189 82 15MB
German Pages 184 Year 1973
0 . Becker
Beiträge zur phänomenologischen Begründung der Geometrie und ihrer physikalischen Anwendung
Beiträge zur phänomenologischen Begründung der Geometrie und ihrer physikalischen Anwendung 2., unveränderte Auflage
MAX N I E M E Y E R V E R L A G T Ü B I N G E N 1973
Die erste Auflage erschien im Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung herausgegeben von Edmund Husserl Band VI, 1923 Die Paginierung der Erstauflage steht im Neudruck in eckigen Klammern
ISBN 3 484 70112-9 © Max Niemeyer Verlag Tübingen 1973 Alle Rechte vorbehalten. Prlnted in Gennany Nachdruck, photomechanisdie Wiedergabe nnd Übersetzung nur mit a u s d r ü c k l i c h e r Genehmigung des Verlages gestattet Einband von Heinr. Koch Tübingen
Inhalt. Beiträge zur pbänomenologifcben Begründung der Geometrie und ihrer pbyfikalifd>en Anwendungen. Von Oskar Bcdtet (Freiburg i.B.). Einleitung 1 II. Gliederung der Problematik
1 1 4
E r f t e r Teil. Die r a t i o n a l e E r f a f f u n g des räum» lieben K o n t i n u u m s m i t t e l s d e s G r e n z ü b e r g a n g s .
Votbemerkung
14
Etiler flbfcbnitt. Umriß des allgemeinen Limesproblems S 1. Der Gegenlatj des Vagen und des Exakten fl. Eidos und empirifcber Typus B. Morpbologifcbe Vagheit und geometrifcbe Exaktheit . . . . C Der Begriff des Limes $2. Rationaler Hlgoritbmus und deflnite Mannigfaltigkeit . . . . fl. Das Grundmerkmal des rationalen Algorithmus B. Der Begriff der deflniten Mannigfaltigkeit 1. Elementardeflnite Mannigfaltigkeiten 2. Umfangsdefinite Mannigfaltigkeiten 3. Entfcbeidungsdefinite Mannigfaltigkeiten § 3. Das allgemeine Problem der rationalen Bearbeitung des Konti-
14 14 14 16 17 18 18 19 21 22 25
nuums
;
fl. Der Dnnlid) • kategoriale DoppeUbarakter der Geometrie . . . B. Die drei Stufen der rationalen Behandlung des Kontinuums • 1. Erlte Stufe: Morphologie 2. Zweite Stufe: Topotogie (ftnalysis situs) 3. Dritte Stufe: Geometrie C. Die Brouwerfcbe Theorie des Kontinuums. (Das Kontinuum als Medium freien Werdens) I. Die zum Hufbau der Geometrie notwendigen Grundgefe&e. (Das Dimenfionsproblem) 1. Das Kriterium der Dimenfionenzahl eines anfd>aulid>en Kontinuums 2. Konftruktion einer n-dimenüonalen Mannigfaltigkeit und von Punkten im n-dimenGonalen Kontinuum . . . . II. Die anftbaulicbe Fundierung der geometrifcben Gefe^e durch den Grenzübergang D. Zur Idee der Maßbeftimmung
31 32 35 35 36 40 41 43 44 45 47 51
VI
Inhaltsverzeichnis. Seite
Zweiter Hbfcbnitt. Uberficht Uber die pbänomenologifche Konftitution der Zeit und des Raumes § 4. Urfprüngliches Zeitbewußtfein § 5. Die Konftitution des immanenten Bewufitfeinsftroms § 6. Zur Idee der tranfzendenten Welt § 7. Die konftitutiven Stufen der Räumlichkeit fl. Die präfpatialen Felder 1. Die Sinnesfelder (1. Stufe) 2. Die Organbewegungsfelder (2. Stufe) B. Der orientierte Raum C. Der homogene (unbegrenzte) Raum Dritter fibfdmitt. Das Limesproblem in der pbänomenologifchen Begründung der eigentlichen (räumlichen) Geometrie § 8. Die fpezififche Eigenart der räumlichen Kontinuums § 9. Die Entftehung der räumlichen Idealgebilde durch den geometrifeben Grenzübergang fl. Idealgebilde und Limiten in den präfpatialen F e t d e r n . . . . B. Idealgebilde im orientierten Raum C. Idealgebilde im homogenen Raum § 10. Pbänomenologifche Bemerkungen zu F. Kleina Theorie der geometrifchen Idealgebilde Z w e i t e r T e i l . Die Ü b e r w i n d u n g d e r a p r i o r i f c h e n K o n t i n g e n z d e r g e o m e t r i f c h e n A x i o m e . (Der a u s « gezeichnete C h a r a k t e r der euklidifchen Geomet r i e und der Sinn der A n w e n d u n g nicbt«eukli> difcher R a u m f o r m e n in d e r Phyfik.) Vorbemerkung Erfter Abfchnitt. Pbänomenologifche Grundlegung der euklidifchen Geo* metrie für den »wirklichen« Raum § 11. Der Umkreis der möglichen Raumformen § 12. Verfuch einer tranfzendental. pbänomenologifchen Begründung der Gültigkeit der euklidifchen Geometrie für den Raum der fchlicbt anfchaulichen Natur fl. Pbänomenologifche Begründung der euklidifchen Metrik . . . 1. Ontologifche Unterfuchung der euklidifchen Metrik . . . . 2. Phänomenologifche Unterfuchung der euklidifchen Metrik . B. Pbänomenologifche Begründung des euklidifchen Connexus C. Phänomenologifche Begründung der Dreidimenfionalität des wirklichen Raumes
52 53 55 60 62 62 62 65 70 73 75 76 77 79 86 88 90
93 94 94
97 98 98 101 106 108
Inhaltsverzeichnis.
VII Seite
§ 13. Die euklidifd>e Raumform als die geometrifcbe Grundlage der klaffifcfcen Pbyfik 113 H. Der zur pbyfikalifchen Dinglichkeit führende »fubtrakti ve« Prozeß 114 B. Die Rolle der Meffung in der klaffifcben Pbyfik 121 Zweiter Hbfcbnitt. Der Sinn der Anwendung nicht-euklidifcher Raum« formen in der Pbyflk § 14. Einleitende Bemerkungen und Problemgliedevung § 15. Die topologiieh abnormalen Raumformen vom Krümmungsmaße Null (Klein-Cliffordfche Räume) § 16. Die Raumformen von konftantem Krümmungsmaß (4= 0). (BolyaiLobatfcbewski; Riemann) fl. Schwach gekrümmte Räume. (Das Phänomen der Desorientierung) B. Stark gekrümmte Räume. (Phänomen der verzerrten Perfpek» tive) C. Probleme der Meffung in konftant gekrümmten Räumen . . 1. Zur prinzipiellen Huffaffung der Metrik 2. Ober den Grad der Genauigkeit, mit welchem die konftante Raumkrümmung feftgeftellt werden kann $ 17. Die Raumformen mit nach Zeit und Ort variablem Krümmungsmaß fl. Die Möglichkeit variabler Raumkrümmungen B. Die durch die variable Raumkrümmung bedingte neue Huffaffung der Metrik C. Über die Befchränkungen, die aus tranfzendental • pbänomenologifchen Gründen den möglichen Raumkrümmungen auferlegt find D. Die Idee der reinen Infiniteflmalgeometrie E. Die inflniteflmalgeometrifche Löfung des Problems des Meffens im variabel gekrümmten Raum Dritter Hbfcbnitt. Pbänomenologifche Unterfudrangen über die prinzipielle Bedeutung der Einfteinfchen allgemeinen Relativitätstheorie . $ 16. Uber die Hufgabe der pbänomenologifeben Unterfuchung einer phyfikalifchen Theorie § 19. Die mechanifche Wurzel der Relativitätstheorie. (Das Prinzip der Relativität der Bewegung in feinem Zufammenhang mit der Grundlage der Dynamik) H. Zur gefchichtlichen Entwicklung de« Bewegungsbegriffs . . .
124 124 126 129 129 134 135 135 137 138 138 139 141 145 149 151 152 154 154
VIII
Inhaltsverzeichnis.
B. Der fyftematifcfce Gebalt des Prinzips der Relativität der Bewegung § 20. Die optifche Wurzel der Relativitätstheorie. (Das Problem der Gleichzeitigkeit) fl. Zur Phänomenologie der Gleichzeitigkeit B. Ober die pbSnomenologifche Bedeutung der (¿genannten -fpe< zielten« Relativitätstheorie $ 21. Verfuen Interpretation der allgemeinen Einfteinfd>en Relativitätstheorie
Seite
160 163 163 166 168
Einleitung. I. Die vorliegende Arbeit ftellt ficb die Hufgabe, mittels der phänomenologifchen Methode die Grundlagen der Geometrie und befonders die in neufter Zeit in grundfätjlichen Punkten von dem bisherigen Gebrauch abweichende finwendungsweife der Geometrie auf Probleme der Phyfik aufzuklären. Dies foll in r a d i k a l e r Weife gefchehen, nicht durch axiomatifche Formulierungen, wie fie die eigene Grundlagenforfchung der Mathematik und Phyfik vielfach angeftellt hat (denn das wäre nichts anderes, als ein logifch fauberes Namhaftmachen der den Lehrfätjen zugrunde liegenden Vorausfetjungen in ihrer logifch-formalen Verfchlungenheit), fondern im Rückgang auf die urfprünglichen, die Räumlichkeit konftituierenden Phänomenfdbichten. Durch die phänomenologifche Betrachtung foll der axiomatifche Hnfat} felbft erft begründet werden. (Falls fich eine Begründung ats unmöglich erweift, ift der axiomatifche flnfatj entfprechend zu modifizieren.) Es fteht alfo ein Problem zur Unterfuchung, das den Bezirk der der Mathematik immanenten Grundlagenforfchung überfcbreitet,und das man deshalb als ein philofophifches bezeichnen darf, wenn es vielleicht auch nicht zu den zentralen philofophifchen Problemen gehört Es ergab fich die Notwendigkeit, unter den mannigfachen mit der Räumlichkeit verknüpften Problemen, die zufammengenommen einen ganzen großen Problembezirk ausmachen, einige, im Grunde nur zwei, in den Vordergrund zu rücken. Rein inhaltlich betrachtet, 1) Dicfe Abhandlung wurde am 31. Januar 1922 der philofophifchen Fakultät der Univerfität Freiburg i. B. als Habilitationsfchrift eingereicht. In der vorliegenden Faffung find an einigen Stellen Änderungen in der Form der Darftellung, nicht aber im Inhalt, vorgenommen worden.
