Belastungen der Bevölkerung durch Flug- und Straßenlärm: Eine Lärmstudie am Beispiel der Flughäfen Genf und Zürich [1 ed.] 9783428485635, 9783428085637

Wer sich mit der Wirkung des Lärms auf den Menschen befaßt, stellt sich die Frage nach verallgemeinerbaren empirischen G

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German Pages 196 Year 1998

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Belastungen der Bevölkerung durch Flug- und Straßenlärm: Eine Lärmstudie am Beispiel der Flughäfen Genf und Zürich [1 ed.]
 9783428485635, 9783428085637

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eARL OLIVA

Belastungen der Bevölkerung durch Flug- und Straßenlärm

Belastungen der Bevölkerung durch Flug- und Straßenlärm Eine Lärmstudie am Beispiel der Flughäfen Genf und Zürich

Von

earl Oliva

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Oliva, earl:

Belastungen der Bevölkerung durch Flug- und Straßenlärm: eine Lärmstudie am Beispiel der Flughäfen Genf und Zürich I von Carl Oliva. - Berlin : Duncker und Humblot, 1998 ISBN 3-428-08563-9

Alle Rechte vorbehalten

© 1998 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fotoprint: Color-Druck Dorfi GmbH, Berlin Printed in Germany ISBN 3-428-08563-9

Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706@

Inhaltsverzeichnis Vorwort . ........................................ . ................ 9 Teil I: Einführung . ................................................ 21 A. Ausgangslage und Anlass der Uinnstudie 90 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 1. Der Forschungsgegenstand ................................... 21 2. Das Hauptanliegen der Uinnstudie 90 . .... . .. . . . ..... . . . . . . .... 24 B. Konzeptualisierung ............................................ 26 1. Der Zusammenhang zwischen der Geräuschbelastung Wld der wahrgenommenen Stönmg der Wohnqualität . . . . . . . . . . . . . .. . ..... 27 2. Der Einfluss sozialer Wld psychischer Eigenschaften auf die Wahrnehmung der Stönmg der Wohnqualität ..................... 28 3. Die Folgewirkungen der Stönmg der Wohnqualität ................. 29 Teil D: Methoden und ihre theoretische Begründung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 32 A. Problemstellung und GenauigkeitsansprUche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 B. Die Idee des "Cluster" ......................................... 33 C. Die Erhebung der akustischen Belastungsgrijssen ..................... 33 1. Die Erhebung der Strassenlärmbelastung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 2. Die Berechnung der Fluglärmbelastung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 35 a) Die Datenbasis des Berechnungsverfahrens FLULA ............. 35 b) Simulation eines Fluges. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 c) Vor- Wld Nachteile von FLULA ............................ 37 d) Die Inputdaten ft1r die Fluglärmberechnung in der Uinnstudie 90 . .. 37 e) Zur Genauigkeit der Flug1anndaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 39 D. Die verwendeten FlugltJrmmasse .................................. 39 1. Leq Wld NNI .............. . ............................... 39 2. Die Lautheit nach Zwicker .................................... 40 E. Das Quasi-Experiment als Untersuchungaansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 1. Die Eliminienmg der räumlich-zeitlich beschrankten Faktoren ........ 41 2. Cluster Wld Stufen der Larmbelastung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 F. Die Eifassung der Wahrnehmung und Bewertung des Fluglarms .......... 47 1. Theoretischer Hintergrund ................................... 47 2. Selbstbeobachtete Reaktionen ................................. 50 a) Wahrgenommene allgemeine Stönmg durch Lann ............... 51 b) Erlebte Innen-Aussen-Differenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51

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Inhaltsverzeichnis c) Erlebter Verlust an Spielrawn für Aktivitäten: Die spezifische Störung durch Geräusche ............................ 52 d) Erlebter ästhetischer Verlust der Wohngegend ................. 53 e) Erlebter Verlust an Wohlbefmden .......................... 53 f) Weitere Moderatorenvariablen ............................. 54 g) Spezifische Lärmbelastung ausserhalb des Wohnbereichs ......... 55 h) Eigenschaften der Umwelt ................................ 55 3. Das Konzept des Fragebogens ................................ 55 4. Das Stichprobenkonzept ....................... . ............. 57 G. Eine kritische Betrachtung der verwendeten Methodik . ................ 59 1. Allgemeine Überlegungen zu den gnmdlegenden Annahmen: Vorund Nachteile der verwendeten Methoden der Datenerhebung ........ 60 2. Spezifische Überlegungen zur Dimensionalisierung der abhängigen Variablen ............................................ 62 a) Zwn Begriff der Wohnqualität .................... . . .. . .... 63 b) Zwn Begriff des Wohlbefmdens und der Gesundheit. ........... 65 3. Die verwendeten statistischen Methoden ........................ 67

Teil ill: Die Definition der "Störung durch Fluglärm" . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 73 A. Wahrgenommene SUjrung durch Fluglänn .......................... 73 B. Das Konzept der "starken StiJrung" durch Fluglänn .... . ..... . ....... 81 C. Wahrgenommene spezifische StiJrung durch Fluglänn ................. 82

Teil IV: Fluglärmbelastung und Wohnqualität: Fonchungsfragen und Hypothesen ................................................ 87 Teil V: Fluglärmbelastung und das Ausmass der Beeinträchtigung der Wohnqualität ............................................. 94 A. Der Zusammenhang zwischen der Fluglännbelastung und der StiJrung der Wohnqualität (Leithypothese 1-1) ............................. 94 B. Zur Interpretation des Zusammenhanges zwischen der Fluglännbelastung und der StiJrung der Wohnqualität (Leithypothese 1-2) . . . . . . . . .. 98 C. Der Einfluss der regionalen ZugehiJrigkeit aufdie Beurteilung der St6rwirkung des Flugverkehrs (Leithypothese 1-3) ................... 103 D. Der Einfluss der sozio-demographischen Eigenschaften der befragten Personen aufdie Beurteilung tier St6rwirkung des Flugverkehrs (Leithypothese 1-4) ............................. 107 E. Analyse der Stabilität der Beziehung zwischen Schal/belastung und St6rwirkung im Zeitverlauf(Leithypothese 1-5) ..................... 110

Teil VI: Der Effekt der Belastung durch Stnssenlärm als einer zusätzlichen GeriuschqueUe ...................................... 115

Inhaltsverzeichnis

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A. Problemstellung............................................. 115 B. Die grundlegenden Zusammenhtinge zwischen der Belastung durch Strassenlärm und der wahrgenommenen StiJrwirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 C. Die Wahmehmung der Gerliuschquellen (Leithypothese 2-1) ............ 120 D. Der Effekt der zusätzlichen Gerliuschquelle auf die Wahmehmung der StiJrwirkung des Fluglärms (Leithypothese 2-2) ...................... 122 E. LtJstigkeitsvergleich zwischen F1ug- und Strassenlarmbelastung (Leithypothese 2-3) ........................................... 125 1. Ruhestönmg im Quartier .................................... 125 2. Stönmg duch Flug-1Uld Strassenlärm vor dem Haus ............... 127 3. StÖf1Ulg duch Flug- 1Uld Strassenlärm in der Wohnung ............. 128

Teil VB: Die Interaktion zwischen quellenbezogenen Lästigkeitsurteilen .. . .. 130 A. Abbildungseffekt (Leithypothese 3-1) .............................. 130 B. Amplifikationseffekt (Leithypothese 3-2) ........................... 132 C. Effekt der Dissonanzenreduktion (Leithypothese 3-3) . . . . . . . . . . . . . . . .. 134

Teil vm: Die gesamthafte Lärmbelastung und Lärmstörung .............. 137 A. Die Wahmehmung des Gesamtlarms (Leithypothese 4-1) ............... 139 B. Der Zusammenhang zwischen Belastungsmassen und den Massen der subjektiv wahrgenommenen StiJnmg (Leithypothese 4-2) ........ . ... 143 C. Die Effekte der akustischen Gesamtbelastung (Leithypothese 4-3) ........ 146 D. Der vemachltJssigte lnformationsgehalt der Gerliuschkulisse . . . . . . . . . . . 150

Teil IX: Wohlbefinden und Fluglärmbelastung ......................... 152 A. Das Konzept "Wohlbefinden" . .................................. 152 B. Dimensionsanalyse des Konzepts" Wohlbefinden" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 C. Zur Erlelänmg der Reaktionen aufdie wahrgenommene StiJrung durch F1uglarm .............................................. 159 1. Dimensionsanalyse der nicht-geS1Uldheitsbezogenen Reaktionen ...... 159 2. GeS1Uldheitliches Wohlbefmden .............................. 162 3. Erweiterung des Modells im Sinne der Coping-Theorie ............. 163 D. Perspektiven einer Neuorientierung . .............................. 168

Teil X: Ausblick. .................................................. 174 A. Der homo sociologicus unter lArmbelastung ........................ 175 B. Makrosoziologische Modelle der Schallbelastung und Llirmwirkung ...... 182

Literaturveneichnis ............................................... 185

Vorwort Im Spätsommer und Herbst 1991 ist in der Region der beiden internationalen Flughäfen der Schweiz, Geneve und Zürich, eine Befragung zum Themenbereich ,,Meine Wohnqualität in Haus und Quartier - Belastung und Betroffenheit durch Umwelteinj1üsse" durchgefiihrt worden. Diese Befragung diente dazu, die Reaktionen der Wohnbevölkerung in der näheren und weiteren Umgebung der beiden Flughäfen auf Umwelteinflüsse und insbesondere auf die Schallimrnissionen des Flugverkehrs und des Strassenverkehrs und deren Lästigkeit zu erfassen, um sie einer detaillierten statistischen Auswertung zuzufUhren. Diese Befragungsstudie wurde ergänzt durch eine akustische Feldstudie. Sie hatte zum Ziel, den Ort, an dem Befragungen durchgefiihrt wurden, akustisch zu beschreiben, d.h. die Lärmimrnissionen des Flug- und Strassenverkehrs zu bestimmen. Der hier vorgelegte Bericht vermittelt einen Überblick über die Problemstellung, die verwendeten Methoden der Datenerhebung und Datenauswertung, die wichtigsten Ergebnisse und deren Interpretationen. An den Bericht stellen sich hauptsächlich drei Anforderungen.

Erstens soll der Bericht einem Publikum, das keine fachspezifische Kenntnisse hat, die Zusammenhänge zwischen der Lärmbelastung und den Auswirkungen auf die Wohnqualität vermitteln. Zweitens soll der Bericht über jene Genauigkeit und Detailliertheit verfügen, so dass aufgrund seiner Resultate Entscheidungen betreffend Fragen des Lärmschutzes getroffen, bzw. die damit zusammenhängenden Probleme weiter präzisiert werden können. Drittens werden von einem solchen Bericht die Ansprüche verlangt, die an eine wissenschaftliche Arbeit gestellt werden (Reflexion der Bedeutsamkeit des Problems aus wissenschaftlicher Sicht, Literaturbezug, Angemessenheit der Stichprobe, Wiederholbarkeit der Studie etc.). Das bedeutet, dass dieser Bericht, obschon er so verfasst wird, dass er für die interessierten Laien zugänglich ist, auch Diskussionen der Ergebnisse auf der "statistischen Ebene" fUhren muss. Es ist die Haltung vertreten worden, dass sämtliche statistisch relevanten Angaben mitgeliefert werden müssen, so dass es für die Leserinnen und Leser möglich ist, falls hierfür Bedarf besteht, die Ergebnisse auch kritisch nachvollziehen zu können. Die Daten über die Wohnqualität bzw. deren Belastung durch Umwelteinflüsse sind mit dem Instrumentarium des Fragebogens erhoben worden. Hierzu

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ist in der Wohnung der nach dem Zufallsprinzip ausgewählten Personen eine mündliche Befragung durchgefuhrt worden. Die Ergebnisse werden hier in einer Form vermittelt, die keine Rückschlüsse auf irgendwelche Personen ermöglichen. Jede Studie versucht, einerseits auf bekanntem Gelände Ergebnisse aus früheren Studien nachzuvollziehen. Sie versucht andererseits auch, jeweils einen Schritt in unbekanntes Land oder sich auf Gebiete zu wagen, von denen bislang keine oder nur widersprüchliche Kenntnisse vorliegen. Dieses Prinzip ist auch hier angewendet worden. Ein sicheres Gebiet ist jenes der Analyse der Lästigkeit von Schallirnrnissionen. Ein anderes, weniger sicheres Gebiet, ist jenes der gesundheitlichen Konsequenzen von Aussenlärmirnrnissionen. Für den vorliegenden Bericht stellt sich das Problem in besonderer Weise. Da es fiir die untersuchten Flughäfen Geneve-Cointrin und Zürich-Kloten eine Nachtflugsperrordnung 1 gibt, ist die Wohnbevölkerung nicht von Nachtflugverkehr betroffen. Demzufolge fallen die damit verbundenen Fragen nach gesundheitlichen Konsequenzen weg. Obschon Geräuschirnrnissionen ein weit verbreitetes Phänomen sind, kann nicht einfach von Kenntnissen aus einern Untersuchungsfeld - z.B. Arbeitsplatzstudien oder Laborstudien - auf ein anderes geschlossen werden. So ist beispielsweise das Umfeld der Geräuschbelastung an einern Arbeitsplatz, in einern Maschinenraum, anders strukturiert, als in einer Wohnsiedlung, die 10 Km von einern Pistenende entfernt liegt. Oft werden in den Diskussionen zum Thema der Geräuschbelastung Argumente vorgebracht, als seien die Wirkungs gefüge, die den unterschiedlichsten Situationen zugrunde liegen, wo Geräusche überhaupt belastend wirken, isomorph, d.h. von gleicher Wirkungsgestalt. Dem ist aber nicht so, wie die vorliegende Studie zeigen wird. Insbesondere ist zu bedenken, dass die Bedingungen fiir Wohlbefinden und Gesundheit von Belastungskontext zu Belastungskontext sehr verschieden sein können. Sie ändern sich aufgrund von situativen Bedingungen, wie etwa der Ausstattung des Aufenthaltsortes, der Zielsetzung einer Handlung, der Art der erwarteten sozialen Interaktionen, sie ändern sich aber auch in Abhängigkeit von der ausgeübten Rolle, wenn es sich um Handlungen arn Arbeitsplatz, um Tätigkeiten in einern Sportverein oder etwa um Aktivitäten Zuhause handelt. Auch die besondere Gestalt der Geräuschkulisse, nämlich die Verteilung der Geräuschereignisse während des Tages, die Intensität und die Häufigkeit der einzelnen Geräusch1 Die Verkehrseinschränkung während der Nacht (Sperrordmmg) Wlterscheidet nach Verkehrsarten: Für die LandWlgen des Linienverkehrs besteht eine Sperrzeit zwischen 0.30 Uhr Wld 5.00 Uhr, für die Starts des Linienverkehrs besteht die Sperrzeit zwischen 0.30 Uhr Wld 6.00 Uhr. Für Fluggesellschaften, die ihre ,,horne-base" nicht in der Schweiz haben, sowie ftir den Nicht-Linienverkehr Wld den Privatluftverkehr bestehen ausgedehntere, separat geregelte Sperrzeiten, die im Luftverkehrshandbuch der Schweiz festgehalten werden.

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ereignisse etc., zeigen ihre eigene Wirkung. Es gibt weitere Bedingungen, welche die Entfaltung von Wohlbefinden ennöglichen, die in der vorliegenden Studie aufgegriffen worden sind. Hier sollen die Leserinnen und Leser vorerst nur mit denjenigen Umständen vertraut gemacht werden, die in Betracht gezogen werden müssen, wenn das Thema von Wohlbefinden und Gesundheit im Zusammenhang mit der Lärmbelastung aufgegriffen wird. Welcher Weg soll einschlagen werden, um einen Beitrag an den kumulativen Lernprozess der Lärmwirkungsforschung liefern zu können? Für uns stand die Frage im Zentrum: Lassen sich aus der Vielfalt von Einzelbedingungen, Einzelreaktionen und Einzelsituationen Gesetzmässigkeiten allgemeinerer Art herausarbeiten, die von räumlichen und zeitlichen Besonderheiten unabhängig wären? Diese Fragestellung bedingte zunächst eine semiotische Analyse der Situation der Geräuschbelastung am Wohnort, um dadurch die für eine Untersuchung relevanten Teilaspekte bestimmen zu können. Dieser Forschungsschritt war deshalb nötig, weil schon früh feststand, die notwendigen Daten aufgrund einer mündlichen Befragung zu erheben. Deshalb galt es zu bedenken, dass die Sprache die Realität nicht direkt abbildet, denn dies ist, wie bekannt ist, nur in objektiven Begriffen und objektiven Sätze möglich. Solche objektiven Sätze, d.h. Aussagen über Sachverhalte, müssen durch die Datenanalyse erarbeitet werden. Da nun die Sprache - und insbesondere die Alltagssprache - eine überragende Rolle in der Wahrnehmung und Bewertung der Menschen spielt, musste das Problem gelöst werden, wie die durch die Alltagssprache geprägten Beobachtungen der befragten Personen einer systematischen statistischen Analyse zugänglich gemacht werden können. Das Problem wurde durch die Entwicklung eines neuen, standardisierten Fragebogens gelöst, der einerseits die Alltagssprache gut abbilden und der andererseits mit anderen Lärmwirkungsforschungen vergleichbar sein soll. Dieser Forschungsschritt wird unterstützt durch das Sichten der bestehenden Forschungsergebnisse. Ein weiterer Schritt zur Vorbereitung der Studie bestand darin, nach dem Vorbild des Experimentes eine Standardsituation zu definieren, damit die Auswahl der zu befragenden Personen aufgrund derselben Spielregeln ausgeführt werden kann. Der Grundgedanke der Standardisierung ist folgender: Die Reaktionen der befragten Personen auf Geräusche lassen sich nur dann sinnvoll interpretieren, wenn der Einfluss der Wohnsituation auf die Wahrnehmung und Bewertung der Geräuschimmissionen kontrolliert werden kann. Das hat zur Folge, dass die Wohnsituationen aller befragten Personen in den Hauptmerkmalen vergleichbar sein müssen. Die Idee des Cluster (im Sinne von "Haufen") diente als Vorbild und Anleitung bei der Auswahl der Befragungsgebieten. Als Befragungsgebiet galt ein "Haufen" von Wohnungen

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(Einfamilien- oder Mehrfamilienhäuser), welche dieselbe Fluglännbelastung aufweisen und zudem in Zonen mit hoher, mittlerer und tiefer Strassenlännbelastung unterteilt werden kann. Damit haben wir eine Standardisierung gewählt, die es erlauben würde, auch zukünftig Lärmwirkungsstudien miteinander vergleichbar zu machen, sofern sie nach derselben oder einer ähnlichen (quasi-)experimentellen Untersuchungsanordnung aufgebaut würden. Die gegenwärtigen Bemühungen gehen aber dahin, die Fragebogen vergleichbar zu machen. Das fUhrt jedoch nur indirekt zu einer besseren Vergleichbarkeit. Vergleichbar sind Studien erst dann, wenn die Geräuschexposition verglichen werden kann, d.h. wenn die Untersuchungsanordnung standardisiert wird. Weiter wird diese Vorgehensweise durch bestimmte Methoden der statistischen Analyse und Modellbildung unterstützt. Die Prinzipien der Regressionsanalyse und der Hauptjaktorenanalyse dienen als Vorbild, das auch bei der Analyse von nichtparametrischen Skalen zur Anwendung gelangt. Im Rahmen der vorliegenden Studie wird die Störwirkung der Geräuschimmission - d.h. deren Lästigkeit bezogen auf die Aktivitäten des Wohnens - mit dem Konzept der starken Störung thematisiert. Der Grad der von einer Person wahrgenommenen Störung wird u.a. anhand eines Skalometers erfasst, der von Null (mit der Bedeutung: "stört überhaupt nicht") bis Zehn (mit der Bedeutung: "stört unerträglich") reicht. Die Stufen 8, 9 und 10 des Skalometers bezeichnen wir als starke Störung. Ein grosser Teil der hier präsentieren Ergebnisse befasst sich mit der Auftretenswahrscheinlichkeit der starken Störung. Wie gelangt eine Person zu ihrer Aussage - die von Null bis Zehn reichen kann - und welchen Stellenwert hat eine Antwort für die betreffende Person? Die Antwort, welche eine Person auf die Frage nach der Störwirkung gibt, stellt das generalisierte Urteil über das Erfahren und Erleben von Geräuschimmissionen dar. Den Vorgang der Urteilsbildung lässt sich - verkürzt dargestellt - folgendennassen beschreiben: Eine Person beobachtet bei sich und anderen die Folgewirkungen von Geräuschimmissionen. Vor diesem Hintergrund fUhrt sie eine "Stichprobe" der Situationen mit störenden Geräuschereignissen ein. Anhand dieser Stichprobe gelangt sie zu einem Erwartungswert über die Störwirkung, beispielsweise in der Wohnung. Jedes neue Geräuschereignis, das dem Erwartungswert entspricht, bestätigt diesen als den wahren Wert. Jedes davon stark abweichende Geräuschereignis kann, sobald es mit einer gewissen Regelmässigkeit auftritt, Anstoss für eine Veränderung des wahren Wertes sein. Weitere Fragen des Fragebogens befassen sich mit dem Themenbereich des Wohlbefindens. Die statistischen Analysen haben gezeigt, dass zwischen dem körperlichen Wohlbefinden (die Beurteilung des körperlichen Wohlbefindens stammt von den befragten Personen selbst) und der Lästigkeit keine Korrela-

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tion besteht. Die Hauptfaktorenanalyse weist ferner Dimensionen nach, die voneinander unabhängig sind. Was die Änderungen des Kreislaufsystems als Folge der Geräuschbelastung anbelangt, bestehen widersprüchliche Ergebnisse. Unter diesen Voraussetzungen eine Feldstudie zu planen, hätte den Kostenrahmen des vorliegenden Projektes gesprengt. Hingegen wurden Fragen bezüglich Schlaf und physischer Gesundheit, wie sie schon in früheren Studien untersucht worden sind, weiter bearbeitet. Im ersten Teil- in der Einfiihrung - wird der Anlass geschildert, der zur Ausformulierung des vorliegenden Forschungsprojektes gefiihrt hat. Die Ausformulierung der Projektabsicht war vom Gedanken geleitet, sich auf entscheidende Fragen im Zusammenspiel zwischen Lärmbelastung und Störwirkung zu beschränken. Ein erster Schwerpunkt bildete die Untersuchung der Kombinationswirkung zwischen Fluglärm und Strassenlärm. Ein zweiter bestand in der Untersuchung der Stabilität des Zusammenhanges zwischen Geräuschbelastung und Lästigkeit. Der Vergleich mit Ergebnissen aus den frühen siebziger Jahre und der Vergleich zwischen der Region Geneve und Zürich bilden hierfiir die Grundlage. Ein dritter befasste sich mit den gesundheitlichen Konsequenzen der Geräuschbelastung. Im zweiten Teil werden die gewählten Methoden erläutert und theoretisch begründet. Insbesondere werden die Erhebung der akustischen Belastungsgrössen, der quasi~xperimentelle Untersuchungsansatz, das - bereits erwähnte - Cluster-Verfahren, die Konstruktion des Fragebogens, der Stichprobenplan, das Auswahlverfahren sowie die verwendeten statistischen Verfahren zur Datenanalyse erläutert. Aufgrund der Klärung der Genauigkeitsansprüche ist eine, aus der Sicht der beteiligten Disziplinen Akustik und Soziologie, eine nahezu ideale Untersuchungsanordnung fiir interdisziplinäre Projekte entwickelt worden. Sie wird als Diskussionsvorschlag zur Standardisierung von Lärmwirkungsstudien verstanden, welche sich mit der Einwirkung von Verkehrslärm auf Wohngebiete befassen. Die ganze Studie wurde auf der Basis des Cluster-Ansatzes aufgebaut. Die Cluster haben die Eigenschaft, vergleichbar zu sein. Die einzigen Einflussgrössen, nach denen sie sich systematisch unterscheiden, sind die Belastung durch den Fluglärm und durch den Strassenlärm. In der Methodenlehre spricht man dabei von einer quasi-experimentellen Untersuchungsanordnung. Die "Feldsituation", d.h. die Lärmbelastung und die entsprechenden Folgen am tatsächlichen Wohnort, wird dadurch der Laborsituation des naturwissenschaftlichen Experimentes ähnlich. Hier haben wir den Vorteil, dass die "Wohnsituation" nicht im Labor durch ein simuliertes Wohnzimmer künstlich hergestellt werden muss, die Geräusche nicht ab Tonband präsentiert werden müssen und die Personen nicht angehalten werden müssen, sich so "natürlich"

