbank (Nr. 15) und das Wirtshaus (Nr.16). Entlang der übrigen Gassen reihen sich die Häuser der Dorfwirte, das heißt der mit Grundbesitz neu auszustattenden Kleinlandwirte, bei de­ nen wegen der Feuersgefahr Wohn- (Nr. 17) und Ökonomiegebäude (Nr. 18) stets getrennt angeordnet sind und die nur noch kurze Wege zu ihren Äckern und Weiden (Nr. 2) zurückzulegen haben. Besondere Fürsorge läßt Tessedik den Dorfhandwerkern angedeihen, die er jeweils gegenüber den Landwirten ansiedelt, um hier auch die Wege zu den Dienstleistungen möglichst kurz zu halten. Eine Vergleichstabelle, in der die chaotischen Zustände im alten den geordneten Verhältnissen in einem neuen Dorf gegenübergestellt werden, beschließt das Reformwerk, dem Tessedik die zweite Hälfte seines Buches gewidmet hat. Tessedik ist sich bewußt, daß die Durchführung eines solchen umfassenden Plans nicht ohne obrigkeit­ liche Unterstützung und die Beachtung seiner gleichzeitigen Dorfordnung

17 Hippel, Olga von: Die pädagogische Dorf-Utopie der Aufklärung. Diss. Göttingen 1939.

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Abb. 1: Ausschnitt aus dem „Plan eines regulirten Dorfs“. In: Sámuel Tessedik: Der Landmann in Ungarn, 1784, Anhang.

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zu realisieren war. Das Kernstück seines Reformvorschlags ist daher eine Dorfordnung, die für eine „nöthige Belehrung des Landmanns in allen Stücken“ (S. 128) Sorge tragen sollte und aus 47 Einzelverordnungen be­ stand. Um dieser Dorfordnung politisch das nötige Gewicht zu verleihen, schlug Tessedik vor, an bestimmten Festtagen des Jahres sollten Gemein­ deälteste und herrschaftliche Beamte die Dorfordnung nebst anderen kö­ niglichen Verordnungen feierlich in die Kirche bringen und auf dem Altare deponieren (S. 129). In der nachfolgenden Predigt sollte sich der Pfarrer über Themen verbreiten, die sich auf die Dorfordnung beziehen: „Wie wohl ist dem Landmanne, wenn er unter dem Schutz einer guten Obrigkeit ein stilles und geruhiges Leben führen kann“ (S. 131); „Das schöne Bild ei­ nes wohlregulirten Dorfes“ (S. 132); „Wie gut es Landleute haben könnten, wenn sie sich rathen und helfen lassen wollten“ (S. 133). Sodann sollen zur Bekräftigung die Verordnungen öffentlich verkündet werden: „Diese Ein­ richtungen […] sollen nach geendigter Predigt dem stehenden Volke (alte verdiente Greise können auch sitzen) laut und deutlich vorgelesen werden. Bey Vorlesung dieser Einrichtung müßten nicht nur die Landwirthe selbst, sondern, soviel möglich, auch ihre Weiber, erwachsene Kinder und ihr Hausgesinde gegenwärtig seyn, damit sich bey vorfallender Uebertretung niemand mit Unwissenheit entschuldigen könne.“ (S. 135) Für die Regelung aller nur denkbaren Belange im neuen Dorf hat sich Tessedik den Katalog von Einzelverordnungen ausgedacht, den er auf den Seiten 135–171 seines Buches abdruckt. Hier fällt der Autor bei aller ihm sonst innewohnenden Menschlichkeit wiederholt in die sittenstrenge Reglementierungspraxis seines Vaters zurück: Aufklärung hatte mit Erzie­ hung Hand in Hand zu gehen, und letztere bedurfte gegebenenfalls der Härte, um die fortschrittlichen Ideen im Landvolke durchzusetzen. Andere Forderungen atmen dagegen ganz den Geist der Aufklärung und des Jose­ phinismus. Wir geben einige Beispiele: „Weitläuftige Hochzeits-, Kinds- und Todtenmahle sind in diesem Dorfe schlechterdings aufgehoben und abgeschafft. Den Tag nach der Hochzeit ist der herrschaftliche Hadnagy oder Dorfaufseher verpflichtet, das Hochzeitshaus etliche mahl zu besuchen, um zu sehen, ob noch Hoch­ zeitgäste da oder in der Nachbarschaft schwärmen, und wenn er solche vorfindet, dieselben alsobald ohne Rücksicht des Alters und Vermögens zur dreytägigen Arbeit auf dem Gemeinhause anzuhalten.“ (S. 146) „Wenn junge Leute im Dorfe zusammen heyrathen wollen, sind sie verpflichtet, ehe sie ihr Jawort von sich geben, dem Pfarrer das Schulzeug­ niß, wie auch ein Zeugniß von der Herrschaft, oder ihren im Dorf ange­ stellten Officianten vorzuzeigen. Ist es ein lediger Bursche, so müßen seine Zeugniße bezeugen, daß er in der Dorfschule so lange gegangen, bis er fähig erklärt wurde, solche mit Nutzen zu verlassen; daß er sechs wilde,

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und sechs junge Obstbäume eigenhändig gepflanzet; daß diese Bäume ihn an Größe übertreffen; daß er ein Juchart Akkerfeld recht ordentlich, wie es sich gebühret, geakert und besäet; daß er sechs Garben tüchtig gebunden; einen Häuschober, so wie es Wind und Wetter erfodert, aufgesetzt, und eine Klafter Holz ordentlich gespalten hat [...].“ (S. 146f.) „Ist es ein Mädchen, so soll sie drey Tage auf dem herrschaftlichen oder Gemeinhause seyn, und in denselben drey Tagen eine Spindl Garn spinnen, eine Elle Leinwand weben, ein Hemd nähen; drey Speisen ko­ chen, sechs Brodte backen. Verstehen die jungen Leute diese Arbeit nicht, so sollen sie bey der Herrschaft oder auf dem Gemeinhause so lange um­ sonst arbeiten, bis sie es gelernt haben, und alsdann heyrathen.“ (S. 147) „Bösewichter, welche sich schlechterdings nicht bessern wollen, wer­ den statt anderer arbeitsamen Landleute bey Damm- und Brückenbau, bey Kanalgraben angestellet, damit die Gemeinde von solchen räudigen Schaa­ fen nicht angesteckt werde; oder, wenn auch dieses nicht fruchten sollte, ins Zuchthaus geschickt.“ (S. 152f.) Darüber hinaus enthält Tessediks Verordnungswerk eine Fülle von Einzelvorschriften, mit deren Hilfe das Alltagsleben im Dorf reguliert und vor allem sicherer und rationeller gemacht werden sollte. Es finden sich u.a. Gedanken über die Einrichtung gemeinsamer Brunnen und ei­ ner Feuerkasse, Vorschläge für die Verbesserung des Futtermittelanbaus und die Einführung der Stallfütterung. Tessedik erwägt die Einrichtung eines Getreidedepositoriums für Notzeiten und die Aufstellung einer sog. Intelligenztafel, auf der Nachrichten ausgetauscht sowie Kaufgesuche und Verkaufsangebote veröffentlicht werden sollten, er setzt sich für den verstärkten Obstanbau, für den besseren Schutz vor Überschwemmun­ gen und die Einhaltung der Sonntagsruhe ein. Bei alledem hat er stets den Gemeinnutz und vor allem das Wohlergehen seiner Kleinbauern und Dorfhandwerker im Auge, deren Daseinsbedingungen er entscheidend verbessern wollte. Wie wir oben bereits sagten, handelt es sich bei diesem literarischen Hauptwerk Tessediks um eine konkrete Utopie oder Handlungsanleitung für die Durchführung einer umfassenden Dorfreform. Ob dieses Konzept politisch durchsetzbar war, ist eine ganz andere Frage, die sich dem Autor zunächst nur am Rande stellte. Er ließ keinen Zweifel daran, daß die Refor­ men nur durch staatliche Hilfe eingeleitet werden könnten, und er wurde nicht müde, durch Vorschläge, Gutachten und Reisen sein Modell bekannt zu machen und für seine Realisierung zu werben. Die Errichtung eines nach seinen Plänen regulierten Dorfes blieb ihm zwar verwehrt, aber mit Hilfe der Politik der kleinen Schritte überzeugte er seine Zeitgenossen von der Ausführbarkeit vieler seiner theoretischen Reformvorschläge in der Praxis. Als Landpfarrer in Szarvas wurde er selbst

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zum Landmann und exerzierte seinen Pfarrkindern Notwendigkeit und Nutzen von Reformen durch sein tätiges Vorbild vor. „Er [...] erbaute in seinem Kleefelde, aus dem er 24 Stück Rindvieh fütterte, ein eigenes Trockenhaus für den Klee; er verstand den Samen von der Luzerne so gut zu gewinnen, daß er jährlich sechs bis zehn Centner à 50 fl. [Gulden] verkaufte; er errichtete aus einem Fond von 900 fl. sei­ ner Gemeinde eine Kirche für 20.000 fl., indem er von den Zinsen dieses Geldes einige in der Gegend seltene Mühlen ankaufte oder solche anlegte, den Pacht dafür in Mehl zahlen und aus diesem für die Arbeiter gutes Brot backen ließ, für welches sie wöchentlich zwei Drittel ihres Lohnes an die Baucasse zurückzuzahlen hatten.“18 Noch größere Erfolge hatte Tessedik während einer Reihe von Jahren auf dem Gebiet der Schulpolitik zu verzeichnen. Schon in seinem Buch Der Landmann in Ungarn hatte er als Kernstück des notwendigen Wandels die Schulreform angesehen, die den Umerziehungsprozeß in Ungarn ein­ leiten sollte. Im Jahre 1780 gründete er mit eigenen Mitteln neben den bereits bestehenden vierzehn Dorfschulen in Szarvas ein privates Institut. Als Pädagoge hatte er sich bereits weit über Szarvas hinaus einen Namen gemacht, so daß schließlich Kaiser Joseph Il. selbst nicht länger über das gemeinnützige Wirken des Menschenfreundes und Seelsorgers in Szarvas hinwegsehen konnte. Tessedik wurde zum „wirklichen Beisitzer“ der Schulkommission in Bratislava (Preßburg) ernannt und gewann damit ein Forum, vor dem er seine Reformvorstellungen wirkungsvoll vertreten konnte. Tessedik nannte seine Schule „Praktisch-Oekonomisches IndustrialInstitut“ und widmete ihr im Jahre 1798 eine Verteidigungsschrift.19 Die­ se Veröffentlichung kann als das zweite Hauptwerk Tessediks angesehen werden und verdient es, daß wir es abschließend ebenfalls kurz vorstellen. Der Titel dieser Schrift könnte zunächst den Schluß nahelegen, als ob Tessedik mit seinem Reformwerk wenige Jahre nach der Errichtung der Anstalt gescheitert sei und seine Industrieschule 1798 wieder ihre Pforten geschlossen habe. Dies trifft jedoch nicht zu. Tatsache ist, daß die Anstalt zeitweise über 900 Schüler unterrichtete und durch die Verknappung oder das völlige Ausbleiben privater Spenden in eine gewisse Krise geraten war, 18 Wurzbach: Biographisches Lexikon (wie Anm. 2), S. 33. 19 „An das Ungarische besonders Protestantische Publikum detaillirte Erklärung der Ursa­ chen des Entstehens und des Einschlafens des ersten Praktisch-Oekonomischen IndustrialInstituts zu Szarwasch.“ O.O. [Pest] 1798, 63 S. (benutztes Exemplar: Bibliothek des Né­ prajzi Múzeum Budapest, Sign. Ed. 1464). Rudolf Zacharias Becker zum Beispiel lobt das Reformwerk Tessediks 1791 im 44. Stück der „Deutschen Zeitung“, S. 750; im „Teutschen Merkur“. Bd.  1. 1804, S.  76, erschien eine Würdigung unter dem Titel „Teschedik, der muthvolle Reformator Ungarns“.

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in der sich ihr Stifter mit den von ihm selbst investierten eigenen Kapitalien aus dem Unternehmen zurückzog, um die Öffentlichkeit unter einen ge­ wissen Druck zu setzen. Als Folge davon nahm sich die Wiener Regierung der Anstalt an und erklärte sie zu einer königlichen Institution,20 an der Tessedik, jetzt von weiteren Lehrkräften unterstützt, bis zu seinem Tode im Jahre 1820 als unermüdlicher Pädagoge und als vorbildhaft arbeitender Agronom tätig blieb. Somit kommt dem Büchlein aus dem Jahr 1798 der Charakter einer – insgesamt erfolgreichen und entsprechend selbstbewußt vorgetragenen – Zwischenbilanz zu. Tessedik spricht sich darin wiederum ausführlich über seine theoretischen Zielvorstellungen bei der Errichtung der Anstalt aus, kann aber zugleich auf einen ganzen Katalog von positi­ ven Errungenschaften verweisen, die vieles von dem einlösen, was sich im Landmann von 1784 bzw. 1787 noch als reine Theorie ausgenommen hatte. Auf den Plan zu einem regulierten Dorf kommt Tessedik zwar nicht mehr zurück, aber mit der Errichtung der „ersten Real- und Industrialschule auf dem Lande“21 hatte er das Herzstück seines Reformmodells verwirklicht, als dessen Zweck er bezeichnete: „Emporbringung der verfallenen Industrie, Haus-, Land- und StaatsWirthschaft, durch frühe Bildung guter, verständiger Landwirthe, emsiger Bürger, verständiger Volkslehrer, fleißiger Handwerksleuthe, Manufakturi­ sten, Fabrikanten, Kommerzianten, erfahrner Vorsteher in der Landwirth­ schaft und geschickter Polizey-Beamten.“ (S. 19) Die Mittel zur Erreichung dieses Zwecks waren nach Tessedik vor al­ lem: „Praktischer Unterricht der Jugend, frühe Uebung in den nützlichen Geschäften des gemeinen Lebens“ (S. 19), und er wird nicht müde, immer wieder das eigene tätige Vorbild ins rechte Licht zu rücken: „Agendo do­ cuimus, statt dem bisherigen ewigen: du sollst, du mußt das und jenes thun, zeigte man der Jugend, wie sie es machen soll [...]“. (S. 20) „Wenn wir Schullehrer und Prediger noch ganze Jahrhunderte nichts anders machen werden, als nur reden, diskuriren, debattiren, disputiren, einander abkanzeln, verschwärzen, und verunglimpfen, dann konjugiren, compariren, dekliniren, rezitiren – wirds wohl mit uns und andern Leuten besser werden?“ (S. 53f.) Tessedik stellt am Schluß seiner Schrift alles das zusammen, was das Land seiner Initiative verdankt: eine Bilanz, die sich sehen lassen kann! An seinem Institut in Szarvas waren u.a. folgende Einrichtungen getroffen worden: eine Hausapotheke für Mensch und Vieh, ein Herbarium, eine Sammlung einheimischer Holzarten, eine Sammlung natürlicher Produkte

20 Wurzbach: Biographisches Lexikon (wie Anm. 2), S. 34. 21 Tessedik: An das Ungarische besonders Protestantische Publikum (wie Anm. 19), S. 22.

„Das schöne Bild eines wohlregulirten Dorfes“

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des Vaterlands, eine Sammlung ungarischer Sämereien für Wiesen, Gär­ ten und Felder, ein Frucht-Depositorium für dürre Jahre, Aufzeichnun­ gen über langfristige Wetterbeobachtungen, eine Sammlung ökonomischer Instrumente und Maschinen, teils in Kupferstichen, teils in natura, eine Seidenspinnerei, eine Zwirnmühle, eine Färberei sowie eine mehr als 1000 Bände umfassende Bibliothek, ganz zu schweigen von den erwirtschaf­ teten greifbaren Produkten, die das Institut während der siebzehn Jahre seines Bestehens hervorgebracht hatte: die Tausende von Ellen verspon­ nener Wolle, die Zentner gewonnener und verarbeiteter Seide, die Hektar urbar gemachten oder meliorierten Landes, die Tausende angepflanzter oder veredelter Obstbäume. Neben all dem fand man in Szarvas auch noch die Zeit, „eine Sammlung von gemeinnützigen Volksliedern in deutscher, böhmischer und ungarischer Sprache“ zu veranstalten (S. 33) oder beleh­ rende Kinderspiele wie das Planetenspiel oder das geographische Spiel zu entwickeln, die „auf freyem Felde, als Ermunterungen der Schuljugend, mit tausend Freuden produzirt“ wurden (ebd.). Angesichts dieser unleugbaren Erfolge ist es kein Wunder, daß Tes­ sedik nicht nur Bewunderer, sondern auch viele Neider fand, und genau gegen letztere ist seine kleine Streitschrift gerichtet, die wir aber zugleich auch als ein Bekenntnis für eine engagierte Wissenschaft verstehen dürfen, wenn es darin etwa heißt: „Ich habe freudig und hoffnungsvoll den Saamen der Industrie ausgestreut, ob er Morgen oder nach Olympiaden aufkeimet, ob ich seine Früchte (noch mehr) erlebe oder nicht, das gilt mir jetzto gleich; ganz ersticken oder verlohren gehen kann er nicht.“ (S. 27f.) Dieses Plädoyer Tessediks für eine aufgeklärte, tätige Wissenschaft, die (nach Bausinger) den Menschen „das Bewußtsein der eigenen Möglichkei­ ten und damit Selbstbewußtsein“22 vermitteln wollte, verleiht dem Werk des ungarischen Sozialreformers auch heute noch Aktualität, zumal für ein Fach, das wie die Volkskunde „nach Falkenstein“ ein neues Verständnis von Kulturpraxis entwickelt hat und den Anspruch erhebt, an der Lösung soziokultureller Problemstellungen mitzuarbeiten.

22 Bausinger, Hermann: Volkskunde im Wandel. In: Bausinger, Hermann u.a. (Hg.): Grundzü­ ge der Volkskunde. Darmstadt 1978, S. 6.

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Ergänzende Bibliographie 1. Weitere Werke von Sámuel Tessedik A paraszt ember Magyarországban, micsoda és mi lehetne. Pécs, J. Engel, 1786 (ungarische Übersetzung von Der Landmann in Ungarn ... 1784). Declarationes duae coram incl. Commissione regia die 9. et 10. Maii 1792 factae, atque scholam oeconom. Szarvasiensem concernentes, o. O. u. J. (1792). Neuer Wiesen- Rektifikations-Plan zur Auflösung der Frage: Wie wäre dem Holz-, Obstund Futtermangel durch bessere Cultur der Wiesen, ohne Nachtheil der übrigen Theile der Landwirthschaft, zum Besten des ungarischen Publici, besonders in den unteren Gegenden effective abzuhelfen? Entworfen im Jahr 1800, Ofen 1802. Ungarische Ausgabe. Buda 1801. Nachricht von dem Anbau und der Benützung des Luzerner Klees, o. O. u. J. Merkwürdigkeiten von Szarvas, oder Chronik des Marktfleckens Szarvas. Manuskript 1805. Ins Ungarische übersetzt und eingeführt von J. Nádor unter dem Titel: Szar­ vasi nevezetességek azaz Szarvas mezöváros gazdasági krónikája. Budapest 1938. Selbstbiographie. Manuskript. Ins Ungarische übersetzt von M. Zsilinszky, mit Einfüh­ rung von J. Nádor unter dem Titel: Önéletleirás, Szarvas 1942. 2. Auswahl von Werken über Sámuel Tessedik G. Ortutay: Tessedik Sámuel. in: Századok és tanulságok 11, Budapest 1947. Wieder­ abgedruckt in: Ders.: Írók, népek, századok. Budapest 1960, S. 169–179, S. 473. J. Čečetka: Učitel l’udu Samuel Tešedík. Martin 1952 (Knižnica Osvety, 9). I. Wellmann: Tessedik Sámuel. Budapest 1954. L. Tóth: Tessedik Sámuel 1742–1820. Szarvas 1976. D. Penyigey: Tessedik Sámuel. Budapest 1980 (Agrartörténeti tanulmányok, 9).

Die Hutterer – ein Stück alpenländischer Kultur in der Neuen Welt* Nordamerika gilt dem Europäer gemeinhin als der große Schmelztie­ gel der Völker, der melting pot, in den sämtliche Einwanderer nach kurzer Zeit eingeschmolzen wurden, um eine neue amerikanische Einheitskul­ tur zu formen. Bei genauerem Zusehen trifft dieses Bild, das geläufigen Klischeevorstellungen folgt, jedoch nicht ganz zu. Gerade das amerikan­ ische Bicentennial im Jahre 1976 hat auch unter Europäern den Blick für die Mosaikhaftigkeit der amerikanischen Kultur geschärft, und neuerdings beschäftigt sich die Forschung in mehreren anthropologischen Disziplin­ en besonders mit diesem Problem der ethnicity und dem Beitrag u.a. der verschiedenen europäischen Bevölkerungsgruppen, die das kulturelle Ge­ präge Nord­amerikas mitgestaltet haben. Was den deutschsprachigen Anteil betrifft, so ist die Gruppe der sog. Amish in Pennsylvania, die einer voll­ kommenen Akkulturation bisher erfolgreich widerstanden haben, hierzu­ lande relativ gut bekannt. Es handelt sich um extrem glaubensstrenge und konservative Mennoniten, die im 18. Jahrhundert aus Südwestdeutschland auswanderten und sich als Angehörige einer ethnischen und religiösen Sondergruppe von der Kultur des Gastlandes bewußt absonderten. Im vorliegenden Beitrag soll von einer ähnlichen religiösen Gemeinschaft in Nordamerika gehandelt werden, die von ihrem Ursprung her jedoch we­ sentlich älter ist und deren Wurzeln nach Tirol zurückreichen. Die hutterischen Brüder oder Hutterer, von denen die Rede sein soll, führen ihren Ursprung auf jenen Tiroler Hutmacher Jakob Hutter zu­ rück, der am 25. Februar 1536 als Ketzer und Wiedertäufer in Innsbruck öffentlich auf dem Scheiterhaufen hingerichtet worden ist. Die Nach­ kommen der von Hutter begründeten religiösen Gemeinschaft leben bis zum heutigen Tage in den Prärieprovinzen der Vereinigten Staaten und Kanadas. Ihre mehr als 200 über North und South Dakota, Alberta, Sas­ katchewan und Manitoba verstreuten Bruderhöfe stellen eine vielbeachtete deutschsprachige Subkultur im Lande und darüber hinaus einen bedeu­

∗ Erstveröffentlichung in: Österreichische Zeitschrift für Volkskunde 84 (1981), Heft 1, S. 141–153.

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tenden Wirtschaftsfaktor dar. Nur noch wenige Österreicher wissen von der Existenz dieses alpenländischen Kulturrelikts in der Neuen Welt. Dem Ethnologen bietet sich hier die wohl einmalige Chance, einer Bevölke­ rungsgruppe zu begegnen, deren Wertvorstellungen sich im 16. Jahrhun­ dert herausgebildet haben und deren zugehörige Lebensformen und Ver­ haltensweisen eine vielfach ungebrochene Tradition aufzuweisen haben, wie sie in Europa selbst ohne Beispiel sein dürfte. Die Wanderwege der Hutterer von ihrem Mutterland Tirol zu ihren heutigen Ansiedlungen in Nordamerika sind verschlungen und teilweise recht abenteuerlich. Es würde zu weit führen, sie hier detailliert nachzeich­ nen zu wollen. Einige kurze Hinweise müssen genügen. Die Wanderungen der Hutterer waren keine freiwilligen – etwa von nomadischem Wandertrieb ausgelösten – Bewegungen, sondern sie geschahen stets unter Zwang, den die herrschende Gesellschaft jeweils auf eine unbequeme religiöse Minder­ heit ausübte. So wechselten in der Geschichte der hutterischen Gemein­ den stets Perioden ruhiger Seßhaftigkeit mit Zeiten schwerer Verfolgung und Unterdrückung. In diesem Prozeß wurden sie immer weiter nach dem Osten abgedrängt, bis sie sich schließlich durch die Auswanderung nach Rußland dem Zugriff der Verfolger entzogen. Dies geschah im Jahre 1770. Zuvor waren die Hutterer in Mähren (1529–1622), in Ungarn und Sieben­ bürgen (1622–1767) und in der Walachei (1767–1770) ansässig gewesen. In den europäischen Museen zeugt noch heute die Habaner-Keramik von die­ ser bedeutenden Entwicklungsphase der hutterischen Kultur. 1755–1762 erhielten sie in Rumänien Zuzug von Gleichgesinnten, von Maria Theresia aus Kärnten vertriebenen Wiedertäufern, was von bleibendem Einfluß auf die Mundart der Hutterer wurde, die sich heute als eine Mischung von Ti­ roler und Kärntner Elementen darstellt. Als das zaristische Rußland nach 1873 seine deutschen Minderheiten durch Einführung der Wehrpflicht und den russischen Schulunterricht unter starken politischen Druck zu setzen begann, wanderten die Hutterer zusammen mit den in ihrer Nachbarschaft siedelnden deutschsprachigen Mennoniten nach den USA aus. 1918 schloß sich als Folge des 1. Weltkrieges eine letzte Zwangswande­r ung an, die die Hutterer in die kanadischen Prärien führte. Was unterscheidet die hutterischen Brüder von anderen religiösen Ge­ meinschaften und weshalb waren sie in ihrer 450jährigen Geschichte im­ mer wieder solch schweren Verfolgungen ausgesetzt? Jakob Hutter‚ Peter Riedemann, Andreas Ehrenpreis und die vielen anderen Väter und Märty­ rer dieser Bewegung predigten die radikale Abkehr von der Welt und die Rückkehr zu Formen des Gemeinschaftslebens, wie sie die christlichen Ur­ gemeinden geübt hatten. Die wichtigsten Glaubenssätze der Hutterer sind seitdem die Erwachsenentaufe, die Nichtbeteiligung an staatlichen Ämtern, Gewaltlosigkeit, Verweigerung des Wehrdienstes und der Eidesleistung so­

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wie Verzicht auf persönliches Eigentum. Die Hutterer haben während der langen Siedlungsperiode von 1529–1622 in Mähren eine eigene Form des Zusammenlebens auf sog. Bruderhöfen entwickelt. Der Bericht des Paulus über die Urgemeinde (Apg. 2,44: “waren beieinander und hatten alle Dinge gemeinsam”) wurde auf diesen Höfen in die Tat umgesetzt. Dieses System gilt noch bis zum heutigen Tag; man hat es nicht zu Unrecht als „christli­ chen Kommunismus“ bezeichnet. Der Verfasser dieser Zeilen hat in den Jahren 1977 und 1979 jeweils drei Monate auf mehreren hutterischen Bruderhöfen in Saskatchewan gelebt und gearbeitet und will versuchen, einige Eindrücke von diesem Aufent­ halt wiederzugeben. Er arbeitet seit 1975 mit Unterstützung des National Museum of Man in Ottawa an der Erforschung deutschsprachiger Bevöl­ kerungsgruppen in Westkanada. Seine Methode ist die der teilnehmenden Beobachtung mit hohem Partizipationsgrad. Ziel ist die Verwirklichung eines anthropologischen Konzeptes der verstehenden Interaktion, wobei sich der Forscher möglichst stark in die beobachtete Gruppe integriert, um sich an die Stelle des anderen versetzen und Einsichten in dessen Ver­ haltensweisen und Wertsystem gewinnen zu können. Ein entscheidender Vorteil dieser Vorgehensweise ist die Rolle, die der Forscher im Rahmen ei­ nes solchen Verstehensprozesses spielt: er tritt nicht als der Forscher in Er­ scheinung, der durch neugierige Fragen und sonstiges auffällige Verhalten mit Kamera und Magnetophon Material für ein Buch o.ä. gewinnen will, er ist nicht Gast, sondern Helfer, Mitarbeiter, Mitglied der verschiedenen Gruppierungen in Arbeit und Freizeit, nach einigen Wochen der verständ­ lichen Reserve gegenüber dem Fremden schließlich sogar Kamerad und Freund. Jedenfalls konnten durch eine solcherart aufgefaßte Feldforschung Einblicke in das kulturelle System der Hutterer erreicht werden, wie sie ei­ nem Besucher verschlossen bleiben müssen, der nur wenige Stunden oder Tage auf einem hutterischen Bruderhof zu Gast weilt. Die Hutterer nennen ihre Ansiedlungen heute nicht mehr Bruderhö­ fe, sondern Kolonien (von engl. colony). Gegenwärtig gibt es ca. 200 sol­ cher Kolonien in den USA und in Kanada bei einer Gesamtzahl von über 22.000 Hutterern. Das bedeutet, daß auf einer solchen Kolonie rund 100 Menschen zusammenleben. Steigt die Zahl über 100, so wird eine Teilung herbeigeführt, die eine Hälfte der Bevölkerung übersiedelt in eine neue Kolonie und baut diese auf. Mit diesem System ständiger „Zellteilung“ ist im Laufe der letzten 60 Jahre der mittlere Westen Kanadas mit einem gan­ zen Netz hutterischer Großfarmen überzogen worden. Durchschnittlich vergehen 15 Jahre von einer Teilung zur anderen. Seit der Auswanderung in die Neue Welt ist dabei kein Bevölkerungszuzug von außen mehr einge­ treten, d.h. daß sich die Gesamtpopulation noch immer aus den Nachkom­ men jener 600 Einwanderer rekrutiert, die 1874 aus Rußland emigrierten;

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ein anthropologisch und soziologisch wohl einmaliges Phänomen, das in der hohen Kinderzahl und der geringen Kindersterblichkeit nur teilweise seine Erklärung findet. Innerhalb der hutterischen Bewegung unterscheiden wir heute drei Zweige, die Darius-Leute, Lehrer-Leute und Schmiede-Leute, benannt nach den Namen bzw. Berufen der ersten Gründer von Bruderhöfen in North Dakota im Jahre 1879. Die Unterschiede zwischen den drei Zwei­ gen sind geringfügig, jedoch im Bewußtsein der Hutterer bereits so stark eingeprägt, daß z.B. eheliche Verbindungen zwischen ihnen selten sind. Der Verf. lebte hauptsächlich auf einer Darius-Leute-Kolonie am South Saskatchewan River 16 Meilen von Saskatoon. Die Darius-Leute können als die konservativste der drei Gruppen angesehen werden, was bedeutet, daß irgendwelche Neuerungen wenig Chancen haben, in ihr kulturelles Sy­ stem aufgenommen zu werden. Dieser Rigorismus trifft allerdings nur für das häusliche und religi­ öse Leben zu, nicht für die Farmeinrichtungen. In bezug auf letztere gilt der „historische Kompromiß“, den die Hutterer bei ihrem Eintreffen in Amerika schlossen: um zu überleben, waren sie bereit, die bis dahin abgelehnte moderne Technik zu adaptieren. Demzufolge stellt sich ein Hutterer-Hof heute zunächst einmal als ein landwirtschaftlicher Muster­ betrieb dar, auf dem die modernsten Errungenschaften der Technologie anzutreffen sind. Die Hutterer betreiben auf ihrem jeweils riesigen Land­ besitz ein sog. large scale farming, außerdem setzen sie ihr großes Potential von eigenen Arbeitskräften auf den Kolonien auch für alle erdenklichen Arten der Viehzucht und sonstiger Nahrungsmittelproduktion (Schwei­ ne- und Rinderzucht, Milchwirtschaft, Aufzucht von Enten, Gänsen, Truthähnen, Hühnern, Bienen usw., Gemüseanbau) ein. Der erwirtschaf­ tete Gewinn fließt nicht dem einzelnen Mitglied, sondern der Gemeinde zu und dient fast ausschließlich der Kapitalanhäufung und anschließen­ den Investition für die regelmäßigen Teilungen. Daraus ergibt sich bereits ein wichtiger Hinweis auf die Einschätzung der Hutterer durch die heuti­ ge Öffentlichkeit in Kanada: Sie gelten als landhungrig, bedürfnislos bis geizig, man hält sie für gute Geschäftsleute, die den Kanadiern das Land vor der Nase wegkaufen und überdies keine Steuern bezahlen und an keinen Wahlen teilnehmen. D.h. die Einstellung des Kanadiers schwankt zwischen Bewunderung und Verachtung, je nach Nähe bzw. Betroffen­ heit. Die Vorurteile gegenüber diesen fremdartig anmuten­den Nachbarn überwiegen jedoch, besonders aufgrund der Tatsache, daß die Hutterer meist fernab der Durchgangsstraßen und großen Städte siedeln und daß auch ihr äußeres Erscheinungsbild bis zum heutigen Tag fast mittelalter­ lich und unangepaßt geblieben ist. Da nur wenige Kanadier wirklichen Einblick in das Gemeinschaftsleben auf einer solchen Kolonie haben,

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kursieren unter ihnen viele falsche, mitunter kuriose Vorstellungen über das hutterische System. Die Riverview Colony liegt in einer Flußniederung am South Saskat­ chewan River, meilenweit entfernt von der nächsten menschlichen Behau­ sung, jedoch mit einer guten Straßenverbindung in die Stadt. Das andere Ufer mit einem weitgehend von rußlanddeutschen Mennoniten besiedel­ ten Landstrich erreicht man über eine sieben Kilometer entfernte Fähre. Die Hutterer haben sich 1958 hier niedergelassen. Sie kamen aus dem südlichen Teil der westlichen Nachbarprovinz Alberta. Riverview ist die zweitälteste Hutterer-Kolonie in Saskatchewan; der Zustrom der Hutterer in diese Provinz hält bis zum heutigen Tag an, zumal hier häufig Farmland zum Kauf angeboten wird, wenn auch zu phantastischen Preisen. Riverview besitzt 8.800 Acres Land, das sind 3.561 Hektar oder nahezu 14 Quadratmeilen oder Sektionen, das entspricht 36 km2 (die ersten Sied­ ler vor hundert Jahren begannen mit einer Viertelsektion oder 160 Acres Land). An europäischen Verhältnissen gemessen mag das zunächst als eine riesenhafte Fläche erscheinen, aber ein Drittel des weiten Landbesitzes ist steiniges Grasland, das für den Getreidebau ungeeignet ist und lediglich als Weideland für eine Herde von 160 Rindern dient. Immerhin erlaubt das Land, das sich unter dem Pflug befindet, einen ausgedehnten Getrei­ deanbau. Die Kolonie bestreitet aber ihren Lebensunterhalt noch aus wei­ teren Quellen: Milch, Eier, Honig und Gartenprodukte spielen neben der Schweinezucht eine Hauptrolle im regelmäßigen Einkommen des Hofes. Er besitzt ein gutes Management und wird seit seiner Gründung erfolg­ reich bewirtschaftet, so daß 1977 eine der im hutterischen System üblichen Teilungen erfolgen konnte. Die Hälfte der Bevölkerung von Riverview übersiedelte auf einen neuen Hof 100 km östlich von der Mutterkolonie. Der Personenstand von Riverview ist daher nicht sehr groß; die Ko­ lonie zählte zum Zeitpunkt meines Besuches insgesamt 56 Personen. Die Durchschnittsgröße der Familien mit ca. fünf Mitgliedern liegt erheblich unter dem Durchschnitt anderer hutterischer Höfe, aber mehrere Familien auf Riverview sind noch sehr jung, so daß die Kolonie in den nächsten Jahren sicherlich weiter wachsen wird. In den Kindergarten gingen 1979 nur fünf Kinder, die Grundschule besuchten 14. Jede Familie verfügt über eigene Wohn- und Schlafräume, jedoch über keine Küche und Speisezim­ mer, da die Mahlzeiten bei den Hutterern im Gemeinschaftshaus einge­ nommen werden. In diesem Gebäude befinden sich Küche, Backraum, Kühlraum, Speisekammer im Keller sowie zwei getrennte Speiseräume für Erwachsene und Kinder. Gegenüber diesem Gemeinschaftshaus steht die Schule, die bei den Hutterern gleichzeitig als Kirche dient. Alle Gebäude sind rechteckig zueinander angeordnet und lassen in der Mitte Raum für einen großen, gepflegten Rasen. Um dieses Zentrum sind die verschiede­

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nen anderen Wirtschaftsgebäude angeordnet. Ein ähnliches Schema liegt mehr oder weniger allen Hutterer-Höfen zugrunde. Nach diesem Modell waren bereits die Bruderhöfe im Osten Europas eingerichtet, ein Zeichen dafür, daß sich diese Siedlungsstruktur bewährt hat. Sie ist sichtbarer Aus­ druck des Gemeinschaftslebens, zumal man die Kommunikationsbahnen zwischen den einzelnen Familien an den Pfaden ablesen kann, welche die täglichen Schritte der Menschen im Rasen hinterlassen. Das Alltagsleben auf einer hutterischen Kolonie ist durch den Rhyth­ mus von Arbeit, Andacht und Freizeit gekennzeichnet. Das Gemein­ schaftsleben wird rein äußerlich durch eine Glocke geregelt, die vor dem Gemeinschaftshaus aufgestellt ist und zu allen Tageszeiten an die verschie­ denen Verrichtungen gemahnt. Sie ruft allerdings nur zu den weltlichen Anlässen, nicht jedoch zum Gebet, da die Hutterer als radikale Reformato­ ren nichts aus dem altkatholischen Erbe übernehmen wollten, auch nicht das Glockenzeichen. Die meisten Arbeiten auf den Feldern und in den Ställen werden von den Männern gemeinschaftlich ausgeführt, ebenso ha­ ben die Frauen ihre getrennten Aufgaben in Küche und Keller. Die Kinder werden schon sehr früh in den Arbeitsprozeß einbezogen und besuchen die englische Schule auf der Kolonie nur bis zur neunten Klasse. Einen weiterführenden Schulbe­such lehnen die Hutterer seit Jahrhunderten ab. Obwohl die Mitglieder einer Kolonie keine spezielle Ausbildung erfahren, verfügen sie doch auf den verschiedensten Gebieten der Technik über her­ vorragende Kenntnisse. Jede Kolonie besitzt Schreiner, Schuster, Buch­ binder, Maurer, Kraftfahrzeugmechaniker usw., und bei der geringen Zahl von erwachsenen männlichen Mitgliedern auf der Riverview-Kolonie war es nahezu selbstverständlich, daß jeder von ihnen verschiedene Funktio­ nen auszuüben imstande war. Die Kenntnisse werden schon während der Schulzeit an die jüngeren Mitglieder der Kolonie weitergegeben, die nach ihrem Ausscheiden aus der Schule übergangslos in die Arbeitsprozesse ein­ gegliedert werden können. Nach vollbrachter Tagesarbeit am Abend begibt man sich zum tägli­ chen „Gebet“. Frauen und Männer nehmen auf getrennten schmucklosen Holzbänken Platz, singen die seit Generationen von ihren Vorvätern über­ lieferten hutterischen Hymnen, hören die vom Prediger verlesenen und aus dem 16. oder 17. Jahrhundert stammenden alten Predigttexte und ver­ richten mit aufgehobenen Händen und niedergebeugten Knien ihr langes Gebet. Bei dieser Gelegenheit wird besonders deutlich, daß das hutterische System sich auf die Basis des Glaubens gründet, daß man das Überleben dieses Systems bis zur Gegenwart nur richtig verstehen und einschätzen kann, wenn man diese Glaubensgrundlagen kennt, die diese Menschen bis zum heutigen Tage zusammenhalten und verbinden. Die strengen Regeln und Normen dieses patriarchalischen und altertümlichen Gemeinschafts­

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lebens haben sich im 16. Jahrhundert herausgebildet und werden bis zum heutigen Tage ohne Abstriche verfolgt. Auch das gesamte Privatleben der Mitglieder einer Kolonie der hutteri­ schen Brüder unterliegt der strengen Gesetzmäßigkeit dieser Glaubensge­ meinschaft. Die Abgewandtheit von der Welt bedeutet für sie konkret, daß sie sich mit dem, was in der Welt draußen vorgeht, kaum beschäftigen. Da sie Radio, Fernsehen, Tageszeitungen und sonstige Medien strikt ablehnen, bilden ihre Kolonien gewissermaßen Inseln. Nur in der Abgeschiedenheit des kanadischen Westens war es möglich, daß ein solches System bisher von der Entwicklung der Kultur nicht überrollt worden ist und seine Ei­ genständigkeit bewahren konnte. So ist auch das private Gemeinschafts­ leben der Hutterer nach Arbeit und Gebet zu Hause durch archaische Kommunikationsformen gekennzeichnet. Als Außenstehender fragt man sich unwillkürlich, wie solche Menschen jenseits aller Beeinflussung durch Massenmedien ihre langen Abende verbringen. Die Antwort ist denkbar einfach: Diese Menschen sprechen miteinander, verkehren miteinander in verschiedenen Kommunikationszirkeln. Sie haben den engsten mensch­ lichen Kontakt, der sich denken läßt, und an Gesprächsthemen mangelt es nie, wobei im Mittelpunkt der Gespräche das Gemeinschaftsleben der Hutterer in den einzelnen Kolonien in Kanada steht. Zumindest telefo­ nisch und brieflich stehen alle diese Kolonien im engsten Kontakt zueinan­ der, und hier fließt der Informationsaustausch dank der modernen Medien reibungslos und nach einem geheimen Schneeballsystem, so daß sich die Kenntnis z.B. von einem Unglücks- oder Todesfall auf einer Kolonie in Windeseile über die ganze Provinz ausbreiten kann. Zur Aufrechterhaltung dieses weltabgewandten, fast mittelalterlichen Systems ist es überaus wichtig, daß die Kinder frühzeitig in die Spielregeln und Normen dieses Gemeinschaftslebens eingeübt werden. Sie werden deswegen schon im Alter von drei Jahren aus den Familien herausgenom­ men und in den Kindergarten, die sog. hutterische „kleine Schule“ gege­ ben, wo sie von den Kindergärtnerinnen – älteren Frauen, die sich bei dieser Tätigkeit abwechseln – in das Gedankengut der Wiedertäufer einge­ führt werden. Das setzt sich fort in der deutschen Schule, die von einem deutschen Schullehrer parallel zur englischen Schule geleitet wird und die dem Schüler neben der Kenntnis der hochdeutschen Sprache vor allem die Kenntnis der Bibel, der hutterischen Geschichte sowie ihrer Gebete und Lieder vermittelt. Ein weiteres Instrument der Sozialisation ist die Sonn­ tagsschule, an der auch jeder Schulentlassene bis zu seiner Taufe im Alter von etwa 19 Jahren teilnehmen muß. Wir haben in der Überschrift zu diesem Beitrag davon gesprochen, daß es sich bei den Hutterern um ein Stück alter alpenländischer Kultur in der Neuen Welt handle. Dieser Aspekt dürfte für die Leser dieser Zeitschrift

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von besonderem Interesse sein. Deshalb sollen hier noch einige Bemer­ kungen zur Sprache der Hutterer angeschlossen werden. Natürlich spricht heute jedes erwachsene Mitglied einer Hutterer-Kolonie in Kanada die englische Sprache, die es in der Schule als erste Fremdsprache zwangsläu­ fig lernen muß und die es braucht, um sich überhaupt mit seiner Umwelt verständigen zu können. Aber die tägliche Umgangssprache der Hutterer ist eine deutsche Mundart, und zwar ein Dialekt alpenländischer Herkunft, der auf der Basis des Tirolerischen im 16. und 17. Jahrhundert oberdeut­ sche Elemente und um die Mitte des 18. Jahrhunderts kärntnerische Leit­ formen übernommen hat, so daß es sich um eine Mischform handelt, die im Laufe der Jahrhunderte weitere Fremdworte aus dem Rumänischen, dem Russischen und Ukrainischen und heute vor allem aus dem modernen Amerikanischen übernommen hat. Das Ergebnis ist eine Mischsprache, wie sie nirgends in der Welt, außer bei den Hutterern, gesprochen wird, wie sie aber jeder Tiroler leicht verstehen wird, wenn er von den Lehnwörtern absieht, die als Sprache der Technik in das Idiom der Hutterer später ein­ gedrungen sind. Eine kleine Sprachprobe aus dem Alltag der Hutterer in Kanada mag das verdeutlichen. Dos Geschichtl von dem Ofn Jo‚ dos is schon johrelong hintr‚ waßt‚ wie sie olba Kohle hom gebrennt. Dos wor mit de Lehrerleit passiert. Is amol a Vettr kumme‚ hom’s gsesse‚ vrzehlt of der Nocht‚ hom Koffee ghobt‚ hom gluncht. No soht dr Vettr: „Wos hobt’n des fer e Ofn?” No sogt dr onder Vettr: „Der Ofn is der beste Ofn dr Welt.” – „Jo, wir kafen jo ach gute Efn‚ warum wer’n das dr besta?“ Sogt er: „Der Ofn brauch i nie a Kohln ålegn‚ i brauche nie d’ Glenda raußer dån‚ i brauche nie d’Oschn außer dã, un olba wårm‚ olba wårm! Olba die gleicha Hitz!” – „Dos muß i oba unsern Wirt a sogn, wenn i hamkumm. So’n Ofn miß’n mir a hobm. I muß olba an mein Ofn olle Frieh Glenda außer dån‚ muß d’Oschn außer trogn‚ un dr Staub in Haus, dos muß i unsern Wirt a sogn!“ Un so ham si verzehlt. San sie ganga schlofn. In der Frieh hot dr Vettr net nochgebn. Sog er: „Lus emol‚ Vettr, du schreib mir jetz auf, wie dr Ofn haßt, was dos fer e Sort Ofn is.“ – „Was manst du jetzt?” – „Jo, du hast mir doch gestern do sog von den Ofn, er braucht nie’n Oschn außer dãn‚ er braucht nie d’Glenda raußer mochn‚ er braucht nie a Kohln alegn. So a Ofn muß mr ach hobn! Immr olba aufstehn, Glenda außer dã‚ Oschn außer dã‚ Kuhln alegn!“ – „Na“, sog dr Vettr, „du host des doch net geglaubt, dos Gschichtl.“ – „Jo, worum net‚ so’n Ofn miß mr hobn, i wer’s dem Wirt sogn, wenn i hamkumm.“ – „Na“, sogt er, „so en Ofn kannst net kafn‚ mei Weib dut’s!“ – „Ollmechtela, do host du mir jo vor­ gluigt!“ (Erzählt am 28. September 1977 von Pastor Michael S. Stahl, geb. 1935, Riverview Colony)

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Wir wollen nur auf einige typische Leitformen des Textes hinweisen: olba = im­ mer, im Kärntnerischen Wörterbuch von M. Lexer gebucht als àllw.n; Glenda = Glut, Funken, Schlacke, kärntnerisch Glander, Glanderle, mhd. Glanster. Besonders interessant ist die Form „Wos hobt’n des“, das Personalpronomen 2. Person Plural von bayrisch-österreichisch es, kärntnerisch-hutterisch des. Den Abschluß dieses kurzen Berichtes sollen einige persönliche Erfah­ rungen und Gedanken des Verfassers bilden. Er möchte zunächst vor allem die geradezu überwältigende Gastfreundschaft rühmen, die ihm auf den ver­ schiedenen hutterischen Bruderhöfen, insbesondere aber auf der Riverview Colony, entgegengebracht wurde. Er konnte bei seinen Aufenthalten Freun­ de fürs Leben gewinnen. Die Anhänglichkeit und Zuneigung, besonders von Seiten der Kinder, ist unvergeßlich. Es besteht ein reger Briefkontakt und die Absicht, die angeknüpften Verbindungen nicht abreißen zu lassen, son­ dern durch regelmäßige Besuche, auch zusammen mit anderen Familienan­ gehörigen, zu pfle­gen. Der Verfasser war auf Riverview Gast der Familie des Predigers Michael Stahl. Die Stahls sind eine der ältesten hutterischen Familien; ihre Zugehörigkeit zu den Wiedertäufern ist schon im ausgehenden 16. Jahrhundert in Mähren nachgewiesen. Michael Stahl steht voll in seiner Familientradition, ist ein Prediger („Diener am Wort“) aus Überzeugung, ein guter Geschichtenerzähler (s.o. Textprobe), ein guter Familienvater (er hat zwei Söhne und sechs Töchter), und er ist das mit viel Verantwortung be­ lastete, geistliche und weltliche Oberhaupt seiner Kolonie. Er hat den Feld­ forscher, der als Fremder aus dem fernen Deutschland zu ihm kam, nicht nur gastliche Aufnahme gewährt, sondern ihn am Familienleben und darüber hinaus am gesamten Leben einer „Gema“ teilnehmen lassen, und er hat ihn durch viele, viele Gespräche zutiefst in das Wesen des hutterischen Systems eingeführt. Er hat sich ihm rückhaltlos geöffnet und ihm sogar erlaubt, seine eigene Lebensgeschichte aufzuzeichnen, er hat es ihm ferner ermöglicht, die mündlichen Erzähltraditionen der Hutterer kennenzulernen, ihre Predigt­ handschriften zu lesen und die für den Volksliedforscher unschätzbar rei­ chen Liedüberlieferungen auf Band aufzunehmen. Die Auswertung dieser gesammelten Materialien wird Jahre in Anspruch nehmen und der Forschung noch reichen Gewinn bringen. Diese Forschungen sollen dazu beitragen, das Wissen um die Existenz eines Stücks alter europäischer Kultur im Norden des amerikanischen Kontinents zu verbreitern und von der einmaligen Kon­ tinuität im Leben dieser Täufergemeinden zu berichten. Die österreichische Forschung hat die Hutterer nach ihrer Auswanderung nach Amerika gewis­ sermaßen „aus den Augen verloren“. Die Werke von J. Beck1 und R. Wolkan2 haben keine Fortsetzung bis zur Gegenwart erfahren. 1 Beck, Josef: Die Geschichts-Bücher der Wiedertäufer in Österreich-Ungarn. Wien 1883. 2 Wolkan, Rudolf: Die Hutterer, österreichische Wiedertäufer und Kommunisten in Amerika. Wien 1918.

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Die abschließende Frage, die sich dem Leser aufdrängen wird, die Fra­ ge nach der Zukunft und dem voraussichtlichen weiteren Schicksal der Hutterer in Amerika, soll nicht ganz ohne Antwort bleiben. Es wäre sicher falsch, diesen Bericht zu schließen, ohne nicht wenigstens mit einem Wort auf die Gefährdung des hutterischen Bruderhof-Systems hingewiesen zu haben. Selbst in den Weiten der kanadischen Prärien bleibt die Zeit heute nicht stehen; die Welt wird von Jahr zu Jahr auch dort kleiner, sie rückt en­ ger zusammen und kreist die hutterischen „Inseln“ immer mehr ein. Sich von dieser Welt fernzuhalten, wird auch für die Hutterer immer schwieri­ ger. Durch die Übernahme der modernsten Technik reicht das Industrie­ zeitalter bereits in jeden einzelnen Hof hinein, und ein zeitgemäßes FarmManagement bedarf dauernder engster Kontakte mit der Außenwelt, die diese Technik liefert und die die von den Hutterern erwirtschafteten Pro­ dukte abnimmt. Durch die ständigen Berührungen zumindest der männ­ lichen erwachsenen Mitglieder jeder Kolonie lernt der Hutterer beinahe täglich die angenehmen und verlockenden Seiten des modernen Stadtle­ bens kennen und – trotz aller Verbote – schätzen. Im Supermarkt riskiert er gerne einmal ein Auge beim „Tiewie“ (TV = Fernsehen) und findet auch sonst viele (untersagte) Dinge der städtischen Kultur attraktiv: Kinos, Selbstbedienungsrestaurants, modische Kleidung, Autofahren, Jahrmärkte, Grillparties, Skilaufen, Urlaub, Schmuck usw. usw., Dinge, die ihm aber verschlossen bleiben müssen, weil die monatliche „Zehrung“ von zwei Dollar, die der Haushalter ihm ausbezahlt, ihn nicht in die Lage versetzt, daran teilzunehmen. Da ist es menschlich nur zu verständlich, daß sich in vielen Mitgliedern einer Kolonie der heimliche Wunsch nach Teilhabe an den verbotenen Früchten dieser Welt regt. Und so versucht im Grunde jeder, ein Zipfelchen von den Segnungen der Zivilisation zu erhaschen, ei­ nen kleinen deal zu machen, etwas private money in die Hand zu bekommen, um sich irgend einen geheimen Wunsch zu erfüllen. Und so habe ich z.B. mehr als eine hutterische Familie kennengelernt, die einen Fotoapparat und ein Album mit Familienfotos besitzt, obwohl offiziell das Fotografieren und der Besitz von Bildern („Du sollst dir kein Bildnis noch irgendein Gleichnis machen ...!“) streng verboten ist. Und so bewahrt manches Hut­ terermädchen in seiner hopechest (Brauttruhe) Lippenstift und Nagellack, obwohl es in der Kolonie selbst kaum in die Verlegenheit kommen wird, sie zu benutzen. In Manitoba gibt es bereits Schmiedeleut-Kolonien, die ihren jungen Mitgliedern erlauben, in normaler „englischer“ Kleidung zum shopping in die Stadt zu gehen (angeblich, um damit vor den Hänseleien durch die Stadtbevölkerung sicher zu sein). Die Vorschriften für die weibliche Haartracht wurden dort stark gelockert, und ein hutterisches Gesangsquar­ tett aus Manitoba singt seine englischen Lieder auf Musikkassetten, die auf vielen Kolonien zirkulieren und abgespielt werden, wenn der Prediger

Die Hutterer – ein Stück alpenländischer Kultur in der Neuen Welt

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nicht in der Nähe ist. Alle vier Wochen findet auf einigen SchmiedeleutKolonien angeblich bereits ein Gottesdienst in englischer Sprache statt. Den konservativen Dariusleuten in Saskatchewan mögen diese Ent­ wicklungen in der Nachbarprovinz ein Greuel sein, aber auch hier werden die ersten Krisenzeichen durchaus schon sichtbar. So schreibt etwa die älte­ ste Tochter des Riverview-Predigers heimlich an einem dicken Heft Country Songs and Western Music, und bei den beiden Hochzeiten, die ich miterleben konnte, kam jeweils erst Stimmung auf, als die traditionellen Hymnen aus dem Gesangbuch der hutterischen Brüder abgesungen waren und sich das junge Volk in einem abgelegenen Gebäude ohne Hemmungen den Cow­ boyliedern hingeben konnte. Gewiß sind das zunächst Einzelbeobachtun­ gen – aber insgesamt wird hier doch eine Gefährdung von innen heraus sichtbar. Das Eindringen von Wertvorstellungen und Verhaltensweisen aus der amerikanisch-kanadischen Kultur lockert und unterminiert die tradi­ tionellen Normen des eigenen Systems, so daß noch schwer abzusehen ist, welche Entwicklung sich durchsetzt, wenn die jetzige junge Generation die Führungsschicht stellt und die alten Autoritäten – Garanten der Kontinui­ tät – nicht mehr über die pünktliche Einhaltung aller Gebote und Verbote (the dos and don’ts) wachen. Eine noch größere Gefahr bedeuten die vielen jungen Hutterer, die sich den rigorosen Zwängen des Systems entziehen und in die Welt hinausgehen. Diese „Weggelufenen“ haben es anfangs na­ turgemäß schwer, sich draußen zu bewähren: Sie sind – zur Unmündigkeit erzogen – kaum fähig, auf eigenen Füßen zu stehen, sie haben nicht ge­ lernt, mit Geld umzugehen, und das Heimweh nach der Geborgenheit in der Familie und der Gemeinschaft treibt viele früher oder später wieder zu­ rück. Diese verlorenen Söhne erleiden zwar nach der Wiedereingliederung ihre Strafe, aber sie werden doch wieder aufgenommen. Andere finden nie mehr ihren Weg nach Hause; jede Kolonie hat einen oder mehrere solcher Fälle. Man spricht zwar nicht gerne darüber, macht aber bei Erkundigun­ gen auch kein Geheimnis daraus. Solcher Substanzverlust ist für manche Kolonien heute schon schwer zu verdauen. Mit jedem „Abspringer“ geht ein potentieller Familienvater verloren, die weitere Entwicklung der be­ treffenden Kolonie ist dadurch gehemmt. Das sichtbare Zeichen dieser Auszehrung sind die vielen unverheirateten Frauen, die man auf den hut­ terischen Kolonien antrifft. So treten heute schon manche Kolonien „auf der Stelle“, das nächste Outbranching ist in weite Ferne gerückt. Voreilige Hochrechnungen, die man angestellt hat und die wahrscheinlich machen wollen, daß den Hutterern im 21. Jahrhundert einmal ganz Kanada ge­ hören könnte, erweisen sich als bloße Zahlenspielerei. Unter dem starken Druck der herrschenden Kultur wird es diesem „vergessenen Volk“ (M. Holzach) immer schwerer gemacht werden, sein eigenes Leben zu führen und das Überleben der eigenen Kultur zu sichern. Der Tag, an dem die

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Hutterer dem American way of life zum Opfer gefallen sein werden, ist viel­ leicht nicht mehr so weit entfernt.

Erinnertes und Vergessenes aus der Göttinger Stadt- und Universitätsgeschichte* Dieser öffentliche Abendvortrag zum 27. Deutschen Volkskundekon­ greß verfolgt das doppelte Anliegen, zum einen die Kongreßteilnehmer ein wenig mit dem spezifischen Genius loci vertraut zu machen und zum anderen den Bürgern der Stadt Göttingen anhand der Geschichte ihrer eigenen Stadt etwas von den spezifischen Sichtweisen und Fragestellungen des Faches Volkskunde zu vermitteln. Über 500 Volkskundlerinnen und Volkskundler aus allen Teilen Europas sind in diesen Tagen während des Kongresses damit beschäftigt, über die Prozesse des Erinnerns und Tradie­ rens, des Vergessens und Verdrängens und die Rolle unserer wissenschaft­ lichen Disziplin in diesem Spannungsfeld von Kultur und Gedächtnis zu diskutieren. Auch die Entwicklung Göttingens von einer mittelalterlichen Kleinstadt zu einer weitgerühmten Universitätsstadt bietet uns reichlich Stoff zum Forschen und zur Gewichtung der beiden Pole von Geschichts­ forschung: Erinnertes und Vergessenes, Bewußtes und Verdrängtes. Ich möchte zunächst den theoretischen Rahmen abstecken, in dem sich diese Überlegungen bewegen sollen. Historische Darstellungen zum Thema der Stadt- und Universitätsgeschichte Göttingens gibt es zur Ge­ nüge. Es kann nicht unsere Aufgabe sein, diesen Darstellungen folgend einen Abriß der Entwicklung dieser Stadt und ihrer Alma Mater zu bieten. Diese Daten sind leicht an anderer Stelle verfügbar und bequem nachzule­ sen. Was ich statt dessen tun will, ist, der Frage nachzugehen, wie sich das historische und gegenwärtige Bild der Stadt und ihrer Hochschule konsti­ tuiert, aus welchen Quellen es gespeist wird und wie man durch kritischen Umgang mit diesen Quellen auch ganz anders konturierte Bilder gewinnen kann. Auch Städte entwickeln und besitzen so etwas wie ein Gedächtnis. Mit Jan Assmann1 möchte ich in Bezug auf unseren Untersuchungsge­ genstand Stadt und Universität Göttingen zwischen zwei Formen des * 1

Erstveröffentlichung in: Bönisch-Brednich, Brigitte u.a. (Hg.): Erinnern und Vergessen. Vorträge des 27. Deutschen Volkskundekongresses Göttingen 1989. Göttingen 1991, S. 177–193. Assmann, Jan und Hölscher, Tonio (Hg.): Kultur und Gedächtnis. Frankfurt a.M. 1988 (= Suhrkamp-Tb Wissenschaft, 724), S. 9–19.

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kollektiven Gedächtnisses unterscheiden: Es gibt auf der einen Seite das kommunikative Gedächtnis: es beruht ausschließlich auf Alltagskommunika­ tion und ist vor allem durch einen beschränkten Zeithorizont von drei bis vier Generationen gekennzeichnet. Mit der Methode der „oral history“, der mündlichen Erinnerungsforschung, können wir das kommunikative Gedächtnis einer Stadt erschließen, wie es in Gesprächen, Anekdoten, Le­ benserinnerungen, Biographien, Gerüchten und Vermutungen zum Aus­ druck kommt, allerdings höchstens für die zurückliegenden 80 Jahre. Das kommunikative Gedächtnis einer Stadt ist gekennzeichnet durch ein hohes Maß an Ungeformtheit, Beliebigkeit und Unorganisiertheit. In der münd­ lichen Kommunikation des Alltags baut sich im Individuum „Stadtbewoh­ ner“ ein Gedächtnis auf, das nach Maurice Halbwachs2 sozial vermittelt und gruppenbezogen ist. Jedes individuelle Gedächtnis konstituiert sich in der Kommunikation mit anderen. Die Kommunikationspartner sind je­ doch keine beliebige, disperse Menge, sondern stets Gruppen, z.B. Famili­ en, Nachbarschaften, Angehörige gleicher Berufe oder Mitglieder von Ver­ einen, Jahrgängen, Parteien oder Organisationen. Jede Gruppe tradiert ein bestimmtes Bild oder einen Begriff von sich und ihrer Eigenart und beruft sich dabei auf ein Bewußtsein gemeinsamer Vergangenheit. Jeder einzel­ ne – auch jeder einzelne Göttinger – ist in eine Vielzahl solcher Gruppen eingespannt und hat daher an einer Vielzahl kollektiver Selbstbilder und Gedächtnisse teil. In die Erforschung dieser verschiedenen Identitäten tei­ len sich mehrere Wissenschaften. Die Volkskunde hat in letzter Zeit wich­ tige Beiträge für die Modifizierung und erfolgreiche Anwendung des „oral history“-Verfahrens zur Untersuchung von kommunikativem Gedächtnis erbracht: Es sei an die Tübinger Studien zum „Roten Mössingen“3 oder an Albrecht Lehmanns zeitgeschichtliche Hamburger Forschungen über „Ge­ fangenschaft und Heimkehr“4 erinnert. Auch in Göttingen gibt es erste volkskundliche Annäherungen an das kommunikative, mündlich erfragba­ re Gedächtnis der Stadt Göttingen, z.B. von Arbeitern, Frauen, Flüchtlin­ gen u.a. Gruppierungen. Die Ergebnisse dieser Forschungen wurden für den Vortrag berücksichtigt.5 2 3 4 5

Halbwachs, Maurice: La mémoire collective. Paris 1950. Althaus, Hans-Joachim u. a.: Da ist nirgends nichts gewesen außer hier. Das „rote Mössin­ gen“ im Generalstreik gegen Hitler. Berlin 1982 (= Rotbuch, 242). Lehmann, Albrecht: Gefangenschaft und Heimkehr. Deutsche Kriegsgefangene in der Sow­jetunion. München 1986. Vgl. Burhenne, Verena: Göttingen als Heimstätte der Georgia Augusta. Die Auswirkungen der Universitätsgründung auf das Alltagsleben der Stadtbevölkerung. Magisterarbeit. Göttingen 1986; Siedbürger, Günther: Das Eisenbahnausbesserungswerk Göttingen. Studien zur historischen Arbeiterkulturforschung. Magisterarbeit. Göttingen 1989; Spieker, Ira: Bürgerliche Mädchen im 19. Jahrhundert. Erziehung und Bildung in

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Die zweite Form des Gedächtnisses, mit der wir es zu tun haben, ist das kulturelle Gedächtnis einer Stadt, und hier bewegen wir uns anscheinend in einem völlig entgegengesetzten Bereich. Hier geht es um die objektivier­ te Kultur, wie sie in Texten und Bildern, in Bauwerken und Denkmälern, in Riten und Zeremonien ihren Niederschlag gefunden hat. Sie steht in anerkannten und jedermann öffentlich zugänglichen Zeugnissen dinglich vor Augen, scheint vielfach ihren Gruppen- und Gegenwartsbezug ver­ loren zu haben, sie ist schon fast mehr histoire als mémoire. Bei näherer Be­ trachtung erweist es sich jedoch, daß auch die objektivierte Kultur ähnliche Bindungen an Gruppen und Gruppenidentitäten aufweist, wie sie das All­ tagsgedächtnis kennzeichnet. Das kulturelle Gedächtnis einer Stadt orien­ tiert sich an Fixpunkten des äußeren historischen Erscheinungsbildes (z.B. Kirchen, Rathaus, Straßen) und schicksalhafter Ereignisse (z.B. Belagerun­ gen, Kriege, Stadtjubiläen usw.). Im Gegensatz zur Alltagsnähe des kom­ munikativen Gedächtnisses ist es durch Alltagsferne, durch „retrospektive Besonnenheit“ (Aby M. Warburg) charakterisiert. Wichtig ist, daß dieses kulturelle Gedächtnis ebenfalls den Wissensvorrat bestimmter Gruppen der Gesellschaft aufbewahrt und daß diese Gruppen zur Festigung von Gruppenbezogenheit und Identität Institutionen oder Autoritäten damit betrauen, es zu verwalten, zu fixieren und dadurch zu tradieren. Solche In­ stitutionen heißen Museen, Archive, Stadtarchäologie, aber auch Denkmal­ ämter, Historische Seminare oder Institute für historische Landeskunde usw. Der von ihnen im kulturellen Gedächtnis der Stadt festgeschriebene und gepflegte Wissensvorrat ist stets durch eine scharfe Grenzziehung ge­ kennzeichnet, die das Zugehörige vom Nichtzugehörigen, das Eigene vom Fremden trennt. Was für die Nachwelt erinnerungswürdig ist, wird in die­ sen Institutionen entschieden. Museen haben ihre Erwerbungspolitik, Ar­ chive ihre Kassationsprinzipien, Denkmalämter ihren kulturellen Auftrag, Historiographen ihre Konzepte. Sie arbeiten mit an der Horizontbildung (ein Ausdruck von F. Nietzsche), an der Ausbildung des Bewußtseins von der Eigenart einer Stadt und ihrer Unterscheidung von anderen Städten. Unsere These ist, daß auch die Volkskunde an der Auswahl des kultu­ rellen Besitzes und Wissens einer Stadt und ihrer Erforschung teilnehmen muß und aufgrund ihrer spezifischen Sichtweise in der Lage ist, diesen Wis­ sensvorrat durch die Berücksichtigung anderer Gruppen der Bevölkerung zu mehren und auch zu verändern. Im Mittelpunkt volkskundlichen Den­ kens und Forschens stehen die Kultur und Lebensweise breiter, d.h. vor allem mittlerer und unterer sozialer Schichten. Die Geschichtsschreibung

Göttingen 1806–1866. Göttingen 1990 (= Schriftenreihe der Volkskundlichen Kommission für Niedersachsen e.V., 5).

