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German Pages 260 [257] Year 1974
BEITRÄGE ZUR ENTSTEHUNG DES STAATES
BAND 1
VERÖFFENTLICHUNGEN des Zentralinstituts für Alte Geschichte und Archäologie der Akademie der Wissenschaften der DDR HERAUSGEGEBEN VON
JOACHIM HERRMANN
BEITRÄGE ZUR ENTSTEHUNG DES STAATES
HERAUSGEGEBEN VON
JOACHIM HERRMANN UND
IRMGARD SELLNOW
AKADEMIE-VERLAG 1973
BERLIN
Redaktion: Burkhard Böttger
Erschienen im Akademie-Verlag, 108 Berlin, Leipziger Straße 3 - 4 Copyright 1973 by Akademie-Verlag Lizenznummer: 202 • 100/99/73 • P 136/73 Einband und Schutzumschlag: Nina Striewski Herstellung: IV/2/14 VEB Druckerei »Gottfried Wilhelm Leibniz«. 445 Gräfenhainichen/DDK • 3899 Bestellnummer: 2153/1 • ES 14 C • 6 B 2 EDV 752 223 6
Vorbemerkungen
I n den „Veröffentlichungen des Zentralinstituts für Alte Geschichte und Archäologie" werden in lockerer Folge Arbeiten erscheinen, die größere Bereiche der frühen Geschichte und Kulturgeschichte der Menschheit zum Gegenstand haben. Es ist dabei an Handbücher und Gesamtdarstellungen ebenso wie an Problemuntersuchungen, die aus der Sicht verschiedener Fachrichtungen in interdisziplinärer Zusammenarbeit betrieben werden, und an Werke über die regionale Geschichte und Kulturgeschichte gedacht. Dem hier vorgelegten ersten Band „Beiträge zur Entstehung des Staates", von Vertretern mehrerer Einzeldisziplinen wie Rechtsgeschichte, Indologie, Sinologie, Altorientalistik, Griechische Geschichte, Ur- und Frühgeschichte und Völkerkunde ausgearbeitet, wird die erste deutschsprachige Gesamtdarstellung der Ur- und Frühgeschichte Polens aus der Feder von Witold Hensel folgen. Weiterhin sind ein zweibändiges Handbuch zur Geschichte und Kultur der Germanen in Mitteleuropa, ein Abriß zur Weltgeschichte bis zur Herausbildung des Feudalismus sowie eine zweibändige Kulturgeschichte der griechischrömischen Antike in Vorbereitung — Vorhaben, die das angestrebte Profil der Veröffentlichungsreihe ebenso deutlich erkennen lassen wie das Verhältnis, in dem diese Schriftenreihe zu den anderen, vorwiegend von den Arbeitsergebnissen einzelner Disziplinen getragenen Veröffentlichungsreihen des Zentralinstituts steht, insbesondere zu den „Schriften zur Ur- und Frühgeschichte", den „Schriften zur Geschichte und Kultur des Alten Orients" sowie den „Schriften zur Geschichte und Kultur der Antike". Joachim Herrmann
Inhalt
Vorwort
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Werner Sellnow (Berlin) Marx, Engels und Lenin zu dem Problem der Staatsentstehung
13
Burchard Brentjes (Halle) Zu einigen Schlußfolgerungen aus den Lehren von Karl Marx und Friedrich Engels zur Entstehung des Staates im Alten Orient
27
Horst Klengel (Berlin) Einige Erwägungen zur Staatsentstehung in Mesopotamien
36
Thomas Thilo (Berlin) Zum Problem der Staatsentstehung in China
56
Walter Rüben (Berlin) Über den Beginn des altindischen Staates
73
Heinz Kreißig (Berlin) Die Bedeutung der sogenannten Richterzeit für die Staatsentstehung bei den Hebräern
82
Heinz Geiß (Berlin) Die Herausbildung des Staates in der minoischen Periode — Möglichkeiten und Tendenzen
92
Gabriele Bockisch und Heinz Geiß (Berlin) Beginn und Entwicklung der mykenischen Staaten
104
Gabriele Bockisch (Berlin) Die Entstehung des Staates der Lakedaimonier
123
Irmgard Sellnow (Berlin) Zur Rolle der Volksmassen im Prozeß der Staatsentstehung. Ein Beitrag auf der Grundlage ethnographischen Materials
134
Bruno Krüger (Berlin) Auflösungserscheinungen gentilgesellschaftlicher Produktionsverhältnisse bei den germanischen Stämmen in den Jahrhunderten um die Zeitenwende
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Inhalt
Joachim Herrmann (Berlin) Allod und Feudum als Grundlagen des west- und mitteleuropäischen Feudalismus und der feudalen Staatsbildung
164
Sergej Sergeevic Sirinskij (Moskau) Objektive Gesetzmäßigkeiten und subjektiver Faktor bei der Entstehung des altrussischen Staates
202
Bruno Widera (Berlin) Die Entstehung des russischen Staates Kiewer Bus
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Irmgard Sellnow (Berlin) Bürgerliche Theorien über Staat und Staatsentstehung
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Vorwort1
Die in diesem Band zusammengefaßten „Beiträge zur Entstehung des Staates" sind aus Referaten und Diskussionen hervorgegangen, die während eines Kolloquiums des Zentralinstituts für Alte Geschichte und Archäologie der Akademie der Wissenschaften der DDR im November 1970 gehalten worden sind. Das Kolloquium war dem Gedenken des 150. Geburtstages von Friedrich Engels und des 100. Geburtstages von Wladimir Iljitsch Lenin gewidmet. An der Veranstaltung nahmen über 100 Wissenschaftler verschiedener Disziplinen teil, deren Forschungsgegenstand die vorkapitalistischen Gesellschaftsordnungen sind. Es kam Veranstaltern und Teilnehmern darauf an, die Ergebnisse von Forschungen zur Staatsentstehung über die verschiedensten Gebiete der Welt auf der Grundlage eines fast täglich und oftmals unerwartet anwachsenden Quellenmaterials zur Diskussion zu stellen. Die Frage des Staates und der Staatsmacht ist in der Gegenwart der Drehpunkt aller politischen Geschichte und war es seit der Herausbildung der Klassengesellschaft überhaupt. Der Staat ist nicht einfache Reflexion der sozialökonomischen Entwicklung der Gesellschaft, der Basis der Gesellschaft, also der objektiven Voraussetzungen und Grundlagen der gesellschaftlichen Entwicklung, sondern Institutionalisierung des subjektiven Faktors der Gesellschaft — der Klassen und des Klassenkampfes. „Da der Staat entstanden ist aus dem Bedürfnis, Klassengegensätze im Zaum zu halten, da er aber gleichzeitig mitten im Konflikt dieser Klassen entstanden ist, so ist er in der Regel Staat der mächtigsten, ökonomisch herrschenden Klasse, die vermittels seiner auch politisch herrschende Klasse wird und so neue Mittel erwirbt zur Niederhaltung und Ausbeutung der unterdrückten Klassen." 2 Der Staat, in den Ausbeutergesellschaften Machtorgan der herrschenden Klasse, spielte und spielt folglich eine höchst aktive Rolle in der Geschichte — eine revolutionäre Rolle in der Aufstiegsphase einer Gesellschaftsordnung, als 1
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Auf der Grundlage der Ausführungen zur Eröffnung des Kolloquiums „Probleme der Staatsentstehung" am 17. und 18. November 1970 in Berlin sowie des Schlußwortes. F. Engels, Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats, in: MarxEngels, Werke Bd. 21, Berlin 1962, 166f.
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Vorwort
Mittel zur Durchsetzung der sozialen Revolution gegenüber den Überresten der politisch überwundenen alten Gesellschaft. Der Staat verkörpert aber auch die reaktionärsten Züge und Bestrebungen der herrschenden Klasse, setzt sie in brutale Gewalt um gegenüber den unterdrückten, aufstrebenden Klassen und gegenüber den Elementen einer neuen Gesellschaftsordnung, die im Schöße der alten sich zu bilden beginnen, und gegenüber revolutionären Klassen. Die bestimmenden Wirkungen, die vom Staat als der wichtigsten Institution des gesellschaftlichen Überbaus auf andere Bereiche des gesellschaftlichen Lebens wie der Ideologie, der Kultur- und Kunstentwicklung, der Denk- und Lebensweise der Gesellschaft ausgehen, sind daher darauf gerichtet, die gesellschaftliche Bewegung und Entwicklung im Interesse der herrschenden Klasse zu leiten, zu kanalisieren oder wenigstens die Herrschaft dieser Klasse zu stabilisieren. Der Staat steht mithin im Zentrum der Entwicklung der Gesellschaft bis in unserer Zeit, und die Verschleierung seines wahren Wesens war eines der Hauptanliegen der herrschenden Ausbeuterklassen der Vergangenheit und ist es in der Gegenwart stärker denn jemals zuvor. Lenin betrachtete „die Frage des Staates (als) eine der verwickeisten und schwierigsten . . . und von den bürgerlichen Gelehrten, Schriftstellern und Philosophen wohl am schlimmsten verwirrte . . ."1. Diese Kompliziertheit veranlaßte F. Engels u. a. nach den praktischen Erfahrungen der Pariser Kommune, den Klassenkämpfen der siebziger und achtziger Jahre im neugeschaffenen Bismarckreich unter dem Sozialistengesetz und unter den Bedingungen der bonapartistischen Sozialgesetzgebung Bismarcks zu einer zusammenhängenden, tiefgreifenden historischen Untersuchung über das Wesen des Staates in seinem Buch über den „Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats" im Jahre 1884. „Für unsere Gesamtanschauung wird das Ding, denke ich, besondere Wichtigkeit haben . . .", schrieb F. Engels an Kautsky am 20. 4. 1884.2 W. I. Lenin bezeichnete gerade unter dem Gesichtspunkt der Analyse der Staatsfrage dieses Buch von F. Engels als „eines der grundlegenden Werke des modernen Sozialismus" 3. Je klarer die revolutionären Klassen in der Geschichte die Frage des Staates, seinem wahren Wesen entsprechend, behandelten, d. h. die bisher herrschenden Klassen politisch entmachteten und ihren eigenen Staat errichteten, um so tiefgreifender und wegweisender für die menschliche Geschichte wurde in der Regel ihre Revolution. Je größer die Utopie und Unkenntnis in der Staatsfrage, um so verkrüppelter, oftmals mit Niederlagen endend, verliefen die revolutionären Erhebungen der objektiv zur Herrschaft berufenen Klassen. Die zentrale Bedeutung der Staatsfrage in der proletarischen Revolution veranlaßte W. I. Lenin, im Revolutionsjahr 1917 in Vorbereitung der Großen » W. I. Lenin, Über den Staat, in: Werke Bd. 29, Berlin 1970, 460. 2 Marx-Engels, Werke Bd. 36, Berlin 1967, 142. 3 Lenin, Über den Staat, 463.
Vorwort
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Sozialistischen Oktoberrevolution das Werk „Staat und Revolution" auszuarbeiten, die Ergebnisse der Arbeiten von Marx und Engels über Geschichte und Wesen des Staates dem kämpfenden Proletariat in Erinnerung zu bringen und für die Fortführung der bürgerlich-demokratischen Revolution in die proletarische Revolution weiterzuentwickeln. Unter den Bedingungen der Gegenwart, in der die Zahl der Völker ständig zunimmt, die den Weg des antiimperialistischen Kampfes und der sozialistischen Revolution, ausgehend von verschiedenen Traditionen und unter verschiedenen Bedingungen, beschritten haben, ist die Erkenntnis des Wesens des Staates durch die revolutionäre Weltbewegung eine dringende Aufgabe. Die verschiedenen Beiträge des Bandes setzen sich die Herausarbeitung der Genesis des Staates, seiner Organe und seiner Bedeutung im Übergang zur Klassengesellschaft in den verschiedenen Gebieten der Erde und unter verschiedensten historischen Bedingungen sowie die Bestimmung der Rolle des Staates für den Geschichtsprozeß der frühen Klassengesellschaften zum Ziel. Sie versuchen, neue Erkenntnisse aus der Untersuchung des historisch-konkreten Geschichtsprozesses und in der historischen Verallgemeinerung vorzulegen. Dieses Anliegen schließt ein, daß sich die Autoren bewußt der Kritik und der Diskussion ihrer Auffassungen aussetzen. Für Lenin galt die Frage des Staates als „eine so fundamentale Frage der gesamten Politik", daß „jeder Mensch, der sie ernsthaft durchdenken will . . . , mehrmals an sie herantreten"1 muß. Die „Beiträge zur Entstehung des Staates" wollen in diesem Sinne verstanden sein. Joachim Herrmann
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Lenin, Über den S t a a t , 461.
Marx, Engels und Lenin zu dem Problem der Staatsentstehung von
W E R N E R SELLNOW
(Berlin)
Das Problem der Staatsentwicklung hat fast ständig im Mittelpunkt der wissenschaftlichen und politischen Auseinandersetzungen gestanden. Die Wichtigkeit, die man der Entstehung des Staates beimaß, wurde von den verschiedenen Klassen verschieden gewertet. Die Völker des alten Orients hatten in den Stiftern des Staates und des Rechts den Göttern verwandte Heroen gesehen. Die katholische Kirche lehrte, daß der Staat seine Legitimation von Gott erhalten habe, und unterschied sich damit kaum von den archaischen Theodizeen. Demgegenüber waren die philosophischen Denker der antiken Staaten bestrebt, eine rationale Erklärung für die Entstehung der Staaten zu finden; und ebenso gab es viele katholische Denker des Mittelalters, die dem Glauben zuwider auf der Suche nach einer wissenschaftlichen Erklärung waren. Aber alle diese Versuche mußten notwendigerweise an den historisch bedingten Grenzen der Erkenntnistheorie, der Erkenntnismöglichkeit und der begrenzten Erfahrung Halt machen. Die Stufenleiter ihrer Ergebnisse wurde zu notwendigen Sprossen in der Vorgeschichte der Wissenschaft des dialektischen und historischen Materialismus. Die Klassiker des dialektischen und historischen Materialismus haben, wie die Klassiker der bürgerlichen Philosophie, auf den engen Zusammenhang hingewiesen, der zwischen der Geschichts- und Gesellschaftserkenntnis und der praktischen und historischen Staatswissenschaft besteht. Hegel hatte sein ganzes gewaltiges Lehrgebäude im Staate enden lassen. Er ließ die ganze Menschheitsgeschichte in seinen als notwendig und vernünftig gedachten Idealstaat einmünden. Später, nach der Kapitalisierung der größten Staaten der Erde, verzichtete die offizielle Gesellschaftswissenschaft auf die Frage nach der Legitimation des Staates und damit auch nach der historischen Begründung und der Zukunft des Staates. Die Existenz des bürgerlichen Staates genügte dem Positivismus vollauf, um seinen Ausbau und seine praktische Politik durchzusetzen. Die Empirie schien über die Geschichte zu siegen. Dieser Zustand in der Geschichtsbetrachtung dauerte jedoch nicht lange an. Mit der Existenz des bürgerlichen Staates erschien der unabweisbare Gegner: das Proletariat. Dieses Proletariat mußte den historischen Charakter des bürger-
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W E R N E R SELLNOW
liehen Staates nachweisen, wenn es diesen Staat zerstören wollte; und dieser Nachweis mußte aus der Geschichte entnommen werden. Damit war von selbst die Frage nach der Entstehung des Staates abermals in den Vordergrund gerückt. So kam es, daß Marx und Engels inmitten der heftigsten Klassenkämpfe ihre Studien über die Entstehung der Gesellschaft und des Staates bis zu einer neuen Geschichtsauffassung, dem historischen Materialismus, vorantrieben, um die historische Entwicklung der unterdrückten Klassen, und hier besonders der Arbeiterklasse, sowie die unumgängliche Auflösung der bürgerlichen Gesellschaftsordnung und ihres Staates zu beweisen. Wir müssen uns nun fragen, warum wir unseren jetzigen Diskussionen um die Staatsentstehung eine solche Bedeutung beimessen und warum die Lösung dieser Frage so wichtig ist, ob dieses oder jenes historische Moment, dieses oder jenes historische F a k t u m für die Erkenntnis der Staatsentstehung noch wesentliches beizutragen vermag. Untersuchungen zur Entstehung von Staaten setzen ein System von Erkenntnisgruppen voraus. Neben der Ethnologie, der Archäologie, der Linguistik und vielen anderen Spezialwissenschaften wird aber allzu häufig dieses System der Erkenntnistheorie nicht zur Anwendung gebracht. So werden z. B. Logik, Dialektik und Methodologie der Geschichtswissenschaft als bekannt vorausgesetzt und mit dem zu untersuchenden Gegenstand zusammen nicht weiter entwickelt oder mechanistisch angewendet, jedoch wird dabei nicht beachtet, daß z. B. die bewußte Anwendung logischer Prinzipien nicht nur die Geschichtswissenschaft bereichert, sondern auch die Logik selbst. Die Schwierigkeit beginnt schon mit der Anwendung der Begriffe.-Die Begriffe „Staat", „Recht", „Religion", „Eigentum" usw. werden manchmal ohne genaue Prüfung der historischen Epochen oder Erscheinungen verwendet, womit die größten Irrtümer verbunden sein müssen, bevor die eigentliche Untersuchung überhaupt begonnen hat. Marx schrieb einmal, daß die englischen Ökonomen wiederholt das Werkzeug für eine Maschine und die Maschine für ein zusammengesetztes Werkzeug gehalten hatten. Hinzu kam noch, daß sie als Kriterium für die Werkzeuge den Menschen als Bewegungskraft und für die Maschine Natur kr äfte wie Tier, Wasser, Wind usw. annahmen, was überraschenderweise einen mit Ochsen bespannten Pflug des Sklavenzeitalters als eine Maschine und den Rund Webstuhl, der von der Hand eines Arbeiters betrieben wurde, als ein bloßes Werkzeug klassifizierte. Dieser gleiche Webstuhl aber würde sich in dem Augenblicke, wo er mit Dampf bewegt wurde, in eine Maschine verwandeln. 1 Hätten die englischen Denker die Begriffe der Ökonomie mit historischen Entwicklungsgesetzen verbunden und dann in eine logische Bestimmung gebracht, wäre ihnen eine solche nur mechanisch-materialistische Begriffsbestimmung nicht unterlaufen, dann wäre ihr Ausgangspunkt, nämlich die Physik, in ein System von Prinzipien und Begriffen einbezogen worden. i Marx-Engels, Werke Bd. 23, Berlin 1962, 391-392.
Marx, Engels und Lenin zu dem Problem der Staatsentstehung
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Besonders Lenin war es, der auf Logik und Dialektik hinwies. Er hat die Dialektik als eine Lehre „von der Entwicklung in ihrer vollständigsten, tiefgehenden und von Einseitigkeit freiesten Gestalt" bezeichnet und als „die Lehre von der Relativität des menschlichen Wissens, das uns eine Widerspiegelung der sich ewig entwickelnden Materie gibt" 1 . Um einen Gegenstand wirklich zu erkennen, setzte Lenin an anderer Stelle dieses Problem fort, „muß man alle seine Seiten, alle Zusammenhänge und Vermittlungen' erfassen und erforschen", außerdem aber verlange die dialektische Logik die Betrachtung der Gegenstände in ihrer Entwicklung und Veränderung. Das dritte Kriterium Lenins, das bei der Behandlung gerade historischer Begebenheiten, wie es die Entstehungsgeschichte des Staates darstellt, besonders zu beachten ist, besteht in der möglichst vollständigen Definition des Gegenstandes oder der historischen Vorgänge. Nach Lenin sollte in dieser Definition die „ganze menschliche Praxis", was in diesem Falle eine Zusammenfassung möglichst aller materiellen und geistigen institutionellen Fakten und Einrichtungen bedeutet, enthalten sein, um die praktische Determination des Zusammenhanges eines Gegenstandes mit seinen Zwecken und Bedürfnissen aufzuklären. Lenin hatte seine Dialektik in folgenden Punkten zusammengefaßt: Sie ist Bewegung des Lebens und des Geistes; sie enthält das „Zusammenfallen der Begriffe des Subjekts", d. h. des Menschen mit der Realität und bildet den „Objektivismus in höchster Potenz" 2 . Die Dialektik der Geschichte hat zudem noch einen spezifischen Aspekt. Sind in der Naturwissenschaft Regelmäßigkeiten der zeitlichen Abläufe zu beobachten und ist daher das Problem der Gesetzmäßigkeit und Klassifizierbarkeit der Ordnungen leichter verifizierbar, so fällt dieses typische Merkmal für die Geschichtswissenschaft fort. Friedrich Engels ging auf diese Frage einmal näher ein. „In der Geschichte der Gesellschaft dagegen", schrieb er, „sind die Wiederholungen der Zustände die Ausnahme, nicht die Regel, sobald wir über die Urzustände der Menschen, das sogenannte Steinalter, hinausgehen; und wo solche Wiederholungen vorkommen, da ereignen sie sich nie genau unter denselben Umständen. So das Vorkommen des ursprünglichen Gemeineigentums am Boden bei den sogenannten Kulturvölkern und die Form seiner Auflösung" 3 . Diesen Umstand der Geschichte, nämlich die Unwiederholbarkeit der gleichen historischen Erscheinungen, haben die klassischen Vertreter des Agnostizismus und des Skeptizismus, besonders Kant und Hume, zum Ausgangspunkt ihrer Begründung von der Nichterkennbarkeit der Geschichte genommen. Kant hatte, von der Relativität der Erkenntnis der Wahrheit ausgehend, nur die absolute Wahrheit als unerkennbares Ding an sich formuliert, während die englischen Skeptiker von Locke bis Hume entweder nicht über die Erfahrung oder nicht über die relative Wahrheit hinausgehen wollten. » Lenin, Werke Bd. 19, Berlin 1968, 4 - 5 . Lenin, Werke Bd. 38, Berlin 1970, 221. 3 Marx-Engels, Werke Bd. 20, Berlin 1962, 83. 2
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Kant verzichtete auf die absolute Wahrheit und der Skeptiker Hume auf die objektive. Lenin hat aber, Marx und Engels folgend, gerade auf der Anerkennung der objektiven in der relativen Wahrheit bestanden. Er forderte dies innerhalb der Erkenntnistheorie, aber auch für die Dialektik der Geschichte. Er sah ein besonderes Kennzeichen des Reformismus innerhalb der Arbeiterbewegung darin, die Kriterien der Wahrheit in der Gesetzmäßigkeit der gesellschaftlichen Entwicklung zu leugnen1. Nach dem heutigen Stande der bürgerlichen Gesellschaftswissenschaften zu urteilen, wird auch hier die Planbarkeit der gesellschaftlichen Entwicklung mehr und mehr anerkannt. Jedoch geschieht dies weniger aus Gründen einer verbesserten Einsicht in die theoretischen Ergebnisse des historischen Materialismus und der Anerkennung der historischen Gesetzmäßigkeit, sondern aus der Situation ihrer eigenen kapitalistischen Gesellschaft heraus. Die Vergesellschaftung der Produktion hat einen solchen Grad erreicht, daß ohne eine systematische Ordnung in Raum und Zeit die wirtschaftlichen und politischen Bewegungen sich nicht mehr durchführen lassen. Diesem Umstand folgend muß in der Praxis von der Regulierbarkeit der Entwicklung ausgegangen werden, wobei sich aber die bürgerliche Geschichtswissenschaft immer noch auf einem Stande vor Hegel befindet, der diese Einsicht in die Dialektik bereits vor 150 Jahren nicht aus spontanem Druck, sondern durch wissenschaftliche Einsicht gewonnen hatte. Üm so mehr gehen nun heute die Auseinandersetzungen um die Triebkräfte der historischen Entwicklung weiter. Lenin bemerkte schon, daß die bürgerliche Wissenschaft ökonomische, politische und moralische Paktoren für die Triebkräfte der gesellschaftlichen Entwicklung ins Feld führt. Heute, unter der Bedingung der technischen Revolution, der Einbeziehung der Kybernetik und und neuer technischer Errungenschaften, werden die Entwicklungstendenzen einseitig aus diesen Bereichen entnommen, um aus der Regelmäßigkeit technischer Vorgänge gesellschaftliche Beziehungen und Gesetzmäßigkeiten abzuleiten. Bekanntlich liegen hier einige der theoretischen Begründungen der Konvergenztheorie. Die einseitige Hervorhebung der Produktivkräfte oder Produktionsmittel ohne die Anerkennung der Wirksamkeit und Priorität der Produktionsverhältnisse für die gesellschaftliche Entwicklung führt in der Untersuchung des Staates zu einem Auseinanderreißen der wichtigsten Faktoren der Produktionsweise und im Gefolge davon zu einer Verschiebung des Verhältnisses von Basis und Überbau in der Weise, daß Staat und Recht unmittelbares Ergebnis technisch-materieller Entwicklungstendenzen werden, wobei die Klassenbeziehungen völlig ignoriert werden — eine theoretische Position also, die schon vor 70 Jahren von den Kathedersozialisten eingenommen wurde. Gerade diese bürgerlichen Theoretiker gaben vor, von der Wirtschaft auszugehen, wobei sie aus dem Begriff „Wirtschaft" absichtlich die Eigentums1
Lenin, Werke Bd. 33, Berlin 1966, 463.
Marx, Engels und Lenin zu dem Problem der Staatsentstehung
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beziehungen herausließen, um so aus der Wirtschaft einen technologischen Funktionalismus zu machen. Lenin hatte schon in seinen ersten Arbeiten um 1895, also zur Zeit der Kathedersozialisten, dem entgegengehalten, daß die Triebkräfte der gesellschaftlichen Entwicklung das „Ergebnis eines bestimmten Systems von Produktionsverhältnissen" darstellen. Die Lehre von den Produktionsverhältnissen als Basis der gesellschaftlichen Entwicklung ist zugleich die Lehre von den Widersprüchen und Klassenkämpfen als letztlich treibendem Element der gesellschaftlichen Entwicklung. Lenin stellte einmal fest, daß die ökonomische Struktur der Gesellschaft, d. h. das Verhältnis von Produktivkräften und Produktionsmitteln zu den Produktionsverhältnissen, den Inhalt darstellt, während das innere Gefüge der Politik und die Ideologie die entsprechende Form dieser ökonomischen Struktur ausdrückt; und er wies ferner darauf hin, daß die konkrete Orientierung in der historischen Untersuchung nicht nur bei einer „Einschätzung der Klassen" bleiben könne, sondern auch die Institutionen zu berücksichtigen habe. 1 Die entscheidendste und wichtigste Institution, die es unmittelbar mit den Produktionsverhältnissen, den Klassen, dem Staat und dem Recht zu t u n hat, ist ohne Zweifel das Eigentum. Entscheidende gesellschaftliche Widersprüche, selbst solche zwischen den herrschenden Klassen, gingen von Eigentumsverhältnissen aus oder aber endeten mit Eigentumsveränderungen. Der Übergang von der klassenlosen zur Klassengesellschaft und von einer Form der Klassengesellschaft zu einer anderen Form ist zugleich die Geschichte des Entstehens und Vergehens des Privateigentums. „Die Grundlage des Privateigentums bildet die im Entstehen begriffene Spezialisierung der gesellschaftlichen Arbeit und die Veräußerung der Produkte auf dem Markt" 2 , schrieb Lenin zu dieser Frage. Die materielle Vereinzelung der Warenproduzenten fand ihren Ausdruck in der Institution des Privateigentums. 3 „Das Privateigentum", schrieben Marx und Engels zum gleichen Problem, „entfremdet nicht nur die Individualität der Menschen, sondern auch die der Dinge" 4 . Das Verhältnis, das sich zwischen den Eigentümern sowohl untereinander als auch gegenüber den Nichteigentümern herausbildete und das letztlich in Klassen seinen Niederschlag fand, dieses Verhältnis wird das Eigentumsverhältnis genannt. 5 Das Eigentum, und insbesondere das Privateigentum, t r a t in seinen frühesten Formen keineswegs als eine Institution auf, die dem gentilgesellschaftlichen Gemeinwesen diametral entgegenstand. Es gab vielmehr sehr viele objektive Momente, wie z. B. die Spezialisierung der Handfertigkeiten und der Werkzeuge, die Teilung der Berufe, die Verfestigung von Nutzungsland und Gütern usw., die 1 Lenin, Werke Bd. 24, Berlin 1959, 14. 2 Lenin, Werke Bd. 1, Berlin 1961, 145. 3 Ebenda. 4 Marx-Engels, Werke Bd. 3, Berlin 1958, 212. 5 Lenin, Werke Bd. 30, Berlin 1972, 449. 2
Staatsentstehung
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WERNER
SELLNOW
eine bestimmte Höhe der Produktion bedingten. Das separierte Eigentum bildete sodann eine dauernde ökonomische Grundlage innerhalb der verschiedensten Formen des Gemeinwesens, „wie sie ihrerseits bestimmte Formen des Gemeinwesens zur Voraussetzung haben". Die Umbildung von persönlichem Eigentum in Privateigentum konnte nach Marx nur durch Usurpation geschehen sein 1 , wobei nicht unbedingt an eine blutige Okkupation gedacht werden muß. I n den meisten Fällen waren in der betreffenden Zeitspanne z . B . die tributalen Abgaben nicht durch gemeinsames Übereinkommen, sondern durch direkte oder indirekte Gewalt beschlossen und eingetrieben worden. Das Entstehen von Privateigentum mußte auf gesellschaftlichen Grundlagen beruhen, die den gentilen Verhältnissen entsprachen. Die Entwicklung der Werkzeuge und der gesellschaftlichen Kooperation in der Arbeit, bei der Jagd, im Fischfang, in der Errichtung der Wohnstätten usw. hatten mit Notwendigkeit die Herausbildung spezifischer Verhältnisse nach sich gezogen, die in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung geregelt wurden. Lenin schrieb dazu, daß in diesen Verhältnissen, die ja der Bedürfnisbefriedigung der gentilen Menschen dienten, die Erklärung „für alle Erscheinungen des gesellschaftlichen Lebens, der menschlichen Bestrebungen, Ideen und Gesetze" zu suchen sei2. Die Entwicklung der Produktivkräfte erzeugte eben solche Verhältnisse, die nach und nach sich fest verankerten und deren Separation die ganze Gesellschaft in Interessengruppen mit gesonderten materiellen Grundlagen zerschnitt. Wenn solche Verhältnisse und Einrichtungen beständig blieben und fest verankert wurden, dann, so schrieb Engels, „stellt sich das Bedürfnis ein, die täglich wiederkehrenden Akte der Produktion, der Verteilung und des Austausches der Produkte unter einer gemeinsamen Regel zu fassen, dafür zu sorgen, daß der einzelne sich den gemeinsamen Bedingungen der Produktion und des Austausches unterwirft". 3 Diese Regeln, die sich hier unter den Augen der Gesellschaft herausbildeten, wurden gemäß der Evolution der Produktion verändert, modifiziert und letztlich neu bestimmt. Solange die gesamte Gesellschaft auch ein Gesamtbedürfnis innerhalb dieser Verhältnisse fand, solange bedurften diese Regeln weder einer Legitimation noch einer speziellen Sanktion. Bei der langsamen Entwicklung der urgesellschaftlichen Verhältnisse wurden diese Regeln so sehr von dem gesellschaftlichen Bewußtsein aufgenommen und getragen, daß die Datierung dieses Anfanges der Regeln heute nicht mehr nachweisbar ist. Die ältesten Völker hatten den Beginn solcher Regeln häufig in magische und übernatürliche Fernen gerückt und sich nur noch in ihren Riten der Urheber erinnert. Diese Beziehungen, die sich in dieser Zeit herausbildeten, wurden deshalb in Regeln gefaßt, weil sie sich innerhalb der Gesellschaft zu Verhältnissen entwickelten. Diese Verhältnisse stellen Beziehungen von unterschiedlichen Inter1 Marx-Engels, Werke Bd. 3, Berlin 1958, 348. 2 Lenin, Werke Bd. 2, Berlin 1970, 8. 3 Marx-Engels, Werke Bd. 18, Berlin 1962, 276.