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wie Zuhause zu bewegen. Die gewählte Untersuchungsanordnung bietet trotzdem die Vorteile des klassischen Experimentes, die Möglichkeit nämlich, die experimentell interessanten Variablen kontrollieren zu können. Aus diesem Grund ist es erlaubt, die mit dem Fragebogen erfassten Angaben der Personen als Reaktionen auf die Lärmimmissionen kausal zu interpretieren. Im dritten Teil wird hiernach die von uns im vorliegenden Bericht verwendete Definition der "Störung durch Lärm" eingefiihrt und erläutert. Wir haben uns fiir das in der Lärmwirkungsforschung seit mehreren Jahrzehnten verwendete Konzept der starken Störung entschieden. Dieser Indikator zur Messung der Störwirkung wnfasst mit grosser Genauigkeit die wesentlichen Aspekte, welche die befragten Personen jeweils anfuhren, wenn sie danach gefragt werden, wie sich die Störung der Wohnsituation durch Flug- und Strassenlärmbelastung konkret zeigt und auswirkt. Dieses generelle Störungsmass, die starke Störung, wird anband - wie schon erwähnt - einer Ilstufigen Skala, die L. L. Thurstone in den 1920er Jahren eingefiihrt hat, den befragten Personen vorgelegt. Sie kann als stellvertretender Indikator fiir die anderen, detaillierteren Berichterstattungen über die Störwirkung der Lärmbelastung verwendet werden. Der vierte Teil widmet sich der Umwandlung des Forschungsinteressens in eine wissenschaftliche Fragestellung, indem statistisch bearbeitbare Leithypothesen vorgeschlagen werden. Hier werden nur die Resultate verschiedener Stufen der Entwicklung von Hypothesen präsentiert. Wir vertreten hier den Standpunkt, dass selbst Aussagen, die aus dem Alltag gegriffen sind, einem statistischen Test, also einer Überprüfung der Hypothesen, unterzogen werden müssen. Dieser wird zeigen, ob die Aussage als "wahr" oder "falsch" zu bewerten ist. Die Hypothesen enthalten Aussagen über Zusammenhänge zwischen realen Phänomenen, haben aber immer nur vorläufigen Charakter, weil sie zwar endgültig falsch sein können, aber nur vorläufig richtig sind. Im Rahmen dieses Berichtes soll es nicht darum gehen, anband einer Reihe von Hypothesen ein theoretisches Modell zu überprüfen. Hier wird der Schwerpunkt auf die Präsentation von empirischen Regularitäten (im Sinne von Quasi-Gesetzmässigkeiten) gelegt. Das heisst nicht, dass wir den Standpunkt vertreten würden, die verwendeten Skalen seien theoriefrei. Dieser Bezugsrahmen und die entsprechende Diskussion soll hier jedoch zugunsten der Umsetzbarkeit der Ergebnisse im Vollzug der Umweltschutzgesetze in den Hintergrund treten. Aus diesem Grunde sprechen wir von "Leithypothesen". Folgende Zusammenhänge hinsichtlich der Lästigkeitswirkung von Geräuschquellen werden diskutiert: (a) Belastung der Wohnsituation durch eine Geräuschquelle (Strassenlärm und Fluglärm) beeinflusst die Auftretenswahrscheinlichkeit der starken Störung; (b) die Auftretenswahrscheinlichkeit der starken Störung mit

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Bezug auf eine bestimmte Geräuschquelle wird nicht durch die Geräuschbelastung seitens einer weiteren Geräuschquelle beeinflusst, d.h. Geräuschquellen werden einzeln und von anderen getrennt - nach Massgabe der Geräuschbelastung - bewertet; (c) als Folgerung aus den ersten beiden Aussagen ergibt sich: Personen, die mit Bezug auf eine Geräuschquelle aufgrund der hohen Belastung eine starke Störung wahrnehmen, nehmen mit grosser Wahrscheinlichkeit auch eine starke Störung mit Bezug auf eine weitere Geräuschquelle wahr, sofern von dieser auch eine starke Belastung ausgeht. Die Konsequenz, die sich aus der dritten Aussage ergibt, lässt sich folgendermassen bildlich formulieren: In Gebieten mit hoher Fluglärm- und hoher Strassenlärmbelastung fühlen sich die Menschen nicht weniger durch Fluglärm gestört, wenn eine Strasse verkehrsberuhigt wird. Der fünfte Teil befasst sich mit dem ersten Hauptergebnisses der Studie, nämlich mit der Gesetzrnässigkeit, die lautet: Je höher die Fluglärmbelastung ist, desto grösser ist die Wahrscheinlichkeit dafür, dass eine Person in einern entsprechenden Wohngebiet eine starke Störung durch Fluglärm wahrnimmt. Es wird geprüft, unter welcher Rahrnenbedingung diese Aussage Gültigkeit hat. Weil die Gesetzrnässigkeit - wie die Auswertung gezeigt hat - unabhängig von den geprüften Rahrnenbedingungen besteht, lässt sich daraus die Folgerung wagen: Die relative Häufigkeit der Personen in einem Wohngebiet, die eine starke Störung durch eine Geräuschquelle wahrnehmen (z.B. Fluglärm oder Strassenlärm), ist proportional zur Geräuschbelastung. Aus dieser Aussage liesse sich beispielsweise die Hypothese ableiten: Wenn in einern Wohngebiet eine Schallentlastung stattfindet, dann sinkt proportional dazu die relative Anzahl der Personen, die eine starke Störung durch die entsprechende Geräuschquelle wahrnehmen. Diese Aussage soll aber nicht bedeuten, dass es nur akustische Determinanten der Lästigkeit gibt, sondern dass wir damit eine wichtige Determinante (Quelle des Einflusses) der Störwirkung bestimmt haben, weitere hingegen noch folgen werden. Der sechste Teil führt in das Thema der Kombinationslärmbelastung ein. Wie in anderen Ländern es auch oft vorkommt, sind in der Schweiz die beiden internationalen Flughäfen in relativ dicht besiedelten Gebieten situiert. Demzufolge gibt es für viele Personen Wohnsituationen, die von einer Mehrfachbelastung durch Verkehrssysteme geprägt sind. Diesen Umständen versuchen wir dadurch gerecht zu werden, indern wir systematisch die Lärmirnmissionen des Flugverkehrs mit jenen von Hauptverkehrsstrassen vergleichen. Zunächst galt es, die Frage zu untersuchen, ob Personen in ihrer Wahrnehmung die Störwirkung der einzelnen Geräuschquellen bzw. Geräuscharten voneinander trennen oder sie zu einer quellenunabhängigen Vorstellung einer gesamthaften Lärmstörung integrieren. Weiter stellt sich die Frage, ob Personen, die nahe der Hauptverkehrsstrasse wohnen, die Störwirkung der Fluglärmbelastung anders wahrnehmen als Personen, die durch eine solche Strasse nur mittel oder

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gar nur unbedeutend belastet werden. Eine dritte Frage macht den Vergleich der Störwirkung der Flug- und Strassenlännbelastung bei gleichen Lännbelastungsstufen zum Thema. So ist von grossern Interesse zu wissen, ob der Fluglänn bei derselben Belastungsstufe wie beim Strassenlänn gleiche, höhere oder geringere Störwirkung hervorruft als der Strassenverkehr dies tut. Die Analyse zeigt als generelle Tendenz: Personen nehmen Lännarten differenziert wahr und bewerten sie getrennt. Im siebenten Teil werden sozio-psychologische Folgewirkungen untersucht, die in Situationen der Mehrfachbelastung entstehen können, die als Interaktionswirkungen bezeichnet werden. In den vorangehenden Teilen wurden nur Fragen aufgegriffen, welche die Zusammenhänge zwischen der Lännbelastung auf der einen Seite und der Störwirkung auf der anderen Seite untersuchten. Wie dieser Teil zeigen soll, beantwortet die vorangehende Betrachtungsweise die Frage der Kombinationswirkung noch nicht erschöpfend, sondern nur unter dem Aspekt der Kombinationsbelastung. hervorgerufen durch zwei Lännarten. Die Frage, die bislang noch nicht aufgegriffen worden ist, lautet folgendermassen fiir Gebiete, die vorn Fluglänn und vorn Strassenlänn stark belastet werden: Welches ist der Zusammenhang zwischen der wahrgenommenen Störung der einen und der anderen Lännquelle? Auch wenn die Geräuschquellen separat wahrgenommen werden, das ist ein Ergebnis der vorliegenden Studie, ist es denkbar, dass es dieselben Personen sind, welche sowohl den Fluglänn als auch den Strassenlänn als stark störend wahrnehmen. Grundsätzlich wird in diesem Teil vorn theoretischen Ansatz ausgegangen, dass Personen in Situationen der Mehrfachbelastung hinsichtlich der Wahrnehmung und Bewertung von Geräuschirnrnissionen dazu neigen, die Komplexität des Alltags zu reduzieren. Aufgrund der quellenbezogenen Bewertung von Geräuschirnrnisionen machen sich Personen gedankliche Abbilder, die wir hier als ,,Modelle" bezeichnen. Weil jede Geräuschart fiir sich interpretiert wird, können sich die einen oder anderen Modelle widersprechen, sich als überflüssig oder zu komplex erweisen. Um sich zu entlasten, suchen die betreffenden Personen in der Folge nach dem einfachsten und effizientesten Modell. Diesen Prozess bezeichnen wir als Komplexitätsreduktion. Hierzu werden mehrere Hypothesen und ihre Bedingungen präsentiert. Der achte Teil behandelt nochmals einen anderen Gesichtspunkt des Themas der Kombinationsbelastung. Einerseits kehren wir nochmals zur Frage zurück, die sich nach dem Prozess der Integration des Erlebens einzelner Lännereignisse zu einer Vorstellung von "Gesarntlänn" erkundigt. Man kann sich vorstellen, dass Personen die einzelnen Lännereignisse ungeachtet dessen, von welcher Geräuschquelle auch immer sie stammen, zu einern einzigen Bild, nämlich jenem des "Gesarntlänns", zusammensetzen. Andererseits stellt

Vorwort

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sich die Frage, ob und in welchem Mass ein solches Bild des "Gesamtlänns" auch akustisch nachvollzogen werden kann, indem ein akustisches Summenrnass, das aufgrund der "energetischen" Addition der einzelnen Immissionsmasse des Flug- und Strassenlänns gebildet wird, mit dem Störungsrnass "Gesamtlänn" korrelieren würde. Im neunten Teil wird das bis jetzt entwickelte Bild des Zusammenhanges zwischen Lärmbelastung und Störwirkung, das anhand einer Reihe gut belegter empirischer Regularitäten entwickelt werden konnte, weiter differenziert. Wir fragen uns jetzt, was in der Folge geschieht, wenn Personen eine Störwirkung durch Fluglänn wahrnehmen. Wie schlägt sich die Erfahrung der Störwirkung im Alltagshandeln und im Wohlbefinden nieder? An dieser Stelle sei nochmals zu erwähnen, dass im Rahmen der vorliegenden Studie zur Erfassung des Wohlbefindens und der Gesundheit keine biochemischen und keine physiologischen Parameter, sondern nur selbstberichtete Befindensparameter erhoben worden sind. Im wesentlichen zeigen die vorliegenden Ergebnisse, dass die simple, deterministische Kausalerklärung "Schallbelastung erzeugt körperliche Schädigung" keinen Beleg gefunden hat. Aus diesem Grunde werden alternative Vorschläge aufgezeigt, die empirisch erfolgversprechender sein können. Sie gehen vom theoretischen Ansatz aus, dass Menschen, nach Massgabe ihrer Investitionen in ihre Gesundheit, an ihre physikalische Umgebung gesundheitsbezogene Erwartungen haben. Der tatsächliche Zustand der Umgebung wird mit den Erwartungen verglichen und entsprechend beurteilt. Grosse Unterschiede zwischen den Erwartungen und der Realität erzeugen in der Folge anomische Spannungen, d.h. die Personen sehen keine geregelten Wege, um die für sie legitimen Ziele - letztlich handelt es sich um den Anspruch, keine Beeinträchtigungen erfahren zu müssen - zu erreichen. Personen, welchen anomische Spannungen dieser Art erfahren, so lautet unsere Hypothese, bewerten die Schallimmissionen in der Tendenz als störender als die anderen. Im zehnten Teil wird anstelle einer Zusammenfassung und Wertung der Ergebnisse eine Konsolidierung des theoretischen Ansatzes mit besonderer Berücksichtigung der konsequenten Erschliessung naheliegender Arbeitsfelder versucht. Die Lärmstudie 90 hat einen Kern der sozio-psychologischen und epidemiologischen Lännwirkungsforschung überprüft und ein paar Schritte in neue Richtungen gewagt. Vor diesem Hintergrund - verbunden mit den Erfahrungen bereits getätigter Umsetzung der Forschungsergebnisse in Fragen der Lärmbekämpfung - haben sich zwei Stossrichtungen der Fortsetzung der begonnenen Arbeiten eröffnet. Die eine Stossrichtung befasst sich mit der systematischen Überprüfung einer Theorie des "homo sociologicus unter Geräuschbelastung" . Dabei handelt es sich um die konsequente Erarbeitung einer Mikrotheorie, welche zum 2 Oliv.

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Vorwort

Ziel hat, Prozesse der Schallwahrnehmung, Schallverarbeitung und Schallbeurteilung zu fonnalisieren. Die Fonnalisierung dürfte dann ihre Berechtigung finden, wenn dadurch die Komplexität der Schallbewertung besser nachgebildet werden könnte und über die heute verwendeten Schallbewertungsverfahren hinausreichen würde. Die andere Stossrichtung wird bezeichnet mit: "Makrosoziologische Modelle der Schallbelastung und Lännwirkung". Diese bezieht sich auf den wachsenden Bedarf, das System "Geräuschquelle-Geräuschausbreitung-Wohnbevölkerung" vor dem Hintergrund besser gesicherter Kenntnisse über Gesetzmässigkeiten beschreiben zu können. Wir kennen gegenwärtig recht wenige Makro-Gesetzmässigkeiten, um auf solider Basis Simulationsrechnungen anstellen zu können. Denn die Simulation stellt eine Lösung dar, um Fragen der Veränderung der Lännbelastung experimentell bearbeiten zu können. Das Vorwort ist auch der traditionelle Ort des Dankes. Durch die Nennung von Namen vermittelt es zudem den Lesern einen Einblick in den weiteren Rahmen, in dem das Forschungsprojekt steht und durch den es geprägt worden ist. Bei der Formulierung des Dankes fällt es schwer, eine Reihenfolge festzulegen. Deshalb ist die zeitliche Abfolge des Projektes als ordnendes Prinzip gewählt worden. Der Dank richtet sich zuerst an die Personen, welche die nicht ganz einfache Initialisierung des Projektes unterstützt haben. Zuallererst sei Dr. med. Peter Anliker zu danken. Mit ihm zusammen ist das Projekt in seinen Grundzügen entworfen worden. Er starb viel zu früh an einer unheilbaren Krankheit, so dass er den Beginn der Projektarbeiten nicht mehr erleben konnte. Mit Dr. T. Meloni sind viele Stunden zur Konzeptentwicklung verbracht worden, welche zum erfolgreichen Projektantrag beim Schweizerischen Nationalfonds gefiihrt haben. Zu Beginn des Projektes ging es darum, den Wissensstand der schweizerischen und der internationalen Lännwirkungsforschung zu evaluieren und das Projekt auf den internationalen Standard zu bringen. Diesbezüglich gilt der Dank P. Graf von der Fachstelle für Lännschutz des Kt. Zürich, Dr. M. Levental vom Service Cantonal d'Ecotoxicologie in Geneve, A. Meyer von der Flughafendirektion Zürich, U.-1. Pocecco von der Direction de I'Aeroport de Geneve, Dr. 1. Rabinowitz von der Universite de Geneve, Ph. Rochat, damals noch von der Direction de I'Aeroport de Geneve, Prof. A. Schick von der Universität Oldenburg, Dr. R. Schuemer von der Fernuniversität Hagen, Dr. G. Verdan vom Bundesamt für Umwelt, Wald und Landschaft, S. Wenger vom Bundesamt für Zivilluftfahrt, 1. Vos vom TNO-Institut in Voesterberg. Vielen weiteren Personen ist zu danken, welche in vielen Gesprächen geholfen haben, die Fragestellung und die ProjektanIage zu gestalten. Das grundlegende Design der Feldstudie, in dem eine komplementäre Arbeitsteilung zwischen der Akustik und der Soziologie entwickelt worden ist,

Vorwort

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geht auf die intensive Diskussion mit Dr. R. Hofmann von der Eidg. Materialprüfungs- und Forschungsanstalt (EMPA) in Dübendorf und W. Fischer von der Unite d'Investigation Sociologique in Gene:ve zurück. Ebenso gilt der Dank den Akustikern der EMP A in Dübendorf, A. Hering und l-R. Hediger, die in ihrer akriebischen akustischen Feldarbeit das Forschungsdesign vor Ort präzisiert und umgesetzt haben, die Auswahl der zu befragenden Wohnungen getroffen haben und die Strassenlärmimmissionen in der Region Zürich gemessen und errechnet haben. Parallel dazu wurde in Geneve diese Arbeit in verdankenswerter Weise von S. Cadury unter Mithilfe von Frau C. Scagnet ausgeführt. Nicht zu vergessen ist die enorme Arbeit im Hintergrund, die von Dr. St. Plüess von der EMPA in Dübendorf für die Anwendung des Fluglärm-Simulationsmodells für den Zweck unserer Studie ausgefiihrt worden ist. Weiter gilt der Dank den Gemeinde- und Stadtschreibern und den weiteren Personen der Verwaltung der Gemeinden in der Umgebung der untersuchten Flughäfen, welche es durch ihre Unterstützung möglich gemacht haben, zu einer echten Personenstichprobe zu gelangen. Die meisten Gemeinden haben durch ihre eigene, kostenlose Unterstützung geholfen, das von uns zur Erhebung der Stichprobe gewünschte Adressmaterial aufzuarbeiten. Unser Dank bezieht auch Frau M. Keiser und Herrn Dr. W. Siebert vom Forschungsinstitut der Schweizerischen Gesellschaft für Marketing in Hergiswil ein, die uns in allen Belangen zur Durchführung der nicht einfachen Befragung entgegengekommen sind und damit zur guten Datenqualität wesentlich beigetragen haben. Der Dank gilt auch dem Stab der Befragerinnen und Befrager, welche die mündlichen Interviews mit Hilfe von portablen PC's durchgefiihrt haben. Den befragten Personen in der Region der Flughäfen Geneve und Zürich wenn auch anonym - gilt unser grösster Dank. Sie haben nicht nur ihre Zeit und ihr Wissen uns zur Verfügung gestellt, sie haben auch durch ihre persönliche Offenheit und Genauigkeit, in der sie ihre Wahrnehmung und Bewertung ihrer Wohnumgebung geschildert haben, das Gelingen dieses Projekt in einer ganz besonders auszeichnenden Weise unterstützt. Ich hoffe, dass ihre Beteiligung auch ihnen selbst etwas vermitteln wird und dass ihr Beitrag durch die Forschungsergebnisse wieder an die Bevölkerung beider Regionen zurückfliessen wird. Besondere dankende Erwähnung verdienen auch die Personen, die sich in verschiedenen Diskussionsrunden, so u.a. am internationalen Kolloquium zur Lärmstudie 90 im April 1995 in Zürich, kritisch mit unseren Ergebnissen auseinandergesetzt haben. Sofern sie nicht schon erwähnt worden sind, gilt der Dank insbesondere Prof. H. Krueger vom Institut für Hygiene und Arbeitsphysiologie der ETH Zürich, Frau S. d'Aumeries von der Direction de 2"

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Vorwort

l'Aeroport de Geneve, W. Becker vom Bundesamt fiir Militärflugplätze in Dübendorf, E.B. de Boer von der Flughafendirektion in Schipol, Frau Dr.med. M. Greutert, Stäfa, Prof. R. Guski der Ruhr Universität in Bochum, P. Häberlin von der Swissair Zürich, H.-J. Heer vom Hessischen Ministerium fiir Wirtschaft, Verkehr, Technologie und Europaangelegenheiten in Wiesbaden, Dr. U. Jörg vom Bundesamt fiir Umwelt, Wald und Landschaft in Bem, Dr. J. Kastka von der Universität Düsseldorf, H.M.E. Miedema vom TNO in Leiden, Dr. A. Muzet des Laboratoires de Physiologie et de Psychologie Environmentales in Strassbourg, R.I. Neil der B.A.A. in Gatwick, Dr. E. Renz von der Flughafendirektion München, Frau Dr. A. Seiler vom Bundesamt fiir Umwelt Wald und Landschaft in Bem, D. Spörri von der Flughafendirektion Zürich, Dr. Ch. Svane vom Danish Acoustical Institute in Lyngby, Dr. E. Stutz, damals von der Stadtverwaltung Kloten, Dr. med. Ch. Viquerat von der Swiss Flying Physicians Association in Geneve. Der Schweizerische Nationalfonds zur Förderung der Wissenschaftlichen Forschung hat im Rahmen des Nationalen Forschungsprogranunes 26 durch seine grosszügige Finanzierung der personellen und sachlichen Ausstattung die Durchfiihrung des Projektes ermöglicht. Insbesondere gilt unser Dank der fachlich kompetenten, weitsichtigen und mitdenkenden Koordinatorin des Schweizerischen Nationalfonds, Frau Dr. F. Kästli, sowie dem Leiter der Pressestelle des Schweizerischen Nationalfonds, Herrn M. Iten. Er hat die Umsetzung der Forschungsresultate eingeleitet, indem er den Weg der Forschungsresultate in die Presse ermöglicht hat. Weiter sei auch der Expertengruppe des Schweizerischen Nationalfonds gedankt, welche als erste Öffentlichkeit die Forschungsresultate kritisch gewürdigt haben. So gilt unser Dank namentlich dem Präsidenten der Expertengruppe, Herrn Prof. F. Gutzwiller, der Programmleitung, Frau Prof. U. Ackermann-Liebrich, sowie den Referenten Frau Prof. I. Strauch, Herrn Prof. M. Baggiolini und Herrn Prof. H.-U. Wanner. Wir hätten das Projekt nicht in dieser Präzision der Datenerfassung und Zuordnung von akustischem zu soziologischem Datenmaterial durchführen können ohne die personelle und finanzielle Mitwirkung der Eidg. Materialprüfungs- und Forschungsanstalt in Dübendorf. Schliesslich sei dem Forschungsteam im Büro fiir soziologische Grundlagenforschung und Entwicklungsplanung gedankt, sofern sie nicht schon erwähnt worden sind, namentlich Frau G. Fahrni, Frau D. Guhl, Frau C. Hüttenmoser und Frau 0. Savare. Zürich, im März 1997

CarIOliva

Teil I: Einf"ührung A. Ausgangslage und Anlass der Lärmstudie 90 1. Der Fonchungsgegenstand

Der Forschungsgegenstand der Lärmstudie 90 ist die Belastung der Wohnbevölkerung durch Schallimmissionen des Flug- und Strassenverkehrsi, die Wahrnehmung und Bewertung ihrer Geräuschexposition und die damit verbundenen Reaktionen und gesundheitlichen Risiken2 bzw. die aus der Lännbelastung möglicherweise erfolgenden Konsequenzen für das Wohlbefinden3 . Der Forschungsgegenstand wird dadurch eingegrenzt, dass hier - nebst den akustischen Daten - nur auf solche Daten zurückgegriffen wird, die in einem mündlichen Interview in der Wohnung der befragten Personen erhoben worden sind. Es sind keine biochemische Tests durchgeführt worden. Die Untersuchung der Schallimmissionen war Forschungsgegenstand der Akustik. Die Analyse der Schal/wirkung war Gegenstand der soziologischen Forschung. In diesem Sinne ist unser Forschungsgegenstand die Schallbelastung des Flug- und Strassenverkehrs und seine Auswirkungen auf die Wohnbevölkerung. Hierfür unterscheiden wir zwischen Schall und Länn. Häufig wird unter "Länn" die unerwünschte Schallimmission verstanden. Diese Definition ist so trivial wie sie auch zur Selbstverständlichkeit geworden ist. Im Laufe der Zeit hat sich jeweils eingebürgert, dass die Gesprächspartner diese Definition mit dem folgenden Zusatz ergänzen: "Länn ist unerwünschter Schall, insbesondere dann, wenn er von anderen erzeugt wird." 1 Der Begriff "Schallirnmission" deckt sich mit dem Begriff der ,,Aussenlännirnmission", der in der Schweizerischen Lännschutzverordnung vom 15. Dezember 1986 verwendet wird: Es handelt sich um diejenigen Schalleinwirkungen, die bei Gebäuden in der Mitte der offenen Fenster lännempfmdlicher Räume ermittelt werden. Die Schallirnmissionen des Flugverkehrs können auch in der Nähe der Gebäude ermittelt werden (vgl. Art. 39 der Lännschutzverordnung). 2 Unter den medizinisch untersuchten lang- und kurzfristigen Veränderungen am Menschen ragen nach Guski (1987) vier Komplexe heraus: Veränderungen der Hörempfmdlichkeit (vor allem durch Länn am Arbeitsplatz verursacht), Änderungen des Kreislaufsystems, Änderungen des Schlafes und psychiatrische Symptome. 3 Zur Konzeptualisierung und Diagnostik von "Wohlbefmden" vgl. Mayring 1991.