2
Oskar Becker,
[386]
find es das Kontinuumproblem und das Problem der nicbteuklidifcben Geometrieen. Welche Funktion fle in der pbänomenologifcben Unterfucbung des Raumes ausüben, wird fpäter zur Klarheit kommen. Dann wird man feben, daß Tie nicht von ungefähr ausgewählt find, fondem eine prinzipielle Bedeutung haben. Aber auch abgefeben von diefer rein fachlichen Bedeutfamkeit erfchien die Behandlung jener Probleme wegen unterer augenblicklichen pbilofopbie» und wiffenfchaftsgefchichtlichen Lage erwünicbt. Die beiden Probleme, das des Kontinuums und das der nicbteuklidifcben Geometrie (in ihrer von der E i n f t e i n fchen allgemeinen Relativitätstheorie vollzogenen Anwendung auf den phyfikalifchen Raum), ftehen im Vordergrund des Intereffes der um ihre Grundlagen bekümmerten Mathematik und Pbyfik. Ihrer Natur nach fordern fie den Verfuch einer pbilofopbifcben Klärung heraus, der hier mit den weittragenden Mitteln der Phänomenologie unternommen werden foll. Die konftitutive (tranfzendental • pbänomenologifcbe) Analyfe der Natur, insbefondere ihrer räumlichen Pbänomenfchicht, ift von H u f f e r l in langjähriger, ftiller Arbeit fo weit gefördert worden, 1 ) daß eine ftrenge, bis ins Konkrete gehende pbänomenologifcbe Begründung der Geometrie und eine volle Aufklärung jener Probleme möglich ift. Der Verfaffer, dem wefentlicbe Teile jener Hufferlfcben Forfdmngen (in Vorlefungen, Übungen, Manufkripten, perfönlicben Unterredungen) zur Verfügung geftellt wurden, fet)te ficb die Aufgabe, jene Begründung und Aufklärung in ihren Grundzügen zu leiften und damit eine Brücke von der Phänomenologie zur heutigen Mathematik und Pbyfik zu fcblagen. Diefe Arbeit ift alfo in ihrer Eigenart am kürzeften durch diefe, Phänomenologie und exakte Wiffenfchaft verbindende, Tendenz zu cbarakterifieren. Daraus ergeben ficft aber auch zwei nicht zu vermeidende Mängel der vorliegenden Darfteltung: nämlich einerfeits die mangelnde Tiefe und Genauigkeit der pbänomenologi fchen Analyfen (die, wenn fie allen Anforderungen hätten genügen follen, 1) Hufferl felbft bat darüber nichts veröffentlicht. Aber die folgenden, aus feinem Ideenkreis entfprungenen, obgleich ielbftändigen und in mancher Hinfleht von ihm abweichenden Arbeiten können ein ungefähres Bild feiner Forfcbungsricbtung geben: W i l b e l m S c b a p p , Beiträge zur Phänomenologie der Wahrnehmung. Halle 1910. H e i n r i e b H o f m a n n , Unterfucbungen über den Empfindungsbegriff (philof. Differtation, Göttingen 1912). E d i t h S t e i n , Zum Problem der Einfühlung (philof. Differtation, Freiburg i. B. 1917). H e d w i g C o n r a d - M a r t i u s , Zur Ontologie und Erfcbeinungslehre der realen Außenwelt. (Jahrbuch f. Philof. u. phän. F. Bd. 3, S. 345 ff. bef.: I. Das Oefamtphänomen der »realen Außenwelt« als folches. S. 361 bis 396).
[387] Beitrage zur pbänomenotogifchen Begründung der Geometrie ufw.
3
den Stoff ins Ungemeffene hätten anfchwellen laffen), andrerieits die fehlende Begründung der matbematifch-pbyfikalifcben Gedankengänge (die lediglich in ihren Reiultaten aus der Literatur übernommen wurden). Der zweite Mangel wiegt nicht allzufchwer. Denn befonders in den Arbeiten H. W e y ts 1 ) find die hier b e n u t z t e n mathematifch • phyfikalifcben Gedankenreiben in fo muftergültiger Weife entwickelt, daß wir den über die genügende mathematifche Vorbildung verfügenden Leier ohne weiteres auf fie verweilen können. Mehr Gewicht müffen wir dem erften Mangel zugefteben; denn es liegt zur Zeit keine ausreichende Veröffentlichung der Forfdbungen Hufferls vor. Indeffen glauben wir zum minderten ein folides Gerüft gegeben zu haben, das dazu dienen kann, den zukünftigen endgültigen Bau der phänomenologifchen Begründung der Geometrie aufzuführen. Es muß aber noch darauf aufmerkfam gemacht werden, daß auch die Fundamente unferes Baues übernommen wurden und nicht zur Diskuffion geftellt find. Uniere Unterfucbungen gründen fich in allen prinzipiellen Punkten auf die grundlegende Arbeit Hufferls: »Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologifchen Philofopbie«.2) Metbodifcbe Prinzipienfragen find alfo nicht erörtert worden und zwar deshalb nicht, weil kurze Andeutungen — und folcbe wären allein möglich gewefen - dem kundigen Lefer nichts Neues geboten und den unkundigen nur über die Tragweite und Schwierigkeit derartiger Unterfuchungen hinweggetäufcht hätten. Sofern man alfo von einer pbilofopbifcben Arbeit folcbe prinzipiellen und in metbodifcher Hinficht radikalen Betrachtungen fordert, ift die vorliegende Abhandlung nicht als eine im ftrengen Sinn pbilofopbifcbe zu bezeichnen. Sie bewegt fich in dem Zwifcbengebiet zwifcben der den pofitiven Wiffenfcbaften immanenten Grundlagenforfcbung und der zentralen pbilofopbifcben Problematik. Nur auf einen prinzipiellen Punkt müffen wir binweifen: Unfere Unterfudmng ift durchgängig orientiert am P r i n z i p d e s t r ä n f z e n d e n t a l e n I d e a l i s m u s . Genauer getagt: Unfere Frage« ftellung gebt durchgängig auf die tranfzendental-pbänomenologifche Konftitution der in Frage ftebenden Gegenftände, deren Grundidee in dem IV. Abfchnitt der Hufferlfcben »Ideen«, betitelt: »Vernunft 1) Es kommen befonders in Frage: für den I. Teil der fluffat): »über die neue Grundlagenkrife der Mathematik«, Matbem. Zeitfcfmft., Bd. 10, S. 39ff., Berlin 1921; - für den IL Teil: »Raum, Zeit, Materie«. 4. flufl. (!) Berlin 1921. 2) Diefes Jabrbucb Bd. I, 1, S. 1 ff., Halle a. S. 1913. 25*
4
Oskar Becker,
[388]
und Wirklichkeit«, dargelegt ift. Hndrerfeits ist es von grundfaßlicher Wichtigkeit, auf den folgenden Umftand ausdrücklich auf» merkfam zu machen: D a s P r i n z i p d e s t r a n f z e n d e n t a l e n Idealismus ift hier zugrunde gelegt lediglich für N a t u r g e g e n f t ä n d e , in d e r W e i f e d e r m a t h e m a t i f c h e n N a t u r w i f f e n f c h a f t b e t r a c h t e t und für die diefe etwa konf l u i e r e n d e n Gegenftändlichkeiten. Über feine mögliche Ausdehnung auf andere Gegenftändlichkeiten (befonders folche feelifch-geiftigen Charakters) wird in der vorliegenden Arbeit n i ch t s behauptet. Unfere Dankbarkeit bei der flbfaffung diefer Arbeit gebührt alfo in erfter Linie E d m u n d H u i f e r l , 1 ) deffen Forfchung das Fundament ift, auf dem fie ficb erhebt, und in zweiter Linie H e r m a n n W e y l , deffen Darftellung der mathematiich-pbyiikalifcfcen Probleme uns ein für die phänomenologifche flnalyfe um fo geeigneteres Material bot, als er felbft der Phänomenologie nahe fteht. Nach diefen allgemeinen Vorbemerkungen wenden wir uns zur näheren Herausftellung und Gliederung des uns vorfchwebenden Problems. II. Gliederung
der
Problematik.
1. Das e r f t e H a u p t m e r k m a l d e r G e o m e t r i e , das ihre Stellung in der Gefamtheit der Wiffenfchaften entfcheidend beftimmt, zunächft im Gegenfatj zur Hritbmethik oder flnalyfis, ift ihr eigentümlicher D o p p e l c h a r a k t e r . Sie zieht nämlich ihre Begründung aus dem Gebiet des reinen Verftandes, der formalen Logik, einerfeits und aus dem Gebiet der finnlichen Hnfchauung andrerfeits. Nicht immer ift die Berechtigung diefer beiden Seiten der geometrifchen Wiffenfchaft anerkannt worden: Insbefondere hat man ihr fchon frühzeitig den Charakter einer reinen Verftandeswiffenfchaft zufprechen wollen. Ja, man kann fogar fagen, daß die Idee einer rationalen Wiffenfchaft überhaupt dem Vorbild der Geometrie entflammt. Die großen Rationaliften der neueren Zeit, D e s c a r t e s , S p i n o z a , L e i b n i z ftrebten nach einer wiffenfchaftlichen Begründung durch Beweisführung »more geometrico«, d . h . dem euklidifchen Vorbild gemäß nach einer lückenlofen Deduktion aus evidenten Prinzipien 1) fluch für die im reichten Maße in der uneigennütjigften und liebens> würdigften Weife ibm gewährte perfönlicbe Förderung bei der flbfaffung und Drucklegung diefer Arbeit möchte der Verfaffer auch an diefer Stelle Herrn Profeffor Hufferl feinen aufrichtig ften Dank ausfprecben.
[389]
Beiträge zur pbänomenologifchen Begründung der Geometrie ufw.
