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German Pages 260 [264] Year 2007
STUDIEN UND TEXTE ZUR SOZIALGESCHICHTE DER LITERATUR
Herausgegeben von Norbert Bachleitner, Christian Begemann, Walter Erhart und Gangolf Hübinger
Band 114
Ruth Florack
Bekannte Fremde Zu Herkunft und Funktion nationaler Stereotype in der Literatur
Max Niemeyer Verlag Tübingen 2007
Redaktion
des Bandes: Christian
Begemann
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-484-35114-1
ISSN 0174-4410
© Max Niemeyer Verlag, Tübingen 2007 Ein Imprint der Walter de Gruyter GmbH & Co. KG http://www.niemeyer.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz: Johanna Boy, Brennberg Druck und Einband: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten
Inhalt
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Einleitung
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Komparatistische Imagologie: Anspruch, Methode, Irrtümer
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Zum Stereotyp-Begriff in Sozialpsychologie, Linguistik und Geschichtswissenschaft
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Stereotyp und Wissen. Geschichtliches zum Nationalcharakter 4.1 Das >Naturell< der Völker - ein Konzept zur Beschreibung kultureller Differenz 4.2 Der Nationalcharakter in kunsttheoretischen und kunstkritischen Schriften des 17. und 18. Jahrhunderts
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Nationale Stereotype als Topoi in der Literatur 5.1 Nationaltopoi in deutscher und französischer Belletristik: Beispiele . . 5.1.1 Freundschaft, Treu' und Redlichkeit: Topoi des Deutschen in französischer Erzählprosa von Jean-Pierre Camus bis Honore de Balzac 5.1.2 »Dieser Franzose ist nichts als eitel« - Topoi des Franzosen in deutschen und französischen Komödien der Aufklärung . . . 5.1.3 »Nicht gewohnt zu fliehen vor des Franzmanns leerem Wind« - Nationaltopoi in vaterländischen Gedichten zwischen Siebenjährigem Krieg und Freiheitskriegen 5.2 Nationaltopoi in Rede und Publizistik: Beispiele aus der Geschichte des französisch-deutschen Kulturtransfers 5.2.1 Französische Urbanität statt deutscher Schwerfälligkeit: Nationaltopoi und Gelehrtenkritik bei Thomasius 5.2.2 »Geborene Comödianten« und »ehrliche Leute«: Topoi des Franzosen und des Deutschen in Heinrich Heines Theater-Briefen
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Ein mythologisches Phantom< - Fazit
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Literaturverzeichnis
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Index
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162 179
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Einleitung
Nationale Wahrnehmungsmuster sind nicht nur Hindernisse, sondern auch Brücken des Verstehens in der Begegnung mit einer fremden Kultur und in der Verständigung über sie. Deshalb verzichten wir im Alltag ebensowenig auf nationale wie auf andere vergleichbare Gruppen-Zuschreibungen, obwohl uns bewußt ist, wie anfechtbar verallgemeinernde Aussagen etwa über >die< Italiener sind. Daß sich viele der positiven und negativen Stereotype, die uns heute geläufig sind, bereits in Texten finden lassen, die Jahrhunderte alt sind, deutet darauf hin, daß vor der Entwicklung moderner Massenmedien die Literatur eine wichtige Rolle gespielt hat bei der Festschreibung und Verbreitung solcher übergeneralisierenden Kategorisierungen - ein guter Grund, nach deren Herkunft und Textfunktion zu fragen. Nationalstereotype haben in der Literaturwissenschaft vorwiegend in der Komparatistik Beachtung gefunden, und zwar dort, wo es um die Erforschung sogenannter Fremd- und Selbstbilder ging und immer noch geht: im Forschungszweig der Imagologie. »Die literarischen Vorstellungen vom anderen Land sind, weil sie auf einem impliziten oder expliziten Vergleich beruhen, ein komparatistischer Forschungsgegenstand par excellence«, liest man etwa über »Fremdheitsvorstellungen« als »imagologische Konstruktionen«,1 und eine »auf Wechselseitigkeit beruhende Typologie der hervorstechenden Eigenschaften der deutschen wie auch der anderen Nationen« wird zur Aufgabe einer »zugleich germanistischen und komparatistischen Vorurteilsforschung« erklärt.2 Ganz im Zeichen der Imagologie steht auch der Sammelband »Fiktion des Fremden«, den Dietrich Harth herausgebracht hat. Um das »französische Deutschlandbild« geht es dort beispielsweise und um die »Tiefenstruktur des deutschen Polenbildes«, um China in der europäischen und »Europabilder« in der australischen Literatur.3 Im Zentrum des Interesses stehen die
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Manfred Schmeling: Literarischer Vergleich und interkulturelle Hermeneutik. Die literarischen Avantgarden als komparatistisches Forschungsparadigma, in: Peter V. Zima (Hg.): Vergleichende Wissenschaften. Interdisziplinarität und Interkulturalität in den Komparatistiken, Tübingen 2000, S. 187-199, Zitat S. 194. Manfred Beller: Aspekte einer thematischen Literaturwissenschaft im Rahmen der europäischen Auslandsgermanistik, in: Wierlacher, Alois (Hg.): Das Fremde und das Eigene. Prolegomena zu einer interkulturellen Germanistik, München 1985, S. 81-93, Zitat S. 91. In Dietrich Harth (Hg.): Fiktion des Fremden. Erkundung kultureller Grenzen in Literatur und Publizistik, Frankfurt a. M. 1994, S. 15-82: Gonthier-Louis Fink: Der janusköpfige Nachbar. Das französische Deutschlandbild gestern und heute; S. 113-136: Hubert Orlowski: »Polnische Wirtschaft«: Zur Tiefenstruktur des deutschen Polenbildes; S. 203-223: Dietrich
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»Bilder, die eine kollektive Phantasie von >den Anderen< entwirft«. 4 Von ihnen soll auf »die Projektionen, Vorurteile, Stereotypen und Imagotypen« geschlossen werden können, welche die »Wechselbeziehungen« zwischen »Gesellschaften, Nationen, Kulturen« »erleichtern oder erschweren«. 5 Längst hat man die Imagologie auch als ein »fruchtbares Lehr- und Forschungsgebiet« der Interkulturellen Germanistik entdeckt, die sich in Zeiten der Globalisierung zunehmender Beliebtheit erfreut: Es lohne sich, gleichermaßen »Bilder von Deutschland und den Deutschen in den fremdsprachigen Literaturen« und »Bilder vom Ausland und den Ausländern in der deutschsprachigen Literatur« zu analysieren, um die »Beziehungen zwischen den jeweiligen Fremd- und Selbstbildern« in den Blick nehmen zu können.6 Dabei »sollten« »nicht nur literarische Werke herangezogen werden«, »sondern auch historische und v. a. aktuelle Dokumentationsmaterialien«, weil dies »tiefere Einblicke« gestatte in die »Mentalitätsprägung« und »internationale Vorurteilsbildung« von »Kunst- und Gebrauchstexten«.7 Weil die Imagologie derart die »Entwicklung von Unterschieden in der wechselseitigen Perzeption von Nationen und der Verschränkung von literarisch vermittelten nationalen Selbst- und Fremdbildern« untersucht, führt sie Ansgar Nünning in seinem einschlägigen »Lexikon Literatur- und Kulturtheorie« schließlich als ein wissenschaftliches Instrument zur Beantwortung »xenologischer Fragestellungen« in den »Literatur- und Kulturwissenschaften« auf.8 Dieses Mosaik der Forschungsmeinungen macht deutlich, daß die komparatistische Imagologie mit ihrer Frage nach Repräsentationen des >Fremden< und des >Eigenen< im Kontext einer entschieden propagierten kulturwissenschaftlichen Ausrichtung der Geisteswissenschaften Konjunktur hat. Wer nationale Stereotype als Gegenstand der Literaturwissenschaft in den Blick nimmt, muß sich also mit ihr auseinandersetzen.
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Harth: China - Monde imaginaire der europäischen Literatur; S. 263-288: Rudolf Bader: Europabilder in der australischen Literatur. Dietrich Harth: Fiktion des Fremden. Vorbemerkung des Herausgebers, in: Harth (Hg.): Fiktion des Fremden, S. 7-12, Zitat S. 7. Ebd. S. 8. Thomas Bleicher: Interkulturelle Mediation: Zur Kooperation zwischen Komparatistik und interkultureller Germanistik bei der Entwicklung einer interdisziplinären Fremdheitsforschung, in: Wierlacher, Alois (Hg.): Kulturthema Fremdheit. Leitbegriffe und Problemfelder kulturwissenschaftlicher Fremdheitsforschung, München 1993, S. 333-354, Zitat S. 351; zur Imagologie siehe außerdem S. 336, 339, 343 u. 353. Ebd. S. 351. Neuerdings beruft sich auch die »Interkulturelle Literaturwissenschaft auf die Imagologie, wenn sie »kulturspezifische Zuschreibungsverhältnisse« zu einem ihrer vorrangigen Forschungsgebiete erklärt (Ortrud Gutjahr: Alterität und Interkulturalität, b) Neuere deutsche Literatur, in: Claudia Benthien, Hans Rudolf Velten [Hg.]: Germanistik als Kulturwissenschaft. Eine Einführung in neue Theoriekonzepte, Reinbek bei Hamburg 2002, S. 345-369, Zitat S. 356). Ansgar Nünning: Artikel »Xenologie«, in: Α. N. (Hg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze - Personen - Grundbegriffe, Stuttgart, Weimar 1998, S. 576f., Zitat S. 577. Zu Anspruch und Selbstverständnis der Xenologie siehe Alois Wierlacher, Corinna Albrecht: Kulturwissenschaftliche Xenologie, in: Ansgar Nünning, Vera Nünning (Hg.): Konzepte der Kulturwissenschaften. Theoretische Grundlagen - Ansätze - Perspektiven, Stuttgart, Weimar 2003, S. 280-306.
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Die vorliegende Studie ist der Schlußstein in einem Forschungsprojekt, das von der Volkswagen-Stiftung im Rahmen des Schwerpunktprogramms »Das Fremde und das Eigene - Probleme und Möglichkeiten interkulturellen Verstehens« an der Universität Stuttgart gefördert wurde und in seiner ursprünglichen Fragestellung der Imagologie verpflichtet war: A m Beispiel von deutscher und französischer Literatur sollten Ursprung und Funktion der wechselseitigen Wahrnehmungsmuster untersucht werden, die durch die Jahrhunderte die vielfältigen deutsch-französischen Beziehungen begleitet haben. Ziel des Projekts war die Erstellung einer Textdokumentation mit einem ausdrücklichen Schwerpunkt auf der Frühen Neuzeit als dem Zeitraum, der in diesem Zusammenhang bislang vernachlässigt worden war. Die kommentierte Textsammlung ist inzwischen unter dem Titel »Tiefsinnige Deutsche, frivole Franzosen. Nationale Stereotype in deutscher und französischer Literatur« erschienen9 - allerdings mit einer bedeutsamen Akzentverschiebung: Die imagologische Grundannahme, es gebe wechselseitige Zuschreibungen, die in einer unmittelbaren Verbindung zur Entwicklung internationaler Beziehungen stünden, hat sich als theoretisch unhaltbar erwiesen und ließ sich aus der Fülle des gesichteten Materials auch nicht belegen. Deshalb zeigt die Parallelführung von deutsch- und französischsprachigen Texten vom Beginn des 16. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts nun vielmehr, daß es sich bei den bemerkenswert konstanten Stereotypen von Deutschen und Franzosen um ein Repertoire an Zuschreibungen handelt, das jenseits aller nationalsprachlichen Unterschiede zum gemeinsamen Alltagswissen gehörte und durch die Vorstellung vom Nationalcharakter begründet wurde. Dieses essentialistische Konzept, das Völker als Kollektivindividuen mit einer je eigenen >Natur< auffaßt, diente der Beschreibung und Erklärung kultureller Differenz, bevor sich der Begriff >Kultur< im heutigen Verständnis durchsetzte, d. h. im Sinne einer sozialen Praxis verstanden und nicht mehr, wie bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts üblich, in der »landwirtschaftlichen Bedeutung« von >Anbau< oder >Ackerbaus die auf das lateinische Wort >cultura< zurückgeht.10 Noch zu unserer Zeit lebt das Nationalcharakterkonzept in der alltagssprachlichen Rede von der >Mentalität< eines Volkes fort. Seine Geschichte zu schreiben wäre ein vielversprechendes Vorhaben, das zu einer Archäologie der idealistischen Vorstellung vom Volksgeist ebenso beitragen könnte wie zu einer Vorgeschichte der Völkerpsychologie. Doch war dies im Rahmen der Projektvorgaben ebensowenig zu leisten wie eine Antwort auf die gewiß lohnende Frage nach dem unterschwelligen Fortleben des Nationalcharakterkonzepts im Kulturbegriff, mit dem nicht selten soziale Formationen als organische Gemeinschaften ausgegeben worden sind und werden. Beide Unternehmungen sind künftiger Forschung vorbehalten. So hat sich
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Ruth Florack: Tiefsinnige Deutsche, frivole Franzosen. Nationale Stereotype in deutscher und französischer Literatur, Stuttgart, Weimar 2001. Siehe hierzu Jörg Fisch: Artikel »Zivilisation, Kultur«, in: Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 7, Stuttgart 1992, S. 679-774, Zitat S. 705.
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der Band »Tiefsinnige Deutsche, frivole Franzosen« in Auswahl und Kommentaren darauf beschränkt, diesen wissensgeschichtlichen Horizont am Beispiel eines breiten Textkorpus schlaglichtartig zu erhellen, ohne den Anspruch zu erheben, ihn angemessen ausloten zu können. Weil aber das Nationalcharakterkonzept, das die Völkerstereotype >begründethinter< Völker-Stereotypen verstecken sollen, durch den Blick auf dieses grenzüberschreitende Wissen, aus dem sie sich speisen, zu ersetzen. Die veränderte Blickrichtung hat Konsequenzen für die Einschätzung nationaler Stereotype: Diese erscheinen nicht länger als Indikatoren für tadelnswerte Einstellungen ganzer Kollektive, sondern werden als rudimentäre Wissenselemente anerkannt, die in der sozialen Welt durch die Reduktion von Komplexität Orientierungshilfen bieten und Kommunikation erleichtern - nicht zuletzt, weil sie sich gar nicht verifizieren oder falsifizieren lassen, wie die jüngeren, kognitionswissenschaftlich ausgerichteten Positionen in Sozialpsychologie und Linguistik lehren. Die Fokussierung auf das Stereotyp ermöglicht mithin dem Literaturwissenschaftler einen Brückenschlag zu diesen Disziplinen. Es bleibt zu prüfen, was die literaturwissenschaftliche Analyse ihrerseits an Erkenntnissen bereitzustellen vermag über die Funktion nationaler Stereotype in fiktionalen und nicht-fiktionalen Texten. Die Anthologie »Tiefsinnige Deutsche, frivole Franzosen« schließt bereits mit Textauszügen aus den Deutschland-Büchern von Stael und Lerminier und den ParisBerichten von Börne und Heine.11 Denn um die Frage nach der Herkunft nationaler Stereotype beantworten zu können, schien es sinnvoll, das Interesse auf die Frühe Neuzeit zu lenken und erst im Licht der - vor allem in bezug auf das Nationalcharakterkonzept - gewonnenen Erkenntnisse einen Blick auf die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts zu werfen. So wird deutlich, daß selbst die anerkannten Vermittler zwischen französischer und deutscher Kultur auf das etablierte Stereotypraster zurückgreifen, das sich in Zeiten von Nationalismus und deutsch-französischer Feindschaft zugleich allenthalben in propagandistischen Texten finden läßt - dort freilich bis nach dem Zweiten Weltkrieg in einer einseitigen Auswahl und Bewertung der Muster nach dem Freund-Feind-Schema. Unter Rückgriff auf das längst bekannte semantische Material werden dann die konstanten - und in negativer Wertung um 1900 als Ausdruck von Dekadenz gewerteten - Zuschreibungen französischer Zivilisation^ also Mode, kultivierte Lebensart, Freizügigkeit und Sinnengenuß, mit Ernst, Fleiß, Disziplin und >Tiefe< als Ausdruck deutscher Kultur< kontrastiert.12
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Siehe die letzte Textgruppe - von Chateaubriand bis Heine - in: Florack: Tiefsinnige Deutsche, frivole Franzosen, S. 784—913. Zur Begriffsopposition siehe etwa Georg Bollenbeck: Selbstbilder, Fremdbilder, Feindbilder: »Kultur« und »civilisation«, in: Cahiers d'Etudes Germaniques. France - Allemagne. Passions croisees, 2001, S. 19-34.