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essengruppen mit einer relativen Selbständigkeit dar. Die Kontinuität der Verselbständigung war eine Voraussetzung für die Notwendigkeit ihrer Regelung. Die gentile Gesellschaftsform konnte diese Regelung nur solange in der traditionalen Weise vornehmen, wie die Gruppierungen selbst mit der Gentilordnung übereinstimmten. Nun blieben diese Verhältnisse nicht auf der traditionalen Gesellschaftsform stehen. Die Entstehung von Privateigentum bewirkte, daß sich aus gentilen Verhältnissen politische Verhältnisse entwickelten; politische Verhältnisse deshalb, weil die Spaltung der alten Gemeinschaft zugleich ihre Auflösung bedeutete. Der aufkommende Widerspruch in den alten Verhältnissen änderte nicht nur den Charakter dieser Verhältnisse, sondern auch die Organisationsform. Die Verhältnisse wurden politischer Natur, weil der Widerspruch unter den Interessengruppen die Gesellschaft in ihrer entscheidendsten Sphäre, nämlich in der gesellschaftlichen Produktion, traf und die Umwandlung der Gruppen in Klassen nach sich zog. Solange nun die entstandenen Klassen noch innerhalb der alten Gentilordnung wirkten, reichten die alten Normierungen aus. Die neue Klasse der Privateigentümer muß am Anfang natürlich an Zahl und Einfluß gering gewesen sein und wird noch in der Verwendung des Mehrprodukts zumindest zum Teil älteren gentilen Bedürfnissen gedient haben. Sehr häufig war die Möglichkeit, das Mehrprodukt produktiv anzuwenden, überhaupt nicht gegeben, und folglich diente es der individuellen Konsumtion und der gentilen Repräsentation nach außen und innen. Dennoch war der Beginn der Ausbeutung entweder durch Anwendung von wirtschaftlich abhängigen Gentilgenossen in der Produktion, durch Auferlegung tributaler Abgaben oder durch Erwerbung von Beute an Menschen und Grund und Boden usw. gegeben, und die damit entstehenden Verhältnisse waren nun nicht mehr lange mit den Normen gentiler Prägung zu vereinbaren. Da die Masse der Gentilgenossen die Sanktion der neuen Verhältnisse infolge vorangegangener struktureller Auflösung nicht verhindern konnte, wurde es auch möglich, die alten traditionalen Normen durch positive Normen zu ersetzen. Unter dem Begriff „positive Normen oder Gesetze" darf nicht der moralische Begriff im Gegensatz zu „negativ" verstanden werden. Dieser Begriff ist aus der Rechtsterminologie entnommen und besagt, daß diese Normen von einer gesetzgebenden Körperschaft oder einem Gesetzgeber stammen, meistens in einem System von Rechten enthalten sind, sich an einen namentlich genannten Personenkreis wenden und eine bestimmte Dauer besitzen. Da solche positiven Normen durchgesetzt werden sollen und müssen, gibt es einen Apparat, der jeden Verletzer dieser Normen mit Sanktionen bedroht und bestraft. In der Gentilgesellschaft gab es vor ihrer Verfallzeit keinen besonderen stabilen Apparat, der die traditionalen Normen durchsetzte. Diese traditionalen Normen waren von der Gemeinschaft anerkannt und wurden bei Verletzung durch die Gemeinschaft exekutiert. Es kam dabei vor, daß zur Schlichtung von Streitigkeiten ein Gremium gewählt oder ausgesucht wurde, das Urteile im 9«
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Sinne der traditionalen Ordnung aussprach. Es kam auch vor, daß zur Exekution von Urteilen zeitweilig besondere Männer ausgewählt und mit Machtvollkommenheiten versehen wurden. Aber alle diese Gentilmitglieder, die in dieser Art von Gerichten und Polizeidiensten tätig wurden, blieben bis zur Auflösung dieser Gentilformationen nur sporadische Erscheinungen und traten nach dem speziellen Fall wieder in die Masse der Gentilmitglieder zurück. Anders war es in der Zeit der Auflösung der Gentilgesellschaft. Weder die Widersprüche noch das Privateigentum blieben sporadischer Natur. I m Gegenteil, einmal ins Leben gerufen, begannen sie sich zu verfestigen. Da es zumeist mit einer besonderen Erbregelung und der Dauernutzung von Land, Wasser, Früchten usw. begann, lief die Herausbildung des Privateigentums mit der Heraussonderung der Einzelfamilie parallel. So kam die Umgestaltung von traditionalen Normen zu gentilpolitischen Normen, die das Privateigentum und alle mit ihm im Zusammenhang stehenden Verhältnisse begünstigten, keineswegs überraschend und keineswegs unbemerkt. Und genauso führte die Gesellschaft von nun an Institutionen ein, die diese Normen ausarbeiteten, die die Widersprüche mittels dieser gentilpolitischen Normen schlichteten und durch besondere Helfer zur Anwendung brachten. Diese Institutionen wurden zu gentilpolitischen Institutionen und bildeten die notwendigen Zwischenstufen zur Herausbildung des Staates. Die Umbildung der gentilen, auf blutsverwandtschaftlichen Beziehungen beruhenden Gesellschaft zur politischen Gesellschaft, die durch sachlich bedingte Widersprüche sowie diesen Widersprüchen angepaßte gesellschaftliche Organisationsformen charakterisiert ist, wurde nicht minder auch durch historische Gegebenheiten, wie z. B. durch interethnische Beziehungen, Dauer und Stabilität ethnischer Verbände (z. B. bei Inselvölkern), freie oder unfreie Lebensweise (Kolonialismus) usf. mitbestimmt. Aus allen diesen Gründen und Ursachen entwickelten sich die Institutionen des Staates und des Rechts nicht gleichzeitig und auch nicht gleichmäßig, sondern ungleich und in verschiedenen Formen und Erscheinungen. Da die bisherige Entwicklung immer mit dem Hauptzweck, nämlich der Sicherung des Lebens der gentilen Gemeinschaft, Hand in Hand gegangen war, so traten auch die neugebildeten Institutionen des Staates und des Rechts sowohl als Vollzieher gesamtgesellschaftlicher Belange als auch als Erweiterer gesellschaftlicher Interessen auf. In seiner Polemik gegen Bulganow wies Lenin mit allem Nachdruck den Rousseauschen paradiesischen Zustand zurück 1 und verwies gerade auf die ökonomische Lage der Gentilzeit. Die Hauptschwierigkeit in der Beurteilung des Überganges zum Staat bildet die Einschätzung der Macht oder Gewalt. Die bürgerliche Wissenschaft hatte zwei Hauptrichtungen hervorgebracht. Die eine Richtung sah in der Urgemeinschaft einen harmonischen Edelzustand, die andere von vornherein einen patriarchalischen Staatsverband. Die erste Richtung schob die Entwicklung zum Staat 1
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auf die psychische Entartung der Menschen, die andere ging von dem Ordnungsprinzip aus und ließ den Staat aus der väterlichen Gewalt der Familien hervorgehen. Beide Richtungen gingen von der Existenz von Klassenstaaten als dem Normalzustand aus. Nach der ersten bürgerlichen Ansicht wurde der Staat notwendig, um den Verfall der Gesellschaft aufzuhalten, nach der zweiten, um ihn nicht eintreten zu lassen. Später haben die bürgerlichen Ethnologen die Entstehung des Staates sehr wohl mit der Existenz des Privateigentums in Verbindung gebracht, aber dann die Untersuchung nicht auf die Gesetzmäßigkeit der Entwicklung gestützt. Sie hatten das Privateigentum mit der These von der Präformation der monogamen Ehe an den Anfang gestellt. Nun ist es aber eine nicht zu bestreitende Tatsache, daß es in jeder Gesellschaftsform, und auch in der gentilen, eine öffentliche Gewalt gegeben hatte. Lenin schrieb einmal, wie wichtig „die Herrschaft der Sitten", die Autorität, Achtung und Macht, die die „Ältesten der Geschlechterverbände" besaßen, in dieser Zeit waren. 1 Diese öffentliche Gentilgewalt bildete sich unter dem Einfluß des entstehenden Privateigentums und ihrer klassenmäßigen Repräsentanten in eine Privatgewalt, eine Klassengewalt um. Es waren die neuen Verhältnisse innerhalb der gesellschaftlichen Produktion, die eine Änderung der Machtverhältnisse nach sich zogen. Die neuen Produktions- und Eigentumsverhältnisse bedingten neue Machtverhältnisse. Lenin, auf Marx fußend, hat auch auf diesen Qualitätswechsel der Macht hingewiesen. Es ist also nicht das Kennzeichen des Staates, daß er eine Gewalt zur Seite hat. „Zwangsgewalt", schrieb Lenin, „gibt es in jeder menschlichen Gesellschaft, in der Gentilverfassung so gut wie in der Familie; einen Staat jedoch hat es hier nicht gegeben" 2 . Es gibt natürlich keinen Staat ohne Gewalt, aber nicht jede Gewalt ist mit der Staatsgewalt gleichzusetzen oder zieht sie zwangsläufig nach sich. Da es nicht die Natur des Menschen ist, die einen Staat notwendig macht, und sich andererseits die öffentliche Gewalt auch nicht von selbst umgestaltet, muß die Notwendigkeit des Staates eben dort liegen, wo auch die Notwendigkeit für die bisherige öffentliche Gewalt lag, nämlich in der Produktion und ihren Verhältnissen. Die gentile Gewalt war nicht notwendig, um eine sogenannte Ordnung zu erhalten, sondern die gentile Ordnung war notwendig, um die materielle Sicherheit der Gemeinschaft zu gewährleisten. Änderte sich die materielle Basis der Gemeinschaft, so änderte sich auch die Lebensweise und -Ordnung und damit der Inhalt und die Form der Gewalt. Es lohnt sich, hier ein Zitat aus einem Brief von Karl Marx an Annenkow aus dem Jahre 1846 zu bringen. Seinerzeit schrieb Marx: „Was ist die Gesellschaft, welche immer auch ihre Form sei? Das Produkt des wechselseitigen Handelns der Menschen. Steht es dem Menschen 1 Lenin, Werke Bd. 29, Berlin 1970, 464. 2 Lenin, Werke Bd. i , Berlin 1961, 434.
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frei, diese oder jene Gesellschaftsform zu wählen? Keineswegs. Setzen Sie einen bestimmten Entwicklungsstand der Produktivkräfte der Menschen voraus, und Sie erhalten eine bestimmte Form des Verkehrs (commerce) und der Konsumtion. Setzen Sie bestimmte Stufen der Entwicklung der Produktion, des Verkehrs und der Konsumtion voraus, und Sie erhalten eine entsprechende soziale Ordnung, eine entsprechende Organisation der Familie, der Stände oder der Klassen, mit einem Wort, eine entsprechende Gesellschaft (société civile). Setzen Sie eine solche Gesellschaft voraus, und Sie erhalten eine entsprechende politische Ordnung (état politique), die nur der offizielle Ausdruck der Gesellschaft ist" Um also die Staatsorganisation stabilisieren zu können, bedarf es einer ganzen Reihe vorgebildeter gesellschaftlicher Zustände, Bewegungen und Einrichtungen. Selbstverständlich wurde hier und dort, besonders unter dem Einfluß höher entwickelter Nachbarn oder eines kolonialen Einflusses, der Versuch unternommen, den Staat zu bilden, ohne daß die nötigen Voraussetzungen bereits vorhanden waren. Aber die Geschichte lehrt den baldigen Verfall solcher Staaten und die Wiederherstellung entwicklungsbedingter Einrichtungen. Bei der Entstehung von Staaten mußte auf jeden Fall eine Klassenscheidung vorhanden sein. Lenin äußerte sich dazu in folgender Weise : „Kennzeichen des Staates ist also das Vorhandensein einer besonderen Klasse von Personen, in deren Händen sich die Macht konzentriert. Eine Gemeinschaft, in der alle ihre Mitglieder der Reihe nach der Organisation der Ordnung' vorstünden, würde natürlich niemand als Staat bezeichnen können" 2 . Diese Klassenentwicklung ist aber nicht auf eine reine Willensbildung oder eine bloße Zusammenfassung von Menschen zurückzuführen, sondern auf die Ökonomie der Gesellschaft. Marx, Engels und Lenin haben sich übereinstimmend über diese Entwicklungszusammenhänge immer wieder geäußert und versucht, gerade hier der bürgerlichen Theorie gegenüber den materialistischen Standpunkt durchzusetzen. Die Herausbildung von prästaatlichen Institutionen begann fast ebenso unauffällig wie die von Privateigentum. Das Privateigentum trat über das Familieneigentum, das persönliche Eigentum und die Berechtigung einzelner Personen der Familien zur Nutzung von Gemeineigentum seinen Weg an. Die Evolution der Arbeitsteilung, zunächst mit der einfachen Form der Bearbeitung desselben Stück Landes anfangend und gefolgt von der langsamen Separierung der einzelnen Familienverbände, führte im Laufe der Entwicklung unmittelbar zur Dauernutzung von Grund und Boden und damit auch zur Intensivierung des Bodenbaues und der Herausbildung besonderer interfamiliarer Formen der Zusammenarbeit sowie zu neuen Formen der Stammeskooperation. Diese Entwicklung wurde durch die Ausbreitung von Handel und Handwerk noch weiter gefördert; daraus ergab sich die Notwendigkeit, die Frage der produktiven Konsumtion neu zu regeln. Das konnte die Gesamtbewirtschaftung von Wasser, 1 2
Marx-Engels, Werke Bd. 27, Berlin 1963, 452. Lenin, Werke Bd. 1, Berlin 1961, 434.
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Land, Wäldern und Weiden betreffen, aber auch den Bau von Verkehrswegen und -mittein, den Handel mit jeweils bestimmter Produktion, die Verteilung von Kriegsbeute usw. Die Gruppe von Menschen, die sich mit solchen Aufgaben befaßte, t a t dies am Anfang sowohl mit der Zustimmung der Lokalgemeinschaft als auch mit völliger Legitimation aller Mitglieder des Stammesverbandes. Mit der Existenz des Privateigentums, unabhängig davon, ob der Ausgangspunkt die Vorherrschaft einer besonders hervorgehobenen Familie, eine besonders günstige Verkehrslage oder das Vorkommen von Erden, Metallen oder Hölzern •auf ihrem Grund und Boden war, begann sogleich eine Monopolisierung in Produktion und Handel. So bildete sich auch die prästaatliche Organisation, ganz gleich, ob es sich um Funktionen der Wirtschaft, der Ideologie oder der Politik handelte, zu einer Monopolinstitution um, deren Absetzung und Beeinflussung durch die Masse der Stammesangehörigen nach und nach unmöglich wurde. Diesen Zeitraum der historischen Entwicklung haben sowohl Marx und Engels als auch Lenin wie folgt dargestellt. Marx schrieb: „Die bisherigen Produktionsverhältnisse der Individuen müssen sich ebenfalls als politische und rechtliche Verhältnisse ausdrücken. Innerhalb der Teilung der Arbeit müssen diese Verhältnisse gegenüber den Individuen sich verselbständigen" An anderer Stelle stellte Marx fest: „Daß man in der Tat unter ,Staat' die Regierungsmaschine versteht oder den Staat, soweit er durch Teilung der Arbeit von der Gesellschaft besonderten, eigenen Organismus bildet . . ," 2 . Engels bemerkte dazu: „Wir sahen, daß ein wesentliches Kennzeichen des Staates in einer von der Masse des Volks unterschiedenen öffentlichen Gewalt besteht" 3 . Lenin formulierte folgendes: „Wenn wir die sogenannten religiösen Lehren, Spitzfindigkeiten, philosophischen Konstruktionen, die mannigfaltigsten Meinungen, die die bürgerlichen Gelehrten austüftelten, beiseite lassen und der Sache wirklich auf den Grund gehen, so sehen wir, daß der Staat auf nichts anderes hinausläuft als eben auf einen solchen, aus der menschlichen Gesellschaft herausgehobenen Regierungsapparat. Mit dem Aufkommen einer solchen besonderen Gruppe von Menschen, die nur damit beschäftigt ist zu regieren und die zum Regieren einen besonderen Zwangsapparat, einen Apparat zur Unterwerfung des Willens anderer unter die Gewalt benötigt — Gefängnisse, besondere Formationen von Menschen, das Heer usw. —, taucht der Staat auf" 4 . Es wurde schon gesagt, daß bereits präformative Einrichtungen verschiedentlich Staats- und Rechtscharakter trugen. Diese Einrichtungen waren jedoch noch immer in der Gesamtverfassung der Gentilgemeinschaft tätig. Obwohl sie schon einen Staatscharakter trugen, stellten sie dennoch noch nicht den Staat selbst dar. Gewiß bildeten sie nicht mehr Organisationen der Gentilgemeinschaft, 1 Marx-Engels, Werke Bd. 3, Berlin 1958, 347. 2 Marx-Engels, Werke Bd. 19, Berlin 1962, 29. 3 Marx-Engels, Werke Bd. 21, Berlin 1962, 115. 4 Lenin, Werke Bd. 29, Berlin 1970, 456.
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auch dann nicht, wenn sie der Form nach traditionaler Herkunft waren. Sie entsprachen jedoch deshalb noch nicht Staatsorganisationen, weil sie entweder nur vereinzelt oder nur sporadisch tätig wurden. Man könnte sie deshalb als gentilpolitische Einrichtungen bezeichnen, während die alten Einrichtungen gentiltraditionale Einrichtungen darstellten. Diese gentilpolitischen Institutionen unterschieden sich von den staatlichen Institutionen in mehrfacher Hinsicht. Zum ersten mußten diese letzteren Einrichtungen ausschließlich Instrumente der Klasse der Privateigentümer, zweitens positiv gesetzt sein und drittens ein System von Einrichtungen bilden, die sowohl die Ökonomie als auch die Politik und Ideologie in den gesellschaftsentscheidenden Positionen beherrschten. Die Widersprüche zwischen den Klassen mußten den Stand der Unüberwindbarkeit erreicht haben. Erst von dieser Epoche an kann man von einem Staat sprechen. Der Inhalt des Staates besteht von nun an ausschließlich in der Aufrechterhaltung des Privateigentums und der Sicherung des Akkumulationsradius auf erhöhter Reproduktionsleiter, der Aufrechterhaltung des Klassenwiderspruchs und der Ausbeutung. Hierzu haben Marx, Engels und Lenin gleichfalls ihre Ansichten niedergelegt. Engels schrieb: „Da der Staat entstanden ist aus dem Bedürfnis, Klassengegensätze im Zaume zu halten, da er aber gleichzeitig mitten im Konflkt dieser Klassen entstanden ist, so ist er in der Regel Staat der mächtigsten, ökonomisch herrschenden Klasse, die vermittelst seiner auch zur politisch herrschenden Klasse wird und so neue Mittel erwirbt zur Niederhaltung und Ausbeutung der unterdrückten Klasse" 1 . Lenin, bezugnehmend auf Engels' „Ursprung der Familie" und auf die Beziehung von Staat und Klassen hinweisend, stellte fest: „Der Staat entsteht dort, dann und insofern, wo, wann und inwiefern die Klassengegensätze objektiv nicht versöhnt werden können. Und umgekehrt: Das Bestehen des Staates beweist, daß die Klassengegensätze unversöhnlich sind" 2 . Und an anderer Stelle fügte Lenin hinzu: „Die Geschichte zeigt, daß der Staat als besonderer Apparat der Zwangsanwendung gegen Menschen erst dort und dann entstanden, wo und wann die Teilung der Gesellschaft in Klassen in Erscheinung trat — also eine Teilung in Gruppen von Menschen, von denen die einen sich ständig die Arbeit der andern aneignen können, wo der eine den andern ausbeutet"3. Diesen Ausbeutungszustand aufrechtzuerhalten und die Klassen- und Produktionsverhältnisse zu stabilisieren, bedurfte der Staat eines vorgebildeten Instruments. Dieses wichtige Instrument sowohl zur Aufrechterhaltung der Klassenordnung als auch des gesamten gesellschaftlichen Verkehrs war das Recht. Das Recht ist eine Zwangsnorm, aber nicht jede Zwangsnorm ist zugleich eine Rechtsnorm. Der Zwang ist nicht die Haupteigenschaft des Rechts. Das Charakteristikum des Klassenrechts besteht in der Normierung zum Schutze des Eigentums und damit der Produktionsverhältnisse. Das Eigentum selbst ist » Marx-Engels, Werke Bd. 21, Berlin 1962, 166-167. 2 Lenin, Werke Bd. 25, Berlin 1960, 399. 3 Lenin, Werke Bd. 29, Berlin 1970, 465.
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ein Verhältnis von Menschengruppen untereinander. Es setzt diese Menschengruppen in ein bestimmtes Verhältnis zu Sachen und Leistungen. Die Gegenstände selbst, um die es sich hier handelt, sind klassenneutral. Der Grund und Boden, der Pflug oder ein kompliziertes Werkzeug konnten in der privaten oder der gesellschaftlichen Produktion ausgenutzt oder tätig werden. Wird das Produkt dieser Tätigkeit zur Ware, dann geht es in die gesellschaftlichen Widersprüche ein, weil es als Privateigentum auf dem Markt erscheint und von den Gesetzen der Warenproduktion beherrscht wird. Das Privateigentum an einer Sache besteht in einem gesellschaftlichen Verhältnis deshalb, weil seine Anerkennung durch Gesetze sanktioniert wird, d. h. weil die Nichteigentümer gezwungen werden, das Privateigentum als solches anzuerkennen und der Staat eine allgemeine Prävention gegen alle Nichteigentümer über die Gesetze, hinter denen die Staatsgewalt steht, erläßt. Das Privateigentum setzt Privateigentümer und Besitzlose voraus. Diese Beziehungen zwischen diesen beiden Klassen werden u. a. über das Recht ausgedrückt. Jeder Schritt, den das Privateigentum innerhalb der Welt der Privateigentümer geht, wird über das Privat- oder Zivilrecht geregelt. Jeder Schritt, den das Privateigentum als gesellschaftliches Verhältnis gegen die Besitzlosen geht, wird über das Staatsrecht geregelt, und jede Verletzung des Privateigentums setzt das Strafrecht in Tätigkeit. Vom Recht kann also nur gesprochen werden, wenn der Staat existiert, der in der Lage ist, die positive Gesetzgebung durch Gewalt durchzusetzen. Um es gleich zu sagen: die Verletzung der Gesetze hebt das Recht und den Rechtscharakter dieser Normativität nicht auf. Die gentilen Normen konnten daher erst Rechtsnormen werden, als der Klassencharakter der Normativität erreicht, ein System von rechtlichen Verbindlichkeiten gegeben und die Symbiose zwischen den Klassen der Privateigentümer und dem Staat sowie den Gesetzen ein allgemeines, stabiles, wirksames und die Gesellschaft bestimmendes Ganzes wurde. Waren diese Elemente verbunden, t r a t die Klassengesellschaft ins Leben. Sie t r a t in verschiedenen Formen und nach sehr verschiedenen und komplizierten Zwischengliedern auf und bestimmte von nun an den Weg der Geschichte. Mit der Entstehung des Staates waren die gentilen Organisationsformen aber keineswegs von der Bildfläche verschwunden. Sie bestanden in ihrer Organisation, mit ihrer Ideologie und mit ihren Traditionen weiter. Ihre gesellschaftliche Bedeutung war indessen nach zwei Seiten hin völlig verändert. Erstens war die Grundlage der Gentilgemeinschaft nicht mehr die Grundlage der neuen Staatsgesellschaft, weil nicht das Gemeineigentum, sondern das Privateigentum bestimmend wurde und damit die Produktion selbst sich verändert hatte. Zweitens ging von der alten Gentilverfassung nicht mehr die gesellschaftsentwickelnde Dynamik aus, denn diese wurde von den sozialen Kräften der neuen Gesellschaftsformation in Bewegung gesetzt. Die unterdrückte Klasse, worunter sich auch der größte Teil der ehemaligen Gentilangehörigen befand, blieb zwar Produzent der materiellen Güter, war aber nicht Aneigner und Verwerter des
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Mehrproduktes, das sich in den Händen des Staates beziehungsweise der herrschenden Klasse befand. Gerade weil die alten Formen der Gentilgesellschaft noch vorhanden waren, mußte der Staat die antagonistischen Widersprüche im Zaume halten. Auch war es nicht sogleich zu einer Trennung der gentilen Organisationen von den neuen Staatsorganisationen gekommen. Die Frage der formalen Trennung ist überhaupt nicht das Kennzeichen und nicht das Kernproblem dieser Entwicklungsstufe, sondern die Tatsache der Ausbeutung durch das Staats- und •Gesellschaftsprinzip. Der Schnittpunkt liegt nicht in der Abgrenzung der antagonistischen Organisationen, sondern in den veränderten Distributions- und Ausbeutungsmethoden. Diese konnten sowohl unmittelbar durch Gewaltorgane, durch rigorose Kontributionen und Abgaben als auch durch die älteren Formen der Opfer, Geschenke, Dotationen, freiwilligen Dienste usw. praktiziert werden. Deshalb bleibt die Frage nach der Verwertung des Mehrproduktes, die Frage nach der Form der gesellschaftlichen Produktion, den Formen der privaten Aneignung, den Zwecken und Zielen der Staatsmacht und des Rechts und letztlich den Absichten und Wirkungen der religiösen und ideellen Vorstellungen der Hauptgesichtspunkt bei der Beurteilung des Schnittpunktes der Staats- und Rechtsentstehung in den konkreten Fällen.
Zu einigen Schlußfolgerungen aus den Lehren von Karl Marx und Friedrich Engels zur Entstehung des Staates im Alten Orient von
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(Halle)
Die Entstehung des Staates im Alten Orient ist insofern von besonderer Bedeutung, als nach unserem derzeitigen Wissen im Stromtal von Euphrat und Tigris erstmals der Übergang der Menschheit von der Urgesellschaft zur Klassengesellschaft erfolgte — und erstmals der Staat entstand. Dieser Vorgang vollzog sich verhältnismäßig parallel bei den Sumerern und Elamitern im 4. Jahrtausend und kam in den ersten Jahrhunderten des 3. Jahrtausends zum Abschluß. Er ging in Nordmesopotamien, in Syrien und Palästina, Ägypten, Kleinasien, Südturkmenien und Indien um jeweils 200—300 Jahre nach den Sumerern vor sich, und der Prozeß erhielt je nach den lokalen Voraussetzungen andere Schattierungen und Färbungen — eine Tatsache, die sich noch stärker bei jenen Völkern ausprägte, die als „Barbaren" im Laufe der Geschichte in schon klassengesellschaftliche Gebiete eindrangen, nun zum Bestandteil einer Klassengesellschaft wurden und den Staat ausbildeten, kurz, die die historischen Entwicklungen, zu denen die Südmesopotamier drei Jahrtausende Zeit gehabt hatten, in wenigen Jahren oder Jahrzehnten nachvollziehen mußten. Daß ihre Antwort auf diese historische Provokation je nach ihrem eigenen Entwicklungsstand verschieden ausfiel, wird nicht verwundern. Da sich dieser Vorgang der Entstehung der Klassengesellschaft und des Staates in Asien und Afrika sowie die Einbeziehung bisher urgesellschaftlicher Gruppen bis in unsere Tage erstrecken und somit über 5000 Jahre und Hunderte von Übergangsformen erfassen, sind sowohl das Studium der Einzelform und seiner Resultate wie die allgemeine historische Gesetzmäßigkeit zu berücksichtigen, wenn man sowohl dem konkreten Fall wie der Gesamtgeschichte gerecht werden will. Das Studium der Übergangsform ist um so wichtiger, als es uns nicht nur eben diese Übergangsform, sondern auch zum Teil das Wesen und die Form der sich daraus ergebenden Klassengesellschaft verständlich macht. Die Notwendigkeit der Berücksichtigung der konkreten Bedingungen des Übergangs von der Urgesellschaft zur Klassengesellschaft haben uns schon Marx und Engels gelehrt. Karl Marx unterschied in seiner Arbeit „Formen, die der kapitalistischen Produktion vorhergehen" neben einer „naturwüchsigen Form", zu der er die „meisten asiatischen Grundformen" rechnet — also nicht nur einer Grundform in Asien —, eine auf dem Parzelleneigentum beruhende
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Form, zu der er außer Griechen und Römern auch solche Stockorientalen wie die Juden zählt 1 , und eine germanische Form — wobei er betonte, daß die „verschiedenen äußerlichen, klimatischen, geographischen, physischen etc. Bedingungen sowohl wie von ihrer besonderen Naturanlage abhängen — ihrem Stammcharakter — wie mehr oder minder diese ursprüngliche Gemeinschaft modifiziert wird" 2. Friedrich Engels untersuchte leider in seinem „Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats" orientalische Verhältnisse nicht — überließ sie uns, die wir ja auch unterdessen ungleich mehr Material über den Orient besitzen als er. Wir können daher aus seinem letztgenannten Werk keine Analyse direkt übernehmen, da er hier vor allem Indianer, Griechen, Römer und Germanen untersuchte, müssen aber seine Grunderkenntnisse, seine Arbeitsmethode studieren und auf die altorientalischen Verhältnisse anwenden. Wenn wir von diesem Standpunkt an den „Ursprung" herangehen, finden wir Entscheidendes, um unsere Aufgaben zu lösen. I m I X . Abschnitt gibt Engels die historische Definition des Staates: „Der Staat ist also keineswegs eine der Gesellschaft von außen aufgezwungene Macht; ebensowenig ist er „die Wirklichkeit der sittlichen Idee", „das Bild und die Wirklichkeit der Vernunft", wie Hegel behauptet. Er ist vielmehr ein Produkt der Gesellschaft auf bestimmter Entwicklungsstufe; er ist das Eingeständnis, daß diese Gesellschaft sich in einen unlösbaren Widerspruch mit sich selbst verwickelt, sich in unversöhnliche Gegensätze gespalten hat, die zu bannen sie ohnmächtig ist. Damit aber diese Gegensätze, Klassen mit widerstreitenden ökonomischen Interessen, nicht sich und die Gesellschaft in fruchtlosem Kampf verzehren, ist eine scheinbar über der Gesellschaft stehende Macht nötig geworden, die den Konflikt dämpfen, innerhalb der Schranken der „Ordnung" halten soll; und diese, aus der Gesellschaft hervorgegangene, aber sich über sie stellende, sich ihr mehr und mehr entfremdende Macht ist der Staat" 3 . Und dann folgen zwei Merkmale, deren erstes wir in Lenins „Staat und Revolution" nicht finden: „Gegenüber der alten Gentilorganisation kennzeichnet sich der Staat erstens durch die Einteilung der Staatsangehörigen nach dem Gebiet . . .", und erst dann folgt der von Lenin betonte Gedanke: „Das zweite ist die Einrichtung einer öffentlichen Gewalt, welche nicht mehr unmittelbar zusammenfällt mit der sich selbst als bewaffnete Macht organisierenden Bevölkerung. Diese besondre, öffentliche Gewalt ist nötig, weil eine selbsttätige bewaffnete Organisation der Bevölkerung unmöglich geworden seit der Spaltung in Klassen" 4 . Für Lenin, der die Revolution gegen den Machtapparat „Staat" vorbereitete, stand der andere Aspekt, die „Einteilung nach dem Gebiet", gar nicht zur Diskussion. Diese Seite des Staates bleibt ja auch in der klassenlosen Gesellschaft 1
K. Marx, Formen, die der kapitalistischen Produktion vorhergehen. Berlin 1952, 11. F. Engels, Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats. Berlin 194G, 6. 3 Ebenda, 143. « Ebenda, 143. 2
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erhalten für die „die über der Gesellschaft stehende Macht" zur Dämpfung der Klassengegensätze längst überflüssig geworden ist. — Aber für uns, die wir als Historiker den Übergang von der gentil organisierten klassenlosen Urgesellschaft zum regional organisierten Staat der Klassengesellschaft studieren wollen, sind beide Aspekte wichtig, müssen wir doch, um die Entstehung der Klassengesellschaft und des Staates zu belegen, die Organisation der Menschen nach dem Gebiet und die Existenz einer besonderen bewaffneten Macht nachweisen. Friedrich Engels hat drei Hauptformen der Staatsentstehung unterschieden, wobei er, wie schon gesagt, auf eine Analyse orientalischer Staatsbildungen verzichtete. Er schrieb: „Die drei Hauptformen, in denen der Staat sich auf den Ruinen der Gentil Verfassung erhebt, haben wir oben im Einzelnen betrachtet. Athen bietet die reinste, klassischste Form: hier entspringt der Staat direkt und vorherrschend aus den Klassengegensätzen, die sich innerhalb der Gentilgesellschaft selbst entwickeln. In Rom wird die Gentilgesellschaft eine geschlossene Aristokratie inmitten einer zahlreichen, außer ihr stehenden, rechtlosen, aber pflichtenschuldigen Plebs; der Sieg der Plebs sprengt die alte Geschlechtsverfassung und errichtet auf ihren Trümmern den Staat, worin Gentilaristokratie und Plebs bald beide gänzlich aufgehn. Bei den deutschen Überwindern des Römerreichs endlich entspringt der Staat direkt aus der Eroberung großer fremder Gebiete, die zu beherrschen die Gentilverfassung keine Mittel bietet" 1 . Drei Hauptformen in knapp 1000 Jahren, die zudem eng miteinander verbunden waren, das ist m. E. eine Engeische Feststellung, die von vornherein für den Riesenraum von Korea bis Guinea und den fünf bis sechsfachen Zeitraum einfach ausschließt, daß es dort nur eine Form des Übergangs gegeben habe, ja, die geradezu verlangt, nach den verschiedenen Hauptformen und ihren Derivaten zu suchen, um der Geschichte und der Methode des historischen Materialismus gerecht zu werden. Schon ein allgemeiner Überblick über die drei großen Stromtalkulturen des 3. Jahrtausends v. u. Z. läßt weitgehende Unterschiede erkennen, die zum größten Teil aus den unterschiedlichen Bedingungen des Übergangs ihrer Träger zur Klassengesellschaft und zum Staat resultieren. In Mesopotamien ist die Lebensform der Menschen, in der sich der Übergang von der Urgemeinschaft zur Klassengesellschaft vollzieht, die Stadt — und das Ergebnis sind die vielen gleichartigen sumerischen Stadtstaaten, die erst im letzten Drittel des Jahrtausends ihre Unabhängigkeit verlieren. In Ägypten herrschte die als Staat organisierte Ausbeuterklasse über die Vielzahl der Dörfer, schuf die Residenz als ihre Zentrale — viele kleine Residenzen als Sitz der staatlich-organisierten Ausbeuter, so daß Ägyptens Staat als Großstaat existierte oder nicht existierte. In Indien blühte jene uns noch am wenigsten verständliche Induskultur, die zwei Großstädte mit gesonderten Residenzen über viele Dörfer herrschen sah. i Ebenda, 142.