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Teil I: Einführung

Eine solche Definition vernachlässigt die Ursache, weshalb Personen zur Überzeugung gelangen, bestimmte Schallimmissionen als Lärm zu bezeichnen, und sie vernachlässigt auch den Bezugsrahmen, auf den im Akt der Bewertung zurückgegriffen wird. Aus soziologischer Sicht gehen wir demzufolge von der nachstehenden Definition aus: Personen bezeichnen dann Schal/immissionen als" lästig" oder" beeinträchtigend" und deshalb als Lärm, wenn sie an sich selbst oder bei anderen Personen oder in der Kommunikation zwischen Personen Reaktionen wahrnehmen, die - gemessen an den sozial geteilten Bewertungsmassstäben - als nicht erwünscht bewertet werden. Insbesondere wird im vorliegenden Bericht zwischen drei Gruppen von unerwünschten Reaktionen auf Schallimmissionen unterschieden. Unerwünscht kann eine Schallimmission dann sein, wenn von einer Person erwartet wird, dass sie auf einen Signalton reagieren wird, dazu aber nicht in der Lage ist, weil dieser Ton von einer weiteren Schallquelle überlagert wird. Hier sprechen wir von einem VerdeckungsejJekt. Unerwünscht kann Schall aber auch dann sein, wenn er aufgrund seiner Stärke eine zeitweise Vertäubung am Ohr hervorruft und deshalb die Hörfahigkeit verändert. Diese besondere Anstrengung, die dem Körper durch eine Schallimmission auferlegt wird, bezeichnen wir als BeanspruchungsejJekt. Schall kann schliesslich auch dann störend sein, wenn er ablenkt und zwar nicht weil er lautstark ist oder anderen Schall überlagert, sondern weil beispielsweise eine Information ausgetauscht wird, die einen nicht einschlafen lässt oder jemanden neugierig macht, oder weil das Geräusch nicht ins Bild passt, das sich jemand von einer Landschaft macht und deshalb ablenkt. Eine Einwirkung auf den Menschen, die durch den Informationsgehalt des übertragenen Schalles ausgelöst wird, bezeichnen wir als AblenkungsejJekt. Die Auseinandersetzung mit diesem Forschungsgegenstand soll offene und neue Fragen bezüglich der Beziehung zwischen physikalisch gemessenen Schallimmissionen und der damit einhergehenden Folgen für die Wohnqualität von Personen, die in lärmbelasteten Gebieten wohnen, bearbeiten. Offen ist die Frage, wie sich die Überlagerung mehrerer Geräuscharten - wie z.B. Flugund Strassenverkehrslärm - auf die subjektiv empfundene Störung auswirkt: Entsteht z.B. eine Addition der quellenbezogenen Lästigkeit zu einer Gesamtlästigkeit? Offen sind auch Fragen im Zusammenhang mit der Wirkung des Gesundheitszustandes einer Person auf die Geräuschbewertung. Notwendig ist ferner die Beantwortung der Frage, ob die Hauptergebnisse der Fluglärmstudie aus den frühen Siebzigetjahren weiterhin Gültigkeit haben (Grandjean et al. 1974; Finke et al. 1974). Im Zusammenhang mit dem Vollzug der Umweltschutz-Gesetzgebung stellten sich auch Fragen, welche sich von den bisherigen Ergebnissen und Theorien der Lärmwirkungsforschung nicht so einfach beantworten lassen: Die Frage, ob es zwischen einzelnen Geräuscharten Interaktionswirkungen gibt, wird hier in fünf verschiedene Teilfragen aufgeglie-

A. Ausgangslage Wld Anlass der Lämrstudie 90

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dert und separat untersucht. Insbesondere werden hier die Geräuscharten "Fluglärm" und "Strassenverkehrslärm" untersucht. Jede gilt als Hypothese, deren Auftretenswahrscheinlichkeit in der vorliegenden Studie zu testen ist: I) Die Abbildung des Lästigkeitsurteils von einem lästigen Geräuschkontext auf einen weniger lästigen Geräuschkontext: Unter dem Begriff "Geräuschkontext" verstehen wir hier einen Ort sozialer Handlungen, der von Geräuschen unterschiedlicher Intensität und Störwirkung begleitet ist. Eine erste Art der Interaktionswirkung könnte in der Abbildung des Lästigkeitsurteils von einem Geräuschkontext auf einen anderen sein. Der andere Geräuschkontext kann unter Umständen sogar von einer andere Geräuschart dominiert sein. Die Konsequenz einer solchen Übertragung kann darin bestehen, dass die weniger lästige Immission als gleich lästig, wie die erstere bewertet wird. In einem solchen Falle wären die Lästigkeitsurteile nicht voneinander getrennt, sie würden dem "höheren" Lästigkeitswert angeglichen. Deshalb ist die Frage zu untersuchen: Existiert ein systematischer Abbildungseffekt? Diese Frage untersuchen wir am Beispiel des Vergleichs einer und derselben Geräuschimmission vor dem Haus und in der Wohnung.

2) Die Amplifikation des Lästigkeitsurteils bezüglich einer Geräuschart bei Abnahme der Immission einer weiteren Geräuschart: Von einem Amplifikations-EjJekt als Variante der Interaktionswirkung sprechen wird dann, wenn eine Geräuschart bei gleichbleibender Schallimmission als umso lästiger bezeichnet wird, je geringer die Intensität der Schallimmission einer zweiten Lärmquelle ist. Diese Hypothese ist unter der Voraussetzung gültig, dass den Personen die Existenz der zweiten Geräuschart als Störfaktor der Wohnqualität bewusst ist bzw. sie bewusst einen Wohnstandort gewählt haben, der von einer solchen Geräuschart entfernt ist. Dieses verstärkte Lästigkeitsurteil würde im Rahmen dieses Modells dadurch zustande kommen, dass die bewertenden Personen bei abnehmender Einwirkung einer zweiten Geräuschart höhere Ansprüche an die Ruhe stellen würden. Wenn wir die wahrgenommene Störung der Wohnqualität untersuchen, die von den befragten Personen auf die Fluglärmbelastung ZUTÜckgefiihrt wird, stellt sich die Frage: Wie wird das Urteil der befragten Personen beeinflusst, wenn eine zweite Lännquelle, hier der Strassenverkehrslänn, hinzukommt? Wie wird die Störung der Wohnqualität durch Fluglärm bei Personen wahrgenommen, die dieselbe Fluglärrnimmission erfahren und zusätzlich einem hohen, mittleren oder tiefen Strassenlärm ausgesetzt sind? Nehmen Personen, die mit Bezug auf den Strassenlärm in einer ruhigen Zone wohnen, die Fluglärmimmission als störender wahr als Personen, die an einer lärrnigen Strasse wohnen? 3) Die Synthese der auf Geräuscharten bezogenen Lästigkeitsurteile zu einem Urteil über die gesamthafte Lästigkeit aller Geräuscharten: Der Synthe-

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Teil I: Einführung

se-Effekt ist eine weitere Möglichkeit, wie Interaktionswirkungen stattfinden könnten. Er beinhaltet die Synthetisierung eines Urteils über den Grad der Lästigkeit aller Geräuschimmissionen am Wohnstandort. Diesbezüglich stellt sich die Frage: Lässt sich aufgrund der Antworten der befragten Personen die Vorstellung einer gesamthaften Lästigkeit, die mehr ist als die Summe der Lästigkeit der einzelnen Geräuschquellen, feststellen? Welche Lärmquelle, die des Strassenverkehrs oder des Flugverkehrs, trägt stärker zur gesamthaften Lästigkeit bei?

4) Das Lästigkeitsurteil als Reaktion auf eine Kombinationsbelastung entstanden aus mehreren Geräuscharten: Als weitere Möglichkeit einer Interaktionswirkung ist das Phänomen denkbar, dass das Lästigkeitsurteil einer Person nicht die Reaktion auf einzelne Geräuschbelastungen darstellt, sondern auf eine Kombination der Belastun. Zu prüfen wäre demnach die Frage, ob es nicht ein Lästigkeitsurteil gibt, das beispielsweise eine Reaktion auf die Addition der Schallquellen des Flug- und Strassenverkehrs zurückführbar ist. Das bedingt die energetische Addition der Immissionen des Flug- und Strassenverkehrs. Wie gut erklärt demzufolge das akustische Kombinationsrnass die wahrgenommene Störung durch Fluglärm, Strassenlärm und Gesamtlärm im Vergleich zu den quellenbezogenen akustischen Massen?

5) Die Reduktion der kognitiven Dissonanz zwischen Lästigkeitsurteilen: Falls zwei Geräuscharten mit derselben Intensität einwirken und trotzdem die eine als lästiger bewertet wird als die andere, dann entsteht - wenn die Differenz ein bestimmtes Mass überschreitet - eine kognitive Dissonanz. Im Prinzip kann die kognitive Dissonanz als Widerspruch zwischen zwei Hypothesen H 1 und H 2 verstanden werden. Die Hypothesen sagen etwas aus über die Lästigkeitswirkung zweier Geräuscharten. Die kognitive Dissonanz ist dann am grössten, wenn beide Geräuscharten mit der gleich hohen Schallbelastung auftreten, diesen aber unterschiedliche Lästigkeit bzw. Störwirkung zugewiesen wird. Die Reduktion der kognitiven Dissonanz ginge in die Richtung, dass die betreffende Person sich anhand ihrer Erfahrung mit den Hypothesen auseinandersetzt und dadurch in der Tendenz zu einem widerspruchsfreien Aussagenpaar gelangt. Aufgrund der Komplexität der Beziehung zwischen Schallimmission und Störwirkung ist jedoch nicht zu erwarten, dass die kognitive Dissonanz erst dann abgebaut wird, wenn identische Aussagen vorliegen. 2. Das Hauptanliegen der Lllrmstrulie 90 Das Hauptanliegen der Lärmstudie 90 liegt darin, die Kenntnisse über die Zusammenhänge zwischen der akustischen Lärmbelastung von Wohngebieten und der Bewertung solcher Aussenlärmimmissionen im Hinblick auf die Wohnqualität durch die Wohnbevölkerung und die daraus entstehenden sozio-

A. Ausgangslage und Anlass der Lärmstudie 90

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psychologischen Folgen zu vertiefen. Die zwei Geräuschquellen, deren Einwirkungen fiir den Zweck dieses Zieles akustisch gemessen wurden, sind der Flug- und Strassenverkehr in der Umgebung der beiden internationalen Flughäfen der Schweiz, Geneve-Cointrin und Zürich-Kloten. Das Projekt soll nicht nur der Grundlagenforschung dienen, sondern darüber hinaus auch Grundlagen zur Diskussion von Fragen des Lännschutzes liefern. Für die praktische Lännbekämpfung sind gemäss Art. 15 des Schweizerischen Umweltschutzgesetz (USG) wissenschaftlich fundierte Kenntnisse über die schädlichen und lästigen Auswirkungen der Lännbelastung von grosser Bedeutung. Das Umweltschutzgesetz (USG) von 1983 verpflichtet den Bundesrat zur Beurteilung der schädlichen und lästigen Lännwirkungen Belastungsgrenzwerte festzulegen 4 . Die zur Zeit gültige Fassung der auf das Umweltschutzgesetz abgestützten Lännschutz-Verordnung (LSV) enthält keine Belastungsgrenzwerte fiir die Umgebung der internationalen Flughäfen der Schweiz5 . Der Vollzug der Lärmschutzvorschriften setzt die Definition von Belastungsgrenzwerten voraus. Heute wird die Lännbekämpfung aufgrund der Verordnung über die Infrastruktur der Luftfahrt (VIL) und über die Lärmzonen der Flughäfen Basel-Müllhausen, Geneve-Cointrin und Zürich-Kloten praktiziert, indem Fluglärmzonen definiert und Schallschutzmassnahmen an Gebäuden vorgeschrieben werden6 . Da neue Belastungsgrenzwerte gemäss den Bestimmungen des Umweltschutzgesetzes auf der Grundlage der Erfahrung und wissenschaftlicher Erkenntnisse festzulegen sind, bedarf es einer Aktualisierung und Überprüfung der wissenschaftlichen Grundlagen. Zu überprüfen sind insbesondere die in den fiiihen 70er Jahre gewonnenen Erkenntnisse über die Wirkung des Fluglänns in der Umgebung der Schweizer Flughäfen. Ferner sind auch Vergleiche mit Studien über andere internationale Flughäfen anzustellen. Zur Interpretation der Ergebnisse über die Zusammenhänge zwischen akustischen Länngrössen und der objektivierten subjektiven Geräuschbewertung betrachtet man es heute als wichtig, auch soziologische, persönlichkeitsspezifische, gesundheitsbezogene, und ökologische Daten zu erfassen und tageszeitliche Verteilung von Aktivitäten und Beeinträchtigungen sowie die Gebietscharakteristik der Wohngegend zu ermitteln (Kürer 1988). 4 Art. 13, Abs. I des USG: ,,Für die Beurteilung der schädlichen oder lästigen Einwirkungen legt der Bundesrat durch Verordnung Immissionsgrenzwerte fest." 5 Stand 1. Oktober 1991 der vom 15. Dezember 1986 stammenden LännschutzVerordnung (LSV). 6 Die Lärmzonen sind wie folgt begrenzt: Zone A: 65 NNI und mehr, Zone B: 55 NNI bis Grenze Zone A; Zone C: 45 NNI bis Grenze Zone B. Was die Schallschutzmassnahmen anbelangt, werden bauliche Mindestanforderungen festgelegt, denen die Gebäude mit Schallschutz (Zone A, B oder C) entsprechen müssen.

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Teil I: Einfuluung

Diese Schwerpunktsetzung ergibt sich daraus, weil heute durch viele Untersuchungen bestätigt ist, dass die Variation der Lästigkeitsbewertung durch die Wohnbevölkerung - wie auch anderer Lännwirkungsvariablen - fast nie zu mehr als 30% durch physikalische (akustische) Variablen erklärt werden kann (Guski 1987, Miedema 1993, Rohrmann 1984). Es gibt gute Gründe, weshalb der Anteil der erklärten Varianz nicht ohne weiteres erhöht werden kann: Sowohl die Situation, in der sich die befragten Personen zum Zeitpunkt der Untersuchung gerade befinden, als auch eine Reihe von persönlichen Merkmalen müssen als "Störvariablen" (intervenierende oder moderierende Variablen) betrachtet werden, welche die "perfekte" Korrelation verhindern (Guski 1987: 105-128). Andererseits muss betont werden, dass der wiederholt festgestellte Zusammenhang zwischen der Fluglännbelastung und der Störwirkung auch bei 30% erklärter Varianz eine Regularität darstellt, die gut reproduzierbar ist (Berglund 1993, Schultz 1978, Srnith 1989). Weiter hat die Lännwirkungsforschung der letzten Jahre auch gezeigt, dass das Ausmass der subjektiv empfundenen Belästigung nicht nur von der physikalisch gemessenen Geräuschbelastung abhängt, sondern durch eine Reihe weiterer Faktoren beeinflusst wird (Fields 1992, Rohrmann 1984).

B. Konzeptualisierung Der Anlass und die damit verbundenen Anforderungen an die Lärmstudie 90 werden in den folgenden Abschnitten in die entsprechende wissenschaftliche Fragestellung überfuhrt. Mit Friedrichs (1973) wird unter der Konzeptualisierung derjenige Vorgang verstanden, in dem fiir den explizierten Entdeckungszusammenhang (hier der Anlass und die damit zusammenhängenden Fragen) und den vorgesehenen Verwertungszusammenhang ein angemessener Bergündungszusammenhang entwickelt wird. Das Forschungsthema der Lärmstudie 90 ist die akustisch messbare Belastung und die durch die Bevölkerung wahrgenommene Störung der Wohnqualität durch Flug- und Strassenverkehrslänn. Darunter verstehen wir einen komplexen sozialen Tatbestand (Mauss 1969:6-41). Als "sozial" bezeichnen wir diesen Tatbestand deshalb, weil er durch viele Interaktionen und Bewertungen zwischen Personen und Gruppen zustande kommt und auf diese zurückwirkt. Deshalb kann dieses Phänomen nur ungenügend aus einer einzigen Perspektive etwa der Physiologie, der psychosomatischen Medizin, der Psychologie oder der Akustik betrachtet werden. Als "komplex" bezeichnen wir die-

B. Konzeptualisienmg

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ses Phänomen deshalb, weil es aus verschiedenen, nicht aufeinander reduzierbaren, Dimensionen besteht. Für uns heisst das, unser Forschungsvorhaben in drei Aufgabenbereiche zu unterteilen: 1. Der Zusammenhang zwischen der Gi!räuschbelastung

und der wahrgenommenen Störung der Wohnqualität

Die erste Hauptaufgabe besteht darin, die wesentlichen Dimensionen im Verhältnis zwischen Lärmbelastung und Störwirkung bzw. Lästigkeit zu erfassen und zu beschreiben (Zetterberg 1973). Hierfür unterscheiden wir zwei Möglichkeiten, uns mit diesem Thema zu befassen: (a) die Analyse des Zusammenhangs zwischen der Lärmbelastung und den daraus resultierenden Konsequenzen; und (b) die Analyse des Zusammenhangs zwischen dem Informationsgehalt von Schallimmissionen und der wahrgenommenen Störung. Im Rahmen der vorliegenden Untersuchung wollen wir uns nur mit dem erstgenannten Thema befassen, nämlich mit demjenigen Aspekt der Störung, nämlich der Lästigkeit des Lärms, der auf die unmittelbare Schallbelastung zurückzuführen ist. Wir nehmen hiermit an, dass Schall zumindest dann als Lärm wahrgenommen wird, wenn dieser die Kommunikation und Erholung in der Wohnumgebung stört, bzw. wenn Ziele, die mit den Erwartungen an die Wohnsituation verknüpft werden, nicht erreichbar sind. Oder, allgemeiner ausgedrückt, eine Schallbelastung wird von den betroffenen Personen dann als Lärm bezeichnet, wenn sie wahrnehmen, dass diese Schallbelastung ihre Wohnqualität stört.

Einerseits stellt sich somit das Problem, die Geräuschbelastung in der Wohnumgebung akustisch angemessen zu erfassen, d.h. diejenigen Aspekte und Merkmale der Geräuschkulisse zu bestimmen, die auf der Seite der Wohnbevölkerung am besten die Quelle ihrer subjektiv wahrgenommenen Belästigung und Beeinträchtigung beschreiben. Andererseits geht es darum, die Störung der Wohnqualität und des Wohlbefindens, wie sie von der Wohnbevölkerung wahrgenommen und bewertet wird, darzustellen. Vor diesem Hintergrund soll dann die Hypothese geprüft werden, dass die selbstberichtete Störung durch Lärm eine kausale Folge der tatsächlichen Schallbelastung ist. Falls sich die Hypothese bestätigt, dürfte von einem objektivierten Sachverhalt' gesprochen werden, obschon es sich um die Erklärung subjektiver Wahrnehmungen handelt. Auch wenn die Daten über den Weg von subjektiven Äusserungen, d.h. über den Weg des Interviews, erhoben werden, ist die mit der Hypothese formulierte Gesetzmässigkeit als objektivierten Sachverhalt zu betrachten (Kalveram 1995). Das Phänomen der Lärmwirkung soll dann als "objektiviert" bezeichnet werden, wenn es (a) als Folge von Geräuschimmissionen statistisch erklärt werden kann; (b) wenn die entsprechen-

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Teil I: Einführung

den Indikatoren valide sind, d.h. ob das gemessen wird, was gemessen werden sollte; (c) wenn die entsprechenden Indikatoren reliabel sind, d.h. die Messungen zuverlässig und die Messbedingungen konstant sind; und (ci) die entsprechenden empirischen Regularitäten generalisierbar sind, d.h. unabhängig von lokalen Gegebenheiten gültig sind (Borg und Staufenbiel 1989). Ferner interessiert uns - wie schon erwähnt -, in welchem Ausrnass die Personen in ihrer Wohnsituation die einzelnen Geräuschquellen als separierte Geräuschkulissen oder als eine einzige, gesamthafte Geräuschkulisse wahrnehmen. Wenn wir diese Frage aufgreifen, so stellt sich notwendigerweise noch eine weitere Frage: Ob bzw. mit welchem Erfolg die verschiedenen Geräuscharten zu einern akustischen Mass der Gesamtirnrnission zusammengefasst werden können. Der Erfolg eines solchen Versuches bemisst sich daran, ob ein solches akustisches Gesamtrnass die wahrgenommene Störung der Wohnbevölkerung durch die Lärrnirnrnissionen besser zu erklären vermag, als dies die quellenbezogenen akustischen Masse tun. 2. Der Einfluss sozialer und psychischer Eigenschaften auf die Wahrnehmung der Störung der Wohnqualität

Die zweite Hauptaufgabe besteht darin, die subjektiv wahrgenommene Störung der Wohnqualität im Zusammenspiel mit askustischen, sozialen und psychischen Variablen zu bestimmen (Oliva 1993; Rohrrnann 1984). Damit wird das Modell, wie es unter dem Gesichtspunkt der ersten Hauptaufgabe erarbeitet wird, weiter differenziert. Anfanglich wurde nur die statistische Beziehung zwischen der Geräuschbelastung und der Störung der Wohnqualität untersucht. Es stellt sich ergänzend die Frage: Weshalb fUhrt ein bestimmtes Ausrnass an Schallirnrnission zur Störung der Wohnqualität? Ist die Störung der Wohnqualität, verstanden als Beeinträchtigung von sozialen Handlungen und Kommunikationsvorgängen, zurückzuführen auf die akustische Belastung, so dass bestimmte Ziele der betreffenden Personen nicht den Erwartungen entsprechend erreicht werden können? In einem solchen Falle sprechen wir von der direkten Geräuschwirkung, weil die Geräusche das soziale Leben in der Wohnung und in ihrer Umgebung belasten. Eine andere Frage lautet: Sind es gewisse Voraussetzungen, welche Personen mitbringen, so dass sie mehr oder weniger störungsanfällig sind und die Schallirnrnissionen deshalb als Beeinträchtigung der Wohnqualität wahrnehmen? In einern solchen Falle sprechen wir von einer vermittelten Geräuschwirkung. Für die Bestrebungen der Lärmbekämpfung ist es entscheidend zu wissen, welches der Anteil der direkten Geräuschwirkung und welches der Anteil der vermittelten Geräuschwirkung in der wahrgenommenen Störung der Wohnqualität ist.