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der Stadt Göttingen aus der Perspektive eben dieser Schichten läßt bisher noch stark zu wünschen übrig. Mit diesem Vortrag möchte ich ansatzweise zeigen, wie sich durch die Veränderung der Perspektive das verordnete und affirmative kulturelle Bild einer Stadt verschiebt und wie dadurch andere Identitätskonkretheit oder Gruppenbezogenheit in den Blick kommt. Es geht uns also weniger um die markanten Ereignisse der Göttinger Stadthi­ storie und nicht ausschließlich um die gefeierten großen Persönlichkeiten, deren Namen Ihnen beim Stadtrundgang auf den berühmten Göttinger Gedenktafeln entgegengetreten sind,6 vielmehr um Ereignisse von margi­ naler Bedeutung und um die Ungenannten, unbekannten, die anonymen und gescheiterten Persönlichkeiten, deren Namen selten in den Annalen der Stadtgeschichtsschreibung oder auf den Gedenktafeln in Erscheinung treten. Es ist die Sicht des Volkskundlers auf seine Stadt, d.h. eine von vielen möglichen Perspektiven. Sie versucht, die gewohnte Sichtweise „von oben“ durch eine Anschauung „von unten“ zu ergänzen, Stadtgeschichte also „gegen den Strich zu bürsten“. Wir werden uns dabei aus Zeitgründen auf die Entwicklung Göttingens in den letzten 250 Jahren konzentrieren, jenen Zeitraum also, in dem Stadt- und Universitätsgeschichte parallel zu­ einander verlaufen, und wir beziehen Forschungsergebnisse mit ein, die in den letzten Jahren von den Absolventen unseres Faches zur Stadtvolks­ kunde erbracht worden sind. Dabei stellen wir besonders drei Problemfel­ der heraus, die heute wie vor zweieinhalb Jahrhunderten aktuell sind: Die Schicksale der nicht fest etablierten Universitätsmitglieder, den Anteil der Frauen und das Verhältnis der Universität zur Stadt. Das herausragende Ereignis in der jüngeren Stadtgeschichte ist die 1734 erfolgte Stiftung und die 1737 vorgenommene feierliche Eröffnung einer Universität, die nach ihrem Stifter, dem englischen König und han­ noverschen Kurfürsten Georg II. August Georgia Augusta genannt wird. Als Standort der neuen Hochschule wurde mit Göttingen eine unbedeutende kleine Provinzstadt ausersehen, die sich höchstens wegen ihrer zentralen Lage im Deutschen Reich eignete, ansonsten aber kaum weitere Vorteile bot, die sie zur künftigen Musenstadt prädestinierten. Kaum jemand an anderen Hochschulen im Reich kannte bis dahin den Namen der Stadt oder hätte sie auf der Landkarte lokalisieren können. Alles, was für eine funktionstüchtige Hohe Schule notwendig war, mußte erst geschaffen wer­ den. Das fing damit an, daß man die Stadt überhaupt erst einmal durch gezielte Wirtschaftsförderung und die Einleitung von Baumaßnahmen für die Aufnahme von wissenschaftlichen Institutionen, Professoren und

6

Vgl. Nissen, Walter: Göttinger Gedenktafeln. Ein biographischer Wegweiser. [Göttingen 1962]. Neudruck Göttingen 1975.

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Studenten herrichten mußte. Göttingen muß vor diesem Zeitpunkt einen etwas traurigen Eindruck gemacht haben: Im Baubestand herrschten viel­ fach heruntergekommene Fachwerkhäuser vor, die Hälfte von ihnen noch ohne Kamin, dazu·übel riechende Ställe in den Hinterhäusern und schlam­ mige, in Regenzeiten nahezu unpassierbare Straßen. Man muß sich einmal klarmachen, was über dieses etwas verschlafene, provinzielle Ackerbürger­ städtchen und seine damals ca. 5000 Einwohner innerhalb kurzer Frist alles hereinbrach: neue Steuern und Abgaben, um die Pläne der Regierung zu finanzieren, dazu Neubauten, die Renovierung der Altbauten, die Pflaste­ rung der Straßen, die Anlage von Bürgersteigen, eine neue Trinkwasserver­ sorgung, eine moderne Straßenbeleuchtung, Verbesserungen im Verkehrsund Postwesen, die Neugestaltung des Markt- und Ordnungswesens. Die einheimische Bevölkerung stand den Neuerungen skeptisch bis ablehnend gegenüber. Der alteingesessene Göttinger Bürger wird in den zeitgenössischen Quellen aus der Sicht der Professoren als ein unverständ­ liches Plattdeutsch sprechender, etwas starrköpfiger und fremdenfeindli­ cher Querulant eingestuft, der lieber auf seine gewohnte alte Weise – die „ole Wise“ – weiterleben wollte. „Herr Ohlewiesen“ tritt in der Literatur der Gründungsphase der Universität7 als Prototyp des rückständigen Ein­ heimischen entgegen, der ähnlich wie der Tübinger Weingärtner (Goge) von der Universität und ihren Angehörigen nicht viel Gutes erwartet und den Standpunkt vertritt: „Göttingen den Göttingern!“ Auf der anderen Seite wissen auch die neu nach Göttingen berufenen Professoren anfangs nicht viel Rühmliches über Herrn Ohlewiesen zu sagen. Der Philosoph Samuel Christian Hollmann, der erste im Jahre 1734 nach Göttingen beru­ fene Professor, beklagte denn auch die „Verunzierung der Stadt durch alte gothische Rauch-Nester“ und den „Mangel alles dessen, was zur mensch­ lichen Nothdurft und Bequemlichkeit unentbehrlich ist“.8 Das Haus in der Johannisstraße, das man ihm als Wohnung zuwies, erschien ihm als „Mördergrube“. Im Hinterhaus, in einem ehemaligen Kornlager, fand sich ein einziger Raum mit einem festen Estrich. Hier hielt er am 14.10.1734 seine erste Vorlesung. Dies waren die Anfänge der später viel gerühmten Georgia Augusta. Von Herrn Ohlewiesen und seinen Anverwandten geht die Kunde, sie seien bei Ankunft der ersten Frachtwagen der Professoren neugierig zusammengelaufen, weil sie dachten, jetzt würde die Universität ausgeladen.9 7 8 9

Vgl. Schmeling, Hans-Georg (Hg.): Göttingen im 18. Jahrhundert. Eine Stadt verändert ihr Gesicht. Texte und Materialien. Göttingen 1987, S. 48. Hollmann, Samuel Christian: Zufällige Gedanken über verschiedene wichtige Materien 1–6. Frankfurt a.M., Leipzig 1773ff., S. 101. Burhenne: Göttingen als Heimstätte der Georgia Augusta (wie Anm. 5), S. 18.

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Für den Gründer der Universität, Georg August, ging es zum einen um das Prestige, auf seinem Territorium eine eigene Hohe Schule zu besit­ zen, als Gegengewicht gegen die Universitäten in Halle und Marburg; zum anderen versprach er sich als merkantilistischer Wirtschaftspolitiker einen nicht geringen staatswirtschaftlichen Nutzen von der neuen Landesuniver­ sität mit Einnahmen in Höhe von 200.000 Talern jährlich. Deshalb sollten vor allem junge Adlige als Studierende nach Göttingen gelockt werden. Tatsächlich gehörten im 18. und 19. Jahrhundert zeitweise bis zu 10 % der Studierenden dem Adel an (z. B. Otto von Bismarck). Es ist bezeichnend, daß als erster markanter Universitätsneubau 1734 nicht etwa ein Auditori­ um, sondern ein Reitstall errichtet wurde. Die Universität hielt Einzug in das ehemalige Paulinerkloster, aus dem das bereits 1586 gegründete Göt­ tinger Gymnasium weichen mußte. Direkt gegenüber wurde ein Gasthaus, die sogenannte „Londonschänke“ eingerichtet. Die junge unbekannte Universität bedurfte der Reklame. Deshalb wurde der 1740 aus Nürnberg berufene Königl. Hof- und Universitäts­ kupferstecher Georg Daniel Heumann damit beauftragt, ein Album mit Ansichten der Stadt herzustellen, das durch kostenlose Verteilung im Reich Studierwillige auf die neugegründete Alma Mater aufmerksam machen sollte. Die Göttinger Stadtgeschichtsforschung ist sich mit der Kunstge­ schichte darin einig, daß in diesen zwölf Kupfern von 1746 ein topogra­ phisches unschätzbares Hauptwerk der Göttinger Universitätsgeschichte vorliegt.10 Die Bilder sind untrennbarer Teil des kulturellen Gedächtnisses der Stadt. Ganz anders dagegen erging es dem zweiten Hauptwerk Heu­ manns, seinem Göttingischen Ausruff oder Dei in Göttingen herüm schriende Lühe von 1744.11 Diese reizvolle Sammlung von 28 Radierungen mit Dar­ stellungen aus dem Göttinger Straßenleben und Straßenhandel, eines der frühesten deutschen Illustrationswerke zu den sogenannten Kaufrufen, ist dagegen lange Zeit kein Identiftkationsobjekt, keine „Erinnerungsfigur“12 der Göttinger Stadthistorie gewesen, weil eben hier nicht die Perspektive „von oben“ zur Anwendung gelangte, sondern die „von unten“, die des Herrn Ohlewiesen. Der Bannstrahl des Kunsthistorikers Otto Deneke13 traf dabei ein sozialgeschichtlich hochbedeutsames Dokument, das wie kaum eine andere zeitgenössische Quelle Einblicke in das Göttinger All­ tagsleben zur Zeit der Universitätsgründung eröffnet. Wir sehen gut beob­ 10 Heumann, Georg Daniel: Wahre Abbildung, Der Königl. Groß Britan. und Churfürstl. Braunschw. Lüneb: Stadt GÖTTINGEN. Göttingen 1746; Deneke, Otto: Göttinger Künstler. Göttingen 1934, S. 9. 11 Heumann, Georg Daniel: Der Göttingische Ausruff von 1744. Neu hg. und kommentiert von Brednich, Rolf Wilhelm. Göttingen 1987. 12 Assmann und Hölscher: Kultur und Gedächtnis (wie Anm. 1), S. 12. 13 Deneke: Göttinger Künstler (wie Anm. 10), S. 13.

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achtete und lebensecht gezeichnete Gestalten aus dem ambulanten Handel und dem Dienstleistungsangebot auf den Göttinger Straßen. Wir nehmen die durch die Errichtung einer Universität eingetretenen Veränderungen auf den Straßen und im Warenangebot wahr und besitzen in dem Ausruff überdies eine hervorragende Quelle zur historischen Kleidungs- und zur niederdeutschen Sprachforschung. Dem Volkskundler kommt die Aufga­ be zu, eine solche wertvolle Quelle zur Sozialgeschichte in das kulturelle Gedächtnis der Stadt einzufügen und dem bisher vorherrschenden ästheti­ schen Urteil eine volkskundliche Einschätzung entgegenzustellen. Deshalb ist diese Quelle zum Universitätsjubiläum 1987 als Neuausgabe vorgelegt worden, zum ersten Mal seit 1744. Heumanns Versuch, Stadt und Universität einander anzunähern und die akademischen Bürger über seine Kupferstiche für die „andere Kultur“ auf Göttingens Straßen zu interessieren, blieb Episode. Für die Univer­ sitätsangehörigen waren die Einheimischen gerade gut genug als Stiefel­ knechte, Fuhrleute, Hausmeister, Vermieter und Köchinnen; eine Koope­ ration zum Wohle des Gemeinwesens gab es nicht. Diese Trennung ist im Grunde bis heute geblieben: Die Göttinger Professoren wohnen im Ost­ viertel, das Gros der Studierenden in Wohnheimen oder auf ihren Verbin­ dungshäusern, Reste von Alt-Göttinger Identität gibt es vielleicht noch in wenigen Randbezirken, die übrigen Stadtbewohner werden entweder von dem Moloch Universität in Anspruch genommen, vereinnahmt, oder sie fühlen sich entrechtet. Der wohl in Marburg geprägte alte Satz „Göttingen hat eine Universität, Marburg ist eine Universität“ hat von daher gesehen noch immer seine Berechtigung.14 Wir wollen an einigen Beispielen ver­ deutlichen, wie stark die Universität sich als Mikrokosmos abkapselte, nicht nur von den Einheimischen, sondern auch von solchen, die gerne in den Rang eines Ordinarius aufgestiegen wären, denen aber einige Vorausset­ zungen dazu fehlten. Die Beispiele zeigen, wie schwer und dornenreich der Aufstieg innerhalb der universitätsinternen Hierarchie gewesen ist. Die Universitätsgeschichte ist bisher fast ausschließlich entlang der vielen be­ rühmten Namen geschrieben worden, die zeigen, daß das Konzept der neuen Hochschule durch erfolgreiche Berufungspolitik aufgegangen ist. Die Wissenschaftler lockte das Göttinger Modell: Wissenschaft und Auf­ klärung ohne Regionalisierung und Konfessionalisierung. Stellvertretend seien die Namen genannt von Albrecht von Haller (1708 bis 1777), dem die Stadt eine eigene reformierte Kirche errichtete,15 des Staatswissenschaft­ 14 Vgl. Bahrdt, Hans Paul: Göttingen hat oder ist eine Universität? In: Südniedersachsen. Zeit­ schrift für Heimatpflege und Kultur 15 (1987), S. 26–37. 15 Voigt, Christian: Unterhaltungsstoffe aus dem Geschichts- und Sagenkreise der Stadt Göt­ tingen. Göttingen 1882, S. 105f.

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lers Gottfried Achenwall (1719–1772), des Juristen Johann Stephan Pütter (1725–1807), des Historikers Johann Christian Gatterer (1727 bis 1799), des Philosophen Georg Christoph Lichtenberg (1742–1799), des Techno­ logen Johann Beckmann (1739–1811), des Mediziners Johann Friedrich Blumenbach (1752–1840). Wenn nach einem Göttinger Ondit der Mensch erst beim Ordinarius anfängt, dann gab es schon im 18. Jahrhundert an der Georgia Augusta viele Halbwesen, deren Namen von den Verwaltern des kulturellen Gedächtnisses der Universität selten oder nie genannt werden. Im Gegensatz zu den im Licht stehenden sind es – mit Brecht – die im Schatten, die es nie zu Berühmtheit brachten, die Erfolglosen, die Ver­ kannten, die Unterlegenen, die Gescheiterten. Ich möchte sie pauschal die „Privatdozenten“ nennen. Ihre Geschichte bleibt noch zu schreiben. Darin würde von sehr viel Not, Elend, Armut, von Unterwürfigkeit und Zurück­ setzung die Rede sein, und uns wird zugleich mit Schrecken bewußt, daß sich bis heute an diesem Zustand des akademischen Nachwuchses wenig geändert hat. Wenn Habilitation heute vielfach mit dem Eintritt in die Ar­ beitslosigkeit gleichgesetzt werden kann, so ist dies ein trauriges Zeichen dafür, daß es die Universität auch nach 250 Jahren offenbar nicht verstan­ den hat, das Problem der Fürsorge für die nachfolgende Gelehrtengenera­ tion und der Kontinuität der Forschung zu meistern. Ein Beispiel für das beklagenswerte Schicksal vieler Privatdozenten aus dem 18. Jahrhundert ist der Philosoph Michael Hissmann (1752–1784), der als Student aus Hermannstadt in Siebenbürgen nach Göttingen gekommen war und 1776 den Magistergrad erwarb. Die Gelehrtenlexika16 wissen, daß Hissmann 1782 an der Universität Göttingen außerordentlicher Professor der Weltweisheit (i.e. Philosophie) wurde und in wenigen Jahren ein bedeu­ tendes Opus an selbständigen Schriften und vielerlei Übersetzungen ver­ faßt hat. Was sie verschweigen, was uns aber die historischen Personalakten im Universitätsarchiv verraten, ist die Tatsache, daß Hissmann kostenlos las, später mit einem Hungerlohn von 100 Reichstalern jährlich abgespeist wurde und Bücher aus dem Französischen zu übersetzen gezwungen war, um zu überleben. Als die Regierung in Hannover auf dringendes Ersu­ chen der Universität 1784 Hissmann zum Professor ordinario ernannte und sein Salär verdoppelte, nutzte es ihm nichts mehr: Wenige Tage nach dem Eintreffen des königlichen Rescripts ist Hissmann in seiner Göttinger Dachkammer an Lungenschwindsucht gestorben. Ähnlich gelagerte Fälle treffen wir in jedem Jahrzehnt und in allen Fakultäten an. Ich wähle noch ein weiteres Beispiel aus unserer eigenen 16 Pütter, Johann Stephan: Versuch einer academischen Gelehrten-Geschichte von der GeorgAugustus-Universität zu Göttingen. Göttingen 1788, S. 64f.; Allgemeine Deutsche Biogra­ phie 12 (1888), S. 503.

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Fakultät, die Person des Geschichtsmalers Johann Dominicus Fiorillo (1748–1821), der als 33jähriger 1781 von Braunschweig als Universitätszei­ chenlehrer nach Göttingen kam. Von seiner Stellung her war er nur Uni­ versitäts-Verwandter, er rangierte weit hinter dem Reit- und Fechtlehrer zu­ sammen mit dem Universitäts-Schreibmeister auf der untersten Stufe der akademischen Hierarchie. Sein Ehrgeiz zielte aber dahin, in den Rang eines Universitätsprofessors aufzurücken. So profilierte er sich durch die Ein­ richtung einer Zeichnungsakademie (Academia del nudo) und durch die jahr­ zehntelange Fürsorge für das Kupferstichkabinett der Bibliothek, und er entfaltete eine eifrige Publikationstätigkeit, weil er von seiner Zeichenleh­ rertätigkeit allein seine Familie nicht ernähren konnte. Sein Kampf um eine Professur währte von 1781 bis 1814. Auch die Fürsprache seines Freundes und Gönners Christian Gottlob Heyne, des Direktors der Universitätsbi­ bliothek, konnte nichts ausrichten. Als Fiorillo 61 Jahre alt war und seine fünfbändige Geschichte der zeichnenden Künste abgeschlossen hatte, hoffte er noch immer vergebens auf die ordentliche Professur oder zumindest auf eine Gehaltsaufbesserung. Aber seine Herkunft aus dem Künstlertum war seiner Karriere abträglich, als ambitionierter Zeichenmeister paßte er nicht in das „hofrätliche Schema“17 der Göttinger Gelehrtenrepublik. Seine un­ terwürfigen Briefe an das Kuratorium zeigen, wie dieser bienenfleißige und begabte Wissenschaftler in der Franzosenzeit mit seiner Familie un­ verschuldet in immer größere Geldnot geriet. Schließlich war er 66 Jahre alt, als er endlich, endlich in den Rang eines Professors ordinarius erhoben und mit einem Gehalt von 400 Talern ausgestattet wurde, eine für damalige Verhältnisse noch immer minimale Summe. So mußte Fiorillo – den man später den „Vater der deutschen Kunstwissenschaft“ nennen sollte – auch in den folgenden Jahren als Bittsteller beim Kuratorium vorstellig werden. Seine Briefe sind ergreifende Dokumente von Gelehrtennot in Göttingen. Fiorillo brauchte ein Darlehen von 300 Talern, um überleben zu können, er erhielt es nach langem Warten; und ein gütiges Schicksal bewahrte ihn davor, daß er es zurückzahlen mußte: der Tod erlöste ihn 1821 von seinem schweren körperlichen Leiden. Wie eng im 18. Jahrhundert die Stadt Göttingen mit der Universität wirtschaftlich verflochten war, wie stark die Bürger auf die Einkünfte von den Universitätsangehörigen angewiesen waren, zeigt ein Vorfall aus dem Jahr 1790: der Auszug der Studenten in das Kerstlingeröder Feld. Ausgelöst hatte diesen ersten schweren Konflikt zwischen Bürgern und Studenten ein unwissender auswärtiger Tischlergeselle, der einen Göttinger Studen­

17 Vogt, Wilhelm: Fiorillos Kampf um die Professur. In: Beiträge zur Göttinger Bibliotheksund Gelehrtengeschichte. Göttingen 1928, S. 91–107, hier S. 10.

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ten, seines Zeichens ein Graf, bei seiner Ankunft in der Musenstadt um Auskunft gebeten hatte: „Kann Er mir nicht sagen, wo die Tischlerher­ berge ist?“ Die Antwort war eine Ohrfeige, denn es war verpönt, einen Studenten, zumal einen adligen, mit „Er“ zu titulieren. Der Geselle gab den Hieb zurück und erhielt Unterstützung aus der nahen Gesellenher­ berge; der Graf rief mit „Burschen heraus!“ seine Kommilitonen zu Hilfe. In der Nacht kam es zu Schlägereien und Unruhen, so daß die Northei­ mer Dragoner anrücken und den Streit schlichten mußten. Aus Protest gegen das Eingreifen des Militärs zogen über 700 Studenten in das Feld bei Kerstlingerode, wo sie in einem improvisierten Zeltlager campierten. Das Treiben währte drei Tage, während der die Göttinger Straßen wie leerge­ fegt gewesen sein sollen. Die Göttinger Bürger kamen als Bittsteller in das Lager, um die Studenten zur Rückkehr zu bewegen. Erst als Magistrat und Kuratorium zugesagt hatten, die Ausgezogenen mit Fackeln und Musik zu empfangen, kehrten die Studenten in die Stadt zurück. Die Göttinger jungen Damen sollen an diesem Abend Kerzen zur Beleuchtung bunter Transparente in die Fenster gestellt haben, auf denen zu lesen stand: „Weil ich ein Studentenmädchen bin, Setzt’ ich hier mein Lichtchen hin“ oder „O wie schätz’ ich glücklich mir, wohnte ein Stodente hier!“18 Es ist fast müßig zu betonen, daß die Göttinger Universität damals, schlimmer als heute, aber immer noch vergleichbar, eine Männergesell­ schaft gewesen ist. Umso erstaunlicher scheint es, daß in der Frühphase der Georgia Augusta die erste deutsche Frau den Titel einer „Doctorin der Philosophie“ errang: Madame Doctorin Schlözer.19 Wie schon der Name erkennen läßt, war sie durchaus nicht irgendjemand, sondern die Tochter eben des berühmten August Ludwig Schlözer (1735 bis 1809), gefeierten Professors der Staatswissenschaften und führenden Vertreters der Aufklä­ rung an der Reformuniversität Göttingen, eines hochprivilegierten Spit­ zenverdieners also. Seine erstgeborene Tochter Dorothea (*1770) nutzte er in der Kontroverse mit dem Pädagogen Johann Bernhard Basedow für ein Experiment. Er wollte beweisen, daß Frauen zu mehr geschaffen sind, als bloß dem Mann zu gefallen (J.J. Rousseau). Er brachte ihr schon im kindlichen Alter fünf lebende Fremdsprachen, dazu Plattdeutsch und La­ tein bei, unterrichtete sie in Geschichte, Religion und Naturwissenschaften, und nahm die eben Elfjährige 1782 auf eine Forschungsreise nach Italien mit. Sie lernte alle Haushaltsgeschäfte zu erledigen, Kunst, Literatur und alle sonstigen „empfindsamen“ Dinge hielt Vater Schlözer von ihr fern. 18 Vogt: Firillos Kampf um die Professur (wie Anm 18), S. 69–72; Burhenne: Göttingen als Heimstätte der Georgia Augusta (wie Anm. 5), S. 95. 19 Kern, Bärbel und Kern, Horst: Madame Doctorin Schlözer. Ein Familienleben in den Wi­ dersprüchen der Aufklärung. München 1988.

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Das mit despotischer Härte durchgeführte Experiment gipfelte im Jahre 1787: Nach abgeschlossener Ausbildung führte Schlözer die inzwischen 17jährige Tochter dem Dekan und zwei weiteren Professoren zu, die ihre Kenntnisse prüften und sie der Promotion zum Magister artium für würdig befanden. So wurde sie zur ersten Magistra der Philosophie in Deutschland (1755 war in Halle eine Frau zum Dr. med. promoviert worden), was im Sprachgebrauch der Zeit gleichbedeutend mit dem Dr. phil. war. Aber mit ihrer Promotion begannen die Probleme. Frauen galten im18. Jahrhundert als nicht eidesfähig, so daß Dorothea ihr Gelöbnis nur per Handschlag ab­ legte. An der Zeremonie in der Paulinerkirche, bei der die feierliche Prokla­ mation der neuen Doctores stattfand, durfte sie als Frau nicht teilnehmen. Durch eine zerbrochene Scheibe in der benachbarten Bibliothek konnte sie aber mit anhören, was in der Versammlung vorging. Mit ihrer Promotion war dieses pädagogische Experiment zu Ende. Schlözer hatte den Beweis dafür erbracht, daß auch Frauen unbegrenzt bildungsfähig seien. Die Kon­ sequenz daraus, seine Tochter zur Lehre und andere Töchter zum Unter­ richt an der Universität zuzulassen, zog damals noch niemand. Dorothea wurde 1792 an den verwitweten Lübecker Kaufmann Matthäus Rodde ver­ heiratet. Sie zog zu ihm in die Hansestadt, führte seinen Hausstand und stiftete in Lübeck viel Gutes. Wilhelm Friedrich August Mackensen, ein Student, der damals in Göttingen weilte und seine Erinnerungen an diese Zeit in kritisch-ironischen Bemerkungen in einem Büchlein festgehalten hat (Titel: Letztes Wort über Göttingen und seine Lehrer, 1791), beurteilte den Fall aus seiner Sicht kurz, bündig und frauenfeindlich: S[chlözer] mag wol den russischen Staat besser kenne, als die menschliche Natur, sonst würde er eingesehen haben, daß sich aus einem Frauenzimmer, aus guten physischen Gründen, nie etwas anders als eine gute Mutter ziehen läßt.20

Ein anderes Beispiel für das Geschlechterverhältnis und das Frauenbild des 18. Jahrhunderts führt uns zu Gottfried August Bürger (1747–1794), jenen Dichter zwischen Rokoko und Klassik, der uns als Autor der be­ rühmten Lenore-Ballade und der Abenteuer des Freiherrn von Münchhausen heute noch ein Begriff ist. In seinem Beruf als Amtmann und Richter in einem südlich von Göttingen im Gartetal gelegenen Gutsbezirk war Bürger als Jurist mehr oder weniger gescheitert. 1794 siedelte er nach Göttingen über und begann als Privatdozent über deutsche Sprache und Literatur, Geschichte, Ästhetik und Philosophie Vorlesungen zu halten, mit mäßigem Erfolg. Das hieß: Er war ohne festes Gehalt und abhängig 20 Mackensen, Wilhelm Friedrich August: Letztes Wort über Göttingen und seine Lehrer. Leipzig 1791. Neudruck Göttingen 1987, S. 75.

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von der Zahl seiner Hörer, die im Halbjahr fünf Taler zahlen mußten, Gra­ fen das Doppelte. Seine beiden ersten Frauen, die Schwestern Dorette und Molly Leonhard, waren 1784 und 1786 nacheinander gestorben. Bürger war Witwer und nicht mehr der Jüngste. In dieser Situation wünschte er sich eine Traumfrau, die alles in einem war: jung und sinnlich, „geschaffen zur Wollust“ mit einem „vollen, schön gewölbten Busen!“,21 eine schöne Seele, die den Mittelpunkt des häuslichen und gesellschaftlichen Lebens darstellen sollte, eine Mutter zur Versorgung seiner Kinder und dazu eine tüchtige Hausfrau, die ihm einiges Vermögen einbringen und aus seinen finanziellen Nöten befreien würde. Wir sehen, daß sich die Männerphan­ tasien von damals und heute nicht viel voneinander unterscheiden. Wie es der Privatdozent G. A. Bürger, ohnehin ein „Paradiesvogel“ unter den Göttinger Universitätslehrern, anstellte, eine solche multitalentierte „Ge­ liebte-Prokuristin-Kindergärtnerin-Putzfrau-Hure-Mutter-Haushälterin“22 zu bekommen, ist bekannt genug: Eine 20jährige Frau veröffentlicht 1789 in Stuttgart eine Hymne auf den 42jährigen Dichter, Bürger antwortet ge­ schmeichelt, es entspinnt sich ein Briefwechsel, Bürger trifft Elise Hahn, so heißt das Schwabenmädchen, verliebt sich, hält um ihre Hand an, heiratet sie, bringt sie nach Göttingen, hat ein Kind mit ihr. Aber die vermeintliche Romanze geht sehr schnell schief: Bürger fühlt sich von Elise bald vielfach vernachlässigt und betrogen, sie von ihm tyrannisiert. Als er sie schließlich in flagranti mit einem jungen Liebhaber ertappt, weist er sie aus seinem Haus und läßt sich scheiden. Im Scheidungsurteil vom 31. März 1792 wird der Beklagten „als dem schuldigen Theile zur Strafe untersagt, eine zwey­ te Verehelichung zu vollziehen“, sie wird ihres Brautschatzes für verlustig erklärt und zur Erstattung sämtlicher Kosten des Verfahrens verurteilt.23 Elise Hahn hat sich daran gehalten; sie ging zum Theater und wurde eine geachtete Schauspielerin. Bürger ist kurze Zeit nach diesem Abenteuer ge­ storben, in Elend, Hunger und Kummer, aber man macht es sich zu leicht, wenn man der leichtsinnigen und gefallsüchtigen Elise Hahn die Allein­ schuld daran aufbürdet. Sie hat in der Stadt der Spießer und Pfahlbürger für eine Sensation gesorgt und den alternden Dichter dem Gespött der Zeitgenossen ausgeliefert. Sie selbst ist an der Doppelrolle Salondame und Ehefrau gescheitert. An diesem Beispiel wird erneut deutlich, welche Rolle Frauen im Universitätsleben spielten: als schmückendes Beiwerk und Ku­ riosum. Elise Hahn ging ähnlich wie Dorothea Schlözer in die Annalen der Georgia Augusta ein nicht aufgrund ihrer Bildung (die sie besaß!), sondern 21 Pfister, Kurt: Frauenschicksale aus acht Jahrhunderten. München 1949, S. 234. 22 Kinder, Hermann (Hg.): Bürgers Liebe. Dokumente zu Elise Hahns und G. A. Bürgers unglücklichem Versuch, eine Ehe zu führen. Frankfurt a.M. 1981 (= Insel-Tb, 564), S. 157. 23 Ebd., S. 151.

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aufgrund ihrer Affären. Sie war das Negativbild dessen, was man von einer Gattin erwartete. Die Bildung, die Elise Hahn besaß, sie hat sie sich in ihrem Stuttgar­ ter Elternhaus selbst angeeignet. In Göttingen gab es zu ihrer Zeit und noch lange Zeit später keinerlei öffentliche Bildungseinrichtung für junge Mädchen. Sowohl die Universität als auch der städtische Magistrat standen entsprechenden Initiativen zur Einrichtung einer Schule für höhere Töch­ ter in einer heute kaum glaublichen Gleichgültigkeit und Arroganz ableh­ nend gegenüber. Da in den Töchterschulen weder künftige Beamte noch Soldaten herangebildet werden konnten, versprachen Investitionen für die Mädchenbildung keinen greifbaren Nutzen – und unterblieben. In den seit Beginn des 19. Jahrhunderts vorhandenen privaten Bildungseinrichtungen für höhere Töchter waren Religions- und Handarbeitsunterricht die Stütz­ pfeiler der Mädchenbildung. So dauerte es in der Universitätsstadt Göt­ tingen bis sage und schreibe zum Jahr 1866, ehe eine öffentliche Töchter­ schule eingerichtet wurde, im Vergleich mit anderen Städten fürwahr kein Ruhmesblatt für die Stadt.24 Aber der Vorgang wirft ein bezeichnendes Licht auf die konservative Struktur dieses Gemeinwesens. An der Universität bestand die traditionelle Chancenungleichheit im Verhältnis der Geschlechter, besser gesagt die Chancenlosigkeit des weib­ lichen Geschlechts noch lange fort. Von dem berühmten Göttinger Ger­ manisten Gustav Roethe ist bekannt, daß er noch um die letzte Jahrhun­ dertwende kein weibliches Wesen in seinen Kollegs duldete. Eine positive Ausnahmeerscheinung in dieser und anderer Hinsicht ist sein Kollege Moriz Heyne (1837–1906), der seit 1883 als Germanistik-Professor an der Georgia Augusta tätig war und als einer der ersten Göttinger Professo­ ren Damen zu seiner Vorlesung zuließ. Heyne stammte aus einer thürin­ gischen Handwerkerfamilie, und er berief sich auch gerne auf seine bür­ gerliche Herkunft. Das erklärt, warum er als Professor in Göttingen wie zuvor schon in Basel ein gutes Verhältnis zum einheimischen Bürgertum unterhielt. Heyne hat sich nicht nur durch seine mehrbändigen Deutschen Hausaltertümer25 einen Namen als einer der Väter der Volkskunde gemacht, sondern er hat sich auch bleibende Verdienste um die Stadt Göttingen er­ worben: 1889 – also vor genau 100 Jahren – durch die Errichtung einer „Städtischen Altertumssammlung“ (Heyne vermied den Begriff „Muse­ um“) und 1892 durch die Gründung des Städtischen Geschichtsvereins, beides mit dem erklärten Ziel, so Heyne, „den Bürgern und Einwohnern 24 Spieker: Bürgerliche Mädchen im 19. Jahrhundert (wie Anm. 5). 25 Heyne, Moriz: Fünf Bücher deutscher Hausaltertümer. Von den ältesten geschichtlichen Zeiten bis zum 16. Jahrhundert. Bd. 1–3. Leipzig 1899–1903. Bd. 4 aus dem Nachlaß, ebd. 1908, S. 1899ff.

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Göttingens historisches Verständnis für das Werden und Wachsen der Stadt und der Landschaft, ihres Lebens und ihrer Sitten zu erschließen, und dadurch Liebe zu ihr und Gemeinsinn zu pflanzen und zu pflegen“.26 Die Töne vom Gemeinsinn, die Heyne hier anschlägt, sind durchaus neu für Göttingen und zielen offensichtlich auf eine Annäherung von städtischem Bürgertum und Universität, die nach wie vor wenige Gemein­ samkeiten aufwiesen. Neben den Bürgern und Universitätsangehörigen gab es naturgemäß auch eine allerdings nach außen hin kaum hervortreten­ de städtische Unterschicht. Um 1860 wies Göttingen eine Einwohnerzahl von ca. 12.000 auf, die sich auf 2.718 Haushalte verteilte. Nach jüngeren sozialwissenschaftlichen Erhebungen lebten zum gleichen Zeitpunkt etwa 1.400 Haushalte oder 49,9% der Göttinger Bevölkerung am Rande oder unterhalb des Existenzminimums, d.h. die Angehörigen dieser Gruppe wa­ ren wegen Armut weitgehend von der Steuerzahlung befreit (und wurden deshalb aktenkundig!). Die Sozialtopographie des Stadtgebietes weist sie als Bewohner der großteils altersschwachen und baufälligen „Buden“ und Gartenhäuser entlang der Stadtmauer aus. Es ist wiederum bezeichnend, daß sich in dieser Gruppe von kleinen Handwerken, Alleinmeistern, Tage­ löhnern und Bediensteten stets auch ein größerer Prozentsatz an „Docto­ res“ befindet, Angehörige des universitären Mittelbaus und Privatgelehrte, die es zu keiner festen Anstellung gebracht hatten und in der Sozialstatistik zu den Stadtarmen gezählt wurden.27 Seit 1854, als Göttingen an die Nord-Süd-Trasse der Eisenbahn an­ geschlossen wurde, nimmt in der Statistik auch die Zahl der Eisenbahn­ arbeiter sprunghaft zu. In einer Stadt, die wirtschaftlich und kulturell sehr stark von der Universität geprägt war, sollte man annehmen, daß die Hoch­ schule zu allen Zeiten der größte Arbeitgeber war. Um 1900 stimmt diese Vermutung nicht mehr. Die größte Zahl an Beschäftigten wies bis zum Zweiten Weltkrieg das Reichsbahnausbesserungswerk auf, das 1855 im Westen der Stadt errichtet worden war. Keines der Universitätsgebäude kommt größenmäßig an die Dimensionen der sogenannten Lokrichthalle heran. Sie befindet sich heute im städtischen Besitz und steht leer. Über die künftige Nutzung des riesigen Areals (Atelier, Museum, Haus der Wis­ senschaft, Abriß?) besteht keine Einigkeit. Nach 1921 waren hier zeitweise 1700 Beschäftigte tätig, die den gewaltigen Dampflokomotivenpark der

26 Röhrbein, Waldemar: Moriz Heyne 1837–1906. Professor der Germanistik – Gründer des Städtischen Museums und des Geschichtsvereins in Göttingen. Eine biographische Skizze. In: Göttinger Jahrbuch 23 (1975), S. 171–200, S. 190 f. 27 Sachse, Wieland: Lebensverhältnisse und Lebensgestaltung der Unterschicht in Göttingen bis 1860. Ein Projektbericht. In: Conze, Werner und Engelhard, Ulrich (Hg.): Arbeiter­ existenz im 19. Jahrhundert. Stuttgart 1981 (= Industrielle Welt, 33), S. 19–45.

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Preußisch-Hessischen Staatseisenbahnen (des größten Arbeitgebers der Welt) instand hielten: eine „gewaltige Summe von Geist, Energie und kör­ perlicher Arbeit“.28 Die Dominanz der bürgerlichen Öffentlichkeit in der Universitätsstadt Göttingen hat zweifellos dazu beigetragen, daß die lokale Arbeiterkultur sich nur schwächer ausprägen konnte als in Städten vergleichbarer Grö­ ßenordnung mit fortgeschrittener industrieller Entwicklung. Trotzdem war das Eisenbahnausbesserungswerk im Göttinger Westen nach 1919 ein ge­ werkschaftlich sehr gut organisierter Betrieb. Im kulturellen Gedächtnis der Stadt spielen die Intensität und Vielfalt der in Göttingen entstandenen Arbeiterkultur jedoch eine eher untergeordnete Rolle und werden in den Darstellungen zur Geschichte der Stadt bisher kaum gewürdigt. Demgegen­ über bleibt aber festzuhalten, daß Göttingen nicht nur eine Stadt der Wis­ senschaft, der Forschung und Lehre, sondern auch eine Arbeiterstadt war29 und ist und daß Arbeiter darin eine relevante Rolle gespielt haben und noch immer spielen. Göttingen ohne Gänseliesel ist der etwas provozierende Titel ei­ ner jüngst erschienenen Buchpublikation zur Göttinger Stadtgeschichte, in der es Herausgeber und Mitarbeiter unternommen haben, der bürgerlichen Historiographie eine Darstellung aus der Sicht anderer gesellschaftlicher Gruppen der Stadt entgegenzusetzen und das kulturelle Gedächtnis der Stadt um den Wissensvorrat dieser anderen Sozialgruppenzu bereichern.30 Unser Blick auf die 250jährige Entwicklung des Nebeneinander und Miteinander (mehr Neben- als Miteinander!) von Stadt und Universität kann den Komplex „Göttingen unter dem Nationalsozialismus“31 nicht ausklammern. Mit der gebotenen Kürze müssen zumindest einige Schlag­ lichter auf die Universitätsgeschichte zwischen 1933 und 1945 geworfen werden. Wir können uns dabei auf ein 1987 erschienenes Buch stützen, in dem es vorwiegend jüngere Göttinger Wissenschaftler ohne offizielle Unterstützung durch die Universität unternommen haben, das „verdrängte Kapitel“ der 250jährigen Geschichte der Georgia Augusta zu schreiben.32 28 Siedbürger, Günter: Das Eisenbahnausbesserungswerk Göttingen. Studien zur historischen Arbeiterkulturforschung. Magisterarbeit. Göttingen 1989. 29 Vgl. Saldern, Adelheid von: Vom Einwohner zum Bürger. Zur Emanzipation der städti­ schen Unterschichten Göttingens 1890–1920. Eine sozial- und kommunalhistorische Un­ tersuchung. Berlin 1973. 30 Duwe, Cornelia und Gottschalk, Carola und Koerner, Marianne (Hg.): Göttingen ohne Gänseliesel. Texte und Bilder zur Stadtgeschichte. Gudensberg-Gleichen 1988. 31 Brinkmann, Jens-Uwe und Schmeling, Hans-Georg (Red.): Göttingen unterm Hakenkreuz. Nationalsozialistischer Alltag in einer deutschen Stadt. Texte und Materialien. Göttingen 1983. 32 Becker, Heinrich und Dahms, Hans-Joachim und Wegeler, Cornelia: Die Universität Göt­ tingen unter dem Nationalsozialismus. Das verdrängte Kapitel ihrer 250jährigen Geschich­ te. München u.a. 1987.

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Der Nationalsozialismus bricht danach keineswegs erst mit dem Jahr 1933 von außen über die Universität Göttingen herein. Im Gegenteil: stär­ ker als an anderen Hochschulen ist hier die ideologische Gleichschaltung bereits Jahre vorher von innen heraus betrieben worden, u.a. von dem nach dem Ersten Weltkrieg gegründeten „Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbund“ und der 1926 ins Leben gerufenen Hochschulgruppe des Na­ tionalsozialistischen Studentenbundes, in der der Chemiestudent Achim Gercke sein „Archiv für rassenkundliche Berufsstatistik“ und sein später so verhängnisvoll werdendes „Register sämtlicher Juden in Deutschland“ (den sogenannten „Semi-Kürschner“) anlegte. Das politische Profil der Universität Göttingen war stark rechtsgerichtet. Die mehrheitlich national­ konservativ gesinnten Mitglieder der Hochschule machten bei den Verfas­ sungsfeiern der Weimarer Republik kein Hehl aus ihrer Skepsis gegenüber der Demokratie und trauerten bei Reichsgründungsfeiern, Langemarck­ feiern, Sedanfesten, Anti-Versailles-Kundgebungen und Ostmarkhoch­ schulwochen dem Untergang des Wilhelminischen Kaiserreichs nach. Die Gesinnung der Mitglieder der Philosophischen Fakultät findet in der Tatsa­ che ihren beredten Ausdruck, daß sie bereits 1927 dem Schriftsteller Hans Grimm, einem der ideologischen Wegbereiter des nationalsozialistischen Imperialismus, für seinen Roman Volk ohne Raum (München 1926) die Eh­ rendoktorwürde verliehen. So gesehen stellen sich die nach der nationalsozialistischen Machter­ greifung im Januar 1933 einsetzenden Ereignisse nicht als Bruch mit der vorangegangenen Zeit, sondern als deren konsequente Weiterführung dar. Einen besonders günstigen Nährboden fand die politische Radikalisierung der Akademiker im Stand der außerordentlichen Professoren und Privat­ dozenten, der von der Weltwirtschaftskrise besonders empfindlich in Mit­ leidenschaft gezogen und von Arbeitslosigkeit und Verelendung betroffen war. Die Universität Göttingen hatte vor der Machtergreifung vor allem in den naturwissenschaftlichen Fächern Physik und Chemie sowie in der Ma­ thematik Weltgeltung. Mehrere Göttinger Wissenschaftler, u.a. der Physi­ ker James Frank und die Chemiker Richard Zsigmondy, Otto Wallach und Adolf Windaus, hatten in den 20er Jahren den Nobelpreis erhalten. Aber auch die Geisteswissenschaften genossen, z.B. durch die Tätigkeit des Hi­ storikers Karl Brandi, hohes internationales Ansehen. Noch immer war die Georgia Augusta eine reine Männerinstitution. Im Wintersemester 1932/33 befanden sich unter insgesamt 235 Hochschullehrern zwei Frauen. Nachdem der NS-Staat durch die Verkündung des „Gesetzes zur Wie­ derherstellung des Berufsbeamtentums“ die Grundlage für die Säuberung der Hochschulen von nichtarischen Beamten geschaffen hatte, setzte auch in Göttingen im Frühjahr 1933 die Umwälzung ein. Die Semesterferien

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waren zu diesem Zweck verlängert worden. Es paßte den Nazis allerdings nicht in den Kram, daß der jüdische Nobelpreisträger James Frank in der Göttinger Zeitung vom 18. April 1933 öffentlich gegen den Arierparagra­ phen des Gesetzes protestierte und den Rücktritt von seinem Lehrstuhl erklärte, was weltweites Aufsehen erregte. Aber das Verhängnis war nicht mehr aufzuhalten: Der gesetzlich legitimierte Rassenwahn führte im Sep­ tember 1933 zu den ersten elf Entlassungen, in der Folge kamen zahlreiche weitere Professoren der drohenden Amtsenthebung durch vorzeitige Eme­ ritierung oder Emigration zuvor. In einer zweiten Entlassungswelle zwi­ schen 1935 und 1938 wurden auch sämtliche sogenannten „Mischlinge“ ersten und zweiten Grades sowie die sogenannten „jüdisch Versippten“ von der Hochschule entfernt. Da unser Fach damals an der Georgia Augu­ sta noch nicht existierte und von den Säuberungen somit nicht betroffen war, möchte ich Sie wenigstens an einem Schicksal eines Göttinger Dozen­ ten Anteil nehmen lassen. Ich wähle dazu Dr. Bernhard Zimmermann (1886–1952), der als aka­ demischer Turn-und Sportlehrer wesentlichen Anteil daran hatte, daß die Leibesübungen als grundsätzlicher Bestandteil jeglicher studentischen Ausbildung und das Fach als wissenschaftliche Disziplin anerkannt wur­ den. Seit 1928 war Zimmermann erster Direktor des Göttinger Instituts für Leibesübungen (IfL). Durch die zweisemestrige Sportpflicht im Jahre 1933 erhielt das Fach weitere Aufwertung. Die persönliche Tragik Zim­ mermanns bestand darin, daß er mit einer Jüdin verheiratet war. Das Un­ heil über ihm zog sich 1937 zusammen. In diesem Jahr feierte die Georgia Augusta ihr 200. Bestehen. In die Feierlichkeiten zu diesem Anlaß waren auch die Deutschen Hochschulmeisterschaften und die Einweihung der neuen zentralen Hochschulsportanlage, das Lebenswerk Zimmermanns, eingegliedert. Die Anlage sollte – ein Jahr nach den Olympischen Spie­ len in Berlin – den hohen Stellenwert des Sports in der NS-Gesellschaft demonstrieren. Zur Einweihung war die gesamte Naziprominenz vertre­ ten, und für Bernhard Zimmermann sollte dieser Tag zum Höhepunkt der beruflichen Karriere und zum Tag der öffentlichen Anerkennung seiner unermüdlichen Aufbauleistung werden. Am Vortag der Feiern erfuhr er, daß er als „jüdisch Versippter“ sofort seine Pensionierung zu beantragen habe, andernfalls müsse er zwangsweise in den Ruhestand versetzt werden. Zimmermann hielt am nächsten Tag die Rede zur Einweihung seines Lebenswerkes und erhielt aus der Hand des Architekten die Schlüssel zu seinem neuen Institut, in dem fürchterlichen Bewußtsein, daß seine Entfernung aus dem Dienst längst beschlossene Sa­ che war. Er kam den Zwangsmaßnahmen zuvor und ließ sich unter Vor­ schützung gesundheitlicher Gründe pensionieren. 1938 emigrierte er nach Schottland. Die Bemühungen der Universität, ihn nach der 1946 erfolgten

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Rehabilitierung nach Göttingen zurückzuholen, schlugen fehl; Zimmer­ mann ist 1952 in Oxford einem Herzleiden erlegen. Eine Gedenktafel und ein Straße zum neuen Institut für Leibesübungen erinnern an dieses pro­ minente Opfer faschistischer Hochschulpolitik.33 Der Aderlaß, den die Universität insgesamt in dieser Zeit erlitt, war ge­ waltig. Insgesamt 79 Wissenschaftler – Professoren und Dozenten – wur­ den aus rassischen oder politischen Gründen aus ihren Ämtern entfernt; besonders dramatisch waren die Naturwissenschaften betroffen. In diesen Fächern kam die Forschung praktisch zum Erliegen. Und was unter der Naziherrschaft auf die vakanten Stellen an Ersatz berufen wurde, spottete teilweise jeder Beschreibung. Im Jahre 1938 erhielt die Georgia Augusta im Zusammenhang mit der Einführung des Volkskunde-Pflichtstudiums für Lehramtskandidaten auch ihr „Seminar für deutsche Volkskunde“. Die Berufung des nichtpromo­ vierten und nichthabilitierten Theologen Eugen Mattiat aus Berlin auf die neu eingerichtete Professur gehört in die lange Reihe der schlimmen De­ mütigungen, die die Universität im Dritten Reich hinnehmen mußte. Der Skandal wurde nur durch die Tatsache gemildert, daß der Neuberufene sich zur Einarbeitung in seine neue Aufgabe zunächst einmal beurlauben ließ und seine Einberufung zu Kriegsbeginn 1939 Schlimmeres verhinder­ te. Den 50. Jahrestag der Gründung unseres Seminars im vergangenen Jahr haben wir mit Stillschweigen übergangen. Die Wiedereröffnung des Semi­ nars im Jahre 1946 und die Wiederbesetzung des Lehrstuhls mit Will-Erich Peuckert werden die zahlreichen Peuckert-Schüler demnächst mit einem Traditionstreffen in Göttingen begehen: mit gutem Recht, denn Peuckert – schon in den 30er Jahren Verfasser einer ersten Volkskunde des Proletariats34 – hat für die internationale Rehabilitation des Faches Volkskunde in der Nachkriegszeit außerordentlich viel getan. Die Stadt Göttingen hat den Krieg nahezu unbeschadet überstanden, Hörsäle, Labors und Institute waren unzerstört geblieben, so daß Göt­ tingen als erste deutsche Universität schon im September 1945 den Lehr­ betrieb wieder aufnehmen konnte. Karl Brandi hatte im Wintersemester 1944/45 Mittelalter I gelesen, im Wintersemester 1945/46 setzte er mit Mittelalter II fort. Die verbliebenen Mitglieder der Göttinger Gelehrten­ republik schüttelten sich kurz und taten anschließend so, als ob sie die 33 Vgl. Buss, Wolfgang: Rassenideologie versus Fachkompetenz. Die erzwungene „Zur-Ru­ hesetzung“ des ersten Göttinger IfL-Direktors Dr. Bernhard Zimmermann aus rassischen Gründen 1937. In: Dieckmann, Rolf (Hg.): Sportpraxis und Sportwissenschaft. Festschrift für Wilhelm Henze. Schorndorf ca. 1980, S. 13–39; Buss, Wolfgang (Hg.): Sport und Sport­ wissenschaft an der Universität Göttingen. Göttingen 1987 (= Göttinger Universitätsschrif­ ten, Serie A, 9). 34 Peuckert, Will-Erich: Volkskunde des Proletariats. Frankfurt a.M. 1931.

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vorangegangenen zwölf Jahre nichts mehr angingen. Ein besonders trauri­ ges Kapitel der Nachkriegsgeschichte unserer Hochschule stellt es dar, daß die Universität die Rehabilitierung und Rückberufung der Vertriebenen nur mit halbem Herzen und vielfach auch nur auf Drängen der britischen Militärbehörden betrieben hat. Nur drei der entlassenen und emigrierten Mitglieder des Lehrkörpers kehrten zurück. Erst im Jahr 1989 hat es die Universität Göttingen fertig gebracht, in ihrer Aula eine Gedenktafel mit den Namen von 50 vertriebenen jüdischen Wissenschaftlern zu errichten, zum Zeichen daß „wir […] nicht verdrängen und auch nicht vergessen wollen“ wie der Universitätspräsident Norbert Kamp in seiner Ansprache sagte.35 Die Tatsache, daß man die Vorgänge 44 Jahre lang mit Schweigen übergangen hat und daß die vom Exodus Betroffenen daraus möglicher­ weise Zustimmung ablesen konnten, ist damit allerdings nicht aus der Welt geschafft. Das Gedächtnis einer Stadt, das kommunikative sowohl als auch das kulturelle, stellt sich uns als ein recht problematischer Besitz dar. Es kann uns offenbar in sehr unterschiedlichen Fassungen und Formen entgegen­ treten. Das Gedächtnis einer Stadt zu verwalten und zu mehren, ist eine sehr schwierige Kunst. Der Volkskundler wird bei dieser Aufgabe auf viele Gedächtnislücken und empfindliche Stellen aufmerksam werden. Die Zeit, so sagt der Volksmund, heilt viele Wunden. Siegfried Lenz hat im April 1989 anläßlich der Verleihung des Literaturpreises der Heinz-GalinskiStiftung dem entgegengehalten: „Die Zeit heilt keineswegs alle Wunden. Sie entrückt vielleicht oder beschwichtigt sogar, doch heilen kann sie sie nicht. Es gibt einen singulären Schmerz, der nie aus der Welt kommt, Er­ fahrungen und Wunden, die für immer bleiben.“ Und fast so, als ob er die Aufgabe von uns Volkskundlern zu beschreiben hätte, fährt er fort: Gedächtnisarbeit: das ist Suche und Befragung und Aneignung. Wir eignen uns das Vergangene an – auf welche Probe es uns auch stellt. Gedächtnisarbeit: das heißt auch bekennen, urteilen und für die Gegenwart handeln. Wir müssen bereit sein dazu, denn nur wer handelt, kann hoffen.36

35 Kamp, Norbert: Exodus Professorum. Akademische Feier zur Enthüllung einer Ehrentafel für die zwischen 1933 und 1945 entlassenen und vertriebenen Professoren und Dozenten der Georgia Augusta am 18. April 1989. Göttingen 1989 (= Göttinger Universitätsreden, 86), S. 11. 36 Lenz, Siegfried: Der unendliche Raum des Gedächtnisses. In: DIE ZEIT, Nr. 19 (5.5.1989), S. 56.

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Der Volksliedforscher Ludwig Uhland* Allgemeines Im öffentlichen Bewußtsein lebt der Name von Ludwig Uhland heute vor al­lem weiter als Dichter und Dramatiker, als Angehöriger des schwä­ bischen Ro­mantikerkreises, allenfalls auch als Politiker, als Abgeordneter der Frankfurter Paulskirche und des Stuttgarter Landtags. Der Gelehrte Ludwig Uhland, der Germanistikprofessor, der Sagenforscher und insbe­ sondere der Volksliedfor­scher Uhland ist darüber fast in Vergessenheit ge­ raten, zu Unrecht, wie wir hinzufügen dürfen. Die Tübinger Vortragsreihe zu seinem 200. Geburtstag gibt die willkommene Gelegenheit, Uhlands Bedeutung für die Geschichte der deutschen Volksliedforschung zu über­ denken und den Liedforscher Uhland ins Gedächtnis der Heutigen zurück­ zurufen. Wer Uhland als Kenner und Erforscher des deutschen Volksliedes wür­ digen möchte, kommt nicht umhin, zur Einstimmung daran zu erinnern, daß be­reits der junge Uhland mit einigen seiner frühen Lieder den Ton des Volkslie­des vollendet getroffen hat. Das unvergängliche Gedicht auf die „Wurmlinger“ (Droben stehet die Kapelle)1 ist selbst zum Volkslied gewor­ den, ebenso wie das Lied vom Guten Kameraden;2 und das Gedicht Einkehr hat sich sogar in amerikanischen Volksliedausgaben einen Stammplatz er­ obert.3 Wie populär seine Lieder schon zu seinen Lebzeiten gewesen sind, vermag eine hübsche Anekdote zu verdeutlichen, die Uhland im Jahre 1847 Hoffmann von Fallers­leben anläßlich dessen Besuchs in Tübingen erzählt hat: Handwerksburschen sangen einst: „Ich hatt einen Kameraden“. Als

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Erstveröffentlichung in: Bausinger, Hermann (Hg.): Ludwig Uhland. Dichter. Politiker. Ge­ lehrter. Tübingen 1988, S. 183–200. Erstveröffentlichung in Seckendorf, Leo Frh. von (Hg.): Musenalmanach für das Jahr 1807. Regensburg 1807, S. 144ff., Nr. 11. Polheim, Karl: Zum Problem des Zersingens. In: Lied und Brauch. Festgabe für Anton Anderluh. Klagenfurt 1956 (= Kärtner Museumsschriften, 8), S. 54–66. Seemann, Erich: Uhlands „Einkehr“ als amerikanisches Volkslied. In: Zeitschrift für Volks­ kunde 53 (1956), S. 176–183.

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sie näher kamen, sang der eine, als er Uhland erkannte, mit der Bewegung eines Armes zu ihm hindeutend: „Als wär’s ein Stück von Dir!“4 Wir wollen in diesem Vortrag den Weg des schwäbischen Dichters vom Volksliedenthusiasten und Volkslieddichter zum Volksliedforscher verfol­ gen. Und um es vorweg zu nehmen: Wir sehen in dem Dichter Uhland und in dem Ge­lehrten Uhland nicht zwei unterschiedliche Persönlichkei­ ten, sondern er­blicken in seiner Zuneigung zur Volkspoesie einen beherr­ schenden Grundzug seines Wesens und Schaffens, der aus der deutschen Romantik erwächst und von ihr wesentliche Impulse erhält. Die Frage also, ob Uhland „als Gelehrter mehr Romantiker war denn als Mensch und als Dichter“,5 stellt sich uns so nicht. Für uns gehören seine frühen Äuße­ rungen zum Volkslied, seine jugend­lichen Versuche, im Volksliedton zu dichten und damit zur Erneuerung der altdeutschen Dichtung beizutragen, und schließlich seine editorischen Bemü­hungen um die alten hoch- und niederdeutschen Volkslieder in seiner späte­ren Lebensphase untrennbar zusammen. Seine Arbeiten zum Volkslied vor al­lem berechtigen uns auch, Uhland zu den Wegbereitern der deutschen Volks­kunde im 19. Jahrhundert zu zählen. Das Tübinger Volkskunde-Institut trägt mit Recht seinen Na­ men. Aber es ist wichtig, daran zu erinnern, daß Uhlands volkskundliche Beiträge sich nicht in seiner Schwäbischen Sagenkunde er­schöpfen. Der Volks­ liedforscher Uhland verdient es nicht, neben dem Sagen­forscher Uhland gering geachtet zu werden, und meine Laudatio soll daran mitwirken, ein wesentliches Teilgebiet des Uhlandschen Denkens und Schaf­fens ins Ge­ dächtnis zurückzurufen. Noch 1964 heißt es z.B. in einer volks­kundlichen Würdigung Uhlands: „er ist Sagenforscher, und sein eigentliches volks­ kundliches Werk ist die Schwäbische Sagenkunde“.6 Wir möchten die Alten hoch- und niederdeutschen Volkslieder als zweites spezifisch volks­kundliches Hauptwerk danebenstellen.

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Schoof, Wilhelm: Uhland und Hoffmann von Fallersleben. Ein Gedenkwort zu Uhlands 100. Todestag (13. Nov. 1862). In: Heimatland. Zeitschrift für Heimatkunde, Naturschutz, Kulturpflege (1962), S. 211–212, hier S. 212. 5 Moser, Hugo: Uhlands Schwäbische Sagenkunde. Tübingen 1950 (= Schwäbische Beiträge zu Philo­logie und Volkskunde, 1), S. 37. 6 Moser, Hugo: Ludwig Uhland 1787–1862. In: Zur Geschichte von Volkskunde und Mundartforschung in Württemberg. Helmut Dölker zum 60. Geburtstag. Tübingen 1964 (= Volks­leben, 5), S. 66–79, hier S. 66.

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Uhlands romantisches Interesse am Volkslied Uhlands Interesse an Volkslied und Volksdichtung läßt sich bis in seine Tü­ binger Schüler- und Studentenzeit am Anfang des vorigen Jahrhunderts zu­ rückverfolgen. Die entscheidende Richtung erfährt dieses Interesse in den Jahren 1804/05 durch die Bildung des ersten Tübinger Romantikerkreises, dem neben Uhland u.a. Justinus Kerner und Christoph Friedrich Koelle an­gehörten. Die gemeinsame Begeisterung für die altdeutsche Literatur und Volksdichtung gipfelt in einer Art Wunderhorn-Kult, der 1805 durch das Er­scheinen des ersten Bandes von Des Knaben Wunderhorn ausgelöst wird. Be­sonders deutlich wird dies bei dem Uhland-Freund Justinus Ker­ ner, der jede einzelne Zeile des Wunderhorns kannte und das Gesamtwerk geradezu glü­hend verehrte. In seinem Werk Die Reiseschatten tritt Kerner selbst als der Balladendichter „Kullikeia“ auf, eine unverkennbare Anspie­ lung auf das Schwabenspottlied im Wunderhorn Bd. I, S. 328, mit seinem Refrain „Mit der kleinen Killikeia, Mit der großen Kum Kum“.7 Die Tübin­ ger Romantiker be­nannten eines ihrer Stammlokale, das „Waldhörnle“, in „Wunderhorn“ um,8 bei ihren Zusammenkünften tauschten sie ihre Lektü­ reerfahrungen aus und trugen ihre Versuche vor, im Stil des Wunderhorns zu dichten. Ihr erstes gemeinsames Mitteilungsblatt, das handschriftlich verbreitete Sonntagsblatt für gebildete Stände schöpft sein Motto „Die Blume sprießt ...“ aus dem Wun­derhorn (I, 161), und Uhland nennt Kerner, der sich allen Ernstes mit dem Plan einer Fortsetzung des Wunderhornes trug, in der scherzhaften Vorrede einen „Wunderhornisten“.9 Sowohl Uhland als auch Kerner beherzigen den Aufruf der Wunderhorn-Herausgeber zur Einsendung von geeigneten Materia­lien für die geplanten Folgebände der Liedersammlung. Kerner glückte es auf diesem Weg sogar, mit seinem Icarus-Gedicht („Mir träumt, ich flög gar bange ...“) ein Eigengewächs in den zweiten Band des Wunderhorns (II, 161) einzuschmuggeln, während es dem 19jährigen Uhland nicht gelang, seine durch Vermittlung Koelles an Cle­ mens Brentano gesandten 10 Aufzeichnungen im Wunderhorn zu plazieren. Daß Uhland dennoch mit zwei wichtigen Volksliedaufzeichnungen im Wun­derhorn vertreten ist, hängt damit zusammen, daß Arnim und Bren­ tano diese Texte aus einer anderen Quelle nachdruckten. Uhland hatte im Jahre 1806 eine längere Fußreise durch die Schweiz unternommen. Als er sich bei einem Schuhmacher namens Huber in Meiringen im Haslithal 7 8 9

Rölleke, Heinz: Justinus Kerner, Ludwig Uhland und ‚Des Knaben Wunderhorn‘. In: Schir­ mer, Karl-Heinz und Sowinski, Bernhard (Hg.): Zeiten und Formen in Sprache und Dich­ tung. Festschrift Fritz Tschirsch. Köln, Wien 1972, S. 278–289, hier S. 278 f. Froeschle, Hartmut: Ludwig Uhland und die Romantik. Köln, Wien 1973, S. 48. Rölleke: Justinus Kerner, Ludwig Uhland (wie Anm. 7), S. 279.

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die Stiefel sohlen ließ, glückte es ihm, so schreibt seine Witwe Emma Uh­ land später, „noch zwei alte Balladen zu erhaschen, die in Seckendorfs Almanach abgedruckt wurden. Er schickte dem Schuhmacher als Gegen­ geschenk Schillers Wilhelm Tell“.10 Die naheliegende Vermutung, Uhland habe die beiden Balladen – zwei Va­rianten zu Graf Friedrich und Die wiedergefundene Königstochter (Südeli)11 – nach mündlicher Überlieferung gesammelt, muß allerdings schon hier widerlegt werden. Uhland hat die beiden Lieder aus einem Sammelband fliegender Blätter aus dem Besitz des Meiringer Schusters abgeschrieben.12 Schon diese erste Begegnung mit Volkspoesie draußen im Feld ist kennzeich­nend für Uhlands lebenslang maßgebende Haltung zum Volkslied: Das Volk ist für ihn nicht mehr Träger jener ge­ suchten Überlieferungen, aus denen man die Geschichte der Poesie der Vorzeit wiedererwecken will; im Volksmund le­ben solche Erinnerungen nach Uhlands Vorstellung nur noch entstellt und verderbt weiter. Die wah­ ren Schätze liegen nach seiner Meinung in Bibliothe­ken und Archiven, in alten Handschriften und frühen Drucken beschlossen. Wenn Uhland in der zweiten Hälfte der 30er Jahre auf seine Ideen zur Samm­lung und Her­ ausgabe der alten deutschen Volkslieder zurückkommt, kann er an seine ersten Begegnungen mit Volksliedern in alten Quellen anknüpfen.13 Die volkskundliche Feldforschung dagegen, die das Volkslied dort aufsucht, wo es lebt und sich entfaltet, war nie Uhlands Sache. Die beiden ersten in Meiringen gesammelten historischen Balladentex­ te hat der Dichter in Leo Frh. von Seckendorfs Musenalmanach für das Jahr 1808 veröffentlicht, in dessen Jg. 1807 zuvor auch seine ersten Gedichte das Licht der Welt erblickt hatten. Von hier gelangten die Balladen im glei­ chen Jahr in das Wunderhorn. Im brieflichen Kontakt zu dem Herausgeber Seckendorf äußert Uhland zum ersten Mal seine Gedanken zur Wieder­ belebung der poeti­schen Vorzeit, er beklagt den Mangel an „vaterländi­ scher Mythologie“ und vertritt den Standpunkt, gerade in der Gegenwart käme es darauf an, „zu retten was noch zu retten ist“.14 Natürlich gäbe es auch aus der „verschütteten Vorwelt“ viele Stücke von geringerem Wert. 10 Uhland, Emilie: Ludwig Uhlands Leben. Stuttgart 1874, S. 25. 11 Meier, John u.a. (Hg.): Deutsche Volkslieder mit ihren Melodien. Bd. 2. Berlin 1939, Nr. 48; Bd. 3, 1959, Nr. 72; Uhland, Ludwig: Alte hoch- und niederdeutsche Volkslieder mit Abhandlungen und Anmerkungen, Bd. 3/1: Abhandlungen über die deutschen Volkslieder. 3/2: Anmer­kungen zu den Volksliedern. Nachdruck der Ausgaben Stuttgart 1866–1869. Hildes­heim 1968. Hier Bd. 1, Nr. 122/121. 12 Schneider, Hermann: Uhland. Leben, Dichtung, Forschung. Berlin 1920 (= Geisteshelden, 69–70), S. 76. 13 Hier befinde ich mich im Gegensatz zu Hermann Schneider, der meinte, von der roman­ tischen Volksliedbegeisterung führe keine gerade Linie zu den Bestrebun­gen der 30er und 40er Jahre. Vgl. Schneider: Uhland (wie Anm. 12), S. 387. 14 Ludwig Uhlands Leben (wie Anm. 10), S. 28.