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Der vorliegende Band, »Bekannte Fremde«, erhebt den Anspruch, die Erträge des Stuttgarter Forschungsprojekts theoretisch zu reflektieren und nach den möglichen Konsequenzen für die Praxis der Interpretation zu fragen. Daß die Textbeispiele überwiegend aus der deutschen und der französischen Literatur des 17. bis 19. Jahrhunderts stammen, ergibt sich aus der skizzierten Ausrichtung jenes Projekts, aus dem die Materialbasis für die folgenden Überlegungen erwachsen ist. Nur am Rande sei erwähnt, daß davon ausgegangen werden muß, daß im späteren 19. und im 20. Jahrhundert Nationalstereotype eine zunehmende Verbreitung gefunden haben durch die Entwicklung von Presse und neueren Massenmedien auf der einen und ein stetig wachsendes nicht-spezialisiertes Publikum auf der anderen Seite: In der Fülle der Informationen sind Stereotype eine zeitökonomische Orientierungshilfe und eine unverzichtbare Grundlage in der Kommunikation über Erfahrungen aus erster oder zweiter Hand. Dies aber ist ein ganz eigenes Untersuchungsgebiet, das in die Zuständigkeit der Medienwissenschaft fällt und hier nicht einmal angeschnitten werden kann. Immerhin erwähnt sei, daß das, was im folgenden am Beispiel von Herkunft und Funktion nationaler Stereotype entwickelt wird, wohl auch für andere gruppenspezifische Stereotype in der öffentlichen Kommunikation gelten mag - und mithin auch in literarischen Texten, die Teil dieser Kommunikation sind. Für den Geschlechterdiskurs etwa ist dies naheliegend, da zum einen das (neuzeitliche) Konzept vom Geschlechtscharakter traditionelle Geschlechterstereotype plausibilisiert, zum anderen das Geschlecht ebenso wie Herkunft und Gruppenzugehörigkeit zu den wesentlichen Merkmalen literarischer Figuren gehört. Diese Studie gliedert sich in einen theoretischen, einen historischen und einen interpretatorischen Teil. Den Ausgangspunkt des theoretischen Teils stellt - aus den eingangs genannten Gründen - eine kritische Auseinandersetzung mit der komparatistischen Imagologie dar (Kapitel 2). Anschließend werden die Erkenntnisse, die Sozialpsychologie und Linguistik zur kognitiven und kommunikativen Funktion von Stereotypen formuliert haben, für eine Bestimmung von Nationalstereotypen als Gegenstand der Literaturwissenschaft fruchtbar gemacht (Kapitel 3). In dem historisch orientierten zweiten Teil wird der Zusammenhang von Nationalstereotypen und Nationalcharakterkonzept aufgezeigt (Kapitel 4) und dieses Konzept als ein Bestandteil kollektiven Wissens nachgewiesen, mit dem seit der Frühen Neuzeit kulturelle Differenz beschrieben worden ist (4.1). Der Blick auf kunsttheoretische und kunstkritische Schriften des 17. und 18. Jahrhunderts belegt exemplarisch im Vergleich deutscher und französischer Texte, daß dieses stark schematisierte Wissen um kulturelle Differenz - das eben ein allgemeines und kein Expertenwissen ist - auch im Sozialsystem Literatur einen Platz hat (4.2). Der interpretatorische dritte Teil schließt die literaturwissenschaftliche Stereotypenforschung an die Topik an und untersucht an Beispielen aus deutscher und französischer Literatur, welche Funktionen nationale Stereotype als Topoi im Strukturgefüge der Texte erfüllen können (Kapitel 5). Das Material dazu umfaßt fiktionale und nicht-fiktionale Texte und stammt zum einen aus Erzählprosa, Komödie und patriotischer Lyrik, verweist
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also auf das konventionelle Gattungsschema (5.1), zum anderen gehört es in die Tradition der gelehrten Rede und - mit dem letzten Beispiel aus der Feder von Heinrich Heine - in den modernen Bereich der Publizistik (5.2). Um Mißverständnissen vorzubeugen, sei abschließend betont, daß die vorliegende Studie sich durchaus des Umstands bewußt ist, daß Nationalstereotype in der Literatur nur eine marginale Rolle spielen. Das gilt selbst für Texte, denen es ausdrücklich um die Vermittlung kultureller Fremdheit zu tun ist: So rufen Nationalstereotype in Reiseberichten zwar vorgängiges Wissen über das fremde Land ab, sind dabei jedoch nicht mehr als ein Element des Schreibens über Reisen. Die Gattung selbst läßt sich auf diese Weise nicht erfassen. Das trifft erst recht auf das in der Regel sehr anspruchsvolle Reflexionsniveau der kunsttheoretischen Schriften zu. Doch geht es hier nicht um erschöpfende Textinterpretationen. Das Anliegen dieser Arbeit ist vielmehr, ein kritisches Korrektiv zu bieten angesichts einer unaufhaltsam fortschreitenden Forschung zu >Bildern des Eigenen und des Fremdem in der Literatur: Wer die konventionellen Muster der Rede über kulturell Fremdes nicht naiv als Aussage über die Wirklichkeit verkennen oder als Ausdruck eines individuellen oder kollektiven Vorurteils mißverstehen will, sollte die Herkunft dieser Muster - also das Nationalcharakterkonzept als ihren Legitimationshintergrund - kennen und mit den Funktionen vertraut sein, die ihnen in der Literatur zukommen. Die vorliegende Studie ist eine geringfügig gekürzte und überarbeitete Fassung der Untersuchung, die im Dezember 2004 von der Philosophisch-Historischen Fakultät der Universität Stuttgart als Habilitationsschrift angenommen wurde. Herrn Professor Dr. Horst Thome sei an dieser Stelle für seine langjährige Betreuung - sowohl des Stuttgarter Forschungsprojekts als auch der daran anschließenden Habilitation - von Herzen gedankt.
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Komparatistische Imagologie: Anspruch, Methode, Irrtümer
D a s i c h d i e I m a g o l o g i e in d e n K u l t u r w i s s e n s c h a f t e n e i n e n f e s t e n Platz g e s i c h e r t hat, lohnt e s sich, e i n e n B l i c k auf ihren Ursprung und ihre Z i e l s e t z u n g zu w e r f e n , u m z u prüfen, w e l c h e Tradition beerbt wird. A n s ä t z e i m a g o l o g i s c h e n I n t e r e s s e s finden
s i c h bereits in d e r international a u s g e r i c h t e t e n E i n f l u ß f o r s c h u n g , w e l c h e
d i e Komparatistik seit d e m a u s g e h e n d e n 19. Jahrhundert betrieben hat. 1 D a ß die I m a g o l o g i e dann n a c h d e m Z w e i t e n Weltkrieg in Frankreich zu e i n e m zentralen Forschungsgebiet Vergleichender Literaturwissenschaft erklärt wird, hat unverkennbar historisch-politische Gründe. D i e Leitfrage » C o m m e n t n o u s v o y o n s - n o u s entre n o u s , A n g l a i s et F r a n c i s , F r a n f a i s et A l l e m a n d s « ? 2 formuliert Jean-Marie Carre, Autor d e s 1 9 4 7 v e r ö f f e n t l i c h t e n B u c h e s » L e s Ecrivains frangais et le mirage a l l e m a n d « . In dieser umstrittenen Schrift vertritt Carre die T h e s e , f r a n z ö s i s c h e Schriftsteller - allen voran M a d a m e d e Stael und die R o m a n t i k e r - hätten e i n s o stark idealisiertes B i l d v o n D e u t s c h l a n d verbreitet, daß die F r a n z o s e n die G e f a h r verkannten, die Preußens a g g r e s s i v e r Militarismus für ihr L a n d tatsächlich b e d e u t e t e . 3 S o sei das literarische >Trugbild< (»le m i r a g e « ) v o m d e u t s c h e n N a c h b a r n mitverantwortlich g e w e s e n für
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Siehe hierzu die grundlegende Studie von M a n f r e d S. Fischer: Nationale I m a g e s als G e g e n s t a n d Vergleichender Literaturgeschichte. U n t e r s u c h u n g e n zur Entstehung der komparatistischen Imagologie, Bonn 1981. Jean-Marie Carre: Avant-propos, in: M a r i u s - F r a n c i s Guyard: La Litterature comparee, Paris 1951, S. 5 f „ Zitat S. 6. Exemplarisch sei folgender Passus aus der Einleitung zitiert: »Nous vivons sur cette image, parce que nous y tenons. Nous cultivons, nous entretenons le prejuge qui nous est eher. Prejuge politique, litteraire, philosophique, historique, philologique, musical. S'il y a mirage, nous contribuons ä le creer. Nos intellectuels et nos ecrivains n'ont presque jamais juge l'Allemagne en elle-meme, mais presque toujours, au contraire, par rapport aux idees qu'ils soutenaient chez nous. Iis l'ont regardee ä travers le prisme de leur propre Ideologie. [...] C'est ainsi que nous avons decoupe et isole, dans l'ensemble complexe et vivant de la Geimanie, certains grands paysages qui nous ont longtemps cache la perspective totale; nous avons admire, avec M m e de Stael, la cite des Muses, avec nos poetes de la Restauration, la terre du Romantisme; avec Cousin, le sanctuaire de la metaphysique; avec Michelet, le temple du passe; avec Taine et Renan, la maison de la science; avec nos symbolistes et nos decadents, le Walhalla de la musique. Jusqu'ä la cruelle revelation de 1870, et meme encore apres, nos poetes, nos philosophes, nos historiens, nos artistes ont confondu, consciemment ou non, [...] l'Allemagne qui pense avec l'Allemagne tout court, lis finirent par identifier - et cela les rassurait - la discipline prussienne et l'imperatif categorique.« (Jean-Marie Carre: Les Ecrivains frangais et le mirage allemand [1800-1940], Paris 1947, S. Xf.) - Zu Carre siehe die kritische Darstellung bei Fischer: Nationale Images als Gegenstand Vergleichender Literaturgeschichte, S. 157-179.
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die Schwäche Frankreichs in den Jahren 1870/71 und während der Weltkriege. Carres ausdrückliche Aufforderung, die Komparatistik solle sich der wechselseitigen, literarisch vermittelten Nationen-Bilder annehmen, steht in seinem Vorwort zu »La Litterature comparee«, einer Schrift seines Schülers Marius-Frangois Guyard, die im Jahr 1951 erscheint und der Erforschung des »etranger tel qu'on le voit« ein eigenes Kapitel widmet.4 Guyard empfiehlt darin die Imagologie als ein vielversprechendes, zukunftsweisendes Arbeitsgebiet. Denn sie bewege sich auf entschieden sichererem Grund als die - unter Komparatisten so beliebten - Einflußforschung: Les influences sont souvent imponderables, les analogies fortuites, tandis qu'on peut, avec de la methode, decrire exactement l'image ou les images d'un pays en circulation dans un autre ä une epoque donnee. L'enquete ici se nourrit de faits litteraires bien etablis. L'interpretation de ces faits est certes delicate: quand l'auteur se fait l'echo d'une vieille tradition (ΓAnglais gentleman, le Russe mystique), est-ce conviction, ironie ou, peut-etre, l'une et l'autre? II est aussi delicat d'etablir comment s'est formee dans un esprit ou dans un groupe une telle tradition. [...] Mais, encore une fois, la base est süre: des textes qu'il suffit de trouver, de lire, de rapprocher pour qu'eclatent les lieux communs, et ressortent les nuances personnelles.5
Zwar scheint Guyard bewußt zu sein, daß die konkrete Textanalyse unter solchem Vorzeichen in doppelte methodische Schwierigkeiten geraten kann: zum einen in bezug auf das Bewußtsein der Bildproduzenten, zum anderen in bezug auf die Funktion der >BildeinschätzenBilder< zu erfinden, so führt ihr komparatistischer Blickwinkel dazu, Beziehungen zu konstruieren.
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fait que l'eloge de son propre groupe ou de lui-meme. Et, si au contraire il intervertit les qualificatifs positifs et negatifs, le couple d'autostereotypes et d'heterostereotypes revele indirectement son malaise social et son desir d'opposer aux valeurs de son groupe d'autres valeurs considerees comme modeles.« (Fink: Reflexions sur l'imagologie, S. 31). »On peut [...] se demander comment construire quelque chose de valable sur des elements aussi subjectifs et fluctuants que les prejuges. La reponse est simple: en faisant de cette subjectivite meme l'objet de nos recherches. C'est done la coherence psychologique du locuteur [...] que l'imagologue doit comprendre et expliquer.« (Ebd.) Siehe etwa Henri Tajfel, John C. Turner: The Social Identity Theory of Intergroup Behavior, in: Stephen Worchel, William G. Austin (Hg.): Psychology of Intergroup Relations, Chicago 1986, S. 7-24. Rupert Brown: Beziehungen zwischen Gruppen, in: Wolfgang Stroebe, Miles Hewstone, Geoffrey Μ. Stephenson (Hg.): Sozialpsychologie. Eine Einführung [engl. 1988], 3. Aufl. Berlin u. a. 1996, S. 545-576, Zitat S. 563. Siehe ebd. S. 564. Ergänzend hierzu Jacques-Philippe Leyens, Vincent Yzerbyt, Georges Schadron: Stereotypes and Social Cognition, London, Thousand Oaks, New Delhi 1994, S. 64f.: »Until now, there has been no clear evidence that low self-esteem or threatened social identity induces a motivation for protection and, thereby, for intergroup discrimination. [...] the causal relation between self-esteem and discrimination has not yet been adequately tested and [...] in fact, an adequate test of such a relation is difficult to imagine.« Zum Stereotypgebrauch heißt es in diesem Zusammenhang: »Social identity theorists [...] generally assume that stereotypes result from deliberate intention. For example, Social identity theorists think the stereotype of Blacks was created to justify slavery. The intention of legitimizing some unjustified state of affairs is deduced from the content of the stereotype. However, because there is no independent estimate of such an intention, one cannot be sure that such an intention exists. [...] For SIT [Social identity theory], the establishment of a distinction between ingroup and outgroup is one of the functions generally attributed to stereotypes. This postulate, too, has never been tested.« (S. 71.) Allenfalls bei »Gruppenmitgliedern«, die von vornherein als ausgesprochen »kollektivistisch und relational« >einzustufen< sind, d. h. interessiert an »Intragruppenkooperation und Gruppenleistung« sowie »am Status bzw. an der Leistung der Eigengruppe relativ zu Fremdgruppen«, läßt sich »eine positive Beziehung zwischen Identifikation und Voreingenommenheit« aufzeigen; bei »Gruppenmitgliedern«, die »als individualistisch und autonom« einzustufen sind, ist dagegen »überhaupt keine Beziehung« erkennbar. (Brown: Beziehungen zwischen Gruppen, S. 567.)
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Ganz zu schweigen davon, daß die sozialen Gruppen, welche die Sozialpsychologie im Auge hat, nicht ohne weiteres mit Nationen gleichgesetzt werden können. 104 Als hätte man es bei Ländern mit Kollektivindividuen zu tun mit einer regelrechten Psyche, spricht auch Fink von »images que les diffirents pays se font les uns des autres et d'eux-memes«, von »diverses tendances de la conscience nationale« oder »la conscience plurielle du pays emetteur qui est l'objet de l'imagologie«. 105 Solcher Rekurs auf Personifikation und Metapher dient keineswegs bloß der Anschaulichkeit, sondern ist aufs engste mit Interesse und Methode der Imagologie verknüpft, er ergibt sich aus deren Fixierung auf kollektive Repräsentationen und auf Länder bzw. Völker als Subjekte und Objekte solcher Repräsentationen. Zweifel an der Imagologie werden inzwischen allerdings aus ihren eigenen Reihen laut. So gibt Fink in seinen »Reflexions« zu bedenken, die soziologische Unterscheidung von >in-group< und >out-group< ließe sich kaum auf die hochkomplexen westlichen Gesellschaften der Gegenwart anwenden, in denen das Verhältnis von Individuum, Gruppenzugehörigkeit(en) und nationaler Mentalität nur schwer zu bestimmen sei. 106 Auch beschreibt er die imagologische Arbeit als ein heikles Manöver zwischen Skylla und Charybdis - stets in Gefahr, entweder schieren Positivismus zu betreiben oder aber der Illusion vom Volksgeist zu verfallen. 107 »Nach wie vor« vertrete die komparatistische Imagologie »stark substantialistisch geprägte Ziele«, bemängelt Manfred Schmeling zu Recht, überdies vernachlässige sie »die Frage nach den ästhetischen Vermittlungsstrategien«. 108 »Können Texte, vor allem Erzähltexte, überhaupt mit Bildern verglichen werden [...], stellen die Kategorien des Imaginativen und Fiktionalen nicht die Voraussetzung eines abzubildenden Sachverhalts von vornherein in Frage?«, überlegt Dietrich Harth in seinem Aufsatz »Über die Bestimmung kultureller Vorurteile, Stereotypen und images in fiktionalen Texten«. 109 Die »Mehrdeutigkeit« eines »imaginativen Textes« erlaube kaum, ihn »als Ausdruck bloß pragmatischer Interessen zu beurteilen und den Autor dafür haftbar zu machen«. 110 Vielmehr »repräsentieren« »Bilder im literarischen Sinn [...] fiktionale Sehweisen, deren Besonderheit sich erstens an der Zuordnung von Figur und Perspektive und zweitens an der mit dieser Zuordnung verknüpften Darstellungstechnik«, dem »Erzählstil«, »ablesen« lasse. 111 Damit sind grundlegende Probleme
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Siehe hierzu Steve Reicher, Nick Hopkins, Susan Condor: The Lost Nation of Psychology, in: C. C. Barfoot (Hg.): Beyond Pug's Tour. National and Ethnic Stereotyping in Theory and Literary Practice, Amsterdam, Atlanta 1997, S. 53-84, bes. S. 68-71. Fink: Reflexions sur l'imagologie, S. 30. (Hervorhebung nicht im Original.) Siehe ebd. S. 17f. Siehe ebd. S. 30f. Schmeling: Literarischer Vergleich und interkulturelle Hermeneutik, S. 194. Dietrich Harth: Über die Bestimmung kultureller Vorurteile, Stereotypen und images in fiktionalen Texten, in: Wolfgang Kubin (Hg.): Mein Bild in deinem Auge. Exotismus und Moderne: Deutschland - China im 20. Jahrhundert, Darmstadt 1995, S. 1 7 ^ 2 , Zitat S. 26. Ebd. S. 29. Ebd.