B. Konzeptualisierung

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Wir gehen von der Prämisse aus: Je grösser der Anteil der direkten Geräuschwirkung in der Erklärung der Störung ist - und damit ein allgemeiner und bedingungsloser Zusammenhang zwischen dem Ausrnass der Geräuschbelastung und der Störung besteht - desto eher lässt sich das Lännproblem akustisch lösen. Je mehr jedoch die vermittelte Geräuschwirkung die Varianz in der wahrgenommenen Störung erklärt, desto eher müssen für die Lännbekämpfung auch Zusatzmassnahmen getroffen7 oder die Masse zur Schallbewertung müssen entsprechend optimiert werden. Diese Zusammenhänge, wie sie im Rahmen der ersten beiden Hauptaufgaben bearbeitet werden sollen, sind schon verschiedentlich untersucht worden. Jede Lännwirkungsstudie beginnt jedoch immer wieder bei diesen Forschungsfragen, weil die Analyse genau dieser Fragestellungen von grosser Bedeutung ist. Der Vergleich mit den Ergebnissen anderer Studien ermöglicht die Validierung des eigenen Ansatzes. Damit wird ein Beitrag zur kumulativen Theoriebildung geleistet. Überdies werden gerade für die Umsetzung solcher Ergebnisse in der Lännbekämpfung genaue Angaben darüber gewünscht, wie sich die allgemeinen Gesetzrnässigkeiten im Zusammenhang zwischen Lännbelastung und Lännstörung im Rahmen einer gegebenen Region vorfinden lassen: Gilt es regionale Besonderheiten zu berücksichtigen? 3. Die Folgewirkungen der Störung der Wohnqualität

Die dritte Hauptaufgabe besteht darin, Aspekte der weiteren Konsequenzen von Geräuschimmissionen zu bestimmen, welche in Form von Reaktionen der betroffenen Personen auf die Lärmstörung auftreten. Ist im Rahmen der zweiten Hauptaufgabe danach gefragt worden, ob und in welchem Ausmass sich Prozesse zwischen die Schallbelastung und der Störung einschieben, so stellt sich hier die Frage, inwiefern die Wahrnehmung der Beeinträchtigung der Wohnqualität mit Folgeprozessen veIbunden ist. Hier werden vor allem zwei Gruppen von Folgeprozessen untersucht. Auf der einen Seite fragen wir nach Strategien der Bewältigung der Situation der Lärmbelastung und auf der ande7 So kann bei einer Wld derselben Schallbelastungsstufe an Wlterschiedliche Empfindlichkeitsstufen gedacht werden, welche eine strengere oder weniger strenge SchalldänunWlg verlangen. Dieses Konzept ist beispielsweise in der Schweizerischen LärmschutzverordnWlg fiir die BeurteilWlg der SchallinWlissionen des Strassenverkehrs zur AnwendWlg gelangt. Ob sich dieses Konzept auf den Fluglänn übertragen lässt, oder ob es sich nicht sinngemäss in einem LandnutzWlgsplan besser verwirklichen lässt, der eine Homogenisierung der NutzWlg anstrebt, ist eine Frage der politischen PrioritätensetzWlg. Empirisch [mdet dieses Konzept keine UnterstützWlg Wld lässt sich somit sozio-psychologisch nicht rechtfertigen (Oliva 1996).

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Teil I: Einfühnmg

ren Seite fragen wir nach Konsequenzen für das gesundheitliche Wohlbefinden. Die Ergebnisse im Rahmen dieser Hauptaufgabe ennöglichen, die Konsequenzen, die aus den ersten beiden gezogen werden sollen, weiter zu untermauern, indem die längerfristigen Auswirkungen der Lännbelastung als weiterer Gesichtspunkt aufgegriffen werden. Diese drei Hauptaufgaben dienen im wesentlichen dazu, empirische Kriterien zu finden, um den unbestimmten juristischen Begriff: erhebliche StörungS inhaltlich anzureichern. Die Aufgliederung unserer Problemstellung in drei Aufgabenbereiche fuhrt zu der folgenden Vorgehensweise: (a) Zunächst gilt es, in der Umgebung der Flughäfen das Ausrnass an Lännbelastung durch den Flugverkehr zu bestimmen.

(b) Diese akustische Aufgabe wird ergänzt durch die sozio-psychologische, in der das Ausrnass der wahrgenommenen Störung in der Wohnbevölkerung bestimmt wird. Letztlich geht es darum, fiir jede Belastungsstufe, beginnend bei einer geringen Lännbelastung, Angaben über das Ausrnass der wahrgenommenen Störung zu erhalten. Hat man eine genügend grosse Anzahl Personen befragt, so wird eine charakteristische empirische Beziehung zwischen dem akustischen Belastungsmass und dem Mass der wahrgenommenen Störung erkennbar (Abb. 1-1)9. Die vorliegende Untersuchung soll diese empirische Beziehung bestimmen und deren Stabilität prüfen. (c) Aufgrund dieser Ergebnisse soll es möglich sein, empirisch begründete Aussagen für die politischen und juristischen Fragen bereitzustellen. Solche Ergebnisse helfen, bislang aufgestellte Hypothesen über den "besten Weg" des Gesetzesvollzugs zu bestätigen oder zu widerlegen. Solche Ergebnisse stellen eine Ausgangsbasis dar, um die Entscheidung für oder gegen bestimmte Konzepte und Massnahmen zu unterstützen. Sie ennöglichen auch, denjenigen Bereich der Störung festzulegen, der politisch als nicht tolerierbar und juristisch als erheblich gilt (Abb. I-I).

Eine solche Aufgabe, wie wir sie uns vorgenommen haben, steht nie alleine da, sie berücksichtigt vergangene Forschungsprozesse und Erfahrungen und liefert ihrerseits nicht mehr als ein Mosaikstein fiir die Fragen der Lännbekämpfung. Sie ist lediglich eine Tätigkeit auf den Schultern von Riesen (Merton 1983).

8 Art. 15 des Umweltschutzgesetzes: ,,Die Inunissionsgrenzwerte für Lärm und Erschütterungen sind so festzulegen, dass nach dem Stand der Wissenschaft und der Erfahrung Inunissionen unterhalb dieser Werte die Bevölkerung in ihrem Wohlbefinden nicht erheblich stören." 9 In Abb. 1-4 wird diese empirische Beziehung symbolisch dargestellt, indem fiktive Einzelantworten eingetragen werden.

B. Konzeptualisienmg

Mass der wahrgenommenen Störung politisch nicht tolerierte Störung

31

empirische Beziehung zwischen Belastung und wahrgenommener Störung

o

o

o

akustisches Belastungsmass Büro Oliva 1995

Abbildung 1-1: Schematische DarstellWlg des UntersuchWlgsziels

Teil 11: Methoden und ihre theoretische Begründung l A. Problemstellung und Genauigkeitsansprüche Die Belastung der Bevölkerung durch Lärm wird mit akustischen Grössen erfasst, welche sich objektiv, d.h. durch Messung, Zählung und weitere reproduzierbare Methoden bestimmen lassen. Aus der Gegenüberstellung mit der Belästigung bzw. der Störung der Wohnqualität, die aufgrund einer Bevölkerungsbefragung anband ebenfalls reproduzierbaren Methoden ermittelt wird, entsteht der gesuchte Zusammenhang zwischen der akustischen Belastung und der subjektiven Beschreibungsgrösse. Mit dieser Vorgehensweise wird versucht, das Phänomen Lärm unter zwei verschiedenen Gesichtspunkten zu erfassen, einem akustischen und einem sozio-psychologischen. Die Erhebung der Belästigung und Störung der Wohnqualität geschieht mit begrenzter Genauigkeit. Dazu kommt, dass jede derartige Untersuchung bisher nur etwa 1/3 der Varianz im Zusammenhang zwischen Belastung und Störung erklären konnte. Daraus wird ersichtlich, dass eine extreme Genauigkeit der akustischen Daten von geringem Wert wäre. Das beste Kosten-Nutzenverhältnis wird demzufolge durch eine angepasste Genauigkeit der akustischen Daten erreicht. Es fragt sich allerdings, wo dieses Optimum liegt. Die Belästigung bzw. Störung der Bewohnerinnen und Bewohner eines lärmbelasteten Gebietes, wie sie durch die Befragung erhoben wird, ist unausweichlich das Resultat einer längerandauernden Exposition und hat deshalb den Charakter eines zeitlichen Mittelwertes. Die korrespondierende akustische Belastungsgrösse ist somit ebenfalls als zeitlicher Mittelwert zu bestimmen. Man kann jedoch nie sagen, an welcher Stelle mit Bezug auf die Aktivitäten des Wohnens die Belastung zu messen ist. Auch hier ist man gezwungen, einen repräsentativen Wert fiir die gesamte Wohnsituation auszuwählen. Eine exakte Erhebung der akustischen Situation einer einzelnen befragten Person würde somit Langzeitmessungen an mehreren Stellen erfordern, bei 2000 Interviews ein astronomischer Aufwand! Dazu kommt, dass der grösste Teil des Lärms im Inneren von Gebäuden erlebt wird, also durch Abschirmungen und Dämmungen modifiziert ist. Die sinnvolle und 1 Die Abschnitte Abis D basieren auf einem Text, der von Dr. Rohert Hofmann, Eidgen. Materialprüfungs- und Forschungsanstalt in Dühendorf, verfasst und vom Autor redaktionell adaptiert worden ist.

C. Die ErhebWlg der akustischen BelastWlgsgrössen

33

optimale akustische Erfassung muss aus diesen Gründen mit einer relativ einfachen Methode geschehen.

B. Die Idee des "Cluster" Aus diesen Überlegungen entstand die Idee, die Interviews nach der Methode des Quasi-Experimentes (von Alemann 1984: 181-184) lokal zu ballen, d.h. jeweils eine Gruppe von Personen unter gleichen Lärmbedingungen zu befragen. Für den Fluglärm erwies sich dies als einfach durchführbar, denn Fluglärm ist wegen der Art der Schallausbreitung als relativ grossräumige Belastung mit mässiger örtlicher Variabilität aufzufassen. Schwieriger erwies sich die Realisierung dieser Idee beim Strassenlärm. Hier treten auf kurzen Strecken grosse Pegeländerungen auf, so dass Gebiete mit uniformer Strassenlärmbelastung konsequenterweise klein sind. Daraus entstand ein Konflikt mit den Zielen der Soziologen, welche eine zufällige Stichprobe hinsichtlich Alter, Geschlecht und weiterer Parameter wünschten ("randomisierte" Befragtengruppen). Dieses Auswahlverfahren nach dem Zufallsprinzip setzt jedoch eine genügend grosse Anzahl Bewohner des Gebietes voraus, das deshalb verhältnismässig gross sein muss. Die Forderung der Randomisierung (Brown und Melamed 1990) und der Clusterbildung hat methodisch Vorrang.

C. Die Erhebung der akustischen Belastungsgrössen 1. Die Erhebung der Strassenlärmbelastung

Die Befragungsadressen wurden aufgrund akustischer Kriterien der Befragungsregion und der Befragungegebiete in drei Klassen vorselektioniert, mit Leq Tags von über 63 dB(A), 55-63 dB(A) und weniger als 55 dB(A). Um eine gleiche Verteilung nach Fluglärmbelastung zu erreichen, wurde die Befragungsregion in drei Belastungszonen eingeteilt. Innerhalb jeder wurden mit Bezug auf die Strassenlärmbelastung Cluster bestimmt. In einem Cluster mit einigermassen uniformer Fluglärmbelastung wurden drei entsprechende "Subcluster" mit unterschiedlichem Abstand von der den Hauptverkehr tragenden Strasse definiert, wozu vorwiegend Gebiete mit hoher Bebauungsdichte in Frage kamen. In diesem Perimeter erfolgte dann die Auswahl der Befragten aufgrund soziologischer Kriterien. An einem repräsentativen Punkt erfolgte eine Kurz3 Oliv.

34

Teil II: Methoden Wld ihre theoretische BegrundWlg

zeitmessung des Mittelungspegel Leq [in dB(A»), der anschliessend auf den Tagverkehr im lahresmittel umgerechnet wurde. Die Angaben über den mittleren Verkehr stammten von der Fachstelle fiir Lärmbekämpfung des Kantons Zürich bzw. des Service Cantonal d'Ecotoxicologie des Kantons Geneve. Die Dauer der Kurzzeitmessung variiert je nach Verkehrsdichte; nach Durchfahrt von ca. 150 Personenwagen war in der Regel ein stabiles Resultat sichergestellt. Anschliessend wurde der Messwert unter Verwendung des Strassenlärm-Modells StL-862 der Eidg. Materialprüfungs- und Forschungsanstalt an die Verhältnisse der einzelnen Befragungsorte innerhalb eines Clusters angepasst. Damit konnten Variationen des Abstandes von der Geräuschquelle und Einschränkungen des Aspektwinkels gegenüber dem Messpunkt berücksichtigt werden. Auf Messungen in den Wohnungen der befragten Personen wurde in der Regel verzichtet. Die so erhaltenen Ergebnisse wurden in Adressenlisten übertragen und den Soziologen weitergegeben. Die Wahl des Leq3 in dB(A) als Belastungsmass ist wie folgt zu begründen: Der Mittelungspegel Leq [in dB(A)] ist das offizielle Strassenlärm-Mass der Schweizer Lärmschutz-Verordnung von 1986. Das Mass Leq hat bereits seit Beginn der AchzigeIjahre die beiden statistischen Pegel LI und L50 verdrängt, hauptsächlich dank seiner physikalischen Einfachheit und der daraus folgenden Eignung fiir Modellberechnungen. Der Leq ist weltweit das hauptsächlich verwendete Basismass fiir Strassenlärm. Die Genauigkeit der Ermittlung des Leq lässt sich aus den oben erwähnten Gründen nur schätzen, denn besonders die Unsicherheit in der Auswahl des fiir eine bestimmte Person massgebenden Immissionspunktes und die Unwägbarkeit des Einflusses der Gebäudedämmung verunmöglicht eine exakte Fehlerrechnung. Entsprechende Tests zur genauen Bestimmung des StandardSchätzfehlers, der Varianz oder der Standard-Abweichung wurden approximiert. Eine solche Schätzung ergibt Standardabweichungen (SD) des Einzelfalles mit Werten gemäss Tab. 2-1.

Tabelle 2-1: StandardabweichWlg der MessWlg der Strassenlärmbelastung

BELASTUNGSSTIJFE

Leq [dB(A)]

tief mittel hoch

< 55 55-63 >63

StandardabweichWlg [dB(A)] 5 3 2.5

2 Strassenlärmmodell filr überbaute Gebiete. Schriftenreihe Umweltschutz Nr. 15. BWldesamt filr Umweltschutz 1988, Bem, Schweiz. 3 Energie-äquivalenter Dauerschallpegel Leq in dB(A) mit dem HalbieTWlgsparameterq = 3.

c. Die ErhebWlg der akustischen Belastungsgrössen

35

Da in der weiteren Auswertung die Resultate aus vielen Clustern zusammengelegt und in Klassen von 3dB Breite dargestellt werden, darf davon ausgegangen werden, dass sich die zufälligen Fehler teilweise ausmitteln. Andererseits ist nicht ausser acht zu lassen, dass die Gefahr von systematischen Fehlern besteht, z.B. in der Wahl des massgeblichen Immissionspunktes, welche voll und ganz auf das Schlussresultat durchschlagen können.

2. Die Berechnung der Fluglärmbelastung

Im Gegensatz zum Strassenlärm beruht die Bestimmung der Fluglärmbelastung vollständig auf Modellberechnungen (pietrzko und Hofmann 1987). Das in der vorliegenden Studie verwendete Berechnungsverfahren FLULA wurde seit 1980 in der EMP A als Simulationsprogramm entwickelt. Es erlaubt ein Nachspielen der einzelnen Flüge im Computer, wobei die Schallabstrahlung durch ein Abstrah/diagramm beschrieben wird. Die Gesamtbelastung entsteht als Ergebnis der energetischen Überlagerung aller massgebenden Flüge unter Verwendung der entsprechenden Häufigkeit. Der Vorgang wird anschliessend im Detail erläutert. a) Die Datenbasis des Berechnungsverfahrens FLULA Die Eidg. Materialprüfungs- und Forschungsanstalt hat seit ersten ungünstigen Erfahrungen mit integralen Programmen konsequent das Ziel verfolgt, die Datenbasis selbst aufgrund von Messungen am normalen täglichen Flugverkehr aufzubauen. Deshalb werden in einem ersten Schritt die Abstrah/diagramme erarbeitet. Dazu wurden an mehreren Stellen in der Verlängerung einer Piste des Flughafens Zürich auf 10m hohen Mästen Mikrophone aufgestellt und die Flugzeuggeräusche auf Tonband (DAT) aufgezeichnet. Gleichzeitig vermass ein Pulsdoppler-Präzisionsradar (Contraves Skyguard, mit Video-Unterstützung) die Position des Flugzeugs vom Moment des Rollens an. Die Genauigkeit des dadurch erfassten Flugweges ist an jedem Punkt wesentlich grösser als es die Anforderungen der Akustik verlangen. Sowohl die Tonbandaufzeichnungen als auch die Radardaten werden mit dem Zeitsignal des Langwellensenders Frankfurt DCF77 synchronisiert. Damit sind alle Daten durch eine absolute Zeitinformation miteinander verbunden. Im akustischen Labor werden die Tonaufnahmen im 0.5 Sekunden-Takt in 1/3 Oktaven analysiert. Die Flugbahn wird mathematisch geglättet und auf ihr Punkte im Abstand von 1 Sekunde ausgewählt. Zu jeder dieser Positionen sucht man unter Berücksichtigung der Retardierung das zugehörige Spektrum an jedem MikrophoßStandort. Damit lässt sich zu jedem Spektrum der Abstand Quelle-Empfänger und der Abstrahlwinkel bezüglich der Flugzeug-

36

Teil II: Methoden und ihre theoretische Begründung

Längsachse - bezüglich des Geschwindigkeitsvektors - angeben. Die geometrische Dämpfung und die Dissipationsverluste lassen sich rechnerisch kompensieren und so ein Spektrum in einem Normalabstand berechnen4 . Damit liefert jedes Spektrum einen Punkt an das Abstrahldiagramm. Die Punkte von verschiedenen Flügen des gleichen Typs werden zu einem A-bewerteten Summenpegel verarbeitet, überlagert, einer Ausgleichsrechnung unterzogen und schliesslich durch ein Polynom mit dem Abstrahlwinkel Q und der Distanz r als Variable approximiert. Diese Polynome bilden die Datenbasis fiir die nachfolgende Simulation. b) Simulation eines Fluges Die Abfluggeometrien werden aus den Radardaten des Flughafens Zürich mit Hilfe des F ANAMOS-Systems gewonnen. Die auf Band gespeicherten Daten dienen dazu, die mittleren Geometrien sowie die Streuungen der wichtigsten Flugzeugtypen zu berechnen. Sind auf diese Weise das mittlere Steigprofil der Flugwege5 und die Geschwindigkeit pro Flugzeugtyp6 ermittelt, so kann die Simulation beginnen. Auf der Flugbahn werden Positionen im Abstand von Is ermittelt. In diese Position wird das Abstrahldiagramm gebracht und dann zu jedem der gitterförmig angeordneten Bodenpunkte der Momentanpegel berechnet. Dadurch entsteht in jedem Bodenpunkt ein PegeUZeitdiagramm. Davon wird allerdings im Normalfall nur das Maximum7 und die energetische Summe8 gespeichert. Dieses Modell besteht im Prinzip aus zwei Teilen, erstens aus einem Datenerzeugungsmechanismus, welcher den Schall der Flugzeuge und dessen Ausbreitung rein rechnerisch erzeugt, und zweitens aus einem Schallmessverfahren, in welchem ebenfalls rein rechnerisch die erzeugten Schallemissionen an bestimmten Messpunkten empfangen und zu einem Lärmbelastungsmass zusammengefasst werden. Auf diese Weise können alle Starts und Landungen, die auf einem Flughafen stattfinden, anband den Flugspuren nachgerechnet und an Messpunkten, die man sich auf einer Landkarte systematisch verteilt vorstellt, wird deren Schallimmission bestimmt. Die Simulationsberechnung liefert somit fiir die Punkte eines rechteckigen Gitters das Maximum und die energetische Summe der Schallimmission eines jeden Fluges. Diese Werte lassen sich energetisch addieren. Auf diese Weise ist einerseits der energieäquivalente Mittelungspegel Leq in dB(A) und der 4 Es wurden NormaIabstände von 305 m bis 3 km berücksichtigt.

S Projektion auf die Horizontalebene. 6 bzw. Klassen von Flugzeugtypen. 7 Für die Berechnung des NNl. 8 Für die Berechnung des SEL bzw. des Leq.