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Uhland kommt in diesem Brief auch auf das Wunderhorn zu sprechen und nimmt dessen Herausgeber vor ihren Kritikern in Schutz, wenn er schreibt: „So sind z.B. in dem werthen Bande: Des Knaben Wunderhorn auch sehr mittelmäßige oder unvollständige Lieder. Solche, die das Buch flüchtig durchblättern und solche einzelnen Stücke lesen, rufen aus: Was soll das? Dem aber, der in den ganzen Cyklus der altdeutschen Poesie eingeweiht sein möchte, werden auch diese geringen Reste nicht gleichgültig sein, sie werden ihm zur Erklärung des Kostbaren und in Hinsicht auf das Ganze manchen Nutzen versprechen. Man rette lieber zu viel als zu wenig!“15 Daß die Begegnung mit dem Wunderhorn im dichterischen Schaffen Uhlands deutliche Spuren hinterlassen hat, ist in der Forschung immer wieder heraus­gestellt worden, wenn auch im einzelnen umstritten.16 Der Einfluß des Wun­derhorns auf Uhland reicht jedoch tiefer und weiter. Als be­ redtes Zeugnis da­für können wir das 1807 entstandene Gedicht Die Lieder der Vorzeit ins Feld führen, das Ludwig Achim von Arnim 1819 als Gruß eines „lieben Unbekann­ten“ in seine Zweite Nachschrift an den Leser in die Neuauflage des Wunder­horns aufnahm:17 es ist quasi ein Programm, bis zu dessen Verwirklichung noch viele Jahre vergehen sollten. Der Volksliedforscher Ludwig Uhland Nach 1810 wird es still um das Volkslied bei Uhland. Andere Dichtungsgat­ tungen und andere berufliche und politische Pflichten lassen die Beschäfti­ gung mit Volkspoesie ganz in den Hintergrund treten. Nur ab und zu blitzt die alte Begeisterung für Vorzeit und Volkstum kurz auf. Erst der 1830 als Professor für deutsche Sprache und Literatur an die Tübinger Universität zu­r ückkehrende Uhland war nach langer Abstinenz erneut veranlaßt, über die deutsche Volksdichtung nachzudenken, zumal er sein erstes akademi­ sches Se­mester mit einem Kolleg über Geschichte der Altdeutschen Literatur eröffne­te. Das altdeutsche Volkslied war nach Uhlands Auffassung integra­

15 Hartmann, Julius (Hg.): Uhlands Briefwechsel. 4 Bde. Stuttgart, Berlin 1911–16. Bd. 1, S. 14 (an Seckendorf, Tübingen, Ende 1806) 16 Schults, Hermann: Der Einfluß des Volksliedes und der älteren Dichtung auf die Uhland­ sche Poesie. In: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literatur 64 (1880), S.  11–24; Schneider, Hermann: Uhlands Gedichte und das deutsche Mittelalter. Berlin 1920 (= Palaestra, 134); Burger, Heinz Otto: Schwäbische Romantik. Studie zur Charakte­ ristik des Uhlandkreises. Stuttgart 1928 (= Tübinger Germanistische Arbei­ten, 6), S. 100; Froeschle: Ludwig Uhland (wie Anm. 8), S. 61ff. 17 Rölleke, Heinz (Hg.): Des Knaben Wunderhorn. Alte deutsche Lieder. Gesam­melt von Ludwig Achim von Arnim und Clemens Brentano II. III. Stuttgart u.a. 1977 (= Cle­mens Brentano: Sämtliche Werke und Briefe, 8), S. 372f.

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ler Be­standteil dieser altdeutschen Literatur, und wie sehr mußte es da der Germa­nist bedauern, daß die deutsche Forschung trotz der gewaltigen ro­ mantischen Volksliedbegeisterung noch immer nicht ihren „deutschen Per­ cy“ gefunden hatte. In bezug auf den editorischen Standard bildete noch immer das drei­bändige Wunderhorn in Deutschland das letzte Wort. Zwar waren inzwi­schen einige regionale Volksliedsammlungen erschienen,18 von denen aber keine den Rang einer verläßlichen Quelle altdeutscher Poesie für sich in An­spruch nehmen konnte. Eine umfassende deutsche Volks­ liedausgabe wurde von Uhland wie von vielen seiner Zeitgenossen als na­ tionales Desiderat emp­funden. Die gesamte Gelehrtenwelt wartete voller Spannung auf die immer wieder angekündigte und immer wieder verscho­ bene Edition des Berliner Germanisten und Bibliophilen Gregor Frhr. von Meusebach, der über alle notwen­digen Quellen verfügte, aber nie eine Zei­ le daraus veröffentlichte. Durch seine Berufung nach Tübingen sah sich Uhland nun selbst in den Stand versetzt, „wo auch ich zur Wiederbelebung unserer poetischen Vorzeit mein Geringes beitragen könnte“ (wie er es in einem Brief an L. v. Seckendorf bereits 1806 erhofft hatte).19 Mitte der 30er Jahre gewinnt die Idee eines größeren Volksliedwerkes immer schärfere Konturen. Diese Pläne bedingen auch einen endgültigen Abschied von der romantischen Erneuerungsbegeisterung und der enthu­ siastischen Hal­tung zum Wunderhorn. Von dieser Quelle heißt es jetzt (am 24.12.1836 in einem Brief an Dr. Böhmer in Frankfurt): „das Wunderhorn hat seiner Zeit überaus anregend gewirkt, allein den Wenigen, welche die Neigung für diese alten Lieder nachhaltig bewahrt haben, muß es angelegen sein, was dort er­neuert und ergänzt ist, in seiner ursprünglichen Gestalt zu constatiren“.20 Mehr und mehr wächst Uhland in die Rolle hinein, dem deutschen Volk die langersehnte, gültige Ausgabe seiner Volksdichtung zu verschaffen. Die Vor­bedingung dafür war bei Uhland gegeben: Der Wan­ del vom subjektiven, frei nachschaffenden Umgang mit dem Volksliederbe zu einer objektiv beschrei­benden und wiederherstellenden Darbietung der Vorzeitdichtung war einge­treten, ohne daß die „Intensität der gefühlsmä­ ßigen Erfassung“21 darunter ge­litten hätte. Sein Ziel hatte Uhland aber sehr hoch gesteckt. Ihm schwebte nicht nur eine quellenkritische Sammlung der besten altdeutschen Lieder, sondern eine Ge­samtdarstellung der deutschen Liederdichtung von den Anfängen

18 Z.B. Meinert, Joseph Georg: Alte teutsche Volkslieder in der Mundart des Kuhländchens. Wien, Hamburg 1817; Ziska, Franz und Schottky, Julius: Oesterreichische Volkslieder mit ihren Singweisen. Pesth 1819. 19 Briefwechsel (wie Anm. 15), Bd. 1, S. 14. 20 Ludwig Uhlands Leben (wie Anm. 10), S. 281. 21 Burger: Schwäbische Romantik (wie Anm. 16), S. 104.

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bis ins 16. Jahrhundert und zusätzlich eine Einzelkommentierung aller in Frage kom­menden Liedtexte vor. Dieser umfassende Plan wird zum ersten Mal 1835 in einem Brief an Max Wilhelm Götzinger im schweizerischen Schaffhausen greifbar, in dem es heißt: „Gegenwärtig bin ich im Begriffe, eine mythologi­sche Monographie aus dem Gebiete der nordischen Götter­ lehre zum Druck zu fördern. Sobald dies erledigt ist, denke ich (...) ernst­ lich an die deutschen Volkslieder zu gehen. Meine Absicht ist hiebei‚ eine geschichtliche Darstellung des älteren deutschen Volksgesanges zu geben, hieran eine kritische Samm­lung alter Lieder zu reihen und sodann in An­ merkungen zu diesen die Schick­sale der einzelnen Lieder zu verfolgen und die verwandten Volkslieder anderer Nationen nachzuweisen“.22 Die erwähnte mythologische Abhandlung ist das erste Heft von Uh­ lands Sa­genforschungen mit dem Titel Der Mythos von Thor (1836). Sie wur­ de in der gelehrten Welt günstig aufgenommen und brachte ihren Autor u.a. mit den Brüdern Grimm in Kontakt. Wilhelm Grimm bedankt sich 1839 für das Buch­geschenk und geht dann auf das neue Projekt ein: „Ich freue mich im Voraus auf die Sammlung von Volksliedern um so mehr, da, wie es scheint, Meuse­bach sich nicht zu einer Bearbeitung und Herausgabe seiner Sammlung ent­schließen wird.“23 Bevor Uhland jedoch dieses große Werk in die Tat umzusetzen imstan­ de war, mußte er den schwierigen und dornenreichen Weg zu den Quellen antreten. Wie wir bereits betont hatten, gab es gedruckte Vorarbeiten für ein solches Volksliedwerk so gut wie nicht, und der Weg ad fontes wurde durch die schwierigen Arbeitsbedingungen und mangelnde Zugänglichkeit vieler Samm­lungen sehr erschwert. Zahlreiche Reisen in alle Himmelsrich­ tungen und ein ausgedehnter Briefwechsel mit Hunderten von Zeitgenos­ sen waren notwen­dig, um ein eigenes Textarchiv aufzubauen; dann ging Uhland daran, die Tex­te zu sichten, zu vergleichen, auszuwerten und zu kommentieren. Mit nie er­lahmender Geduld, Beharrlichkeit und Findig­ keit sehen wir Uhland am Werk, die Vorbereitungen für sein deutsches Volksliedwerk zu treffen. Durch die Zielsetzung einer Rekonstruktion der altdeutschen Volksdichtung ist die Ar­beitsweise vorgegeben: die Volks­ liedausgabe entstand als gelehrtes Werk am Schreibtisch, sie bevorzugte schriftliche – geschriebene oder gedruckte – Quel­len und vernachlässigte die mündlichen. Uhland blieb sich stets bewußt, daß damit nur ein Teil der großen Aufgabe – die Schaffung einer nationalen Volksliedsammlung – be­ wältigt war. Von vielen Seiten wurde Uhland lebhafte Unterstützung bei sei­ nen Plänen zuteil, in vorderster Reihe von seinem Freund Joseph Frhr. von

22 Briefwechsel (wie Anm. 15), Bd. 3, S. 51f. 23 Ludwig Uhlands Leben (wie Anm. 10), S. 281.

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Laßberg (den Uhland nach seinem Wohnsitz nahe am Bodensee „Meister Sepp von Eppishausen“) nannte. Mit dieser wunderlich-lie­benswürdigen Persönlichkeit – selbst ein Stück lebendig gebliebenes Mittelal­ter24 – trat Uhland in einen Jahrzehnte währenden, fruchtbaren Gedanken­austausch, und Laßbergs Einfluß ist es wesentlich zuzuschreiben, daß Uhland seine alten Pläne zu einem deutschen Volksliedwerk wieder aufnahm. Es blieb aber nicht nur bei der Ermunterung durch guten Rat, sondern es folgten auch die guten Taten, denn Laßberg öffnete dem Tübinger Gelehrten frei­ giebig sei­ne eigenen vortrefflichen Sammlungen und verschaffte ihm so unentbehrliche Volksliedquellen wie die Pfälzische Liederhandschrift, das Liederbuch der Ottilie Fenchlerin und die berühmte Liedersammlung der Clara Hätzlerin. Von besonderem Interesse sind in diesen Quellen fiir Uh­ land stets die erzäh­lenden Liedüberlieferungen, die Balladen. 1828 stellte er in einem Brief an Laßberg dazu fest: „Die Trefflich­ keit der schottischen Balladen regte in mir lebhaft die Frage an, ob denn Deutschland wirklich nichts aufzuweisen habe, was mit dieser schottischen und englischen, mit der schwedischen und dänischen Balladenpoesie sich messen dürfte? Schlagen wir das Wunderhorn und andere Sammlungen die­ ser Art auf, so zei­gen sich die meisten balladenartigen Stücke, auch wo die Herausgeber nicht hinein improvisirt haben, doch in überaus mangelhaf­ ter und verworrener Ge­stalt. Dennoch lassen sich auch heute durch diese hindurch die einst vollstän­digen und klaren Urbilder ahnen und man darf die Hoffnung nicht aufgeben, sie noch aufzufinden und herzustellen. Man wird hiebei zunächst auf die ge­druckten Flugblätter des 16. Jhs. hinge­ wiesen, obschon ich glaube, daß, wie es in Schottland und Schweden der Fall war, auch in den abgelegenen Ge­genden unseres Vaterlandes noch immer das Lebendigste und Aechteste aus mündlicher Ueberlieferung zu erlangen sein dürfte“.25 Wir wissen bereits, daß Uhland den Weg zu diesen mündlichen Quellen nicht gegangen ist, seine zu­r ückgezogene, ja oft men­ schenscheue Lebensart hinderte ihn daran, selbst zum Volksforscher zu werden und nach mündlichen Quellen zu fahnden. Um so aufmerksamer registrierte er jede Mitteilung aus diesem Bereich. Als ihm Laßberg eines Tages mitteilt, die Ballade vom Tannhäuser werde nach seiner Informati­ on im Kanton Luzern noch gesungen, ist Uhland von dieser Möglich­keit einer Aufzeichnung lebendiger Volksüberlieferung fasziniert: „Es ist mir nicht bekannt“, so schreibt er an Laßberg, „daß man schon eine Melodie da­von kenne, und wohl möglich, daß das Lied selbst im Volksmunde sich theilweise besser erhalten hat, als wie es in den Drucken des XVI. Jhd. vor­

24 Schneider: Uhland (wie Anm. 12), S. 304. 25 Briefwechsel (wie Anm. 15), Bd. 2, S. 286 f.

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kommt, wo es offenbar schon etwas trocken geworden ist“.26 Nicht Uhland ist es, der Nachforschungen in der Schweiz dazu anstellt, sondern Laßberg, der wenig später Uhland eine Aufzeichnung aus dem schweizerischen Ent­ libuch27 zu­senden kann. Uhland reagiert mit fast überschäumender Begei­ sterung: „Als ich den alten Tannhäuser erhielt, kam mir vor Freude fast das Tanzen in die Beine wie den schönen Jungfrauen im Walde. Diese Ihre gütige Mittheilung ist das Juwel von dem, was ich für meine Arbeit über die alten Balladen habe ersammeln können. Meine Erwartung (...), daß diese Ballade noch ächter, my­thischer im Munde des Volkes vorhanden seyn dürfte, als in den Drucken des 16. Jhd., hat sich nun vollkommen bestätigt“.28 Aus der gleichen Richtung sollten Uhland später noch weitere wertvol­ le Auf­zeichnungen aus mündlicher Überlieferung zugänglich werden, näm­ lich Nie­derschriften westfälischer Volkslieder aus der Feder von Laßbergs Schwägerin Annette von Droste-Hülshoff, unter denen sich auch die be­ sonders berühmt gewordene niederdeutsche Fassung der Königskinderbal­ lade (Et wassen twe künigeskinner)29 befand. Trotz dieser einzigartigen Funde aus mündlicher Tradition ging Uhland nicht von seinem einmal eingeschla­ genen Weg ab, die Quellen für seine geplante Volksliedausgabe aus älteren Schriftdokumenten zu gewinnen. Deshalb gebührt, so sagt er später im Kommentar zu seiner Ausga­be, „der Vorzug des poetischen Werthes un­ bestreitbar den älteren Überliefe­r ungen“.30 Kein Weg zu diesen Schätzen war ihm zu weit, und während der über zehn Jahre währenden Vorarbeiten hat er in Süd und Nord, Ost und West die bedeutendsten Bibliotheksorte Mitteleuropas aufgesucht und Tausende von Varianten für seine Sammlun­ gen exzerpiert. Sein von der Witwe Uhlands wohlgeordneter Nachlaß im Deutschen Literaturarchiv zu Marburg verdeut­licht auch heute noch, daß zu den Volksliedern doppelt so umfangreiche Quellenstudien vorliegen wie zu allen anderen wissenschaftlichen Projekten zusammengenommen. Auch von Rückschlägen blieb Uhland bei seinen zahlreichen Biblio­ theksreisen nicht verschont. Der weite Weg in die Ratsschulbibliothek nach Zwickau er­wies sich als ebenso ergebnislos wie der Versuch, in Berlin an die Meusebach-Sammlungen heranzukommen. Der alte Berliner Biblio­ mane, der u.a. bereits Hoffmann von Fallersleben den Zugang zu seinen Handschriften und Flug­blättern verwehrt hatte, blieb auch im Falle Uh­ 26 Ebd., Bd. 2, S. 351. 27 Meier, John u.a. (Hg.): Deutsche Volkslieder mit ihren Melodien. Bd. 1. Berlin 1935, Nr.15, S. 148f.; Uhland: Volkslieder (wie Anm. 11), Bd. 2, Nr. 297 C. 28 Briefwechsel (wie Anm. 15), Bd. 2, S. 361 f. 29 Uhland: Volkslieder (wie Anm. 11), Bd. 1, Nr. 91. 30 Uhlands Schriften zur Geschichte der Dichtung und Sage. Hg. von W. L. Holland, A. von Keller und F. Pfeiffer. 8 Bde. Stuttgart 1865–1873. Bd. 3 (1866), S. 6.

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lands hart. Der Dichter hat über diese brüske Behandlung beredte Klage geführt, u.a. in einem Brief: „Da­gegen war mir Meusebachs Liederschatz nicht eine Verlockung, sondern für dießmal eine Abhaltung. Quid juvat aspectus? Ich muß es natürlich finden, daß er, was er mit Liebe, Einsicht und großen Opfern gesammelt, auch für den entschiedensten Beruf der ei­ genen Herausgabe zusammenhält. Damit ist er in seinem vollen Recht. Ein Anderes aber, ein Unrecht ist es, daß er seltene Bü­cher öffentlicher Biblio­ theken auf unbegrenzte Zeit in seinen Verschluß nimmt und so der freien Benützung jedes Anderen entzieht. Auf die seltenen Lieder­sammlungen der Zwickauer Bibliothek (...) kann ihm ein ausschließlicher Nießbrauch nicht zustehen, und nachdem ich an Ort und Stelle Kenntniß ge­nommen, glaube ich in meiner Quellenangabe eine Mahnung nicht unterlassen zu dürfen, daß die seit vielen Jahren vorenthaltenen Liederbücher doch end­ lich wieder dahin gestellt werden, wohin sie gehören. Volkslieder sind keine Monopole“.31 Mitunter kamen Uhland bei seiner Suche nach neuen und unbekann­ ten Volks­liedquellen besondere Glücksfälle zustatten. Im Jahre 1835 wurde die beharr­liche Fahndung nach fliegenden Blättern des 16. und 17. Jahr­ hunderts durch einen bedeutsamen Fund belohnt: Er konnte einen Sam­ melband mit 27 Ein­zeldrucken vorwiegend süddeutscher Provenienz aus dem Antiquariatsmarkt ankaufen und die darin enthaltenen 179 Lieder der Auswertung zuführen. Der Wiener Volkskundler Emil Karl Blümml hat diesen heute in Tübingen aufbewahrten Band für so wertvoll erachtet, daß er 1911 die größtenteils holzschnittillustrierten Titelseiten der Volkslied­ drucke sowie alle unbekannten Volksliedtexte in einer bibliophilen Edition vorlegte.32 Einen noch bedeuten­deren Fund machte Uhland bei der Wie­ derentdeckung eines Fragments eines sogenannten Niederdeutschen Lie­ derbuches von ca. 1600, das ebenfalls in sei­nen Privatbesitz überging und von dort an die Tübinger Universitätsbiblio­thek kam. Aus dieser Quelle er­ schloß sich Uhland der bis dahin ungeahnte Reichtum an niederdeutscher Volksliedüberlieferung, aus ihm schöpfte er für seine Sammlung vor allem zahlreiche niederdeutsche Fassungen bisher nur als hochdeutsch bekannter Volksliedtexte, und sie wurde so für ihn zum eigent­lichen Anlaß, seiner eigenen Edition den Titel Alte hoch- und niederdeutsche Volkslieder zu geben. Von dem Niederdeutschen Liederbuch ist später in Besitz des holländischen Bibliothekars Joseph Ludewig de Bouck noch ein zweites fragmentarisches Exemplar aufgetaucht, welches das Uhlandsche Bruchstück in glücklicher Weise ergänzt. Erst lange nach Uhlands Tod hat der Verein für niederdeut­ 31 Ludwig Uhlands Leben (wie Anm. 10), S. 316f. 32 Blümml, Emil Karl: Ludwig Uhlands Sammelband fliegender Blätter aus der zweiten Hälfte des 16. Jhs. 73 Titelfaksimiles in Originalgröße mit 68 Abbildungen. Straßburg 1911.

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sche Sprachforschung in Hamburg eine Ausgabe der Fragmente veranstal­ tet.33 Mitte der 30er Jahre beginnen die Volksliedpläne Uhlands dann all­ mählich konkrete Gestalt anzunehmen. Die ursprüngliche Absicht, mit ei­ ner Abhand­lung zu beginnen und die Textedition und schließlich die Kom­ mentare folgen zu lassen, wird aufgegeben. An den Anfang rückt nunmehr die Volkslied­sammlung, die in mehreren Büchern (= Kapiteln) die wich­ tigsten Gattungen des deutschen Volksliedes enthalten sollte. 1836 ist der erste Rohentwurf für die Gestaltung der Ausgabe fertig, muß aber durch überraschend reiche Mate­rialfunde bald wieder verworfen werden. Der nächste Anlauf zur Fertigstel­lung der Sammlung datiert in das Jahr 1840, aber auch dieser ist bald wieder überholt. Vor die Entscheidung gestellt, ob er als deutscher Percy oder als zweiter Meusebach in die Geschichte der Volksliedforschung eingehen wolle, entschied sich Uhland – auch unter dem Eindruck unablässiger Anfragen aus Kollegenkreisen – für den Ab­ schluß zunächst der Edition. Am 15. Novem­ber 1843 sind die Manuskripte auf dem Weg zum Stuttgarter Verlag Cotta, aber bereits am darauffolgen­ den Tag sieht sich Uhland durch Skrupel veran­laßt, die Volkslieder für ei­ ne letzte Überarbeitung zurückzufordern. Die Satzarbeiten ziehen sich bis zum Herbst 1844 hin. Während Cotta die ersten Bö­gen des Werkes bereits zum Druck befördert, verbessert und verändert Uhland aus einem Gefühl der Mangelhaftigkeit der Texte heraus an den späteren Bö­gen noch unab­ lässig, schneidet aus, fügt neu ein. Mitten in den Satzarbeiten unternimmt Uhland noch eine Volksliedreise nach Belgien. Durch sie werden ihm noch im letzten Augenblick wichtige Quellen zugänglich, die er verwertet sehen möchte. Schließlich wird während der Herstellungsarbeiten klar, daß die Flut der Varianten nicht in einem einzigen Band Platz finden kann, son­ dern daß die Edition zweigeteilt werden muß. Endlich, im Herbst 1844, liegt der erste Band vor, im Jahr darauf folgt der zweite Band. Die an Cotta gesandte Liste der Empfänger von Frei­ exemplaren34 zeigt, von wie vielen Seiten Uhland Unterstützung bei sei­ nem Werk zu­teil geworden ist: Erwähnt werden u.a. Schwab, die beiden 33 Germani­stische Section des Vereins für Kunst und Wissenschaft in Hamburg (Hg.): Die niederdeutschen Liederbücher von Uhland und de Bouck. Hamburg 1883 (= Niederdeut­ sche Volkslieder. Ges. u. hg. vom Verein für niederdeutsche Sprachforschung, 1); vgl. Kopp, Arthur: Die niederdeutschen Lieder des 16. Jhs. In: Jahr­buch des Vereins für niederdeutsche Sprachforschung 26 (1900), S. 1–55; Fröba, Dietrich und Brednich, Rolf Wilhelm: Das niederdeutsche Lied an der Wende vom Mittelalter zur frühen Neuzeit. In: Stadt im Wan­ del. Kunst und Kultur des Bürgertums in Norddeutschland 1150–1650. Landesausstellung Niedersachsen 1985. Bd. 3. Stuttgart-Bad Cannstatt 1985, S. 643–651. 34 Heiske, Wilhelm: Ludwig Uhlands Volksliedersammlung. Leipzig 1929 (= Palaestra, 167), S. 7.

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Grimms, Pfeiffer, Schott, Pfizer, von der Hagen, Lachmann, Karajan, Ett­ müller, Schreiber, Haupt, Schmeller und natürlich der Freund und Mitstrei­ ter aus Tübinger Stu­dententagen Justinus Kerner. Im Begleitschreiben an den alten „Kullikeia“ knüpft Uhland an die romantische Begeisterung für das deutsche Volkslied an, wenn er schreibt: Als wir in jungen Jahren einmal von der Wurmlinger Kapelle herabkamen, hörten wir auf einem Hügel, unter dem Kreuz, einige Hirtenknaben volksmä­ßige Lieder singen. Wir giengen hinauf, ihnen die Lieder abzufragen, aber die Knaben wollten keinen Laut geben. Kaum waren wir wieder unten, so san­gen sie uns zum Hohne von Neuem mit heller Stimme. Noch im späteren Al­ter bin ich diesen Liedern em­ sig nachgegangen und habe deren viele einge­hascht, aber der romantische Duft, in dem sie uns damals erglänzten, ist ihnen hie und dort von den Flügeln gestreift, sie sind leibhafter, geschichtli­cher, selbst gelehrter anzusehen. Doch sie sind eben damit wahrer und äch­ter geworden, wie sie aus dem Leben ihrer Zeit hervorspran­ gen. Ich kann Anderen nicht zumuthen, diese lang genährte Vorliebe für das alte Liederwe­sen mit mir zu theilen, aber ich hoffe, daß du, in Erinnerung vergangener Ta­ge die beifolgende Sammlung freundlich aufnehmen werdest.35

Diese Widmung der Volksliedsammlung an den Romantikerfreund wollen wir nicht etwa zum Anlaß nehmen, an Uhlands mangelndem Geschick in der Auf­zeichnung schwäbischer Volkslieder Kritik zu üben, sondern im Gegenteil soll sie uns hinführen zu dem modernen Bild vom deutschen Volkslied, das Uhland in langjähriger harter Arbeit gewonnen hat und das für die künftige Forschung wegweisend werden sollte. Der Brief weist auf die von Uhland entwickelten maßgeblichen Kriterien für das Volkslied hin: Der romantische Duft ist ihm genommen, dafür hat es durch seine Arbeit an Lebensnähe, Geschichtlichkeit, Wahrheit und Echtheit gewonnen. Das Volkslied gilt ihm jetzt als Spiegel des historischen Volkslebens, und der Rekonstruktion deutscher Vergangenheit durch das Mittel der alten Volks­ lieder ist seine Sammlung im Grunde gewid­met. Um es mit seinen eigenen Worten aus dem Vorwort der alten hoch- und niederdeutschen Volkslie­ der zu sagen: „Das Ganze ist weder eine moralische noch eine ästheti­ sche Mustersammlung, sondern ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Volkslebens“.36 Wir wollen nunmehr die Frage stellen, auf welche Weise Uhland dieses an­spruchsvolle und im besten Sinne „volkskundlich“ zu nennende Ziel zu errei­chen suchte, und wir fragen anschließend nach der wissenschaftlichen Bedeu­tung und der Wirkung von Uhlands Volksliedern.

35 Briefwechsel (wie Anm. 15), Bd. 3, S. 269 f. 36 Uhland: Volkslieder (wie Anm. 11), Bd. 1, S. XVIII.

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Zunächst zum Inhalt und Aufbau der fünf Bücher des zweibändigen Uhlandschen Volksliedwerkes. Es setzt im ersten Band ein mit Liedern aus der Welt der Sage und des Märchens, mit Rätsel- und Tierliedern, bringt im zweiten Buch Tagelieder und Balladen, insbesondere Liebesballaden. Buch drei ist den eigentlichen deutschen Volksballaden gewidmet, hier fin­ den wir Graf Fried­rich (mit der Jugendaufzeichnung aus Meiringen), Frau von Weißenburg, Herr von Falkenstein, Schloß in Österreich, Epple von Geilingen und den Lindenschmid. Im vierten Buch sind unter den „Ge­ sellschaftsliedern“ u.a. Trink- und Zechlieder, Tanzlieder und Schwänke versammelt. Im fünften Buch kommt Uhland zunächst mit den Balladen von Tannhäuser, Moringer und Graf von Rom nochmals auf das Balladen­ genre zurück, ehe er mit einer Auswahl geist­licher Lieder – katholischen wie reformatorischen – die Sammlung be­schließt. Insgesamt hat Uhland in seiner Ausgabe 357 Liedtypen, zusammen 442 Varianten, veröffentlicht, deutlich weniger als das Wunderhorn, weniger auch als die nach Uhlands Ausgabe nächste bedeutende Volksliededition von Ludwig Erk und Franz Magnus Böhme mit ihren ca. 2.200 Liedtypen in drei Bänden. Die Einteilung der Lieder läßt zwar die ursprüngliche Planung noch durch­schimmern, aber Uhland hat sie nicht sehr konsequent durchgehal­ ten, zumal er noch während des Druckes einzelne neuaufgefundene Va­ rianten austausch­te und sogar neue Liedtypen einschob. Aber abgesehen von diesen Schwächen im Aufbau stellt sich die gesamte Ausgabe doch als ein homogenes, von der Volksliedauffassung des Herausgebers durchge­ hend und einheitlich gestaltetes Werk dar. Das Editionsprinzip stellt bei jedem Typus jeweils einen Leittext in den Vordergrund, dem teilweise mit den Siegeln B, C usw. weitere Varianten des gleichen Liedes zugesellt sind, aus unterschiedlichen Mundarten, Zeiträu­men oder Überlieferungsberei­ chen. Uhland hat dies erstmals von ihm verwirk­lichte Prinzip wiederholt als „eine kritische Sammlung alter Lieder“37 be­zeichnet, jedoch versteht er unter „kritische Sammlung“ offensichtlich etwas anderes als wir Heutige. Im Jahre 1929 sind nahezu gleichzeitig zwei germani­stische Dissertatio­ nen erschienen,38 die sich anhand des Nachlasses mit den Prinzipien der Textbearbeitung in Uhlands Volksliedern beschäftigten. Beide sind über­ einstimmend zu dem Schluß gekommen, daß der Herausgeber seine Texte keineswegs in der Form edierte, wie er sie in den Quellen vorfand, son­dern in teilweise starker Überarbeitung und Veränderung. Dies hängt zweifel­los 37 Briefwechsel (wie Anm. 15), Bd. 3, S. 250. 38 Heiske: Ludwig Uhlands Volksliedersammlung (wie Anm. 34) aus der Schule von Julius Pe­ tersen, Berlin; Thoma, Adolf: Uhlands Volksliedsammlung. Vorstudien zu einer kritischen Neuausgabe. Stuttgart 1929 (= Tübinger Germanistische Arbeiten, 10), aus der Schule von Hermann Schneider, Tübingen.

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mit Uhlands Volksliedbild zusammen, wie es sich in der romantischen Pe­ riode ausgeprägt hatte. Und damit schließt sich der Kreis, denn wir erken­ nen an Uhlands wissenschaftlicher Arbeitsweise, daß er sich trotz kritischer Ab­wendung vom Wunderhorn und beinahe 15jähriger Quellenarbeit an den Volksliedern im Grunde nicht allzu weit von den romantischen Wurzeln seiner Jugend entfernt hat. Während die Wunderhorn-Herausgeber ihre Eingriffe in die Texte mit ihrer dichterischen Phantasie rechtfertigten, er­ setzte Uhland die Phantasie durch die behutsame und aus langem Umgang mit den Quellen er­wachsene Einfühlung in die altdeutsche Dichtung. In beiden Fällen jedoch fühlten sich die Herausgeber zu schöpferischem Um­ gang mit den vorgefunde­nen Texten berechtigt. Bei Uhlands Aufbereitung der Texte zur Edition hat die Forschung bestimmte Gesetzmäßigkeiten entdeckt, von denen wir die wesentlichsten benennen wollen: – Vereinheitlichung der Strophenformen und des Reimes – Vereinheitlichung der Rhythmik – Veränderungen des Wortlautes (durch Verwendung von Lesarten oder durch eigene Ergänzungsversuche zur Verbesserung von Syn­ tax, Gramma­tik, Stil, Form und Sinn).39 An einigen Stellen hat Uhland aus zwei Liedern ein einziges geformt. Am be­kanntesten ist Ich hört ein Sichelein rauschen, das von der Nachwelt seither stets als homogenes Lied angesehen und interpretiert worden ist.40 Der ei­ gentliche Sinn dieser Umformungen besteht nach Uhland darin, die Frische und Ursprünglichkeit des Ausdruckes wiederzugewinnen und die Spuren der Zersingungsprozesse in den Liedern so weit wie möglich zu beseitigen. Selbst­verständlich gehört dazu auch Beseitigung aller derber, anstößiger oder gar obszöner Ausdrücke und Passagen. Was nach Anlegung dieser strengen Maß­stäbe am Ende an Texten in die Ausgabe aufgenommen wird, sind künstlich erzeugte Varianten von Volksliedern, die in dieser Form nie gesungen worden sind, es sei denn die Dichter oder Sänger hätten Uh­ lands poetisches Empfin­den besessen.41 Ferner hat sich Uhland bei der Auswahl seiner Lieder nicht vom Gesichtspunkt der Popularität und Häu­ figkeit der Bezeugung leiten las­sen, sondern von seinem Empfinden für die kulturhistorisch wertvollsten und poetisch ansprechendsten Stücke.42

39 Heiske: Ludwig Uhlands Volksliedersammlung (wie Anm. 34), S. 36–142; Thoma: Uhlands Volksliedsammlung (wie Anm. 38), passim. 40 Uhland: Volkslieder (wie Anm.11), Bd. 1, Nr. 34; vgl. Bausinger, Hermann: Formen der „Volks­poesie“. Berlin 1968 (= Grundlagen der Germanistik, 6), S. 265f. 41 Thoma: Uhlands Volksliedsammlung (wie Anm. 38), S. 65. 42 Ebd., S. 89.

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Uhlands Arbeitsweise war daher - trotz wiederholter gegenteiliger Bekun­ dung - nicht historisch-philologisch, sondern künstlerisch ausgerichtet. Ihr Ziel war die Gewinnung ästhetisch wertvoller, echter Texte als Lektüre für Gebildete, nicht zum Singen bestimmt. Deshalb hat ihr Herausgeber auch mehrmals seinen Verleger gemahnt, die Auflage der Volkslieder möglichst gering zu halten. Vielleicht hat Uhland die Widersprü­che in seiner Arbeits­ weise selbst empfunden, zumal er an mehreren Stellen be­tont, daß er die von ihm gehandhabte Methode der Quellenbearbeitung („die Lieder auf ihren echtesten Bestand zurückzuführen“43) stets nur mit größter Zurück­ haltung geübt habe. Im Grunde schließen sich die beiden Editionsprin­ zipien – Wiedergabe von mehreren Varianten eines Typs und Ausmerzung der Variationsprozesse – gegenseitig aus. Mit dem ersten Prinzip ist Uh­ land seiner Zeit um 50 Jahre voraus,44 mit dem zweiten (der Rückführung der fehlerhaf­ten Varianten auf den echtesten Bestand) bleibt er ein Kind seiner Zeit. Die alten hoch- und niederdeutschen Volkslieder stehen so­ mit zwischen spätro­mantischer Rekonstruktionsabsicht und historischphilologischer Quellendo­kumentation, und es mußten noch Jahrzehnte vergehen, ehe die wissenschaft­liche Volksliedforschung die Prinzipien ei­ ner historisch-kritisch deutschen Volksliedausgabe zur vollen Entfaltung bringen konnte. Die Kritik an Uhlands philologischer Methode soll jedoch nicht den Blick dar­auf verstellen, daß er mit in seinen Volksliedplänen der Zeit auch in anderen Stücken weit vorausgeeilt war. Die zweibändige Edition von 1844/45 war ja nur Teil einer größeren Aufgabe, die sich der Dichter selbst gestellt hatte. Dem glücklich fertiggestellten Herzstück sollten sich eine Ge­ samtdarstellung der Geschichte des Volksliedes sowie Einzelkommentare zu den einzelnen Liedgattungen und -typen anschließen. Nur einen kleinen Teil dieses gewalti­gen Werkes hat Uhland noch vollendet, aber allmählich trat die Volksliedar­beit zugunsten anderer germanistischer Projekte wieder in den Hintergrund, so daß das große Gebäude insgesamt gesehen Torso geblieben ist. Uhland hat es selbst nicht mehr erlebt, daß seine Volkslied­ studien im Druck erschienen. Franz Pfeiffer, der Herausgeber der Germania, legte die Abhandlungen zu den Volksliedern 1866 als Band III von Uhlands Gesammelten Schriften zur Ge­schichte der Dichtung und Sage im Druck vor, den vierten Band mit den Volksliedanmerkungen brachte 1869 Wilhelm Ludwig Holland aus dem Uhland-Nachlaß zum Abschluß. Wer den kenntnisreichen und einen weiten Horizont umspannenden Volkslied­ forscher Ludwig Uhland kennenlernen und wer darüber hinaus den text­

43 Uhland: Volkslieder (wie Anm. 11), S. 982. 44 Thoma: Uhlands Volksliedsammlung (wie Anm. 38), S. 93.

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kritisch arbeitenden Volksliedphilologen am Werk sehen möchte, der sei mit Nachdruck auf diese posthum erschienenen Schrif­ten verwiesen, die auch im Nachdruck zugänglich sind.45 Wissenschaftliche Bedeutung und Nachruhm Uhland ist für seine bahnbrechende Editionsarbeit schon zu seinen Leb­ zeiten viel Lob und Anerkennung zuteil geworden. Dem Dank der ger­ manistischen Kollegen schlossen sich die Wissenschaftsorganisationen mit besonderen Eh­rungen an: 1845 wird er korrespondierendes Mitglied der Preußischen Akade­mie der Wissenschaften, im gleichen Jahr verleiht ihm die Universität Tübin­gen den Doktortitel, wenig später wird Uhland zum Mitglied der Wiener Aka­demie der Wissenschaften ernannt. Die Verdienste Uhlands um den Fort­schritt der Volksliedforschung waren nach dem Er­ scheinen seiner Ausgabe un­umstritten und sind es auch heute noch. Uhland war der erste, der aufgrund einer wissenschaftlichen Volkslied­definition (Volkslied als Spiegel des Volks­lebens) und aufgrund langjähriger gewissen­ hafter Quellenstudien eine wissen­schaftliche Volksliedausgabe zusammen­ gestellt hat, die alles vorher Dagewe­sene bei weitem übertraf und textkri­ tisch erst im 20. Jahrhundert durch die Freiburger Ausgabe überholt wurde. Zu rühmen ist auch der Weitblick, mit dem Uhland über die Balladen hin­ aus, die ihn naturgemäß am lebhaftesten in­teressieren mußten, alle Gattun­ gen der liedhaften Volksdichtung in seine Aus­gabe einbezog. Für die Mor­ phologie der Gattungen hatte er ein eigenes Sy­stem entworfen, das jedem Teil der Volkspoesie einen Platz im Volksleben zu­weist und auf Geistes­ beschäftigungen (wie Mythus, Sängerkämpfe, Minne­sang, Heldensage etc.) bezieht. Nach diesem übergeordneten Schema46 sollte die Abhandlung zu den Volksliedern aufgebaut werden. Fertiggestellt wurden davon aber nur die Kapitel zu den Sommerspielen, Fabelliedern, Wett- und Wunschliedern, Liebesliedern und Tageliedern. Auch die Anmerkungen zu den Liedern sind auf halbem Wege steckengeblieben. Dennoch müssen wir an den fertigge­ stellten Kommentarteilen auch heute immer noch die Tatsache rühmen, daß Uhland als erster seinen Blick auf die gesamte europäische Volks­dichtung richtet und in den Anmerkungen Lieder aus fast allen abendländi­schen Sprachen zur Erklärung der deutschen Lesarten heranzieht. Seit Uhland ist 45 Uhland, Ludwig: Alte hoch- und niederdeutsche Volkslieder mit Abhandlungen und An­ merkungen III. 1. Abhandlungen über die deutschen Volkslieder. 2. Anmer­kungen zu den Volksliedern. Nachdruck der Ausgaben Stuttgart 1866–1869. Hildesheim 1968. 46 Vgl. die dafür im Nachlaß erhaltene Skizze bei Heiske: Ludwig Uhlands Volksliedersamm­ lung (wie Anm. 34), S. 8.

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Volksliedforschung – ähnlich wie die volkskundliche Erzählforschung – ei­ ne vergleichende Forschungsdisziplin, und damit hat Uhland der späteren historisch-kritischen Volksliedarbeit die Wege gewiesen. Wir können sogar noch einen Schritt weitergehen und mit Fug und Recht behaupten, daß John Meiers 1906 formulierte These von der Herkunft des Volksliedes aus indivi­ dueller Autorschaft und von der Umwandlung der Kunstlieder durch den Volksmund bei Uhland vorgeprägt ist. Wir tun der Bedeutung John Meiers keinen Abbruch, wenn wir seinen Kunstliedern im Volksmunde von 1906 eine Passage aus Uhlands Volksliedabhandlung gegenüberstellen. In ihr spricht Uhland schon fast die Sprache des 20. Jahrhunderts: Obgleich aber ein geistiges Gebilde niemals aus einer Gesammtheit, einem Vol­ ke, unmittelbar hervorgehen kann, obgleich es dazu überall der Thätigkeit und Befähigung Einzelner bedarf, so ist doch, gegenüber derjenigen Gel­tung, die im Schriftwesen der Persönlichkeit und jeder besondersten Eigen­heit oder augen­ blicklichen Laune des Dichters zukommt, in der Volkspoesie das Übergewicht des Gemeinsamen über die Anrechte des Einzelnen47 ein entschiedenes (...). Hat nun dieses poetisch gestimmte Gesammtleben sich zu Liedern gestaltet, dann sind es die wahren und echten Volkslieder.48

Grundlegende Einsichten wie diese, die wir dem Volksliedforscher und Volks­kundler Ludwig Uhland verdanken, lassen uns heute besonders be­ dauern, daß sein Volksliedwerk Torso geblieben ist. Wir haben aber allen Anlaß, es den­noch in Ehren zu halten und ihm seinen verdienten Platz in der Geschichte unserer Disziplin zuzuweisen.

47 Vgl. damit Meier, John: Kunstlieder im Volksmunde. Halle a. d. S. 1906, S. 1. 48 Uhlands Schriften (wie Anm. 30), Bd. 3, S. 11f.

Das Weigelsche Sinnbildarchiv in Göttingen Ein Beitrag zur Geschichte und Ideologiekritik der nationalsozialistischen Volkskunde* Vorbemerkung Dem 1939 gegründeten Seminar für Volkskunde der Universität Göttingen wurde nach dem Zweiten Weltkrieg eine Sammlung des „Ahnenerbes“ ein­ gegliedert, die heute weitgehend der Vergessenheit anheimgefallen ist: das Sinnbildarchiv, mit dem sich vor allem der Name von Karl Theodor Weigel verbindet. Wir wollen uns mit dieser Dokumentationseinrichtung hier vor allem deshalb beschäftigen, weil sich an der Geschichte dieses Unterneh­ mens besonders gut die Zusammenhänge zwischen Ideologie und Insti­ tutionengeschichte des Faches Volkskunde herausarbeiten lassen und wir Anspruch und Wirklichkeit nationalsozialistischer Volksforschung exem­ plarisch darstellen können.1 Ein Versuch der Auseinandersetzung mit die­ sem speziellen Aspekt der Wissenschaftsgeschichte der NS-Zeit hat bisher in der Volkskunde nicht stattgefunden, was den Stimmen recht zu geben scheint, die kritisch anmerkten, daß unser Fach in Bezug auf eine Reihe von Forschungsfeldern die Bewältigung der Vergangenheit bisher verab­ säumt habe.2 In Göttingen wurde das Problem dadurch gelöst, daß man das Sinnbildarchiv Weigel vor vielen Jahren in einen abgelegenen Winkel des Instituts verbannte und damit praktisch totschwieg. Im Übrigen konnte man sich auf Otto Lauffer berufen, der 1951 in einem Forschungsbericht über der nationalsozialistischen Sinnbildforschung den Stab gebrochen hatte.3 Später hat Hermann Bausinger in seinem grundlegenden Aufsatz ∗ Erstveröffentlichung in: Zeitschrift für Volkskunde 81 (1985), S. 22–39. 1 Vgl. Brednich, Rolf Wilhelm: Die volkskundliche Forschung an der Universität Göttingen 1782–1982. In: Brückner, Wolfgang (Hg.): Volkskunde als akademische Disziplin. Studien zur Institutionenausbildung. Wien 1983 (= Sitzungsberichte der Österreich. Akademie der Wissenschaften, phil.-hist. Kl., 414. Mitteilungen des Instituts für Gegenwartsvolkskunde, 12), S. 77–94, hier S. 89f. 2 Vgl. Moser, Dietz-Rüdiger: Nationalsozialistische Fastnachtsforschung. In: Zeitschrift für Volkskunde 78 (1982), S. 200–219. 3 Lauffer, Otto: Symbolforschung. In: Peuckert, Will-Erich und Lauffer, Otto: Volkskunde. Quellen und Forschungen seit 1930. Bern 1951, S. 331–335.

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über die NS-Volkskunde die „hektische Suche nach Sinnbildern“ als einen der zentralen Aspekte nationalsozialistischer Volksforschung herausgear­ beitet und in diesem Zusammenhang gefordert: „Eine zusammenfassen­ de kritische Arbeit über die Sinnbildforschung in der Volkskunde wäre wünschenswert, zumal da die Hypertrophie im dritten Reich neuerdings zu einer gewissen wissenschaftlichen Öde auf diesem Gebiet führte“.4 Dieser Appell blieb bisher ohne Resonanz, was umso bedauerlicher ist, als mittlerweile in den Nachbardisziplinen Geschichtswissenschaft und Skandinavistik das historische Datenmaterial für die Auseinandersetzung mit der Sinnbildforschung bereitgestellt und die Notwendigkeit kritischer Aufarbeitung der Vergangenheit an der Geschichte des „Ahnenerbes“5 und der Runenkunde6 nachgewiesen wurde. Die notwendige und längst fällige kritische Darstellung der Sinnbildforschung in der Zeit zwischen 1933 und 1945 kann mit dem vorliegenden knappen Forschungsbericht nicht geleistet werden, jedoch ist zu hoffen, daß hiervon Impulse für eine größere Arbeit ausgehen. Die Wurzeln der nationalsozialistischen Sinnbildforschung Wie für die anderen Forschungsschwerpunkte nationalsozialistischer Volkskunde, so gilt auch für die Sinnbildforschung Bausingers Erkenntnis, daß die Forschungsarbeit im Dritten Reich sich nicht an den Ergebnissen der vorausgegangenen Jahrzehnte orientierte, sondern in auffälliger Re­ gression an das Ideengut des 19. Jahrhunderts anknüpfte, wobei die Ver­ mittler dieser Tendenzen nicht im Bereich von Forschungsinstitutionen, sondern in „ambitiösen halbwissenschaftlichen Kreisen“7 zu finden sind. Als eine dieser Gruppen, die als erste auch den germanischen SinnbildGedanken kultivierte, ist die Guido-von-List-Gesellschaft in Wien (gegr. 1905) zu nennen, die bereits den Heil-Gruß benutzte, das Hakenkreuz­ zeichen führte und aufgrund ihres fanatischen Antisemitismus zu den gei­ stigen Wegbereitern des Nationalsozialismus gerechnet werden kann.8 Ihr 4 Bausinger, Hermann: Volksideologie und Volksforschung. Zur nationalsozialistischen Volkskunde. In: Zeitschrift für Volkskunde 61 (1965) 177–204, hier S. 193, Anm. 65. 5 Kater, Michael Hans: Das „Ahnenerbe“ der SS 1935–1945. Ein Beitrag zur Kulturpolitik des Dritten Reiches. Stuttgart 1974. 6 Hunger, Ulrich: Die Runenkunde im Dritten Reich. Ein Beitrag zur Wissenschafts- und Ideologiegeschichte des Nationalsozialismus. Frankfurt a.M. u.a. 1984 (= Europ. Hoch­ schulschriften, Reihe III, 227). 7 Bausinger: Volksideologie und Volksforschung (wie Anm. 4), S. 179. 8 Glowka, Jürgen: Die deutschen Okkult-Gruppen 1875–1937. Magisterarbeit. Göttingen 1980, S. 19.

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Begründer, der „Seher“ Guido von List, der später von Weigel als einer der Väter der modernen Sinnbild-„Forschung“ apostrophiert werden sollte, entwickelte ausgehend von einer quasireligiösen Verehrung des Germa­ nentums eine phantastische Methode der sogenannten ariogermanischen Hieroglyphik, mit deren Hilfe er das bedrohte germanische Stammeserbe zu neuem Leben erwecken und die vergessene germanische Bildersprache wieder lesbar machen wollte. Aufgrund abenteuerlicher Etymologien ge­ langte er zu einem System von Heilszeichen, Glyphen und Runen, in denen er den Schlüssel zur Entzifferung der germanischen Kultur zu erblicken glaubte. In seinem Buch über die Bilderschrift der Ariogermanen bot er diesen Schlüssel seinem „Edelvolke als Weihegabe“9 dar und erprobte ihn an der Bilderschrift der Heroldskunst, d.h. mittelalterlicher Wappen (!). Sein Sendungsbewußtsein spricht aus dem folgenden Zitat, mit welchem er die Notwendigkeit von Quellenkritik als Voraussetzung für wissenschaftliche Erkenntnis leugnete und stattdessen das Prinzip einer neuen „gläubigen Wissenschaft“ verkündete: Es muß einmal mit dem engherzigen Gebrauch gebrochen werden, daß nur das als Beweis gelten darf, was ein toter Esel in bunter Schnörkelschrift auf seinem gegerbten Rücken durch die Archive schleppt. – Meine Entdeckung der ario-ger­ manischen Bilderschrift und deren Lösung, die uns in der urgermanischen Heral­ dik so treu bewahrt blieb, wird noch ganz andere historische Rätsel lösen lehren und der Historiker der Zukunft wird mit diesem unserm altehrwürdigen Erbgut ebenso zu rechnen haben wie die modernen Historiker mit Keilschrift und Hie­ roglyphen.10

Die Saat eines solchen „Wissenschaftsverständnisses“ ging nur allzu bald unter den Schülern und Gesinnungsgenossen Lists auf, die sich gleich ihm deutend dem vermeintlich germanischen Kulturerbe zuwandten. Wir nen­ nen stellvertretend für viele andere Philipp Stauff mit seinem Buch über die Runenhäuser,11 dessen Erstauflage 1912 G. v. List als dem „Wiederentdec­ ker des alten verlorenen Armanenweistums“ gewidmet war. Auch Stauff geht es um die Schicksalsfrage der Zeit, nämlich die, wie das Deutschtum in der Besinnung auf die Werte der germanischen Kultur wieder Kraft schöpfen könne, um es in die Lage zu versetzen, den von Judentum und Christentum ausgehenden Bedrohungen des arteigenen Erbes erfolgreich Widerstand zu leisten. Eine Antwort fand Stauff in den kulturellen Lei­ stungen des germanischen Bauerntums, genauer gesagt in den Giebeln von   9 List, Guido von: Die Bilderschrift der Ario-Germanen (Ario-germanische Hieroglyphik). Wien 1910 (= Guido-List-Bücherei, 1. Reihe; Forschungsergebnisse, 5 ), S. 1. 10 Ebd., S. 246. 11 Stauff, Philipp: Runenhäuser. 2. Aufl. Berlin-Lichterfelde 1921.

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ländlichen Fachwerkbauten, an deren Holzkonstruktion ihm eine bewußte Formensprache und ein klarer „Symbolwille“ entgegentraten. Zwar han­ delte es sich bei der von Stauff betriebenen Wiederherstellung der „Sinn­ bedeutung“ aus den alten „Heilszeichen“ der sogenannten Kaland-Arbeit (d.h. der verhehlenden Sinnbild-Arbeit der Bauhütten) um schlimmsten Dilettantismus, dennoch waren viele Zeitgenossen nur zu bereit, mit ihm deutsche Fachwerkgiebel etwa auf folgende Art zu „lesen“: „Mehre das Heil, lenke und richte in Donars Geist; feuerzeuge in heiliger Fehme, rate nach Arrecht, gib Rat“.12 Die verborgene Kultur des Germanentums er­ schien offenbar vielen Gebildeten nach dem verlorenen Weltkrieg und der durch die Friedensverträge erfahrenen Demütigungen als Rettungsanker und Ersatzreligion. In unserem Bauerntum wirken diese Dinge – auch unerkannt und unverstanden […]. Von den Gebildeten aber verzehren sich heute die, welche die deutsche Art im Blute fühlen, in Sehnsucht nach der deutschen Kultur – dem deutschen Leben, dem deutschen Rechte, der deutschen Kunst. Kommen sie an die hier aufgezeig­ ten Dinge heran, so fällt es ihnen wie Schuppen von den Augen, und ihnen ist zu­ mute, als wären sie aus langem, bangem Traum wieder zum Begreifen ihrer selbst gekommen […]. Und dann packen sie die Erkenntnisse mit verlangendem Willen und starker Hand, und sie werden helfen, dem germanischen Heilsgeist gegen alle Unterdrücker den Sieg zu gewinnen.13

Die Welt der germanischen Sinnbilder stand seitdem im Mittelpunkt des Interesses all derer, die in der Rückbesinnung auf das germanische Al­ tertum das Heil des Deutschtums erblickten. Ihre Gedanken kreisten um Sonnenzeichen und Julräder, Odal- und Hagal-Runen, malgenommene Rauten und Donnerbesen, Sechssterne und Wenderäder, Zauberknoten und Midgardschlangen, Urdbögen und Sonnenvögel, Segenmänner und Welteschen. Zu diesen Sinnbildgläubigen sollte sich auch Karl Theodor Weigel gesellen.14 Die Sinnbildforschung auf dem Wege zur „Wissenschaft“ Den Anspruch, von der Wissenschaft ernst genommen zu werden, erho­ ben die führenden Vertreter der Lehre von den Sinnbildern zunächst nicht oder nur mit Einschränkung. Sie schrieben eher für die, die ihnen auf ihren kuriosen gedanklichen Wegen gläubig zu folgen bereit waren. Immerhin 12 Ebd., S. 81: linker Giebel von Schloß Bürresheim/Eifel. 13 Ebd., S. 104. 14 Vgl. unten.

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konnte sich die neue Lehre auf keinen geringeren als Jacob Grimm beru­ fen, dem es in seiner Deutschen Mythologie von 1835 bereits darum gegangen war, unter der Decke christlichen Glaubensgutes den heidnischen Wurzel­ boden freizulegen. Durch die bewußte Anknüpfung an die mythologischen Forschungen des 19. Jahrhunderts gewann die Sinnbildforschung allmäh­ lich an wissenschaftlichen Konturen. Die theoretischen Prämissen, die bei allen Vertretern gleichermaßen anzutreffen sind, bestehen in der Über­ zeugung von der Kontinuität germanischen Traditionsgutes bis zur Ge­ genwart, von der Unvereinbarkeit dieser Überlieferungen mit christlichen Glaubensvorstellungen sowie in der Vorstellung, daß die untersuchten Formen und Zeichen nur von der germanischen Rasse unverfälscht über­ liefert worden seien. Im Rahmen der Weiterentwicklung dieses Ansatzes gerät vor allem die Volkskunstforschung immer stärker unter den Einfluß der Sinnbildforscher und ihrer rassistischen Kontinuitätsvorstellungen. Ihre Lehren nehmen an Überzeugungskraft zu, je mehr wissenschaftliche Autoritäten sich auf die Zeichen der neuen Zeit einzustellen beginnen. So konnte schon 1925 Karl von Spieß in seinem Buch über Bauernkunst verkünden, in der Volkskunst und im Volksbrauch habe sich so vieles aus heidnischer Zeit erhalten, „daß wir daraus ein gutes Bild altarischer Weltan­ schauung bekommen können“.15 Spieß wurde in der Folgezeit zum enga­ gierten Verfechter nordisch-germanischer „Leitgestalten“ oder Sinnbilder in der Volkskunst, und in seinem Fahrwasser legitimierte der einflußreiche Kunsthistoriker Josef Strzygowski die Sinnbilder des germanischen Nor­ dens als Forschungsgegenstand, indem er sie als die „Bildersprache frei­ er Seelen“ rühmte: „Sinnbilder sind Gegenstand ohne Darstellung, d.h. wenigstens zumeist ohne menschliche Gestalt. Im ursprünglichen Norden stehen sie als Bedeutungszeichen für sich allein, sagen wir inneren Gegen­ standes voll. Die Macht im Süden hat daraus ‚Attribute‘ gemacht, die sie einer menschlichen Gestalt anhängt (Allegorie) […]. Die sinnekitzelnden Mittel der Macht haben die bescheidene Blumensprache der indogermani­ schen Seele zu vernichten gewußt“.16 Andere, militantere Vertreter der Sinnbildforschung haben dann end­ gültig die Maske fallen lassen. So bezieht z.B. Werner Stief 1938 offen Frontstellung gegen die christliche Ikonographie und versucht nachzuwei­ sen, daß die an frühchristlichen Bauwerken häufig überlieferten Tier- und Pflanzenornamente als „gehaltvolle Sinnbilder“ auf indogermanische Zei­ ten zurückzuführen seien, weil sich „eben das Nordisch-Heidnische seit jeher nur überaus selten in figürlichen Darstellungen, wohl aber vor al­ 15 Spieß, Karl von: Bauernkunst, ihre Art und ihr Sinn. Wien 1925, S. 193. 16 Strzygowski, Josef: Spuren indogermanischen Glaubens in der Bildenden Kunst. Heidel­ berg 1938, S. 98.

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lem gerade in Sinnzeichen und Sinnbildern (‚Ornamenten‘) auszusprechen pflegte“.17 Eines Beweises für diese These bedurfte es nicht mehr, weil Autoren wie Stief aus der Beschäftigung mit den Sinnbildern eine Welt­ anschauung gemacht hatten. Ihr Kampf für die heidnisch-germanischen Sinnbilder und gegen die christliche Symbolik war zum Kampf gegen das Christentum selbst geworden: Im Christentum und seinen Kirchen bekämpfen wir eine ganz bestimmte histo­ rische lebensfeindliche Dekadenzerscheinung machthungrigen internationalen Cha­ rakters, die mit dem unserer Art schlechthin unvereinbaren Judentum in engster Verbindung steht.18

Hier fassen wir besonders deutlich den geistigen Nährboden, auf dem sich die Sinnbildforschung zu einem selbständigen Zweig nationalsozia­ listischer Volksforschung erheben konnte. Die Suche nach den Sinnbil­ dern verdient vielfach auch nicht mehr die Bezeichnung „Wissenschaft“, sondern sie ist quasi-religiöse Bestrebung,19 zumal die gesamte völkische Bewegung ja unter dem Hakenkreuz – einem angeblichen Sonnensinnbild – angetreten war.20 Hakenkreuz- und Sinnbildforschung wurden zu einer Art Mode­ erscheinung im NS-Staat; der Büchermarkt war bald voll von Neuerschei­ nungen, und in den nationalsozialistischen Zeitschriften Germanien und Die Kunde standen den Vertretern der Sinnbildlehre eigene Organe für die Publikation von Aufsätzen offen. Es bedurfte nicht viel, um zum Sinnbild„Forscher“ zu werden: er brauchte nur offenen Auges durch die deutschen Lande zu gehen, seine Beobachtungen mit der Kamera festzuhalten und sie nach der „in der Sinnbildforschung grundsätzlich anzuwendenden Me­ thode der Entsprechung (Analogie)“ mit anderen Erscheinungsformen in der deutschen Volkskunst in Verbindung zu bringen.21 Es verwundert nicht, daß sich dieses Forschungsfeld bald auch staatlicher Unterstützung erfreuen konnte.

17 Stief, Werner: Heidnische Sinnbilder an christlichen Kirchen und auf Werken der Volks­ kunst. Der „Lebensbaum“ und sein Gestaltwandel im Jahreslauf. Leipzig 1938, S. 10. 18 Ebd., S. 17, Hervorhebung im Original. 19 Bausinger: Volksideologie (wie Anm. 4), S. 194. 20 Vgl. Brednich, Rolf Wilhelm: Sonnensymbolik? In: Anno-Journal. Juli 1981, S. 48–50. 21 Stief: Heidnische Sinnbilder (wie Anm. 17), S. 38.

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Karl Theodor Weigel und die Institutionalisierung der Sinnbildforschung Für die weitere Entwicklung der Sinnbildforschung im Dritten Reich ist es bezeichnend, daß sie im wesentlichen auf der Ebene fixiert blieb, auf der sie zur Ausbildung gelangt war: sie war und blieb Laienforschung. Mit Karl Theodor Weigel trat ein Laienforscher auf den Plan, der seine Bemü­ hungen um die fotografische Dokumentation der germanischen Sinnbil­ der schließlich mit der Errichtung einer eigenen Forschungsstelle belohnt sah. Weigel war am 3. Juni 1892 in Ohrdruf (Thüringen) geboren worden, er war von Beruf Buchhändler und hatte außerdem eine Baufachschu­ le absolviert. Seit 1931 war er Mitglied der NSDAP und wurde 1935 als Hauptsturmführer in die SS aufgenommen. Auf private Initiative hin hatte er mit der Kamera verschiedene deutsche Landschaften durchreist und mit der Anlage eines Fotoarchivs für Runen und Sinnbilder begonnen. Über seine erste Berührung mit den Sinnbildern berichtet er selbst: Im Jahre 1912 erschien von Ph. Stauff ein Buch über „Runenhäuser“. Ich stand damals in den Reihen der völkischen Jugendbewegung; daß wir uns mit Begeiste­ rung auf dieses Buch stürzten, dürfte leicht erklärlich sein. Es war ja auch schön, wenn man in dieser Arbeit […] lesen konnte, welche Weisheiten unsere Vorfahren im Balkenwerke der Fachwerkhäuser auf uns hatten kommen lassen. Da Stauff je­ den einzelnen Balken der Fachwerkgiebel als Rune las, war es ihm möglich, Sprü­ che herunter zu lesen wie: „Hilf, Sonne, die armanische Feuerzeugung führen, treu der Mehrung der Sässigkeit; durch dein Sinken und Steigen gib Sonnenfeuer!“ Darin lag aber auch der Grund, daß ich ihm nicht folgen konnte. Ich stand damals im Baufach und kam zu der Erkenntnis, daß es unmöglich sei, daß konstruktiv notwendige Hölzer als Runen gemeint sein könnten. In den Herbstferien 1912 nahm ich mein Skizzenbuch und wanderte in eine der fachwerkreichsten Gegen­ den unserer Heimat, in das Grabfeld. Von den reichen Giebeln, die ich dort zeich­ nete, zog ich das konstruktiv Notwendige ab und fand dabei immer noch genug Dinge, die besonderer Aufmerksamkeit wert schienen. Immer wieder waren es bestimmte Balkenfügungen, die auftraten, die sich aber auch überall wiederhol­ ten in der Weite unserer Heimat. Daß diese gleichen Figuren, die sich in Balken gesetzt mir enthüllten, aber auch in das Holz eingeschnitten vorkamen, fiel mir dabei bald auf. Und bei wachsender Aufmerksamkeit fand ich, daß sie sich auch an Möbeln und Geräten wiederholten, eingelegt, eingeschnitzt oder aufgemalt. Sie begegneten mir weiter in Backsteinmustern, in Putz gekratzt, schließlich auch von Frauenhänden gestickt, gewebt, kurz in jedem nur möglichen Stoff und in jeder Technik fand ich die gleichen Zeichen, und es wurde mir klar, daß sie eine besondere Bedeutung haben müßten, daß ihnen eine höhere Bedeutung zukom­ men müsse als nur die, Schmuck der Geräte oder Bauwerke darzustellen. Und als ich ganz genau die gleichen Motive in unseren vorgeschichtlichen Sammlungen wiederfand, hatte ich auch die Kontinuität dieser Zeichen – zunächst wenigstens für mich – entdeckt. Als ich nach dem Kriege mein Interesse wieder in der Harz­ landschaft den Dingen des Volkstumes zuwendete, fand ich reiche Anregungen an

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einem Forscher, der als erster in einem deutschen Museum den Sinnbildern den ihnen gebührenden Platz einräumte: Prof. Hans Hahne, dem Schöpfer der Lan­ desanstalt für Volkheitkunde in Halle. Selbstverständlich fand ich in den Werken Prof. Herman Wirths, die mir später bekannt wurden, nicht nur viele Bestätigun­ gen, sondern ebenfalls Anregungen für mein eigenes Schaffen.22

Neben Hans Hahne ist mit Herman Wirth ein weiterer entscheidender Na­ me genannt, der aus der NS-Sinnbildforschung nicht wegzudenken ist. Wir müssen es uns aus Platzgründen versagen, auf Leben und Werk dieser um­ strittenen und schillernden Persönlichkeit näher einzugehen. Wir verweisen auf die kritische Auseinandersetzung mit Wirth bei Hunger,23 erwähnen le­ diglich den Skandal um die von Wirth herausgegebene Fälschung der UraLinda-Chronik24 und nennen sein zweibändiges Werk Die Heilige Urschrift der Menschheit25, das mit seiner „urgeistesgeschichtlichen Forschungsmethode“ einen verhängnisvollen Einfluß vor allem auf die Laienforschung des Drit­ ten Reiches ausübte. „Er suchte seine Symbole auf den unterschiedlichsten Inschriftenträgern, darunter Felsbilder, Grabfunde, Schmuckgegenstände, Hausmarken, Waffen, Töpfereien, Kuchenformen, Backmodel, überhaupt Verzierungen aller Art. Mittelalterliche Runenkalenderstäbe, indianische Tanzmasken, griechische Höhlenzeichnungen, schamanische Idole, Ne­ gerplastiken, christliche Taufsteine, mexikanische Ideogramme und chine­ sische Felsinschriften galten ihm als gleichberechtigte Fundorte von Sinn­ zeichen. Wirth kannte keine Quellenkritik […]. Er ignorierte geschichtliche Entwicklungen, ethnische Zuordnungen und geographische Unterschiede. Auch hatte er keine Bedenken, bei Zeichen mit unterschiedlicher Bedeu­ tung und Herkunft eine verwandtschaftliche Beziehung zu unterstellen, obwohl die Ähnlichkeit allein auf der Form beruhte“.26 Weigels Erstlings­ werk, sein Büchlein über Lebendige Vorzeit rechts und links der Landstraße27 ist den Wirthschen Gedankengängen stark verpflichtet. Die Wege Weigels und Wirths führen im „Ahnenerbe“ zusammen, jenem SS-Forschungsamt Heinrich Himmlers, das als Tummelplatz von zahlreichen zweifelhaften wissenschaftlichen Existenzen und Karrieren zu einem der gefährlichsten Instrumente nationalsozialistischer Kultur­ politik werden sollte.28 Herman Wirth war 1935 zum ersten Präsidenten

22 Weigel, Karl Theodor: Beiträge zur Sinnbildforschung. Berlin 1943, S. 26–28. 23 Hunger: Die Runenkunde im Dritten Reich (wie Anm. 6), S. 180–203. 24 Wirth, Herman: Die Ura-Linda Chronik. Leipzig 1933; vgl. Hübner, Arthur: Herman Wirth und die Ura Linda-Chronik. Berlin, Leipzig 1934. 25 Wirth, Herman: Die Heilige Urschrift der Menschheit. 2 Bde. Leipzig 1931–1936. 26 Hunger: Die Runenkunde im Dritten Reich (wie Anm. 6), S. 190f. 27 Weigel, Karl Theodor: Lebendige Vorzeit rechts und links der Landstraße. Berlin 1934. 28 Kater: Das „Ahnenerbe“ der SS 1935–1945 (wie Anm. 5).