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Wie sind diese Unterschiede zu verstehen ? Natürlich können hier nur die allgemeinen Züge verfolgt werden. Die s u m e r i s c h e Staatsentstehung wird durch folgende Merkmale bestimmt: Sie vollzieht sich auf der Basis der in den Bergländern Vorderasiens bereits ausgebildeten „militärischen Demokratie" mit vollzogener Arbeitsteilung in Bauern, Hirten und Handwerker sowie mit bereits entwickelter sozialer Differenzierung, die eine Häuptlingsschicht hervorhob. Die Herausbildung der „militärischen Demokratie" in den Bergländern Vorderasiens läßt sich an den Fundorten Chatal-Hüyük (voll entfaltete Urgesellschaft um 6500 v. u. Z.), Hacilar I I (Dorf mit Arbeitsteilung in Handwerker und Bauern um 5250 v. u. Z.) und Mersin XVI (eine Festung mit gleichgestellten Bauernsoldaten, Häusern und einem Palast um 4500 v. u. Z.) studieren. Die sumerische Staatsentstehung hatte die Irrigation Südmesopotamiens zur Voraussetzung, da die ab 5500 v. u. Z. erfolgende Besiedlung der Gebiete unterhalb der 200 mm Isohyete nur mit Be- bzw. Entwässerungsackerbau möglich war. Dieser Bewässerungsackerbau war nur unter dem Aufwand größerer geistiger Arbeit bei der Produktionsvorbereitung und -Organisation möglich, da das Hochwasser von Euphrat und Tigris die Unkundigen vernichtete. Er schuf zugleich mit dem bewässerten Boden ein hocheffektives Produktionsmittel, das dem Boden des Berglandes weit überlegen war. Die Überbesiedlung der Bergzonen und die hohe Produktivität des Stromlandes, dessen Fruchtbarkeit für eine gewisse Zeit nur durch die Arbeitskräfte begrenzt wurde, ließ vielerlei Gruppen zuwandern und die Einwohnerzahl rasch ansteigen. Bevölkerungsmischung und -Zuwachs erforderten eine regionale Organisierung. Die Priester wurden als Träger des zur Produktion notwendigen Wissens zu Organisatoren. Die Tempel fungierten als Gemeindespeicher, Produktionsleitung und Organisationszentrum, logischerweise auch als geistiges Zentrum, als Kultort. Sie werden zu Zentren der Siedlungen. Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Gemeinschaften standen unter Leitung der Priester und führten in der Hegel zur Vereinigung der Siedlungen, zur Vermehrung der Zahl der Tempel und zur Unterordnung der Gefangenen unter die Priester. Aus dem Gemeineigentum des Stammes am Boden wird das fiktive Eigentum des Stammgottes am Boden, das an die zur Kultgemeinde gehörenden Mitglieder auf Zeit als Besitz verteilt wird. Diese Verteilung geschieht mehr und mehr nach Klassengesichtspunkten, so daß zum Hauptklassengesetz der Gegensatz zwischen Parzellenbesitzern und meist auch Handwerkern und Großgrundbesitzern wird, die zugleich die Gemeindefunktionen in ihrer Hand vereinigen. Daneben entwickelt sich der Klassengegensatz zwischen Sklaven und Großgrundbesitzern, der nicht zum beherrschenden Element wird. Der Staat als Machtorgan entwickelt sich in Südmesopotamien als Machtorgan der herrschenden Klasse (u. a. Priester) gegen die Masse der Stadtbewohner und kommt in einer Befestigung der Tempel innerhalb der Städte, in der Aufstellung bewaffneter Organe und im Auftreten des Gefesselten, Geblendeten usw. in der
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Kunst zum Ausdruck. Erst in dem schon entwickelten Staat trennen sich die religiösen und weltlichen Funktionen, neben den Tempel tritt der Palast. Archäologisch sind diese Grundzüge in etwa folgenden Etappen faßbar: Besiedlung des nördlichen Mesopotamiens oberhalb der 200 mm Isohyete, d. h. auf der Grundlage des Regenfeldbaues, ab etwa 5800 v. u. Z., Ausbildung sozial differenzierter Arbeitsteilung organisierter Gesellschaften in der Halaf- und Samarra-Kultur bis etwa 5000. Vordringen in das südwestmesopotamische Stromtal ab etwa 5500 v. u. Z. Mit verschiedenen Keramiktypen werden verschiedene Gruppen erkennbar, die alle etwa gleichzeitig den Bewässerungsackerbau meistern. Entstehung von Ansiedlungen, als deren Kern Tempel herausragen. I n Eridu ist das Aufsteigen des Tempels von einer kleinen H ü t t e (um 5000) zur befestigten Anlage um 3500' v. u. Z. und zur Festung um 3000 v. u. Z. gut zu verfolgen. Die Unterordnung des Handwerks unter die Tempel ist seit etwa 4000 v. u. Z. zu beobachten. Der Abschluß der Staatsbildung in Südmesopotamien ist um 3000 v. u. Z. erfolgt. Die Tempel von Uruk und Eridu sind nun innerhalb der Städte befestigt. Auf Staatssymbolen und Herrschersiegeln demonstriert die herrschende Klasse ihre Macht über Menschen, indem sie die Blendung Gefangener durch Bewaffnete vor einem Priester, den Priester als Kontrolleur der Produktion sowie die eigene Gesellschaft in drei Stufen, angedeutet durch unterschiedliche Kleidung, darstellt. Der in der Susiana und in Südmesopotamien zu beobachtende Abbruch der meisten Dörfer und die Konzentration der Bevölkerung in den Städten erfolgte um 2900—2800 v. u. Z., die Trennung von Palast und Tempel in Kisch um 2600 v. u. Z. Durch Kaufurkunden ist das Aufkommen des Privateigentums an Grund und Boden ab 2600 v. u. Z. belegt. Die Staatsentstehung in Sumer vollzog sich also in einem zweitausendjährigen Prozeß, der weitgehend durch den Bewässerungsackerbau und die daraus resultierende lebensnotwendige, beherrschende Rolle der geistig-technischen Leitung der Produktion bedingt war. Schon in Nordmesopotamien, oberhalb der 200 mm Isohyete, fehlt diese Rolle der Priesterschaft — und mit ihr auch die Beschleunigung der Entwicklung durch den produktiveren Bewässerungsackerbau. Hier dominiert seit der Halafzeit (5500—5000) der „Palast", d. h. also der Häuptling, der sich den Kult unterordnet, wie z. B. in Arpachiyah zu sehen ist. Das beste Beispiel der langsameren und auch anders gerichteten Entwicklung Nordmesopotamiens in den hier zur Debatte stehenden Jahrtausenden ist Tepe Gawra, das nach einer glänzenden Periode der Halafzeit eine Stagnation der Kultur erlebt, in der es zudem durch Eroberung mehrfach die Bevölkerung wechselt und in der allmählich Häuptlingssitz und Tempel nebeneinander aufwachsen. Das erste befestigte Gebäude ist ein Rundturm mit Beratungs-, Kultund Wohnräumen in der Schicht X I A. Es fehlt auch jene Konzentration der Gesellschaft auf ein Zentrum wie im Süden; so lassen sich in der Schicht X I I mehrere Großbauten — ich möchte sie Adelshäuser nennen — zwischen vielen ärmlichen Bauten nachweisen.
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Erst etwa 200 Jahre nach den südmesopotamischen Staaten läßt sich in der Schicht I X der Palast als befestigte Anlage mit einem eigenartigen tiefen Keller und verstärkten Mauern — m. E. das älteste Verließ, das älteste Gefängnis, das wir haben — erkennen. Daneben, völlig getrennt, steht der Tempel. Hier in Nordmesopotamien ging die Staatswerdung offenbar im Stamm vor sich — ähnlich wie in Syrien oder Palästina, wo wir ja schon aus dem 8. Jahrtausend v. u. Z. befestigte Großsiedlungen wie Jericho kennen, hinter dessen steinerner Stadtmauer mit 8 m breiten Türmen schon damals 2000—3000 Menschen Platz hatten. Aber die ständigen Bevölkerungsbewegungen vom 8. bis 4. Jahrtausend v. u. Z. schienen hier bis in den Beginn des 3. Jahrtausends die Staatsbildung verhindert zu haben; wer sich von Feinden oder Ausbeutern bedroht sah, floh südwärts und ging nach Afrika. Noch im späten 3. Jahrtausend v. u. Z. fungierten in Palästina wie in Khirbet Kerak die Tempel als Gemeindespeicher. In Ä g y p t e n wurden andere historische Voraussetzungen und ökonomische Grundsätze wirksam: Die Erschließung des Niltals verlangte ursprünglich keine Irrigation, sondern nur die Beobachtung der Ausdehnung und Dauer der Überschwemmung —, ein bei der natürlichen Enge des Tals wesentlich einfacher zu beobachtender Prozeß. Die Besiedlung des Stromtals erfolgte in mehreren Wellen von Asien her, nachdem dort bereits die Zeit der „militärischen Demokratie" ihren Höhepunkt längst überschritten hatte, während die Neusiedler auf der Anfangsstufe der agrarischen Stammesorganisation standen (ab 4500 v. u. Z.). Die bis in das frühe 3. Jahrtausend passierbare Sahara ließ bedrohte Gruppen abziehen —, ein hemmender Faktor, den auch seit etwa 3500 v. u. Z. ansteigender Einfluß aus Vorderasien nicht ausglich. Nach 2900 v. u. Z. unterwarf eine mit vorderasiatischem Kulturgut und Erfahrungen angereicherte Volksgruppe die Bauernstämme und zwang sie zur Auslieferung eines Teils des Mehrproduktes. Für die prinzipielle Erkenntnis ist es unwesentlich, ob es sich bei den sich als Staat konstituierenden Fremden um mit asiatischem Gut angereicherte Libyer oder um Südmesopotamier handelte. Ich halte sogar eine mehrfache und daher gemischte Überschichtung für wahrscheinlich. Die Staatsbildung ähnelt der von Engels beschriebenen „deutschen" Staatsbildung, bei der nach seinen Worten „der Staat direkt aus der Eroberung großer, fremder Gebiete" entspringt, während die sumerische Staatsbildung eher der attischen Form entspricht, und ich habe sie an anderer Stelle 1 mit der Reform Solons verglichen. Archäologisch läßt sich diese Entwicklung u. a. durch folgende Denkmäler erfassen: I n den noch späturgemeinschaftlichen Kulturen der Negade II—Zeit tritt u. a. der Messergriff von Djebel el-Arak auf, der auf der einen Seite eine Menschenjagd und den Kampf mesopotamischer gegen ägyptische Boote und auf der anderen den triumphierenden mesopotamischen Priesterfürsten zeigt. Eines der ersten Denkmäler ägyptischer Staatlichkeit stellt die Narmerpalette dar. 1
B. Brentjes, Von Schanidar bis Akkad. Leipzig-Jena-Berlin 1968, 169f.
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Unter ihren beherrschenden Motiven ist der Schlangendrache vorderasiatischer Herkunft. I n Ägypten fehlen die Mesopotamien charakterisierenden Städte. Staatliche Zentren bilden die Residenzen, wie sie uns z. B. in Gestalt der einen Palastkomplexe nachbildenden Anlage der Stufenpyramide von Sakkara bekannt ist. Die Königsgräber der ersten Dynastien im Stil mesopotamischer Tempel (Uruk IV) enthalten Darstellungen von Gefangenen und Unterjochten. Auch M e s o p o t a m i e n hat Überschichtungen durch Fremdstämme erlebt. Selbst die Sumerer ernteten anscheinend, was andere vor ihnen gesät hatten. Die Regel war in Mesopotamien jedoch die Infiltration späturgemeinschaftlicher bzw. frühstaatlicher Völker in staatliche Organisationen, die sich je nach den Bedingungen vollzog. Die zu Beginn des 2. Jahrtausends einwandernden Amurru rissen die Herrschaft z. B. in Babylon an sich, nachdem sie jahrzehntelang als Saisonarbeiter, Söldner usw. ins Land gekommen waren. Offenbar nicht in geschlossenen Stammesgruppen ankommend — wie einige Jahrhunderte nach ihnen die Kassiten — gingen sie in der akkadischen Bevölkerung auf. Als geschlossenen Sippenverbänden gelang es den Kassiten, die Akkader zu unterwerfen. Sie bildeten die Grundherrenschicht, die den Boden mit allen Produzenten als Sippen eigentum besaß. Wollte z. B. der König Land in Privateigentum vergeben, mußte er es von den Sippenvorstehern der Grundbesitzer kaufen und konnte es dann mit den ansässigen Bauern verschenken. Eine dritte Form ist die Staatsbildung der P e r s e r und M e d e r , die die ökonomische Struktur der unterworfenen Gebiete unberührt ließen, den Verwaltungsapparat aus Aramäern und Elamitern bildeten, den Machtapparat aber den Persern und Medern vorbehielten. Nur Angehörige der beiden Stämme konnten leitende Staats- und Armeefunktionen innehaben, und sie allein verfügten über den Großgrundbesitz. Die persische Staatsbildung ähnelt damit der frührömischen Entwicklung, von der Friedrich Engels schrieb, hier „wird die Gentilgesellschaft eine geschlossene Aristokratie inmitten einer zahlreichen, außer ihr stehenden, rechtlosen, aber pflichtenschuldigen Plebs" 1 — nur daß bei den Persern statt der Plebs geschlossene Völkerschaften standen und Perser und Meder eine geschlossene Aristokratie bildeten. Archäologisch deutlich wird diese Überschichtung u. a. durch das Nebeneinander von Kult- und Residenzstädten wie Persepolis und straff gegliederten Wohnstädten von der Struktur Babylons. Es könnten noch weitere Formen aufgeführt werden, die sich in ihren Besonderheiten gleichfalls erklären lassen, wie die eigenartige Staatsverfassung der Elamiter mit einem mutterrechtlich organisierten Staat, die Burgen-Staatlichkeit Mykenes oder die Palaststadt der Kreter, so daß wir zu einer Vielzahl konkreter Staatsbildungen und dementsprechend differenzierter Ausgangsstrukturen der alten Klassengesellschaft kommen, zwischen denen zum Teil größere Unterschiede bestehen als zwischen den drei von Engels genannten Haupt1
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F. Engels, a. a. O., 142. Staatsentstehung
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formen, der attischen, der römischen und der germanischen, die damit ihre Sonderstellung verlieren und sich einpassen in den Strom des weltgeschichtlichen Übergangs von der auf der Basis des Sammeins und der Jagd entwikkelten Urgesellschaft zu der auf der Basis des Ackerbaus entwickelten vorkapitalistischen Klassengesellschaft. Für uns ergeben sich hieraus einige konkrete Schlußfolgerungen: 1. Die Phase der „militärischen Demokratie" ist in ihrer inneren Entwicklung und ihren Besonderheiten regional zu erfassen. 2. Nicht das Auftreten von Arbeitsteilung, Unterdrückung, Sklaven und Klassenspaltung allein erweist die Existenz des Staates. Erinnert sei an Friedrich Engels' Schlußvermerk zum Abschnitt IV im „Ursprung der Familie": „Wir sehn also in der griechischen Verfassung der Heldenzeit die alte Gentilorganisation noch in lebendiger Kraft, aber auch schon den Anfang ihrer Untergrabung : Vaterrecht mit Vererbung des Vermögens an die Kinder, wodurch die Reichtumsanhäufung in der Familie begünstigt ynd die Familie eine Macht wurde gegenüber der Gens; Rückwirkung der Reicktumsverschiedenheit auf die Verfassung, vermittelst Bildung der ersten Ansätze zu einem erblichen Adel und Königtum; Sklaverei, zunächst noch bloß von Kriegsgefangenen, aber schon die Aussicht eröffnend auf Versklavung der eignen Stammes- und selbst Gentilgenossen ; der alte Krieg von Stamm gegen Stamm bereits ausartend in systematische Räuberei zu Land und zur See, um Vieh, Sklaven, Schätze zu erobern, in regelrechte Erwerbsquelle; kurz, Reichtum gepriesen und geachtet als höchstes Gut, und die alten Gentilordnungen gemißbraucht, um den gewaltsamen Raub von Reichtümern zu rechtfertigen. Es fehlte nur noch eins: eine Einrichtung, die die neuerworbenen Reichtümer der einzelnen nicht nur gegen die kommunistischen Traditionen der Gentilordnung sicherstellte, die nicht nur das früher so geringgeschätzte Privateigentum heiligte, und diese Heiligung f ü r den höchsten Zweck aller menschlichen Gemeinschaft erklärte, sondern die auch die nacheinander sich entwickelnden neuen Formen der Eigentumserwerbung, also der stets beschleunigten Vermehrung des Reichtums mit dem Stempel allgemein gesellschaftlicher Anerkennung versah; eine Einrichtung, die nicht nur die aufkommende Spaltung der Gesellschaft in Klassen verewigte, sondern auch das Recht der besitzenden Klasse auf Ausbeutung der nichtbesitzenden, und die Herrschaft jener über diese. Und diese Einrichtung kam. Der Staat wurde erfunden" 1 . 3. Erst der Nachweis der „Einteilung der Staatsangehörigen nach dem Gebiet" und der „Einrichtung einer öffentlichen Gewalt, welche nicht mehr unmittelbar zusammenfäll,t mit der sich selbst als bewaffnete Macht organisierenden Bevölkerung" 2 erlaubt, von der Existenz des Staates zu sprechen. Daß sich diese Elemente historisch, d. h. in bestimmten Fristen, herausbilden und nicht wie Athena dem Schädel des Zeus auf einmal und abgeschlossen entspringen, ist selbstverständlich. 1
Ebenda, 84.
2 Ebenda, 142.
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4. Wenn der Staat wie in Athen oder in den sumerischen Städten „direkt und vorherrschend aus den Klassengegensätzen, die sich innerhalb der Gentilgesellschaft selbst entwickeln", resultiert, geht seine Ausbildung allmählich, Schritt für Schritt, aber in klarer, sozial bestimmter Form vor sich. 5. „Entspringt der Staat" hingegen „direkt aus der Eroberung großer fremder Gebiete, die zu beherrschen die Gentilverfassung keine Mittel bietet", wie es Engels bei den Germanen schildert und wie es sich in abgewandelter Form bei der Staatsentstehung der Ägypter, der Chou und der Hethiter"•vollzog, ist der Staat als „besondere öffentliche Gewalt" schwerer zu erweisen, sondern entsteht aus dem sich als Machtorgan gegen die Unterdrückten als , Staat' organisierenden Heerbann der Unterdrücker. Es gelten hier vielfach in verschiedenen Formen die Engelsschen Bemerkungen zur „Staatsbildung der Deutschen": „Weil aber mit dieser Eroberung weder ernstlicher Kampf mit der alten Bevölkerung verbunden ist noch eine fortgeschrittenere Arbeitsteilung, weil die ökonomische Entwicklungsstufe der Eroberten und die der Eroberer fast dieselbe ist, die ökonomische Basis der Gesellschaft also die alte bleibt, deshalb kann sich die Gentilverfassung lange Jahrhunderte hindurch in veränderter, territorialer Gestalt als Markverfassung forterhalten und selbst in den späteren Adels- und Patriziergeschlechtern, ja selbst in Bauerngeschlechtern wie in Dithmarschen eine Zeitlang im abgeschwächter Form verjüngen" 1 . Am nächsten kommen diesem germanischen Beispiel das chouzeitliche China, dann die Hethiter des Alten Reiches, weniger schon das frühzeitliche Ägypten und eventuell Sparta. Diese aus der „Eroberung großer fremder Gebiete" resultierende Staatlichkeit tritt rascher in Erscheinung, ist stabiler, aber auch zur Stagnation tendierend. 6. Kulturell bedeutender und für die Menschheitsentwicklung fruchtbarer ist der sumerisch-attische Weg der Stadt, da er im Prozeß der inneren Kämpfe um die Ausbildung der neuen Ordnung zum Durchdenken und Formulieren der Verhältnisse zwingt. Als oberster Grundsatz muß jedoch über allen Studien zur Staatsentstehung die eindeutige Erkenntnis W . I. Lenins im Anschluß an die Engelsschen Ausführungen stehen: „Hier ist mit voller Klarheit der Grundgedanke des Marxismus über die historische Rolle und die Bedeutung des Staates zum Ausdruck gebracht. Der Staat ist das Produkt und die Äußerung der Unversöhnlichkeit der Klassengegensätze. Der Staat entsteht dort, dann und insofern, wo, wann und inwiefern die Klassengegensätze objektiv nicht versöhnt werden können"2. Nicht die Existenz eines Adels oder besserer Waffen in der Hand eines Teils des Volkes machen den Staat aus, sondern die Existenz unversöhnlicher Klassengegensätze und ihr Produkt, bestimmt, sie zu dämpfen, nämlich der Staat als Machtorgan einer herrschenden Klasse gegen eine ausgebeutete und unterdrückte muß erwiesen werden. 1 Ebenda, 142. W . I. Lenin, Staat und Revolution. In: Ausgewählte Werke in 2 Bänden. Bd. 2. Moskau 1947, 161.
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Einige Erwägungen zur Staatsentstehung in Mesopotamien v o n HOEST KLENGEL (Berlin)
Seit mehr als einem Jahrhundert haben archäologische und philologische Forschungen in ständig wachsendem Maße unsere Kenntnisse über die Geschichte der Völkerschaften, die im orientalischen Altertum an Euphrat und Tigri8 lebten, erweitert. Sie haben die Voraussetzungen dafür geschaffen, daß heute ein im wesentlichen gesichertes, wenn auch in manchen zeitlichen und räumlichen Bereichen noch lückenhaftes Bild gezeichnet werden kann. Dabei drang die Forschung in immer weiter zurückliegende Perioden vor und bezog die vorschriftliche Zeit Mesopotamiens, also den Zeitraum vor dem ausgehenden 4. Jahrtausend, in ihre Arbeit ein. Gerade während der letzten Jahrzehnte hat die vorderasiatische Archäologie der Untersuchung der prähistorischen und frühgeschichtlichen Entwicklung besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Das damit stark vermehrte Material machte es möglich, nicht nur die materielle Kultur Mesopotamiens in vorstaatlicher Zeit klarer zu erfassen, sondern auch einige Rückschlüsse auf den entsprechenden gesellschaftlichen Überbau zu ziehen. In diesem Zusammenhang ist die Herausbildung der Klassengesellschaft und des Staates von besonderer Bedeutung. Wie bereits W. Sellnow in seinem Beitrag gezeigt hat, haben die Klassiker des Marxismus-Leninismus in ihren Arbeiten wiederholt auf diese welthistorisch relevante Problematik hingewiesen. 1 Eine wichtige Rolle spielte dabei die Frage der politischen Gewalt und ihr Verhältnis zur Gesellschaft. Dabei war es ihnen zu ihrer Zeit jedoch noch nicht möglich, diese Probleme auch am Beispiel Mesopotamiens darzustellen; hierfür fehlte es damals an den quellenmäßigen Voraussetzungen. Die Aufgabe, das aus der archäologischen und philologischen Tatsachenforschung seitdem zur Verfügung gestellte historisch verwertbare Material mit den von Marx, Engels und Lenin erkannten Gesetzmäßigkeiten in der gesellschaftlichen Entwicklung zu vergleichen und mit den Methoden der marxistischen Geschichtswissenschaft auch die Frage der Entstehung des Staates in Mesopotamien zu untersuchen, blieb späteren Generationen vorbehalten. 2 Dabei sind vor allem durch die sowje1 2
Siehe oben S. 13-26. Vgl. zur Problematik zuletzt E. Hoffmann, Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 16 (1968), 1272 f.
Einige Erwägungen zur Staatsentstehung in Mesopotamien
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tische Geschichtsforschung erste wesentliche Resultate erzielt worden. 1 In den meisten Darstellungen der mesopotamischen Frühzeit wird allerdings der Staatsentstehung als einem Prozeß entweder keine Beachtung geschenkt oder aber nur auf die bereits „klassisch" gewordene Untersuchung von Th. Jacobsen, Early Political Development in Mesopotamia 2 , verwiesen. Die Frage der Staatsentstehung in Mesopotamien — hier als Bereich zwischen dem iranischen Hochland im Osten und der syrisch-arabischen Wüstensteppe im Westen verstanden — kommt insofern eine überregionale Bedeutung zu, als sieh hier, soweit wir bislang sehen können, dieser Prozeß zum ersten Male vollzog. Zum besseren Verständnis der nachfolgenden Erwägungen erscheint es notwendig, das zur Verfügung stehende Material kurz zu charakterisieren: a) Der archäologische Befund, d. h. das nicht-inschriftliche Material. Diese Quellen gestatten oft Rückschlüsse nicht nur auf den Stand der Entwicklung der Produktivkräfte, auf Bevölkerungsdichte und Siedlungsweise, sondern auch auf die jeweiligen Produktionsverhältnisse. Dabei muß jedoch berücksichtigt werden, daß sich Veränderungen im Überbau im archäologischen Befund nur bedingt und unter bestimmten Voraussetzungen widerspiegeln; der Interpretation bleibt ein häufig allzu breiter Raum überlassen. b) Die inschriftlichen Zeugnisse. Diese setzen in Mesopotamien zunächst in Form einer piktographischen Fixierung ökonomischer Vorgänge am Ende des 4. Jahrtausends ein. 3 Sie gewinnen jedoch erst im zweiten Viertel des 3. Jahrtausends an Aussagekraft und stellen dann weitgehend Feldkaufurkunden d a r / ' Aus der Frühdynastisch-III-Zeit (etwa 26./25. Jahrhundert) steht schließlich ein umfangreiches inschriftliches Material zur Verfügung, darunter auch Königsinschriften. 5 Diese inschriftlichen Zeugnisse sind für die Frage der Staatsentstehung in zweierlei Hinsicht auswertbar: einmal als Dokumente ihrer eigenen Abfassungszeit, zum anderen als Reflexion älterer Zustände; in letzterem Fall bleibt allerdings unsicher, wie weit diese frühen Verhältnisse zurückdatiert 1
Hervorzuheben sind vor allem die Arbeiten von I. M. Diakonoff, vgl. insbesondere seine Untersuchungen über die Entstehung des despotischen Staates in Mesopotamien [1956] (in: Ancient Mesopotamia, Moskau 1969, 173ff.) sowie die Gesellschaftsstruktur im Vorderen Orient bis zur Mitte d e s 2. J a h r t a u s e n d s v. u. Z. (BecTHHK «peBHeii HCTopiiH
4/1967, 13ff.; 3/1968, 3ff.; 4/1968, 3ff.). Vgl. ferner A. I. Tjumenev, in: Ancient Mesopotamia, 70 ff. 2 Zeitschrift für Assyriologie, NF 18 (1957), 91 ff. 3 Uruk (Südmesopotamien), Schicht IV a; s. A. Falkenstein, Archaische Texte aus Uruk. Berlin 1936. An einer Lesung dieser bislang ältesten Inschriften wird gegenwärtig von vers c h i e d e n e n S e i t e n gearbeitet, vgl. e t w a A . A. BaüMaH, nepenHea3HaTCKHH cßopiiHK I I . MocKBa 1966, 3 ff. 4
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Vgl. zuletzt die Bearbeitungen von D. 0. Edzard, Sumerische Rechtsurkunden des III. Jahrtausends. München 1968, Anhang S. 167-198. Besonders gut bekannt sind auf Grund dieser Inschriften die Verhältnisse im südmesop o t a m i s c h e n L a g a s ; vgl. e t w a H. M. flbHKOHOB, OSmecTBeHHLifi h rocyRapcTBeHHbm CTpofi
HpeBHero ^sypeMbH, IIIyMep. MocKBa 1959. Tontafelarchive fanden sich an mehreren Orten Mittel- und Südmesopotamiens wie Ur, Suruppak, Umma, Lagas, Nippur, Kis und Adab.
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werden dürfen. Zu dieser Quellengruppe können auch die sumerischen literarischen Überlieferungen wie Mythen, Epen und Götterlieder gerechnet werden, die uns zwar erst in einer späteren Niederschrift vorliegen, deren Entstehung jedoch bis in die hier zu behandelnde Zeit zurückverlegt werden kann. 1 Die Verwertbarkeit der Textzeugnisse für das Problem der Staatsentwicklung wird jedoch nicht nur durch chronologische Schwierigkeiten eingeschränkt, sondern auch dadurch, daß Darstellungsweise und Terminologie dieser Quellen mit einer oft nicht nur schwer verständlichen, sondern auch nicht immer klar erfaßbaren Weltbetrachtung verbunden sind. Ihre Übertragung in unsere eigenen Kategorien und ihre Nutzbarmachung für moderne Fragestellungen sind daher oft sehr kompliziert, und es erscheint Zurückhaltung geboten, um nicht zu voreiligen Schlußfolgerungen zu gelangen. 2 c) Das ethnologische Vergleichsmaterial. Ausgehend von den Gesetzmäßigkeiten in der gesellschaftlichen Entwicklung sowie davon, daß sich diese Gesetzmäßigkeiten zeitlich oft sehr unterschiedlich durchsetzen, können sozialökonomische Prozesse aus rezenterer Zeit als Analogien dienen und bei der Interpretation primären Quellenmaterials herangezogen werden. Zu berücksichtigen sind dabei jedoch Unterschiede in den Faktoren, die die miteinander verglichenen Vorgänge bestimmten, wie etwa in den ökologischen Bedingungen, in der Entwicklung der Produktivkräfte, im Grad der Beeinflussung durch höherentwickelte Gesellschaften usw. Dieses ethnologische Material kann demnach unter bestimmten Bedingungen zum besseren Verständnis von Vorgängen beitragen, die sich in weit zurückliegenden Perioden vollzogen, vermag die Primärquellen jedoch nicht zu ersetzen. Dieser knappe Überblick dürfte bereits erkennen lassen, daß das zur Verfügung stehende Material nicht ausreicht, um den Prozeß der Staatsentstehung in Mesopotamien in seinen einzelnen Etappen und allen Aspekten fundiert darzustellen. Im folgenden sollen daher nur einige Erwägungen angestellt werden, bei denen im gegebenen Rahmen ohnehin auf die Darstellung von Details verzichtet werden muß. Unter den Voraussetzungen für die Herausbildung des Staates wäre zunächst die Erzeugung eines kontinuierlichen und höheren Mehrprodukts zu nennen. Dabei kommt einem Prozeß besondere Bedeutung zu, der in der wissenschaftlichen Literatur oft als „neolithische Revolution" bezeichnet wird.3 Es handelt 1
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Diese literarischen Texte bilden die wesentliche Grundlage für die eingangs erwähnte Arbeit von Th. Jacobsen (s. S. 37 Anm. 2). Auch hier sollte das Prinzip gelten, alles in seinem Zusammenhang und nicht isoliert zu betrachten; die willkürliche Auswahl von einzelnen Textzeugnissen kann kaum als Stütze einer These dienen. Es handelt sich um einen Vorgang, der in seinem Ergebnis zu einer durchgreifenden Veränderung der menschlichen Gesellschaft führte, nicht aber eine Revolution im Sinne einer plötzlichen und gewaltsamen Umgestaltung darstellte. Eine Untersuchung der Problematik auf der Grundlage der jüngsten archäologischen Entdeckungen s. bei B. M. MaccoH,
Einige Erwägungen zur Staatsentstehung in Mesopotamien
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sich dabei um den Übergang von der Aneignung fertiger Naturprodukte durch Sammeln, Jagen und Fischfang zur eigentlichen Nahrungsproduktion durch Ackerbau und Viehzucht. Dieser Prozeß hat sich in Vorderasien bereits sehr früh vollzogen und ist auf Grund eines ständig anwachsenden archäologischen Materials etwa seit dem 9. Jahrtausend zu verfolgen. 1 Was Mesopotamien betrifft, so entstanden die frühesten Ackerbauersiedlungen in seinem östlichen Randgebiet, in den Gebirgen und deren Vorland, wo ein ausreichendes jährliches Niederschlagsmittel Regenfeldbau gestattete. Dem Übergang zur landwirtschaftlichen Produktion kamen in Vorderasien auch insofern günstige Umweltbedingungen entgegen, als hier eine Kombination von domestizierbaren Tieren und kultivierbaren Pflanzen vorhanden war; die natürliche Selektion wurde offenbar durch eine bewußte Selektion seitens der Menschen gefördert. 2 Die Entdeckung von Getreideresten in Sanidar im nördlichen Iraq, die nach C14Untersuchungen wohl dem 9. Jahrtausend zugehören, weist auf die Nutzung von Wildgetreide. 3 In. Karim Sahir fanden sich in einer Freilandsiedlung Mahlsteine, sichelartige Steinklingen, Beile und andere Feuersteinartefakte. 4 Hausgrundrisse fehlen noch; wahrscheinlich kann ohnehin noch nicht mit einer ständigen Seßhaftigkeit gerechnet werden. Siedlungsplätze wie Garmo östlich von Kerkük, dann auch Hassüna südlich von Mösul zeigen dagegen bereits Grundrisse von Lehmhäusern mit mehreren Räumen, und die Dicke der Siedlungsschichten und ihre große Zahl könnten darauf deuten, daß diese Plätze längere Zeit hindurch immer wieder oder sogar ständig bewohnt wurden. 5 Angebaut wurden Emmer und zweizeilige Gerste, und die Funde von Knochen verschiedener Tiere — darunter von Schafen, Ziegen und Schweinen — verweisen auf Viehzucht. I n Hassüna, das im Gegensatz zu Garmo bereits eine bemalte Keramik kannte, wurde das geerntete Getreide in gerillten Tonplatten ausgehülst, in Zisternen gelagert, mit Basaltsteinen zerrieben und dann verbacken. I n hölzerne Sicheln wurden Mikrolithen eingesetzt, und vielleicht existierte bereits eine Vorform des Pfluges, wie die Ausgräber aus schaufeiförmig gearbeiteten Feuersteinen schließen möchten. In Teil es-Sawwan bei Sämarrä (6. Jahrtausend) wurden nicht nur die Überreste von Weizen, sondern
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Bonpocbi HCTopHH 6 (1970), 73 ff. — Einige Fragen der prähistorischen Entwicklung Vorderasiens konnte ich mit Dr. S. Fröhlich diskutieren, dem dafür an dieser Stelle gedankt sei. Vgl. vor allem R. M. Adams, The Evolution of Urban Society. Chicago 1965, sowie J. Mellaart, The Earliest Settlements in Western Asia, from the 9th to the End of the 5th Millenium B. C. Cambridge 1967; s. ferner den Überblick bei A. Falkenstein, Fischer Weltgeschichte 2 (1965), 22 ff. sowie B. Brentjes, Von Schanidar bis Akkad. Leipzig-JenaBerlin 1968. Zu den Kulturpflanzen s. jetzt T. H. JlHCimwHa, CoBeTCKan apxeojioriw 3/1970, 53ff. Zu Sanidar s. R. S. Solecki, Sumer 8 (1952), 127ff.; ders., Sumer 9 (1953), 60ff.; ders., Sumer 14 (1958), 104ff.; ferner Sumer 17 (1961), 124f. R. J. Braidwood, Sumer 7(1951), 99ff.; R. J. Braidwood-B. Howe, Prehistoric Investigations in Iraqi Kurdistan. Chicago 1960. Vgl. S. Llo3'd - F. Safar, Journal of Near Eastern Studies 4 (1945), 255ff.