5
(Axiomen), bei der auch wieder jeder einzelne Schritt des Beweifes unmittelbar einfichtig fein muß.1) Schon D e s c a r t e s fachte dabei auf die einfachften und allgemeinften Prinzipien zurückzugehen, die ihm erreichbar waren. Fiber erft L e i b n i z erfaßte den formalen Charakter einet derartigen Deduktion und der ihr zugrunde liegenden Begriffe und Axiome. Seine Idee einer »umverteilen Charakteriftik« und feine klare Erfaffung des Wefens der »argumens en forme« brachte ihn zur Konzeption der matbesis universalis. (Sie findet fleh dem bloßen Namen nach allerdings fchon bei D e s c a r t e s , in den »Regulae«, der Sache nach aber dod> erft bei L e i b n i z , 2 ) Kam D e s c a r t e s Konzeption des Allgemeinen trojj einiger darüber hinausftrebenden, jedoch unklar gebliebenen Bemühungen durch bloße »Generalifierung« zuftande,3) fo bediente iich L e i b n i z bereits bewußt der »Formalifierung«. 4 ) Völlig in feiner grundlegenden Bedeutung für die Logik erfaßt wurde diefer Unterfchied erft von Hufferl.6) Seit H u f f e r l unterfcheiden wir im Gebiet der Wefenswiffenfchaften zwifchen den »material-eidetifchen« Ontologieen, deren inideierender Abftraktion erfaßte Wefensgefetje fachhaltig find, und der »formalen« Ontologie oder »mathesis univerfalis«, die fich lediglich mit den Gefetjen der Abwandlung des leeren Etwas befchäftigt und damit allerdings die getarnte »reine« Mathematik umfaßt. Die Geometrie indeffen ift zu den materialen Wefenswiifenfcbaften zu rechnen. Sie behandelt das reine (»materiale«) Wefen des Raumes- Jedoch erhebt fich gegen diefe Auffaffung fofort ein Bedenken, wenn man an die eminente Rolle denkt, die die formale Argumentation in der Geometrie fpielt. Wir ftoßen hierbei wiederum auf ihren Doppelcharakter. Wäre fie eine rein materiale Wefenswiffenfchaft, 1) Vgl. D e s c a r t e s , Regulae ad directionem ingenii, Reg. III, §8. 2) Vgl. dazu H u f f e r l , Logifcbe Unterfucbungen (2. flufl. Halle 1913), Bd. I, S. 220 f. 3) Für die Tendenz D e s c a r t e s auf eine formale Mathematik ift wichtig die Stelle in der »Regulae«, Reg. IV, § 9 (zitiert nach B u c h e n a u s Über« fet>ung, 2. flufl. Leipzig 1920, S. 21): » . . . fo daß es alfo eine beftimmte allgemeine Wiffenfcbaft geben muß, die all das erklären wird, was der Ordnung und dem Maße unterworfen, ohne Anwendung auf eine befondere Materie, als Problem auftreten kann«. - Dagegen wird z. B. in der 1. Meditation, § 8 und 9 (S. 11 bis 12 der Original-Ausg., Paris 1641) die Verallgemeinerung lediglich als Generalifierung gefaßt. 4) Vgl.z.B. die flbbandl. »Zur allgemeinen Charakteriftik« »Hauptfcbriften« berausg. v. C a s s i r e r , Bd. I, S. 37, Z. 28 ff. und S. 50, = Pbilof. Schriften berausg. v. G e r h a r d t , VII, S. 184 bis 89.) 5) »Logifcbe Unterfucb.«, Bd.I, Kap. 11 und »Ideen« § 13 (f. a. §10 u. 16).
6
Oskar Becker,
[390]
fo wäre üe völlig in dev Anfdbauung fundiert, eine Auffaffung, die bekanntlich von S c h o p e n h a u e r vertreten wurde. Allerdings wäre diefe Anfchauung nicht die »empirifche« Sinnlichkeit, fondern eine »reine Anfchauung«, was dann wieder ein Problem für Och darftellt. Die Rolle des Formalen rührt von der verftandesmäßigen Wurzel der Geometrie her. Es hätte keinen Sinn, in der Geometrie nach den Regeln der iyllogiftifchen Deduktion beweifen zu wollen - wie man es doch feit E u k l i d tut —, wenn in ihr alle Begründungen lediglich fachhaltig fortichritten. Tatiächlich flnd in der modernen Geometrie lediglich die Grundlage fachhaltig. Sind fie einmal zugeftanden, fo folgen alle weiteren Lehrfät>e rein formal« logifch. Die Geometrie ift alfo material-eidetifch in ihren Grundfätjen, aber formal-logifch in der Art ihres Fortichreitens von diefen zu dem Syftem ihrer Wahrheiten, was allerdings nicht ausfchließt, daß jeder folche formale Schritt auch material-eidetifch einfichtig gemacht werden kann. 1 ) Diefe materiale (d. i. anfchauliche) Begründungsweife ift aber nicht mehr notwendig, um die Geltung irgendeines Lehrfatjes zu fiebern; dazu genügt — und ift bekanntlich leichter und zuverläffiger — die formallogifche Ableitung. Worin gründet diefes eigentümliche Verhältnis? Es ift doch keineswegs felbftverftändlich oder auch nur durchgängig der Fall, daß fämtliche Sä^e einer material-eidetifchenDifziplin aus einigen wenigen Grundfätjen formal-logifch folgen 1 Die Antwort darauf gab wiederum H u f f e r l durch Einführung des Begriffs der »definiten Mannigfaltigkeit« 2 ) Ein definites Sachgebiet ift dadurch gekennzeichnet, »daß eine endliche Anzahl gegebenenfalls aus dem Wefen des jeweiligen Gebietes zu fchöpfender Begriffe und Sätje die Gefamtheit aller möglichen Geftaltungen des Gebiets in der Weife rein analytifcher (d.i. formal-logifcher) Notwendigkeit vollftändig und eindeutig beftimmt«. Wir werden diefen fundamentalen Begriff noch eingehend zu betrachten haben. Hier muß diefe vorläufige Kennzeichnung genügen. Dann und nur dann, wenn ein Sachgebiet eine derartige definite Mannigfaltigkeit bildet, ift es möglich, in ihm eine exakte (im weiteften Sinn »mathematifche«) Wiffenfchaft zu begründen. Die Möglichkeit einer exakten Geometrie gründet fleh alfo auf die Wefenseigentümlichkeit des Raumes, eine definite Mannigfaltigkeit zu fein. 1) Es ift biet nur an die elementare fyntbetifebe Geometrie gedacht, nicht etwa an die analytifdbe. Als Beifpiel nebme man etwa M. P a f cb, Vöriefungen über neuere Geometrie, Leipzig 1882. (2. Ausgabe 1912.) 2) »Ideen« § 71 bis 75; das Zitat ift aus § 72. (Diefes ]abrb. Bd. I, l , 8.135).
[391] Beiträge zut phänomenologischen Begründung der Geometrie ufw.
7
Ift es aber richtig, den Raum fcblecbtbin eine definite Mannigfaltigkeit zu nennen? fluch darauf gibt H u f f e r l eine beftimmte und zwar negative Antwort. (Ideen § 74.) Der Raum ift nicht nur Subftrat der Geometrie, fondern auch der fchlicht defkriptiven »Morphologie«, die als eidetifcb-materiale Wiffenfcbaft der empirifchen Morphologie des defkriptiven Naturforfchers (Mineralogen, Botanikers, Zoologen ufw.) zugrunde liegt. Sie arbeitet mit wefensmäßig vagen Begriffen, wie »gezackt«, »gekerbt«, »doldenförmig« ufw., die nicht durch exakt geometrifche erfetjt werden können. Der Raum, als Gefamtbeit det möglichen morphologifeben Geftalten auf« gefaßt, ift evidentermaßen keine definite Mannigfaltigkeit. Von hier aus gewinnen wir nun einen k'.i < 1 Ten Einblick in den Doppelcbarakter der Geometrie: die Morphologie ift eine rein anfebauliebe Wiffenfcbaft, ihr liegt der fchlicht-anfcbauliche, vage, indefinite Raum zugrunde; dagegen befchäftigt Och die Geometrie mit einer definiten, zweifeitig (in Hnfcbauung und Denken) fundierten Raummannigfaltigkeit. Die räumlichen Geftalten unferer fcblicbten Wabrnebmung find morpbologifcher Natur und ihnen entiprechen in ideierender Hbftraktion morpbologifche Wefen. Um von diefen primitiven Raumgeftalten zu den geometrifchen Figuren (d. h. um von der indefiniten morphologifeben zur definiten geometrifchen Mannigfaltigkeit) zu gelangen, bedarf es eines gewiffen Prozeffes der Idealifierung oder des Übergangs zur Grenze oder zum Limes. Die geometrifchen Wefen erfebeinen als Ziel diefes Prozeffes und damit als Idealwefen oder Ideen im Sinne K a n t s . 1 ) Ebenfo ift der Raum als definite Mannigfaltigkeit eine Idee, nichts fchlicht Gegebenes. Hier erbebt fieb nun das erfte grundlegende Problem, die Frage nach der Struktur diefer »Idee«, ihres pbänomenologifeben Hufbaus und damit der Art und Weife, in der fle uns zugänglich wird. Mit dem bloßen Begriff »Grenzübergang« ift noch wenig geleiftet. Wir werden feben, daß es fieb durchaus nicht um ein einfaches Phänomen, von nur einer »Schicht« fozufagen, handelt, fonderr in-, , Ven Phänomenkorr deffen Struktur fich nur auf Grund einer genauen Kenntnis uer Konftitution des Raumes durebfebauen läßt. 2.
Ein z w e i t e s H a u p t k e n n z e i c h e n d e r G e o m e t r i e im Gegenfat} zur matbesis universalis ift ihre a p r i o r i f e b e K o n t i n l)*Vgl. Kritik der reinen Vernunft, Tranfz. Dialektik, I. Buch, 1. flbfebn. »Von den Ideen überhaupt«.
8
Oskar Bedter.