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der neuerrichteten Stiftung „Ahnenerbe“ und zum Leiter einer „Lehr- und Forschungsstätte für Schrift- und Sinnbildkunde“ in Marburg ernannt wor­ den. Weigels Bemühungen um die Sicherung der Sinnbilder wurden 1936 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft durch die Errichtung einer „Hauptstelle für Sinnbildforschung“ honoriert. Am 1. April 1937 wurde diese Hauptstelle als „Pflegstätte für Schrift- und Sinnbildkunde“ in das „Ahnenerbe“ übernommen und zog 1938 von Berlin nach Marburg um. Bis zur Ausbootung H. Wirths aus dem „Ahnenerbe“ wegen Unfähigkeit arbeitete Weigel zusammen mit Dr. Siegfried Lehmann und anderen Mit­ arbeitern unter Wirths Leitung in Marburg, 1939 zog er in das Haus „Ah­ nenerbe“ nach Horn/Lippe um, seine Abteilung wurde in „Forschungs­ stätte für Sinnbildkunde“ umbenannt. Der Kriegsausbruch führte zwar zu einer starken Einschränkung im Bereich der Mitarbeiter, Weigels eigene Tätigkeit wurde jedoch als kriegswichtig eingestuft,29 und da er herzleidend war, entging er der Einberufung. 1943 wurde Weigels Forschungsstätte mit der „Zentralstelle für Runenforschung“ beim „Ahnenerbe“ von Wolf­ gang Krause in Göttingen zur „Lehr- und Forschungsstätte für Runenund Sinnbildkunde“ vereint, Weigel avancierte zum Leiter der „Abteilung Sinnbilder“ und konnte vor dem Zusammenbruch noch Flandern und die Niederlande bereisen.30 Seine seit der Marburger Zeit betriebenen An­ strengungen, aufgrund seines vermeintlich „hochkarätigen“ Forschungs­ materials mit einem akademischen Titel ausgestattet zu werden, erfüllten sich nicht. Nach dem Krieg lebte Weigel noch einige Jahre in Holzhausen/ Externsteine, betätigte sich als Heimatforscher und ist in den 50er Jahren verstorben.31 Als man nach 1945 an der Universität Göttingen eine neue Heimstatt für das Weigel-Archiv suchte, bot sich das unter Leitung von Will-Erich Peuckert stehende Seminar für Volkskunde an. Im Sinne Weigels war die­ se Lösung sicher nicht, denn unter Volkskundlern hat er während seiner Tätigkeit nie viele Anhänger oder gar Mitstreiter gefunden. Entsprechend schlecht war er auf diese Zunft zu sprechen (das folgende Zitat vermag zu­ gleich auch zu zeigen, wie miserabel das Deutsch war, das Weigel schrieb): Die Beiträge, die von Seiten der Volkskunde gekommen sind, gehen größtenteils noch viel weiter an der Tatsache klaren Sinnbildausdruckes vorbei. Man nannte die altehrwürdigen Formen sogar einen „Ausdruck bäuerlichen Unvermögens“ und sprach gerne vom „Nachhinken und Parodieren der großen Kunststile“ (For­ rer). Die Sinnbilder wurden von den großen Vertretern der Volkskunde als „Spiel­ trieb primitiver Menschen“ abgetan, und durchweg kunsthistorisch ist vielfach 29 Hunger: Die Runenkunde im Dritten Reich (wie Anm. 6), S. 218. 30 Ebd., S. 219. 31 Ebd., S. 220.

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selbst bis heute die Ausrichtung der Volkskunde geblieben, wodurch auch vielfach der Ausdruck unserer Museen bestimmt ist.32

Auch die institutionalisierte Sinnbildforschung hatte es offenbar schwer, sich durchzusetzen, sie führte einen beständigen Kampf um ihre Anerkennung,33 und ihre Vertreter wurden nicht müde zu betonen, wie überaus wichtig der ihnen anvertraute Forschungsgegenstand sei: Diese Zeichen sind ein ganz wesentlicher Teil der „Weltanschauung“ unseres Vol­ kes, sie sind also geistige Erbmasse seit der germanischen Frühzeit unseres Volkes und Urkunden über das, was unseren Ahnen an Verständnis für das mythische Einige aufgegangen ist.34

Die Arbeitsweise der Sinnbildforschung Aufgrund der bereits gegebenen Vorinformationen dürfte klar geworden sein, daß Weigel kein Archiv aufbauen konnte, das einer Beurteilung mit strengen wissenschaftlichen Maßstäben standhält. Er sammelte in gutgläu­ biger Absicht bei seinen Reisen ins Gelände oder in die Museen Tausende von Fotografien, darüber hinaus reproduzierte er die vermeintlichen Sinn­ bilder aus der Literatur und wollte mit diesen Materialien zunächst Zubrin­ gerdienste für die Theorien Herman Wirths leisten. Wirth lohnte ihm diese Serviceleistungen aber schlecht, indem er Weigel mehrfach die Fähigkeit zu wissenschaftlicher Forschungstätigkeit absprach.35 Da sich ihre Wege 1938 trennten, trieb Weigel bis zum Kriegsende seine Sammeltätigkeit mit wachsender Selbständigkeit voran, wovon er sich nicht nur die Ehrendok­ torwürde und/oder einen Professorentitel erhoffte, sondern naiver Weise auch glaubte, über die Sinnbildfrage in die tiefsten Geheimnisse der germa­ nischen Vorgeschichte eindringen zu können: „Sie wird uns Aufschlüsse geben können über Völkerzusammenhänge, Wanderzüge und zeitenferne Landnahmen, da sich überall die Ausdrucksmittel einer erhabenen Weltan­ schauung erhalten haben“.36 Auf welche Weise Weigel diese großen Menschheitsfragen mit seinem Fotoarchiv lösen wollte, ist allerdings völlig schleierhaft. Das Archiv stellt

32 Weigel: Beiträge zur Sinnbildforschung (wie Anm. 22), S. 132f. 33 Lehmann, Siegfried: Der Kampf um die Sinnbildforschung. In: NS Monatshefte 7 (1936), S. 832–835. 34 Lehmann, Siegfried: Zur Lage der Sinnbildforschung. In: Die Kunde 5 (1937), S. 51–53. 35 Hunger: Die Runenkunde im Dritten Reich (wie Anm. 6), S. 212f. 36 Weigel, Karl Theodor: Runen am deutschen Hause I-II. In: NS Monatshefte 7 (1936), S. 163–165; S. 900–904, hier S. 904.

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sich uns heute als eine aus naivem Glauben an die Jahrtausende währende Kontinuität der Sinnbilder hervorgegangene Bildersammlung dar, die für jedes einzelne Sinnbild eine geschlossene Belegreihe von der Gegenwart über das Mittelalter und die Antike bis zurück zur jüngeren Steinzeit auf­ bauen wollte. Grundlage des Archivs ist ein System von Karteikarten im Format Din A 5, die in eigens angefertigten, massiven Karteischränken mit einer Schubladentiefe von 1 Meter aufbewahrt werden. Jede Kartei­ karte wurde zusammen mit dem zugehörigen Foto in einer durchsichtigen Pergamenthülle aufbewahrt, auf der oben mit verschiedenfarbigen Kle­ beetiketten die Herkunftslandschaft des Sinnbildes angezeigt war. Auf der Karteikarte oben rechts war das jeweilige Sinnbild, nach dem eingeordnet wurde, eingestempelt. Da die Aufnahmen aber oft mehrere Sinnbilder ne­ beneinander erkennen ließen, war in einer eigenen Spalte angegeben, unter welchen weiteren Zeichen eine zusätzliche Einordnung erfolgte. Bei der Zuweisung von Zeichen wurde zwischen Ist-Formen (d.h. in der Sinnbild­ forschung bereits anerkannten Zeichen) und Kann-Formen unterschieden. Im Laufe der Zeit wurde den Sinnbildforschern im „Ahnenerbe“ praktisch jedes Ornament zum Sinnbild, keine Form war mehr vor ihrem Zugriff sicher. Man lese einmal nach, mit welcher Begründung z.B. die Form des Herzens in der Volkskunst als Sinnbild in Anspruch genommen wurde: Vermutlich gehört das Herz mit zu dieser Gruppe [von Unendlichkeitszeichen]. Auch dieses Zeichen wird sich erst durch stärkere Überprüfung des älteren Denk­ mälermateriales in seinem Ursprung festlegen lassen. Vielleicht hat es sich aber aus der Raute entwickelt – durch runde Schreibform – und ist so aus nahelie­ genden Gründen allmählich zum Liebessymbol geworden. Man wird nicht fehl gehen, wenn man das Herz als Sinnbild der Mutter Erde ansieht. Auf alle Fälle ist das Herz selbst bereits im Indogermanischen bekannt, wodurch immerhin das Alter beachtenswert erscheinen dürfte. Bemerkenswert ist das sehr häufige Vor­ kommen von Waffeleisen in Herzform. Da diese Klemmkucheneisen vorwiegend eng verknüpft mit dem Brauchtum sind und bis auf wenige Ausnahmen zumeist städtischer Herkunft wertvolle Sinnbildträger darstellen, dürfte sich aus diesem Vorkommen auch ein Hinweis auf eine besondere Bedeutung ergeben.37

Aus einer solchen Passage wird deutlich, daß der Symbolgehalt von Zei­ chen keiner historisch-kritischen Analyse mehr unterzogen wurde. Sie stellten einen Wert an sich dar, so daß man auch der Mühe einer exakten wissenschaftlichen Definition und Abgrenzung weitgehend enthoben war. Stattdessen hat Weigel seinen Sinnbildbegriff in aller Unbekümmertheit durch einfache Beschreibung seines Forschungsgegenstandes gewonnen: 37 Weigel, Karl Theodor: Germanisches Glaubensgut in Runen und Sinnbildern. München 1939, S. 46.

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Was von den Verfechtern der Sinnbildfrage als Sinnbilder angesprochen wird, läßt sich verhältnismäßig leicht umreißen. Es sind die sogenannten Ornamente der Volkskunst, und zwar besonders jene schlichten Formen, die häufig vollkommen unorganisch an Geräten, Gefäßen oder Hausrat angebracht erscheinen, die sich in der gleichen äußeren Form auch am Hause selber finden: in Balken gefügt, in den Putz gekratzt oder in Schiefer eingelegt, aufgemalt oder in das Holz einge­ graben.38

Weigels Verfahrensweise in seinem Archiv soll an einem Beispiel veran­ schaulicht werden. Gegenstand der Dokumentation ist ein Haus von 1612 in der Jakobistraße 15 in der „Reichsbauernstadt“ Goslar mit seinem Sinn­ bildschmuck.39 Abb. 1 zeigt einen Teil der Brüstung des zweiten Stockwerkes eines Handwerkerhauses mit den „Sinnbildern“ (von links): Sonnenrad, Sie­ benstern, Sechsstern, Lebensbaum mit Raute. Die zugehörige Karteikarte (Abb. 2) verdeutlicht, daß Foto und Karteikarte entsprechend oft verviel­ fältigt und eingeordnet werden mußten. Der Dilettantismus der Methode wird offenkundig, wenn man die ent­ sprechende Karteikarte „Goslar“ aus dem topographischen Sinnbildkata­ log heranzieht (Abb. 3): Sie zeigt, daß die Sinnbildforschung angesichts einer solchen Fülle von Sinnbildformen schon nach wenigen Jahren inten­ siver Sammeltätigkeit an ihren Grenzen angelangt war und an ihren eige­ nen methodischen Schwächen zu scheitern drohte. Dabei war gerade der topographische Katalog dazu ausersehen, über die entscheidenden Fragen nach Verbreitung, Wanderwegen und Alter der Zeichen Auskunft zu geben, das Ergebnis ist stattdessen ein unverdauli­ cher „Sinnbildbrei“. Insider des „Ahnenerbes“ hatten das Fiasko im Hin­ blick auf das wissenschaftliche Unvermögen Weigels schon früh voraus­ geahnt.40 Bedenken aus dem eigenen Lager bzw. Kritik von Seiten der Fachöf­ fentlichkeit41 hinderten Weigel nicht an der Anhäufung immer weiterer Materialmassen. Im Jahre 1940 wird von 35.000 registrierten Fotografien berichtet,42 1943 ist gar von 55.000 verkarteten Aufnahmen und 10.000 Auszügen aus der Literatur die Rede.43 Die Bildsammlung selbst steht durchschnittlich auf dem Niveau schwacher Amateuraufnahmen. Weigel 38 Weigel: Beiträge zur Sinnbildforschung (wie Anm. 22), S. 127. 39 Vgl. Borchers, Carl und Weigel, Karl Theodor: Goslar ‑ Alte Wohnbauten und Sinnbilder. Goslar 1935, S. 10; Borchers, Carl: Der Alt-Goslarer Fachwerkbau und sein sinnbildlicher Schmuck. Goslar 1938, S. 13. 40 Vgl. Hunger: Die Runenkunde im Dritten Reich (wie Anm. 6), S. 212, Anm. 49. 41 Vgl. nächsten Abschnitt. 42 Hunger: Die Runenkunde im Dritten Reich (wie Anm. 6), S. 213. 43 Weigel: Beiträge zur Sinnbildforschung (wie Anm. 22), S. 24.

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Abb. 1: Sinnbilder an einem Handwerkerhaus in Goslar, Jakobistraße 15, erbaut 1612 (Foto: Karl Theodor Weigel, 1934).

Abb. 2: Karteikarte aus dem Sinnbildarchiv Weigel (zu Abb. 1).

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Abb. 3: Karteikarte „Goslar“ aus dem topographischen Katalog des Sinnbildarchivs Weigel.

fehlte nicht nur die wissenschaftliche Kompetenz, er war auch ein schlech­ ter Fotograf. Was wir bei seiner Art der fotografischen Dokumentation – der Beschränkung auf Schmuckformen und Ornamente – heute am meisten vermissen, ist der Bezug zum Menschen. An keiner Stelle ist auch nur ansatzweise der Versuch unternommen worden, die Menschen als die Träger und Vermittler der angeblichen Sinnbildformen in die Betrachtung mit einzubeziehen. Wie die Bilddokumentation, so sind auch Weigels Buchpu­ blikationen beschaffen, die er Jahr für Jahr nach dem gleichen Strickmuster für die einzelnen deutschen Landschaften herausgab:44 Einer Einführung mit stets nahezu identischem Standardtext folgte eine Fotoauswahl, mit der er bei seinen Zeitgenossen Verständnis für den landschaftlichen Sinnbildschatz, „die naturgebundene, tiefe Frömmigkeit unserer Vorfahren, die ihren Herrgott im Erleben der Natur verspürten“,45 wecken wollte. Manches

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Vgl. die Bibliographie bei Hunger: Die Runenkunde im Dritten Reich (wie Anm. 6), S. 502– 504. Weigel, Karl Theodor: Sinnbilder in Niedersachsen. Hildesheim 1941, S. 29.

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liest sich wie seine eigene Parodie: „Es ist die Sinnbildforschung keine tote Wissenschaft, sondern eine tiefe Verbundenheit mit Volk und Heimat“.46 Zeitgenössische Kritik Der unübersehbare Dilettantismus, der in der Sinnbildforschung obwalte­ te, hat schon zwischen 1933 und 1945 eine Reihe von Kritikern auf den Plan gerufen, die um den guten Ruf der deutschen Wissenschaft besorgt waren und mit deutlichen Warnrufen nicht sparten. Zu Anfang seiner Pu­ blikationstätigkeit war Weigel selbst in das Schußfeld der Kritik geraten, da er sich mit seinem Buch über Runen und Sinnbilder47 auf das Gebiet der Runenforschung vorgewagt hatte, auf dem ihm vollends jegliche Kom­ petenz fehlte. In einer scharfen Rezension wies Wolfgang Krause diese Einmischung zurück und bescheinigte dem Verfasser schlimme Fehler, Auslassungen, Verdrehungen, Irrtümer, kurz: Unfähigkeit, die sich dazu noch mit schlechtem Sprachstil paare.48 0bwohl sich Weigel von da an in der Runenfrage größerer Zurückhaltung befleißigte, boten sowohl seine Dokumentationstätigkeit als auch seine Veröffentlichungen noch genug Anhaltspunkte für fundamentale Kritik. Die etablierte Volkskunde stand der Sinnbildforschung ohnehin mit großen Vorbehalten gegenüber. In den beiden großen VolkskundeHandbüchern der dreißiger Jahre von A. Spamer und W. Peßler war die Sinnbildforschung übergangen worden.49 Im Rezensionsteil der sehr spät gleichgeschalteten Zeitschrift für Volkskunde herrschte bei der Besprechung von Werken aus der neuen Sinnbildkunde teilweise noch ein recht offener Ton vor. Hermann Bausinger50 hat auf das Beispiel des aufrechten und unerschrockenen Hamburger Volkskundlers Otto Lauffer verwiesen, der mit O. v. Zaborsky-Wahlstättens Ahnenerbe-Buch Urväter-Erbe in deutscher Volkskunst ebenso kritisch wie witzig ins Gericht gegangen war. Lauffer hatte es sogar gewagt, in der Festschrift für den NS-Volkskundechefideo­ logen Eugen Fehrle gegen den inflationären Gebrauch des Sinnbildes vom

46 Ebd. 47 Weigel, Karl Theodor: Runen und Sinnbilder. Berlin 1935. 48 Krause, Wolfgang: Besprechung von K. Th. Weigel: Runen und Sinnbilder. Berlin 1935. In: Historische Zeitschrift 52 (1935 ), S. 552–556. 49 Wilhelm Peßler hat dieses Versäumnis 1938 wettgemacht, indem er in seinem Museum in Hannover den germanischen Sinnbildern einen eigenen Saal widmete. Peßler, Wilhelm: Von den neuen Räumen des Niedersächsischen Volkstumsmuseums der Hauptstadt Hannover. In: Die Kunde 6 (1938), S. 166–172, Tf. 49–52, hier S. 171. 50 Bausinger: Volksideologie und Volksforschung (wie Anm. 4), S. 193.

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„Lebensbaum“ vom Leder zu ziehen51 und war dadurch zum Buhmann der NS-Sinnbildforscher geworden. Lauffer setzte mehr als einmal sei­ ne Position aufs Spiel, wenn er um der Sache willen gegen die schlimm­ sten Auswüchse der Sinnbildmanie Stellung bezog. Den Verfasser eines solchen Sinnbildwerkes, F. Langewiesche,52 ernannte er (nach Friedrich Theodor Vischer) zum neuen „Deutobold Symbolizetti Allegoriowitsch Mystifizinsky“53, und er hielt dem Verfasser entgegen, daß die Symbol­ forschung nicht eine Angelegenheit des Glaubens, sondern des prüfenden Verstandes werden müsse, wenn sie sich nicht vor der Wissenschaft in aller Welt der Lächerlichkeit preisgeben wolle.54 Etwas vorsichtiger, aber nicht weniger grundsätzlich äußerte sich Erich Röhr in einem Bericht über die Volkskunstforschung der Jahre 1937 und 1938: Für das Sammeln von Sinnbildern ist es keinesfalls angängig, den entdeckten Be­ stand nur zu photographieren. In den Bildveröffentlichungen zur Sinnbildfor­ schung ist selten eine Unterschrift ausreichend angegeben. Um alle Einzelheiten einer Sinnbilddarstellung genau zu erkennen, wird man sie möglichst groß pho­ tographisch aufnehmen. Unterläßt man es, z.B. das ganze Haus oder den Gegen­ stand, an denen sich das betreffende Sinnbild befindet, außerdem noch zu photo­ graphieren und zu beschreiben, weiterhin nach dem Alter des Hauses zu fragen, den Sinn des Zeichens zu erkunden, sich über die Menschen zu unterrichten, die das Haus vielleicht schon seit mehreren Generationen bewohnen usw., so ist nur halbe Arbeit geleistet, die für die Forschung oftmals erst auf langen Umwegen wieder ausgeglichen werden kann […] So ist oft auch nur gesagt, was die Sammler und Forscher von den „Zeichen“ denken, nicht jedoch, was die sie benutzende Gemeinschaft selbst davon denkt, welche Bedeutung die „Zeichen“ bei den vorangegangenen Geschlechtern besa­ ßen usw.55

Was Röhr hier fordert, könnte man mit einem modernen Begriff eine „kontextorientierte Sinnbildforschung“ nennen. Auf eine weitere Schwä­ che der NS-Sinnbildforschung, nämlich den Abstand des modernen Men­ schen vom Sinnbild und das Verblassen einstiger Sinnzeichen beim Über­

51 Lauffer, Otto: Wunderbäume und Wunschbäume im Schrifttum und in der bildenden Kunst. In: Brauch und Sinnbild. Eugen Fehrle zum 60. Geburtstag. Karlsruhe 1940, S. 161– 178, hier S. 178. 52 Langewiesche, Friedrich: Sinnbilder germanischen Glaubens im Wittekindsland. Eberswal­ de 1935. 53 Lauffer, Otto: Besprechung von F. Langewiesche: Sinnbilder germanischen Glaubens. 1935. In: Zeitschrift für Volkskunde 45 (1937), S. 179–181, hier S. 180. 54 Ebd., S. 180f. 55 Röhr, Erich: Deutsche Volkskunstforschung. Zum Schrifttum der Jahre 1937 und 1938. In: Zeitschrift für Volkskunde 48 (1939), S. 228–232, hier S. 230f.

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gang von der religiös-magischen Sphäre auf die Ebene des Schmuckes, Zierrates oder Ornaments hatte schließlich Friedrich Pfister56 aufmerksam gemacht. Zur Ehre der Volkskunde kann also durchaus gesagt werden, daß von besonnenen Fachvertretern genug Warnzeichen aufgesteckt worden waren und daß sie nicht alles unwidersprochen hingenommen haben, was unter der Flagge des „Ahnenerbes“ segelte. Nachwirkungen Wir haben bereits darauf hingewiesen, daß O. Lauffer nach dem 2. Welt­ krieg einen kritischen Bericht zur Symbolforschung veröffentlicht hat, in dem er allerdings mit diesem Forschungszweig noch sehr schonend um­ ging und die Fülle des zusammengetragenen Bildmaterials sogar noch als „wertvollen Besitz“57 gelten lassen wollte. Ähnlich zurückhaltend fiel das Urteil von Adolf Bach aus: „Das Material, das die NS-Symbolforschung zusammengetragen hat, bleibt jenseits der von ihr gebotenen Deutung für die deutsche Volkskunde z.T. gewiß von beträchtlichem Wert“.58 Eine Ge­ neralabrechnung steht somit bis heute immer noch aus. Die Volkskunde hat sich wohl in dem Glauben gewiegt, die Zeit sei über diese Auswüchse nationalsozialistischer Volksforschung hinweg gegangen und ihre Vertre­ ter seien in der Versenkung verschwunden. Dem ist aber nicht ganz so. Siegfried Lehmann, ein früherer Mitarbeiter der „Hauptstelle für Sinnbild­ forschung“, der die Leistungen seines Dienstherrn Weigel 1936 als „einen gewaltigen Fortschritt in der Volkskundeforschung“ gefeiert hatte,59 trat 1968 in dem von Julius Schwabe herausgegebenen Jahrbuch für Symbolforschung mit einem großen Aufsatz über Bäuerliche Symbolik hervor, der mit markigen Worten den Beweis dafür antritt, daß unter der neuen Deck­ adresse einer volkskundlichen Symbol-Forschung das Gedankengut na­ tionalsozialistischer Sinnbildforschung unverändert weiterlebt: „Die Sym­ bolik der eurasischen Bauernvölker ist eines der menschheitsgeschichtlich bedeutsamsten Ergebnisse aus der Reihe altsteinzeitlicher Erfahrungen“. Und: „Was den Symbolforscher in Erstaunen setzt, ist der Befund, daß die Symbolik aus der bäuerlichen Welt spätestens mit der Wende vom Me­ solithikum zum Neolithikum nachweisbar beginnt.“60 Noch 1979 hat der 56 Pfister, Friedrich: Bild und Sinnbild. In: Brauch und Sinnbild. Eugen Fehrle zum 60. Ge­ burtstag. Karlsruhe 1940, S. 34–49, hier S. 35–37. 57 Lauffer: Symbolforschung (wie Anm. 3), S. 335. 58 Bach, Adolf: Deutsche Volkskunde. 3. Aufl. Heidelberg 1960, S. 94. 59 Lehmann: Der Kampf um die Sinnbildforschung (wie Anm. 33), S. 833. 60 Lehmann, Siegfried: Bäuerliche Symbolik. Versuch einer Genese und Systematik. In: Sym­ bolon. Jahrbuch für Symbolforschung 6 (1968), S. 72–106, hier S. 72, 87.

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gleiche Autor als Vertreter einer „Gesellschaft für wissenschaftliche Sym­ bolforschung Köln“ in M. Lurkers Wörterbuch der Symbolik erneut und bis­ her unwidersprochen behaupten können: „Während fünf Jahrtausenden erwies sich die Kraft dieses symbolischen Ausdruckswillens ungebrochen als schöpferisch gestaltend“.61 Auch in der Hausforschung kann man es beispielsweise immer wieder erleben, daß das Gedankengut der NS-Sinnbildforschung unreflektiert an die Gegenwart weitergereicht wird. Wir nennen stellvertretend Grieps Äu­ ßerungen zur „Symbolik des Schmucks“ Goslarer Bürgerhäuser62 die in di­ rekter Linie auf die Ahnenerbe-Forschungen von Borchers-Weigel (1935) zurückzuführen sind. – Daß es dem mittlerweile bald hundertjährigen Phantasten Herman Wirth noch 1980 gelingen konnte, beim Aufbau eines „urgeschichtlichen“ Museums in Rheinland-Pfalz mit einem Millionenbe­ trag gefördert zu werden, ist dagegen schon eher als politischer Skandal zu bezeichnen.63 Ein abschließendes Wort noch zur Göttinger Sammlung. Der erste volkskundliche Nachkriegs-Ordinarius Will-Erich Peuckert war bislang der einzige, der sich mit dem Weigel-Archiv beschäftigt hat.64 Um überhaupt einen Nutzen aus dem Material ziehen zu können, ließ er es unter volks­ kundlichen Aspekten neu ordnen: An die Stelle der alten Anordnung nach Sinnbildern trat eine Einteilung nach Objektbereichen (Formen, Materi­ alien, Techniken). Diese Neuordnung ist jedoch im letzten Drittel stecken geblieben, so daß eine Reihe von Kästen das Weigelsche Anordnungsprin­ zip noch genau erkennen lassen.65 Das heutige Ordnungsprinzip lautet in alphabetischer Reihenfolge (Zahlen verweisen auf die Anzahl der Schub­ läden): Backsteinornamentik – Balkenfügung – Brauchtum – Brauchtum und Beruf – Bundwerk – Eisen – Fachwerk (3) – Gebildbrot/Backmo­ del – Grab – Handschriften – Haus – Haus und Hof – Hausschmuck – Haustüren – Hoftore – Hoftore (Niedersachsen) – Holz (Wagen und Schlitten) – Holzgerät – Kacheln – Keramik – Keramik, vorgeschichtliche (2) – Kirchen (2) – Kirchliches – Knochen – Kratzputz – Kreuzstein/ Hausstein/Wappen – Mangelholz/Butterform – Metallarbeiten/Münzen – Metallarbeiten, vorgeschichtliche – Niedersachsenhaus – Runen und Ru­ 61 Lurker, Manfred (Hg.): Wörterbuch der Symbolik. Stuttgart 1979 (= Kröners Taschenaus­ gabe, 464), S. 66. 62 Griep, Hans-Günther: Das Bürgerhaus in Goslar. Tübingen 1959 (= Das deutsche Bürger­ haus, 1), S. 71f. 63 Vgl. Hunger: Die Runenkunde im Dritten Reich (wie Anm. 6), S. 202. 64 Vgl. Peuckert, Will-Erich: Volkskundliche Symbole. In: Studium Generale 6 (1953), S. 322– 324. 65 Die Angaben bei Hunger: Die Runenkunde im Dritten Reich (wie Anm. 6), S. 214, Anm. 59, betr. die wissenschaftliche Nutzbarkeit des Archivs sind entsprechend zu korrigieren.

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nenähnliches – Säulen/Grab – Schränke/Kasten – Skandinavien – Stein – Stickereien – Stuck – Tiere – Tisch/Stuhl/Bank – Tracht – Türen/Tore – Türen/Oberlicht – Verschiedenes – Vogel- und Eichhornmotiv – Webund Spinngerät – Weben und Sticken – Zeitrechnung im Fachwerk. Durch diese Neugliederung ist aus dem Sonnenrad wieder ein norma­ les Rad, aus dem Lebensbaum wieder ein einfacher Baum geworden. Da­ mit ist aber die grundsätzliche ideologiekritische Auseinandersetzung mit der Lehre von den Sinnbildern noch nicht geleistet. Manche Volkskundler wären gut beraten, wenn sie mit ihrer Kritik bei der eigenen Terminologie begännen, denn frei nach Brecht darf gelten: Wer heute noch vom Lebens­ baum statt vom Baum spricht, der sagt schon die erste Lüge.66

66 Vgl. Kriss-Rettenbeck, Lenz: Lebensbaum und Ährenkleid. Probleme der volkskundlichen Ikonographie. In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde 1956, S. 42–56.

Projekt Saskatchewan Neue Aufgaben und Methoden volkskundlicher Empirie* Vorbemerkungen Mit „Sprachinselvolkskunde“ oder „Volkskunde der Auslandsdeutschen“ assoziiert man hierzulande gewöhnlich die Erforschung der Volkskunde des außerdeutschen Ostens. Die „Ostdeutsche Volkskunde“ ist mit eigenen Instituten bzw. Forschungsstellen, mit einem Jahrbuch, einer Schriftenreihe und einer Kommission im Rahmen der DGV fest etabliert, und niemand wird bezweifeln, daß auf diesem Sektor in der Vergangenheit respektable Leistungen erbracht worden sind, selbst wenn man einschränkend sagen muß, daß über dem Rettungsgedanken die Diskussion der Methoden und Theorien oft zu kurz gekommen ist. In den letzten Jahren hat das Interesse an Problemen der ostdeutschen Volkskunde etwas nachgelassen. Der Her­ ausgeber des Jahrbuchs für ostdeutsche Volkskunde macht kein Hehl daraus, daß es für ihn schwieriger wird, geeignete Beiträge für dieses Organ zu finden. Die Integration der Heimatvertriebenen in unsere Gesellschaft scheint heute weitgehend vollzogen. Dazu sind die noch vorhandenen deutschen Siedlungsgebiete im europäischen Osten durch ständige Rückwanderung in ihrem Bestand gefährdet. Hier liegt tatsächlich der Schluß nahe, die ost­ deutsche Volkskunde habe als empirisch arbeitende Teildisziplin unseres Faches demnächst überhaupt ihre Basis verloren. Dem ist jedoch nicht ganz so. Wer so argumentiert, der übersieht die verzweigten Wanderungsbewegungen der deutschen Siedler des europä­ ischen Ostens, die keineswegs alle zurück ins Mutterland führten, son­ dern auch nach Nord- und Südamerika gerichtet waren. Die Bedeutung dieser vor allem von Rußland ausgehenden gewaltigen Bevölkerungsum­ schichtung ist in der Volkskunde bisher kaum erkannt worden. Als Indi­ kator für die offensichtliche Vernachlässigung des ostdeutschen Bevölke­

∗ Erstveröffentlichung in: Zeitschrift für Volkskunde 73 (1977), S. 24–41.

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rungsanteiles in der Neuen Welt kann das Jahrbuch für ostdeutsche Volkskunde dienen. Seit 1955 sind darin in 19 Jahrgängen 255 Aufsätze und Berichte erschienen. Darunter befindet sich ein einziger Beitrag, der sich nicht mit europäischer Thematik, sondern mit Urbanisierungserscheinungen banat­ deutscher Auswanderer in Montreal/Kanada beschäftigt.1 Die Volkskun­ de der osteuropäischen Siedler in Amerika ist bei uns weitgehend terra incognita. Eine Ausnahme stellt die österreichische Forschung dar, die in den letzten Jahren bemerkenswerte Anstrengungen unternommen hat, die Volkskunde der deutschsprachigen Siedler in Südamerika zu untersuchen.2 So liegt es nahe, ausgehend von den hier gegebenen Anregungen auch an­ deren Teilen des amerikanischen Kontinents mit geschlossenen deutschen Siedlungsgebieten Aufmerksamkeit zuzuwenden. Durch das Studium der historischen Literatur zum Deutschtum in Nordamerika war ich schon vor einiger Zeit auf die deutschen „Inseln“ im kanadischen Westen aufmerk­ sam geworden und plante eine private Reise dorthin. Durch Vermittlung von Robert Klymasz, dem ich dafür herzlich danke, erhielt ich vom National Museum of Man in Ottawa einen Research Contract und die Möglichkeit, zwei Monate in Saskatchewan zu verbringen und ein Feldforschungspro­ jekt zur Untersuchung einer deutschen Bevölkerungsgruppe durchzufüh­ ren. Im Rahmen der Multicultural Policy der kanadischen Regierung ist die zentrale volkskundliche Institution Kanadas, das Canadian Centre for Folk Culture Studies seit 1971 in die Lage versetzt, ausländische Forscher unter Vertrag zu nehmen und an ihren Forschungsaufgaben zu beteiligen.3 Die aufgrund von Zeitverträgen erarbeiteten konkreten Forschungsergebnisse gehen in das Eigentum des Archivs in Ottawa über, das auch die Publi­ kation der Forschungsberichte übernimmt. Im Rahmen dieses neuen und erfolgreichen Programms sind bereits Studien zur Volkskunde der däni­ schen, norwegischen, litauischen, polnischen, russischen (Duchoborzen) u.a. Bevölkerungsgruppen entstanden.

1 2

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Dettmer, Hermann: Banatdeutsche Auswanderer in Montreal. In: Jahrbuch für ostdeutsche Volkskunde 15 (1972), S. 408–415. Ilg, Karl: Die deutsch-brasilianischen Kolonien und sinnvolle Entwicklungshilfe am Beispiel der österreichischen Siedlungen. In: Riedl, Franz Hieronymos (Hg.): Humanitas Ethnica. Festschrift für Theodor Veiter, Wien 1967, S. 270–286; ders.: Pioniere in Brasilien. Innsbruck 1972; Graefe‚ Iris-Barbara: Zur Volkskunde der Rußlanddeutschen in Argentinien. Wien 1971 (= Veröff. des Instituts für Volkskunde an der Universität Wien, 4). Von den Forschungsberichten ausländischer specialist contract-researcher, die laufend in den Mercury Series erscheinen, seien exemplarisch zwei herausgegriffen: Vol. 8: Brunvand‚ Jan Harold: Norwegian Settlers in Alberta. Ottawa 1974; Vol. 11: Paulsen, Frank M.: Danish Settlements on the Canadian Prairies. Ottawa 1974.

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Der deutsche Bevölkerungsanteil ist bisher nicht seinem prozentualen Anteil an der Gesamtbevölkerung gemäß berücksichtigt worden. Unter den europäischen Einwanderern in Kanada nimmt das Deutschtum hinter den Briten und Franzosen den dritten Platz ein. Von den 21 Millionen Einwohnern waren 1969 5,7 % deutscher Herkunft, das sind mehr als eine Million. Die Hälfte davon spricht heute noch deutsch. Zum einen wird in dieser Vernachlässigung eine Spätfolge des 2. Weltkrieges sichtbar. Zum anderen gilt der Deutsche in Nordamerika allgemein als besonders anpas­ sungsfähig und bereit, mit der Auswanderung seine Bindungen an Sprache und Kultur hinter sich zu lassen. Die 1971 verkündete Politik des Multi­ kulturalismus räumt allen Ethnien, die zusammen das kulturelle Mosaik Kanadas ausmachen, gleiche Rechte und freie Entfaltungsmöglichkeiten ein, so daß hier jetzt auch die Chance gegeben ist, Versäumnisse bei der Erforschung des deutschen Bevölkerungsanteils wettzumachen und mit stereotypen Vorstellungen vom Deutschtum in Kanada aufzuräumen. Durch die Teilnahme an dem Volkskunde-Programm des National Museum erhält der deutsche Volkskundler die verlockende Möglichkeit, an der Entwicklung eines völlig neuen Forschungsgebietes, den German-Canadian Studies mitzuwirken, dabei auch Problemstellungen und Methoden der eu­ ropäischen Volkskunde einzubringen und neue Ansätze zu entwickeln, die sich aus der besonderen, fast „jungfräulich“ zu nennenden Forschungs­ situation in diesem Land ergeben. Diese Meinung vertritt auch Hartmut Froeschle, Germanist in Toronto und seit 1973 Herausgeber eines Deutschkanadischen Jahrbuchs, in einem ersten Forschungsbericht über deutsch-ka­ nadische Studien: „These studies, although wide and promising, are in ma­ ny facets still in their infancy and anyone who ventures into this field will be able to do ‚pioneer‘ work in a number of disciplines“.4 Das Deutschtum in Kanada Kanada ist das zweitgrößte Land der Erde. Die Dimensionen, die sich zunächst vor einem auftun, sind überwältigend. Wo soll man beginnen? Die Atlaskarten zur Verbreitung des Deutschtums, die man zu Rate ziehen kann,5 signalisieren deutsche Bevölkerungsinseln in allen Provinzen. Etwa 60 % der kanadischen Gesamtbevölkerung konzentrieren sich im äußer­ sten Osten, wo deshalb auch das Deutschtum besonders stark vertreten ist, 4 5

Froeschle, Hartmut: Deutschkanadische Studien. Aufgaben und Möglichkeiten. In: Deutsch­ kanadisches Jahrbuch 2 (1975), S. 6–23, vgl. Abstract S. 21 f. Z.B. im Handwörterbuch des Grenz- und Auslandsdeutschtums. Bd. 3. Breslau 1938, Artikel „Kanada“, S. 250–279, Karte S. 269.

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vor allem im südlichen Ontario. Da aber in diesem Gebiet die großen In­ dustriezentren ihre Anziehungskraft ausübten, gingen Urbanisierung und Anpassung an den American Way of Life bei den deutschen Einwanderern relativ schnell vonstatten, so daß man heute schon zu spät kommt, um diese Prozesse empirisch noch in den Griff zu bekommen.6 Ganz anders stellt sich die Situation in den drei westkanadischen Prärieprovinzen Al­ berta, Saskatchewan und Manitoba dar. Diese Territorien von riesenhaften Ausmaßen waren erst 1869 dem jungen kanadischen Dominion angeglie­ dert worden. Sieht man von einigen Indianerstämmen und etwa 12.000 Siedlern am Roten Fluß in der Nähe des späteren Winnipeg ab, so waren diese baumlosen Weiten praktisch noch unbesiedelt. Als die kanadische Regierung von der Hudson Bay Company die Hoheitsrechte übernahm, um die Transkontinentaleisenbahn bauen zu können, hielt noch kaum jemand eine dauernde Besiedlung dieser im Urzustand befindlichen Grassteppen für möglich. Aber der Eisenbahnbau lenkte jetzt das Interesse auswande­ rungswilliger, landhungriger Siedler aus vielen Teilen Europas auf diese Gebiete. So wurden die Prärien seit etwa 1874 Zug um Zug zur Besiedlung freigegeben. An der Erschließung des kanadischen Westens haben deut­ sche Bauern vor allem aus den ost- und südosteuropäischen Siedlungsge­ bieten hervorragenden Anteil. Nachdem sie bereits bei der Urbarmachung der US-Prärieprovinzen Minnesota, den Dakotas, Nebraska, Kansas usw. Pionierarbeit geleistet hatten, wurden die kanadischen Einwanderungs­ behörden auf diesen Siedlertyp aufmerksam und ließen ihn durch Agen­ ten planmäßig anwerben für die Kolonisation dieses fast menschenleeren Staatsgebiets von 2 Mill. qkm‚ von dem sich etwa ein Drittel als besiedelbar erweisen sollte. Bei der Ansiedlung der Einwanderer, deren mutmaßliche Eignung zum Landwirt bei der Auswahl die wichtigste Rolle spielte, verfuhr man an­ ders als in den benachbarten USA: Nicht Atomisierung der Siedlergrup­ pen zum Zwecke ihrer schnellstmöglichen Integration in den melting pot, sondern Bewahrung der ethnischen, konfessionellen und sonstigen Grup­ penbindungen war hier das Ziel. Dieses System des sog. Group Settlement7 hat im westlichen Kanada zur Herausbildung von kleineren Territorien mit klar erkennbarer ethnischer Dominanz geführt. Diese Strukturierung des Siedlungsgebietes ist bis heute erhalten geblieben. Wolhyniendeutsche,

6 Vgl. Lehmann, Heinz: Zur Geschichte der Deutschen in Kanada. Bd. 1: Das Deutschtum in Ost-Kanada. Diss. Berlin 1931 (= Schriften des Deutschen Auslands-Institutes in Stuttgart. Kulturhistorische Reihe, 31). 7 Dawson‚ Carl Addington: Group Settlement. Ethnic Communities in Western Canada. To­ ronto 1936 (= Canadian Frontiers of Settlement, 9); England, Robert: The Colonization of Western Canada. A Study of Contemporary Land Settlement, 1896–1934. London 1936.

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Schwarzmeerdeutsche, Wolgadeutsche, Hutterer usw. finden sich jeweils in verschiedenen Townships. Es ist hier nicht möglich, ausführlich auf die allgemeine Geschichte des Deutschtums in West-Kanada einzugehen. Es sei dafür auf das fundamentale Werk von Heinz Lehmann8 hingewiesen, das auch heute noch Ausgangspunkt jeder Beschäftigung mit diesem The­ ma sein muß. Ich entschied mich für die Mennoniten im nördlichen Sas­ katchewan und damit für jene deutschstämmige Bevölkerungsgruppe, die auf die wirtschaftliche Entwicklung des westlichen Kanada in den letzten 100 Jahren nach Briten und Franzosen zweifellos den stärksten Einfluß ausgeübt hat. Ich verbrachte 1975 die Monate September und Oktober in diesem Untersuchungsgebiet. Weitere Studien zu anderen deutschen Be­ völkerungsgruppen sind geplant.9 Die Mennoniten Der Mennonitismus entspringt den wiedertäuferischen Bewegungen der frühen Reformationszeit und nimmt seinen Ausgangspunkt in der Schweiz und am Oberrhein. Er ist einer der extremen Flügel der evangelischen Reformationsbewegung. Kennzeichen sind besondere Glaubensstrenge, wörtliches Bibelverständnis, Erwachsenentaufe, Trennung von Staat und Kirche, Ablehnung des Eides, Gewaltlosigkeit und Kriegsdienstverwei­ gerung. Harte Verfolgungen der „Taufgesinnten“ seit der frühesten Zeit führten zur Hinrichtung vieler Blutzeugen. Die Überlebenden gingen – so würde man heute sagen – in den „Untergrund“, entzogen sich den Nach­ stellungen durch die Flucht in weniger bedrohte Gebiete. Zu einem Zen­ trum wurde vorübergehend die holländische Provinz Friesland, wo die Anabaptisten in Menno Simons auch ihren ersten theologischen Führer fanden, nach dem die Bewegung ihren Namen erhielt. Den Verfolgungen in Holland entwichen die Mennoniten durch weitere Flucht in das west­ preußische Weichseldelta, wo sie die in den Niederlanden erworbenen Kenntnisse in Bewässerung und Deichbau anwenden konnten und zu er­ folgreichen Bauern wurden. Nach einer längeren Periode des Festhaltens an der flämischen Sprache übernahmen sie im 18. Jahrhundert das west­

8 9

Lehmann, Heinz: Das Deutschtum in Westkanada. Berlin 1939 (= Veröffentlichungen der Hochschule für Politik. Forschungsabteilung. Sachgebiet Volkstumskunde, 1). Die Ergebnisse des Forschungsaufenthaltes sind niedergelegt in meinem Bericht: Mennonite Folklore and Folklife. A preliminary report. Ottawa 1977. Dem Museum in Ottawa wurden außerdem ca. 400 Schwarzweiß-Negative und Dia-Duplikate sowie 12 Tonbänder überge­ ben.

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preußische Plattdeutsch, wie es in Kanada noch heute gesprochen wird.10 Die pfälzischen und schweizerischen Mennoniten entzogen sich seit 1683 den Zugriffen durch Auswanderung nach Pennsylvanien‚ wo sie als Amish Mennonites oder Amish bekannt wurden.11 Neuerliche Wanderungsbewegungen unter den westpreußischen Men­ noniten wurden ausgelöst, als der preußische Staat seit etwa 1774 die Aus­ breitung der anabaptistischen Bewegung durch das Verbot neuen Lander­ werbs verhinderte. In dieser Situation erreichte die auswanderungswilligen Bauern ein großzügiges Angebot der Zarin Katharina II. von Rußland zur Ansiedlung in den südrussischen Steppen und zur Rekultivierung des in den Türkenkriegen entvölkerten Landes. Die verbrieften Privilegien ver­ lockten einen Großteil der westpreußischen Mennoniten zur Auswande­ rung in die neugegründeten Kolonien an Dnjepr und Molotschna. Bis 1919 hatten sich die ursprünglich 10.000 Auswanderer auf 120.000 ver­ mehrt, Tochterkolonien auf der Krim, am Kaukasus, an der Wolga, ja so­ gar in Sibirien waren entstanden, insgesamt 365 Dörfer wurden von ihnen bewohnt. Innerhalb von fünf Generationen hatten die Mennoniten ihre neuen Siedlungsgebiete zur Kornkammer Rußlands gemacht, sie waren zu Reichtum und Ansehen gelangt. Aber sie waren durch Sprache und Religi­ on, durch eigene Schulen und kommunale Selbstverwaltung kulturell von der Bevölkerung des Gastlandes differenziert, sie stellten einen Staat im Staate dar, dessen Tage unter den letzten Zaren gezählt waren. 1871 ging die Privilegierung der deutschen Kolonisten zu Ende. Die Befreiung vom Militärdienst wurde aufgehoben und Russisch als Hauptunterrichtssprache in den Schulen eingeführt. Erneut sahen die Mennoniten damit ihre Reli­ gionsfreiheit bedroht und hielten nach neuen Siedlungsgebieten Ausschau. Nachdem vor allem Kanada günstige Bedingungen zu offerieren hatte, kam nach 1873 eine Massenauswanderung nach Westkanada in Gang, die in mehreren Wellen vor sich ging.12 Mit der ersten Welle kamen mehr als 10 Duerksen‚ Jacob A.: Transition from Dutch to German in West Prussia. In: Mennonite Life 22 (North Newton/Kansas 1967), S. 107–108. 11 Smith, Henry: The Mennonite Migration to Pennsylvania in the 18th Century. Norristown, Pa. 1929; Hostetler, John Andrew: Amish Society. Baltimore 1963. 12 Die Literatur zum Exodus der Mennoniten aus Rußland und überhaupt zur Geschichte der Bewegung ist überaus reich, so daß nur einige exemplarische Titel genannt werden können: Dyck, Cornelius (Hg.): An Introduction to Mennonite History. Scottdale, Pa. 1967; Epp‚ Frank H: Mennonite Exodus. Altona, Man. 1962; Krahn, Cornelius (Hg.): From the Steppes to the Prairies (1874–1949). Newton 1949; Lohrenz, Gerhard: Heritage Remembered. A Pictorial Survey of Mennonites in Prussia and Russia. Winnipeg, Man. 1974; Quiring, Walter und Bartel‚ Helen: Als ihre Zeit erfüllt war. 150 Jahre Bewährung in Rußland, Saskatoon, Sask. 1963; Toews‚ John B: Lost Fatherland. The Story of the Mennonite Emigration from Soviet Russia. 1921–1927. Scottdale, Pa. 1967. Weitere Literatur in der Mennonite Encyclo­ pedia. Bd. 1–4. Hillsboro, Kansas 1956–1959.

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7.000 südrussische Mennoniten in die Prärie-Provinz Manitoba. Von 1891 an strömten landsuchende mennonitische Auswanderer auch in die zur Be­ siedlung freigegebene Provinz Saskatchewan und gründeten die Kolonie Rosthern. Sie erhielt Zuzug aus Manitoba und profitierte auch noch von der zweiten großen Auswanderungswelle, die durch die russische Oktober­ revolution und deren Folgen ausgelöst worden war und die nochmals rund 21.000 Mennoniten nach Westkanada brachte. Das Zentrum der mennoni­ tischen Einwanderung im nördlichen Saskatchewan zwischen den beiden Saskatchewan-Flüssen wurde als Untersuchungsgebiet ausgewählt. Das Saskatchewan Valley In Rosthern, dem zentralen Ort des Saskatchewan Valley, befand sich lange Jahre das Zentrum für die Steuerung der mennonitischen Einwanderung, der Canadian Mennonite Board of Colonization, der den Neuankömmlingen bei der Arbeits- und Landbeschaffung behilflich war und Darlehen ver­ mittelte. Dieser Board regulierte auch die Reiseschulden der Einwanderer und hat wesentlich dazu beigetragen, daß die Mennoniten in Kanada als absolut verläßliche Partner in Geschäftsangelegenheiten bekannt gewor­ den sind. Die Stadt Rosthern, in der sich heute vorzugsweise pensionierte Farmer niederlassen, liegt inmitten eines wirtschaftlich bedeutenden Farm­ gebietes, das 42 sog. Townships und eine Fläche von 1.500 Quadratmeilen (= 3.685 qkm) umfaßt. Es wird von drei Eisenbahnlinien und einem Netz von Straßen erschlossen. Entlang der Eisenbahnlinien als den eigentli­ chen Lebensadern der Kolonisation bildeten sich eine Reihe geschlosse­ ner Siedlungen heraus. Ihre Namen sind teilweise englisch (Hague‚ Osler, Dalmeny), zum überwiegenden Teil aber deutsch (Neuanlage, Waldheim, Grünthal, Neuhorst, Blumenheim, Eigenheim, Rosengart). Es sind die klangvollen und charakteristischen Ortsnamen, die die Mennoniten auf ihren Wanderwegen über Jahrhunderte begleitet haben. Sie sind die Leit­ formen mennonitischer Kolonisationsarbeit. Hatten sich die Mennoniten schon im südlichen Manitoba als Schritt­ macher der Besiedlung glänzend bewährt, so wurden sie auch im Norden Saskatchewans wieder vorausgeschickt, als es galt, Dauererfolge im Getrei­ deanbau zu erzielen in einem Gebiet, dessen landwirtschaftliche Nutzungs­ möglichkeiten bisher noch niemand erprobt hatte. Die Schwierigkeiten, die die ersten Siedler nach 1890 zu überwinden hatten, kann man sich nicht groß genug vorstellen. Gegen eine Einschreibegebühr von 10 Dollar wur­ de jedem erwachsenen männlichen Siedler eine Heimstätte in der Größe einer Viertelsektion (160 acres = 64,4 Hektar) zugewiesen, die nach drei Jahren in das Eigentum des Siedlers überging, wenn er einen bestimmten

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Teil des Landes unter den Pflug genommen und eine Unterkunft errich­ tet hatte. Für 3 Dollar pro acre konnte er unter bestimmten Bedingungen später die benachbarte quarter-section ebenfalls dazu erhalten. Durch diese großzügige Bereitstellung von homesteads mit billigem Neuland schuf die kanadische Einwanderungspolitik das Hauptzugmittel für die Einwande­ rung der Mennoniten. Allerdings waren die neuen Wohnsitze in den kana­ dischen Prärien extrem siedlungsfeindlich. Einer kurzen, frostfreien Som­ merperiode von durchschnittlich 150 Tagen folgt ein langer, schneereicher Winter mit Temperaturen bis -400 C. Die Übergänge zwischen Winter und Sommer sind schroff. Dem Getreide, das im April gesät wird, bleibt ei­ ne Reifezeit von knapp 100 Tagen. Der türkische Winterweizen, den die Mennoniten aus den südrussischen Steppen einführten, erwies sich als den extremen Bedingungen gewachsen. Und doch war jede Ernte durch Frost, Blizzards, Hagel, Trockenheit, Sandstürme, Heuschrecken und sonstige Unbilden ständiger Bedrohung ausgesetzt. Nur eine Bevölkerung, die an Entbehrungen und gegenseitige Hilfeleistung gewöhnt war, konnte hier Fuß fassen und überleben. Zahlreiche Abenteurer, die auf eigene Faust ohne eine solche Gruppenbildung eine Heimstatt in Westkanada aufnah­ men, sind bei diesem Versuch gescheitert: Mißernten oder Buschbrände vertrieben sie, sie flohen vor der sommerlichen Moskitoplage, wurden von Schuldenlasten erdrückt oder erlagen der Prärieeinsamkeit, wurden bush crazy. Bei den Mennoniten dagegen bewährten sich erneut Solidarität und Hilfsbereitschaft, verbunden mit dem fast fanatischen Willen, die Freiheit der Religionsausübung in einem freien, wenn auch unwirtlichen Land zu nutzen, so daß der Siedlungsversuch im Saskatchewan Valley trotz man­ cher Rückschläge erfolgreich verlief. Er blieb auf Jahre hinaus der einzige in diesem Distrikt. Die ersten Siedler erhielten weiteren Zuzug aus Ruß­ land, aus Manitoba und den US-amerikanischen Prärieprovinzen sowie direkt aus dem Danziger Werder, so daß die Gegend zwischen den bei­ den Saskatchewan-Flüssen zu einer fast geschlossen deutsch besiedelten Landschaft wurde.13 Nach den deutschstämmigen Mennoniten in diesem Gebiet muß man auch heute nicht lange suchen. Als ich Anfang Septem­ ber 1975 mit dem Leihwagen auf der Fähre über den South Saskatchewan River übersetzte und den ferry-man nach dem Weg zur nächsten deutschen Siedlung fragte, machte er eine weitausholende Handbewegung und ant­ wortete: „The whole province is German; you really can’t miss them“. So war es auch: die deutschen Familiennamen auf den Firmenschildern, an Farmeingängen und auf den Grabsteinen, die Friesen’s, Klassen’s, Epp’s‚ 13 Epp‚ Frank H.: Mennonites in Canada‚ 1786–1920. The History of a Separate People. To­ ronto 1974, S. 303ff.; Lehmann: Das Deutschtum (wie Anm. 8), S. 175ff.; Quiring, Walter und Bartel‚ Helen: Mennonites in Canada. A Pictorial Review. Altona, Man. 1961.

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Thiessen’s und Dyck’s waren gar nicht zu übersehen. Das Telefonbuch des Valley zeigt seitenlang die vollständigste Kollektion mennonitischer Fami­ liennamen, die man sich denken kann. Das bis zum heutigen Tage fort­ dauernde Übergewicht des deutschen Bevölkerungselements läßt sich am besten mit einer story illustrieren, die ich an einem der ersten Tage meines Aufenthaltes im Valley notierte: „Ein mennonitisches Ehepaar fährt bei Hague auf dem highway. Der Mann überschreitet die speed limit und wird von einem Polizisten gestoppt. Darauf meint die Frau in plattdeutsch zu ihrem Mann: ‘Nu dou man sou‚ als wenn du nuscht Englisch verstouhn konnst.’ Die lapidare Antwort des Polizisten: ‘Datt wer ju dittmal nuscht helpen!’“ (J. A. Klassen, Waldheim, Sask.). Untersuchungsziel und Methode Für den Leser erhebt sich spätestens an dieser Stelle, für den Feldforscher selbst allerdings schon sehr viel früher die Frage nach dem Ziel seiner em­ pirischen Forschungen in einem Untersuchungsgebiet, das wir durch diese Einführung nach geographischen, historischen, ethnischen, konfessionel­ len und besiedlungsgeschichtlichen Gesichtspunkten kurz beschrieben ha­ ben. Der traditionelle volkskundliche Ansatz, wie er sich in zahlreichen Feldforschungsberichten bis in die jüngste Zeit darstellt,14 führt zum sog. Gewährsmannprinzip, d.h. zur Suche nach geeigneten Überlieferungsträ­ gern, denen man im spontanen, unstrukturierten Gespräch möglichst viel von ihrem „Traditionsbesitz“ zu entlocken hätte. Ein solches Vorgehen wäre wohl durchaus im Sinne des Museums in Ottawa gewesen, denn in dem Vertrag war die Untersuchung der „traditional manifestations in folk tales and folksongs“ verankert, und der Erfolg der Stipendiaten wird nicht zuletzt an der Zahl besuchter und interviewter informants gemessen. Auch in der Selbstdarstellung des Forschungszentrums ist der „Rettungsgedan­ ke“ klar verankert, wenn als Hauptforschungsziel genannt wird, „to safe­ guard the nation’s rich multicultural folk heritage as fully as possible“.15

14 Zwei Beispiele mögen für viele stehen: Cammann, Alfred: Probleme und Methoden der Feldforschung. In: Jahrbuch für ostdeutsche Volkskunde 15 (1972), S. 378–407; Gáal‚ Káro­ ly: Wolfau. Bericht über die Feldforschung 1965/1966. Eisenstadt 1969 (= Wiss. Arbeiten aus dem Burgenland, 15). Kritisch dazu Zupfer, Wolf Dieter: Gegen eine scheinbar problemlose Feldforschung. In: Österreichische Zeitschrift für Volkskunde 75 (1972), S. 41–49. 15 Roy, Carmen: Présentation du Centre Canadien d’Etudes sur la culture traditionelle – An In­ troduction to the Canadian Centre for Folk Culture Studies. Ottawa 1973 (= Mercury Series‚ 7), S. 51.

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Nun ist aber das Prinzip der „Experten-Befragung“ innerhalb16 und außerhalb unseres Faches17 in den letzten Jahren zunehmend auf Kritik ge­ stoßen. Die Bevorzugung dieser Methode bedeutet ja gleichzeitig die Ver­ nachlässigung einer ganzen Anzahl weiterer empirischer Vorgehensweisen, die in der volkskundlichen Forschung teilweise noch ganz unzureichend erprobt sind. So bot sich mir der Aufenthalt in Saskatchewan zugleich als eine Möglichkeit zu neuer Vorgehensweise an. Die herkömmliche Inter­ viewtechnik mußte schon deshalb als wenig geeigneter Zugang erscheinen, weil ich primär nicht am Sammeln interessiert war, sondern an einem all­ gemeinen Überblick über Lebens- und Verhaltensweisen der Bevölkerung im Untersuchungsgebiet. Es kam mir also nicht darauf an, die vielleicht 1% begabten Erzähler- oder Sängerpersönlichkeiten oder sonstwie kreativ oder rekreativ veranlagten Personen zu erfassen, auf die man mich mögli­ cherweise verwiesen hätte. Ich wollte zunächst ein allgemeines Bild gewin­ nen, wie man es nicht erfragen, sondern nur beobachten kann. Bevor ich auf das von mir angewandte Beobachtungsverfahren ein­ gehe, zunächst noch einige Bemerkungen zu den Erkenntniszielen. Über die Volkskunde der rußlanddeutschen Mennoniten im Saskatchewan Valley liegt bisher keine Literatur vor. So war es nicht möglich, von vorhandenen Erkenntnissen ausgehend weiter zu fragen und mit einem speziellen For­ schungsplan zu operieren. Im Vordergrund des ersten Projektes mußte zu­ nächst die Frage nach dem Selbstverständnis der Mennoniten stehen. In ih­ ren früheren Wohnsitzen in Südrußland lebten diese Siedler wie erwähnt in abgeschlossenen, selbstverwalteten Dörfern, praktisch ohne Kontakt zur andersethnischen Umwelt, so daß dort Akkulturationserscheinungen nur in geringem Maße, z.B. auf dem Sektor der Ernährungsweise, zu verzeich­ nen waren. Eine solche Isolation war in den kanadischen Prärien nicht län­ ger aufrechtzuerhalten. Zwar versuchten die ersten mennonitischen Siedler nach ihrer Ankunft in Manitoba und später auch in Saskatchewan, Sied­ lungen nach russischem Vorbild anzulegen, die traditionelle Verteilung des Landes auf Streifenfluren beizubehalten und den von Westpreußen ererb­ ten Einhaustypus nach Kanada zu übertragen, aber diese Versuche mußten bereits in der ersten Generation zugunsten des kanadischen Einzelfarmsy­ stems aufgegeben werden.18 Die Spuren der einstigen Streifenfluren und barn-houses sind im Saskatchewan Valley noch an mehreren Stellen auszu­

16 Z.B. Scharfe, Martin: Dokumentation und Feldforschung. In: Zeitschrift für Volkskunde 65 (1969), S. 224–231; Schöck, Gustav: Sammeln und Retten. Zu zwei Prinzipien volkskundli­ cher Empirie. In: Abschied vom Volksleben. Tübingen 1970, S. 85–104. 17 Scheuch, Erwin K.: Das Interview in der Sozialforschung. In: König, René (Hg.): Handbuch der empirischen Sozialforschung. Bd. 2. 3. Aufl. München und Stuttgart 1973, S. 71. 18 Funk, Harold: Daut Darp. In: Mennonite Life 25 (1970), S. 112–128.

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machen19 und geben auch heute noch Kunde von einem Vorgang, der die Auswanderer in eine erste und tiefgreifende Identitätskrise gestürzt hat. Seit der Auflösung der Dorfverbände lebte der Farmer auf seinem Hof für sich, der nächste Nachbar war oft meilenweit entfernt, die Fahrt zur Kirche ein stundenlanges Unternehmen. Weitere Identitätsprobleme kamen hinzu. Die herrschende britischfranzösische Kultur in dem neuen Gastland war ungefähr auf dem glei­ chen Niveau wie die der Mennoniten, so daß sich ein ausgeprägtes Eigen­ bewußtsein nur noch durch Religion und Sprache erhalten konnte. Wenn nun im Zuge der Akkulturation zunehmend auch die deutsche Sprache ihr Gewicht verlor, so erhebt sich die Frage, inwieweit die Mennoniten angesichts voranschreitender Anpassung an die amerikanische Lebenswei­ se noch als eigenständige Gruppe mit gruppenspezifischen Merkmalen angesehen werden können. Die Glaubenslehre verlangt vom Mennoniten noch immer ein sittenstrenges, zurückgezogenes Leben, verpflichtet ihn zur Wehrdienstverweigerung, Ablehnung des Eides und zur Nichtannah­ me öffentlicher Ämter. Aber andererseits leben die Glieder dieser Kirche in dieser Welt, sie haben es an ihren neuen Wohnsitzen zu reichem mate­ riellen Besitz gebracht. Das Problem einer „sect in modern society“20 ist der Konflikt zwischen Religiosität und zunehmender Säkularisation. Hier war der Ansatzpunkt für Beobachtungen gegeben. Mein Erkenntnisziel war die Frage nach der heutigen Identität dieser deutschstämmigen Be­ völkerungsgruppe, wobei unter Identität die „Konstanz im Verhalten“21 verstanden sei. Es mußte mir darum gehen, über einen längeren Zeitraum hinweg Beobachtungen anzustellen und dieselben nach den beiden Kom­ ponenten der Identität zu strukturieren: a) In welchen Verhaltensweisen objektiviert sich die mennonitische Identität, wie wird Identität erlebt und demonstriert? (Frage nach signifikanten Kontinuitäten, z.B. den Wertvor­ stellungen, die so eng mit dem Mennonitismus verbunden sind, daß ihre Aufgabe einem Identitätsverlust gleichkäme), b) Welche Wandlungsprozes­ se bringen Identitätskrisen mit sich? (Frage nach den Diskontinuitäten). Um die Möglichkeit der Partizipation zu erhalten, nahm ich zunächst in Saskatoon Kontakt mit dem wichtigsten Zweig der in verschiedene Deno­ minationen aufgesplitterten mennonitischen Kirche auf. Als wichtig erwies sich die Verbindung mit dem langjährigen Vorsitzenden des kirchlichen Einwanderungskomitees in Rosthern, der meine Unternehmungen sehr förderte und mich an viele Stellen weitervermittelte. Er brachte mich u.a. 19 Vgl. Brednich: Mennonite Folklore (Anm. 9), S. 20–32. 20 Driedger, Leo: A Sect in Modern Society. A Case Study: The Old Colony Mennonites of Saskatchewan. Diss. University of Chicago 1955. 21 Krappmann, Lothar: Soziologische Dimensionen der Identität. Stuttgart 1971, S. 9.