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der Bildforschung erkannt, wenn auch nicht gelöst. Denn solch kritische Einsichten führen nicht zu einem Verzicht auf den Bildbegriff, der freilich den traditionellen Kern imagologischer Arbeit ausmacht. Ein vielversprechender Vorschlag zu einer Revision der Imagologie kommt gegenwärtig aus der französischen Komparatistik. Nach ersten Überlegungen zu einer kulturanthropologischen Ausrichtung imagologischer Forschung 112 schlägt Daniel-Henri Pageaux eine Brücke zwischen Literaturwissenschaft und MentalitätenGeschichte, wobei er den Text und dessen geschichtlichen Kontext gleichermaßen ernst nimmt. Entsprechend weit ist Pageaux' Bild-Begriff. »Image« ist nicht länger auf den schmalen Bereich der Literatur begrenzt, sondern auf Kultur als Ganzes bezogen: »L'image de l'etranger doit etre etudiee comme la partie d'un ensemble vaste et complexe [...]: l'imaginaire social (mot emprunte aux historiens) dans une de ses manifestations particulieres, la representation de l'Autre.« 113 L'image [...] est un fait de culture; au reste, nous parlons d'imagerie culturelle. Elle doit etre etudiee comme un objet, une pratique anthropologique et eile a sa place et sa fonction dans l'univers symbolique nomme ici >imaginaireVorstellungswelt< (»l'imaginaire«), welche auf der Ebene einer Gesellschaft bzw. eines - größeren oder kleineren - Kollektivs die Grundopposition von >Identität< und >Alterität< zum Ausdruck bringt.115 Erforscht werden soll der Grad an Übereinstimmung zwischen dem jeweiligen Bild - das als »representation« »[un] melange de sentiments et d'idees« vorstelle und beim Rezipienten »[des] resonances affectives et ideologiques« zur Folge habe 116 - und dem »schema culturel«, das diesem Bild voraufgehe, sich in ihm realisiere.117 Denn zu jeder Zeit gebe es in den Grenzen einer je bestimmten Kultur nur eine beschränkte Anzahl von Möglichkeiten, von dem Anderen zu reden. Pageaux spricht deshalb davon, daß die imagologisch interessanten Texte gewissermaßen >programmiert< seien.118 »Denombrer, demonter et expliquer ces types de discours, montrer et demontrer comment l'image, prise globalement, est un element
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Siehe Daniel-Henri Pageaux: L'Imagerie culturelle: de la litterature comparee ä Γ anthropologic culturelle, in: Synthesis X, 1983, S. 79-88. Pageaux erklärt dort nichts Geringeres als »l'ecriture de l'alterite« zum Gegenstand der Forschung (S. 84, 86). - Siehe außerdem Daniel-Henri Pageaux: Une perspective d'etudes en litterature comparee: l'imagerie culturelle, in: Synthesis VIII, 1981, S. 169-185. Daniel-Henri Pageaux: De l'imagerie culturelle ä l'imaginaire, in: Pierre Brunei, Yves Chevrel (Hg.): Precis de litterature comparee, Paris 1989, S. 133-161, Zitat S. 135. Ebd. S. 138. Siehe ebd. S. 135. Ebd. S. 136. Ebd. Siehe ebd. S. 138.
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d'un langage symbolique, lequel est ä etudier comme un systeme de sens [...], c'est l'objet meme de l'imagologie.« 119 In seiner Studie aus dem Jahr 1989 stellt Pageaux einen theoretisch fundierten, systematischen Analyseansatz vor, der - im Unterschied zur traditionellen Imagologie - weder in die Falle des Essentialismus gerät noch die Besonderheiten der Struktur literarischer Texte ignoriert. 120 Auf die lehrreichen Ausführungen zum Stereotyp - als »forme minimale d'informations pour une communication maximale«, »enonce d'un savoir dit collectif«, »porteur d'une definition de l'Autre« 1 2 1 - wird noch genauer einzugehen sein. Im Rahmen der hier vorzunehmenden kritischen Sichtung imagologischer Verfahren sind vor allem die einzelnen Analyseschritte von Interesse, mit denen Pageaux der Konstruktion von Alterität auf die Spur zu kommen sucht. Eine sehr breite Auswahl von Texten setzt er als Arbeitsgrundlage voraus, als Beispiel dient Spanien in der französischen Literatur. Unabhängig vom Status des >Materials< soll zunächst auf dem Weg von »reperages lexicaux« 122 erfaßt werden, welche Begriffe und Wortfelder überhaupt in bezug auf das (je konkrete) Fremde auszumachen sind und wie demgegenüber ein >Eigenes< konstituiert wird. 123 Hierbei wird die synchrone Betrachtung um eine diachrone Ebene ergänzt. Während dieser erste Schritt einen Anschluß an die >histoire des idees< erlaubt, 124 konzentriert sich der zweite ganz auf die Seite der Literatur, sucht über die strukturalistische Analyse des einzelnen Textes dessen »fonctionnement« 125 zu erfassen. Der Fokus liegt dabei auf Raum- und Zeitstruktur als der Grundopposition, mittels derer das Fremde >inszeniert< wird. 126 Für die Beschreibung der Raumgestaltung heißt das beispielsweise: Dans le detail, on s'efforcera de penetrer les principes de distribution des elements spatiaux, les lieux valorises (seuil, frontiere, faille, eminence...), les zones investies de valeurs
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Ebd. S. 139. (Mit seiner Formulierung »systeme de sens« bezieht sich Pageaux explizit auf Max Webers Begriff der »Sinnzusammenhänge« [ebd.].) Daß die Imagologie in einer aktuellen »Einführung in die Komparatistik« nicht nur aus fachgeschichtlichen Gründen einen wichtigen Platz einnimmt, ist im wesentlichen diesen theoretischen Überlegungen von Pageaux geschuldet. Siehe Angelika Corbineau-Hoffmann: Einführung in die Komparatistik, Berlin 2000, S. 171-185, bes. S. 183-185. - Eine Auseinandersetzung mit Pageaux' Anregungen könnte sich für die Alteritätsforschung, welche in den kulturwissenschaftlich orientierten Literaturwissenschaften propagiert wird, grundsätzlich lohnen. Pageaux: De l'imagerie culturelle ä l'imaginaire, S. 140. Ebd. S. 144. »II est par exemple evident que, dans de nombreux textes et dans l'opinion de nombreux lettres fran^ais des XVIIe et XVIIIe siecles, l'orgueil castillan, la jalousie excessive, la paresse incoercible, le romanesque espagnol (proche de la folie quichottesque) s'opposent, point par point, ä une >image< fran9aise fondee sur la mesure, la reserve, le travail, la raison« (ebd. S. 143). »A ce Stade, l'imagologie est un auxiliaire actif de l'histoire des idees, mais jusqu'ä un certain point, puisqu'il ne s'agit pas de reperer des idees dans des ensembles ou des systemes philosophiques et politiques, mais des representations dans un univers mental que l'on peut aussi nommer imaginaire.« (Ebd. S. 144.) Ebd. S. 146. Siehe ebd. S. 146-148.
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positives ou negatives, tout ce qui permet la symbolisation de l'espace [...]. L'imagologie ici aboutit ä une topologie generalisee et differentielle. 127
Die Untersuchung von Raum und Zeit wird ergänzt um die - kuituranthropologisch ausgerichtete - Frage danach, welche Elemente der dargestellten fremden Kultur (Kleidung, Sitten, Bräuche) in dem jeweiligen Text auftauchen und welche ausgespart werden. Auf dieser Ebene sind auch literarische Vorbilder zu berücksichtigen wie etwa, im gegebenen Fall, die pikareske Tradition oder selbstverständlich Cervantes' Roman »Don Quijote«. 128 Damit wird die Strukturanalyse überschritten und von der Semiologie abgelöst.129 L'image n'est plus alors une serie de relations hierarchisees ä l'interieur d'un texte; eile est une illustration plus ou moins achevee d'un >dialogue< entre deux cultures, ä travers une mise en scene de l'etranger qui est aussi une mise en forme esthetique et culturelle: l'image scenario. 130
Um schließlich in einem dritten Schritt die »fonction sociale et culturelle«131 der unterschiedlichen - teils dominanten, teils marginalen - >Bilder vom Anderen< zu bestimmen, ist Interdisziplinarität geboten. Erst historisches Wissen über ökonomische Voraussetzungen, politische Kräfteverhältnisse und markante Ereignisse sowie über die (verzerrte) Spiegelung dieser Faktoren im individuellen und kollektiven Bewußtsein erlaubt eine Deutung der >Bilder< im Kontext ihres Rezeptionshorizonts. Unter Rückgriff auf mentalitätengeschichtliches Wissen läßt sich sagen, ob es sich um kollektive Wunsch- oder Trugbilder handelt. Die >Anglomanie< der französischen Aufklärungsphilosophen wird auf diese Weise ebenso verständlich wie die >Germanophobie< in Frankreich um 1900.132 Weil das eigentliche Ziel jedoch nicht der Text in seinem geschichtlichen Kontext ist, sondern das kollektive Imaginäre, das in den Texten zum Ausdruck kommt,133 greift Pageaux in Dimensionen aus, die sich allenfalls theoretisch bewältigen lassen: Le programme d'etude pourrait ainsi se resumer: denombrer et analyser, diachroniquement ou synchroniquement, tous les discours sur Γ Autre (litteraires ou non); integrer les donnees
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Ebd. S. 147. Ebd. S. 148. »L'imperatif defini d'abord comme informatif se transforme en imperatif esthetique et litteraire: comment integrer un modele litteraire etranger. [...] Ce sont les principes culturels de production du texte qui sont ici en jeu.« (Ebd.) Siehe ebd. S. 148. Ebd. Ebd. S. 151. Siehe ebd. S. 152. In einem jüngeren Beitrag bezeichnet der Verfasser den »texte litteraire« ausdrücklich als »manifestation d'un moment culturel donne«, die der Komparatist untersuchen solle als eine »concretisation particuliere d'un imaginaire social« (Daniel-Henri Pageaux: De l'imagologie ä la theorie en litterature comparee. Elements de reflexion, in: Joep Leerssen, Karl Ulrich Syndram (Hg.): Europa provincia mundi. Essays in comparative literature and European studies. [Festschrift für Hugo Dyserinck zum 65. Geburtstag], Amsterdam, Atlanta 1992, S. 297-307, Zitat S. 301. [Hervorhebung nicht im Original.])
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sociales, historiques, mais aussi les donnees qui regissent hierarchiquement les rapports interculturels qui sont toujours des rapports de force et non pas de simples echanges ou dialogues, retrouver le chemin de l'enquete historique, c'est-ä-dire de la synthese, en s'attachant tout autant ä des textes qu'ä des questions sociales, culturelles; confronter les conclusions aux analyses produites sur les memes themes par des chercheurs en sciences sociales et humaines; bref, elaborer une partie de cette histoire >totale< chere aux nouveaux historiens et dans laquelle les litteraires, les comparatistes, ont leur place ä proportion de l'attention qu'ils portent aux dimensions sociales et culturelles du fait litteraire 134 .
In der Praxis ist eine derartige Vollständigkeit des Materials schlicht illusorisch. Überdies ist eine Analyse nach Pageaux' Maßstäben nur durchführbar, wenn sie sich auf ein vorgängiges mentalitätengeschichtliches Wissen stützen kann, das selbst nicht aus eben den Texten erschlossen worden ist, deren >Fremdenbilder< untersucht werden sollen. Nur so sind Zirkelschlüsse zu vermeiden. Allerdings ist längst noch nicht jede Kultur auf ihre Mentalität hin erforscht, so daß mangels historischer Kenntnis in vielen Fällen die Frage nach den >Bildern des Fremden< in der Literatur so lange zurückgestellt werden müßte, bis gesicherte Ergebnisse aus der Geschichtswissenschaft vorliegen. Zudem wirft die Forderung, »l'imagologie doit aboutir ä Γ identification d'images qui coexistent dans une meme litterature, dans une meme culture«,135 einmal mehr die Frage auf, in welchen Grenzen denn solche >Kultur< im Singular zu denken sei und wie sich diese überhaupt eindeutig in einer besonderen Literatur identifizieren lasse. Pageaux ist theoretisch nicht auf den nationalen Maßstab festgelegt. 136 Seine Beispiele - Spanien in der französischen Literatur, Anglomanie, Germanophobie usw. - verraten aber eine traditionelle Orientierung, suggerieren wiederum, daß vom Autor auf die Gruppe zu schließen sei und man sich das Kollektiv durchaus in nationalen Grenzen vorzustellen habe. 137 Die Vertreter der Mentalitäten-Geschichte138 denken dagegen in der Regel nicht in nationalem Rahmen, ihr Gegenstand ist zumeist viel weiter oder aber viel enger gefaßt. 139 Erinnern wir uns: Schon gegen Ende der zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts hat
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Pageaux: De I'imagerie culturelle ä l'imaginaire, S. 160. (Hervorhebung nicht im Original.) Ebd. S. 136. »II n'est pas sur que ce que Ton tient couramment pour un espace culturel unifie soit reellement un espace homogene. Qu'il s'agisse de la litterature >regionale< ou de la litterature coloniale, on se rend compte que le systeme unificateur (culture du centre contrölant des cultures peripheriques), debouche sur la problematique de l'image de Γ Autre.« Unter Berufung auf einen Begriff von Levi-Strauss heißt es weiter: »Parce qu'elle est fondamentalement une reflexion sur des >ecarts differentiels< [...], eile peut et doit avoir sa place dans des problemes qui sont tout autant politiques qu'esthetiques.« (Ebd. S. 157.) Siehe beispielsweise ebd. S. 152f. Siehe grundsätzlich hierzu: Ulrich Raulff (Hg.): Mentalitäten-Geschichte. Zur historischen Rekonstruktion geistiger Prozesse, Berlin 1987. So finden sich beispielsweise neben Fernand Braudels bahnbrechender Arbeit über den Mittelmeerraum, »La Mediterranee et le monde mediterraneen ä l'epoque de Philippe II« (Erstausgabe Paris 1949), Texte wie »Montaillou, village occitan de 1294 ä 1324«, Emmanuel Le Roy Laduries Studie über ein Pyrenäendorf zur Zeit der Inquisition (Paris 1975).
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Marc Bloch, einer der Gründer der Zeitschrift »Annales d'histoire economique et sociale«, die Historikerzunft gemahnt, »daß es tatsächlich an der Zeit ist, die überholten topographischen Einteilungen aufzubrechen, in die wir die sozialen Realitäten einzusperren pflegen«. 140 Es sei »ein ganz offensichtlicher Anachronismus«, den »Grenzen der heutigen Staaten« gewissermaßen eine »pränatale Existenz vor dem konkreten Zeitpunkt« »zuzuschreiben«, »da das komplexe Spiel von Kriegen und Verträgen sie festschrieb«. 141 Und doch habe man »oft [...] mit den Grenzen der heutigen Staaten einen geeigneten Rahmen für eine Untersuchung über rechtliche oder wirtschaftliche Institutionen der Vergangenheit zu finden gemeint«.142 Dieser »grundlegende Fehler« werde auch dadurch nicht ausgeräumt, daß man politische, administrative oder nationale Einteilungsschemata aus der Zeit der zu untersuchenden Fakten zugrunde legt. Denn wo hätte man je gesehen, daß soziale Phänomene, in welcher Epoche auch immer, in ihrer Entwicklung an genau denselben Grenzen innehalten, die auch politische Herrschaftsbereiche oder Nationalitäten einschließen? 143
Wenn es aber aus mentalitätengeschichtlicher Sicht unglaubwürdig ist, in der Nation den Träger eines Kollektiven Imaginären< zu sehen, führt der Brückenschlag von der Literatur- zur Geschichtswissenschaft ins Leere, solange überhaupt nach so etwas wie >Spanienbildern in der französischen Literatur< gefragt wird. Daß es in Pageaux'Ansatz vollends um Kulturgeschichte gehe und Literatur zum bloßen »Dokumentationsmaterial« herabgewürdigt werde, hat Manfred S. Fischer behauptet und damit versucht, die Imagologie der Aachener Schule gegen neue Ansätze zu verteidigen. 144 Pageaux' Vorschläge lassen sich jedoch als durchaus konsequente Weiterentwicklung einer Forschungslogik verstehen, wie sie Fischer und alle Imagologen vertreten: Ausgehend von einem Interesse an Völkerverständigung, unterstellen sie, daß Texte Zeugnisse kollektiver Vorstellungen von einem fremden Land seien, wobei Subjekt und Objekt solcher Repräsentationen wie selbstverständlich in nationalen Grenzen gedacht werden.
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Marc Bloch: Für eine vergleichende Geschichtsbetrachtung der europäischen Gesellschaften [Pour une histoire comparee des societes europeennes, 1928], in: Matthias Middell, Steffen Sammler (Hg.): Alles Gewordene hat Geschichte. Die Schule der »Annales« in ihren Texten (1929-1992), Leipzig 1994, S. 121-167 [Übersetzung von M. M. u. S. S.], Zitat S. 153. Ebd. Ebd. Ebd. Manfred S. Fischer: Literarische Imagologie am Scheideweg. Die Erforschung des »Bildes vom anderen Land« in der Literatur-Komparatistik, in: Günther Blaicher (Hg.): Erstarrtes Denken. Studien zu Klischee, Stereotyp und Vorurteil in englischsprachiger Literatur, Tübingen 1987, S. 55-71, Zitat S. 69.