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auch von Rindern entdeckt, und hier, im Flußtal des mittleren Tigris, scheint es sogar schon Ansätze einer primitiven künstlichen Bewässerung gegeben zu haben.1 In dieser Zeit, die auch an einer Reihe weiterer Plätze dokumentiert ist, tauchen die ersten Stempelsiegel auf, die zur Kennzeichnung von Gruppen- oder persönlichem Eigentum dienten.2 Diese frühe Entwicklungsstufe der mesopotamischen Gesellschaft, die hier nur knapp hinsichtlich eines Wachstums der Produktivkräfte sowie des Übergangs von der schweifenden zur ortsgebundenen Lebensweise skizziert worden ist, beruhte im wesentlichen auf einer kombinierten Ackerbau-Viehzuchtwirtschaft. Die Viehzucht bildete eine notwendige Ergänzung zum Ackerbau, der wegen des möglicherweise ausbleibenden Regens allerdings noch keine zuverlässige ökonomische Basis zu bilden vermochte. Im Viehzüchternomadentum wurde dieser Wirtschaftszweig die eigentliche Grundlage, doch ist die erste gesellschaftliche Arbeitsteilung, die zwischen Ackerbau und Viehzucht, offenbar nicht sofort und mit der Konsequenz vollzogen worden, daß sich ein reines Hirtennomadentum ausgesondert hätte. Es handelte sich vielmehr um das Dominieren der Viehzucht bei Fortbestehen eines wenigstens periodischen Bodenbaus. Das vollnomadische Beduinentum ist erst das Ergebnis eines langen Entwicklungsprozesses, nicht sein Ausgangspunkt. Durch die mit dem Weidewechsel verbundene Viehzucht vermochten der Produktion Bereiche erschlossen zu werden, die dem Ackerbau unzugänglich waren. Die Weidegebiete wurden in die Erzeugung des Mehrprodukts einbezogen, zugleich aber gewiß neue Bereiche entdeckt, in denen Ackerbau getrieben werden konnte. Die Viehzucht bot zudem die erste Möglichkeit einer Schatz- und Eigentumsbildung, der Entstehung eines individuellen Eigentums an Herdentieren bei Gemeineigentum an Weide und Wasser. Ohne den Kontakt mit dem seßhaften Bodenbau zu verlieren, durchlief das Viehzüchtertum in der Folgezeit eine langsamere Entwicklung als die seßhafte Landwirtschaft der Dorfgemeinden. Die begrenzten Möglichkeiten zu einer erweiterten Reproduktion und die durch das Nomadenleben im Steppengebiet oder Buschland festere gentile Struktur verhinderten trotz einer sozialen Differenzierung den Übergang zum Staat. Dieser erfolgte nicht allein später als bei den Seßhaften, sondern auch nur in enger Verbindung mit ihnen. Für die Frage nach der Entstehung des Staates im frühen Mesopotamien ist der Viehzüchternomadismus daher von untergeordneter Bedeutung.3 Die Weiterentwicklung der kombinierten Ackerbau-Viehzuchtwirtschaft in Mesopotamien über das von Garmo und Hassüna repräsentierte erste Stadium 1 F. El Wailly, Sumer 19 (1963), lff.; F. El Wailly - B. Abu es-Soof, Sumer 21 (1965), 17ff.; G. Wahida, Sumer 23 (1967), 167ff.; B. Abu al-Soof, Sumer 24 (1968), 3ff. 2 Vgl. B. Abu al-Soof, Sumer 24 (1968), 14, Taf. X I V 3, ferner E . Porada, in: R. W. Ehrich, Chronologies in Old World Archaeology. Chicago 1966, 140ff. 3 Zur Entstehung des Nomaden-und Beduinentums in Vorderasien vgl. zuletzt (mit Lit.) J . Henninger, Über Lebensraum und Lebensform der Frühsemiten. Köln-Opladen 1968, sowie H. Klengel, Zwischen Zelt und Palast. Die Begegnung von Seßhaften und Nomaden im alten Vorderasien. Leipzig 1972.
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hinaus läßt sich anhand einer ganzen Reihe von Fundplätzen verfolgen. Sie werden gewöhnlich der Kultur von Sämarrä am mittleren Tigris oder von Teil Halaf im Zuflußgebiet des Habür zugewiesen. 1 Angebaut wurden vor allem Weizen, Gerste und Flachs, gehalten wurden Schafe, Ziegen und auch die anspruchsvolleren Rinder. Die Ackerbauern erschlossen sich zu dieser Zeit immer weitere Räume Mesopotamiens. Dabei wurden allmählich auch jene Gebiete mit einbezogen, deren agrarische Nutzung die Fähigkeit des Menschen voraussetzte, das Land durch Anlegung von Kanälen zu ent- und bewässern. Insbesondere wurden nunmehr die unterhalb der 200-Millimeter-Isohyete gelegenen Sumpfgebiete und Trockenböden des südlichen Mesopotamien der Landwirtschaft erschlossen. I n den Regenfeldbaugebieten war das Mehrprodukt noch begrenzt und von einer ganzen Reihe natürlicher Faktoren abhängig, vor allem von Schwankungen in der Intensität und im Rhythmus der Niederschläge. Das Problem des Überlebens wurde hier gegebenenfalls durch einen Ortswechsel oder den Wechsel des dominierenden Wirtschaftszweiges gelöst. Diese Ausweichmöglichkeit dürfte sich negativ auf das Wachstumstempo der Produktivkräfte ausgewirkt haben. Die Verlagerung des Zentrums der historischen Progression aus den Regenfeldbaugebieten in den Irrigationsbereich, wie sie sich im archäologischen Befund ab etwa 5000 abzeichnet 2 , führte dagegen zu einer starken Beschleunigung sowohl der ökonomischen als auch gesellschaftlichen Entwicklung. Die Ausgrabungen an nordmesopotamischen Ruinenplätzen wie Teil Halaf, Teil Arpatslje sowie vor allem Tepe Gawra 3 haben erkennen lassen, daß sich hier der sozialökonomische Fortschritt zwar in gleicher Richtung vollzog,, jedoch etwas langsamer als im Irrigationsbereich. Im Zusammenhang mit dem Bewässerungsbodenbau führten Intensität, Kollektivität und Kontinuität der Arbeit zu einem wesentlich höheren Mehrprodukt. Die dabei geforderte Kommandogewalt, die diese Arbeiten leitete und koordinierte, wurde anfangs noch von den Institutionen der einzelnen Gemeinwesen ausgeübt. 4 Die Weiterentwicklung der Produktivkräfte dürfte in erster Linie im Fortschritt der Erfahrungen des Menschen sowie der Irrigationstechnik zu suchen sein. Forschungen in dem erst später als das südliche Mesopotamien in die Bewässerungslandwirtschaft einbezogenen Dijäla-Gebiet östlich von Baghdäd haben gezeigt, 1
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Vgl. vor allem E. Herzfeld, Die Ausgrabungen von Samarra V. Berlin 1930; H. Schmidt, Teil Halaf I. Berlin 1943. Vgl. jetzt dazu die Ubersichten bei R. M. Adams, The Evolution of Urban Society. Chicago 1965, sowie M. E. L. Mallowan, The Development of Cities from al-'Ubaid to the End of Uruk 5. Cambridge 1967. Zur Bedeutung der Irrigation für die Steigerung der Erträge — die Gerste mutierte zu 6zeiliger Form — s. H. Helbaek, Iraq 22 (1960), 186ff. M. E. L. Mallowan — J. G. Rose, Iraq 2 (1935), i ff. (Arpatsije); E. A. Speiser, Excavations at Tepe Gawra I. Philadelphia 1935; A. J. Tobler, Excavations at Tepe Gawra II. Philadelphia-London 1935. Damit soll betont werden, daß die Notwendigkeit einer Kooperation in der Bewässerungswirtschaft nicht a priori eine Staatsgewalt erforderte. Die Äußerung von Marx in seiner Arbeit über die britische Herrschaft in Indien: „Die unbedingte Notwendigkeit einer
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daß man hier zunächst weitgehend natürliche Wasserläufe nützte, dann aber immer länger werdende Kanäle abzweigte. 1 Zudem kann angenommen werden, •daß der Pflug, der durch Piktogramme erst für das Ende des 4. Jahrtausends sicher nachgewiesen ist, ein wesentlich höheres Alter hat. 2 Diese Bedingungen begünstigten die Entstehung der Klassengesellschaft und des Staates. Sie waren •die Ursache dafür, daß der Staat zuerst im Bewässerungsfeldbaugebiet und erst später in den übrigen Bereichen Mesopotamiens entstand,. Wir können uns daher im folgenden auf dieses Gebiet konzentrieren.3 Die Erschließung des südlichen Mesopotamien für den seßhaften Ackerbau wird archäologisch vor allem in den Kulturen von Eridu und el-Obed faßbar, •die an einer Reihe von Plätzen durch lange Schichtenfolgen eine dauerhafte Besiedlung erkennen lassen.4 Voraussetzung war einerseits ein höheres Maß, an Naturbeherrschung, zum anderen aber wohl eine steigende Bevölkerungszahl, die die zwar effektive, jedoch arbeitsaufwendige Kultivierung der Sumpf- oder 'Trockenböden Südmesopotamiens notwendig machte. Es entstanden lokale Bewässerungssysteme, die sich an Wasserläufen aufreihten und jeweils mehrere Ansiedlungen (Dorfgemeinden?) einbezogen. 5 Zentren solcher Irrigationssysterüe0 waren städtische Siedlungen, wie sie teils durch Ausgrabungen untersucht, teils durch siedlungsgeographische Erkundungen festgestellt worden .sind.7 Das Anwachsen sowohl der Zahl als auch der Größe dieser Städte im sparsamen und gemeinschaftlichen Verwendung des Wassers, die im Okzident, z. B. in Flandern und Italien, zu freiwilligem Zusammenschluß privater Unternehmungen führte, machte im Orient, wo die Zivilisation zu niedrig und die territoriale Ausdehnung zu groß war, um freiwillige Verbände ins Leben zu rufen, das Eingreifen einer zentralisierenden Staatsgewalt erforderlich" (Marx-Engels, Werke B e o « a j i b H o r o r o c y a a p c T B a ( = russ. Übersetzung des vorhergehenden Werkes). M o C K B a 1958; Lü Zhenyu, Jianming Zhongguo tongshi (Kurzgefaßte chinesische Geschichte). Peking 1955; Wang Yuzhe, Zhongguo shanggu shigang (Historischer Abriß des chinesischen Altertums). Shanghai 1959. Vgl.
K). H . CeMeHeB,
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Kirrae. In: Hapoflbi A 3 H H H ApnKn 1/1966,151f. Vgl. R. Felber, Neue sowjetische Arbeiten zur Geschichte des älteren China. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 15 (1967), H. 5, 875—882; weiterhin den sehr kritischen Artikel von CeMeHeB, a. a. O., 151—161.
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Zum Problem der Staatsentstehung in China
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Konzentration auf den Streit um die Periodisierung zu nennen. 1 Die sowjetischen Spezialisten der altchinesischen Geschichte, insbesondere M. V. Krjukov, haben sich demgegenüber spezielleren Fragen, besonders solchen der Sozialstruktur, zugewandt in der richtigen Erkenntnis, daß man vor der Behandlung solch allgemeiner Fragen wie der Periodisierung noch viele konkrete Probleme untersuchen und lösen müsse. 2 Daher ist es auch verständlich, daß sie sich mit einem solch umfassenden Problem wie dem der Staatsentstehung noch nicht in einer umfangreicheren speziellen Untersuchung auseinandergesetzt haben. Eine solche wird zunächst durch die Quellenlage erschwert. Die Quellen, auf die wir uns bei unseren Überlegungen zur Staatsentstehung in China stützen, kann man in 3 Gruppen teilen, von denen jede auf ihre Weise problematisch ist. Als erste seien die archäologischen Quellen genannt. 3 Die Grabungen, die nach der Gründung der Volksrepublik China, d. h. nach 1949, in allen Teilen des Landes durchgeführt wurden und über die wir bis zum Zeitpunkt des Beginns der sogenannten „Kulturrevolution" wenn auch nicht vollkommen, so doch relativ gut informiert sind, haben das Bild der chinesischen Vor- und Frühgeschichte, das uns die Grabungen aus der Zeit vor 1949 vermittelt hatten, ganz erheblich vervollkommnet und zum Teil auch korrigiert. Bei den Ergebnissen dieser neueren Grabungen ist aber zu berücksichtigen, daß fast nur an solchen Stellen gearbeitet wurde, wo irgendwelche Bauten oder Anlagen errichtet werden sollten und wo daher zuvor die Bodendenkmäler geborgen werden mußten. Nach wissenschaftlichen Gesichtspunkten vorgenommene Grabungen hat es nur an ganz wenigen Stellen, z. B. im Gebiet der alten Hauptstädte Chang'an und Luoyang, gegeben. Zudem weiß man, daß der Boden Chinas noch allenthalben voll von Resten der Vorzeit ist, die nur gehoben zu werden brauchten. Die überlieferte Literatur enthält viele Hinweise auf Stellen, an denen sich Grabungen zweifellos lohnen würden. Daher ist das Bild, das uns die Archäologie bietet, sowohl zufällig als auch vorläufig. Der Wert unserer Schlußfolgerungen wird also entsprechend begrenzt sein. Hinzu kommt noch, daß keine absoluten Datierungen vorliegen und wir nur mit relativen Daten arbeiten können. 4 1
Vgl. Zhongguo gudaishi fenqi wenti taolunji (Sammelband zur Diskussion über die Periodisierung der alten Geschichte Chinas, hrsg. von der Redaktion der Zeitschrift Lishi yanjiu). Peking 1957; Jiang Quan, Zur Frage der Periodisierung der Sklaverei und des Feudalismus in der Geschichte Chinas. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 7 (1959), Sonderheft „Neue chinesische Geschichtswissenschaft"; M.B.KpiOKOB, OopMH coijiiajii>HOÜ opraHH3aijHH « P E B H H X KuTaßijeB. MocKBa 1967, 17f.; R. Felber, Bemerkungen zur Erforschung des Systemcharakters der ersten Klassengesellschaft in China. Ethnographisch-archäologische Zeitschrift 10 (1969), 468f.
2
V g l . KPIOKOB, a . a . O . ,
3
Vgl. Xin Zhongguo de kaogu shouhuo (Ergebnisse der Archäologie im Neuen China). Hrsg. vom Archäologischen Institut der Academia Sinica. Peking 1962. Vgl. Chang Kwang-chih, Relative Chronologies of China to the End of Chou. In: Chronologies in Old World Archaeology, edited by Robert W. Ehrich. Chicago and London 1965, 503-526.
4
18.
60
THOMAS THILO
Die zweite Quellengruppe sind die Inschriften. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts hat man in dem Dorf Xiaotun bei Anyang in der Provinz Henan Knochen und Schildkrötenpanzer mit eingeritzten Inschriften gefunden. Nach eingehendem Studium stellte sich heraus, daß es sich um Knochen handelt, die in der zweiten Hälfte des zweiten Jahrtausends v. u. Z. zu Orakelzwecken verwendet worden waren. Aus den Rissen, die sich in den über Feuer gehaltenen Knochen bildeten, las man die Antworten auf Fragen, die dem Orakel gestellt wurden, ab. Oft wurden sowohl Fragen als auch Antworten auf dem Knochen vermerkt. Bei der Benutzung dieser ungemein wertvollen Quellen, die die frühesten erhaltenen Zeugnisse chinesischen Schrifttums überhaupt darstellen, muß man einerseits berücksichtigen, daß die philologische Interpretation dieser in einer sehr frühen Schriftform abgefaßten Texte noch sehr unsicher und in vielen Fällen unmöglich ist. Andererseits sollte man nicht vergessen, daß es sich um sakrale Texte handelt, die zweifellos die Realität nicht objektiv widerspiegeln. Die tradierte Literatur des chinesischen Altertums bildet die dritte Quellengruppe. Sie ist von der chinesischen Philologie immer wieder bearbeitet und kommentiert worden. Hier liegen besondere Schwierigkeiten darin, daß man Texte über die Vor- oder Frühzeit nur mit größter Vorsicht und kritischem Sinn benutzen darf, da vieles mythologischen Charakters ist, durch die lange Überlieferung entstellt wurde, im Sinne späterer Realitäten und Denkgewohnheiten umgedeutet wurde und zudem sehr schwer zu datieren ist. Insgesamt muß man feststellen, daß gerade die Fragen, die für die Untersuchung der Staatsentstehung von erstrangiger Bedeutung sind, wie die Entwicklung der Sozialstruktur, der Eigentumsverhältnisse, der Ausbeutungsverhältnisse, der frühesten Formen der Staatsgewalt usw., mit den für die frühesten Perioden der chinesischen Geschichte vorliegenden Quellen nur sehr unzureichend beantwortet werden können und daß die Quellen oft verschiedene Interpretationsmöglichkeiten bieten. 1
2.
Die früheste Periode der chinesischen Geschichte, in der wir eine Klassengesellschaft mit etabliertem Staat zu erkennen glauben, ist die Shang-Zeit. Diese Ansicht wird von den meisten Sinologen geteilt. Allerdings gibt es auch abweichende Auffassungen. 2 Zum Beispiel hatte Guo Moruo in der ersten Ausgabe seiner „Forschungen zur Gesellschaft des chirfesischen Altertums" 3 noch die Shang-Zeit als Ende der Urgesellschaft angesehen und den Beginn 1
Vgl. CeMeHeB, a. a. O. (s. S. 58 Anm. 3), 151. 2 Vgl. Felber, a.a. 0. (s. S. 59 Anm. 1), 468f.und474f.; KpiOKOB, a.a. O. (s. S. 59 Anm. 1),18. 3 Guo Moruo, Zhongguo gudai shehui yanjiu („Forschungen zur Gesellschaft des chinesischen Altertums"). Neuauflage Peking 1960.
Zum Problem der Staatsentstehung in China
61
einer „Sklavenhaltergesellschaft" in die West-Zhou-Zeit gesetzt, diese Ansicht später aber widerrufen und auch die Shang-Zeit zur „Sklavenhaltergesellschaft" erklärt, i Hou Wailu 2 hält zwar die Gesellschaft der Shang-Zeit für eine frühe Sklavenhaltergesellschaft 3 , aber ohne Staat 4 ; der Staat ist nach ihm erst mit der Errichtung des „fengjian"-Systems (Verteilung von Territorialherrschaften in der West-Zhou-Zeit) entstanden. 5 Auch in der Sowjetunion wird von einzelnen Wissenschaftlern die Ansicht vertreten, die Gesellschaft der Shang-Zeit sei noch keine Klassengesellschaft gewesen und habe noch keinen Staat gekannt. 6 Diese Divergenzen der Auffassungen zwingen uns, zunächst auf die Verhältnisse der Shang-Zeit einzugehen, um dann auf Grund dieser die Probleme der Staatsentstehung zu betrachten. 7 Es steht außer Zweifel, daß sich der Staat in China zuerst in dem „Kerngebiet" der chinesischen Kultur, dem Gebiet am Mittel- und Unterlauf des Huanghe und dem Mündungsgebiet seiner Nebenflüsse, d. h. etwa dem Süden der heutigen Provinzen Shenxi und Shanxi und den Provinzen Henan und Shandong, herausgebildet hat. In den folgenden Ausführungen wollen wir uns auf dieses Gebiet beschränken. Die allmähliche Ausstrahlung der Entwicklung auf die anderen Gebiete Chinas können wir hier nicht verfolgen. Der Beginn der Shang- oder auch Yin-Zeit ist nach den tradierten Quellen in der Zeit vor 1514 v. u. Z., möglicherweise noch vor 1722 v. u. Z., zu suchen. 8 Aus ihrer ersten Periode stehen uns außer dem tradierten Quellenmaterial archäologische Quellen ohne Inschriften zur Verfügung; solche sind uns erst aus dem letzten Abschnitt dieser „Dynastie", als die Residenz bei Anyang lag, bekannt. Der Beginn dieser letzten Periode wird von den tradierten Quellen unterschiedlich in die Zeit zwischen 1397 und 1291 v. u. Z. gelegt, ihr Ende soll zwischen 1122 und 1018 v. u. Z. liegen. 9 1
2
3 6
Vgl. u. a. Guo Moruo, Shi pipanshu („Zehn kritische Schriften"). Peking 1956, 1—70; ders., Nulizhi shidai („Die Zeit der Sklaverei"). Peking 1956, 4—12. Hou Wailu, Zhongguo gudai shehui shilun („Über die Geschichte der Gesellschaft des chinesischen Altertums"). Peking 1956. 5 Ebenda, 119. Ebenda, 5 1 - 5 9 . '« Ebenda, 116. V g l . CeiweHeB, a. a. O. (s. S . 5 8 A n m . 3 ) ; J I . C. BacHJibeB, A r p a p i i b i e 0TH0meHHH H oßmHHa B apeBHeM KiiTae. MocKBa 1 9 6 1 ; ders., CoijiiajibHaH C T p y r a y p a h HiinaMHKa
npeBHeKH-
TaiicKoro oßmecTBa. I n : IIpoßneMH HCTopmi jjoKamiTaJiHCTHHecKHX oßmecTB. K m i r a
1.
MocKBa 1 9 6 8 , 4 5 5 - 5 1 5 .
Die folgenden Bemerkungen zur Shang-Zeit stützen sich im wesentlichen auf Chang Kwang-chih, The Archaeology of Ancient China. New Häven and London 1963; Chen Mengjia, Yinxu buci zongshu („Zusammenfassende Darstellung der Orakelinschriften von den Yin-Ruinen"). Peking 1956; Cheng Te-k'un, Archaeology in China. Vol. I I : Shang China. Cambridge 1960; Xin Zhongguo de kaogu shouhuo (s. S. 59 Anm. 3); diese Arbeiten enthalten auch die Angaben der Ausgrabungsberichte und Inschriftsammlungen. 8 Chang Kwang-chih, Relative Chronologies . . . (s. S. 59 Anm. 4), 506. o Ebenda, 506. 7
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THOMAS THILO
Die Existenzgrundlage der Gesellschaft jener Zeit bildete die Landwirtschaft. Verschiedene Hirsearten, Gerste, Weizen und Sorghum waren Hauptnahrungsmittel. Die Felder wurden mit steinernen Spaten oder Hacken und hölzernen Grabgabeln bearbeitet, auch Knochen- und Muschelgeräte wurden verwendet. Zur Ernte benutzte man Sicheln aus Stein oder Muscheln. Aus den Orakelinschriften geht hervor, daß die landwirtschaftlichen Arbeiten in hohem Grade vom Eintreffen oder Ausbleiben des natürlichen Niederschlags abhängig waren und häufig durch Überschwemmungen gefährdet wurden. Arbeiten zum Schutz vor Hochwasser wurden zweifellos durchgeführt; Maßnahmen zur künstlichen Bewässerung lassen sich für die Shang-Zeit aber noch nicht nachweisen. 1 Das Handwerk erreichte bereits einen hohen Entwicklungsstand. Hier ist zunächst die Herstellung von Bronzewaffen und -geräten, vor allem der kunstvoll gestalteten Ritualgefäße, zu nennen. Die Bronzewerkstätten lagen außerhalb der Städte konzentriert an bestimmten Stellen. Die Zahl der von diesen eingenommenen Häuser, die zahlreich gefundenen Schmelzgefäße und Gußformen und vor allem die kunstvoll gearbeiteten Produkte selber beweisen die große Bedeutung und das hohe Entwicklungsniveau dieses Produktionszweiges. Ähnlich den Bronzewerkstätten gab es auch Werkstätten für Knochengeräte und Keramik. Diese Handwerkszweige der Shang-Zeit zeigen, daß die gesellschaftliche Arbeitsteilung weit fortgeschritten war. Innerhalb der Produktionszweige lassen sich eine Aufteilung in bestimmte Arbeitsgänge und differenzierte Organisationsformen erkennen. Zahlreiche Produkte, vor allem Haarnadeln aus Knochen und bestimmte Gefäßtypen, wurden serienmäßig in großen Mengen hergestellt. Außer den genannten Hauptzweigen des Handwerks gab es noch die Bearbeitung von Gold und Jade, die Steinschnitzerei und die Herstellung von Schmuck aus Muscheln. Diese Werkstätten konzentrierten sich vornehmlich in der Umgebung der Hauptstädte, von denen eine, „Shang" genannt, bei Anyang mit Sicherheit identifiziert werden konnte. Eine andere, vermutlich mit der aus der Tradition bekannten Hauptstadt Ao aus der Vor-Anyang-Periode identisch, befand sich nahe der heutigen Stadt Zhengzhou in der Provinz Henan. Beide Städte geben durch ihre Anlage, die Größe der Häuser, deren Bauweise, die bei den Häusern befindlichen Opfergruben etc. einen Hinweis auf die Arbeitsorganisation und damit auf gewisse soziale Voraussetzungen, die zur Fertigstellung dieser Anlagen vorhanden gewesen sein müssen. Sie lassen darauf schließen, daß hier der Sitz der Herrscher war. Von den Gräbern der Shang-Leute wurden weit über 2000 an verschiedenen Orten ausgegraben. Die Ausstattung mit Beigaben ist unterschiedlich. Gewöhnlich wurden verschiedene keramische Gefäße beigegeben; in größeren Gräbern findet man auch Bronzewaffen. Die kleinsten Gräber blieben oft ohne 1
Vgl. M. B. KpKKOB, HHLCK8LH IIHBHJMSAQHH MHpoBoü KyjitTypti 1960, Nr. 4, 41—56.
H
ßacceiiH peKH XyaHxs. BecTHHK
HCTOPHH
Zum Problem der Staatsentstehung in China
63
Beigaben. Nur bei Anyang wurde eine Gruppe von besonders großen und reich ausgestatteten Gräbern gefunden, die von den chinesischen Archäologen als die Gräber der Shang-Könige angesehen werden. Außer den besonders großen Ausmaßen und der reichhaltigen Ausstattung — in einem Grab in Hougang bei Anyang wurden 1878 verschiedene, z. T. besonders wertvolle Gegenstände gefunden — fällt bei diesen Gräbern die große Zahl von geopferten Menschen auf, die dem Bestatteten mit ins Grab gelegt wurden. Sie beläuft sich in einzelnen Fällen bis weit über 100. Kennzeichnend sind auch die Tausende von Opfergruben, in denen Menschenopfer, Gefäße und Geräte ohne bestimmte Anordnung, ganze Streitwagen mit Pferden usw. enthalten waren. Solche Gruben liegen nicht nur in der Nähe des Friedhofs der Herrscher, sondern auch in der Umgebung der Häuser, die ihnen als Wohnsitz dienten > Diese Gruben standen zweifellos mit dem zur Shang-Zeit hochentwickelten Ahnenkult in Verbindung, der in zyklischer Folge Opfer an die vergötterten Vorfahren erforderte. Aber auch dem obersten Himmelsherrn Shangdi und den unter ihm stehenden verschiedenen Gottheiten des Himmels und der Erde opferte man häufig. Über einige Details dieser Opfer sind wir durch die Orakelinschriften recht gut informiert. Das Orakel wurde bei allen Handlungen des Herrschers, die irgendwie von größerer Bedeutung waren, befragt, so vor Opfern, Kriegszügen, Jagden, Tributlieferungen, dem Beginn der Feldbestellung u. a. m. Für die Opfer gab es einen speziellen Kalender, der sich von dem für die Landwirtschaft benutzten unterschied. Schriftliche Zeugnisse der Shang-Zeit sind uns nur in Verbindung mit den Opfern bekannt. Inwieweit die Schrift auch f ü r andere Zwecke benutzt wurde, wissen wir nicht. Hier sei angemerkt, daß die Schrift bereits eine relativ hohe Entwicklungsstufe erreicht hatte; von ihrer vorausgegangenen Entwicklung kennen wir aber bisher nichts. Es steht außer Zweifel, daß die Gesellschaft der Shang-Zeit, so wie wir sie aus den Funden von Anyang, insbesondere den krassen Unterschieden in der Grabausstattung, erkennen können, bereits in Klassen gespalten war. An der Spitze des Systems stand der „König" oder „Anführer", chinesisch „Wang". Sein Sitz war in der Spätperiode der Shang bei Anyang. I h m als Oberhaupt unterstand das Territorium des Reiches, dessen Ausmaße man heute nicht genau umreißen kann, das aber zumindest den größten Teil des Gebietes östlich des Taihangshan-Gebirges umfaßt haben dürfte. Unter ihm standen als nächste die sogenannten „Fürsten", offenbar Herrscher über Teile des Territoriums. Diese Gruppe von Machthabern hatte, soweit aus den unterschiedlichen Bezeichnungen ihrer einzelnen Vertreter hervorgeht, offenbar keinen einheitlichen Status. Es handelte sich dabei anscheinend zum größten Teil um Häupter von unterworfenen Sippen oder Stämmen, die dem ShangHerrscher botmäßig gemacht worden waren. Sie unterstanden dem Befehl des Wang, mußten ihm bei Hofe ihre Aufwartung machen und hatten seine Aufträge, insbesondere die Aufforderung, bestimmte Kriegszüge zu unternehmen, auszuführen. Häufig bekriegten sie sich gegenseitig, und häufig unternahm
•64
THOMAS THILO
der W a n g gegen einzelne „ F ü r s t e n "
Strafexpeditionen.
Wang
Schildkrötenpanzer
landwirtschaftliche
Produkte,
Sie hatten an den für
Orakelzwecke,
R i n d e r , P f e r d e und andere T i e r e als T r i b u t zu liefern. Diese Tributlieferungen bildeten wahrscheinlich (neben den landwirtschaftlichen Erträgen des Gebietes in der U m g e b u n g der Residenz) die Haupteinnahmequelle des Herrscherhauses und damit d i e F o r m , in der das Mehrprodukt -der unterworfenen Bevölkerung abgeschöpft wurde. Daneben gab es bereits einen Handel, der aber offenbar nur darauf gerichtet war, das Herrscherhaus oder andere Vertreter der herrschenden Klasse mit speziellen Gütern zu versorgen. Meist w i r d es sich um solche D i n g e gehandelt haben, die i m Machtbereich der Shang nicht oder nicht in ausreichender Menge zu haben waren, wie z.B.
die v o r allem an der südchinesischen K ü s t e v o r -
kommenden Schildkröten und die als Zahlungsmittel benutzten Kaurimuscheln. W i r dürfen annehmen, daß der H a n d e l im Dienste der herrschenden Klasse die wichtigste F o r m des K o n t a k t e s mit d e n ethnischen Gruppen war, die außerhalb des Machtbereiches der Shang lebten. I m Dienst des W a n g und auch der sogenannten „ F ü r s t e n " stand eine Gruppe v o n Personen, die v o n den chinesischen Gelehrten als „ B e a m t e "
bezeichnet
werden. Es sind zahlreiche Bezeichnungen dieser L e u t e bekannt, aber leider wissen wir kaum etwas Genaues über ihren Status. Sie tragen häufig Sippennamen. Zu ihnen sind u. a. die Orakelpriester und wahrscheinlich auch alle anderen Personen, die in direkter Abhängigkeit Dienste ausübten, zu rechnen.
vom
jeweiligen
Herrscher
Wahrscheinlich muß man auch die Aufseher
über das H o f h a n d w e r k hierzu zählen. Ebensowenig läßt sich mit Sicherheit ausmachen, welchen Status die große Masse der in der Landwirtschaft
Arbeitenden
hatte.