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mit dem Herausgeber der deutschsprachigen mennonitischen Wochenzei­ tung Der Bote22 zusammen, der ein Interview mit mir veröffentlichte und die Bevölkerung des Valley auf meinen Besuch vorbereitete. Die gleiche Methode der vorausgehenden Ankündigung meines Besuches behielt ich später auch im Terrain bei durch ständige Konsultation dies von einem Mennoniten edierten regionalen Mitteilungsblattes The Saskatchewan Valley News. Diese Vorbereitung des Unternehmens durch Presseberichte erwies sich als günstig, da man als Besucher nicht ohne weiteres damit rechnen kann, offene Türen zu finden. Die Mennoniten sind Fremden gegenüber, auch wenn sie aus Deutschland kommen, zunächst vorsichtig zurückhal­ tend und abwartend, und erst wenn man ihr Vertrauen gewonnen hat, wird einem jene überwältigende Gastfreundschaft zuteil, die Feldforscher bei Auslandsdeutschen stets zu rühmen wissen. Doch wie gewinnt man das Vertrauen der Menschen? Mitentscheidend für den Erfolg der participant observation ist die Rolle, die man als Forscher im Untersuchungsgebiet zu spielen gedenkt.23 Eine Identifizierung als Volks­ kundler hätte zu unerwünschten Störfaktoren führen können, da das ame­ rikanische Pendant folklorist leicht Assoziationen auf die bei den Mennoni­ ten nicht sehr hoch im Kurs stehenden Märchen, Sagen oder Volkslieder hätte hervorrufen können. Ich zog es daher vor, die Rolle eines Sozialarbei­ ters (socialworker) anzunehmen. Ich berief mich auf meinen Auftrag, „durch Partizipation die kulturellen Beiträge der deutschstämmigen Mennoniten zur Entwicklung des westlichen Kanada zu erforschen“. Die Mennoniten wissen aus ihrer eigenen Literatur sehr gut um die Bedeutsamkeit dieses Beitrages. Sie fühlen sich nicht zu Unrecht im Valley als die Pioniere; hier wie in Manitoba haben sie durch verschiedene technische Innovationen24 entscheidend zum Dauererfolg in der Besiedlung der Prärie beigetragen. Diese Interessenrichtung des Forschers kam also dem Selbstbewusstsein des Farmers entgegen und schmeichelte ihm auf einem Gebiet, auf dem er selbst das offizielle kanadische Geschichtsbild für revisionsbedürftig hält.25

22 Gegr. 1928 in Rosthern von Dietrich Heinrich Epp (1875–1955); vgl. Berg, Abram (Hg.): D. H. Epp. Aus seinem Leben, Wirken und selbstaufgezeichneten Erinnerungen. Saskatoon 1973. 23 Kluckhohn, Florence: Die Methode der teilnehmenden Beobachtung in kleinen Gemeinden. In: König, René (Hg.): Beobachtung und Experiment in der Sozialforschung. 8. Aufl. Köln 1972 (= Praktische Sozialforschung, 2), S. 97–114. 24 Zusammengestellt von Lohrenz, Gerhard: The Mennonites of Western Canada. Winnipeg, Man. 1974, S. 26. 25 Tatsache ist z.B., daß das ansonsten großartige Western Development Museum in Saskatoon die Mennoniten mit keinem Wort erwähnt. Auch historische Werke streifen die Mennoniten z.T. nur beiläufig; vgl. etwa Wright‚ James Frederick Church: Saskatchewan. The History of a Province. Saskatoon 1955.

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Die Jahreszeit war für das Unternehmen günstig gewählt: Die Ernte war in vollem Gang. Nachdem ein Anfang gemacht war, ergaben sich wei­ tere Einladungen fast von selbst. Da ich nicht die Rolle eines Gastes oder Besuchers, sondern eines freiwilligen Helfers spielte, war mein Besuch auf den einzelnen Farmen keine Belastung, sondern vielfach eine echte Hil­ fe. Viele der großen Getreidefarmen oder gemischten Farmen (dairyfarms) werden ausschließlich von einem Ehepaar bewirtschaftet, so daß bei den oft rund um die Uhr gehenden Erntearbeiten jede Hand willkommen war. Auf diese Weise fuhr ich vier Wochen lang schwere Erntemaschinen (combines), Lastwagen, die das Getreide vom Feld zu den Getreidespeichern auf den Farmen oder direkt zum Elevator brachten, ich fuhr Essen aufs Feld oder stand meinen Mann in den automatischen Melkanlagen oder beim Viehfüttern. Bedeutsam wurde meine Bereitschaft zur Partizipation auch in religiösen Dingen und im Freizeitbereich. Die regelmäßigen Gottesdienst­ besuche an den Sonntagen und die Teilnahme an allen Gruppenaktivitä­ ten erhöhten die Kontaktmöglichkeiten. Am Ende meines Aufenthaltes war ich in die Gemeinde Tiefengrund stark integriert. Mein Engagement hatte zu einer Anerkennung in der Gemeinschaft geführt und trug sehr wesentlich dazu bei, daß ich auch außerhalb des Familienlebens eine Reihe weiterer Gemeinschaftsveranstaltungen miterleben konnte. Hier nur eine kleine Aufzählung von Beobachtungssituationen: Hochzeit, Beerdigung, Sängerfest, Schlachtfest, Versteigerung, Angelparty, Familientreffen, Icecream-party, Erntedankfest-Essen, Familienausflüge etc. Hinzu kamen die zahlreichen Veranstaltungen des mennonitischen Rosthern Junior College, wo mir ein Gästezimmer als ständiges Quartier eingerichtet worden war, wo ich einmal in der Woche Deutsch unterrichtete, im Lehrerteam Fußball spielte und viele weitere Kontakte geschlossen werden konnten. Zur Protokollierung der Beobachtungsergebnisse mußten die Aben­ de benutzt werden, da ich eine teilnehmende, verdeckte Beobachtung mit hohem Partizipationsgrad anstrebte26 und das Notizbuch beim Frühstück oder beim Gottesdienst ein starker Störfaktor gewesen wäre. Als Beobach­ tungseinheit boten sich die einzelnen Interaktionen im Rhythmus des Ta­ gesverlaufes an. Ein hervorragendes Beobachtungsfeld waren die zahlrei­ chen Mahlzeiten, an denen ich teilnahm. Aber auch darüber hinaus ergaben sich täglich die verschiedensten Möglichkeiten, mehr über Verhaltenswei­ sen, Einstellungen, Empfindungen und Interessen der Gruppenmitglieder in Erfahrung zu bringen, als dies in einer gestellten Interviewsituation der Fall gewesen wäre.

26 Terminologie nach Atteslander, Peter: Methoden der empirischen Sozialforschung. 4. Aufl. Berlin, New York 1975 (= Sammlung Göschen, 2100), S. 146.

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Einige Resultate Es ist im Rahmen dieses kurzen Berichtes nicht möglich, die bei diesem Verfahren der aktiv-teilnehmenden Beobachtung gewonnenen Detail­ ergebnisse ausführlich darzustellen. Dafür sei auf den englischen For­ schungsbericht verwiesen, in dem einige Beobachtungsprotokolle (z.B. vom sprachlichen Verhalten bei einem 14 Stunden dauernden Schlachtfest, von der Zusammensetzung des traditionellen mennonitischen Speisezet­ tels usw.) enthalten sind. In unserem Zusammenhang interessieren eini­ ge zusammenfassende Erkenntnisse, die mit dem oben skizzierten For­ schungsanliegen zusammenhängen. Ziel des Beobachtungsverfahrens war die Einsicht in Verhaltenswei­ sen und Einstellungen der Gruppe gegenüber den Mitgliedern und nach außen, um von hier aus Einsicht in die Wertvorstellungen, Leitideen und Normenstruktur zu erhalten. Beobachtet wurden auch die zugehörigen Objektivationen (z.B. Sprache, Symbole) und deren Bedeutung im Werte­ system der Mennoniten. Bezüglich des Wertesystems rangiert – wie kaum anders zu erwarten – die Religion an der Spitze der Rangskala. Sichtbare Kriterien für diese unverändert hohe Wertschätzung sind die täglich beob­ achtbaren Verhaltensweisen in Familie und Gemeinde: Der Tag beginnt in jeder Familie damit, daß der Hausvater gemäß dem Losungsbuch einen Text laut aus der Bibel vorliest. Jeder Mahlzeit werden lange, persönlich gestaltete Gebete vorgeschaltet. Die Mennoniten enthalten sich des Alko­ hols und des Nikotins; auch das Tanzen wird abgelehnt. Der Besuch der Kirche und die Einhaltung des Arbeitsverbotes am Sonntag sind stren­ ge Vorschrift, auch die Beachtung von Feiertagen, die keine kanadischen Staatsfeiertage mehr sind (z.B. Himmelfahrt). Der Gottesdienstbesuch ist mit der regelmäßigen Zahlung der freiwilligen Kollekte verbunden, bei der zum Unterhalt der schlichten Kirchen und zur Bezahlung der Prediger stets mehr als nur der „Zehnte“ gezahlt wird:. Ausdruck der religiösen Grund­ haltung sind auch die weitgehende Bedeutungslosigkeit der Massenmedien, die allenfalls zur Information über Getreidepreise und Wetter, nicht aber zu Unterhaltungszwecken benutzt werden. Aufschlußreich waren ferner der Lektürebesitz und das beobachtete Lektüreverhalten mit deutlichem Schwergewicht auf Erbauungsliteratur und Literatur zur Geschichte der mennonitischen Bewegung. An Objekten sind vor allem die religiösen Wandsprüche zu nennen, die in Hinterglastechnik selbst hergestellt sind und erst neuerdings durch moderne Kaufhausprodukte verdrängt werden, unter denen Enstroms „Grace“ und Millets „Angelus“ als typisch menno­ nitische Identifikationsobjekte bevorzugt werden.27 27 Vgl. Brednich: Mennonite Folklore (wie Anm. 9), S. 38–51.

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An zweiter Stelle im Wertesystem steht die Familie. Der Zusammen­ halt zwischen den teilweise über ganz Kanada verstreut lebenden Mitglie­ dern einer Familie ist groß. Teilweise bestehen noch Kontakte mit den nach Innerasien umgesiedelten Mennoniten, die nicht mehr nach Amerika auswandern konnten. Weihnachten, aber auch Ostern und Pfingsten (als Fest der Taufe) sind traditionelle Anlässe für die Heimkehr der Kinder ins Elternhaus. Die Zeit vor der Ernte im Spätsommer ist die Zeit der großen Familientreffen mit oft mehreren Hundert Teilnehmern. – Eng damit ver­ bunden ist der Bereich „Gemeinschaft“ und „Nachbarschaft“. Die Pflege gutnachbarlicher Beziehungen und die nie versagende Hilfsbereitschaft sind Selbstverständlichkeiten. Das ausgeprägte Gruppenbewußtsein arti­ kuliert sich in der stehenden Wendung „unsere Leute“. Der direkte Kon­ takt, der durch die Einzelhofsiedlung verlorengegangen ist, wird durch das Telefon, das praktisch nie still steht, aufrechterhalten. Ein Fall von Streitig­ keiten zwischen Nachbarn ist mir nicht bekannt geworden. Was die nicht direkt von Religion abhängigen profanen Wertbegriffe angeht, so nehmen, wie bei einem Bauernvolk nicht anders möglich, Arbeit und Erfolg in der Landwirtschaft (skill in farming) den vorderen Platz ein. So stellt sich denn auch die mennonitische Farm eigentlich stets als Musterbetrieb dar, Wohn­ haus und Scheune stets mit frischer Farbe versehen, die Sommerbrache als äußeres Kennzeichen der gepflegten Farm stets in tadellos unkraut­ freiem Zustand. Auch das Innere der Häuser präsentiert sich so makellos, daß die Hausfrau auch bei unerwartetem Besuch keineswegs in Hektik zu verfallen braucht. Das System der sozialen Kontrolle, von dem dies alles unsichtbar gesteuert wird, funktioniert noch, wobei die mennonitische Kir­ che bei deviantem Verhalten in Religionsfragen und darüber hinaus über einen Katalog von teilweise harten Sanktionsmaßnahmen verfügte, die heute allerdings kaum noch angewandt zu werden scheinen. – Alle diese Wertvorstellungen und die davon abhängigen Verhaltensweisen können als positive Indikatoren für die noch in großem Umfang vorhandene Identität der Mennoniten betrachtet werden. Sie stellen die Kontinuität mit dem tradierten mennonitischen Gedankengut und der typischen Lebensweise her, die beide ihre Wurzeln im 16. Jahrhundert haben. Den Diskontinuitäten nähern wir uns am besten, indem wir kontra­ stierend zu dem bisher Dargelegten einige Urteile von Außenstehenden über die Mennoniten zitieren, die wir im Untersuchungsgebiet gelegentlich protokollieren konnten. Die Mennoniten heißen bei ihnen die „Heiligen“. „Für ihre eigenen Leute und ihre Kirche tun sie alles“, heißt es da z.B., „aber für andere haben sie keinen Cent übrig“. In diesem Zusammenhang wird manchmal auf das Indianerproblem angespielt, zu dessen Bewälti­ gung die Mennoniten bisher wenig beigetragen haben. Weitere wichtige Themen sind Landgier und Arbeitswut: sie spielen in vielen vernichtenden

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Urteilen von Nichtmennoniten eine Hauptrolle. Danach ist der Mennonit vor allem daran zu erkennen, daß er bei allem Reichtum nie genug bekom­ men kann, daß er nie etwas von dem Land abgibt, das er einmal besitzt, und daß er sich und seinen Angehörigen die härtesten Arbeitsleistungen abverlangt. In diesen Urteilen wird ein Identitätskonflikt sichtbar, der von den Mennoniten selbst auch gar nicht verheimlicht wird. Er findet seinen Aus­ druck in einem deutschen Sprichwort, das ich mehrfach in diesem Zusam­ menhang vernehmen konnte: „Frömmigkeit gebiert Reichtum. Hernach frißt der Sohn die Mutter auf.“ Die Wohlhabenheit auf der einen und die Verpflichtung zu einem anspruchslosen Leben fernab der Welt auf der anderen Seite ist das eigentliche Problem, vor das sich der Mennonit heu­ te gestellt sieht. Viele homesteads sind heute während der kalten Jahreszeit verwaist; die Bewohner überwintern in wärmeren Gefilden in Kaliforni­ en, Florida oder auf Hawai. Das schlechte Gewissen darüber, daß man sich in dieser Zeit vom Gemeinschaftsleben zurückzieht, wird sicher durch den Umstand kaum gemildert, daß der Reiseveranstalter „Menno Travels“ heißt. Die Jugend ist heute zum eigentlichen Promotor von Innovationen in den mennonitischen Familien geworden. Daß Snowmobile und Icehockey zu den beliebtesten Winterattraktionen der Jugend im Valley avanciert sind, wird eben noch hingenommen, aber ein heikleres Thema stellen die Misch­ ehen dar. Man spricht nicht gerne von ihnen, aber der Prozentsatz ist stark im Steigen begriffen. Die jetzt heranwachsende dritte Generation hat den Übergang von der deutschen zur englischen Sprache vollzogen. Die Elternhäuser sind dem ohne großen Widerstand gefolgt, und auch die Kirche hat dieser Tendenz vor nunmehr 10 Jahren Rechnung getragen. Immerhin wird auf vielen Far­ men noch „Plautdietsch“ gesprochen, immerhin verstehen noch mehr als 50% der Schüler diese Muttersprache ihrer Eltern, und es existieren auch noch eine Reihe konservativer Mennonitengemeinden (z.B. die Bergthaler und Altkolonier), in denen die plattdeutsche Predigt sicher noch jahrzehn­ telang weitergepflegt werden wird. Aber insgesamt folgt das sprachliche Verhalten der allgemeinen Tendenz zur Akkulturation (wie es ja in der Um­ gangssprache der Mennoniten in Kanada seit jeher von Anglizismen nur so wimmelt!28). Von den Angehörigen einer Sekte, die seit Jahrhunderten ohne direkten Kontakt zu Deutschland leben und dieses Land vielleicht nur von einer Fahrt durch den Nord-Ostseekanal kennen, wird man kaum eine andere Einstellung zum Sprachproblem erwarten dürfen. In Kana­

28 Thiessen, John: Studien zum Wortschatz der kanadischen Mennoniten. Marburg 1963 (= Deutsche Dialektgeographie, 64).

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da ereignet sich jetzt das gleiche, was Jahrhunderte vorher in Westpreu­ ßen beim Übergang vom Flämischen zum Plattdeutschen stattfand. Viele Mennoniten bedauern zwar den rapiden Rückgang der deutschen Sprache und die damit z.B. verbundene Aufgabe des jahrhundertelang gepflegten Liedgutes der wiedertäuferischen Bewegung,29 aber die dadurch ausgelöste Identitätskrise30 ist in ihrer Wirkung sicher lange nicht so tiefgreifend wie das zuvor angesprochene Problem des wachsenden Reichtums. Eine Prognose über die Zukunft der Bewegung muß davon ausgehen, daß der Mennonitismus spätestens in der nächsten Generation sprachlich gesehen im Angelsächsischen aufgehen wird. Für den Fortbestand der Sek­ te, zumal wenn die noch immer herrschende heillose Zersplitterung über­ wunden werden könnte, herrschen günstige Voraussetzungen, allerdings nur in der Provinz selbst und in geschlossener Ansiedlung. Ein Leben nach den strengen Regeln dieser Sekte ist außerhalb dieses Siedlungsgebietes kaum denkbar. Die mit höherer Schulbildung in die Städte des Ostens oder Westens abwandernden Söhne und Töchter sind nicht mehr durch die har­ ten Bewährungsjahre der Pionierzeit geprägt und werden in der Verein­ zelung kaum noch jenen konservativen Rigorismus ihrer Väter vertreten können. Manche Stellungnahmen von mennonitischer Seite klingen eher noch pessimistischer, z.B.: „As each individual, more and more, goes his own way in his own way, the basis for a common identity among the Men­ nonites of the southern Manitoba communities, already much diminished, as the cultural landscape is already largely a relict one‚ appears likely in the next generation or two to disappear altogether, and they‚ as ethnic culture islands, will have slipped into oblivion.”31 Ist in Kanada der Endpunkt der mennonitischen Wanderungen erreicht? Fast sollte man es glauben. Abschließend seien noch einige Hinweise auf die zweite Phase mei­ nes Projektes im Saskatchewan Valley gegeben, damit auch der an kon­ kreteren Ergebnissen Interessierte einige Anhaltspunkte findet. Nach dem Abschluß der Erntearbeiten und dem frühen Wintereinbruch wiederholte ich die Besuche auf den Farmen, um jetzt mehr das Forschungsinteresse an dem materiellen Besitz der Farmer in den Vordergrund zu stellen. Jetzt entstand eine umfangreiche Foto-Dokumentation zur Ergologie der Phase vor der Vollmechanisierung der Landwirtschaft, zum Hausbau, zum re­ ligiösen Wandschmuck und zur Textilkunst. Das in Kanada seit etwa 10

29 Wolkan‚ Rudolf: Die Lieder der Wiedertäufer. Berlin 1903. Neudruck Nieuwkoop 1965. 30 Die mennonitische Schriftstellerin Margaret Epp (The Earth is Round usw.), mit der ich über dieses Problem sprach, meinte dazu: „We are not here to spread our language, but to preach the Gospel.“ 31 Sawatzki, H. Leonard: The Mennonites in Manitoba. In: Manitoba Mennonite Memories. Altona, Steinbach, Man. 1974, S. 24.

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Jahren zu verzeichnende starke Interesse der Mennoniten u.a. ethnischer Gruppen an der materiellen Kultur der Pionierperiode kam mir dabei sehr zustatten. Im Untersuchungsgebiet konnten nicht weniger als vier Besit­ zer außerordentlich reichhaltiger Privatmuseen ausfindig gemacht werden. Zur Erschließung dieser Bestände trat die fotografische Inventarisation des Cultural Museum am Rosthern Junior College, in dessen Sammlung sich zahlrei­ che aus Rußland mitgebrachte Objekte des täglichen Gebrauchs fanden. Einige Sammelgegenstände konnten für das Museum in Ottawa erworben werden, darunter ein Caboose Sleigh (gedeckter, heizbarer Pferdeschlitten), der den Mennoniten selbst an kältesten Wintertagen den Besuch der Kir­ che und die Aufrechterhaltung sozialer Kontakte ermöglichte. In dieser zweiten Phase des Projektes ergaben sich auch mehrere Mög­ lichkeiten zu Tonbandaufnahmen. In Gesprächen war schon während der Ernte oft von jenem altertümlichen, melismatischen Kirchengesang die Rede gewesen, der vor 20 Jahren zugunsten eines moderneren Stils – des Singens nach der Ziffernnotation – aufgegeben worden war. Drei Ehe­ paare, die diesen älteren Stil noch beherrschten, konnten an einem Abend zwanglos zusammengeführt und aufgenommen werden. – Daß die Men­ noniten keine Erzähltraditionen besitzen, wie gelegentlich berichtet wird,32 war schon anläßlich häufigen Besuchs in den Sonntagsschulen entkräftet worden, wo eine lebendige religiöse Erzählüberlieferung angetroffen wer­ den kann. Ein besonders beliebter Sonntagsschullehrer erzählte – auch zur Dokumentation der plattdeutschen Mundart – einen Teil seines Reper­ toires auf Band.33 Ebenfalls aus Dokumentationsgründen wurden einige Gottesdienste mit plattdeutschen Predigten aufgenommen. Eine letzte Aktivität galt der Zusammenstellung eines Samples auto­ biographischer Dokumente, wie sie im Untersuchungsgebiet nahezu in jeder Familie anzutreffen waren. Die Auswertung der 20 gedruckten oder vervielfältigten Autobiographien soll an anderer Stelle vorgenommen wer­ den, wobei die in der Volkskunde bisher noch nicht rezipierte „biogra­ phische Methode“34 angewandt werden soll, die in der empirischen So­ zialforschung seit dem Erscheinen des Standardwerkes von Thomas und Znaniecki35 fest etabliert ist. Beim nächsten Aufenthalt in Saskatchewan 32 Quiring, Walter: Mennonitisches Brauchtum. In: Mennonite Life 4 (1949), Nr. 4, S. 11–12. 33 Einige der Texte, die nicht nach Aarne-Thompson sondern entsprechend der mittelalterli­ chen Exempla-Tradition nach Bibelstellen zu klassifizieren wären, sind abgedruckt bei Bred­ nich: Mennonite Folklore (wie Anm. 9), S. 92–97. 34 Szczepanski, Jan: Die biographische Methode. In: König René (Hg.): Handbuch der empiri­ schen Sozialforschung. Bd. 4. 3. Aufl. München, Stuttgart 1974, S. 226–252. 35 Thomas, William I. und Znaniecki, Florian: The Polish Peasant in Europe and America: Monograph of an Immigrant Group. 5 Bde. Chicago 1918–1920. Neuausgabe 2 Bde. New York 1958.

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sollen nach dem Vorbild von Linda Dégh36 einige exemplarische Lebens­ läufe von Auswanderern aufgenommen und mit Kommentar versehen ver­ öffentlicht werden. – Damit sind bereits künftige Aufgaben angesprochen. Es dürfte klar geworden sein, daß der erste Aufenthalt nur einen Beginn darstellte und sich am Ende desselben mehr Fragen erhoben, als beant­ wortet werden konnten. Eine wichtige Frage ist es, ob die neue kanadische Politik des Multikulturalismus und der Betonung der „ethnicity“ noch ein­ mal eine Verzögerung oder gar einen zeitweiligen Stillstand in dem fortge­ schrittenen Akkulturationsprozeß bewirken kann. Gewisse Tendenzen: das erwachende Interesse der Jugend an Fragen der Herkunft ihrer Eltern, die deutliche Zunahme der autobiographischen Literatur, die Pflege von platt­ deutscher Mundartliteratur usw. könnten darauf hindeuten und sind daher in Zukunft sorgfältig zu beobachten, auch im Vergleich mit der Entwick­ lung bei anderen Ethnien. Die Museumsleitung in Ottawa hat aufgrund der unerwartet reichen Ergebnisse des ersten Aufenthaltes in Aussicht gestellt, daß die Erforschung der German-Canadian Folklore möglicherweise durch die Einrichtung einer neuen Planstelle gefördert werden kann: günstige Aussichten also für die Fortsetzung der begonnenen Arbeiten auf diesem nicht alltäglichen Forschungsfeld.

36 Dégh‚ Linda: People in the Tobacco Belt. Four Lives. Ottawa 1975 (= Mercury Series, 13).

Bildforschung* Es gibt keine unschuldigen Bilder. (Nils-Arvid Bringéus)

Allgemeines und Forschungsgeschichte Im Gegensatz zur unübersehbaren Bedeutung des Bildes als Geschichts­ quelle, als Medium der Information, der Unterhaltung, Belehrung, Pro­ paganda und Indoktrination hat sich in der Volkskunde ein Interesse an der systematischen Erforschung von Bildquellen erst relativ spät entwic­ kelt. Dies hängt zweifellos damit zusammen, daß Bilder in der älteren For­ schung vorwiegend als Ausdruck individuellen Kunstschaffens galten, die dem Rezipienten Kunstgenuß vermitteln sollten. Im 19. Jahrhundert, als die Autoren wissenschaftlicher Veröffentlichungen sich noch entschul­ digen mußten, wenn sie es wagten, ihre Publikationen mit Illustrationen auszustatten, blieb die Erforschung von Bildern daher vorwiegend auf die künstlerischen Spitzenleistungen und somit auf die Disziplin Kunst­ geschichte beschränkt. Bis zur Anerkennung von Bildern als „Texten“ der nonverbalen Kommunikation, die anderen Forschungstexten ebenbürtig sind, war es noch ein weiter Weg. Erst im 20. Jahrhundert wurde allmählich das massenproduzierte Bild von anderen Wissenschaftsgebieten, darunter auch der Volkskunde, als Forschungsanliegen entdeckt. Der Durchbruch zu einem nachhaltigen und seither noch immer im Wachsen begriffenen Interesse an der Erforschung von Bildquellen ist aber zweifellos erst nach dem Zweiten Weltkrieg erfolgt, ein Interesse, welches schließlich auf In­ itiative von Nils-Arvid Bringéus 1984 in Lund in der Gründung einer Kommission für ethnologische Bildforschung der SIEF mündete. Aus dieser Institutionalisierung der Imagerieforschung als einem gemeinsamen Anliegen der Europäischen Ethnologie leitet sich auch die Berechtigung her, diesem Forschungsgebiet im Rahmen des vorliegenden Grundriß ein eigenes Kapitel zu widmen. Über die Aufgaben dieses Forschungsfeldes

*

Erstveröffentlichung in: Brednich, Rolf W. (Hg.): Grundriß der Volkskunde. Einführung in die Forschungsfelder der Europäischen Ethnologie. Berlin 1988; 3. Aufl., S. 201–220.

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Forschungsgeschichten

hat sich Bringéus folgendermaßen geäußert: „Das Bildstudium ist für den Ethnologen eine Form von Kulturanalyse. Das Bild ist ein Text, aber dieser Text muß in seinem gesellschaftlichen Zusammenhang studiert werden, um ausgiebig gedeutet werden zu können. Man könnte also von einer kon­ textuellen Bildforschung sprechen, die das Ziel hat, ein tieferes Verständnis des Menschen selbst zu erreichen“.1 Die Forschungsgeschichte im deutschsprachigen Mitteleuropa beginnt mit dem Namen des Berliner Volkskundlers und Literaturwissenschaftlers Johannes Bolte (1858–1937). Sein Interesse an frühen Flugblättern und Bilderbogen resultierte aus der volksliterarischen Motivforschung; in zahl­ reichen Aufsätzen zur Erzählforschung hat er Bildbelege zu Themen der europäischen Imagerie berücksichtigt (z.B. Altweibermühle, Doktor Sie­ mann und Doktor Kolbmann, Fuchs predigt den Gänsen, Hahnrei, Hasen braten den Jäger, Neithart, hl. Niemand, Schlaraffenland).2 Bolte hat auch als erster auf einen der großen europäischen Bilderhändler des 17. Jahr­ hunderts, Paulus Fürst in Nürnberg (1605–1666), aufmerksam gemacht,3 dem Theodor Hampe später eine Monographie widmete.4 Blieben solche Forschungen anfangs noch eher die Ausnahme, so hatte man unter dem Zeichen des Positivismus immerhin bereits damit begonnen, historische Bildquellen in Form von Katalogen und Editionen für die spätere Erfor­ schung bereitzustellen. Hierzu zählen etwa die monumentalen Ausgaben von Paul Heitz zu den Einblattholzschnitten des 15. Jahrhunderts,5 von Max Geisberg zu den Einblattholzschnitten des 16. Jahrhunderts,6 Eugen Diederichs zweibändiger Atlas Deutsches Leben der Vergangenheit in Bildern7 sowie Georg Steinhausens Monographien zur deutschen Kulturgeschichte8 (1899– 1905). 1 2 3 4 5 6 7 8

Bringéus, Nils-Arvid (Hg.): Man and Picture. Papers from the first international symposium for ethnological picture research in Lund 1984. Zitiert nach dem Neudruck Stockholm 1986, S. 11. Nachweise bei Böhm, Fritz: Bolte-Bibliographie. In: Zeitschrift des Vereins für Volkskunde 42 (1933), S. 1–68. Bolte, Johannes: Der Kunsthändler Paul Fürst in Nürnberg. In: Zeitschrift des Vereins für Volkskunde 20 (1910), S. 195–202. Hampe, Theodor: Beiträge zur Geschichte des Buch- und Kunsthandels in Nürnberg II: Paulus Fürst und sein Kunstverlag. In: Mitteilungen des Germanischen Nationalmuseums 1914/1915, S. 3–127. Heitz, Paul: Einblattdrucke des 15. Jahrhunderts. 100 Bde. Straßburg 1899–1942. Geisberg, Max: Der deutsche Einblattdruck in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts. 43 Mappen. München 1923–1930. Neuausgabe u. d. Titel: The German single-leafwoodcut: 1500–1550, ed. by Walter L. Strauss. 4 Bde. New York 1974. Diederichs, Eugen (Hg.): Deutsches Leben der Vergangenheit in Bildern. 2 Bde. Jena 1907– 08, General-Register 1909. Steinhausen, Georg (Hg.): Monographien zur deutschen Kulturgeschichte. 12 Bde. Leipzig 1899–1905. 2. Aufl. u.d.T.: Die deutschen Stände in Einzeldarstellungen. 12 Bde. Jena 1924.

Bildforschung

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Nachdem sich die Imagerieforschung in Frankreich, Belgien, den Niederlanden und Italien bereits vor dem Ersten Weltkrieg zu etablieren begann, setzte die systematisch betriebene volkskundliche Bildforschung in Deutschland in den 1920er Jahren mit Adolf Spamer (1883–1953) ein. Sein Hauptwerk hat er dem Kleinen Andachtsbild9 gewidmet, mit Weißen­ burg/Elsaß tritt bei ihm erstmals eine der wichtigsten mitteleuropäischen Produktionsstätten von Bilderbogen und Wandschmuck des 19. Jahrhun­ derts in den Blick,10 seine Deutsche Volkskunde von 1934/35 wartet mit ei­ nem eigenen Bildatlas auf, und in einem Beitrag zur Festschrift für Otto Lauffer werden zum ersten Mal die Umrisse einer vergleichenden euro­ päischen Bildforschung sichtbar, der folgender Fragenkatalog aufgetragen wird: „Was führt den Volksmenschen zum Bilderbogen? Was interessiert ihn dauernd an ihm? Was wird von den Vorwürfen der Bilderbogen durch die Jahrhunderte weitergeschleppt, was ist kurzlebiges, modisches Zeitgut? Wie unterscheidet sich der deutsche Bilderbogen in Form und Stoff und Einzelmotiv von dem französischen, dem russischen usw.? Wo trennt sich innerhalb des Bilderbogengutes das Schau- und Erzählbild vom Gedenk­ blatt und dem apotropäischen Haussegen? Wie werden die Bilderbogen er­ worben, wie aufbewahrt?“11 In seiner großen Monographie zum Bilderbo­ genthema von der Geistlichen Hausmagd hat Spamer auf solche und ähnliche Fragen umfassend Antwort gegeben.12 Gleichzeitig mit Spamer hatte der Berliner Kunsthistoriker Wilhelm Fraenger (1890–1964) sein Forschungs­ interesse den deutschen Vorlagen zu russischen Bilderbogen13 des 18. Jahr­ hunderts zugewandt und in letzteren ein so hohes Maß an schöpferischer Umformung und Aneignung erkannt, daß sein Aufsatz14 gleichzeitig als ein bedeutender Beitrag zur Falsifizierung der Naumannschen Lehre vom Gesunkenen Kulturgut angesehen werden kann.

  9 Spamer, Adolf: Das kleine Andachtsbild vom 14. bis zum 20. Jahrhundert. München 1930. Neudruck München1980. 10 Spamer, Adolf: Weißenburg im Elsaß als Bilderbogenstadt. In: Beiträge zur Geistes- und Kulturgeschichte der Oberrheinlande. Franz Schultz zum 60. Geburtstag gewidmet. Frank­ furt a.M. 1938 (= Schriftenreihe des Wiss. Instituts der Elsaß-Lothringer im Reich der Uni­ versität Frankfurt, N.F. 28), S. 199–238. 11 Spamer, Adolf: Arbeitsstand und Problemstellungen der deutschen Bilderbogenforschung. In: Volkskunde-Arbeit. Festschrift für Otto Lauffer. Berlin, Leipzig 1934, S. 109–132, hier S. 131. 12 Spamer, Adolf: Die geistliche Hausmagd. Zur Geschichte eines religiösen Bilderbogens und der volkstümlichen Devotionalliteratur. Hg. von Hain, Mathilde. Göttingen 1969 (= Veröf­ fentlichungen des Instituts für mitteleuropäische Volksforschung Marburg/Lahn, 6). 13 Lubok, pl. lubki; vgl. Sytowa, Alla (Hg.): Lubok. Russische Volksbilderbogen. 17. bis 19. Jahrhundert. Leningrad 1984. 14 Fraenger, Wilhelm: Deutsche Vorlagen zu russischen Volksbilderbogen des 18. Jahrhun­ derts. In: Jahrbuch für historische Volkskunde 2 (1926), S. 126–173.

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Forschungsgeschichten

Nach dem deutschen Zusammenbruch lenkte als erster der Münchner Literatur- und Bibliothekswissenschaftler Hellmut Rosenfeld das Interesse der Volkskunde auf die Weiterführung dieses Forschungszweiges hin. Er erkannte, daß den frühen Bilderbogen aus den Offizinen der Frühdrucker handgemalte mittelalterliche Bilderbogen vorausgegangen waren15, die z.B. für die Überlieferung des Totentanz-Themas16 von Bedeutung wurden; ferner wandte er seine Aufmerksamkeit weiteren Forschungsthemen wie Einblattkalendern und Spielkarten zu.17 In der Folgezeit war es zunächst die Spamer-Schülerin Christa Pieske, die aufgrund ihrer rasch anwachsen­ den Privatsammlung von Wandbildern das Augenmerk des Faches auf neue Forschungsaufgaben hingelenkt und durch eine bedeutende Anzahl von Publikationen und Ausstellungen die Bildforschung zu internationaler Anerkennung und Beachtung geführt hat.18 Populäre Druckgraphik wurde eigentlich erst mit Beginn der 70er Jahre ein allgemein anerkanntes Sam­ melgebiet der kulturgeschichtlich-volkskundlichen Museen. Nach außen hin sichtbar wurde der Aufschwung, den die Bildforschung erfuhr, in der 10bändigen Veröffentlichungsreihe Populäre Druckgraphik Europas, die zu­ nächst in Mailand und später in München erschien.19 Die Bände stehen stellvertretend für die Erforschung der europäischen Imagerie populaire, die besonders in Frankreich schon früh eine Pflegestätte besaß;20 aber auch Belgien und die Niederlande,21 England, Spanien, Italien,22 Russland23 so­ wie die skandinavischen Länder24 weisen entsprechend der Bedeutung der in diesen Ländern existenten Zentren der Bildproduktion gewichtige For­ schungsbeiträge auf. Sie können in dem vorliegenden Überblick aus Platz­ 15 Rosenfeld, Hellmut: Der mittelalterliche Bilderbogen. In: Zeitschrift für deutsches Alter­ tum 85 (1954), S. 66–75. 16 Rosenfeld, Hellmut: Der mittelalterliche Totentanz. Köln 1954. 17 Rosenfeld, Hellmut: Münchner Spielkarten um 1500. Ein Beitrag zur Datierung der Spiel­ karten des 15. und 16. Jahrhunderts. Bielefeld 1958; Rosenfeld, Hellmut: Kalender, Ein­ blattkalender, Bauernkalender und Bauernpraktik. In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde 1962, S. 7–24. 18 Pieske, Christa: Das ABC des Luxuspapiers. Herstellung, Verarbeitung und Gebrauch 1860–1930. 2. Aufl. Berlin 1985 (= Schriften des Museums für Deutsche Volkskunde, 9); Pieske, Christa: Bilder für jedermann. Wandbilddrucke 1840–1940. Mit einem Beitrag von Konrad Vanja. Berlin 1988 (= Schriften des Museums für Deutsche Volkskunde, 15). 19 Populäre Druckgraphik Europas. 10 Bde. München 1967–1979. In italienischer Sprache zu­ vor Milano 1964–1975 (1. Italien. 2. Frankreich. 3. Deutschland. 4. Niederlande. 5. Spanien. 6. England. 7. Skandinavien. 8. Amerika. 9. Rußland. 10. Japan). 20 Vgl. Duchartre, Pierre-Louis und Saulnier, René: L’imagerie parisienne. Paris 1944. 21 Heurck, Ém. van und Boekenoogen, G. J.: L’imagerie populaire des Pays-Bas. Belgique-Hol­ lande. Paris 1930. 22 Bertarelli, Achille: Le stampe popolari italiane. Milano 1974. 23 Sytowa: Lubok (wie Anm. 13). 24 Clausen, V. E.: Det folkelige danske traesnit i etbladstryk 1565–1884. København 1985.

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gründen nur exemplarisch mitbehandelt werden. Im gleichen Münchner Verlag Callwey, in dem die Populäre Druckgraphik erschien, wurde zwischen 1978 und 1990 von Gertrud Benker das Periodikum Volkskunst. Zeitschrift für volkstümliche Sachkultur herausgegeben. Damit stand der Bildforschung vorübergehend auch ein Organ zur Veröffentlichung kleinerer Forschungs­ beiträge zur Verfügung. In der gleichen Zeit begann sich die Bildforschung auch als Unter­ richtsgegenstand an den deutschen Universitäten zu etablieren. Dies ist wesentlich das Verdienst von Wolfgang Brückner, Martin Scharfe und Ru­ dolf Schenda. Brückner, dessen Frankfurter Habilitationsschrift bereits ein Bildthema behandelte,25 hat zu der erwähnten Serie mit seinem Band Deutschland ein Handbuch der Imagerieforschung vorgelegt26 und 1973 in einer gemeinsam mit Christa Pieske vorbereiteten Ausstellung „Die Bilderfabrik“27 die industrielle Wandschmuckproduktion als neues Anlie­ gen in die volkskundliche Bildforschung eingebracht. In einem Literaturbe­ richt zur Massenbilderforschung konnte er allein für die Jahre 1968–1978 insgesamt 245 deutschsprachige Veröffentlichungen nachweisen.28 Aus seiner Würzburger Schule sind inzwischen zahlreiche Examensarbeiten zu diesem Forschungsgebiet hervorgegangen (Informationen hierzu finden sich in den Bayerischen Blättern für Volkskunde). Von Scharfe liegen u.a. ei­ ne Monographie über Evangelische Andachtsbilder und ein ideologiekritischer Beitrag über die Stuttgarter Bilderbogen vor.29 Schenda hat sich von der Lesestoff-Forschung herkommend zunehmend auch den Problemen des Bilderhandels30 und des „Lesens“ von Bildern31 zugewandt. Unter Scharfe und Schenda besaß vorübergehend auch das Ludwig-Uhland-Institut der

25 Brückner, Wolfgang: Bildnis und Brauch. Studien zur Bildfunktion der Effigies. Berlin 1966. 26 Brückner, Wolfgang: Populäre Druckgraphik Europas. Deutschland vom 15. bis zum 20. Jahrhundert. München 1969. 2. Aufl. München 1975. 27 Brückner, Wolfgang und Pieske, Christa: Die Bilderfabrik. Dokumentation zur Kunst- und Sozialgeschichte der industriellen Wandschmuckherstellung zwischen 1845 und 1973 am Beispiel eines Großunternehmens. Frankfurt a.M. 1973. 28 Brückner, Wolfgang: Massenbilderforschung 1968–1978. In: Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 4 (1979), S. 130–178. 29 Scharfe, Martin: Evangelische Andachtsbilder. Studien zur Intention und Funktion des Bil­ des in der Frömmigkeitsgeschichte vorwiegend des schwäbischen Raumes. Stuttgart 1968 (= Veröffentlichungen des Staatl. Amtes für Denkmalpflege Stuttgart. Reihe C: Volkskunde, 5); Scharfe, Martin: Deutsche Bilderbogen für Jung und Alt. Anmerkungen zum Inhalt eines Massenmediums im 19. Jahrhundert. In: Forschungen und Berichte zur Volkskunde in Baden-Württemberg 1971–1973, S. 11–19. 30 Schenda, Rudolf: Der Bilderhändler und seine Kunden im Mitteleuropa des 19. Jahrhun­ derts. In: Ethnologia Europaea 14 (1984), S. 163–175. 31 Schenda, Rudolf: Bilder vom Lesen – Lesen von Bildern. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 12 (1987), S. 82–106.

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Universität Tübingen einen Schwerpunkt in empirischer Bildforschung.32 Nils-Arvid Bringéus hat im schwedischen Titel seines Lehrbuches das For­ schungsgebiet als „Bildlore“ bezeichnet33. Die deutsche Forschung ist ihm darin nicht gefolgt; allerdings ist auch der deutsche Titel dieses Buches Volkstümliche Bilderkunde34 keine adäquate Benennung eines noch immer in Expansion begriffenen Forschungsfeldes. Was dieses Buch als Einstiegs­ lektüre in die ethnologische Bildforschung empfiehlt, ist neben einer gro­ ßen Reihe von mustergültigen Monographien zu europäischen Bildthemen ein grundlegender Katalog von Forderungen, die von der Bildforschung beachtet werden müssen: 1. Die Bildforschung muß wie die Folkloristik eine internationale Rich­ tung erhalten. 2. Die Bildforschung muß mit einer unbegrenzten Zeitperspektive arbei­ ten, sowohl rückwärts als auch vorwärts. 3. Die Bildforschung muß sich von qualitativen Beurteilungen des Bild­ materials freihalten. 4. Die Bildforschung muß sich darum bemühen, ihre Wertungen und Haltungen offenzulegen. 5. Die Bildforschung muß die Bilder in ihrem Zusammenhang und als Teil des menschlichen Handelns studieren. 6. Die Bildforschung muß die Rolle der Bilder studieren, solange sie auf die Vorstellungen der Menschen einwirken. Und schließlich: „Ethnologie ist eine auf den Menschen ausgerichtete Wissenschaft, und Bilder aller Art, die von verschiedenen Kategorien von Menschen gebraucht wurden und werden, gehören deshalb zur Bildlore“.35 Das Bild als Dokument Die bisherige Darstellung konzentrierte sich auf die Erforschung des po­ pulären Bildes in seiner Erscheinungsform als druckgraphisches Massen­ erzeugnis. In der vorliegenden Einführung in die Forschungsfelder der Europäischen Ethnologie kann jedoch nicht auf andere Bereiche der Bild­

32 Wandschmuckforschung am Tübinger Ludwig-Uhland-Institut. Mit Beiträgen von Martin Scharfe, Rudolf Schenda, Fred Binder, Magret Tränkle, Loni Nelken, Bernd Lehmann und Horst Neißer. In: Zeitschrift für Volkskunde 66 (1970), S. 87–150. 33 Bringéus, Nils-Arvid: Bildlore – studiet av folkliga bildbudskap. Stockholm 1981. 34 Bringéus, Nils-Arvid: Volkstümliche Bilderkunde. München 1982. 35 Ebd., S. 14–18; 17.

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überlieferung verzichtet werden, die ebenfalls zum Gegenstand volkskund­ licher Forschung gehören. Gemeint sind alle jene Bildquellen, die nicht in den Umkreis der Imagerie populaire (Bilder als Kommunikationsmittel, vgl. nächsten Abschnitt) gehören, sondern ebenso wie schriftliche Text­ zeugnisse als Dokumente vor allem in der historischen Quellenforschung eine wichtige Rolle spielen. Bringéus36 nennt diese Bilder, die Botschaften aus vergangenen Zeiten vermitteln, expressive Bilder, im Gegensatz zu den instrumentalen Bildern, die Einfluß auf uns ausüben wollen und im fol­ genden Abschnitt behandelt werden. Volkskundliche Bildquellenforschung darf den Anspruch erheben, neben der historisch-archivalischen Forschung und der empirischen Feld­ arbeit eine weitere ethnologische Grundwissenschaft zu sein. Sie stellt keine Konkurrenz zur Kunstwissenschaft dar, partizipiert aber an deren Forschungsergebnissen und Editionen. Ihr Erkenntnisinteresse ist die Er­ forschung der historischen Alltagskultur mit Hilfe von zeitgenössischen Bilddarstellungen. An entsprechenden Quellen herrscht hier kein Mangel. Eine „vollständige Erfassung aller Bildquellen“ hatte bereits Hans Moser in seinem wichtigen Aufsatz Gedanken zur heutigen Volkskunde37 gefordert. Davon sind wir zwar noch weit entfernt, aber es ist unübersehbar, daß seitdem in nahezu allen Teilbereichen volkskundlicher Forschungs- und Veröffentlichungstätigkeit das Bild als Quelle der Forschung unentbehr­ lich geworden ist. Ursprünglich hatte die Erforschung von Bildern in der Volkskunde hauptsächlich in der Volkskunstforschung und in der religi­ ösen Volkskunde ihren Platz. Bevorzugte Erkenntnisobjekte waren dabei vor allem Hinterglasbilder38 und Votivtafeln,39 die mit dem in hoher Auf­ lage hergestellten Papierbild gemeinsam haben, daß es sich dabei ebenfalls um „serielle“ oder Massenquellen handelt. Sie gehören zum traditionellen Gegenstandsbereich der Volkskunde, weil sie im alltäglichen Lebensvoll­ zug speziell der mittleren und unteren Sozialschichten von Bedeutung sind und sich formal meist in Mengen statt in Einzelphänomenen äußern. Sie erfordern eine Betrachtungsweise, „die funktionale Bezüge und Vermitt­ lungsprozesse sowie deren Wandel in den Mittelpunkt rückt und vor allem 36 Ebd., S. 19. 37 Moser, Hans: Gedanken zur heutigen Volkskunde. In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde 1954, S. 208–234. Neudruck in: Gerndt, Helge (Hg.): Fach und Begriff „Volkskunde“ in der Diskussion. Darmstadt 1988 (= Wege der Forschung, 641), S. 92–157. 38 Brückner, Wolfgang: Hinterglasbildforschung. In: Harvolk, Edgar (Hg.): Wege der Volks­ kunde in Bayern. Ein Handbuch. München, Würzburg 1987 (= Veröffentlichungen zur Volkskunde und Kulturgeschichte, 25), S. 191–208. 39 Kriss-Rettenbeck, Lenz: Das Votivbild. München 1958; Kriss-Rettenbeck, Lenz: Bilder und Zeichen religiösen Volksglaubens. 2. Aufl. München 1971; Harvolk, Edgar: Votivtafeln. Bildzeugnisse von Hilfsbedürftigkeit und Gottvertrauen. München 1979.

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keine Auswahl ihrer Forschungsobjekte unter ästhetischen Gesichtspunk­ ten […] vornimmt“.40 Unter diesen Prämissen kann aber jedes beliebige Bildobjekt zum Thema ethnologischer Forschung werden, sei es ein mit­ telalterliches Fresko an einer Kirchenwand, sei es ein gotischer Klappal­ tar, ein barockes Grabdenkmal, eine holländische Genremalerei oder ein biedermeierliches Silhouettenbild. Wichtig ist dabei, daß die Forschung bei der Bildanalyse die gleichen Kriterien der Quellenkritik anlegt wie bei den schriftlichen Quellen. Bilder stellen ebensowenig wie Archivalien objektive Abbilder historischer Realität dar, sondern sie sind stets auch die Schöp­ fung von Einzelpersönlichkeiten, deren Weltsicht in ihre Wiedergaben mit einfließt. Bilder stellen sich als Zeichensysteme dar, die in gleicher Wei­ se wie Texte der Entschlüsselung bedürfen, damit ihre Aussagen für die Forschung nutzbar gemacht werden können. In die Bildquellen geht die Erfahrung der Vergangenheit ein, und unsere Aufgabe besteht darin, den hinter den verwendeten Zeichen verborgenen „historischen Dokumenten­ sinn“ für die Gegenwart wieder sichtbar und damit nutzbar zu machen. Für diesen Vorgang hat die ethnologische Bildforschung bisher noch keine eigenständige Methode entwickelt. Es empfiehlt sich daher, die in der Kunstwissenschaft entwickelten Annäherungsweisen an Bilder zu über­ nehmen bzw. für die ethnologische Bildforschung zu modifizieren. Der Fachterminus für die wissenschaftliche Analyse von Bildinhalten und -aus­ sagen ist Ikonographie. In der Kunstgeschichte zielen ikonographische Fra­ gestellungen vor allem auf die tiefere Bedeutung der von Künstlerhand geschaffenen Kunstwerke,41 in der volkskundlichen Ikonographie stehen dagegen Fragen nach dem Quellenwert der Bilder für die Erforschung der historischen Alltagskultur im Vordergrund, wobei neben Inhalt und Be­ deutung in ganz entscheidendem Maße die Entstehungsbedingungen, die Funktion und Intention des Bildes und die Einbindung seines Urhebers in Traditionen, Normen und Sozialgefüge berücksichtigt werden. Ziel ist mit Gerndt42 die Feststellung der „Indikatorfähigkeit einer bildlichen Darstel­ lung“, d.h. die Frage danach, was uns eine Darstellung über Erscheinung, Gebrauchsbedeutung oder Zeichenhaftigkeit verschiedenster Objektiva­ tionen mitteilen kann. In Anlehnung an neue kunstwissenschaftliche Ansätze von Aby M. Warburg (1866–1929) hat Erwin Panofsky (1892–1968) ein Untersu­ chungsmodell zur Beschreibung und Inhaltsanalyse von Bildkunstwerken entwickelt. Es ist im weiteren Verlauf der Forschung häufig abgewandelt 40 Gerndt, Helge: Kultur als Forschungsfeld. Über volkskundliches Denken und Arbeiten. München 1981, S. 12f. 41 Vgl. Straten, Roelof van: Einführung in die Ikonographie. Berlin 1989, S. 15. 42 Gerndt: Kultur als Forschungsfeld (wie Anm. 40), S. 75.

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und für die Bedürfnisse anderer Forschungsdisziplinen modifiziert wor­ den.43 Eine Modifikation für die volkskundliche-ethnologische Bildquel­ lenforschung sieht die vier folgenden Schritte vor: 1. Technische Beschreibung: Urheber, Herstellungstechnik, verwendetes Ma­ terial, Maße, Entstehungszeitraum, Erhaltungszustand, Aufbewah­ rungsort sowie weitere wichtige Informationen zur äußeren Form des Untersuchungsgegenstandes. 2. Die vor-ikonographische Beschreibung. Auf dieser Ebene der reinen De­ skription wird zunächst das Objekt detailliert wahrgenommen, gese­ hen: „Sehen heißt, einige hervorstechende Merkmale von Objekten erfassen“.44 Die Herstellung von Zusammenhängen zwischen den identifizierten Einzelheiten, ihre Deutung und Interpretation unter­ bleibt noch. 3. Die ikonographische Beschreibung. Durch die Verknüpfung der gesehenen Einzelheiten wird das Thema der Darstellung ermittelt, d.h. der sekun­ däre Sinn des Bildes, der eigentliche Bildgegenstand steht im Mittel­ punkt. Auf dieser Ebene sind breite Kenntnisse in der Ikonographie der betreffenden Zeit notwendig. Die Heranziehung von Vergleichs­ material kann zum Verständnis des Bildes hilfreich sein. 4. Ikonographisch-ethnologische Interpretation. In diesem vierten Schritt, den Panofsky die „ikonologische Interpretation“ nannte, erfolgt die eigent­ lich ethnologisch-kontextuelle Analyse der Quelle. Dabei werden Ent­ stehungsbedingungen, soziales Umfeld, Auftraggeber, Funktion des Bildes etc. ebenso mit einbezogen wie mögliche literarische Quellen oder Vorlagen. Ferner gilt es die Rolle des Bildes in seinen ursprüngli­ chen Kommunikationszusammenhängen und seiner zeitgenössischen Verwendung, Rezeption und Wirkung zu berücksichtigen. Bilder blie­ ben oft lange, manchmal über mehrere Generationen im Familienbe­ sitz, so daß beachtliche Langzeitwirkungen von ihnen ausgegangen sind und noch immer ausgehen. Ziel einer umfassenden Quellenkritik und Kontextanalyse ist die Herausarbeitung des historischen Doku­ mentationswertes der bearbeiteten Quelle, und zwar aus der Perspekti­ ve und mit dem Problembewußtsein der heutigen Forschung über das Verhältnis des Menschen zum Bild.

43 Für die Geschichtswissenschaft vgl. Wohlfeil, Rainer: Methodische Reflexionen zur Histori­ schen Bildkunde. In: Tolkemitt, Brigitte und Wohlfeil, Rainer (Hg.): Historische Bildkunde. Probleme – Wege – Beispiele. Berlin 1991 (= Zeitschrift für historische Forschung, Beiheft 12), S. 17–35. 44 Arnheim, Rudolf: Kunst und Sehen. Eine Psychologie des schöpferischen Auges. Neufas­ sung. Berlin, New York 1978, S. 46.

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Auf der Suche nach Paradigmen für die Anwendung dieser anspruchsvollen und aufwendigen Vorgehensweise stößt man in der Volkskunde zunächst auf Beispiele aus dem Forschungsbereich der christlichen Ikonographie. Dies erklärt sich aus der Tatsache, daß in der älteren europäischen Bildüberlie­ ferung ohnehin religiöse Themen die profanen Darstellungen zahlenmäßig überwiegen. Exemplarisch seien hier einige Bildstudien ausgewählt, die aus der volkskundlichen Museumsarbeit hervorgegangen sind: Ein Aufsatz von Leopold Schmidt (1912–1982) über den Geistlichen Bänkelsang,45 die Forschungen von Leopold Kretzenbacher über den Zusammenhang von Bildern und Legenden,46 die Monographie von Robert Wildhaber (1902–1982) über den Feiertagschristus47 und von Lenz Kriss-Rettenbeck über Lebensbaum und Ährenkleid.48 Für den traditionsreichen Arbeitsbereich der christlichen Ikonographie stehen auch bei weitem die besten Quellen- und Nachschla­ gewerke zur Verfügung.49 Im Bereich der profanen Ikonographie haben mehr und mehr Einzelforschungsgebiete der Volkskunde die historischen Bild­ quellen als Dokumente für die Rekonstruktion der Vergangenheit her­ angezogen. Hier sind vor allem die großen Monographien von Ingeborg Weber-Kellermann (1918–1993) z.B. über die Kindheit50, das Weihnachtsfest51 und über das Landleben des 19. Jahrhunderts52 zu nennen, in denen die Ab­ bildungen gleichrangig neben Textauszügen aus historischen Autobiogra­ phien, Reiseberichten etc. stehen und Text und Bild sich gegenseitig durch­ dringen und erhellen.

45 Schmidt, Leopold: Geistlicher Bänkelsang. In: Jahrbuch des Österreichischen Volksliedwer­ kes 12 (1963), S. 1–16. 46 Kretzenbacher, Leopold: Bilder und Legenden. Erwandertes und erlebtes Bilder-Denken und Bild-Erzählen zwischen Byzanz und dem Abendlande. Klagenfurt 1971 (= Aus For­ schung und Kunst, 13). 47 Wildhaber, Robert: Der „Feiertagschristus“ als ikonographischer Ausdruck der Sonntags­ heiligung. In: Zeitschrift für schweizerische Archäologie und Kunstgeschichte 16 (1956), S. 25–32. 48 Kriss-Rettenbeck, Lenz: Lebensbaum und Ährenkleid. Probleme der volkskundlichen Iko­ nographie. In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde 1956, S. 42–56. 49 Künstle, Karl: Ikonographie der christlichen Kunst. 2 Bde. Freiburg 1926–1928; Réau, Louis: Iconographie de l’art Chrétien. 3 Tle. in 6 Bdn. Paris 1955–1959; Schiller, Gertrud: Ikonographie der christlichen Kunst. 4 Tle. in 5 Bdn. und Registerbd. Gütersloh 1966– 1980; Kirschbaum, Engelbert (Hg.): Lexikon der christlichen Ikonographie. 8 Bde. Freiburg 1968–1976; Wimmer, Otto: Kennzeichen und Attribute der Heiligen. 3. Aufl. Innsbruck, Wien, München 1975. 50 Weber-Kellermann, Ingeborg: Die Kindheit. Kleidung und Wohnen, Arbeit und Spiel. Eine Kulturgeschichte. Frankfurt a.M. 1979. 51 Weber-Kellermann, Ingeborg: Das Weihnachtsfest. Eine Kultur- und Sozialgeschichte der Weihnachtszeit. Luzern 1978. Neudruck 2. Aufl. München 1987. 52 Weber-Kellermann, Ingeborg: Landleben im 19. Jahrhundert. 2. Aufl. München 1988.

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Vorausgegangen war die volkskundliche Arbeits- und Geräteforschung, in der seit den beispielgebenden Initiativen von Wilhelm Hansen in der Mu­ seumsarbeit und Publikationstätigkeit die historische Bilddokumentation bald zur unentbehrlichen Forschungsmethode wurde.53 Hansen hat mit seinem Buch über die Kalenderminiaturen der Stundenbücher der historischen Sachkulturforschung eines der schönsten Quellenwerke gewidmet.54 Auch in der Kleidungsforschung wurden Bildquellen zwar von Anbeginn an berück­ sichtigt, aber erst die modellhafte Interpretation von Bilddarstellungen auf­ grund ihres soziokulturellen Kontextes, wie sie etwa Helmut Ottenjann55 am Beispiel der Silhouetten von Caspar Dilly zum bürgerlichen Kleidungs­ verhalten des nordwestlichen Niedersachsens im Empire und Biedermeier vorgenommen hat, kann die Leistungsfähigkeit einer modernen, an Sach­ güter und Archivalien rückgekoppelten historischen Bildquellenforschung vor Augen stellen. In der Erzählforschung haben der Tradition von J. Bolte folgend die Wi­ derspiegelungen von Erzählstoffen im „narrativen Bild“ stets besondere Beachtung erfahren, aber erst der von fünf Autoren/innen gemeinsam erarbeitete Artikel Bildquellen der Enzyklopädie des Märchens vermittelt eine genauere Vorstellung von der Reichweite und Bedeutung ikonographischer Zeugnisse bei der Tradierung von Erzählstoffen sowie über die Formen­ vielfalt der Visualisierung des Narrativen in mittelalterlicher Bauplastik, in Holzskulptur und Textilien, in illustrierten Einblattdrucken und Flug­ blättern, geistlichem Bänkelsang, Bilderbogen, Reproduktionsgraphik bis hin zu kleingraphischen Produkten wie Bildpostkarten, Reklamesammel­ bildern und Briefmarken.56 Oft sind es einzelne herausragende Werke der Kunst, die immer wieder das Interesse der volkskundlichen Forschung auf sich ziehen. Hier soll vor allem auf drei berühmte Gemälde von Pieter Bruegel d.Ä. (ca. 1525/1530–1569) verwiesen werden, die bis zur Gegen­ wart eine Herausforderung für die Kulturwissenschaften darstellen und auch dieVolkskunde immer wieder beschäftigt haben: Der Kampf des Karne-

53 Hansen, Wilhelm: Die Dokumentation historischer Bildquellen der Arbeits- und Geräte­ forschung. In: Ders. (Hg.): Arbeit und Gerät in volkskundlicher Dokumentation. Münster 1969, S. 36–54; Hansen, Wilhelm: Hauswesen und Tagewerk im alten Lippe. Münster 1982. 2. Aufl. Münster 1985. 54 Hansen, Wilhelm: Kalenderminiaturen der Stundenbücher. Mittelalterliches Leben im Jah­ reslauf. München 1984. 55 Ottenjann, Helmut: Lebensbilder aus dem ländlichen Biedermeier. Sonntagskleidung auf dem Lande. Die Scherenschnitte des Silhouetteurs Dilly aus dem nordwestlichen Nieder­ sachsen. Cloppenburg 1984. 56 Brückner, Wolfgang u.a.: Bildquellen. In: Ranke, Kurt u.a. (Hg.): Enzyklopädie des Mär­ chens (= EM). Bd. 2. Berlin, New York 1979, Sp. 328–373.

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vals gegen die Fasten von 1559,57 die Sprichwörter von 155958 und die Kinderspiele von 1560.59 Die Rolle der Bildquellen als Dokumente zur Erforschung des histori­ schen Alltagslebens geht auch aus dem Umstand hervor, daß sich der Ber­ liner Sozialhistoriker Jürgen Kuczynski schon nach Erscheinen des ersten Bandes seiner Geschichte des Alltags des deutschen Volkes60 mit dem Wunsch zahlreicher Leser konfrontiert sah, die Folgebände mit Illustrationen aus­ zustatten. Er hat diese Aufgabe an Sigrid und Wolfgang Jacobeit weiter­ gegeben, die daraufhin drei Bände einer Illustrierten Alltagsgeschichte des deutschen Volkes61 vorgelegt haben, ein Werk mit einer imponierenden Zahl von Abbildungen, das dennoch insbesondere in den Bildkommentaren nicht den oben erhobenen Ansprüchen eines historisch-kritischen Umgangs mit Bildquellen gerecht zu werden vermag. Wer sich für eigene Forschungsarbeiten Bildquellen zu Themen der christlichen oder profanen Ikonographie verschaffen will, kann sich an die folgenden großen Bildarchive wenden: Index of Christian Art, Princeton University, New Jersey, USA Photographie Collection of the Warburg Institute, London Koninklijk Instituut voor het Kunstpatrimonium, Brüssel Institut für Realienkunde des Mittelalters und der frühen Neuzeit, Krems/Donau – Bildarchiv Foto Marburg/Lahn (der auf Mikrofiches publizierte Mar­ burger Index ist in vielen kunsthistorischen Instituten verfügbar).

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Für die internationale Klassifikation von Kunstwerken hat sich in den letz­ ten Jahren das an der holländischen Universität Leiden entwickelte ICON­ CLASS-System allgemein durchgesetzt,62 nach welchem auch der Marbur­ ger Index geordnet ist. Mit diesem System ist es möglich, das Basismaterial für ikonographische Studien vor allem auf dem Gebiet der von Museen 57 Schutt-Kehm, Elke M.: Pieter Bruegels d.Ä. „Kampf des Karnevals gegen die Fasten“ als Quelle volkskundlicher Forschung. Frankfurt a.M. 1983 (= Artes populares, 7). 58 Dundes, Alan und Stibbe, Claudia A.: The art of mixing metaphors. A folkloristic interpre­ tation of the Netherlandish Proverbs by Pieter Bruegel the Elder. Helsinki 1981 (= Folklore Fellows Communications, 230). 59 Hills, Jeanette: Das Kinderspielbild von Pieter Bruegel d.Ä. (1560). Eine volkskundliche Untersuchung. Wien 1957 (= Veröffentlichungen des Österreichischen Museums für Volks­ kunde, 10). 60 Kuczynski, Jürgen: Geschichte des Alltags des deutschen Volkes. 5 Bde. Berlin 1980–1982. 61 Jacobeit, Sigrid und Jacobeit, Wolfgang: Illustrierte Alltagsgeschichte des deutschen Volkes. Bd. 1: 1550–1810. Bd. 2: 1810–1900. Köln 1986–1987. Bd. 3: 1900–1945. Münster 1995. 62 Waal, Henri van de: ICONCLASS. An iconographic classification system. Ed. by Couprie, L. D. u.a. 17 Bde. Amsterdam 1973–1985.