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Zum Stereotyp-Begriff in Sozialpsychologie, Linguistik und Geschichtswissenschaft
Wenn die Imagologie unterstellt, daß der Literaturwissenschaftler verläßliche Auskunft über die komplexen Vorstellungen zu geben vermag, die sich Kollektive von ethnischen oder nationalen Gruppen machen oder gemacht haben, so drängt sich - mit Wellek zu sprechen - der Eindruck auf, es gehe um Meinungsforschung auf der Basis literarischer Texte. Wird, wie in der traditionellen Imagologie üblich, nach nationalen Selbst- und Fremdbildern gefragt, die den Stand internationaler Beziehungen spiegeln sollen, liegt überdies ein Vergleich mit Einstellungsmessungen nahe, wie sie vor allem aus der Sozialpsychologie der Nachkriegszeit bekannt sind: Mit Hilfe von Eigenschaftslisten wird ermittelt, wie Probanden einer Nation oder Ethnie Fremdgruppen >sehentypischen< Eigenschaften sie der eigenen und der fremden Gruppe zuschreiben. Nachdem durch simple Rechnungen festgestellt ist, welche Attribute am häufigsten ausgewählt wurden, gelten diese als repräsentativ. Solche »Zusammenfassungen individueller Eigenschaftszuschreibungen für soziale Gruppen« hat die Sozialpsychologie »Stereotype«genannt.1 Unter anderem sind in den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts auch Arbeiten zu wechselseitigen Völker-Bildern auf der Grundlage operationalisierender Verfahren entstanden, die >Auto-< und >HeteroStereotyp< zu suchen, den die Imagologie aus der Sozialpsychologie übernommen hat. Als wissenschaftlicher Terminus geht >Stereotyp< wiederum auf das Buch eines amerikanischen Journalisten zurück, Walter Lippmanns »Public Opinion«, erschienen im Jahr 1922. Unter Verzicht auf begriffliche Trennschärfe beschreibt Lippmann die »öffentliche Meinung« als »Bilder in den Köpfen« der Menschen: »Bilder von sich selbst, von anderen, von ihren Bedürfnissen, Zielen und Beziehungen zueinander«. 4 >Stereotyp< ist Lippmann zufolge dasselbe wie >Bild< oder >Fiktionaufdrängt< und »dem Gebrauch der Vernunft vorausgeht«. 5 Solche »Fiktionen« sichern »die Anpassung des Menschen an seine Umgebung auf der Ebene gesellschaftlichen Lebens«. 6 Lippmanns Stereotyp-Begriff ist zwar unscharf, 7 enthält aber im Kern Erkenntnisse, welche über die Merkmalslisten in der frühen Sozialpsychologie hinausweisen zu modernen Standpunkten der Stereotypenforschung. 8 Denn der Publizist hat bereits die Leistung solcher Wahrnehmungsschemata erkannt: Sie bieten dem einzelnen eine Orientierungsmöglichkeit, indem sie Komplexität reduzieren. Auch auf die Erfahrungsresistenz hat Lippmann hingewiesen: »Nichts verhält sich der Erziehung oder der Kritik gegenüber so unnachgiebig wie die Stereotype.« 9 Der Grund hierfür: »Wenn ein System von Stereotypen gut verankert ist, wendet sich
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und spießig halten«, dürfe »wohl berechtigterweise damit in Verbindung gebracht werden, daß die Franzosen selbst für leichtlebig, impulsiv, lebhaft und galant gehalten werden.« Eben diese Annahme eines Abhängigkeitsverhältnisses von Selbst- und Fremdeinschätzung prägt zum Beispiel auch Finks imagologische Arbeiten (siehe etwa Fink: Reflexions sur l'imagologie, S. 17 u. 31). Auf Hofstätter, Sodhi, Bergius und Holzkamp stützt sich ausdrücklich Manfred Beller: Typologia reciproca. Über die Erhellung des deutschen Nationalcharakters durch Reisen, in: Conrad Wiedemann (Hg.): Rom - Paris - London. Erfahrung und Selbsterfahrung deutscher Schriftsteller und Künstler in den fremden Metropolen. Ein Symposion, Stuttgart 1988, S. 30-47, bes. S. 39f.; siehe auch die kontroverse Diskussion über Bellers Thesen S. 182-184. So - in bezug auf Kripal Singh Sodhi, Rudolf Bergius: Nationale Vorurteile. Eine sozialpsychologische Untersuchung an 881 Personen, Berlin 1953 - Schäfer: Entwicklungslinien der Stereotypen- und Vorurteilsforschung, S. 17. Zur Kritik an der begrenzten Erklärungskraft von Einstellungsskalen, mit denen die Frage nach den Voraussetzungen für Diskriminierung nicht beantwortet werden könne, siehe S. 19. Walter Lippmann: Die öffentliche Meinung, München 1964 (Reprint Bochum 1990), S. 28. Ebd. S. 74. Ebd. S. 18. Siehe auch Leyens, Yzerbyt, Schadron: Stereotypes and Social Cognition, S. 10. In der jüngeren Sozialpsychologie wird darauf hingewiesen, daß die »Operationalisierung von Stereotypen mit Hilfe von Eigenschaftslisten« sich in theoretischer Hinsicht als hinderlich erwiesen hat, weil sie einen produktiven Anschluß an Lippmanns Thesen geraume Zeit verhinderte (Schäfer: Entwicklungslinien der Stereotypen- und Vorurteilsforschung, S. 13). Lippmann: Die öffentliche Meinung, S. 74. 34
unsere Aufmerksamkeit den Tatsachen zu, die es stützen, und von den anderen, die ihm widersprechen, ab.« 10 Demnach bestimmen Stereotype, welche »Tatsachengruppe wir sehen und in welchem Lichte wir sie sehen sollen.« 11 So kommt es, daß wir an »unseren gewohnten Urteilen über Menschenmassen« festhalten, von den »logischen Franzosen, den disziplinierten Deutschen, den unwissenden Slawen« reden, obwohl solche »Verallgemeinerungen« »statistisch völlig unvernünftig« sind. 12 Während Lippmann Stereotype als gefühlsgeladen versteht und mit Vorurteilen gleichsetzt, 13 wird in der Sozialpsychologie seit der sogenannten >kognitiven Wende< in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts differenziert zwischen Stereotyp, Vorurteil und Diskriminierung: Unter dem Einfluß der >Social-Cognitionim Kopf hatc Stereotypes are not only lists of attributes that apply to social categories. They function also, and mainly, as theoretical naive explanations of the world. To the same extent that a person does not change theories all the time, stereotypes should be rigid. [...] Stereotypes certainly simplify reality, but they do not necessarily result from intellectual laziness 20 .
Aus dieser Sicht erscheinen sie keineswegs nur als starr, sondern durchaus auch als flexibel: »Stereotypes are a means of shorthand for a vast amount of data, but also a means of extrapolating from a little information«; »to the same extent that stereotypes are both flexible and rigid, they simplify past knowledge and create new knowledge."21 Stereotype dienen also nicht nur dazu, die wahrgenommene Vielfalt zu ordnen, sondern auch dazu, die Wirklichkeit zu erklären.22 Menschen scheinen, so heißt es in diesem Zusammenhang, dazu zu neigen, den Kategorien, die sich auf die soziale Welt beziehen, eine Art von Wesenhaftigkeit (»essence«) zuzuschreiben, um sich den inneren Zusammenhang (»coherence«) der Kategorien plausibel zu machen. 23 Auf nationale Stereotype bezogen, wäre dies so zu interpretieren, daß es eine >naive Theorie< gibt, die den Angehörigen einer Nation so etwas wie ein kollektives Wesen unterstellt. Leyens, Yzerbyt und Schadron kommen zu dem Schluß: Stereotypes may be stupid judgements and they may show bad taste. However, they are useful and inescapable. Debunking their underlying naive theories and showing the role of these theories in their use would have a greater positive impact than pretending they should not exist. By doing so, researchers will view stereotypes as explanatory meanings rather than as erroneous pieces of information. 24
Kognitionspsychologisch gesehen erfüllen Stereotype also eine wichtige Funktion. Im Unterschied zur gängigen Auffassung von Vorurteilen sind sie nicht notwendigerweise negativ, es gibt vielmehr auch positive Stereotype. Gordon W. Allports Annahme, daß sie dazu dienen, bestehende Vorurteile zu rationalisieren und zu rechtfertigen,25 wird zwar von der jüngeren Forschung nicht bestritten, gilt jedoch keineswegs als Normalfall. Es wird die These vertreten, Stereotype seien relativ unabhängig vom Vorurteil,26 könnten gesondert untersucht werden. 27 Versuche haben sogar ergeben, daß »die Fähigkeit von Personen, den Inhalt von Stereotypen über ethnische Minderheiten wiederzugeben, noch keine Rückschlüsse auf deren Einstellung zu
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Ebd. S. 204. Ebd. S. 204f. Siehe ebd. S. 16. Ebd. S. 205. Ebd. S. 206. Siehe Gordon W. Allport: Die Natur des Vorurteils, hg. u. kommentiert von Carl Friedrich Graumann, Köln 1971, S. 198, 200, 212. Siehe beispielsweise Leyens, Yzerbyt, Schadron: Stereotypes and Social Cognition, S. 31. Siehe hierzu Zick: Vorurteile und Rassismus, S. 45.
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den Gruppen zuläßt« und daß sowohl »Personen mit starken« als auch »solche mit geringen Vorurteilen«, sobald man sie dazu auffordert, ganz »ähnliche Stereotype über Outgroups [...] aktivieren können«; dies erklärt sich daher, daß sie »dieselben kulturellen Stereotype [...] in ihrer Sozialisation gelernt haben.« 28 Daher postuliert beispielsweise Patricia G. Devine eine important distinction between knowledge of a cultural stereotype and acceptance or endorsement of the stereotype. That is, although one may have knowledge of a stereotype, his or her personal beliefs may or may not be congruent with the stereotype. [...] Beliefs are propositions that are endorsed and accepted as being true. Beliefs can differ from one's knowledge about an object or group or one's affective reaction toward the object or group [...]. To the extent that stereotypes and personal beliefs represent different and only potentially overlapping subsets of information about ethnic or racial groups, they may have different implications for evaluation of and behavior toward members of the ethnic and racial groups. 29
Wenn Stereotype demnach zum kulturellen Wissen gehören sollen, so ist daran zu erinnern, daß die Frage, in welchen territorialen Grenzen solches Wissen tradiert wird, erst noch zu klären wäre, weil >Gesellschaft< und >Kultur< eben nicht von vornherein in nationalen Grenzen zu denken sind. Welche Konsequenzen ergeben sich aus dieser Neuorientierung in der Sozialpsychologie für unser Interesse an nationalen Stereotypen als Gegenstand der Literaturwissenschaft? Im Hinblick auf die Imagologie läßt sich zunächst eine Übereinstimmung feststellen: Weder Imagologen noch Sozialpsychologen fragen heute noch nach dem Realitätsgehalt nationaler Stereotype. Daß diese einen >Wahrheitskern< enthalten, gilt als unumstritten, man weiß aber inzwischen, wie vergeblich es ist, dieses Quentchen ermitteln zu wollen.30 Stereotype erlauben aber auch nicht ohne weiteres einen Rückschluß auf Einstellungen - also auf die affektive Ebene der Vorurteile - desjenigen, der sie benutzt. Das ist von der Sozialpsychologie nach ihrer >kognitiven Wende< zu lernen - ein Grund mehr, literarische Texte nicht daraufhin zu prüfen, welche Haltung ihre Autoren gegenüber einem fremden Land eingenommen haben mögen. Stereotype tauchen zudem nur als ein begrenztes Repertoire von Zuschreibungen auf, die trotz wechselnder Kontexte im wesentlichen gleichbleiben, wie der aus der
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So Zick im Rahmen eines Überblicks über den Stand der Stereotypenforschung (ebd. S. 166). Devine hat beispielsweise herausgefunden, daß »high- and low-prejudice persons are equally knowledgeable of the cultural stereotype of Blacks. In addition, because the stereotyp« has been frequently activated in the past, it is a well-learned set of associations that is automatically activated in the presence of a member (or symbolic equivalent) of the target group«. Es sei davon auszugehen, »that this unintentional activation of the stereotype is equally strong and equally inescapable for high- and low-prejudice persons«. (Patricia G. Devine: Stereotypes and Prejudice: Their Automatic and Controlled Components, in: Journal of Personality and Social Psychology 56, 1989, S. 5-18, Zitate S. 6.) Devine: Stereotypes and Prejudice, S. 5f. Siehe Zick: Vorurteile und Rassismus, S. 212.
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Druckersprache übernommene B e g r i f f schon sagt. 3 1 Kein Wunder, daß Imagologen gewöhnlich den Ausdruck >Stereotyp< lieber in dem unspezifischen Sinn von >Bild< verstehen wollen, zumal es auf diese Weise m ö g l i c h zu sein scheint, eine B r ü c k e von Lippmanns »pictures in our h e a d s « 3 2 oder Allports » i m a g e s « 3 3 zu den Begriffen » m i r a g e « und » i m a g e « bei C a r r e und G u y a r d 3 4 zu schlagen. Denn Stereotype - im oben erläuterten Verständnis von relativ starren, erfahrungsresistenten Zuschreibungen - könnten, für sich g e n o m m e n , die wechselvollen >Beziehungenzwischen Ländern< gibt, überhaupt nicht z u m Ausdruck bringen. B e i solcher Kritik an imagologischen Prämissen und Verfahren ist allerdings P a g e a u x wiederum gesondert zu berücksichtigen: Seine Definition des Stereotyps als » e n o n c e d'un savoir dit collectif« oder » f o r m e minimale d'informations pour une communication m a x i m a l e « 3 5 entspricht durchaus dem modernen sozialpsychologischen Verständnis. Aufschlußreich ist außerdem die Formulierung, das Stereotyp sei »porteur d'une definition de l ' A u t r e « : »II etablit un rapport de conformite entre une expression culturelle simplifiee et une societe: la promotion de l'attribut au rang d ' e s s e n c e appelle le consensus socioculturel le plus large p o s s i b l e . « 3 6 S o läßt sich im Anschluß an P a g e a u x und im L i c h t neuerer sozialpsychologischer Erkenntnis
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Das Adjektiv >stereotyp< geht auf die griechischen Wörter »στερεός >starr, hart, fest< und τύπος >Form, Gestalt, Modellständig wiederkehrend, immer gleichbleibend; monoton, formelhaft^ auch >leer, abgedroschen, nichtssagendtypische< Verhaltensweisen [...] eine wesentliche Rolle bei der Versprachlichung sozialer Kategorien«; »soziale Kategorien und Stereotype«
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mündlicher Kommunikation können diese nicht unmittelbar auf den Adressaten reagieren, können einen Standpunkt gar nicht direkt bekräftigen oder modifizieren, da sie durch das gedruckte Medium notgedrungen vermittelt und daher zeitversetzt rezipiert werden. Für die Analyse von Stereotypen in der Literatur scheint sich daher eine andere Tradition des linguistischen Stereotyp-Verständnisses anzubieten, die ebenso wie die jüngere Sozialpsychologie das Stereotyp vom Vorurteil unterscheidet. Klein räumt beispielsweise ein, daß ein »negatives soziales Stereotyp« zwar »vielfach« »negativen Vorurteilen« entsprechen mag, fordert aber unter Berufung auf Allport,53 beide Konzepte heuristisch zu trennen und das Stereotyp neutraler zu fassen »als auf eine soziale Formation gerichtete, in einer Kommunikationsgemeinschaft verfestigte Menge von Zuschreibungen mit Bewertungs- und Einstellungsimplikationen«.54 Sie könnten übrigens ebensogut bildlich - »in Form von Karikaturen, Cartoons oder auch Bild-Pamphleten« - wie sprachlich realisiert auftreten. 55 Nach dieser Lesart sind die »semantischen Merkmale«, die Stereotype ausmachen, »nichts« anderes »als sozio-kulturell bedingte Alltagswissensbestände«.56 Gerd Hentschel hat darauf aufmerksam gemacht, daß sich aus sprachwissenschaftlicher Perspektive strenggenommen nicht begründen läßt, warum »die Frage nach dem Stereotyp« bloß auf »Bezeichnungen von Klassen von Menschen« abzielt und nicht auch »unbelebte Referenten« einbezieht.57 Daß dennoch >Stereotyp< derart eingeschränkt - nur auf »personale lexikalische Kategorien« bezogen - gebraucht wird, führt er auf das besondere »Forschungsinteresse« zurück sowie auf den Ursprung der
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sind dabei allerdings »nur insofern von Interesse, als sie maßgebliche Orientierungsgrundlagen für die Teilnehmenden in konkreten Interaktionssituationen darstellen und als solche auch nachgewiesen werden können.« (Kern: Vorurteile im Gespräch, S. 97.) Auch die bei Kesselheim aufgeführte Literatur, die Sacks' Konzept »für die Untersuchung nationaler Selbst- und Fremdbilder« sowie »des ethnischen Diskurses [...] fruchtbar gemacht« hat (Kesselheim: Interaktive Verfahren der Herstellung von Gruppen im Gespräch, S. 130), bezieht sich auf konkrete Gesprächsanalysen. Siehe Marek Czyzewski, u. a. (Hg.): Nationale Selbst- und Fremdbilder im Gespräch. Kommunikative Prozesse nach der Wiedervereinigung Deutschlands und dem Systemwandel in Ostmitteleuropa, Opladen 1995; Aldo Di Luzio, Peter Auer: Identitätskonstitution in der Migration: Konversationsanalytische und linguistische Aspekte ethnischer Stereotypisierungen, in: Linguistische Berichte 104, 1986, S. 327-351. Zur Erinnerung: »Stereotype sind nicht identisch mit Vorurteilen. Sie sind in erster Linie Rationalisierungen. Sie passen sich der jeweiligen Stimmung der Vorurteile und den Bedürfnissen der Situation an. Es tut zwar keinen Schaden [...], wenn man sie in Schulen und Colleges bekämpft und in den Massenmedien klein hält, aber man darf nicht glauben, daß ein solcher Angriff die Wurzeln des Vorurteils trifft.«, (Allport: Die Natur des Vorurteils, S. 212.) Klein: Linguistische Stereotypbegriffe, S. 30. Ebd. S. 45, Anm. 16. Ebd. S. 33. - Auf Kleins Vorschläge zu einer Verbindung von Stereotyp und Frame-Theorie kann an dieser Stelle verzichtet werden. Hentschel: Stereotyp und Prototyp, S. 38.