Sie wurden
„Leute"
(ren), „ d i e V i e l e n " (zhong) oder „ d i e vielen L e u t e " (zhongren) genannt. V o n einigen chinesischen Historikern wurde (vor allem seit 1949) die Behauptung vertreten, daß es sich hier um Sklaven handelte. Diese Behauptung, die wohl mehr der Absicht entsprang, in der chinesischen Geschichte die gleiche A b f o l g e der Gesellschaftsformationen zu finden w i e in Europa, als einer sachgemäßen Interpretation des Materials, ist bis heute nicht bewiesen. 1 Aus den Orakelinschriften geht jedenfalls nicht hervor, daß diese
Leute
S k l a v e n waren. B e i dem zweifellos noch v o l l intakten Gemeineigentum
am
Grund und Boden der dörflichen K o m m u n e n ist die A r b e i t v o n Sklaven in der Landwirtschaft kaum in größerem U m f a n g denkbar; i m H o f h a n d w e r k arbeitende
Sklaven und Haussklaverei
hat es aber gegeben. D i e
„Leute",
die
„ V i e l e n " oder „ d i e vielen L e u t e " der Quellen dürften vielmehr in D o r f k o m munen lebende Bauern gewesen sein,
die ihren in
Gemeinschaftseigentum
befindlichen B o d e n gemeinsam bebauten 2 und denen v o n ihrem jeweiligen
1
Vgl. T. Pokora, Existierte in China eine Sklavenhaltergesellschaft? Archiv Orientalin 31 (1963), 353-363.
2
Vgl. Baciwibeß, ArpapHtie 0TH0meHHH . . . (s. S. 61 Anm. 6), 58f.
Zum Problem der Staatsentstehung in China
65
Obersten die verschiedensten Pflichten, u. a. Abgabenleistung und Kriegsdienst, auferlegt wurden. Das Verwandtschaftssystem der Shang basierte vermutlich auf der sogenannten zongzu-Organisation1, einem Kollektiv verwandter Familien, das eine territoriale und kultische Einheit bildete, aber soziale Differenzierungen aufwies und hierarchisch aufgebaut war. Die zongzu-Organisation war offenbar die unterste gesellschaftliche Einheit und bildete möglicherweise auch die Organisationsform der dörflichen Kommunen. Vielleicht dürfen wir in dieser Organisation eine Weiterentwicklung der urgesellschaftlichen Sippenorganisation unter den Bedingungen bereits existierender Klassengegensätze sehen. Im Rahmen einer solchen Organisation dürften Abgabenleistungen und Dienstpflicht den Beteiligten noch keineswegs als Formen der Ausbeutung erschienen sein. Die Abstammung wurde in väterlicher Linie gerechnet, daneben scheinen sich aber noch starke Reste matriarchalischer Formen erhalten zu haben. So wurden z. B. den weiblichen Ahnen und Vorfahren des jeweiligen Herrschers große Opfer dargebracht, aus denen man auf die Position dieser Frauen schließen kann. Die Thronfolge war so geregelt, daß nach dem Tode des Herrschers zunächst nacheinander seine jüngeren Brüder an die Reihe' kamen und dann erst der älteste Sohn eines dieser Brüder, auf den dann wieder dessen jüngere Brüder folgten. Nur die letzten vier Könige traten in direkter Folge Vaterältester Sohn die Macht an. Sehr große Bedeutung hatte im Leben der Shang-Leute der Krieg. Vom Wang oder in seinem Auftrag von den sogenannten „Fürsten" sind zahllose Kriegszüge durchgeführt worden. Dabei sollten wohl zunächst neue Territorien, natürlich mit den darauf lebenden Menschen, erobert werden. Aus den Orakelinschriften geht hervor, daß manche Gebiete, gegen die zuerst als Feindesland Kriegszüge unternommen wurden, später zum Shang-Gebiet gehörten. Das Territorium des Shang-Staates hat auf diese Weise eine große Ausdehnung erfahren. Die Häupter der eroberten Stämme wurden als Unterworfene des Shang-Herrschers in ihren ursprünglichen Positionen belassen. Ein zweites Ziel der Kriege war die Eroberung von Menschen zu Opferzwecken. Dann gab es Feldzüge zur Bestrafung abgefallener Stämme oder zur Vergeltung von Unbotmäßigkeit und auch bloße Verteidigungskriege. Der Staat der Shang, so unvollständig und vage er uns auch in den Quellen entgegentritt, scheint doch bereits ein etabliertes und funktionierendes Gebilde gewesen zu sein, zwar noch sehr primitiv und mit starken gentilgesellschaftlichen Traditionen behaftet, aber doch schon als System faßbar. 2 Innerhalb eines offenbar modifizierten Sippensystems hatten sich bereits Klassen herausgebildet, es existierte ein Ausbeutungssystem, die Verwaltung 1
2
5
Vgl. die grundlegende Arbeit von M. B . KproKOB, und der Unterdrückung geführt wurde. Auch das unvermittelte Auftreten von Waffenbeigaben in den Gräbern eben in dieser Zeit weist auf indirekte Zusammenhänge mit den vorstehend geschilderten gesellschaftlichen Verhältnissen hin und kann letztlich nur aus ihnen •erklärt werden, zumal keine Veränderungen im allgemeinen Bestattungsritus, sondern nur in der Sitte der Grabbeigaben zu beobachten sind. Damit würde sich auch die geäußerte Schwierigkeit erklären, mit Hilfe der Waffenbeigaben aus dieser und der unmittelbar darauf folgenden Zeit gut erkennbare soziale Differenzierungen nachweisen zu können. Im engen Zusammenhang mit den größeren Verlagerungen von Bevölkerungs•gruppen stehen die sogenannten binnenkolonisatorischen Vorgänge, die sich in den Gebieten von Dänemark, Schleswig-Holstein und Nordmecklenburg dadurch auszeichnen, daß ebenfalls noch im letzten Jahrhundert v. u. Z. eine stärkere Inbesitznahme schwererer Böden zu beobachten ist 3 . Es darf als sicher gelten, daß die weiter entwickelten Produktivkräfte, insbesondere die verstärkte Anwendung des Bodenwendepfluges seit Beginn unserer Zeitrechnung, die Verbesserung der Produktionsinstrumente für die Rodungstätigkeit — in engem Zusammenhang mit der erweiterten Erzverhüttung und Eisenverarbeitung stehend — und der sich daraus ergebende Landesausbau, die Hauptursachen für •diese Vorgänge darstellten. Am Beispiel der Besiedlungsvorgänge im ostschleswigholsteinischen Jungmoränengebiet sahen westdeutsche Forscher in den letzten Jahren ebenfalls Möglichkeiten für soziale Überschichtungsvorgänge. Danach sei die dort ansässig gebliebene Bevölkerung mit vorwiegender Viehzucht nicht nur zu größerem Reichtum gekommen, sondern sie könnte gegenüber der stärker Ackerbau "treibenden Bevölkerung im westlich anschließenden und den schlechteren Boden darstellenden Gebiet der Altmoräne auch hinsichtlich ihrer sozialen 1
Im Wanderaufgebot des Ariovist erwähnt Caesar (Bell. gall. 1, 51) Sueben, Haruder, Markomannen, Triboker, Vangionen, Nemeter und Eudusen. -2 H. Mottek, Wirtschaftsgeschichte Deutschlands Bd. 1. Berlin 1968, 49f. 3 H. Jankuhn, Vor- und Frühgeschichte vom Neolithikum bis zur Völkerwanderungszeit. Deutsche Agrargeschichte Bd. 1, Stuttgart 1969, 179.
Auflösung der Gentilverhältnisse bei den Germanen
155
Stellung im Zuge der Siedlungsverlagerungen dieser Bevölkerungsteile eine Art Primat erlangt haben. 1 Trotz Berücksichtigung des unterschiedlichen Forschungsstandes werden in diesen Küsten- und küstennahen Landesteilen bereits in dieser Zeit Erscheinungsformen faßbar, die auf den Auflösungsprozeß der gentilgesellschaftlichen Produktionsverhältnisse hinweisen. Im Rahmen des speziellen Siedlungswesens ist insbesondere der erste Nachweis von befestigten Siedlungen mit Burgcharakter in eben diesen Jungmoränengebieten (Borremose und Borrebjerg) bemerkenswert. Wenngleich es gegenwärtig noch nicht möglich ist, über die speziellen Bedingungen für die Anlage solcher Plätze Aussagen zu machen, dürfen sie doch ganz allgemein als ein Ausdruck der Siedlungsverlagerungen und der damit vorauszusetzenden Spannungen zwischen den Bevölkerungsgruppen angesehen werden. Zu den wenigen befestigten Siedlungen dieser Zeit gehört auch die Anlage von Sievern, Kr. Wesermünde. Auch ihre Entstehungsursache ist im Rahmen der Besiedlung der Marschgebiete etwa seit dem Beginn unserer Zeitrechnung zu suchen. Bei der großen Gleichförmigkeit der Siedlungen hinsichtlich vorhandener Erschließungsmerkmale für eine bereits existierende soziale Differenzierung gewinnen solche Erscheinungen für die Darstellung der Entwicklungsbedingungen an Bedeutung; dazu gehört auch die bei Mariesminde in Norddänemark festgestellte Häusergruppierung im Rahmen der unmittelbar zu Beginn unserer Zeitrechnung angelegten Siedlung, in der nach R. Hachmann 2 wegen der fehlenden Stallteile wahrscheinlich sozial minderbemittelte Bevölkerungsteile lebten, deren soziales Verhältnis nur ganz allgemein und im Sinne einer Abhängigkeit von den anderen Bewohnern der Siedlung angenommen werden kann. Für die Auflösung der gentilgesellschaftlichen Produktionsverhältnisse ist die Veränderung der Eigentumsverhältnisse von ausschlaggebender Bedeutung. Der Nachweis von Sonderbesitz oder Sondereigentum am Hauptproduktionsmittel dieser Zeit gehört aber zu den methodisch schwierigsten Problemen, so daß z . B . unter anderem auch die in der Siedlung von Skörbaeck Hede durch die Ausgrabungen von G. Hatt 3 festgestellten, den jeweiligen Acker umgebenden Ackerraine zwar Privatbesitz von Grund und Boden andeuten, aber beweiskräftig allein noch nicht belegen können. Andererseits ist es durchaus möglich, daß diese vom archäologischen Material her zu fassende Entwicklung einen Beleg für die spätere Tacitusübermittlung (Germ. 26) darstellt, nach der die Ackerfläche nach Rang und Ansehen des einzelnen über längere Zeit aufgeteilt wurde. Bei Berücksichtigung aller Erscheinungsformen der sozialen Aufgliederung der Gesellschaft sind hier ebenfalls Ansatzpunkte gegeben, deren 1
2 3
H. Jankuhn, Klima, Besiedlung und Wirtschaft im westlichen Ostseebecken. Archaeologia Geographica 3 (1952), 31—33; ders., ebenda, 134f., 179f.; R. Hachmann, ebenda, 11. R. Hachmann, ebenda, 12. G. Hatt, Jernalders Bopladser i Himmerland. In: Aarbeger 1938, 119—165.
156
BRUNO KRÜGEB
weitere Klärung für den Entwicklungsprozeß von Wichtigkeit ist; denn je tiefer die alte Gemeinschaft des Bodenbesitzes untergraben wird, desto rascher treibt bei gleichzeitiger Verdrängung der naturwüchsigen Arbeitsteilung das Gemeinwesen seiner Auflösung in ein Dorf von Parzellenbauern entgegen 1 . Zu diesen Erscheinungsformen gehört im Bereich der wirtschaftlichen Entwicklung auch die etwa seit Beginn unserer Zeitrechnung einsetzende handwerkliche Differenzierung. Wenngleich noch für weite Gebiete in der Eisenproduktion ein „dörfliches Handwerk" vorauszusetzen ist, das für den örtlichen Bedarf produzierte 2 , weisen die Untersuchungen von H. Hingst 3 für das Küstengebiet nicht nur auf eine bereits saisonweise Verhüttung von Eisenerz in den Gebieten der Erzvorkommen hin, sondern sie zeigen andererseits auch, daß Bevölkerungsteile über längere Zeit hinaus außerhalb der landwirtschaftlichen Produktion tätig gewesen sind. Dafür spricht auch der Nachweis von spezifischen Gräberfeldern in den erzführenden bzw. Verhüttungsgebieten sowie die wahrscheinlich eng auf die Tätigkeit bezogene Sitte der Schlackenbeigabe in den Gräbern. 4 Es sei vorausgeschickt, daß größere, sicher auch für den überregionalen Bedarf produzierende Verhüttungszentren erst im Verlaufe der Kaiserzeit, wie insbesondere in Südpolen, entstehen und damit eine weitere Spezialisierung und Arbeitsteilung belegen. Leider fehlt es immer noch an genügenden Quellen für die Stellung des Schmiedes im Rahmen der allgemeinen Produktion und im Sozialgefüge der Gesellschaft. Die nachgewiesenen Eisengegenstände setzen zwar eine Schmiedetätigkeit voraus, sie geben aber erst im Verlaufe der Kaiserzeit darüber hinaus Hinweise für eine Spezialisierung und soziale Beurteilung dieser Produzenten. Haus- und Schiffbau sowie die anderweitige Verarbeitung des Rohmaterials Holz deuten ebenfalls auf eine Spezialisierung im Rahmen dieser Tätigkeit hin, die zur gesellschaftlichen Arbeitsteilung beitrug. I m Rahmen der landwirtschaftlichen Produktion hatte sich die Produktivität so weit entwickelt, daß „auf der Grundlage eines ausgedehnten Ackerbaues, z. T. bereits mit Bodenwendepflug und Felderdüngung betrieben, sowie umfangreicher Viehzucht mindestens seit den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung die Möglichkeiten zur Erzeugung eines ständigen Mehrproduktes und damit zur Herausbildung von Ausbeutungsverhältnissen" 5 bestanden. 1
F. Engels, Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats. In: MarxEngels, Werke Bd. 21, Berlin 1962, 150. 2 R. Pleiner, Die Eisenverhüttung in der „Germania Magna" zur römischen Kaiserzeit. 45. Bericht der RGK (1965), 19. 3 H. Hingst, Die urgeschichtliche Eisengewinnung in Schleswig-Holstein. Offa 11 (1952), 35; ders., Die vorrömische Eisenzeit. In: Geschichte Schleswig-Holsteins Bd. 2, Neumünster 1964, 222. '' Siehe hierzu auch die Ausführungen von H. Jankuhn, Vor- und Frühgeschichte, 160—166. 5 J. Herrmann, Frühe klassengesellschaftliche Differenzierungen in Deutschland. Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 14 (1966), 399.
Auflösung der Gentilverhältnisse bei den Germanen
157
Sich entwickelndes Sondereigentum am Hauptproduktionsmittel, dem Boden, Privateigentum an Vieh, Verdrängung der ursprünglichen natürlichen Arbeitsteilung zugunsten der weiteren gesellschaftlichen Arbeitsteilung, verbunden mit dem Austausch im Innern bei Steigerung der Produktion, waren nicht nur wesentliche Ursachen für die Herausbildung und Festigung eines ungleichen Vermögensstandes und der damit zusammenhängenden sozialen Schichtung, sie boten auch objektive Möglichkeiten dazu. Es sind demzufolge Grundbedingungen für die Veränderung der gentilgesellschaftlichen Produktionsverhältnisse, die lediglich hinsichtlich ihrer Erscheinungsformen Unterschiede aufweisen können. I n diese Entwicklung gehört auch der Prozeß der Siedlungsverlagerung, der bei gegebenen Bedingungen sehr wahrscheinlich die soziale Differenzierung gefördert hat. Die Einzelfamilie wird nach F. Engels in dieser Phase der Entwicklung die wirtschaftliche Einheit der Gesellschaft. Wieweit sozial bevorzugte Personen bereits in dieser gesellschaftlichen Grundeinheit zur Wirkung kamen, ist vom derzeitigen Quellenmaterial nur schwer zu bestimmen. Man kann aber voraussetzen, daß dies der Fall war in den Verbänden, in denen sie organisiert war. Es ist besonders in den letzten Jahren versucht worden, die durch das schriftliche Material gegebenen Hinweise auf sozial höhergestellte Personen auch von der archäologischen Quelle stärker, als das bisher der Fall war, zu stützen. Daß dabei die Erscheinungsform an sich und weniger die Gründe, die dazu geführt haben, im Vordergrund der Betrachtungen standen, liegt sicher einmal in der Schwierigkeit der Erfassung des Gesamtproblems, häufig aber auch in der Zielsetzung, die der jeweiligen Untersuchung zugrunde gelegen hat. Das hierzu auswertbare archäologische Quellenmaterial stammt für die Frühphase solcher Erscheinungen ebenfalls vorwiegend aus den küstennahen Gebieten. So konzentrieren sich z . B . die reichen Mooropferfunde (Gundistrup, Bra, Hjortspring, Dejbjerg) in den bereits erwähnten Jungmoränenlandschaften, in denen nach dem derzeitigen Forschungsstand die Viehwirtschaft als Hauptproduktionszweig der landwirtschaftlichen Tätigkeit anzusehen ist. Der sich in diesen geopferten Gegenständen ausdrückende Reichtum muß mit als Ergebnis der guten wirtschaftlichen Bedingungen angesehen werden, die hier gegeben waren. Es darf angenommen werden, daß „die Opfernden keine kleinen Bauern gewesen" sein können. „Es waren entweder Personen, die ihren Lebensunterhalt nicht nur aus der landwirtschaftlichen Produktion bezogen oder die viel ertragreiches Land und zahlreiche Hilfskräfte besaßen." 1 Auch im Bereich des Bestattungswesens deutet sich etwa um den Beginn unserer Zeitrechnung im Gegensatz zu einer bisher relativ einheitlichen Ausstattung der Gräber eine Entwicklung an, in der sozial höhergestellte Personen mit Hilfe dieser Fundkategorie zu erschließen sind. Auf die in die jüngere vor1
H. Jankuhn, Klima, Besiedlung und Wirtschaft im westlichen Ostseebecken. Archaeologia Geographica 3 (1952), 31.
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römische Eisenzeit gehörenden Wagengräber, die sicher bevorzugten und wahrscheinlich auch bereits sozial höhergestellten Personen zugeordnet werden müssen, ist bereits hingewiesen worden. Ein nach wie vor nicht befriedigend gelöstes Problem stellen die Unterschiede in der Ausstattung der Waffengräber dieser Zeit dar. Ob die Sitte der Waffenbeigabe an sich, die in dieser Zeit — wie bereits ausgeführt — über weite Gebiete des germanischen Siedlungsraumes nachzuweisen ist, primär auf soziale Gründe zurückgeführt werden muß, ist bei Berücksichtigung der oben skizzierten gesamthistorischen Situation zumindest nach wie vor eine offene Frage. Erst ihre Beantwortung wird erweisen, ob vorhandene Unterschiede im Reichtum der Waffenbeigabe ebenfalls als Ausdruck sozialökonomischer Differenzierungsprozesse aufzufassen sind oder ob ihre Ursachen in anderen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens liegen. Einen sicheren Beleg für sozial höhergestellte Personen stellen dagegen die Gräber des sogenannten Lübsow-Types dar, die, häufig als Fürstengräber bezeichnet, seit etwa dem Beginn unserer Zeitrechnung nachzuweisen sind. Sowohl die in der Regel gesonderte Lage dieser Gräber, in denen Männer und Frauen bestattet wurden, als auch die bevorzugte Form der sogenannten Körperbestattung zeigen zusammen mit den reichen Beigaben häufig importierter Gegenstände, 1 daß hier bereits eine Adelsschicht repräsentiert wird, die im Rahmen des sich entwickelnden Sozialgefüges eine bedeutende Stellung eingenommen hat. Obwohl die auffallend gleichartige Ausstattung auf nicht näher zu definierende Beziehungen zwischen den Trägern der in diesen Gräbern zu erfassenden Schicht hinweist 2 , stellt sich gerade deshalb auch die Frage, ob wir es mit einer einheitlichen Adelsschicht zu tun haben. Bereits die weniger reich, aber ebenfalls mit römischen Importgegenständen ausgestatteten Brandgräber in den kaiserzeitlichen Gräberfeldern geben Anlaß zu einer verneinenden Antwort. 3 Bis auf die Gräber von Hagenow und L^g Piekarski enthalten diese Gräber der Lübsow-Gruppe keine Waffen, obwohl die Mehrzahl von ihnen in Ge1
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H. J. Eggers, Lübsow, ein germanischer Fürstensitz der älteren Kaiserzeit. Prähistorische Zeitschrift 34/35 (1949/50), 58-111. H. Jankuhn (Vor-und Frühgeschichte, 180) möchte hier Familienbeziehungen über weite Räume annehmen. Siehe hierzu u. a. W. A. v. Brunn, Neue Germanenfunde von Bornitz, Kr. Zeitz. Nachrichtenblatt für Deutsche Vorzeit 16 (1940), 251—253. J. Schneider, Ein Brandgrab der römischen Kaiserzeit von Kemnitz. Ausgrabungen und Funde 1 (1956), 27—30, sowie S. Krämer, Ergebnisse der Voruntersuchung auf dem kaiserzeitlichen Gräberfeld in Kemnitz, Kr. Potsdam-Land. Ausgrabungen und Funde 2 (1957), 172—177 und dies., Die Grabung auf dem kaiserzeitlichen Gräberfeld Kemnitz, Kr. Potsdam-Land. Ausgrabungen und Funde 4 (1959), 280—283, haben ebenfalls Grabausstattungen vorgelegt, die diesbezüglich zu deuten sind. Auch im neuerdings veröffentlichten Gräberfeld von Zauschwitz, Kr. Borna (E. Meyer, Das germanische Gräberfeld von Zauschwitz, Kr. Borna. Arbeitsund Forschungsbericht zur sächsischen Bodendenkmalpflege, Beiheft 6 (1969), 63, 111) scheinen die Grabausstattungen der Gräber 20 und 62 auf sozial höhergestellte Personen hinzuweisen.
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bieten liegen, in denen die Waffenbeigabe bekannt und üblich war. 1 Es wäresicher interessant, wenn diese auffallende Erscheinung durch die zeitlicheund lokale Kombination der Fürstengräber mit den vorhandenen Waffengräbern untersucht würde — das Verbreitungsgebiet der Waffengräber um Hagenow scheint sich hier besonders anzubieten —, um eventuell auch zum Nachweis der Gefolgsleute durch archäologische Quellen und damit zur Charakteisierung des Gefolgschaftswesens im allgemeinen beizutragen. Es scheint sich darüber hinaus anzudeuten, daß auch die Verbreitungsgebiete von Schlüssel und Schloß als indirekter Beleg für Besitzstand in ähnlicher Form auswertbar sind 2 . Nach wie vor steht der Nachweis und damit die Kenntnis über die Anlage und die Größe der Wohnplätze aus, in denen diese Personen gelebt haben. Trotzdem bietet auch die Entwicklung im Hausbau bzw. in der zu beobachtenden Größenveränderung der Hofanlagen Anhaltspunkte für sozial höhergestellte Personen bzw. Familien. Ohne eine Gesetzmäßigkeit andeuten zu wollen, ist immer dort, wo größere Siedlungskomplexe über mehrere Generationen hinaus nachgewiesen werden konnten, auch die Entwicklung zu einem Groß- bzw. Herrenhof im Rahmen des jeweiligen Siedlungsverbandes zu beobachten gewesen. Insbesondere sei hier/die mehrfach zitierte Entwicklung auf der Feddersen Wierde bei Bremerhaven erwähnt 3 , die deutlich die Herausgliederung eines Hofes seit dem 2. J h . zeigt, dessen Größe und Abgrenzung einerseits und dessen Funktion im sozialökonomischen Bereich andererseits eindeutige Merkmale eines sogenannten Herrenhofes zeigen. Eine ähnlicheEntwicklung vermittelt auch das Siedlungsbild der kaiserzeitlichen Siedlungen von Kablow, K r . Königs Wusterhausen. 4 Neuerdings wurden, wenngleich weniger stark ausgeprägt, bei der Auswertung der kaiserzeitlichen Siedlungshorizonte von Tornow, K r . Calau, gleiche Entwicklungstendenzen festgestellt 5 . Auch die Ausgrabungen in Fochteloo 6 und in Westik bei Kamen in Westfalen 7 1
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Siehe hierzu die Verbreitungskarte der Lanzenspitzen der frühen römischen Kaiserzeit bei A. Leube, Gruppengliederung innerhalb der frühen Kaiserzeit im norddeutschen Tieflandgebiet. Zeitschrift für Archäologie 2 (1968), 278 Abb. 1, die im wesentlichen auch dasVerbreitungsgebiet der Waffenbeigaben in den Gräbern angibt. J. Herrmann, Archäologische Kulturen und sozialökonomische Gebiete. Ethnographischarchäologische Zeitschrift 6 (1965), 118-122. W. Haarnagel, Die Ergebnisse der Grabung Feddersen Wierde im Jahre 1961. Germania 41 (1963), 280-317. G. Behm-Blancke, Zur sozialökonomischen Deutung germanischer Siedlungen der Römischen Kaiserzeit auf deutschem Boden. In: Aus Ur- und Frühgeschichte, Berlin 1962, 67-70. J. Herrmann, Der Beitrag der Ausgrabungen in Tornow, Kr. Calau, zur germanischen und slawischen Siedlungs-, Wirtschafts- und Kulturgeschichte. Zeitschrift für Archäologie 4 (1970), 69-72. A. E. v. Giffen, Prähistorische Hausformen auf Sandböden in den Niederlanden. Germania 36 (1958), 51-71. L. Bänfer, A. Stieren, Eine germanische Siedlung in Westick bei Kamen, Kr. UnnaWestfalen 21 (1936), 410-453.
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haben ergeben, daß bereits in den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung mit der Herausbildung von Großhöfen auf der Grundlage sozialökonomischer Differenzierungen zu rechnen ist. Diese wenigen Beispiele zeigen, daß auch mit Hilfe der Siedlungsentwicklung der Aufgliederungsprozeß der gentilgesellschaftlichen Produktionsverhältnisse nicht nur allgemein, sondern auch hinsichtlich seiner Abstufungen zu fassen ist. Sie zeigen darüber hinaus, daß häufig dort, wo eine Siedlungskonstanz über längere Zeit nachgewiesen werden kann, die Erscheinungsformen der einzelnen Entwicklungsetappen am klarsten sichtbar werden. Die derzeit bekannte geographische Verbreitung solcher Auflösungstendenzen, deren Beginn, vom archäologischen Quellengut ausgehend, um die Wende u. Z. faßbar einsetzt, erstreckt sich bei Außerachtlassung von Stammesgebieten über große Teile der Germania. Auch bei Berücksichtigung eines unterschiedlichen Forschungsstandes zum Gesamtproblem zeichnet sich aber anscheinend ab, daß sowohl die Gebiete der Nordsee- und Küstengermanen als auch die der Elbgermanen Entwicklungsschwerpunkte waren, in denen auf der Grundlage einer schnelleren Entfaltung der Produkivtkräfte frühzeitig Bedingungen für die Aufgliederung der Gesellschaft gegeben waren. Die Entwicklung wurde im besonderen dadurch begünstigt, daß die in diesen Gebieten lebenden Germanen entweder keine oder nur geringe Auswirkungen der römischen Offensive der Jahre 12 v. u. Z. bis 16 u. Z. zu überwinden hatten, zum anderen im allgemeinen auch dadurch, daß nach den erfolgreichen Abwehrkämpfen und der Zurücknahme der römischen Truppen hinter den Rhein die selbständige sozialökonomische Entwicklung gesichert war. Es setzte eine Phase der relativen Ruhe ein, in der sich diese vollziehen konnte. Leider fehlt es immer noch an genügenden Ansatzpunkten für die Bewertung der sicher vorhanden gewesenen Einflüsse der fortgeschritteneren Sklavenhalterordnung auf diese Entwicklung. Der von R. Wol^giewicz 1 dargelegte Versuch, den römischen Import auch von den sozialökonomischen und politischen Verhältnissen her zu behandeln, ist deshalb sehr zu begrüßen und kann als Unterstützung der hier vorgetragenen Ansichten — z. B. was die Entwicklung im Siedlungsgebiet der Markomannen und deren Stellung bei der Vermittlung der römischen Einflüsse betrifft — angesehen werden. Die literarischen Quellen geben hierzu keine Auskunft. Auch in der immer noch besten Darstellung der innergermanischen Verhältnisse dieses Zeitraums durch Tacitus fehlen entsprechende Ausführungen. Die zahlreichen römischen Importgegenstände, die vor allem im 2. J h . stärker in Germanien auftreten, beweisen einen erweiterten Austausch und verstärkte Handelsbeziehungen mit Rom. Andererseits ist bekannt, daß germanische Händler an den Grenzen des Reiches, z. T. selbst im römischen Gebiet, ihre Waren angeboten haben. Unmittelbar östlich des Limes sind Münzen als Äquivalent im Umlauf gewesen. Über den Handel und über den 1
R. Wol^giewioz, Der Zufluß römischer Importe in das Gebiet nördlich der mittleren Donau in der älteren Kaiserzeit. Zeitschrift für Archäologie 4 (1970), 222—249.
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Austausch sind sehr wahrscheinlich die wesentlichsten Einflüsse in das germanische Gebiet gelangt, dabei deutet sich mehr und mehr an, daß vor allem auch das elbgermanische Gebiet berührt worden ist. Die schriftlichen Quellen bieten andererseits aber die Möglichkeit, den durch das archäologische Quellenmaterial in der Regel bisher nur grob zu erkennenden Entwicklungsgang zu ergänzen bzw. zu vertiefen. Für die Entwicklung der Eigentumsformen ist der Bericht des Tacitus, daß die Verteilung des Ackers nach Rang und Ansehen vorgenommen wurde, besonders bedeutungsvoll. Damit war die ökonomische Stärkung der sozial höhergestellten Personen, die außerdem Abgaben der landwirtschaftlichen Produktion erhielten (Tacitus, Germ. 15), verbunden. Diese unterschiedliche Bodenzuteilung mit privaten Nutzungsrechten war zweifelsohne eine der wesentlichsten Ursachen für die Entstehung eines Großgrundbesitzes. Sie bot andererseits die ökonomische Voraussetzung für den Ausbau des Gefolgschaftswesens, womit ein gleichzeitiger Abbau der Einrichtungen der Gentilverfassung auf der Stufe der militärischen Demokratie einherging, die F. Engels als „die ausgebildetste Verfassung, die die Gentilordnung überhaupt entwickeln konnte", bezeichnet hat.1 Die Rangstufenordnung in der Gefolgschaft (Tacitus, Germ. 13) im besonderen sowie die Erringung von Führungspositionen durch bewiesene Tapferkeit im allgemeinen (Tacitus, Germ. 7) sind Ausdruck für die Entwicklung und Stärkung des sogenannten militärischen Adels mit seinen vielfältigen Abstufungen. Neue ideologische Vorstellungen über ein jenseitiges Herren- und Kriegerparadies, wie sie z. B. im Wodankult zum Ausdruck kamen, gehen mit dieser Entwicklung einher und stehen im Gegensatz zum nach wie vor von den Bauern geübten traditionellen und auf die Produktion bezogenen Fruchtbarkeitskult (z. B. dem Nerthuskult). Kriege, in der Regel wohl vorwiegend noch Stammesauseinandersetzungen, führten sowohl zur ökonomischen als auch zur politischen Stärkung dieser sozial bevorzugten Schichten. Kriegsgefangene kamen als Sklaven in der landwirtschaftlichen Produktion zum Einsatz (Tacitus, Germ. 26) und wurden im Rahmen der noch gentilen Produktionsverhältnisse als „selbständig wirtschaftende, aber abgabepflichtige Bauern" 2 ausgebeutet. Aufbauend auf dieser wirtschaftlichen, sozialen und politischen Grundlage und von ihr ausgehend setzte seit etwa der Wende vom 2. zum 3. J h . u. Z. der Prozeß der Bildung der Großstämme bei gleichzeitigem Abbau und Überwindung des eigentlichen Stammeswesens ein, wobei durch Überschichtungsvorgänge neue Abhängigkeitsverhältnisse geschaffen wurden. Von der Gesamtverbreitung der gegenwärtig archäologisch faßbaren Erscheinungsformen dieses sozialökonomischen Umbruches der germanischen Gesellschaft in den hier behandelten Zeitabschnitten wird das sogenannte 1
F. Engels, Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats. In: MarxEngels, Werke Bd. 21, Berlin 1962, 140. 2 H. Mottek, a. a. O., 48. 11
Staatsentstehung
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rhein-weser-germanische Gebiet kaum nennenswert berührt 1 . Dies ist um so bemerkenswerter, als wir gerade durch die schriftliche Überlieferung Hinweise auf politisch führende Personen bei den Cheruskern (Segimerius, Inguimerus, Segestes, Arminius, Flavus), Amsivariern (Boiocalus) und Chatten (wahrscheinlich Adgandestrius) erhalten haben, die — wie bei Arminius bekannt — römisches Bürgerrecht besaßen und römische Ritter waren. Leider ist es der bisherigen Forschung nicht gelungen, die sozialökonomische Stellung dieser Personen beweiskräftig zu bewerten. Wieweit die durch Tacitus (Hist. 1, 23) erwähnten agros villasque der Bataver, die R. Wenskus 2 als erste Belege für die Grundherrschaft bei den Germanen ansehen möchte und die nach H. Dannenbauer 3 die Größe von Gütern hatten, für den gesamten Fragenkomplex der Auflösungserscheinungen gentilgesellschaftlicher Produktionsverhältnisse bei den Germanen, insbesondere auch zur ökonomischen Seite des Gefolgschaftswesens im rhein-weser-germanischen Gebiet im allgemeinen sowie auch bei den Cheruskern 4 im besonderen die weitere Untersuchungsrichtung zu bestimmen vermögen, wird erst die Forschung entscheiden können. Als Schlußfolgerung ergibt sich die Aufgabe, diese Gebiete stärker als bisher bei zukünftigen Analysen der ökonomischen, sozialen und politischen Verhältnisse zu beachten. Unter Berücksichtigung des derzeit vorhandenen Quellenmaterials zum vorstehend behandelten Themenkomplex kann zusammenfassend festgestellt werden, daß auf der Grundlage der gewachsenen Produktivkräfte und ihrer dialektischen Wechselwirkung auf die Steigerung der Produktion überhaupt bereits um den Beginn unserer Zeitrechnung sich der Übergang zur ständigen Erzeugung eines gesellschaftlichen Mehrproduktes auch bei den germanischen Stämmen vollzogen hat. Die Verbesserung der Produktionsinstrumente, insbesondere für die landwirtschaftliche Produktion, wirkte sich positiv auf eine größere Seßhaftigkeit der Produktionskollektive aus. I n diesem Zusammenhang kam es zu einem verstärkten, wohl zum Teil auf Rodung beruhenden Landesausbau. Infolge der relativ geregelten Beziehungen zum römischen Reich flössen stärker als zuvor über die Austausch- und Handelsbeziehungen Einflüsse aus der römischen Sklavenhaltergesellschaft in die germanischen Gebiete ein und wurden vor allem von den sozial bereits höhergestellten Personen aufgenommen. Die Absonderung von Ackerland aus dem Gemeineigentum, der Übergang zu unterschiedlichen Besitzverhältnissen am Hauptproduktionsmittel, dem Grund und Boden, der Einsatz und die Ausbeutung von Sklaven auf Sonderbesitz sowie die sich daraus entwickelnde soziale Differenzierung in Schichten als Vorstufen der Klassen sind Ausdruck der Entwicklung von 1
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Die wenigen in Frage kommenden Fundplätze, insbesondere befestigte Anlagen, steheil wegen ihrer Unsicherheit in der ethnischen Zuordnung (s. R. Hachmann, a. a. 0., 19) zunächst außerhalb der speziellen Berücksichtigung. R. Wenskus, Stammesbildung und Verfassung. Köln-Graz 1961, 382. H. Dannenbauer, Adel, Burg und Herrschaft bei den Germanen. Historisches Jahrbuch 61 (1941), 16. H. v. Petrikovits, Arminius. Bonner Jahrbücher 166 (1966), 187.