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gesammelten Kunstwerke schnell bereitzustellen. Ein vergleichbares Klas­ sifikations- und Suchsystem für die Probleme der ethnologischen Bildfor­ schung hat das Ethnologische Institut der Universität Uppsala aufgrund einer eigenen „Bilderbank“ entwickelt.63 Das Bild als Instrument Bilder stellen Zeichensysteme dar, deren Urheber oder Distributoren sich der unterschiedlichen Medien der Verbreitung bedienen: Stein, Keramik, Glas, Holz, Metall, Textilien, Pergament, Papier, Zelluloid, Videoband, elektronische Bildplatte etc. Seit der Erfindung des Papiers und der Ent­ stehung des Bilddrucks im 14. Jahrhundert kann es keines der aufgezähl­ ten Medien mit der Wirkungsmächtigkeit der Papierbilder aufnehmen. An sie denkt man zuerst, wenn es um das Bild als Gegenstand der öffentli­ chen Kommunikation und als Instrument der Beeinflussung der Rezipi­ enten geht. Wir beschränken daher den vorliegenden Überblick auf das Bild als graphisches Erzeugnis und klammern aus Platzgründen Fotografie und Film aus, weil diese beiden Medien mit der Problematik der empiri­ schen Forschung in Verbindung stehen und ihren Platz in einem – noch zu schreibenden – Kapitel Visuelle Anthropologie im Grundriß der Volkskunde finden müßten. Das erste breitenwirksame Bildmedium der Neuzeit ist das illustrierte Flugblatt. Es entstand im ausgehenden Mittelalter aus der Kombination des älteren Holzschnittdruckes und dem Drucken mit beweglichen Lettern. Wenn hier das Wort „Buchdruck“ vermieden wird, so deshalb, weil die Frühdrucker es schnell verstanden, das neu entwickelte Verfahren nicht nur für den Druck von Büchern, sondern auch von Kleindrucken zu ver­ wenden. Die frühe Produktion von Einblattdrucken und Flugblättern ist zunächst noch ganz von religiösen Themen und den entsprechenden Funktionszusammenhängen der Schrift- und Bildkunst des Mittelalters geprägt, es dominieren Andachtsbilder, christliche Neujahrswünsche und Haussegen, Ablaßbriefe, Blätter mit den Zehn Geboten, mit Gebeten und geistlichen Liedern. Aber allmählich befreite sich die Bildpublizistik von diesen mittelalterlichen Fesseln, und mit Einladungen zu Schützenfesten, Herrscherporträts, Einblattkalendern, weltlichen Liedern und Balladen ka­ men bald auch profane Themen zu Wort. Besondere Bedeutung gewann das illustrierte Flugblatt in seiner Eigenschaft als Nachrichtenblatt als Vor­ 63 Rooth, Anna Birgitta (Hg.): Systematischer Codekatalog des Ikonographischen Archivs zur Registrierung ethnologischer und kulturhistorischer Daten von Bilddarstellungen. Uppsala 1984 (= Ikonoteket, 3).

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läufer der Zeitung. Diese sog. Einzelzeitungen stiegen in den Rang des wichtigsten Informationsmittels der frühen Neuzeit auf, allerdings war darin Information oft mit Sensation gepaart, so daß die frühen Flugblatt­ drucke alles andere als ein objektives Bild der Wirklichkeit ihrer Zeit ver­ mitteln. Die Urheber der Flugblätter wollten in aller Regel überhaupt nicht objektiv berichten und informieren, sondern auf die Rezipienten Einfluß nehmen. Das Flugblatt ist daher als eine „agitatorische Gattung“ anzu­ sehen, d.h. es ist stets parteiisch und macht aus seiner politischen, religi­ ösen oder sozialen Parteinahme meist auch keinerlei Hehl. Von daher ist es verständlich, daß die Höhepunkte der Flugblattpublizistik mit den großen geistig-religiösen und politischen Bewegungen der Neuzeit zusammenfal­ len: Reformation, Bauernkriege und Dreißigjähriger Krieg haben ebenso deutliche Spuren hinterlassen wie später noch die Französische Revolution oder die Revolution von 1848/49. Wichtig ist es deshalb, daß das Flugblatt als besonders wirkungsintensiver Teil des historischen Tagesschrifttums stets vor dem Kontext der Zeitumstände, Entstehungsbedingungen und Wirkungsabsichten verstanden und interpretiert werden muß.64 Hans Fehr, der sich als einer der ersten Forscher mit den Flugblättern der frühen Neuzeit auseinandergesetzt hat, sah darin eine „Massenkunst“.65 Von dieser Einschätzung sind wir heute abgerückt, denn weder lagen diese bebilderten Drucke in Massenauflagen vor, noch erreichten sie die Masse der Bevölkerung. Neuere Forschungen haben gezeigt, daß das Lesen von Bildern eine Kulturtechnik darstellt, die sich der Mensch in der frühen Neuzeit ebenso wie das Lesen der Schrift erst allmählich aneignen mußte: die Ikonisierung erfolgte in Parallele zur Alphabetisierung.66 Außerdem ist festzuhalten, daß die frühen Bilddrucke, selbst wenn sie nur wenige Pfen­ nige oder Kreuzer kosteten,67 für die Masse der Bevölkerung für lange Zeit unerschwinglich bleiben mußten. Das illustrierte Flugblatt als neues Kommunikationsmittel zielte vor allem auf ein der Volkssprache mäch­ tiges, lesekundiges Publikum, dessen Einkommen über dem Existenzmi­ nimum lag. Diese ökonomischen und bildungsmäßigen Voraussetzungen waren am ehesten in den Städten gegeben.68 Innerhalb der Produktion von illustrierten Flugblättern gibt es zudem erhebliche qualitative Unterschiede: 64 Brednich, Rolf Wilhelm: Flugblatt, Flugschrift. In: EM 4 (1984), Sp. 1339–1358, hier Sp. 1341. 65 Fehr, Hans: Massenkunst im 16. Jahrhundert. Flugblätter aus der Sammlung Wickiana. Ber­ lin 1924. 66 Schenda: Bilder vom Lesen – Lesen von Bildern (wie Anm. 31). 67 Schilling, Michael: Bildpublizistik der frühen Neuzeit. Aufgaben und Leistungen des illu­ strierten Flugblatts in Deutschland bis um 1700. Tübingen 1990 (= Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, 29), S. 38. 68 Ebd., S. 44.

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Viele Drucke mit komplizierten ikonographischen Botschaften und Text/ Bild-Relationen, deren Aussage auch heute noch schwer zu entschlüsseln ist, verlangten ein akademisch gebildetes Publikum, während Darstellun­ gen von schreckenerregenden Himmelserscheinungen, Mißgeburten oder Naturkatastrophen auf ein ganz anders geartetes Käuferinteresse schlie­ ßen lassen. Vereinfachend gesagt läßt sich der Unterschied von Oben und Unten im Flugblatt am Umfang des Bildanteils ablesen, daneben später auch daran, ob die Illustration im Holzschnitt- oder Kupferstichverfahren hergestellt wurde. Der Holzschnitt ist von seiner Struktur her gröber und weist daher eher die populäreren Bildthemen auf, während der Kupferstich nicht nur in der Herstellung aufwendiger, sondern auch in der Darstellung sehr viel subtilere und damit auch anspruchsvollere Bildaussagen erlaubt. Die älteren holzschnittillustrierten Flugblattdrucke sind vorwiegend in den großen, aber unkommentierten Editionen von Walter L. Strauss und Do­ rothy Alexander zugänglich, wohingegen die vorwiegend dem 17. Jahrhun­ dert angehörenden kupferstichillustrierten Erzeugnisse in den monumen­ talen, mustergültig kommentierten Ausgaben von Wolfgang Harms und seinen Mitherausgebern vertreten sind. Sicherlich macht man es sich auch zu einfach, wenn man die beiden Aussageebenen eines illustrierten Flugblattes zerlegt und das Bild für die Illiteraten in Anspruch nimmt,69 während der Text dem Gebildeten vorbehalten geblieben sei, gemäß dem vielzitierten Topos: „Was Glerte durch die Schrifft verstahn / das lehrt das Gema° hl den gmainen Mann“.70 Demgegenüber ist in Rechnung zu stellen, daß auch des Lesens Unkundi­ ge durch Vorgänge wie öffentliches Ausrufen, Anpreisen und Vorsingen, ferner durch Vorlesen und Erklären an diesen Kommunikationsinhalten partizipieren konnten. Aus der Aufzählung solcher Situationen des Ver­ triebs und der Rezeption wird bereits deutlich, daß bei der Erforschung der Flugblätter – wie später bei aller anderen populären Druckgraphik – den Kommunikationsbahnen und Vermittlungsinstanzen große Aufmerksam­ keit gebührt. Ähnlich wie bei den populären Lesestoffen71 kommt hier das Phänomen der Kolportage oder des öffentlichen Bilderhandels in den Blick.72 Seit dem 16. Jahrhundert ist der Flugblattverkäufer oder Bildermann bei Märkten, Messen, Wallfahrten etc. eine nicht mehr wegzudenkende Er­ scheinung, die in zahlreichen Gemälden und Stichen festgehalten worden 69 So Fehr: Massenkunst im 16. Jahrhundert (wie Anm. 65). 70 Harms, Wolfgang u.a. (Hg.): Illustrierte Flugblätter des Barock. Eine Auswahl. Tübingen 1983 (= Dt. Neudrucke, Reihe Barock, 30). 71 Vgl. den Beitrag von Schenda, Rudolf: Leser- und Lesestoff-Forschung. In: Brednich, Rolf Wilhelm (Hg.): Grundriß der Volkskunde. Einführung in die Forschungsfelder der Euro­ päischen Ethnologie. Berlin 2001, S. 543–562. 72 Schenda: Der Bilderhändler und seine Kunden (wie Anm. 30).

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ist. Für die spezielle Vertriebsform von Lieddrucken am öffentlichen Ort hat sich seit dem gleichen Zeitraum mit dem Markt- oder Zeitungssinger eine eigene Institution herausgebildet, die den Absatz der Ware Flugblatt mit wirksamen Werbetafeln unterstützte.73 Aus dieser der Information, Beleh­ rung und Unterhaltung dienenden Einrichtung hat sich später die vorwie­ gend auf die Erregung von Furcht und Mitleid zielende Jahrmarktskunst des Bänkelsangs entwickelt.74 Sie bediente sich „schreiender“ Bilder, sog. Schilder, die Aufmerksamkeit erregen und den Absatz der – ebenfalls meist bebilderten – Moritatendrucke fördern sollten. Gegenreformation und Barock, Aufklärung und galante Zeit75 brach­ ten zwar keine dem illustrierten Flugblatt vergleichbaren neuen Medi­ en hervor, erweiterten und verfeinerten aber das Angebot an populärer Druckgraphik. Stellvertretend für diesen Zeitraum des 17. und 18. Jahr­ hunderts sei das Phänomen der europäischen Ausrufergraphik hervorgehoben, da diese Bilderserien einen hervorragenden Einblick in das Alltagsleben ihrer Zeit ermöglichen. Das Interesse an der graphischen Darstellung des ambulanten Warenverkaufs auf öffentlichen Straßen und Plätzen und den zugehörigen Händlern beginnt bereits im ausgehenden Mittelalter in Itali­ en und Frankreich. Die Kaufrufe der Stadt Paris76 haben einem Phänomen seinen Namen gegeben, das sich im Laufe der Zeit auf immer weitere eu­ ropäische Städte ausdehnte. Die Serien reizten offenbar zum Sammeln und stellten somit frühe Souvenirs des europäischen Städtetourismus dar. In ei­ ner internationalen Bibliographie sind sie aus vielen europäischen Ländern zusammengetragen und wiedergegeben.77 Die älteste deutsche Serie mit 30 Radierungen beschreibt 1744 den Göttinger Straßenhandel; sie stammt von dem Göttinger Universitätskupferstecher Georg Daniel Heumann (1691–1759). Gleich als zweites Blatt ist darin ein Graphikhändler abge­ bildet, der mit dem plattdeutschen Kaufruf „Fiene-Bilder, Utschniebilder“ sowohl kleine (= feine) als auch großformatige Bilder zum Verkauf anbie­ tet, die zum Ausschneiden bestimmt waren. Wir erkennen darin unschwer

73 Brednich, Rolf Wilhelm: Zur Vorgeschichte des Bänkelsangs. In: Jahrbuch des Österreichi­ schen Volksliedwerkes 21 (1972), S. 87–92; ders.: Die Liedpublizistik im Flugblatt des 15. bis 17. Jahrhunderts. 2 Bde. Baden-Baden 1974–1975 (= Bibliotheca Bibliographica Aureliana, 55, 60), I, S. 285–323; ders.: Liedkolportage und geistlicher Bänkelsang. Neue Funde zur Ikonographie der Liedpublizistik. In: Jahrbuch für Volksliedforschung 22 (1977), S. 71–79. 74 Braungart, Wolfgang (Hg.): Bänkelsang. Texte – Bilder – Kommentare. Stuttgart 1985 (= Universal-Bibliothek, 804). 75 Kapitelüberschriften von Brückner: Populäre Druckgrafik Europas (wie Anm. 26). 76 Cris de Paris, vgl. Massin, Robert: Les Cris de Paris. Händlerrufe aus europäischen Städten. München 1978. 77 Beall, Karen F.: Kaufrufe und Straßenhändler. Cries and itinerant trades. Eine Bibliogra­ phie. A bibliography. Hamburg 1975.

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die Vorläufer der Modellierkartons78 und somit auch der Bilderbogen, die im 19. Jahrhundert europaweit zum bekanntesten Bilder-Massenmedium werden sollten. Der Erfolg dieses neuen Mediums basiert auf einer Reihe von Vorbe­ dingungen: Zunächst stand seit Beginn des vorigen Jahrhunderts mit Alois Senefelders (1771–1834) Erfindung des Steindrucks oder der Lithographie ein chemisches Druckverfahren zu Gebote, welches wegen der kaum noch ins Gewicht fallenden Abnutzung der Druckvorlagen höhere Auflagen und ein rascheres Drucken ermöglichte, zumal sich das Verfahren später mit der Erfindung des Dampfmotors zur Dampfdruckpresse wandelte und die industrielle Erzeugung von Bildern ermöglichte. Außerdem brachte das 19. Jahrhundert eine Reihe von wagemutigen und ingeniösen Unternehmern hervor, die das Bildgeschäft auf völlig neue geschäftliche Grundlagen stellten. Schließlich stand nach den napoleonischen Kriegen vielerorts mit abgedankten Soldaten und Invaliden ein Heer von Arbeitslosen zur Verfü­ gung, die sich als Kolporteure in den Massenvertrieb von Bildern einspannen ließen. An die Stelle der bisher führenden süddeutschen Zentren der Gra­ phikproduktion mit Augsburg und Nürnberg als Mittelpunkten traten jetzt völlig neue, bis dahin nie gehörte Städtenamen am Rand oder jenseits des deutschen Sprachraums: Épinal im französischen Departement Moselle,79 Weißenburg im nördlichen Elsaß,80 Bassano in Oberitalien und schließlich Neuruppin in der Mark Brandenburg.81 In der zweiten Jahrhunderthälfte kamen mit München82 und Stuttgart83 wieder zentrale Verlagsorte zur Gel­ tung. Nach den ersten Ansätzen zu einer Bilderbogenforschung in den 30er Jahren und einem noch eher zaghaften Wiederbeginn in den 60er Jahren erfreut sich dieser Forschungssektor neuerdings großer Beliebtheit.84 Dazu hat zweifellos beigetragen, daß zahlreiche Museen mit dem Aufbau von

78 Metken, Sigrid: Geschnittenes Papier. Eine Geschichte des Ausschneidens in Europa von 1500 bis heute. München 1978. 79 Mistler, Jean und Blaudez, François und Jacquemin, André: Épinal et l’imagerie populaire. Paris 1961. 80 Lerch, Dominique: Imagerie et société. L’imagerie Wentzel de Wissembourg au XIXe siècle. Strasbourg 1982. 81 Zaepernick, Gertraud: Neuruppiner Bilderbogen der Firma Gustav Kühn. Mit einem Bei­ trag von Wilhelm Fraenger. Leipzig 1972. Neudruck Rosenheim 1983. 82 Eichler, Ulrike: Münchener Bilderbogen. München 1974 (= Oberbayerisches Archiv, 99). 83 Stula, Hans: Deutsche Bilderbogen für Jung und Alt. Ein Gesamtverzeichnis der zwischen 1867 und 1873 erstmalig im Verlag Gustav Weise in Stuttgart hg. Bilderbogen. Hannover 1980. 84 Vgl. z. B. Hilscher, Elke: Die Bilderbogen im 19. Jahrhundert. München 1977 (= Studien zur Publizistik, 22); Held, Claudia: Familienglück auf Bilderbogen. Die bürgerliche Familie des 19. Jahrhunderts im Spiegel der Neuruppiner Druckgraphik. Bonn 1992 (= Marburger Studien zur vergleichenden Ethnosoziologie, 16).

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Sammlungen zur Populärgraphik begannen bzw. vorhandene Altbestände sichteten und vermehrt mit Ausstellungen samt zugehörigen Katalogen hervortraten. Beispiele: Karlsruhe,85 Münster,86 Hannover,87 Berlin,88 Neu­ ruppin.89 Zu einer neuen Domäne der Volkskundearbeit an Museen und Univer­ sitäten avancierte dann seit Ende der 60er Jahre die Erforschung von Reproduktionsgraphik und Wandschmuck, was in mehreren Ausstellungskatalogen90 und Dissertationen91 seinen Niederschlag fand. In der Folgezeit wurde die Erschließungs- und Forschungsarbeit auf zahlreiche weitere Erscheinungs­ formen der populären Druckgraphik und der Luxuspapierproduktion aus­ gedehnt. Es würde den Umfang der vorliegenden Übersicht bei weitem sprengen, wollten wir auf alle hier denkbaren Spezialgattungen eingehen. Eine einzige Zahl soll den Umfang der überaus intensiv gewordenen Publi­ kationstätigkeit andeuten: In einem Würzburger Forschungsprojekt wur­ den im Nachtrag zu Brückners Forschungsbericht von 1979 die bis 1991 vorliegenden Neuerscheinungen bibliographiert und kommentiert, das Er­ gebnis waren für die zwölf erfaßten Jahre 3.700 Titel. Im gleichen Projekt wurde auch eine Systematik der Erscheinungsformen erarbeitet,92 aus der wir lediglich eine Auswahl benennen und aus Platzgründen auf die zuge­ hörige Forschungsliteratur verzichten: Wallfahrtsfähnchen, Kommunionsund Konfirmationsandenken, Fleißbildchen, Vivatbänder, Papiertheater,

85 Lankheit, Klaus: Bilderbogen. Deutsche populäre Druckgraphik des 19. Jahrhunderts. Aus­ stellungskatalog des Badischen Landesmuseums. Karlsruhe 1973. 86 Dettmer, Hermann: Bilderbogen des 18. und 19. Jahrhunderts. Ausstellungskatalog des Westfälischen Landesmuseums für Kunst und Kulturgeschichte. Münster 1976. 87 Fließ, Ulrich: Bilderbogen – Kinderbogen. Populäre Druckgraphik des 19. Jahrhunderts. Begleitheft zur Ausstellung des Historischen Museums am Hohen Ufer. Hannover 1980. 88 Kohlmann, Theodor: Neuruppiner Bilderbogen. Ausstellungskatalog des Museums für Deutsche Volkskunde. Berlin 1981. 89 Brakensiek, Stefan u.a. (Hg.): Klatsch und Weltgeschehen. Neuruppiner Bilderbogen. Ein Massenmedium des 19. Jahrhunderts. Bielefeld 1993. 90 Brückner und Pieske: Die Bilderfabrik (wie Anm. 28); Pieske, Christa: Bilder für jedermann. Wandbilddrucke 1840–1940. Mit einem Beitrag von Konrad Vanja. Berlin 1988 (= Schriften des Museums für Deutsche Volkskunde, 15); Thomas-Ziegler, Sabine: Röhrender Hirsch und Betende Hände. Bildmotive und Funktion des populären Wandschmucks. Köln, Bonn 1992 (= Führer und Schriften des Rheinischen Freilichtmuseums Landesmuseum für Volks­ kunde in Kommern, 49). 91 Sturzenegger, Hannes: Volkstümlicher Wandschmuck in Zürcher Familien. Wesen und Funktion. Bern 1970 (= Europäische Hochschulschriften, Reihe 19, 2); Schilling: Bildpu­ blizistik der frühen Neuzeit (wie Anm. 70); Schlaginweit, Hans: Reproduktionslithographie. Studien zur Funktion technischer, sozialer und kommerzieller Vorgaben in der Bilderrepro­ duktion des 19. Jahrhunderts. Diss. München 1983. 92 Neukum, Michaela: Imagerieforschung, eine Bibliographie zur populären Druckgraphik. In Bayerische Blätter für Volkskunde 18 (1991), S. 133–146, hier S. 144–146.

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Guckkastenbilder, Comics, Postkarten, Schulwandbilder, Sammelbilder, Schallplattencover etc. Nach dieser Übersicht zu den Erscheinungsformen der populären Druckgraphik muß abschließend erneut die Frage nach der Forschungsmethode gestellt werden. In dem Abschnitt „Bild als Dokument“ hatten wir für die Beschreibung und Analyse von Einzelbildern ein viergliedriges Modell vorgestellt. Es ist offensichtlich, daß diese Vorgehensweise für das Bild als Massenmedium der Modifikation bedarf, und zwar in zweierlei Hin­ sicht. Zum einen muß beim Massenbild der Forschungsgegenstand als Teil der medialen Kommunikationszusammenhänge betrachtet werden, d.h. es empfiehlt sich die Anwendung eines Kommunikationsmodells, welches alle Re­ lationen zwischen Medium, Aussage, Sender und Empfänger in Rechnung stellt.93 Zum anderen ist darauf zu verweisen, daß für die Erforschung der Bildbotschaften – ähnlich wie für die Lesestoffe – das sozialwissenschaft­ liche Instrument der Inhaltsanalyse zur Verfügung steht, welches in der Bildforschung bisher jedoch noch eher selten Anwendung gefunden hat.94 Aus der getrennten Behandlung von Bild als Dokument und Bild als Instrument den Schluß abzuleiten, es handle sich dabei um unterschiedliche oder sich ausschließende Forschungsgebiete, wäre falsch. In Wirklichkeit durchdringen sich bei der konkreten Arbeit an den Objekten die beiden Bereiche. Am deutlichsten wird dies am Beispiel von Monographien zu be­ stimmten Bildthemen,95 wozu bereits Spamer mit der Geistlichen Hausmagd96 ein hervorragendes Beispiel gegeben hatte. In neueren ikonographischen Studien, wie sie exemplarisch vor allem Bringéus97 (1982) publiziert hat, ist häufig ein sog. „expressives“ Bild aus der Sphäre der Hochkunst Ausgangs­ punkt der Überlegungen, wobei dessen religiöse, moralische oder soziale Botschaft erst richtig zur Geltung kommt, wenn es durch Reproduktion und die damit einhergehende Veränderung, Anpassung oder Manipulation seiner Aussage „instrumentale“ Funktionen hinzugewinnt. Ein einprägsa­ mes Lehrbeispiel hierfür stellt Wolfgang Brückners Monographie über den Blumenstrauß als Realie98 dar. 93 Vgl. z.B. Maletzke, Gerhard: Psychologie der Massenkommunikation. Theorie und Syste­ matik. Hamburg 1963, S. 37–41. 94 Vgl. Schwibbe, Michael: Inhaltsanalyse In: EM 7 (1993), Sp. 176–183. 95 Vgl. Röhrich, Lutz: Adam und Eva. Das erste Menschenpaar in Volkskunst und Volksdich­ tung. Stuttgart 1968; Brednich, Rolf Wilhelm: Vogel am Faden. Geschichte und Ikonogra­ phie eines vergessenen Kinderspiels. In: Festschrift Matthias Zender. Bd. 2. Bonn 1972, S. 573–597. 96 Spamer: Die geistliche Hausmagd (wie Anm. 12). 97 Bringéus: Volkstümliche Bilderkunde (wie Anm. 34). 98 Brückner, Wolfgang: Der Blumenstrauß als Realie. Gebrauchs- und Bedeutungswandel ei­ nes Kunstproduktes aus dem christlichen Kult. In: Zwanzig Jahre Institut für Realienkunde. Krems 1992 (= Medium Aevum Quotidianum, 25), S. 19–62.

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Die Praxis der Bildforschung Was die Bildquellenforschung für die Studierenden der Volkskunde/Euro­ päische Ethnologie attraktiv machen dürfte, ist die Tatsache, daß neben die hier behandelte historische Bildforschung die empirische Bildforschung treten muß, an deren Entwicklung und kreativer Gestaltung die jüngere Genera­ tion entscheidenden Anteil nehmen sollte. Es bedarf kaum eines Hinwei­ ses darauf, daß die dazu notwendigen Forschungsgrundlagen in nahezu unbeschränkter Fülle zur Verfügung stehen und daß sie sich noch täglich vermehren. Hier ist z.B. an Alltagsphänomene wie Kaufhauskataloge, Bild­ postkarten, Glanzbilder, Verpackung, Werbung oder Karikaturen zu erin­ nern, die dazu noch den Vorteil bieten, daß mit ihrem Erwerb oft keinerlei oder nur geringe Kosten verbunden sind. Es ist also ohne weiteres denkbar und sinnvoll, auf diesem Gebiet eigene Sammlungen anzulegen. Für die vielleicht später einsetzende vergleichende Forschungsarbeit ist es gut zu wissen, welche anderen Privatsammler oder öffentlichen Institutionen sich für den gleichen Sammelgegenstand interessieren. Hier gibt ein zweibän­ diges Nachschlagewerk Auskunft,99 welches den Zugang zu zahlreichen Sparten und Sammlungen der Alltagskultur öffnet. Wer als Sammler und Wissenschaftler einem Kreis von Gleichgesinnten zum Erfahrungsaus­ tausch beitreten möchte, sei an die Arbeitsgemeinschaft „Bild, Druck und Papier“ (Kontakt: Konrad Vanja) verwiesen, die ihren Sitz am Museum Europäischer Kulturen in Berlin hat und alljährlich ein Papiersammler­ treffen mit wissenschaftlichen Vorträgen und Museumsbesichtigungen durchführt. Die Kommission für ethnologische Bildforschung der SIEF veranstaltet ebenfalls regelmäßig wissenschaftliche Arbeitstagungen: Bis­ her in Lund 1984,100 Reinhausen bei Göttingen 1986,101 Miskolc 1988,102 Innsbruck 1990103 und Voss/Norwegen 1995.104 „Von dem Augenblick an, wo wir die Morgenzeitung aufschlagen, bis zum Abend, wenn wir den Fernseher abschalten, sind wir dem Einfluß von Bildbotschaften ausgesetzt. Diese können so provozierend wirken,

 99 Zerges, Kristina u.a. (Hg.): Sammlungen zur Alltags- und Industriekultur. Ein Standortver­ zeichnis. 2 Bde. Berlin 1983. 100 Bringéus: Man and picture (wie Anm. 1). 101 Brednich, Rolf Wilhelm und Hartmann, Andreas (Hg.): Populäre Bildmedien. Vorträge des 2. Symposiums für Ethnologische Bildforschung. Reinhausen bei Göttingen 1986 (= Schrif­ tenreihe der Volkskundlichen Kommission für Niedersachsen, 4). Göttingen 1989. 102 Kunt, Ernő (Hg.): Bild-Kunde – Volks-Kunde. Die III. internationale Tagung des volks­ kundlichen Bildforschungs-Komitees der SIEF in Miskolc (Ungarn) 1988. Miskolc 1988. 103 Petzoldt, Leander und Schneider, Ingo und Streng, Petra (Hg.): Bild und Text. Bratislava 1993. 104 Brekke, Nils Georg: From Academic Art to Popular Pictures. Bergen 2000.

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daß wir auf sie heftig reagieren und z.B. unseren Fernseher abstellen. Aber die Beeinflussung kann auch ganz unbemerkt während unseres zerstreuten Hinschauens geschehen. Vielleicht ist es uns erst im Zeitalter des Fernse­ hens bewußt geworden, wie stark der Einfluß von Bildern ist; doch wissen wir noch sehr wenig darüber, in welcher Weise das Bild auf Kinder, Ju­ gendliche und Erwachsene wirkt“.105 Um hier zu Antworten zu kommen, benötigt die Bildforschung dringend Nachwuchs, der die richtigen Fragen zu stellen in der Lage ist.

Literatur Alexander, Dorothy und Strauss, Walter Leopold: The German single-leaf woodcut 1600–1700. A pictorial catalogue. 2 Bde. New York 1977. Arnheim, Rudolf: Kunst und Sehen. Eine Psychologie des schöpferischen Auges. Neufassung. Berlin, New York 1978. Beall, Karen F.: Kaufrufe und Straßenhändler. Cries and itinerant trades. Eine Biblio­ graphie. A bibliography. Hamburg 1975. Bertarelli, Achille: Le stampe popolari italiane. Milano 1974. Böhm, Fritz: Bolte-Bibliographie. In: Zeitschrift des Vereins für Volkskunde 42 (1933), S. 1–68. Bolte, Johannes: Der Kunsthändler Paul Fürst in Nürnberg. In: Zeitschrift des Vereins für Volkskunde 20 (1910), S. 195–202. Brakensiek, Stefan u.a. (Hg.): Klatsch und Weltgeschehen. Neuruppiner Bilderbogen. Ein Massenmedium des 19. Jahrhunderts. Bielefeld 1993. Braungart, Wolfgang (Hg.): Bänkelsang. Texte – Bilder – Kommentare. Stuttgart 1985 (= Universal-Bibliothek, 804). Brednich, Rolf Wilhelm: Zur Vorgeschichte des Bänkelsangs. In: Jahrbuch des Öster­ reichischen Volksliedwerkes 21 (1972), S. 87–92. Brednich, Rolf Wilhelm: Vogel am Faden. Geschichte und Ikonographie eines verges­ senen Kinderspiels. In: Festschrift Matthias Zender. Bd. 2. Bonn 1972, S. 573–597. Brednich, Rolf Wilhelm: Die Liedpublizistik im Flugblatt des 15. bis 17. Jahrhunderts. 2 Bde. Baden-Baden 1974–1975 (= Bibliotheca Bibliographica Aureliana, 55, 60). Brednich, Rolf Wilhelm: Liedkolportage und geistlicher Bänkelsang. Neue Funde zur Ikonographie der Liedpublizistik. In: Jahrbuch für Volksliedforschung 22 (1977), S. 71–79. Brednich, Rolf Wilhelm: Flugblatt, Flugschrift. In: Ranke, Kurt u.a. (Hg.): Enzyklopä­ die des Märchens. Bd. 4. Berlin u.a. 1984, Sp. 1339–1358. Brednich, Rolf Wilhelm und Hartmann, Andreas (Hg.): Populäre Bildmedien. Vorträ­ ge des 2. Symposiums für Ethnologische Bildforschung. Reinhausen bei Göttin­ gen 1986. Göttingen 1989 (= Schriftenreihe der Volkskundlichen Kommission für Niedersachsen, 4).

105 Bringéus, Volkstümliche Bilderkunde (wie Anm. 34), S. 19.

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Bildforschung

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Forschungsgeschichten

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Die volkskundliche Forschung an der Universität Göttingen 1782–1982* Eine Antrittsvorlesung gibt dem neuen Mitglied des Lehrkörpers einer Universität die Gelegenheit, nicht nur sich selbst, sondern auch das von ihm vertretene Fach vorzustellen.1 Ich möchte von dieser Möglichkeit Ge­ brauch machen und die fachliche Entwicklung der Disziplin Volks­kunde an unserer Alma mater in den Mittelpunkt rücken. Die Gründe, die mich zur Wahl dieses Themas bewogen haben, liegen auf der Hand. Jeder, der einen Lehrstuhl übernimmt, interessiert sich naturgemäß für die Vorge­ schichte seines Lehrstuhles und dafür, an welche Wissenschaftstradition er anknüpfen kann. Wenn er dann erfährt, daß die Institutio­nengeschichte der Volkskunde in Göttingen lediglich bis zum Jahre 1938 zurückreicht, so mag einem Ausflug in die ältere Fachgeschichte zunächst wenig Erfolg beschieden sein und kaum Berechtigung haben. Bei ge­nauerer Betrachtung erweist es sich jedoch, daß die Geschichte der Volks­kunde in Göttingen weit vor die Errichtung eines Lehrstuhles zurück­reicht. So wollen wir uns denn heute die Frage stellen: Auf wen dürfen wir uns berufen, wenn von der Frühgeschichte des Faches Volkskunde an der Universität Göttingen die Rede ist? Wer sind die Väter dieses Faches und was können wir heu­ te noch von ihnen lernen? In unserer Universitätsstadt blicken durch die zahlreichen Gedenktafeln zwei Jahr­hunderte Göttinger Wissenschaftsge­ schichte auf uns herab.2 Ob sie wohl auch dem Volkskundler etwas zu sagen haben? Wir glauben, ja.

* Erstveröffentlichung in: Brückner, Wolfgang und Beitl, Klaus (Hg.): Volkskunde als aka­ demische Disziplin. Studien zur Institutionenausbildung. Referate eines wissenschaftsge­ schichtlichen Symposions vom 8.–10. Oktober 1982 in Würzburg. Wien 1983, S. 77–94. 1 Antrittsvorlesung, gehalten am 1. Dezember 1982 an der Georg-August-Universität in Göt­ tingen. 2 Vgl. Nissen, Walter: Göttinger Gedenktafeln. Ein biographischer Wegweiser. Göttingen 1962. Neuaufl. Göttingen 1975. An weiteren bio-bibliographischen Hilfsmitteln stehen zur Verfügung: Arnim, Max (Hg.): Corpus Academicum Gottingense (1737–1928). Göt­ tingen 1930; Ebel, Wilhelm: Catalogus Professorum Gottingensium 1734–1962. Göttingen 1962; Ferner wurden die im Universitätsarchiv Göttingen vollständig vorhandenen Vor­ lesungsverzeichnisse konsultiert. Für freundliche Auskünfte danke ich dar­über hinaus mei­ nem Göttinger Kollegen Prof. Dr. Helmut Möller.

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Volkskunde, die Wissenschaft vom Volksleben oder vom „Leben in überlieferten Ordnungen“3 – wie wir früher definierten –‚ die Wissen­schaft von Kultur, Alltag und Lebensweise breiter Bevölkerungs­schichten – wie wir sie heute verstehen –‚ beginnt sich erst nach 1900 als eigenes Fach an den deutschen Universitäten einzurichten. Aber bereits im ausgehenden 18. Jahrhundert regten sich die geistigen Kräfte, die der Herausbildung einer neuen Volkstumswissenschaft den Boden bereiteten, und bereits in dieser Frühphase der Volkskunde als Wissen­schaft gewinnt Göttingen ei­ nige Bedeutung. Das damals neuentstehende wissenschaftliche Interesse an der Kultur breiter Volksschichten ent­wickelte sich auf dem Boden der Staatswissenschaften und der Statistik, und die ältesten Wortbelege für Volkskunde tauchen bezeichnender­weise dort und in der Reiseliteratur der Aufklärung auf. Den bisher ältesten Beleg für unsere Wissenschafts­ bezeichnung finden wir vor genau 200 Jahren in der in Hamburg erschie­ nenen Zeitschrift Der Reisende. Ein Wochenblatt zur Ausbreitung gemeinnüziger Kenntnisse, die von dem Göttinger Bibliothekar und Lektor für englische Sprache Friedrich Ekkard (1744–1819) redigiert wurde.4 Uli Kutter, dem wir diesen für Göttingen besonders wichtigen Fund verdanken, hat ver­ mutet, daß der Herausgeber selbst der Verfasser jener redaktionellen Vor­ bemerkung zum zweiten Quartal des Reisenden von 1782 sein könne, in der das Wort Volks-Kunde zum ersten Mal in Erscheinung tritt.5 Volks-Kunde wäre somit die Wortschöpfung eines Göttingers. In der betreffenden Stelle wird der Terminus „Volks-Kunde“ neben Völkerkunde verwendet, aber nicht lediglich als Singularbildung dazu, sondern mit dem deutlich erkennbaren Bewußtsein, daß es eine solche „Volks-Kunde“ mit einem Volk, mehr noch mit den unteren Schichten ei­ ner Nation zu tun haben müsse im Sinne heutiger regionaler (europäischer) Ethnologie: Wir sammeln gern Beiträge zur Völker-Kunde, gerade aus Büchern, wo man solche nicht vermuthet, oder die nicht allgemein gelesen werden [...] Bei dieser Veranlassung bitten wir [...] Alle, denen Volks-Kunde wenigstens ebensosehr am Herzen liegt, als Kenntniß der Höfe und vornemen Stände [...]: Sie wollen sol­ che Volks-Feste, wie hier beschrieben sind, nicht vernach­lässigen, wenn auf ihren 3

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Schmidt, Leopold: Volkskunde als Geisteswissenschaft. Gesammelte Abhandlungen zur geistigen Volkskunde. In: Handbuch der Geisteswissen­schaften 2. Wien 1948, S. 1–128. Wiederabgedruckt in: Gedenkschrift für Leopold Schmidt. Wien 1982, S. 26–57; Erstver­ öffentlichung in Mitteilungen der Österreichischen Gesellschaft für Anthropologie 73–77 (1947), S. 115–137. Vgl. Meusel, Johann Georg: Das gelehrte Teutschland oder Lexicon der lebenden teutschen Schriftsteller. Bd. 2. Lemgo 1796, S. 188f. Kutter, Uli: Volks-Kunde – Ein Beleg von 1782. In: Zeitschrift für Volkskunde 74 (1978), S. 161–166, hier S. 165.

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Reisen in ihrer Nähe eines vorfallen sollte. Der grösseste Theil der Leser-Welt würde ihnen dafür gewiß mehr danken, als für Beschreibungen der glänzendsten Hof-Feste.6

Für diese Frühphase der Entdeckung des eigenen Volkes als Studienob­ jekt möchten wir hier noch einen zweiten Göttinger Wissenschaftler in Anspruch nehmen, der im Fach selbst bisher vollkommen übersehen wor­ den ist: der siebenbürgische Aufklärungsphilosoph Michael H. Hissmann (1752–1784), 1752 in Hermannstadt geboren, in jungen Jahren 1784 in Göttingen gestorben, wo er studiert und promoviert hatte, 1782 zum au­ ßerordentlichen, in seinem Todesjahr zum ordentlichen Professor der Phi­ losophie ohne Bezüge ernannt worden war.7 Hissmann hat eine reiche und heute noch bedeutsame wissenschaftliche Publika­tionstätigkeit entfaltet, und da er durch seine Buchproduktion auch weitgehend den Lebensunter­ halt bestritt, war er auf schlechtbezahlte Übersetzertätigkeit aus dem Eng­ lischen und Französischen angewiesen. Im Zusammenhang damit hat er in seinen beiden letzten Lebensjahren das dreibändige Werk des Franzosen Jean Nicolas Demeunier (1751 bis 1814),8 L’esprit des usages et des coutumes des différens peuples (1776) ins Deutsche übertragen und bei Felßecker in Nürn­ berg heraus­gebracht.9 Im Vorbericht zu diesen Baumaterialien zur Geschichte der Menschheit bekennt sich Hissmann zu einer offensichtlich von Herder inspirierten komparatistischen Wissenschaft von der menschlichen Kultur, die spätere Entwürfe des 19. Jahrhunderts vorwegnimmt. Die Bezeichnung „vergleichende Volks- und Völkerkunde“ scheint bei Hissmann innerhalb dieses Konzeptes bereits in der Luft zu liegen, sie wird indes expressis ver­ bis nicht genannt. Trotzdem dürfen wir den früh verstorbenen Professor der Weltweisheit in die Göttinger Ahnengalerie unseres Faches einreihen, wenn er schreibt:

6 Kutter: Volks-Kunde (wie Anm. 5), S. 163. 7 Zu Hissmann vgl. Allgemeine Deutsche Biographie 12 (1880), S. 503; Pütter, Johann Ste­ phan: Versuch einer akademischen Gelehrten-Geschichte von der Georg-Augustus-Univer­ sität zu Göttingen. Bd. 2. Göttingen 1788, S. 64; Göllner, Carl: Die Beziehungen des Aufklä­ rungsphilosophen Michael Hissmann zu seiner siebenbürgischen Heimat. In: Forschungen zur Volks- und Landeskunde 3 (1960), S. 79–98 (freundlicher Hinweis von Dr. Helga Stein). 8 Zu Demeunier vgl. Nouvelle bibliographie générale 13 (Paris 1855), Sp. 556–558; d’Amat, Roman und Limouzin-Lamothe, Roger: Dictionnaire de biographie française 10 (Paris 1965), S. 987–988. 9 Demeunier, Jean Nicolas: Sitten und Gebräuche der Völker. Beyträge zur Geschichte der Menschheit. Hg. und mit eigenen Abhandlungen vermehrt von Michael Hissmann, Prof. der Weltweisheit in Göttingen. 2 Bde. Nürn­berg (Felßeckersche Buchhandlung) 1783/1784, XII, S. 372; IV, S. 408, XVIII; benutztes Exemplar: UB Göttingen Stat. 2600.

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Es sind schon so viele Bücher über den Menschen geschrieben worden; Man hat aber bisher die Sitten, Gebräuche und Gesetze der verschiedenen Völker noch nie einander näher gerückt, noch nie miteinander verglichen. Diesem Mangel hat der Verfasser [= Demeunier] abzuhelfen gesucht. Da wir fast alle Nationen, die policirten sowohl, als die wilden kennen; so ist es Zeit, daß man sie miteinander vergleiche.10

Es sollten noch Jahrzehnte vergehen, ehe ein Göttinger Wissenschaftler daranging, diese Forderung des Aufklärungszeitalters in die Tat umzuset­ zen und in den Kulturenvergleich einzutreten. Erst durch die Berufung von Jacob und Wilhelm Grimm nach Göttingen hat die volkskundliche For­ schung an unserer Universität neue Impulse empfangen.11 Jacob Grimm hat sich in seiner Göttinger Antrittsvorlesung im Jahre 1830 unter dem Titel De desiderio patriae12 mit der Heimat­liebe beschäftigt und damit den Sa­ tisfaktionsraum, der jedem von uns in der einen oder anderen Form in die Wiege gelegt ist, zum Ausgangs­punkt seiner Erforschung der europäischen Kulturen gewählt. „Lassen sie mich“ – so sagt Jacob Grimm – „mit der Sicherheit be­ginnen, die nirgends größer sein kann als in der Heimat. Dann nämlich können wir uns sicher und geschützt nennen lassen, wenn wir den Ort und den Menschen am meisten Glauben schenken und von ihm nichts befürchten […]“.13

Im Jahre 1979 hat sich der 22. Deutsche Volkskundekongreß in Kiel unter dem Titel „Heimat und Identität“ mit Problemen der regionalen Kultur befaßt. Ohne daß Jacob Grimm ausdrücklich zitiert wurde, herrschte auf diesem Kongreß 150 Jahre nach Grimms Göttinger Rede Einigkeit dar­ über, daß Heimat der „Ort tiefsten Vertrauens“ und als „Welt des intakten 10 Demeunier: Sitten und Gebräuche (wie Anm. 9), VII. Einige Kapitelüberschriften des Bu­ ches: Von den Nahrungsmitteln und Tischsitten, Cerimonien bei der Mahlzeit, Tafelvergnü­ gen, Strafen gegen Ausschweifung beim Essen, Von den Wirts­häusern, Von den Heirathen, Von der Geburt und Erziehung der Kinder, Häusliche Gebräuche, Von den Leichenbe­ gängnissen und Begräbnissen: durchaus ein Programm also, in dem wir den späteren volks­ kundlichen Kanon wiedererkennen. 11 Vgl. Denecke, Ludwig: Jacob Grimm und sein Bruder Wilhelm. Stuttgart 1971 (= Sammlung Metzler, 100); Frensdorff, Ferdinand: Jacob Grimm in Göttingen. Göttingen 1885 (= Sdr. aus Nachrichten von der Kgl. Ges. d. Wiss. an der Georg-August-Universität zu Göttingen, Nr. 1, 1885); Schoof, Wilhelm: Göttingen und die Brüder Grimm. In: Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte 14 (1937), S. 233–287. 12 Jacob Grimm: Über die Heimatliebe (1830). In: Ebel, Wilhelm (Hg.): Göttinger Univer­ sitätsreden aus zwei Jahrhunderten (1737–1934). Göttingen 1978, S. 220–227; vgl. dazu Friderici, Robert: De desiderio patriae. Ein Beitrag zum Verständnis der Antrittsrede Ja­ cob Grimms in Göttingen. In: Zeitschrift d. Ver. f. hess. Geschichte u. Landeskunde 86 (1976/1977), S. 201–207. 13 Grimm: Über die Heimatliebe (wie Anm. 12), S. 221.

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Bewußtseins“ bezeichnet werden kann und damit gewissermaßen das We­ sen von Identität ausmacht.14 Wir sehen hierin eine bemerkenswerte Konstanz im volkskundlichen Denken. Der heutige Volkskundeforscher teilt mit Jacob Grimm die Über­ zeugung, daß auch er stets eine Heimat als wissenschaftliches Bezugsfeld besitzen sollte, eine Region, eine Landschaft, eine Gemeinde, auf die er sich bei seinen empirischen Arbeiten in den verschiedensten Forschungs­ feldern beziehen kann, die ihm die Beispiele für seinen Unter­richt liefern und ihm sicherer Rückhalt sind. Wir wollen sogar noch einen Schritt wei­ ter gehen und folgern, daß ein volkskundliches Universitäts­institut wie das Göttinger – das einzige im Land Niedersachsen – einen Auftrag besitzt, der auch darin besteht, das umgebende regionale Forschungsfeld zu bestel­ len, konkret: Beiträge zu einer niedersächsischen Regionalvolkskunde zu leisten, ohne provinzielle Engstirnigkeit, unter Einbeziehung all jener Kon­ flikte und Probleme, die es manchen Bewohnern dieses Landes schwer machen, darin ihre Heimat zu erblicken. Diese Lehre ziehe ich für das von mir vertretene Fach aus der Antritts­rede jenes Mannes, den die Volkskunde immer noch als einen ihrer Väter betrachtet. Den Grimms war es nicht vergönnt, Göttingen und den südnieder­ sächsischen Raum zu ihrer dauerhaften Heimat zu wählen. Ihr politisches Engagement beendete bereits 1837 die verheißungsvoll begonnene Lauf­ bahn, die aus den beiden Kasselaner Bibliothekaren Professoren von inter­ nationalem Renommée gemacht hatte. In den sieben Göttinger Jahren ver­ öffentlichte Jacob Grimm neben Band 3 und 4 seiner Deut­schen Grammatik und dem Reinhart Fuchs vor allem die Deutsche Mythologie, die für Jahrzehnte das Standardwerk volkskundlicher Sagen-, Märchen-, Volksglaubens- und Brauchforschung bleiben sollte. Mit der Mythologie wollte Jacob Grimm den zeitgenössischen Volksüberlieferungen in Glaube, Sage und Brauch „ein bett auf heidnischem grund und boden bereiten“.15 Daß seine hochmytho­ logische Methode, das heißt die Verknüpfung rezenter Erzähl- und Glau­ bensinhalte mit der germanischen Götterlehre, ein Heer von Dilettanten auf den Plan rief und bei diesen Epigonen zu den gewagtesten Spekulatio­ nen führte, darf Jacob Grimm als dem ernsthaft arbeitenden Mythologen kaum angelastet werden. Wilhelm Grimm war in seiner Göttinger Zeit ebenfalls nicht müßig. Er vollendete die Ausgaben von Vridankes Bescheidenheit, Rosen­garten und Rolandlied und gab die stark veränderte 3. Auflage der Kinder- und Hausmärchen heraus. Für die Aktualität der Forschungen von Wilhelm Grimm in 14 Bausinger, Hermann: Heimat und Identität. In: Heimat und Identi­tät. Probleme regionaler Kultur. Volkskunde-Kongreß in Kiel 1979. Neumünster 1980, S. 9–24, hier S. 9. 15 Grimm, Jacob: Deutsche Mythologie. Bd. 1. 3. Aufl. Berlin 1854, VI.

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Göttingen begnügen wir uns mit dem Hinweis auf eine Stelle aus seinem Nibelungen-Kolleg, die uns in der Nachschrift von G. K. Frommann er­ halten geblieben ist. Sie läßt Einsichten in die Lebensgesetze der Volkssage erkennen, die auch heute noch gültig sind und durch neuere empirische Arbeiten abgesichert werden konnten: Die Eigentümlichkeit in der Fortbildung der Sage besteht darin, daß sie sich als etwas Lebendiges bewährt. Denn alles wahrhafte Leben ist nie völlig zu ergrün­ den, nie ganz ausmeßbar. Das Leben der Sage gleicht dem der Sprache, des Rechts […] Nie hat sie sich in einer ruhenden und festen Form ausgeprägt, sie ist in einer beständigen Bewegung geblieben.16

Die vielfältigen Anregungen, welche die Brüder Grimm für die Entwick­ lung einer selbständigen Wissenschaft von der Volkskultur gegeben haben, wirkten auch nach ihrem Weggang. Als Sachwalter fungierten die germa­ nische Sprach- und Literaturwissenschaft sowie verschiedene Fremdspra­ chenphilologien. Als wichtigster Repräsentant volkskund­licher Ausrichtung der frühen Göttinger Germanistik nach den Grimms ist Wilhelm (Konrad Hermann) Müller (1812–1890) zu nennen.17 Er kam aus kleinen Verhält­ nissen in Holzminden/Weser und hat sein gesamtes akademisches Leben vom Beginn seines Studiums bis zu seinem Tode in Göttingen verbracht. Er hörte noch bei Jacob Grimm, Dahl­mann und Benecke, promovierte 1841 und erhielt 1845 mit seinem Buch System und Geschichte altdeutscher Religion (1844) eine ao. Professur für deutsche Sprache und Literatur, die 1856 in ein Ordinariat um­gewandelt wurde. Das genannte Buch hatte eine hef­ tige Kontroverse mit Jacob Grimm in Berlin zur Folge, die in Rezensionen und offenen Send­schreiben ausgefochten wurde.18 Grimm hatte Müller des Plagiats bezichtigt und dessen Buch darüber hinaus „die billigste Armut an eigenem Stoffe“ vorgeworfen.19 Müller setzte sich heftig zur Wehr: „Ver­ langt Herr Grimm ein Monopol für sich? Sollen alle andern in Deutschland nur sammeln, damit er ihre Sammlungen nach seinen individuellen Ansich­ ten allein verarbeite?“20 Worum es in dieser Auseinandersetzung im Grunde ging, war die Fra­ ge, ob jeder heutige Aberglaube religiösen Ursprungs sei oder ob jede im Volke lebende Glaubensvorstellung im deutschen Heidentum wurzeln müsse. Die bei Grimm niemals in Frage gestellte Kontinuitätsprämisse er­ 16 Denecke, Ludwig: Die Göttinger Jahre der Brüder Jacob und Wilhelm Grimm: In: Göttin­ ger Jahrbuch 1977, S. 139–155, hier S. 148f. 17 Über W. K. H. Müller vgl. Schröder, Edwin in: ADB 52 (1906), S. 530–537. 18 Grimm, Jacob: Kleinere Schriften 5. Berlin 1871, S. 336–344; 7 (1884), S. 600–602; Müller, Wilhelm: Offenes Sendschreiben an Herrn Jacob Grimm. Göttingen 1845. 19 Grimm: Kleinere Schriften 5 (wie Anm.18), S. 339. 20 Müller: Offenes Sendschreiben (wie Anm. 18), S. 6.

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fuhr durch Müller erstmals gewisse Einschränkungen. Er verlangte nach einer strengeren Sichtung der Quellen, forderte, daß das Gebiet des Volks­ glaubens und dessen Wurzeln zunächst für sich und ohne den vor­eiligen Brückenschlag zum germanischen Altertum erforscht werden müsse, und ebenso wollte er die Mythologie der Volkssage auf ihre eigenen Füße ge­ stellt sehen, ehe man aus ihr direkt das alte Heidentum erläutere. Diese Forderungen setzte Müller 1855 bei der Herausgabe der Niedersächsischen Sagen und Märchen in die Tat um.21 Das Material zu dieser Samm­ lung stammte großteils von dem in Einbeck tätigen Rektor Georg Scham­ bach (1811–1879), der es aus mündlicher Überlieferung gesammelt hatte. Müller entwickelte in der Einleitung und in den Kom­mentaren zu dieser Ausgabe erstmals die Grundzüge einer vergleichenden Sagenforschung. Die Sagen schienen ihm jetzt noch weniger als früher als Quellen der deutschen Mythologie in Frage zu kommen, sie waren für ihn daher keine entstellten Überbleibsel aus heidnischer Götterlehre, sondern Zeugnisse zählebiger Volksdichtung, die Ursprünglichkeit beanspruchen dürfen, also nicht Derivate sind. So kommt nach Müller der deutschen Mythologie eine ganz neue Aufgabe zu, nämlich nicht mehr die einen Mythen „aus den an­ dern herzuleiten, um in den deutschen Volkssagen die Spuren nordischer und selbst indischer Mythen nach­zuweisen, sondern zunächst nur um die Formen, in welche der Volksgeist seine Anschauungen gekleidet hat‚ zu verstehen“.22 Das Stichwort von den „indischen Mythen“ ist zweifellos als Seiten­ hieb auf einen anderen Göttinger Philologen zu verstehen, der sich als Orientalist der vergleichenden Erzählforschung zugewandt hatte. Es ist Theodor Benfey, geboren 1809 in Nörten bei Göttingen, 1829 an der hie­ sigen Universität habilitiert, seit 1834 bis zu seinem Tode in Göttingen als Sprachwissenschaftler, Orientalist, vor allem als Indologe tätig. Sein Inter­ esse an den Problemen der Märchenforschung geht schon in das Jahr 1839 zurück, aber erst als Fünfzigjähriger legte er 1859 mit der Übersetzung des Pantschatantra (Fünf Bücher indischer Fabeln, Märchen und Erzählungen) in einer über 600 Seiten umfassenden Ein­leitung einen hochbedeutsamen Beitrag zur vergleichenden Volks­erzählungsforschung vor.23 Bei einer Rei­ 21 Niedersächsische Sagen und Märchen. Aus dem Munde des Volkes gesammelt und mit Anmerkungen und Abhandlungen. Hg. von Georg Schambach, Rector in Einbeck und Wil­ helm Müller, Professor in Göttingen. Göttingen (Vandenhoeck u. Ruprecht) 1855. XVI, 426 S. Neuausgabe Stuttgart 1948 (= Denkmäler deutscher Volksdichtung, hg. von W.-E. Peuckert, 1). Die Abhandlungen Müllers sind in der Neuausgabe weg­gelassen worden. 22 Ebd., XV. 23 Benfey, Theodor (Hg.): Pantschatantra. Fünf Bücher indischer Fabeln, Märchen und Erzäh­ lungen. Aus dem Sanskrit übersetzt mit Ein­leitung und Anmerkungen. 2 Bde. Leipzig 1859. Neudruck Hildesheim 1966.

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he von indischen Märchen­erzählungen gelingt ihm zum ersten Mal der Nachweis, daß diese über arabische, griechische, hebräische und lateinische Vermittlung vom 6. Jahrhundert bis ins 13. Jahrhundert literarisch tradiert wurden und schließlich in die Volkssprachen gelangten. Aus diesen Beobachtungen entwickelte er seine „indische Theorie“. Seine Schüler – unter ihnen vor allem Gaston Paris‚ der 1857/58 in Göttin­ gen Sprachwissenschaft studierte, und seine Fachkollegen Reinhold Köhler und Emmanuel Cosquin – verhalfen dieser Theorie bald zur internationa­ len Anerkennung. Trotz aller Einschränkungen, die später gemacht worden sind,24 liegt in dem Nachweis literarischer Ver­mittlung von Märchenstoffen ein wichtiger methodischer Ansatz, der später in Finnland zur historischgeographischen Methode der Märchen­forschung weiterentwickelt wurde. Angesichts des in Göttingen an unse­rem Seminar für Volkskunde behei­ mateten Unternehmens Enzyklopädie des Märchens verdient der Hinweis auf einen in Göttingen erbrach­ten bedeutsamen Beitrag zur Entwicklung die­ ses Forschungszweiges auch heute noch alle Hochachtung. Jacob Grimms Urteil über Theodor Benfey lautete: „Die oft verschmähte Erforschung der Märchenwelt, wie sie in ganz Europa und Asien ihren Sitz hat, wird durch Benfey’s umfassende und tiefgreifende Erörterungen gerechtfertigt.“25 Adalbert Bezzenberger (1851–1922), der 1874–1880 als Privat­dozent und ao. Professor für Sanskrit und vergleichende Sprachwissen­schaft an der Göttinger Georgia Augusta tätig war und später in Königs­berg volkskund­ liche Forschungstätigkeit entfaltete,26 gab 1890–1892 die Kleineren Schriften seines Lehrers Benfey27 heraus. Aus der gleichen Schule ging schließlich noch der Sprachwissenschaftler August Leskien (1840–1916) hervor, der 1867–1869 als Privatdozent in Göttingen wirkte und später an den Univer­ sitäten Jena und Leipzig verschiedene Veröffentlichungen zur Volkskunde hervorgebracht hat, unter anderem eine Sammlung litauischer Volkslieder28 und noch 1915 eine Edition von Balkanmärchen.29 24 Simpson, Georg von: Theodor Benfey. In: Ranke, Kurt u.a. (Hg.): Enzyklopädie des Mär­ chens. Bd. 2 (1979), Sp. 102–109. 25 Zitiert nach Fick, Richard: Einführung, in: Theodor Benfey als Begründer der vergleichen­ den Märchenkunde. Ausstellung anläßlich der 50. Wiederkehr des Todestages von Theodor Benfey. Göttingen 1931, S. 12. 26 Bezzenberger, Adalbert: Die Kurische Nehrung und ihre Be­wohner. Stuttgart 1889 (= For­ schungen zur deutschen Landes- und Volkskunde 3, 4); ders.: Litauische Forschungen. Bei­ träge zur Kenntnis der Sprache und des Volkstums der Litauer. Göttingen 1882. 27 Bezzenberger Adalbert (Hg.): Kleinere Schriften von Theodor Benfey. 2 Bde. Berlin 1890– 1892. 28 Leskien, August: Litauische Volkslieder aus Wilkischken. In: Arch. f. slav. Phil. 4 (1880), S. 591–610; Ders. und Brugmann, Karl: Litauische Volks­lieder und Märchen aus dem preuß. und russ. Litauen. Straßburg 1882. 29 Leskien, August: Balkanmärchen. Aus Albanien, Bulgarien, Serbien und Kroatien. Jena 1915 (= Märchen der Weltliteratur, 11).

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Nach diesem Ausflug in die nichtgermanischen Philologien kehren wir zur germanischen Philologie zurück und damit auf eine Gestalt, an der wir bei der Beschäftigung mit der frühen volkskundlichen Forschung an der Universität Göttingen nicht vorbeikommen: Moriz Heyne (1837 bis 1906).30 Er stammte aus Weißenfeld/Saale in Thüringen, sein Vater war Seilermeister. Die Heirat mit einer reichen Frau und eine Erbschaft er­ möglichten ihm das Studium der Germanistik, Geschichte und klassischen Philologie in Halle. 1870 trat er die Nachfolge des Basler Germani­sten Wilhelm Wackernagel an und wurde 1883 als persönlicher Ordina­rius an die Göttinger Universität berufen. Die preußische Regierung wollte da­ mit Heyne vor allem als Mitarbeiter für das Deutsche Wörter­buch gewinnen. Heynes Verdienst für die Germanistik besteht denn auch darin, daß er in seiner bis 1906 währenden Tätigkeit in Göttingen die Wörterbucharbeit wesentlich gefördert hat. Auf ihn gehen die Bände L‚ M und S des Deutschen Wörterbuchs zurück. Uns interessieren hier mehr seine Meriten um die Realienkunde und die Museumsarbeit, die Aktivitäten eines Germanisten also für zwei Forschungsfelder, die man heute wohl mehr in die Zuständig­ keit der Volkskunde zählen darf. In seiner Hauptvorlesung „Einführung in das Studium der Philologie“, zu der er als einer der ersten Göttinger Pro­ fessoren auch Damen zuließ (im Gegensatz zu seinem Kollegen Gustav Roethe), plädierte Heyne für die Erweiterung des germanistischen Kanons: nicht nur Literaturdenkmäler, auch Denkmäler der Kunst, des Gewerbes und der mündlichen Überlieferung seien für den Philologen von Interesse, seine Arbeitsgebiete müßten daher auch lauten: Recht,31 Staat, Glauben, Lebensart, Sitte, Kunsthandwerk, Altertümer. Folgerichtig kündigte er auch regelmäßig Vorlesungen über die deutsche Altertumskunde an. Die Frucht dieser Lehrtätigkeit sind seine vier Bände Die Hausaltertümer,32 die 30 Zu Heyne vgl. vor allem Röhrbein, Waldemar: Moriz Heyne 1837–1906. Professor der Ger­ manistik. Gründer des Städtischen Museums und des Geschichtsvereins in Göttingen. Eine biographische Skizze. In: Göttinger Jahrbuch 23 (1975), S. 171–200. 31 Das Stichwort ‚Recht‘ gibt Veranlassung, wenigstens mit einem Satz auf den großen Göttin­ ger Rechtsgelehrten Rudolf von Jhering einzugehen, dessen Werk „Der Zweck im Recht“. 2 Bde. Leipzig 1904/1905, für die recht­liche Volkskunde noch heute von außerordentlichem Interesse ist. R. v. Jhering hat aber auch gerne in populären Aufsätzen mit ungeheurem Sachwissen Themen angeschlagen, denen sich die Volkskunde erst sehr viel später zuwen­ den sollte, und leider oft ohne die Kenntnis von seinen Auf­sätzen, die an versteckter Stelle erschienen sind und die uns wert scheinen, hier genannt zu werden: Das sociale Motiv der Mode. In: Die Gegenwart. Wochenschrift für Literatur, Kunst und öffentliches Leben 20, Nr. 34 (Berlin, 20. August 1881), S. 113–115.; ders.: Das sociale Motiv der Tracht. In: Ebd., 21, Nr. 1 (7. Januar 1882), S. 3–5, Nr. 3 (21. Januar 1882), S. 36–38.; ders.: Ästhetik des Es­ sens und Trinkens. In: Ebd., 22, Nr. 37 (16. September 1882); S. 179–182. 32 Heyne, Moriz: Fünf Bücher deutscher Hausaltertümer. Bd. 1. Leipzig 1899; Bd. 2. 1901; Bd. 3. 1903; Bd. 4. Das altdeutsche Handwerk. Aus dem Nachlaß hg. von Crome, Bruno. Straßburg 1908.

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seit 1899 herauskamen: Band 1 beschäftigt sich mit dem Deutschen Wohnungswesen von den ältesten geschichtlichen Zeiten bis zum 16. Jahrhundert, Band 2 mit dem Deutschen Nahrungswesen, Band 3 mit Körperpflege und Kleidung, Band 4 Das altdeutsche Handwerk konnte er nicht mehr vollenden, Bruno Crome hat ihn aus Heynes Nachlaß heraus­gegeben. Der Göttinger Germanist Ed­ ward Schröder steuerte einen Nekrolog bei. Die vier Bände deutscher Hausaltertümer schätzen wir heute noch als wissenschaftliche Leistungen in der Volkskunde hoch ein, weil sie einer sich um die Jahrhundertwende an verschiedenen Hochschulen konstituieren­ den Disziplin Volkskunde, die vorwiegend noch als Volksdichtungs- und Brauchforschung betrieben wurde, Arbeitsgebiete jen­seits der Philologien aufzeigten. So rühmt denn auch Michael Haberlandt in einer Rezension der Hausaltertümer in der Zeitschrift für österreichische Volkskunde‚ die Bauern­ hausforschung habe durch dieses Werk von Moriz Heyne endlich ihre „hi­ storische Fundierung“ erfahren.33 In Göttingen ist der Geheimrat Heyne auf Grund zweier weiterer In­ itiativen noch lange nach seinem Tode bei Bürgern und Handwerkern (er stammte ja selbst aus einer Handwerkerfamilie!) populär geblieben: durch die Gründung eines Geschichtsvereins (1892) und die Errichtung einer „Städtischen Altertumssammlung“ (1889), beides mit dem Ziel, „den Bür­ gern [...] Göttingens historisches Verständnis für das Werden und Wachsen der Stadt und der Landschaft, ihres Lebens und ihrer Sitten zu erschließen, und dadurch Liebe zu ihr und Gemeinsinn zu pflanzen und zu pflegen“. Heynes Anstößen verdanken wir demnach die Existenz des Städtischen Museums34 (er selbst vermied gerne das Fremd­wort), eine Einrichtung, die wir heute mit Recht ein Museum der Stadt­geschichte und der Volkskunde nennen dürfen, zumal es heute von einem Volkskundler, H.-G. Schmeling, geleitet wird. Wie fruchtbar sich Heynes Konzept einer deutschen Altertums­kunde auf die Entwicklung des Faches Volkskunde ausgewirkt hat, geht allein schon aus der folgenden Tatsache hervor. Einer von Heynes Schülern war der in Weende geborene Otto Lauffer, der 1908–1946 Direktor des Muse­ ums für hamburgische Geschichte und von 1919–1947 zugleich Professor für Volks- und Altertumskunde an der Universität Hamburg war.35 Noch gegenwärtig trägt dieser Lehrstuhl die auf Heynes Konzeption zurückge­ 33 Haberlandt, Michael. In: Zeitschrift für österreichische Volkskunde 5 (1899), S. 238, in ei­ ner Rezension des ersten Bandes der „Hausaltertümer“. Auch die beiden folgenden Bände wurden von ihm im gleichen Organ rezensiert: 8 (1902), S. 62; 9 (1903), S. 180. 34 Vgl. Heyne, Moriz: Kurze Wegleitung durch die Städtische Alter­tumssammlung zu Göttin­ gen. Göttingen 1900. 35 Vgl. Freudenthal, Herbert: Otto Lauffer (1874–1949). In: Zeit­schrift für Volkskunde 51 (1954), S. 261–263.