[392]
g e n z . Diefe hängt mit ihrem oben erläuterten Doppelcharakter zufammen- Die formale Verfaffung eines auch nur teilweife anfchaulich fundierten Gebiets wird nämlich durch die von feinen anfchauliehen Momenten herrührenden (materialen) wefensgefetjlicben Beichränkungen, denen es im Vergleich zu der Geiamtheit der »leeren«, formal denkbaren Möglichkeiten unterworfen ift, eine gewiffe Z u f ä l l i g k e i t ( K o n t i n g e n z ) enthalten. Es fcheint nicht einfichtig zu fein, weshalb gerade diefe und keine anderen Möglichkeiten anfchaulich ausgezeichnet find; deshalb ift eine derartige zweifeitig fundierte Wiffenfchaft, zunächft wenigftens, niemals in vollem Sinne rational zunennen. Dabei find wieder verfchiedene Fälle zu ¿mterfcheiden: 1. R a t i o n a l e W i f i e n f c h a f t e n m i t e m p i r i f c h e m E i n ich l a g (rationale Tatfachenwiffenfchaften). — Wenn K a n t an einer berühmten Stelle feiner Vorrede zu den »Metapbyfliehen Anfangsgründen der matbematifchen Natucwiffenfdbaft« fagt: 1 ) »Ich behaupte aber, daß in jeder befonderen Naturlehre nur foviel eigentliche Wiffenfchaft angetroffen werden könne, als darin Mathematik anzutreffen ift«, fo bezieht fich dies auf Wiffenfchaften von der Art der heutigen fog. »theoretifchen Phyfik«- Eine folche Difziplin ift ficher in gewiffem Sinn rational zu nennen, aber doch nicht ohne Ein» fchränkung. Genauer betrachtet ftellt fie fich dar als ein »hypothetifch-deduktives« Syftem 2 ), d. h. fie deduziert rational aus Hypothefen, die empirifch fich bewähren tollen, alfo nicht rationat einfichtig und beweisbar find. Beifpiele dafür liefern alle phyfikalifchen Theorien, z. B. Thermodynamik oder Elektrodynamik (in dem Zuftande, in dem fie fich vor Auftreten der Relativitätstheorie befanden). 2. R a t i o n a l e W i f f e n f c h a f t e n m i t k o n t i n g e n t - a p r i o r i f c h e m ( » r e i n a n f c h a u l i c b e m « ) E i n f c h l a g . — Wir kommen zu einer wefentlicb anderen Sachlage, wenn wir die in der üblichen Weife, nach E u k l i d , dargeftellte Geometrie betrachten. (Diefe »euklidische« Geometrie dient uns hier nur als hiftorifches Beifpiel. Es muß zunächft noch durchaus offen bleiben, ob wir hier die endgültige, gewiffermaßen ideale Form der Geometrie vor uns haben. Die Antwort auf diefe Frage wird gerade eines der Endziele unferer gefamten Erörterungen fein.) Auch hier find die Axiome formallogifch nicht evident. Sie beziehen ihre Geltung aus der einfichtigen 1) Werke, Ausgabe der Berliner Akademie, Bd. IV, S. 470. 2) Diefer Terminus ftammt von P i e r i , der 1899 eine flbbandlung'fcbrieb »Deila geometria elementare come sistema ipotetico deduttivo«.
[393] Beiträge zur pbänomenologifcben Begründung der Geometrie ufw.
9
Raumanfchauung, genauer aus dec ideierenden Abftraktion, verbunden mit Limesbitdung. (Ein Phänomen, das noch näher zu klären fein wird.) Aber obwohl dieie material-eidetifchen Gefetje natürlich a priori find, find fie doch nicht im ftrengften Sinne rational verftändlich: fie find kontingent-apriorifch. Beifpielsweife ift es (wie wir glauben) ein Wefensgefet), daß der Raum drei Dimenfionen hat, aber wir kennen anfcheinend keinen umfaffenderen Zufammenhang, aus dem diefes Gefet) verftändlich würde- Ebenfo wiffen wir aus der mathesis universalis, der allgemeinen Lehre von den definiten Mannigfaltigkeiten, daß die euklidifcbe Mannigfaltigkeit nur ein fpezieller Fall unter vielen anderen ift. Somit ift der Raum auch als euklidifcher kontingent, aber deswegen - wie ein Vergleich mit den oberften Grundlagen der klaffifchen Phyfik zeigt — doch apriorifcft. Andere Beifpiele liefern die fog. »Tongeometrie« oder »Farbgeo» metrie«, d. h. die Lehren von der formalen Struktur der Mannig» faltigkeiten der Ton» bzw. Farbqualitäten. Dieie find allen empirifd) je zur Beobachtung gelangenden Tönen bzw. Farben gegenüber a priori; formal aber find es doch ganz fpezielle Mannigfaltigkeiten, und es ift kein rationaler Grund anzugeben, warum fie gerade diefen ipeziellen Charakter haben. E s ift nicht zu leugnen, daß in diefer Kontingenz ein gewiiier Mangel an Rationalität fich kund tut. Zu einer ichlechthin »rationalen« Wiffenfchaft erheben wir uns erft, wenn wir auch die Grundfätje, ihrem notwendigen Zufammenhang und Uriprung nach, einfichtig verftehen. Allerdings ift zunächft nicht einzuleben, wie Geometrie, die doch keinesfalls eine formallogifche Difziplin ift, dieie höchfte Stufe der Rationalität foll erreichen können. D e s c a r t e s und S p i n o z a lag diefe ftrenge Idee einer rationalen Wiffenfchaft, insbefondere in ihrer Anwendung auf die Geometrie, noch fern, L e i b n i z dagegen ftrebte ihr zu, wie z. B. feine Abhandlung »Initia rerum Mathematicarum metaphysica« (Math. Schriften, ed. G e r h a r d t VII, 17 bis 29 = Hauptfcbriften ed. C a s s i r e r I, 53 ff.) beweift. K a n t brachte dann im Prinzip die Klärung, indem er die »tranfzendentale« F r a g e ftellte »Wie find fynthetifche Erkenntnifie a priori möglich?« und die Löfung diefer F r a g e fkizzierte in feiner Deduktion der Kategorien und befonders der »Grundfät>e des reinen Verftandes« und dadurch die Möglichkeit fchuf, u. a. auch die geometrifchen Axiome tranfzendental zu unterbauen. 1 ) l ) Bekanntlich bat jedoch Kant gerade für die Geometrie eine derartige bis ins Einzelne gebende Deduktion abgelehnt, indem er für die geometrifchen Axiome en bloc die »reine Hnfchauung« des Raumes verantwortlich machte.
10
Oskar Becker,
[394]
Aber erft die tranfzendcntale Phänomenologie bat das große Problem wirklich in metbodifcb radikaler Weife in Angriff genommen und gelöft durch die Einführung und konfequente Durchführung des Gedankens der »tranfzendentalen Konftitution aller ontologifchen Wefenheiten im reinen Bewußtfein«. ( H u f f e r l , »Ideen« §§ 136 bis 153; bei. § 148 und 149 bis 150.) Das befagt folgendes: Bei jedem Gegenftande irgendeiner »Ontologie« fragt man nach den möglichen Weifen, in denen er im Bewußtfein (als intentionalem) auftreten kann. Hierbei handelt es Heb aber nicht etwa um eine rein defkriptive Behandlung diefer »möglichen Bewußtfeinsweifen«, zufammenhangslos und gewiffermaßen neben der ontologifchen Defkription. Denn dies würde nur zu einer ungeheuren Erweiterung der Befchreibung, aber nicht zu einem rationalen Zufammenhang führen. Es erwächft vielmehr die Aufgabe der vernünftigen Ausweifung des Seins der Gegenftande und des Beftehens von Sachverhalten. Nach dem grundlegenden Prinzip des tranfzendentalen Idealismus »ift« nur ein Gegenftand, »befteht« (»gilt«) nur ein Sachverhalt, fofem und foweit er fich ausweifen kann im Bewußtfein mit dem Grade und der Art von Evidenz, die für ihn charakteriftifch ift. Alles »Tranfzendente« »konftituiert« fich im reinen Bewußtfein, »Wirklichkeit« kommt ihm lediglich zu durch vernünftig motivierte »Wirklichkeitsthefen«. Hierbei befteht nun zunächft ein gewiffer Unterfcbied zwifchen den formalen Gegenftänden (der mathesis universalis) und den materialen Gegenftänden (der einzelnen fachbaltigen Regionen). Die formalen Gegenftande und ihre Beziehungen (und damit die formale Ontologie) finden ihre konftitutive Begründung in einer formalen Phänomenologie, d. b. in einer Lehre vom Bewußtfein von Gegenftändlicbkeit überhaupt, deren Sachgehalt ganz unbeftimmt ift. (Dies ift freilich durchaus keine »leere« Disziplin, fondern fie enthält in gewiffem Sinne, wie unten näher zu erläutern fein wird, die gefamte Konftitutionslehre »formal« in fich.) Die materialen Gegenftande einer Region dienen dagegen als »tranfzendentale Leitfäden« für den Aufbau einer konftitutiven Sein metbodifebes Prinzip zeigt feine Behandlung der »matbematifeben Naturwiffenfcbaft« viel klarer. Auf diefem Gebiete bat er die flnalyfe bis zum Anfcbluß an die pofitive Wiffenfebaft weiterzuführen gefuebt, in den »Metapbyfifeben Anfangsgründen der matbematifeben Naturwiffenfcbaft« und im »Übergang von den metapbyfifebenAnfangsgründen der Naturwiffenfcbaft zurPbyfik«. (Vgl. darüber: E. H d i k e s , Kants Opus postbumum', Ergänzungsbeft 50 der Kantftudienl, Berlin 1920.)
[395] Beiträge zur pbänomenologifchen Begründung der Geometrie ufw.