C. Die ErhebWlg der akustischen BelastWlgsgrössen

37

Noise and Number Index NNI berechnet worden. Zur Berechnung des NNI wird zudem geprüft, ob der Pegel 68 dB überschreitet: Wenn dies zutrifft, wird das Lännereignis gezählt. Durch statistische Gewichtung der einzelnen Flugzeugtypen und Flugwege gewinnt man schliesslich die gesamte Schallbelastung des Flugverkehrs. In der Regel werden neben dem mittleren Flugweg mit 68% der Bewegungszahl zwei links und rechts liegende Flugwege des gleichen Typs berechnet, wobei jeder 16% des Verkehrs zugeteilt erhält. Auf diese Weise soll die örtliche Streuung der Abflugwege berücksichtigt werden. c) Vor- und Nachteile von FLULA Das beschriebene Programm hat den grossen Vorteil, dass es weitgehend auf Messdaten des normalen Flugverkehrs beruht und nicht auf den Zertifizierungsdaten, wie dies bei fast allen anderen Programmen der Fall ist. Die Zertifizierungsergebnisse kommen unter besonders günstigen Bedingungen zustande und entsprechen nicht immer den Realbedingungen. Ausserdem kann diese echte Simulation ohne grosse Schwierigkeiten beliebige Lännindizes berechnen, da sich an jedem Bodenpunkt ein Pegel/Zeitdiagramm nachbilden lässt. Durch das realistische Abstrahldiagramm werden die in Kurven entstehenden Effekte zwanglos einbezogen und benötigen keine speziellen Korrekturen. Als Nachteil ist in erster Linie der grosse Rechenaufwand zu nennen, der ein bis zwei Grössenordnungen über jenem eines integrierenden Modells liegt. d) Die Inputdaten für die Fluglärmberechnung in der Lärmstudie 90

240000

Anzahl Starts und Landungen

fill

200000

Zürich

lIiII Geneve

160000 120000 80000 40000 n

JI I

80ro aiva e1118001 Quelle. Flughafendimklion lOrieh. StIlistik 1994

Abbildung 2-1: Anzahl gewerbsmassige Starts Wld LandWlgen der Flughäfen Zürich und Geneve, 1960 - 1994

38

Teil II: Methoden und ihre theoretische Begründung

Als Basis wurde in Zürich und in Geneve der Flugverkehr von 1989 und 1991 genommen. Sämtliche Bewegungen gemäss Bewegungsstatistik der beiden Flughäfen wurden auf die 16 Stunden der 365 Tage verteilt. Dies bedeutet eine leichte Überschätzung, weil die wenigen Flüge zwischen 22 Uhr und 6 Uhr ebenfalls in die Summe eingehen, sich aber in den logarithmisch dargestellten Werten kaum noch auswirken. Der so entstehende Schätzfehler ist kleiner als I dB. Eine echte Aufschlüsselung der Tag- und Nachtflüge nach Flugzeugtypen wäre jedoch m aufwendig gewesen. Im Zeitpunkt der Berechnungen fiir die Lärmstudie 90 standen erst wenige gemessene Abstrahldiagramme mr Verfiigung, darunter jenes des Typs MD80, das am häufigsten eingesetzte Flugzeug in Zürich und Geneve. Die Form dieses Richtdiagramms wurde deshalb fiir sämtliche Kategorien verwendet, die Pegel jedoch so angepasst, dass in der Simulation die Messwerte des Monitoring-Systems des Flughafens Zürich möglichst exakt reproduziert wurde. Im verwendeten Simulationsmodell erfolgte eine Einteilung der Flugzeugtypen in 6 Kategorien gemäss Tab. 2-2. Tabelle 2-2: Einteilung der Flugzeugtypen in 6 Kategorien

KATEGORIE

ENTSPRECHENDEFLUGZEUGTYPEN

Kategorie A ........ B727-200 adv, B737-200 adv, II..-76, DC9-50, TU54A, BAll Kategorie B ......... B727-200, B737-200, Caravelle S21O, DC9-30, DC8-60 B707-320B, TU34A, TU54B, IL-62 Kategorie C ......... MD-80, TU-54M, B737-200M Kategorie D ........ DC-IO, MD-II, B737-200M, B747a Kategorie E ......... A300 b, A310b, B767b, A320/321, BA-46, B737-300/400/500, FK-lOO, B757 Kategorie Tc ......... SF-34, Dash 7/8, ATR-42/72, FK-50 Amnerkungen.- a) alle 3- und 4strahlige Grossraumflugzeuge; b) zeuge; c) Turboprop

2strahlige

Grossraumflug-

Was die Frage der Übertragbarkeit der Simulationsergebnisse auf andere Zeitpunkte als jene der Datenerhebung anbelangt, lässt sich kurz folgendes erwähnen: Am Ort der Immission wird die Schallenergie auf der Basis von Flugzeugtypen ermittelt. Bei einer Veränderung der eingesetzten Flugzeugtypen - so z.B. der Ersatz der DC-IO durch die MD-li bei der Swissair - ist wiederum die emitierte Schal/energie entscheidend. Anband von Messungen im Feld konnte festgestellt werden, dass solche Veränderungen mit Bemg auf die auf ein Jahr ermittelten Immissionen und mit Bemg auf sämtliche Flugbewegungen statistisch keine Bedeutung haben.

D. Die verwendeten Fluglännmasse

39

e) Zur Genauigkeit der Fluglärmdaten Eine systematische Kontrolle der Fehler dieser Berechnungen wurde bisher nicht vorgenommen, da sich die modellextemen ZufaIligkeiten im Bereich eines einzelnen Punktes stark auswirken: Abdeckungen, Reflexionen, die Bodenbeschaffenheit, die Höhe des Messpunktes über Boden und weitere lokale Eigenschaften verursachen ihrerseits erhebliche Streuungen, die sich im Modell selbst nur schwer kontrollieren lassen. Will man die berechneten Werte mit Messdaten vergleichen, müssen solche Messungen über lange Zeitspannen geführt werden, um genügend stabil zu sein. Langzeitmessungen dieser Art sind in erster Linie an den Messstellen des Monitoring-Systems des Flughafens erhältlich, was aber keine ausreichende Basis für eine Fehlerbestimmung abgibt. So bleibt vorläufig nur eine grobe Abschätzung, welche eine Streuung der berechneten Werte von 3 dB im Sinne einer Standardabweichung ergibt. Wie beim Strassenlärrn ist auch hinsichtlich der Fluglärrndaten anzunehmen, dass sich der zufaIlige Fehler teilweise ausmittelt und somit die Fehler in den bestimmten Belastungsklassen also kleiner sind. Auch hier ist jedoch die Gefahr systematischer Fehler vorhanden.

D. Die verwendeten Fluglärmmasse 1. Leq und NNI

Der energieäquivalente Mittelungspegel Leq in dB(A) wird aus der Summe aller an einem Ort akkumulierten Intensitätsbeiträge als Mittel aller Tage zu 16 Stunden (von 06.00 Uhr bis 22.00 Uhr) eines Jahres berechnet. Er wird hier als quellenspezifisches Mass verwendet, d.h. die Geräusche anderer Lärrnquellen sind nicht enthalten. Der Noise and Number Index NNI berechnet sich nach der Verordnung über die Lärrnzonen der konzessionierten Schweizer Flughäfen vom 23. November 1973, welche eine schweizerische Variante des englischen NNI definiert:

NNI CH

= (LAs,max >+ 15Iog(n) -

68

FormeI2-I: Berechnung des Noise and Nwnber Index

40

Teil II: Methoden Wld ihre theoretische BegrüI1dWlg

Darin bezeichnet

48 dB(A). Bezüglich der Lännimmission des Flugverkehrs repräsentiert die vorliegende Studie alle Abstufungen der Immission zwischen Leq > 49 dB(A) und Leq < 71 dB(A).

F. Die Erfassung der Wahrnehmung und Bewertung des Fluglärms 1. Theoretischer Hintergrund

Im Zusammenhang mit den in den 1960er Jahren entstandenen Forderungen nach mehr Lebensqualität 13 ist in den ökonomisch am weitesten entwickelten Industriegesellschaften eine Prestige-Rangdimension l4 fiir Gebie13 Vgl. Mitscherlich 1969, Engelhardt et al. 1973, Walterscheid 1979. 14 Diese Rangdimension kann als institutionalisierter Wert mit hohem Prestigege-

halt betrachtet werden. Insofern diesem Wert hohes Prestige zugeschrieben wird und deshalb für die Mitglieder der Gesellschaft hohe Relevanz hat, kommt ihm in der Raumplanung grosse Bedeutung zu. Das bedeutet zugleich, dass sich die Gesellschaftsmitglieder hinsichtlich der Erfüllung dieses Wertes miteinander vergleichen, so wie sie sich selbst auf dieser Rangdimension einordnen. Aufgrund der Position, die sie für sich selbst und für die anderen Gesellschaftsmitglieder erkennen, ordnen sie sich nach Massgabe der wahrgenommenen Statusdisparität ein. Eine geringe Statusdisparität bedeutet, dass das prestigebeladene Ziel nahezu erreicht worden ist. Eine hohe Statusdisparität bedeutet, dass das prestigebeladene Ziel nur in geringem Ausmass erreicht ist. Weil die Zielerfüllung nicht alleine in der Kontrollmöglichkeit der einzelnen

48

Teil II: Methoden Wld ihre theoretische BegriindWlg

te oder Regionen institutionalisiert worden, wonach die Wohnqualität, verstanden als Fonn der Lebensqualität, bemessen und entsprechend gestaltet wird 15. Ein zentrales Anliegen in der Neugestaltung aufgrund dieser neuen Ansprüche ist u.a. die Eindämmung von Immissionen aus ortsfesten und beweglichen Anlagen 16. Die Lännschutz-Gesetzgebung in den erwähnten Ländern bezeugt diesen Prozess der Institutionalisierung eines gesamtgesellschaftlich anerkannten Wertes der Lebensqualität und die damit verbundenen Forderungen nach Sanierungen in eindrücklicher Weise 17. "Wohnqualität" ist ein komplexer Begriff, denn er enthält ein ganzes Bündel von Ansprüchen von hohem Prestige. "Ruhe" bzw. die Abwesenheit starker Lännimmissionen ist ein Wert im Sinne der Lebensqualität (Koelle 1979) und damit der Wohnqualität. Dass darüber weitgehend Konsensus besteht, lässt sich daran ablesen, dass Personen, wenn sie danach befragt werden, spontan ihre Position bewerten können. Über die Operationalisierung der Wahrnehmung 18 der Beeinträchtigung der Wohnqualität durch Lännbelastung besteht in der Lännwirkungsforschung ebenfalls breiter Konsensus (Berglund 1993; Fields 1992; Finke et al. 1974; Gjestland et al. 1990; Guski 1987; Miedema 1993; Rohrmann 1984). Es stellt sich dabei die Frage: In welchem theoretischen Rahmen sollen oder können diese sozio-psychologischen Reaktionen codiert werden? Oft wird der Versuch unternommen, dieses Thema vor dem Hintergrund einer Theorie des Stress und der Stressbewältigung zu bearbeiten (Dunckel et al. 1991; Kastka 1984; Lazarus 1966; Scherer et al., 1985). Eine Reihe von soziologischen Studien haben, ohne die grundlegenden Propositionen der stressbezogenen Ansätze zu verlassen, die Bedeutung der Sozialstruktur in der Erzeugung von Stress dargelegt (Bastide 1972; Binder et al. 1984; Link et al. 1993; Mechanic und Volkart 1961; Turner et al. 1995). Weitere Arbeiten versuchen die in der Sozialstruktur spezifischen Eigenschaften, welche "Stress" und ein entsprechendes Verhalten erzeugen, präziser zu bestimmen. Der Grund liegt darin, weil es ausserhalb des physiologischen Systems bislang nicht gelungen ist, ein Sachverhalt zu bezeichnen, der notwendigerweise "Stress" heissen soll. Natürlich gibt es in wissenschaftliPerson, sondern ein übergeordnetes Wlterfangen ist, erfahrt eine Person, die weit vom Ziel entfernt ist eine grosse strukturelle SpannWlg, die Person, welche nahe am Ziel ist, erflihrt eine geringe strukturelle SpannWlg (vgl. Heintz 1968, 1969, 1979, 1982). 15 Vgl. Andritzky und Selle 1979, Eppler 1974, Heintz 1973. 16 Vgl. Art. 7 des USG. 17 Vgl. Fidell 1990. 18 Zur Bedeutung der Bewussten WahmehmWlg vgl. Festinger 1964; Fiedler 1985; Graumann 1966; Heidack 1983; Hochberg 1977; Norman 1969; Riedel 1967; Thornae/Feger 1972.

F. Die ErfassWlg der WalunehmWlg Wld BewertwJ.g des Fluglärms

49

chen Gruppen Konventionen, die es zulassen, diesen Begriff anzuwenden. Hierzu wird in der Soziologie auch Begriff der "strukturellen Spannungen" als Determinante des Stressphänomens und der soziologische Begriff der "Anomie" bzw. der "anomischen Spannungen" zur Bezeichnung dieses Phänomens verwendet (Berger et al. 1992; Merton 1968; Heintz 1968; House und Harkins 1975; Zimmermann 1978). Unter der "anomischen Spannung" wird die subjektiv wahrgenommene Unstrukturiertheit einer Situation verstanden, die Vorstellung einer Person also, sie müsse zusätzliche Aktivitäten ergreifen, um sich mit einer solchen Situation auseinanderzusetzen. Diese Auseinandersetzungen mit der spannungsgeladenen Struktur kann dann, so lauten die Propositionen dieses Ansatzes, erfolgreicher sein, im Sinne der Lösung der anomischen Situation der Person, oder weniger erfolgreich sein. Dieser Ausgang, so postuliert die Theorie, hängt nicht nur von der Bewältigungskapazität einer Person ab, sondern von Eigenschaften der betreffenden Struktur (parsons 1979). Dieser kurze Hinweis auf die Theorie der strukturellen und anomischen Spannungen beleuchtet den theoretischen Hintergrund, sowohl fiir die Gestaltung der Untersuchungsanordnung als auch fiir die Auswahl der Items des Fragebogens. Die Lärmbelastung hat die Qualität einer strukturellen Spannung sobald sie eine Grösse ist, die auf Aktivitäten zurückgeht, die von Menschen organisiert und strukturiert werden und wiederum auf Menschen trifft, die im Hinblick auf andere Ziele sich organisieren und dabei von der Geräuschimmission betroffen werden. Die strukturbedingte Spannung besteht darin, dass das Handeln eine Realität geschaffen hat, in welcher - zumindest nicht fiir alle Personen - die Handlungserwartungen (vgl. z.B. Anspruch auf Ruhe am Wohnstandort) nicht mit der tatsächlichen Realität übereinstimmen. Wenn dem so ist, lässt sich die individuelle Wahrnehmung dieser Spannung und die daraus resultierenden Verhaltenskonsequenzen im Rahmen dieses theoretischen Ansatzes erklären. Eine Verminderung der Wohnqualität aufgrund einer Lärrnquelle, welche insbesondere Verdeckungse.IJekte oder Beanspruchungse.IJekte auslösen, wird hier als strukturellen Spannung verstanden l9 . Es wird deshalb der Begriff der strukturellen Spannung (Heintz 1968) verwendet, weil fiir Personen, welche von solchen Immissionen betroffen sind, folgendes Problem besteht: Insofern die Qualität "Ruhe" zur Bewertung der Wohnsituation zählt und insofern das Wohnen an einem "ruhigen Ort" hohes Prestige geniesst und insofern dieser Prestigemassstab 19 Mit dieser Fonnulierung wird der Begriff "Stressor" dem Begriff der strukturellen SparmWlg Wltergeordnet. Der Begriff "Stressor" soll hier nur deshalb verwendet werden, weil dieser in der Diskussion über UmweltbelastWlgen häufig zur AnwendWlg gelangt. Der Begriff selbst wird jedoch so vieltaltig benutzt, dass er nur dann verwendet werden kann, wenn er eine angemessene Einschränkung erfahrt (vgl. Greif 1991 ). 40liva

50

Teil 11: Methoden Wld ihre theoretische BegründWlg

gesellschaftlich legitimiert ist, wird jeweils der eigene Wohnort nach Massgabe der Geräuschimmissionen bewert~ .. Da diese Bewertung mit Bezug auf eine prestigegeladene Rangdimension erfolgt, wird die Differenz zwischen der Zielerfiillung (an einem "ruhigen Ort" wohnen) und der tatsächlichen Situation als Spannung erfahren. Es wird deshalb von Spannung gesprochen, weil dieser Umstand einerseits als "Gegenüber" erfahren wird und, nach Massgabe der Abweichung vom angestrebten Ziel, als "trei-bende Kraft" verstanden wird, die Situation zu bewältigen (Heintz 1972: 13). Die Spannung wird auch deshalb als "strukturell" bezeichnet, weil sie durch ein übergeordnetes sozio-technisches System verursacht wird (Herruindez 1980). Die strukturelle Spannung, so verstanden, ist eine messbare Grösse, die mit erhöhter Wahrscheinlichkeit eine Wirkung hervorruft. Erst von dem Moment an, wo sie tatsächlich in der Wohnsituation eine Wirkung hervorruft, ist sie für die betroffenen Personen als strukturelle Spannung relevant. Die Wirkung wird dann oft als "Stress" bezeichnet20 . Insofern eine solche Wirkung einen unerwünschten bzw. unangenehmen Spannungszustand erzeugt, der subjektiv nicht vollständig kontrollierbar ist und deren Vermeidung subjektiv wichtig erscheint, drängt sich auf, den Begriff "Stress" im Sinne von Anomie einzuengen, verstanden als Situation mit verminderter Regelungsdichte21 . Die dabei wirkenden Mechanismen stellen eine Konstellation von Reizen (Belastung), Beanspruchung, wahrgenommenen Wirkungen (Kommunikationsstörung, Ablenkung von beabsichtigten Handlungen etc.), von direkt und indirekt beabsichtigten Reaktionen, von der Bewertung dieser Sequenz durch die betroffene Person und den daraus resultierenden Interventionen und Bewältigungsversuchen dar (Janisse 1988; Jansen, Schwarze und Notbohm 1996; Greif 1991). 2. Selbstbeobachtete Reaktionen

In unserer Definition des Begriffes "Länn" haben wir den Bezug zu beobachtbaren Reaktionen als notwendige Konstituente des Begriffes verwiesen. Es gibt nun verschiedene Möglichkeiten, um Daten über solche Reaktio20 Greif (1991: 13) deftniert Stress, aufgrWld seiner Auseinandersetzung mit der Stressliteratur folgendermassen: "Stress" ist ein subjektiv intensiv lUlangenehmer SpannWlgszustand, der aus der Befürchtung entsteht, dass eine stark aversive, subjektiv zeitlich nahe (oder bereits eingetretene) Wld subjektiv lang andauernde Situation sehr wahrscheinlich nicht vollständig kontrollierbar ist, deren VenneidWlg aber subjektiv wichtig erscheint. 21 Der Begriff der Anomie wurde von Emile Durkheim in die Soziologie eingefuhrt, um Zustände mangelnder sozialer RegelWlg zu bezeichnen. In der gegenwärtigen Soziologie dient er dazu, Reaktion der Personen auf strukturelle SpannWlgen zu thematisieren (König 1958: 17-25; Merton 1968; Heintz 1968; Boudon Wld Bourricaud 1992: 28-32)

F. Die Erfassung der Wahrnehmung und Bewertung des Fluglärms

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nen zu erheben. Da die vorliegende Untersuchung als Feldstudie konzipiert ist - damit Personen in ihrer realen Wohnsituation als Infonnationsträger zur Geltung kommen -, wurde die Methode der Befragung in Form eines persönlichen Interviews Zuhause bei den ausgewählten Personen eingesetzt. Das Interview hatte zum Zweck, in standardisierter und kontrollierter Weise, ein Inventar über Reaktionen der befragten Personen zu erheben. Natürlich ging es darum, die Reaktionen so zu erfassen, dass sie unabhängig vom Wissen, dass es sich um eine Lännstudie handelt, dargestellt werden. Die Untersuchungsanordnung ist so gestaltet, dass die Erfassung der Geräuschimmissionen und die Erfassung der Reaktionen und Bewertungen unabhängig voneinander geschehen. Im folgenden soll jetzt begründet werden, welche Aspekte von Reaktionen und Bewertungen in die Untersuchung aufgenommen worden sind. Für den Zweck der vorliegenden Studie sind folgende Dimensionen der lännbezogenen Störung der Wohnqualität unterschieden worden (Rohrmann 1984): a) Wahrgenommene allgemeine Störung durch Länn Mit Bezug auf ein Verlangen nach "Ruhe" kann jede Geräuschkulisse, die nicht positiv erlebt wird, als Störung durch Länn interpretiert werden. Dieser Sachverhalt wurde folgendermassen erfragt: Im Fragebogen wird diese Dimension mit Hilfe einer den befragten Personen vorgelegten ller Skala ("Lännthermometer") erfasst. Hierzu wurde im Fragebogen folgende Frage gestellt: "Nehmen wir an, dies wäre ein Thermometer, mit dem man messen kann, wie stark Sie (draussen vor dem Haus, in der Wohnung etc.) durch Länn gestört werden. Die Zahl 10 bedeutet, dass Sie durch Länn unerträglich gestört werden, die Zahl Null bedeutet, dass Sie überhaupt kein bisschen gestört werden. Bitte antworten Sie anband dieser Thermometer-Skala." Damit wurde nicht nur die subjektiv wahrgenommene Störung durch den Flug- und Strassenlänn vor dem Haus und in der Wohnung erfasst, sondern auch die Lärmimrnissionen von Baustellen, aus der Nachbarschaft, von Schulhäusenl, des Eisenbahnverkehrs, von Industrie, Gewerbe und Landwirtschaft, VOll Schiessplätzen sowie von Freizeitveranstaltungen. b) Erlebte Innen-Aussen-Differenz In der vorliegenden Studie wird der Geräuschpegel des Flug- und Strassenlänns nur vor dem Haus aber nicht in der Wohnung akustisch gemessen. Zur Präzisierung der subjektiv wahrgenommenen Lärmstörung ist hier jedoch zwischen der Situation vor dem Hau~ unri i.l aer Wohnung unterschieden worden. 4"

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Teil ll: Methoden IDld ihre theoretische BegrüIldlDlg

In der Studie von Grandjean et al. (1974) ist diese Unterscheidung nicht gemacht worden. Damals wurde nur generell nach der Lännstörung gefragt. Als zusätzliche Variable wurde noch nach der Richtung gefragt, von der die entsprechenden Lännimmissionen eintreffen22 .

c) Erlebter Verlust an Spielraum für Aktivitäten: Die spezifische Störung durch Geräusche Es gibt den Aspekt der als "ungerecht" erlebten Betroffenheit, bzw. des "ungerechten" Verlustes an Ruhe. Der Verlust misst sich arn Verhältnis zwischen dem Aufwand, den jemand in eine Situation steckt, und dem subjektiv erlebten, positiven Bezug zu dieser Situation23 . Dieser Aspekt wird im Fragebogen anband von Aspekten wie den folgenden erfasst24 : Die Häufigkeit, mit der Personen erschrecken; beim Einschlafen oder Durchschlafen gestört werden; früh arn morgen aufwachen; bei geschlossenem Fenster schlafen; beim Radiohören oder Fernsehen gestört werden; bei Gesprächen oder beim Telefonieren gestört werden; daheim von der Arbeit abgelenkt werden; bei der Feierabendruhe und Erholung gestört werden; bei schönen Tagen auf Balkon, Garten, offenes Fenster verzichten; darauf verzichten, ins Freie zu gehen; die Konversation vor dem Hause gestört wird; Vibrationen empfinden; Personen aufgrund der Lärmstörung Kopfschmerzen wahrnehmen und sich nervös und gereizt fiihIen. Die Häufigkeit folgender Massnahmen wurde ebenfalls erfragt: inwiefern in der Nacht Ohropax oder andere Gehörschutzmittel verwendet werden; Einnahme von Schlaf- oder Beruhigungsmittel; sich weniger im Freien aufhalten, als man das gerne möchte; weniger daheim sein; Fenster oder Läden mehr als lieb ist verschliessen oder gar nicht öffnen?; die Wohnung besser gegen Länn isolieren; mit einem Arzt über mögliche gesundheitliche Schäden sprechen; an Wegzug denken. 22 Die Frage lautete: "Von welchem Zimmer aus können Sie eine verkehrsreiche Strasse bzw. können Sie Flugzeuge sehen?" Ferner wurde gefragt: ,,Nach welcher HimmelsrichtlDlg sind die Fenster Threr wichtigsten Wohnräume ausgerichtet?" 23 Um die entsprechenden Indikatoren nennen zu können, postulieren wir mit Homans (1972: 195): "Je krasser das Gesetz der ausgleichenden Gerechtigkeit zum Nachteil einer Person verletzt wird, desto wahrscheinlicher wird sie das emotionale Verhalten an den Tag legen, das wir Ärger nennen." Insbesondere kommt hier der "lDlgerechte" Verlust als Verlust an Spielraum fUr Aktivitäten zum Ausdruck (z.B. KommlDlikation, EntspannlDlg), der nicht auf eigenes Verschulden zurückzufiihren ist. 24 Als Grundlage fUr die Entwicklung des Fragebogens dienten hauptsächlich die folgenden Studien: De Jong et al. 1984; Evans 1990; Finke et al. 1974; Gjestland et al. 1990; Grandjean et al. 1974; Heintz, Meyer et al. 1980; Kastka 1984; Knall et al. 1983; Rabinowitz et al. 1987; Wehrli. 1978

F. Die ErfasslUlg der WahrnehmlUlg lUld Bewertung des Fluglänns

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d) Erlebter ästhetischer Verlust der Wohngegend Es gibt weiter auch den Aspekt der Betroffenheit mit Bezug auf das symbolische Erleben einer Situation, bzw. des "ästhetischen" Verlustes25 . Die von Clark (1984) erwähnten Begriffen zur Beschreibung der Lästigkeit, nämlich das Gefuhl, belästigt, geplagt und verärgert zu sein, dient als Operationalisierung des "ästhetischen" Verlusts. Dieses Konzept wurde auf folgende Aspekte der Wohngegend angewendet, die sich nicht ausschliesslich auf den Länn beziehen: Erscheinungsbild, Luftqualität, Ruhe, Erholungs- und FreiZeitmöglichkeiten, Sicherheit arn Abend auf der Strasse sowie Zugang zum öffentlichen Verkehr26 . e) Erlebter Verlust an Wohlbefinden Es gibt den Aspekt der Betroffenheit mit Bezug auf die elementaren Voraussetzungen fiir soziales Handeln, bzw. des Verlusts an Wohlbefinden (Pfaff 1989). Dieser Aspekt setzt voraus, dass die Reproduktion des Wohlbefinden ein bestimmtes, subjektiv festgelegtes Mass an "Ruhe" bedingt.27 Diese Subkategorie des Bewertungsmassstabes "Ruhe" lässt sich anband von Indikatoren der vegetativen Reaktionen wie Kopfschmerzen, Gespanntheit, Irritierbarkeit und anderen Symptomen erfassen. Eine Reihe von Fragen stammen aus dem Fragebogen des "Assessment of Quality of Life" (Wenger et al. 1984). Es handelt sich u.a. um Fragen nach: allgemeinem Wohlbefinden; Zufriedenheit mit dem Leben; Zufriedenheit mit dem Alltag; Stimmung; allgemeiner Gesundheit; Beschwerden, Störungen, Schmerzen; Gesundheitsempfinden; Sorgen um die Gesundheit; Vitalität; Ermüdung. Weitere Items beziehen sich auf die Bewältigung von Alltagssituationen. Ihre Auswahl geht auf den Versuch zurück, aus der Fülle der Arbeiten über die Bewältigung von alltäglichen Situationen solche Fragen herauszu25 Von einem "ästhetischen" Verlust kann man dann sprechen, wenn ein Arrangement von optischen lUldloder akustischen Ereignissen von zusätzlichen, lUlvorhergesehenen überlagert wird. Diese Entropie, Dissonanz oder Unabhängigkeit zwischen solchen Ereignissen wird als "ästhetischer" Verlust im Sinne von UnordnlUlg erlebt (vgl. z.B. Amheim 1971). 26 Vgl. z.B. auch Kastka lUld Hangartner 1986, die Unterschiede bezüglich der Lärmbewertung in Abhängigkeit von solchen Dimensionen gefimden haben. 27 Fischer 1991 skizziert einen theoretischen Ansatz, in dem der Zusammenhang zwischen der Umwelt als Auslöser sensorischer Stimulationen lUld elementaren Gefühlen diskutiert wird. Falls auf der Basis eines bestimmten Masses an sensorischen Stimulationen ein Gefühlsgleichgewicht erreicht wird lUld als psychisches Wohlbefmden erlebt wird, neigt das betreffende Individuum dazu, gegenüber der Situation ,,Annäherungsverhaltens zu zeigen. (S.246).