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hende Bezeichnung, und der Lehrstuhlinhaber ist wieder ein ehemaliger Göttinger: Gerhard Lutz. In der langen Reihe weiterer Göttinger Sprach- und Literaturwissen­ schaftler des 19. und 20. Jahrhunderts, die sich zeitweilig auch volkskundli­ chen Forschungs- und Editionsunternehmen zugewandt haben oder deren Werk für die Volkskunde von Bedeutung ist, wollen wir nur noch einige besonders markante hervorheben: Karl Goedeke (1814–1887), seit 1873 Professor für Literaturgeschichte in Göttingen.36 Sein Grundriß zur Geschichte der deutschen Dichtung gehört auch heute noch zum Handwerkszeug jedes Volksdichtungsforschers. – Edward Schröder (1858–1942), von 1902–1926 als Nachfolger Gustav Roethes auf dem germanistischen Lehrstuhl, Lehrer von John Meier und Julius Schwietering.37 – Friedrich Ranke (1882–1950), seit 1912 Privatdozent für germanische Philologie, von 1917–1921 ao. Pro­ fessor, Autor der Monographie Der Erlöser in der Wiege und Herausgeber der Deutschen Volkssagen, der schon sein Habilitationskolloquium 1910 über ein Problem unseres Faches gehalten hatte: „Sage und Märchen“.38 – Enno Littmann (1878–1958), von 1913–1917 o. Professor für semitische Sprache und Literatur (später in Bonn und Tübingen), Herausgeber Arabischer Be36 Goedeke, Karl Friedrich Ludwig: Grundriß zur Geschichte der deutschen Dichtung. 15 Bde. Dresden, Berlin 1884–1887. 37 Schröder, Edward: Die Ebstorfer Liederhandschrift. Norden 1890 (= Sdr. aus JbdVfndSprf, 15). Die Ausgabe ist seinem Göttinger Lehrer Karl Goedeke gewidmet, dem er eine hs. Ko­ pie der untersuchten Quelle, einer Hs. von 1490–1520 aus dem Benediktinerinnen-Kloster Ebstorf in der Lüneburger Heide, verdankte. - Ferner: Heyne, Moriz: Nekrolog. In: Allg. Zeitung (1906), Beilage Nr. 62; Wiederabdruck in Heyne, M. und Crome, B.: Das altdeut­ sche Handwerk. Straßburg 1908, VII-XIV. – Heyne ist Hg. von: Zwei altdeutsche Schwänke. Die böse Frau. Der Weinschwelg. Leipzig 1913. 2. Aufl. 1919. 38 Friedrich Ranke war als Student in München von Friedrich von der Leyen für die Volks­ dichtungsforschung gewonnen worden. Nach der Promotion bei Gustav Roethe über den „Wälschen Gast“ (1907) habilitierte er sich 1910 bei Ernst Martin in Straßburg mit der Sagenmonographie: „Der Erlöser in der Wiege. Ein Beitrag zur deutschen Volkssagen­ forschung“. München 1911. Zwei Jahre später habilitierte er sich dann nach Göttingen um, als Edward Schröder ihm einen bezahlten Lehrauftrag anbot. „Die Umschreibung der künftigen Lehrbefugnis wünschte sich Ranke so: das Gesamtgebiet der Germanischen Phi­ lologie, mit besonderer Berücksichtigung der Nordistik und der Volkskunde. Das Wort ‚Volkskunde‘ mußte er auf Verlangen Schröders fallenlassen; er revanchierte sich feinsinnig mit der Antrittsvorlesung über ‚Sage und Erlebnis‘, deren klärendes Resultat den Ordi­ narius doch nur halbwegs überzeugte, daß volkskundliche Fragestellun­gen und Methoden die Germanistik auf wissenschaftliche Art bereichern könnten“. Rupp, Heinz und Studer, Eduard: Friedrich Ranke. Kleinere Schriften. Bern, München 1971, S. 8. Darin S. 189–410. Wieder­abdruck seiner wichtigsten Schriften zur Volkskunde, aus seiner Göttinger Zeit un­ ter anderem noch der Vortrag „Der Huckup“, gehalten im Kreise der „Graeca“ 1919. Ein vollständiges Schriftenverzeichnis Rankes hat Walter Weidmann im Schweizerischen Archiv für Volkskunde 46 (1949/1950), S. 195–202 zusammengestellt. Ranke wurde 1921 nach Königsberg berufen, von 1938 bis zu seinem Tode wirkte er als Nachfolger von Eduard Hoffmann-Krayer an der Universität Basel.

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duinenerzählungen und Übersetzer der berühmten Märchen aus 1001 Nacht.39 – Alfons Hilka (1877–1939),40 von 1921 bis 1939 o. Professor für romani­ sche Philologie, dem wir neben vielen anderen, volkskundlich bedeutsamen Werken die Edition der Carmina burana (1930) und der Wundergeschichten des Caesarius von Heister­bach (1933) verdanken. Für einen Göttinger Studenten gab es somit all die Jahre, in denen das Fach nicht durch einen Lehrstuhl vertreten war, mannigfache Möglich­ keiten zur Begegnung mit volkskundlichen Forschungsfeldern in Literatur und Volksdichtung. Erst in der Periode nationalsozialisti­scher Herrschaft kam es in Göttingen zur Errichtung eines Lehrstuhls für Volkskunde.41 Das verwundert als allgemeiner Zeittrend nicht angesichts der Tatsache, daß viele geisteswissenschaftliche Konjunktur­ritter nur allzu leicht bereit waren, sich mit ihrer Forschung und Lehre in den Dienst der rassistischen Volkstumspolitik und völkischen Ideologie einspannen zu lassen. Die Stelle kam jedoch erst im Jahre 1938 auf die Universität zu, nachdem die Reform der Lehrerbildung das Studium der Volkskunde an allen Hochschulen und Lehrerbildungsanstalten in Preußen zum Pflichtfach erhoben hatte. Erhebliche Mittel erhielt die sogenannte volkskundliche Forschung zu­ vor schon über die nationalsozialistische Stiftung „Ahnenerbe“.42 In Göt­ tingen bestand unter der Leitung von Wolfgang Krause eine „Zentralstelle für Runenforschung“ beim „Ahnenerbe“. Während dieses Institut noch als ein Ort ernstzunehmender Arbeit anzusehen ist, wurde die Pseudowissen­ schaft der sogenannten Sinnbildkunde zum Tummelplatz von Dilettanten, Phantasten und Scharlatanen. An ihrer Spitze stand Herman Wirth‚ ein Schüler John Meiers‚ der als Protegé des horo­skopgläubigen Himmler 1935 in Marburg Leiter einer „Pflegestätte für Schrift- und Sinnbildkunde“ wur­ de, aus der er aber bereits 1938 wieder wegen Mittelverschwendung, orga­ nisatorischer und fachlicher Unzuläng­lichkeit sowie menschlicher Schwä­

39 Littmann, Enno: Arabische Beduinenerzählungen. 2 Bde. Straßburg 1908 (= Schriften der wiss. Ges. in Straßburg, 2–3); ders.: Friesische Erzählungen aus Alt-Wangerooge. Letzte Klänge einer verschollenen Sprache. Oldenburg 1922; ders.: Tausendundeine Nacht in der arabischen Literatur. Tübingen 1923 (= Philosophie und Geschichte, 2). 40 Hilka, Alfons (Hg.): Der altfranzösische Prosa-Alexander nach der Berliner Bilderhand­ schrift. Halle a.S. 1920; ders.: Die Wunder­geschichten des Caesarius von Heisterbach. Bd. 1 u. 3. Bonn 1933/1937; Hilka, Alfons und Schumann, Otto (Hg.): Carmina burana. Mit Benutzung der Vorarbeiten Wilhelm Meyers. Heidelberg 1930. 41 Zusammenfassend Brednich, Rolf Wilhelm: Volks­kunde – die völkische Wissenschaft von Blut und Boden. In: Dahms, Hans-Joachim: Die Universität Göttingen unter dem National­ sozialismus. Göttingen 1987, S. 491–498. 42 Kater, Michael Hans: Das „Ahnenerbe“ der SS 1935–1945. Ein Beitrag zur Kulturpolitik des Dritten Reiches. Stuttgart 1974.

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chen ausgebootet wurde.43 An seine Stelle trat der SS-Sturmbannführer Karl Theodor Weigel‚ ein von naivem Symboldenken und von fast schon krankhafter Symbolsuche besessener Laienforscher, dem es 1943 gelang, seine „Hauptstelle für Sinnbildforschung“ von Horn bei Detmold nach Göttingen zu verlegen und mit der „Zentralstelle für Runenforschung“ zu vereinen. Die Kom­bination: hier ein seriöser Wissenschaftler, Koryphäe auf seinem For­schungsgebiet – dort der geltungsbedürftige SS-Mann ohne Studien­abschluß und ohne akademische Qualifikation als Abteilungsleiter, beide nebeneinander im gleichen Institut, das bleibt bis heute eine der un­ erklärlichen Merkwürdigkeiten jener Epoche. Die 25.000 Fotografien und die mit geheimnisvollen Symbolzeichen bedeckten Karteikarten des Wei­ gelschen Symbolarchivs sind uns am Seminar für Volkskunde ge­blieben als Relikt eines dunklen Jahrzehnts, in welchem Planlosigkeit und Phantasterei als Forschungskonzepte galten.44 Der Merkwürdigkeiten aber noch nicht genug! Es sind die Begleitum­ stände bei der Errichtung des volkskundlichen Lehrstuhls, die heute noch unseren Widerspruch erregen und die um der Wahrheit willen auf­gedeckt werden müssen. Die Göttinger Nachkriegsvolkskunde ist bisher mit Still­ 43 Wirth, Herman: Der Aufgang der Menschheit. Untersuchungen zur Geschichte, der Re­ ligion, Symbolik und Schrift der atlantisch-nordischen Rasse. Jena 1928; ders.: Was heißt Deutsch? Ein urgeistesgeschichtlicher Rückblick zur Selbstbesinnung und Selbstbestim­ mung. Jena 1931; ders.: Die Ura Linda Chronik. Übersetzt und mit einer einfachen ge­ schichtlichen Untersuchung. Leipzig 1933; ders.: Die heilige Urschrift der Menschheit. Sym­ bolgeschichtliche Untersuchungen diesseits und jenseits des Nord­atlantiks 1: Textband; 2: Bildband. 5. Aufl. Leipzig 1936; ders.: Der Untergang des niederländischen Volksliedes. Den Haag 1911; ders.: Vom Ursprung und Sinn des Hakenkreuzes. Leipzig 1933. 44 Weigel, Karl Theodor: Lebendige Vorzeit rechts und links der Landstraße. Berlin 1934; Weigel, Karl Theodor und Borchers, Karl: Goslar. Alte Wohn­bauten und Sinnbilder. Ent­ wicklung des Bürgerhauses und seiner Schmuck­formen und der nordisch-germanischen Sinnbilder in der Reichsbauernstadt. Goslar 1935; Weigel, Karl-Theodor und Spitzmann, Hans: Quedlinburg, Heinrichs I. Stadt. Berlin 1936; Weigel, Karl Theodor: Nürnberg, Fran­ kenreich, Deutschland. Berlin 1936; ders.: Landschaft und Sinnbilder. Eine Betrachtung der Sinnbildfrage. Karlsbad, Drahowitz, Leipzig 1938 (= Volksdeutsche Reihe, 26) ders.: Sinnbilder in der fränkischen Landschaft. Berlin 1938 (= Deutsches Ahnenerbe, 3. Abt., 4); Weigel, Karl-Theodor und Leh­mann, Siegfried: Sinnbilder in Bayern. Alt-Bayern und Ostmark. Berlin 1938 (= Deutsches Ahnenerbe, 3. Abt., 5); Weigel, Karl-Theodor: Germa­ nisches Glaubensgut in Runen und Sinnbildern. München 1939; ders.: Runen und Sinnbil­ der. 3. verb. Aufl. Berlin 1940; ders.: Sinnbilder in Niedersachsen. Hildesheim 1941; Weigel, Karl-Theodor und Spitzmann, Hans: Ritzzeichnungen in Dreschtennen des Schwarz­waldes. Heidelberg 1942 (= Wörter und Sachen, N.F., Beih. 1); Weigel, Karl-Theodor: In Sand ge­ streute Sinnbilder. In: Germanien 1942, S. 222–227; ders.: Beiträge zur Sinnbildforschung. Berlin 1943. Eine wissenschaftliche Abrechnung mit der Symbolforschung hat nach dem Zweiten Welt­ krieg Otto Lauffer vorgenommen in seinem Beitrag „Symbolforschung“. In: Peuckert, Will-Erich und Lauffer, Otto: Volkskunde. Quellen und Forschungen seit 1930. Bern 1951, S. 331–335.

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schweigen über diese unselige Episode der Fachentwicklung hinweggegan­ gen, so daß uns Offenlegung besonders not zu tun scheint. Am 5. Januar 1938 berief der Reichs- und Preußische Minister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung einen gewissen Eugen Mattiat, Hauptsturmführer der SS, an die Universität Göttingen und verlieh ihm in der Philosophischen Fakultät eine freie, außerplanmäßige Professur für „Deutsche Volkskunde mit besonderer Berücksichtigung der religiösen Volkskunde Niedersachsens“.45 Zugleich ernannte er ihn zum Direktor eines zu errichtenden volkskundlichen Seminars an der Universität Göt­ tingen. Im Sommersemester trat Mattiat sein Amt an, teilte aber grotesker­ weise mit, daß er mit seinen Vorlesungen noch nicht beginnen könne, da er sich erst in sein neues Forschungsgebiet einarbeiten müsse. Wie das? Ein Professor, der sich zuerst informieren muß über das, was Volkskunde ist? Der Vorgang ist fast unglaublich, scheint einmalig. Mattiat, 1901 in Köln geboren, hatte Theologie studiert und war Pfar­ rer, unter anderem in Kerstlingerode bei Göttingen, bevor ihn die Nazis 1934 als Referenten in das Preußische Kultusministerium holten, wo er es zuletzt zum Hauptreferenten für Geisteswissenschaften brachte.45a 1935 wurde er zusätzlich – ohne Promotion und Habilitation – auf eine persön­ liche ordentliche Professur für praktische Theologie und Volkskunde an die Theologische Fakultät der Universität Berlin berufen. Mit einem wei­ teren Federstrich wurde diese Professur 1938 von Berlin nach Göttingen übertragen und mit einer neuen Venia versehen. Die Akten des Göttinger Universitätsarchivs machen deutlich, daß kein Gremium der Universität jemals vorher befragt worden ist, es gab keine Liste, kein Berufungsverfah­ ren, nichts. Man hatte sich in Göttingen mit dieser Entscheidung aus Berlin abzufinden, ja man mußte sich sogar dazu bequemen, dem SS-Mann, dem einzigen ordentlichen Professor des Lehrkörpers ohne Doktortitel, Räume und Mittel zur Verfügung zu stellen und unter Hakenkreuzfahnen in dieser Aula eine Antrittsvorlesung anzuhören, die nach Aussagen von Zeitgenos­ sen von beschämendem Niveau gewesen sein muß. Das hat Mattiat aber nicht daran gehindert, seine Lehrtätigkeit über „Die Wissenschaft vom Volk“ aufzunehmen und vor allem in der Dozentenschaft eine verhäng­ nisvolle politische Rolle zu spielen. Er wurde auf Anhieb stellvertretender, kurze Zeit später Leiter der Dozentenschaft im NS-Deutschen-Dozenten­ bund und Mitglied der von diesem Dozentenbund 1937 gegründeten NS45 Diese und alle folgenden Angaben aus: Universitätsarchiv Göttingen, Phil. Fak. XVI, IV. A. b. 14, Personalakte Mattiat. 45a Heiber, Helmut: Walter Frank und sein Reichsinstitut für Ge­schichte des neuen Deutsch­ lands. Stuttgart 1966 (= Quellen und Darstellungen zur Zeit­geschichte, 13), S.  116–119, S. 125, S. 646ff. und passim.

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Akademie der Wissenschaften. Unter vielen unheilvollen Entscheidungen sei nur eine einzige hervorgehoben: Mattiat gab seine Zustimmung dazu, daß der in Marburg amtsenthobene Herman Wirth‚ noch immer Günst­ ling Himmlers, eine Kustodenstelle am Seminar für Deutsche Volkskunde in Göttingen erhielt (die er allerdings nie angetreten hat).46 Selbst in der „gleichgeschalteten“ Fakultät machte sich damals Entrüstung über diese Entscheidung breit. An Wirth schieden sich die Geister. Drei Semester lang hat Mattiat in Göttingen Vorlesungen und Übungen abgehalten, ehe der Kriegsausbruch den Leutnant der Reserve „zu den Waf­ fen“ rief. Nach Kriegsende teilte der Kurator der Universität Göttingen am 19. Juli 1945 Mattiat den Beschluß der Militärregierung mit: sofortige Entlas­ sung aus dem Staatsdienst unter Fortfall der Bezüge. Der EntnazifizierungsHauptausschuß Göttingen kam am 6. Mai 1949 zu der Entscheidung, Mattiat habe eine Geldstrafe von 1.000 DM verwirkt, weil „der Überprüfte ohne fachliche Eignung vorwiegend auf Grund seiner Verbindung zum National­ sozialismus zum Univ.-Professor für Volkskunde ernannt worden ist“. Schon in den letzten Kriegsjahren gab es in Abwesenheit des Volks­ kundlers Mattiat, der nie eine Zeile zur Volkskunde publiziert hat, Über­ legungen und Initiativen der Universität Göttingen für eine adä­quate Ver­ tretung. Für eine kurze Frist wurde Adolf Bach aus Straßburg gewonnen, dann Lutz Mackensen, zuletzt bemühte man sich, den in Hamburg ausge­ bombten, mittlerweile 69jährigen Otto Lauffer mit der Wahrnehmung des Lehrstuhls zu beauftragen. Nach Kriegsende wurde der vakante Lehrstuhl überraschenderweise sofort zur Wiederbesetzung freigegeben. Im Frühjahr einigte sich eine sie­ benköpfige Berufungskommission auf Will-Erich Peuckert aus Breslau. Er konnte bereits im Sommersemester 1946 mit einem Biblio­theksbestand von 500 Büchern in der Reitstallgasse 1 und mit einer Vorlesung über „Die Grundlegung der Volkskunde und vorbäuerliche Volkskunde“ den Lehr­ betrieb aufnehmen und an seine Breslauer Forschungsarbeiten anknüpfen, die von den Nazis totgeschwiegen, zum Teil verboten worden waren.47 Peuckerts Lehrstuhl blieb bis in die fünfziger Jahre das einzige deutsche Volkskunde-Ordinariat. Seine Be­rufung erwies sich als ein außerordent­ licher Glücksfall für die Universität Göttingen. Peuckert setzte dem völ­ kisch-ideologischen Konzept der Nazi-Volkskunde mit seiner neugegrün­ deten Zeitschrift Die Nachbarn. Jahrbuch für vergleichende Volkskunde, die Idee 46 Vgl. Hunger, Ulrich: Die Runenkunde im Dritten Reich. Ein Bei­trag zur Wissenschafts- und Ideologiegeschichte des Nationalsozialismus. Phil. Diss. Göttingen 1982. 47 Peuckert, Will-Erich: Überlegungen und Betrachtungen, a) Zur Situation der Volkskunde. In: Die Nachbarn. Jahrbuch für vergleichende Volkskunde 1 (1948), S. 130–135 (Auseinan­ dersetzung mit H. Maus).

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von Volkskunde als vergleichender Kulturwissenschaft auf internationaler Grundlage entgegen. Er entfaltete eine bewundernswerte Publikationsund Editions­tätigkeit, band durch seine engagierte Lehrtätigkeit eine neue, junge Generation von begabten Nachwuchskräften an das Fach und sorgte damit für eine Anerkennung seiner Disziplin weit über den Rahmen der Georgia Augusta hinaus. Über 30 Bücher hat Peuckert in seiner Göttinger Zeit hervor­gebracht. Sie lassen sich kaum auf einen gemeinsamen Nenner bringen; alle sind sie voll von sprühenden Ideen, Anregungen und neuen Ent­würfen, in mitreißender Sprache geschrieben und reich an inneren Erfahrungen, da­ bei unkonventionell im Umgang mit den Quellen und in der Zitierweise. Peuckerts Forschungsschwerpunkte im Bereich der Volksdichtung und der Geheimwissenschaften sind noch heute im For­schungsprogramm des Se­ minars für Volkskunde fest verankert, durch die Märchenenzyklopädie und die Forschungstätigkeit des Peuckert-Schülers Helmut Möller. Das Projekt Märchenenzyklopädie hat der nach Peuckerts Emeritierung 1961 aus Kiel berufene Kurt Ranke mitgebracht, und auch unter Rankes Nachfolger Ru­ dolf Schenda stand dieses Unternehmen neben der Zeitschrift Fabula und dem DFG-Projekt „Lesen in Niedersachsen“ im Zentrum der Forschungs­und Publikationstätigkeit. Rudolf Schenda hat den Zürcher Lehrstuhl für europäische Volks­dichtung übernommen und seinem Nachfolger ein reiches und frucht­bringendes Arbeitsfeld hinterlassen, auf das ich mich freue. Mit ver­jüngtem Team und neuem Elan gilt es, die Probleme anzu­ packen, die sich einem Fach stellen, welches sich als kritische Gegenwarts­ wissenschaft versteht und mitwirken will an den Problemen der Analyse von Alltags­kultur und regionaler Kultur. Gleichzeitig ist die Volkskunde aber auch ein Fach, das die reichen Erträge mit einbeziehen will, die die historische Forschung hervorgebracht hat und von denen hier die Rede war. Deshalb scheint es uns angemessen, als Schlußwort ein Zitat aus der Antritts­vorlesung von Jacob Grimm aus dem Jahre 1830 zu entleihen: „Ich möchte sie davon überzeugt wissen, daß ich, meines Amtes eingedenk, im­ mer so handeln werde, daß ich die mir anvertrauten Aufgaben wahr­nehme und erfülle, soweit es bei der Geringfügigkeit meiner Kräfte mög­lich ist.“48

48 Grimm: Über die Heimatliebe (wie Anm. 12), S. 226.

Anhang

Schriftenverzeichnis Rolf Wilhelm Brednich Abkürzungen BayBllfVk HessBllfVk JbfostdtVk JbfVkuKg JbfVldf ÖZsfVk RhwestfZsfVk RhJbfVk SAfVk ZsfVk

Bayerische Blätter für Volkskunde Hessische Blätter für Volkskunde Jahrbuch für ostdeutsche Volkskunde Jahrbuch für Volkskunde und Kulturgeschichte Jahrbuch für Volksliedforschung Österreichische Zeitschrift für Volkskunde Rheinisch-westfälische Zeitschrift für Volkskunde Rheinisches Jahrbuch für Volkskunde Schweizerisches Archiv für Volkskunde Zeitschrift für Volkskunde

EM LM RDL VL

Enzyklopädie des Märchens Lexikon des Mittelalters Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte Verfasserlexikon der deutschen Literatur des Mittelalters

*

ins vorliegende Buch aufgenommene Artikel

1963 1

Der Teufel und die Kerze. Zur stofflichen Herkunft und Verbreitung einer Volkserzählung vom geprellten Teufel (AT 1187). In: Fabula 6 (1963), S. 141– 161.

2

Les sources folkloriques du roman tsigane „Les Ursitory“, de Matéo Maximoff. In: Études Tsiganes 9, 3 (1963), S. 5–16.

3

Erich Seemann – 75 Jahre. In: HessBllfVk 54 (1963), S. 693–695.

1964 4 5

Volkserzählungen und Volksglaube von den Schicksalsfrauen. Helsinki 1964 (= Folklore Fellows Communications, 193). 244 S. [Diss. phil. Mainz 1960; japanische Übersetzung von Takeshige Takehara: Tokyo ²2005] Festschrift zum 75. Geburtstag von Erich Seemann. Berlin 1964. (= JbfVldf, 9). 181 S. [Hg.]

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6* Die Legende vom Elternmörder in Volkserzählung und Volksballade. In: JbVldf 9 (1964), S. 116–143. 7

Eine frühe schweizerische Fassung des Marlborough-Liedes. In: SAfVk 60 (1964), S. 73–84.

8

Zu Besuch bei Kärntner Wildsängern. In: Die Kärntner Landsmannschaft 11 (1963), S. 8–10. [mit Wolfgang Suppan]

9

Das Deutsche Volksliedarchiv in Freiburg. In: Der Archivar 17, 2–3 (1964), S. 293–295.

10 Zum 50-jährigen Bestehen des Deutschen Volksliedarchivs in Freiburg i. Br. Ein Forschungsbericht. In: HessBllfVk 55 (1964), S. 310–318. 11 Verzeichnis der Schriften von Erich Seemann. In: JbfVldf 9 (1964), S. 171–181. 1965 12 Deutsche Volkslieder. Texte und Melodien. Bd. 1: Erzählende Lieder. Balladen – Schwänke – Legenden. Düsseldorf 1965. 356 S.  [Hg. mit Lutz Röhrich] 13 Alexanders Zug nach dem Lebenswasser in der südosteuropäischen Volksüber­ lieferung. In: Narodno stvaralaštvo – Folklor 4, 15–16 (Beograd 1965), S. 1179– 1191. 14 Das Reutlingersche Sammelwerk im Stadtarchiv Überlingen als volkskundliche Quelle. In: JbfVldf 10 (1965), S. 42–84, 4 Abb. 15 Volkslied und Volkssage. Zum Verhältnis von „Singen und Sagen“ in Deutsch­ land. In: Laographía 22 (Athen 1965), S. 42–52. 1966 16 Deutsche Volksdichtung aus Zarz und Deutschrut. In: Carinthia I 156 (Klagen­ furt 1966), S. 109–125. 17 Gottscheer Volkslieder. Ein Vorbericht zu ihrer Gesamtausgabe. In: JbfVldf 11 (1966), S. 123–130. 18 Erich Seemann (1888–1966) in memoriam. In: SAfVk 62 (1966), S. 77–81. 1967 19 Deutsche Volkslieder. Texte und Melodien. Bd. 2: Lieder aus dem Volks­ leben. Brauch – Arbeit – Liebe – Geselligkeit. Düsseldorf 1967. 583 S. [Hg. mit Lutz Röhrich]

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20 Deutsche Volkslieder mit ihren Melodien. Balladen Bd. 5. Freiburg 1967. VIII, 340 S. [Hg. mit Wolfgang Suppan und Wilhelm Heiske] 21 Das Volkslied in der rheinischen Landschaft. In: Lebendiges Rheinland-Pfalz 4, 4 (1967), S. 96–103. 22 Die osteuropäischen Volkssagen vom vorherbestimmten Schicksal. In: Ring­ gren, Helmer (Hg.): Fatalistic Beliefs in Religion, Folklore, and Literature. Stock­ holm 1967 (= Scripa Instituti Donneriani Aboenis, 2), S. 97–117. 23 Eine unbekannte Mainzer Stadtansicht (1631/32). In: Mainzer Zeitschrift 62 (1967), S. 122–124, Abb. 24 Noch kein Folksong deutscher Prägung. In: ZsfVk 63 (1967), S. 64–67. 25 Arbeitstagung über Fragen des Typenindex der europäischen Volksballaden vom 28.–30. September 1966 im DVA in Freiburg i. Br. Berlin 1967. 28 S. [Hg.] 26 Erich Seemann †. In: Journal of the International Folk Music Council 19 (1967), S. 114–115. 1968 27 Der Plan eines europäischen Balladentypenindex. In: Zbornik kongresa SUFJ Celje 1965. Ljubljana 1968, S. 363–368. 28 Die Rastatter Liederhandschrift von 1769. In: JbfVldf 13 (1968), S. 26–58. 29 Schwänke in Liedform. In: Gedenkschrift für Paul Alpers 1887–1968. Hildes­ heim 1968, S. 69–90. 1969 30 Gottscheer Volkslieder. Gesamtausgabe Bd. 1: Volksballaden. Mainz 1969. 440 S. [Hg. mit Wolfgang Suppan] 31 Das Schicksalsmotiv in den slavischen Volkserzählungen. In: Zagiba, Franz (Hg.): Das heidnische und christliche Slaventum. Bd. 2/1. Wiesbaden 1969, S. 132–140. 32 Ein Beitrag zur volkskundlichen Interpretation ikonographischer Quellen: Der Saugbeutel. In: Foltin, Hans Friedrich u.a. (Hg.): Kontakte und Grenzen. Proble­ me der Volks-, Kultur- und Sozialforschung. Festschrift für Gerhard Heilfurth zum 60. Geburtstag. Göttingen 1969, S. 299–316, 15 Abb. 33 Eine Reise nach Gottschee. Begegnung mit einer Volksliedsängerin. In: Blätter für Heimatkunde 43, 1 (Graz 1969), S. 21–29, Abb.

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34 2. Arbeitstagung über Fragen des Typenindex der europäischen Volksballaden vom 10. bis 12. April 1969 in Cikháj bei Brno/ČSSR. Berlin 1969. 60 S. [Hg.] 35 Das Deutsche Volksliedarchiv in Freiburg im Breisgau and German Folksong Research. In: Journal of the Folklore Institute 5, 2/3 (Bloomington 1969), S. 198–211. 1970 36 Aufgaben und Möglichkeiten der Kinderliedforschung. Erläutert am Beispiel Bremens. In: Alfred Cammann: Die Welt der niederdeutschen Kinderspiele. Bleckede/Elbe 1970, S. 322–332. 37 Ein Rastatter Liederbuch aus dem 18. Jahrhundert. In: Um Rhein und Murg. Heimatbuch des Landkreises Rastatt 10 (1970), S. 81–86. 38 Ein unbeachtetes Jesusattribut in der St. Mauritiuskirche in Hemsbach. In: Der Odenwald. Heimatkundliche Zeitschrift des Breuberg-Bundes 17 (1970), S. 3–13, Abb. 39 2. [i. e. 3.] Arbeitstagung über Fragen des Typenindex der europäischen Volks­ balladen vom 21.–23. August im Kloster Utstein bei Stavanger/Norwegen. Ber­ lin 1970. 63 S. [Hg.] 40 5. Kongress der International Society for Folk Narrative Research vom 26.– 31. August 1969 in Bukarest. In: HessBllfVk 61 (1970), S. 236–238. 1971 41 Arthur und Albert Schott: Rumänische Volkserzählungen aus dem Banat. Märchen, Schwänke, Sagen. Neuausgabe von Walachische Märchen. Stutt­ gart/Tübingen 1845. Bukarest 1971. 335 S. [Hg. mit Ion Taloş; 21973, 31975] 42 Die Liedpostkarte. In: JbfVldf 16 (1971), S. 164–169, 2 Abb. 43 Eine Markgräfler „Zeitung“ aus dem Jahre 1562. In: Das Markgräflerland 2, 33 (1971), S. 136–140, Abb. 44 4. Arbeitstagung über Fragen des Typenindex der europäischen Volksballaden vom 21.–23. August 1971 in Paris. Freiburg 1971. 69 S. [Hg. mit Heinke Binder] 1972 45 Die Ebermannstädter Liederhandschrift, geschrieben um 1750 von Frantz Melchior Freytag. Mit Kommentar. Kulmbach 1972 (= Die Plassenburg, 31). 264 S., Abb. [Hg. mit Wolfgang Suppan]

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46 Gottscheer Volkslieder. Gesamtausgabe Bd. 2: Geistliche Lieder. Mainz 1972. 390 S. [Hg. mit Wolfgang Suppan] 47 Flugschriftensammlung Riedl im Deutschen Volksliedarchiv. In: JbfVldf 17 (1972), S. 209–214. [mit Otto Holzapfel] 48 Heinrich Hansjakob und die Volkskunde. In: Hansjakob-Jahrbuch 4 (1972), S. 20–28. 49 Vergangenheit und Gegenwart des Volksgesanges im Westerwald. In: Das We­ sterwaldbuch 1 (Altenkirchen 1972), S. 90–102. [mit Otto Holzapfel] 50* Vogel am Faden. Geschichte und Ikonographie eines vergessenen Kinderspiels. In: Ennen, Edith und Wiegelmann, Günter (Hg.): Festschrift Matthias Zen­ der. Studien zu Volkskultur, Sprache und Landesgeschichte. 2 Bde. Bonn 1972; Bd. 1, S. 573–597, 12 Abb. 51* Zur Vorgeschichte des Bänkelsangs. In: Festschrift für Leopold Schmidt. Wien 1972 (= Jahrbuch des Österreichischen Volksliedwerkes, 21), S. 78–92, 4 Abb. 52 Städte als Innovationszentren der Volksliedüberlieferung. In: Kultureller Wandel im 19. Jahrhundert (wie Nr. 53), S. 63–68. 53 Kultureller Wandel im 19. Jahrhundert. Protokoll der Arbeitstagung veranstal­ tet von der Kommission für Lied-, Musik- und Tanzforschung der DGV vom 23.–25. März 1972 in Wetzlar. Freiburg 1972. 69 S. [Hg.] 1973 54 Handbuch des Volksliedes. Bd. 1: Die Gattungen des Volksliedes. Mün­ chen 1973 (= Motive, 1,1). 967 S. [Hg. mit Lutz Röhrich] 55* Das Lied als Ware. In: JbfVldf 19 (1974), S. 11–20. [Slowenische Übersetzung: Pesem kot trgovsko blago. In: Zbornik instituta za slovensko narodopisje 2 (1973), S. 243–251] 56* Die Überlieferungen vom Kornregen. Ein Beitrag zur Geschichte der frühen Flugblattliteratur. In: Gerndt, Helge und Schroubek, Georg R. (Hg.): Dona Eth­ nologica. Leopold Kretzenbacher zum 60. Geburtstag. München 1973 (= Süd­ osteuropäische Arbeiten, 71), S. 248–260, 4 Abb. 57 Erotisches Lied. In: Handbuch des Volksliedes (wie Nr. 54), Bd. 1, S. 575–615. 58 Historische Bezeugung dämonologischer Sagen im populären Flugblattdruck. In: Röhrich, Lutz (Hg.): Probleme der Sagenforschung. Freiburg i. Br. 1973, S. 52–62, 2 Abb. 59 Schwankballade. In: Handbuch des Volksliedes (wie Nr. 54), Bd. 1, S. 157–203.

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60 Das Endinger “Tränenmirakel” von 1615 im Lichte zeitgenössischer Dokumente. In: Alemannisches Jahrbuch 1971/72 (1973), S. 105–128, Abb. [mit Karl Kurrus] 61 5. Arbeitstagung über Fragen des Typenindex der europäischen Volksballaden vom 20.–24. August 1972 in Škofja Loka. Freiburg 1973. 57 S. [Hg. mit Heinke Binder] 1974 62 Die Liedpublizistik im Flugblatt des 15. bis 17. Jahrhunderts. Bd. 1: Ab­ handlung. Bd. 2: Katalog der Liedflugblätter des 15. und 16. Jahrhunderts. Baden-Baden 1974/1975 (= Bibliotheca Bibliographica Aureliana, 55, 60). 336 S.; 298 S., zahlr. Abb. [Habilitationsschrift Freiburg 1972] 63 Wilhelm Heiske †. In: ZsfVk 70 (1974), S. 165. 64 Wilhelm Heiske zum Gedenken. In: Freiburger Universitätsblätter 13, 44 (1974), S. 11–12. 1975 65 Handbuch des Volksliedes. Bd. 2: Historisches und Systematisches – In­ terethnische Beziehungen – Musikethnologie. München 1975 (= Motive. 1,2). 824 S. [Hg. mit Lutz Röhrich und Wolfgang Suppan] 66* Die holländisch-flämischen Sprichwortbilderbogen vom Typus „De Blauwe Huyck“. In: Van Nespen, W. (Hg.): Miscellanea. [Festschrift für] Prof. em. Dr. K.C. Peeters. Antwerpen 1975, S. 120–131, 5 Abb. 67 Hamburg als Innovationszentrum popularer Lieder. In: Kaufmann, Gerhard (Hg.): Stadt-Land-Beziehungen. Verhandlungen des 19. Deutschen Volkskun­ dekongresses in Hamburg vom 1. bis 7. Oktober 1973, Göttingen 1975, S. 115– 129, 4 Abb. 68 Das Deutsche Volksliedarchiv in Freiburg. Rückblick anlässlich seines 60jährigen Bestehens. In: Freiburger Almanach 26 (1975), S. 45–50. 69 Die Ausstellung „Bänkelsang und Moritat“ in Stuttgart. In: BayBllfVk 2 (1975), S. 192–194. 70 Neuerwerbungen des Deutschen Volksliedarchivs. Volksliedsammlung Johan­ nes Koepp und Flugschriftensammlung Kurt Wagner. In: JbfVldf 20 (1975), S. 151–153. 71

„Miesmann“-Umgang in Karsau. Film E 2135 des IWF Göttingen. Göttingen 1975 (= Publikationen zu Wissenschaftlichen Filmen. Sektion Völkerkunde – Volkskunde Serie 5, Heft 2). 22 S., Abb.

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1976 72 Die Darfelder Liederhandschrift 1546–1565. Unter Verwendung der Vorar­ beiten von Arthur Hübner und Ada-Elise Beckmann. Münster 1976 (= Schriften der Volkskundlichen Kommission für Westfalen, 23). 288 S., 11 Abb. [Hg.] 73 Deutsche Volkslieder mit ihren Melodien. Balladen Bd. 6. Freiburg 1976. VIII, 318 S. [Hg.] 74 John Meier: Kunstlieder im Volksmunde. Materialien und Unter­suchun­ gen. Nachdruck der Ausgabe Halle 1906. Hildesheim, New York 1976. 9, CXLIX, 100 S. [Hg., mit Nachwort, S. 94–100] 75 Comic Strips as a Subject of Folk Narrative Research. In: Folk Narrative Re­ search. Helsinki 1976, S.  230–240. [veränderte Fassung in: Folkore Today. Festschrift Richard Dorson. Bloomington/Indiana 1976, S. 45–55; brasiliani­ sche Übersetzung: La historieta como objeto de la investigación de la narrativa folklórica. In: Serie des Folklore 12 (Buenos Aires 1991), S. 35–58] 76 Der Mensch in der Landschaft. In: Kaiserstuhl, Rheinauen, Schwarzwaldvorber­ ge (= Wanderbücher des Schwarzwaldvereins, 9). Freiburg 1976, S. 131–138. 77 „Und lassen Deutschland Deutschland sein…“ Bemerkungen zu Auswanderer­ liedern. In: Auswanderung Bremen – USA. Bremerhaven 1976 (= Führer des Deutschen Schifffahrtsmuseums, 4), S. 20–25. 78 „Von der eidgnoschaft so wil ich heben an…” Die alten Schweizerlieder in neuer Sicht. In: Neue Zürcher Zeitung 19, 24./25.1.1976, S. 51. 79* Zur europäischen Vorgeschichte der Comics. In: Freiburger Universitätsblätter 15, Heft 53/54 (1976), S. 57–68, 5 Abb. 80 6. Arbeitstagung über Fragen des Typenindex der europäischen Volksballa­ den vom 13. bis 15. Juni 1974 in Helsinki. Tagungsprotokoll Freiburg 1976. 61 S. [Hg. mit Jürgen Dittmar] 81 Der Märchensammler und Erzählforscher Alfred Cammann. In: JbfostdtVk 19 (1976), S. 7–14. 82 Pauline Schullerus. In: Anuarul Muzeului Etnografic al Transilvaniei. Cluj-Napo­ ca 1976, S. 297–320. [mit Ion Taloş] 1977 83 Mennonite Folklore and Folklife. A Preliminary Report. Ottawa 1977 (= National Museum of Man Mercury Series. Canadian Centre for Folk Culture Studies Paper, 22). VI, 116 S., Abb.

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84 Pauline Schullerus: Rumänische Volksmärchen aus dem mittleren Har­ bachtal. Neuausgabe der Edition Hermannstadt 1906. Bukarest 1977. 628 S. [Hg. mit Ion Taloş] 85 Internationale Volkskundliche Bibliographie für die Jahre 1973 und 1974. Bonn 1977. XX, 781 S. [Hg. mit Robert Wildhaber] 86 Die russlanddeutschen Mennoniten in Saskatchewan und ihre Hochzeitsbräu­ che. In: JbfostdtVk 20 (1977), S. 61–98. 87 Liedkolportage und geistlicher Bänkelsang. Neue Funde zur Ikonographie der Liedpublizistik. In: JbfVldf 22 (1977), S. 71–79, 3 Abb. 88* Projekt Saskatchewan. Neue Aufgaben und Methoden volkskundlicher Empirie. In: ZsfVk 73 (1977), S.  24–41. [englische Übersetzung: Project Sakatchewan. In: Culture & Tradition 9 (1985), S. 3–11; schwedische Übersetzung in: Anders Gus­tavsson (Hg.): Kulturmöten och kulturell förändring. Nutida tysk etnologi. Stockholm 1985, S. 112–124] 89 Altweibermühle. In: EM 1 (1977), Sp. 441–443. 90 Anthropomorphisierung. In: EM 1 (1977), Sp. 591–596.. 91 Aristoteles und Phyllis. In: EM 1 (1977), Sp. 786–788. 92 Asinus vulgi. In: EM 1 (1977), Sp. 867–873. 93 Ballade. In: EM 1 (1977), Sp. 1150–1170. 94 Prof. Dr. Wilhelm Heiske (1904–1974). In: Forschungen und Berichte zur Volkskunde in Baden-Württemberg 1974–1977 (Stuttgart 1977), S. 251–255. [Bibliographie] 1978 95* Der Vogelherd. Flugblätter als Quellen zur Ikonographie der Jagd. In: RhwestfZsfVk 24 (1978), Festschrift für Gerda Grober-Glück, S. 14–29, 5 Abb. 95a Die biographische Methode in der volkskundlichen Feldforschung. Das Bei­ spiel des hutterischen Predigers Michael S. Stahl, Riverview Colony, Saskatoon, Saskatchewan. In: Annalen 2. Tradition, Integration, Rezeption. Symposium Deutsch-Kanadische Studien. Montreal 1978, S. 31–46. 96 Freiburger Diskussionsbeiträge zur Gemeindeforschung. In: RhJbfVk 22,  2 (1978), S. 237–239. 97 8. Arbeitstagung über Fragen des Typenindex der europäischen Volksballaden vom 27. bis 29. August 1976 in Kopenhagen/Dänemark. Freiburg 1978. 66 S.  [Hg. mit David G. Engle]

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1979 98 Erotische Lieder aus 500 Jahren. Texte und Noten mit Begleit-Akkorden. Frankfurt a. M. 1979 (= Fischer Taschenbücher, 2953). 128 S., Abb. 99 Deutsche Comics. Begleitheft zur Ausstellung einer Arbeitsgruppe von Volks­ kundlern der Universität Freiburg. Freiburg 1979. 67 S., Abb. [Hg.] 100 Geschichte (1815–1979) in Liedern. Programmheft Öffentliche Abendveran­ staltung beim 22. Deutschen Volkskundekongress ’79. Kiel 1979. 104 S., Abb. [Hg.] 101 Internationale Volkskundliche Bibliographie für die Jahre 1975 und 1976. Bonn 1979. XXIV, 727 S. [Hg.] 102 Liederhandel – Das Lied als Ware. Kolporteure – Bänkelsänger – Folksänger. Zur Geschichte der Straßenmusik. In: Dritte Duisburger Akzente. Kleiner Mann was tun?! Volksstücke, Texte, Lieder. Materialien und Dokumentation. Duisburg 1979, S. 55–58 und 231–240, Abb. 103 Volkskundliche Südosteuropa-Forschung in der Bundesrepublik Deutschland. In: Grothusen, Klaus-Detlev (Hg.): Südosteuropaforschung in der Bundesrepu­ blik Deutschland und in Österreich. Boppard 1979, S. 115–124. 104 Zur Anwendung der biographischen Methode in der volkskundlichen For­ schung. In: JbfostdtVk 22 (1979), S.  279–329. [Ungarische Übersetzung: Az életrajzi módszer alkalmazása a néprajzi anyaggűjtésben. In: Documenta ethno­ graphica 9 (Budapest 1982), S. 61–73] 105 Bildquellen. Abt. Geistlicher Bänkelsang. In: EM 2 (1979), Sp. 345–347. [mit Wolfgang Brückner] 106 Bildquellen. Abt. Bilderbogen. In: EM 2 (1979), Sp. 348–356. [mit Marianne Thamm und Wolfgang Brückner] 107 Blitz. In: EM 2 (1979), Sp. 476–479. 108 Cammann, Alfred. In: EM 2 (1979), Sp. 1160–1162. 109 Das Fräulein von Britannien. In: VL 2,3 (1979), S. 884–885. 110 9. Arbeitstagung über Fragen des Typenindex der europäischen Volksballaden vom 21. bis 23. August 1978 in Esztergom/Ungarn. Budapest 1979. 220 S. [Hg. mit Jürgen Dittmar, David G. Engle, Ildikó Kriza] 111 Die Altweibermühle in der Wolfacher Fastnacht. Film E 2455 des IWF Göttin­ gen. Göttingen 1979 (= Publikationen zu Wissenschaftlichen Filmen. Sektion Ethnologie. Serie 9, Nr. 3). 29 S., 7 Abb.

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1980 112 Bedrohte Erholungslandschaft Schwarzwald. Volkskundliche Feldforschung auf neuen Wegen. In: Badische Heimat 60 (1980), S. 83–94. 113 Die Rezeption von Wolfgang Steinitz’ Deutsche Volkslieder demokratischen Charakters aus sechs Jahrhunderten in der Bundesrepublik Deutschland. In: JbfVkuKg 23, N.F. 8 (1980), S. 141–148. 114 Zum deutschen Volkslied in Csavoly. In: Csavoly 1780–1980. Heimatbuch einer ungarischen Gemeinde aus der Batschka. Waiblingen 1980, S. 278–283. 115 Zur Problematik ethnischer Minderheiten in Europa. In: 2. Freiburger Folk Fe­ stival „Europäische Minderheiten“, 18.–20. April 1980. Programm- und Text­ heft. Freiburg 1980, S. 4–5; Literatur zu den Minderheiten in Europa, S. 73–75. 116 Zur Volkskunde des Landkreises. In: Breisgau-Hochschwarzwald. Land vom Rhein über den Schwarzwald zur Baar. Freiburg 1980, S. 159–166. 117 Neuerwerbungen des Deutschen Volksliedarchivs: Die Bänkelsang-Sammlung Nötzoldt, Heidelberg. In: JbfVldf 25 (1980), S. 110–113. 1981 118 The Bible and the Plough. The Lives of a Hutterite Minister and a Men­ nonite Farmer. Ottawa 1981 (= National Museum of Man Mercury Series. Ca­ nadian Centre for Folk Culture Studies Paper, 37). V, 141 S., 4 Abb. 119 In Sammelbildchen um die Welt. Populäre Kleingraphik zwischen Schau­ lust und Profit im 19. und 20. Jahrhundert. Ausstellungskatalog. Freiburg 1981. 50 S. [Hg.] 120 Internationale Volkskundliche Bibliographie für die Jahre 1977 und 1978. Bonn 1981. XX, 775 S. [Hg.] 121 Beharrung und Wandel im Liedgut der hutterischen Brüder. Ein Beitrag zur empirischen Hymnologie. In: JbfVldf 26 (1981), S. 44–60. 122* Die Hutterer – ein Stück alpenländischer Kultur in der Neuen Welt. In: ÖZsfVk 84, N.F. 35 (1981), S. 141–153. 123 Die Funktion von religiösen Erzählliedern bei den hutterischen Wiedertäufern in Kanada. In: 11. Arbeitstagung über Probleme der europäischen Volksballade (wie Nr. 131), S. 105–121. 124 Hutterische Volkserzählungen. In: German-Canadian Yearbook 6 (1981), S. 199–224.

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125 „nit anderst gesinnet dann recht zethon…“ Die Hutterer und ihre Beziehungen zum südwestdeutschen Täufertum. In: Allmende 3 (1981), S. 25–38. 126 Osteuropäisches Erbe in der Volkskultur der Hutterer in Nordamerika. In: JbfostdtVk 24 (1981), S. 194–219. [mit Jürgen Dittmar] 127 Sonnensymbolik? In: Anno Journal. Deutsche Zeitschrift für Archäologie und Geschichte (München), Juli 1981, S. 48–50. 128 Tourismus und regionale Kultur. In: Allmende 1 (1981), S. 150–152. 129 Comics. In: EM 3 (1981), Sp. 88–101. 130 10. Arbeitstagung über Fragen des Typenindex der europäischen Volksballaden vom 9. bis 10. August 1979 in Edinburgh/Scotland 1981 (= Special issue: Lore and Language 33, 4–5). IV, 193 S. [Hg.] 131 11. Arbeitstagung über Probleme der europäischen Volksballade vom 22. bis 24. August 1980 in Jannina/Griechenland. Jannina 1981. 240 S. [Hg.] 132 Volksmusik in der Oberpfalz. Bericht über ein Feldforschungsprojekt des Deut­ schen Volksliedarchivs Freiburg i.Br. In: BayBllfVk 8 (1981), S. 14–16. 133 Der „Klausenbigger“ (Nikolausbrauch) in Steinach. Göttingen 1981 (= Publika­ tionen zu Wissenschaftlichen Filmen. Sektion Ethnologie Serie 11, Nr. 1). 16 S., Abb. 1982 134 Deutsche Volkslieder mit ihren Melodien. Balladen Bd. 7. Freiburg 1982. VII, 230 S. [Hg. mit Michael Belgrader u.a.] 135 Festschrift für Lutz Röhrich zum 60. Geburtstag. Berlin 1982 (= JbfVldf 27/28). XXIII, 392 S. [Hg. mit Jürgen Dittmar] 136 Lebenslauf und Lebenszusammenhang. Autobiographische Materialien in der volkskundlichen Forschung. Freiburg 1982. 268 S. [Hg. mit Hannjost Lixfeld, Dietz-Rüdiger Moser, Lutz Röhrich] 137 Hedwig Lüdecke: Griechenlandreisen. Kassel 1982. [Hg.; mit Vorwort, S. 5–6, und Verzeichnis der Schriften von Hedwig Lüdecke, S. 208–209] 138 Zum Stellenwert erzählter Lebensgeschichten in komplexen volkskundlichen Feldprojekten. In: Lebenslauf und Lebenszusammenhang (wie Nr. 136), S. 46–70. 139 Volksballade. In: RDL 4 (1982), S. 723–734. 140 Johannes Künzig (1897–1982). In: Fabula 23 (1982), S. 299–300.

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1983 141 Aus dem Rotenburger Handwerk. Eine Bild- und Textdokumentation des Seminars für Volkskunde der Universität Göttingen. Rotenburg 1983 (= Rotenburger Schriften, 28). 72 S., zahlr. Abb. [Hg.] 142 Alltagskultur als Forschungsaufgabe. Volkskunde an der Universität Göttingen. In: Gezeiten. Archiv regionaler Lebenswelten zwischen Ems und Elbe 2 (1983), S. 66–70. 143* Die volkskundliche Forschung an der Universität Göttingen 1782–1982. In: Brückner, Wolfgang und Beitl, Klaus (Hg.): Volkskunde als akademische Diszi­ plin. Studien zur Institutionenausbildung. Wien 1983, S. 77–94. 144 Erziehung durch Gesang. Zur Funktion von Zeitungsliedern bei den Hutterern. In: JbfVldf 27/28 (1982/83), S. 109–133. 145 Fünfundsiebzig Jahre deutschsprachige Volksliedforschung. In: Volksliedfor­ schung. Beiträge des Kolloquiums vom 21./22. November 1981 in Basel. Basel 1983 (= Beiträge zur Volkskunde, 2), S. 7–18. 146 Verpackung und Sammeltrieb. In: Die schöne Hülle. Zur Geschichte und Ästhe­ tik der Verpackung. Katalog zur Ausstellung im Städtischen Museum Göttingen. Göttingen 1983, S. 21–23. 147 13. Balladentagung der SIEF-Kommission für Volksdichtung. In: Fabula 24 (1983), S. 112–115. 148 Kurt Ranke zum 75. Geburtstag. Wissenschaftliche Bilanz der letzten Jahre. In: Fabula 24 (1983), S. 1–3. 149 Schriftenverzeichnis Kurt Ranke 1968–1982. In: Fabula 24 (1983), S. 4–7. 150 Robert Wildhaber (1902–1982). In: Fabula 24 (1983), S. 121–122. [rumänische Übersetzung: Anuarul de folclor 3–4 (Cluj-Napoca 1983), S. 329–330] 1984 151 Gottscheer Volkslieder. Gesamtausgabe Bd. 3: Weltliche Lieder. Volkstän­ ze. Nachträge zu Bd. 1. Mainz 1984. 576 S. [Hg. mit Wolfgang Suppan] 152 Bauen und Wohnen im deutschen Südwesten. Dörfliche Kultur vom 15. bis zum 19. Jahrhundert. Stuttgart 1984. 236 S., zahlr. Abb. [Hg. mit Peter Assion] 153 Das Dorfmuseum Pfaffenweiler. Eine Dokumentation zur Geschichte der Steinhauerei. In: Das Markgräflerland 1984, 2, S. 98–107.

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154* Das Herz der Mutter. Von den Wanderungen und Wandlungen eines Liedes. In: Noll, Günther und Bröcker, Marianne (Hg.): Festschrift für Ernst Klusen zum 75. Geburtstag. Bonn 1984, S. 83–103. 155 Die Reintegration jugoslawischer Arbeitsemigranten als volkskundliches For­ schungsanliegen. Eine Problemskizze. In: Grothusen, Klaus-Detlev (Hg.): Jugo­ slawien. Integrationsprobleme in Geschichte und Gegenwart. Göttingen 1984, S. 213–240. 156 Die sozialdokumentarische Fotografie in der volkskundlichen Forschungsarbeit. In: Volkskunde in Niedersachsen 1 (1984), S. 34–36. 157 Die Volkskundliche Kommission für Niedersachsen. Aufgaben und Pläne. In: Volkskunde in Niedersachsen 1 (1984), S. 3–9. 158 Laterna magica – Die große Welt im kleinen Glasbild. In: Auto, Lok & Dampf­ maschine. Technische Spielware des 19. und 20. Jahrhunderts. Kassel 1984, S. 14–18, Abb. 159 Vorwort zu Walter Nissen: Die Brüder Grimm und ihre Märchen. Göttingen 1984, S. 7–10. 160 Esel als Lautenspieler. In: EM 4 (1984), Sp. 426–428. 161 Flugblatt, Flugschrift. In: EM 4 (1984), Sp. 1339–1358. 162 8. Kongress der International Society for Folk Narrative Research (Bergen, 12.– 17. Juli 1984). In: Fabula 25 (1984), S. 322–325. 163 14. Balladentagung der SIEF-Kommission für Volksdichtung (Monte Sant’Ange­ lo, 23.–28. Juli 1983). In: Fabula 25 (1984), S. 110–112. 164 Alfred Cammann 75 Jahre. In: JbfostdtVk 27 (1984), S. 353–357. [Bibliographie] 165 Eine Gedenktafel für Otto Lauffer in Göttingen In: Volkskunde in Niedersach­ sen 1, 1 (1984), S. 22–23. 166 Otto Lauffer – Volkskundler. Rede anlässlich der Enthüllung einer Gedenktafel am 20. Februar 1984. In: Göttinger Jahrbuch 1984, S. 261–262. 167 Gedenkfeier für Robert Wildhaber. In: Verhandlungen der Naturforschenden Gesellschaft Basel 94 (1984), S. 321–334. 168 Wolfacher Fasnet. Film E 2801 des IWF Göttingen. Göttingen 1984 (= Publika­ tionen zu Wissenschaftlichen Filmen. Sektion Ethnologie, Serie 14, Nr. 1). 35 S., Abb.

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1985 169 Pfaffenweiler Stein. Ein Beitrag zur Erforschung der Steinhauerei am Oberrhein. Pfaffenweiler 1985. 95 S.  170 Internationale Volkskundliche Bibliographie für die Jahre 1979 und 1980. Bonn 1985. XII, 345 S. [Hg. mit James R. Dow] 170a Das niederdeutsche Lied an der Wende vom Mittelalter zur frühen Neuzeit. In: Stadt im Wandel. Kunst und Kultur des Bürgertums in Norddeutschland 1150– 1650. Landesausstellung Niedersachsen 1985. Bd. 3. Stuttgart-Bad Cannstatt 1985, S. 643–651. [mit Dietrich Fröba] 171* Das Weigelsche Sinnbildarchiv in Göttingen. Ein Beitrag zur Geschichte und Ideologiekritik der nationalsozialistischen Volkskunde. In: ZsfVk 81 (1985), S. 77–94, 3 Abb. [englische Übersetzung: The Weigel Symbol Archive and the Ideology of National Socialistic Folklore. In: Dow, James R. und Lixfeld, Hann­ jost (Hg.): The Nazification of an Academic Discipline. Folklore in the Third Reich. Bloomington/Indianapolis 1994, S. 97–111] 172* Der Edelmann als Hund. Eine Sensationsmeldung des 17. Jahrhunderts und ihr Weg durch die Medien der Zeit. In: Fabula 26 (1985), S. 29–57. 173 Die Verwandlung eines Amtmannes in einen Hund 1673. Ein Flugblatt-Thema im „Medienverbund“. In: Kvideland, Reimund und Selberg, Torunn (Hg.): Papers III. The 8th Congress of the International Society for Folk Narrative Research, Bergen, June 12th - 17th 1984. Bergen 1985, S. 129–144. 174 Hutterische Liedtraditionen des 17. Jahrhunderts. In: Brückner, Wolfgang (Hg.): Literatur und Volk im 17. Jahrhundert. Probleme populärer Kultur in Deutsch­ land. Wiesbaden 1985, S. 589–600. 175 Möglichkeiten der Vergegenwärtigung historischer Lieder und Balladen in zeit­ genössischer Aufführungspraxis. In: Lares 51 (1985), S. 603–608. 176 Über die Rolle der Tracht in der Werbung. In: Ottenjann, Helmut (Hg.): Mode – Tracht – regionale Identität. Historische Kleidungsforschung heute. Cloppen­ burg 1985, S. 166–174, 2 Abb. 177 Versuch über Volksliedpflege. In: Anstöße 2 (1985), S. 78–85. 178 Richard Andree (1835–1912). Ein Gedenken zu seinem 150. Geburtstag am 26. Februar 1985. In: Volkskunde in Niedersachsen 2, 1 (1985), S. 5–9.

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1986 179 Die Brüder Grimm in Göttingen 1829–1837. Göttingen 1986 (= Schriftenrei­ he der Volkskundlichen Kommission für Niedersachsen, 1). 88 S., 13 Abb. [Hg. unter Mitarbeit von Dietlind Arens u.a.] 180 Internationale Volkskundliche Bibliographie für die Jahre 1981 und 1982. Bonn 1986. XIII, 377 S. [Hg. mit James R. Dow] 181* „Das schöne Bild eines wohlregulirten Dorfes“. Der ungarische Aufklärer und Sozialreformer Sámuel Tessedik (1741–1820). In: Jeggle, Utz u.a. (Hg.): Volks­ kultur in der Moderne. Probleme und Perspektiven empirischer Kulturfor­ schung. [Festschrift für Hermann Bausinger zum 60. Geburtstag.] Reinbek bei Hamburg 1986, S. 54–68, 1 Abb. 182 Der volkskundliche Film – Herausforderung und Aufgabe. In: ZsfVk 82 (1986), S. 95–96. 183 Die Comics in der volkskundlichen Forschung. In: Verweyen, Annemarie (bearb.): Comics. Eine Ausstellung im Rheinischen Freilichtmuseum Landesmuseum für Volkskunde Kommern. Köln 1986, S. 27–36, Abb. 184 Laterna magica – Die große Welt im kleinen Glasbild. In: Bringéus, Nils-Arvid (Hg.): Man and Picture. Papers from the First International Symposium for Eth­ nological Picture Research in Lund 1984. Stockholm 1986, S. 176–183, 4 Abb. 185 Volkskunde gestern und heute. In: Südniedersachsen 14 (1986), S. 67–76. [Wie­ derabdruck in: Unser Harz 34 (1986), S. 227–230; Der Westerwald 80, 2 (1987), S. 87–90] 1987 186 Georg Daniel Heumann: Der Göttingische Ausruff von 1744. Göttingen 1987. 139 S., Abb. [Hg., mit Kommentar] 187 Der in einen Hund verwandelte Edelmann. Eine Nürnberger Pressemeldung des Jahres 1673 – Wundergeschichte und politische Wirklichkeit im Medienverbund der Zeit. In: Blühm, Elger und Gebhardt, Hartwig (Hg.): Presse und Geschichte II. Neue Beiträge zur historischen Kommunikationsforschung. München u.a. 1987, S. 159–170, Abb. 188 Die Volkskunde an der Universität Göttingen. In: Gerndt, Helge (Hg.): Volks­ kunde und Nationalsozialismus. Referate und Diskussionen einer Tagung. Mün­ chen 1987 (= Münchner Beiträge zur Volkskunde, 7) , S. 109–117. 189 Göttinger Straßenleben um die Mitte des 18. Jahrhunderts. Der „Ausruff“ von Georg Daniel Heumann als Spiegel des Alltagslebens zur Zeit der Universitäts­

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gründung. In: Göttingen im 18. Jahrhundert. Texte und Materialien zur Ausstel­ lung im Städtischen Museum und im Stadtarchiv Göttingen 26. April – 30. Au­ gust 1987. Göttingen 1987, S. 133–144, Abb. 190 Volkskunde – die völkische Wissenschaft von Blut und Boden. In: Becker, Hein­ rich u.a. (Hg.): Die Universität Göttingen unter dem Nationalsozialismus. Das verdrängte Kapitel ihrer 250jährigen Geschichte. München u.a. 1987, S.  313– 320. [²1998, S. 491–498] 191 Das Feldforschungsprojekt des Deutschen Volksliedarchivs (DVA) in der Ober­ pfalz 1980. In: Volksmusik. Forschung und Pflege in Bayern. Viertes Seminar. Neue Forschungsergebnisse und neue Pflegeansätze am Beispiel Oberpfalz. München 1987, S. 97–101. 192 Volksmusik und Autobiographie. In: Volksmusik (wie Nr. 191), S. 102–105. 193 Frau: Die tote F. kehrt zurück. In: EM 5 (1987), Sp. 199–203. 194 Frau: Die vorbestimmte F. In: EM 5 (1987), Sp. 207–211. 195 Frösche bitten um einen König. In: EM 5 (1987), Sp. 408–410. 196 Gebet. In: EM 5 (1987) 792–800. 197 Gebet ohne Ende. In: EM 5 (1987), Sp. 801–803. 198 Gefangenschaft. In: EM 5 (1987), Sp. 833–846. 199 Oskar Dähnhardt. In: Biographisches Lexikon für Schleswig-Holstein 8 (Neu­ münster 1987), S. 84–86. 1988 200 Grundriß der Volkskunde. Einführung in die Forschungsfelder der Euro­ päischen Ethnologie. Berlin 1988 (= Ethnologische Paperbacks). 484 S., Abb. [Hg.; ²1994, erw.; ³2001, erw.] 201 Internationale Volkskundliche Bibliographie für die Jahre 1983 und 1984. Bonn 1988. XXII, 367 S. [Hg. mit James R. Dow] 202* Bildforschung. In: Grundriß der Volkskunde (wie Nr. 200), S. 189–209. 203* Der Volksliedforscher Ludwig Uhland. In: Bausinger, Hermann (Hg.): Ludwig Uhland. Dichter – Politiker – Gelehrter. Tübingen 1988, S. 183–200. 204 Der wissenschaftliche Film am Wendepunkt? Anmerkungen zum Stand und zu den Perspektiven des ethnologischen Films. In: Wissenschaftlicher Film 38/39 (Wien 1988), S. 149–152. [mit Edmund Ballhaus]

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205 En Allemagne. In: d’Ayala, Pier Giovanni und Boiteux, Martine: Carnavals et mascerades. Paris 1988, S. 99–102. [mit Samuel Kinder und Uli Kutter] 206 Medien und Kulturkontakt. In: Greverus, Ina-Maria u.a. (Hg.): Kulturkontakt – Kulturkonflikt. Zur Erfahrung des Fremden. Frankfurt a.M. 1988, (Bd. 2) S. 489–497. 207 Quellen und Methoden. In: Grundriß der Volkskunde (wie Nr. 200), S. 73–95. 208 Straßenleben im 18. Jahrhundert. Der „Ausruff“ von Georg Daniel Heumann. In: Duwe, Kornelia u.a. (Hg.): Göttingen ohne Gänseliesel. Texte und Bilder zur Stadtgeschichte. Gudensberg-Gleichen 1988, S. 12–17, 4 Abb. 209* Volkswelt als Kulisse. Folkorismusphänomene im höfischen Festwesen Württembergs im 18. Jahrhundert. In: Bringéus, Nils-Arvid u.a. (Hg.): Wandel der Volkskultur in Europa. Festschrift für Günter Wiegelmann zum 60. Ge­ burtstag. 2 Bde. Münster 1988; Bd. 2, S. 741–756. 210 Bildung auf dem Lande zwischen Aufklärung und Gründerzeit. In: ZsfVk 84 (1988), S. 98–99. 1989 211 Populäre Bildmedien. Vorträge des 2. Symposiums für ethnologische Bildfor­ schung Reinhausen bei Göttingen 1986. Göttingen 1989 (= Schriftenreihe der Volkskundlichen Kommission für Niedersachsen, 3). 276 S., zahlr. Abb. [Hg. mit Andreas Hartmann] 212 Der Göttingische Ausruff von 1744 und die europäische Ausrufergraphik. In: Populäre Bildmedien (wie Nr. 211), S. 9–18, 2 Abb. 213* Nacherzählen. Moderne Medien als Stifter mündlicher Kommunikation. In: Röhrich, Lutz und Lindig, Erika (Hg.): Volksdichtung zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Tübingen 1989, S. 177–186. 214 Vem drar etnologin? [Wem nützt Ethnologie?] In: Nord Nytt 38 (1989), S. 8–15. 1990 215 Die Spinne in der Yucca-Palme. Sagenhafte Geschichten von heute. Mün­ chen 1990 (= Beck’sche Reihe, 403). 157 S. [Übersetzungen ins Isländische, Hol­ ländische, Dänische und Japanische] 216 Tie und Anger als Räume dörflicher Kommunikation und lokaler Öffentlich­ keit. Historische Funktion und gegenwärtige Nutzungsmöglichkeiten. In: Bec­ ker, Siegfried und Bimmer, Andreas C. (Hg.): Ländliche Kultur. Internationa­ les Symposium zu Ehren von Ingeborg Weber-Kellermann. Göttingen 1990, S. 131–149, zahlr. Abb.