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Stereotypenforschung in der Sozialwissenschaft. 58 Die »interessanteren Aspekte von Existenz, Wirksamkeit und Tradierung von Stereotypen« lägen allerdings »außerhalb des engeren Gegenstandsbereiches der Linguistik«, erklärt Hentschel, nachdem er gezeigt hat, daß Stereotype lediglich einen »Sonderfall der allgemein sprachlichen Kategorisierung« darstellen: 59 Vor dem Hintergrund der Prototypensemantik, die seit der >Kognitiven Wende< ein großes Echo bei Sprachwissenschaftlern gefunden hat, lassen sich »stereotype Eigenschaften« nämlich als »Subtyp der prototypischen Eigenschaften« verstehen, 60 sind mithin kein eigenständiges linguistisches Phänomen. Wie alle prototypischen Eigenschaften »gehören« auch die stereotypen »als implizite Prädikation zum Merkmalkomplex der jeweiligen Kategorien«, 61 lassen sich also (im Fall der Kategorie, die hier als Beispiel dient) auf die Formel bringen: >die Deutschen sind ... < oder >die Deutschen haben, können, tun usw. ...Boches< oder >Krauts< als Schimpfwörter für die Deutschen nicht als Stereotype aufzufassen - eine Unterscheidung, die bei der pauschalen Frage nach >Bildern des Deutschem nicht getroffen wird. Wie die Linguistik Hilfestellung leisten kann bei einer genaueren Bestimmung dessen, was nationale Stereotype sind, so bietet sie auch wichtige Erkenntnisse in bezug auf die Funktion solcher Stereotype im Kommunikationsprozeß. Orientiert an Ergebnissen der polnischen Stereotypenforschung, hat Magdalena Telus 1994 vier grundlegende Funktionen benannt: Die »kognitive« und die »phatische« Funktion, die »Appellfunktion« und die »emotive« Funktion.69 Telus kritisiert Positionen, die - wie seit Lippmann manches Mal geschehen - »gruppenspezifische Stereotype von dem Realisationsaspekt lösen und folglich mit verschwommenen Entitäten im menschlichen Denken bzw. Empfinden« zu tun haben. 70 Denn auf diese Weise werde das Stereotyp »irgendwo im Kopf eines Individuums angesiedelt«, könne sogar »in Form einer, wie auch immer gearteten, Intuition bestehen« - wodurch eine »definitorische Unterscheidung« gegenüber »Einstellung« und »Vorurteil« erschwert, wenn nicht unmöglich werde. 71 Telus geht es dagegen ausdrücklich um das sprachliche Phänomen, und so faßt sie Stereotype eben nicht als »Intuition«, sondern als eine »ausgeprägte Zuordnungsrelation« auf, derzufolge man gemeinhin annimmt, daß ein »echter Vertreter« einer Gruppe eben diese oder jene Eigenschaft haben müsse. 72 Auch Telus zufolge gilt: »Gruppenspezifische Stereotype« sind »Ausdrücke von bestimmten Bestandteilen des kollektiven Wissens«. 73 Als solche »liefern« sie »kognitive Erklärungen besonderer Art«: »Sie sind universell gültig, da sie weder verifizierbar noch falsifizierbar sind, und eignen sich ausgezeichnet zum Abschluß eines Gedankengangs«, scheinen sie doch »einen Sachverhalt« »kausal« zu >erklärenGrund< für die radikale Veränderung angeführt wird, ist so selbstverständlich, daß eine bloße Anspielung genügt, zumal der voraufgehende Brief den allseits bekannten »Hauptbestandteil« ausdrücklich thematisiert hat: Gemeint ist >typisch französischen Wankelmut.78 Die »phatische Funktion gruppenspezifischer Stereotype« kann laut Telus in der Alltagskommunikation als »Normalfall« gelten. 79 Gemeint ist, daß solche Zuschreibungen in besonderem Maße dazu geeignet sind, den »Kontakt« zum Kommunikationspartner »aufzunehmen« 80 oder zu erhalten.81 Das liegt daran, daß Stereotype, anders als Sprichwörter, »eine wenn auch geringe intellektuelle Anstrengung erfordern«; sie können Widerspruch provozieren der Art »Alle Menschen sind verschieden«, und
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proposta di ricerca, in: Societä di linguistica italiana, Gruppo di Lecce [Hg.]: Linguistica e antropologia. Atti del XIV congresso intemazionale di studi, Roma 1983, S. 353-385, Zitat S. 377.) Telus: Einige kulturelle Funktionen gruppenspezifischer Stereotype, S. 35. Siehe auch Peter Grzybek: Kulturelle Stereotype und stereotype Texte, in: Walter A. Koch (Hg.): Natürlichkeit der Sprache und der Kultur. Acta Colloquii, Bochum 1990, S. 300-327, bes. S. 314f. Joachim Heinrich Campe: Reise durch England und Frankreich in Briefen an einen jungen Freund in Deutschland, 2. Teil, Braunschweig 1803, S. 198. Ebd. S. 203f. »Ein so oft und so schnell sich umwandelndes [...] Wesen lernt man so geschwind nicht kennen«, nach einigen Wochen könne es »wieder in einer ganz neuen Form und Gestalt, völlig verschieden von der gegenwärtigen, dastehen« - ein »wandelbarer Proteus« ist der Franzose. (Ebd. S. 166.) Telus: Einige kulturelle Funktionen gruppenspezifischer Stereotype, S. 37. (Hervorhebung nicht im Original.) Ebd. Siehe ebd. S. 38.
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erlauben so, »einen Gedankengang [...] zu entwickeln«.82 Freilich lassen sich Telus' Beobachtungen nicht unmittelbar von der Alltagskommunikation auf die Literatur übertragen. Doch es gibt Beispiele dafür, daß in fiktiven Dialogen Stereotype von den Figuren in phatischer Funktion benutzt werden. Dies ist nicht auf Dramen beschränkt, wo ein solches Verfahren zur Konturierung von Standpunkten dienen mag. Auch bei Texten in Gesprächsform, die unterhaltend belehren sollen, kommt es vor. So läßt sich aus der Zeit der französischen Klassik ein - unter deutschen Autoren berühmt gewordener - Dialog anführen, in dem eine stereotype Äußerung über die Deutschen das Stichwort dafür liefert, daß einer der beiden fiktiven Gesprächspartner präziser beschreibt, was unter dem Ideal des >bel-esprit< zu verstehen sei: In den 1671 publizierten »Entretiens d'Ariste et d'Eugene« läßt Dominique Bouhours die Figur Ariste erklären: »Le bei esprit est de tous les pays et de toutes les nations, c'est-ä-dire que, comme il y a eu autrefois de beaux esprits grecs et romains, il y en a maintenant de fran^ais, d'italiens, d'espagnols, d'anglais, d'allemands meme et de moscovites.«83 Daraufhin entgegnet Eugene: »C'est une chose singuliere qu'un bei esprit allemand ou moscovite [...], s'il y en a quelques-uns au monde, ils sont de la nature de ces esprits qui n'apparaissent jamais sans causer de l'etonnement«, und zitiert einen französischen Kardinal, der über einen deutschen Jesuiten gesagt haben soll: »II a bien de l'esprit pour un Allemand«.84 Indem Eugene - in >phatischer FunktionWahrheit< stützen, die auch Ariste anerkennen muß. Der unbedingte Geltungsanspruch dieser >Wahrheit< aber steht zur Debatte: J'avoue, interrompit Ariste, que les beaux esprits sont un peu plus rares dans les pays froids, parce que la nature y est plus languissante et plus morne, pour parier ainsi. - Avouez plutöt, dit Eugene, que le bei esprit, tel que vous l'avez defini, ne s'accommode point du tout avec les temperaments grossiers et les corps massifs des peuples du Nord. Ce n'est pas que je veuille dire [...] que tous les Septentrionaux soient betes. II y a de l'esprit et de la science en Allemagne, comme ailleurs, mais enfin on n'y connait point notre bei esprit, ni cette belle science qui ne s'apprend point au college et dont la politesse fait la principale partie 85 .
Es sei sogar fraglich, ob der >bel esprit< bei Spaniern oder Italienern ebenso verbreitet sei wie bei den Franzosen, denen er geradezu angeboren zu sein scheine.86 Ariste weist solch kühne Überheblichkeit87 zurück und wehrt sich gegen einseitig deterministische Erklärungen im Sinne der Klimatheorie:
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Ebd. Dominique Bouhours: Entretiens d'Ariste et d'Eugene [1671], hg. von Rene Radouant, Paris 1920, S. 180. Ebd. Ebd. S. 181. Siehe ebd. S. 181f. Siehe ebd. S. 182.
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Je sais bien qu'il y a des pays plus spirituels que d'autres [...]. Mais il ne s'ensuit pas que les autres pays soient aussi steriles que vous dites, et enfin il n'est pas des esprits comme de l'or et des pierreries, que la nature n'a formes qu'en certains endroits de la terre: il s'en trouve sous les climats froids et chauds aussi bien que sous les climats temperes, parmi les nations barbares comme parmi les nations polies. 88 Nationale Stereotype dienen hier dazu, das universalistische Verständnis von >bel esprit< als e i n e m Leitwert g e s e l l i g e n Verhaltens zu entfalten und haben s o eine ähnliche Funktion w i e die H i n w e i s e auf Epochen- und Geschlechterdifferenzen, die in Bouhours' Dialog ebenfalls thematisiert werden. D a s Beispiel veranschaulicht, inwiefern ein genauer Blick auf nationale Stereotype und ihre besondere Funktion im j e w e i l i g e n Textzusammenhang literaturwissenschaftlich sinnvoll sein kann. Zwar taugt das Stereotyp kaum als Schlüssel zur umfassenden Deutung eines Textes, denn in der R e g e l hat es in dessen G e f ü g e nur einen untergeordneten Stellenwert. Wird es jedoch weder als Stereotyp erkannt noch auf seine textabhängige Funktion befragt, wird es z u d e m aus d e m unmittelbaren K o n t e x t isoliert und als wörtlich z u n e h m e n d e s Urteil d e s Verfassers über e i n Volk gelesen, bietet ein solches Muster Anlaß zu Mißverständnissen. D a v o n zeugt die u n a n g e m e s s e n e Schärfe, mit der m a n c h deutscher Autor n o c h Generationen später auf die zitierte Stelle reagiert hat. 8 9 Gottsched etwa unterstellt Bouhours, er habe die geistigen Fähigkeiten der Deutschen in Z w e i f e l ziehen w o l l e n und »die ehrenrührige Frage a u f g e w o r f e n [...]: Si un A l l e m a n d peut avoir de l'Esprit? O b ein Deutscher auch Witz haben k ö n n e ? « 9 0 G e g e n soviel (vermeintliche) Ignoranz
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Ebd. S. 182f. Dies wurde in der imagologischen Lesart des Textes fortgeschrieben. So spricht Fink beispielsweise von Bouhours' »pauschal negativem Urteil«. (Fink: Der janusköpfige Nachbar, S. 20. Fink verweist auf Max von Waldberg: Eine deutsch-französische Literaturfehde, in: Hans Teske: Deutschkundliches. Festschrift Friedrich Panzer zum 60. Geburtstag, Heidelberg 1930, S. 87-116. Aus heutiger Sicht ist Waldbergs Schrift jedoch allenfalls als Fundgrube von Belegstellen von Interesse; deren Interpretation aber muß als historisch fragwürdig gelten, weil die Polemiken gegen Bouhours zum »Kampf der Deutschen um ihre völkische Ehre und Würde« stilisiert werden [S. 116], der »das deutsche Volk zur Selbstbesinnung aufgerufen« [S. 115] und so die Weimarer Klassik vorbereitet habe [siehe S. 116].) So Gottsched in seinem Kommentar zum Artikel »Bouhours« in: Pierre Bayle: Historisches und Critisches Wörterbuch. Nach der neuesten Auflage von 1740 ins Deutsche übersetzt; auch mit einer Vorrede und verschiedenen Anmerkungen versehen von Johann Christoph Gottsched, Bd. 1, Leipzig 1741 (Reprint Hildesheim, New York 1974), S. 645. - Ergänzend hierzu eine Auswahl vergleichbarer Stimmen: Auch in Zedlers Artikel »Naturell der Völcker« aus dem Jahr 1740 wird behauptet, »der Frantzösische Jesuit Bouhours« habe »von den Ingeniis der Deutschen sehr verächtlich gesprochen« (Artikel »Naturell der Völcker«, in: Johann Heinrich Zedier: Grosses vollständiges Universal-Lexicon, Bd. 23, Leipzig, Halle 1740 [Reprint Graz 1982], Sp. 1246-1251, Zitat Sp. 1247), und Lessing kann voraussetzen, daß er verstanden wird, wenn er fast dreißig Jahre später, im einundachtzigsten Stück der »Hamburgischen Dramaturgie«, ohne jede Erläuterung polemisiert: »Deutschland hat sich noch durch keinen Bouhours lächerlich gemacht.« (Gotthold Ephraim Lessing: Hamburgische Dramaturgie, in: G. E. L.: Werke und Briefe in zwölf Bänden, hg. v. Wilfried Bamer u. a., Bd. 6: Werke 1767-1769, hg. v. Klaus Bohnen, Frankfurt a. M. 1985, S. 181-694, Zitat S. 585.)
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werden die »Erfindungen des deutschen Witzes« beschworen: Schießpulver und Buchdruck, Fernrohr und Luftpumpe, Fortschritte in Astronomie und Mathematik sowie die Schriften der Humanisten. 91 Wie deutlich geworden ist, geht es aber an der vermeintlich anstößigen Stelle der »Entretiens« gar nicht darum, das geistige Vermögen der Deutschen anzuzweifeln. 92 Nicht >esprit< im allgemeinen wird bei Bouhours verhandelt, sondern das Salon-Ideal des >bel-espritWitz< zuerst die Bedeutung »verstand, klugheit«, »geistige kraft schlechthin« (Jacob Grimm, Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch, Bd. 14,11, Leipzig 1960, Sp. 862 u. 866). Um 1700 taucht er unter dem Einfluß des französischen >esprit< als »neuer Begriff« - »als gäbe der geistreichen einfalle ohne scherzhaften nebensinn« - vor allem dort auf, »wo man gezwungen war, sich mit dem fremdsprachlichen esprit auseinanderzusetzen« (ebd. Sp. 871). Grimms Wörterbuch geht übrigens auch auf die Auseinandersetzung deutscher Autoren mit Bouhours ein und führt Belege für die Unsicherheit bei der Ubersetzung des Ausdrucks >bel esprit< an: neben »schönem verstand« kommt »schöner geist« vor (ebd.), und selbst um die Mitte des 18. Jahrhunderts wird >esprit< auch noch mit »geist« übersetzt (Sp. 872f.). Aufschlußreich ist die begriffliche Differenzierung in der »Encyclopedie«. Mit Blick auf soziale, geschichtliche und kulturelle Unterschiede schreibt Voltaire über die Wortbedeutung von »esprit« in Philosophie und Literatur: »Ce mot, en tant qu'il signifie une qualite de l'ame, est un de ces termes vagues, auxquels tous ceux qui les prononcent attachent presque toüjours des sens differens. II exprime autre chose que jugement, genie, goüt, talent, pen6tration, etendue, grace, finesse; & il doit tenir de tous ces merites: on pourroit le definir, raison ingenieuse. C'est un mot generique qui a toüjours besoin d'un autre mot qui le determine [...]. Un esprit ferme, male, courageux, grand, petit, foible, leger, doux, empörte, &c. signifie le caractere & la trempe de l'ame, & n'a point de rapport ä ce qu'on entend dans la societe par cette expression, avoir de i esprit. L'esprit, dans l'acception ordinaire de ce mot, tient beaucoup du bel-esprit, & cependant ne signifie pas precisement la meme chose: car jamais ce terme homme d' esprit ne peut etre pris en mauvaise part, & bel-esprit est quelquefois prononce ironiquement. D'oü vient cette difference? c'est qu'homme d'esprit ne signifie pas esprit superieur, talent marque, & que bel-esprit le signifie. Ce mot homme d'esprit n'annonce point de pretention, & le bel-esprit est une affiche; c'est un art qui demande de la culture, c'est une espece de profession, & qui par-la expose ä 1'envie & au ridicule. C'est en ce sens que le P[ere] Bouhours auroit eu raison de faire entendre [...] que les Allemands ne pretendoient pas ä Vesprit, parce qu'alors leurs savans ne s'occupoient guere que d'ouvrages laborieux & de penibles recherches, qui ne permettoient pas qu'on y repandit des fleurs, qu'on s'efforgat de briller, & que le bel-esprit se melät au savant.« (Voltaire: Artikel »Esprit«, in: Encyclopedie ou Dictionnaire raisonne des sciences, des arts et des metiers, Bd. 5, Paris 1755 [Reprint Stuttgart-Bad Cannstatt 1966], S. 973-975, Zitat S. 973f.) Es ist bemerkenswert, daß dies bereits Christian Thomasius, immerhin ein Zeitgenosse von Bouhours, beobachtet hat. Wenn sich Thomasius in seinen »Monats-Gesprächen« für die offene Form des Dialogs entscheidet - weil er nicht den Eindruck erwecken will, der »Journaliste« erhebe sich zum Richter über die Gelehrtenrepublik - , ist ihm bewußt, daß der Leser die Form mißdeuten kann: »Als für etlichen Jahren ein bekanter Jesuit les Entretiens d'Ariste & d'Eugene herausgabe«, sei es vorgekommen, daß ein Kritiker das, »was der Autor der Gespräche hinein gesetzet / und manchmahl pro & contra disputiret
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der Fiktion lediglich den Sinn, eine Gegenrede zu motivieren, die dem Gemeinplatz geradezu widerspricht. Während im Beispiel der »Entretiens d'Ariste et d'Eugene« Stereotype in >phatischer Funktion< einen fiktiven Dialog aufrechterhalten, gibt es Vergleichbares auch aus der realen Kommunikation zwischen Briefpartnern: Monsieur, vous savez sans doute que le caractere dominant de notre nation η'est pas cette aimable vivacite des Fran^ais; on nous attribue en revanche le bon sens, la candeur et la veracite de nos discours, ce qui suffit pour vous faire sentir qu'un rimeur des fonds de la Germanie n'est pas propre ä produire des impromptus. La piece que je vous envoie n'a pas non plus ce merite95.