11
materialen Phänomenologie des betreffenden Gebiets. Das heißt: Von dev Idee eines folchen regionalen Gegenftands, etwa des materiellen Dings, ausgehend, fragen wir gewiffermaßen zurück nach den Bedingungen der Möglichkeit der Erfaffung feiner Wefenseigentümlich' keiten durch das Bewußtfein. Dabei finden wir dann, daß z. B. das Ding der Mannigfaltigkeit feiner möglichen ñfpekte (in Wahrnehmung, Erinnerung, Phantafle) beftimmte Regeln vorfchreibt, d. h. »abfolut einfichtige ideale Möglichkeiten der ,Grenzenlofigkeit im Fortgange' einftimmiger ñnfchauungen und zwar nach typifch vorgezeichneten Richtungen« ( H u f f e r l , »Ideen« § 149, S. 311). Für die fo an der Hand von »tranfzendentalen Leitfäden« vor« gehende Methode ift es charakteriftifch, daß fíe das als Leitfaden dienende ontologifche Wefen (etwa das Eidos »Natur«) als gegeben hinnimmt und nicht weiter zurückfragt. Jenes ontologifche Wefen (das Eidos Natur) ift aber felbft gewonnen durch Wefensfcbau (Ideation) aus dem entfprechenden individuellen Gegenftand bzw. Gegenftandsfyftem (unterer faktifch-empirifchen Natur) und ift fo in mancher Hinficht von der Zufälligkeit jener empirifchen Vorgegeben« heit noch abhängig. Wenn alfo auch die regreffiv ermittelten phänomenologifchen Bedingungen ftreng notwendig find für die Konftitution einer Natur vom Typus der uns gegebenen, fo ift damit noch nicht gefagt, daß fíe notwendig find für jeden denkbaren Typus »Natur«- Es erhebt fich vielmehr das Problem der größtmöglichen Verallgemeinerung des urfprünglid» als Leitfaden zugrunde gelegten ontologifchen Wefens, d. h. hier des Wefens »Natur«. Da es fich hierbei fchon um eine oberfte Gattung (Region) handelt, kommt für eine derartige Verallgemeinerung nur die »Formalifierung« (vgl. H u f f e r l , »Ideen« § 13) in Frage. Von dem Typus der faktifchen Natur werden wir fo geführt zur formalen Idee einer Natur überhaupt. Korrelativ damit werden wir eine folche formálifierende Verallgemeinerung in allen konftitutiven Schichten vornehmen müffen, bis hinab zu den hyletifchen Daten, die uns in ihrer zufälligen Eigenart nicht mehr binden werden, fondern von denen wir nur noch die formale Idee einer »Hyle« zurückbehalten. So gelangen wir zu den in einem höheren und legten Sinne not» wendigen Bedingungen der Konftitution der Natur. Die jetzt erreichte Idee der Natur überhaupt wird mit keinerlei Kontingenz mehr behaftet und durch und durch rational in ihrem konftitutiven Hufbau zu begreifen fein. Im Materialen herrfchte bereits ftrenge Notwendigkeit, aber doch nur in befchränktem Rahmen,, in
12
Oskar Becker,
[396]
der jetyt erreichten formalen Sphäre handelt es (ich um die »analytische Notwendigkeit« im Sinne der dritten »logifdben Unteriuchung« H ü f f e r l s . (Band 11,1, S. 254ff., 2. Aufl.). Damit löfen ßch aber alle materialen Phänomenologieen auf in die eine, ungeheuer erweiterte formale Phänomenologie. Syftematifch entfteht die Hufgabe, von der formalen Ontotogie einen methodifd>en Ubergang zu finden zu den durd) Formalifierung der materialen Regionen entftandenen Gebilden. Denn diefe find doch durch den Formalifierungsprozeß keineswegs zu einfachen »Gegenftänden überhaupt« geworden, fle haben vielmehr ihre gefamte Differenziertheit behalten. Das Problem ift nun, diefe differenzierten Gebilde von der formalen Ontotogie aus zu »konftruieren«. Der Weg zur Löfung diefer ungeheuren Hufgabe kann hier nid)t einmal andeutungsweife befprodben werden. Er führt über die Lehre von der Individuation (von den principia individuationis, wie Zeit und Raum). Einzelnes wird fpäter anzuführen fein. Der Kern des ganzen Gedankengangs ift alfo: Überwindung der apriorifchen Kontingenz durch Formalifierung und fyftematifche Konftruktion vom »Urfprung« her, womit die Erweiterung der mathesis universalis (die fich nur mit dem Etwas überhaupt befaßt) zu einem wirklich allumfaffenden Syftem »mathesis universalissima« (in der auch das Individuelle feinen Plat) hat), verbunden ift.1) Damit ift, wie wir meinen, die Idee der ftreng rationalen Wiffenfchaft erreicht. Diefe Idee wollen wir im folgenden auf das Problem der Geometrie und (teilweife) der mathematifchen Naturwiffenfchaft anwenden. Wir werden dabei dem Ideal einer ftreng rationalen Geometrie und Pbyflk zuftreben, indem wir uns von den kontingenten Momenten, die jene Wiffenfchaften im Laufe ihrer Entwicklung, feit Euklid und Newton, in fid> aufgenommen haben, zu befreien trachten. Wir können nunmehr unier zweites Hauptproblem in folgender Faffung ausfprechen: Es find die kontingenten Momente im Hufbau der Geometrie mittels der tranfzendentalen Methode auszufchalten. 3. Es erübrigt fich noch, auf das V e r h ä l t n i s u n f e r e r b e i d e n H a u p t p r o b l e m e kurz einzugeben. 1) Dabei befcbränken wir uns hier auf die N a t u r g e g e n f t ä n d e , d. b. Gegenftände, bei denen wertende und praktifcbe Geficbtspunkte keine Rolle fpielen. Ob die Idee der matbesis universalissima über die formale Idee der Natur hinaus ausgedehnt werden kann und in welchem Sinne, kümmert uns Wer nicht.
[397] Beiträge zur pbänomenologifchen Begründung der Geometrie ufw.
13
Man könnte verfuebt fein, zu meinen, daß die Idee einer ftreng rationalen Wiffenfcbaft, die nichts Kontingentes mehr enthält, das erfte Hauptproblem fozufagen überflüffig macht, indem nämlich in einer »rein rationalen« Wiffenfcbaft die Anfcbauung als lieber Kontingentes Element von vornherein keinen Platj findet. Allein dem ift nicht fo. Der fpringende Punkt liegt hier in dem Übergang von der »matbesis universalis« zur »matbesis universalissima«, d. b. von der in voller Weite verftandenen formalen Logik zu dem alle Phänomene tranfzendental in fieb begreifenden fchlechtbin umverteilen Syfteme. Obwohl diefes Syftem konftruktiv ift, umfaßt es doch auvag oder indefinit. Auch fie muß erft definit gemacht werden, um der formallogifchen Begriffsbildung Angriffspunkte zu bieten. Man darf alfo nicht glauben, jemals des Limesproblemes überhoben zu fein. Es bleiben alfo unfere beiden Hauptprobleme unabhängig von einander beftehen: 1. Das Problem der rationalen Erfaffung des Schlicht-Anfcbaulicben. Speziell: geometrifche Idealifierung, Idee des Limes. 2. Das Problem der Ausschaltung der Kontingenz: Wie kann nicht nur das Empirifch-Kontingente, fondem gerade das ApriorifcbKontingente überwunden werden? Insbefondere: Wie kann der fcheinbar kontingent-materiale Gebalt der geometrifeben Axiome tranfzendental begründet werden, d . h . als n o t w e n d i g , feiner febeinbaren Zufälligkeit entrückt, verftanden werden? Das erfte Problem ift, in der üblichen mathematifchen Terminologie ausgedrückt, nichts anderes als das K o n t i n u u m P r o b l e m ; das zweite aber ift das P r o b l e m d e s V e r b ä l t n i f f e s d e r e u k l i d i f c b e n zu d e n fog. n i c h t e u k l i d i f c b e n Geom e t r i e e n. Mit diefer präzifen Formulierung unferer Problematik ift zugleich die Gliederung unferer Arbeit gegeben: ihre beiden Teile find den beiden Hauptproblemen gewidmet.
14
[398]
Oskar Bedter,
Erftcc Teil. Die r a t i o n a l e E r f a f f u n g d e s r ä u m l i c h e n Konti» n u u m s m i t t e l s des G r e n z ü b e r g a n g s . Vorbemerkung. In der E i n l e i t u n g hatten wir die phänomenologifcbe Pro« blematik der Geometrie kurz entwickelt. Diefem e r f t e n T e i l fällt die Aufgabe zu, die rationale Auffaffung des Kontinuums verftändlich zu machen. Er befchäftigt fleh aber nur mit der Analyfe der Anwendung eines rationalen Algorithmus auf ein fd)licht'anfd)aulicbes Kontinuum, ohne inhaltlich irgendwie diefen Algorithmus näher zu beftimmen. Dies wird die Aufgabe des z w e i t e n T e i l s fein. Alle inhaltlichen Beftimmungen der geometrifchen Axiome bleiben fomit unerörtert, nur wie man überhaupt dazu kommen kann, geometrifche Axiome aufzuhellen, wird unterfucht.1) Wir gehen dabei fo vor, daß wir i m e r f t e n A b f c h n i t t ganz altgemein das formale Problem behandeln, wie man irgendein Kontinuum rational erfaßt; im z w e i t e n A b f d > n i t t die phänomenotogifche Konftitution des Raumes fkizzieren und darauf geftütjt i m d r i t t e n A b f c h n i t t das geometrifche Problem im engeren Sinn, d. h. die Aufgabe der rationalen Bearbeitung des Raumes zu löfen verfuchen. Erfter Abfcbnitt. Umriß des allgemeinen
Limesproblems.
§ 1. D e r G e g e n f a t z d e s V a g e n u n d d e s E x a k t e n . Um den für den Begriff des Limes grundlegenden Gegenfat) von » e x a k t « und »vag« herauszuftellen, wollen wir ihn abheben gegen ein anderes Gegenfatjpaar, mit dem er in Gefahr ift, verwedjfelt zu werden, nämlich gegen den Unterfd>ied zwifchen E i d o s und empirifchem T y p u s . A) E i d o s u n d e m p i r i f e b e r
Typus.
Die Phänomenologie unterid>eidet zwei grundfätjlicb verfchiedene Arten von Abftraktion. E r f t e n s gibt es die Auffud>ung des »Gemeinfamen« einer Menge vorgelegter Gegenftände (Dinge). Diefes Gemeinfame entfpringt alfo an einer beftimmten Zahl gegenwärtiger 1) Eine fcheinbare Ausnahme bilden die fog. S t e t i g k e i t s a x i o m e . Es wird fleh b er ausfielt en, daß fie fich auf den Grenzübergang als fold>en, nicht auf die inhaltliche Beftimmtbeit des rationalen Algorithmus bezieben. Sie fteben alfo nicht auf derfelben Ebene wie die übrigen Axiome.
[399] Beiträge zur pbänomenologlfchen Begründung der Geometrie ufw.