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Teil II: Methoden und ihre theoretische Begründung

nehmen, welche sich in der empirischen Forschung bewährt haben. Zum anderen bestand nicht die Möglichkeit, gesamthaft Fragebatterien zu übernehmen. An ihrer Stelle wurden solche Items ausgewählt, welche als "Stellvertretervariablen" fur ganze Syndrome betrachtet werden können (Abele und Becker 1991; Brüderl 1988, 1988a; Greif et a1., 1991; Janisse 1988; Schepank 1988). f) Weitere Moderatorenvariablen

Die einfache Analyse der Lärmwirkung bezieht sich auf den Zusammenhang zwischen dem akustisch gemessenen Geräuschpegel als Stimulus und den Reaktionen darauf. Weitere Variablen, die eingefiihrt werden, um den Anteil der nicht erklärten Varianz zu reduzieren, werden als ausserakustische Variablen oder als Moderatorenvariablen bezeichnet. Guski (1987: 105) bezeichnet damit Konzepte, "die meist selbst nicht vom Ausmass der akustischen Belastung abhängen", jedoch das Ausmass dieser Reaktion steuert, so dass die Reaktion ,abgeschwächt' oder ,verstärkt' werden kann. Um an diese Tradition der Lärmforschung anzuschliessen, wird hier ebenfalls der Begriff der "Moderatorenvariablen" verwendet. Es soll aber auf einige Schwächen dieses Begriffes hingewiesen werden: Es ist nicht einfach so, dass solche Kontrollvariablen die Zusammenhänge zwischen der akustischen Belastung und der subjektiven Reaktion nur "abschwächen" oder "verstärken". Solche intervenierende Variablen können z.B. die Beziehungen zwischen Stimulus und Reaktion unterdrücken, maskieren, als Scheinkorrelation "hervorheben" etc. 28. Aus verschiedenen Gründen ist es unerlässlich, in einer Studie, wie der vorliegenden, sozio-kulturelle Eigenschaften der befragten Personen zu erheben. Erstens stellt sich die Frage, inwiefern die subjektive Wahrnehmung und Bewertung von Schallinmrissionen nicht nur in Abhängigkeit der Schallenergie, sondern in Abhängigkeit des Informationsgehalts erfolgt (Rohrmann 1984:6678). Zeitens stellt sich aber auch die Frage, inwiefern Reaktionen von Personen, welche der Lärmbelastung zugeschrieben werden, tatsächlich auf die Inmrission zurückgefiihrt werden können oder sich als Scheinkorrelationen 28 Die multivariate Analyse kennt hierzu verschiedene Probleme: (l) Das Problem der Suppressionseffekte (traditionelle Suppression, negative Suppression, reziproke Supression) in denjenigen Fällen, wo eine Variable den Vorhersagebeitrag einer oder mehrerer anderen Variablen erhöht, indem sie irrelevante Varianzen in anderen Prädiktorvariablen unterdrückt (vgl. z.B. Bortz 1979, Lazarsfeld 1955, Rosenberg 1968). (2) Das Problem der Interaktionseffekte (gegenseitige Wechselwirkung zwischen unabhängigen Variablen) in additiven und multiplikativen Erklärungsmodellen (Blalock 1969, Galtung 1969). (3) Das Problem der linearen und nicht-linearen Zusammenhängen zwischen den Variablen. Diese Punkte müssen in jeder multivariaten Analyse berücksichtigt werden.

F. Die Erfassung der Wahrnehmung und Bewertung des FluglärmS

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(vgl. Alker 1965, Benninghaus 1974, Hummel 1986) erweisen. Solche Scheinkorrelationen können jedoch nur dann entdeckt werden, wenn Gegenhypothesen mit entsprechenden Indikatoren analysiert werden können. Dazu zählen die Indikatoren zur Bestimmung des Sozialstatus (Hand!, Mayer und Müller 1977; Kohn 1981; Kriesberg 1979) wie die Variablen Berufstätigkeit und Schulbildung. Weiter wurde die Verankerung der befragten Personen am Wohnort erfragt (Schmidtchen 1984). Das Ausmass der persönlichen Mobilität bemisst sich in dieser Studie an der Benützung von Verkehrsträgern: Privatauto, Flugzeug und öffentliche Verkehrsmittel (Holte und Recker 1976; Wennuth 1978). Ferner wurden Fragen betreffend der Werthaltung zum Flugverkehr und auch zur Wohnqualität gestellt (Finke, Guski und Rohrmann 1980; Andritzky und SeIle 1987; Becher 1990). g) Spezifische Lärmbelastung ausserhalb des Wohnbereichs Zur Erfassung der zusätzlichen Lärmbelastungen einer Person wurde nach dem Vergleich zwischen der Belastung am Arbeitsplatz und jener zu Hause gefragt. Aus der Mehrfachbelastung zwischen Lännbelastung am Arbeitsplatz und am Wohnort können möglicherweise Interaktionswirkungen entstehen, die sich auf die Interpretation der Fluglärmimmissionen auswirken könnten (Dunckel 1991). h) Eigenschaften der Umwelt Die Eigenschaften der Umwelt wurden hier auf zwei Arten erfasst. Einerseits wurde die akustische Belastung der Wohnung durch Strassenlänn erhoben. Andererseits wurde nach der subjektiv wahrgenommenen Lästigkeit einer Reihe von Lännquellen und anderer Umweltnoxen gefragt29. Weitere Umwelteinflüsse wurden über die Begründung von Wegzugsabsichten erfragt30. 3. Das Konzept des Fragebogens

Zur Entwicklung des Fragebogens bestanden eine Reihe von Anforderungen, die jeder Untersuchung vorliegender Art zugrundeliegen: (a) Die Frage nach der Wiederholbarkeit der Hauptergebnisse einer vergleichbaren Studie nach 20 Jahren. In einer Studie von Grandjean et al. (1974)

29 Dazu gehören: Unfall- und Absturzgefahr durch Flugzeuge; Luftverschmutzlmg durch Flugzeuge, durch den Strassenverkehr, durch Industrie; klimatische Belastungen. 30 Das sind Aspekte wie die folgenden: unattraktive Wohngegend; Verschmutzung der Luft; lärmiges Quartier, Marginalität des Quartiers; Kriminalität und Vandalismus, unfreundliche Nachbarschaft; schlechter Zugang zu öffentlichen Verkehrsverbindungen; soziale Gründe wie Vermieter und Beruf.

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Teil II: Methoden und ihre theoretische Begründung

sind Zusammenhänge zwischen Belastung durch Fluglänn (in NNI) und der erfragten subjektiven Störung festgestellt worden, die es nach 20 Jahren zu überprüfen gilt. Dieser Fragestellung zufolge müssen in unserem Fragebogen die wichtigsten Items der Befragungen jener Zeit enthalten sein. (b) Die Vergleichbarkeit mit anderen Studien mit derselben oder ähnlichen Fragestellung. Nebst der Grandjean-Studie beziehen wir uns insbesondere auch auf folgende Studien: De Jong et al. 1984; Evans 1990; Finke et al. 1974; Gjestland et al. 1990; Grandjean et al. 1974; Heintz, Meyer et al. 1980; Kastka 1984; Knall et al. 1983; Rabinowitz et al. 1987; Wehrli 1978. (c) Welches sind die Folgen chronischer Lärmbelastung fiir das Wohlbefinden der Betroffenen?

Ein Ziel der vorliegenden Studie besteht darin, an der Definition dessen zu arbeiten, was eine unerträgliche oder unzumutbare Belästigung bzw. Beeinträchtigung durch Geräuschimmissionen ist. Die Studie von Grandjean et al. (1974) ist mit derselben Absicht von einem Bedürfnisansatz ausgegangen. Das impliziert die Vorstellung, dass Geräuschimmissionen dann begrenzt werden müssen, wenn eine bestimmte Quantität solcher Immissionen von einem bestimmten Prozentsatz der Bevölkerung bezüglich ihrer Bedürfnisbefriedigung als unzumutbar eingeschätzt wird. Hierzu sind insbesondere kommunikative, rekreative und reflexive Bedürfnisse untersucht worden. Im Bereich der Sozial- und Präventivmedizin gibt es Versuche, die Auswirkungen nicht nur des lauten, sondern des chronischen Schalles zu untersuchen. Zur Diskussion stehen immer wieder Reaktionen des Kreislaufes, Verringerung der Schlaftiefe bis hin zu psychiatrischen Problemen durch Länn (Guski 1987). Aufgrund der Tatsache, dass solche Studien wenig erfolgreich waren, einen direkten Zusammenhang zwischen Geräuschimmissionen in Wohngebieten und gesundheitlicher Schädigung nachzuweisen, konzentrierten wir uns auf folgende Schwerpunkte: (a) Ausprägungen des Befindens; (b) Ausprägungen von vegetativen Reaktionen; (c) Ausprägungen der alltäglichen {Über-)Belastung. Ferner stellt sich die Frage nach der Kombinations- und Kumulationswirkung verschiedenartiger Geräuschquellen, denn das Schweizerische Umweltschutzgesetz verlangt im Artikel 8, die Beurteilung von Einwirkungen sollen sowohl einzeln als auch gesamthaft und nach ihrem Zusammenwirken erfolgen. Wie eine solche Beurteilung auszufiihren ist, hängt davon ab, wie von den betroffenen Personen die Lästigkeit verschiedener Geräuschquellen wahrgenommen wird und zwar bei gleichen und/oder verschiedenen Geräuschpegeln. Bernd Rohrmann (1984) folgend, haben wir diese Anforderungen in folgende Dimensionen aufgeteilt, welche durch die Fragen des Fragebogens abgedeckt werden (Tab. 2-3).

F. Die Erfassung der Wahrnehmung und Bewertung des Fluglänns

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Tabelle 2-3: Dimensionen des Fragebogens Die Hauptdimension... akustische Umgebung allg. ökologische Umgebung sozial-ökologische Situation soziale Situation Lärm-Einstellungen Personen-Merkmale

intendierte Handlungen Lärm-Wirkung Handlungskonsequenzen

wird im Fragebogen erfasst durch ... BesonderlIeit der Geräuschcharakteristik. Qualität der (nicht-akust.) Umgebung Wohnqualität und Infrastruktur des Quartiers räumlich-zeitliche Exponiertheit soziale Verank.erung persönliche Prioritäten und Werte Ansprüche an akustische Umweltqualität Bewertung von Lärm-Verursachungen Verletzbarlceit (VulnerabiIiW) Gesundheit und Wohlbefinden Lärmsensibilität Lärmverarbeitungs-Kompetenz Störbarlceit der ausgeübten Aktivitäten Wahrnehmung der Geräuschausprägung wahrgenommene Beeinträchtigung/Störung Schutzreaktionen Wegzugsabsichten

4. Das Stichprobenkonzept

Bei der Auswahl der Cluster ging es auch darum, akustische und soziologische Kriterien zu optimieren. So musste ein Cluster auch eine genügende Anzahl Befragungen ermöglichen. Pro Untercluster waren 12 Befragungen vorgesehen. Bei einem erwarteten Ausfall von 50% waren somit 24 Adressen notwendig. Die Auswahl der zu befragenden Personen erfolgte nach dem Prinzip der geschichteten Wahrscheinlichkeitsstichprobe (Drexl 1982; Stenger 1986). Die Schichtung einer Grundgesamtheit sowie die Aufteilung des Stichprobenumfanges auf einzelne Schichten erfolgen mit dem Ziel, durch Ausnutzung von verfügbaren Informationen über das Untersuchungsgebiet, die Genauigkeit von Schätzwerten zu erhöhen und gleichzeitig den Stichprobenumfang zu reduzieren. Aufgrund dieser Überlegungen wurde eine Stichprobe von 2'100 Personen angestrebt. Die Kriterien zur Bestimmung der Schichtstufen (1) bis (4) in Tab. 2-4 wurden bei der Auswahl der Cluster erläutert. Die letzten beiden Stufen sind folgendermassen definiert worden: Die acht Kategorien zur Berücksichtigung von Alter und Geschlecht sind das Produkt der vier Altersgruppen (Jahrgänge 1962-71, 1952-61, 1937-51, 1916-36) und der Auswahl von Männern und Frauen zu gleichen Anteilen. Diese Einteilung in soziale Kategorien wird verwendet, um Aspekte der sozialen Differenzierung kontrollieren zu können. Sowohl Männer und Frauen als auch Personen in unterschiedlichen Lebensab-

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Teil II: Methoden und ihre theoretische Begründung

schnitten stehen, soziologisch gesehen, je in einem anderen Bezug zum Wohnort. Tabelle 2-4: Die Schichten der Stichprobe SCHICHT

UNTERTEILUNG DER GRUNDGESAMTHEIT

(I)

Zone mit hoher bis tiefer Lärmbelastung durch den Flugverkehr der internationalen Flughäfen der Schweiz mit interkontinentalen Flügen [Leq > 48 dB(A)) Zonen

(2) Zürich-Kloten

Geneve-Cointrin

Anzahl Cluster entlang von Hauptverkehrsstrassen

(3)

Geneve = 22

Zürich = 36

Unterc1uster nach Strassen1ärmbelastung

(4)

3 (5)

Unterscheidung nach Alter und Geschlecht 8 Kategorien

(6)

zu befragende Personen Zürich = 1300

Geneve

= 800

In der Region Geneve sind weniger Personen befragt worden als in Zürich. Die Flughafenregion Geneve ist mit nur einer Piste ist - im Vergleich zu Zürich mit drei Pisten - im Hinblick auf die Variation von Geräuschkontexten weniger komplex. Nachdem die relevanten Häuser nach akustischen Gesichtspunkten ausgesucht worden sind, haben wir in einem nächsten Schritt mit den jeweiligen Gemeindebehörden Kontakt aufgenommen. Diese sind eingehend über das Projekt infonniert worden. Insbesondere hatten wir die Bitte, uns die Adressen der Wohnbevölkerung in den ausgewählten Quartieren zur Verfiigung zu stellen. Die Gemeinden haben sich in der Regel sehr interessiert gezeigt und uns - mit wenigen Ausnahmen - das Adressmaterial auch mit Eigenleistungen zusammengestellt. Die Interviewerinnen und Interviewer des Befragungsinstituts3l bekamen aufgrund unserer Aufbereitung der Adressen die genauen Angaben über die zu befragenden Personen, d.h. Name, Vorname, Strasse, Hausnummer und Tele31lliA-GfM in

Hergiswil.

G. Eine kritische Betrachtwlg der verwendeten Methodik

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fonnummer zugestellt. In unserer Studie handelt es sich wn eine Personenstichprobe, d.h. die endgültige Auswahl der zu befragenden Personen wurde nicht den Interviewerinnen und Interviewer überlassen, hingegen erhielten sie eine grössere Anzahl äquivalenter Adressen als sie verwerten mussten, wn mögliche Ausfälle kompensieren zu können. Dieses Auswahlprinzip erlaubt uns, zwischen den vorgängig ausgewählten akustischen Parametern und den Merkmalen der zu befragenden Personen einen genau definierten und kontrollierbaren Bezug herzustellen. Mit den Gemeinden, die uns die Adressen zur Verfügung gestellt hatten, und auch mit dem Befragungsinstitut sind Vereinbarungen betreffend den Datenschutz getroffen worden. Die Interviewerinnen und Interviewer sind in Zusammenarbeit mit dem Befragungsinstitut in je einer Instruktionssitzung in der deutschen und französischen Region sorgfältig auf die Feldstudie vorbereitet worden. Sie und auch die befragten Personen wussten lediglich, dass es sich wn eine Studie zum Thema "Umweltbelastung und Wohnqualität" handelt. Es war uns ein wichtiges Anliegen, dass der Fragebogen als standardisiertes "Drehbuch" fiir die Befragung der Personen betrachtet wurde. Zur Befragung stand ein Laptop zur Verfügung, d.h. wir verwendeten einen elektronischen Fragebogen. Zudem ist darauf geachtet worden, dass in den beiden Sprachregionen die Interviews in vergleichbarer Weise durchgefiihrt werden konnten. Das Interview wurde zum voraus mit den zu befragenden Personen telefonisch vereinbart, meistens haben die Interviewerinnen und Interviewer nochmals ein zweites, bestätigendes Ankündigungsschreiben verschickt. Das Interview dauerte etwa 30 Minuten. Schliesslich wurden in der Region Zürich 1301 und in der Region Geneve 751 Interviews realisiert.

G. Eine kritische Betrachtung der verwendeten Methodik Bei wissenschaftlichen Studien ist es üblich, dass die verwendete Methodik kritisch reflektiert wird. Die Leserinnen und Leser, welche den vorliegenden Bericht vor allem unter dem Gesichtspunkt der Umsetzung der Ergebnisse fiir den Lännschutz zur Hand nehmen, mögen diesen Abschnitt überspringen. Es geht hier also wn eine ausführliche, kritische Betrachtung der angewandten Methodik, wn davon eine Relativierung der gemachten Schlussfolgerungen vorschlagen zu können. Bevor wir mit diesen Ausfiihrungen beginnen, sei jedoch darauf hingewiesen, dass sich eine ganze Reihe von Fragen betreffend

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Teil 11: Methoden und ihre theoretische Begründung

der angewendeten Methodik nur empirisch beantworten lassen, was heisst, dass das abschliessende Urteil am Schluss, nach der Durchsicht der Forschungsergebnisse, erst gefällt werden kann. 1. Allgemeine Überlegungen zu den grundlegenden Annahmen: Vor- und Nachteile der verwendeten Methoden der Datenerhebung

Grundsätzlich wird in der vorliegenden Arbeit der Standpunkt vertreten, dass Soziologie, auch in der interdisziplinären Zusammenarbeit mit anderen Wissenschaften, überhaupt nur als empirische Soziologie möglich ist (König 1973). Wie König weiter festhält, genügt es für die Soziologie als empirischer Wissenschaft nicht, nur irgendwelche Phänomene zu beobachten, zu beschreiben und zu klassifizieren. Vielmehr benötigt die Soziologie ein Begiffsystem, nämlich Ordnungsgesichtspunkte und Kategorien, die nur schon darum nicht Gegenstand der Erfahrung sein können, weil sie aller Erfahrung vorausgesetzt werden müssen. In diesem Sinne sind Wohnqualität, Schal/belastung, Störwirkung, Wohlbefinden und Gesundheit solche Kategorien, wie sie in der vorliegenden Studie zur Anwendung gelangen. Wir beziehen uns auf Orientierungspunkte wie diese, weil wir von der Prämisse ausgehen, dass es vornehmlich die Aufgabe für die Soziologie ist, hier nicht neue Seiten der Geschehnisse zu entdecken, sondern die einzelnen Aspekte, die wir in einem bestimmten Sinne bereits kennen, in ihrem Zusammenspiel zu analysieren. Das unmittelbare Problem besteht nämlich darin, die Überfülle an Informationen über soziale Geschehnisse, die unser vorwissenschaftliches Wissen ausmachen, zu strukturieren (Lazarsfeld 1973:108). Für die empirischen Wissenschaften ergeben sich daraus besondere Probleme. Hypothesen, die mit solchen Begriffen formuliert werden, können nicht direkt mit der Realität konfrontiert werden. Es ist nur möglich, Aussagen über die Realität zu erhalten, um sich mit diesen auseinanderzusetzen (Kromrey 1990:42). Die Verknüpfung der Kategorien mit empirischen Sachverhalten erfolgt in den empirischen Wissenschaften aufgrund bestimmter Regeln. Das Ziel dieser Regeln ist, zu Entscheidungen zu gelangen, ob ein bestimmter empirischer Sachverhalt nun vorliegt oder nicht. Eine der ersten Aufgaben wird es sein, die gemäss der Fragestellung zu erfassenden Dimensionen der Wirklichkeit festzulegen und abzugrenzen. Wenn dies auf gedanklicher Ebene erfolgt ist, müssen geeignete beschreibende Kategorien definiert werden. Zetterberg (1973) bezeichnet diese Aufgabe als Dimensionsanalyse. Wesentlich ist, dass diese Definitionen und Präzisierungen noch unabhängig von der Methode der Datenerhebung zu verwirklichen sind. Diesbezüglich ist die Methode der Datenerhebung nur als Instrument zu betrachten, um deskriptive

G. Eine kritische Betrachtwlg der verwendeten Methodik

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Untersuchungen durchführen zu können. Nach Friedrichs (1973) sind Methoden erstens Mittel, um die Realität zu erfassen, die von Theorien geleitet werden. Zweitens fuhren Methoden zu Aussagen, die auf bestimmten Stichproben von Objekten, von Räumen und von Zeiten beruhen. In der vorliegenden Studie ist das Interview als Methode der Datenerhebung verwendet worden. Das Interview ist die am häufigsten verwendete Methode in der Soziologie. Entsprechend besteht eine grosse Literatur zur Reflexion der Vor- und Nachteile dieser Methode. (Cleary et al., 1981; Galtung 1968; Pollner und Adams 1994; Scheuch 1974). Die hier verwendeten Annahmen und Prämissen werden in Abb. 2-6 dargestellt.