Mit diesen Worten knüpft Kronprinz Friedrich von Preußen im Jahr 1736 Kontakt zu Voltaire, für den er einen Panegyrikus verfaßt hat. Diesen empfiehlt Friedrich dem »Apollon du Parnasse frangais« 96 unter Rückgriff auf nationale Stereotype, die er in die Form einer captatio benevolentiae kleidet: >Typisch deutsche< Treuherzigkeit und Aufrichtigkeit sollen, rhetorisch geschickt, die Ernsthaftigkeit der Huldigung betonen, die doch den Konventionen eines Preisliedes entspricht. Wenn Friedrich sich selbst, in elegantem Französisch wohlgemerkt, >deutsche Schwerfälligkeit zuschreibt, ist dies als ein Zeichen höflicher Bescheidenheit zu verstehen, das eine entgegenkommende - das Stereotyp relativierende - Antwort erheischt. In ihrer Funktionsanalyse gruppenspezifischer Stereotype kommt Magdalena Telus zu dem Ergebnis, daß »das stereotype Wissen«, das in der Regel als »dispositionelle Prädikationen vom Typus« >Die Deutschen sind schwerfällig< in Erscheinung tritt, 97 »keine« oder allenfalls »eine schwache Handlungsgrundlage bereitstellt«: »Weder auf der Oberfläche, noch in der Tiefenstruktur« geben »gruppenspezifische Stereotype« »Handlungsrichtlinien« vor. 98 Eine »appellative Funktion« kommt Stereotypen daher auch nur unter bestimmten »begünstigenden Umständen« zu, beispielsweise dann, wenn sie »gezielt« >instrumentalisiert< werden - etwa im Kontext politischer Auseinandersetzung. 99 In genau diesem Fall liegt der »zusätzliche Impuls« vor, der die »negative Potenz« eines Stereotyps entfalten und in Handlung umschlagen lassen
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hatte / ihme alles / als seine wahrhafftige Meinung zuschriebe / und als contradictiones ihm auslegte.« (Lustiger und Emsthaffter Monats-Gespräche Erster Theil, Halle 1688, S. 245 u. 247.) Brief Friedrichs an Voltaire vom 13. November 1736, in: The Complete Works of Voltaire, hg. von Theodore Besterman u. a., Bd. 88: Correspondence and related documents, Geneve, Toronto, Buffalo 1969, S. 117. Ebd. Dadurch, daß sie »meistens mit einem Adjektiv oder Dispositionsverb ausgedrückt« »werden«, »erreichen« sie »eine hohe Abstraktionsstufe«. (Telus: Einige kulturelle Funktionen gruppenspezifischer Stereotype, S. 36.) Siehe auch Gün R. Semin, Klaus Fiedler: The Cognitive Functions of Linguistic Categories in Describing Persons: Social Cognition and Language, in: Journal of Personality and Social Psychology 54, 1988, S. 558-568. Telus: Einige kulturelle Funktionen gruppenspezifischer Stereotype, S. 36. Ebd. (Hervorhebung nicht im Original.)
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kann. 100 Voraussetzung dafür ist, daß a priori eine Schwarz-Weiß-»Opposition« nach dem Schema >wir versus die anderem besteht, die »semantisch« zunächst »leer« ist.101 Die bekannten Eigenschaften der fremden und der eigenen Gruppe werden bei einem »ideologisch-politischen Gebrauch« in dieses vorgängige Schema eingepaßt, so daß es beispielsweise zu einer Anordnung von ausschließlich positiven Zuschreibungen auf der >Wirdeutscher< Redlichkeit und Einfalt, Treue und Aufrichtigkeit auf der einen, >französischer< Raffinesse und Künstlichkeit, Eitelkeit und Hinterlist auf der anderen Seite entspringt: Deutsches Herz, verzage nicht, Thu, was dein Gewissen spricht, Dieser Stral des Himmelslichts, Thue recht, und fürchte nichts. Baue nicht auf bunten Schein, Lug und Trug ist dir zu fein, Schlecht geräth dir List und Kunst, Feinheit wird dir eitel Dunst. Doch die Treue ehrenfest Und die Liebe, die nicht läßt, Einfalt Demuth Redlichkeit Steh'n dir wohl, ο Sohn vom Teut. Wohl steht dir das grade Wort, Wohl der Speer, der grade bohrt, Wohl das Schwerdt, das offen ficht Und von vorn die Brust durchsticht.
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Heinemann: Konzepte von Stereotypen, S. 8. Telus: Einige kulturelle Funktionen gruppenspezifischer Stereotype, S. 37. Ebd. Nur in diesem Fall macht es Sinn, von Auto- und Heterostereotypen zu sprechen (siehe ebd.). Ebd. Ähnliches gilt für bildliche Darstellungen, etwa für propagandistische Karikaturen, die überzeichnete negative >Eigenschaften< des Gegners der Kritik aussetzen. Beispiele aus dem deutsch-französischen Kontext finden sich etwa bei Leiner: Das Deutschlandbild in der französischen Literatur, passim.
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Laß den Wälschen Meuchelei, Du sei redlich fromm und frei; Laß den Wälschen Sklavenzier, Schlichte Treue sei mit dir. 105
Daß es sich in diesem regelrecht agitatorischen Text um eine simple Entgegensetzung von Gut (gleich Deutsch) und Böse (gleich Französisch) handelt, ist evident. Imperative und die polarisierende Auswahl der Merkmale suggerieren dem Adressaten geradezu eine moralische Verpflichtung zur Vernichtung des Gegners. Da der appellative Gebrauch von >gruppenspezifischen Stereotypen< an konkrete >Impulse< aus der »außersprachlichen Realität« gebunden ist, 106 gehören Forschungen dazu - wie etwa zu antithetischen Konstellationen nationaler Stereotype im Kontext des Nationalismus - in den Aufgabenbereich der Historiker. Wenn über Jahrhunderte hinweg einerseits eine bemerkenswerte Konstanz der Eigenschaftszuschreibungen herrscht, andererseits aber das gleiche Stereotyp vom >leichtfertigen< Franzosen und >offenherzigen< Deutschen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einen völlig anderen politischen Stellenwert einnimmt als noch ein Jahrhundert zuvor - dann, so muß man folgern, liegt das Politikum nicht eigentlich in der stereotypen Vorstellung selbst begründet. Was also läßt [...] das Stereotyp zu einem politischen Faktor werden? Es ist offenbar der Gebrauch, den man von ihm macht - oder machen kann. 107
So hat es Michael Jeismann formuliert - und in einer profunden Studie zu der deutsch-französischen Feindschaft zwischen 1792 und 1918 aufgezeigt, wie auf beiden Seiten des Rheins die »traditionellen Völkerstereotypen« in »nationale Gegensätze umdefiniert« wurden, um dann »als Indikatoren einer prinzipiellen sittlich-moralischen Differenz« interpretiert zu werden. 108 Solch eine Aufwertung des Eigenen durch gleichzeitige Abwertung des Gegners wurde möglich durch eine Verknüpfung mit »historischen Verlaufsmodellen, sei es christlicher, geschichtsphilosophischer oder völkisch-biologistischer Konvenienz«. 109 Weniger aggressiv und trotzdem typisch für die >Appellfunktion< nationaler Stereotype sind Texte, deren politischer Hintergrund auf den Literaturbetrieb beschränkt bleibt. Im Fall kunsttheoretischer oder -kritischer Auseinandersetzung zielen Invektiven gegen >die Anderen< nicht auf die Vernichtung des Gegners ab, sondern auf eine Abgrenzung von ihm. Als Beispiel ließe sich etwa die »Hamburgische Dramaturgie« anführen, in der Lessing gegen >typisch französische< Eitelkeit, Prah-
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Ernst Moritz Arndt: Gedichte. Vollständige Sammlung, Berlin 1860, S. 247. Telus: Einige kulturelle Funktionen gruppenspezifischer Stereotype, S. 36. Michael Jeismann: Was bedeuten Stereotypen für nationale Identität und politisches Handeln?, in: Jürgen Link, Wulf Wülfing (Hg.): Nationale Mythen und Symbole in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Strukturen und Funktionen von Konzepten nationaler Identität, Stuttgart 1991, S. 84-93, Zitat S. 89f. Michael Jeismann: Das Vaterland der Feinde. Studien zum nationalen Feindbegriff und Selbstverständnis in Deutschland und Frankreich 1792-1918, Stuttgart 1992, S. 22f. Ebd.
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lerei, Oberflächlichkeit, Witz und Tändelei auf der Bühne polemisiert, um Wahrheit und Natürlichkeit, Ernst und tiefe Empfindung als Maßstab für eine Erneuerung des Dramas zu propagieren - es sind dies Eigenschaften, die mühelos mit den traditionellen Merkmalen des Deutschen zu vermitteln sind. Nun ist bekannt, wie sehr die Neuorientierung, die Lessing fordert, in Theorie und Praxis Diderot - und damit einem französischen Autor - verpflichtet ist, 110 daher kann die Ablehnung alles Französischen nicht so grundsätzlich sein, wie der polemische Gestus der »Hamburgischen Dramaturgie« nahelegt. 111 Daß in ihr so etwas wie ein Feindbild entworfen wird, hat denn auch strategische Gründe: Es geht um Selbstbehauptung im literarischen Feld, das zu jener Zeit zumindest auf dem Theater noch eindeutig von französischen Stücken dominiert wurde. 112 Schwarz-Weiß-Konstellationen, die das Eigene zur Norm erheben und das Fremde zum Gegner stilisieren, sind aber, daran sei erinnert, nur ein Sonderfall im Gebrauch nationaler Stereotype - der einzige Fall auch, in dem man zu Recht von einer »emotiven Funktion« solcher Zuschreibungen sprechen kann. 113 In der Regel wird den im gruppenspezifischen Stereotyp prädizierten Eigenschaften das Merkmal >gut< oder >schlecht< gewissermaßen automatisch zugeordnet, nämlich in Übereinstimmung mit der in der Kulturformation geltenden Werthierarchie, wobei ein Wert in Abhängigkeit vom Kontext mal >gutschlecht< sein kann114.
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Siehe hierzu etwa Monika Fick: Lessing-Handbuch. Leben - Werk - Wirkung, Stuttgart, Weimar 2000, S. 200-211, sowie Roland Mortier: Diderot en Allemagne (1750-1850), Reimpression de Γ edition de Paris 1954, Geneve, Paris 1986, S. 76-84. Zudem lassen sich die Nationalstereotype in der »Hamburgischen Dramaturgie« in Hinblick auf eine »didaktische Funktion« interpretieren, wie Fink überzeugend dargelegt hat: Lessing habe, wie manch einer seiner Schriftsteller-Kollegen, »das allzu positive Frankreichbild« der »deutschen Elite« »korrigieren« wollen. (Gonthier-Louis Fink: Nationalcharakter und nationale Vorurteile bei Lessing, in: Wilfried Barner, Albert M. Reh [Hg.]: Nation und Gelehrtenrepublik. Lessing im europäischen Zusammenhang, Detroit, München 1984, S. 91-119, ZitatS. 107.) Selbst in Hamburg wurden überwiegend französische Stücke gegeben; Voltaire war der am meisten gespielte Autor. Siehe dazu Horst Steinmetz: Literaturgeschichte und Sozialgeschichte in widersprüchlicher Verschränkung: Das Hamburger Nationaltheater, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 4, 1979, S. 24—36, bes. S. 30f. - Zu den innerliterarischen deutsch-französischen Auseinandersetzungen seit der französischen Klassik siehe Gonthier-Louis Fink: Vom universalen zum nationalen Literaturmodell im deutsch-französischen Konkurrenzkampf (1680-1770), in: Wilfried Barner (Hg.): Tradition, Norm, Innovation. Soziales und literarisches Traditionsverhalten in der Frühzeit der deutschen Aufklärung, München 1989, S. 33-70. So Telus: Einige kulturelle Funktionen gruppenspezifischer Stereotype, S. 37. (Hervorhebung nicht im Original.) - Im Unterschied zu manchem Vorgänger führt die Linguistin die Erfahrungsresistenz der Stereotype nicht auf deren »Emotionsbeladenheit« zurück, sondern auf den Umstand, daß sie als »Bestandteile des kollektiven Wissens« ebenso unangefochten bleiben wie der »Prototyp >Vier Beine haben (= Tisch)< trotz Existenz vieler dreibeiniger Tische« (ebd.). Ebd. 52
Ob beispielsweise >schlicht< und >einfach< (Epitheta, die auch als Zuschreibungen des Deutschen auftreten können) positiv oder negativ zu verstehen sind, hängt von situativen, zeit-, räum- und gruppenspezifischen Rahmenbedingungen ab: Nach den Maßstäben höfischer Repräsentationskultur sind diese Attribute selbstverständlich anders konnotiert als im Zusammenhang mit einer Zivilisationskritik in der Nachfolge Rousseaus. Diese grundsätzlichen Beobachtungen zur Funktionsweise von nationalen Stereotypen aus linguistischer Sicht treffen sich mit Überlegungen, die im Rahmen der - vor allem durch die polnische Geschichtswissenschaft angeregten - historischen Stereotypenforschung angestellt worden sind. Während sich »deklarierte Feindbilder« aus Sicht des Historikers zumeist »verhältnismäßig einfach begrenzten Zeiträumen und bestimmten gesellschaftlichen und politischen Kräften zuschreiben« lassen, weil »alle Bewertungen in eindeutig negative Richtung gelenkt« und damit ideologisch festgelegt sind, ist es in anderen Fällen schwierig, nationale Stereotype »soziologisch, politisch und [...] auch historisch präzis einzuordnen«.115 Das liegt eben an ihrer »ambivalenten Struktur«,116 die erlaubt, ein Merkmal sowohl positiv als auch negativ zu bewerten117 - gerade dadurch sind nationale Stereotype so zählebig und »in der Propaganda je nach politischer Opportunität und Konjunkturlage« »beliebig« verwendbar.118 Geschichtswissenschaftler richten daher ihr Augenmerk »vor allem« auf die Frage nach der historischen Genese von Stereotypen und ihren inhaltlichen und formalen Veränderungen, d. h. wann sie warum auftreten, welche (offen artikulierten oder verborgenen) Interessenlagen sie zum Ausdruck bringen, auf welche Weise und aus welchen Gründen sie sich verändern 119 .
Wo in den letzten Jahren unter dem Vorzeichen der Mentalitätengeschichte 120 eine historische Stereotypenforschung gefordert worden ist, wurde zugleich eine
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Rudolf Jaworski: Osteuropa als Gegenstand historischer Stereotypenforschung, in: Geschichte und Gesellschaft 13, 1987, S. 63-76, Zitat S. 73. Ebd. Siehe ebd. S. 72. Ebd. S. 73. Hans Henning Hahn: Stereotypen in der Geschichte und Geschichte im Stereotyp, in: H. Η. H. (Hg.): Historische Stereotypenforschung, S. 190-204, Zitat S. 193. »Historische Stereotypenforschung, die sich [...] als der historische Teil einer interdisziplinären kulturwissenschaftlichen Stereotypenforschung versteht, beschäftigt sich mit der Erforschung einer spezifischen Form der Perzeption von Welt und Menschen in der Vergangenheit und gehört so in den weiteren Bereich von Mentalitätsgeschichte.« (Hans Henning Hahn: Einleitung, in: Η. Η. H. (Hg.): Historische Stereotypenforschung, S. 7-13, Zitat S. 9.) »Für die Geschichtswissenschaft ist die Stereotypenforschung ein spezifischer Zweig der Mentalitätengeschichte insofern, als es dabei um die Erforschung von kollektiver Selbstperzeption und der Perzeption der anderen in der Vergangenheit geht; Forschungsobjekt ist also eine spezifische Form des Außenverhaltens von Gesellschaften in Kommunikation und Abgrenzung, wozu sich die nicht unerhebliche Frage gesellt, inwiefern diese Form des Außenverhaltens Einfluß ausübt auf die Formierung und den Wandel einer Gesellschaft selbst« (Hahn: Stereotypen in der Geschichte und Geschichte im Stereotyp, S. 191).
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Kritik laut, die an die oben dargelegten Bedenken gegen Methode und Anspruch der komparatistischen Imagologie zurückdenken läßt: Zwar gebe es zahlreiche geschichtswissenschaftliche »Untersuchungen zu Völkerbildern«,121 stellt Jaworski beispielsweise in bezug auf Osteuropa fest, doch handle es sich dabei zumeist um »Bestandsaufnahmen publizistischer Aussagen über bestimmte Nationen und Nationengruppen« und um »mitunter sehr heterogen zusammengesetzte Gesamtbilder«122 als Ergebnis solch eines deskriptiv verfahrenden Positivismus.123 »Von einer konzeptionell begründeten historischen Stereotypenforschung« ließe sich daher »kaum [...] sprechen«.124 Auch Hahn beklagt einen »empfindlichen Mangel an verbindlicher Begrifflichkeit« in der »Fachliteratur«, würden doch die Termini »Stereotyp, Imagotyp, Bild, Vorurteil, Feindbild [...] oft als Synonyme oder zumindest ohne präzise begriffliche Unterscheidung benutzt«.125 Die Überlegungen, die sich bei Historikern wie Hahn und Jaworski zu Ursprung und Verwendung nationaler Stereotype finden, lassen sich mit der kognitionspsychologischen Erkenntnis, daß Stereotype Komplexität reduzieren und der Orientierung dienen, ebenso vermitteln wie mit den Thesen, welche die Linguistik in bezug auf das Kommunikationspotential von Stereotypen entwickelt hat: In den Fällen, in denen mit Hilfe von Stereotypen Phänomene der Alltagserfahrung wie »religiöse oder sprachliche Unterschiede« beschrieben werden, können jene als »unreflektierte >Volksweisheitenbienseancedoctrine classique< ist das kollektive Wissen - wie schon bei Scaliger - der Maßstab für eine >angemessene< Typisierung. Dieses Wissen ist in der Frühen Neuzeit selbstverständlich weitaus umfangreicher und differenzierter als zur Zeit der Antike. Daher dürfe sich der Dichter nicht mit gelehrsamer Überlieferung begnügen, heißt es, sondern er müsse sich daran orientieren, was man im allgemeinen weiß: Que le Poete se ressouuienne que les Moeurs doiuent estre prises, non seulement dans l'Histoire ou dans la Fable receue, & qu'il doit depeindre les hommes selon qu'ils sont representez en ces deux Originaux; mais qu'il faut encore obseruer ce que chaque condition, chaque fortune, & chaque äge inspirent ordinairement ä chaque espece de personnes19.