15
oder vergegenwärtigtet (z. B. erinnerter) Dinge und umfaßt mögliefoetweife noch eine unbeftimmte Zahl erwarteter, evtl. antreffbarer (alfo auch »pofltional« vergegenwärtigtet) Dinge. Immer bandelt es {ich dabei um » p o f i t i o n a l e s « Bewußtfein,1) dem die als Ausgangspunkt der »Abftraktion« dienenden Gegenftände, wie aud> das als Refultat erfcheinende »öemeinfame« gegeben werden- Z w e i t e n s gibt es im Gegenfat) dazu die »ideierende Hbftraktion«, die das Öemeinfame aller m ö g l ich e n Gegenftände von beftimmter Art herausbebt. Sie ift wefentlicb fundiert auf einneutraliflertes, ein frei fingierendes Bewußtfein. Die erfte Weife der Hbftraktion führt zum e m p i t i f e b e n T y p u s , z. B. einet Pflanze in der Botanik oder eines beftimmten Tieres in der Zoologie. Hn die Beobachtung eines derartigen Typus knüpft fieb die Erwartung, daß man Gegenftände desfelben Typs auch in Zukunft antreffen werde, in unbeftimmter Menge- Jeder neue Fund der betreffenden Hrt bekräftigt diefe Erwartung. Insbefondere läßt uns die Auffindung einer Hnzahl für die Hrt charakteriftifcfter Momente an einem neuen Gegenftand erwarten, auch die übrigen für den Typus ebarakteriftifeben Momente an ihm zu finden. Aber das Zufammen t r e f f e n fämtlicber für eine Hrt cbarakteriftifcher Momente ift kein notwendiger Zufammen h a n g . D. b., es find in freier Phantafle Gegenftände vorftellbar (fingierbar); die einige, aber nicht alle der für die Hrt bezeichnenden Merkmale befltjen. Außerdem enthält ein empirifeber Typus einen offenen Horizont der Unbeftimmtheit; die Kenntnis einiger Merkmale des Typus eröffnet die Ausficht auf die empirifebe Beftimmbarkeit weiterer Merkmale, die aber im Voraus nicht angegeben werden können. Die zweite » i d e i e r e n d e « Abftraktionsweife verknüpft dagegen alle »gemeinfamen« Merkmale der Gegenftände einer Art mit abfoluter Notwendigkeit. Wir binden untere Pbantaiie durch die Annahme (den »Anfatj«) gewiffer Merkmale und laffen dann die übrigen Merkmale frei variabel. Dabei ftellen fich dann einige von ihnen als invariant heraus- Was wir dabei als unveränderlich, von der Variation nicht mitbetroffen finden, find nämlich diejenigen Merkmale, die mit den zunäcbft angelegten notwendig mitgefetjt find, deren Negation alfo zum Widerfinn (materialer Art) führen würde. Das fo entftehende Gemeinfame ift das » E i d o s « oder » W e f e n . « Der notwendige Zufammenhang zwifeben Wefensmetkmalen, genauer zwifeben den Variationen der Wefensmerkmale, ift ein »Wefensgefet).« 1) Über pofitionales und neutraliflertes Bewußtfein f. Husserls »Ideen« § 109 bis 112.
16
Oskar Becker,
[400]
Daß die Momente des Eidos wefensgefet}lich zuiammerigebalten werden, das macht eigentlich die Eigenart des Eidos im Gegenfatz zum empirifchen Typus aus. Wefensgefetze gelten unverbrüdrtich, fie gehen den empirifchen Geietzen »voran«, iie find a priori. Sie bilden den feiten Rahmen, innerhalb deifen fleh die empirifchen Gefetje mit einer gewiffen Freiheit entfalten können, den fie aber nicht überfchreiten können. 1 ) Die Wefensgefetze machen das aus, was an einer Erfcheinung begreiflich ift. Bloße empirifche Gefege find grundfätzlich ftets unbegreiflich, wenn wir uns auch fo an ße gewöhnen, daß wir fie nicht mehr als wunderbar empfinden und für felbftverftändlich halten; im eigentlichen Sinne find fie das nie. B) M o r p h o l o g i f c h e V a g h e i t
und geometrifebe
Exaktheit.
Von dem Unterfchied zwifchen Eidos und empirifchem Typus ift forgfältig zu trennen der zwifchen Vagheit und Exaktheit. 2 ) Exemplifizieren wir an den räumlichen Geftalten, die uns ja als Hauptthema befchäftigen! Was wir an Geftalten unmittelbar wahrnehmen, z. B. fehen, ift immer bis zu einem gewiffen Grade vag und fließend. Wir fehen etwa etwas »Rundes« oder »Ovales« oder »Viereckiges« aber keine exakten Kreife, Ellipfen, Quadrate. Diefe »geometrifchen« Figuren find abfolut fcharf, fie liegen als »Punkte« im Kontinuum alter möglichen Geftalten. Morphologifche Geftalten dagegen fchweben immer in einer gewiffen Sphäre der Unbeftimmtheit. Hn Beifpielen läßt fich leicht zeigen, daß es e r f t e n s fowohl morphologifche wie exakte »Wefen« und daß es z w e i t e n s neben den vagen empirifchen Typen im eigentlichen Sinne in der Naturwiffenfehaft auch exakte »Idealtypen« gibt, die trotzdem nicht durchgängig wefensgefetzlich beftimmt find, fondern z. B. ganz beftimmte numerifche Konftanten enthalten. - Beifpiele: I. a) Vages (»morphologifche«) Wefen: Eiförmige Geftalt, b) Exaktes (»geometrifebe«) Wefen: Kreis, Ellipfe; II. a) Vager empirifcher Typus: Blatt, Löwe, b) Exakter Idealtypus: WafferftofFatom, Planetenbahn. Zur Idee des »exakten Idealtypus« ift zu bemerken: Es gibt in der Natur de facto keine exakten individuellen Gegenftände. Es exiftieren ficher keine ungeftörten Planetenbahnen, vielleicht nicht einmal völlig exakt charakterifierte WafferftofFatome. Aber auch ein »ideales« (im Sinne der Limesbildung idealifiertes) WafferftofFatom 1) Vgl. H u s s e r l , »Ideen« § 5 bis 7. 2) S. H u s s e r l , »Ideen« §74.
[401]
Beiträge zur pbänomenologifcben Begründung der Geometrie ufw.
17
wäre kein lediglich von Wefensgefetjen beberrfchtes Gebilde. Gewiife feiner zahlenmäßigen Eigenfcbaften find empirifcb gewonnen, wenn fie fid) auch niemals als direktes Beobachtungsergebnis ergeben. Die Sachlage ift alfo die: Wir können uns exakt definierte Gebilde »denken« (wie, ift fpäter zu erörtern) von fpeziellem, ja fingulärem Charakter und folche exakte »Idealtypen« verwenden zur Charakterifierung von empirifchen Gegenftänden eines gewiffen Typus. Jene »Idealtypen« find ja in gewiffem Sinne fiktiv, aber doch keine Wefen. Denn ihr fpezieller Charakter, der von ihrer Herleitung aus empirifchen Gebilden herrührt, ift nicht wefensgefetzlich beftimmt; nicht alle ihre Merkmale find notwendig, fondern manche find zufällig. Wir können fogar fo weit geben, individuellen Gegenftänden an einer ganz beftimmten Raum- und Zeitftelle ein derartiges exaktes Gebilde zu fubftruieren. Dies tun wir z. B., wenn wir von der tbeoretifchen Figur der Erde (dem fog. »Geoid«) oder der tbeoretifcben Mondbahn reden. Hn diefen »idealen« Gebilden meffen wir die beobachtete Erdfigur oder Mondbahn, die immer eine gewiffe Unbeftimmtbeit (Schwankungsbreite) an fich bat. C) D e r
Begriff
des
Limes.
Es ift nun diefer Unterfcbied zwifcben vagen und exakten Gegenftänden, der auf den Begriff des Limes notwendig hinweift.1) Einerfeits find die vagen Geftalten zwar unmittelbar anfcbaulicb faßbar und aus ihnen find in ideierender Rbftraktion echte morpbologifcbe Wefen erfcbaubar, aber fie zeigen dafür den Mangel, daß fie begrifflich nicht fcharf beftimmbar find und daß fie daher nicht in rationalen Wiffenfcbaften zu gebrauchen find, gleichfam wegen der beftändigen Gefahr einer quaternio terminorum. Sie weifen daher bin auf ein Ideal von Exaktheit, das jenfeits ihrer liegt. Hndrerfeits find zwar die exakten Wefen fcharf umriffen und in rationalen Argumentationen verwendbar, aber wenn wir, dem phänomenologifchen Grundprinzip getreu, von fignitiven zum intuitiven Denken zurückgehen wollen, 2 ) entfchwinden fie uns fcbeinbar. Weder find fie in fchlichter Wahrnehmung erfaßt, noch fdheinen fie kategoriale Wefenbeiten zu fein. Wir werden hier daran erinnert, daß fcbon P l a t o den geometrifcben Figuren eine Mittelfteilung zwifcben den Ideen (für die er öfters kategoriale Beifpiele angibt) und den Sinnendingen anwies. 9 ) 1) 2) 3) teles,
Husseil, Ideen § 74. Husserl, Logifcbe Untevfucbungen, Bd. II, 6, Unterfuchung. Siebe P l a t o , Timaeus p. 52 (Stepb. [cap. 18]); Vgl. aucfo firiftode anima 1 , 1 ; 4 0 3 b , 14 bis 16; Metbapbyfik 1,6, 987b, 14 bis 18.
Oskar Becher,
18
[402]
Von beiden Seiten aus, von den vagen wie von den exakten Geftalten, werden wir alfo gedrängt, uns dem Prozeß der Limesbildung zuzuwenden. Nach feiner Klärung werden wir das Überfichbinausftreben des Vagen befriedigen und auch umgekehrt dem Idealbegriff eine echte anfcbaulicbe Fundierung verfchaffen können. §2.
Rationaler
A l g o r i t h m u s und d e f i n i t e Mannigfaltigkeit.