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Vorformen neuer Produktionsverhältnisse und damit Ausdruck des Verfalls der Gentilordnung bei den germanischen Stämmen. Die in der sozialökonomischen Basis entstandenen Veränderungen fanden in kultischen Vorstellungen, die auf das Jenseits orientierten und den kriegerischen Charakter der Entwicklung widerspiegelten, ihre entsprechenden Überbauerscheinungen; denn gleichzeitig mit der Entstehung von Vorformen neuer Produktionsverhältnisse entwickelte sich als Machtinstrument der Gentilaristokratie das Gefolgschaftswesen, das entscheidend an der Überwindung des gentilgesellschaftlichen Stammeswesens mitgewirkt hat.
Allod und Feudum als Grundlagen des westund mitteleuropäischen Feudalismus und der feudalen Staatsbildung* von
JOACHIM H E R R M A N N
(Berlin)
Seit einigen Jahren nehmen Fragestellungen, die im Zusammenhang mit der Erforschung des Übergangs zum Feudalismus und der Herausbildung des Feudalismus stehen, einen breiten Raum in der marxistisch-leninistischen Geschichtswissenschaft ein 1 . Die Diskussionen erstrecken sich auf den Verlauf dieser Geschichtsprozesse in den verschiedenen Teilen der Welt 2 und haben * Der Beitrag ist in Weiterführung der Untersuchungen über „Sozialökonomische Grundlagen und gesellschaftliche Triebkräfte für die Herausbildung des deutschen Feudalstaates" entstanden. Unter diesem Thema hatte Verf. auf dem in der Einleitung genannten Kolloquium gesprochen. (Vgl. die sich daraus herleitende Veröffentlichung in der Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 19 (1971), 752-789). Bei der Überarbeitung der Anmerkungen sowie bei der Zusammenstellung und kritischen Sichtung von Quellen war mir I. Böger behilflich, der ich auch an dieser Stelle für die Mitarbeit danke. 1 Vgl. zuletzt das Grundsatzreferat von Z. V. Oudaltzova, E. V. Goutnova, La genèse du feodalisme dans les Pays d'Europe. (XIII. Congrès International des Sciences Historiques, Moscou 16—23 Août 1970.) Der Feudalismus wird hier (S. 1) folgendermaßen bestimmt: „Wir betrachten den Feudalismus als eine besondere ökonomische Gesellschaftsformation, die auf der feudalen Produktionsweise beruht. Ihre charakteristischen Züge sind: das Vorherrschen der Agrar- und Naturalwirtschaft, das Überwiegen des Großeigentums, das auf der Ausbeutung der Bauern beruht, die persönlich von den Eigentümern abhängig oder an den Boden, den sie bebauen, gebunden sind". Vgl. weiterhin die Sammelbände mit zahlreichen Beiträgen: lIpoSneMti B03HHKH0BeHHH $eoaajm.3Ma y Hapoaon CCCP. MocKBa 1969; H a y m a n cecca« „MTOTH H 3ANAIH iMyHemin REHE3HCA (JIEOAAJIIISMA B aanaflHoß Eßpone" (Cpeamie Bena. 31.1968); B. . IIopumeB, epeimHauHH B upeBHHM KHTae. I n : Pa.3JiO)«eiiMe poROBoro CTpon H schrieben: „Die Feudalität wurde keineswegs aus Deutschland fertig mitgebracht, sondern sie hatte ihren Ursprung von Seiten der Eroberer in der kriegerischen Organisation des Heerwesens während der Eroberung selbst, und diese entwickelte sich nach, derselben durch die Einwirkung der in den eroberten Ländern vorgefundenen Produktiv.
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Das Lehnswesen hat mithin die „Zirkulation" von Privateigentum am wichtigsten Produktionsmittel innerhalb der herrschenden Klasse zur Grundlage, und es gibt die Auffassung, daß das Wort feudum für das zirkulierende Eigentum aus dem fränkischen Wort fêhu-ôd oder fêhu, „Besitztum an Vieh", „mobiles Vermögen", sich herleitet. Jedoch ist auch die Herleitung des Begriffs feudum, „Lehen", aus einer in der Umgangssprache in Südfrankreich vulgarisierten Form von fiscus, also „Königseigentum", versucht worden. Der Begriff feudum tritt erst im Hochfeudalismus in Texten und Urkunden auf; die ersten Formen, die im 9. und 10. J h . gebietsweise die alte lateinische Form beneficium für das Lehen verdrängen, lauten feus, feum und a n d e r s W i e die Herausbildung • des Begriffes feudum auch verlaufen sein mag, sein Inhalt drückte das durch einen Eigentümer zeitweise an einen anderen Angehörigen der herrschenden Klasse vergebene Recht zur Nutzung seines Eigentums als Lehen für geleistete Dienste oder gegen erwartete Dienste, Abgaben oder festgesetzte Pflichten aus. Die Zirkulation dieser Nutzungs- oder Besitzrechte innerhalb der herrschenden Klasse blieb zähflüssig, da sie sich in den ersten Jahrhunderten des Feudalismus nicht oder kaum über die Geldwirtschaft realisierte, sondern auf naturalwirtschaftlicher Basis und in Form personenrechtlicher Bindungen und Privilegien •erfolgte. Daraus leiteten sich permanente Spannungen zwischen Lehnsherren und Lehnsträgern, Herren und Vasallen, die Grundbesitz als Lehen innehatten, her. Sobald der Lehnsherr nicht oder nur unzureichend in der Lage war, seinen Eigentumsanspruch durchzusetzen und die aus der Verleihung sich ergebenden Dienste und Abgaben einzufordern, waren die Lehnsträger, die Landbesitzer, bestrebt, diesen Besitz in ihren Allodialbesitz, in ihr feudales Eigentum umzuwandeln. Im Kapitular von Nymwegen wird durch Karl den Großen im J a h r e 806 diese Tendenz deutlich ausgedrückt und verurteilt: „Wir haben •erfahren, daß sowohl Grafen als auch Vasallen, die unsere Beneficien innehaben,
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kräfte erst zur eigentlichen Feudalität. Wie sehr diese Form durch die Produktivkräfte bedingt war, zeigen die gescheiterten Versuche, andre aus altrömischen Reminiszenzen entspringende Formen durchzusetzen (Karl der Große p. p.)". Vgl. Deutsches Rechtswörterbuch Bd. 2, 2, Sp. 521. Die Begründung der Ableitung von fiscus bei H. Krawinkel, Feudum. Jugend eines Wortes. Sprachstudien zur Rechtsgeschichte. Weimar 1938 (Forschungen zum Deutschen Recht Bd. 3, H. 2). Krawinkel lehnt die Herleitung aus fêhu-ôd — Vieh, Feld o. a. ab. Im Heliand finde sich zu Anfang des 9. Jh. der Begriff „lehen i fehu", der als „vergängliches Gut" wiedergegeben wird. Im Angelsächsischen sei die Bedeutung fehu — Geld, Lohn usw. weitverbreitet gewesen. So folgert Krawinkel S. 51 : „Die Annahme scheint also erlaubt, daß gegen Ende des 9. Jahrhunderts auch in Deutschland fehu bereits allgemein die Bedeutung Geld oder Gut bebesessen hat, mögen die Quellen auch größtenteils schweigen." Weitere Literatur und semantische Untersuchungen bei K.-J. Hollyman, Le développement du vocabulaire féodal en France pendant le haut moyen âge. Étude sémantique. Paris 1957, 43 ff. Die verschiedenen etymologischen Ableitungsmöglichkeiten berühren den Sinn und die Verwendung des Wortes feus, später feudum (Nutznießung, Besitz) nur in zweiter Linie.
Allod und Feudum und die feudale Staatsbildung
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sich die Eigentumsrechte über unsere Beneficien aneignen" 1 . Einen gewissen Abschluß erreichte diese Tendenz mit der Feststellung der Erblichkeit der Lehen der Aftervasallen durch Konrad I I I . 2 Der Umstand an sich, daß das Privateigentum die Bezugsgrundlage der Mitglieder der herrschenden Klasse aufeinander abgab, wurde dadurch nicht berührt. Diese Basis bot Voraussetzungen, um die personen- und lehnsrechtlichen Bindungen mit der Entfaltung der Warenwirtschaft einzuschränken und teilweise durch Geldbeziehungen zu ersetzen. Damit jedoch enthielt dieses System sich aufeinander als Privateigentümer beziehender Grundherren zugleich die Voraussetzungen für den Erwerb von Grundeigentum durch die Städte und das Bürgertum seit dem 11./12. J h . Die Entstehung der großen Grundeigentümer und des Lehnswesens durch Ausgabe von Königsgut war nur die eine Seite. Ihre Kehrseite, die das Wesen der feudalen Ausbeutungsverhältnisse hervorbrachte, war die Umwandlung des bäuerlichen Allodialeigentums in feudales Grundeigentum. Dieser Prozeß vollzog sich durch die Aneignung und den Raub bäuerlichen Eigentums durch den Adel, teilweise in bewaffneten Kämpfen zwischen Adel und Bauern, wie vor allem in den beiden Jahrzehnten am Ende des 8. bzw. um die Mitte des 9. J h . 3 I n anderen Fällen verlief der Prozeß unter der in den Quellen sichtbaren historischen Oberfläche. Die Methoden, die der Adel anwandte, um die Allodbauern zur Übertragung ihres Eigentums oder zur Teilübertragung von Eigentumsrechten an Ackerland zu zwingen, reichten von offenen Pressionen über kirchlich-religiöse Demagogie bis zur Ausnutzung von Rechten und Pflichten, die aus der Gentilgesellschaft überkommen waren, wie der Heerespflicht, der Thing- und Gerichtspflicht und anderer öffentlicher Leistungen zur Ruinierung der Bauern''. Bis zur Mitte des 9. J h . ist auf diese Weise der größte Teil der ehemals freien Allodbauern in Mittel- und Westeuropa in feudale Abhängigkeit geraten, wobei die Formen dieser feudalen Abhängigkeit sehr unterschiedlich waren; in erster Linie erfolgte ihre Ausbildung durch den Kampf der Feudalherren und Bauern. Diese Kämpfe bestimmten offensichtlich, in welchem Umfang die Bauern gezwungen waren, ihre Eigentumsrechte an Grund und Boden 1
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Auditum habemus, qualiter et comités et alii homines qui nostra bénéficia habere videntur conparant sibi proprietates de ipso nostro beneficio . . . (MGH. Cap. 1, Nr. 46, S. 131). MG Const. 1, Nr. 45, S. 89ff. Überliefert ist die eonstitutio de feudis von 1037 für die italienischen Afterversallen. In erster Linie sei auf Sachsen verwiesen; dazu u. a. M. Lintzel, Der sächsische Stammesstaat und seine Eroberung durch die Franken. Berlin 1933 ( = Historische Studien. H. 227). Ausführlich mit Quellen dazu A. J. Njeussychin, Die Entstehung der abhängigen Bauernschaft als Klasse der frühfeudalen Gesellschaft in Westeuropa vom 6. bis 8. Jahrhundert. Berlin 1961 ; E. Müller-Mertens, Karl der Große. Ludwig der Fromme und die Freien. Berlin 1963, 93 ff. Zu den verschiedenen Methoden der Bildung des kirchlichen feudalen Grundeigentums vgl. A. Dopsch, Wirtschaftsentwicklung der Karolingerzeit. T. 1, 3. erw. Aufl. Weimar 1962, 202ff.
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zu übertragen oder welche Nutzungsrechte sie behielten bzw. erhielten. So hat ganz offensichtlich in Sachsen und Friesland der Kampf der Bauern am E n d e des 8. Jh. u n d in den vierziger Jahren des 9. Jh. in größerem U m f a n g dazu geführt, daß die Bauern v o n vornherein die Bildung größerer feudaler Eigenwirtschaften verhinderten oder begrenzten und stattdessen feudale Produktionsverhältnisse durchsetzter, die ihnen die Verfügung über die Bedingungen ihrer Produktion weitgehend sicherten u n d die Ausbeutungsbeziehungen hervorbrachten, die über die Produkten- bzw. Geldrente realisiert w u r d e n . 1 D a m i t war einerseits eine rasche Entwicklung bäuerlicher Eigenwirtschaften möglich. Seit dem 9. Jh. begann nachweislich in Nordwestdeutschland der Übergang zur intensiven Ackerbauwirtschaft durch D ü n g u n g der Felder mit Viehdung 1
Generell waren die grundherrschaftlichen Eigenwirtschaften westlich des Rheins daher in größerem Umfang verbreitet als östlich des Rheins; das bedeutete jedoch, daß die bäuerlichen Frondienste eine wesentlich geringere Rolle als westlich des Rheins spielten und „östlich des Rheins im frühen Mittelalter sicher nicht überwogen". (Vgl. E. Müller-Mertens, Fragen . . ., 23.) Innerhalb der Gebiete östlich des Rheins waren das Königsgut und königliche Fronhöfe sehr ungleichmäßig verteilt, sie häuften sich in Franken, in Teilen Alemanniens und Thüringens, lagen dagegen vordem 10. Jh. kaum in Bayern und Sachsen. Die Zusammensetzung des Grundbesitzes der Klöster Fulda und Werden läßt deutliche Unterschiede zwischen den Komplexen in Sachsen und Friesland auf der einen Seite und denen in westlichen und südlichen Gebieten erkennen. Während in Friesland und Sachsen selbstwirtschaftende Bauern Natural- oder Geldrente leisten, waren in den anderen Gebieten Eigenwirtschaften, die von Unfreien und in Fronarbeit von den Bauern bestellt werden mußten, wesentlich weiter verbreitet (R. Kötzschke, Rheinische Urbare. Bd. 4. Die Urbare der Abtei Werden a. d. Ruhr. Einleitung und Register. Bonn 1958). In Westfalen und Niedersachsen lag die Hauptform der Feudalrente im 9. J h . „nicht vornehmlich in den Diensten der Pflichtigen, obschon es daran nicht zu fehlen brauchte, sondern in ihren Abgaben" (S. CCXCVI). Für Friesland stellt R. Kötzschke fest (S. CCXXXIX): „Teile von Erbgut, nach der Breitenmessung des Grundes und Bodens in der Flur . . . oder auch nur nach dem Zinsertrag in Geld berechnet, wurden dem Kloster überwiesen, bisweilen mit der Bedingung, daß von dem zugeeigneten Lande ein bestimmter Jahresbetrag entrichtet werde. Sicher tauschte manches Grundstück nur den Grundherren, indem es an Kloster Werden kam; doch fehlt es auch an Gaben wenig begüterter Freien nicht. War doch solche Tradition anscheinend weniger eine Landüberweisung als vielmehr eine anteilmäßige Belastung eines Grundstücks mit einer Geldrente. Diese Form der Schenkung war so regelmäßig, daß bei den ganz entsprechenden Besitzverhältnissen in den westlicher gelegenen mittelfriesischen Gauen um Groningen bei gleicher Entwicklung der Geldwirtschaft eine ähnliche Entstehung des dortigen Werdener Klosterguts anzunehmen ist, nur mit dem Unterschiede, daß neben den reinen Geldrenten schon früh gewerbliche Erzeugnisse, Tücher, als Lieferung auferlegt wurden." Eine ausgebildete Arbeitsrente fand sich besonders bei dem ehemaligen Königsgut Friemersheim a. Rhein (S. CCCXXXI). — Zu Kloster Fulda vgl. T. Werner-Hasselbach, Die ältesten Güterverzeichnisse der Reichsabtei Fulda. Marburg 1942, 9ff., 177. Zu den von Werner-Hasselbach rekonstruierten Fronhöfen am oberen Main kritisch und richtigstellend A. Krenzlin u. L. Reusch, Die Entstehung der Gewannflur nach Untersuchungen im nördlichen Unterfranken. Frankfurter Geographische Hefte 35 (1961), 123.
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und Plaggen in größerem Umfang 1 . Andererseits war die Konzentration von Mehrprodukt durch den Feudaladel offensichtlich weniger ausgedehnt; die Arbeitsteilung, die Bindung von hofhandwerklicher Produktion an den Fronhöfen erreichte bei weitem nicht den Stand wie in den fränkischen, bayrischen oder alemannischen Gebieten. Nachdem jedoch in einigen Emporien Ansätze frühstädtischer Entwicklung vorhanden waren, konnte die relativ günstige feudale Struktur in Teilen Sachsens und Frieslands rasch zur Ablösung der Produktenrente durch die Geldrente führen, d. h. die feudale Ausbeutung der Bauern wurde über den entstehenden städtischen Markt, wo der Bauer seine Naturalien als Einzelproduzent in Geld umsetzen mußte, realisiert. Das beschleunigte die Entwicklung des Warenverkehrs, der Städte und des Bürgertums beträchtlich. So konnten die Gebiete nördlich der Mittelgebirge seit dem 10. J h . einen raschen ökonomischen Aufschwung nehmen und die Basis für den deutschen Feudalstaat abgeben 2 . I n anderen Gebieten Mittel- und Westeuropas mit stärkerer bäuerlicher germanischer Besiedlung verlief dieser Prozeß komplizierter und widerspruchsvoller. Charakteristisch war jedoch, daß sich auch dort das feudale Grundeigentum im Kampf zwischen Adel und Bauern bildete und daß am Anfang im überwiegenden Maße das Allodialeigentum selbständiger bäuerlicher Wirtschaften stand, dem politisch und gesellschaftlich der freie Bauer entsprach. I n diesem Kampf wurden nicht nur wesentliche Seiten allodialen bäuerlichen Eigentums zum Bestandteil der feudalen Produktionsverhältnisse, wie die Erblichkeit bäuerlichen Besitzes, die eigentümliche Verfügung über die mobilen Produktionsmittel sowie über die Ernte (u. a. auf dem Markt), sondern es entstand auch eine genossenschaftliche Integration von größter Bedeutung: die Markgenossenschaft. Ihr Ursprung ist nicht völlig aufgeklärt; sicherlich reicht sie als Institution nicht in die vorfeudale Zeit zurück. I n den Volksrechten des 6.-8. J h . findet sie keine oder nur geringe Widerspiegelung, ebensowenig in Urkunden, Chroniken oder in den Flur Verfassungen 3 . Die Mark1
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Vgl. E. Mückenhausen, H. W. Scharpenseel u. F. Pietig, Zum Alter des Plaggeneschs. In: Eiszeitalter und Gegenwart Bd. 19, 1968, 190—196. Zur Stellung der Plaggenesch als einer der Dreifelderwirtschaft vergleichbaren dauerhaften Körnerwirtschaft auf der Grundlage des Roggenanbaus vgl. u. a. A. Krenzlin, Die Kulturlandschaft des hannoverschen Wendlands. 2. Aufl. Bad Godesberg 1969, 321 ff. ( = Forschungen zur deutschen Landeskunde Bd. 28, H. 4). Diese Thematik bedarf dringend der komplexen Bearbeitung; die Auffassungen bei der Einschätzung der Entwicklung in Sachsen gehen erheblich auseinander. Vgl. z. B. E. Müller-Mertens, Das Zeitalter der Ottonen. Berlin 1955, der annimmt, daß infolge der Rückständigkeit Sachsens der Feudalisierungsprozeß sich überhaupt erst im 10. Jh. durchgesetzt habe. Anders H. J. Bartmuß, Die Geburt des ersten deutschen Staates. Berlin 1966 sowie in weiteren Arbeiten. Vgl. auch J. Herrmann, Sozialökonomische Grundlagen und gesellschaftliche Triebkräfte für die Herausbildung des deutschen Feudalstaats. Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 19 (1971), 752—789. Zusammenfassend K. S. Bader, Dorfgenossenschaft und Dorfgemeinde. Weimar 1962. Bader verliert bei seiner Kritik an der Markgenossenschaftslehre aus dem Auge, daß die
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genossenschaft, wie sie F. Maurer aus hoch- u n d spätmittelalterlichen Quellen erschlossen hat, ist sicher eine Entwicklungsstufe des Hochfeudalismus 1 . D a s bedeutet jedoch keineswegs, daß genossenschaftliches Zusammenwirken der Allodhauern in vorfeudaler u n d frühfeudaler Zeit keine Rolle gespielt hätte. I m salischen Recht wie auch im bayrischen R e c h t finden sich Hinweise darauf 2 . Aus dem 8. Jh. kennen wir die ersten Urkunden, aus denen hervorgeht, daß der weltliche u n d geistliche Adel versuchte, die Markländereien zu okkupieren 3 . Seit Beginn der bäuerlichen Einzelwirtschaft wird in allen Fällen, wo solche Wirtschaften in Dörfern zusammengefaßt waren, die genossenschaftliche Verfügung über die Dorfmark die notwendige Bedingung für die Existenz der bäuerlichen Einzelwirtschaft gewesen sein, vor allem für die Viehhaltung. Weniger ausgeprägt dürfte diese genossenschaftliche Seite zunächst allerdings auf den Ackerbau eingewirkt haben. Dort, w o vorfeudale oder frühfeudale Markgenossenschaft offensichtlich eine sehr lange und komplizierte Entwicklung durchmachte, bevor sie im Hochmittelalter als ausgebildete Einrichtung deutlich zu erfassen ist. Insofern, als Bader eine Übertragung dieser Institution des hohen Mittelalters auf das Frühmittelalter ablehnt, ist ihm beizupflichten, nicht jedoch darin, daß die markgenossenschaftliche Grundlage des frühmittelalterlichen Agrarwesens überhaupt verneint wird. S. Epperlein, Herrschaft und Volk im karolingischen Imperium. Studien der sozialen Konflikte und dogmatisch-politische Kontroversen im fränkischen Reich. Berlin 1969, 153 ff., untersucht eine Reihe von Überlieferungen, in denen im 8.-9. Jh. die Mark zweifellos eine Rolle spielt. Er zieht die Schlußfolgerung (S. 174): „Dabei wird zumindest in Einzelfällen deutlich, daß die ländliche Bevölkerung die Mark genossenschaftlich nutzte und über sie teilweise auch gemeinsam verfügte". Im bayrischen Volksrecht erscheint unvermittelt der „Commarcanus", der Markgenosse (MGH. Leg. Sectio I, T. 5, P. 2. 1926, 402, 447, 473). E. Zöllner kommt bei der Untersuchung der fränkischen Frühzeit zu dem Schluß „Hier macht sieh zweifellos ein genossenschaftliches Prinzip geltend . . ." (Geschichte der Franken bis zur Mitte des sechsten Jahrhunderts. München 1970, 221). G. v. Below, Geschichte der deutschen Landwirtschaft, 10ff., betont das starke genossenschaftliche Element im frühfeudalen Agrarwesen. Am Ursprung der Markgenossenschaft in vor- und frühgeschichtlicher Zeit hegt er keinen Zweifel (S. 15). 1
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Ein derartiger Schluß ergibt sich nunmehr auch eindeutig aus den flurgeographischen Untersuchungen im fränkischen und alemannischen Gebiet. In vor- und frühfränkischer Zeit erfolgte die Anlage der Äcker als Blockfluren; dem entsprach eine wilde Gras-FeldWechselwirtschaft. Erst seit karolingischer, mit Sicherheit sogar erst seit ottonischer und salischer Zeit (10.-11. Jh.) ist mit dem Übergang zur Gewannflur als Grundbestandteil der klassischen Markgenossenschaft zu rechnen; vgl. A. Krenzlin, Die Entwicklung der Gewannflur. In: Deutscher Geographentag Köln 1961. Tagungsberichte und wissenschaftliche Abhandlungen. Wiesbaden 1962, 305ff., 315 u. a. Die Gewannflur kann damit nicht mehr als Argument für ein hohes Alter der Markgenossenschaft dienen, wie noch bei G. v. Below, Geschichte der deutschen Landwirtschaft, 10 ff. Im salfränkischen Recht wird in Titel 45/1 das Mitspracherecht der Nachbarn (vicini) deutlich hervorgehoben (MGH. Leg. Sectio I, T. 4, P. 1). Vgl. Zöllner, Geschichte der Franken . . ., 221. Im bayrischen Volksrecht kommt der Begriff commarcanus vor, ohne daß sein Inhalt präzisierbar ist (Lex Baiwariorum, 402, 447, 473). S. Epperlein, Herrschaft und Volk, 153 ff.
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Flurformen zu ersehließen sind, wie i m alemannisch-fränkischen Gebiet, handelt es sich u m Blockgewanne in Gemengelage, die wahrscheinlich in wilder FeldGraswirtschaft betrieben wurden, d. h. ohne festes Flursystem 1 . Diese Situation dürfte auch noch den Volksrechten zugrunde liegen. 2 Erst mit einer erheblichen Erhöhung der Bodennutzung, der Steigerung der Produktivität u n d der Aufsiedlung des Landes setzte sich seit d e m 10.—11. Jh. die Gewannflur mit fester Flurordnung im R a h m e n der Dreifelderwirtschaft durch. Diese Ordnung h a t t e jedoch die genossenschaftliche Organisation des individuell durchgeführten Ackerbaues zur Voraussetzung u n d zur Grundlage. Der W e g v o n der gentilgesellschaftlichen Gemeinde zur Markgenossenschaft ist mithin nicht unmittelbar und direkt verlaufen, sondern wurde in einem Prozeß langer K ä m p f e und Entwicklungen über vier bis fünf Jahrhunderte gebahnt 3 . Der Inhalt dieses Prozesses war die B e h a u p t u n g starker bäuerlicher Positionen und Verfügungsrechte über die bäuerlichen Wirtschaften einschließlich des Ackerlandes sowie über das Zubehör der einzelbäuerlichen Wirtschaften in F o r m der gemeinen Mark als Gemeinbesitz. Die Herausbildung der Markgenossenschaft war also ein Ergebnis bäuerlichen Klassenkampfes, und sie 1 2 3
A. Krenzlin, Die Entwicklung der Gewannflur, 305 ff. J . Njeussychin, Die Entstehung . . ., 158ff. K. Marx und F. Engels widmeten der Markgenossenschaft große Aufmerksamkeit. Für sie galt die Mark nicht nur als ein Argument für das ursprüngliche Gemeineigentum an Grund und Boden, sondern als Bestandteil der feudalen Produktionsverhältnisse, die in harten Kämpfen durchgesetzt worden waren (K. Marx, in: Marx-Engels, Werke Bd. 19, Berlin 1962, 387). Als Ausdruck der Einheit individuellen und genossenschaftlichen Eigentums, Besitzes und Produktion bildete die Mark die Grundlage für die aktive gesellschaftliche Rolle der Bauern im Prozeß der Herausbildung und Entfaltung des Feudalismus und im politischen Kampf. Sie wurde „während des ganzen Mittelalters zum einzigen Hort der Volksfreiheit und des Volkslebens" (ebenda S. 387). Vgl. auch F. Engels, in: Marx-Engels, Werke Bd. 36, Berlin 1967, 319; ders., in: Marx-Engels, Werke Bd. 25, Berlin 1964, 910; Bd. 19, Berlin 1962, 315if. F. Engels ging 1895 zum letzten Male auf die Entstehung der Markgenossenschaft unter Verarbeitung der neueren Forschungsergebnisse ein (Marx-Engels, Werke Bd. 39, Berlin 1968,454ff.) und interpretierte die genossenschaftlichen Verhältnisse, die sich in der Lex Alamannorum widerspiegeln, noch als Ausdruck der „Hausgenossenschaft", die übergeht in die „Gemeinschaft der getrennten Familien . . . mit getrennt bewirtschafteten Feldern, aber der periodischen Verteilung unterworfen — das bedeutet, was daraus entstand, ist die russische mir, die deutsche Markgenossenschaft gewesen". (S. 457) Diese letzten Erkenntnisse von F. Engels über das Wesen und die Entwicklung der Mark präzisieren bzw. modifizieren die früher auf Grund des rechtsgeschichtlichen Forschungsstandes ausgesprochenen Auffassungen von einem direkten Übergang der Gentilgemeinde in die Mark, von einer Zurückführung der Mark bis in die taciteische Zeit usw. Die 1895 von F. Engels gegebene Skizze (vgl. auch bereits. Marx-Engels, Werke Bd. 21, Berlin 1962, 63) der Entwicklung der Markgenossenschaft wird durch den heutigen Stand der Quellenforschung, die Ergebnisse der Rechtsgeschichte (vgl. Bader, Dorfgenossenschaft. . .), die Siedlungskunde (vgl. S. 187 Anm. 4): und die Ergebnisse der archäologischen Forschung (vgl. S. 180 Anm. 3 u. 181 Anm. 1)> bestätigt.
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wurde . . . „eine Waffe in den Händen der Unterdrückten, lebendig bis in die neueste Zeit" i . Eine bedeutende Rolle bei der Entstehung von feudalem Grundeigentum spielte die Okkupation von Wald und Ödland. Solche Okkupationen erfolgten durch den König und die großen Feudalherren, und das okkupierte Land wurde wie feudaladliges Allod als Lehen ausgegeben und mit königlichen oder adligen Fronhöfen besetzt. Die Bauern erhielten es zur Bewirtschaftung gegen feudale Abgaben. Dabei kam es mehrfach zu Auseinandersetzungen zwischen den Bauern, die das Land als Niemandsland gerodet und urbar gemacht hatten, und dem Feudaladel, der Eigentumsansprüche darauf erhob 2 . Das Wald- und Ödland bildete so ein großes Reservoir feudalen Grundeigentums, es wurde jedoch erst realisierbar durch Rodung. Rodungsarbeiten leisteten jedoch nur die Bauern. Diese konnten sich daher oftmals günstige Rodungs-und Nutzungsrechte erkämpfen, und die Rodungsgebiete, soweit sie für den Ackerbau günstige Böden umfaßten, wurden mehrfach zu Gebieten rascher ökonomischer Entwicklung 3 . So bildete sich in einem komplizierten und jahrhundertelangen Prozeß im Kampf zwischen Adel und Bauern das feudale Grundeigentum. Es war dadurch charakterisiert, daß es sich als privates Eigentum des Adels, also der herrschenden Klasse, an dem wichtigsten Produktionsmittel, dem Grund und Boden, entwickelte, wobei der Warencharakter des Grundeigentums infolge der gering entwickelten Arbeitsteilung und der Selbstgenügsamkeit der wirtschaftlichen Einheiten durch Lehnswesen, Privilegien und andere personenrechtliche Bindungen eingeschränkt wurde. Von den Eigentumsverhältnissen der Sklavenhalterordnung der Antike und früheren Ausbeuterordnungen war das private feudale Eigentumsverhältnis dadurch unterschieden, daß es nur das Eigentum der einen Seite der Produktionsbedingungen, nämlich am Hauptproduktionsmittel, umfaßte, nicht dagegen oder nur sehr eingeschränkt in Form der Leibeigenschaft an den Produzenten 4 . Seit dem Frühfeudalismus setzte sich jedoch in Mittel- und Westeuropa weitgehend die Lösung der Produzenten aus dem Eigentumsanspruch des Feudalherren durch 5 . Diese Eigentumsgrundlage der Feudalgesellschaft war in teilweise sehr ausgedehnten Klassenkämpfen beim Übergang zum Feudalismus herausgebildet 1 Marx-Engels, Werke Bd. 21, Berlin 1962, 146. 2 Beispiele für derartige Auseinandersetzungen bei S. Epperlein, Herrschaft . . ., 153 ff. 3 F. Engels, Die Mark, in: Marx-Engels, Werke Bd. 19, Berlin 1962, 326. 4 Nur in begrenztem Umfang und in einigen Gebieten bestand in der Zeit der Herausbildung des Feudalismus ein Eigentum der Ausbeuter an Menschen, das jedoch niemals bestimmend für die Produktion war und das nach und nach beseitigt wurde. Vgl. u. a. dazu A. P. KopcyHCKHfi, O CTaTyce $paHCKnx KOJIOHOB. CpeRHue Bena 32 (1969), 26ff. mit Lit.—„Begrenztes Eigentum" des Feudaladels an leibeigenen Bauern wurde in der Zerfallsperiode des Feudalismus errfeut in einigen Gebieten durchgesetzt, vor allem in Teilen Mittel- und Osteuropas. Vgl. dazu W. I. Lenin, in: Werke Bd. 29, Berlin 1970, 471 if. Vgl. dazu u. a. A. Dopsch, Freilassung und Wirtschaft im frühen Mittelalter. In: Festskrift til Halvdan Koth. Oslo 1933, 79-84.