Im Unterschied zu Aristoteles 20 und Horaz, die sich, ohne die jeweiligen Besonderheiten anzuführen, mit einem bloßen Hinweis auf die Herkunft begnügen (können) - die der Redner und der Dichter in derselben Weise zu berücksichtigen hätten wie Alter und Geschlecht - , folgt bei La Mesnardiere, wie schon bei Scaliger, ein Katalog positiver und negativer Eigenschaften, der als Hilfestellung für den Dichter verstanden wird, als »Idee generalle des Mceurs qu'il doit attribuer ä chaque espece de gens, & luy apprendre ä les puiser dans leur six premieres sources«, d. h. »dans l'Aage, dans les Passions, dans la Fortune presente, dans la Condition de vie, dans la Nation, & dans le Sexe.« 21 Mit Blick auf unsere Frage nach dem Fremden in der Literatur seien hier lediglich die Eigenschaften der Völker zitiert:
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Horaz: De arte poetica 114—120. Siehe Hippolyte-Jules Pilet de La Mesnardiere: La Poetique, Paris 1640 (Reprint Geneve 1972), S. 125. Ebd. S. 119. (Hervorhebung nicht im Original.) Zur Erinnerung: Bei Scaliger heißt es entsprechend: »Gentium itaque ac populorum ingenia tum ex historiis tum ex prouerbiis atque ex ore vulgi excipienda censeo.« (Scaliger: Poetices libri Septem, S. 102. [Hervorhebung nicht im Original.]) In seiner »Rhetorik« präzisiert Aristoteles in bezug auf »Angemessenheit« und »Charakter«: »Angemessenheit [...] wird die sprachliche Formulierung besitzen, wenn sie Affekt und Charakter ausdrückt und in der rechten Relation zu dem zugrundeliegenden Sachverhalt steht.« (Aristoteles: Rhetorik [Übers, v. Franz G. Sieveke] III 7,1.) Die »Art der aus äußeren Anzeichen abgeleiteten Beweisführung bringt [...] auch den Charakter zum Ausdruck, weil die passende Ausdrucksweise eine jede Art von Menschen und jegliche Lebensweise begleitet. Als Art von Menschen bezeichne ich die Unterscheidung nach Alter, wie ζ. B. Kind, Mann oder Greis, ferner Frau und Mann und Lakonier oder Thessalonier.« (III 7,6.) La Mesnardiere: La Poetique, S. 119.
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Les Francois seront hardis, courtois, indiscrets, genereux, adroits, inconsiderez, impetueux, inconstans, prodigues, peu laborieux, polis, legers dans leurs amours, impatiens & temeraires. Les Espagnols presomptueux, inciuils aux etrangers, sjauans dans la Politique, tyrans, auares, constans, capables de toutes fatigues, indifferens ä tous climats, ambitieux, meprisans, graues iusqu'ä l'extrauagance, passionnez aueuglement pour la gloire de leur Nation, ridicules dans leurs amours, & furieux dans leur haine. 22
Wenn La Mesnardiere weiter schreibt: »I'ay veu par la frequentation, que les Anglois sont infidelles, parresseux, vaillans, cruels, amateurs de la proprete, ennemis des etrangers, altiers & interessez«, 23 so soll die eigene Anschauung die Verläßlichkeit der Attribute verbürgen, während gleich anschließend persönliche Erfahrung durch Autorität ersetzt wird: »Si nous en croyons vn Grand homme« - daß »Magnus Caesar Scaliger« gemeint ist, präzisiert eine Marginalie 24 - .»excellent obseruateur des moeurs de chaque Nation, les Italiens sont oysifs, impies, seditieux, soupfonneux, fourbes, casanniers, subtils, courtois, vindicatifs, amateurs de la politesse, & passionnez pour le profit.« 25 Weiter heißt es: »Les Allemans seront sinceres, grossiers, fidelies, modestes, banqueteurs, affables, vaillans, amoureux de la liberte«, »les Grecs vains, menteurs, orgueilleux, adroits, sgauans, & raisonnables«, 26 bevor der Abschnitt mit Epithetalisten zu Persern, Ägyptern, Mauren, Thrakern und Skythen schließt. Im Einzelfall könne es zwar vorkommen, daß ein Autor durch die Wahl des Stoffes oder die Handlung gezwungen sei, gegen diese »habitudes generates« zu verstoßen, grundsätzlich aber habe er in bezug auf Alter, Geschlecht, Stand und Nation zu beachten: II faut de necessite qu'il donne ces inclinations ä ceux ä qui elles sont deües; & qu'il ne fasse iamais vn guerrier d'vn Asiatique, vn fidelle d'vn Afriquain, vn impie d'vn Persien, vn veritable d'vn Grec, vn genereux d'vn Thracien, vn subtil d'vn Alleman, vn modeste d'vn Espagnol, ni vn inciuil d'vn F r a n c i s . 2 7
So werden - im Rückgriff auf Empirie und die Autorität der Überlieferung - in Orientierungstexten wie dieser klassizistischen Poetik nationale Stereotype für die Literatur normativ festgeschrieben. Einzelne Nationalattribute kann man bis ins Mittelalter oder gar in die Antike zurückverfolgen, 28 ein »schematisierender Vergleich« oder »dramatisierter Kontrast«,
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Ebd. S. 122f. Ebd. S. 123. Ebd. Ebd. Freilich geht La Mesnardiere über Scaliger hinaus, bei dem es lediglich heißt: »Itali, cunctatores, irrisores, factiosi, alieni sibiipsis, bellicosi coacti, serui vt ne seruiant, Dei contemptores.« (Scaliger: Poetices libri Septem, S. 102.) La Mesnardiere: La Poetique, S. 123. Ebd. 125. Siehe Ingomar Weiler: Ethnographische Typisierungen im antiken und mittelalterlichen Vorfeld der >VölkertafelEigenschaften< stichpunktartig nebeneinandergestellt sind, 3 0 auf solche >Nationalitätenschemata< und deren Ursprung e i n g e g a n g e n . A l s einen frühen B e l e g für die schablonenhafte Anordnung der Zuschreibungen führt er neben Epithetalexika und Poetiken auch » D e incertitudine et vanitate scientiarum atque artium« an, eine erkenntniskritische Schrift des Agrippa von Nettesheim. Agrippa stellt dort in e i n e m Kapitel über Sitten- und Tugendlehre die Möglichkeit allgemeinverbindlicher Regeln in Frage, indem er betont, w i e verschieden die M e n s c h e n je nach Ort und Zeit sind. Deutsche, Franzosen, Spanier und Italiener nennt er als Beispiel; Kriterien seines Vergleichs sind Sitten und Gebräuche, Auftreten und äußere Erscheinung, S t i m m e und Leidenschaften. 3 1 D a ß sich Agrippas Katalog nationaler Eigenschaften wörtlich in Luthers »Handpsalter« wiederfindet 3 2 und, u m die Engländer ergänzt, mehr als zweieinhalb Jahrhunderte später n o c h in G o e t h e s N o t i z e n zur Vorbereitung einer
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Stanzel: Das Nationalitätenschema in der Literatur und seine Entstehung zu Beginn der Neuzeit, S. 86. Siehe ebd., sowie Franz K. Stanzel: Europäer. Ein imagologischer Essay, Heidelberg 1997 (zur ausführlichen Beschreibung der Tafeln siehe S. 13-19), und Stanzel (Hg.): Europäischer Völkerspiegel. »Quis enim videns hominem ingredientem incessu gallinaceo, gestu gladiatorio, vultu effreno, voce bubula, sermone austero, moribus ferocem, habitu dissoluto, laciniatove, non mox iudicet esse Germanum? nonne Gallos cognoscimus ab incessu moderato, gestu molli, vultu blando, voce dulcisona, sermone facili, moribus modestis, habitu laxo? Hispanos autem ab ingressu & moribus, gestibusque festiuis, vultu elato, voce flebili, sermone eleganti, habitu exquisito? Italos vero videmus incessu tardiusculos, gestu graues, vultu inconstantes, voce remissos, sermone captiosos, moribus magnificos, habitu compositos. Iamque scimus etiam, quia in cantu balant Itali, gemunt Hispani, vlulant Germani, modulantur Galli. Sunt in oratione graues, sed versuti Itali: culti, sed iactabundi Hispani: prompti, sed superbi Galli: duri, sed simplices Germani. In consiliis est providus Italus, astutus Hispanus, inconsideratus Gallus, vtilis Germanus. In victu est mundus Italus, delicatus Hispanus, copiosus Gallus, inconditus Germanus. Sunt erga exteros officiosi Itali, placidi Hispani, mites Galli, agrestes inhospitalesque Germani. In conversationibus sunt prudentes Itali, cauti Hispani, mansueti Galli, imperiosi intollerabilesque Germani. Sunt in amoribus zelotypi Itali, impatientes Hispani, leues Galli, ambitiosi Germani. In odiis vero sunt occulti Itali, pertinaces Hispani, minaces Galli, vltores Germani. In gerendis negociis sunt circumspecti Itali, laboriosi Germani, vigiles Hispani, solliciti Galli. In militia sunt strenui, sed crudeles Itali: Hispani callidi & rapaces, Germani truces & venales, Galli magnanimi, sed praecipites. Insignes sunt literature Itali, nauigatione Hispani, ciuilitate Galli, religione & mechanicis artificiis Germani.« (Henricus Cornelius Agrippa: De incertitvdine et vanitate scientiarum atque artium. Declamatio, in: H. C. Α.: Opervm pars posterior, Lugduni o. J. [ca. 1550], S. 1-314:, Zitat S. 119f.) Zu einem ausführlichen, nicht minder schematischen Vergleich derselben Völker in bezug auf die Liebe siehe S. 159f. Siehe Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe. Tischreden, Bd. 4, Weimar 1916, S. 547f.
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zweiten italienischen Reise, 33 ist ein Indiz für die Hartnäckigkeit dessen, was wir heute als Stereotype bezeichnen würden. Es ist ein Vorzug gegenüber sonstigen imagologischen Studien, daß Stanzel mit seinem Interesse an >Nationalitätenschemata< und Völkertafeln den Blick auf Nationalstereotype im europäischen Maßstab gelenkt hat. Denn so wird bewußt, daß diese Schemata, die doch in sprachlich und politisch unterschiedlichen Kontexten aufgezeichnet wurden, in den Attributen, die einem Volk jeweils zukommen, weitgehend übereinstimmen. Tendenziell liegt hierin ein Ansatz zur Überwindung der irreführenden Unterscheidung von Auto- und Heterostereotypen.34 Bleibt zu fragen, worauf sich die Konstanz des Ordnungsschemas selbst gründet, das Völker durch quasi überzeitliche positive und negative Attribute charakterisiert und miteinander in Vergleich setzt. Die anglistische Forschung hat auf einen Zusammenhang aufmerksam gemacht, der einen Schlüssel zum Verständnis von Ursprung und Legitimation der überschaubaren Serien von Nationaleigenschaften bietet: Schon in seiner grundlegenden Studie über »Die Klimatheorie in der englischen Literatur und Literaturkritik« hat Zacharasiewicz auf die enge Verbindung zwischen Stereotypen und Nationalcharakter hingewiesen. 35 Auch Blaichers Studie über »Das Deutschlandbild in der englischen Literatur« geht ansatzweise auf diese Beziehung ein. 36 Stanzel hat sogar die These vertreten, der sogenannte >Nationalcharakter< sei im ausgehenden Mittelalter und in verstärktem Maß im 16. Jahrhundert durch eine »ethnische oder nationale Überprägung von individuellen Charakter- und Verhaltenstypen« entstanden.37 Seither fänden sich sowohl die Merkmale der »Ständetypen« als auch die der vier »Humoraltypen« (»Melancholiker, Phlegmatiker, Choleriker und Sanguiniker«) auf die Völker verteilt,38 ergänzt um »Laster- und Sündenkataloge« 39 sowie um Zuschreibungen des Alters oder Geschlechts.40 Befremdlich ist allerdings die Formulierung, »der >Nationalcharakter< im imagologischen Sinne« sei »praktisch immer gleichbedeutend mit dem Begriff Stereotyp« 41 »grundlegend« verschieden jedoch »vom Forschungsobjekt Nationalcharakter der Soziologie und
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Siehe Johann Wolfgang Goethe: Biographische und Autobiographische Schriften, in: J. W. G.: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe, hg. v. Karl Richter, Bd. 4,2: Wirkungen der Französischen Revolution 1791-1797 (2), hg. v. Klaus H. Kiefer u. a„ München 1986, S. 449-764, Zitat S. 600. Stanzel selbst bleibt dieser traditionellen Unterscheidung freilich noch verpflichtet. Siehe etwa Stanzel: Europäer, S. 33-36, sowie Franz K. Stanzel: Zur literarischen Imagologie. Eine Einführung, in: F. K. S. (Hg.): Europäischer Völkerspiegel, S. 9-39, bes. S. 23f. Waldemar Zacharasiewicz: Die Klimatheorie in der englischen Literatur und Literaturkritik. Von der Mitte des 16. bis zum frühen 18. Jahrhundert, Wien, Stuttgart 1977, passim. Siehe Blaicher: Das Deutschlandbild in der englischen Literatur, S. 9f. Stanzel: Europäer, S. 21. Ebd. Ebd. Während beispielsweise den Völkern des südlichen Europas eher eine Neigung zur sinnlichen Ausschweifung (»luxuria«) zugeschrieben wird, heißt es von den Nordvölkern, sie liebten ausgiebiges Essen und Trinken (»gula«) (ebd.). Siehe ebd. S. 23 u. 26. Stanzel: Zur literarischen Imagologie, S. 12.
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Soziopsychologie«. 4 2 Denn, so Stanzeis Begründung, im Unterschied zur »literarischen Imagologie« ginge es diesen nicht um »Urteile«, die nur »im Modus der Vorstellung existieren« und »wie Fiktionen zu behandeln sind«, sondern um »statistisch in der Realität der ethnischen oder nationalen Gruppen nachweisbare Fakten der Differenz«, so daß »beide Befunde [...] selten, wenn überhaupt jemals zur Deckung« kämen. 43 Schon im Rahmen der kritischen Auseinandersetzung mit der Imagologie wurde aber deutlich, daß die Annahme eines - etwa mit Hilfe von Merkmalslisten zu erfassenden - Nationalcharakters heutzutage als wissenschaftlich unhaltbar angesehen werden muß; 44 nicht umsonst gilt die Völkerpsychologie, die von diesem Konzept ausging, als überholt. Außerdem entspricht der Umstand, daß Stanzel das Auftauchen von stereotypen Schemata in der Literatur als untrügliches Anzeichen für Ethnozentrismus und frühneuzeitliches Nationalbewußtsein wertet 4 5 dem negativen Verständnis von Stereotyp im Sinne von Vorurteil, das vor der k o gnitiven Wende< die Stereotyp-Forschung geprägt hat. 46 So ist die scharfe Trennung zwischen Literatur (Nationalcharakter als Stereotyp) und Wissenschaft (Nationalcharakter als Realität) einem überholten Kenntnisstand geschuldet. Was als Stereotyp in der Literatur erscheint, steht vielmehr - wie im folgenden zu zeigen - durchaus in einem engen Verhältnis zu dem Konzept vom Nationalcharakter, das Gegenstand völkerpsychologischer und sozialwissenschaftlicher Untersuchungen geworden ist. Die anglistische Imagologie aber bleibt, obwohl sie die enge Beziehung zwischen Nationalstereotyp und Nationalcharakter aufgedeckt hat, dem Zusammenhang nicht konsequent auf der Spur: Zacharasiewicz verzichtet darauf, die Einsichten aus seinen differenzierten Untersuchungen zur Klimatheorie für sein Buch über »Das Deutschlandbild in der amerikanischen Literatur« zu nutzen, und auch Blaicher kommt in seiner Arbeit über »Das Deutschlandbild in der englischen Literatur« nicht auf das Verhältnis von Nationalcharakter und Stereotyp zurück.