Büro 0Hva 1995

Abbildung 2-6: Operationalisierung von Kategorien durch sprachlich ausgedrückte Selbsteinstufungen In der vorliegenden Studie versuchen wir, die von den Personen wahrgenommene Reaktion auf Geräuschimmissionen anhand einer sprachlich ausgedrückten Selbsteinstufung mit Hilfe vorgegebener Schemata zu erfassen (Oliva 1993). Selbstverständlich wird dadurch nicht die Störung schlechthin erfasst, sondern ein ganz spezifischer Aspekt davon, nämlich die wahrgenommene Störung. Jedoch ging es darum, eine Lösung fur das folgende Problem zu finden: Aus der potentiellen Menge der Dimensionen der Störungen sind diejenigen Dimensionen zu bestimmen, die einerseits zentral sind und andererseits geeignet sind, einen sprachlichen Ausdruck zu erhalten. Beim mündlichen Interview gelten als Voraussetzung die Bedingungen eines Gesprächs: Die verbalen Fähigkeiten der befragten Personen sowie auch ein weitgehend ähnliches Sprachspiel bei den Forschern, Interviewerinnen und

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Teil TI: Methoden Wld ihre theoretische BegrülldWlg

Interviewer. Die wichtigsten Fehlerquellen 32 liegen in der Frageformulierung, der Fragenanordnung, im Verhalten der Interviewerinnen und Interviewer und in den Ausfallen der Stichprobe. Was die Frageformulierung anbelangt, konnte auf eine grosse Erfahrung zurückgegriffen werden, die sich aus dem Umstand ergibt, dass in der Lärrnwirkungsforschung ein Quasi-Kanon von Fragen und ein relativ dichtes Interaktionsnetz von Forscherinnen und Forschern besteht. Schliesslich wurden die Fragen in Pre-Tests Prüfungen unterzogen, die der Situation der Befragung entsprechen. Die Fragenanordnung ist das Produkt einer Entwicklung rur sich. Die am Soziologischen Institut der Universität Zürich entwickelten Fragebogen über Lärrnwirkungen sind mit grossem Aufwand getestet worden (Grandjean et al., 1974; Heintz et al., 1980). Somit konnte auf die Ablaufstruktur dieser Fragebogen zurückgegriffen werden. Durch abschliessende Formulierungen und Überleitungen nach bestimmten Fragen wurde versucht, möglichen Übertragungen im Sinne des Halo-Effektes (Kriz 1981:65-68) vorzubeugen (vgl. auch Bungard und Lück 1974; Lück und Bungard 1978). Um das Verhalten der Interviewerinnen und Interviewer zu standardisieren wurden intensive Instruktionen durchgefiihrt, in denen auf die Erfahrungen mit den vorgängigen Pre-Tests zurückgegriffen werden konnte. Stichprobenmässig wurden Rückfragen bei den befragten Personen gemacht. Ferner wurden die Fragebogen mit Codes versehen, welche aufgrund von Ähnlichkeiten der Antworten Rückschlüsse auf Personenangaben zuliessen. Ebenso wurde die Verweigerungsquote bei den Interviewten analysiert. Die Ausfälle in der Stichprobe waren mit ca. 70% Rück/aufquote relativ gering. Sie sind auch nicht mit wesentlichen Verzerrungen verbunden. Die Auswertung hat gezeigt, dass die Vorgaben aufgrund des Forschungsdesigns des Quasi-Experimentes erreicht worden sind. 2. Spezifische Überlegungen zur Dimensionalisierung der abhängigen Variablen

Die in der kritischen Reflexion der eigenen Arbeit entscheidenden Fragen richten sich nach der Dimensionalisierung der abhängigen Variablen. Diese beziehen sich auf die eingangs erwähnten Kategorien Wohnqualität, Schal/belastung, Störwirkung, Wohlbefinden und Gesundheit. Im Art. 15 des Schweizerischen Umweltschutzgesetzes heisst es, dass die Immissionsgrenzwerte so festzulegen sind, dass Immissionen unterhalb dieser Werte die Bevölkerung in ihrem Wohlbefinden nicht erheblich stören. Im Zusammenhang mit der Frage nach der Fluglärrnwirkung diskutieren wir "Wohlbefinden" zunächst unter dem Gesichtspunkt der "Wohnqualität", 32 Die Fragen der Zuverlässigkeit, Gültigkeit Wld Repräsentativität werden im Zusammenhang mit der DatenauswertW1g aufgegriffen.

G. Eine kritische Betrachtung der verwendeten Methodik

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so wie sie traditionellerweise in der Lärmwirkungsforschung diskutiert worden ist (Berglund 1993; Gjestland et al. 1990). a) Zum Begriff der Wohnqualität Der Begriff der Wohnqualität enthält in unserem Ansatz die folgenden Dimensionen: (a) Ruhe, (b) Innen-Aussen-Differenz in der Geräuschbelastung der Wohnung, (c) Handlungsspielraum fiir Aktivitäten, die zum Komplex des "Wohnens" zählen, (cf) Ästhetische Konsistenz der Wohngegend, (e) körperliche Unversehrtheit bezüglich Einflussgrössen aus der Wohnumwelt. Bei der Bestimmung der Qualität des Wohnens haben wir uns vor allem auf jene Aspekte beschränkt, die dazu geeignet sind, die direkten Auswirkungen der Fluglärmbelastung zu bestimmen, d.h. diejenigen Dimensionen, die durch die Schallirnrnissionen im Prinzip beeinflussbar sind33 . Als geeignete Indikatoren betrachten wir jene Handlungen und Handlungsabsichten, die ganz zentral mit den Wohnbedürfnissen übereinstimmen. Andritzky und Wenz-Gablen (1987: 104-141) stellen fest, dass bei aller Verschiedenheit der Wohnforrnen doch eine Reihe relativ konstanter Grundbedürfnisse oder Erwartungen bestehen, die das Wohnen bestimmen. Als wesentliche Grundbedürfnisse des Wohnens halten sie fest: (a) Streben nach Sicherheit, Schutz und Geborgenheit, (b) Wunsch nach Beständigkeit und Vertrautheit, (c) Suche nach einern räumlichen Rahmen, der die Möglichkeit der Selbstverwirklichung bedeutet, (cf) Bedürfnis nach Kontakt und Kommunikation, (e) der Wunsch nach Selbstdarstellung (Demonstration des sozialen Status). In der Konstruktion des Fragebogens ging es darum, alle diese Aspekte als Kategorien aufzunehmen und sie zu operationalisieren. Dabei ist wiederum die Tradition der Lärmwirkungsforschung hilfreich, denn schon die Studien, die Ende der 1960er Jahre initiiert wurden, haben diese Aspekte weitgehend berücksichtigt (Fields 1992, Guski 1987, Kryter 1985, Rabinowitz 1989, Schultz 1978). Speziell verwiesen sei auf die neuere Studie von Gjestland et al. (1990), die in der Umgebung des Flughafens Oslo-Fornebu ausgefiihrt worden ist. Diese Studie kann als eigentliche Bezugsstudie betrachtet werden, weil sie sehr ähnlich aufgebaut ist, wie die unserige3 4. In dieser Studie wurden ver33 Im Sinne der Überprüfung von Hypothesen werden Dimensionen gesucht, die im Prinzip beeinflussbar sind, aber das Resultat der Beantwortung nicht von vornherein bekannt ist. Es muss die gleiche Wahrscheinlichkeit vorgegeben werden, dass die Hypothese sowohl bestätigt als auch verworfen werden kann. 34 Die Stichprobe beinhaltet 15 einzelne Wohngebiete, in denen nach dem Prinzip der Randornisierung eine Zufallsstichprobe gezogen worden ist. Diese Studienstichprobe ist nicht repräsentativ filr die gesamte Population in diesem Einflussgebiet des Flughafens, aber filr die typische Be1astungssituation der Wohnbevölkerung.

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Teil II: Methoden und ihre theoretische Begründung

schiedentliche Tests über die Stabilität des Fragebogens durchgeführt, die wesentliche Erkenntnisse fiir die Planung unserer Studie erbrachten35 . Da sich die verwendeten Items bewährt haben, stützten wir uns in unserer Studie weitgehend auf diese Befunde36 . Wo liegen nun die Grenzen des hier gewählten Ansatzes zur Operationalisierung der Kategorie Wohnqualität? Ganz im Sinne des Leitsatzes von Oecam37 wurde eine möglichst spezifische und eingegrenzte Konzeptualisierung von Wohnqualität gesucht, welche hauptsächlich den Bezug zu direkten Immission suchte, gewählt. Diese gezielte Befragung erlaubt kein weiteres Umfeld der Kategorie Wohnqualität, ausser es seien diesbezüglich bestimmte Forschungsfragen offen, die weiter bearbeitet werden sollen. Von dieser Möglichkeit wurde jedoch kein Gebrauch gemacht. Aus verschiedenen Gründen - finanzieller Aufwand der Studie, Einfluss der Dauer Interviews auf die Datenqualität, andere zu be35 Um die Stabilität der Ergebnisse zu untersuchen, sind die ausgewählten Personen zu zwei relativ kurz aufeinanderfolgenden Zeitpunkten befragt worden. Als Techniken wurde die sogenannte 'Jackknife Replication' angewandt. Der Themenbereich, welcher von der Studie erfasst wird, ist in einen Zeitaspekt von zwei Perioden aufgeteilt. Nämlich in den Monat April, welcher einen tieferen Lärmpegel als der Jahresdurchschnitt aufweist. Und in den Monat September, der im Gegensatz zum Monat April generell einen höheren Lärmpegel aufweist als der Jahresdurchschnitt. Durch diese zwei etablierten Perioden konnte man ein Vergleichsmoment einführen: Die Zeit vor und die Zeit nach der Studie. In der Studie wurden durchaus verschiedene Flughafengebiete in Betracht gezogen. Etwa nicht nur diejenige, die unter einer Start- bzw. Landezone liegen. 36 Da Menschen sich nicht einfach kategorisieren lassen in "gestört" und "ungestört", führte man 16 Variablen mit unterschiedlichen Facetten der Störwirkung ein, die somit ein besseres Bild über die Art der Gestörtheit liefern. Die ersten drei Faktoren (Tab. II, S.22), sie weisen einen Eigenwert von> I auf, erklärten 60,6% der Faktorenvarianz. Alle Variablen zeigten eine Korrelation von mindestens r=.35 in der Korrelationsmatrix. Interessant dabei ist, dass das grösste Gewicht bei der Hauptkomponente "Gestörtheit" (annoyance) liegt (sie erklärt 43,6% der Hauptkomponentenvarianz) und nicht etwa bei der spezifischen Störung, wie sie sich in Verhaltensformen oder Schlafstörungen zeigen würden. Der Störungsindex stellt hier einen Kompromiss dar zwischen leicht interpretierbaren Indikatoren und Indikatoren, die näher beim Lärmpegel liegen. Was die Vorhersage der Störwirkung anbelangt - so zeigt die Analyse - ist der prozentuale Anteil der Personen mit stark wahrgenommener Fluglännstörung (high-annoyance) ein schwacher Indikator, dessen Produktmomentkorrelation mit der Fluglännbelastung beträgt: r=.27. Die Korrelation fi1r den Störungsindex hingegen beträgt r=.37. Diese Unterschiede der KorrelationskoeffIZienten besagen vor allem, dass die Erklärung des Anteils mit wahrgenommener starker Störung pro Zone mit gleicher Lärmbelastung schwieriger vorhergesagt werden kann als die mittlere Störung. 37 Sein Leitsatz hiess: Man soll nicht mehr Wesenheiten annehmen, als unbedingt nötig ist (vgl. Hahn 1988:21-37; Rombach 1965:78-93).

G. Eine kritische Betrachtung der verwendeten Methodik

arbeitende Forschungsfragen etc. Fragen verzichtet werden38 .

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musste hier auf die Bearbeitung solcher

b) Zum Begriff des Wohlbefindens und der Gesundheit Der Aspekt des Wohlbefindens und der Gesundheit wird in der Lännwirkungsforschung insbesondere unter zwei verschiedenen Gesichtspunkten analysiert. Der eine bezieht sich auf die Frage: Welche Effekte hat die Länneinwirkung auf den Menschen? Unter dem zweiten Gesichtspunkt wird die Frage gestellt: Mit welchen gesundheitlichen Risiken muss eine Person rechnen, wenn sie in einem bestimmten Ausmass eine Länneinwirkung erfahrt? Die Frage nach den Efftkten der Lärmeinwirkung auf den Menschen ist sehr allgemeiner Art. Diesbezüglich werden heute Probleme des Gehörverlusts39 , der sensorischen Effekte40 , der Wahrnehmung von Geräuschen, der Interferenz mit der Kommunikation, der Schlafstörung, der psycho-physiologischen Konsequenzen, den Effekten auf die seelische Gesundheit, der zufriedenstellenden Ausführung einer geforderten Arbeitsleistung und der Wohnqualität untersucht. Unter dem Gesichtspunkt der Risiken von Lännimmissionen werden nicht nur negative physiologische und biochemische Konsequenzen der Geräuschexposition untersucht, sondern auch psychische, soziale und wirtschaftliche. Diesbezüglich werden bestimmte relevante Aspekte des menschlichen Verhaltensspektrums untersucht, wie Leistungsfahigkeit am Arbeitsplatz und die sozialen Interaktionen, die Aktivitäten im Zusammenhang mit dem Wohnen, wie Kommunikation, Ruhe, Erholung und Schlaf. Das globale Kriterium in diesen Arbeiten ist der Gesundheitsbegriff der WHO. Die kritischen Fragen beziehen sich auf die zeitliche Dauer der Geräuschimmissionen. Das Ziel dieses Forschungszweiges läuft darauf hinaus, Schwellenwerte bestimmen zu können, so dass Grenzwerte fiir die Geräuschimmissionen festgelegt werden können. Wobei es wesentlich ist, dass nicht ein eindimensionaler Bergiff der Gesundheit angewendet wird. Einheitlich wäre ein Gesundheitsbegriff dann, wenn behauptet würde, eine gesundheitliche Beeinträchtigung bestünde dann, wenn entweder das körperliche, das psychische oder das soziale Befinden beeinträchtigt würde. Das sind drei Dimensionen, die getrennt behandelt werden müssen, weil sie sich nicht implizieren, sondern 38 Die ursprüngliche Version des Fragebogens musste zur Optimienmg der Situation der Datenerhebung nach dem ersten Pretest um einen Viertel ge1cünt werden. 39 Der Gehörverlust zeigt vor allem seine Bedeutung in den Schwierigkeiten, Gespräche verstehen zu können. Zugängliche Ergebnisse zeigen, dass ein wachsendes Risiko dann besteht, wenn Geräuschimpulse Spitzenpege1 von 130 bis 150 dB erreichen. (Berglund 1993). 40 Die Gehörschwierigkeiten aufgrund der Geräuschexposition beginnen zwischen 80 und 100 dB(A). Beim Normalohr liegen diese Schwellen bei 110 bis 130 dB(A). 5 Oliv.

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Teil II: Methoden und ihre theoretische Begründung

von der WHO additiv eingeführt werden, um ein in sich differenziertes Syndrom zu bezeichnen. Hier in der vorliegenden Studie geht es um die Evaluation von Aussenlännimmissionen des Flug- und Strassenverkehrs, nämlich die Effekte der Länneinwirkungen unter dem Aspekt der Wohnqualität und die Risiken unter dem Gesichtspunkt des Wohlbefindens, ohne die physiologischen und biochemischen Konsequenzen, zu untersuchen. Im Rahmen unseres theoretischen Ansatzes haben wir die Folgen von strukturellen Spannungen mit dem Begriff Anomie definiert. Damit haben wir auch den konzeptuellen Rahmen für die Definition von Wohlbefinden und Gesundheit abgesteckt. Weil wir uns auf das Phänomen Anomie beschränken, sollen verschiedene Dimensionen der Beeinträchtigung der Gesundheit nicht berücksichtigt werden, nämlich: Biochemische Parameter beschreiben die Merkmalsbereiche Katecholamine41 , adrenocorticotrophes Hormon (ACTII)42 und Corticoide43 . Die physiologischen Parameter beschreiben die Merkmalsbereiche kardiovaskuläre Aktivität44 sowie elektrodermale Aktivität4.5. Was den Aspekt des Wohlbefindens und der Gesundheit anbelangt, haben wir in unserer Studie die Dimensionen "negatives" emotionales Befinden und Ineffizienz der eigenen Organisierung im Kontext der Wohnsituation untersucht. Die erstgenannte Dimension ist unter Berücksichtigung der empirischen Lännwirkungsforschung anhand einer grösseren Anzahl von Merkmalen erfasst worden46 . Der zweitgenannten Dimension kommt im Kontext der Wohnsituation eine weniger grosse Bedeutung zu. Deshalb wurde sie nur unter dem Gesichtspunkt der Ablenkung von der Arbeit erfragt. Theoretisch gesehen sind diese Dimensionen von wichtiger Bedeutung. Das Modell zur Illustration der Operationalisierung von Kategorien durch sprachlich ausgedrückte Selbsteinstufungen, das weiter vorne eingeführt worden ist, soll dies veranschaulichen. Es besteht gegenwärtig kein Modell, das mit Bezug auf den Fluglänn die Korrelationen zwischen den Parametern des psychischen Befindens, der biochemischen und physiologischen Eigenschaften sowie der 41 Adrenalin oder Noradrenalin im Blutplasma bzw. im Urin. 42 ACTII im Blutplasma. 43 Cortisol-Spiegel im Blutplasma.

44 Akzeleration der Herzrate (lnterbetaintervalle), systolischer und diastolischer Blutdruck, Varianz-Amplitude und -Frequenz. 4.5 Hautleitfliliigkeitsniveau (SCL), Amplitude und Frequenz der nichtspezifischen Hautleittahigkeitsreaktion (SCR) 46 Zufriedenheit mit Aspekten der Wohngegend und mit dem Gesundheitszustand. Direkte Beschreibung des Wohlbefmdens und des Gesundheitszustandes. Beschreibung des Gesundheitsverhaltens. Ebenso wurde die Wahrnehmung von Stressoren ftIr die Gesundheit erfragt.

G. Eine kritische Betrachtung der verwendeten Methodik

67

Leistungen und Auftretenshäufigkeiten spezifischer Krankheiten nachweist. Als Arbeitshypothese kann jedoch postuliert werden, dass den psychischen Befindensparametern eine wichtige Bedeutung zukommt: Ein Aspekt der Erheblichkeit von Störungen durch Stressoren bemisst sich an der Fähigkeit, die Störungen sprachlich beschreiben zu können47 . Wie Greif (1991:19) zurecht festhält, sind die Prognosen nicht einfach deterministisch, sondern statistisch zu betrachten. Ein Individuum reagiert eher subjektiv gereizt, ein anderes ängstlich, ähnliche Variationen lassen sich auch bei den biochemischen und physiologischen Reaktionen vennuten. Er stellt jedoch fest, dass in Abhängigkeit von Stressoren überzufaIlig eine oder mehrere Auswirkungen aus den angegebenen Merkrnalsbereichen auftreten werden und dass erfahrungsgemäss arn häufigsten negative Veränderungen der subjektiven Befindlichkeitszustände zu erwarten sind. Insofern haben wird in unserer Studie sensible Indikatoren zur Erfassung einer wesentlichen Dimension des Phänomens des Wohlbefindens und der Gesundheit angewendet. 3. Die verwendeten statistischen Methoden

In diesem Abschnitt soll die kritische Wertung der angewandten Methoden der statistischen Auswertung zur Sprache kommen. Wenn die Diskussion auf diesen Punkt kommt, stellt sich eigentlich die Frage: Weiss der Forscher und die Forscherin, was sie tun, wenn sie "Daten auswerten"? Natürlich ist hier nicht der Ort dazu, wie Cicourel (1974) es einmal gefordert hatte, dass, wer sich fiir die Grundlagen der sozialwissenschaftlichen Forschung interessiert, auf die kontinuierliche PIiifung und NachpIiifung ihrer Hauptprinzipien drängen sollte. Vielmehr soll hier fiir die aussenstehenden Personen, denen diese Hauptprinzipien wenig bekannt sind oder sie nicht übersichtlich vor sich haben, eine Klärung geboten werden. Wir stützen uns jedoch auf Cicourels Annahme, dass methodologische Entscheidungen in der Sozialforschung immer ihre theoretischen und substantiellen Entsprechungen haben (1974: 11). Eine geforderte kritische Wertung der angewandten Methoden bedarf deshalb einer Theorie der Instrumentation und eine Theorie der Daten. Solche Theorien können an dieser Stelle nicht behandelt werden. Zudem hat sich der traditionelle Begründungsritualismus, wie Lenk (1986) dies bezeichnet, als problematisches Leitmotiv fiir die 47 Auch in der Stressforschung werden Parameter des psychischen Befmdens in der Regel mit Hilfe von Befragungen erfasst. (Greif 1991; Holling 1989). In der Soziologie wurde insbesondere von Komhauser (1965) hierfur ein Grundstein gelegt. Thoits (1994) belegt in ihrer Studie die Tatsache, dass sich Personen ihren psychischen Zustand bewusst darstellen können, so dass postuliert werden kann, dass durch die Befragung der gesundheitlichen Aspekte, so wie sie hier aufgegriffen worden sind, gut erfasst werden können.

68

Teil II: Methoden und ihre theoretische Begründung

Wissenschaftstheorie erwiesen, weil, wie Aristoteies schon wusste, man nicht bis ins Unendliche zurückgehen soll, wenn man zu den ersten Grundlagen zu gelangen sucht. Wenn hier geprüft werden soll, inwiefern die verwendeten Methoden angemessen sind, dann müssen sie dahingehend untersucht werden, ob sie zwei Prinzipien genügen: (1) dem Prinzip des Vergleichs zwischen Untersuchungseinheiten und (2) dem Prinzip des Vergleichs zwischen theoretisch erwarteten Datenwerten und tatsächlich vorhandenen Datenwerten48 . Die modernen vergleichenden Studien in den Sozialwissenschaften sind charakterisiert durch ihre grossen Datenmengen, die es zu verarbeiten gilt, und demzufolge durch ihre "dutzenden" von Forschungstechniken und Auswertungsverfahren. Demgegenüber haben sich die methodologischen Fragestellungen viel weniger stark gewandelt. Jedenfalls entspricht die vergleichende Forschung in den Sozialwissenschaften der experimentellen Methode49 . Aufgrund der Hypothesenarten, die überprüft werden sollen, lassen sich die statistischen Verfahren in zwei Gruppen einteilen. Die einen Verfahren dienen dazu, Unterschiedshypothesen und die anderen Zusammenhangshypothesen zu überprüfen (Bortz 1979). Im erstgenannten Fall werden Unterschiede zwischen Gruppen von Beobachtungseinheiten im Hinblick auf bestimmte Kriterien untersucht. Im zweitgenannten Fall geht es darum, das Ausmass von Zusammenhängen zwischen Variablen zu bestimmen. Die Unterschiede zwischen diesen beiden Hypothesenarten dürfen jedoch nicht als ausschliesslich betrachtet werden, denn sie lassen sich ineinander überführen 50 . In der vorliegenden Studie haben wir beide Arten von Hypothesen einschliesslich ihrer Kombination angewendet. Das hauptsächliche statistische Modell ist hier dasjenige der Regressionsanalyse. Darin werden die Beziehungen zwischen einer Variablen und einem anderen Satz von Variablen analysiert. Der Zusammenhang wird in Form einer Gleichung ausgedrückt, in der eine abhängige Variable (oder Kriteriumsvariable) als Funktion von Regresso48 Bereits Durkheim (1984) hat 1895 in seinen Regeln eine methodologische Voraussetzung für die empirische Soziologie geschaffen. Diese Zweiteilung entspricht auch den neueren Diskussionen in der Methodologie, wo es darum geht, die Probleme des Schliessens in eine Komponente der Identifikation der möglichen Schlüsse, die aufgrund einer Untersuchungsanordnung gezogen werden können, und in eine Kompnente der statistischen Verfahren zu unterteilen. Manski (1993) gibt einen Überblick über die erstgenannte Komponente. 49 Smelser (1976) gibt eine ausfilhrliche Darstellung dieses Sachverhaltes. Blalock (1969) zeigt diesbezilglich die Regeln der Theoriebildung. 50 So lassen sich die varianzanalytischen Methoden (Unterschiedshypothesen) zu einem grossen Teil auf regressionsanalytische Methoden (Zusammenhangshypothesen) zurückfilhren (Bortz 1979).