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217 Trabi-Witze. Ein populäres deutsches Erzählgenre der Gegenwart. In: Volks­ kunde in Niedersachsen 7 (1990), S. 18–35. 218 Grabwache. In: EM 6 (1990), Sp. 79–80. 219 Grässe, Johann Georg Theodor. In: EM 6 (1990), Sp. 95–97. 220 Greverus, Ina-Maria. In: EM 6 (1990), Sp. 142–143. 221 Hängen spielen. In: EM 6 (1990), Sp. 481–485. 222 Hasen und Frösche. In: EM 6 (1990), Sp. 555–558. 223 Herr über uns. In: EM 6 (1990), Sp. 889–894. 224 Hinrichtung. In: EM 6 (1990), Sp. 1053–1060. 225 Historisches Lied. In: LM 5 (1990), S. 54–55. 226 Volkserzählung und kulturelle Identität. 9. Kongress der ISFNR Budapest 1989. In: Fabula 31 (1990), S. 1–4. 1991 227 Die Maus im Jumbo-Jet. Neue sagenhafte Geschichten von heute. Mün­ chen 1991 (= Beck’sche Reihe, 435). 143 S. 228 Erinnern und Vergessen. Vorträge des 27. Deutschen Volkskundekongresses Göttingen 1989. Göttingen 1991. 633 S. [Hg. mit Brigitte Bönisch-Brednich und Helge Gerndt] 229 Der Manta-Witz. Ein Autokult und seine narrativen Folgen. In: Volkskunde in Niedersachsen 8 (1991), S. 34–43. [mit Christine Streichan] 230* Erinnertes und Vergessenes aus der Göttinger Stadt- und Universitätsgeschich­ te. In: Erinnern und Vergessen (wie Nr. 228), S. 177–193. 231 Medien als Stifter narrativer Kommunikation. In: Faulstich, Werner (Hg.): Medi­ en und Kultur. Beiträge zu einem interdisziplinären Symposium der Universität Lüneburg. Göttingen 1991, S. 16–29. 232 Zum 65. Geburtstag von Elfriede Moser-Rath. In: Fabula 32 (1991), S. 1–3. 1992 233 Amerika in den frühneuzeitlichen Medien Flugblatt und Newe Zeitung. In: Mesenhöller, Peter (Hg.): Mundus Novus. Amerika oder Die Entdeckung des Bekannten. Essen 1992, S. 19–34, 11 Abb.

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234 „Deutschland, einig Vaterland”. What Germans narrated before and after the reunification. In: Folklore Processed in Honour of Lauri Honko on his 60th Birthday 6th March 1992. Helsinki 1992, S. 78–88. 1993 235 Das Huhn mit dem Gipsbein. Neueste sagenhafte Geschichten von heu­ te. München 1993 (= Beck’sche Reihe, 1001). 186 S.  236* Lieder als Lebensschule. Gesang als Vermittler von Volksbildung an der Wen­ de vom 18. zum 19. Jahrhundert. In: Habla, Bernhard (Hg.): Festschrift zum 60. Geburtstag von Wolfgang Suppan. Tutzing 1993, S. 221–238. 237 Informant. In: EM 7 (1993), Sp. 173–176. 238 Judas Ischarioth. In: EM 7 (1993), Sp. 672–676. 239 Kartenspiel. In: EM 7 (1993), Sp. 1007–1011. 240 Kerze. In: EM 7 (1993), Sp. 1175–1178. 241 40 Jahre Encyclopedia Cinematographica. In: Volkskunde in Niedersachsen 10 (1993), S. 39. 242 Das Göttingen International Ethnographic Film Festival (GIEFF). In: Volks­ kunde in Niedersachsen 10 (1993), S. 92–93. 243 Helmut Segler (1914–1992) in memoriam. In: Volkskunde in Niedersachsen 10 (1993), S. 39–40. 244 Ulrich Tolksdorf (1938–1992). In: Fabula 34 (1993), S. 126–127. 1994 245 Sagenhafte Geschichten von heute. München 1994. 458 S.  246 Grundriß der Volkskunde. Einführung in die Forschungsfelder der Euro­ päischen Ethnologie. Berlin 2., erw. Aufl. 1994 (= Ethnologische Paperbacks). 594 S., Abb. 247 Gewalt in der Kultur. Vorträge des 29. Deutschen Volkskundekongresses Pas­ sau 1993. Passau 1994 (= Passauer Studien zur Volkskunde, 8–9). 779 S., Abb. [Hg. mit Walter Hartinger] 248 Liederbuch für Niedersachsen. Wolfenbüttel 1994 (= Schriften zur Heimat­ pflege. Veröffentlichungen des Niedersächsischen Heimatbundes e.V. Bausteine zur Heimat- und Regionalgeschichte, 8). 311 S. [Hg. mit Roland Wohlfart]

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249 Eine unendliche Geschichte. In: Silke Göttsch (Hg.): Volkskundliche Streifzüge. Festschrift für Kai Detlev Sievers zum 60. Geburtstag. Kiel 1994, S. 11–24. [über Kettenbriefe und das Erzählmotiv The Dying Child’s Wish] 250 L’aranya a la iuca. Llegendes urbanes d’avui. In: Revista d’etnologia de Catalunya 4 (1994), S. 32–43. 251 Peter Assion 5.8.1941 – 1.4.1994. In: ZsfVk. 90 (1994), S. 255–258. 252 Dr. Karl Veit Riedel (1932–1994) †. In: Volkskunde in Niedersachsen 11 (1994), S. 105. 1995 253* Über Hören-Sagen in der früheren DDR. In: Brunold-Bigler, Ursula und Bausinger, Hermann (Hg.): Hören, Sagen, Lesen, Lernen. Bausteine zu einer Geschichte der kommunikativen Kultur. Festschrift für Rudolf Schenda zum 65. Geburtstag. Berlin, Frankfurt a.M. 1995, S. 69–83. 254 Will-Erich Peuckert. Volkskundler. Rede anlässlich der Enthüllung einer Ge­ denktafel am 11.5.1995, Hainholzweg 64. In: Göttinger Jahrbuch 43 (1995), S. 153–154. 1996 255 Die Ratte am Strohhalm. Allerneueste sagenhafte Geschichten von heute. München 1996 (= Beck’sche Reihe, 1156). 175 S.  256 „Volkskunde ist Nachricht von jedem Teil des Volkes“. Will-Erich Peuc­ kert zum 100. Geburtstag. Göttingen 1996 (= Schriftenreihe der Volkskund­ lichen Kommission für Niedersachsen, 13). 196 S.  [Hg. mit Brigitte BönischBrednich] 257 Das Studium der Volkskunde am Ende des Jahrhunderts. Hochschulta­ gung der DGV 1994 in Marburg/Lahn. Göttingen 1996 (= DGV-Informatio­ nen, Beiheft 4). 96 S. [Hg. mit Martin Scharfe] 258* Die Täufer und die Bilder. Im Anschluß an Felderfahrungen bei den Hutterern in Kanada. In: Szarvas, Zsuzsa (Hg.): Traum vom Denken. In memoriam Ernő Kunt. Miskolc 1996, S. 47–79, 5 Abb. 259 What chances for Cultural Studies in New Zealand? In: New Zealand Studies. A Publication of the Stout Research Centre 6, 3 (Wellington 1996), S. 30–31. 260 Zur Außenwahrnehmung und Außenwirkung des Faches Volkskunde. In: Das Studium der Volkskunde am Ende des Jahrhunderts (wie Nr. 257), S. 67–72. 261 Kollektaneen. In: EM 8 (1996), Sp. 63–64.

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262 Köpfe vertauscht. In: EM 8 (1996), Sp. 264–268. 263 Krieg der Tiere. In: EM 8 (1996), Sp. 430–436. 264 Laub: Letztes L. In: EM 8 (1996), Sp. 785–788. 265 Lebensjahre: Die verschenkten L. In: EM 8 (1996), Sp. 833–835. 266 Lehmann, Albrecht. In: EM 8 (1996), Sp. 879–881. 267 Lesen. In: EM 8 (1996), Sp. 942–949. 268 Licht. In: EM 8 (1996), Sp. 1033–1035. 269 Lieddrucke. In: EM 8 (1996), Sp. 1065–1073. 270 Lixfeld, Hannjost. In: EM 8 (1996), Sp. 1151–1152. 271 Laudatio auf Will-Erich Peuckert. In: „Volkskunde ist Nachricht von jedem Teil des Volkes“ (wie Nr. 256), S. 11–13. 1997 272 Denkmale der Freundschaft. Die Göttinger Stammbuchkupfer – Quellen der Kulturgeschichte. Friedland 1997. XXIV, 518 S, XVI + 981 Abb. [Hg. unter Mitarbeit von Klaus Deumling] 273 Symbole. Zur Bedeutung der Zeichen in der Kultur. 30. Deutscher Volks­ kundekongress Karlsruhe 1995. Münster u.a. 1997. 579 S., Abb. [Hg. mit Heinz Schmitt] 274 Das Hisgier-Problem. In: Mohrmann, Ruth-E. u.a. (Hg.): Volkskunde im Span­ nungsfeld zwischen Universität und Museum. Festschrift für Hinrich Siuts zum 65. Geburtstag. Münster u.a. 1997, S. 13–24, 4 Abb. 275 Germanische Sinnbilder und ihre vermeintliche Kontinuität. Eine Bilanz. In: Symbole. Zur Bedeutung der Zeichen in der Kultur (wie Nr. 273), S. 80–93. 276 Peter Assion als Initiator der volkskundlichen Auswanderungsforschung. In: Jürgen Dittmar u.a. (Hg.): Betrachtungen an der Grenze. Gedenkband für Peter Assion. Marburg 1997, S. 19–36. 1998 277 Die Hutterer. Eine alternative Kultur in der modernen Welt. Freiburg u.a. 1998 (= Herder Spektrum, 4676). 157 S., 29 Abb.

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278 Das Wirken der Norddeutschen Missionsgesellschaft in Neuseeland. Das Bei­ spiel von Reverend Wohlers. In: Volkskunde in Niedersachsen 15, 2 (1998), S. 105–113, 2 Abb. 279 Das Questenfest. Zwischen Dokumentation und Deutung. In: Sachsen-Anhalt. Journal für Natur- und Heimatfreunde 8, 3 (1998), S. 30–31. [kritische Würdi­ gung von Ernst Kiehl: Das Questenfest. Questenburg. 21995] 1999 280 Männlich. Weiblich. Zur Bedeutung der Kategorie Geschlecht in der Kul­ tur. 31. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde Marburg 1997. Münster u.a. 1999. XII, 539 S., Abb. [Hg. mit Christel Köhle-Hezinger und Mar­ tin Scharfe; Vorwort S. XI-XII, Register S. 529–539] 281 Medien, audiovisuelle. In: EM 9 (1999), Sp. 466–470. 282 Meleager. In: EM 9 (1999), Sp. 547–551. 283 Mordeltern. In: EM 9 (1999), Sp. 876–879. 284 Naumann, Hans. In: EM 9 (1999), Sp. 1291–1294. 285 Neuseeland. In: EM 9 (1999), Sp. 1425–1429. 286 Hannjost Lixfeld (1937–1998). In: Fabula 40 (1999), S. 121–123. 287 Christa Pieske – The Lady of the Pictures. In: Irene Ziehe u.a. (Hg.): Festschrift für Christa Pieske. Münster u.a. 1999, S. 11–12. 2000 288 Laienspielbewegung. In: RDL2 2 (2000), S. 377–379. 2001 289 Grundriß der Volkskunde. Einführung in die Forschungsfelder der Euro­ päischen Ethnologie. Berlin 3., erw. Aufl. 2001 (= Ethnologische Paperbacks). 720 S., Abb. [Hg.] 290 Natur – Kultur. Volkskundliche Perspektiven auf Mensch und Umwelt. 32. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde Halle 1999. Münster u.a. 2001. XX, 532 S., Abb. [Hg. mit Annette Schneider und Ute Werner] 291 Berufsleitfaden Volkskunde. Neubearbeitung. Kiel 2001. 172 S. [Hg.] 292 Berufsfeld Hochschule. In: Berufsleitfaden Volkskunde (wie Nr. 291), S. 89–97.

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293 Feldforschung und Authentizität. In: Löffler, Klara (Hg.): Dazwischen. Zur Spe­ zifik der Empirien in der Volkskunde. Wien 2001 (= Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Ethnologie der Universität Wien, 20), S. 83–92. 294 Methoden der Erzählforschung. In: Göttsch, Silke und Lehmann, Albrecht (Hg.): Methoden der Volkskunde. Positionen, Quellen, Arbeitsweisen der Euro­ päischen Ethnologie. Berlin 2001, S. 57–77. [² 2007; japanische Übersetzung in: Seken Banashi Kenkyü 22 (2014), S. 58–84] 295 Traditions & Transitions. Folk Narratives in the Contemporary World. In: Fabu­ la 42 (2001), S. 304–307. [mit Brigitte Bönisch-Brednich] 296 Rudolf Schenda in memoriam. In: ZsfVk 97 (2001), S. 121–125. 2002 297 Nornagest. In: EM 10 (2002), Sp. 98–101. 298 Oral History. In: EM 10 (2002), Sp. 312–321. 299 Ortsneckerei. In: EM 10 (2002), Sp. 376–382. 300 Pfaffenköchin. In: EM 10 (2002), Sp. 836–840. 301 Pointe, Pointierung. In: EM 10 (2002), Sp. 1106–1111. 302 Polykrates, Ring des P. In: EM 10 (2002), Sp. 1164–1168. 2003 303 Neuseeland macht Spaß. Eine kommentierte Anthologie des neuseelän­ dischen Humors in Wort und Bild. Berlin 2003. 196 S., zahlr. Abb. [²2007]. 304 Zeitungslied. In: RDL² 3 (2003), S. 889–891. 305 Zwanzig Jahre Volkskundliche Kommission für Niedersachsen – ein Blick zu­ rück. In: Volkskunde in Niedersachsen 20, 2 (2003), S. 4–5. 2004 306 Pinguine in Rückenlage. Brandneue sagenhafte Geschichten von heute. München 2004 (= Beck’sche Reihe, 1567). 158 S.  307 Wissenschaftlicher Film als Diskurs. Ein Gespräch mit Edmund Ballhaus. In: Volkskunde in Niedersachsen 21, 1 (2004), S. 7–16. 308 Qualnächte. In: EM 11 (2004), Sp. 100–103.

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309 Ranke, Friedrich. In: EM 11 (2004), Sp. 203–207. 310 Ratte. In: EM 11 (2004), Sp. 295–300. 311 Rehermann, Ernst Heinrich. In: EM 11 (2004), Sp. 474–475. 312 Rothaarig. In: EM 11 (2004), Sp. 850–854. 313 Sage. Abt. Rezente Erscheinungsformen. In: EM 11 (2004), Sp. 1041–1049. 314 Schicksalserzählungen. In: EM 11 (2004), Sp. 1386–1395. 315 Schicksalsfrauen. In: EM 11 (2004), Sp. 1395–1404. 316 Schicksalskind. In: EM 11 (2004), Sp. 1404–1406. 2005 317 www.worldwide.witz.com. Humor im Cyberspace. Freiburg u.a. 2005 (= Herder Spektrum, 5547). 160 S., zahlr. Abb. 318 Ilse Spanuth: Prägungen. Biographie einer Mädchenklasse der KöniginMathilde-Schule Herford 1937–1946. Bielefeld 2005 (= Herforder Forschun­ gen, 17). 342 S., Abb. [Hg. mit Uli Kutter] 319 Enemy Aliens. Internierungslager für Deutsche in den beiden Weltkriegen. Eine Problemskizze am Beispiel Neuseelands. In: Hengartner, Thomas und Schmidt-Lauber, Brigitta (Hg.): Leben – Erzählen. Beiträge zur Erzähl- und Biographieforschung. Festschrift für Albrecht Lehmann. Berlin, Hamburg 2005, S. 249–276, 8 Abb. 2006 320 Die düstere Seite der modernen Sagen. Ein Verzeichnis von ungedruckten Tex­ ten. In: Fabula 47 (2006), S. 103–115. 321* Die neue Erzählkultur im Internet: Über die Veränderungen des Genderver­ hältnisses im Cyberhumor. In: Catteeuw, Paul (Hg.): Toplore: Stories and Songs. [Festschrift für Stefaan Top.] Trier 2006 (= B.A.S.I.S. Ballads and Songs – Inter­ national Studies, 3), S. 8–20. 322 Zweierlei Musik – Gedanken zu William Hogarth: The Enraged Musician. In: Noll, Günther u.a. (Hg.): Musik als Kunst, Wissenschaft, Lehre. Festschrift für Wilhelm Schepping zum 75. Geburtstag. Münster 2006, S. 86–106, 5 Abb. 323 Folk Narrative Theories and Contemporary Practices. 14. Kongress der Interna­ tional Society for Folk Narrative Research (ISFNR) Tartu/Estland, 26.–31. Juli 2005. In: Fabula 47 (2006), S. 116–119.

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2007 324 Proposal for a Folklore Server System. In: ISFNR Newsletter 2 (March 2007), S. 6–7. 325 Schlangenkönig. In: EM 12 (2007), Sp. 54–56. 326 Schlangenkuss (Mot. D 735.2). In: EM 12 (2007), Sp. 63–65. 327 Schott, Albert. In: EM 12 (2007), Sp. 182–183. 328 Schott, Arthur. In: EM 12 (2007), Sp. 183–186. 329 Schwundstufe. In: EM 12 (2007), Sp. 447–450. 330 Strobach, Hermann. In: EM 12 (2007), Sp. 1387–1389. 331 Studenten. In: EM 12 (2007), Sp. 1426–1430. 332 In Memory of Lutz Röhrich (1922–2006). In: ISFNR Newsletter 2 (March 2007), S. 12–13. 2008 333 Tie and Anger. Historische Dorfplätze in Niedersachsen, Hessen, Thü­ ringen und Franken. Friedland 2008. 215 S., zahlr. Abb. 334 Moderne Sagen. Aus der Arbeit an der Enzyklopädie des Märchens. In: Jahrbuch der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen (2008), S. 379–384. 2009 335 Erzählkultur. Beiträge zur kulturwissenschaftlichen Erzählforschung. Hans-Jörg Uther zum 65. Geburtstag. Berlin, New York 2009. XIV, 540 S. [Hg.] 336 Der Erzählforscher Hans-Jörg Uther. In: Erzählkultur (wie Nr. 335), S. 501–508. 337 Die Karriere des Augustus Koch aus Berlin als Drucker und führender Kar­ tograph im präindustriellen Neuseeland. In: Arbeitskreis Druck Bild Papier. 14. Tagungsband Nürnberg 2009. Münster 2011, S. 76–82, 6 Abb. 338 Gemeinsamkeiten. Eine Freundschaft mit Ion Taloş und Rumänien. In: Roma­ nia Occidentalis Romania Orientalis. Volum omagial dedicat Prof. univ. / Fest­ schrift für Ion Taloş. Cluj-Napoca 2009, S. 105–119. 339 Vorwort. In: Greive, Artur und Taloş, Ion (Hg.): Brancaflôr. Märchen aus der Romania. Aachen 2009, S. 9–13.

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2010 340* Das Gänsespiel. Neues zu einem Klassiker der europäischen Spielkultur. In: Alzheimer, Heidrun u.a. (Hg.): Bilder – Sachen – Mentalitäten. Arbeitsfelder historischer Kulturwissenschaften. Wolfgang Brückner zum 80. Geburtstag. Re­ gensburg 2010, S. 339–348, 4 Abb. 341 Mein Weg zu den Märchen. In: Märchenspiegel 21, 2 (2010), S. 16–21. 342 Taloş, Ion. In: EM 13 (2010), Sp. 181–182. 343 Tänzersage. In: EM 13 (2010), Sp. 201–204. 344 Teufel schert die Sau (AaTh/ATU 1037). In: EM 13 (2010), Sp. 430–432. 345 Teufelsbraut. In: EM 13 (2010), Sp. 436–438. 346 Tod durch Schrecken /AaTh/ATU 1676 B). In: EM 13 (2010), Sp. 721–723. 347 Todesart wählen (Mot. P 511). In: EM 13 (2010), Sp. 723–726. 348 Todesprophezeiungen (AaTh/ATU 934). In: EM 13 (2010), Sp. 726–731. 349 Todeszeit wissen (AaTh/ATU 934 H). In: EM 13 (2010), Sp. 731–733. 2011 350* „Wie das Korn harrt auf Mairegen, hoffen wir auf Freiheit und Frieden“. Das Stammbuch von August von Haxthausen (1812–1860). In: Hartmann, Andreas u.a. (Hg.): Die Macht der Dinge. Symbolische Kommunikation und kulturelles Handeln. Festschrift für Ruth-E- Mohrmann. Münster u.a. 2011, S. 245–260, 2 Abb. 2012 351 Deutsche in der Südsee. Wien 2012 (= Eckartschrift, 206). 110 S., Abb. 352 Augustus Koch (1834–1901) and Hochstetter’s North Island Expedition. In: Braund, James (Hg.): Ferdinand Hochstetter and the Contribution of GermanSpeaking Scientists to New Zealand Natural History in the Nineteenth Century. Frankfurt a.M. (= Germanica Pacifica, 10), S. 271–284, 12 Abb. 2013 353 Ein Freiheitsgedicht von Hoffmann von Fallersleben 1848. Bericht über einen Handschriftenfund. In: Mitteilungen der Hoffmann-von-Fallersleben-Gesell­ schaft e.V. 60 (2013), Nr. 90, S.32–37, Abb.

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2014 354 Yeah Right! Public Humour in Neuseeland. In: Die Neuseeland Reise 1 (Berlin 2014), S. 122–125, Abb. 355 Verjüngung. In: EM 14 (2014), Sp. 42–47. 356 Verschwinden. In: EM 14 (2014), Sp. 120–124. 357 Wahrsagen. In: EM 14 (2014), Sp. 422–426. 358 Waise. In: EM 14 (2014), Sp. 426–430. 359 Wal. In: EM 14 (2014), Sp. 430–434. 360 Weiber von Weinsberg. In: EM 14 (2014), Sp. 557–562. 361 Wienert, Alfred. In: EM 14 (2014), Sp. 782–783. 362 Wildhaber, Robert. In: EM 14 (2014), Sp. 807–809. 363 Xeroxlore. In: EM 14 (2014), Sp. 1089–1092. 364 Zeitung. In: EM 14 (2014), Sp. 1265–1273. 365 Zensur. In: EM 14 (2014), Sp. 1287–1295. 366 Zersagen, Zersingen. In: EM 14 (2014), Sp. 1306–1310. 367 Tourismus, Abt. Touristische Erzählungen. In: EM 14, Sp. 1840–1843. 2015 368 The Mapmaker. Life and Work of Augustus Koch (1834–1901), a New Zealand Artist, Designer, Draughtsman and Cartographer. Wellington 2015. 125 S., 38 Karten, zahlr. Abb. Herausgabe von Zeitschriften, Schriftenreihe und Enzyklopädie Jahrbuch für Volksliedforschung. Berlin 1964–1982 Fabula. Zeitschrift für Erzählforschung. Berlin, New York 1985–2010 1986–2000 Schriftenreihe der Volkskundlichen Kommission für Niedersach­ sen. Göttingen 1985–2015 Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung. Begründet von Kurt Ranke. Berlin, New York [Hg. mit Heidrun Alzheimer, Hermann Bau­ singer, Wolfgang Brückner, Daniel Drascek, Helge Gerndt, Ines Köhler-Zülch, Klaus Roth, Hans-Jörg Uther]

Register zum Schriftenverzeichnis Die Zahlen beziehen sich auf die Nummern im Schriftenverzeichnis. Stich­ worte, die im vorliegenden Buch berücksichtigt wurden, sind kursiv gesetzt (vergleiche dazu das Inhaltsverzeichnis). Alexanders Zug nach dem Lebenswasser 13 Altweibermühle 89, 111 Amerika 232 s. Hutterer Andree, Richard 178 Anger 216, 333 Anthropomorphisierung 90 Arbeitsmigranten 155 Aristoteles und Phyllis 91 Asinus vulgi 92 Assion, Peter 251, 276 Aufführungspraxis 175 Ausruf 186, 189, 208, 212 Auswandererlied 77 Auswanderungsforschung 276 Authentizität 293 Autobiographie 136, 192 Ballade 6, 93, 131, 139, 147, 163 s. Schwankballade s. Typenindex Volksballade Ballhaus, Edmund 307 Banat 41 Bänkelsang 51, 69, 102, 117 Bänkelsang, geistlicher 87, 105 Beckmann, Ada-Elise 72 Bibliographie, Volkskundliche 85, 101, 120, 170, 180, 201 Bild (Verwendung) 258

Bilderbogen 106 s. Sprichwortbilderbogen Bildforschung 202, 211, 258 Bildmedien 211 s. Bilderbogen s. Film s. Fotografie s. Flugblatt, Flugschrift s. Laterna magica Bildquelle 105, 106 Bildung s. Volksbildung Blauwe Huyck 66 Blitz 107 Bräuche s. Fastnacht s. Hochzeitsbräuche s. Klausenbigger s. Miesmann-Umgang s. Questenfest Breisgau-Hochschwarzwald 116 Bremen 26 Cammann, Alfred 81, 108, 164 Comic 75, 79, 99, 129, 183 Csavoly/Batschka 114 Cyberspace s. Internet Dähnhardt, Oskar 199 Darfeld/Westfalen 72 DDR 253

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Register zum Schriftenverzeichnis

Deutschrut/Slowenien 16 Dorf, Dorfkultur 152, 181, 216 Dorfmuseum 153 Dorfplatz s. Anger Dying Child’s Wish 249 Ebermannstadt/Franken 45 Edelmann als Hund 172, 173, 187 Elternmörder 6 Empirie s. Feldforschung Endingen/Kaiserstuhl 60 Enemy Aliens s. Internierungslager Enraged Musican s. Hogarth, William Erinnern, Erinnertes 228, 230 Erzählforschung 40, 75, 162, 323, 324, 335 Erzählforschung, Methoden 294 Erzählmotive, -stoffe, -themen s. Alexanders Zug nach dem Lebenswasser s. Altweibermühle s. Aristoteles und Phyllis s. Asinus vulgi s. Blitz s. Dying Child’s Wish s. Edelmann als Hund s. Elternmörder s. Esel als Lautenspieler s. Frau: Die tote Frau kehrt zurück s. Frau: Die vorbestimmte Frau s. Fräulein von Britannien s. Frösche bitten um einen König s. Gebet ohne Ende s. Hängen spielen s. Hasen und Frösche s. Herr über uns s. Judas Ischariot s. Köpfe vertauscht s. Krieg der Tiere



s. Laub: Letztes Laub s. Lebensjahre: Die verschenken L. s. Meleager s. Mordeltern s. Nornagest s. Pfaffenköchin s. Polykrates, Ring des P. s. Qualnächte s. Ratte s. Rothaarig s. Schicksalserzählungen s. Schicksalsfrauen s. Schicksalskind s. Schlangenkönig s. Schlangenkuss s. Tänzersage s. Teufel schert die Sau s. Teufel, geprellter s. Teufelsbraut s. Tod durch Schrecken s. Todesart wählen s. Todesprophezeiungen s. Todeszeit wissen s. Tränenmirakel s. Verjüngung s. Verschwinden s. Wahrsagen s. Waise s. Wal s. Weiber von Weinsberg Erziehung 144 Esel als Lautenspieler 160 Europäische Ethnologie s. Volkskunde Fastnacht 111, 168, 205 Feldforschung 88, 112, 132, 138, 191, 258, 293 Festwesen, höfisches 209 Film 71, 111, 133, 168, 182, 204, 241, 242, 307

Register zum Schriftenverzeichnis

Flugblatt, Flugschrift 47, 56, 58, 62, 70, 95, 161, 172, 173, 233 s. Lieddruck Folklorismus 209 Folksong 24, 102 Fotografie 156 Frau: Die tote Frau kehrt zurück 193 Frau: Die vorbestimmte Frau 194 Fräulein von Britannien 109 Freiburg/Br. s. Volksliedarchiv Freytag, Frantz Melchior 45 Frösche bitten um einen König 195 Gänsespiel 340 Gebet 196 Gebet ohne Ende 197 Gefangenschaft 198 Gemeindeforschung 96 Gender/Geschlecht 280, 321 Gesang 49, 144, 236 Geschichte in Liedern 100 Gewalt in der Kultur 247 Glasbild s. Laterna magica Göttingen 142, 143, 165, 166, 171, 179, 186, 188, 189, 190, 208, 212, 230, 232, 254, 272 Gottschee 17, 30, 33, 46, 151 Grabwache 218 Grässe, Johann Georg Theodor 219 Greverus, Ina-Maria 220 Grimm, Jacob und Wilhelm 159, 179 Hamburg 67 Handwerk 141 Hängen spielen 221 Hansjakob, Heinrich 48 Harbachtal/Rumänien 84 Hasen und Frösche 222

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Haxthausen, August von 350 Heiske, Wilhelm 63, 64, 94 Hemsbach/Odenwald 38 Herr über uns 223 Herz der Mutter 154 Heumann, Georg Daniel 186, 189, 208 Hinrichtung 224 Hisgier-Problem 274 Hochzeitsbräuche 86 Hoffmann von Fallersleben, Heinrich 353 Hogarth, William 322 Hören-Sagen 253 s. Sagenhafte Geschichten Hübner, Arthur 72 Humor 303, 317, 321, 354 s. Witz Hutterer 118, 121, 122, 123, 124, 125, 126, 144, 174, 258, 277 Hymnologie 121 Identität, kulturelle 226 Ideologiekritik 171 Informant 237 Innovationszentrum 52, 67 Internet 317, 321 Internierungslager 319 Jagd 95 Jesusattribut 38 Judas Ischariot 238 Kanada s. Hutterer Kärnten 8 Karsau/Baden 71 Kartenspiel 239 Kartograph s. Koch, Augustus Kerze 1, 240 Kettenbriefe 249 Kinderliedforschung 36 Kinderspiel 50

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Register zum Schriftenverzeichnis

Klausenbigger 133 Koch, Augustus 337, 352, 368 Koepp, Johannes (Volksliedsammlung) 70 Kollektaneen 261 Kolporteur 102 Kommunikation, mündliche 213 Kontinuität 275 Köpfe vertauscht 262 Kornregen 56 Krieg der Tiere 263 Kultur, alpenländische 122 Kultur, alternative 277 Kulturkontakt 206 Kunstlied 74 Künzig, Johannes 140 Laienspielbewegung 288 Laterna magica 158, 184 Laub: Letztes Laub 164 Lauffer, Otto 165, 166 Lebensgeschichte 138 Lebensjahre: Die verschenken L. 265 Lebenslauf 136 Lebensschule, Lied als L. 236 Legende 6 Lehmann, Albrecht 266 Lesen 267 Licht 268 Lied 154 s. Auswandererlied s. Geschichte in Liedern s. Kunstlied s. Lebensschule, Lied als L. s. Volkslied s. Ware, Lied als W. s. Zeitungslied Lied, erotisches 57, 98 Lied, erzählendes 123 Lied, historisches 175, 225 Lied, niederdeutsches 170a

Lied, populares 67 Lied, schwankhaftes 29 Lied, Beharrung und Wandel 121 Lieddruck 269 Liederbuch, -handschrift 28, 37, 45, 72, 248 Liederhandel 121 s. Ware, Lied als Liedkolportage 87 Liedmotive, -stoffe, -themen s. Herz der Mutter s. Marlborough-Lied s. Schweizerlied Liedpostkarte 42 Liedpublizistik 62, 87 Liedtradition 174 Lixfeld, Hannjost 270, 286 Lüdecke, Hedwig 137 Mainz 23 Manta-Witz 229 Märchen 84, 339, 341 Markgräflerland 43 Marlborough-Lied 7 Maximoff, Matéo 2 Medien 172, 206, 231 s. Bildmedien s. Flugblatt Medien, audiovisuelle 281 Medien, moderne 213 s. Internet Meier, John 74 Meleager 282 Methode s. Bildforschung s. Erzählforschung s. Feldforschung s. Oral History Methode, biographische 95a, 104 Methoden, volkskundliche 207 Migration s. Arbeitsmigranten

Register zum Schriftenverzeichnis

s. Auswanderungsforschung Miesmann-Umgang 71 Minderheiten, ethnische 115 Missionsgesellschaft, Norddeutsche 278 Mordeltern 283 Moritat 69 Moser-Rath, Elfriede 232 Musik 322 Nacherzählen 213 Natur – Kultur 290 Naumann, Hans 284 Neuseeland 259, 278, 285, 303, 319, 337, 352, 354, 368 Niedersachsen 157, 248, 305 s. Göttingen s. Rotenburg Nikolausbrauch s. Klausenbigger Nornagest 297 Nötzoldt (Bänkelsang-Sammlung) 117 Oberpfalz 132, 191 Oral History 298 Ortsneckerei 299 Osteuropa 22, 126 Peuckert, Will-Erich 254, 256, 271 Pfaffenköchin 300 Pfaffenweiler 153, 169 Pieske, Christa 287 Pointe, Pointierung 301 Polykrates, Ring des P. 302 Qualnächte 308 Quellenkunde 2, 14, 32, 95, 207 Questenfest 279 Ranke, Friedrich 309 Ranke, Kurt 148, 149 Rastatt 28, 37

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Ratte 310 Rehermann, Ernst Heinrich 311 Reintegration 155 Reutlingersches Sammelwerk 14 Rheinland 21 Riedel, Karl Veit 252 Riedl (Flugschriftensammlung) 47 Röhrich, Lutz 135, 332 Rotenburg/Niedersachsen 141 Rothaarig 312 Rumänien 41, 84, 338, 339 s. Banat s. Harbachtal s. Walachei Sage 15, 22, 58, 250, 313, 320, 334 Sagenhafte Geschichten 215, 227, 235, 245, 255, 306 s. Hören-Sagen Sammelbildchen 119 Sammeltrieb 146 Saskatchewan s. Hutterer Saugbeutel 32 Schenda, Rudolf 296 Schicksalserzählungen 22, 31, 314 Schicksalsfrauen 4, 315 Schicksalskind 316 Schlangenkönig 325 Schlangenkuss 326 Schott, Albert 41, 327 Schott, Arthur 41, 328 Schullerus, Pauline 82, 84 Schwank in Liedform 29 Schwankballade 59 Schwarzwald 110 Schweizerlied 78 Schwundstufe 329 Seemann, Erich 3, 5, 11, 18, 26 Segler, Helmut 243 Sensationsmeldung 172 Singen und Sagen 15 Sinnbild 273, 275

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Register zum Schriftenverzeichnis

Sinnbildarchiv 171 Sonnensymbolik 127 Spanuth, Ilse 318 Spielkultur s. Gänsespiel s. Vogel am Faden Sprichwortbilderbogen 66 Stadt 52 Stadtansicht 23 Stammbuch 350 Stammbuchkupfer 272 Steinach/Schwarzwald 133 Steinhauerei 153, 169 Steinitz, Wolfgang 113 Straßenleben 189, 208 Straßenmusik 102 Strobach, Hermann 330 Studenten 331 Südosteuropa 13, 103 s. Gottschee s. Rumänien s. Ungarn s. Zarz/Slowenien Südsee 351 Südwestdeutschland 152 s. Breisgau-Hochschwarzwald s. Endingen/Kaiserstuhl s. Hemsbach/Odenwald s. Karsau/Baden s. Markgräflerland s. Pfaffenweiler s. Rastatt s. Schwarzwald s. Steinach/Schwarzwald s. Wolfach/Baden s. Württemberg Symbol s. Sinnbild, Sonnen­ symbolik Taloș, Ion 338, 342 Tänzersage 343 Täufer s. Hutterer

Tessedik, Sámuel 181 Teufel schert die Sau 344 Teufel, geprellter 1 Teufelsbraut 345 Tie s. Anger Tod durch Schrecken 346 Todesart wählen 347 Todesprophezeiungen 348 Todeszeit wissen 349 Tolksdorf, Ulrich 244 Tourismus 128, 367 Trabi-Witz 217 Tracht 176 Tränenmirakel 60 Typenindex Volksballade 25, 27, 34, 39, 44, 61, 80, 97, 110, 130 Uhland, Ludwig 203 Ungarn 181 s. Csavoly/Batschka Uther, Hans-Jörg 335, 336 Vergessen, Vergessenes 228, 230 Verjüngung 355 Verpackung 146 Verschwinden 356 Vogel am Faden 50 Vogelherd 95 Volksballade s. Ballade Volksbildung 210, 256 Volksdichtung 16 Volkserzählforschung s. Erzähl­ forschung Volkserzählung 1, 4, 6, 31, 41, 124, 226, 234, 295 Volksgesang s. Gesang Volksglaube 4 Volkskunde 142, 143, 185, 200, 214, 246, 257, 260, 289, 291, 292 s. Methode Volkskunde, nationalsozialistische 171, 188, 190

Register zum Schriftenverzeichnis

Volkslied 12, 15, 17, 19, 21, 22, 30, 46, 52, 54, 65, 73, 114, 134, 151 s. Lied Volksliedarchiv 9, 10, 35, 47, 68, 70, 117, 132, 191 Volksliedforschung 35, 145, 203 Volkslieder demokratischen Charakters 113 Volksliedpflege 177 Volksliedsängerin 33 Volksmärchen s. Märchen Volksmusik 132, 192 Volkssage s. Sage Volkswelt als Kulisse 209 Wagner, Kurt (Flugschriftensammlung) 70 Wahrsagen 357 Waise 358 Wal 359 Walachei 41 Wandel, kultureller 53 Ware, Lied als W. 55

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s. Liederhandel Weiber von Weinsberg 360 Weigel, Karl Theodor 171 Werbung 176 Westerwald 49 Wiedertäufer s. Hutterer Wiedervereinigung, deutsche 234 Wienert, Alfred 361 Wildhaber, Robert 150, 167, 362 Wildsänger 8 Witz 217, 229 s. Humor s. Manta-Witz s. Trabi-Witz Wolfach/Baden 111, 168 Württemberg 209 Xeroxlore 363 Zarz/Slowenien 16 Zeitung 233, 364 Zeitungslied 144, 304 Zensur 365 Zersagen, Zersingen 366

Personenregister Berücksichtigt sind hier auch das Schriftenverzeichnis und die Abbildungs­ unterschriften (kursiv), nicht aber Fußnoten und Literaturlisten. Abraham a Sancta Clara 268 Achenwall, Gottfried 394 Addington, Henry 35 Adorno, Theodor W. 209f. Alewyn, Richard 313, 343 Alexander, Dorothy 481 Allard, William Albert 197 Alpers, Paul 513 Alzheimer, Heidrun 536f. Amigoni, Jacopo 135 Amman, Johann Heinrich 126 Ammon, Johann Wilhelm 304 Anderson, Walter 41, 81 Andree, Richard 524 Angelus Silesius 186 Anhorn von Hartwiss, Bartholomäus 310 Ankarstrom, Jan Jacon 176 Anna Amalia (Herzogin) 136 Anselm von Canterbury 130, 153 Arens, Dietlind 525 Ariost 176 Aristophanes 128 Arnim, Achim von 214, 223, 411, 413 Assion, Peter 522, 530f. Assmann, Jan 389 Atkins, Stuart 168 August d.J. (Herzog von Braunschweig-Wolfenbüttel) 157, 160

Bach, Adolf 443, 507 Bachmann-Geiser, Brigitte und Eugen 194 Ballhaus, Edmund 526, 533 Bange, H. 73 Bartlett, Frederick 81 Basedow, Johann Bernhard 396 Bausinger, Hermann 78f., 210, 427f., 441, 525f., 530, 537 Beaufort, Gilles de 65 Beauvoir, Simone de 244 Bechstein, Josef Matthäus 76 Beck, Josef 383 Becker, Ernst 23 Becker, Heinrich 526 Becker, Rudolf Zacharias 222, 226, 230–233 Becker, Siegfried 527 Becker, Zacharias 51 Beckmann, Ada-Elise 517 Beckmann, Johann B. 360, 364 Becq de Fouquières, Louis 128 Behamer, Michael 289 Beitl, Klaus 522 Békeffi, István 323f. Belgrader, Michael 521 Bell, Marie 243 Benecke, Georg Friedrich 498 Benfey, Theodor 499f. Benjamin, Walter 212 Benker, Gertrud 471

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Personenregister

Bernerdin, Ludwig Wilhelm von 353 Bernhard, Johann Christian 364 Bernhardt, Sarah 242 Bezzenberger, Alois 500 Bimmer, Andreas C. 527 Binder, Heinke 514, 516 Bismarck, Otto von 235, 392 Blücher, Gebhard Leberecht von 175, 179 Blühm, Elger 525 Blumenbach, Johann Friedrich 177, 394 Blümml, Emil Karl 418 Bohemus, Cosmus Pierius 313 Böhme, Franz Magnus 214, 421 Boiteux, Martine 527 Bolswert, Boetius Adams 136 Bolte, Johannes 106f., 111, 119, 123, 128, 247, 468, 477 Bönisch-Brednich, Brigitte 528, 530, 533 Borchers, Carl 444 Bošković-Stulli, Maja 248 Brandi, Karl 402, 404 Brant, Sebastian 48, 56, 60, 70f., 106 Braund, James 536 Brecht, Bertolt 394, 445 Brednich, Johann 77f. Brentano, Clemens 214, 223, 317, 411 Brepols, Philippe-Jaques 133, 148, 149, 150, Breznik, Anton 282 Bringéus, Nils-Arvid 467f., 472f., 485, 525, 527 Bröcker, Marianne 523 Brockpähler, Hans 238 Brosamer, Hans 143, 146, Brückner, Annemarie 42 Brückner, Wolfgang 115, 157,

170, 218, 471, 484f., 519, 522, 524, 536f. Bruegel, Pieter d.Ä. 71, 105–117, 123, 154, 477 Brunold-Bigler, Ursula 530 Bunchmayr, Hans 176 Bünker, Johann Reinhard 275 Buonaroti, Michael Angelo 176 Bürger, Gottfried August 221, 223, 229, 397f. Burgkmair, Hans 140 Busch, Wilhelm 26, 30 Byron, George Gordon 167 Callot, Jacques 17 Calom, Jacob Aertz 151 Calvin, Johannes 190 Cammann, Alfred 514, 517, 519, 523 Carl (Erzherzog von Österreich) 176 Carl Alexander (Herzog von Württemberg) 344 Carl Eugen (Herzog von Württemberg) 351–354 Carl Friedrich von SachsenWeimar 136 Cartouche, Louis Dominique 10 Cats, Jacob 124–127, 133, 136, 139, 141 Catteeuw, Paul 534 Cervantes Saavedra, Miguel de 175, 184f. Chalier, Joseph 177 Chodowiecki, Daniel 166 Christina (Königin von Schweden) 176 Cimabue 131, 132, Cluever, Johannes 297–299, 304, 310 Cluever, Michael 297 Cluverus s. Cluever, Johannes

Personenregister

Cochin, Charles-Nicolas 14, 15, 16, 19 Collaert, Jan 74 Comhaire, Jean 152 Copernicus, Nikolaus 176 Cosquin, Emmanuel 500 Cotta, Christoph Friedrich 419 Coupe, William Arthur 63 Crescentiis, Petrus de 70 Crome, Bruno 502 Cruikshank, Georg 35 D’Armont, Marie Anne Charlotte C. 176 D’Ayala, Pier Giovanni 527 Dahlmann, Friedrich Christoph 498 Dähnhardt, Oskar 526 Dangkrotzheim, Konrad 127 Dannhauer, Johann Konrad 299f. De Beaurepaire-Froment, Paul 241 De Bouck, Joseph Ludewig 418 De Bruyn, Nicolaas 129 De Geyter, Julius 246f. Dégh, Linda 465 Dela Montagne, Victor 246 Demeunier, Jean Nicolas 495f. Deneke, Otto 392 Deumling, Klaus 531 Diana en Filandre 151 Diederichs, Eugen 468 Diederichs, Victor 276 Dieterich, Heinrich 176 Dietrich, Marlene 88 Dilly, Caspar 477 Dirks, Rudolph 27 Dittmar, Jürgen 519, 521, 530 Dohna, Christoph von 123 Dorson, Richard 517 Dow, James R. 524–526 Drascek, Daniel 537

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Dravec, Josip 265 Droste-Hülshoff, Annette von 417 Duchartre, Pierre Louis 14 Dundes, Alan 88f. Dupont, Gabriel 242 Dürer, Albrecht 70, 143, 144, 153 Dürst, Hans Joachim 18 Duwe, Kornelia 527 Eberhard Ludwig (Herzog von Württemberg) 344 Eberhard mit dem Bart (Herzog) 177 Eder, Alois 313 Ehrenpreis, Andreas 376 Ekkard, Friedrich 494 Engle, David Gray 518f. Ennen, Edith 515 Enstrom, Eric 460 Erk, Ludwig 214, 421 Ettmüller, Ernst Moritz Ludwig 420 Everaerts, Christian 317 Fast, Howard Melwin 255 Faulstich, Werner 528 Fehr, Hans 480 Fehrle, Eugen 441 Fenchlerin, Ottilie 416 Fiorillo, Johann Dominicus 395 Fischart, Johann 123, 162 Fischer, Michael 292 Fischer, Reinhard Ferdinand Heinrich 353 Fix, Ulla 328f. Flaubert, Gustave 269 Fleischhauer, Werner 342 Fleischmann, Johann Jakob 351 Foltin, Hans Friedrich 513 Fölzer, Maria 263 Forkel, Johann Nicolaus 221

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Personenregister

Fourchoudt, Gilliam 111 Fraenger, Wilhelm 106, 469 Frank, Harry 68 Frank, James 402f. Franz II. 176 Freudelsperger, Hans 76 Freytag, Frantz Melchior 514 Freytag, Gustav 42 Friederike (Königin von Schweden) 176 Friedman, Herbert 130f. Friedrich (Markgraf von Bayreuth) 353 Friedrich Wilhelm (Herzog von Braunschweig) 176 Friedrich Wilhelm III. 176, 187 Frisch, Johann 306 Frisch, Johann Leonhard 166 Fröba, Dietrich 524 Froeschle, Hartmut 449 Frommann, Georg Karl 498 Fruytiers, L. 113 Fürst, Paulus 468 Galgóczi, Erzsébet 247 Galle, Jean 74, 113 Galle, Theodor 113 Garnier, Jacques-Marin 22 Gatterer, Johann Christian 394 Gebhardt, Hartwig 525 Geiger, Benno 20 Geiler von Kaysersberg, Johann 126 Geisberg, Max 468 Georg (Prinzregent von England) 175 Georg II. August (englischer König) 390, 392 Gercke, Achim 402 Gerndt, Helge 327, 474, 515, 525, 528, 537 Gillray, James 35, 36

Gleim, Johann Wilhelm Ludwig 167 Glonar, Jožar 284 Glück, Gustav 109 Göden, Georg 307 Goedeke, Karl 503 Goethe, Johann Wolfgang 5, 168f., 183, 223, 356 Gole, Jacob 12, 13, 15, 19 Görner, Otto 41 Görres, Joseph 317 Göttsch, Silke 530, 533 Götzinger, Max Wilhelm 415 Gounod, Charles 243 Gouwen, G. v. 137 Goya, Francisco de 136 Graber, Georg 277–279 Grafenauer, Ivan 269 Grass, Rebecca 200 Grässe, Johann Georg Theodor 528 Gräter, Friedrich David 214 Grauls, Jan 106 Greflinger, Georg 306 Greive, Artur 535 Greverus, Ina-Maria 82, 527f. Griep, Hans-Günther 444 Grimm, Brüder 222, 415, 420, 498, 523, 525 Grimm, Charlotte 180 Grimm, Hans 402 Grimm, Jacob 171, 182–187, 185, 431, 496–498, 500, 508 Grimm, Wilhelm 171, 182–184, 186, 415, 496f, Grimmelshausen, Hans Jacob Christoffel von 11, 44 Grober-Glück, Gerda 518 Groos, Karl 138 Grothusen, Klaus-Detlev 519, 523 Grundmann, Martin 298f. Guilbert, Yvette 243, 245

Personenregister

Gustav Adolf II. 59, 175, 292 Gustav Adolf IV. 176 Gustav III. (König von Schweden) 176 Gustavsson, Anders 518 Haberlandt, Michael 502 Habla, Bernhard 529 Hafner, Johann Christoph 66 Hahn, Elise 398f. Hahne, Hans 434 Hainhofer, Philipp 157, 163 Halbwachs, Maurice 388 Haller, Albrecht von 393 Hamer, Steffan 49f., Hampe, Theodor 468 Handelmann, Heinrich 129 Hansen, Georg 191 Hansen, Wilhelm 477 Hansjakob, Heinrich 515 Häntzschel, Günter 222 Happel, Eberhard Werner 298 Hardenberg, Karl August Frhr. von 177 Harms, Wolfgang 161, 481 Hartinger, Walter 529 Hartmann, Andreas 527, 536 Hassenpflug, Amalia Maria 180f. Hassenpflug, Auguste 187 Hassenpflug, Hans Daniel Ludwig Friedrich 178, 180, 187 Hassenpflug, Johanna Isabella (Jeannette) 181, 184 Hassenpflug, Johannes 180 Hassenpflug, Maria Magdalene 181, 184 Hassenpflug, Marie Magdalene Elisabeth 181 Hätzlerin, Clara 414 Hauffen, Adolf 260, 262f. Haupt, Rudolph Friedrich Moriz 418

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Hawkesbury, Lord 35 Haxthausen, August von 171–188, 180, 185, 536 Haxthausen, Werner von 182 Haydn, Joseph 175 Hebel, Johann Peter 48, 234 Heereman-Zuydtwick, Engelbert Frhr. von 179 Heilfurth, Gerhard 513 Heinrich I. von Lothringen (Herzog von Guise) 176 Heiske, Wilhelm 513, 516, 518 Heitz, Paul 468 Hellenius, Johann 124 Hengartner, Thomas 534 Henkel, Arthur 136 Herder, Johann Gottfried 7, 181, 214, 221f., 495 Hermann, Jean 55 Heumann, Georg Daniel 392f., 482, 525, 527 Heyne, Christian Gottlob 395 Heyne, Moriz 399f., 501f. Hilka, Alfons 504 Himmler, Heinrich 434, 504, 507 Hippel, Olga von 367 Hirschfeld, Christian Cay Lorenz 354 Hissmann, Michael H. 394, 495 Hitchcock, Alfred 83 Hitler, Adolf 326 Hochfelder, Caspar 28 Hochstetter, Ferdinand 536 Hoejus, Franciscus de 110, 113– 118, 114 Hoeye, François s. Hoejus Hoffmann von Fallersleben, Heinrich 187, 409, 417, 536 Hogarth, William 11, 35, 153, 534 Hogenberg, Frans 106–113, 109 Holl, Valentin 287 Holland, Wilhelm Ludwig 423

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Personenregister

Hollmann, Samuel Christian 391 Hölty, Ludwig 229 Holz, Hans Heinz 210 Holzach, Michael 205f. Holzapfel, Otto 515 Homer 175 Honko, Lauri 529 Hoppenstedt, August Ludwig 225–234 Horkheimer, Max 209 Hostetler, John Andrew 197, 203 Hoye, Franciscus de s. Hoejus Hübner, Arthur 517 Huffzky, Karin 87, 90, 91 Hug, Peter 52 Hugo, Herman 136 Hunger, Ulrich 434 Huntington, Gertrud E. 203 Huntzeler, Arnt 77 Hutter, Jakob 375f. Israel von Meckenem 141, 142 Jacob von Utrecht 135 Jacobeit, Sigrid 478 Jacobeit, Wolfgang 478 Jacobus de Voragine 267 Jacoby, A. 320 Janežić, Anton 264 Jean Paul 181, 184 Jedlicka, Gotthard 106 Jeggle, Utz 525 Jensen, Klaus 84 Jeorjélli, Dímitra 248 Jérôme (König von Westfalen) 173, 178 Johann Casimir von Sachsen 74 Johann Georg von Sachsen 59 Johannes à Doetinchum 111 Jolles, André 79 Joseph II. 371

Kálmány, Lajos 275 Kamp, Norbert 405 Karl der Kühne 177 Katharina II. 452 Katharina von Kleve 70 Kaufmann, Gerhard 516 Kerner, Justinus 343, 411, 420 Kerr, Alfred 244 Kiehl, Ernst 532 Kinder, Samuel 527 Kiss, József 247 Klaar, Marianne 248, 252–255 Klassen, J. A. 455 Kleiner, Salomon 137 Klusen, Ernst 212, 237, 523 Klymasz, Robert 448 Koch, Augustus 535–537 Koelle, Christoph Friedrich 411 Koepp, Johannes 516 Köhle-Hezinger, Christel 532 Köhler, Reinhold 500 Köhler-Zülch, Ines 537 Koler, Hans 52 Köpphel, Wolffgang 49 Kosar, Josef 262 Kosovel, Srečko 247 Kramar, Franc 282 Krause, Wolfgang 435, 441, 504 Kraybill, Donald 193 Kretzenbacher, Leopold 476, 515 Kriss-Rettenbeck, Lenz 476 Kriza, Ildikó 519 Kuckei, Max 3 Kuczynski, Jürgen 478 Kunt, Ernö 189f., 206, 530 Künzig, Johannes 82, 521 Kunzle, David 30 Kurrus, Karl 516 Kutter, Uli 494, 527, 534 Kvideland, Reimund 524 Lachmann, Karl 420

Personenregister

Laforte, Conrad 242 Lairesse, Gerard de 137 Langewiesche, Friedrich 442 Laßberg, Joseph Frhr. von 415– 417 Laube, Theophil(us) 299, 312 Lauffer, Otto 427, 441–443, 469, 502, 507, 523 Lebeer, Louis 107, 110 Lebenwaldt, Adami â 311 Legman, Gershon 88f. Lehmann, Albrecht 82f., 388, 531, 533f. Lehmann, Heinz 451 Lehmann, Siegfried 435, 443 Lenz, Siegfried 405 Leonhard, Dorette und Molly 398 Leskien, August 500 Leutrum, Franziska von 353–356 Levin, Isidor 257 Lexer, Matthias 383 Lichtenberg, Georg Christoph 394 Liliencron, Rochus Frhr. von 214 Lindig, Erika 527 Lindner, Kurt 68f., 74 List, Guido von 428f. Littmann, Enno 503 Lixfeld, Hannjost 521, 524, 531 Llano Roza de Ampudia, Aurelio de 273 Löffler, Klara 533 Low, Colin 203 Low, Victor de 306 Lüdecke, Hedwig 521 Lurker, Manfred 444 Luther, Martin 77, 136, 176, 190 Lutz, Gerhard 503 Lützow, Karl von 187 Mackensen, Lutz 507 Mackensen, Wilhelm Friedrich August 397

553

Magdalena Sibylla von Sachsen 162, 164 Magdalena Sibylle (Landgräfin von Hessen) 342 Magnasco, Alessandro 16–22 Malamud, Randy 210 Malkowsky, Emil Ferdinand 245 Manger, Michael 47, 52 Manus, K. 179 Marat, Jean-Paul 176 Marner 289 Marolt, France 264f. Matičetov, Milko 276, 278, 280 Mattiat, Eugen 404, 506f. Maximilian I. 140 Maximoff, Matéo 273, 511 Mayer, Johann Friedrich 363f. Mayer, Johann Tobias 176 Mayer, Lucas 72 McGillis, Kelly 192 Meier, John 425, 503f., 517 Meister Altswert 123 Mengs, Anton Raphael 176 Merian, Hans 74 Mesenhöller, Peter 528 Meusebach, Gregor Frhr. von 414f., 417–419 Meyer, Conrad 125, 133 Miller, J. Martin 229 Millet, Jean-François 460 Misjíris, Strátis 254 Möderndörfer, Vinko 287 Mohrmann, Ruth-E. 531, 536 Molière 167 Möller, Helmut 508 Mönnig, Ralf 336 Moritz, Werner 183 Moser, Dietz-Rüdiger 521 Moser, Hans 341, 352, 473 Möser, Justus 364f. Moser-Rath, Elfriede 90, 528 Müller, Johannes von 176, 182

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Personenregister

Müller, Wilhelm (Konrad Hermann) 498f. Murell, William 36 Murner, Thomas 106 Mytens, Jan 135 Napoléon Bonaparte 35, 178 Naumann, Hans 3, 6, 8, 12, 532 Nehagen, Wilhelmine Henriette Dorothea 176 Neumann, Paul 3 Neumann, Siegfried 79, 81f. Nicolai, Friedrich 221, 356 Niedermeyer, Lucian 194 Nietzsche, Friedrich 389 Nissen, Walter 523 Noll, Günther 523, 535 Nordau, Max 244 Nostradamus 161 Nötzoldt, F. 520 Novak, Josip 285 Nussbaumer, E. 234 Oraeus, Heinrich 298 Ottenjann, Helmut 477, 524 Ottokar aus der Gaal 289 Outcault, Richard Felton 27 Panofsky, Erwin 474f. Paris, Gaston 500 Pascha, Osman 177 Pascoli, Giovanni 257 Peeters, Karel Constant 105, 516 Percy, Thomas 419 Perz, Josef 259 Peßler, Wilhelm 441 Pestalozzi, Heinrich 223 Peterlin, F. 278, 283, 287 Petrarca, Francesco 176 Petzoldt, Leander 82 Peuckert, Will-Erich 404, 435, 444, 507f., 530f.

Pfeffel, Gottlieb Konrad 229 Pfeiffer, Franz 420, 423 Pfister, Friedrich 443 Pforzheim, Jakob (Wolff) von 71 Philip de Goede (Philip III. von Burgund) 176 Philipp II. von Pommern 164 Pieske, Christa 470f., 532 Pinon, Roger 119, 154 Pistoia, Leonardo da 131 Platow, Graf Matvej Ivanović 176 Primnicius, Laurentiades 61 Printz, Wolfgang Caspar 313, 316f. Pütter, Johann Stephan 394 Quarles, Francis 136 Raabe, Wilhelm 167 Rabelais, François 106 Rademaker, G. 137 Ramovš, Fran 279 Rank, Otto 267 Ranke, Friedrich 503, 534 Ranke, Kurt 508, 522, 537 Raphael 131 Raumer, Karl Otto 234 Rautert, Timm 205 Rehermann, Ernst Heinrich 534 Reitz, Edgar 85 Resewitz, Friedrich Gabriel 364 Ress, Johann Heinrich 364f. Richepin, Jean 239–248 Riedel, Karl Veit 530 Riedemann, Peter 376 Riehl, Wilhelm Heinrich 222, 235 Riepenhausen, Ernst Ludwig 175, 186 Riese, Johann Jakob 170 Rigaud, Benoist 161f. Ringgren, Helmer 513 Rist, Johann 33 f.

Personenregister

Rodde, Matthäus 397 Roethe, Gustav 399, 501, 503 Rogge, Jan-Uwe 84 Röhl, Charlotte Auguste 173f. Röhr, Erich 442 Röhrich, Lutz 512, 515f., 521, 527, 535 Romdahl, Axel Ludvig 106 Rosenfeld, Hellmut 33, 470 Roth, Klaus 537 Röttinger, Heinrich 143 Rousseau, Jean-Jacques 396 Rowlandson, Thomas 35, 37f. Rubens, Peter Paul 135, 147, 150, 153 Sachs, Hans 63–65, 67, 71 Salmen, Walter 7 Sälzle, Karl 343 Šašel, Josip 279, 283 Šašelj, Ivan 279, 283, 287 Sattler, J. P. 229 Saulnier, René 14 Savigny, Friedrich Carl von 175f., 180 Saymken, Georg Gerriet 17, 20 Schambach, Georg 499 Scharfe, Martin 471, 530, 532 Scheible, Johann 320 Schenda, Rudolf 4, 41, 45, 79, 218, 291, 471, 508, 530 Schepping, Wilhelm 534 Schier, Kurt 81 Schießer, Hans 44 Schiller, Friedrich 176, 412 Schläger, Georg 119 Schlettwein, Johann August 364f. Schlotterbeck, Johann Friedrich 229 Schlözer, August Ludwig 396f. Schlözer, Dorothea 396–398 Schmeling, Hans-Georg 502

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Schmeller, Andreas 420 Schmidt, Leopold 5f., 11, 14, 16, 19, 23, 476, 515 Schmidt-Lauber, Birgitta 534 Schmitt, Heinz 531 Schneider, Annette 532 Schön, Erhard 63–65 Schöne, Albrecht 136 Schott, Albert 514, 535 Schott, Arthur 514, 535 Schreiber, Alexander 239, 247, 255–257 Schröder, Edward 502f. Schroubek, Georg R. 515 Schubart, Christian Daniel 229 Schullerus, Pauline 517f. Schulz, Johann Abraham Peter 234 Schumann, Valentin 268 Schwab, Gustav 419 Schwabe, Julius 443 Schwarz, Matthäus 128 Schwarz, Veit Konrad 128 Schwietering, Julius 503 Schwytzer, Christoffel 52 Scribner, Robert W. 78 Seckendorf, Leo Frhr. von 412, 414 Seemann, Enoch 191 Seemann, Erich 3, 6, 259, 290, 511–513 Segler, Helmut 529 Selberg, Torunn 524 Senefelder, Alois 483 Seübolt, Frantz 72 Seydlitz, Friedrich Wilhelm Frhr. von 177 Shakespeare, William 175, 186 Sibmacher, Johannes 73 Sieber, Friedrich 341f. Siegert, Reinhart 222, 231 Sievers, Kai Detlev 530 Simpson, William 136

556

Personenregister

Singer, Samuel 119 Siuts, Hinrich 531 Smith, William Sidney 177 Solario, Antonia 131 Soldan, Angelika 327 Spamer, Adolf 3, 6, 212, 441, 469, 485 Spangenberg, Johann Fr. 137 Spanuth, Ilse 534 Spieß, Karl von 431 Stahl, Michael S. 382f., 518 Stahl, Rachel und Susanna 196 Stauff, Philipp 429f., 433 Steinhausen, Georg 468 Steinitz, Wolfgang 520 Stief, Werner 431f. Stör, Niklas 63, 65 Stradanus, Johannes 74 Straub, Jacob 308 Straube, Heinrich 178 Strauss, Walter L. 481 Streichan, Christine 528 Štrekelj, Karol 264f., 280, 284 Stridbeck, Carl Gustav 107, 111, 116f. Stridbeck, Johann d.J. 115, 116, 118 Strobach, Hermann 535 Strutt, Joseph 128f. Strzygowski, Josef 431 Suppan, Wolfgang 513–516, 522, 529 Süß-Oppenheimer, Joseph 344, 350 Szarvas, Zsuzsa 530 Taft, Michael 202 Takehara, Takeshige 511 Taloș, Ion 514, 517f., 535f. Taubert, Sigfred 218 Tauentzien, Bogislav Friedrich Emanuel von 176

Tessedik, Sámuel 359–374, 368, 525 Tessedik, Sámuel I. 359 Thamm, Marianne 519 Tharsander 311 Thielemann, Johann Adolf Frhr. von 175 Thomas, William I. 464 Thompson, Stith 269 Thümmel, Moritz August 67 Tilly, Johann T’Serclaes Graf von 59f. Toepffer, Rodolphe 26 Tolksdorf, Ulrich 529 Tolnay, Charles de 6 Tolstoi, Leo 257 Top, Stefaan 534 Tschernischeff, Alexander Iwanowitsch 176, 178 Tschetter, Michael 199 Tschinkel, Hans 259, 262, 265 Tschinkel, Wilhelm 262, 264, 288 Uhland, Emma 412, 417 Uhland, Ludwig 214, 409–425, 526 Uther, Hans-Jörg 535, 537 Valjavec, Matija Kračmanov 276, 283 Vallodon, Emma 243 Van Alphen, Hieronymus 149 Van Alsloot, Denis 147, 149 Van de Venne, Adrian 5 Van der Does, Willem 135 Van Dyck, Anthonis 175 Van Nespen, W. 516 Vanja, Konrad 486 Vega, Lope de 270 Veronese, Paolo 137 Verweyen, Annemarie 525 Vintler, Hans 289

Personenregister

Vischer, Friedrich Theodor 442 Vláchos, Ángelos 254 Vliet, Jan Georg von 8 Von der Hagen, Friedrich Heinrich 420 Von der Heyden, Johann 120, 121, 122, 124, 126, 133 Von zur Westen, Walter 169 Vos, Cornelis de 151, Voß, Johann Heinrich 221 Wackernagel, Philipp 214 Wackernagel, Wilhelm 501 Wagner, Kurt 516 Wagner, Margarete 66 Walkow, Fred 330, 332, 334f. Wallach, Otto 402 Walter, Eli 197 Warburg, Aby Moritz 389, 474 Washington, George 177 Wattez, Omer 247 Weber, Wilhelm 71 Weber-Kellermann, Ingeborg 476, 527 Wegner, Georg Wilhelm s. Tharsander Weigel, Karl Theodor 427–445, 439 f., 505, 524 Weinitz, Franz 106 Weiß, Margarete 43 Weißert, Gottfried 222, 234 Wellington, Duke of 176 Werner, Ute 532 Wetz, Ambrosius 54 Wichern, Johann Hinrich 166 Wick, Johann Jakob 43 Wiederhold, Johann Carl 173, 177

557

Wiegelmann, Günter 341, 515, 527 Wieland, Christoph Martin 167 Wienert, Alfred 537 Wildhaber, Robert 476, 518, 522f., 537 Wilhelm (Kronprinz von Württemberg) 175 Will, I. Martin 49f. Willemer, Marianne von 169 Wirth, Herman 434–436, 444, 504, 507 Wohlers, Reverend 532 Wohlfart, Roland 529 Wolf, Johann Wilhelm 273 Wolfram, Richard 289 Wolkan, Rudolf 383 Wollmann, Justina 200 Woodward, George M. 35 Worbs, Johann Gottlieb 49 Zaborsky-Wahlstätten, Oskar von 441 Zagiba, Franz 513 Zell, Christoph 71 Zender, Matthias 515 Ziehe, Irene 532 Zieten, Hans Joachim von 177 Zimmermann, Bernhard 403f. Zincgref, Julius Wilhelm s. Primnicius Zingerle, Ignaz Vinzenz 129 Znaniecki, Florian 464 Zsigmondy, Richard 402 Zuniga, Manuel Osorio de 136 Zurbaran, Francisco de 131 Zuydtwyck, Ferdinandine 179, 180 Zwingli, Ulrich 190