H. D a s G r u n d m e r k m a l d e s r a t i o n a l e n f i l g o r i t b m u s .
Eine rationale Theorie befteht in einem Begründungszufammenhang von Sägen. Das gilt für alle, auch die unvollkommenen (hypothetifch-deduktiven) Formen des rationalen Syftems. Es handelt fich nun darum, den Charakter diefes rationalen Zufammenbangs gegenüber defkriptiven und pfychologifch verftändlichen u. ä. Zufammenhängen herauszuftellen. Das entfcbeidende Merkmal, das den rationalen Zufammenhang vor anderen auszeichnet, ift fein k o n f t r u k t i v e r Charakter. Das befagt, daß er fich aus diskreten Konftruktionselementen in endlicher Zahl zufammenfetjt und daß die Art der ftruktiven Verbindung zwifchen ihnen lediglich logifch • formaler (im erweiterten Sinne fyllogiftifcber) Natur ift. Er bat, fo wollen wir das ausdrücken, den Charakter eines A l g o r i t h m u s . Einem folchen rationalen Algorithmus ichreiben wir die Grundeigenfchaft der Endlichkeit1) zu. Sie befteht. näher betrachtet, in zwei Momenten, erftens der Diskretheit, zweitens der »Definitbeit«. Die Diskretheit befagt, daß beim rationalen filgoritbmus fprungweife von Element zu Element fortgefchritten wird, alfo nicht ftetig durch eine unendliche, zufammenhängende Mannigfaltigkeit von Elementen fortgegangen wird. Ein Algorithmus ift alfo niemals »in 0d> dicht«; d. h. es liegt nicht zwifchen je zweien feiner Elemente ftets wieder ein Element. - Die DeSnitheit dagegen bedeutet, daß a l l e möglichen Gebilde des betreffenden Sachgebiets durch einen aus einer endlichen Anzahl von Grundelementen beftehenden Algorithmus erreicht werden können, und daß ferner die ffruktive Komplikation des Algorithmus nicht unendlich wird. Das heißt alfo, daß fowohl dem Algorithmus felbft als auch dem Sachgebiet, das er konftruktiv beherrfchen foll, der Charakter einer »definiten Mannigfaltigkeit« zugefchrieben werden muß. Diefemmannigfache Schwierigkeiten bietenden Begriff müffen wir uns nun zuwenden. 1) Dies tat im Grunde fd^on A r i s t o t e l e s , vgl. z. B. final, post. I, c. 3. (p. 72 b, 7 bis 11.)
[403] Beitrüge zur pb9nomenotogifd>en Begründung der Geometrie ufw. B. D e r B e g r i f f d e r d e f i n i t e n
19
Mannigfaltigkeit.
Der Begriff der definiten Mannigfaltigkeit wurde in präzifer Form zuerft von H ü f f e r l eingeführt. 1 ) Wegen der grundlegenden Wichtigkeit diefes Begriffs für das Problem der rationalen Bearbeitung des Kontinuums geben wir ein ausführliches Zitat: 1. »Die Geometrie fixiert einige wenige Arten von Grundgebilden.... Mit Hilfe der Axiome, d.h. der primitiven Wefensgefetje, ift fie nun in der Lage, a l l e im Räume ,exiftierenden' d. h. ideal möglichen Raumgeftalten und alle ihnen zugehörigen Weiensverhältniffe rein deduktiv abzuleiten, in Form exakt beftimmender Begriffe, welche die unferer Intuition im allgemeinen fremd bleibenden Weien vertreten. . . . 2. Mit anderen Worten, die Mannigfaltigkeit der Raumgeftaltungen überhaupt hat eine merkwürdige logifche Fundamentaleigenfchaft, für die wir den Namen ,definite Mannigfaltigkeit' . . . einführen. Sie ift dadurch charakterifiert, daß eine e n d l i c h e Anzahl gegebenenfalls aus dem Wefen des jeweiligen Gebiets zu fchöpfender Begriffe und Sätje die Gefamtheit aller möglichen Geftaltungen des Gebiets in der Weife rein analytifcher Notwendigkeit vollftändig und eindeutig beftimmt, fo daß alfo in ihr prinzipiell nichts mehr offen bleibt. . . . 3. Ein Äquivalent des Begriffs einer definiten Mannigfaltigkeit liegt auch in folgenden Sätzen: Jeder aus den ausgezeichneten axiomatifchen Begriffen, nach welchen logifchen Formen auch immer zu bildende Sat), ift entweder eine pure formallogifche Folge der Axiome oder eine ebenfolche Widerfolge, d. h. den Axiomen formal widerfpreebend, fo daß dann das kontradiktorifche Gegenteil eine formallogifche Folge der Axiome wäre. In einer mathematifch definiten Mannigfaltigkeit find die Begriffe .wahr' und .formallogifche Folge der Axiome' äquivalent und ebenfo ,falfd>' und .formallogifche Widerfolge der Axiome'«. Die drei mit Ziffern bezeichneten Abfchnitte diefes Zitats charak« terißeren drei Auffaffungen, die der Begriff der definiten Mannigfaltigkeit in der Grundlagenforfchung der Mathematik feit der Mitte des 19. Jahrhunderts erfahren hat. Wir werden die Tragweite der Huf den erften Blick zwar leicht verftändlichen, aber doch bei näherem Zufehen fchwierigen Ausführungen H u f f e r l s am beften verftehen lernen, wenn wir diefe drei hiftorifchen Auffaffungen der Reihe nach entwickeln. 1) In einem im Winterfemefter 1901/02 in der Göttinger Matbematifcben Gefellfcbaft gehaltenen Vortrag. - Wir benutzen bier die fpätere Darftellung in den »Ideen« § 72 (S. 135). 26*
20
Oskar Becker,
[404]
Die e t (t c fluffaffung itammt von den Begründern dec exakten Theorie der Irrationalzahlen, G. C a n t o r , D e d e k i n d , W e i e r f t r a ß . Wir halten uns hier an G. C a n t o r s Faiiung des Begriffs der Menge. 1 ) Die z w e i t e wurde durch die Notwendigkeit, die fog. ,flntinomieen. der Mengenlehre' zu vermeiden, hervorgerufen. Ihre Urheber find B. R u f f e i l , 2 ) J. K ö n i g 3 ) und in etwas anderer Fällung H. W e y l 4 ) (in feiner erften Kontinuumtheorie von 1918). Die d r i t t e ging aus von einer fundamental neuen Ruffaiiung des Kontinuums. (Neu gegenüber den Hnfdbauungen der modernen Mathematik). Sie ift die Schöpfung L. E. J . B r o u w e r s , 6 ) dem fich neuerdings H. W e y l 6 ) (in feiner zweiten Kontinuumtheorie von 1921) angefchloffen hat. Wir bezeichnen (aus Gründen, die fich fogleich zeigen werden) diefe drei fiuffaffungen der Definitheit folgendermaßen: Definitheit kann gefaßt werden: 1. als »Elementardefinitheit« (G. C a n t o r ) , 2. als »Umfangsdefinitheit« ( R u f f e i l , W e y l 1918), 3. als »Entfcheidungsdefinitbeit« ( B r o u w e r , W e y l 1921). Ehe wir zur näheren Charakterifierung diefer drei Huffaffungen der Definitheit übergehen, müffen wir noch eine Bemerkung übet unendliche Mengen im allgemeinen einfchalten. Eine unendliche Menge ift niemals dadurch gegeben, daß man ihre Elemente aufzählt, denn damit käme man ja niemals zu Ende. Man kann nichts anderes tun, als eine fämtliche Elemente charakterifierende Eigenfcbaft oder ein fie beftimmendes Gefet) anzugeben. 1) Vgl. G. C a n t o r , Grundlagen einer allgemeinen Mannigfaltigkeits« lebre. (Matb. Ann. Bd. 21, S. 545 bis 591), 1883.
2) B. R u f f e i l , Tbe Principles of Matbematics, Cambridge 1903, Fl. N. W b i t e b e a d u n d B. R u f f e l l , Principia Matbematica, Vol. 1. 1910. 3) 3- K ö n i g , Neue Grundlagen der Logik, Arithmetik und Mengen* lebre, Leipzig 1914. 4) H. W e y l , Das Kontinuum, Leipzig 1918; Der circulus vitiosus in dec beutigen Begründung der flnalysis. Jabresb. d. Deutfcben Matb. Ver. 28, S. 85 bis 92, 1919. 5) L. E. J. B r o u w e r , »Over de grondslage der wiskunde«, Hmfter» dam 1907 (Inaug.• Differt.); »Intuitionism and Formalism«, Bull. flm. Matb. Soc. 20, S. 81 bis 96 (1913); »Begründung der Mengenlehre unabhängig vom Satje des ausgefchloffenen Dritten«, Verfcandl. d. flkad. v. Wetenfch. te flmfterdam, Bd. 12 (1918/19); »Intuitioniftifcfce Mengenlehre«, jabrb.d.Deutfcb. Matb. Ver. 1919 (S. 203 bis 208). 6) H. W e y l , Über die neue Grundlagenkrife der Mathematik, Matb. Zeitfcbr. Bd. 10, S. 39 ff. (1921).
[405]
Beiträge zur pb'dnomenologifchen Begründung der Geometrie ufw.
21
Dagegen kann eine willkürlich zufammengewürfelte unendliche Menge niemals als fertig vorliegendes Gebilde »gedacht« werden, und man beachte wohl: dies zieht, nach dem Prinzip des tranfzendentalen Idealismus, unweigerlich nach iich, daß ein folches Gebilde auch nicht irgendwie »an fich« fertig »exiftiert«. Wir zitieren noch den bezeichnenden, draftifchen S a t j W e y l s : 1 ) »Man muß fich .vor der Vorftellung hüten, daß, wenn eine unendliche Menge definiert ift, man nicht bloß die für ihre Elemente charakteriftifche Eigenfchaft kennt, fondern diefe Elemente felber fozufagen ausgebreitet vor fich liegen habe und man fie nur der Reihe nach zu durchlaufen brauche, wie ein Beamter auf dem Polizeibureau feine Regifter, um aus« findig zu machen, ob in der Menge ein Element von diefer oder jener ñ r t exiftiert. Das ift einer unendlichen Menge gegenüber finnlos.«2) Eine mehr logifche Charakteriftik der Sachlage ift folgende: Eine unendliche Menge kann nicht finngemäß gemeint fein als ein Plural im urfprünglichen Sinn, d. h. als eine kollektive Zufammenfaffung vorgegebener Elemente, als ein in einem eigentliehen Zufammen g r i f f wirklich Zufammengefaßtes. Vielmehr ift fie eine offene Vielheit, zu deren Sinn es gehört, ein »und fo weiter«, eine fyftematifche Aneinanderreihung von Elementen ohne Hbfchluß, zu enthalten. Wir müffen uns dies ftets vor ñugen halten, wenn wir jet)t an die einzelnen Theorien über unendliche Mengen herantreten. 1. Elementardefinite Mannigfaltigkeiten.