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worden, und sie bot m. E. letztlich die Grundlage für die höhere Form des Klassenkampfes und die daraus sieh ergebende stärkere Dynamik der gesellschaftlichen Entwicklung im Vergleich zu den vorhergehenden Ausbeuterordnungen. Die auf dieser Eigentumsgrundlage entstandene Klasse der Feudalbauern hatte einerseits die Möglichkeit zur begrenzten Organisation als Klasse und zum Kampf als Klasse um die Herstellung günstiger Produktionsbedingungen sowie um einen Anteil an dem von ihr geschaffenen Mehrprodukt, andererseits war sie gezwungen, gegen die ihr entgegengesetzten Interessen der Feudalklasse und gegen die daraus resultierenden Angriffe zu kämpfen. Bei der Untersuchung der Frage, unter welchen Ausbeutungsverhältnissen Kapital entsteht, unterschied Karl Marx zwei Grundformen der Ausbeutung: „unmittelbare Zwangsarbeit, Sklaverei, oder vermittelte Zwangsarbeit, Lohnarbeit. Der unmittelbaren Zwangsarbeit steht der Reichtum nicht als Kapital gegenüber, sondern als Herrschaftsverhältnis; er wird daher auf ihrer Basis auch nur als Herr schaftsverhältnis reproduziert, für das der Reichtum selbst nur Wert als Genuß hat . . Kennzeichnend für das Herrschaftsverhältnis war, daß „das lebendige Arbeitsvermögen selbst als Eigentum der anderen Seite erscheint, also nicht als Austauschendes". Damit es zur Herausbildung von Kapital kommen kann, ist zunächst „die erste Voraussetzung, daß das Verhältnis von Sklaverei oder Leibeigenschaft aufgehoben ist. Das lebendige Arbeitsvermögen gehört sich selbst an und disponiert durch den Austausch über seine eigene Kraftäußerung" 2. Mit dem Übergang zum Feudalismus kämpften die Bauern darum, daß ihr „lebendiges Arbeitsvermögen sich selbst angehörte". Sie setzten, wie sich oben zeigte, ihr Ziel teilweise durch, soweit es bei der Entwicklung der Arbeitsteilung im Frühfeudalismus und unter der Bedingung, daß der Bauer durch das immobile Hauptproduktionsmittel Grund und Boden örtlich und an dieses gebunden blieb, möglich war: nämlich bis zur Herstellung von Produktenoder Geldrente bei weitgehender persönlicher Freiheit und Freiheit genossenschaftlicher Organisation. In der Organisation der Produktion ergab sich aus diesem Eigentumsverhältnis und den Beziehungen zwischen feudalen Eigentümern und Bauern ein Wechselverhältnis zwischen der landwirtschaftlichen Produktion mit selbständigen bäuerlichen Wirtschaften und der Produktion in Fronhof wirtschaften. Während die bäuerlichen Wirtschaften die Hauptform waren, in der die Agrarproduktion entwickelt wurde, da sie dem Produzenten in der Regel größere Bewegungsfreiheiten bot, erlangten die Fronhöfe als größere Betriebseinheiten und Konzentrationspunkte des Mehrprodukts in der Übergangsphase zum Feudalismus erstrangige Bedeutung für die Entwicklung von landwirtschaftlichen Spezialkulturen, von Handwerk und Gewerbe, also für die gesellschaftliche Arbeitsteilung. Diese dialektische Einheit von Klein- und Großbetrieb, 1
K. Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie (Rohentwurf). Berlin 1953, 232. 2 Ebenda, 368. 13
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die sich im Ergebnis des Entwicklungsstandes der Produktivkräfte in den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen beim "Übergang zum Feudalismus herausgebildet hatte, wurde zur wesentlichen Erscheinung der oben dargelegten Eigentumsverhältnisse und damit zu einem wichtigen Bestandteil der feudalen Produktionsverhältnisse. Wo diese dialektische Einheit im Klassenkampf in der Epoche der Herausbildung des Feudalismus nicht durchgesetzt werden konnte, stagnierte die ökonomische und politische Entwicklung So steht auch unter dem Gesichtspunkt der Eigentums- und Ausbeutungsverhältnisse der Feudalismus zwischen Sklaverei und Kapitalismus. Sein Grundverhältnis reproduzierte einerseits — soweit es auf Leibeigenschaft beruhte — in hohem Maße nur Reichtum als Herrschaftsverhältnis. Auf der anderen Seite entstanden jedoch mit fortschreitender Arbeitsteilung und Erweiterung der Verfügungsrechte der Produzenten über ihr eigenes Arbeitsvermögen, verbunden damit, daß sie durch den Austausch über ihre eigene Kraftäußerung zu disponieren vermochten, die Bedingungen für die Veränderungen der Rolle des Mehrprodukts oder Reichtums. Es wurde zum mobilen Element, erweiterte die Warenzirkulation sprunghaft und wurde zu einer Macht neuer Art. Diese Entwicklung begann gebietsweise seit dem 8.-9. Jh. und führte zur allmählichen Herausbildung von Handwerkern, Gewerbetreibenden und Händlern. Sie erreichte in der 2. Hälfte des 11. Jh. mit der Ausbildung des Bürgertums und seiner Konstituierung als Städtebürgertum im Verlaufe harter Klassenauseinandersetzungen eine neue Stufe. Oberflächlich gesehen gab es zwischen den spätantiken Grundherrschaften, in denen Sklaven und Kolonen ausgebeutet wurden, und den feudalen Grundherrschaften manche Ähnlichkeiten, die sich u. a. in der Übernahme von Termini für die Bezeichnung von Abgaben- und Ausbeutungsformen ausdrücken. Diese Ähnlichkeiten waren jedoch formaler Art. Tatsächlich schied beide Erscheinungen eine ganze Epoche revolutionärer Kämpfe, in deren Verlauf sich die feudalen Bauern als eine Klasse mit bedeutenden Eigentumsund Verfügungsrechten über ihre Produktionsmittel und Produkte gebildet hatten 2 . Durch diese Kämpfe gelang es den Massen der Bauern, den antagonistischen Prozeß des Fortschritts zu einer neuen Gesellschaft entscheidend mitzugestalten. Die Bauern wurden nicht zum einfachen Ausbeutungsobjekt 1
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Beobachtungen dieser Art scheinen K . Marx offensichtlich zu der Peststellung veranlaßt zu haben, daß „Sklavenarbeit produktiver (ist) als freie, wenn letztere nicht kombiniert" ist. (Grundrisse . . . 972). „ D a s Parzelleneigentum schließt seiner Natur nach aus: Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte der Arbeit, gesellschaftliche Formen der Arbeit . . ." (K. Marx, Das Kapital Bd. 3, 815, in: Marx-Engels, Werke Bd. 25, Berlin 1964). Darauf wies F . Engels besonders hin: „Zwischen dem römischen Kolonen und dem neuen Hörigen hatte der freie fränkische Bauer gestanden . . . Die Gesellschaftsklassen des neunten Jahrhunderts hatten sich gebildet, nicht in der Versumpfung einer untergehenden Zivilisation, sondern in den Geburtswehen einer neuen." (Marx-Engels, Werke Bd. 21, Berlin 1962, 149).
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der herrschenden Klasse des Feudaladels, sondern zum historischen Subjekt in der Ausbildung der ökonomischen Beziehungen und der politischen Bedingungen des Klassenkampfes. Hatte dieser Kampf einerseits das Zusammenwirken größerer Bauernmassen zur Voraussetzung — die auf Grund der oben dargelegten Entwicklung des freien Allodbauern in genossenschaftlicher Gemeindeorganisation gegeben war —, so machte er andererseits größeren Bauernmassen die Notwendigkeit eines solchen Zusammenwirkens bewußt. Die Bildung von „Verschwörungen" seit dem Ende des 8. Jh. in verschiedenen Gebieten Mittelund Westeuropas zeugt von diesem Prozeß 1 . Gegenüber der in sich geschlossenen orientalischen Dorfgemeinde und den Sklaven der Antike erreichte die Klasse der Feudalbauern damit eine höhere Stufe der Klassenorganisation und des Klassenkampfes insofern, als sie bewußt genossenschaftliche Organisationsformen und Verfügungsrechte über selbständige bäuerliche Wirtschaften gegen die herrschende Klasse erkämpfte und verteidigte. 2 Der Klassenkampf der Feudalbauern, wie auch immer er ideologisch ausgedrückt oder überdeckt wurde 3 , war stets auf die Erweiterung des Spielraumes für die bäuerlichen Einzelwirtschaften und für die genossenschaftliche Organisation gerichtet. Damit führten diese Kämpfe in großen Teilen Mittel- und Westeuropas in Verbindung mit der Herausbildung des Bürgertums und der Städte zur Entwicklung einer im wesentlichen aus persönlich freien Bauern sich zusammensetzenden Klasse von Feudalbauern, die durch den Feudaladel über Geld- und Produktenabgaben bzw. in Form des Pachtzinses ausgebeutet wurden. Die Konzentration des Mehrprodukts aus der Ausbeutung der Bauern erfolgte im Feudalismus nicht in erster Linie durch den Staat oder eine kor1
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K. Th. v. Inama-Sternegg, Deutsehe Wirtschaftsgeschichte bis zum Schluß der Karolingerzeit. 2. Aufl. Leipzig 1909, 320ff., 360ff. Auf die neue Qualität der Klassenverhältnisse, die sich mit der Feudalentwicklung bildeten, wies F. Engels hin (Marx-Engels, Werke Bd. 21, Berlin 1962, 149); ähnlich W. I. Lenin (Werke Bd. 29, Berlin 1970, 471). Die geistige Orientierung konnte auf dieser Entwicklungsstufe zwangsläufig nur an den Verhältnissen zurückliegender Zeiten erfolgen — durch deren Interpretation für Ziele der jeweiligen Gegenwart. In der frühfeudalen Epoche bedeutete das eine Orientierung der Bauern an der Stellung des freien Bauern der vorfeudalen Zeit. Selbst die bäuerlichen Kämpfe des 15. und 16. Jh. fanden ihre geistigen Grundlagen, indem alte religiöse Ideologien neu interpretiert wurden. Das gilt auch für das aufsteigende Bürgertum. Deshalb kann es kein Maßstab für die Beurteilung einer Volksbewegung sein, ob und wie sie an ältere Ideologien anknüpfte oder sich die Wiederherstellung älterer Zustände zum Ziele setzte, die in der Regel zudem — durch die Ideologie der Zeit selbst — idealisiert und den Bedürfnissen der Gegenwart „angepaßt" wurden. Für die Beurteilung der historischen Stellung solcher Volksbewegungen kann nur gelten, in welchem Maße durch die Aufnahme solcher Zielstellungen weiterführende gesellschaftliche Verhältnisse im Klassenkampf objektiv durchgesetzt wurden. Für die hier behandelte Zeit ist das auf den größten Bauernaufstand des 9. Jh., den Steilingaaufstand, anzuwenden. (Zum Stellingaaufstand zuletzt unter kritischer Sichtung der Quellen und der z. T. kontroversen Literatur S. Epperlein, Herrschaft . . . 50-68.)
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porativ organisierte herrschende Klasse, sondern durch jedes Mitglied der herrschenden Klasse als den jeweiligen privaten Grundeigentümer in seiner Grundherrschaft (bzw. analog in den kirchlichen oder königlichen Grundherrschaften). Damit war einerseits eine Dezentralisation des Mehrprodukts verbunden — z. B. dauerte es mehrere Jahrhunderte, bis sich feste königliche Residenzen' herausbilden konnten; ein monumentales Bauwesen in breitem Umfang setzte erst mit dem Hochfeudalismus und der Entstehung der Städte ein —, andererseits führte diese Form der gesellschaftlichen Organisation jedoch dazu, daß die herrschende Klasse verhältnismäßig eng mit der Agrarproduktion als dem wichtigsten Zweig der Produktion in der Aufstiegsphase des Feudalismus verbunden war, daß ein großer Teil des Mehrprodukts der Organisation einer Vielzahl von Grundherrschaften, der Anlage von Spezialkulturen, Mühlen, Rodungen, Melioration und handwerklicher Spezialisierung an den Fronhöfen zugute kam und damit eine sehr breite Basis für die Herausbildung der Arbeitsteilung und des Städtewesens gelegt wurde. Unter diesem Gesichtspunkt kommt dem Verfall des antiken Städtewesens eine andere als in der Regel angenommene Bedeutung zu. Seit der Zeit der Entstehung der Ausbeutergesellschaften und damit von Städten war die Stadt der Sitz der ausbeutenden Klassen gewesen; in den Städten wurde das Mehrprodukt konzentriert und für Konsumtions- und Repräsentationszwecke der Herrschenden verbraucht. Die Entwicklung der Arbeitsteilung in der handwerklich-städtischen Produktion wurde in der Regel diesen Interessen der Herrschenden untergeordnet. Die in einigen Gebieten auf dieser Grundlage und unter diesen Voraussetzungen entstehende gesellschaftliche Arbeitsteilung im weitesten Sinne war zweifellos beachtlich und mannigfaltiger als die in der Epoche der Herausbildung des Feudalismus. Charakteristisch war jedoch im allgemeinen, daß sie zur Entwicklung der Landwirtschaft, des wichtigsten Produktionszweiges, nur in geringem Maße beitrug. Durch die Bindung der handwerklichen und gewerblichen Arbeitsteilung in der Aufstiegsphase des Feudalismus an die Agrarproduktion in den Grundherrschaften konnte die Arbeitsteilung zum unmittelbaren Hebel der gesellschaftlichen Grundproduktion werden 1 . Eine neue Ausgangsbedingung für die weitere Entwicklung wurde dadurch geschaffen, daß im Verlaufe des Aufstiegs des Feudalismus nicht eine Unterordnung des Landes unter die Stadt eintrat, sondern die Trennung von Stadt und Land und die Verbindung beider über den Markt. Die Tatsache, daß die Bauern jeweils nur relativ isolierten Grundherren gegenüberstanden, führte zu einer oftmals günstigeren Ausgangsposition im Klassenkampf, die ihnen im Notfall die Flucht auf Rodungsland oder auf das 1
Zum grundlegenden Wechsel des gesellschaftlichen Verhältnisses Stadt — Land vgl. u. a. P.Engels (Marx-Engels, Werke Bd. 21, Berlin 1962, 161). Engels betont, daß dieser Wechsel engstens mit der Veränderung der Klassenverhältnisse verbunden war, „wobei die Stadt das Land ökonomisch beherrschen kann, wie im Altertum, oder auch das Land die Stadt, wie im Mittelalter". Vgl. auch K. Marx, Das Kapital, in: Marx-Engels, Werke Bd. 23, Berlin 1962, 373.
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Gebiet anderer Grundherren offenhielt. Damit besaßen die Bauern im aufsteigenden Feudalismus ein bedeutsames Mittel des Klassenkampfes, dem u. a. bei der Herausbildung der Städtebürger aus ehemaligen Leibeigenen und Hörigen eine große Rolle zukam 1 . Auf diese Weise bildeten sich über mehrere Jahrhunderte des Klassenkampfes, vor allem zwischen dem 5./6. und 9. Jh., die feudalen Produktionsverhältnisse in großen Teilen West- und Mitteleuropas heraus. Sie waren „durch die Teilung des Bodens unter möglichst viele Untersassen charakterisiert. Die Macht des Feudalherrn . . . beruhte . . . auf der Zahl seiner Untertanen, und letztere hing von der Zahl selbstwirtschaftender Bauern ab" 2 . Ein wesentliches Ergebnis des bäuerlichen Klassenkampfes waren die bedeutenden Verfügungsrechte der Feudalbauern in großen Teilen Mittel- und Westeuropas über ihre Produktionsmittel sowie die genossenschaftliche bäuerliche Organisation. „Man muß nie vergessen", schrieb Karl Marx, „daß selbst der Leibeigene nicht nur E i g e n t ü m e r , wenn auch t r i b u t p f l i c h t i g e r E i g e n t ü m e r , der zu seinem Haus gehörigen Bodenparzelle war, sondern auch M i t e i g e n t ü m e r des Gemeindelandes" 3 . „Das Grundverhältnis der ganzen feudalen Wirtschaft, Landverleihung gegen Leistung gewisser persönlicher Dienste und Abgaben" 4 , beruhte nach den Auffassungen von K. Marx, und F. Engels — daran scheint mir kein Zweifel möglich — auf dem privaten feudalen Grundeigentum 5 . Auf Grund dieser Voraussetzungen erklärt sich der „Aufbau einer sozialen und politischen Rangordnung von so verwickelter Art, wie sie bisher noch nicht bestanden hatte". 6 Die vom privaten feudalen Grundeigentum bestimmte gesellschaftliche Basis, die daraus erwachsenden Klassengliederungen und Ausbeutungsformen und der daraus entspringende Klassenkampf mit seinen verhältnismäßig differenzierten, überethnischen Formen waren bestimmend für den Staatsaufbau. Das feudale Grundeigentum war auf außerökonomischem Wege durch 1
Nach K. Marx (Grundrisse, 363) ist „das Weglaufen der Leibeignen in die Städte eine der h i s t o r i s c h e n Bedingungen und Voraussetzungen des Städtewesens". 2 Vgl. K. Marx, Das Kapital Bd. 1, in: Marx-Engels, Werke Bd. 23, Berlin 1962, 745. 3 Ebenda. Anm. 191 (Hervorhebungen von mir). F. Engels, in: Marx-Engels, Werke Bd. 21, Berlin 1962, 396. 5 Insofern scheint mir die im Anschluß an E. Müller-Mertens getroffene Feststellung von H. Assing (Zur Definition des feudalen Grundeigentums. Ethnographisch-Archäologische Zeitschrift 11 (1970), 95—107), „daß Marx und Engels keine abgeschlossene FeudalismusAuffassung hinterlassen haben" (S. 97), nur bedingt zutreffend. Die Eigentumsgrundlagen des Feudalismus bzw. ihre Genesis sind bereits in den Grundrissen der Kritik der politischen Ökonomie deutlich herausgearbeitet (375ff.; 187, 188, 190). Klarer und historischkonkret ausgeführt bei F. Engels, Ursprung . . ., in: Marx-Engels, Werke Bd. 21, Berlin 1962, 146ff., 148f., 150; ders., in: Marx-Engels, Werke Bd. 39, Berlin 1968, 457. 6 F. Engels, Anti-Dühring, in: Marx-Engels, Werke Bd. 20, Berlin 1962, 96. Lenin schrieb: „Die Gesellschaft der Leibeigenschaft war immer komplizierter als die Sklavenhaltergesellschaft." (Werke Bd. 29, Berlin 1970, 472).
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außerökonomische Hebel in bedeutendem Umfang aus kleinem Allodeigentum oder unbebautem Land entstanden. Nach K. Marx verlief dieser Prozeß sogar so, daß es dem Feudaladel oftmals nicht gelang, das bäuerliche Eigentum insgesamt in feudales Großgrundeigentum zu verwandeln, sondern bäuerliches Eigentum nur feudaler Ausbeutung durch Tribute und Abgaben zu unterwerfen1. In Sachsen und Friesland — so zeigte sich (oben S. 188 ff.) — muß mit einer derartigen Entwicklung gerechnet werden. In England scheinen die feudalen Verhältnisse in großen Landesteilen auf dieser Basis beruht zu haben.2 Unter diesen Bedingungen war das Bestehen eines Zwangsapparates zur unmittelbaren Eintreibung feudaler Dienste und Abgaben eine Grundvoraussetzung feudalherrlicher Ausbeutung3. In der Übergangsperiode zum Feudalismus, in der im Verlaufe von ausgedehnten Klassenauseinandersetzungen und Kämpfen nach und nach feudale Produktionsverhältnisse hergestellt wurden, hatte dieser die Form des Großreiches (der Merowinger; vergleichbare Großreiche waren das Großmährische Reich, die Kiewer Rus u. a.). Seine sozialökonomische Basis waren unentwickelte Klassenverhältnisse. In den ehemaligen römischen Gebieten bildete die zentralisierte militärische Macht eine der wesentlichen Grundlagen für die Zerschlagung der römischen Staatsgewalt, für die Behauptung der Herrschaft der sich bildenden Adelsklasse gegenüber anderen, ebenfalls auf römischem Gebiet entstehenden Barbarenstaaten (Westgotenreich, Ostgotenreich, Burgunderreich) und für die Durchsetzung der Adelsherrschaft gegen die freien Bauern. In dieser Phase vermochte die entstehende Adelsklasse weitestgehend die freien Bauern, die den Grundbestand der Heeresaufgebote bildeten, als wichtigste militärische Schlagkraft auszunutzen und dabei gleichzeitig durch beständige Kriegszüge eben diese Bauern zu ruinieren und ihren Übergang in feudale Abhängigkeit zu erzwingen. Im Kampf gegen die germanischen Stämme östlich des Rheins stellte die Zentralisation der Macht des entstehenden Adels des Frankenreiches den einzigen Weg dar, um die noch in gentiler Organisationsform im Heeresaufgebot der Stammesverbände zusammengefaßten freien Bauern zu unterwerfen. Wie rasch diese scheinbaren Kämpfe zwischen den Stämmen in Klassenaus1
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Vgl. die oben angeführte Stelle aus dem „Kapital", in: Marx-Engels, Werke Bd. 23, Berlin 1962, 745 Anm. 191. K. Marx, Das Kapital Bd. 1, in: Marx-Engels, Werke Bd. 23, Berlin 1962, 744f.: „Die ungeheure Mehrzahl der Bevölkerung bestand damals und noch mehr im 15. Jh. aus freien, selbstwirtschaftenden Bauern, durch welch feudales A u s h ä n g e s c h i l d ihr Eigentum immer versteckt sein mochte". Vgl. auch A. L. Morton, Volksgeschichte Englands. Berlin 1956, 131ff., 183 ff.; P. Vinogradoff, The Growth of the Manor. Außerökonomischer Zwang (K. Marx, Das Kapital Bd. 3, 799; W. I. Lenin, Werke Bd. 2, Berlin 1970, 492) war ein Grundbestandteil der Herrschaft des Feudaladels, verbunden mit dem Ausschluß der Bauern von allen politischen Rechten (W. I. Lenin, Werke Bd. 29, Berlin 1970, 472). Abarbeit, persönliche Abhängigkeit, war der „ständige Begleiter der vorkapitalistischen Wirtschaftsformen" (Lenin, Werke Bd. 2, Berlin 1970, 534).
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einandersetzungen übergingen, zeigt besonders die Unterwerfung Sachsens. Nach der Taufe Widukinds als Ausdruck des vollzogenen Bündnisses zwischen fränkischem und sächsischem Adel im Jahre 782 kämpfte der sächsische Adel insgesamt an der Seite des fränkischen Adels gegen die sächsischen Bauern. Im Rahmen des fränkischen Reiches übte der sächsische Adel seit 772 staatliche Funktionen wie Grafenämter aus. Etwa zwei Jahrzehnte lang, bis zum Beginn des 9. Jh., standen die sächsischen Bauern in einem hartnäckigen und erfolgreichen Kampf gegen den vereinigten fränkischen und sächsischen Adel und gestalteten durch diesen Kampf ganz offensichtlich entscheidend die Ausbildung feudaler Produktionsverhältnisse Der Übergang zu feudalen Produktionsverhältnissen war jedoch — wie oben gezeigt — mit der Durchsetzung von feudalem privatem Grundeigentum verbunden. Nachdem dieses in einem interessenbestimmenden Umfang vorhanden war, begannen die zentrale Gewalt im Karolingerreich seit dem 1. Viertel des 9. J h . an Macht zu verlieren, das Großreich in Teilgebiete und diese wiederum in Herzogtümer zu zerfallen. Zugleich begannen sich staatliche Funktionen in den Grundherrschaften zu bilden, die u. a. Immunitätsrechte, d. h. die staatliche Sanktionierung von Grundherrschaften als privatrechtliche Gebiete, erhielten. Diese Grundherrschaften waren in mehr oder weniger großem Umfang der Machtausübung der Zentralgewalt entzogen, schufen sich jedoch selbst staatliche Organe entsprechend den jeweiligen Erfordernissen. Die vorwiegend naturalwirtschaftlich bestimmten Beziehungen innerhalb der Grundherrschaften und zwischen den Grundherrschaften als selbstgenügsamen Einheiten sicherten diesen über mehr oder weniger lange Zeit und in mehr oder weniger breitem Umfang ihre Existenz als autonome Einheiten innerhalb des Feudalstaates. Die Zentralgewalt wachte lediglich über die allgemeinen Bedingungen ihrer Existenz nach außen und versuchte, die entstehenden Spannungen im Innern durch lockere politische Zusammenfassungen des Feudaladels in Hoftagen, Heeresversammlungen usw. auszugleichen. Ansonsten bildeten die adligen Burgen und befestigten Adelshöfe, die seit dem 9. Jh. in größerer Zahl zu entstehen begannen, sowie Gefolgschaften, die der Adel ständig unter Waffen hielt, wesentliche Machtmittel für die Ausübung feudaler Herrschaft. Eine andere, nicht weniger wesentliche Seite feudaler Herrschaft wurde von der christlich-feudalen Ideologie aufgebaut. Gestützt auf umfangreiches feudales Grundeigentum und unter Ausnutzung der Macht des Wortes und der Kultur gelang es der Kirche, die breiten Massen des Volkes fest in die feudale Gesellschaft einzubeziehen. Diese Durchdringung der Gesellschaft mit einer einheitlichen Ideologie, die mit Hilfe religiöser Mittel und religiöser Verheißungen Ausbeutung und privates Eigentum sanktionierte und schützte, andererseits die Arbeit als gottgefällige, belohnenswerte Tätigkeit wertete, auch in Not1
Eine marxistische Untersuchung dieser Frage steht noch aus. Zum Stand der Forschung vgl. unter dem Gesichtspunkt „bäuerliche Freiheit — feudale Abhängigkeit" H.-J. Bartmuß, Die Geburt des ersten deutschen Staates . . 150 ff.
200
JOACHIM H E R R M A N N
fällen zur Barmherzigkeit rief und den Mantel sozialer Geborgenheit auszubreiten schien, wirkte in den Zeiten des Aufstiegs der Feudalordnung integrierend und festigend. Es scheint, daß diese Form der massenwirksamen Ideologie eine notwendige Ergänzung zu der und zugleich Voraussetzung für die Organisation feudalstaatlicher Macht auf der Grundlage zersplitterter lokaler, z. T. privater Grundherrschaften bildete. 1 Die Verhältnisse mußten sich in dem Augenblick ändern, in dem die Warenproduktion einen größeren Umfang annahm, die Städte entstanden und sich mit der Entstehung des Bürgertums die Klassenkräfte entscheidend veränderten, Privateigentum also in größerem Umfang als Ware zu zirkulieren begann. Diese ökonomischen Veränderungen setzten sich über Klassenauseinandersetzungen in verschiedenen Formen bis zum bewaffneten Aufstand der Bauern und der entstehenden Städtebürger, in feudalen Fehden und Kriegen durch. Infolge dieser, letztlich auf privatem Grundeigentum beruhenden Klassenstruktur des Feudalismus, die in der Art und Weise der Aneignung des Mehrprodukts durch die Feudalherren in privaten Grundherrschaften ebenso zum Ausdruck kam wie in der zeitweiligen Organisation von „Feudalgutstaaten" 2 , fand das Bürgertum günstige Bedingungen vor, um bei seiner Herausbildung auf der Grundlage nichtagrarischer, handwerklicher und gewerblicher Produktion und des Handels sowohl seine Stadtorganisation in einer feudalen Immunitäten vergleichbaren Form als auch die privateigentümliche Basis als Ganzes durchzusetzen. Damit jedoch entstand im Rahmen der feudalen Gesellschaft und der auf privatem Eigentum beruhenden feudalen Produktionsverhältnisse „die erste Grundbedingung bürgerlichen Erwerbs: Sicherheit der kaufmännischen Person und ihres Eigentums" 3 . Infolge der Tatsache, daß das feudale Grundeigentum den Charakter von Privateigentum hatte und weil das Privateigentum, wenn auch in vielfacher Form verbrämt, die Struktur der feudalen Gesellschaftsordnung bestimmte, war mit dem Anwachsen der Produktivkräfte eine verhältnismäßig rasche und weitgehende Konstituierung des Städtebürgertums neben dem Feudaladel möglich, ohne daß damit die Umwälzung der gesamten Gesellschaftsordnung 1
2
3
Die Kirche wurde zur „allgemeinsten Zusammenfassung und Sanktion der bestehenden Feudalgesellschaft", woraus sich die „Oberherrlichkeit der Theologie auf dem ganzen Gebiet der intellektuellen Tätigkeit" herleitete (F. Engels, Der deutsche Bauernkrieg. In: Marx-Engels, Werke Bd. 7, Berlin 1960, 343). Die oben skizzierte Form der Bindung von unmittelbarer staatlicher Machtausübung an die Grundherrschaft wurde auch als „Feudalgutstaat" bezeichnet, vgl. B. F. Porschnew, Das Wesen des Feudalstaates. Sowjetwissenschaft, Gesellschaftswiss. Abt. 1952, 257; N. Kolesnizki, Zur Frage der Periodisierung der Geschichte des feudalen Staates. In: Zur Periodisierung des Feudalismus und Kapitalismus in der geschichtlichen Entwicklung der UdSSR. Diskussionsbeiträge. 20. Beiheft zur „Sowjetwissenschaft". Berlin 1952, 245; E. Müller-Mertens, Das Zeitalter der Ottonen. Berlin 1955, 139if. F. Engels, Die auswärtige Politik des russischen Zarentums, 1889/90, In: Marx-Engels, Werke Bd. 22, Berlin 1963, 31.
Allod und Feudum und die feudale Staatsbildung
201
verbunden war. „Überall, wo ein persönliches Verhältnis durch ein Geldverhältnis, eine Naturalleistung durch eine Geldleistung verdrängt wurde, da trat ein bürgerliches Verhältnis an die Stelle eines feudalen" 1 . Eine derartige Entwicklung war nur möglich in einer Gesellschaftsformation, die das Privateigent u m an Produktionsmitteln, „durch welch feudales Aushängeschild" auch immer versteckt, zur Grundlage hatte. Derartige feudale Aushängeschilder, die letztlich dem Zustand der Produktion entsprangen, waren das Lehnswesen, Privilegien, die personenrechtlichen Bindungen und Beziehungen und die unterschiedlichen Formen feudaler Abhängigkeit und außerökonomischen Zwanges, mit .deren Hilfe die Feudalklasse die Ausbeutung der Bauern durchsetzte. Der staatliche Machtapparat mußte unter den Bedingungen der Existenz einer Vielzahl privater feudaler Grundeigentümer und Grundherrschaften zwangsläufig die Form der feudalen Aristokratie annehmen, an deren Spitze der feudale König als primus inter pares stand 2 . 1 2
F. Engels, in: Marx-Engels, Werke Bd. 21, Berlin 1962, 394. „Die herrsehende Klasse, die hier, bei aufkommender Ungleichheit des Besitzes, sich allmählich bildete", so schrieb F. Engels, „konnte nur eine Klasse großer Grundbesitzer sein, ihre politische Herrschaftsform die einer Aristokratie" (F. Engels, in: Marx-Engels, Werken Bd. 19, Berlin 1962, 476).