4.1 D a s >Naturell< der Völker - ein K o n z e p t zur Beschreibung kultureller D i f f e r e n z Der entscheidende Hinweis zu einem Ausweg aus der Sackgasse, in welche die imagologische Fragestellung geführt hat, stammt aus der Geschichtswissenschaft: Aus dem Blickwinkel der Mentalitätengeschichte hat Michael Maurer eine »historische Rekonstruktion« der heutzutage »vermeintlich obsoleten Kategorie« des Nationalcharakters unternommen und herausgefunden, daß es sich dabei um ein »Phänomen der >longue dureeMentalität< eines Volkes (die nicht verwechselt werden darf mit der geschichtswissenschaftlichen Fachsprache und deren Verständnis von Mentalitäten) jene Annahme einer kollektiven >Natur< unerkannt fortlebt. Zu nationalen Zuschreibungen im Mittelalter siehe etwa: Hems Walther: Scherz und Ernst in der Völker- und Stämme-Charakteristik mittellateinischer Verse, in: Archiv für Kulturgeschichte 41, 1959, S. 263-301; Günter Cerwinka: Völkercharakteristiken in historiographischen Quellen der Salier- und Stauferzeit, in: Herwig Ebner (Hg.): Festschrift Friedrich Hausmann, Graz 1977, S. 59-79; Ludwig Schmugge: Über »nationale« Vorurteile im Mittelalter, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 38, 1982, S. 439^159; Heinrich Fichtenau: Gentiler und europäischer Horizont, in: H. F.: Beiträge zur Mediävistik. Ausgewählte Aufsätze, Bd. 3, Stuttgart 1986, S. 80-97, bes. S. 80-83; Horst Fuhrmann: Überall ist Mittelalter. Von der Gegenwart einer vergangenen Zeit, München 2002, S. 65-67. - In dem etymologisch begründeten Vergleich zwischen den Eigenschaften des Hahns und den Franzosen, den Alexander von Roes in seinem »Memoriale« aus dem 13. Jahrhundert aufstellt, fehlt bezeichnenderweise jeglicher Hinweis auf eine >VolksnaturFremden< in der Literatur unverzichtbare - Arbeit von F r a n c i s Hartog: The Mirror of Herodotus. The Representation of the Other in the Writing of History, aus dem Französischen übersetzt v. Janet Lloyd, Berkeley, Los Angeles, London 1988, bes. S. 212-259: »A Rhetoric of Otherness«. Nippel: Altertum und Neue Welt, S. 33. Margaret Hodgen weist in ihrer Studie über die Anthropologie der Frühen Neuzeit ausdrücklich auf das Vorbild mittelalterlicher Attribut-Kataloge hin: »Wherever scholastic ideals prevailed, there brevity was the hallmark; and the medieval encyclopedia with its capsule epitomes, its stereotypes and typologies, became the model. In response to a deep human need for brief formulae which would express the characteristics of things and peoples in dichotomies of black and white, virtue and vice, these general cultural descriptions were short, terse, and apothegmatic. As stereotypes, they called attention first to physical differences - to the statures of men, to their complexions, to their eyes, hair-color and its quality; and second, to their >dispositions< - their peacebleness or bellicosity, their goodness or badness. Emanating presumably from an even earlier and vaguer astrological or environmental ethnological theory, these opposed qualities, decreed by celestial or terrestrial forces, were construed as clues to the habitual behavior of peoples, and were transposed, when occasion arose, either into warm nationalistic approval or bitter racial invective.« (Margaret T. Hodgen: Early Anthropology in the Sixteenth and Seventeenth Centuries, Philadelphia 1964, S. 178f.)
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großen europäischen Völker, zum anderen sind sie ein Gemeingut der europäischen Gelehrtenwelt, dessen rasche Verbreitung der Buchdruck befördert. 56 In der »Apologetica Historia« (1525) des spanischen Missionars und Südamerika-Reisenden Bartolome de Las Casas findet sich beispielsweise folgende Aufteilung: Italien, ein großer Teil Griechenlands und Spanien hätten geradezu ideale Menschen hervorgebracht: von angemessener Körperfülle und Kraft und zugleich von rascher Auffassungsgabe. Vor allen anderen Regionen und Völkern seien sie ausgezeichnet durch (griechische) Wissenschaft und (römische) Tapferkeit.57 Die Bewohner des mittleren Klimas, Franzosen und Süddeutsche, hätten eine mittlere Größe und ein mittleres Gewicht, seien friedfertig und freundlich. Grundsätzlich zeigten alle Bewohner mäßig warmer Länder gut proportionierte Veranlagungen und Neigungen, verfügten über Verstand und Kunstsinn, seien durchaus beherzt und zugleich umsichtig, besonnen und weise in ihrem Handeln, mäßig im Genuß von Speise und Trank. 58 Dagegen brächten England, Flandern, Deutschland usw. Menschen von größerer Korpulenz, Kraft und Lebhaftigkeit hervor,59 weil die Kälte jener Gegenden die Poren verschließe, so daß die »espiritus« zurückgehalten würden. Die angestaute innere Wärme bedinge eine rege Verdauung, weshalb eine große Menge grober Nahrung aufgenommen werde, die wiederum viel Blut und Wärme erzeuge. Dadurch würden die Körperflüssigkeiten (»humores«) dick und grob. Folglich seien jene Völker kühn, mutig und stark, zugleich aber auch schwerfällig, einfältig, ohne Scharfsinn. Das Entgegengesetzte gelte in sehr warmen Zonen, in Asien zum Beispiel: Die Hitze öffne die Poren und treibe die Feuchtigkeit heraus. So hätten die Menschen dort weniger Blut und auch weniger innere Wärme. Dadurch seien sie zwar eher feige, doch von ausgeprägten intellektuellen Fähigkeiten, weil sie über klare und feine »espiritus« verfügten. 60 Die Begriffe »humores« und »espiritus« verweisen auf Temperamenten- und Pneumalehre in der Medizin der Antike. Solche Vorstellungen zieht auch der niederländische Arzt Levinus Lemnius zur Differenzierung der europäischen Völker heran: Seine 1561 erschienene Schrift »De habitu et constitutione corporis, quam Graeci κρασις, triviales complexionem vocant« ist offenbar »der erste Versuch im 16. Jahrhundert, auf der Basis der galenischen Medizin eine Typenlehre der europäischen Nationen zu entwerfen und diese konsequent mit dem Milieu in Beziehung zu setzen.«61 Lemnius führt aus, wie der Lebensgeist (»Vitalis spiritus«), der vom Herzen ausgehe und sich im ganzen
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Zum Vorkommen nationaler Stereotype im Humanismus siehe John Haie: Die Kultur der Renaissance in Europa, München 1994, S. 67-85. Siehe Bartolome de Las Casas: Apologetica Historia, hg. von Juan Perez de Tudela Bueso, in: B. d. L. C.: Obras escogidas, Bd. 3, Madrid 1958, S. 96. Siehe ebd. S. 76. Las Casas bemüht allerdings nicht nur die Klimalehre, sondern auch die Astrologie, wenn er unter Berufung auf Ptolemäus betont, Frankreich, Italien, auch Apulien und Sizilien würden sich zu Führung und Herrschaft in besonderem Maße eignen, da sie der Sonne und dem Löwen glichen (siehe S. 96). Siehe ebd. S. 96. Siehe ebd. S. 76. Zacharasiewicz: Die Klimatheorie in der englischen Literatur und Literaturkritik, S. 46.
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Körper verbreite, je nach Nahrung, Luft und Umgebung verschiedene Charaktere bzw. Verhaltensweisen (»mores«) hervorbringe. 62 Wo die Lebensgeister grob und dicht seien, müsse sich der Verstand verdüstern (»mentem obnubilari contingit«). Daher sei das »ingenium« derer, die im extremen Norden lebten, schwächer und ihr Verstand stumpfer (»magisque obtusa mentis acies«) als bei anderen Völkern. 63 Weil jene aber - wegen der kalten Luft - dickes Blut hätten, seien ihre Lebensgeister zugleich auch kräftig und fest (»corpulentos hi validosque spiritus obtinent«), wodurch sie mutig und unnachgiebig würden. Die Völker mit feinem Blut hätten dagegen kümmerliche »spiritus«, die sich schnell verflüchtigten; sie stürzten sich zwar sehr kühn in den Kampf, aber ihr Mut sinke rasch. 64 »Ob sanguinem crassiorem, densosque spiritus« seien die Nordländer beherzt, unmenschlich, schrecklich, wild, trotzig, mit bedrohlichem Gesichtsausdruck und furchterregender Stimme (»animosi conspiciuntur, inhumani, formidabiles, truces, feroces, & qui vultu, voceque minaci hominibus terrorem incutiunt«). Diejenigen, deren Lebensgeister durch eine gemäßigte Kälte geprägt sei, zeigten sich - wie die Deutschen - widerstandsfähig und standhaft. Doch dafür seien sie von Natur aus weder scharf- noch feinsinnig, weder verschmitzt noch verschlagen. Da sich unter den Bedingungen eines feuchten Klimas die Lebensgeister nicht leicht formen ließen, seien Völker wie die Niederländer schläfrig, unfähig, Künste zu erlernen, vergeßlich und überhaupt von stumpfem Geist; sie hätten einen dicken und feuchten Leib, seien dadurch furchtsam und zaghaft. 65 Würden unter günstigeren klimatischen Voraussetzungen hingegen Brust und Gehirn von einem Lebensgeist erfüllt, der ausgewogen warm und feucht sei (»spiritus calore humoreque temperato perfusus«) - wie bei den Italienern zum Beispiel - , so seien die Menschen wach, feurig, rege und überträfen alle übrigen an Geistesschärfe, Emsigkeit, Wissen und Redegeschick. 66 Auch der »spiritus« der Franzosen sei derart ausgeglichen (»spiritus [...] temperato calore imbutus«), so daß diese einen scharfen und beweglichen Verstand (»acre iis ingenium ac volubile«) hätten und eine leichte, flüssige Sprechweise. Redekünstler seien sie, es fiele ihnen leicht, ihre Gedanken wohl auszudrücken. In bezug auf Charakter und Denkart (»quod autem ad animum morumque propensiones attinet«) gelte für die Franzosen: »vividi sunt, alacres, erecti, agiles, gesticulosi«; »ingenio sunt mobili, captioso, fallaci, infido, rerum novarum avido, loquacitate futili ac vana«. 67 Es ist auffällig, daß die Völkercharakteristiken des spanischen Missionars und des niederländischen Arztes in der Grundtendenz übereinstimmen und die Zuschreibungen weitgehend denjenigen entsprechen, die bei Agrippa oder in Epithetalisten der Rhetorik stehen.
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Levinus Lemnius: De habitu et constitutione corporis, quam Graeci κρασις, triviales complexionem vocant, libri duo, Antwerpen 1561, S. ll(v°)f. Ebd. S. 14(v°). Ebd. S. 12(v°). Ebd. S. 15(r°)f. Ebd. S. 16(r°). Ebd. S. 17(r°)f.
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Die Einteilung in geographische Zonen und die Begründungslogik, die sich in beiden Beispielen finden, gehen auf die antike Klimalehre zurück,68 wie sie - in Anlehnung an Poseidonios69 - am deutlichsten in Vitruvs Schrift »De architecture« entwickelt ist. Demnach hängen Körpergröße und Konstitution sowie Stärken und Schwächen der Menschen unmittelbar von der Sonneneinwirkung ab: Wo die Sonne maßvoll Luft und Körper erwärme, stünden diese in einem ausgewogenen Verhältnis, in ausgeprägt kalten bzw. warmen Regionen herrsche jedoch ein Ungleichgewicht. Denn im kalten Norden werde die Feuchtigkeit der Luft nicht von der Sonne aufgesogen, dringe daher in den Körper ein, mache ihn stattlich, reich an Blut und Kraft, führe zugleich aber zu einer geistigen Schwerfälligkeit. Im Süden dagegen sei es umgekehrt: Weil die Sonne die Feuchtigkeit aus Luft und Körper vertreibe, seien die Menschen dort zwar körperlich schwächer und weniger tapfer, dafür jedoch geistig beweglich und sehr scharfsinnig.70 Die Vorstellung, daß die Umwelt für die Unterschiede in Sitten und Konstitution verantwortlich sei, ist ebenso bei Hippokrates zu finden.71 Bemerkenswert ist jedoch, daß dieser nicht nur das Klima, sondern bereits auch die Regierungsform als determinierenden >UmweltVerfassung< dazu führt, daß die Europäer tapfer und mutig sind.72 Beide Aspekte, Natur und gesellschaftliche Organisation (also Kultur), finden sich - mehr oder weniger deutlich voneinander geschieden und mit veränderlicher Gewichtung - im neuzeitlichen Konzept des Nationalcharakters wieder. Inwieweit es überhaupt sinnvoll sein kann, in bezug auf die Antike bereits von Ansätzen einer »Allgemeinen Völkerpsychologie« zu sprechen, 73 muß hier nicht
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Siehe grundsätzlich hierzu J. W. Johnson: »Of Differing Ages and Climes«, in: Journal of the History of Ideas 21, 1960, S. 465-480. Nach der Überlieferung durch Galen hält Poseidonios die Umwelt, d. h. vor allem die Temperatur, nicht nur körperlich, sondern auch psychisch für prägend, >charakterliche< Dispositionen, wie ζ. B. Mut oder Feigheit, Neigung zu Arbeit oder Müßiggang seien auf sie zurückzuführen. Siehe Posidonius, Bd. 1: The Fragments, hg. v. Ludwig Edelstein u. I. G. Kidd, 2. Aufl. Cambridge 1989, S. 161, sowie, in englischer Übersetzung derselben Stelle, Posidonius, Bd. 3: The Translation of the Fragments, übersetzt von I. G. Kidd, Cambridge 1999, S. 234. Siehe Vitruv: De architecture libri decern, liber sextus, I 3f. u. I 9f. Siehe Hippokrates: Die Schrift von der Umwelt, in: Hippokrates: Fünf auserlesene Schriften, Eingeleitet und übertragen von Wilhelm Capelle, Frankfurt a. M., Hamburg 1959, S. 79-105. Siehe ebd. S. 96 u. 102f. So Klaus E. Müller: Geschichte der antiken Ethnographie und ethnologischen Theoriebildung. Von den Anfangen bis auf die byzantinischen Historiographen, Teil 1, Wiesbaden 1972, S. 203. Müller bezieht dies auf folgende - von Hippokrates inspirierte - Stelle in Aristoteles' »Politik«: »Die Völkerschaften nämlich, die in den kalten Gegenden Europas wohnen, sind zwar voll Mut [...], aber weniger mit Denkvermögen [...] und Kunstfertigkeit [...] begabt. Daher behaupten sie zwar leichter ihre Freiheit, aber sie sind zur Bildung staatlicher Gemeinwesen untüchtig und die Herrschaft über Nachbarvölker zu gewinnen
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erörtert werden. D a ß aber P o s e i d o n i o s die Völker »erstmals als echte täten«
Individuali-
begriffen habe, w i e in der Anthropologie behauptet worden ist, 7 4 darf mit
Fug bezweifelt werden. 7 5 A l s solche erscheinen sie vielmehr erst in vergleichenden
ethnographisch
Texten der Frühen Neuzeit. Jean B o d i n etwa geht es in seiner 1566
zunächst auf lateinisch, dann in der Volkssprache veröffentlichten »Methode pour faciliter la connaissance de l'histoire« 7 6 darum, allgemeingültige Aussagen über die Völker zu treffen: »II nous faudra [...] c o m m e n c e r par etablir des generalites concernant le naturel sinon de tous - du m o i n s des principaux peuples afin de pouvoir eprouver par une juste critique la veracite des histoires«. 7 7 Dabei sollen überlieferte Wissensbestände durch empirisch gesicherte Kenntnisse ergänzt und, s o f e m nötig, korrigiert werden. 7 8 B o d i n s Interesse gilt ausdrücklich nicht den Gesetzen, Riten, Sitten und alldem, w a s v o n M e n s c h e n gemacht und daher veränderlich ist, sondern den »faits regis par la nature et non par les institutions humaines, des faits stables que rien ne puisse modifier, si c e η'est une grande force ou une discipline prolong e e « 7 9 - eben d e m »naturel [d'un peuple]« bzw. der »populorum natura«, w i e e s
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unvermögend. Die Völker Asiens dagegen sind mit Denkvermögen und Kunstfertigkeit begabt, aber ohne Mut. Daher leben sie in Unterwürfigkeit und Sklaverei. Das Geschlecht der Griechen endlich, wie es örtlich die Mitte zwischen beiden einnimmt, vereinigt auch die Vorzüge beider, denn es ist voll Mut und zugleich mit Denkvermögen begabt. Daher erhält es sich nicht bloß fortwährend frei, sondern auch am meisten in staatlicher Ordnung und würde die Herrschaft über alle anderen Völker zu gewinnen imstande sein, wenn es zu einem einzigen Staat verbunden wäre« (Aristoteles: Politik VII 7. 1327b, 23ff.; zitiert bei Müller S. 203f.). Müller: Geschichte der antiken Ethnographie und ethnologischen Theoriebildung, S. 321; Müller stützt sich hierbei auf Wilhelm E. Mühlmann: Geschichte der Anthropologie, Frankfurt a. M„ Bonn 1968, S. 27f. An Müllers Ausführungen zu Poseidonios' Beschreibung der Kelten ließe sich eine Diskrepanz zwischen der antiken Quelle und ihrer Deutung aufzeigen: Die Quelle spricht im wesentlichen von Sitten und Gebräuchen, erst Müller liest diese als Ausdruck kollektiver Charaktereigenschaften, will darin Poseidonios' (>indirektenmännlichen TugendenTugenden< und >Laster< erscheinen, die seinem >Naturell< entsprechen. 9 3 Barclay und Besoldus betonen, daß die Kenntnis der jeweiligen Volksnatur mit ihren Stärken und Schwächen einen politischen Nutzen habe, 9 4 und Bodin geht in seinem staatsrechtlichen Traktat »Les Six Livres de la Republique« sogar so weit zu fordern, wer ein intaktes Gemeinwesen schaffen wolle, solle die Staatsform jeweils auf den Nationalcharakter abstimmen. 9 5 Damit nimmt er einen Grundgedanken Montesquieus vorweg, der zwei Jahrhunderte später in seiner Schrift » D e l'Esprit des Lois« ein Zusammenspiel von Klima, Sitten und Gesetzen postuliert. Zwar wird Montesquieu d e m medizinischen Fortschritt gerecht, wenn er die Nerven als Argument anführt, das tradierte, klimatheoretisch begründete Schema wird dadurch aber nicht in Frage gestellt: Les nerfs, qui aboutissent de tous cötes au tissu de notre peau, font chacun un faisceau de nerfs. Ordinairement ce η'est pas tout le nerf qui est remue, c'en est une partie infiniment petite. Dans les pays chauds, oü le tissu de la peau est reläche, les bouts des nerfs sont epanouis et exposes ä la plus petite action des objets les plus foibles. Dans les pays froids, le tissu de la peau est resserre, et les mamelons comprimes; les petites houppes sont, en quelque fa9on, paralytiques; la sensation ne passe guere au cerveau que lorsqu'elle est extremement forte, et qu'elle est de tout le nerf ensemble. Mais c'est d'un nombre infini de petites sensations que dependent l'imagination, le goüt, la sensibilite, la vivacite. 96 S o läßt sich zur Zeit der Aufklärung nach neuerer Erkenntnis >beweisenessencesLaster