G. C a n t o r definiert: Eine (unendliche oder endliche) Menge ift dann vollftändig beftimmt, wenn von jedem vorgelegten Gegenftand feftfteht, ob er der Menge zugehört oder nicht. Mit anderen Worten: Steht feft, ob der beliebig vorgelegte Gegenftand a die Eigenfchaft E hat (unter den Begriff IE] fällt), fo ift auch die der 1) Über die neue Grundlagenkrife d. Math., I. Teil, 1. 2) H u f f e r l bat febon in feiner früheren Schrift »Pbilofopbie der firitb» metik« (I.Bd. Halle 1891), S.246 bis 250, den Standpunkt des transfzendentalen Idealismus bei der Huffaffung unendlicher Mengen zur Geltung gebracht, indem er nachdrücklich betont bat, daß für die Apperzeption unendlicher Mengen prinzipiell unvollendbare Prozeffe in Frage kommen, die auch nicht durch ein idealifiertes Erkenntnisvermögen vollendet gedacht werden können. Wir hätten nur dagegen etwas einzuwenden, daß als logifeber Gebalt des Begriffs der unendlichen Menge der Umftand bingeftellt wird, daß für jeden vorgegebenen Gegenftand beftimmt ift, ob er zur Menge gebort oder nicht; diefes C a n t o r febe Definitbeitskriterium wird ficf> gerade im Verlauf unterer Unterfuchung als ungenügend erweifen.
22
Oskar Becker,
[406]
Eigenicbaft E entfprechende Menge M (als Begriffsumfang) beftimmt. Die Menge M ift alfo définit in bezug auf Jedes ibvev Elemente (» clementardefinit « ). Diefe Definition C a n t o r s entfpricbt dem erften Sat} der oben zitierten Ausführungen H u f i e r l s : »Die G e o m e t r i e . . . ift in der Lage, a l l e . . . ideal möglichen Raumgeftalten . . . rein deduktiv abzuleiten, in Form exakt beftimmender Begriffe«. Diefe Beftimmung betont den Gegenfatj zu den vagen morpbologifchen Begriffen, bei denen nicht immer feftftebt, ob ein konkretes individuelles Gebilde unter fle fällt oder nicht. Die mathematifcben Idealbegriffe find eben dadurch charakterifiert, daß die Zugehörigkeit zum Begriff für jeden Gegenftand ohne Schwanken und Zweifel feftftebt, Beifpielsweife ift bei der F e r m a t f c h e n Gleichung: x n + y n zn (x, y, z, n ganze pofitive Zahlen) in jedem einzelnen Fall, d. h. für je vier konkrete Zahlen, beftimmt, ob fie erfüllt ift oder nicht. Nennt man diejenigen Zahlenquadrupel x, y, z, n, die für n > 2 die Gleichung erfüllen, »F e r m a tfche Zahlenquadrupel«, fo ift alfo die Menge der F e r matfchen Zahlenquadrupel elementardefinit. Wir haben damit im Bereich der unendlichen Mengen die vollftändige Disjunktion gewonnen: morpbologifdvvage - elementardefinite Mengen. 2. Umfangsdefinite Mannigfaltigkeiten.
In dem zweiten Hbfchnitt der oben zitierten Ausführungen H u f f e r l s beißt es: » . . . daß eine e n d l i ch e A n z a h l . . . Begriffe . . . die G e f a m t h e i t aller möglichen Geftaltungen des Gebiets . . . vollftändig beftimmt«. Dies kann man dahin interpretieren, daß die Gegenftände der definiten Mannigfaltigkeit (Menge) einen »an fleh beftimmten und begrenzten, ideal gefchloffenen Inbegriff bilden« (Weyl)1). G. C a n t o r glaubte zunächft, diefer Sachverbalt fei eine Folge feiner Mengendefinition, mußte aber zugeben, daß dies für gewiffe Ausnahmefälle, die er »inkonfiftente« Mengen nannte, 2 ) nicht mehr zutrifft. Diefe geben dann Anlaß zu gewiffen Widerfprüchen, deren erfter von B. R u f f e i l veröffentlicht wurde 3 ). R u f f e i l zeigte, daß die Menge aller Mengen, die fieb felbft nicht als Element enthalten (eine nach C a n t o r durchaus geftattete Mengenbildung), mit einem Widerfprucb behaftet ift. Denn man 1) Jabresb. d. Deutfcf). Matb. Vcr. Bd. 28, S. 85. 2) Vgl. H i l b e r t , Grundlagen der Geometrie (3. Hufl. Leipzig 1909), Anhang VII, S. 265. 3) Zuerft im Hnbang von F r e g e s »Grundgefetjen der Arithmetik« 2. Bd. (Jena 1903), dann in feinen oben zitierten Schriften.
[407] Beiträge zur pbänomenotogifcben Begründung der Geometrie ufw.
23
kann von Ihr beweiien, daß fie zugleich fich ielbft als Element enthält und Od» ielbft nicht als Element enthält. Im Verlaufe der Diskuffion diefet und ähnlicher Paradoxieen dutd) G. F r e g e , B. R u f f e l l , J. K ö n i g , H. W e y l u. a. ftellte fleh heraus, daß fie auf einem gewiffen circulus vitiosus beruhen, der durch ein von R u f f e i l formuliertes Prinzip (das fog. »vicious circle principle«) vermieden werden kann. Es lautet: »Keine Gefamt« heit kann Glieder enthalten, die mittels ihrer felbft definiert find« (»no totality can contain members defined in terms of itself«) oder: »Was immer alle (Glieder) einer Menge in fleh fcbließt, darf nicht felbft ein Glied der Menge fein« (»whatever involves all of a collection, must not be one of the collection«). 1 ) Das betagt: Zu keinem Inbegriff kann ein Gegenftand als Element gehören, der von der Gefamtheit der Elemente des Inbegriffs abhängt. In der Tat, ein folcher Gegenftand würde ja, dem Sinn feiner Definition nach, fchon die Gefamtheit der Elemente jenes Inbegriffs vor ausfegen, er felbft würde dann erft nachträglich zu diefer »Gefamtheit« hinzukommen, die aUo gar keine echte, in (ich gefchloffene Gefamtheit wäre. Mengen diefer paradoxen Hrt find charakterifiert durch eine gewiffe Rückbezüglichkeit eines ihrer Glieder auf fie felbft (»self-reference«, »reflexivness« na d) R u f f e i l ) . Wir wollen fie deshalb »peritropifcb« nennen.2) Diefen peritropifchen Mengen fetjen wir nun unfere »umfangsdefiniten Mannigfaltigkeiten« .entgegen. Eine Menge M heißt alfo definit bezüglich ihres Umfangs, wenn es nicht nur feftfteht, ob ein vorgegebener Gegenftand unter M fällt oder nicht, fondern auch, ob es außerhalb eines gewiffen abgefchloffenen Kreifes von Gegenftänden noch weitere unter M fallende Gegenftände g i b t oder nicht. Dagegen hat für eine peritropifche Menge M zwar die Frage: »Hat ein beftimmter Gegenftand a von M die Eigenfchaft E?« ftets 1) R u f f e l l und W b i t e b e a d , Ptindpia Matbematica, Vol. I, p. 40. (Cambridge 1910). 2) Die biftotifebe Wurzel der »reflexiven« Paradoxieen ift das antike Sopbisma des »Lügners« (.fyovi(;
rä
TOvg St
iü.kovg
rrjv
THQITQOTIIIV, xitOui;
TIQMT«)• beim Dimenfionsproblem um zwei verfebiedene Fragen: 1. Welches Kriterium bat man, um zu entfeheiden, wieviel Dimenflonen ein vorgelegtes anfcbauliches Kontinuum bat? 2. Wie konftruiert man matbematifcb die Punkte (Linien, Flächen ufw.) eines n - dimenflonalen Kontinuums? Und wie läßt fieb diete Konftruktion konkret im anfehaulieben Kontinuum durchführen? 1. Das Kriterium der Dimenfionenzabl eines anfcbaulicben Kontinuums.
Wir haben hier nochmals zu febeiden zwifeben inhomogenen und homogenen Kontinuis. a) I n b o m o g e n e K o n t i n u a . - Bei diefen find die einzelnen Dimenfionen qualitativ verfebieden. Zum Beifpiel beim Ton die Höbe und Stärke, bei der Farbe die Helligkeit, der Sättigungsgrad und die eigentliche Farbqualität (entfprechend der Stellung im bunten Farbkreis) ufw. Man fpriebt überhaupt in pbänomenologifeber Husdrudtsweife mit Vorliebe von »den Dimenflonen eines Phänomens«, indem man damit feine voneinander unabhängig variablen Eigentümlichkeiten meint. In foleben Fällen, die wir als inhomogene Kontinua bezeichnen, ift es nicht febwer, die Dimenfionenzabl anzugeben: fie ift natürlich gleich der finzahl der unabhängig variablen Eigenfcbaften und diefe kann man intuitiv erfaffen. b) H o m o g e n e K o n t i n u a . — Bei mebrdimenfionalen homogenen Kontinuis befteben größere Schwierigkeiten. - Beifpiele folcber Kontinua find: Die quaflräumlicben (präfpatialen) Sinnesfelder: das Sehfeld, Taftfeld ufw. Das Kontinuum zerfällt jetjt nicht mehr in mehrere qualitativ unterfebiedene Komponenten. Wir brauchen alfo eine Methode, die Anzahl der ineinanderfließenden homogenen Komponenten feftzuftellen. Ein gangbarer Weg ift die Präzifierung einer febon von H e i m h o l t (für das Sehfeld) verwendeten und fpäter von H. P o i n c a r é für den allgemeinen Fall vorgefchlagenen Definition: »Ein Kontinuum beißt n-dimenflonal, wenn es durch ein oder mehrere (n-l)-dimenfionale Kontinua in getrennte Stücke zerlegt werden kann.« (Ein Punkt bat 0 Dimenflonen.) Diefe Faffung muß nach B r o u w e r (l. c.