Objektive Gesetzmäßigkeiten und subjektiver Faktor bei der Entstehung des altrussischen Staates* von Sergej Sergeevic Sirinskij
(Moskau)
Die vorliegende Arbeit befaßt sich mit der Wechselwirkung zwischen den objektiven Gesetzmäßigkeiten der gesellschaftlichen Entwicklung und dem subjektiven Faktor in der hochinteressanten Periode der Entstehung der Kiewer Rus, eines der ältesten Staaten der slawischen Welt, der sich über ein ausgedehntes Gebiet in Osteuropa erstreckte. Die Geschichte der Herausbildung des altrussischen Staates wird schon seit vielen Jahren von den sowjetischen Historikern erfolgreich erarbeitet. Dennoch sind einige Seiten dieses Prozesses, vor allem wegen der UnVollständigkeit der schriftlichen Quellen über die Anfangsperiode der Kiewer Rus, noch unzureichend untersucht. Dabei muß man, genau genommen, auch die Geschichte der Forschungen berücksichtigen, die die sowjetischen Wissenschaftler zum Problem der Entstehung des altrussischen Staates unternahmen. B. D. Grekov und B. A. Rybakov wiesen darauf hin, daß die ersten Versuche der nachrevolutionären Forscher zur Bearbeitung dieser Frage nicht immer erfolgreich verliefen und trotz der marxistischen Ausgangsposition 1 durch eine mechanistische Deutung der konkreten historischen Ereignisse gekennzeichnet waren. Anfang der 30er Jahre begann die neue Etappe einer eingehenden und konsequenten Untersuchung der Geschichte der Ostslawen und der Kiewer Rus auf der Grundlage der marxistisch-leninistischen Methodologie. Unter Anwendung der Lehre von den sozialökonomischen Formationen und den Gesetzmäßigkeiten ihrer Entwicklung erarbeiteten die sowjetischen Historiker und Archäologen auf dem Wege genauesten Quellenstudiums eine exakte wissenschaftliche Konzeption, die den altrussischen Staat als eine der wichtigsten Etappen der Entwicklung des Feudalismus in Rußland charakterisiert. Gestützt auf ein umfassendes Tatsachenmaterial werden in diesen Arbeiten der reale Fortschritt in der Entwicklung der Produktivkräfte bei den Ostslawen in der 2. Hälfte des 1. Jahrtausends u. Z. sowie der Prozeß des Zerfalls der gentilen Stammes* Übersetzung aus; JleHHHCKHe n « e n B H3yneHHH HCTopHH nepBoßHTHoro oßmecTBa,
paßoBJiaReHHH h $e0fl0JiH3Ma. MocKBa 1970, 189—211. 1
Vgl. darüber: E. fl. TpeKOB, KiieBCKan Pycb. JleHHHrpap; 1953, 56f.; B. A. PtiSanoB, üpeanochuiKH 06pa30BaHHH TtpeBHepyccKoro rocy«apcTBa. In: OnepKii
I I I - I X BB. MocKBa 1958, 737.
HCTOPHH
CCCP
Die Entstehung des altrussischen Staates
203
Verhältnisse und der Herausbildung neuer Klassenverhältnisse in der frühfeudalen Gesellschaft nachgewiesen, die zur Entstehung der Kiewer Rus 1 führten. Will man diese grundlegende Periode innerhalb des Studiums über die Entstehung des altrussischen Staates insgesamt charakterisieren, so muß man allerdings hervorheben, daß sich die Hauptaufmerksamkeit der Forscher ausschließlich auf die Untersuchung der sozialökonomischen Geschichte Altrußlands konzentrierte. Diese Erscheinung ist als erste, natürliche und unvermeidliche Reaktion auf die von ihrer Basis her idealistischen Ansichten der bürgerlichen Wissenschaftler verständlich. Nur auf diese Weise konnte eine 1
A . B . ApuHxoBCKHü, ApxeoJiormecKiie naHHtie o B03HHKH0BeHHH eoRajiH3Ma B Cy3HajibCKoß h CiMOJieHCKOii 3eMJiHx. I n : IIpoSneMH HCTopim ROKannTajmcTHiecKHX oßiqecTB, 11—12. MocKBa — JleHHHrpa« 1934; ders., OCHOBM a p x e o j i o n o i . MocKBa 1955. 201—211; ders., ApxeoJiornqecKne naHHue no BapHHiCKOMy Bonpocy. I n : K y j i b T y p a ,H,peBHeü P y e « . MocKBa 1966; M . K ) . BpafiieBCKHö, B . O . flciBJKeHOK, O BpeMeHH cnoweHMH v - ., 7 4 8 .
3
10. B . KyxapeHKo,
CpeRHeBeKOBbie
IISUVIHTHHKH ITojiecba
8f.,
22-27;
B . A . Pw6aH0B,
ü e p B b i e Bena pyccKoft HCTopmi, 22. 4
1 0 . B . K y x a p e H K o , CpeRHeBeKOBbie naMHTHHKH ü o j i e c b H , 2 4 , T a f . 5, 6 , 9 , 13—17.
Die Entstehung des altrussischen Staates
209
objektives Bild vom Leben einer Siedlung vor ihrer Vernichtung. Deshalb darf man das Fehlen von landwirtschaftlichem Inventar innerhalb der Festung nicht als Zufall betrachten. Die Mannschaft der Militärsiedlung wurde von außen her mit Nahrungsmitteln versorgt, und diese Versorgung hatten natürlich nicht nur die Bewohner des benachbarten Dorfes, sondern die der ganzen näheren Umgebung zu gewährleisten. Vieles läßt sich auch aus den in der Festung vorhandenen Waffen ablesen. Man fand Speere, Pfeilspitzen, Zubehör von Pferdegeschirr und sogar Teile der Rüstung 1 . Bekanntlich bezeugt das Material der archäologischen Untersuchungen eindeutig den f ü r den ostslawischen Bereich im 9. J h . charakteristischen Prozeß der Heraussonderung der handwerklichen Produktion aus dem System der Gesamt Wirtschaft und ihrer Konzentration. Hier kann man den großen Hüttenplatz des 7./8. Jh. beim Dorf Grigorovka 2 anführen, die Werkstätten, die mit den gesellschaftlichen und kultischen Zentren am Fluß Gnilopjat und in Vsciz 3 verbunden waren, die Goldschmiedewerkstätten in der befestigten Siedlung Novotroickoe 4, das mutmaßliche Zentrum einer komplexen handwerklichen Produktion beim Dorf Gnezdovo 5 sowie weiteres Fundmaterial dieser Art 6 . Eine derartige Produktion konnte, wie ethnographische Angaben zeigen, an einigen Orten die Bedürfnisse von begrenzten Sippenkollektiven sichern 7 . Die Ausrüstungsgegenstände der befestigten Siedlung Chotomel spiegeln noch ein weiteres Phänomen wider: eine eigenartige „ Spezialisierung" und den Zusammenhang von handwerklicher Produktion und Befriedigung der Bedürfnisse eines begrenzten Kollektivs—des Kriegsgefolges eines Stammes mit seinen Heerführern 8 . Auf Grund des untersuchten Materials läßt sich feststellen, daß gegen Ende des 8. J h . bei den Ostslawen auf der Basis des Entwicklungsstandes der Produktivkräfte eine große Anzahl objektiver Faktoren wirkte, die in der Folgezeit zur Schaffung der künftigen Staatsform beitrug. Die mächtigen, ihrer Grundlage nach territorialen Stammesverbände mit dem sich immer mehr von der breiten Masse der Bevölkerung entfernenden Ver» E b e n d a , 24, Taf. 2 - 1 2 , 1 4 - 1 7 , 2
22-25.
M . H . A p T a M O H O B , CjiaBHHCKHe / K C J i e a o n . n a B H J i M i H e n e n a
meHHH TocynapcTBeHHoro DpMHTaata 3
Ha
CpeflHeM
/^HocTpe.
Coo6-
7 (1955).
M . I I . P y c a H O B a , M c c j i e ^ o R a H H H naMHTHHKOB . . ., 1 4 5 ; B . A . P t i ß a K O B , CTOJIBHHÖ r o p o «
MepHnroB . . ., 112. 4 5
M . M . J l H n y u i K H H , C n a B H H e BOCTOHHOH E B p o n t i . . ., 1 4 5 f . H. H. JlnnyuiKHH,
H o ß o e B II3YQEHHK r H e s f l O B a . I n :
A p x e o J i o r m e c K n e OTKPHTHH
1967
r o « a . M o c K B a 1 9 6 8 , 4 3 f. 6
B . A . PfciöaKOB, P e w e c n o
flpeBHeil
Pye«, 118f.;
M. M. JlanyuiKHH,
CaaBHHe
BOCTOIHOÜ
E ß p o n t i . . ., 1 4 4 - 1 4 6 ; A . H . M o c K a n e H K O , T o p o A H m e T H T i H x a . . . , 8 7 - 9 6 , 1 4 0 f . ; T . A . Bo3HeceHCKaH, O ß p a ö o T K a l e p n o r o (Anhang);
MeTan.ia Ha ropo^Hine
dies., MeTTanorpa^HiecKoe
CJiaBHHCKHX naMHTHHKOB.
nccjie«OBaHHe
7
M a r x - E n g e l s , a. a. O., 159.
Vgl. dazu auch B. A. Pti6aKOB, PeMerao Staatsentstehung
H3sejmft
H3
255—262 paHHe-
K p a T K H e c o o ß m e i i H H HHCTHTyTa a p x e o n o r H H 1 1 0 ( 1 9 6 7 ) , 1 2 7 f .
8
14
TiiTiiixa, ebenda,
Ky3HeiHbix
flpeBHeil
Pye«, 119.
210
SERGEJ SERGEEVIC SIRINSKIJ
waltungsapparat und den nahezu berufsmäßigen Kriegern, die immer vollkommener werdenden Verwaltungsformen, die Versammlungen des Einzelstammes und des Stammesverbandes, die Entwicklung und Ausbreitung des Gewohnheitsrechtes, die handwerkliche Produktion zur Befriedigung der Bedürfnisse eines engen Kreises von Kriegern und deren Führern, das Anwachsen der Kontakte innerhalb des Stammes und zwischen den verschiedenen Stämmen, die die Abgeschlossenheit der lokalen „Welten" verringerten — all das erwies sich in der Folgezeit als organisch notwendig für die Bildung des altrussischen Staates. Was hemmte nun im Laufe des 7./8. Jh. die Herausbildung des Staates bei den Ostslawen? Diese Frage läßt sich nur durch die Charakterisierung des Entwicklungsstandes der Produktivkräfte jener Zeit in dem Hauptwirtschaftsbereich der ostslawischen Bevölkerung, der Landwirtschaft, beantworten. I m 7. und 8. Jh. besaßen die Ostslawen in der Waldsteppe schon ein so vollkommenes Ackerbaugerät wie den Pflug mit breitschaufliger Pflugschar und Streichbrett. Mit diesem Gerät konnte man eine verhältnismäßig breite Furche ziehen, die Erde zur Seite bewegen und von unten her eine Schicht horizontal abschneiden, wodurch das Unkraut wirksamer zu bekämpfen war 1 . Ein Mangel war der komplizierte Gebrauch auf jungfräulichem Boden und langjähriger harter Brache 2 . In der osteuropäischen Waldzone war unter den Bedingungen der im 6. bis 9. Jh. hier vorherrschenden Rodewirtschaft die Zoche 3 das geeignetste Gerät zur Bodenbearbeitung. Der Gebrauch des Pfluges mit Streichbrett im Waldsteppengebiet bestimmte auch die Wirtschaftsmöglichkeiten der Slawen. Die Bevölkerung mußte hauptsächlich den vorhandenen Bestand an schon kultiviertem Boden nutzen und die Methode der kurzzeitigen, weichen Brache 4 anwenden. Das alles hemmte das Wachstum der Landwirtschaft und verhinderte (bei der ständigen Zunahme der Bevölkerungszahl und den sich periodisch wiederholenden Mißernten) eine stärkere Vergrößerung des Mehrprodukts. Eine analoge Erscheinung wie die Rodewirtschaft in der Waldzone verzögerte in der Gesellschaft in gewissem Maße den Prozeß der Herausbildung der Einzelfamilie als einer wirtschaftlichen Einheit; dadurch wurden das Patronymium und die Großfamilie konzentriert, die Entwicklung militärischer Gefolgschaften und einer bedeutenderen EigentumsdifFerenzierung der Gesellschaft behindert. Die durch den Entwicklungsstand der Produktivkräfte bestimmten objektiven Lebensbedingungen der Ostslawen im 6. bis 8. Jh. diktierten auch die Wirkungstendenz des subjektiven Faktors jener Zeit. In seiner Arbeit zur Alten Rus schreibt B. A. Rybakov, daß das ostslawische Epos vom 6. bis 8. Jh., „das auf der realen Grundlage der slawischen Gesell1 B.O.^OBHIEHOK,
poöcTBo
06 ypoBHe PA3BHTHH 3eMJieÄenHH B KHeBCKoii Pye«, 6i f.;, ders. 3eMJiePyci. KHIB 1961, 64f.; A . B . KuptHHOB, 3eMJieRejiHe BocTOTHoro
itpeBHboI
CJiaBHHCTBa, 176 f . 2
A . B . KiiphHHOB, 3eMJienejiHe BocToiHoro «iaBHHCTBa, 177.
3 Ebenda, 185 f.
4
Ebenda, 177
Die Entstehung des altrussischen Staates
211
Schaft zur Zeit der militärischen Demokratie aufgebaut ist", vor allem die Tätigkeit derjenigen Stammesfürsten schildert, die innerhalb der Organisation der Stammesverbände den ersten Rang einnahmen, und über die Teilnahme dieser Verbände am Kampf gegen die Eroberer berichtet1. In diesem Bereich ist auch das Wirken des subjektiven Faktors zu verfolgen. Unter den Bedingungen des ständigen Kampfes mit den Feinden vervollkommneten die Ostslawen im 6. bis 8. Jh. ihre politischen und ideologischen Institutionen und legten damit die allgemeinen organisatorischen Grundlagen für den zukünftigen Staat. Eine qualitativ neue Etappe in der Entwicklung der Ostslawen wurde am Ende des 8. und zu Beginn des 9. Jh. im Zusammenhang mit zwei bedeutsamen technologischen Neuerungen im Wirtschaftssystem der Slawen des Waldsteppengebietes eingeleitet. Zum einen wurde mit der Vervollkommnung des Ralo durch das Streichbrett der slawische Ackerbauer zum Besitzer eines so vollkommenen Gerätes, wie es der eigentliche Pflug (plug) oder ein ähnliches pflugartiges Werkzeug ist. Durch eine noch wirksamere Unkrautbekämpfung ermöglichte diese Form des Pfluges die Kultivierung von Neuland und langjähriger Brache und führte damit zur Lösung der längst akuten Aufgabe, der verstärkten Ausbreitung des Ackerbaus. 2 Zum anderen erscheint etwa zur gleichen Zeit bei den Slawen im Waldsteppengebiet unter den von ihnen angebauten Kulturen der Winterroggen3. Seine Verbreitung ist für die Ostslawen von ungeheurer Bedeutung. Bei ihren geringen Ansprüchen an den Boden — schreibt A. V. Kir'janov — bringt diese Kultur bei günstigen Vegetationsbedingungen immer zuverlässige Ernten 4 . Verbunden mit Sommerkulturen sicherte sie eine größere Stabilität in der Getreidegewinnung. Schließlich gestattete der Winterroggen die Einführung einer geregelten Brachfeldwirtschaft in der slawischen Landwirtschaft 5 , die nach P. N. Tret'jakov eine mehrfache Erhöhung der Produktion erlaubte6. Infolgedessen war die Erzielung eines größeren Mehrprodukts möglich. Das führte einerseits seit Beginn des 9. Jh. in der ostslawischen Gesellschaft zur Herauslösung der Einzelfamilie aus der patriarchalischen Großfamilie und förderte andererseits bei dem Stammesadel, den Fürsten und Ältesten, in hohem Maße das Streben nach Eigentum an Boden. In die Hände dieser Leute flössen, wie oben gezeigt wurde, „gemäß ihrem Dienst an der Gesellschaft" zahlreiche Steuern für den Unterhalt des Kriegsgefolges, Geldstrafen für Rechtsver1 2
B. A.
Pti6aKOB,
flpeBHHH
Pyct. CnasaHHH, S h j i h h h , jieToroicH. MocKBa 1 9 6 3 ,
36—38.
O. ^OBJKeHOK, 06 ypoBHe pa3BHTHH aeMne^ejiHH b KneBCKoii PycH, 63f.; A . B . Kupthhob, 3eMJieflenHe BOCTOHHoro CJiaBHHCTBa, 178—180; H. M. JlHnyuiKHH, CnaBHHe BoctohB.
3
hoK Eßponw . . . , 136. A . B . K h p b h h o b , 3eMJienejiHe B o c t o h h o h Eßponti . . . , 1 3 6 .
4
A . B . K H P B H H O B , 3 e M j i e a e J i H e B O C T o n H o r o cJiaBHHCTBa, 1 9 9 .
BOCTonHoro aiaBHHCTBa, 1 7 4 ;
5 Ebenda, 174f. 8 II. H. TpeTbHKOB, IIoAceHHoe 3eMJieseJiHe . . . 14*
M. H .
JlnnyiuKini, CnaBHHe
212
SERGEJ SERGEEVIC S I R I N S K I J
letzungen 1 und unter günstigen Umständen Tribute von besiegten Nachbarstämmen. Ein Teil dieser Einkünfte — so z. B. in den 70er und 80er Jahren des 8. J h . das Pelzwerk — gehörte zu den wichtigsten Artikeln des einträglichen Orienthandels 2 und bildete für die Besitzer großer Partien von Pelzen noch eine zusätzliche wichtige Einnahmequelle. Der reiche Besitz und die Autorität der Adelsmacht, die mancherorts fest verwurzelte Vorstellung von der Verknüpfung der traditionellen Zahlungen mit dem Nutzungsrecht für die Stammesländereien, die wirtschaftlich recht schwache Position der Mehrheit der Einzelfamilien und selbst der Patronymien eröffneten dem Stammesadel die verschiedensten Möglichkeiten, sich das Mehrprodukt vom Produzenten und den Boden als Eigentum direkt anzueignen. Diese Tendenz kann an Hand des archäologischen Komplexes illustriert werden, der vom Autor beim Dorf Dovzik im Gebiet von Öernigov in der Ukrainischen SSR untersucht wurde. Auf den ersten Blick scheinen die hier aufgedeckte unbefestigte Siedlung und der zugehörige Friedhof, der aus drei riesigen Grabhügeln und unsystematisch dazwischen verstreuten kleineren Grabhügeln bestand, eine durchaus gewöhnliche Erscheinung zu sein. Analoge Fundplätze sind aus dem Cernigover Land mehrfach bekannt geworden. Sie stellen nach B. A. Rybakov Überreste feudaler Gutshöfe dar und spiegeln die Verbreitung des feudalen Grundbesitzes bei den öernigover Poljanen im 10. J h . wider 3 . Und dennoch lassen die Ausgrabungen beim Dorf Dovzik auf eine Besonderheit schließen. Der größte, „beherrschende" Grabhügel des Friedhofes (mit 4 m Höhe) enthielt als einzige Bestattung das Grab einer jungen Frau und, wie die Bestattungsweise zeigt, noch dazu einer Angehörigen des Stammes der Severjanen. Das vorhandene Material gibt natürlich keine Auskunft darüber, aus welchem Grunde das Gut dieser Adligen aus dem Stamm der Severjanen mitten im Land der öernigover Poljanen lag. Nicht genau geklärt ist auch der Charakter der 1
Äußerst interessant und sehr überzeugend erscheint in diesem Zusammenhang die von V. N. Tatiscev angeführte Angabe, nach der die Fürstin Olga am Ende ihrer Regentschaft „gesetzlich festsetzte, von einem Bräutigam je ein schwarzes Marderfell sowohl für den Fürsten als auch für den Bojaren von seinem Untertanen zu fordern." Zweifellos stellte die Einbeziehung der genannten Verordnung in die gesamtstaatliche Gesetzgebung der Rus nur die Widerspiegelung einer bereits längst bestehenden juristischen Praxis dar, nämlich des Rechtes für den Bräutigam, sich von dem ehemaligen Brauch loszukaufen, seine Braut in der ersten Nacht den Gästen, dem Altesten, Fürsten oder Priester zu überlassen (vgl.: B. H. Tarameß, McTopun PocciiÄCKaH Bd. 2. MocKBa — JleHHHrpaa 1963, 48f.; Marx-Engels, a. a. 0., 134).
2
üaMHTHHKH HCTopHH KneBCKoro rocynapcTBa IX—XII BB. JleHHHrpaa 1936, 2 5 f . ; A. II. IIOBOCejIbLieD, BoCTOHHbie HCTOHHHKH 0 B0CT04HHX CJiaBHHaX II PyCH VI—IX BB. In: flpeBHepyccKoe rocynapcTBO H ero MewAynapoAHoe SHANEHHE, 384F.; B. JI. HHHH, ,IfeHe>KH0-Bec0Btie CHCTÖMBI . . ., 74, 75, 84. B. A. PtiöaKOB, 3P eBH 0CTH HepmiroBa. MaTepnajiti h HCCJieaoBailHH no apxeojiormi
3
CCCP 11 (1949), 51 f.; ders., üpeffnoctuiKH . . . , 864f.
Die Entstehung des altrussischen Staates
213
Beziehungen zwischen der Herrin des Gutshofes und den Personen, die um ihren GrabhügeJ unter bis ca. 1 m hohen Aufschüttungen bestattet sind. Eine Tatsache aber steht fest: Ein Fürst aus Kiew oder Cernigov bzw. eine Verwaltungseinrichtung der Cernigover Poljanen besaß mindestens zwei Generationen vor der 988 erfolgten Annahme des Christentums in Rußland (die drei größten Grabhügel der Gruppe enthielten sämtlich heidnische Bestattungen) genügend Macht, um f ü r eigene Ziele im Stammesgebiet der Poljanen einen Vertreter eines fremden Stammes einzusetzen, d. h. das zu vollbringen, was noch kurze Zeit zuvor absolut unmöglich gewesen war. Es wurde schon erwähnt, daß die wachsenden Bedürfnisse der Gesellschaft und besonders das Entstehen spezieller Quartierplätze für die Kriegsmannschaften gegen Ende des 8. J h . zu einer verstärkten Konzentrierung der handwerklichen Produktion führten. Mit dem wichtigen Sprung in der Entwicklung der landwirtschaftlichen Produktivkräfte am Ende des 8. und zu Beginn des 9. J h . und mit den wachsenden Möglichkeiten zur Erlangung eines zusätzlichen Mehrprodukts war die reale Grundlage gegeben, ständig Kriegsmannschaften, die bereits aus berufsmäßigen Kriegern bestanden, zu unterhalten. Die Versorgung dieser Kriegsmannschaften im großen Maßstab erforderte eine weitere Festigung ihrer Basis im Bereich der handwerklichen Produktion. So mußten besondere Handwerkerzentren vor allem f ü r die Versorgung der Krieger und ihrer Familien organisiert werden. Kunden bei ihnen wurden natürlich auch die an der Spitze der Gesellschaft stehenden eigentlichen Herren der Kriegsmannschaften: der Fürst und die ehemaligen Stammesältesten, die sich in landbesitzende Bojaren verwandelt hatten. Diesen Handwerkerzentren oblag auch die Betreuung der Handelskarawanen reicher slawischer Kaufleute, die Rauchwerk über die Grenzen des slawischen Landes hinausbrachten 1 , ferner sicherten sie den Bedarf der näheren Umgebung. Auf diese Weise bildeten sich höchstwahrscheinlich die ersten ostslawischen Städte heraus. Ihre Entwicklungsstufen im 9. J h . lassen sich archäologisch durch eine Reihe von großflächigen Fundorten belegen: durch das Verwaltungs-, Kult- und Wirtschaftszentrum am Fluß Gnilopjat 2 , durch die Befestigungsanlage von Chotomel mit der dazugehörigen Dorfsiedlung, in der geringe Spuren handwerklicher Produktion gefunden wurden 3 , und schließlich durch die befestigten Siedlungen Alcedar und Ekimaucy 4 . Hierbei handelt es sich um bereits entwickelte Städte, um Verwaltungszentren für die nächste Umgebung, Mittelpunkte des Kriegsgefolges sowie um Handwerks- und Handelskomplexe. Das angeführte Material zeigt, daß die stürmische Entwicklung der Produktivkräfte im ostslawischen Bereich am Ende des 8. und zu Beginn des 1 2
4
A. II. HoBocejihqeB, BocToiHbie HCTOMHHKH . . 3 8 4 f . M. n. PycaHOBa, MccneitOBamie naMHTHHKOB ..., 142—146. K). B. KyxapeHKo, CpeßHeBeKOBtie naMHTHHKH üoJiecbH, 27. T. B. OeRopoß, PaöoTH IIpyTCKO-flHecTpoBCKOii 3Kcnejumiiii B 1960—1961 rr. Kparaite cooömeHHH HHCTHTyTa apxeojiorHH 99 (1964); ders., Ilocaa EKMMaynKoro ropoAnma. In: KyjibTypa /JpeBHeü Pycw.
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S E R G E J SEKGEEVIC S I R I N S K I J
9. Jh. im Verlauf von nur wenigen Jahrzehnten zu einer grundlegend neuen Gliederung der Gesellschaft führte, die keinerlei Analogien in den früheren gentilen Stammesverhältnissen der Slawen aufzuweisen hat. Die Gesellschaft zerfiel in zwei große, sich einander gegenüberstehende Gruppierungen: auf der einen Seite in die sich bildende Klasse der Landeigentümer und Empfänger der Grundsteuern und Abgaben, die sich durch ausgedehnten Handel noch zusätzliche Einnahmen verschafften, auf der anderen Seite in die große Zahl der unmittelbaren Produzenten, der einfachen Angehörigen der Gesellschaft, die jetzt vom Adel direkt und auf dem Wege des militärischen und ökonomischen Zwangs auch indirekt ausgebeutet und durch ein verzweigtes System verschiedener Steuern und Strafgelder gebunden wurden 1 . Die neue Teilung der Gesellschaft in Klassen bewirkte auch eine Umgestaltung der Institution des Kriegsgefolges sowie des alten, noch durch das System der Stammesverbände geschaffenen Verwaltungsapparates. Diese Einrichtungen wurden, indem sie den Interessen der Ausbeuterklasse dienten, vom Volk losgelöst und ihm entgegengestellt. Infolge der raschen Entwicklung der Produktivkräfte gerieten also die archaischen gentilgesellschaftlichen Produktionsverhältnisse in den am weitesten entwickelten ostslawischen Gebieten Anfang des 9. Jh. in Widerspruch zu den neuen Bedürfnissen der Gesellschaft. Gleichzeitig wurden damit auch die objektiven Voraussetzungen für die Entstehung des Staates geschaffen. Tatsächlich läßt sich vom Jahre 833 an archäologisch eine überraschend deutliche Aufgliederung der ostslawischen Welt in drei große Gebiete verfolgen, deren Grenzen sich in keiner Weise in den territorialen Rahmen der früheren Stammissverbände einfügen lassen. Diese Gebiete zeichnen sich deutlich ab, wenn man die Verbreitungskarten kufischer Münzen, der sogenannten Dirhems, im ostsla wischen Gebiet betrachtet. Während in den 70er und 80er Jahren des 8. Jh. und bis zum Jahre 833 die Schatzfunde von orientalischen Münzen, die die ökonomischen Beziehungen der Ostslawen widerspiegeln, relativ gleichmäßig im ostslawischen Siedlungsgebiet verteilt sind 2 , fällt in der folgenden Periode 1
In den schriftlichen Quellen wird noch eine dritte Gruppe der ostslawischen Gesellschaft des 9.—11. Jh. unterschieden: die Sklaven. Natürlich bleibt die Rolle ihrer Arbeit z. B. bei der Herausbildung feudalen Landbesitzes bisher noch umstritten, da eingehende Untersuchungen entsprechender archäologischer Komplexe fehlen. Dennoch ist zu vermuten, daß die Sklavenarbeit für das allgemeine Gleichgewicht der slawischen Produktion des 9.—10. Jh. keine ernsthaftere Bedeutung gehabt hat. In den zu dörflichen Siedlungen gehörigen Hügelgräbern jener Zeit traf man in der Rus auf keine einzige Sklavenbestattung. Die gemeinsamen Bestattungen von getöteten Sklaven mit ihren Herren, die in zu Städten gehörigen Hügelgräbern gefunden wurden, charakterisieren nur die Sklaven in der Rolle als Hausgesinde (vgl. fl. H. EnH^ejibA, K ncTopimecKofi oueHKe ApyttuiHHHx norpeöeHHft B cpyÖHbix rpo6HHi. CKa3aHHH, ÖblJIHHH, JieTOIIHCH, 159—173. B. JL HHHH,fleHejKHO-BecoBbieCHCTeMH . . ., 103—106. B. B. KpOnOTKHH, 9KOHOMHHeCKHe CBH3H BOCTOHHOH Eßpontl B I TLICHieilCTIlH Hauiett apH. MocKBa 1967, 120 f. M. Stenberger, Die Schatzfunde Gotlands der Wikingerzeit Bd. 1. Uppsala 1958, 319f., 326, 361. M3BJIOTeHHe H3 BepTHHCKHX aHHajIOB. In: IlaMHTHHKH HCTOpHH KiieBCitoro rocyRapcTBa . . . , 23; B. II. IIIymapHH, flpeBHepyccKoerocysapcTBo B 3ana«Ho- H BOCTOHHOEBPONEIICKHX cpeRHeBeKOBtix naMHTHHKax. In: flpeBHepyccKoe rocynapcTBo H ero Me»«ynapoAHoe 3HaieHHe, 420f. M. M. ApTaMOHOB, IleropiiH xa3ap. JleHHHrpan 1962, 366.
Die Entstehung des altrussischen Staates
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Die Tatsache der Bildung des Russischen Staates, die damit verbundene völlige Einstellung von Tributzahlungen aus seinem Territorium und schließlich der gegenüber dem Kaganat feindliche Akt der Annahme des Titels der für alle Chasaren heiligen Person des Kagans durch das Staatsoberhaupt der R u s 1 mußten unvermeidlich entsprechende Gegenmaßnahmen des Chasarenstaates hervorrufen. Die Kartierung des numismatischen Materials aus dem 9. J h . in Osteuropa bezeugt objektiv, daß das Kaganat von den 20er Jahren an die Handelsbeziehungen zur Rus jäh abbrach und darüber hinaus praktisch eine Blockade gegen den jungen Staat organisierte, indem es auf dieses Gebiet und die den Chasaren benachbarten und von ihnen abhängigen Stämme der Vjaticen und Severjanen einen entsprechenden Druck ausübte. Die Maßnahmen des Kaganats waren offensichtlich sehr wirkungsvoll. Bis zum Ende des 9. J h . fehlen Schatzfunde orientalischer Münzen auf dem Territorium der R u s vollständig 2 . Unvorteilhaft gestaltete sich die Lage im 9. J h . auch an den nördlichen Grenzen des altrussischen Staates. Die zu Beginn dieses Jahrhunderts im Nordosten des ostslawischen Territoriums vorherrschende Rodewirtschaft schuf keine objektiven Voraussetzungen für eine schnelle Entwicklung der Gesellschaft und konservierte in hohem Maße bei der einheimischen Bevölkerung die alten gentilen Stammesverhältnisse. Gleichzeitig machten der Kampf gegen die periodisch vom Norden her eindringenden Warägerabteilungen und die Organisierung des Ende des 8. J h . einsetzenden Pelzhandels mit dem Orient die Schaffung einer speziellen Gruppierung von Stämmen erforderlich, die fähig war, diese Aufgaben zu bewältigen. Eine solche Gruppierung (eigentlich ein Über-Stammesverband) wurde, wie aus den Chroniken und archäologischem Material zu schließen ist, aus den Pskover Krivicen, den Slovenen, Ves' und anderen kleineren nichtslawischen Stämmen gebildet. Nach den Traditionen der entwickelten militärischen Demokratie warb man für die Verteidigung Abteilungen von warägischen Kriegsgefolgsleuten an, die bereit waren, sich gegen Entlohnung selbst mit ihren eigenen Stammesgenossen zu schlagen. Die Anwesenheit slawischer und nichtslawischer Stämme in dem Verband schuf besonders günstige Bedingungen für das Erstarken dieser dritten, „neutralen" K r a f t . Die Führung der nordwestlichen Gruppierung der Ostslawen lag letzten Endes in der Hand der Waräger. Eben aus diesem Grunde gelang es den Warägern auch, unter Ausnutzung der komplizierten ethnischen Zusammensetzung 1
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C. A. ÜJieTHeBa, OT KoneBHü K ropo^aM. MaTepnajiu H HCCJieflOBaHHH no apxeojioruH CCCP 142 (1967), 183 f. Der scheinbare Widerspruch zwischen dem tatsächlich festgestellten Fehlen von orientalischem Silber auf dem altrussischen Territorium von den 30er Jahren des 9. Jh. bis. zum Beginn des 10. Jh. auf der einen Seite und den Berichten von Ibn Khordädhbeh und Ibn al-Faqih über die Handelsunternehmen russischer Kaufleute auf der anderen Seite läßt sich durch die Vermutung beseitigen, daß die Grundlage für diese Schriftzeugnisse der 40er Jahre des 9. Jh. der frühere Handel mit Rußland bildete, der bis etwa 824 unterhalten wurde (vgl. A. I I . H O B O C E N M E B , BocToiHue HCTOMHHKH . . . , 384—387; B. J I . H H H H , JJeHewHO-BecoBtie CHCTeMbi . . ., 105, Abb. 17).
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des Verbandes und des darin dominierenden Stammeselementes dem im Süden entstandenen altrussischen Staat zeitweilig die nordwestliche Gruppierung der •Ostslawen entgegenzustellen 1 . Das untersuchte Material zeigt, daß der junge Feudalstaat der Kiewer Rus ;schon in den ersten Jahren seines Bestehens auf eine Reihe von Problemen stieß, von deren Lösung seine ganze weitere Entwicklung abhing. Vor allem waren mit der Bildung des Staates der Ostslawen, der Rus, einige •ostslawische Stammesverbände aus verschiedenen Gründen ganz oder teilweise noch immer außerhalb seiner Grenzen verblieben. Daher gehörte die baldige Vereinigung dieser ostslawischen Gebiete um den Kern des Staates, die Rus, zu