G. Eine kritische Betrachtung der verwendeten Methodik

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ren (unabhängige Variablen, Prädiktoren, erklärende Variablen, Faktoren) und Parametern vorhergesagt wird. Die Parameter werden durch bestimmte, verfahrensspezifische Optimierungsvorgängen geschätzt. Im folgenden Beispiel wird die Gleichung für die ite Beobachtungseinheit dargestellt: Yi = ßO + ßlxi + Ei Darin bezeichnet Yi die abhängige Variable, xi ist eine unabhängige Variable, ßO und ß 1 sind unbekannte Parameter, die es zu schätzen gilt, Md Ei beschreibt den stochastischen Fehler in der Schätzung, d.h. der Anteil in der Variation der abhängigen Variable, der durch die unabhängige Variable nicht erklärt werden kann. Das statistische Modell der Regressionsanalyse, das auf der Gauss'schen Methode der Kleinsten Quadrate beruht (Spiegel 1990), kann dann verwendet werden, wenn es darum geht, bestimmte Ausprägungen bezüglich eines bestimmten Kriteriums vorherzusagen (Hummell 1986:9-76; Bortz 1979; Urban 1982; Achen 1982; Gollnick und ThieI1980). Einerseits verwenden wir dieses Regressionsmodell, indem wir es varianzanalytisch interpretieren und andererseits verwenden wir es, um die Bedeutung verschiedener unabhängiger Variablen zu untersuchen. Zuerst wollen wir die Art und Weise erläutern, wie wir das Regressionsmodell im varianzanalytischen Sinne verwendet haben. Eines der Anwendungsgebiete des Regressionsmodells besteht darin, die Zusammenhänge zwischen der Fluglärmbelastung (unabhängige Variable) und dem prozentualen Anteil an Personen, die eine starke Störung durch Fluglärm wahrnehmen (abhängige Variable), darzustellen. Zudem ist es unsere Absicht, solche Zusammenhänge möglichst anschaulich vermitteln zu können. Die Methode der graphischen Darstellung ist für den schnellen Leser bzw. die schnelle Leserin ein angemessenes Mittel zur Informationsvermittlung. So gilt es, die Frage zu lösen, wie die Zusammenhänge in einem Säulendiagramm statistisch beschrieben werden können. Die in Abb. 2-7 dargestellten Angaben in Prozent der Stufen der Fluglärmbelastung lassen sich in Form einer 0-1 Codierung (Dichotomisierung) darstellen 51 . Auf dieser Basis könnte jetzt, eine univariate Varianzanalyse gerechnet werden (Scheffe 1959; Hope 1975; Bortz 1979). Dabei werden die Belastungsstufen dazu verwendet, die Personen in unterschiedliche Kategorien einzuteilen. Die abhängige Variable entspricht der genannten Codierung. Der Vorteil dieser Methode besteht darin, dass auf dieser Basis die Signifikanz in den Unterschieden zwischen den Belastungsstufen berechnet werden können, es fehlen jedoch die gesuchten Parameter im Sinne des Regressionsmodells. Die Lö51 Personen, fUr die es zutrifft, dass sie eine starke Störung dw-ch Fluglärm wahrnehmen, erhielten den Wert 1, die anderen den Wert o.

70

Teil II: Methoden und ihre theoretische Begründung

sung hierfür liegt darin, ein Regressionsmodell anzuwenden, um die entsprechenden Parameter schätzen zu können. Das Problem besteht einzig darin, dass unsere abhängige Variable nicht intervall-skaliert ist, was in der traditionellen Theorie der Regressionsanalyse als Voraussetzung gilt (Gollnick und Thiel 1980). Doch mit dieser Fragestellung wollen wir uns anschliessend befassen.

Starke Störung [in Prozent] 45r-----~-----,------._----_r------r_----,_----_,

40r-----~-----1------+_----_+------r_----1__ 35r------r----~------+_----_+------r_----~

30r-----1------+-----1------r25r-----~-----1------+_----_+~:::::::::: r_~ 20r------r----~------+_-----+-

::::::':'~4-

15r-----~-----1------+_ 10r------r----~-

5r-----~~~,,-

o--------~~--~~--~~--~~--~~--56 59 62 65 50 53 Fluglärmbelastung in Leq [dB(A)]

68

Büro Oli...a 8'-076

Abbildung 2-7: Anteil der Personen, die in der Wohnung eine starke Störung der Wohnqualität durch Fluglännimmissionen wahrnehmen (Skalometer-Werte 8 bis 10), nach Fluglärmbelastung in Leq [dB(A)]

Wir wollen nochmals zu jener Aussage zurückkehren, die festgehalten hat, dass die Varianzanalyse ein Spezialfall der Regressionsanalyse ist52 . Die univariate Varianzanalyse und die lineare Regressionsanalyse führen zu voll52 Wie Urban (1982:236) festhält, läuft die Logik der Varianzanalyse darauf hinaus, jedem Faktor einen Teil der Gesamtvariation in der Häufigkeit der unabhängigen Variablen zuzuschreiben. Dasselbe versucht auch die Regressionsanalyse. Auch diese versucht diejenigen Faktoren, hier spricht man von unabhängigen Variablen, zu bestimmen, welche die Variation in der abhängigen Variablen verursachen. Sie differenziert die Gesamtvariation in denjenigen Anteil, der durch die Regressionsgerade oder Regressionsfläche erklärt werden kann und denjenigen Anteil, der nicht erklärt werden kann. Der Hauptunterschied zwischen beiden Verfahren besteht darin, dass die Regressionsanalyse numerische Werte fUr den Einfluß eines jeden Faktors auf die Gesamtvariation der abhängigen Variablen ennittelt, während die Varianzanalyse allein die Varianzaufteilung vornimmt.

G. Eine kritische Betrachtung der vexwendeten Methodik

71

kommen identischen Ergebnissen, wenn dichotomisierte abhängige Variablen verwendet werden (Urban 1982:237-239). Somit können wir die univariate Varianzanalyse von dichotomisierten abhängigen Variablen dazu verwenden, um die in der Abb. 2-7 dargestellten Prozentwerten auf die Signifikanz der Unterschiede hin zu prüfen. Die Regressionsanalyse hingegen kann dafür verwendet werden, um die unbekannten Parameter ßO und ß1 zu schätzen. Jetzt bleibt noch die Frage offen, inwiefern dichotomisierte abhängige Variablen verwendet werden dürfen. Es gibt eine lange Kontroverse betreffend der Anwendung von statistischen Modellen, deren Voraussetzung intervallskalierte Variablen sind, jedoch auf ordinal-skalierte Variablen angewendet werden. In der Soziologie hat sich diese Kontroverse auf das Problem der Verwendung von multivariaten Methoden, die ordinal-skalierte Variablen verwenden,konzentriert. Die einen Argumente tendieren dahin, statistische Masse für ordinal-skalierte Variablen53 seien gleich zu verwenden, wie Pearson's Produkt-Moment Korrelationskoeffizient r. Diesen Argumenten entsprechend werden Korrelationskoeffizienten für ordinal-skalierte Variablen verwendet, um multiple Regressionsberechnungen auszuführen (Hawkes 1971; Smith 1974). Es gibt auch Vorschläge, ordinal-skalierte Variablen so zu behandeln, als wären es intervall-skalierte Variablen. Labovitz (1967; 1970) hat hierzu wichtige Beiträge verfasst. Entsprechend seinem Ansatz wird angenommen, dass die ordinal gemessene Variable auf einer ihr zugrundeliegenden Variable basiert, deren Intervallstruktur unbekannt ist. Die Korrelation zwischen dieser zugrundeliegenden Skala und der tatsächlich gemessenen Skala dürfte mit grosser Wahrscheinlichkeit sehr hoch sein, im Falle der dichotomisierten Ordinalskala beträgt die Korrelation r = 1.0 (O'Brien 1979). Die Entscheidung für eine Analyse auf der Basis von statistischen Modellen, welchen die Methoden der Regressions- und der Varianzanalyse zugrunde liegen, ruft implizit oder explizit auch die Frage hervor, welche Gründe für diese Wahl und nicht für die Wahl von Modellen gesprochen haben, die kategoriale Daten analysieren54 . Die Entscheidung für die eine oder die andere Richtung setzt eine Theorie der Daten voraus und innerhalb dieser, eine Theorie der Variablen (Galtung 1967). Galtung definiert das Messen als eine Abbildung von Werten auf einen Satz von Zahlen. Ein solcher Satz von Zahlen lässt sich durch seine spezifische mathematische Struktur beschreiben, nämlich dadurch, wieviele Operationen un53 Zum Beispiel Kendall's Tau-b. (Goodman und Kruskal 1979). 54 Logit- und Probit-Modelle sind die beiden wichtigsten binären Regressionsmo-

delle. Das am häufigsten vexwendete Logit-Modell wurde von Berkson (1944) eingefUhrt. Wesentlich älter ist das Probit-Modell, das bereits in Arbeiten von Fechner (1860) vorkommt. Die Grundlagen filr die Analyse qualitativer Daten in Form multipler Kontingenztabellen gehen auf eine Serie von Artikeln von Goodman (vgl. z.B. 1972) zurück.

72

Teil I1: Methoden Wld ihre theoretische BegrilndWlg

eingeschränkt innerhalb dieses Satzes ausgeführt werden können. Die einfachste Operation ist die Feststellung der Gleichheit bzw. der Ungleichheit zweier oder mehrerer Zahlen. Derartige Zahlenzuordnungen werden als Messung auf einer Nominalskala (oder auch Kategorialskala) bezeichnet. Nominale Messungen fUhren zu einer Häufigkeitsverteilung, die darüber Auskunft gibt, wie sich die Beobachtungseinheiten über die Kategorien der Nominalskala verteilen (Bortz 1979). Wenn es nun darum geht, Koeffizienten zu definieren, muss davon ausgegangen werden, dass sich alle auf den Vergleich von Häufigkeitsverteilungen beziehen müssen. Insbesondere ist es die Aufgabe dieser Koeffizienten, die vorgefundene Häufigkeitsverteilung mit einer solchen zu vergleichen, welche mit der Unabhängigkeit zwischen Variablen korrespondiert. Das übliche Vorgehen bei der Untersuchung von Zusammenhängen zwisehen nominalskalierten Variablen ist das der Tabellenanalyse. Nun kann man sich aber auch die Frage der Bedeutung von Drittvariablen stellen. Log-lineare Modelle bieten die Möglichkeit, solche Fragestellungen analog zur multiplen Regressions- bzw. mehrfaktoriellen Varianzanalyse zu untersuchen (Langeheine 1980; 1986). Die Reduktion von Daten auf dieses Skalenniveau bedeutet jedoch ein Infonnationsverlust. Oder anders ausgedrückt, die Bestimmung des angemessenen Skalenniveaus setzt eine Beurteilung der Verteilungsstrukturen voraus (Sodeur 1974). In unserem Falle drängte es sich nicht auf, die Skalen auf dem tiefsten Skalenniveau zu spezifizieren. Deshalb entscheiden wir uns fiir die Verfahren der nichtkategorialen Regressions- und Varianzanalyse.

Teil ID: Die Definition der "Störung durch Fluglärm" A. Wahrgenommene Störung durch Fluglärm Das im vorangehenden Teil 11 eingeführte Konzept der strukturellen Spannung versucht das Ausmass der objektiv - d.h. unabhängig von der Position der Wahrnehmung - bestehenden Spannung zu bestimmen. Es dient dazu, die Situation eines Wohnstandortes zu beschreiben, indem nicht einfach nur auf eine akustische "Belastung" verwiesen wird, sondern auch der Umstand erfasst wird, wieso Personen darauf reagieren. Hierzu eignet sich das Konzept der "Spannung". Eine solche Spannung bezeichnen wir als die Differenz zwischen dem durchschnittlichen Schallbelastungsniveau an einem bestimmten Ort, hervorgerufen durch eine spezifische Geräuschquelle (Realität), und dem Schallniveau, das aus der Position der Bewohnerinnen und Bewohner aufgrund ihrer Anspruche erwartet wird (Ideal oder Modell). Für den Zweck des vorliegenden Berichtes verwenden wir nur diese Variante der strukturellen Spannung, die als Rangspannung bezeichnet werden soll. Es handelt sich in diesem Sinne um eine Situation der relativen Deprivation. Die grundlegende Hypothese lautet, dass diese Art der strukturellen Spannung eine anomische Spannung erzeugt, nämlich, treten solche Differenzen regelmässig auf, so fühlen sich die Menschen trotz Gesetz verlassen und enttäuscht. Sie vermissen Regeln und Wege, welche ihnen zum erwarteten und als berechtigt erachteten Schutz vor der Ruhestörung verhelfen würden. Andere Formen der Spannung ergeben sich aus der Differenz zwischen persönlichen Investitionen und der entsprechenden Belohnung: Über gute Wohnqualität zu verfügen, ist ein hoch geschätzter Wert, der gesamtgesellschaftlich legitimiert ist. Erreicht eine Person ihr Ziel, in einer solchen Situation wohnen zu können, nimmt sie eine Übereinstimmung mit ihren Bestrebungen wahr, die hier als Belohnung bezeichnet wird. "Ruhe" stellt dabei im allgemeinen einen sehr hohen Wohnwert dar und gilt als Spielraum für geschätzte und alltägliche Tätigkeiten. Je zentraler für die Person der Wert Ruhe ist, umso mehr ist sie bereit, z.B. über den Mietpreis oder die Länge des Arbeitsweges, Kosten aufzuwenden, also Investitionen zu tätigen. Auch ist sie bereit, entsprechende emotionale Investitionen zu tätigen, z.B. über freundschaftliche Beziehungen in der Nachbarschaft, oder sie sorgt vor, damit die

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Teil III: Die DefInition der "Störung durch Fluglärm"

Ruhe nicht gestört wird. Wird die erwartete Ruhe dennoch gestört, dann wehrt sie sich, weil ihre Investitionen nicht mit der erwarteten Belohnung übereinstimmen. Genau im gleichen Sinne kann eine Person die Investitionen, die das Kollektiv getätigt hat, die Kommune oder der Staat, mit dem vorgefundenen Ausmass an Belohnung vergleichen. Als Indikator des hier zur Diskussion stehenden Niveaus der Rangspannung werden wir das physikalische Mass der Lännbelastung verwenden, so wie es im Teil 11 eingeführt worden ist. Insbesondere verwenden wir den energieäquivalenten Dauerschallpegel Leq in dB(A) und den Noise and Number Index NNl. Im vorliegenden Teil III soll nun die Reaktion der Personen auf die strukturelle Spannung konzeptualisiert werden. Als allgemeinste Aussage postulieren wir, dass die Spannung eine bestimmte Reaktionsdisposition induziert. An dieser Stelle interessiert uns das Ausmass, in welchem diese strukturelle Spannung wahrgenommen wird. Hierfiir verwenden wir den Begriff der anomischen SpannungI. Damit verbindet sich die Vorstellung, dass Personen die Qualität ihrer Wohnumgebung vor dem Hintergrund eines Bewertungsmassstabes beurteilen. Wie dieser Bewertungsmassstab zustande kommt, ist nicht Thema der vorliegenden Studie. Hier interessiert lediglich das Produkt dieses Bewertungsprozesses, nämlich das Ausmass mit dem eine unerwünschte Differenz zwischen der aktuellen Situation und der Bezugsgrösse, hier die Abwesenheit einer Störung, besteht2 . Diese Differenz wurde anband eines Skalometers erfragt. Dieses Messinstrument wurde den befragten Personen als llstufige Skala vorgelegt, wobei das obere und das untere Ende inhaltlich definiert wurde: Nehmen wir an, dies wäre ein Thermometer, mit dem man messen kann, wie stark Sie durch den Lärm< des Strassenverkehrs : von BausteJ/en : aus der Nachbarschaft: des Flugverkehrs : von Schulhäusern : des Eisenbahnverkehrs : von Industrie, Gewerbe und Landwirtschaft: eines Schiessplatzes : von Freizeitveranstaltungen> gestärt werden. Die Zahl J0 bedeutet, dass Sie durch Lärm unerträglich gestärt werden; die Zahl 0 bedeutet, dass Sie überhaupt kein bisschen gestärt werden. Diese "Thennometerfrage" verhilft zu einer quasi-metrischen Skala (Galtung 1967: 97; Kirschhofer-Bozenhardt und Kaplitza 1975:117). Aufgrund dieser Skala sind wir in zwei Richtungen der Analyse offen: (1) Es können Mittelwerte des Störungsgrades oder (2) prozentuale Anteile eines bestimmten Störungsgrades für bestimmte Subgruppen miteinander verglichen 1 Darunter wird eine Situation im Alltag verstanden, die einer Person bezüglich einer Erwartung als ungeregelter Zustand begegnet. 2 Diese Konzeption der Bezugsgrösse bedeutet, dass nicht von der Vorstellung einer "absoluten Ruhe" ausgegangen worden ist, sondern von der Abwesenheit einer Störung.

A. Wahrgenommene Stönmg durch Fluglärm

75

werden. Im erstgenannten Falle können die mittleren Störungsgrade fiir unterschiedliche Lännbelastungsstufen oder die mittleren Störungsgrade verschiedener Lännquellen innerhalb einer bestimmten Subgruppe miteinander verglichen werden. Im zweitgenannten Falle können dieselben Vergleiche bezüglich des prozentualen Anteils einer bestimmten Störungsstufe gemacht werden.

10

stört unerträglich

9 8 7

6

5 4

3

2

stört überhaupt nicht

Büro OIiva 1994

Abbildung 3-1: Skalometer für die (SeJbst-) Beurteilung der Störwirkung der Schallimmission

Die nachstehende Abb. 3-2 zeigt die absolute Häufigkeitsverteilung der Antworten auf das Skalometer mit Bezug auf die Frage nach dem Fluglänn und dem Strassenlärm. Diese Abbildung zeigt eine Zufallsverteilung, wie sie von einer geschichteten Wahrscheinlichkeitsauswahl zu erwarten ist. Die einzelnen Stufen der Skala sind einigermassen gleich verteilt. Insbesondere zeigt sich die Qualität der Skala darin, dass das Phänomen "Wahl der Mitte" (regression to the mean) ausgeschaltet werden konnte. Eine Ausnahme bildet die Skalenstufe 9, die relativ untervertreten ist. Offensichtlich war bei den Personen, welche zwischen den Antworten 8, 9 und 10 zu wählen hatten, die Präferenz entweder auf die 8 oder die 10 gelegt worden. Ferner kann ein anderer Effekt, den man postulieren könnte, nämlich der "Deckeneffekt" (ceiling effect) nicht beobachtet werden. Das bedeutet, die Vorgabe von 11 Stufen hat ausgereicht, damit die befragten Personen ihre persönliche Bewertung mitteilen konnten. Die relativ grosse Anzahl Personen, welche die 0 erwähnten, ist

76

Teil III: Die Defmition der "Stönmg durch Fluglänn"

darauf zurückzufuhren, dass einerseits eine Entscheidung gefällt werden musste, zwischen "überhaupt keiner Störung" und irgend einer anderen Stufe der Störung und dass andererseits die unterste Stufe keine weitere Differenzierung zuliess. In diesem Sinne könnte man von einem "Bodeneffekt" sprechen, der durch eine differenziertere Erfragung der "Ruhe" kompensiert werden könnte.

Anzahl Personen 600 r----,---,----,---,----,---,----,---I-,---I-,---I-.---I---, 500~r-+---+---+---1---~---r--

l ITl

Fluglärm

-

400H~r---+---+---+---1---1---

~

Strassenlärm

-

300H~r---+---+---+---1---1----r---r---r---r--~

o

2

Stufen des Skalometers

7

8

9

10

Büro O!iva 8'-'04

Abbildung 3-2: Anzahl der Personen pro Skalenniveau, nach Fluglänn- und Strassenlännstönmg

Wenn in der vorliegenden Studie von starker Störung die Rede ist, so werden die Störungsstufen 8, 9 und 10 zusammengefasst. Der prozentuale Anteil der Personen pro Lärmbelastungsstufe, die eine starke Störung wahrnehmen, ist ein sensibler Indikator für die Störwirkung im Sinne einer anomischen Spannung. Dieser Indikator der Störwirkung hat gegenüber dem Skalenmittelwert Vorteile. Der Mittelwert gibt an, welcher Grad an Störwirkung wahrscheinlich ist. Der Prozentsatz der starken Störung zeigt an, wie häufig eine bestimmte Intensität der Störung erreicht wird. Die Intensität der Störung repräsentiert -- das wird die nachstehende Analyse noch genauer belegen -- besonders gut den Beanspruchungs- und den Verdeckungseffekt der Schallimmission und die damit zusammenhängenden anomischen Spannungen. Mit dem Begriff des "Beanspruchungseffektes" verbindet sich die Vorstellung, dass die Schallbelastung von Aktivitäten eine psychische Reaktion hervorruft, die zeitlich unmittelbar ist und auf die Bewältigung der Schallbelastung ausgerichtet ist, damit die angefangene Zielsetzung aufrechterhalten werden kann

A. Wahrgenommene Störung durch Fluglänn

77

(Greif 1991). Andererseits verbindet sich der Begriff des "Verdeckungseffektes" auf physikalische Phänomene, welche die auf Schall basierte Kommunikation zwischen Sender und Empfänger durch weitere Schallwellen überlagert. Die Überlagerung hat zum Teil auch mit der entsprechenden Frequenzzusammensetzung der zusätzlichen Schallquelle zu tun (Schick 1990). Für die statistische Analyse ergeben sich insbesondere dort Probleme - die noch zu diskutieren sind - wo die Anzahl Personen, welcher dieser Klasse zugerechnet werden, besonders klein ist. In solchen Fällen zeigt eine Analyse, die sich auf den Mittelwert stützt, ihre Vorteile. Doch ein Wechsel des Masses - und das soll hier mit Nachdruck erwähnt werden - bedeutet auch einen Wechsel des Indikators, denn mit dem Mittelwert erfasst man inhaltlich etwas anderes als mit der Anzahl Personen, die eine starke Störung wahrnehmen.

Prozent 100 80

60 40

20

o

.-: ~

~ t:t::: pr

..........

A

o

2

3

~

~

-

~

"""

~

--

____ Fluglärm

-

___ Strassenlärm

-

4 5 6 7 Stufen des Skalometers

I

I 8

I 9

10

8üro OliYrJ 8'-'04-1

Abbildung 3-3: Relative kwnulative Häufigkeitsverteilung der Fluglänn- und Strassenlännstörung (Skalometer) (N =2052)

Die Abb. 3-3 zeigt die proportionale Verteilung der Antworten der befragten Personen auf die einzelnen Stufen des Skalometers. Wie diese Häufigkeitsverteilung zeigt, gibt es keine "natürlichen" Brüche oder Strukturbrüche zwischen den Skalenstufen, die bei der formalen Definition der Klasse der starken Störung zu berücksichtigen wären. Folglich bestehen keine Hindernisse, auch eine Definition der starken Störung beim Skalenniveau > 7 zu verwenden. Das entscheidende Kriterium ist die inhaltliche Bedeutung.

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Teil III: Die DefInition der "Störung durch Fluglärm"

Die Abb. 3-4 zeigt den Zusammenhang zwischen der Fluglännbelastung und dem Anteil der Personen pro Belastungsstufe, die in der Wohnung eine starke Störung durch Fluglänn wahrnehmen. Hier sind die Stufen gleicher Fluglännbelastung mit einer Bandbreite von 3 dB(A) gleitend verändert worden, d.h. der Anstieg von einer Stufe zur nächsten erfolgt, indem jeweils die nächst höhere Teilstufe von 1 dB(A) hinzukommt und die unterste Teilstufe von I dB(A) weggelassen wird. So wird im Prinzip eine Schablone von 3 dB(A) Bandbreite von der untersten erfassten Immission bis zur obersten "geschoben" und jeweils der prozentuale Anteil der starken Störung festgehalten.

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